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German Pages 220 [222] Year 2019
Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Band 25 • 2018 Franz Steiner Verlag
Im Auftrag der Hambach-Gesellschaft her ausgegeben von Wilhelm Kreutz Markus Raasch Karsten Ruppert
Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Im Auftrag der Hambach-Gesellschaft herausgegeben von Wilhelm Kreutz, Markus Raasch und Karsten Ruppert Redaktion: Karsten Ruppert
Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Band 25 (2018)
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12392-1 (Print) ISBN 978-3-515-12397-6 (E-Book)
Inhalt Vorwort
7 Aufsätze
Karsten Ruppert Griechischer Freiheitskampf und deutscher Philhellenismus
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Martin Dossmann Freiburg und das Hambacher Fest Wie wirkte sich das Hambacher Fest 1832 auf die Universitätsstadt Freiburg i. Br. aus? Zugleich ein Beitrag zum Leben von Karl von Rotteck und Philipp Jacob Siebenpfeiffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Jeremias Fuchs „Gott mehr gehorchen als den Menschen“ Bischof von Kettelers Überlegungen zur Begründbarkeit eines katholischen Widerstandsrechts im Kulturkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Wilhelm Kreutz Gustav Adolf Lehmann (1855–1926) Ein vergessener Sozialdemokrat des Kaiserreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Hendrik Schmehl Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg Das Beispiel Wiesbaden und die Chance der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Lilian Zafiri „… und sie prügelten sich mit Zitronenkisten“ Gewaltausbrüche und Unruhen in Mannheim in den Anfangsjahren der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Inhalt
Julia Kreuzburg Die „Weinbetrüger“-Prozesse in Rheinhessen Zur „Arisierung“ des jüdischen Weinhandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Forum Quo, vadis, Europa? Die Zukunft Europas Referate der Tagung der Hambach-Gesellschaft vom 5. November 2017 . . . . . . . . . . . . . . 195 Philipp Gassert: Die Zukunft Europas – aus britischer Sicht
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Johannes M Becker: Quo vadis Europa? Ein Blick auf Frankreich
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Peter Oliver Loew: Polen und Europa, keine einfache Geschichte
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Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser
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Vorwort Die 1986 gegründete „Hambach-Gesellschaft für historische Forschung und politische Bildung e V“ pflegt das Vermächtnis des Hambacher Fests von 1832 Sie setzt sich daher ein für die Festigung der parlamentarischen Demokratie, die Sicherung der Grund- und Freiheitsrechte in einem sozialen Rechtsstaat und die Förderung des Europagedankens Sie fördert die historische und politische Bildung durch öffentliche Vorträge und Kolloquien Hingegen ist das Jahrbuch mehr der Veröffentlichung von Studien zur historischen wie zeitgeschichtlichen Forschung vorbehalten Ein Schwerpunkt liegt auf den Themen, die in den zahlreichen Reden des Hambacher Festes angesprochen wurden, und auf den demokratischen wie liberalen Bewegungen, die es veranstaltet haben, den Herausforderungen, denen sie sich stellen mussten, und den Gefährdungen, denen sie ausgesetzt waren Dieses breite Spektrum wird auch wieder in dem vorliegenden Band abgedeckt Mit Genugtuung kann die Gesellschaft darauf zurückblicken, dass sie sich mit ihren Jahrbüchern jetzt seit einem Vierteljahrhundert in die geschichtswissenschaftlichen Debatten einmischt und zur Festigung des demokratischen Bewusstseins beiträgt Ihrem Auftrag zur politischen Bildung im Sinne der Hambacher Tradition kommt die Gesellschaft vor allem durch die Podiumsdiskussionen auf dem Hambacher Schloss nach Hier vertiefen ausgewiesene Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Publizistik im Dialog mit dem Publikum aktuelle Themen, die der Gesellschaft ein besonderes Anliegen sind Deswegen hat sie am 5 November 2017 zu einer gut besuchten Veranstaltung über die Zukunft Europas auf das Hambacher Schloss eingeladen Die Referenten haben ihre Statements dankenswerterweise anschließend schriftlich vorgelegt, so dass sie hier in der jeweils eingereichten Fassung in der Abteilung Forum abgedruckt werden können Philipp Gassert, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim deutet das knappe Ergebnis der Volksabstimmung vom 23 Juni 2016 für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union aus der Geschichte des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg Mehr als üblich stellt er dabei auf kulturelle Denkmuster und kollektivpsychologische Tiefenströmungen ab Er glaubt, dass die Europäische Union über diesen Rückschlag nur hinwegkommt, wenn es ihr gelingt, ihre Grundanliegen, die inzwischen durch die Alltagsquerelen verdrängt zu sein scheinen, den europäischen Bürgern wieder stärker zu verdeutlichen
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Vorwort
Dass auch Frankreich sich ähnlich wie Großbritannien vor allem als autonomer Nationalstaats verstand und daher einen weiten und nicht selten schmerzhaften Weg nach Europa gehen musste, legt der Friedens-und Konfliktforscher Johannes Maria Becker von der Universität Marburg thesenhaft dar Die Niederlage im Zweiten Weltkrieg und die Verschiebung der mächtepolitischen Gewichte hätten den Weg geebnet Dazu kam sowohl die Furcht vor dem mächtigen Nachbarn und die Hoffnung, ihn in einem europäischen Wirtschafts- und Sicherheitssystem zu domestizieren Peter Oliver Loew, der sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Polen Institut seit Jahren mit Geschichte und Gegenwart von Deutschlands östlichem Nachbarn beschäftigt, unterstreicht, dass dessen Wendung nach Europa mit der Aufnahme in die NATO 1999 und in die Europäische Union 2004 nicht selbstverständlich gewesen sei Einerseits hätten dem nationalpolnische Traditionen entgegengestanden, andererseits aber habe das Sicherheitsbedürfnis und die Aufbruchstimmung zu Beginn des Jahrhunderts diesen Gedanken außerordentlich populär gemacht Aus diesen sich widerstreitenden Vorbedingungen heraus wird das ausführlich geschilderte Verhältnis des gegenwärtigen Polen zur Europäischen Union analysiert Dabei wird sicherlich zu Recht darauf verwiesen, dass zwischen den jeweiligen Regierungen und Parteien einerseits und der stets europafreundlichen Mehrheit der Bevölkerung andererseits unterschieden werden muss Wie Philipp Gassert erhofft sich auch Peter Oliver Loew von nachhaltigen Strukturreformen der Union einen neuen Aufbruch Die beiden ersten Aufsätze widmen sich dem Hambacher Fest bzw seiner Vorgeschichte Denn dazu gehört ohne Zweifel die philhellenische Bewegung, wie sie sich im Deutschen Bund zwischen 1821 und 1823 wie erneut ab 1825 formiert hat Sie scheiterte mit ihrem eigentlichen Anliegen, nämlich die nachhaltige Unterstützung des Kampfes der Griechen gegen ihre osmanischen Besatzer Dennoch war sie eine bisher in ihrer Bedeutung unterschätzte Bewegung Karsten Ruppert, trägt diese These hier vor, indem er die militärischen und politischen Vorgänge in Griechenland eng mit der Reaktion des deutschen und europäischen Philhellenismus darauf verknüpft und dabei die Bedeutung der Pfalz gebührend berücksichtigt Er führt für seine Sicht vor allem zwei Argumente an Zum einen habe die sich unpolitisch gebende Bewegung Liberalen und Demokraten in der Phase verstärkter Reaktionspolitik des Deutschen Bundes die Möglichkeit bundes- wie europaweiter Organisation und öffentlicher Betätigung gegeben Zum anderen sei der Philhellenismus die erste Bürgerinitiative in der Außenpolitik in Deutschland, vielleicht sogar in Europa gewesen Ihr gelang es, die Großmächte, die im Aufstand der Griechen bisher eine Gefahr für die europäische Nachkriegsordnung gesehen hatten, zu einer Intervention zu deren Gunsten zu bewegen Martin Dossmann schildert ein wenig bekanntes Ereignis im Umfeld des Hambacher Festes Da Freiburger Professoren und Studenten eine Reise zum Hambacher Fest verboten war, veranstalten sie am selben Tag (27 Mai 1832) ein „vaterländisches Fest“ bei Freiburg Während Philipp Jakob Siebenpfeiffer die Eröffnungsrede auf dem
Vorwort
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Hambacher Schloss hielt, war der Student Josef Bader Hauptredner beim kleineren Freiburger Fest Bei einem späteren Fest in Badenweiler trug Professor Karl von Rotteck, führender Kopf der liberalen Bewegung in Baden, die Rede vor, die er wegen des Reiseverbots nicht in Hambach halten konnte Die Reden, deren wesentliche Textpassagen eingeflochten sind, zeigen abweichende Standpunkte zur Frage, ob Einheit oder Freiheit wichtiger sei Der Beitrag führt Informationen aus unterschiedlichen Quellen zusammen, so dass ein abgerundetes Bild von den Freiburger Ereignissen im Sommer 1832 entsteht Im Mittelpunt des Beitrags von Wilhelm Kreutz steht der für die erste Generation der deutschen Sozialdemokraten exemplarische Lebensweg Gustav (Adolf) Lehmanns Am 3 November 1855 im brandenburgischen Görsdorf geboren, schloss er nach dem Besuch der Volksschule eine Tischlerlehre mit der Gesellenprüfung ab Anfang der 1880er Jahre trat er in Düsseldorf einem Tischlerverein und Arbeiterbildungsverein bei, den Keimzellen des sozialdemokratischen Ortsvereins Während der Sozialistengesetze für mehrere Monate inhaftiert, avancierte Lehmann ab 1890 in Dortmund zum Redakteur parteieigener Periodika, übersiedelte nach innerparteilichen Querelen nach Mannheim, wo er als Buchhalter und Akquisiteur der „Volksstimme“ arbeitete Nach einigen erfolglosen Kandidaturen gelang es ihm 1907, für den Wahlkreis Wiesbaden in den Reichstag einzuziehen Von 1905 bis 1919 war er Mitglied im Mannheimer Bürgerausschuss, von 1903 bis 1909 Abgeordneter des badischen Landtags Hier profilierte er sich als entschiedener Gegner der Großblockpolitik Ludwig Franks, schloss sich allerdings nicht der USPD an Nach dem Ersten Weltkrieg in der MSPD politisch isoliert schwand sein Einfluss rasch Er starb 1926 in der Pflegeanstalt Illenau im badischen Achern Den Herausgebern des Hambach Jahrbuchs ist es ein besonderes Anliegen, jüngeren Wissenschaftlern die Möglichkeit einzuräumen, erste Forschungsergebnisse zu veröffentlichen Auch in diesem Jahrbuch sind sie wieder gut vertreten Den Reigen eröffnet Jeremias Fuchs, der anhand der Überlegungen Wilhelm Emmanuel von Kettelers, wie sie sich in der Edition seiner Schriften und Briefe niedergeschlagen haben, herausarbeitet, wie der politisierende Mainzer Bischof, ein katholisches Widerstandsrecht im Kontext des Kulturkampfs begründet hat Grundlegend dafür ist der konsequent legalistische Ansatz, nach dem sowohl eine akteursspezifische als auch eine allgemeine Begründung darauf abzielen sollen, Widerstand entweder als legale bzw legitime Wahrnehmung eigener Rechte darzustellen oder dem Staat unrechtmäßiges Handeln nachzuweisen Vom Staat als widerständig auffassbares Verhalten wird somit von katholischer Seite zu einem nicht sanktionswürdigen Verhalten erklärt, sei es wegen der erklärten Rechtmäßigkeit eigenen Handelns oder eben durch Erklärung der Kirchengesetze zu unbeachtlichem „Nichtrecht“ Hendrik Schmehl präsentiert Erkenntnisse aus seiner Dissertation über die Kurstadt Wiesbaden im Ersten Weltkrieg Durch die quantitative Auswertung digitalisierter Sterberegister kann er die Forschung zur Sterblichkeit der deutschen Zivilbevölke-
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Vorwort
rung während des Weltkriegs vertiefen Die Sterblichkeit habe in der Unterschicht deutlich stärker zugenommen als in der Mittel- und Oberschicht Der Zusammenbruch der Versorgung im Frühsommer 1917 falle zeitlich nicht mit dem stärksten Anstieg der Sterblichkeit zusammen, sondern dieser korreliere stärker mit einer Phase empfindlicher Kälte bei gleichzeitiger Einschränkung der Kohleversorgung Es bestätigt sich auch für Wiesbaden, dass die Spanische Grippe insbesondere unter jüngeren Menschen massiv gewütet habe Aussagen über die Kindersterblichkeit bleiben unsicher, da es den Anschein hat, dass die amtliche Statistik in dieser Hinsicht manipuliert worden sei Der Aufsatz von Lilian Zafiri schließt daran an, indem sie Gewaltausbrüche im Zusammenhang mit der Verknappung von Lebensmitteln in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Mannheim untersucht Da es bei solchen Unruhen mehr um Nahrung des gehobenen Bedarfs gegangen ist, werden sie als Ausdruck persönlicher und politischer Frustration gesehen Solche Zwischenfälle hätten den fragilen und krisengeprägten Nachkriegsalltag in der Stadt mehr gefährdet als die bekannten politischen Ausschreitungen Die Studie von Julia Kreuzburg ist ein Beitrag zu einem Feld, mit dem sich die Forschung zum nationalsozialistischen Reich seit einigen Jahren verstärkt befasst Sie untersucht exemplarisch am Beispiel von drei „Weinbetrüger“-Prozessen gegen jüdische Unternehmen in Mainz die „Arisierung“ des rheinhessischen Weinhandels Auf der Grundlage von Akten aus Rückerstattungsverfahren sowie privaten Nachlässen und Memoiren und unter Auswertung von Zeitungen wird das Zusammenspiel von Justiz und Medien herausgearbeitet, um das Ansehen jüdischer Weinhändler zu zerstören und sie finanziell zu ruinieren Mechtersheim im Januar 2019
Karsten Ruppert
Aufsätze
Griechischer Freiheitskampf und deutscher Philhellenismus Karsten Ruppert I. Die griechische Bevölkerung vor dem Aufstand Nach einer über 400 -jährigen Fremdherrschaft der Osmanen bestand das Griechentum zu Beginn des 19 Jahrhunderts nur noch in der gemeinsamen Sprache und Religion Deren institutionelles Rückgrat war die orthodoxe Kirche des Patriarchen von Konstantinopel, dem geistlichen Oberhaupt aller im Osmanischen Reich lebenden orthodoxen Gläubigen Da es ein Prinzip der osmanischen Herrschaft gewesen war, das Vielvölkerreich mit seinen unterschiedlichen Kulturen und Religionen auch entlang dieser zu organisieren und zu beherrschen, hatten die orthodoxe Kirche wie auch die anderen Religionsgemeinschaften eine privilegierte Stellung mit Selbstverwaltung, Steuerbefreiung und kultureller Autonomie zu diesem Zweck erhalten 1 Obwohl während des Freiheitskampfes und Bürgerkriegs die Vorrangstellung des orthodoxen Christentums von keiner Seite angezweifelt wurde, blieb die Kirche auf Distanz wegen der westlichen Ideen, die sich die Nationalversammlungen zu eigen machten Die Griechen zeichnete ein robustes Überlegenheitsgefühl gegenüber ihren Beherrschern aus Es speiste sich aus der glorreichen Vergangenheit der Antike wie des Byzantinischen Reichs, der Religion und nicht zuletzt der Tatsache, dass sie in Gesellschaft, Wirtschaft und Staatsverwaltung führende Positionen einnahmen Freilich hatte die Fremdherrschaft auch Verhaltensweisen wie Verschlagenheit, egoistische Rücksichtslosigkeit, Geheimbündelei, fehlendes Rechtsbewusstsein, Klientelismus und Korruption gefördert Diese erwiesen sich bei der Konstituierung einer griechischen Nation ebenso als schwerer Ballast wie das mangelnde über das Lokale hinausgehende Gemeinschaftsbewusstsein, zumal dieses die Eliten ebenso prägte wie die einfachen
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Johannes Gaitanides [u. a.], Griechenland ohne Säulen Überarb u erg Neuausg München 1990, 140 f
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Bauern Das Kernland dieser griechischen Gemeinschaft war das klassische griechische Siedlungsgebiet, das in drei deutlich unterscheidbare Landschaften zerfiel 2 Die einwohnerreichste Region war der Peloponnes (Morea) Die einheimische Landbevölkerung war mit einem beträchtlichen Teil muslimischer Türken durchmischt, die auch die Besatzungen in den Festungen stellten Soweit sie nicht selbst Kleinbauern oder Pächter waren, arbeiteten die griechischen Bauern auf türkischen Staatsgütern in einem Status, der dem der Leibeigenen vergleichbar war Der griechischen Bevölkerung war eine beträchtliche Selbstverwaltung der Provinzen und Gemeinden übertragen worden und sie stellte die Steuerpächter Diese waren oft die Großgrundbesitzer der Gegend Meist stellten diese auch die Anführer der Klientelverbände, die unverzichtbar waren für das Überleben und die Bewältigung des Alltags der autochthonen Bevölkerung Diese „Kotzabasides“ waren zu einem festen Bestandteil der osmanischen Herrschaft geworden 3 Ihr Wunsch, die bestehenden Besitzverhältnisse zu erhalten, hielt sie auf Distanz zum Aufstand, zwang sie aber in dessen Verlauf hinein, um ihre Interessen zu wahren Auf der Peloponnes wie auf dem Festland und nördlich des Golfes von Korinth (Rumelien) waren nach der türkischen Eroberung die so genannten „Kleftenbanden“ entstanden, die sowohl einen Kleinkrieg gegen die Besatzer führten als auch in Überfällen aus den Bergen heraus unterschiedslos Christen wie Moslems heimsuchten 4 Diese Plage zu bekämpfen, hatten die Osmanen den Griechen überlassen, indem sie durch Steuerbefreiung, Übertragung von Militärgütern und die Stellung von Ausrüstungen die Bildung einer christlichen Miliz („Armatolen“) förderten Neben den Besatzern waren sie der entscheidende Machtfaktor auf dem Festland Ihre Angehörigen betätigten sich in Handel und Viehzucht und ihre Anführer hatten eine enge Beziehungen zur muslimischen Oberschicht Kleften und Armatolen waren das Rückgrat der Truppen des Aufstandes, in dessen Verlauf sie auch ein nicht mehr zu ignorierender politischer Machtfaktor wurden Aufgrund ihrer bisherigen Kampfweise ließen sie sich aber nicht in militärische Kommandostrukturen und in die Disziplin regulärer Kampfverbände einbinden 5 Das hat dem gesamten Kriegsverlauf seinen Stempel aufgedrückt Auf den Inseln der Ägäis gab es keine türkischen Garnisonen Die Verwaltung lag in der Hand der Christen Hier gab es ein deutlich erkennbares und auch starkes Bürgertum, das seinen Reichtum aus dem Handel in der Levante, dem Schwarzmeer und 2
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Das Folgende nach Ioannis Zelepos, Griechenland, in: Werner Daum u a (Hrsg ), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19 Jahrhundert Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel Bd 2: 1815–1847 Bonn 2012, 1401 und Gunnar Hering, Die politischen Parteien in Griechenland, 1821–1936 2 Bände (Südosteuropäische Arbeiten, Bd 90) München 1992, 53 ff Edgar Hösch, Griechenland in der Politik der Großmächte, in: Reinhold Baumstark (Hrsg ), Das neue Hellas Griechen und Bayern zur Zeit Ludwigs I München 1999, 35 Paulos Tzermias, Neugriechische Geschichte Eine Einführung 2 überarb u erw Aufl Tübingen 1993, 74 f Hösch, Großmächte (wie Anm 3), 35 f
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mit Südrussland gewonnen hatte, lange in Konkurrenz mit Venedig und anderen europäischen Großmächten Hier waren meist die Reeder und Kaufleute die Häupter der Klientelverbände, die aus materiell direkt von ihnen Abhängigen bestanden Sie waren auch die Eigentümer der beträchtlichen Flotte von Schiffen, von denen der größte Teil wegen der ständig drohenden Piraterie armiert war und daher während des Aufstands auch im Kampf eingesetzt werden konnte 6 Von keinesfalls geringerer Bedeutung waren die Griechen der Diaspora 7 Denn zusammen mit den Großgrundbesitzern der Peloponnes und den Kaufleuten wie Reedern der Inseln stellten sie die Elite Sie waren im gesamten Osmanischen Reich mit einem Schwerpunkt auf dem Balkan verbreitet Sie waren meist als Kaufleute, Ärzte wie Dolmetscher tätig Einige lebten auch als Großhändler im christlichen Europa und vor allen Dingen in Russland, wo sie in Militär und Verwaltung beachtliche Karrieren machten Für diese Mächte haben die vielen außerordentlich sprachkundigen Griechen im Osmanischen Reich oft die Tätigkeit eines Konsuls ausgeübt Zu dieser Elite sind auch noch die „Phanarioten“ zu zählen Dies waren meist Nachfahren der byzantinischen Aristokratie, die nach der Eroberung des Reiches durch die Türken Macht und Besitz verloren hatten Sie behielten aber die führenden Positionen in der orthodoxen Kirche und waren dann aber wieder im Handel und vor allen Dingen in den Spitzenpositionen des Osmanischen Reiches zu Einfluss gekommen Aus den Griechen der Diaspora war auch der Freundschaftsbund der „Philiki Etairia“ hervorgegangen 8 Er war 1814 in der griechischen Gemeinde des Schwarzmeerhafens Odessa gegründet worden und hatte über seine ersten führenden Mitglieder auch Verbindungen zu griechischen Freimaurerlogen 9 Dieser Bund, mit Filialen in zahlreichen Handelsstädten der Diaspora mit griechischen Gemeinden, bestand zum überwiegenden Teil aus Kaufleuten Daneben zählte er aber auch Lehrer, Ärzte, Studenten und Angestellte sowie einige Kleriker und Offiziere zu seinen Mitgliedern Er war aber nicht nur Rückhalt der griechischen Diasporagemeinden, sondern er hielt auch Verbindung zu den Eliten zu Hause 10 Politisch ist er nicht ohne weiteres mit den Geheimbünden in Europa und Russland gleichzusetzen 11 Denn er arbeitete nicht aktiv auf einen Umsturz hin, sondern vorrangig auf eine Modernisierung der griechischen Verhältnisse, ein Anliegen, das mit dem Schlagwort von der Erweckung Griechenlands umschrieben wurde 6 7 8 9 10 11
Vgl auch Richard Clogg, Geschichte Griechenlands im 19 und 20 Jahrhundert Ein Abriß Köln 1971, 40 Douglas Dakin, The Greek Struggle for Independence, 1821–1833 London 1973, 9 ff Ausführlich George D. Frangos, The Philiki Etaireia A Premature National Coalition, in: Richard Clogg (Hrsg ), The Struggle for Greek Independence London 1973, 87 ff Dakin, Greek Struggle (wie Anm 7), 42 f Nach Gaitinides, Griechenland ohne Säulen (wie Anm 1) 144 sollen etwa 200 000 von rund 3 Millionen Griechen dem Bund angehört haben! Frangos, Philiki Etairia (wie Anm 8), 95, 100
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Er wurde zum wichtigsten Verbreiter von Erfahrungen in Europa und dessen politischen Ideen von Aufklärung, Revolution und Nation Diese konkurrierten mit Vorstellungen, die zur Theokratie des byzantinischen Reiches und dessen politischen wie gesellschaftlichen Verhältnissen zurück wollten Sie gingen vor allem auf den starken Anteil der russischen Griechen in den Führungspositionen des Freundschaftsbundes zurück, der, entsprechend ermuntert, bei allem was kommen sollte, auf Unterstützung durch den Zaren setzte So sehr die „Philiki Etairia“ ein Ferment auf dem Weg zum griechischen Aufstand war, so hat sie danach keine Rolle mehr gespielt Denn sie hielt nur so lange zusammen wie die politischen Gegensätze in ihren Reihen, die von einem oligarchischen Konservatismus über einen gemäßigten Liberalismus bis hin zu einem radikalen Republikanismus reichten, von dem Selbstbehauptungswillen der DiasporaGriechen überdeckt wurde Als Folge der osmanischen Herrschaft war in der christlich-griechischen Bevölkerung also eine komplexe und widersprüchliche Interessenlage entstanden, aus der ganz unterschiedliche Erwartungen an den Aufstand entsprangen Diese haben jenseits des gemeinsamen Zieles, die osmanische Herrschaft abzuschütteln, politische Kompromisse erkennbar erschwert Die Griechen waren, selbst als sie sich der Freiheit und Souveränität erfreuen konnten, noch längst nicht zu einer Nation zusammengewachsen 12 II. Die Ursachen des Aufstands Die Ursachen für den griechischen Aufstand waren vielfältig An der Wende vom 18 zum 19 Jahrhundert erlebte der Peloponnes einen Anstieg der landwirtschaftlichen Produktion und ein Anwachsen des Imports wie des Exports Die türkischen Gouverneure der Halbinsel zogen vermehrt Christen für öffentliche Aufgaben heran Ähnlich lagen die Verhältnisse in Mittelgriechenland Kaufleute und Reeder der Inseln erlebten in derselben Zeit einen solchen wirtschaftlichen Aufschwung, dass sich eine bürgerliche Oberschicht bilden konnte Diese Entwicklung brach nach 1815 dramatisch ein Die peloponnesischen Grundbesitzer verschuldeten sich immer mehr bei den Türken Auf den Inseln sanken die Umsätze der Kaufleute wie die Renditen der Reeder und die Masse der Matrosen wurde arbeitslos Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung delegitimierten die traditionellen Gebrechen des Osmanischen Reiches wie Zurücksetzung der Christen, Willkür, Korruption und Ämterkauf, weil sich unter den Eliten die Ideen der persönlichen Freiheit und des Rechtsstaates verbreitet hatten 13 Die politischen Systeme Europas erschienen als Alternative am Horizont 12 13
Hösch, Großmächte (wie Anm 3), 35 f Gunnar Hering, Zum Problem der Ursachen nationaler Erhebungen am Anfang des 19 Jahrhunderts, in: Christo Choliolčev u a (Hrsg ), Nationalrevolutionäre Bewegungen in Südosteuropa im 19 Jahrhundert München 1992, 20 ff
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Die Masse der Bauern war durch das Anwachsen des muslimischen und christlichen Grundbesitzes im 18 Jahrhundert noch zusätzlich verarmt Die Zahl der landlosen Tagelöhner wuchs ebenso wie Größe und Anzahl der Räuberbanden 14 Sie alle verbanden mit der Befreiung vor allem die Hoffnung auf die Übertragung türkischen Staatsbesitzes und von Muslimen bebauten Landes Auf der Peloponnes waren zwei Drittel des kultivierten Bodens in der Hand einer türkischen Bevölkerung von 14 % 15 Der Streit zwischen den griechischen Kleinbauern und den Honoratioren des Landes um diese Beute wurde eine der wichtigsten Ursachen für den griechischen Bürgerkrieg, der dem Aufstand folgte! Eine weitere Ursache der Erhebung war die fortgesetzte Destabilisierung des Osmanischen Reiches durch die Kriege gegen Russland und die Kämpfe gegen unbotmäßige Statthalter im Innern Einer der aufsässigsten war Ali Pascha von Janinna Er war am Vorabend des Aufstandes seinem Ziel eines albanisch-griechischen von der Pforte unabhängigen Reiches bedrohlich nahe gekommen 16 Solche Auseinandersetzungen im europäischen Teil des Reiches waren immer wieder Gelegenheiten für ethnische Minderheiten zur Revolte gewesen So war es den Serben bis 1817 gelungen, den Status eines halbautonomen Vasallenstaates zu erreichen und die Fürstentümer Moldau und Walachei waren Protektorate des Zaren geworden 17 III. Der Ausbruch des Aufstandes Daher war es auch kein Zufall, dass die Initialzündung von Gebieten schwacher osmanischer Herrschaft ausging Der Phanariot Alexander Ypsilantis, der Kopf der „Philiki Etairia“, der als Adjutant beim Zaren diente, drang im März 1821 über Bessarabien in die halbautonomen Donau-Fürstentümer ein mit der völlig überzogenen Absicht, einen Grundstein für die Wiedererrichtung des byzantinischen Reichs zu legen Seine Hoffnung, dass sich sowohl deren Bewohner als auch die Serben anschließen würden, wurde ebenso enttäuscht wie seine Zuversicht, dass die osmanische Reichsarmee durch den Kampf gegen Ali Pascha so sehr gebunden würde, dass seine kleine zusammengewürfelte Truppe erste Erfolge erringen könne Vor allem aber hatte er die außenpolitische Situation vollkommen falsch eingeschätzt Der österreichische Staatskanzler und Schöpfer der Wiener Nachkriegsordnung Clemens Fürst Metternich nahm das Unternehmen nur als den Beginn einer Rebellion gegen das Osmanische
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Tzermias, Neugriechische Geschichte (wie Anm 4), 73 f Hering, Problem (wie Anm 13) 27 David Brewer, The Greek War of Independence The Struggle for Freedom from Ottoman Oppression and the Birth of the modern Greek Nation Woodstock, N Y [u a ] 2001, 36 ff Wolfgang von Hippel / Bernhard Stier, Reform und Revolution 1800–1850 (Handbuch der Geschichte Europas 7) Stuttgart, 2012, 254 f
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Reich wahr, in dem er einen berechenbaren Nachbarn und Ordnungsfaktor im östlichen Mittelmeerraum sah 18 England brauchte an den Meerengen eine starke Türkei gegen Russland, Frankreich wollte seine Interessen in dem noch türkischen Ägypten nicht gefährden und selbst der Zar traute dem Unternehmen nicht 19 Schon im Juni machten die osmanischen Streitkräfte diesem Abenteuer ein Ende 20 Seine Bedeutung bestand aber darin, dass dadurch sporadisch Aufstände auf der Peloponnes ausgelöst wurden Sie gingen in organisierte Freiheitskämpfe der allein auf sich gestellten Griechen über, in deren Verlauf bis zum Ende des Jahres die Halbinsel weitgehend von der Herrschaft der Türken befreit wurde, da diese sich zunächst auf den Kampf gegen den als gefährlicher eingeschätzten Ali Pascha konzentrierten So hatte der griechische Freiheitskampf begonnen, dessen Ursache im Innern, nämlich in der osmanischen Herrschaft lagen, dessen Ziele aber, Verfassung und Nation, von außen herangetragen worden waren Er verband zum ersten Mal die unterschiedlichen sozialen Schichten und Gemeinschaften des Griechentums miteinander Die Elite der Diaspora hatte die Ideen und politischen Konzepte aus Europa vermittelt und prägten dort das Bild von den Kämpfen, was für deren Ausgang mit entscheidend wurde Kaufleute und Reeder der Inseln stellten die Schiffe und finanzierten die Rüstung Die kampferprobte Landbevölkerung des rumelischen Festlandes stellte zusammen mit der des Peloponnes das Rückgrat der kämpfenden Truppe Mit der nicht unerheblichen Folge, dass diese Freischärler unabhängig voneinander agierten, ihr Zusammenhalt und Einsatz im Wesentlichen auf der persönlichen und daher oft wechselhaften Loyalität der Mannschaften gegenüber ihren jeweiligen Anführern, den so genannten „Kapitanei“ beruhte Das brachte den Aufstand nicht nur einige Jahre später fast zum Scheitern, sondern war auch ein massives Hindernis für die Zentralisierung der revolutionären Staatsgewalt Aus dem Zusammenwirken der griechischen Regionen und sozialen Schichten resultierte zwar eine beachtliche militärische Schlagkraft, doch lagen hier andererseits auch alle Probleme der Zukunft Für die Mehrheit aller Schichten von den Eliten über die Militärführer bis zu den Bauern war kennzeichnend, dass sie politisch und mental so sehr in ihren Regionen verwurzelt waren, dass ihnen darüber hinausgehende Aspekte fremd waren und sie so gut wie nie zu übergreifenden Kompromissen gelangten Dazu kam, dass die sozialen Vorstellungen der entscheidenden Kräfte weit auseinanderklafften 21 Die griechische Oberschicht wollte eine osmanische Gesellschaft ohne Türken Die militärische Klasse kämpfte vor allem für sich selbst; sie wollte so viele kleine Satrapien wie möglich und Beute für sich und ihre Soldaten Die Kleinbauern und Pächter wollten nur ihr Los verbessern, die Belastungen los werden, ihr Land ver18 19 20 21
Hösch, Großmächte (wie Anm 3), 33 Gaitinides, Griechenland ohne Säulen (wie Anm 1), 146 ff Clogg, Geschichte Griechenlands (wie Anm 6), 51 ff Brewer, War of Independence (wie Anm 16), 124 ff
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größern und aufsteigen Die Armen der Städte und des Landes hatten keine Führer Kein Intellektueller oder Politiker trat in ihrem Namen auf 22 In der frühen Phase des Aufstands haben die lokalen Autoritäten versucht, die Leitung des Krieges in die Hand zu bekommen Zu diesem Zweck sind auf der Peloponnes verschiedene lokale „Regierungen“, „Parlamente“ und Ephorien gegründet worden Im Sommer wurde von den lokalen Honoratioren ein Versuch gestartet, eine Gesamtregierung für die Peloponnes zustande zu bringen Da aber die bereits bestehenden Autoritäten darauf zurückhaltend reagierten, wurde nur eine Versammlung von Notabeln, der „Peloponnesische Senat“, gegründet Er erfüllte insofern schon die Aufgaben einer provisorischen Regierung, als er erste Koordinierungs- und Hilfsmaßnahmen ergriff Für die den Senat dominierenden „Archonten“ war nicht weniger wichtig, dass sie damit den ehrgeizigen Plänen des Abgesandten der „Philiki Etairia“, Demitrios Ypsilantis, Schranken gesetzt hatten Denn er war von seinem Bruder Alexander, der inzwischen in österreichische Gefangenschaft geraten war, als Beauftragter der „Philiki Etairia“ ins Aufstandsgebiet geschickt worden Der General in russischen Diensten hat mit dem Selbstbewusstsein des Phanarioten sofort den militärischen Oberbefehl für sich beansprucht und schon mit Blick auf eine gesamtgriechische Regierung die Grundlagen für seine plebiszitäre Einmannherrschaft gelegt Diese stand im krassen Gegensatz zu dem Regierungskollegium der Gleichen, das nur jeweils für ein Jahr die Macht ausüben sollte Daher vertrieben die Archonten Ypsilantis Doch mussten sie ihn auf Druck der Bauern, die sich von ihm eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erhofften, und der Kleften, die sich von ihm Unterstützung in der politischen Auseinandersetzung gegen die Oberschicht versprachen, zurückrufen 23 Ypsilantis richtete eine eigene Regierung und ein Hauptquartier ein, das mit dem Senat darüber stritt, wer die nachgeordneten Behörden kontrollieren sollte 24 Auf eigene Faust, teils schon mit philhellenischer Unterstützung, war der Phanariot Alexandros Mavrokordatos auf der Peloponnes gelandet Auch er konzipierte mit keinem größeren Erfolg wie sein Konkurrent Ypsilantis gesamtstaatliche Strukturen für die Halbinsel schon mit Blick auf den kommenden Nationalstaat Sein Konzept unterschied sich von dem von Ypsilantis darin, dass die lokalen Kräfte mehr eingebunden werden sollten und es sich in antirussischer Tendenz stärker an Westeuropa orientierte 25 Während auf den Inseln, wo Ypsilantis ebenfalls vergeblich versuchte, überregionale Strukturen durchzusetzen, zunächst die alten Klientelverbände intakt blieben, bildeten sich im Westen und Osten des rumelischen Festland ebenfalls kollektive parlaments22 23 24 25
Dakin, Greek Struggle (wie Anm 7), 78 Hering, Politische Parteien (wie Anm 2), 64 ff Dakin, Greek Struggle (wie Anm 7), 78 ff Dakin, Greek Struggle (wie Anm 7), 80 f
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ähnliche Regierungsorgane in der Hand der bisherigen politischen und gesellschaftlichen Eliten Doch blieben deren Handlungsmöglichkeiten wie auf dem Peloponnes stark begrenzt, da sie die Anführer der Freischärler nicht in den Griff bekamen Deren politisches Gewicht war durch die erfolgreichen Kämpfe erkennbar gewachsen, so dass sie auch auf einem entsprechenden größeren politischen Einfluss bestanden, um soziale Forderungen für sich und ihre Soldaten durchzusetzen 26 Teilweise traten sie auch als die Vertreter der ländlichen Unterschichten auf So prallten von Anfang an die Gegensätze der Verfassungsmodelle einer plebiszitär abgestützten Diktatur mit starker Zentralisierung der zivilen und militärischen Macht, wie sie Ypsilantis vorschwebte, mit dem Modell der oligarchischen Herrschaft, abgestützt durch eine regionale und lokale Selbstverwaltung, wie sie die Archonten propagierten, aufeinander Diese überlagerten sich mit den sozialen Gegensätzen zwischen den Reichen und Großgrundbesitzern einerseits und den ländlichen Unterschichten wie Freischärlern andererseits 27 Es erwies sich also von Anfang an als außerordentlich schwer, eine Zentralgewalt zu errichten Die bestehenden Gewalten wollten die Macht behalten, die sie in der türkischen Zeit gehabt hatten Die von außen kommenden Phanarioten, die sich am westlichen Modell orientierten, hatten kein Land, keinen familiären Einfluss und keine lokalen Wurzeln und außer Ypsilantis keinen Massenanhang Sie wurden aber dennoch anfangs akzeptiert, da sie Ausrüstung und Geld mitbrachten Sie konnten nur erfolgreich sein, indem sie die Konflikte einerseits zwischen den nun unentbehrlichen und immer mehr mit politischem Anspruch auftretenden Guerillaführern und den traditionellen Führungsschichten wie andererseits zwischen den unterschiedlichen Landesteilen ausnutzten Nur weil es einige eingeborene Griechen gab, die im nationalen Rahmen dachten, konnten die Außenseiter mit westlicher Orientierung weiterhin an ihrem Projekt eines Nationalstaats arbeiten 28 IV. Die gescheiterte Konsolidierung Deswegen gelang auch der erste Schritt zur Konstituierung der Nation Allerdings vor dem Hintergrund, dass der Partikularismus durch den Ausbau regierungsähnlicher Strukturen auf der Peloponnes wie auf dem östlichen und westlichen Festland schon befestigt war 29 Aus diesen drei regionalen Machtzentren wurden im Dezember 1821 Vertreter zur ersten griechischen Nationalversammlung nach Epidauros geschickt,
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Hering, Politische Parteien (wie Anm 2), 70 ff Vgl auch noch Clogg, Geschichte Griechenlands (wie Anm 6) 60 f Dakin, Greek Struggle (wie Anm 7), 85 f Karl Mendelssohn Bartholdy, Geschichte Griechenlands Teil 1: Von der Eroberung Konstantinopels durch die Türken bis zur Seeschlacht bei Navarin (Staatengeschichte der neuesten Zeit, Bd 15) Leipzig, 1870, 240 ff
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die von den jeweiligen lokalen Eliten ausgewählt worden waren Diesen ging es daher auch darum, die Macht der regionalen Regierungen ebenso zu erhalten wie die der jeweiligen politischen Rivalen nicht weiter anwachsen zu lassen Dennoch kam mit Blick auf die europäische Öffentlichkeit relativ rasch eine Verfassung zustande, die am griechischen Neujahrstag, dem 13 Januar 1822, verkündet wurde 30 Die orthodoxe Kirche wurde zur Staatskirche erklärt, eine eingeschränkte Pressefreiheit garantiert und Rechtsgleichheit versprochen Die Regierungsorgane waren nach dem Vorbild der französischen Direktorialverfassung von 1795 konzipiert Zum Präsidenten des nach sozialen wie regionalen Kriterien gewählten Parlament mit Gesetzgebungs- und Budgetrecht wurde Ypsilantis bestimmt Ihm stand eine Exekutive gegenüber, die Gesetzentwürfe einreichen konnte, das Kabinett zu bilden hatte und für die innere Sicherheit, die auswärtigen Beziehungen wie für das Militär zuständig war Sie bestand unter dem Vorsitz von Alexandros Mavrokordatos aus fünf Mitgliedern, die aus den Abgeordneten des Parlaments zu wählen waren; dieses Direktorium ernannte wiederum die acht Minister Während die Gesetze des Parlaments zur Gültigkeit die Zustimmung der Exekutive brauchten, musste diese alle wichtigen Entscheidungen von jenem absegnen lassen 31 Da weder die Mehrheitsfindung im fünfköpfigen Direktorium klappte noch die Kooperation zwischen Parlament und Regierung war die zentrale Regierungsebene lahmgelegt, so dass die eigentliche Exekutive weiterhin die regionalen Regierungen inne hatten, die durch die Verfassung legalisiert worden waren 32 Diese blieben die Bühne für heftigste Rivalitäten und politische Wechsel, doch selbst deren Reichweite in zivilen wie militärischen Angelegenheiten war begrenzt Im Mai 1822 konnte Alexandros Mavrokordatos noch einmal die von Westgriechenland umgestalten Er wurde Leiter der politischen und militärischen Angelegenheiten und ihm standen einige Minister zur Seite Obwohl er scheinbar eine fast diktatorische Stellung hatte, verfügte er kaum über Macht außerhalb von Mesolongi 33 Die Verfassung war auch mit Blick auf die europäischen Mächte entworfen worden Dabei war der Zweck, Europa eine konstitutionelle Fassade vorzuspielen und die Heilige Allianz davon zu überzeugen, dass die Griechen in der Lage seien, eine konservative Regierung zu gründen Unter anderem deswegen wurde der religiöse und monarchische Prinzipien hervorgehoben Die Griechen wollten zeigen, dass sie respektable Revolutionäre waren und keine Carbonnari Um mehr als das zu tun, dafür waren die regionalen Kräfte, die Militärführer und die Führungsschicht zu stark Denn 30 31 32 33
Provisorische Verfassung Griechenlands vom 15 1 1822: Peter Brandt [u a ] (Hrsg ), Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19 Jahrhundert Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel Teil 2: 1815–1847 Bonn 2010 Vgl auch noch Brewer, War of Independence (wie Anm 16), 128 ff Zelepos, Aufstandsregierungen (wie Anm 36) Vgl auch Mendelssohn Bartholdy, Geschichte Griechenlands I (wie Anm 29), 246 ff Dakin, Greek Struggle (wie Anm 7), 90
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keine von ihnen wollte eine Regierung unterstützen, die sich nicht für ihre Zwecke instrumentalisieren ließ 34 Nachdem Ali Pascha liquidiert worden war, hat die Pforte vor allem dessen Nachfolger im Laufe des Jahres 1822 den energischen Kampf gegen die griechische Gefahr übertragen Er wurde unterstützt durch eine osmanische Flotte, die den Verlust ihrer bisherigen erfahrenen griechischen Besatzungen nur unzulänglich hatte wettmachen können Und obwohl jetzt der Partisanenkampf vermehrt durch offene Feldschlachten abgelöst wurde, gelang kein entscheidender Durchbruch Bis 1824 konzentrierten sich die Osmanen auf die Verstärkung und Sicherung von etwa einem Dutzend Festungen, die ihnen im Aufstandsgebiet noch verblieben waren 35 Um die Konsequenzen aus der innergriechischen Entwicklung zu ziehen, trat Ende März 1823 die zweite griechische Nationalversammlung in Astros zusammen 36 Die Staatsgewalt wurde gestärkt, indem erstens die Lokalverfassungen des ersten Kriegsjahres außer Kraft gesetzt wurden und zweitens das absolute Veto der Exekutive im Gesetzgebungsverfahren in ein suspensives abgeschwächt wurde Dies wurde aber von den in der Exekutive vorherrschenden militärischen Parvenüs als ein Sieg der das Parlament dominierenden archontischen Eliten verstanden Ihnen wurde unterstellt, dass sie die anderen Schichten des Volkes weder am Wohlstand noch an der politischen Macht beteiligen wollten 37 Sie lösten die Nationalversammlung daher im November 1823 gewaltsam auf Daraufhin konstituierte sie sich in dem Küstenort Kranidi neu und wählte einen Monat später auch eine neue Exekutive 38 Im Januar 1824 haben die Militärs im arkadischen Tripolis ein Parlament und eine zweite Aufstandsregierung gebildet, die vor allen Dingen mit Peloponnesiern besetzt wurde Da die Regierung von Kranidi vom Ausland als die legitime griechische Exekutive anerkannt wurde, erhielt sie die von englischen Banken mobilisierte Anleihe Mit deren Hilfe konnte sie die Loyalität ihrer Truppen sichern, die bis zum Juni 1824 ihre Gegner ausschalteten Waren die Gründe für den ersten Bürgerkrieg vor allen Dingen die sozialen Konflikte zwischen den besitzenden Archonten und den besitzlosen Freischärlern wie Bauern, hatte der zweite seine Ursache in den landsmannschaftlichen und regionalen Gegensätzen Die infolge des ersten Bürgerkriegs von den Insel- und Festlandsgriechen weitgehend marginalisierten Peloponnesier verweigerten der Zentralregierung
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Dakin, Greek Struggle (wie Anm 7), 89 Ausführlich Dakin, Greek Struggle (wie Anm 7), 91 ff und Brewer, War of Independence (wie Anm 16), 79 ff Zum Folgenden: Ioannis Zelepos, Die Aufstandsregierungen im griechischen Unabhängigkeitskrieg von 1821, in: Karsten Ruppert (Hrsg ), Institutionen revolutionärer Macht in den europäischen Revolutionen der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts Erscheint demnächst Vgl auch noch Hering, Politische Parteien (wie Anm 2), 76 ff Das „organische Gesetz von Epidauros“ vom 29 3 1823: Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte II (wie Anm 30) Clogg, Geschichte Griechenlands (wie Anm 6), 60 f Mendelssohn Bartholdy, Geschichte Griechenlands I (wie Anm 29), 325 ff
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so lange die Steuern, bis in den letzten beiden Monaten des Jahres 1824 ihr Widerstand gewaltsam gebrochen wurde 39 V. Die Anfänge des Philhellenismus Der griechische Aufstand hatte von Anfang an in der deutschen, europäischen und am Rande auch der amerikanischen Öffentlichkeit eine außergewöhnliche Resonanz gefunden, die auf ihn zurückwirkte und für seinen Verlauf immer wichtiger werden sollte 40 Passend zur Osterwoche 1821 entwarf der Leipziger Philosophieprofessor und Publizist Wilhelm Traugott Krug eine Programmschrift zum „Auferstehungsfeste“ mit dem Titel „Griechenlands Wiedergeburt“ 41 Er begrüßte es, dass die Griechen sich gegen ihre barbarischen Bezwinger erhoben hätten und forderte seine Landsleute auf, die „allergerechteste Sache der Welt“ zu unterstützen Ihm trat der an einem Münchner Gymnasium lehrende Altphilologe Friedrich Thiersch zur Seite Er hatte schon seit längerem unter Wissenschaftlern und Gebildeten die Emanzipation der Neugriechen propagiert und diese fraglos als die Nachfahren des antiken Kulturvolks präsentiert 42 Seine jetzt publizierten Beiträge hatten eine größere Resonanz Denn er eröffnete in der im deutschen Bürgertum weit verbreiteten „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ eine Artikelserie, in der er für die Unterstützung der Griechen warb und sich so deutlich wie kein anderer für die Entsendung von Freiwilligen einsetzte Zugleich begleitete er die Ereignisse auf dem Kriegsschauplatz mit seinen Kommentaren,43 obwohl auch er
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Zelepos, Griechenland (wie Anm 2), 1402 In diesem Aufsatz wird unter dem Begriff „Philhellenismus“ die Anteilnahme der europäischen Öffentlichkeit in ihren vielfältigen Formen an dem Krieg der Griechen gegen ihre osmanischen Besatzer verstanden In diesem Verständnis ist der Begriff in der Geschichtswissenschaft unumstritten Der Versuch von Anne-Rose Meyer in ihrem Vorwort zu dem von ihr herausgegebenen Sammelband Anne-Rose Meyer (Hrsg ), Vormärz und Philhellenismus (Forum Vormärz Forschung: Jahrbuch 18) Bielefeld 2013“, 11–21 ihn auf die gesamte Periode vom Erscheinen von Johann Joachim Winckelmanns Schrift „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ 1755 bis zu Goethes Tod auszudehnen und ihm auch auf alle künstlerischen Produktionen anzuwenden, die sich die klassische Antike zum Vorbild nahmen, führt in die Irre Dafür sollte man bei dem dafür in der Geistes-, Kunst- und Literaturgeschichte eingebürgerten Begriff der „Klassik“ bleiben Der Begriff „Wiedergeburt“ war als Schlagwort gegen die Restauration außerordentlich populär Er suggerierte, dass das Restaurationssystem die Nationen sich ihrer selbst entfremdet hätte und diese nur durch eine Wiedergeburt, die mit einer Befreiung von diesem System gleichgesetzt wurde, wieder zu sich selbst finden könnten Es wäre reizvoll einmal zu untersuchen, auf welchem Weg die Männer von Hambach diesem Begriff („Deutschlands Wiedergeburt“) übernommen haben und ob dies eine bewusste Anlehnung an den Philhellenismus gewesen ist Emanuel Turczynski, Bayerns Anteil an der Befreiung und am Staatsaufbau Griechenlands, in: Das neue Hellas (wie Anm 3), 44 Regine Quack-Manoussakis, Der deutsche Philhellenismus während des griechischen Freiheitskampfes 1821–1827 (Südosteuropäische Arbeiten 79) München 1984, 20 ff ; Johannes Irmscher,
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erst nach der Stabilisierung der Verhältnisse im Tross der bayerischen Experten 1831 in das bewunderte Hellas kam 44 Die bayerische Obrigkeit wusste nicht recht, wie sie mit dieser Initiative des angesehenen Altertumswissenschaftlers umgehen sollte Zumindest mit der Aufforderung, in einem fremden Land Kriegsdienst zu leisten, war er nach deren Ansicht zu weit gegangen Mit einigem Erfolg versuchte sie, die Bewegung einzudämmen, bis sich die Haltung der Großmächte in dieser Frage abzeichnen würde 45 Dennoch lösten die Initiativen der beiden Gelehrten trotz obrigkeitlicher Behinderung eine bisher nicht gekannte publizistische Welle aus In den Kirchen wurde für die griechische Sache gebetet und die Pfarrer nahmen sich ihrer in den Predigten an Dass die Katholiken dabei fast vollständig abseits standen, ist ein Beleg für deren noch wenig entwickeltes politische Bewusstsein In den Zeitungen und Zeitschriften rückte der griechische Freiheitskampf ins Zentrum des Interesses Begabte und weniger begabte Männer und Frauen schmiedeten markige Verse gegen die osmanischen Tyrannen oder beklagten das Leid des griechischen Volkes in Novellen und Romanen Auf den Bühnen wurden Dramen und Opern mit vergleichbarer Thematik populär und Maler ließen bei der Darstellung griechischer Heldentaten wie türkischer Greuel ihrer Phantasie freien Lauf Historiker rechtfertigten den Ruf der Griechen nach Freiheit, sie erreichten aber bei weitem nicht die Publizität der Broschüren, Pamphlete und Flugblätter, die Vergleichbares enthielten, meist aber die aktuelle Entwicklung im progriechischen Sinne kommentierten 46 Mit Vorliebe vertrieben die Griechenvereine auch Broschüren, in denen die griechischen Verfassungen abgedruckt waren,47 die den deutschen Philhellenen vorgaukelten, dass das von ihnen erstrebte Gemeinwesen dort schon erreicht sei Es ist bezeichnend, dass sich Deutschland und Europa erst für das Schicksal der Griechen interessierten, als in den Jahren der Restauration die spektakulären Kämpfe und die in Europa weit verbreiteten zahlreichen Verfassungsentwürfe zu Analogien verleiteten Im Zeitalter der Klassik stand das Griechentum der Gegenwart nie im Fokus, obwohl schon damals Wilhelm Heinse die Akteure seines Künstlerromans „Ardinghello“ von 1787 nach der Beseitigung der türkischen Herrschaft in „Ionien“ eine ideale Demokratie nach antikem Muster errichten ließ und Friedrich Hölderlin
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Der griechische Befreiungskampf und die Begründung des griechischen Nationalstaats, in: Klio 54 (1972), 364 Jürgen Kilian, Die Philhellenen Friedrich Thiersch und Jakob Philipp Fallmerayer – zwei Gegenspieler im Streit um die „Entstehung der heutigen Griechen“, in: Vormärz und Philhellenismus (wie Anm 40), 32 Vgl Bayerisches Hauptstaatsarchiv, MA 84267: Unterstützung der Griechen gegen die Türken 1821–1826 Gerhard Grimm, „We are all Greeks“ Griechenbegeisterung in Europa und Bayern, in: Das neue Hellas (wie Anm 3), 24 f Christoph Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation : Philhellenismus und Frühliberalismus in Südwestdeutschland (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 87) Göttingen 1990, 69
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seinen freiheitsliebenden Helden „Hyperion“ (1797–99) für die Wiedergeburt Griechenlands in den Kampf schickte mit der Botschaft, dass auch die Heimat dieser bedürftig sei 48 Wenn auch diese wie andere Werke der Klassik in der philhellenischen Auseinandersetzung mit dem Befreiungskampf keine Rolle mehr spielten, so war das in dieser Epoche entworfene ästhetisch-humanistische Bild des antiken Griechenlands dennoch ein entscheidendes Motiv für den Einsatz des Bürgertums Vor allem die Gebildeten in seinen Reihen waren davon überzeugt, dass Europa für sein klassisches Kulturerbe und sein humanistisches Persönlichkeitsideal den heutigen Griechen, in denen man die Söhne (weniger die Töchter) von Perikles, Platon, Pindar oder Praxisteles sah, Dank schuldig sei Der neuhumanistische Idealismus und eine romantische Arkadien-Schwärmerei stützten und erweiterten diese Sicht 49 Doch richteten sich die Publikationen auch ausdrücklich an die Christen, um sie zur Solidarität mit ihren orthodoxen Brüdern und Schwestern aufzurufen, die sich gegen die osmanische Vormacht des Islam, der die heiligen Stätten beherrsche und das byzantinische christliche Reich zerstört habe, auflehnten Damit einher gingen die oft weniger ideologisch aufgeladenen Appelle an Karitas und Nächstenliebe Liberale und Demokraten faszinierte der Kampf für die Freiheit Sie empfanden Sympathien für die Griechen, weil sie Parallelen zur eben erst aus eigener Kraft erreichten Befreiung von der napoleonischen Fremdherrschaft zu erkennen meinten und weil sie in der Bildung einer freien Nation, die man ebenfalls, wenn auch mit anderen Mitteln, wollte, nun voranschritten 50 Nicht ohne Hintersinn wurden die deutschen Potentaten in ihrer Polemik immer wieder als „Sultane“ bezeichnet Dass der Philhellenismus sich aus dem klassisch-philologischen Neuhumanismus, der christlichen Solidarität und dem politischen Liberalismus speiste, erklärt seine Breitenwirkung, da diese Quellen jeweils ganz andere Schichten ansprachen Und vermutlich konnte er sich so rasch verbreiten und organisieren, weil er zahlreiche Aktivitäten entfaltete und sich Formen bediente, die bereits in den Befreiungskriegen eingeübt worden waren 51 Zahlreiche Publikationen hatten dezidiert zur Hilfe und Unterstützung Griechenlands aufgerufen Diese jetzt auch umzusetzen, war daher der nächste Schritt Wenn der Philhellenismus nicht nur ein deutsches Phänomen war, so lag doch gerade in dieser Hinsicht der Schwerpunkt in der Schweiz und im Deutschen Bund Hier wiederum in der bis 1823 dauernden Phase bezeichnenderweise in den konstitutionellen Staaten Hessens und Südwestdeutschlands wie der Pfalz 52
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Irmscher, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 51), 479 f Klein, L’ Humanité (wie Anm 54), 211 f Turczynski, Bayerns Anteil (wie Anm 42), 43 Johannes Irmscher, Der deutsche Phillhellenismus in der Epoche der griechischen Erhebung, in: Meletemata ste mneme Basileiu Laurda Thessaloniki 1975, 485 Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 14
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VI. Der Philhellenismus in Aktion Der Philhellenismus, der sich europaweit mit illustren Namen schmücken konnte,53 trat vor allem in zwei Formen in Erscheinung Zum einen bildeten sich in den Städten jeglicher Größe Komitees, die unter der Führung von Honoratioren sich um die Sammlung von Spenden in allen Schichten bemühten Meist wurden die Listen der Spender regelmäßig in den lokalen Blättern veröffentlicht Gelegentlich wurden Wohltätigkeitskonzerte, Lesungen und Vorträge wie Basare veranstaltet Die gesammelten Gelder wurden an die nächstgelegenen Vereine überwiesen Sofern diese sie nicht selbst verwendeten, wurden sie an Vereine, die in eine Führungsrolle hineingewachsen waren, weitergeleitet Anscheinend verfügten nur diese über die persönlichen und banktechnischen Verbindungen, um Gelder nach Griechenland zu schicken 54 Neben den Komitees, die meist nur zeitweise bestanden oder sich zu bestimmten Anlässen formierten, gab es die Griechenvereine, von denen die wichtigsten zunächst in Hamburg, Frankfurt, Darmstadt und Stuttgart saßen Sie hielten Kontakt mit den anderen Vereinen und bildeten so die wohl erste überregionale bürgerliche Bewegung im Deutschen Bund 55 Von Darmstadt aus wurden die Fäden sogar nach London, von Stuttgart aus nach Zürich, Genf und Paris geknüpft Die Vereine haben sich um griechische Flüchtlinge gekümmert und meist auch deren Rückkehr finanziert 56 Sie haben Ärzte und deren Helfer sowie Handwerker nach Griechenland geschickt und Schülern und Studenten von dort Stipendien gewährt Sie konnten dabei an die Arbeit des „Bundes der Griechenfreunde“ anknüpfen, der sich seit 1814 um die kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern bemühte 57 In den USA und in einigen Städten Westeuropas wie in Zürich und Köln hat es Frauenvereine gegeben, die sich vor allen Dingen um die Erziehung griechischer Kinder in ihren Heimatländern kümmerten 58
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Unter anderem der russische Dichter Alexander Puschkin; aus Frankreich die Schriftsteller PierreJean de Béranger, René Chateaubriand und Victor Hugo, dazu der Maler Eugène Delacroix; aus England der Dichter Lord Byron, der für die griechische Sache vor Mesolongi sein Leben ließ; aus Deutschland die Dichter Heinrich Voss, Adalbert von Chamisso, Gustav Schwab und Ludwig Uhland Natalie Klein, L’humanité, le Christianisme, et la liberté Die internationale philhellenische Vereinsbewegung der 1820er Jahre (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz: Abteilung für Universalgeschichte 178) Mainz 2000, 51 schätzt, dass in Südwestdeutschland, der Schweiz, England und Frankreich insgesamt jeweils etwa 200 000–250 000 französischen Francs gesammelt wurden Georg Gottfried Gervinus, Geschichte des 19 Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen Bd 6: 1824 bis zum russisch-türkischen Krieg 1828/29 Leipzig 1862, 8 Klein, L’Humanité (wie Anm 54), 39 Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 49 f Klein, L’Humanité (wie Anm 54), 145
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Die wichtigste Aufgabe, der sich die Vereine in der ersten Phase widmeten, war die Organisierung der militärischen Unterstützung der griechischen Kämpfer Dabei ist die Initiative in den wenigsten Fällen von den Vereinen selbst ausgegangen Vielmehr meldeten sich auf die Aufrufe, für Freiheit und Glauben gegen den Erbfeind des Abendlands wie des Christentums in den Kampf zu ziehen, zahlreiche Freiwillige, obwohl sie von Professoren, Literaten, Pfarrern und Journalisten, die selbst niemals eine Waffe in der Hand gehabt hatten und denen jegliche Vorstellung von den Kämpfen in Griechenland fehlte, ergangen waren Es waren dies nach den napoleonischen Kriegen abgedankte Offiziere und Soldaten, doch auch nicht wenige idealistische Studenten, begeisterte Handwerker und Glücksritter wie Abenteurer Vor allem in Stuttgart wurden in Kooperation mit den Schweizer Griechenvereinen seit November 1821 die Expeditionen zusammengestellt,59 ausgerüstet und versorgt, um dann, auf ihrem Marsch von befreundeten Vereinen unterstützt, sich über Marseille einzuschiffen 60 Der kürzere Weg über die italienischen Häfen war ihnen durch das Österreich Metternichs versperrt 61 Bis die französische Regierung 1823 den Durchzug verbot, sind so etwa zehn Expeditionen in einer Stärke von insgesamt zwischen 700 und 1000 freiwilliger Kämpfer nach Griechenland gelangt Sie kamen fast aus ganz Europa, die meisten aber waren Deutsche mit deutlichem Abstand gefolgt von Franzosen 62 Die Entsendung von Freiwilligen nach Griechenland war insgesamt ein Fehlschlag, vielleicht sogar ein Desaster Ausbildungsstand und Ausrüstung der Truppen war sehr unterschiedlich 63 Ihre Disziplin ließ oft zu wünschen übrig, öfters kam es zu Streitereien, meist unter den Nationen Die Ankommenden kannten die Landessprache nicht und litten unter den Klima Vor allem aber kamen sie mit der Kampfweise des Guerilla- und Bürgerkriegs nicht zurecht Die Absicht, sie in regulären Kampfeinheiten zusammenzufassen, scheiterte daran, dass das Geld dafür fehlte und sich in den jeweiligen griechischen Regierungen niemand fand, der dafür Kompetenz hatte 64 So zerfielen die Trupps Einige schlossen sich den griechischen „Kapitanei“ an, wenige versuchten ihr Glück beim Feind und die meisten schlugen sich in die Heimat durch, wenn sie nicht zuvor in den Kämpfen gefallen oder durch Epidemien hinweggerafft worden waren
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Wilhelm Barth / Max Kehrig-Korn, Die Philhellenenzeit Von der Mitte des 18 Jahrhunderts bis zur Ermordung Kapodistrias’ am 9 Oktober 1831; mit einem ausführlichen Namenverzeichnis der europäischen und amerikanischen Philhellenen München 1960, 29 Barth/Kehrig-Korn, Philhellenenzeit (wie Anm 59), 24 f Klein, L’Humanité (wie Anm 54), 38 Eine Liste der von Marseille aus aufgebrochenen Schiffe und eine unvollständige Liste der von da aus verschifften Griechenlandkämpfer haben zusammengestellt Barth/Kehrig-Korn, Philhellenenzeit (wie Anm 59) 63 ff Vgl auch noch Klein, L’Humanité (wie Anm 54) 53 und Grimm, „We are all Greeks“ (wie Anm 46) 23 Irmscher, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 51), 483 Quack-Manoussakis, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 43), 87
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So war der württembergische General Graf Norman-Ehrenfels im Januar 1822 aufgebrochen, um seinen in den Freiheitskriegen lädierten Ruf wiederherzustellen; deswegen hat er wohl auch regelmäßig von seinem Unternehmen in deutschen Blättern berichtet 65 Mit seinen 46 Freiwilligen und anderen in Korinth gestrandeten Europäern bildete er ein Bataillon von 180 Mann, mit dem er Mitte Juli auf eigene Faust Peta besetzte Die durch Hunger, Krankheit und Klima schon arg ramponierten Kämpfer konnten dem türkischen Angriff nicht standhalten, nur 18 überlebten; darunter der Oberkommandierende, der aber im November von einem Fieber dahingerafft wurde 66 Als dann noch im Herbst des Jahres die griechische Regierung mit der unter großen Anstrengungen von deutschen und Schweizer Vereinen zusammengestellten „Deutschen Legion“ vor Ort nichts anfangen konnte, obwohl sie um deren Entsendung gebeten hatte, entschlossen sich diese, keine Expeditionen mehr auszurüsten 67 Schon zuvor hatten die Berichte der Rückkehrer Zweifel aufkommen lassen, ob die Entsendung freiwilliger Kämpfer zweckmäßig sei Denn diese haben durchgehend die persönlichen Enttäuschungen und Entbehrungen herausgestellt, die Anarchie im Land geschildert und vor allem unterstrichen, dass dort in einer Weise gekämpft werde, die mit dem Ethos des regulären Soldaten meist nicht vereinbar sei 68 Auf dem Rückweg setzte sich für viele Enttäuschte das Elend fort; sie schafften ihn, wenn überhaupt, oft nur mit Hilfe von vielen Seiten 69 Zuhause sahen sich die Vereine jetzt vor der paradoxen Situation, dass sie die gescheiterten Rückkehrer unterstützen mussten, deren Aufbruch sie vor einigen Monaten noch finanziert hatten An der Jahreswende 1822/23 haben die deutschen und Schweizer Vereine nochmals in einem großen Umfang Gelder für die Versorgung griechischer Flüchtlinge mobilisieren können Eine Aktion, die im gesamten Deutschen Bund große Aufmerksamkeit erregte Danach ging aber auch deren Interesse an den Vorgängen in Griechenland und auch die Mobilisierung von Spenden erkennbar zurück, zumal nach den bisher gemachten Erfahrungen die Ausrüstung weiterer Kämpfer von den meisten Vereinen abgelehnt wurde Während sich jetzt vor allem durch die nun erscheinenden Erlebnisberichte der enttäuschten Heimkehrer eine realistische bis pessimistischen Sicht in der Öffentlichkeit breit machte, hat die Belletristik noch weiter die Helden- und Freiheitssaga der Griechen ausgeschlachtet 70
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Hans Rödel, „Wohlauf! Zerbrecht, Ihr edlen Mannen, das Joch der türkischen Tyrannen!“ Das Kirchheimbolander Wochenblatt als Sprachrohr des Philhellenismus in den 20er Jahren des 19 Jahrhunderts, in: Pfälzer Heimat 53 (2002), 65 f Barth/Kehrig-Korn, Philhellenenzeit (wie Anm 59), 32 ff Barth/Kehrig-Korn, Philhellenenzeit (wie Anm 59), 46 ff Quack-Manoussakis, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 43), 62 ff , 87 Königlich bayerisches Konsulat von Triest an das Außenministerium, 25 2 1823: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, MA 84267 Quack-Manoussakis, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 43), 125 ff
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Das „London Greek Committee“ hat im März 1823 noch einmal eine europäische Freiwilligentruppe zusammengestellt, die aber auch nicht erfolgreicher war 71 Die englischen Philhellenen haben auch zwei Waffen-und Munitionsfabriken in Griechenland finanziert, die vermutlich wegen der fehlenden technischen Kenntnisse niemals etwas produziert haben 72 Seitdem verschob sich die Unterstützung zunächst hin zur Mobilisierung von Geldern im großen Stil auf dem englischen Finanzmarkt Großbritannien, das auf dem Kongress der europäischen Ordnungsmächte in Verona Ende 1822 nur noch als Beobachter anwesend gewesen war, hat noch 1823 die Kämpfenden völkerrechtlich als Kombattanten anerkannt Das war die Voraussetzung dafür, dass die jeweiligen griechischen Regierungen in London im Zusammenwirken mit dem dortigen Griechenverein 1824 eine Anleihe von 800 000 und 1825 eine von 2 Millionen £ auflegen konnten 73 Niedrige Auszahlungsquoten, Unkosten, Kursmanipulationen und Schmiergelder sorgten dafür, dass kaum mehr als die Hälfte für den Kauf von Schiffen, Waffen und Munition zur Verfügung stand 74 Dennoch hatte der griechische Fiskus an Zinsen und Tilgung fast bis zum Ende des Jahrhunderts daran zu tragen VII. Der Pfälzer Philhellenismus 1821–23 In der ersten Phase des deutschen Philhellenismus von 1821–1823 scheint die Pfalz der rührigste Kreis in Bayern gewesen zu sein Schon im August 1821 erschien im führenden liberalen Blatt der Provinz, der „Neuen Speyerer Zeitung“, ein Aufruf zur Gründung eines Hilfsvereins für Griechenland Deren Verleger Jakob Christian Kolb erklärte sich bereit, vorläufig dessen Geschäftsführung zu übernehmen 1827 übergab er Redaktion und Verlag seinem Sohn Georg Friedrich, der ein führender Liberaler in der Pfalz wurde Die Bewegung scheint aber nicht recht in Schwung gekommen zu sein, da die Kreisregierung darauf hinwies, dass die Annahme fremder Kriegsdienste und die Durchführung nicht genehmigter Sammlungen gegen die Gesetze verstoße 75 Ungehindert konnte allerdings J C Kolb Broschüren auswärtiger Griechenvereine vertreiben und in seiner Zeitung über die Kämpfe informieren Die „Neue Speyerer Zeitung“ wie auch andere Pfälzer Blätter unterscheiden sich von vielen anderen philhellenischen Organen durch eine von Illusionen freie Berichterstattung, ohne deswegen die Sache der Griechen fallen zu lassen 76
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Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 96 Klein, L’Humanité (wie Anm 54), 86 Grimm, „We are all Greeks“ (wie Anm 46), 27 Klein, L’Humanité (wie Anm 54), 86 Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 68 f Rödel, Kirchheimbolander Wochenblatt (wie Anm 65), 62
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Von den Vereinen in Stuttgart und Darmstadt angestoßen, liefen die Spendenaktionen seit dem Sommer 1822 in großem Umfang an Verantwortlich dafür war wohl das türkische Massaker auf der Insel Chios im April 1822, das ganz Europa erschütterte und den französischen Maler Eugène Delacroix 1824 zu seinem berühmten Gemälde inspirierte Von den 75 000 Bewohnern sollen 20 000 ermordet worden sein und 47 000 in die Sklaverei geraten sein Die Regierungen gerieten dadurch so sehr unter moralischen Druck, dass sie zumindest die Spendensammlungen nicht mehr behinderten Bürgerliche Honoratioren, Kaufleute, evangelische Pfarrer und Lehrer gingen nun meist angelehnt an bereits bestehende bürgerlich-gesellige Vereine in die Initiative; in Speyer schlossen sich jetzt sogar Beamte der Kreisregierung an Einen zusätzlichen Impetus erhielt das Unternehmen dadurch, dass die Pfälzer Liberalen nach ihren ersten frustrierenden Erfahrungen in der bayerischen Ständeversammlung die Chance nutzten, um ihre Popularität zu steigern und ihre Bewegung auszubauen 77 Die rührigsten Städte waren die, die während der Revolution von 1848/49 Hochburgen der politischen Vereine wurden In ihnen gingen die Familien voran, deren Mitglieder beim Hambacher Fest oder in der Revolution dann ebenfalls eine führende Rolle übernahmen 78 So sammelten die Pfälzer Komitees, die es, außer in den katholischen Gebieten, im gesamten Kreis gegeben hat, immerhin eine Summe, die der des Großherzogtums Baden entsprach 79 Für eigene Aktionen wurden die Spenden wohl nicht verwendet, sie flossen meist in die Kassen des Darmstädter Vereins 80 VIII. Kritik und Ausklingen der ersten Phase Schon die Philhellenen der ersten Stunde wie Thiersch und Krug waren mit ihrer Obrigkeit in Konflikt geraten Thiersch wurde von der bayerischen Zensurbehörde belangt81 und die sächsische Regierung ließ Krug wissen, dass es keinem Mitbürger zustehe, zu einem Kampf in einem fremden Land aufzurufen 82 Das war ganz im Sinne der
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Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 232 ff Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 70 ff Vgl im einzelnen Tabelle und Karte bei Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47) 186 f Er erfasst nur die Sammlungen von 1822–23, während der Katalogband „1832–1982 Hambacher Fest“ nur die von 1826/27 (s dazu weiter unten) berücksichtigt Michael Martin, Rettet die Griechen! Als Griechenland sich 1821 bis 1827 gegen die Herrschaft der Osmanen erhob, fand es überall in Europa Verbündete … weswegen auch die bayerische Pfalz den bedrängten Hellenen zu Hilfe eilte, in: Die Rheinpfalz (Ludwigshafen) 67 (2011) Nr 187 vom 13 8 2011 behauptet ohne weiteren Beleg, dass Pfälzer Gemeinden auch Freiwillige ausgerüstet hätten; das ist aber nicht sehr wahrscheinlich Zu korrigieren ist seine Angabe, dass in der Pfalz erst seit Februar 1823 Sammlungen stattgefunden hätten; so auch 1832–1982 Hambacher Fest (wie Anm 100), 43 Rödel, Kirchheimbolander Wochenblatt (wie Anm 65), 62 Quack-Manoussakis, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 43), 43 f
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Kabinette in Wien und Berlin, wo man die philhellenischen Aktionen im Deutschen Bund misstrauisch beobachtete Für den österreichischen Staatskanzler Metternich waren die Griechen Aufständische, die die Wiener Nachkriegsordnung gefährdeten und denen er unterstellte mit den Carbonari im Bunde zu stehen Er war davon überzeugt, dass in der griechischen Erhebung „zu viel revolutionärer Stoff “ sei Deswegen hat er den Griechenvereinen und deren Führern ihre Selbstlosigkeit nicht abgenommen, sondern ihnen unterstellt, auf Veränderungen im Deutschen Bund aus zu sein Mit Hilfe von Preußen versuchte er, auf die südwestdeutschen Staaten Druck auszuüben 83 Im Oktober 1821 erging von Wien aus die Weisung an die Regierungen im Deutschen Bund, mit Nachdruck gegen den Philhellenismus einzuschreiten Das hat die Bewegung in Bayern zunächst gedämpft,84 schon weniger im Königreich Württemberg, wo der König für sie Sympathien hegte, und noch weniger im Großherzogtum Baden mit seinem selbstbewussten Liberalismus Die konstitutionellen Staaten des Deutschen Bundes in Südwestdeutschland zeigten hier eine Haltung wie auch sonst oft in der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Bewegung Man ergriff halbherzig obrigkeitliche Maßnahmen, um den Bundespflichten nachzukommen und die Vormächte des Bundes zu besänftigen Es fehlte aber der Mut, um gegen die eigenen Bürger entschieden vorzugehen, so dass diese sich in ihren Aktivitäten wenig behindert sahen Zumal sie immer wieder ihren unpolitischen Charakter unterstrichen und sich als Hilfsorganisationen präsentierten, deren Anliegen jeder Christ und Bürger unterstützen müsse Metternichs Propagandist Friedrich von Gentz hat die Position seines Herrn publizistisch abgestützt und dabei geschickt die Uneinigkeit der griechischen Parteien, die moralischen Mängel ihrer Führer und die Fehler in ihrem politischen Vorgehen herausgestellt Da vor allem die Berichte und Broschüren der Heimkehrer diese negative Sicht stärkten und ihr Anschauung verliehen, griffen sie die Philhellenen an und versuchten deren Verbreitung zu verhindern Das Verhalten Österreichs in der griechischen Frage hat ihm auch in dem gebildeten Bürgertum Deutschlands, das nicht unbedingt auf Veränderung aus war, sehr viel Sympathien gekostet Gegenüber dessen Festhalten an der Legitimität des europäischen Staatensystems beriefen sich die Philhellenen auf die Legalität ihres humanitären Handelns Insgesamt haben aber weder die diplomatischen Initiativen noch die publizistischen Offensiven seiner Gegner dem Philhellenismus nachdrücklich schaden können Es hat wohl weniger daran gelegen, dass die Großmächte auf dem Kongress von Verona gegen Ende des Jahres 1822 den griechischen Aufstand vor allem auf Wunsch Metternichs als Rebellion gegen eine rechtmäßige Herrschaft brandmarkten und wei-
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Irmscher, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 51), 481 f Quack-Manoussakis, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 43), 49
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terhin auf das Osmanische Reich als Ordnungsmacht auf dem Balkan setzten, dass die philhellenische Bewegung abflaute Vielmehr dürfte dafür ausschlaggebend gewesen sein, dass nach den ersten Erfolgen gegen die Osmanen die Kämpfe im Folgejahr in einen Bürgerkrieg übergingen 85 IX. Die Wiederbelebung des Philhellenismus Die günstigen Aussichten, die sich für die griechische Sache in Europa auftaten, wurden aber nachhaltig eingetrübt durch die Entscheidung der Pforte, nun mit Nachdruck ihre Macht in Griechenland durchzusetzen Ihrem mächtigsten Satrapen, Vizekönig Mehmed Ali von Ägypten, wurde der Kampf gegen die Zusicherung von Zypern und Kreta übertragen Dieser schickte daher im Sommer 1824 seinen Stiefsohn Ibrahim Pascha mit einem großen von Franzosen gedrillten Expeditionsheer und einer Flotte Richtung Peloponnes Ihm gelang es, in den griechischen Wirren bis April 1826 fast die gesamte Halbinsel und das mittelgriechische Festland unter seine Kontrolle zu bringen Wichtige Häfen und Festungen waren in seiner Hand 86 Dadurch wurde der Philhellenismus in Europa überraschend wiederbelebt, da sich seit Beginn des Jahres 1825 die Konstellation der Anfangszeit wiederholte Seit April 1825 wurde mit Mesolongi die letzte noch von den Griechen gehaltene bedeutende Festung belagert Die Verteidigung zog sich über elf Monate bis Ende April 1826 hin und wurde zum Symbol eines ungebrochenen Freiheitswillens, die eine neue Welle des Griechenlandbegeisterung auslöste Sie entfaltete sich nun vor dem Hintergrund, dass sich Großbritannien aus der Verurteilung des griechischen Aufstands gelöst hatte und ihm Frankreich wie nach dem Thronwechsel von Ende 1825 auch Russland gefolgt waren Im selben Jahr hatte der Griechenlandschwärmer Ludwig I in Bayern den Thron bestiegen und in Preußen sah König Friedrich Wilhelm III angesichts dieses Umschwungs ebenfalls keinen Grund mehr, seine Sympathien zu verbergen Metternich sah sich mit seinem inflexiblen Kurs isoliert 87 Daher konnte sich die philhellenische Bewegung seit dem Frühjahr 1826 im Deutschen Bund ungehinderter als in ihren ersten Jahren ausbreiten Sie hat sich jetzt aber strikt auf die Sammlung von Geldern, vornehmlich für die Opfer des Krieges, beschränkt Es sind allerdings auch weiterhin Mittel an den Pariser Verein geflossen, der nach wie vor auch Kämpfer ausrüstete und bezahlte Die Bewegung verlor ihren Charakter als latente politische Opposition und wurde mehr zu einer humanitären Absicherung des neuen politischen Kurses der Großmächte 88 85 86 87 88
Gervinus, Geschichte des 19 Jahrhunderts (wie Anm 55), 9 f Gaitinides, Griechenland ohne Säulen (wie Anm 1), 150 f Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 98 f Irmscher, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 51), 484
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In Europa blieben London und Paris die wichtigsten Zentren, für die Schweiz und Südwestdeutschland hat allerdings Zürich gegenüber dem im September 1825 in Genf neu gegründeten Griechenverein an Bedeutung verloren Dort ist der Bankier Jean-Gabriel Eynard zum berühmtesten Philhellenen Europas aufgestiegen Er kannte sowohl das Land wie einen Teil seiner führenden Köpfe Er hat ein Netz unter den europäischen Vereinen aufgezogen, über Agenten die Verbindungen nach Griechenland gehalten und selbst in erheblichem Umfang gespendet 89 Seine Berufserfahrung prädestinierte ihn dazu, mit wechselndem Erfolg größere Anleihen und Darlehen zu mobilisieren Auch nachdem der philhellenische Eifer in Europa erloschen war, blieb er im Einsatz für die finanzielle Festigung der bayerischen Regentschaft 90 Im Deutschen Bund ging die Bedeutung Südwestdeutschland zurück seit in den Königreichen Preußen, Bayern und Sachsen die Philhellenen nicht nur obrigkeitliche Billigung erlangt hatten, sondern Regenten, Hofadel, führende Kirchenmänner und Staatsbeamte sich engagierten 91 Von dort und aus der Freien Hansestadt Hamburg kamen jetzt auch die meisten Gelder 92 Insgesamt war in Deutschland in der zweiten Phase mit einem Schwerpunkt zwischen Sommer 1826 und Sommer 182793 das Spendenaufkommen etwa doppelt so hoch wie in der ersten 94 Zur Mobilisierung der Gelder bediente man sich derselben Formen wie bereits zwischen 1821 und 1823 Da sie nun nur noch zur Linderung der Not, dem Freikauf versklavter Christen und als Hilfe für die Kriegsopfer und deren Angehörige verwendet werden sollten, konnten die jetzt stärker werdenden Zweifel, ob die Griechen von heute wirklich Nachfahren der antiken seien95 und ob jene überhaupt in der Lage wären, einen demokratischen Verfassungsstaat zu errichten, dem Mitgefühl der europäischen Philhellenen wenig anhaben Nachdem der griechenbegeisterte Kronprinz Ludwig, der den kämpfenden Hellenen zahlreiche Gedichte gewidmet hatte, im Oktober 1825 den Thron bestiegen hatte, vollzog sich ein vollständiger Umschwung in der bayerischen Griechenlandpolitik Der neue König ließ in München einen Zentralverein für die jetzt im Lande mit Unterstützung der Obrigkeit ins Leben gerufenen Filialvereine gründen 96 Propagandistisch wirkungsvoll ging er mit einer großzügigen Spende voran, so dass sich der Hof und seine Beamten gezwungen sahen, ihm zu folgen In den Rathäusern wurden Spendenlisten aufgelegt und die wöchentlichen Ergebnisse in den Intelligenzblättern der Regie-
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Quack-Manoussakis, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 43), 127 f Florian Kerschbaumer / Korinna Schönhärl, Der Wiener Kongress als „Kinderstube“ des Philhellenismus Das Beispiel des Bankiers Jean-Gabriel Eynard, in: Vormärz und Philhellenismus (wie Anm 40), 100 ff Quack-Manoussakis, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 43), 132 ff Vgl Tabelle bei Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 101 Klein, L’ Humanité (wie Anm 54), 119 f Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 108 Kilian, Die Philhellenen Friedrich Thiersch und Jakob Philipp Fallmerayer (wie Anm 44), 30 ff Quack-Manoussakis, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 43), 134 f
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rungsbezirke veröffentlicht 97 Söhnen gefallener Freiheitskämpfer stand die Offizierslaufbahn in der bayerischen Armee offen und jungen griechischen Männern wurde eine Schul- und Universitätsausbildung im Königreich ermöglicht Darauf vorbereitet wurden sie in einem Alumnat, das von Friedrich Thiersch geleitet wurde 98 Er, dessen philhellenische Initiative 1821 noch auf Ablehnung von oben gestoßen war, war 1826 auf einen Lehrstuhl für klassische griechische Sprache und Literatur an der Universität München berufen worden 99 In der Pfalz erschien am 14 Januar 1826 ein Aufruf zur Sammlung für das „unglückliche Griechenland“ 100 Sie stand unter der Protektion des Regierungspräsidenten von Stichaner 101 Diesmal beteiligte sich auch die evangelische Unierte Kirche der Pfalz offiziell Das Spendenaufkommen war in den Kantonen besonders groß, die sich auch schon in der ersten Phase ausgezeichnet hatten Die überwiegend katholischen Gebiete standen auch diesmal abseits 102 Die Spendenbeiträge des Kreises, die Konsistorialrat Schulz wöchentlich im Intelligenzblatt des Rheinkreises veröffentlichte,103 wurden an den Münchner Verein weitergeleitet Im Dezember 1826 entsandte der König einen Trupp von elf Mann unter Oberstleutnant von Heideck auf den griechischen Kriegsschauplatz Das Angebot, diese als Ausbilder und Militärberater einzusetzen, konterte die griechische Regierung mit der Forderung nach mehreren Regimentern, um nicht länger von den Bandenführern abhängig zu sein, und 3–4 Korvetten, um sich von den Inselkapitänen frei zu machen Bis auf einen durch ein Unglück zu Tode gekommenen Oberleutnant zog die Truppe nach einem Jahr in die Heimat zurück Heideck blieb noch bis 1829 und kehrte 1833 mit der bayerischen Regentschaft zurück 104 X. Neue internationale Konstellation Schon auf dem Kongress von Verona zum Jahresende 1822 fand Metternichs Politik, die Wiener Nachkriegsordnung gegen jegliche Veränderung zu verteidigen, nur noch die uneingeschränkte Unterstützung der Ostmächte Großbritannien war dazu nach dem Selbstmord von Außenminister Viscount Castlereagh im August 1822 bereits auf
Grimm, „We are all Greeks“ (wie Anm 46), 30 Turczynski, Bayerns Anteil (wie Anm 42), 45 Grimm, „We are all Greeks“ (wie Anm 46), 31 1832–1982 Hambacher Fest Freiheit und Einheit Deutschland und Europa Eine Ausstellung des Landes Rheinland-Pfalz zum 150jährigen Jubiläum des Hambacher Festes, Hambacher Schloß Neustadt a d Weinstr 18 Mai – 19 Sept 1982 Neustadt 1982, 49 f 101 Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 108 102 Vgl die Karte in: 1832–1982 Hambacher Fest (wie Anm 100), 50 103 Vgl Intelligenz-Blatt des Rheinkreises Speyer 1826 und 1827 104 Barth/Kehrig-Korn, Philhellenenzeit (wie Anm 59), 50 ff
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Distanz gegangen Dessen Europapolitik, die von ihm mitgeschaffene Wiener Ordnung zu erhalten, hatte zu Hause schon seit längerem keinen Rückhalt mehr, da sie die reaktionären Mächte stärke Obwohl Zar Alexander noch an der Restaurationspolitik festhielt, stand er innenpolitisch vor allem seit den spektakulären Lynchmorden am Patriarchen und einigen orthodoxen Bischöfen Ostern 1821 in Konstantinopel immer mehr unter Druck, den orthodoxen Glaubensbrüdern beizuspringen Daher folgte noch 1823 Russland dem britischen Schritt und erkannte die Aufständischen diplomatisch an Beide Mächte suchten eine Lösung des griechischen Problems, ohne die Stabilität der internationalen Ordnung zu gefährden darin, dass sie eine tributpflichtige Autonomie Griechenlands im Osmanischen Reich anstrebten Alle diese Bemühungen sind aber an der Ablehnung des Sultans gescheitert 105 Die fast vollständige Rückeroberung der Peloponnes und des griechischen Festlandes von Anfang 1825 bis zum Hochsommer 1826 durch die ägyptisch-türkische Armee zwang die britisch-russische Allianz, ihren Druck zu erhöhen Sollte der weiterhin bevorzugte Verhandlungsweg nicht zum Waffenstillstand führen, wollte man militärisch eingreifen Eine Politik, die Frankreich seit dem Sommer 1827 unterstützte Um das Ziel durch die Blockade der Nachschubwege über die See zu erreichen, wurde eine gemeinsame Flotte in die griechischen Gewässer beordert Diese geriet gegen den Willen der Mächte am 20 Oktober 1827 in einen Kampf mit der ägyptisch-türkischen bei Navarino, in dem diese vernichtet wurde 106 Es war nicht nur diese Niederlage, die die Wende des Krieges einläutete, sondern vor allem auch die Tatsache, dass die griechischen Freiheitskämpfer von nun an mit der Unterstützung der drei Mächte rechnen konnten Denn diese waren enttäuscht darüber, dass im Rahmen des nachnapoleonischen Konzerts der Mächte unter der Führung Österreichs immer noch keine Lösung der „orientalischen Frage“ erreicht worden war und vereinbarten gegenseitig, sich nicht in Griechenland festzusetzen Als dann noch im Herbst 1828 im Kaukasus erneut ein Krieg zwischen Russland und dem Sultan ausbrach, schien den Philhellenen Europas die Freiheit der Griechen so sicher bevorzustehen, dass sie glaubten ihre Hilfsleistungen einstellen zu können Im Deutschen Bund, wo der Einsatz schon nach der Vernichtung der ägyptisch-osmanischen Flotte bei Navarino zurückgegangen war, erlosch das Interesse endgültig Die südwestdeutschen Vereine stellten im Sommer 1828 nach dem Regierungsantritt des ersten 105 Hösch, Großmächte (wie Anm 3), 34 106 Hösch, Großmächte (wie Anm 3), 35 Klein, L’ Humanité (wie Anm 54), 120 ff veranschlagt den Beitrag des Philhellenismus für das Eingreifen der drei Großmächte als gering, da es in Russland keinen gegeben habe und er in England schwach gewesen sei Es ist aber zu bedenken, dass er in Frankreich sehr wohl eine politische Größe war und sein Einfluss in England deswegen nicht gering veranschlagt werden darf, da er in enger Beziehung zu den Kreisen stand, die auch an Anleihen für Griechenland interessiert waren Zudem ist zu beachten, dass der Philhellenismus ein Phänomen der europäischen Öffentlichkeit war und deswegen die Regierungen auf ihn Rücksicht nehmen mussten
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griechischen Präsidenten ihre fast siebenjährige Hilfstätigkeit ein 107 Die bayerische Regierung allerdings hielt zur Förderung der dynastischen Interessen der Wittelsbacher die Kontakte zu den griechischen Regierungen aufrecht 108 XI. Das System Kapodistrias Von Europa publizistisch, diplomatisch, finanziell und letztlich dann auch militärisch unterstützt, gelang es den Griechen, die von den ägyptisch-türkischen See- und Landstreitkräften eroberten Gebiete zurückzugewinnen und sich auch politisch langsam zu festigen Doch zunächst hatten sich als Folge der massiven Invasion Ibrahim Paschas die Provinzverwaltungen auf der Peloponnes und in West-und Ost Griechenland aufgelöst Zwar wurden zwischen April 1825 und April 1826 immer wieder lokale Regierungen eingesetzt, doch waren diese nicht von Dauer Daher haben die zentralen Institutionen, obwohl sie durch ständige Parteikämpfe gelähmt waren, doch noch Bedeutung und Effektivität gewinnen können Denn sie mussten sich nicht mehr länger mit intermediären Autoritäten in der Provinz auseinandersetzen, sondern nur noch mit den traditionellen munizipalen Institutionen der Städte und Dörfer 109 Noch im September 1825 waren Wahlen für die dritte griechische Nationalversammlung ausgerufen worden Sie trat vier Tage vor dem Fall von Mesolongi, der strategisch wichtigen Hafenfestung am Golf von Korinth, am 6 April 1826 in Piada bei Epidauros zusammen Sie vertagte sich angesichts der Kriegslage schon am 24 April Bis dahin hatte sie jedoch zwei mit umfassenden Vollmachten ausgestattete Komitees eingesetzt, von denen sich das eine um die Fortsetzung des Krieges, das andere um die Mobilisierung von Anleihen in Europa kümmern sollte 110 Dieser provisorischen Regierung sollten alle lokalen Autoritäten unterworfen sein Nachdem zwei Anläufe gescheitert waren, gelang es bis zum Oktober 1826 wiederum, eine allgriechische Versammlung an den derzeitigen Sitz der Regierung in Ägina einzuberufen Dort versammelten sich aber nur diejenigen Deputierten, die als englandfreundlich galten, wohingegen die Anhänger Russlands und Frankreichs in Ermioni zusammenkamen Wenn dadurch zwar auch der wachsende Einfluss der europäischen Großmächte zum Ausdruck kam, so waren für die erneute Spaltung persönliche Animositäten und alte Rivalitäten nicht weniger ausschlaggebend Durch englischen Druck und englische Vermittlung gelang es, beide Versammlungen an einem neutralen Ort, in Damala, zusammenzubringen Sie sollten eine Regierung zustande bringen, 107 108 109 110
Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 111 f Quack-Manoussakis, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 43), 138 f Dakin, Greek Struggle (wie Anm 7), 194 Zelepos, Griechenland (wie Anm 2), 1403 f
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an die sich die Großmächte wenden konnten Zum Regenten auf sieben Jahre wurde Ioannis Kapodistrias gewählt, den seine diplomatische Erfahrung und sein internationales Ansehen ebenso empfahlen wie die Tatsache, dass er bisher gesamtgriechische Visionen vertreten hatte und keiner der rivalisierenden Parteien zuzurechnen war 111 Die Verfassung Troizina vom Mai 1827, auf deren Grundlage er zu regieren hatte, sah eine strenge Trennung zwischen Exekutive und der von ihr weitgehend unabhängigen Legislative vor In ihr sollten während der dreijährigen Legislaturperiode die Abgeordneten nach einem Rotationsprinzip jährlich wechseln Dem Statut war ein Katalog der Menschenrechte angehängt Wieder einmal wurde auf dem Papier ein rechtsstaatliches und demokratisches Gemeinwesen konstruiert, das in einem kaum mehr zu überbietenden Gegensatz zur griechischen Wirklichkeit dieser Tage stand Bürgerkriegsparteien, rivalisierende Clans und Räuberbanden machten das Land unsicher, Korruption und Unterschlagung waren in den Verwaltungen an der Tagesordnung, die über keinerlei Finanzmittel mehr verfügten, um überhaupt noch etwas in Gang zu setzen Die einzigen Einkünfte bestanden noch in den Überweisungen der Philhellenen, von denen aber auch ein beträchtlicher Teil in dunklen Kanälen verschwand Nicht weniger illusorisch waren die außenpolitischen Signale, die von dieser Versammlung ausgingen Es wurde ein Staatsgebiet gefordert, dass ein Vielfaches umfasste von dem, über das man derzeit gebot Die Oberhoheit des Sultans wurde kategorisch zurückgewiesen 112 Kapodistrias, der sich auf einer ausgedehnten Reise durch die wichtigsten europäischen Hauptstädte befand, machte denn auch kein Hehl daraus, dass jetzt Verfassungen weniger wichtig seien als die Überwindung der Anarchie, geordnete Staatseinkünfte, die Festlegung des griechischen Staatsgebiets und ein Abkommen mit der Pforte 113 Jetzt wurde auch der bayerische Oberstleutnant von Heideck zusammen mit einem französischen Offizier beauftragt, an den mühsamen Aufbau einer regulären Armee heranzugehen 114 Der neue Regent hat seine Ansichten auch schnell umgesetzt Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand im Januar 1828 darin, die Verfassungsordnung aufzuheben und alle zentralen Entscheidungsbefugnisse auf sich zu vereinigen Dass die Umstände mehr für eine solche Alleinherrschaft in der Form einer Entwicklungsdiktatur sprachen als für eine demokratische Verfassung brachte das neu eingesetzte Parlament durch seine Zustimmung und Selbstauflösung Ende Januar 1828 zum Ausdruck, als Kapodistrias andernfalls mit Rückzug drohte 115 Seine Macht beruhte in der Unterstützung, die er bei den produktiven Schichten Griechenlands fand, den Händlern und Bauern, die den endlosen immer wieder aufflackernden blutigen Kampf zwischen den
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Dakin, Greek Struggle (wie Anm 7), 196 ff Mendelssohn Bartholdy, Geschichte Griechenlands I (wie Anm 29), 459 ff Dakin, Greek Struggle (wie Anm 7), 202 ff ; Clogg, Geschichte Griechenlands (wie Anm 6), 62 ff Turczynski, Bayerns Anteil (wie Anm 42), 46 Zelepos, Aufstandsregierungen (wie Anm 36)
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ländlichen Führungsschichten und den Anführern der Freischärler leid hatten Dazu kamen seine Reputation in der europäischen Öffentlichkeit und der Vorteil, den er daraus zog, von den Großmächten als der legitime Verhandlungspartner Griechenlands anerkannt zu werden Kapodistrias verschleierte den diktatorischen Charakter seiner „provisorischen Regierung“, indem er versicherte, dass sie auf der Grundlage der organischen Gesetze der Nationalversammlungen von Epidauros, Astros und Troizina stehen würde; darüber hinaus sollte alles eine vierte Nationalversammlung nachträglich billigen, die für den April versprochen worden war Sie trat aber mit erheblicher Verzögerung erst im Juli 1829 in Argos zusammen Unmittelbar sollte das konstitutionelle Zugeständnis eines Panellinion von 27 Männern beruhigen In die Abteilungen Finanzen, Inneres und Krieg gegliedert, sollte es die Regierung beraten und Vorschläge unterbreiten Der unmittelbare Zweck war allerdings, sich die Kompetenzen einiger Fachleute zunutze zu machen und politische Freunde zu binden Es war aber unter anderem deren Unfähigkeit, die der Regierung auf Dauer schadete Das Zentrum der Regierungstätigkeit war eine Kanzlei von elf Mitgliedern, die als eine Art Ministerrat fungierten Später kamen noch unter anderem ein Kriegsrat, eine Finanzkommission und ein Verwaltungsausschuss dazu Kapodistrias regierte zentralistisch mit einem Kabinett, aus dem heraus die zu befolgenden Dekrete erlassen wurden, also in dem Stil, den er in Russland kennen gelernt hatte Dennoch blieben in der allgemeinen Anarchie die meisten Verfügungen wirkungslos 116 Das Programm von Kapodistrias hatte durchaus staatsmännisches Format Als Auslandsgrieche sah er die Gebrechen seiner Heimat deutlicher als andere Der destruktiven Politik der Oberschichten sollte die Grundlage entzogen werden, indem eine aufgeklärte und zentralistische Staatsverwaltung geschaffen wurde, die bis in die lokalen Verhältnisse hineinreichte Zugleich sollte die Machtbasis dieser Schichten, die Provinzial- und Lokalverwaltungen wie die Klientelverbände, geschwächt werden, indem Pächter und Kleinbauern türkisches Staatsland übertragen werden sollte Die Freischaren sollten aufgelöst bzw in eine reguläre Staatsarmee überführt werden Nach westeuropäischem Vorbild sollte der Staat ein Erziehungssystem aufbauen, sich um die Fürsorge kümmern und ein von Klientelverbänden wie Parteien unabhängiges Beamtentum schaffen Außenpolitisch wollte er an das Londoner Dreierbündnis zwischen Frankreich, Russland und Großbritannien anknüpfen, um die Unabhängigkeit seines Vaterlands zu erreichen Wie seine Landsleute lehnte er allerdings die weitere Oberhoheit des Sultans ab Kapodistrias war im Lande populär, da es ihm gelang, die Anarchie zurückzudrängen und die Massen sich von ihm eine Erleichterung ihres Loses versprachen Gestützt 116
Karl Mendelssohn Bartholdy, Geschichte Griechenlands Von der Übernahme der Verwaltung durch Kapodistrias bis zur Großjährigkeit des Königs Otto (Staatengeschichte der neuesten Zeit, Bd 20) Leipzig 1874, 20 ff
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auf die parteimäßige Organisation einer größeren Anhängerschaft wollte er seine Vorstellungen durchsetzen Häufige Begegnungen mit dem einfachen Volk wie mit den lokalen Machteliten auf Reisen durch das Land stützten seine Herrschaft plebiszitär ab Um aber die immer wieder versprochene parlamentarische Legitimation zu erhalten, wurde für den Sommer 1829 eine Nationalversammlung nach Argos einberufen Kapodistrias wollte das gegenwärtige Regierungssystem erhalten und hat es damit gerechtfertigt, dass nur so die Unabhängigkeit Griechenlands erreicht werden könne Er hat sich daher erfolgreich durch massive Wahlmanipulationen darum bemüht, dass überwiegend willfährige Abgeordnete gewählt wurden Die am 23 Juli eröffnete Versammlung vertagte sich bereits am 18 August mit dem Beschluss, bei Bedarf wieder zusammenzutreten Die Regierung Kapodistrias konnte mit dem Ergebnis zufrieden sein Die Versammlung von Argos akzeptierte, dass sie nicht mehr an die Entscheidungen ihrer Vorgängerinnen gebunden sein sollte Die bisherige Militärpolitik wurde gutgeheißen Die Regierung erhielt den Auftrag, sich um eine neue Anleihe zu bemühen Da für die vorangegangene noch nicht einmal Zinsen geflossen waren, sollte der Regierung ihr Geschäft dadurch erleichtert werden, dass sie notfalls dem Wunsch der Großmächte nachkommen durfte, das neue Griechenland in tributärer Abhängigkeit von der Pforte zu belassen Das Scheinparlament des Panellinion wurde durch einen Senat von 27 Mitgliedern ersetzt, dessen Zustimmung nur bei Finanzfragen und der Veräußerung von Staatsland obligatorisch war Das Staatsministerium wurde wie auch die nachgeordneten Behörden von einer geschlossenen inzwischen ganz vom Präsidenten abhängigen Beamtenschaft verwaltet Die Gemeinden wurden nun von der Zentralregierung in größerem Umfang als bisher finanziell abhängig Dadurch wurde deren Autonomie in einem Umfang ausgehöhlt, wie dies kein Pascha gewagt hätte 117 Da vom Feind seit Ende 1828 keine Gefahr mehr drohte und aufgrund der Legitimierung der provisorischen Regierung durch die Nationalversammlung – wie zweifelhaft sie auch sein mochte – flossen erneut Gelder und Ausrüstung aus dem Ausland Das System Kapodistrias war auf seinem Höhepunkt angelangt Trotz seiner Machtfülle war die Reichweite seiner Regierung im Lande begrenzt 118 Denn die Kräfte des Widerstands waren nicht gebrochen und Kompromisse mussten geschlossen werden Die erneut aufflammenden Machtrivalitäten zwischen den regionalen und sozialen Eliten gingen in einen Bürgerkrieg über Dieser wurde jetzt noch einmal dadurch intensiver, dass nun auch die Machtinteressen der drei Großmächte hineinspielten In dessen Verlauf wurde Kapodistrias, der als Statthalter der Russen galt, am 27 September 1831 Opfer eines Attentats
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So Mendelssohn Bartholdy, Geschichte Griechenlands II (wie Anm 116), 154 Hering, Politische Parteien (wie Anm 2), 95 ff
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XII. Auf dem Weg zur bayerischen Regentschaft Die Regierungsgewalt wurde nun einer dreiköpfigen Kommission unter Augustinos Kapodistrias, dem Bruder des ermordeten Regenten, übertragen Da dieser seine Mitregenten entmachtete, bildeten diese als „Konstitutionelle“ eine neue Regierung Trotz ihrer Selbstbezeichnung waren sie aber wie auch die anderen Gruppierungen nichts anderes als ein zusammengewürfelter Haufen von Politikern, Clan-Chefs und Freischarführern Erneut standen sich zwei verfeindete Aufstandsregierungen gegenüber Im Gegenzug beriefen die „Regierungsanhänger“ von Augustinos Kapodistrias im Dezember 1831 die fünfte Nationalversammlung ein Um aus der verfahrenen Lage herauszukommen, eilten auch ihre Gegner nach Nauplia Dort wurde die Versammlung am 26 Juli 1832 unter dem Schutz der alliierten Residenten eröffnet, da sie sonst nicht sicher zu sein schien Noch im August einigten sich die Delegierten auf ein Amnestiedekret vom Beginn des Freiheitskampfes an und riefen den von den Alliierten gewünschten Wittelsbacher Otto zum König aus König Ludwig I von Bayern verlangte für seinen jüngsten Sohn von den Schutzmächten eine Garantie der Integrität des Königreiches und deren Bürgschaft für eine Anleihe zum Aufbau des zerstörten Landes Dafür war er bereit, die Apanage zu übernehmen 119 Mit der Proklamation des Staatsoberhauptes waren aber schon die Gemeinsamkeiten erschöpft Die in der Nationalversammlung vertretenen Bürgerkriegsparteien zerstritten sich anschließend heillos über die Organisation einer neuen Regierung Nach dem Tod von Demetrios Ypsilantis am 18 August war die alte gelähmt und der Senat, wo die Anhänger von Kapodistrias in der Mehrheit waren, sollte aufgelöst werden Die Diskussionen über die Verfassung einer konstitutionellen Erbmonarchie120 drehten sich um ein Zweikammersystem aus einem Senat und einem nach indirekten Zensuswahlrecht gewählten Repräsentantenhaus, das jedoch jederzeit vom Monarchen aufgelöst werden konnte Die Großmächte untersagten der Versammlung aber, vor der Ankunft der monarchischen Regentschaft sich weiterhin mit der Staatsverfassung und der Verteilung der Nationalgüter zu beschäftigen und drangen auf deren Auflösung Dem verlieh die in der Umgebung lagernde Soldateska Nachdruck, indem sie das Versammlungsgebäude stürmte und die Abgeordneten so lange festhielt, bis ihre Soldforderung einigermaßen befriedigt worden war 121 So endete das letzte politische Repräsentationsorgan des griechischen Unabhängigkeitskrieges 122 Schon die vierte
119 Turczynski, Bayerns Anteil (wie Anm 42), 47 120 Ein ähnliches Angebot hatte bereits eine griechische Delegation im Oktober 1822 auf dem Kongress von Verona unterbreitet 121 Mendelssohn Bartholdy, Geschichte Griechenlands II (wie Anm 116), 391 ff 122 Zelepos, Aufstandsregierungen (wie Anm 36)
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Nationalversammlung hatte für die Bezahlung der Freischärler keinen anderen Ausweg gesehen, als deren Raubzüge durch die Peloponnes hinzunehmen Otto von Wittelsbach war unterwegs in ein Land, das inzwischen dank der militärischen Intervention Großbritanniens, Frankreichs und Russlands und deren Vereinbarungen mit dem Sultan seit dem zweiten Londoner Protokoll vom 3 Februar 1830 die volle Souveränität hatte 123 Doch zur Enttäuschung aller Hellenen und Philhellenen sollte sich das freie Griechenland nur südlich der Linie zwischen dem Golf von Arta und dem Golf von Volos erstrecken Nicht nur König Ludwig I von Bayern, dem als enthusiastischster Philhellene unter den gekrönten Häuptern die Wiederherstellung des alten Hellas vor Augen stand, sah dieses Gebilde nicht als lebensfähig an 124 In ihm lebten etwa 600 000 von drei Millionen Griechen125 und in ihm hatten Aufstand, Bürgerkriege und Anarchie die letzten staatlichen Strukturen vernichtet Vor diesem Hintergrund war die Leistung der bayerischen Regentschaft durchaus beachtlich, zumal sie unter der Einmischung der Schutzmächte und immer wieder sich artikulierenden Aversionen gegen die „Fremden“ erbracht werden musste Es wurden die Grundlagen für einen effektiven Staats- und Verwaltungsaufbau wie für eine Polizeitruppe gelegt, ein Justizwesen und Gesetzeskodifikationen eingerichtet, die bis zum Ende des Jahrhunderts Bestand hatten Schließlich wurde auch noch ein Bildungswesen von der Grundschule bis zur Universität aufgezogen Dazu kamen beachtliche Bau- und Infrastrukturmaßnahmen 126 Mit dem Königtum Ottos war das bayerische Engagement für Griechenland seit den zwanziger Jahren zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen Die Errichtung einer Sekundogenitur scheiterte aber 1862 wurde der kinderlose und kranke König abgesetzt Schon 1843 hatte er seine bayerischen Berater nach Hause schicken müssen Noch verbliebenes Ansehen und Autorität wurden danach durch die nationalen Regierungen untergraben, die der griechischen Interessen- und Klientelkonflikte und ausländischer Einmischung nicht Herr wurden 127 XIII. Zusammenfassung: Aufstand, Staatsgründung und Philhellenismus In der Epoche der europäischen Revolutionen hat wohl kein Land innerhalb eines Jahrzehnts so viele Nationalversammlungen, Verfassungen und Regierungen gesehen wie Griechenland Die Nationalversammlungen waren allerdings in keiner Hinsicht repräsentativ gewesen Ihre Zusammensetzung bestimmten die Notabeln, die regiona-
Brewer, War of Independence (wie Anm 16) 316 ff Das Londoner Protokoll vom 3 2 1830: Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte II (wie Anm 30) 124 Turczynski, Bayerns Anteil (wie Anm 42), 46 125 Gaitinides, Griechenland ohne Säulen (wie Anm 1), 152 126 Turczynski, Bayerns Anteil (wie Anm 42), 47 ff 127 Hösch, Großmächte (wie Anm 3), 38 ff
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len Eliten und die Bürgerkriegsparteien Die Masse der Bevölkerung, die Bauern und die städtischen Unterschichten, hatten angesichts der Anarchie und fehlender finanzieller Mittel keine Möglichkeit, daran teilzunehmen So waren die Nationalversammlungen weniger Repräsentationsorgane als der Niederschlag der jeweiligen Machtverhältnisse Ihr Zweck war, den europäischen Regierungen und der philhellenischen Öffentlichkeit Verfassungsgebung und Nationalstaatsgründung vorzuspiegeln Daher wurde auf dem Papier auch stets Wert auf ein starkes Parlament gelegt In griechischer Perspektive ging es jeweils darum, Machtbezirke abzustecken und zu verhindern, dass den Rivalen über gesamtgriechische Institutionen und verfassungsrechtliche Legitimation ein Übergewicht an Macht zuwuchs Obwohl die dort entworfenen Verfassungen Kopfgeburten europäischer Griechen für die europäische Öffentlichkeit gewesen waren, gaben sie den Regierungen und Parteien, die sich auf sie berufen konnten, einen nicht hoch genug einzuschätzenden Vorsprung in der Legitimation gegenüber Europa Dieser schlug sich konkret in Anleihen, der Lieferung von Hilfsgütern, Waffen und militärischer Unterstützung nieder Umgesetzt worden sind die Verfassungen angesichts des fortgesetzten Befreiungs- und Bürgerkriegs höchstens ansatzweise Bedeutend wurden die in diesem Jahrzehnt gemachten Erfahrungen allerdings nochmals, als sich Anfang der 1840er Jahre eine Verfassungsbewegung formierte, die den monarchischen Absolutismus in eine konstitutionelle Monarchie überführte Die Staatsbildung war in den Regionen und Gemeinden am erfolgreichsten Zum einen entsprach dies der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und landschaftlichen Vielfalt des Aufstandsgebietes; zum anderen konnte dabei an die bestehenden Behörden aus der türkischen Zeit angeknüpft werden Hingegen waren auf der nationalen Ebene keinerlei Einrichtungen und Personal vorhanden gewesen, auf denen man hätte aufbauen können Es war im Gegenteil so gewesen, dass die Bildung von nationalen Regierungen und der Streit darüber, wie sie besetzt werden sollten, stets die Konflikte anheizten und bürgerkriegsähnliche Unruhen auslösten oder beförderten Zwei Modelle hatten sich dabei herausgebildet Zum einen das der plebiszitär abgestützten Einmannherrschaft, wie sie die Diaspora-Griechen Ypsilantis und Kapodistrias vertraten, und die oligarchischen Räte, wie sie die einheimischen Eliten und ländlichen Notabeln bevorzugten Ihr Wirkungskreis war, trotz ihres nationalen Anspruchs, recht begrenzt Er hing entscheidend davon ab, inwieweit die jeweilige Regierung sich die Gefolgschaft der eingespielten Verwaltungen in den Regionen und Gemeinden sichern konnte Keiner war es aber gelungen, sich auf Dauer die Botmäßigkeit der Freischaren und ihrer Anführer zu sichern Dass die plebiszitäre Regentschaft von Kapodistrias die wirkungsmächtigste nationale Regierung des Jahrzehnts gewesen ist, zeigt, dass die als Kompromiss der Machtrivalitäten gebildeten kollektiven Führungsorgane der Lage nicht entsprochen haben Die häufig und gern gestellte Frage, welchen Anteil der europäische und deutsche Philhellenismus an dem historischen Weg eines Teils von Griechenland zur Unabhän-
Griechischer Freiheitskampf und deutscher Philhellenismus
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gigkeit hatte, wird einer abgewogenen Würdigung dieses Phänomens nicht gerecht Denn sie verkürzt das Problem unangemessen auf einen Aspekt Sicherlich beruhte die umfangreiche materielle, publizistische und moralische Unterstützung des griechischen Aufstands durch das europäische Bürgertum auf einer Selbsttäuschung Unter Ausblendung einer zweitausendjährigen Entwicklung gab man sich der Illusion hin, dass in Griechenland die Nachfahren der antiken Griechen sich gegen islamische Barbaren erheben würden Aufgrund der weitgehenden Unkenntnis der aktuellen Verhältnisse wurde sowohl übersehen, dass dort kein regulärer See- und Landkrieg geführt wurde, sondern eher ein Banden- und Bürgerkrieg, als auch verkannt, dass alle Voraussetzungen fehlten zur Gründung einer liberalen Gesellschaft und eines konstitutionellen Verfassungsstaates Das meiste Geld wurde für die Ausrüstung und Verschiffung von freiwilligen Kämpfern ausgegeben, die schon vor ihrem ersten Einsatz wieder zurückkehrten oder aber, wenn sie blieben, wenig bewirkten Inwieweit die Spendengelder vor Ort die vielfache Not gelindert haben, ist noch wenig bekannt Am wirkungsvollsten war sicherlich die Übersendung von Waffen, Lebensmitteln und die Abordnung vom medizinischem Personal wie auch die Unterstützung von Flüchtlingen, Waisen und auszubildenden Jugendlichen in Deutschland und anderen Ländern Europas Daher liegt die historische Bedeutung des Philhellenismus paradoxerweise nicht darin, was er erstrebte, sondern darin, dass er sich überhaupt organisieren und entfalten konnte Denn mit dieser Bewegung setzte zum ersten Mal die dem Staat gegenüberstehende bürgerliche Gesellschaft die Themen und bestimmte die öffentliche Debatte mit und in Konkurrenz mit den professionellen Redaktionen wie den noch zahlreichen Staatszeitungen und regierungsamtlichen Blättern Sie machte ihre ersten Erfahrungen mit dem politischen Machtfaktor der Öffentlichkeit durch die Erörterung freiheitlicher und nationaler Themen in ihrem Sinne wie durch die bundesweite Kommunikation, die ein gemeinsames Selbstbewusstsein förderte 128 Der Philhellenismus ergänzte und überwand zugleich die bisherige Praxis oppositioneller bürgerlicher Organisationen in der Form von politischen Geheimbünden und kryptopolitischen Zusammenschlüssen, wie sie vor allen Dingen in Südeuropa verbreitet waren, und den sozial abgeschlossene Vereinigungen wie den Burschenschaften, die für den Deutschen Bund typisch waren Diese Bewegung war zugleich von neuer Qualität und Intensität, da sie bundesweit, ja europaweit durch Delegationen, Briefwechsel, Ausschüsse und Konferenzen in Verbindung stand Wenn die Vereine auch selbst fast durchgehend unter der Führung bürgerlicher Honoratioren standen, so waren sie doch sozial offen Durch Kontrolle, Rechenschaftspflicht und Wahlen übten sie demokratische Formen ein 129 Am weitesten dürften wohl die wenig
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Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 235 Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 238 f
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ausgebauten Komitees, die vor allem Spenden mobilisierten, in die unterbürgerlichen Schichten gewirkt haben Denn deren Mitglieder konnten so durch Eintragung in die Spendenlisten wohl zum ersten Mal öffentlich für eine politische Sache in Erscheinung treten 130 Am politischsten war die Bewegung im deutschen Südwesten gewesen Denn hier war sie mit dem konstitutionellen und demokratischen Liberalismus verbunden, der in der Griechenhilfe ein politisches Betätigungsfeld entdeckte, um die Enttäuschungen über seine Handlungsmöglichkeiten in den ersten Landtagen zu kompensieren und zugleich seine öffentliche Präsenz bundesweit auszubauen und zu festigen 131 Die regen bürgerlichen Aktivitäten und Vereinsgründungen in den frühen dreißiger Jahren profitierten sicherlich von dieser spontanen Selbstorganisation trotz obrigkeitlicher Verbote oder Missbilligung 132 In der Polenhilfe und dem Hambacher Fest setzte sich der politische Impetus des Philhellenismus fort
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Klein, L’ Humanité (wie Anm 54), 223 f Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation (wie Anm 47), 241 Quack-Manoussakis, Der deutsche Philhellenismus (wie Anm 43), 266 f
Freiburg und das Hambacher Fest Wie wirkte sich das Hambacher Fest 1832 auf die Universitätsstadt Freiburg i. Br. aus? Zugleich ein Beitrag zum Leben von Karl von Rotteck und Philipp Jacob Siebenpfeiffer Martin Dossmann I. Rotteck und Siebenpfeiffer – Lebenswege bis 1830 Karl von Rotteck, der 1775 in Freiburg geboren wurde, erwarb 1797 an der Freiburger Universität die Doktorwürde der Rechtsfakultät Bereits ein Jahr später bewarb er sich erfolgreich um einen Lehrstuhl an der Albertina in Freiburg Rotteck war seither Professor für Allgemeine Weltgeschichte, später auch für Naturrecht und Staatswissenschaften Philipp Jakob Siebenpfeiffer, der 17891 in Lahr geboren wurde und ab seinem 10 Lebensjahr Vollwaise war, nahm 1809 sein rechtswissenschaftliches Studium in Freiburg auf Sein weiterer Werdegang wurde entscheidend von Prof Karl von Rotteck beeinflusst, in dessen Haus Siebenpfeiffer als Student wohnte 1813 bestand Siebenpfeiffer sein juristisches Staatsexamen und beendete sein Studium mit der Promotion 2 Die Ideen Rottecks sollten die Weltanschauung Siebenpfeiffers nachhaltig prägen Siebenpfeiffer und Rotteck verband eine lange, intensive Freundschaft Von 1811 bis 1832 gab es Briefwechsel zwischen beiden 3 Die politischen Auffassungen Siebenpfeiffers und Rottecks verliefen zunächst in ähnlicher Richtung In einem 1814 an Rotteck geschriebenen Brief äußerte sich Siebenpfeiffer ganz euphorisch über den Untergang der napoleonischen Herrschaft: „Freuen sie sich mit mir, wie alle guten Deutschen – Fluch den Napoleonen!“ 1 2 3
Im Jahr der großen französischen Revolution Das Thema von Siebenpfeiffers Dissertation lautete: Sätze des Rechts und aus den politischen Wissenschaften, welche öffentlich verteidigen wird (Freiburg 1813) Von diesem Briefwechsel sind nur die von Siebenpfeiffer verfassten Briefe erhalten
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Nachdem der Wiener Kongress 1815 entschieden hatte, dass Freiburg unter badischer Herrschaft verbleiben sollte, kam es 1818 zu den ersten badischen Landtagswahlen Rotteck wurde als Vertreter der Universität Freiburg in die Erste Kammer der Badischen Ständeversammlung abgeordnet Als wichtiger Impulsgeber des Liberalismus in Baden setzte er sich im Parlament entschieden für Reformen, insbesondere für die Pressefreiheit ein Rotteck wirkte an der Badischen Verfassung mit, weil er „die Gestattung solcher Freimüthigkeit als eine der vorzüglichsten, ja für mich als die allerkostbarste der Wohlthaten der badischen erleuchteten Regierung“ ansah Nach der Verkündung der Verfassung 1818 erklärte Rotteck fast überschwänglich: „Wir waren Freiburger, Constanzer, Mannheimer; ein Volk von Baden waren wir nicht Fortan aber sind wir Ein Volk (…) Jetzt treten wir in die Geschichte mit eigener Rolle ein “4
II. Siebenpfeiffer und Rotteck in den Jahren 1830 bis 1832 Als 1830 die französische Julirevolution auch auf Deutschland herüberzuwehen schien, verließ Siebenpfeiffer, der bis dahin Oberamtmann in der bayerischen Pfalz war, den Staatsdienst Er wurde zum politischen Radikalreformer, so dass die Wege Siebenpfeiffers und Rottecks unterschiedliche Richtungen nahmen Im Herbst 1830 erschien die Erstausgabe von Siebenpfeiffers Zeitschrift „Rheinbayern“ Hier und in seinem zweiten Blatt „Der Bote aus Westen“ (später „Westbote“) war er nicht nur selbst stark journalistisch tätig, sondern bot auch der liberalen Opposition in der Pfalz wirkungsvolle Sprachrohre Das Erscheinen der Zeitung „Rheinbayern“ unter dem neuen Titel „Deutschland“ zeigt, dass Siebenpfeiffer seinen Wirkungskreis räumlich erheblich ausgedehnte Thematisch ging es in seinen Zeitungen und Artikeln stets um den Kampf für „Preßfreiheit“ Unter Mitwirkung Siebenpfeiffers wurde am 29 Januar 1832 in Zweibrücken der „Deutsche Vaterlandsverein zur Unterstützung der freien Presse“ (kurz: „Preßverein“) gegründet Binnen kurzer Zeit traten dieser politischen Organisation etwa 5 000 Menschen in ganz Deutschland bei Da nur unter dem Deckmantel der Geselligkeit die Möglichkeit bestand, sich politisch zu artikulieren, wurden Festbankette von der demokratischen Bewegung gefeiert Dabei reifte die Idee eines großen Nationalfestes, die Siebenpfeiffer im Januar 1832 erstmals öffentlich ansprach Da die von Rotteck in der Ersten Kammer des Landtags vertretenen liberalen Ideen der badischen Regierung nicht gefielen, versuchte sie einen erneuten Einzug Rottecks
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Aus einer Rede Rottecks, die er anlässlich der Verkündung der Verfassung am 7 9 1818 hielt, abgedruckt im Freiburger Wochenblatt, Nr 73 vom 12 September 1818, 682
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in die Erste Kammer des Landtags zu verhindern Rotteck kandidierte daraufhin 1830 für die Zweite Kammer des badischen Landtags Als Landtagsabgeordneter setzte Rotteck 1832 zusammen mit dem Freiburger Professor Karl Theodor Welcker5 die „Preßfreiheit“ durch Als die Vorzensur am 1 März 1832 vom Großherzog abgeschafft wurde, wurde dies in Baden von der Bevölkerung mit großem Jubel begrüßt Noch am gleichen Tag erschien in Freiburg die „censurfreie, liberale, politische Zeitung“ „Der Freisinnige“, herausgegeben von den liberalen Professoren von Rotteck und Welcker 6 Der radikaler eingestellte Siebenpfeiffer war mit der politischen Ausrichtung der neuen Zeitung, die als gemäßigt galt, offenbar nicht einverstanden und richtete im „Wächter am Rhein“ wiederholt Angriffe gegen den „Freisinnigen“ Er verdächtigte die Redakteure „als knechtisch gesinnt und Feinde der wahrhaft Freigesinnten“ 7 In einem schon vor der ersten Ausgabe verfassten Brief an von Rotteck formulierte Siebenpfeiffer die Befürchtung, dass im „Freisinnigen“ „ein unglückseliges Justemilieu“ herrsche 8 Dieses Schmähwort bezeichnete die Abkehr von den freiheitlichen Forderungen, um einen Mittelweg zwischen Autorität und Freiheit zu beschreiten Unter der Ägide Metternichs wuchs der außenpolitische Druck des Frankfurter Bundestags auf Großherzog Leopold von Baden, das liberale Pressegesetz vom 1 März 1832 einzukassieren und „dem hochverrätherischen Treiben ein Ende“ zu machen Nachdem eine entsprechende Verordnung bereits am 19 Mai 1832 erschienen war, versammelten sich zwei Tage später in Freiburg viele hundert der angesehensten Männer Von Rotteck und Welcker sprachen in klaren Worten vor der Versammlung, wofür sie großen Beifall erhielten III. Hambacher Fest am 27. Mai 1832 Trotz ihrer politischen Differenzen lud Siebenpfeiffer am 15 Mai 1832 Rotteck zum Hambacher Fest ein Von Rotteck wollte am Hambacher Fest teilnehmen und war schon reisebereit, erhielt aber im letzten Moment die Mitteilung, dass allen badischen Staatsdienern die Teilnahme an dem Fest untersagt sei 9
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Karl Theodor Welcker (1790–1869), Jurist, Professor u a in Freiburg, liberaler Politiker, 1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, dort im Verfassungsausschuss Ausführlich zu dem Thema: Rainer Schimpf, Der „Freisinnige“ und der Kampf der badischen Liberalen für die Pressefreiheit 1831/32, in: Helmut Reinalter (Hrsg ), Die Anfänge des Liberalismus und der Demokratie in Deutschland und Österreich 1830–1848/49 Frankfurt 2002, 163 ff , 176 ff Hermann von Rotteck, (Hrsg ), Dr Karl von Rottecks gesammelte und nachgelassene Schriften mit Biographie und Briefwechsel Geordnet und herausgegeben von seinem Sohne Hermann von Rotteck, Bände I–V Pforzheim 1841; hier Bd IV, 386 So in einem Brief an Rotteck vom 9 Februar 1832 Hermann Kopf, Karl von Rotteck – Zwischen Revolution und Restauration Freiburg, 1980, 61 m w N Fn 36
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Zur Teilnahme in Hambach war der Freiburger Student Josef Bader10 erwählt worden Bader wurde aber vom hohen Curatorium der Universität der Reisepaß verweigert, so dass auch er nicht zum Hambacher Fest reisen konnte 11 Andere Studenten reisten einfach ohne Anfrage bei der Universität und ohne Reisepass nach Hambach 12 „Daß mehrere Wagen voll Studirender aus Freiburg“ teilgenommen hätten, wie die Stuttgarter Zeitung berichtete, entsprach allerdings nicht der Realität 13 Am 27 Mai 1832 kam es in der Hambacher Schlossruine zu einer politischen Demonstration, an der 20 000 bis zu 30 000 Bürger und Studenten teilnahmen In zahlreichen Reden wurden Freiheit, Demokratie, ein deutscher Nationalstaat, teils sogar ein vereinigtes demokratisches Europa gefordert Siebenpfeiffer hielt die Eingangsansprache, in der er seine Zuhörer durch eine glühende, halbpoetische Schilderung der politischen Lage für die Freiheit zu entflammen versuchte Seine Rede gipfelte in den Ausführungen: „Vaterland – Freiheit – ja! ein freies deutsches Vaterland – dies der Sinn des heutigen Festes, dies die Worte, deren Donnerhall durch alle deutschen Gemarken drang, den Verräthern der deutschen Nationalsache die Knochen erschütternd, die Patrioten aber anfeuernd und stählend zur Ausdauer im heiligen Kampfe, im Kampfe zur Abschüttlung innerer und äußerer Gewalt … Und es wird kommen der Tag, der Tag des edelsten Siegstolzes, wo der Deutsche vom Alpengebirg und der Nordsee, vom Rhein, der Donau und Elbe den Bruder im Bruder umarmt, wo die Zollstöcke und die Schlagbäume, wo alle Hoheitszeichen der Trennung und Hemmung und Bedrückung verschwinden, sammt den Constitutiönchen, die man etlichen mürrischen Kindern der großen Familien als Spielzeug verlieh; wo freie Straßen und freie Ströme den freien Umschwung aller Nationalkräfte und Säfte bezeugen; wo die Fürsten die bunten Hermeline feudalistischer Gottstatthalterschaft mit der männlichen Toga deutscher Nationalwürde vertauschen, und der Beamte, der Krieger, statt mit der Bedientenjacke des Herrn und Meisters, mit der Volksbinde sich schmückt; … wo jeder Stamm, im Innern frei und selbstständig, zu bürgerlicher Freiheit sich entwickelt, und ein starkes, selbstgewordenes Bruderband alle umschließt zu politischer Einheit und
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Joseph Bader (1805–1883), studierte in Freiburg erst Theologie, dann Rechtswissenschaften, als Mitglied der Burschenschaft Germania Freiburg relegiert Später Doktor der Philosophie, Kanzlist (1842), Assessor (1844) und Archivrat (1854) Karl Gundermann, Geschichte der Alten Freiburger Burschenschaft 1818–1850, in: Bund Alter Freiburger Teutonen e V (Hrsg ), Geschichte der Freiburger Burschenschaft Teutonia und ihrer Vorläufer Neuwied a Rh 1984, 67; Karl Gundermann, Um Einheit und Freiheit Die Freiburger Burschenschaft Germania 1832, in: Christian Hünemörder (Hrsg ), Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert 12 Band Heidelberg 1986, 110 Teilnehmende Freiburger Studenten waren Wilhelm Obermüller und Christian Heinrich Eimer (beide nahmen später auch am Frankfurter Wachensturm teil), sowie Ludwig Silberrad aus Durlach Gundermann, Geschichte (wie Anm 11), 66; Gundermann, Einheit und Freiheit (wie Anm 11), 110
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Kraft, wo die deutsche Flagge … allen freien Völkern den Bruderkuß bringt … Es lebe das freie, das einige Deutschland! … Hoch lebe jedes Volk, das seine Ketten bricht und mit uns den Bund der Freiheit schwört! Vaterland – Volkshoheit – Völkerbund hoch!“14
IV. Fest in St. Ottilien am 27. Mai 1832 Am Vorabend des Hambacher Festes tauchte in Freiburg eine Ankündigung auf: „Mehrere Bürger und Studenten haben sich entschlossen, morgen den 27 May nachmittags zu Ottilien ein vaterländisches Fest, gleich dem zu Hambach, zu feiern, wozu jeder Gleichgesinnte höflich eingeladen wird “15
In St Ottilien bei Freiburg versammelten sich am Sonntagnachmittag etwa 300 Bürger und Studenten16, um im Freien bei Wein und Bier das vaterländische Fest zu feiern Auch der Prorektor der Universität, Prof Karl Heinrich Baumgärtner17, war der persönlichen Einladung der Veranstalter gefolgt 18 Hauptredner des Festes war der an einer Reise nach Hambach gehinderte Josef Bader, der in seiner Ansprache ausführte: „Deutschland ist aus seinem politischen Schlaf endlich erwacht; die Nation ist mündig geworden, und ein großer Theil mit dem Zeitgeist weiter voran gerückt, als die meisten Regierenden: Daher der große, hartnäckige Kampf Es handelt sich einerseits um die Wiederherstellung der lang unterdrückten Rechte des Volkes – andrerseits um die Niederhaltung, um Vertilgung aller Keime der Freiheit … Die Liebhaber der Freiheit, die Freunde der Nation und Nationalität aber stützen sich auf ihre gute Sache und auf die redliche, kräftige Masse des Volkes: Ihr Sieg ist entschieden, wenn es gelingt, den Geist der Eintracht und Gesetzlichkeit in den Gemüthern zu erwecken … Aber noch ein Wort an diejenigen, welche im Hinblick auf die verhältnismäßig kleine Zahl erschienener Patrioten, auf das kleine Baden, auf das konstitutionelle Deutschland, die Besorgniß und Furcht angewandelt: wir können durch unsren Widerstand gegen die überlegene Macht des Absolutismus noch mehr verliehren, als wir früher besaßen, oder gar untergehen …: Mögen sie aber vor allem bedenken, daß Furcht und Trägheit meist der Ursprung des Despotismus und der Sklaverei waren – und daß die Geschichte den Völkern keine größere Lehre erteilt: als für ihre Freiheit alles zu wagen; und daß man dasjenige, was man immer und
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Zitiert nach: Johann Georg August Wirth, Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach Neustadt a H 1832 (Nachdruck Neustadt 1981), 31–41 Gundermann, Geschichte (wie Anm 11), 68 Josef Bader schätzte, dass ¾ der Teilnehmer Studenten waren Karl Heinrich Baumgärtner (1798–1886), von 1824 bis 1862 Professor für Pathologie, 1832 Prorektor (später erneut Prorektor 1857 und Ehrenbürger der Stadt Freiburg) Gundermann, Einheit und Freiheit (wie Anm 11), 112 f
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aus allen Kräften will, meist auch erreicht Gewiß, wenn Deutschland die Freiheit will, und nichts als sie, so wird sie ihm über kurz oder lang auch werden … Wer ein Patriot ist, wem das Erstreiten des Glücks des Vaterlandes über alle Vortheile und Bequemlichkeiten des Privatlebens gehen …, der reiche seinen gleichgesinnten Brüdern die Hand, und schwöre ihnen ewigen Bund der Vertheidigung vaterländischen Rechts und Freiheit!“19
Abends zogen die Feiernden in die Stadt zum Hause Rottecks, dem ein Hoch gebracht wurde Unter Absingen von Freiheitsliedern ging es zur Wohnung Welckers, der sich für die Ovationen bedankte und eine Rede hielt 20 Trotz ausgedehnter Untersuchungen durch Stadt und Universität hatte dieses Fest kein juristisches Nachspiel, weil der Universitätsamtmann Dr Hölzlin feststellte, dass die Versammlung angesichts der „nur geringen Teilnahme“ des Volkes keine „politische Bedeutung im Allgemeinen“ hatte Und die Anwesenheit der Studenten habe „der Prorektor durch seine Gegenwart selbst sanctioniert“ Im Stadtamt blieb die Akte über das Fest zunächst ein halbes Jahr liegen; das Hofgericht Freiburg sandte die Akte später an das Stadtamt zurück, „weil darin kein Grund zur Ertheilung eines peinlichen Erkenntnisses vorhanden sey“ 21 V. Fest in Badenweiler am 11. Juni 1832 Die Rede, die Rotteck beim Hambacher Fest nicht halten konnte, trug er beim „Fest in Badenweiler“ vor, das zum Gedächtnis der Einführung der badischen Verfassung am 11 Juni 1832 (Pfingstmontag) stattfand Badenweiler Bürger und Bauern aus der Umgebung hatten auf der Burgruine die Fahne Badens aufgezogen Als einige Radikale, darunter Mitglieder der Burschenschaft Germania aus Freiburg, diese durch eine „teutsche Fahne“ in den Farben schwarz-rot-gold ersetzen wollten, wurde dies durch Rotteck verhindert 22 In seiner oft zitierten Rede erläuterte Rotteck, dass auch er „Teutschlands Einheit“ wünsche, aber nicht um des Preises der Freiheit Durch das Drängen nach Einheit sah er die Freiheit bedroht Rotteck führte aus: „Ich will die Einheit nicht anders als mit Freiheit, und will lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne Freiheit … Ich will keine Einheit unter den Flügeln des preußischen oder österreichischen Adlers, ich will keine unter einer etwa noch zu stärkenden Machtvollkom-
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Gundermann, Geschichte (wie Anm 11), 69 f Gundermann, Geschichte (wie Anm 11), 71; Gundermann, Einheit und Freiheit (wie Anm 11), 114 Gundermann, Geschichte (wie Anm 11), 71 f Kopf, Karl von Rotteck (wie Anm 9), 117; Gundermann, Geschichte (wie Anm 11), 73; Gundermann, Einheit und Freiheit (wie Anm 11), 117
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menheit des so wie gegenwärtig organisierten Bundestages, und will auch keine unter der Form einer allgemeinen teutschen Republik, weil der Weg, zu einer solchen zu gelangen, schauerlich, und der Erfolg und die Frucht der Erreichung höchst ungewisser Eigenschaft erscheint … Ich will also keine in äußerer Form scharf ausgeprägte Einheit Deutschlands Ein Staatenbund ist, laut Zeugnis der Geschichte, zur Bewährung der Freiheit geeigneter als die ungeteilte Masse eines großen Reiches “23
Die Wege von Demokraten und Liberalen im engeren Sinn, die bis dahin gemeinsam verlaufen waren, begannen sich ab 1832 zu trennen Und auch der Kontakt zwischen Siebenpfeiffer und Rotteck, der bis zu dieser Zeit noch durch einen konstanten Briefwechsel Ausdruck fand, fand 1832 ein Ende VI. Repressive Massnahmen Nachdem die Ereignisse im Südwesten Deutschlands große Aufregung hervorriefen, leitete Fürst von Metternich sogleich repressive Maßnahmen ein Der Bundestag zu Frankfurt beschloss daraufhin im Juni/Juli 1832 Gesetze24 mit reaktionären Sicherheitsmaßnahmen: – Verschärfung der Pressezensur, – Verbot aller politischen Vereine, aller Volksversammlungen, aller Volksfeste, – Überwachung der Universitäten und Einschränkung der akademischen Freiheit Auf Veranlassung der bayerischen Regierung wurden die Anführer des Hambacher Festes polizeilich verfolgt Siebenpfeiffer wurde am 18 Juni 1832 verhaftet und musste sich zusammen mit den anderen führenden Festbeteiligten in einem Geschworenenprozess vor dem Appellationsgericht verantworten Der Prozeß endete überraschend mit einem Freispruch vom Vorwurf des Hochverrats – doch wurden Siebenpfeiffer anschließend von einem Polizeigericht wegen „Behördenbeleidigung“ zu zwei Jahren Haft verurteilte In Baden wuchs der Druck Metternichs auf den badischen Großherzog Leopold, dieser solle das liberale badische Pressegesetz zurücknehmen und dem „hochverrätherischen Treiben“ ein Ende machen Die von Rotteck und Welcker herausgegebene
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Heinrich-August Winkler, Geschichte des Westens Von den Anfängen in der Antike bis ins 20 Jahrhundert, Der lange Weg nach Westen 5 Aufl München 2016, 523 f Am 5 7 1832 beschloss die Bundesversammlung zehn Artikel „zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ruhe und Ordnung im Deutschen Bund“, die die sechs Artikel vom 28 Juni 1832 ergänzten und als Reaktion auf das Hambacher Fest gelten
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Zeitschrift „Der Freisinnige“ wurde am 19 Juli verboten 25 Am 28 Juli wurde die Pressezensur in Baden wieder eingeführt Übertretungen des Zensurgesetzes wurden mit schweren Strafen bedroht, die auch verhängt wurden 26 VII. Freiburger Münsterplatzexzess und seine Folgen Da es in der Freiburger Studentenschaft rumorte, mahnte Universitätsamtmann Dr Hölzlin den Kurator der Universität zum Einschreiten Dies werde „augenblicklich um so dringlicher, als die Aufregung mit dem Erscheinen der höchsten Bundestagsbeschlüsse sich sehr gesteigert“ habe 27 Im Juli 1832 fanden in Freiburg zweimal Versammlungen statt, die von dreihundert oder gar vierhundert Studenten und Bürgern besucht waren Hierbei sprach u a auch Karl von Rotteck 28 Am Sitz der badischen Regierung in Karlsruhe betrachtete man die Entwicklung an der Freiburger Hochschule mit wachsendem Misstrauen Das Karlsruher Innenministerium sah sich im Juli 1832 veranlasst, den Studenten „alle Aufzüge, Nachtmusiken, Fackelzüge und andere dergleichen Feierlichkeiten bis auf weitere Weisung“ zu untersagen „Für den Fall eines Aufstandes oder gewaltsamer Widersetzlichkeiten der Akademiker“ wurde Gewalt und sogar eine Schließung der Universität auf unbestimmte Zeit angedroht 29 Dass dies keine leere Drohung war, zeigte sich wenig später Am Abend des 29 August 1832, dem Geburtstag des Großherzogs, zogen 50–60 Mann durch Freiburg und sangen Hambacher Lieder 30 Als sie auf dem Münsterplatz vor der Hauptwache Schmählieder auf den Großherzog sangen, räumte das Militär den Platz mit aufgepflanztem Bajonett 31 Eine Woche nach dem Vorfall ließ der Großherzog Leopold von Baden die Universität schließen „wegen der verderbliche(n) Richtung, welche die Universität seit längerer Zeit in politischer und sittlicher Hinsicht dem größeren Teile nach genommen hat und der
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Rotteck wurde zusätzlich am 16 August 1832 für 5 Jahre die Herausgabe eines Blattes als Redakteur verboten (Wilhelm Herzberg, Das Hambacher Fest Geschichte der revolutionären Bestrebungen in Rheinbayern um das Jahr 1832 Ludwigshafen 1908, neu hersg von Heinrich Werner Köln 1982, 162) Gundermann, Einheit und Freiheit (wie Anm 11), 121 m w N Fn 165 Gundermann, Einheit und Freiheit (wie Anm 11), 122 m w N Fn 167 Gundermann, Einheit und Freiheit (wie Anm 11), 123 f Gundermann, Einheit und Freiheit (wie Anm 11), 125 m w N Fn 179 Gundermann, Einheit und Freiheit (wie Anm 11), 126 Dieser „Münsterplatzexcess“ führte zu einer Untersuchung, bei der acht Studenten relegiert und mehrere mit Karzer bedacht wurden S Wolfgang Büdingen, Der Freiburger Senioren-Convent Frankfurt 1931, 138; Gundermann, Geschichte (wie Anm 11), 80
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daraus hervorgegangene nicht minder verderbliche Einfluß auf die wissenschaftliche Bildung der Studierenden.“32 Die Universität blieb zwei Monate geschlossen 33 Die Reorganisation der Universität durch die Landesregierung war verbunden mit einer neuen Universitätsverfassung Als die Professoren Rotteck und Welcker – in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Landtags – gegen die neue Verfassung protestierten, entzog ihnen die Regierung die Lehrbefugnis und versetzte sie in den vorzeitigen Ruhestand 34 Jeder Protest der Studenten hiergegen blieb ohne Erfolg VIII. Rotteck und Siebenpfeiffer in späterer Zeit (ab 1833) Nachdem ihm die Lehrbefugis entzogen war, bewarb sich Rotteck um das Amt des Bürgermeisters von Freiburg 1833 wurde er zwar mit großer Mehrheit35 zum Bürgermeister gewählt, konnte dieses Amt aber nicht antreten, da ihm die Regierung des Großherzogs die Wahlbestätigung versagte Die Universität versuchte nachfolgend mehrfach seine Rehabilitation durchzusetzen Erst 1840 (kurz vor seinem Tod) erhielt Rotteck seinen Lehrstuhl an der Universität Freiburg zurück Siebenpfeiffer konnte 1833 aus dem Gefängnis fliehen und in die Schweiz entkommen Er erhielt eine Anstellung als außerordentlicher Professor für Straf- und Staatsrecht an der Universität Bern 1842 wurde Siebenpfeiffer wegen Geisteskrankheit in eine Privatklinik bei Bern eingewiesen, wo er 1845 (im Alter von 55 Jahren) verstarb
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Verfügung über die Schließung der Universität bei: Hans Gerber, Der Wandel der Rechtsgestalt der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau seit dem Ende der vorderösterreichischen Zeit 2 Bände Freiburg 1957, Bd 2, 160; Regierungsblatt des Großherzogtums Baden, Nro L 12 Sept 1832, 571 Schließung bis zum 5 November 1832 Zum ersten Prorektor nach der Schließung wurde der Mediziner Prof Dr Karl Josef Beck ernannt, ein Gegner der liberalen Bestrebungen Martin Dossmann, „Freiburgs Schönheit lacht uns wieder …“ Die Studentenverbindungen in Freiburg im Breisgau Hilden 2017, 53 Von einer Welle der Popularität getragen gewann Rotteck die Wahl mit überwältigender Mehrheit Bei insgesamt 18 Kandidaten erhielt er 927 der 1246 abgegebenen Stimmen
„Gott mehr gehorchen als den Menschen“ Bischof von Kettelers Überlegungen zur Begründbarkeit eines katholischen Widerstandsrechts im Kulturkampf Jeremias Fuchs I. Einführung Wie kaum ein Zweiter war der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler mit den Entwicklungen und Brüchen verbunden, die die katholische Kirche und der deutsche Katholizismus in Deutschland im 19 Jahrhundert durchlebten 1 Der erste größere, als „Kölner Wirren“ bekannt gewordene, Konflikt zwischen dem preußischem Staat und der katholischen Kirche von 1837 war nicht nur die „Geburtsstunde des politischen Katholizismus“2 in Deutschland Die Erfahrung, dass der Staat auf die Unnachgiebigkeit des Kölner Bischofs Droste-Vischering in der „Mischehenfrage“ mit Festungshaft reagierte, brachte in dem Rechtsreferendar Ketteler zudem die Überzeugung hervor, keinem Staat dienen zu wollen, der die Aufopferung seines Gewissens fordere, und stattdessen das Priesteramt anzustreben 3 Als 1848 in Frankfurt erstmals ein gewähltes deutsches Parlament zusammentrat, erlangte der dortige Abgeordnete Ketteler erstmals eine größere Bekanntheit Nach dem Sieg der preußisch geführten Allianz im Krieg von 1866, der die Weichen hin zu einer kleindeutschen Lösung stellt war es Ketteler, der die Katholiken nach der Niederlage Österreichs trotz aller Abneigung, Kritik und der absehbaren Minderheitenrolle in den entstehenden kleindeutsch-pro-
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Vgl Andreas Linsenmann, Verbundenheit und Verteufelung Das Frankreichbild Bischof Wilhelm Emmanuel von Kettelers, in: Andreas Linsenmann / Markus Raasch (Hrsg ), Die Zentrumspartei im Kaiserreich Bilanz und Perspektiven Münster 2015, 367–82, hier 367 Karsten Petersen, „Ich höre den Ruf nach Freiheit“ Wilhelm Emmanuel von Ketteler und die Freiheitsforderungen seiner Zeit Eine Studie zum Verhältnis von konservativem Katholizismus und Moderne (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte Reihe B: Forschungen, Bd 105) Paderborn [u a ] 2005, hier 16 Vgl Michael Kißener: Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877) Bischof der Moderne, in: Franz Felten (Hrsg): Mainzer (Erz)Bischöfe in ihrer Zeit (Mainzer Vorträge, Bd 12) Stuttgart 2008, 123–141, hier 127
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testantisch dominierten Staat führte Als dieser Staat 1871 Wirklichkeit wurde, begab sich Ketteler erneut in die parlamentarische Arena, um als Abgeordneter im ersten deutschen Reichstag auf die grundsätzlichen Fragen und den Charakter des neu gegründeten Reiches einzuwirken Wie bei kaum einem Zeitgenossen war es die Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat und Kirche, die sowohl seinen Lebensweg als auch sein von den Zeitgenossen wahrgenommenes Wirken durchzog Obwohl Ketteler das Alte Reich nicht mehr selbst erlebt hatte, bestimmten die Folgen der Französischen Revolution, und hier besonders die „materielle Auflösung“4 des Heiligen Römischen Reiches durch den Reichdeputationshauptschluss (RDH) von 1803, die grundlegenden Koordinaten seines Lebensweges Das Zerbrechen der traditionellen Einheit von Kirche und Staat, sowie das endgültige Ende des traditionellen Staatskirchensystems, stieß in der Folge Aushandlungsprozesse in Gang, die das 19 Jahrhundert letztlich zu einem Jahrhundert der kirchenpolitischen Krisen5 und in letzter Konsequenz zu einem „Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe“6 werden ließen Je offener dieser schwelende Konflikt zwischen Staat und Kirche um die Neuordnung des Verhältnisses ausbrach, desto dringender wurde es, gerade für den katholischen Teil der Bevölkerung, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie man sich gegenüber einem Staat zu positionieren habe, der nicht bloß mit dem vermeintlichen Gotteswillen konkurrierende Gesetze erlässt, sondern dessen Maßnahmen explizit darauf abzielen, diesem zu widersprechen und der zur Durchsetzung dieser Gesetze auch zu Repressivmaßnahmen greift Wenn Paulus in Röm 13, 1 davon spricht, jede Obrigkeit sei von Gott, und dass für den Christ hieraus eine Gehorsamspflicht erwachse, müsste dies dann nicht auch gegenüber einem solchen Staat gelten, ungeachtet seiner Positionierung zur katholischen Kirche und deren Anhängern?7 Auch wenn diese grundlegende Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Staatsgewalt, zwischen Gehorsamspflicht und deren Grenzen, die Christen durch die Jahrhunderte begleitet hat, so erhielt sie in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts neue Relevanz Mit dem Durchbruch des Nationalstaatsgedankens mussten sie diese Frage nun vor dem Hintergrund des sich entwickelnden modernen Staatswesens mit dessen bisher unbekannten Machtmöglich4 5
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Vgl Ernst-Wolfgang Böckenförde: Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung des 19 Jahrhunderts, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde: Recht, Staat, Freiheit Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte Frankfurt a M 1991, 244–262, hier 244 Vgl Stefan Ruppert, Kirchenrecht und Kulturkampf Historische Legitimation, politische Mitwirkung und wissenschaftliche Begleitung durch die Schule Emil Ludwig Richters ( Jus Ecclesiasticum Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und zum Staatskirchenrecht Bd 70) Tübingen 2002, hier 123 Manuel Borutta, Antikatholizismus Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe Göttingen 2010 Zur Übersetzungsproblematik von Röm 13, 1–7 sowie zur Interpretation der Staatsstelle schlechthin des Neuen Testamentes vgl u a Paul Mikat, Zur Gehorsams- und Widerstandsproblematik nach Röm 13,1–7, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft (1988), 19–33
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keiten und Forderungen an den Einzelnen stellen Kann in einem solchen modernen Staat, zumal dieser sein Verständnis der Gehorsamspflicht seiner Bürger auf rechtspositivistischen Annahmen gründet, die Verpflichtung des Christen aus Apg 5, 29 „Man muss Gott mehr gehorchen denn den Menschen“ noch korrigierend auf das bei Paulus vorbehaltlos positive Staatsverständnis einwirken? 1837 hatte Ketteler diese Frage beantwortet, indem er sich gegen den Staat und eine weitere Dienstbarmachung durch diesen entschieden hatte und den preußischen Staatsdienst verließ Ab den 1850er Jahren, endgültig jedoch mit Inkrafttreten der ersten staatlichen Maßnahmen zur einseitigen Klärung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, drängte sich die Frage erneut und mit besonderer Intensität auf Entluden sich die latenten Spannungen 1837 in einem lokalen und konkreten Fall, so sah man sich während des Kulturkampfes auf katholischer Seite strukturellen staatlichen Maßnahmen gegenüber, die weit über den Einzelfall oder die lokale Ebene hinausgingen 8 In den Kulturkämpfen der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts zeigten sich erstmals die machtstaatlichen Möglichkeiten des modernen Staates, der seinen Anspruch der Omnipotenz und Omnikompetenz konsequent zu Lasten seiner katholischen Untertanen durchzusetzen versuchte Angesichts der verheerenden Wirkung der Maßnahmen auf das geistige und kirchliche Leben kam man auf katholischer Seite nicht mehr umhin, die Frage danach zu stellen, wie das Spannungsverhältnis zwischen der clausula petri und der Forderung des göttlichen Gehorsamsvorranges aufzulösen sei 9 Je einschneidender die Kulturkampfgesetzgebung auf die Lebenswirklichkeit der deutschen Katholiken wirkte, desto stärker wurde ungesetzliches Verhalten unter Berufung auf
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Wenn im Folgenden von Kulturkampf gesprochen wird, so muss dabei auf die mit dem Begriff zusammenhängenden Probleme hingewiesen werden Der ursprünglich von Ferdinand Lassalle verwendete und von Virchow zum Kampfbegriff für den Kampf zwischen moderner fortschrittlicher deutscher Kultur und antiliberalem rückständigem römischen Unkultur umgedeutete Begriff tradiert nicht nur, dass dieser Besetzung zu Grunde liegende Weltbild und einen entsprechenden Kulturbegriff, er suggeriert zugleich die gewaltige sachliche Fehlannahme des Kulturkampfes als homogenes Ereignis Durch die dem Föderalismus geschuldete kultur- und religionspolitische Kompetenz der Länder, die lediglich die Strafgesetzgebung beim Reich ließ, hat man es im deutschen Raum viel mehr mit Kulturkämpfen zu tun, jeder mit eigenen Zielen, Verläufen und stark variierender Intensität Wenn daher im Folgenden von Kulturkampf die Rede ist, so ist dies keine Missachtung dieser Problematiken, sondern lediglich der weiterhin verbreiteten Verknüpfung dieses Begriffes mit den Ereignissen im Kontext der Kirchenkämpfe in den deutschen Ländern in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts geschuldet Ausführlicher zur Problematik und den Deutungen des Begriffs vgl u a Jürgen Strötz, Der Katholizismus im deutschen Kaiserreich 1871 bis 1918 Strukturen eines problematischen Verhältnisses zwischen Widerstand und Integration Teil 1 Reichsgründung und Kulturkampf 1871–1890 (= Studien zu Religionspädagogik und Pastoralgeschichte Bd 6) Hamburg 2005, hier 167–171 Eine Darstellung der Situation in Preußen 1877 mit Geldstrafen, Haftstrafen, Schließungen von Seminaren und Auswanderungen findet sich bei Karl Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Bewegung, sowie zur allgemeinen Geschichte des neueren und neuesten Deutschland 1815–1914 Band III Das neue Zentrum und der Kulturkampf in Preussen 1870–1880 Köln 1927, hier 318–320
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ein Widerstandsrecht zu einer Handlungsoption, wobei die anscheinend sich widersprechenden biblischen Vorgaben eine besondere Begründung solchen Verhaltens nötig machten Ruft man sich erneut die eingangs gezeigten Stationen im Lebenslauf Kettelers vor Augen, so drängt es sich bezüglich einer möglichen Antwort geradezu auf, bei ihm anzusetzen Sowohl sein Charakter als auch seinen Rollen als studierter Jurist, Geistlicher, Politiker und Abgeordneter, prädestinieren ihn dazu, in kirchenpolitischen Fragen als der anerkannte Wortführer und Hauptideengeber im Aushandlungsprozess für die kirchenpolitischen Rahmenbedingungen zu gelten 10 Daher sollen auch seine gesammelten Werke11 als Grundlage dienen, um der Frage nach eben dieser Begründbarkeit eines katholischen Widerstandsrechts gegen die staatlichen Maßnahmen im Kontext des Kulturkampfes nachzugehen II. Begründungsstrategien für Widerstand Dass es auch im modernen Verfassungsstaat Sachverhalte geben könne, in denen der Einzelne mit Verweis auf sein Gewissen dem Staat den Gehorsam versagen könne und sogar müsse, wurde noch in den 1870er Jahren selbst von Teilen der Nationalliberalen – wie etwa vom preußischen Kronsyndikus Hermann von Schulze-Gävernitz – anerkannt 12 Eine prinzipielle Anerkennung der Möglichkeit des Widerstandes ließ dabei jedoch die Annahme der grundsätzlichen Gültigkeit der Gesetze und das Recht des Staates, diese auch mit Zwang durchzusetzen und Ungehorsam zu sanktionieren, unangetastet, was Widerstand untrennbar mit der Inkaufnahme persönlicher Nachteile verknüpfte Dem Grundsatz nach unterschied sich eine solche Lehrmeinung kaum von der, wie sie Ketteler für die katholische Seite formulierte 13 So forderte er, geprägt von seiner juristischen Ausbildung und der aus Röm 13 hergeleiteten Ordnungsvorstellung des Staates als von Gott gestifteter Anstalt sowie mit Blick auf den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit als hohes politisches und gesellschaftliches Gut, dass
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Vgl Erwin Iserloh: Wilhelm Emmanuel von Ketteler und die Freiheit der Kirche und in der Kirche (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse Jahrgang 1978 Nr 7) Mainz 1978, hier 3 Erwin Iserloh (Hrsg ): Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler: Sämtliche Werke und Briefe, 11 Bde , Mainz 1977–2001 Im Folgenden: SWB Vgl Hermann von Schulze-Gävernitz, Das preussische Staatsrecht auf Grundlage des deutschen Staatsrechts. Band I. Leipzig 1872, hier 368. Wie in der konservativen Staatsrechtslehre ist bei Ketteler gerechtfertigter Widerstand ebenfalls immer und ausschließlich nur als passiver Widerstand zu verstehen Gemäß der christlichen Gehorsamspflicht darf widerständiges Verhalten auch die Autorität als solche nicht in Frage stellen, sondern sich nur gegen konkrete Formen der Machtausübung richten
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„[d]iese [paritätischen] Staaten […] formell von dem Princip ausgehen [müssen], daß ihre Gesetze unbedingte Geltung haben Sie können folglich nicht dem Individuum ein Recht einräumen, den Gehorsam gegen das Gesetz zu verweigern aus irgend einem Grunde Eine solche Anerkennung würde die Staatsidee, welche wesentlich in der Organisation der Einzelnen zu einem bürgerl[ich]-politischen Verband besteht, aufheben Sie können zweitens auch nicht einer Gesellschaft in ihrer Mitte das Recht zusprechen, sich aus irgend einem Grunde dem Gehorsam zu entziehen Namentlich auch nicht einer religiösen Gesellschaft “14
Wollte man auf katholischer Seite in der Folge ein mögliches Widerstandsrecht gegen die Kulturkampfmaßnahmen begründen, so musste diese Begründung zweierlei leisten Zum einen musste sie es schaffen, in befriedigender Weise den Konflikt zwischen Gehorsamsgebot und Gottesvorrang im Normkollisionsfall auflösen und zugleich die prinzipiell anerkannten Sanktionsrechte des Staates suspendieren Dabei verfolgt Ketteler, betrachtet man sein gesamtes Werk, sowohl einen allgemeinen, trägerschaftsunspezifischen als auch einen akteurszentrierten Ansatz, der nach den Trägern des Widerstandes unterscheidet 1 Trägerschaftsunspezifische Widerstandsbegründung Für eine trägerschaftsunspezifische Begründung von Widerstand geht Ketteler, immer vor dem Hintergrund der Idee der christlich motivierten prinzipiellen Rechtstreue zum Schutz der Rechtssicherheit, auf zweifache Weise vor Zum einen legt er eine Argumentationsweise zugrunde, nach der widerständiges Verhalten als legale und legitime rechtsbegründete Handlungsmöglichkeit gerechtfertigt wird Der katholische Ungehorsam gegen die staatlichen Maßnahmen wird von ihm dadurch als legal dargestellt, dass man auf individueller Ebene schlicht glaubte, aufgrund von einschlägigen entgegenstehenden Rechten, entgegen den gesetzlichen Bestimmungen handeln zu dürfen Parallel dazu verfolgt Ketteler zudem einen negativen Ansatz, nach dem eine Illegalität des staatlichen Handelns behauptet wird, woraus eine Nichtigkeit der Gesetze und in der Folge eine fehlende Bindewirkung gefolgert wird, so dass Ungehorsam gegen solches Nichtrecht keinen sanktionswürdigen Normverstoß darstellt
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Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Die Souveränität des Staates, in: SWB I, 5, 373–379, hier 374
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a) Der positive Ansatz Grundlage für Kettelers Begründungsansatz hinsichtlich eines Ungehorsams auf positivrechtlicher Basis ist sein Verständnis der von der Kirche beanspruchten Rechte eben als Rechte und nicht als vom Staat gewährte Privilegien 15 Endsprechend einer solchen Deutung wird von ihm versucht, die Wahrung und Respektierung von kirchlichen Rechten mit einem liberalen, rechtspositivistischen Ansatz gegen den Zugriff des Staates zu verteidigen16, wobei sich der Verteidigende nach Kettelers Ansicht dabei auf den Grundsatz des „Qui suo iure utitur, nemini facit iniuriam“17 – Wer sein Recht einfordert, tut niemandem Unrecht – berufen könne Begründet sieht er diese Rechte dabei sowohl in positiv kodifizierten Ansprüchen aus Konkordaten, konkordatsähnlichen Verträgen und Verfassungsurkunden als auch überpositiv im historischen Recht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen aa) Legalität aus Vertrag und Reichsrecht Um Kettelers Argumentation bezüglich einer Ableitung von Rechten der Kirche aus Vertragsbestimmungen nachzuvollziehen, ist es notwendig, sich das auf kirchlicher Seite zu Grunde liegende Verständnis der Konkordate und konkordatsähnlichen Verträge zu vergegenwärtigen Wenn Ketteler auf solche Verträge Bezug nimmt, sieht er darin eine Vereinbarung gleichrangiger Vertragspartner, die ihre aus dem Vertrag erwachsenen Rechten und Pflichten nach Treu und Glauben bestmöglich erfüllen, wobei eine einseitige Änderung oder Beendigung der Vertragsbedingungen nur im Einvernehmen aller Vertragsparteien möglich ist Entsprechend geht er nicht bloß davon aus, dass zwischen dem Heiligen Stuhl und den Ländern geschlossene Verträge bis zu einer zukünftigen einvernehmlichen Übereinkunft legitime Rechtsgrundlage für das Verhältnis von Staat und Kirche bleiben Einseitige Missachtungen der Bestimmungen, wie sie in den Kirchengesetzen vor allem der 1870er Jahre gesehen wurden, wurden daher als nichtig verworfen, da sie nichts an der Gültigkeit der vertragsbegründeten Bestimmungen ändern könnten Konnte man sich etwa in Hessen-Darmstadt auf katholischer Seite bis 1866 noch auf die Bestimmungen der Vorläufigen Übereinkunft zwischen der Großherzoglich hessischen Regierung und dem Bischof von Mainz vom 23. August 1854 und die zumindest wohlwollende Neutralität der Regierung und des Großherzogs stützen, um Versuche der 15 16
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Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Freiheit, Autorität und Kirche Erörterungen über die großen Probleme der Gegenwart, in: SWB I, 1, 222–364, hier 325 Vgl Adolf Birke, Bischof Ketteler und der deutsche Liberalismus Eine Untersuchung über das Verhältnis des liberalen Katholizismus zum bürgerlichen Liberalismus in der Reichsgründungszeit (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte Reihe B: Forschungen, Bd 9) Mainz 1971, hier 19 Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Brief an das Ministerium des Inneren vom 24 April 1851, in: SWB II, 2, 115–116, hier 116
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liberal dominierten Zweiten Kammer des Landtages hinsichtlich einer Neuordnung der Verhältnisse abzuwehren, blieben nach der Aufhebung der Übereinkunft die in den vorangegangen Jahrzehnten erlassenen päpstlichen Bullen als Referenzpunkt zur Behauptung von Rechten Besondere Bedeutung hatten dabei die Art V und VI der Bulle Ad Dominici gregis custodiam von 1827, nach denen Kleriker „nach der Vorschrift der Decrete des Conciliums von Trient gebildet und erzogen werden“ sollen und Bischöfe „mit vollem Rechte die bischöflichen Gerichtsbarkeit ausüben [dürfen], welche ihnen nach den canonischen Vorschriften und der gegenwärtigen Kirchenverfassung zusteht “18
Entsprechend wurden gerade die Bestimmungen betreffend Vorbildung und Anstellung von Geistlichen und über die Beschränkung der bischöflichen Disziplinargewalt als unzulässige einseitige Änderungen verstanden und abgelehnt Neben diesen vertragsbegründeten Rechten wird von Ketteler, gerade zur Behauptung von das Kirchenvermögen betreffenden Rechte, der RDH angeführt Ohne auf die Frage der weiterhin bestehenden Gültigkeit dieses Reichsgesetzes einzugehen, gibt er an, dass sich die Forderung der Bischöfe auch auf die hier normierte Anerkennung kirchlicher Eigentumsrechte zurückführen ließe 19 Relevant werden diese das Eigentum betreffenden §§ 63, 34 und 35 RDH vor allem mit Blick auf das Gesetz über die Vermögensverwaltung der katholischen Kirchengemeinden sowie das preußische Brotkorbgesetz Wenn letzteres den positiven Beweis der Unterwerfung der preußischen Geistlichen unter die Maigesetze als Voraussetzung für die Auszahlung von Staatsleistungen fordert20, so bezieht sich Kettelers Argumentation auf den in den genannten Bestimmungen des RDH enthaltenen Haftungsübergang im Kontext der Gesamtrechtsnachfolge beim Übergang von ehemals kirchlichem Eigentum an den Staat Hiernach stellen Staatsleistungen, sofern sie aus den 1803 säkularisierten Liegenschaften stammen, keine Leistungen dar, über deren Auszahlung der Staat frei entscheiden kann Die Geistlichen konnten sich vielmehr auf einen bedingungslosen Anspruch gegenüber dem Staat zur Auszahlung berufen Entsprechend verweist Ketteler auch auf das im RDH normierte Recht der kirchlichen Vermögensselbstverwaltung, was letztlich nichts anderes als die Negierung des Gesetzes über die Vermögensverwaltung und dessen System der Verwaltung durch Kirchenvorstand und gewählte Gemeindevertretung bedeutet 18 19 20
Ernst Rudolf Huber / Wolfgang Huber, Staat und Kirche im 19 Und 20 Jahrhundert Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts Band I Staat und Kirche vom Ausgang des alten Reiches bis zum Vorabend der bürgerlichen Revolution Berlin 1973, 268 Vgl Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Das Recht und der Rechtsschutz der katholischen Kirche in Deutschland, in: SWB I, 1, 133–192, hier 186 Vgl u a Margaret Lavinia Anderson, Windthorst Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks (Forschung und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd 14) Düsseldorf 1988, hier 180
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ab) Legalität aus Verfassungsrecht Die zweite Rechtsgrundlage, mit der Ketteler gegen die Kulturkampfgesetze zu argumentieren versuchte, waren die, vor allen in der preußischen Verfassung festgeschriebenen, Grundrechte Neben dem in Art 15 und 18 PreuVerf garantierten Selbstverwaltungsrecht der Kirche in inneren Angelegenheiten, der Bestätigung des Besitz- und Gebrauchstandes bezüglich der unter anderem für Unterrichtszwecke bestimmten Anstalten und Fonds sowie der Staatsfreiheit in Fragen der Besetzung kirchlicher Stellen, findet sich bei Ketteler auch eine wiederholte Betonung der in Art 20 PreuVerf verbürgten Lehr- und Lernfreiheit 21 Die in der Verfassung garantierten Rechte dienten gerade mit Blick auf die 1872 und 1873 in Preußen verabschiedeten Gesetze zur Beaufsichtigung des Unterrichts- und Erziehungswesens sowie das zur Vorbildung und Anstellung von Geistlichen als starke Verteidigungslinie kirchlicher Rechte Durch den Vorwurf, dass eine Schulpflicht in Verbindung mit der faktischen Schaffung von Simultan- und Volksschulen als Regelschulen ohne Wahlmöglichkeit der Eltern zugunsten von Konfessionsschulen unberechtigte Tyrannei gegen das religiöse Empfinden sei, stellte für Ketteler dabei nicht bloß einen Verstoß gegen die Freiheit des Lernens und Lehrens aus Art 20 PreuVerf dar 22 In gleichem Maße sah er die Garantie der kirchlichen Unterrichtsanstalten, deren katholischer Charakter durch die Schulreformen und die Entfernung von Geistlichen und Ordensmitgliedern aus dem Schulbetrieb in Frage gestellt wurde, durch die staatlichen Maßnahmen in eklatanter Weise verletzt 23 Dass diese Argumentation mit den verschiedenen Verfassungsgarantien auf Seiten der Regierung und Parlamentsmehrheit durchaus als triftig anerkannt wurde, zeigt sich darin, dass zunächst mit den Ergänzungen zu Art 15 und 18 PreuVerf und der späteren Streichung aus der Verfassung versucht wurde, den von Ketteler vorgebrachten Vorwurf des Verrats an liberal-konstitutionellen Ideen dadurch zu umgehen, dass man durch die Verfassungsänderungen zumindest den Schein der Rechtsund Verfassungsmäßigkeit der Kirchengesetze zu bewahren versuchte 24 Ketteler versuchte zwar mit der Betonung des antikonstitutionellen Verhaltens der Liberalen öffentlichen Druck aufzubauen, der auch noch nach dem Wegfall der Artikel Wirkung entfalten konnte, nachdem die Artikel aufgehoben worden waren und die Möglichkeit zu Berufung auf diese Rechte entfiel, praktische Erleichterung brachte der Verweis auf Verfassungsrechte jedoch zu keiner Zeit Allerdings konnte die Regierung auch nicht 21 22 23 24
So u a im Kapitel Lehr- und Lernfreiheit bei Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Die Katholiken im Deutschen Reiche Entwurf zu einem politischen Programm Katholiken, in: SWB I, 4, 186–262 Ketteler, Katholiken (wie Anm 21), 208 Prinzipiell gesteht er jedoch zu, dass eine Schulpflicht zur Schaffung eines gesellschaftlich breiten Minimums an schulischer Bildung durchaus gerechtfertigt sei Vgl Ketteler, Freiheit (wie Anm 15), 339–340 Vgl Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Die Gefahren der neuen Schulgesetzgebung für die religiössittliche Erziehung der Kinder in den Volksschulen, in: SWB I, 4, 537–585 Vgl u a Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 Band IV Strukturen und Krisen des Kaiserreichs 2 Aufl Stuttgart [u a ] 1969, 710
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gänzlich verhindern, dass die Aufhebung der Artikel zum Teil in der Öffentlichkeit doch als indirektes Eingeständnis des Verfassungsbruchs durch die beschlossenen Gesetze verstanden wurde 25 Für die Frage nach den hieraus für Kettelers Überlegungen zum Widerstandsrecht entstehenden Folgen ist die in seiner Schrift Warum können wir zur Ausführung der Kirchengesetze nicht mitwirken formulierte und als falsch verworfene These entscheidend: „Und während der Staat von seinen Unterthanen, gleichviel zu welcher Religion sie sich bekennen oder welcher Kirche sie angehören, den Gehorsam für die verfassungsmäßig erlassenen Gesetze und die gesetzlichen Anordnungen der Obrigkeit unbedingt fordern kann und muß, glauben die Vertreter der römisch-katholischen Kirche in Deutschland denjenigen Staatsgesetzen keinen Gehorsam schuldig zu sein, welche die Freiheit der katholischen Kirche im Interesse der Gemeinheit beschränken “26
Der Staat selbst, so Ketteler, knüpft die Gehorsamspflicht des Einzelnen an die Verfassungsmäßigkeit der erlassenen Gesetze Auch wenn es kein Gericht gab, dass diese verbindlich feststellen konnte, gab ein solches Prinzip Ketteler und der katholischen Seite ein starkes Instrument, um aus eigenen positiven Rechten Ungehorsam gegen konkrete Gesetzesmaßnahmen zu begründen ac) Legalität aus überpositivem Recht Da eine solche positiv begründete Argumentation zugunsten eines Rechts zu Ungehorsam und Nichtmitwirkung dort an seine Grenzen stößt, wo positives Recht geändert oder abgeschafft werden kann, gründet Ketteler seine Ableitung von Rechten auch auf überpositive Quellen, wobei besonders historisches Recht und allgemeine Rechtsgrundsätze eine zentrale Rolle spielen Als historisches Recht führt er dabei den Umstand an, dass die katholische Kirche aufgrund ihrer Tradition und Geschichte keine „imaginäre Größe“27 sei, der die jeweilige Kammermehrheit beliebige Verfassungen und Rahmenbedingungen geben könne Überall auf der Welt sei anerkannt worden, dass die katholische Kirche ein eigentümliches Wesen darstellen würde, wobei ihr deshalb schon immer und überall besondere Rechte bezüglich ihrer Verfassung und Selbstverwaltung zugestanden worden seien, da akzeptiert wurde, dass diese aufgrund ihrer göttlichen Herkunft und ihres Heilsauftrags unverzichtbar seien Dass solche Rechte auch ihren Weg in deutsche Verfassungen gefunden hatten, wird dabei als implizite Anerkennung dieses allgemeingültigen Prinzips als Rechtsstand auch in den deutschen Ländern gedeutet 28
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Vgl Huber: Verfassungsgeschichte (wie Anm 24), 734 Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Warum können wir zur Ausführung der Kirchengesetze nicht mitwirken, in: SWB I, 4, 586–658, hier 593 Ketteler, Freiheit (wie Anm 15), 313 Ebd.
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Durch ein solches Verständnis gelingt es Ketteler mit Blick auf die Kirchenartikel der preußischen Verfassung deren weitere Gültigkeit auch über ihre Aufhebung hinaus anzunehmen Zwar konnten in der Folge die Rechtansprüche nicht mehr auf positives Recht begründet werden, jedoch blieben die Ansprüche als allgemeine überpositive Rechtsgrundsätze gültig Ein weiteres Rechtsprinzip, aus dem Ketteler konkrete Rechte bezüglich Widerstand ableitet, beruht auf dem von ihm angeführten Grundsatz, „daß etwas nach dem Staatsgesetze ein Verbrechen sein kann, was vor dem Gesetze Gottes keine Schuld begründet “29 Durch die Unterscheidung der „Legalität und Sittlichkeit“30 von Handeln und Unterlassen öffnet er seine Argumentation für Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, die letztlich ein Notwehrrecht konstituieren Unter Verweis auf Feuerbachs Strafrechtslehre geht Ketteler von Bedingungen aus, die eine Notwehrlage, und damit einen Ausschluss von Strafbarkeit bei an sich rechtswidrigen Handlungen, begründen Solche „Milderungsgründe“31 könnten dabei sein, dass man unverschuldet in höchste Not gerate, gegen die es keine rechtlichen geeigneten Mittel zur Abhilfe gibt Dabei müsse das ungesetzliche Verhalten das mildeste wirksame Mittel darstellen, um die Notlage abzuwenden, wobei die Beweispflicht für das Vorliegen der Rechtfertigungssituation beim Rechtsbrecher liegt 32 Widerstand darf somit nach Kettelers Vorstellung immer nur als ultima ratio stattfinden, nachdem alle anderen, erfolgsversprechenden, Möglichkeiten erschöpft sind oder untauglich scheinen Diese Voraussetzung sieht Ketteler im Kontext des Kulturkampfes als erfüllt, deutet er ihn in dem Sinne: „Dieser Kampf ist ein Kampf um das Dasein der Kirche, eine Abwehr von Eingriffen, die endlich die Kirche zu Grunde richten müssen, dieser Kampf ist in voller Wahrheit eine Nothwehr, und kein Eingriff in die Rechte der Landesherren “33
Da die Kulturkampfgesetze und ihre Umsetzung nach Kettelers Auffassung geeignet sind, die Kirche in Deutschland in ihrem Bestand zu zerstören, sieht er Widerstand, welcher sich an der Maxime des Gottes- und Gewissensvorrangs ausrichtet, nicht als sanktionswürdige Handlungen, sondern vielmehr als Wahrnehmung und Verwirklichung von behaupteten Rechten, die ihren Ursprung in allgemeinen überpositiven Rechtsgrundsätzen finden
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Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Die Angriffe gegen Gury’s Moral-Theologie in der „Mainzer Zeitung“ und der zweiten Kammer zu Darmstadt Zur Beleuchtung der neuesten Kampfweise gegen die katholische Kirche für alle redlichen und unparteiischen Männer, in: SWB I, 2, 347–405, hier 354 Ebd. Ebd., 355 Ebd., 354 Ketteler, Rechtsschutz (wie Anm 19), 181
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b) Der negative Ansatz Neben der positiven Begründung der Legitimität und Legalität von Widerstand findet sich bei Ketteler gleichfalls ein negativer Ansatz, der darauf abzielt, dem Staat die Nichtigkeit seiner Normen nachzuweisen, um durch die hierdurch fehlende Bindewirkung dieser Nichtgesetze Widerstand als in Einklang mit dem vom Staat einforderbaren Gehorsam zu rechtfertigen ba) Rechtswidrigkeit durch fehlende Handlungskompetenz Ausgehend von der Idee von Staat und Kirche als zwei auf Gott beruhenden unabhängigen Institutionen mit eigenen Rechts- und Wirkungssphären, innerhalb derer die jeweilige Institution der alleinige kompetente Gesetzgeber ist, macht Ketteler ein „vom Staat unterschiedenes ‚Selbst‘“34 als Kernbestand der kirchlichen Rechte aus, denen gegenüber der Staat seiner Vorstellung nach keine Gesetzgebungs- und Regelungskompetenz habe Bis zur endgültigen Aufhebung von Art 15 PreuVerf konnte sich Ketteler mit Blick auf die kirchliche Selbstverwaltung, zu der er besonders die Rechte zur Ausbildung des Klerus, zur Besetzung geistlicher Stellen und zur Vermögensverwaltung zählt35, auf ein positiv normiertes Recht berufen, da die Verfassungsgarantie „jede specielle Gesetzgebung in Sachen der Religionsgemeinschaften von der Competenz des Staates außschließ[e] “36 Erlasse der Staat jedoch trotzdem entsprechende Gesetze, so stellten diese nicht nur einen Verfassungsbruch dar, sondern gleichfalls eine Überschreitung der staatlichen Kompetenzsphäre, womit es den Gesetzen am kompetenten Gesetzgeber mangele 37 Neben der Beschränkung des Gesetzgebers durch die Verfassung sieht Ketteler dessen Kompetenz auch durch die Bestimmungen des Westfälischen Friedens (IPM/IPO) beschränkt Da er betreffend der Gültigkeit von dessen Bestimmungen annimmt, dass „[d]ieser Friedensvertrag […] seitdem [ab 1648] öffentliches Recht in Deutschland“38 sei, verneint er eine staatliche Gesetzgebungskompetenz in religiösen Fragen unter Berufung auf Art 5 § 1 IPM Entsprechend dieser Bestimmung sieht er es, unabhängig vom Vorhandensein entsprechender Verfassungsgarantien, für alle deutschen Länder als verbindlich an, dass bis zur Überwindung der Religionsspaltung in Deutschland keine Mehrheitsbeschlüsse über Religionsfragen möglich sein sollen 39 34 35 36 37 38 39
Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Die preußischen Gesetzentwürfe über die Stellung der Kirche zum Staat, in: SWB I, 4, 263–303, hier 299 Vgl ebd., 300 Ebd. Ketteler geht dabei soweit, dass selbst eine Ergänzung der Verfassungsbestimmungen um einen Gesetzesvorbehalt nicht daran ändern könne Vgl ebd Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Der Bruch des Religionsfriedens und der einzige Weg zu seiner Wiederherstellung, in: SWB I, 4, 471–516, hier 472 Vgl ebd.
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Damit wird von Ketteler schon die alleinige Kompetenz des parlamentarischen Gesetzgebers verneint, wodurch die jeweiligen kirchenpolitischen Gesetze kein gerechtes Gesetz seien und dadurch keine Gesetzesqualität besitzen konnten Neben den durch die Verfassung und den Westfälischen Frieden gesetzten Grenzen wird die staatliche Gesetzgebungskompetenz nach Ketteler gleichsam durch Gottes Gebot beschränkt Versteht er dabei die Kirche als in ihrer Verfassung und ihrem Aufbau von Gott gestiftet und angelegt, findet sich darin eine weitere Abwehrlinie gegen staatliche Eingriffe in die innere Selbstverwaltung der Kirche Da sich für Ketteler in der kirchlichen Verfasstheit ein Ausdruck göttlichen Willens manifestiert, werden aus allen Fragen betreffend die kirchliche Selbstverwaltung solche mit Bezug zur katholischen Glaubenslehre, wodurch sie gemäß seiner Sphärenidee jeglicher Regelungskompetenz des Staates entzogen werden Entsprechend der Überzeugung, dass solche ultra vires entstandenen Gesetze unsittlich, unvernünftig, unchristlich und im offenen Widerspruch mit dem Worte Gottes stehen, formuliert Ketteler die These: „Alle einseitig erlassenen Gesetze über Rechte und Freiheiten, welche Gott der Kirche verliehen hat, können daher nur von uns als Competenzüberschreitung angesehen werden Wir müssen sie nach dem Grundsatze beurtheilen: lex injusta non est lex “40
Nach Ketteler verlieren die Gesetze durch die mangelnde Kompetenz ihren Gesetzescharakter und damit ihre verbindliche Wirkung, der Staat kann sich in solchen Fällen nicht auf eine Gehorsamspflicht berufen Vielmehr entsteht hierdurch ein individuelles Prüfungsrecht gegenüber den Staatsmaßnahmen, an deren Ende für Ketteler nur die Bewertung stehen kann: „Dem Gewissen treu bleiben, die heiligsten Pflichten des von Gott empfangenen Amtes erfüllen, den Glauben nicht durch die That verleugnen, die auf göttlichen und menschlichen Rechte beruhende, durch Geschichte, Vertrag und Königswort verbürgte Freiheit der Kirche und des christlichen Gewissens verteidigen, Eingriffe der Staatsgewalt in das Gebiet der Kirche abwehren, das ist keine Rebellion, und beweist keine revolutionäre Gesinnung “41
bb) Rechtswidrigkeit durch Verstoß gegen grundlegende Rechtsprinzipien Neben dem Argument der fehlenden Kompetenz zur Bestreitung der Legalität der staatlichen Maßnahmen und einer entsprechenden Gehorsamsforderung sah Ketteler in vielen Kulturkampfgesetzen auch die grundlegenden Rechtsprinzipien der Bestimmtheit, des Verbots von Ausnahme- und Gesinnungsgesetzen und der Verhältnis-
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Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Notizen für die Bischofskonferenz, in: SWB I, 5, 450–452, hier 450 Sendschreiben des preußischen Episkopates, in: SWB I, 6, 636–642, hier 637
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mäßigkeit verletzt Als zentrales Auslegungs- und Rechtsprinzip verstand er, neben der Billigkeit und Loyalität bei Verträgen, „die allgemein anerkannte Rechtsregel, daß alle das gemeine Recht und die gemeine Freiheit beschränkenden Ausnahmebestimmungen nicht auszudehnen, sondern in dem der Freiheit und dem gemeinen Rechte günstigeren Sinne auszulegen sind “42
Daher lehnt er etwa den Kanzelparagraphen schon alleine deshalb ab, weil dieser eine nicht notwendige weitere strafrechtliche Beschränkung darstelle, sah er doch schon in dem vorhandenen § 130 RStGB43 ein geeignetes Mittel, auch einschlägige Äußerungen von Geistlichen zu strafen, ohne ein neues Gesetz erlassen zu müssen 44 Darüber hinaus erkannte Ketteler in dem neugeschaffenen § 130a RStGB45 ein abzulehnendes „Ausnahmegesetz im odiosesten Sinne des Wortes“46, das „die Gleichheit vor dem Gesetz geradezu vernichten“47 würde, da in Zukunft „Staatsangehörige, welche sich in denselben Verhältnissen befinden, derselben Vergehen wegen nicht nach denselben gesetzlichen Normen gerichtet [werden würden] “48 Eine ähnliche ungerechtfertigte gesetzliche Ungleichbehandlung sah Ketteler in dem geforderten Kulturexamen für Geistliche, da nur diese eine solche Mehrbelastung über sich ergehen lassen müssten Andere Gruppen, von denen man ebenfalls ein gehobenes Maß an Bildung erwarten könne, wie etwa Mediziner oder Juristen, würden jedoch wohlwollender behandelt 49 Ein weiteres Einfallstor für eine Ablehnung der Gesetze als Unrecht machte Ketteler darin aus, dass die Gesetze, etwa das Jesuitengesetz, keine Handlungen zum Anknüp-
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Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Das Recht der Domcapitel und das Veto der Regierungen bei den Bischofswahlen in Preussen und der Oberreihnischen Kirchenprovinz in: SWB I, 2, 270–309, hier 280 „Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft “ Vgl Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Rede vom 23 November 1871 vor dem Deutschen Reichstag über den Kanzelparagraphen, in: SWB I, 4, 44–59, hier 52 „Ein Geistlicher oder anderer Religionsdiener, welcher in Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung seines Berufes öffentlich vor einer Menschenmenge, oder welcher in einer Kirche oder an einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte vor Mehreren Angelegenheiten des Staats in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstande einer Verkündigung oder Erörterung macht, wird mit Gefängniß oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft Gleiche Strafe trifft denjenigen Geistlichen oder anderen Religionsdiener, welcher in Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung seines Berufes Schriftstücke ausgibt oder verbreitet, in welchen Angelegenheiten des Staats in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstande einer Verkündigung oder Erörterung gemacht sind “ Ebd., 54–55 Ebd., 55 Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Die Centrums-Fraction auf dem ersten Deutschen Reichstage, in: SWB I, 4, 65–165, hier 136 Ketteler verweist hierbei auf den Göttinger Professor Paul de Lagarde Vgl Ketteler, Ausführung (wie Anm 26), 625–626
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fungspunkt für Rechtsfolgen machten, sondern die individuelle Gesinnung Vorbehalte brachte er auch gegen andere Kulturkampfgesetze vor Ausgehend von der von ihm formulierten Pflicht des Staates, „auf den Glauben der zurecht bestehenden christlichen Confessionen die schonendste und zarteste Rücksicht zu nehmen“,50 forderte Ketteler, bei allen Staatsmaßnahmen mit Bezug zu religiösen und kirchlichen Interessen das jeweils mildeste zur Verfügung stehende Mittel zu wählen Mit Blick auf die Kirchengesetze stellte Ketteler einen eklatanten Verstoß gegen dieses Mäßigungsgebot fest: „In der Geltendmachung der Autorität des Staates den Kirchendienern gegenüber läßt sich die moderne kirchenpolitische Gesetzgebung ganz von dem Grundsatze des ‚Biegen oder Brechens‘ leiten Jede Art von Widerstand soll als Staatsverbrechen sofort niedergeschmettert werden “51
Ermöglicht und gefördert wurde eine solche Anwendung der Gesetze durch die von Ketteler ebenfalls kritisierte Unbestimmtheit bei zentralen Begriffen, wie dem des öffentlichen Friedens im Kanzelparagraph oder der öffentlichen Ordnung in § 24 des Gesetzes über die kirchliche Disziplinargewalt 52 Gerade mit Blick auf die in Preußen geschaffene Möglichkeit der Absetzung von Geistlichen würden solche „Kautschukgesetze […]“53, die „so allgemein und unbestimmt gefaßt s[eien], daß ihre Anwendung ganz von dem Ermessen der Richter abhäng[e]“54, besonders problematisch Wenn es ausreiche, dass eine Absetzung ohne Berufungsmöglichkeit alleine darauf basierend möglich wird, dass das „Verbleiben im Amte [eines Geistlichen] mit der öffentlichen Ordnung unverträglich erscheint“55, so sah Ketteler die Gefahr, dass entsprechend „alle wahrhaft katholischen Bischöfe“56, also alle gegenüber den Gesetzen Ungehorsame, auf dieser Grundlage aus ihrem Amt entfernt werden könnten, wodurch sowohl der einzelne Geistliche, als auch die Gewährleistung etwa der Seelsorge, schutzlos dem Ermessen der Verwaltung ausgeliefert wäre 57 Da die Gesetze somit weder gerecht, notwendig, nützlich und bestimmt seien – und damit nicht die von Ketteler unter Bezug auf Thomas von Aquin formulierten, ein Gesetz konstituierenden Kriterien erfüllen – verwirken sie ihren Anspruch, Gehorsam einfordern zu können, sie werden zu Nicht-Recht 58 Widerstand als Reaktion auf sol-
50 51 52 53 54 55 56 57 58
Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Der Culturkampf gegen die katholische Kirche und die neuen Kirchengesetzentwürfe für Hessen, in: SWB I, 4, 370–439, hier 388 Ketteler, Ausführung (wie Anm 26), 619 Vgl ebd. Ebd Ebd. Ketteler, Culturkampf (wie Anm 50), 419 Ebd. Ebd. Ketteler, Freiheit (wie Anm 15), 287
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che staatlichen Maßnahmen wird somit nicht nur positiv über Rechtsansprüche gerechtfertigt Durch eine Argumentation, die den Gesetzen ihre verbindlich machende Qualität abspricht, wird Widerstand gegen bestimmte Maßnahmen zu einer rechtfertigbaren und realistisch möglichen Handlungsoption bc) Rechtswidrigkeit durch Eingriff in geschütztes Rechtsgut Neben dieser Argumentation, die darauf abzielt, die Gesetzesqualität der staatlichen Vorschriften zu bestreiten, erkennt Ketteler gleichzeitig jedoch auch an, dass ein Teil der Gesetze durchaus legitime Rechte des Staates normiere In diesen Fällen stellt eine Verwerfung und Charakterisierung der staatlichen Maßnahmen als Unrecht das Ergebnis einer Prüfung der jeweiligen Einzelbestimmung und eines darauf aufbauenden Abwägungsprozesses von sich entgegenstehenden Rechten und Ansprüchen dar Mit Blick auf solche besonderen Rechte des Staates verweist Ketteler auf Friedrich Julius Stahls Philosophie des Rechts, in der dieser eine allgemeine Schulpflicht, den Nachweis der Befähigung zum Lehramt in Form bestimmter Abschlüsse und die Knüpfung des Zugangs zu einigen Ämtern und Berufen an ein bestimmtes Bildungsniveau zu legitimen Rechten des Staates erklärt 59 Bezüglich der Schulpflicht stellt Ketteler klar, dass die Kirche zwar der Ansicht sei, einen Zwang durch das Gewissen der Eltern zu ersetzen, dies jedoch nicht ausschließe, „daß der Staat nach dem Wesen seiner Bestimmung eine gewisse unterste Stufe der Elementarbildung von seinen Angehörigen zu fordern berechtigt [sei]; und daß er deßhalb diejenigen Eltern, welche ihren Kindern diese Bildung auf anderem Wege nicht verschaffen können oder wollen, auch durch äußeren Zwang zur Benutzung der öffentlichen Schulen anhalten [dürfe] “60
Die dem Staat zugestandene Forderung eines Nachweises der Lehramtsbefähigung versteht Ketteler im Sinne einer staatlichen Oberaufsicht bezüglich fachlicher Fähigkeit und sittlicher Geeignetheit Gerade im paritätischen Staat müsse dieser „das Recht haben, sich davon überzeugen zu dürfen, ob in einer Schule Nichts gelehrt werde, was der natürlichen Sittlichkeit oder der Verehrung des Einen wahren Gottes widerspreche, und in Elementarschulen, ob der Lehrer im Stande sei, den allgemeinen geforderten Elementarunterricht zu ertheilen “61
Setzt der Staat diese Rechte jedoch in der Form um, wie im Kulturkampf geschehen, etwa durch das Volksschulgesetz mit der Einführung von Simultanschulen oder der Entfernung von Geistlichen und Ordensmitgliedern aus dem Schuldienst als Folge der Ordensgesetze, so kommt es zu einer Kollision mit entgegenstehenden Rechten, hier 59 60 61
Vgl Ketteler, Freiheit (wie Anm 15), 339 Ebd , 340 Ebd.
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vor allem mit dem elterlichen Erziehungsrecht und der Glaubensfreiheit der Eltern und ihrer Kinder Hergeleitet wird dieses den Gesetzen entgegenstehende Recht aus dem Charakter, den Ketteler der Familie selbst beimisst Diese ist für ihn eben nicht nur, neben dem Staat und der Kirche, die dritte Anstalt von Gottes Gnaden, in der eine von Gott begründeten Ordnung und Gewalt bestehe62, sie ist vielmehr auch der „natürliche Grundpfeiler, auf dem sich die Kirche und der Staat aufbau[e]“63 Ausdruck dieser in der Familie wirkenden göttlichen Ordnung ist dabei nach Ketteler, dass innerhalb der ihr von Gott zugewiesenen Sphäre „die väterliche Gewalt heilig und unverletzlich“64 sei und eine Beschränkung daher einen Eingriff in Gottes Ordnung darstelle 65 Verbindet der Staat nun, wie mit den Schulgesetzen geschehen, die Schulpflicht mit der Einführung öffentlicher und zunehmend „entkatholisierter“ Schulen, ohne dass den Eltern realistische Alternativen mit Blick auf die Schulbildung ihrer Kinder bleiben, so sieht Ketteler darin eine tiefe Verletzung gottbegründeter elterlicher Rechte und der elterlichen Gewissensfreiheit 66 Folge einer solchen Deutung ist, dass als Ergebnis einer Abwägung zwischen den prinzipiell legitimen Forderungen des Staates und dem überpositiv begründeten Elternrecht durch die konkrete Form der Umsetzung die Ansprüche des Staates hinter die Gewissensfreiheit der Eltern zurücktreten müssen und der Staat diese nicht mehr legitim und legal zwingend durchsetzen kann 67 Vor diesem Hintergrund und der von Ketteler als problematisch gesehenen Verknüpfung der Schulpflicht mit der aktiven Förderung einer „entkonfessionalisierten“ Schule ist auch seine Zustimmung zum Prinzip eines konkreten Bildungsniveaus als Zulassungsvoraussetzung zu bestimmten Ämtern zu verstehen Wenn Ketteler in seiner Schrift Freiheit, Autorität und Kirche dem Staat das Recht zugesteht, einen Nachweis über die Befähigung verlangen zu dürfen, der Staat jedoch aufgrund elterlicher Rechte weder faktisch noch durch Gesetz den Weg zur Erlangung dieser Befähigung vorgeben dürfe, so kann dies fast schon als prophetische Vorwegnahme dessen gesehen werden, was in den 1870er Jahren mit den Schulgesetzen oder dem Gesetz zur Vorbildung und Anstellung der Geistlichen ein tatsächliches Problem wurde Abseits der Schulfrage bemüht Ketteler mit Blick auf die die katholischen Orden und die Rechtsstellung katholischer Geistlicher betreffenden Gesetze eine abwägungsbasierte Argumentation, wobei für diese sein Verständnis über Inhalt und Reichweite der Religions- und Gewissensfreiheit eine zentrale Rolle spielt Mit Verweis auf die Definition von François Guizot bedeutet Religionsfreiheit für ihn
62 63 64 65 66 67
Vgl Ketteler, Freiheit (wie Anm 15), 327–328 Ebd Ebd , 328 Vgl ebd. Vgl ebd., 328 Hierzu zieht Ketteler erneut Stahl als Beleg heran Vgl ebd., 341
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„die Freiheit des Gedankens, des Gewissens und des Lebens in Sachen der Religion; die Freiheit zu glauben und nicht zu glauben, die Freiheit für Gelehrte, für die Priester und für die Gläubigen Der Staat schuldet ihnen Allen dasselbe Maß und denselben Schutz in der Ausübung ihres Rechts“, „Das Recht für die verschiedenen Kirchen, sich zu organisieren und ihre inneren Angelegenheiten nach den Grundsätzen des Glaubens, ihrer Überlieferung und ihrer Geschichte selbst zu verwalten“ sowie „Das Recht für die Gläubigen und für die Diener der verschiedenen Kirchen, durch geistige und moralische Mittel ihren Glauben und Ihren Gottesdienst zu lehren und zu verbreiten “68
Der sachliche Schutzbereich der Religionsfreiheit in einer solchen Auffassung umfasst damit sowohl das forum internum als auch externum, also sowohl die innere Entscheidung zur Glaubenshinwendung als auch die Ausübung dieses Glaubens nach außen Geschützt sind dabei sowohl Individuen als auch Religionsgemeinschaften als solche, etwa im Bereich der inneren Organisation, womit Ketteler die Brücke zwischen der Vorstellung eines korporativen und eines individuellen Rechts schlägt Wenn von staatlicher Seite Gesetze über die innere Organisation der Kirche erlassen werden, so stellt dies immer auch einen Eingriff in die Religionsfreiheit der katholischen Kirche und ihrer Mitglieder dar Auch Bestimmungen, wie etwa die Ordensverbote oder die Beschränkung der kirchlichen Disziplinargewalt, stellen entsprechend einer solchen Vorstellung von Religionsfreiheit einen nicht zu rechtfertigenden staatlichen Übergriff gegen die Rechte des Einzelnen wie auch des Ordens und der Kirche dar Solange der Eintritt in einen Orden oder den geistlichen Stand den Ausdruck einer freien Willensentscheidung mit dem Ziel des „Streben[s] nach evangelischer Vervollkommnung“69 darstellt, ist dies eine nach außen wirkende und geschützte Handlung im Sinne der Religionsfreiheit 70 Auch die Unterwerfung unter die entsprechenden Ordens- oder kircheninternen Regeln ist dementsprechend Ausdruck der Wahlfreiheit eines bestimmten Lebensentwurfes, der sich im Rahmen der Religionsfreiheit bewegt 71 Wenn die Unterwerfung unter Ordensregeln für Ketteler eine von der Religions- und Gewissensfreiheit geschützte Handlung darstellt, so ist analog ähnliches für die Unterwerfung unter die kircheninterne Disziplinargewalt anzunehmen Eine Einschränkung, wie im Gesetz über die kirchliche Disziplinargewalt vorgenommen, verstößt damit für ihn gegen das Recht der Religionsgemeinschaft, als auch des Einzelnen, der sich eben freiwillig und aus gewissens- und religiös motivierten Gründen auch diesen Sanktionsmechanismen unterworfen hat Mit Blick auf den staatlichen Eingriff in das geschützte 68 69 70 71
Ketteler, Freiheit (wie Anm 15), 295–296 Wilhem Emmanuel von Ketteler, Die Jesuiten in Mainz und die Beschwerde des Gemeinderathes bei den Hohen Ständen gegen deren Aufenthalt in der Pfarrwohnung zu St Christoph, in: SWB I, 1, 516–548, hier 535 Vgl ebd Vgl Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Soll die Kirche allein rechtlos sein?, in: SWB I, 1, 197–221, hier 208
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Rechtsgut der Religionsfreiheit macht es für Ketteler keinen Unterschied, ob dieser unmittelbar oder mittelbar vorgenommen wird Bezüglich der hessischen Gesetze, und dabei vor allem der Ordens- und Schulgesetze, stellt er fest „Sie verbieten zwar nicht unmittelbar, den katholischen Glauben im Großherzogtum Hessen zu lehren; sie entziehen uns aber die notwendigen Mittel um ihn zu lehren und lehren zu lassen, wie wir ihn von Christus empfangen haben “72
Durch eine Untergliederung des Schutzbereiches in ein forum internum und ein forum externum kann Ketteler auch solche Maßnahmen als illegal klassifizieren, die nur indirekt negative Auswirkungen auf die Religionsfreiheit haben, womit er den Argumenten der Gegner entgegentreten kann, die Regulierung der Selbstverwaltung, Schulen und Orden hindere die Katholiken nicht daran, ihrem Glauben nachzugehen, weshalb dies somit keinen unerlaubten Eingriff darstelle Dass Ketteler mit Blick auf die staatlichen Maßnahmen kritisiert, „[d]ie Entscheidung dieser wichtigen Frage [ob die Kirchengesetze in den katholischen Glauben eingreifen] aber, in der wesentlich eine eigentliche und wirkliche Glaubensentscheidung über das, was zum katholischen Glauben gehört oder nicht, enthalten ist, nimmt der Staat für sich ausschließlich und allein auf dem Wege der Gesetzgebung in Anspruch, ohne auch nur sich darüber in eine Auseinandersetzung mit den rechtmäßigen Vorstehern der Kirche über die entgegenstehenden Bedenken einzulassen “73
zeigt erneut ein für sein Vorgehen hinsichtlich einer widerstandsbezogenen Begründung typisches Vorgehen Die staatlichen Maßnahmen werden nicht bloß als praxisorientierte und tagespolitische Regelungen begriffen, für die von Ketteler vertretene katholische Seite stellt sich im Kulturkampf vielmehr die über den Einzelfall hinausgehende generellere Frage nach der Natur des Staates selbst und den Grenzen staatlicher Macht und Kompetenz Die von Ketteler angesprochene Problematik führt unweigerlich zu dem seinem gesamten Denken zugrundeliegenden Motiv des Verhältnisses zwischen individueller Freiheit und obrigkeitlicher Gewalt und damit zur Frage, inwieweit die Mehrheit, hier in Form der parlamentarisch-gesetzgebenden, über die Rechte der Minderheit verfügen kann und inwiefern der Staat souveräner Quell jeglicher Regelungskompetenz bleibt, der selbst frei über Umfang und Grenzen des Inhalts von Rechten bestimmen kann Abgesehen davon, dass ein solcher Absolutismus der Mehrheit unter dem Deckmantel der parlamentarischen Gesetzgebung von Ketteler prinzipiell abgelehnt wird, stützt er eine Verneinung dieser Kompetenz auch auf eine Abwägungsentscheidung zwischen prinzipiell berechtigten Interessen des Staates und entgegenstehenden Rechten, dabei immer vor dem Hintergrund der tatsächlichen 72 73
Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Über die hessischen Kirchengesetze, in: SWB I, 6, 659–673, hier 665 Ketteler, Ausführung (wie Anm 26), 591
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Umsetzung dieser Rechte durch den Staat Findet diese Implementierung in einer wie im Kulturkampf geschehen Form statt, fällt diese Abwägungsentscheidung, angesichts der Relevanz der den Gesetzen entgegenstehenden Rechte, zu Ungunsten des Staates aus, sodass dessen Interessen zurücktreten müssen Fordert er trotzdem den Gehorsam und versucht seine Interessen mit Zwang durchzusetzen, so begeht er damit staatliches Unrecht, als dessen Folge etwa ein behauptetes Notwehrrecht des Einzelnen auf Grundlage einer Gewissensentscheidung entsteht Zu betonen ist mit Blick auf alle von Ketteler bemühten Argumentationen, dass diese meist unsystematischer Natur sind und den Charakter anlassbezogener Streitschriften haben, weshalb die gezeigten Begründungsversuche als Versuch zu verstehen sind, so weit wie möglich, bei Gesamtbetrachtung seines Werkes die wiederholt auftretenden Argumente zu strukturieren Dass Ketteler dabei keine immer deutlich ersichtliche Unterscheidung zwischen formellen und materiellen Kriterien vornimmt, Gesetze trotz prinzipieller Verwerfung an anderer Stelle wiederum zum Gegenstand von Abwägungsentscheidungen macht, er keine angemessene Trennung zwischen Gesetzesmaßnahmen der verschiedenen Länder oder dem Reich unternimmt oder auch ohne dies zu problematisieren die Gültigkeit etwa des Westfälischen Friedens oder des RDH annimmt und zur Begründungsgrundlage macht, hinterlässt den Eindruck, dass er statt eine stringente Argumentation zu verfolgen eher vom gewünschten Ergebnis her ausgeht und seine Argumentation entsprechend an den jeweiligen Anlass angepasst aufbaut 2 Trägerschaftspezifische Widerstandsbegründung Konsequenter geht Ketteler bezüglich der trägerschaftsspezifischen Begründung von Widerstand vor, bei der er zwischen kirchlichen Amtsträgern und gläubigen Laien unterscheidet und für beide Gruppen eine jeweils eigene Argumentationslinie verfolgt a) Der Klerus als Träger des Widerstandes Notwendige Grundlage für Kettelers Überlegungen bezüglich eines Widerstandes kirchlicher Amtsträger bildet sein Kirchen- und Bischofsbild Ausgehend von einem organischen Kirchenaufbau, innerhalb dessen vor allem den Bischöfen durch Ämtersukzession die Amtspflichten des Lehr,- Hirten-, und Priesteramtes zukommen, leitet er aus diesen Ämtern konkrete Pflichten ab, an denen sich das Handeln kirchlicher Amtsträger angesichts der Kulturkampfgesetze ausrichten müsse Gemäß seines Amtsverständnisses, „Ich bin der Kirche für jede Handlung in Uebung meiner bischöflichen
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Gewalt verantwortlich“74, was seiner Vorstellung der Kirche als Körper Gottes einer direkten Verantwortung gegenüber Gott gleichkommt, werden alle Handlungen von Amtsträgern, die eben den genannten Ämtern zugeordnet werden können, der Handlungsfreiheit des Amtsträgers entzogen und gewissen Schranken unterworfen, die sich aus den mit den Ämtern verbundenen Pflichten ergeben aa) Das Lehr- und Priesteramt als Ausgangspunkt für die Begründbarkeit von Widerstand „Auch uns lag die schwere verantwortungsvolle Frage zur Entscheidung vor, ob wir an der Vollziehung der neuen Gesetze mitwirken könnten oder nicht […] Alles hätte uns dann abhalten müssen, einen Weg einzuschlagen, welcher so viel Entbehrung, Schmerz und Elend über unsere Diöcesen zu bringen drohte Wir mußten aber unsere Entscheidung treffen nach denselben Grundsätzen, die jener Bischof vor der französischen Nationalversammlung aussprach und denen so viele andere Bischöfe und Priester bis zum Tode oder zur Verbannung gleichfalls folgten Als von Gott bestellte Wächter der göttlichen Verfassung der Kirche haben wir gleich ihnen die Pflicht, dieselbe rein und unversehrt unseren Nachfolgern zu überliefern “75
Durch sein Kirchenbild, nach welchem die Verfasstheit der Kirche eine von Gott gegebene Ordnung darstellt und damit ein Teil der Glaubenslehre wird, erwächst nach Ketteler aus dem Lehr- und Priesteramt, dass es zwingende Aufgabe jedes Klerikers sei, eben jene Lehre rein zu halten und gegen Angriffe von außen zu schützen Unter Verweis auf das Handeln der französischen Geistlichen zu Revolutionszeiten, in denen er das „erhabenste Beispiel“76 sieht, bekräftigt Ketteler die Handlungsmaxime, die schon durch den Bischof von Clermont am 2 Januar 1791 formuliert wurde: „Wir haben einen Glauben, welchen die Väter und Concilien auf uns vererbt haben, den wir unverletzt bewahren müssen Wir haben geschworen, ihn in seiner ganzen Reinheit unseren Nachkommen zu überliefern “77
Wenn Ketteler hieran anknüpfend erklärt, eben diese Erfüllung der Amtspflicht bezüglich des Schutzes der Lehre trotz aller Opfer habe die Kirche in Frankreich letztlich gerettet, so ist dies als eindeutige Stellungnahme und Aufforderung zu geistlichem Widerstand gegen die Kulturkampfgesetzgebung zu sehen, wenn die Geistlichen eben nicht ihre Amtspflicht und ihren Eid gegenüber Gott verletzen möchten 78 Da andererseits jedoch aus dem Lehr- und Priesteramt gleichzeitig auch eine Verantwortung
74 75 76 77 78
Ketteler, Jesuiten (wie Anm 69), 521 Ketteler, Ausführung (wie Anm 26), 654–655 Ebd., 653 Ebd Vgl u a Ketteler Kirchengesetze (wie Anm 72), 660
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gegenüber den Gläubigen in den Diözesen erwächst, etwa bezüglich der Gewährleistung der Seelsorge und der Spendung der Sakramente, ist in dieser Begründung zugleich auch eine Schranke für widerständiges Verhalten angelegt Mit Blick auf die in den 1870er vermehrt spürbaren Folgen der Kulturkampfgesetze, etwa durch die zum Teil flächendeckende Verwaisung zahlreicher Pfarreien, ist hierin ein Grund zu finden, weshalb Ketteler selbst, trotz aller Härte in der publizistischen Auseinandersetzung, den endgültigen Bruch mit dem Staat stets versuchte zu vermeiden und statt zum Märtyrer in Ketten zu werden einen Ausgleich der finalen Konfrontation vorgezogen hat 79 ab) Das Hirtenamt als Ausgangspunkt für die Begründbarkeit von Widerstand Neben dem Lehr- und Priesteramt geht Ketteler auch auf die aus dem Hirtenamt entspringenden Verpflichtungen ein Untrennbar mit seinem Selbstverständnis als „Oberhirte“80, der die Herde Gottes gegen Angriffe und Gefahren zu schützen habe, beansprucht er aus seinem Verständnis des Bischofsamtes sowohl eine unbedingte Disziplinargewalt als auch das Recht der Ämterbesetzung für sich Besondere Relevanz gewannen die aus diesem Amt entspringenden Pflichten aus den sich an den Beschlüssen des 1 Vatikanischen Konzils entbrennenden Fragen um den Umgang mit der altkatholischen Bewegung Die Altkatholikengesetze, mit denen der Staat sich gegen die von der Kirche verfolgten Strategie des Kirchenausschlusses und der damit zusammenhängenden Bestreitung des katholischen Charakters der altkatholischen Bewegung positionierte, hatten für Ketteler zur Folge, „daß jetzt nicht mehr die Kirche, sondern der Staat darüber entscheidet, wer zur katholische Kirche gehört “81 Durch die Kombination dieser Maßnahme mit dem teilweisen Entzug der geistlichen Disziplinargewalt machte es der Staat nach Kettelers Ansicht den Amtsträgern unmöglich, dieser Schutzpflicht nachzukommen, da ihnen sowohl die Autorität dazu entzogen wurden sei, über die Mitgliedschaft in der Kirche frei zu entscheiden82, als auch die Möglichkeit, effektiv gegen als Häretiker und Feinde der Kirche erklärte Gruppen wirksam vorgehen zu können 83 Nach Kettelers Deutung würde eine Anerkennung und Umsetzung der Gesetze durch die Geistlichen damit zur Folge haben, dass die Kirche schutzlos inneren und äußeren Feinden ausgeliefert sei, wofür sich jedoch der einzelne Geistliche letztlich vor Gott zu verantworten habe, da hierdurch seine Amtspflicht eklatant verletzt würde Ein weiteres für die Wehrhaftmachung der Kirche gegen wahrgenommene Feinde als unbedingt notwendig erachtetes Recht machte Ketteler bezüglich der Ämterbesetzung aus Entsprechend seines Amtsverständnisses und Kirchenbildes gibt es für
79 80 81 82 83
Vgl Iserloh, Ketteler (wie Anm 10), 17 Ketteler, Ausführung (wie Anm 26), 656 Ketteler, Culturkampf (wie Anm 50), 394 Ketteler, Ausführung (wie Anm 26), 636 Ebd , 640–641
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einen Bischof keine größere Pflicht, als zum Wohle des christlichen Volkes die von ihm als die geeignetsten als Priester auszuwählen 84 Fordert der Staat nun ein Mitspracherecht bei dieser Entscheidung, so sieht Ketteler darin ein Vergehen gegen die Amtspflicht des Bischofs, besteht dessen Schutzpflicht auch darin, nur geeignete Kandidaten zu berufen, um die Lehre und Verfasstheit der Kirche entsprechend der von Jesus abgeleiteten Weise zu erhalten 85 Eine Bestreitung der entsprechenden Gesetze wird nach einer solchen Deutung zu einer aus seinem Amt entspringenden Pflicht gegenüber Gott, weshalb Ketteler als Parole ausgab: „Hiernach ist es Pflicht jedes Bischofs, der kein Verräther sei will, dieses Recht [der freien Ämterbesetzung] für sich und diese Pflicht für sein Gewissen in Anspruch zu nehmen, und jedes eigene Recht bei Besetzung von Kirchenstellen der weltlichen Macht zu bestreiten Wenn ein Fürst auch nur bei einer Pfarrei das Recht hätte die Gewalt, die von Christus kommt, aus seinem eigenen landesherrlichen Rechte zu ertheilen, so wäre damit die ganze Ordnung der Kirche in Frage gestellt Wenn ein Bischof also dieses Recht vertheidigt, so thuet er es nicht aus Herrschsucht, sondern aus Pflicht “86
Ungehorsam und die Verweigerung der Mitwirkung bei der Umsetzung der Kirchengesetze stellen für Ketteler damit nicht nur die einzige, entsprechend seines Amts- und Kirchenverständnisses, realistisch denkbare Handlungsoption dar Wenn er erklärt: „[Die Bischöfe] […] haben gethan, was sie in der äußersten Noth ihres Gewissens, nachdem alle anderen Mittel erschöpft waren, thuen mußten, um ihre Pflicht zu erfüllen und die Kirche zu retten So lange diese Lage gänzlicher Schutzlosigkeit der Kirche fortdauert, wird auch dieses Verfahren der Bischöfe sich überall dort wiederholen, wo eine feindselige Bureaukratie darauf ausgeht, das Leben der katholischen Kirche zu vernichten Die Ausübung der bischöflichen Rechte ohne Rücksicht auf einseitig erlassene Verordnungen ist aber dann gebotene Nothwehr und keine Eigenmacht“87,
so wird die Legalität eines solchen Handelns zusätzlich mit dem Begründungsmotiv des legalen und legitimen Ungehorsams aus Notwehr angesichts einer existentiellen Gefahr verknüpft, was den Rechtfertigungsdruck auf den Staat weiter erhöhte b) Das katholisches Volk als Träger des Widerstandes „Ich wiederhole deshalb: dazu [an der Umsetzung der Gesetze betreffend Ausbildung und Anstellung von Geistlichen] können wir Bischöfe nicht mitwirken Lieber müssen
84 85 86 87
Vgl Ketteler, Gesetzentwürfe (wie Anm 34), 292 Vgl ebd. Ketteler, Freiheit (wie Anm 15), 316 Ketteler, Rechtsschutz (wie Anm 16), 182
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wir selbst, unsere Priester und unser Katholisches Volk alle Entbehrungen tragen, als uns daran zu betheiligen Unser Dulden wird endlich die Freiheit bringen; unser Mitwirken aber würde die Kirche zu Grunde richten “88
Eine Schutzpflicht gegenüber der Kirche spricht Ketteler dabei jedoch nicht nur geistlichen Amtsträgern zu Durch das leidende Erdulden der staatlichen Repression, um Zeugnis für den Glauben abzulegen, entstand eine Einheit von Bischöfen, Priestern und Gläubigen, wodurch auch die katholischen Laien in Ketteler Widerstandsüberlegungen mit einbezogen wurden Bei der genauen Begründung dieser Schutzpflicht spielen die Pflichten des Einzelnen gegenüber Gott, anders als bei den Geistlichen, nur eine Teilrolle Mit Blick auf die Laien führte Ketteler auch Argumente bezüglich deren Gewissen und Seelenheil an und knüpfte darüber hinaus stark an eine ihm eigene Vorstellung von Ehrenhaftigkeit an ba) Das Gewissen als Ausgangspunkt für die Begründbarkeit von Widerstand Auch in der Hochphase der Kulturkampfmaßnahmen blieb Ketteler bei seiner Überzeugung, dass Gehorsam gegenüber dem Staat als von Gott gestiftete und legitimierte Ordnungsanstalt eine Gewissenspflicht des einzelnen Katholiken sei 89 Da jedoch diese Pflicht für ihn eine Pflicht um des eigenen Gewissens willen darstellt, findet sie auch ihre Schranke im individuellen Gewissen und dem Vorrang Gottes gegenüber allem Menschlichen Durch die Rolle, die Ketteler dem Gewissen aufgrund von dessen Rückbindung an Gott zumisst, darf der Mensch um seiner Selbst willen unter keinen Umständen durch aktives Handeln oder durch passives Billigen an der Verwirklichung von Zuständen teilnehmen, die gegen die göttliche Ordnung und das göttliche Gesetz verstoßen Da in den Kulturkampfgesetzen und ihren Folgen eben solche Maßnahmen gesehen wurden, wird es für jeden Katholiken zur Gewissenspflicht, der wirksamen Umsetzung dieser Maßnahmen dadurch entgegenzutreten, indem er nichts tut, nichts billigt, an nichts teilnimmt und zu nichts schweigt, was in Widerspruch zu der Lehre Christi steht 90 bb) Seelenheil als Ausgangspunkt für die Begründbarkeit von Widerstand Eng verknüpft mit der aus dem Gewissen erwachsenen Pflicht zum Schutz der Kirche und ihrer Ordnung ist bei Ketteler eine Handlungsaufforderung aus Rücksicht auf das Seelenheil In Zeiten, wie sie sich im Kulturkampf darstellten, sei es ein Fehler zu glauben, es sei nur Pflicht der Amtsträger angesichts der Bedrohung der Kirche die christlichen Pflichten noch treuer und besser zu erfüllen
88 89 90
Ketteler, Ausführung (wie Anm 26), 635 Vgl Sendschreiben (wie Anm 41), 636 Vgl ebd., 636
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„Wir rufen euch auf, Gel[iebte] Diözesanen, zu diesem heiligen Kampfe! Wer dabei zurückbleibt und in seiner Stellung, in seinem Wirkungskreise so untäthig bleibt, beweist, daß er nichts mit der Kirche zu thuen hat! Hier hört jedes Hinken auf zwei Füßen auf! Hier gilt der Grundsatz Christi: Wer nicht für mich ist, der ist wider mich [LK 11,23] “91
Ein Billigen oder das Schweigen angesichts der staatlichen Maßnahmen wurde von Ketteler zum Verrat an Gott stilisiert, der als eben solcher auch von Gott behandelt werden würde, da die in den Gesetzen normierten Grundsätze von keinem Christ anerkannt werden könnten „ohne aufzuhören Christ zu sein, ohne die Göttlichkeit der christlichen Offenbarungen zu verleugnen “92 Widerstand von Laien wurde somit zum Beweis der Zugehörigkeit zur Kirche, und damit als Berechtigung zur Teilhabe der christlich-katholischen Heilsbotschaft, erhoben Dass Widerstand als Glaubensprüfung verstanden wurde, lässt auch zu, die mit diesem Verhalten zusammenhängende Repression als Teil dieser Prüfung zu deuten „Da werden die Herzen offenbar; da zeigt sich das ächte und das falsche Christenthum; da zeigen sich die reinen Charaktere, die auch im Leiden treu sind, und jene, die nur so lange der Sache Gottes folgen, als sie ihnen Nutzen oder doch keinen irdischen Schaden bringt “93
Gerade auch im leidenden Erdulden „mit christlicher Geduld und mit christlichem Starkmuth“94 zeigt sich für Ketteler die wahre Festigkeit und Stärke des Glaubens, was bei ihm Voraussetzung für die Teilhabe an der Kirche und dadurch am ewigen Heil ist Durch die Vorstellung der Kirche als notwendige Mittlerin zwischen Gott und den Menschen, wird ein Ungehorsam mit dem Ziel, abzuwenden, was der Kirche schaden könnte, nicht nur zu einem heilsbegründeten Handeln Entsprechend der Ausführung: „Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch An ihm haben wir nur Antheil durch die Kirche, welche er gestiftet hat Zur Kirche gehören wir aber nur durch den Gehorsam gegen die rechtmäßigen Bischöfe derselben “95
verdeutlicht er auch die Relevanz eines solchen Wirkens Nur durch eine Ausrichtung des Handelns an den Anweisungen der rechtmäßigen Bischöfe, womit vor den schadhaften Folgen einer Gefolgschaft etwa staatlich anerkannter altkatholischer Bischöfe
91 92 93 94 95
Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Hirtenbrief (oder Broschüre) über die staatsgefährlichen Principien der katholischen Kirche, in: SWB I, 5, 301–308, hier 306 Ketteler, Ausführung (wie Anm 26), 591 Ebd., 649 Ebd., 653 Ebd., 605–606
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gewarnt wird, wird der gläubige Katholik Teil der Kirche, mit allen damit verbundenen Erwartungen bezüglich des Seelenheils bc) Pflichten vor Gott als Ausgangspunkt für die Begründbarkeit von Widerstand Daneben griff Ketteler für seine Begründung auch auf seine spezifische Vorstellung von Familie zurück, die als Institution von Gottes Gnaden die Grundlage für Staat und Kirche bilde Das aus dieser Rolle entspringende Verständnis des Erziehungsrechts als das heiligste Recht der Eltern96, welches sich auf Gott und nicht bürgerliches Recht berufen könne97, ist bei Ketteler jedoch gleichzeitig auch Quelle von elterlichen Pflichten Da entsprechend die Eltern von Gott damit beauftragt, und entsprechend mit Rechten ausgestattet wurden, ihre Kinder in einer, aus christlich-katholischer Sicht, angemessenen Art zu erziehen, trügen diese auch die Verantwortung für diese Entwicklung und die Seele der Kinder, worüber sie vor Gott letztlich Rechenschaft ablegen müssten 98 Konkret bedeutet dies bei Ketteler, dass es daher ihre Pflicht sei, „mit allen rechtlichen Mitteln dagegen zu kämpfen“99, dass die ihnen anvertrauten Kinder sich auf eine falsche, „entchristlichte“, Art entwickeln Da sich die Gefahr einer solchen Entwicklung für ihn besonders durch die Schulgesetze und deren Folgen manifestierte, hielt er es für geboten „die Eltern an ihre Rechte und ihre Pflichten bezüglich der Schule zu erinnern und sie zum gemeinsamen Kampf gegen jene Bestrebungen aufzufordern “100 Gestützt auf die von ihm formulierten positiven Rechte gegenüber dem Staat, auch im Bereich der Schulpolitik, erklärt es Ketteler als Pflicht der Eltern, dem Einfluss der Lehrer an „entkonfessionelisierten“ Schulen, welche er als „Seelenmörder“101 sah, dadurch entgegenzuwirken, dass sie im Privaten verstärkt versuchen müssten zu kompensieren, was eine solche Schule bezüglich der religiös-sittlichen Erziehung nicht mehr zu leisten vermochte 102 Somit werden Kinder ebenfalls in Kettelers Widerstandsüberlegungen einbezogen, wobei ihnen, als Folge einer am Ideal des miles christianus ausgerichteten Erziehungspflicht der Eltern, die Rolle von „gute[n] Soldaten Christi“103 beim Kampf um die Existenz der Kirche zukommen soll
Vgl Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Zum Beginn der Fastenzeit 1865 Über die Enzyklika „Quanta cura“ und den „Syllabus“ vom 8 Dezember 1864, in: SWB I, 6, 338–356, hier 350 97 Hierbei bezieht sich Ketteler auf eine Aussage aus der Enzyklika Quanta Cura Vgl ebd. 98 Vgl Ketteler, Principien (wie Anm 91), 306 99 Ebd 100 Ketteler, Freiheit (wie Anm 15), 333–334 101 Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Stellung und Pflicht der Katholiken im Kampfe der Gegenwart, in: SWB I, 2, 239–261, hier 260 102 Vgl Ketteler, Gefahren (wie Anm 23), 577 103 Vgl Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Der Religionsunterricht in der Volksschule, in: SWB I, 6, 155– 204, hier 156 Zum miles christianus Ideal zu dieser Zeit gerade beim katholischen Adel vgl Markus Raasch: Der Adel auf dem Feld der Politik Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära
96
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Zusätzliche Relevanz gibt Ketteler einer so begründeten Handlungsaufforderung dadurch, dass er seine familienbezogene Argumentation außerdem noch in eine abstraktere Ebene abseits konkreter Politikfelder einbettet „Wenn wir dem gegenüber das Haus und die Familie vertheidigen, so vertreten wir die Rechte der Vernunft, die ehrwürdigen Ueberlieferungen deutschen Wesens, eine vom Christenthum mit allen Segnungen erfüllte Anstalt eines der werthvollsten Güter der Menschheit “104
Die Freiheit der Familie stellte für Ketteler den Hort jeder wahren Freiheit dar105, woraus er eine besondere Relevanz bezüglich der Abwehr einer möglichen Grundrechteerosion ableitet, weshalb staatlichen Angriffen auf diese Freiheit schon von Beginn an Einhalt geboten werden müsse Somit wird widerständiges Verhalten gegenüber den Kulturkampfgesetzen, und hier besonders die die Schule betreffenden Gesetze, zu einer Verpflichtung der Eltern, wollen sie nicht ihre Verantwortung gegenüber Gott vernachlässigen Dass sie sich dabei nicht nur für ihre eigenen Interessen und die ihrer Kinder einsetzen, sondern gleichzeitig auch in Übereinstimmung mit dem von Ketteler gesehenen deutschen Wesen handeln, stärkt das Argument gerade gegenüber nationalen Kreisen weiter bd) Ehre als Ausgangspunkt für die Begründbarkeit von Widerstand „Ich frage noch einmal zum Schlusse, ob nicht Jeder, der noch einen Funken von Ehre und Gerechtigkeit in sich trägt, uns zustimmen, uns bei diesem Bestreben unterstützen muß? Frieden unter den Confessionen auf dem Boden der vollen Parität und Gerechtigkeit, sonst lieber Kampf und Martyrium, – das muß die Parole des ganzen katholischen Volkes in Deutschland werden “106
Wenn ein solches Vorgehen als Parole des katholischen Deutschlands ausgegeben wird, so bezieht Ketteler noch einem weiteren Aspekt in seine Begründung von Widerstand mit ein Ausgehend von einem adlig geprägten Selbstverständnis, in dessen Kontext eine entsprechende Ehrvorstellung einen breiten Platz einnimmt107, erklärt Ketteler den Kampf der Kirche gegen die staatlichen Maßnahmen gleichfalls zu einer Ehrenpflicht, ritterlich Antheil an den großen Kämpfen der Gegenwart zu nehmen Es müsse die Gewissenspflicht eines jeden ehrlichen Mannes sein, den gegen die Kirche (1871–1890) (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien) Düsseldorf 2015, hier 192–218 104 Ketteler, Freiheit (wie Anm 15), 328–329 105 Vgl Ketteler, Enzyklika (wie Anm 96), 350 106 Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Die Öffentliche Beschimpfung der katholischen Kirche auf der Bühne, in: SWB I, 2, 140–156, hier 156 107 Zu Kettelers Selbstverständnis des Adels vgl u a auch Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Die Pflichten des Adels Mainz 1868
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und ihre Vertreter vorgebrachten Vorwürfen und Verleumdungen nach Kräften entgegenzutreten 108 Auch wenn bei Ketteler solche Handlungen unter eine Ehrenpflicht fallen, die darauf abzielen, Gerechtigkeit und Parität herzustellen, was in seiner Vorstellung die Rücknahme der Kirchengesetze bedeutet, liegt der Schwerpunkt der aus der Ehre entspringenden Pflicht, gerade auch für Nichtkatholiken, im Handeln als Teilnehmer des öffentlichen, publizistischen, Meinungskampfes „Wenn jeder Ehrenmann in seinem Kreise wirken würde durch Schrift oder Wort oder wenigstens durch Verbreitung solcher Schriften und Zeitungen, die der Wahrheit Zeugniß geben, dann würden den Blättern, welche die Lüge professionsmäßig treiben, ihr Handwerk bald gelegt werden können “109
Angesichts der von Ketteler ausgemachten Verleumdungen, die seiner Meinung nach „mit der katholischen Religion die Religion überhaupt [besudeln würden]“110, müssten sich „Alle, welche den Sinn für Wahrheit sich bewahrt haben“ es als Ehrenpflicht betrachten, die „Lügenhetze zu bekämpfen “111 Ein Eintreten für die katholische Sache, sei es gegen die Gesetze oder auch in der medialen Öffentlichkeit, wird somit untrennbar mit Ehrenhaftigkeit verbunden Ungehorsam, oder auch anderes widerständiges Verhalten, wird somit an gesellschaftlich positiv konnotierte Zuschreibungen und Charaktereigenschaften geknüpft III. Fazit Dass Ketteler seine heutige Popularität vor allem seinem Ruf als Arbeiter- und Sozialbischof verdankt, zeigt die Gefahren einer perspektivisch verengten Betrachtung Auch wenn mit Blick auf sein wegweisendes sozialpolitisches Wirken eine solche Fokussierung durchaus nachvollziehbar scheint, so wird leicht übersehen, dass Ketteler für seine Zeitgenossen primär eben nicht der Sozialbischof war, sondern dass sie ihn besonders als kirchenpolitischen Akteur wahrnahmen 112 Bestimmte vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche seinen Lebensweg und sein von den Zeitgenossen wahrgenommenes Wirken, so bedeutete dies gerade in Zeiten wie der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts in Deutschland eben auch die Frage nach den Grenzen legitimer Staatlichkeit, den Grenzen des Gehorsamsgebotes und, in letzter 108 Vgl Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Kein wahres Wort! Vertheidigung der katholischen Moral gegen deren Verdächtigung im Frankfurter Journal, in: SWB I, 5, 564–585, hier 565 109 Ebd , 566 110 Ebd , 565 111 Ebd. 112 Vgl Petersen, Ruf (wie Anm 2), 18 sowie Rudolf Morsey, Bischof Ketteler und der politische Katholizismus, in: Werner Pöls (Hrsg ), Staat und Gesellschaft im politischen Wandel Beiträge zur Geschichte der modernen Welt Stuttgart 1979, 203–223, hier 205
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Konsequenz, eben auch nach einem etwaigen Widerstandsrecht Wollte Ketteler ein solches gegen staatliche Kulturkampfmaßnahmen formulieren, so stand er dabei vor der Aufgabe, den Dualismus von gewissensbegründetem Gehorsamsgebot und Gottesvorrang in Einklang zu bringen, ohne dabei die grundsätzlich anerkannte staatliche Rechts(durchsetzungs)kompetenz in Frage zu stellen Angesichts dieser Anforderungen sowie seiner juristischen Ausbildung ist es dabei schlüssig, wenn er einen konsequent legalistischen Ansatz zugrunde legt Sowohl die trägerschaftsspezifische als auch die unspezifische Widerstandsbegründung zielt darauf ab, ein eigenes, positiv wie überpositiv begründetes, Recht zur Vornahme bestimmter Handlungen aufzuzeigen, um durch ein Verständnis von Widerstand als Wahrnehmung eigener Rechte sowohl die Legitimität und Legalität des Handelns nachzuweisen Ähnliches gilt für den negativen Ansatz, durch den Ketteler versucht, die staatlichen Normen zu Unrecht im Sinne von Nichtrecht zu erklären, die aufgrund ihres fehlenden Gesetzescharakters und der daraus folgenden Nichtigkeit keine bindende Wirkung entfalten könnten, was Ungehorsam für ihn weder zu einer Versagung des schuldigen Gehorsams noch zu einem sanktionswürdigen Vergehen macht Vielmehr wird das eigene, abweichende, Verhalten zur Notwehrhandlung gegen ungerechtfertigte Übergriffe des Staates in geschützte Rechtsgüter stilisiert, sodass vom Staat als widerständiges Verhalten wahrgenommene Handlungen ihren sanktionswürdigen Charakter gänzlich verlieren, da der Staat zum einen legaler und legitimer Weise nach keinen Gehorsam einfordern kann und andererseits das eigene Handeln als, da an gültigen Norman orientiert, gerechtfertigt ist Wenn sich dabei zeigt, dass sich die katholische Handlungspraxis im Kontext des Kulturkampfes mit diesen Ideen durchaus deckt, so ist es verwunderlich, dass Kettelers widerstandsbezogene Überlegungen bisher so wenig Beachtung gefunden haben Gerade da es durch die staatlichen Maßnahmen im Kulturkampf zu einer erstmaligen Verschiebung im Rechtsverständnis der Gesellschaft kam, die über das Kaiserreich hinaus hin zu einer Akzeptanz von Ausnahmegesetzen als Mittel der Politik führte, und mit ihnen „für künftige Maßnahmen des Staates gegen Liberale und Demokraten ein […] besorgniserregende[r] Präzedenzfall“113 geschaffen wurde, wäre es wünschenswert, etwa den katholischen Widerstand ab 1933 stärker vor diesem Hintergrund zu betrachten 114 Kettelers Überlegungen böten sich dazu nicht bloß wegen familiärer Verbindungen an, da er selbst ein entfernter Verwandter des im Dritten Reiches als Löwen von Münster bekanntgewordenen Münsteraner Bischofs von Galen, 113 114
Rudolf Morsey, Der Kulturkampf, in: Anton Rauscher (Hrsg ), Der soziale und politische Katholizismus Entwicklungslinien in Deutschland 1803–1863 Band I (= Geschichte und Staat Bd 247– 249) München 1981, 72–109, hier 101 Frotscher und Pieroth stellen dabei besonders auf die „extrem weit getriebene Formalisierung und Inhaltsentleerung des Rechts“ ab, die „wohl viele der Schwierigkeiten einer demokratischen Entwicklung nach 1918 und damit möglicherweise eine Pervertierung des Rechts nach 1933 mitverursacht [habe] “ Werner Frotscher / Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte 11 Aufl München 2012, 237
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sondern auch deswegen, weil sie auch ein bedeutendes Dokument für widerstandsrechtsbezogene Überlegungen im Umfeld des sich ausbildenden modernen, nach innen in alle Lebensbereiche expandierenden, Verfassungsstaates und dessen spezifischen Anforderungen darstellen
Gustav Adolf Lehmann (1855–1926) – ein vergessener Sozialdemokrat des Kaiserreichs Wilhelm Kreutz Bei der Durchsicht im Internet angebotener antiquarischer Ansichtskarten weckte ein Exemplar mit dem vielversprechenden Titel „Schumanns Abzug“ mittels eines Boots „Nach Mannem“ mein Interesse Unschwer war zu erkennen, dass es sich bei den auf ein Boot flüchtenden Personen um Sozialdemokraten handelt, wie die roten Ballonmützen unmissverständlich anzeigen Aber Recherchen mit den Stichworten Mannheim, SPD und Schuhmann liefen ins Leere Erst die Autopsie machte einen Lesefehler offenbar, denn auf der Karte steht „Lehmann’s Abzug“ – übrigens schon vor über einhundert Jahren mit dem grammatikalisch falschen, durch einen Apostroph vom Wortstamm abgetrennten Genetiv-S Und die Kombination von Mannheim, SPD und
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Lehmann führte zum Ziel: Der auf der Karte Verspottete erwies sich als Gustav Adolf Lehmann, über den in den Publikationen zur Mannheimer SPD-Geschichte indes so gut wie nichts zu finden war,1 was mein Interesse, das Geheimnis um den „Abzug“ dieses Sozialdemokraten „Nach Mannem“ zu lüften, noch einmal steigerte I. Kindheit und Jugend Gustav Adolf Lehmann erblickte am 2 November 1855 in dem idyllisch an der Dahme gelegenen brandenburgischen Ort Görsdorf als Sohn von Christian Gottlieb Lehmann und seiner Ehefrau Christiane, geb Neumann, das Licht der Welt 2 Als Vollbauer und Ortsschulze zählte sein Vater zu den privilegierteren Einwohnern des kleinen Dorfs, denn der Schulze oder Schultheiß hatte die Aufgabe, die Mitglieder seiner Gemeinde im Auftrag des Gutsherrn zur Begleichung ihrer „Schuldigkeit“ anzuhalten, also Abgaben einzuziehen, und für das Beachten ihrer Verpflichtungen Sorge zu tragen Zudem war er nach der Gemeindeverfassung beauftragt, die Verwaltungshoheit und die niedere Gerichtsbarkeit auszuüben Das um 1200 von eingewanderten Flamen gegründete und 1354 erstmals urkundlich erwähnte Görsdorf, heute Ortsteil der Gemeinde Dahmetal im Kreis Jüterbog-Luckenwalde,3 gehörte zu einem gutsherrlichen Rittergut, das nach häufigen Besitzerwechseln 1889 der Jurist Gustav Roesicke erwarb 4 Er entwickelte seinen Besitz zu einem Mustergut, trat als führendes Mitglied des Bunds der Landwirte und später als Mitgründer der Deutschnationalen Volkspartei reichsweit politisch hervor 5 In der Feldsteinkirche Görsdorfs wurde Gustav Adolf protestantisch getauft; er war somit Mitglied der preußisch-unierten Kirche, aus der er – wie so viele Sozialdemokraten seiner Zeit – später austrat und sich als „Dissident“ dem „Bund der Freireligiösen“ anschloss Bei seiner zweiten Eheschließung in Offenbach 1915 wurde 1
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Vgl u a Heinz Hauser (Red ), 100 Jahre SPD in Mannheim Eine Dokumentation Mannheim 1967; Hermann Weber / Jörg Schadt, Politik für Mannheim 100 Jahre SPD-Gemeinderatsfraktion Mannheim 1978; Klaus Becker / Jens Hildebrandt (Red ), 100 Jahre „Mannheimer Abkommen“ Zur Geschichte von SPD und Gewerkschaften, Mannheim 2006 Vgl hierzu und im Folgenden Biografischer Artikel Gustav Adolf Lehmann, in: Reichstags-Handbuch 12 Legislaturperiode Band 1907 Berlin 1907, 312; Biografischer Artikel Gustav Lehmann (http://zhsf gesis org/ParlamentarierPortal/biosop_db/biosop_db/php?id=120270, in: Wilhelm H. Schröder, Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1876– 1933 (BIOSOP) (http://zhsf gesis org/ParlamentarierPortal/biosop htm); Biografischer Artikel Gustav Lehmann (http://zhsf gesis org/ParlamentarierPortal/biorabkr_db/biorabkr_db php? id=1435), in: Heinrich Best, Datenbank der Abgeordneten der Reichstage des Kaiserreichs 1867/71 bis 1918 (Biorab – Kaiserreich) (http://zhsf gesis org/ParlamentarierPortal/biorabkr htm) Vgl Artikel Amt Dahme/Mark, https://www dahme de/verzeichnis/objekt php?mandat=28067 Vgl Biografischer Artikel Gustav Roesicke, in: Reichstags-Handbuch 10 Legislaturperiode 1898/1903 Berlin 1898, 252 Vgl Angaben zu Gustav Roesicke, in: http://www reichstag-abgeordnetendatenbank de/select maske html?pnd=129409162&recherche=ja
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bemerkenswerterweise die Konfession der Eheleute mit „deutschkatholisch“ angegeben,6 eine Konfession, die im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 eine beachtenswerte politische Rolle gespielt hatte 1859, am Ende der Reaktionszeit, hatten sich die Deutschkatholiken indes mit den rationalistischen protestantischen „Lichtfreunden“ zum „Bund der Freireligiösen Gemeinden“ zusammengeschlossen Zu den wenigen deutschkatholischen Gemeinden, die zu Beginn des 20 Jahrhunderts noch unter diesem Namen aktiv waren, zählten jene von Mainz, Frankfurt und Offenbach,7 sodass es naheliegt, dass der Offenbacher Standesbeamte diese Konfession als Synonym für „freireligiös“ eintrug Wie der Verfasser des Artikels im Parlamentarier-Portal freilich zu der Auffassung gelangte, dass die erste Konfession Lehmanns unbekannt sei, ist – in Anbetracht seiner Vornamenkombination – ein Rätsel, denn eine protestantischere gibt es nicht Von 1862 bis 1870 besuchte Gustav Adolf die Volksschule in dem rund 50 Kilometer südlich von Berlin gelegenen Petkus, heute Ortsteil der Stadt Baruth im Landkreis Teltow-Fläming, das bis zum Wiener Kongress als nördlichste Gemeinde zum Königreich Sachsen gehört hatte 8 Wie der Schuljunge die etwa dreizehn Kilometer von Görsdorf nach Petkus bewältigte, entzieht sich meiner Kenntnis Nach Abschluss der Volksschule machte er eine Tischlerlehre in Dahme, die er 1873 mit dem Gesellenbrief abschloss Wann er sich auf die für Gesellen obligatorische Wanderschaft begab, die ihn nach Frankreich, Italien und in die Schweiz führte,9 und ob bzw wann er seine dreijährige Wehrpflicht ableistete, ist ungeklärt Aber die Information des Parlamentarier-Portals, er sei Kriegsteilnehmer gewesen, ist falsch Denn die drei Einigungskriege Bismarcks – den deutsch-dänischen Krieg von 1864, den deutsch-deutschen Bruderkrieg von 1866 und den deutsch-französischen Krieg von 1870–1871 – erlebte er als Schüler und Lehrling, für den aktiven Kriegsdienst aber war er viel zu jung und beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit 68 Jahren viel zu alt, um noch kriegsverwendungsfähig zu sein Nur am Rande sei erwähnt, dass die Kriegsdienstpflicht in Preußen mit dem 17 Lebensjahr begann und nach 33 Jahren mit dem 50 endete Der Eintrag „Kriegsteilnehmer“ könnte allenfalls darauf verweisen, dass ihn das – im wörtlichen Sinne verstanden – Los des Kriegsdienstpflichtigen traf, denn in Anbetracht der Vielzahl junger Männer wurden die tatsächlich Eingezogenen damals ausgelost Dem entging nur, wer einen Ersatzmann, einen „Einsteher“, stellen, d h ihn und dessen meist arme Familie finanziell entschädigen konnte
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Für Recherche und Auskunft danke ich Frau Karen Strobel, Mitarbeiterin im Mannheimer MARCHIVUM (Mannheims Archiv, Haus der Stadtgeschichte und Erinnerung) Vgl Artikel „Deutschkatholiken“, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4 Leipzig 1906, S 759–760 Vgl Artikel Petkus (Baruth/Mark), in: https://de wikipedia org/wiki/Petkus_(Baruth/Mark) Vgl Reichstags-Handbuch (wie Anm 2), 312
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II. Lehmanns Düsseldorfer Jahre Quellenmäßig zu fassen ist Gustav Lehmann erst wieder Anfang der 1880er Jahre knapp zehn Jahre nach Abschluss seiner Lehre, als Mitglied des Schreiner-/Tischler-Vereins in Düsseldorf 10 Seine Statuten wiesen diesen „zwar als unpolitischen Unterstützungsverein aus, in seinen Reihen jedoch wurden auch Möglichkeiten von Streiks erörtert Der Verein besaß überdies „heimliche Kontakte zu Sozialdemokraten“,11 die seit Verabschiedung des „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ im Jahr 1878 polizeilich verfolgt und politisch unterdrückt wurden, ja, „zwischen 1881 und 1884 [reifte der Verein,] zu einer der Keimzellen der künftigen Sozialdemokratie in Düsseldorf heran“ 12 Freilich waren die Düsseldorfer Sozialdemokraten 1881 kaum in der Lage, bei den Reichstagswahlen Propaganda für ihren Kandidaten, August Bebel, zu betreiben, der reichsweit gleichzeitig in 35 Wahlkreisen, so auch in Düsseldorf, kandidierte 13 In Düsseldorf-Stadt erhielt er 286, in Düsseldorf-Land ein gutes Dutzend Stimmen Dies sollte sich jedoch bald ändern Im November 1883 kündigte der Tischler-Verein eine öffentliche Versammlung im katholischen Vereinshaus an, auf welcher der Reichstagsabgeordnete des Wahlkreises Hanau-Gelnhausen, der Sozialdemokrat Karl Frohme, sprechen sollte Nachdem die Polizei einen Wink erhalten hatte, zog die Leitung des Vereinshauses ihre Zusage zurück Frohme kam in Düsseldorf an, und man beantragte für den nächsten Tag eine öffentliche Versammlung in einem Lokal, dessen Wirt mit der Sozialdemokratie sympathisierte Diese wurde jedoch von der Polizei verboten, die dazu überging, den Tischler-Verein und dessen Leiter, die neu zugezogenen Joseph Kretschmann und Gustav Lehmann, ab sofort stärker zu überwachen 14 Dies hinderte Lehmann jedoch nicht, sich 1882 der 1875 aus der Vereinigung von „Allgemeinem Deutschen Arbeiterverein“ (ADAV) und „Sozialdemokratischer Arbeiterpartei“ (SDAP) hervorgegangenen „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAD/SAP) anzuschließen 15 Er organisierte weiterhin Veranstaltungen und setzte sich offen für sozialistische Ziele ein Die übrigen Parteien der Stadt griffen die kleinen Parteizirkel heftig an und verunglimpften deren Mitglieder Das Zentrum verbreitete, Bebel „verherrliche die Fleischeslust und propagiere die Trunksucht, denn Weibern und Schnapspulle bedürfe es, um Umsturzmänner zu erziehen “16 Der nationalliberale Heinrich Lueg erklärte, die SAD/SAP sei überflüssig, da Bismarcks Sozialgesetzgebung und die Fürsorge von 10 11 12 13 14 15 16
Vgl hierzu und im Folgenden Peter Hüttenberger, Düsseldorf Von den Anfängen bis ins 20 Jahrhundert Band 3: Die Industrie- und Verwaltungsstadt (20 Jahrhundert) Düsseldorf 1989, 30–41 Ebd , 31 Ebd , 31 Vgl ebd , 30 Vgl ebd , 31 Vgl Schröder, Parlamentarier (wie Anm 2), BIOSOP Hüttenberger, Düsseldorf (wie Anm 10), 31
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Unternehmern ausreichten, um das Wohl der Arbeiter zu sichern Diese Argumente verfingen allerdings nicht mehr lange: 1884 gewann Bebel bei der Reichstagswahl mit 6 4 Prozent fünfmal so viele Stimmen wie 1881 17 Der Misserfolg der Sozialistengesetze, die bis 1890 immer wieder verlängert wurden, begann sich bereits abzuzeichnen, zumal nach 1884 Fachvereine und Hilfskassen der Arbeiter in Düsseldorf „wie Pilze aus dem Boden schossen“: 1884 ein Fachverein für Metallarbeiter, 1885 eine Hilfskasse für Lithographen, Bäcker und Böttcher sowie ein Dach- und Schieferdecker-Gesellenverein, 1886 ein Buchbinder-Unterstützungsverband 18 Alle diese Vereine „gaben sich nach außen hin unpolitisch, boten aber Gelegenheit zu politischem Gedanken- und Informationsaustausch “19 Zu Stützen der Sozialdemokratie entwickelten sich vor allem der Tischler-Verein und der Fachverband der Metallarbeiter, „bei dessen Gründung der unverdrossene Tischler Lehmann ebenfalls eine entscheidende Rolle spielte “20 Es verwundert daher nicht, dass beide Vereine 1885 verboten wurden, zumal der Tischler-Verein für die Gesellen einen 9½ Stundentag erkämpft hatte Seine Mitglieder wichen jedoch aus und gründeten einen Fachverein der Schreiner und verwandter Berufsgenossen, dessen Vorsitz erneut Lehmann übernahm, bis auch dieser Verein 1889 verboten wurde 21 Die in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre vermehrten Aktivitäten der Sozialdemokraten verstärkten die polizeiliche Überwachung und erhöhten den Verfolgungsdruck Ihren Höhepunkt erreichten die Repressionen 1888 in einem Aufsehen erregenden Prozess, der am 24 November 1888 mit der Verurteilung von zwölf der achtzehn Angeklagten endete; sie erhielten Gefängnisstrafen zwischen einer Woche und – wie Lehmann – sechs Monaten (in anderen Quellen ist gar von sieben Monaten die Rede); die übrigen wurden freigesprochen 22 Die Angeklagten waren zwischen 23 und 45 Jahren alt, zehn waren evangelischer, acht katholischer Konfession 23 Bemerkenswerterweise waren nur zwei der Angeklagten in Düsseldorf geboren, die anderen stammten entweder aus dem Düsseldorfer Umland oder aus Görsdorf, aus dem niedersächsischen Celle, dem preußisch-hannoverischen Uslar, dem preußisch-sächsischen Weißenfels, dem pommerschen Kolberg, dem ostpreußischen Elbing oder aus dem saarländischen St Wendel und Saarbrücken Ähnlich heterogen wie die Herkunft der Angeklagten waren ihre Berufe, wenngleich die Schreiner mit sieben Angeklagten, allen voran Gustav Lehmann, die größte Berufsgruppe stellten Die anderen waren Anstreicher, Schlosser, Schmied, Maurer oder Zigarrenmacher; nur zwei Delinquenten gaben an, Fabrikarbeiter zu sein, wenngleich 17 18 19 20 21 22 23
Vgl ebd Vgl ebd , 32 Ebd Ebd Vgl ebd Vgl ebd , 33 Vgl hierzu und im Folgenden ebd , 33
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auch andere in einer Fabrik arbeiteten, was darauf hindeutet, dass sich viele zu diesem Zeitpunkt noch immer mehr als „Handwerker“ definierten, denn als „Arbeiter“ – von „klassenbewussten Arbeitern“ im Sinne Marx’ oder gar „klassenbewussten Proletariern“ war man weit entfernt Die Anklage lautete: 1 Teilnahme an einer „verbotenen Verbindung“, die zur Verwirklichung ihrer Zwecke die bestehende Ordnung umstürzen, innerhalb der arbeitenden Klasse Unfrieden schüren und die Volksklassen gegeneinander aufhetzen wolle; 2 Vertrieb verbotener Druckschriften; 3 Zuwiderhandlung gegen das Vereinsrecht; 4 Widerrechtliche Gründung einer Versicherungsanstalt Polizei und Staatsanwälte gingen davon aus, innerhalb der deutschen Sozialdemokratie existiere eine „wohlorganisierte“, „weitverzweigte“ Verbindung, die danach strebe, die Bestimmungen des Sozialistengesetzes zu „entkräften“ Zu dem Prozess hatte man eigens einen Spezialisten, den „Polizei-Sachverständigen“ Krieter aus Magdeburg kommen lassen, der die Verschwörungstheorie von einer gewaltigen Geheimorganisation erhärten sollte 24 Stützen konnte das Gericht seine Erkenntnisse auf eine Fülle von Einzelbeobachtungen sowie Mitteilungen von Spitzeln und Denunzianten Zu ihnen gehörte der Polizeisergeant Hörisch, der vor allem Lehmann ausspionierte und sich zu diesem Zweck in die „Zahlstelle Düsseldorf des Deutschen Tischlereiverbandes Stuttgart“ eingeschlichen hatte 25 Er notierte Lehmanns Reden, dessen vermeintlich radikale Rhetorik er vor Gericht ausbreitete Doch der ausgebreitete Zitatenschatz erwies sich als wenig spektakulär So soll Lehmann beim Kampf der Gesellen mit den Meistern „Gift gegen Gift“ empfohlen haben; er habe die Fabrikbesitzer als „Sklavenhalter“ verunglimpft, nur seien die „Sklaven heutzutage weiß statt schwarz“ und er habe gefordert, die „Friedenspfeife“ beiseitezulegen und stattdessen die „Streitaxt auszugraben “26 Das schriftliche Urteil vermittelt jedoch den Eindruck, dass es sich bei den Düsseldorfer Genossen keineswegs um eine straffe bürokratische Organisation handelte, sondern um einen Freundes- und Bekanntenkreis, der sich um einen harten Kern, vor allem um Gustav Lehmann, scharte Häufig machten die Genossen es der Polizei leicht, sie zu identifizieren, denn bei gemeinsamen Unternehmen oder geselligen Treffen, aber auch bei Beerdigungen trugen sie rote Krawatten, rote Federn an den Hüten, hatten rote Taschentücher um ihre Spazierstöcke gebunden oder schwenkten rote Tücher 27 Ebenso wie in anderen Städten suchten die verfolgten Düsseldorfer Genossen Zuflucht in Tarnorganisationen wie dem Gesangverein „Orpheus“ oder dem Karnevalsverein „Närrische Windmühle“, im rheinischen Düsseldorf geradezu ein ‚Muss‘ 28
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Vgl ebd , 34 Vgl ebd Ebd , 36 f Vgl ebd , 37 Vgl ebd
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Gustav Lehmann, der vor den Reichstagswahlen von 1887 bei den Behörden einen Wahlverein angemeldet hatte, scheint aufgrund seiner Zivilcourage und seiner Energie tatsächlich ein besonderes Ansehen genossen zu haben Tatkräftig unterstützt wurde er dabei von seiner Ehefrau, der 1858 im niederrheinischen Kleve geborenen Wilhelmine Klein Sie hatten sich wohl in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre in Düsseldorf kennengelernt und geheiratet 29 Am 10 September 1888, also zeitlich parallel zum Prozess, kam ihre älteste Tochter Natalie zur Welt Lehmann, der sich während seiner Gesellenjahre auch Kenntnisse der kaufmännischen Buchhaltung angeeignet hatte, und nicht nur als Handwerker, sondern auch als kaufmännischer Gehilfe tätig gewesen war, verließ einige Zeit nach Verbüßung seiner Haftstrafe Düsseldorf und ließ sich noch 1890 in Dortmund nieder Die Düsseldorfer Jahre Lehmanns fasste die in Harvard und New York lehrende Historikerin Mary Nolan in ihrer 1981 erschienenen Studie „Social Democracy and Society: Working-class radicalism in Düsseldorf “ so zusammen: „In 1890 the cabinetmakers Gustav Lehmann and Ernst Ebert and the skilled metalworkers Wilhelm Tietges, Richard Heldt, Wilhelm Gotthusen and Richard Wittkopf were among the busiest men in Düsseldorf They ran the largest trade unions and the popular educational association – all ostensibly non-political and published the Düsseldorfer Arbeiterzeitung They campaigned vigorously for the Social-Democratic Reichstag candidate Hermann Grimpe, who won one-third of the votes in the 1890 electoral contest At year’s end they led the social democratic movement triumphantly out of illegality and into the new era “30
All dies aber, so Nolans Fazit, dürfe ebenso wenig über die großen organisatorischen Schwächen hinwegtäuschen wie über die – gerade im Augenblick des vermeintlichen Siegs – aufbrechenden Konflikte und persönlichen Animositäten der in der Illegalität noch gemeinsam kämpfenden Genossen III. Lehmann in Dortmund „Lehmann, the most able organizer and dynamic agitator, left Düsseldorf, as did a few lesser figures “31 Er übersiedelte nach Dortmund und kam – vom Regen in die Traufe 32 Denn zu den organisatorischen Schwächen der Partei im westlichen Westfalen, die 29 30 31 32
Vgl Meldekarte Familie Gustav Lehmann, in: MARCHIVUM Für die Auskunft danke ich Frau Karen Strobel Mary Nolan, Social Democracy and Society Working-Class Radicalism in Düsseldorf 1890–1920 Cambridge 1981, 32 Ebd , 39 Vgl hierzu und im Folgenden Arno Herzig, Entwicklung der Sozialdemokratie in Westfalen bis 1894, in: Westfälische Zeitung 121 (1971), 97–172
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er zu beheben trachtete, gesellten sich innerparteiliche Streitigkeiten, ausgelöst zunächst durch die Dominanz der Anhänger Lassalles, allen voran dem im Mai 1817 im sauerländischen Eslohe geborenen Carl Wilhelm Tölcke, dem kurzzeitigen Präsidenten des Lassalle’schen „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ (ADAV) und „Vater der westfälischen Sozialdemokratie“,33 der trotz schwerer Krankheit und seines fortgeschrittenen Alters 1890 und 1893 noch einmal für den Reichstag kandidierte und dem nationalliberalen Kandidaten nur äußerst knapp unterlag 34 Hinzu kam, dass nach der Umbenennung in „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (SPD) die Provinzen Rheinland und Westfalen 1891 organisatorisch getrennt wurden Lehmann, der sich in Düsseldorf einen Namen als erfolgreicher Organisator und scharfer Agitator gemacht, aber auch schon journalistische Erfahrungen gesammelt hatte, übernahm am 1 Oktober 1890 den Posten des ersten leitenden Redakteurs der nach Aufhebung der Sozialistengesetze wiedergegründeten „Westfälischen Freien Presse“ 35 Das neue Blatt, das vier dreispaltige Seiten umfasste, erschien täglich außer montags 36 Zudem wurde Lehmann am 12 Oktober 1890 in den provisorischen Vorstand der Genossenschaftsdruckerei gewählt 37 Das finanziell riskante Projekt, das vom Parteivorstand finanziell nicht unterstützt wurde, stand freilich von Anfang an nicht nur in Konkurrenz zu der seit 1889 in Elberfeld erscheinenden „Bergischen Volksstimme“,38 sondern vor allem zu den von dem Gelsenkirchener Privatverleger Josef Jeup herausgegebenen Blättern, allen voran der „Gelsenkirchener Arbeiterzeitung“, die Lehmann nicht unterstützten „Die durch die Auseinandersetzung [der Redaktionen] entstehende Verwirrung zeitigte unangenehme Folgen für die Partei, am deutlichsten in einer Bochumer Nachwahl im Dezember 1890, als der aufgestellte Dortmunder Redakteur Gustav Lehmann […] einer der Hauptangeklagten im Düsseldorfer Geheimbundprozess, nicht die Stichwahl erreichte Die meisten sozialdemokratischen Stimmen fielen dem nationalliberalen Kandidaten zu “39
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Zur Biographie vgl Arno Herzig, Der Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein in der deutschen Sozialdemokratie Dargestellt an der Biographie des Funktionärs Carl Wilhelm Tölcke, 1817–1893 (Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Beiheft 5) Berlin 1979 Vgl Herzig, Entwicklung (wie Anm 32) 161–165 Vgl Beatrix W. Bouvier, Französische Revolution und deutsche Arbeiterbewegung Die Rezeption des revolutionären Frankreich in der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung von den 1830er Jahren bis 1905 Bonn 1982, 368 Kurt Koszyk, Anfänge und frühe Entwicklung der sozialdemokratische Presse im Ruhrgebiet (1875–1908) Dortmund 1953, 54 Vgl ebd , 55 Vgl ebd , 56 Kurt Koszyk, Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung 1890–1914, in: Jürgen Reulecke (Hrsg ), Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Rheinland-Westfalen Wuppertal 1974, 149–172, hier: 155
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Die anhaltenden Grundsatzdiskussionen, die nach dem Erfurter Parteitag von 1891 in der SPD einsetzten und als Revisionismusstreit in die Parteiannalen eingingen,40 beschäftigten die Parteimitglieder in Westfalen kaum Zwar erschütterten auch hier zahlreiche interne Streitigkeiten die Partei, aber es ging dabei fast nie um ideologische Fragen Das Erfurter Programm, das nach den reformerischen Ansätzen des Gothaer Programms von 1875 in den 1890er Jahren wieder zur marxistischen Theorie und Lehre zurückkehrte, fiel hier auf wenig fruchtbaren Boden Kontrovers diskutiert wurde dagegen auf dem Hagener Parteitag für das westliche Westfalen am 30 Juli 1893 u a die Frage, ob an dem Züricher Arbeiterkongress auch Anarchisten teilnehmen dürften Für ihre Zulassung stimmten 38, dagegen 10 Mitglieder Der Dortmunder Hauptredner Lehmann setzte sich für eine Zulassung mit dem Argument ein, dass man nicht einfach jeden ausschließen könne, „der nicht auf Karl Marx und seine Werttheorie“ schwöre 41 Der Parteiarbeit Lehmanns, der 1891 zum Vorsitzenden des Dortmunder Wahlvereins avancierte, waren enge Grenzen gesetzt Im Gegensatz zu den Erfolgen unter den Bergleuten, scheiterten die Bemühungen, die Kleinbauern für die SPD zu gewinnen kläglich Versuche, auf den Dörfern Versammlungen abzuhalten, mussten abgebrochen werden, weil die Bauern ihre Hunde auf die Genossen hetzten oder gar mit Dreschflegeln auf sie einschlugen 42 In die Annalen der Sozialdemokratie eingegangen ist die „Spenger Schlacht“ vom 9 August 1891 In der ostwestfälischen Kleinstadt kam es an jenem Tag zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen etwa 500 Sozialdemokraten sowie 1 500 bis 2 000 Bauern und Knechten, die, aufgestachelt von dem Gohfelder Pastor Karl Iskaut, einem deutsch-christlichen Antisemiten, die „Roten“ verprügelten 43 Die Behörden spielten jedoch das Ereignis, bei dem es Verletzte, darunter Frauen und Kinder, gab, und das sogar in der ausländischen Presse Beachtung fand,44 bewusst herunter Eine gleichzeitige Messerstecherei in Buer dagegen, „in die angeblich auch einige Sozialdemokraten verwickelt gewesen sein sollten, bot der gegnerischen Presse Gelegenheit, die „Schlacht bei Spenge“ angesichts der sozialdemokratischen Gefahren zu verteidigen “45 Die Erfolge, die die SPD nach 1890 in Westfalen schrittweise erzielte, können jedoch nicht über die fortdauernden Organisationsdefizite hinwegtäuschen Auf dem ersten Provinzialparteitag vom 6 12 1891 in Dortmund hatte man zwar ein zentrales Agitationszentrum für das westliche Westfalen eingerichtet, dem auch Lehmann an40 41 42 43 44 45
Vgl u a Sven Papcke, Der Revisionismusstreit und die politische Theorie der Reform Fragen und Vergleiche Stuttgart 1979; Helga Grebing, Der Revisionismus Von Bernstein bis zum Prager Frühling München 1987 Vgl Herzig, Entwicklung (wie Anm 32), 163 Ebd , 166 f Vgl Wolfgang Böhm, 100 Jahre SPD Mennighüffen o O 2009, 2 Vgl Herzig, Entwicklung (wie Anm 32), 167 Vgl ebd
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gehörte, dieses konnte sich jedoch fast ausschließlich um die Differenzen der sozialdemokratischen Presse kümmern, sodass auf dem Hagener Provinzialparteitag von 1893 viele Delegierte das Dortmunder Komitee kritisierten und drohten, sie würden sich dem Elberfelder Agitationskomitee anschließen 46 „Lehmann, der auf diesem Parteitag das Grundsatzreferat hielt, stellte fest, dass der Mangel einer gemeinsamen Agitation zu schweren Fehlern im Wahlkampf geführt habe Eine rege Agitation sei nur in Dortmund und Bochum betrieben worden, und so seien die Erfolge, die die SPD bei der Reichstagswahl 1893 erzielen konnte, nicht das Ergebnis einer intensiven Agitation, sondern die Folge der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse gewesen Der Parteitag beschloss deshalb, das Agitationskomitee zu reaktivieren und für seine Kostendeckung von jedem Wahlkreis eine bestimmte Quote zu erheben Aber auch dieses Komitee brachte nicht den erwünschten Erfolg, wie sich auf dem Provinzialparteitag in Unna (1894) herausstellte “47
Mit dem Tod Tölckes am 30 November 1893 und dem Parteitag von Unna trat die westfälische SPD in eine neue Entwicklungsphase ein, die durch immer größere Erfolge bei den Reichstagswahlen gekennzeichnet war: 1895 gelang es Franz Lütgenau, ab 1893 Redakteur der „Rheinisch-Westfälischen Arbeiterzeitung“, im Wahlkreis Dortmund-Hörde als erster Sozialdemokrat des Ruhrgebiets in den Reichstag einzuziehen 48 Es überrascht deshalb nicht, dass unter den westfälischen Arbeitern nach wie vor die Ansicht verbreitet blieb, dass der reformerische Weg der bessere sei: „Es hat keinen Wert, dass wir mit Gewalt vorgehen, wenn wir die Mehrheit haben, brauchen wir keine Gewalt!“49 Lehmanns Karriere als erster Redakteur wurde durch eine mehr als siebenmonatige Gefängnisstrafe (ab 6 September 1891), die er wegen diverser Pressevergehen verbüßen musste, jäh beendet An seine Stelle trat auf Kosten der Gesamtpartei der 1865 in Hannover geborene Völkerkundler, Schriftsteller und Dichter Dr Franz Diederich, der in Leipzig gerade sein Studium abgeschlossen hatte 50 Im Gegensatz zum „Agitator und Parteimann“51 Lehmann, der oft nur Artikel aus anderen SPD-Zeitungen nachdruckte, war Diederich ein literarisch gebildeter Redakteur, der rasch an Ansehen unter den Genossen gewann So überrascht es nicht, dass er auch nach Lehmanns Entlassung aus dem Gefängnis seinen Posten behielt und Lehmann zum Expedienten herabstufte Vom 1 Oktober 1892 bis Dezember 1893 fungierte er als Geschäftsführer der „Westfäli46 47 48 49 50 51
Vgl ebd Ebd , 167 Vgl Günther Högl, Auf dem Weg zur Massenpartei Die Sozialdemokratie im Bezirk Westliches Westfalen, in: Bernd Faulenbach / Günther Högl / Karsten Rudolph (Hrsg ), Vom Außenposten zur Hochburg der Sozialdemokratie Der SPD-Bezirk Westliches Westfalen 1893–1993 Essen 1993, 53 Herzig, Entwicklung (wie Anm 32), 172 Vgl Koszyk, Anfänge (wie Anm 36), 58 und 63 Ebd , 65
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schen Volksdruckerei“, in der die Nachfolgezeitung der „Westfälischen Freien Presse“ die „Rheinisch-Westfälische Arbeiterzeitung“ erschien In diesem programmatisch zum „Sozialdemokratischen Organ für das Ruhrgebiet“ ernannten Blatt gaben Redakteure wie der 1870 in Bremen geborene Hans Block oder Franz Diederich, den Ton an, der als erster Intellektueller in der Dortmunder Redaktion, später beim „Vorwärts“, bei der „Leipziger Volkszeitung“ und durch zahlreiche belletristische Publikationen hervortrat Ihre Artikel waren qualitativ weitaus besser als die vorherige Pressearbeit Lehmanns, der ab Dezember 1893 nur noch für den Vertrieb der „Rheinisch-Westfälischen Arbeiterzeitung“ verantwortlich war Dies verschlechterte indes das Betriebsklima, was die Dortmunder Zeitung „Tremonia“ süffisant wie folgt kommentierte: „Wir haben in der letzten Zeit wiederholt darauf hingewiesen, was die Sozialdemokraten unter ‚Brüderlichkeit‘, ‚Solidarität‘ verstehen […] Auch in unserer Industriegegend bietet sich nach dieser Richtung hin ein interessantes Schauspiel, seitdem die Berliner Fraktionellen einen jungen Mann namens Diederich in ihrem Auftrage und mit ihrem Geld den bisherigen ‚Führern‘ im Kohlerevier auf die Nase gesetzt haben […] und jetzt ist ‚Obergenosse‘ Diederich […] daran, die ‚Alten‘ sozialdemokratischen Kämpen Lehmann und Siebe lahmzulegen Soviel ist sicher, wenn die Gesellschaft nur 24 Stunden das Heft in Händen hätte, würde sie sofort die eigenen ‚Genossen‘ wie zur Zeit der Französischen Revolution um einen Kopf kürzer machen “52
Die innerbetrieblichen und innerparteilichen Querelen eskalierten nach dem Verlust des Reichstagsmandats von Lütgenau und im Zuge der Zuspitzung des Streits geriet auch Lehmann zwischen die Fronten, sodass die Pressekommission ihm Anfang 1899 – ebenso wie Block – kündigte Verleger Albin Gerisch führte hierzu in einem Brief aus: „Es folgte die Konferenz für den Wahlkreis Dortmund Auf derselben kam zwar nicht eine begründete Anklage, wohl aber so viel blind wüthiger Haß gegen die Genossen Lehmann und Block zum Vorschein, daß ich den beiden am Tage nach der Konferenz erklärte, nach meinem persönlichen Empfinden sei für sie die Möglichkeit zu einer ersprießlichen Thätigkeit im Wahlkreis Dortmund nicht mehr vorhanden […] Was sich aber heute mit Rehse, Lehmann und Block ereignete kann sich morgen mit Müller und Schulze wiederholen und ich würde mich als Verleger bestens bedanken, noch jemand für das Dortmunder Geschäft zu engagieren, wenn ich befürchten muß, daß derselbe nach 14 Tagen […] den Laufpaß erhält, weil er es nicht verstanden hat, es Allen recht zu machen “53
Immerhin gelang es Lehmann, im Mai 1899 bei der „Volksstimme“, der sozialdemokratischen Zeitung Mannheims, eine neue Stelle anzutreten Daneben jedoch blieben seine Reichstagskandidaturen ohne Erfolg: 1890, 1893 und 1898 kandidierte er im
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Zitiert nach Koszyk, Anfänge (wie Anm 36), 74 Ebd , 115
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Wahlkreis Arnsberg 5: Bochum-Gelsenkirchen ebenso ohne ein Mandat zu erringen wie 1898 und 1903 im Wahlkreis Trier 6: Ottweiler-St Wendel-Meisenheim „The SPD candidate in Bochum, as in previous elections, was Gustav Lehmann, a former joiner and party activist in Düsseldorf and since 1890 working in Dortmund as a party editor and branch chairman In his speeches he concentrated on national issues such as the tariffs and the need for social legislation to protect the workers […] SPD support rose from 20 2 per cent zu 29 6 per cent This was not enough to push the Centre into third place and in the run-off the Centre defeated the National Liberals “54
IV. Lehmann in Mannheim Im Frühsommer 1899 zog Gustav Lehmann mit seiner inzwischen größer gewordenen Familie – noch in Dortmund hatte Ehefrau Wilhelmine am 24 Februar 1892 Tochter Erna und am 3 August 1895 Sohn Gustav Karl zur Welt gebracht – nach Mannheim Hier zog man zunächst in die Dammstraße 29 und 1901 in die Riedfeldstraße 18 beides – standes- oder klassengemäß – in der Neckarstadt-West gelegen Der Umzug zog keine berufliche Neuorientierung nach sich, da Lehmann im Verlag der sozialdemokratischen „Volksstimme“ den Posten des Buchhalters und Akquisiteurs übernahm Er blieb seiner Überzeugung treu, dass die Pressearbeit für die Verbreitung sozialdemokratischer Ideen unverzichtbar sei, wie er zuvor formuliert hatte: „Wer soweit ist, dass er unsere Zeitungen liest, ist uns fest, der kommt aus unserem Ideenkreis nicht heraus “55 Nach den turbulenten Jahren der politischen Kämpfe und Haftstrafen hoffte er, nun in eine zumindest in familiärer und beruflicher Hinsicht ruhigere Lebensphase eintreten zu können Doch diese Hoffnung sollte sich bald als Illusion erweisen, denn die – wenngleich erst nach einigen Jahren – aufbrechenden politischen Konflikte sollten auch sein persönliches Leben beeinträchtigen Zunächst aber schien auch er von den wachsenden Erfolgen der Mannheimer SPD profitieren zu können, die unter Führung August Dreesbachs bereits 1884 zwei Sitze im Stadtrat gewonnen hatte, für die August Dreesbach 1890 in den Reichstag und 1891 zusammen mit Philipp August Rüdt in den badischen Landtag eingezogen war und die bei der unmittelbar zurückliegenden Reichstagswahl von 1898 erstmals zur stärksten politischen Kraft der Quadratestadt aufgestiegen war 56
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S. H. F. Hickey, Workers in Imperial Germany The Miners of the Ruhr Oxford 1985, 251 Högl, Auf dem Weg (wie Anm 48), 40 Vgl neben der Literatur in Anm 1 vor allem Wilhelm Kreutz, Zur politischen Entwicklung der bayerischen und der badischen Pfalz vom Ende der napoleonischen Herrschaft bis zur Gründung der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, in: Alexander Schweickert (Hrsg ),
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Neben seiner erfolglosen Reichstagskandidatur im katholisch geprägten Wahlkreis Ottweiler-St Wendel-Meisenheim gelang es Gustav Lehmann im selben Jahr 1903, als einer der Abgeordneten Mannheims bis 1908 für zwei Legislaturperioden in die zweite badische Kammer einzuziehen Hier meldete er sich vor allem bei Finanz- und Etatfragen zu Wort: Bei der Debatte um den Druckvertrag des Landtags, beim Thema der Schifffahrtsabgaben, der Gewährung von Beihilfen für Kriegsveteranen, beim Justiz-Etat oder dem der badischen Strafanstalten, beim Etat des Innenministeriums und nicht zuletzt beim Etat für Kultus und Schulangelegenheiten, alles in allem keine spektakulären Auftritte, sondern solide parlamentarische Tagesarbeit 57 Während jener Jahre aber war nicht nur die Zahl der badischen Sozialdemokraten gewachsen, sondern auch die Zahl ihrer Unterorganisationen: 1903 beteiligte sich der junge Jurist und Sozialdemokrat Dr Ludwig Frank gemeinsam mit dem SPD-Vorstandsmitglied Richard Böttger an der Gründung eines Vereins für Volkshochschulkurse 58 1904 gegründete Frank gemeinsam mit 25 jugendlichen Arbeitern den „Verein junger Arbeiter“, dem bald 400 Mitglieder angehören sollten, und 1905 hoben Therese Blase und Lina Kehl den sozialdemokratischen Frauenverein aus der Taufe, den sie ein Jahr später als erste Frauengruppe der Mannheimer SPD anschlossen 59 Überschattet wurden das organisatorische Wachstum freilich von der sich anbahnenden Kontroverse zwischen der Mehrheit der badischen Sozialdemokraten auf der einen und der kleinen Gruppe der badischen Parteilinken sowie der Berliner Parteizentrale auf der anderen Seite in der Frage der Budgetbewilligung bzw der Zusammenarbeit mit anderen Fraktionen des Parlaments Auf dem Dresdner Parteitag von 1903 hatte sich die übergroße Mehrheit der Delegierten entschieden gegen den Revisionismus gewandt und eine Budgetbewilligung durch Abgeordnete der SPD entschieden abgelehnt,60 doch dieser Beschluss war vor allem in dem seit 1899 von Eugen Geck in Karlsruhe herausgegebenen Parteiorgan „Der Volksfreund“ heftig kritisiert worden 61 Von dieser Linie wich die Redaktion auch nach der ultimativen Aufforderung der Mehrheit der Delegierten des badischen Parteitags von 1904, die Dresdner Beschlüsse zu beachten, nicht ab Der Konflikt zwischen den „Revisionisten“ und den „Parteilinken“ spitzte sich allerdings erst anlässlich der Landtagswahl von 1905, der ersten mit direktem und
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Kurpfalz Stuttgart 1997, 77 und Michael Caroli / Friedrich Teutsch, Mannheim im Aufbruch Die Stadt an der Wende vom 19 zum 20 Jahrhundert Mannheim 1999, 34 f Vgl Artikel Gustav Lehmann, in: Badische Landtagsprotokolle (http://digital blb-karlsruhe de/ Drucke/topoic/view/792873) Vgl Konrad Elsässer, Die badische Sozialdemokratie 1890 bis 1914 Zum Zusammenhang von Bildung und Organisation Marburg 1978, 135 ff Vgl Karl Otto Watzinger, Ludwig Frank Ein deutscher Politiker jüdischer Herkunft Mit einer Edition: Ludwig Frank im Spiegel neuer Quellen Bearbeitet von Michael Caroli, Jörg Schadt und Beate Zerfaß Sigmaringen 1995, 17 ff ; Caroli/Teutsch, Aufbruch (wie Anm 56), 38 und 41 Vgl Watzinger, Frank (wie Anm 59), 32 Vgl Elsässer, Sozialdemokratie (wie Anm 58), 70–72
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gleichem Wahlrecht, zu Das Zentrum hatte im ersten Wahlgang so viele Stimmen erhalten, dass im Landtag eine klerikal-konservative Mehrheit drohte In dieser Situation schlossen die Liberalen und die Sozialdemokraten ein Stichwahlabkommen und konnten dadurch eine Zentrumsmehrheit verhindern 62 Für dieses Abkommen hatte die SPD eine Kommission gebildet, der u a August Dreesbach, Adolf Geck, Emil Eichhorn, Ludwig Frank, Wilhelm Kolb und Wilhelm Engler angehörten 63 So einig man sich in der Frage des Stichwahlabkommens war, so sehr gerieten die Genossen in der Frage der Interpretation des Ergebnisses und dessen Konsequenzen in Streit Noch schreckten alle Beteiligten – die Sozialdemokraten ebenso wie die Nationalliberalen – vor einer offiziellen Zusammenarbeit zurück Noch hatten die badischen Abgeordneten die Generallinie der Partei nicht verletzt Doch die Weichen für eine Änderung wurden 1906 gestellt, als nach dem Tod August Dreesbachs Dr Ludwig Frank als dessen Nachfolger an die Spitze der Mannheimer Sozialdemokraten trat und ihm 1907 auch in den Reichstag nachfolgte Bei dieser Reichstagswahl gelang es endlich auch Gustav Lehmann – nach vielen vergeblichen Versuchen – ebenfalls ein Reichstagsmandat zu gewinnen, freilich nicht in Baden, sondern im hessischen Wahlkreis Wiesbaden, der die Stadt, den Rheingau und den Untertaunus umfasste 64 Er hatte sich in der Stichwahl mit Unterstützung der Zentrumswähler – damals eine häufigere Wahlabsprache, um die Dominanz der Nationalliberalen zu beenden – gegen den nationalliberalen Kommerzienrat Eduard Bartling durchgesetzt Entscheidend hierfür waren vor allem die Voten im Rheingau, wo Lehmann das Ergebnis von 1903 auf den Kopf stellte: Hatten damals mehr als 4 100 Wähler der Rheingaugemeinden für Bartling und nur 1 880 für Lehmann gestimmt, so gewann Bartling 1907 nur noch 1 543 Stimmen, wohingegen Lehmann 4 861 Voten auf sich vereinigen konnte 65 Er siegte u a in Dotzheim, wo er fast 79 Prozent der Stimmen erhielt Die Dotzheimer Zeitung kommentierte dies so: „‚Man glaubte noch immer nicht, dass die rote Partei gesiegt hatte, doch Boten aus der Stadt bestätigten diese Tatsache‘ In der ‚Krone‘ muss es am Abend des 5 Februar 1907 hoch hergegangen sein ‚Nach Bekanntgabe jedes neuen günstigen Wahlresultats erschollen brausende Hochrufe bis spät in die Nacht‘“66
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Jürgen Thiel, Die Großblockpolitik der Nationalliberalen Partei Badens 1905 bis 1914 Ein Beitrag zur Zusammenarbeit von Liberalismus und Sozialdemokratie in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands Stuttgart 1976, 31–36 Vgl Elsässer, Sozialdemokratie (wie Anm 58), 80 f Vgl hierzu und im Folgenden Bernd Liebert, Politische Wahlen in Wiesbaden im Kaiserreich (1867–1918) Wiesbaden 1988; Thomas Weichel, „Wenn dann der Kaiser nicht mehr kommt …“ Kommunalpolitik und Arbeiterbewegung in Wiesbaden 1890–1914 Wiesbaden 1991 Weichel, Kommunalpolitik (wie Anm 64), 83 Klaus Kopp / Hildegard Rockland-Bierke, Die Sozialdemokratie und die Eingemeindung 1926/1928 im Rahmen der 135-jährigen Geschichte der Dotzheimer SPD Dotzheim 2003
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Demgegenüber stürzte die Wahl Lehmanns den monarchisch gesinnten Adel, das Bürgertum sowie nicht zuletzt die Kurverwaltung in große Sorge In der wilhelminischen Stadt par Excellence mit ihren Maifestspielen, ihrem neuen Kurhaus und ihrem internationalen Publikum machte die bange Frage die Runde, ob denn der Kaiser, der Wiesbaden jährlich besuchte, auch in die nunmehr „rote“ Kurstadt komme?67 Er kam weiterhin und nach fünf Jahren konnten sie erleichtert aufatmen, denn es sollte das einzige Mal bleiben, dass während des Kaiserreichs in diesem Wahlkreis ein Sozialdemokrat siegte Aber so erfreulich und befriedigend der Wahlerfolg für Lehmann gewesen sein mag, so unerfreulich waren die daraus sich ergebenden beruflichen Konsequenzen, denn der Aufsichtsrat der Mannheimer Aktiendruckerei nahm seine Wahl in den Reichstag zum Anlass, seine Buchhalterstelle zu kündigen und ihm eine Anstellung als Berliner Berichterstatter der „Volksstimme“ zu offerieren Das Gehalt jedoch, das man ihm anbot, war so gering, dass in Berlin der Fraktionsvorstand intervenierte Der Aufsichtsrat der „Volksstimme“ weigerte sich indes, das Gehalt zu erhöhen, sodass den Berlinern nichts Anderes übrigblieb, als Lehmann von der Diäten-Beitragszahlung an die Parteikasse, die an sich jeder Abgeordnete zu leisten hatte, zu befreien 68 Bevor auf die Gründe für die harsche Haltung der Mannheimer Sozialdemokraten eingegangen wird, gilt es, die Rolle Lehmanns im Reichstag zu skizzieren 69 Er zählte nicht zu den brillanten Parlamentsrednern, aber ebenso wie im badischen Landtag beteiligte er sich lebhaft sowohl an den Debatten um den Reichshaushalts-Etat und einzelne Handelsverträge als auch vor allem an den Diskussionen um die Wein- bzw Schaumweinsteuer, die Weineinfuhr und -ausfuhr, die Weinzölle, die Verschnittfrage ausländischer Weine, die Reblausbekämpfung und die Notlage der Winzer – Diskussionen, in denen er lebhaft die wirtschaftlichen Interessen seiner Klientel im Rheingau vertrat Daneben widmete er sich immer wieder Problemen der Gewerbeordnung und den Arbeitsverhältnissen von Gesellen und Arbeitern Seine ersten parlamentarischen Sporen verdiente er sich in einer scharfen Auseinandersetzung um die Missstände im Bäckergewerbe, vor allem die katastrophalen Arbeitsbedingungen der Bäckergesellen Daneben ergriff er in den Debatten um die Zulassung zu Meisterprüfungen, um die Bleigefahren im Maler- und Anstreichergewerbe, um die Gefahren der „Lehrlingszüchterei“ oder die Arbeitsbedingungen ausländischer Arbeiter, hier der beim Bau des Kaiser-Wilhelm-Kanals tätigen Kroaten, und nicht zuletzt der Arbeitszeit wie den Versicherungsfragen der Arbeiter das Wort All dies unterstreicht – neben den regional, 67 68 69
Vgl Weichel, Kommunalpolitik (wie Anm 64), 11 Waltraud Sperlich, Journalist mit Mandat Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und ihre Arbeit in der Parteipresse 1867 bis 1918 Düsseldorf 1983, 195 f Vgl hierzu und im Folgenden Verhandlungen des Deutschen Reichstags XII Legislaturperiode Berlin 1907 ff ; siehe: Reichstagsprotokolle 1895–1918 Band 238 und Band 269 Artikel Lehmann Registereintrag der stenographischen Reichstagsberichte Bayerische Staatsbibliothek Online-Version vom 29 März 2017
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seinem Wahlkreis verpflichteten Interventionen – sein Engagement in den klassischen sozialdemokratischen Anliegen der Arbeiterklasse Aber dieses Engagement reichte nicht aus, um 1912 den Wahlkreis noch einmal gegen den nationalliberalen Großunternehmer Eduard Bartling zu gewinnen, der in der Stichwahl dieses Mal von allen bürgerlichen Parteien und dem Zentrum unterstützt wurde, wohingegen Lehmann auf sich allein gestellt blieb 70 Und die Niederlage im Wahlkampf von 1912 war der Anlass, in Wiesbaden die Postkarte „Lehmanns Abzug“ zu drucken
Lehmann – wahrscheinlich der Sozialdemokrat mit der Reisetasche – und seine Genossen werden von den Rheingauhügeln vertrieben und müssen sich auf das auf dem Rhein bereitstehende Boot „Nach Mannem“ flüchten Dass es sich um den Rheingau handelt, zeigt die deutlich zu erkennende Germania des Niederwalddenkmals mit der schwarz-weiß-roten Fahne des Kaiserreichs Im Gegensatz zu dem entsetzt flüchtenden Spielmannszug der Roten triumphieren ein nationalliberaler oder konservativer Bürger in Frack und Zylinder, ein flaschen-schwingender Weinhändler und nicht zuletzt ein säbelschwingender Offizier, der zum Sammeln blasen und Salutschüsse abschießen lässt, wahrscheinlich eine Anspielung auf den Kriegerverband des Regierungsbezirks Wiesbaden, der Bartling eifrig unterstütze Ihnen folgt eine Masse
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Vgl Liebert, Wahlen (wie Anm 64), 259–263
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demonstrierender Bürger, die mit weißen Blättern, ihren Wahlzetteln, in hocherhobenen Armen und zur Faust geballten Händen drohen Belustigt verfolgt ein kleiner Narr auf dem Steckenpferd das kuriose Treiben – denn die am 12 Januar 1912 stattfindende letzte Wahl des Kaiserreichs fiel ja in die närrische Saison Mit dieser Wahlniederlage endete nicht nur Lehmanns reichspolitische Karriere, sondern auch seine Tätigkeit als Berichterstatter der „Volksstimme“ Ob er danach weiterhin als Journalist für die Mannheimer SPD-Zeitung tätig war oder ob er seine frühere Tätigkeit in der Mannheimer Aktiendruckerei wiederaufnahm, geht aus den mir zugänglichen Dokumenten nicht hervor Bei seiner zweiten Heirat im November 1912 gab er als Beruf „Kaufmann“ an Und dass er 1912 für zwei Jahre von der Riedfeld- in die Seckenheimer Straße, für zwei weitere Jahre zusammen mit seinem Sohn in die Kleinfeldstraße sowie schließlich mit diesem bis zum 23 November 1923 in die Werderstraße zog,71 deutet darauf hin, dass er in diesen Jahren in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen lebte, liegen diese Straßen doch alle in der erst nach der Jahrhundertwende entstandenen bürgerlichen Schwetzinger(vor)stadt Noch vor seinem Ausscheiden aus dem Reichstag war am 8 Mai 1911 seine Ehefrau Wilhelmine verstorben Eineinhalb Jahre später, am 9 November 1912, heiratete Gustav Lehmann in Offenbach die am 7 Oktober 1857 in Mainz geborene Witwe Anna Maria Klein, geb Merkel, die ihren 1900 geborenen Sohn Willy mit in die Ehe brachte, sodass er zumindest vorübergehend für eine vielköpfige Familie sorgen musste Zwar heiratete die älteste Tochter Natalie 1912 den Kaufmann Julius Emil Dischinger, aber die beiden Kinder aus erster Ehe und der Stiefsohn lebten nach wie vor in seinem Haushalt Der zweiten Ehe war aber keine lange Dauer beschieden: Sie wurde bereits am 15 März 1915 durch das Urteil des Mannheimer Landgerichts rechtskräftig geschieden 72 Zu den familiären Turbulenzen jener Jahre hinzu kamen die sich seit 1907/08 zuspitzenden Auseinandersetzungen Lehmanns mit den Mannheimer und badischen Genossen Erstes Anzeichen für die Entfremdung war 1907 die Verweigerung eines angemessenen Salärs für den Reichstagsabgeordneten und -korrespondenten Der nächste Schritt folgte zwei Jahre später: Zwar blieb Lehmann, der 1905 in den Mannheimer Bürgerausschuss gewählt worden war, bis 1919 SPD-Mitglied dieses städtischen Gremiums, aber ab 1909 wurde er nicht mehr für den Landtag nominiert Die Gründe hierfür liegen, auch wenn die Mannheimer Quellen hierzu schweigen, auf der Hand Ob Lehmann im Revisionsmusstreit um die Jahrhundertwende tatsächlich dem reformistisch-revisionistischen Parteiflügel zuzurechnen ist, wie Dieter Groh behauptete,73
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Meldekarte der Stadt Mannheim, in: MARCHIVUM Ebd Vgl Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus Frankfurt am Main-Berlin 1973, 121, 123, 319, 441 und 553; Rudolf Günter Huber, Sozialer Wandel und politische Konflikte in einer südhessischen Industriestadt Kommunalpolitik der SPD in Offenbach 1898–1914 Darmstadt-Marburg 1985, 18
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ist fraglich Festzuhalten ist jedoch, dass er spätestens ab 1908 zu den entschiedenen Kritikern der sich seit 1905 Schritt für Schritt anbahnenden „Großblockpolitik“ zählte, die nach der erneuten Wahlabsprache zwischen Nationalliberalen, Demokraten und Sozialdemokraten 1909 im badischen Landtag politische Realität wurde 74 Zeichen der Annäherung hatte es schon zuvor gegeben, sodass der besorgte August Bebel bereits am 9 März 1906 an den Offenburger Adolf Geck, den Onkel des bereits erwähnten Eugen Geck, dem neben Gustav Lehmann und dem aus Sachsen stammenden Emil Eichhorn einflussreichsten badischen Parteilinken, schrieb: „Ich sehe den nächsten Jahren mit großem Unbehagen entgegen, wir haben so viele brüchig gewordene in unseren Reihen, dass einem angst (sic!) und bange wird Jetzt heißt es für uns alle, die Ohren steif zu halten“ 75
Für Furore sorgte zudem, dass Ludwig Frank und Wilhelm Kolb, die Mannheimer Exponenten der „Großblockpolitik“, 1907 am Staatsbegräbnis des badischen Großherzogs teilnahmen, Adolf Geck als Vizepräsident der Zweiten Kammer dies aber ebenso ablehnte wie eine Beteiligung an dem Kondolenzschreiben des Landtagspräsidiums 76 Die im Südwesten latenten antipreußischen Ressentiments wurden nun „auf die Nichtrevisionisten in der Gesamtpartei, auf die ‚Leipziger Volkszeitung‘ und den ‚Vorwärts‘, besonders aber auf den beiden ‚Musspreußen‘,77 Geck und Lehmann, und Eichhorn übertragen“,78 die in der badischen Sozialdemokratie als radikale Minderheit an den Rand gedrängt wurden „Im Herbst 1908 lag das Zentrum der Opposition in der badischen SPD gegen den Kurs der Reformstrategie bei den Pforzheimer Reichstagsabgeordneten Emil Eichhorn und seine[m] Kollegen im Badischen Landtag, Adolf Geck Diese beiden Pforzheimer Abgeordneten vertraten zusammen mit dem Mannheimer Gustav Lehmann die antirevisionistische, orthodox-marxistische Position in der badischen Sozialdemokratie Alle drei hatten ihr Reichstagsmandat nur noch bis zum Jahre 1912 […] Eichhorn war nicht wieder aufgestellt worden, Adolf Geck und Gustav Lehmann verloren ihr Reichstagsmandat “79
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Vgl Thiel, Großblockpolitik (wie Anm 62), 82 ff August Bebel, Brief an Adolf Geck vom 09 03 1906, zitiert nach: Elsässer, Sozialdemokratie (wie Anm 58), 82 Vgl Thiel, Großblockpolitik (wie Anm 62), 58 Vgl Ludwig Frank, Brief an Georg von Vollmar, Zeppelinstag 1908, zitiert nach Elsässer, Sozialdemokratie (wie Anm 58), 84 Vgl ebd Stefan Peter Endlich, Sozialgeschichte der Stadt Pforzheim 1862–1914 Arbeiterbewegung und sozialdemokratische Kommunalpolitik im Zeitraum der Industrialisierung Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1993, 507
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Den Vertretern der „Großherzoglich badischen Sozialdemokratie“ warf vor allem Karl Kautsky „Byzantinismus“ und „Hofgängerei“ vor 80 Das taktische Kalkül Franks und Kolbs, das mittelfristig auf eine Regierungsbeteiligung der SPD abzielte, ignorierten die Vertreter der wahren sozialistischen Lehre Noch deutlicher brach der Konflikt zwischen der Linken und den Reformisten oder wie Kolb es in einem Artikel programmatisch verkündete „zwischen Nord und Süd,“81 und das hieß zwischen der preußisch dominierten Reichspartei und der SPD Badens, Württembergs und Bayerns, auf, als die badischen Sozialdemokraten 1908 dem Budgetentwurf der Regierung zustimmten, was Gustav Lehmann in dem Periodikum der Parteilinken „Die Neue Zeit“ geißelte „Auch wir in Baden können wie überall beobachten, daß wir das volle Zutrauen der hier in Betracht kommenden Arbeiter und Beamten besitzen, daß diese Schichten in allererster Linie sich mit ihren Beschwerden an uns wenden […] Wohl aber wird es von der Masse nicht verstanden, wenn man sich auf den Standpunkt stellen würde, daß die Stellung der Regierung zu unserer Partei nicht unsere Stellung zu ihr selber alterieren dürfe, daß wir gewissermaßen jeden uns erteilten Faustschlag mit einer Verbeugung zu beantworten hätten Man erwartet vielmehr von uns, daß wir rücksichtslos den Grundsatz vertreten: ‚Auf einen Schelmen anderthalben‘ […] Es wäre zu wünschen, daß das proletarische Klassenbewußtsein bei allen unseren Abgeordneten ebenso entwickelt wäre, wie das bürgerliche Klassenbewußtsein bei unseren Regierungen “82
Dass Lehmann diesem Artikel bis 1914 neun weitere, zum Teil fünf und mehr Seiten umfassende Artikel über die jeweiligen Budgetabstimmungen und die badischen Landtagswahlen folgen ließ, unterstreicht, dass er für die Redaktion der „Neuen Zeit“ zum Kronzeugen der ‚Anklage‘ gegen die Revisionisten badischer Provenienz avancierte 83 Ludwig Frank hingegen, der 1905/06 noch den ein oder anderen meist kürzeren Artikel in juristischen Fragen publiziert hatte, kam ab 1908 nur noch einmal zu Wort Am 2 September 1910 veröffentliche die „Neue Zeit“ einen Artikel mit dem
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Vgl Elsässer, Sozialdemokratie (wie Anm 58), 85 Vgl Wilhelm Kolb, Nord und Süd in der sozialdemokratischen Politik, in: Sozialistische Monatshefte 12 (1908), 1140–1143 Gustav Lehmann, Die Budgetabstimmung in Baden, in: Die Neue Zeit 26 (1907–1908) 2 Band 1908, Nr 48, 777–782, hier: 778 f und 782 Vgl seine Artikel: Die Wahlen in Baden, in: Die Neue Zeit 27 (1908–1909) 2 Band 1909, Heft 7, 228–233; Kinderausbeutung und Volksschule in Baden, in: Die Neue Zeit 28 (1909–1910) 1 Band 1909, Heft 2, 63–66; Schnapsboykott und Branntweinliebensgabe, in: Die Neue Zeit 28 (1909–1910) 1 Band 1909, Heft 12, 411–413; Die Budgetbewilligung in Baden, in: Die Neue Zeit 28 (1909–1910) 2 Band 1910, Heft 45, 667–673; Nochmals die badische Taktik Zur Entgegnung und Ergänzung, in: Die Neue Zeit 28 (1909–1910) 2 Band 1910, Heft 50, 876–880; Der Landtagswahlkampf in Baden, in: Die Neue Zeit, 31 (1912–1913) 2 Band 1913, Heft 31, 953–957; Der Ausfall der badische Landtagswahlen, in: Die Neue Zeit 32 (1914–1914) 1 Band, Heft 6, 177–182; Nochmals die badischen Landtagswahlen 32 (1913–1914) 1 Band 1913, Heft 9, 333–335; Nochmals die badische Großblockpolitik, in: Die Neue Zeit 32 (1913–1914) 2 Band 1914, Heft 17,783–785
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programmatischen Titel „Die Wahrheit über den badischen Aufstand“, in dem Frank Angriffe Lehmanns und Kautskys wie folgt konterte: „Der Kasernengehorsam, den man uns aufzwingen will, unterscheidet sich von der freiwilligen Disziplin, die wir als unentbehrlich anerkennen, in folgendem Punkte: Der Soldat muß seinen Dienstbefehl, auch den als unsinnig erkannten, ohne Widerrede ausführen Er hat nach dem Vollzug das Recht der Beschwerde Genau die gleiche Stellung möchte uns Genosse Kautsky zuweisen Wir sollen eine Resolution befolgen, auch wenn wir unter den Umständen, unter denen wir handeln müssen, die Partei zu schädigen glauben, dafür aber gibt er uns wie den Musketieren und Dragonern, das Recht der nachträglichen Beschwerde an den vorgesetzten Parteitag “84
Und etwas später fuhr er fort: „Noch ein Wort zur monarchischen Frage, deren Bedeutung maßlos aufgebauscht wird Wir waren und sind uns der Pflicht bewusst, die historischen Empfindungen und Empfindlichkeiten der Parteigenossen im Reiche nicht mutwillig zu verletzen Die badischen Hofgänger sind deshalb noch nie bei Hof gewesen – keiner auch nicht die Mitglieder des Kammerpräsidiums “85
Weder bei der Eröffnung noch bei der Schließung habe man an der Kammersitzung teilgenommen, wenn diese Zeremonien der Großherzog selbst vorgenommen habe Sei der Hof aber ferngeblieben und die feierliche Sitzung sei nur von einem Minister geleitet worden, so habe man den Genossen die Teilnahme freigestellt „Das sind die Gelegenheiten, bei denen wir uns ‚byzantinisch‘ oder wie ‚Sklaven‘ oder ‚hündisch‘ benommen haben sollen Unser Kritiker […] hat den antimonarchischen Glaubensunterricht bei Genossin Luxemburg nicht ohne Nutzen genossen, und mit dem schönen Eifer des Neubekehrten verlangt er von uns ‚Hofgängern‘ Dinge, die bisher kein Mensch in der Partei gefordert oder getan hat “86
Im folgenden Heft antworte Lehmann in einem fünf Seiten umfassenden Beitrag unter der Überschrift „Nochmals die badische Taktik Eine Entgegnung und Ergänzung“ und schloss mit den Sätzen: „Unsere Genossen im badischen Landtag fühlen sich mehr oder weniger verpflichtet gemeinsame Politik mit den Nationalliberalen zu machen Sie erhoffen dadurch zu einem größeren Einfluß zu gelangen und die Nationalliberalen zu – bessern […] Die Nationalliberalen können sich in unserem Sinne nicht bessern, ob wir ihnen auch noch soviel Ent-
84 85 86
Ludwig Frank, Die Wahrheit über den badischen ‚Aufstand‘, in: Die Neue Zeit 28 (1908–1909) 2 Band 1910, Heft 49, 812–819, hier: 817 f Ebd , 818; unterstrichene Worte im Original gesperrt gedruckt Ebd , 818; unterstrichene Worte im Original gesperrt gedruckt
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gegenkommen zeigen und alle möglichen vermeintlichen gesellschaftlichen und höfischen Verpflichtungen erfüllen und für ein Klassenwahlrecht votieren Der Klassenkampf trennt die Vertreter der Ausgebeuteten von den Vertretern der Ausbeuter Das dürften unsere Genossen, die jetzt von dem falschen Gedanken beseelt sind, daß der Gegensatz zwischen Zentrum und Nationalliberalen nicht leicht zu überwinden sei, beim Zusammenbruch auch des badischen Großblocks bald zu ihrem eigenen Heile erfahren “87
So verwundert es nicht, dass die Reformer um Frank und Kolb bei der nächsten Kandidatenaufstellung eine Nominierung Gecks und Lehmanns verhindern wollten, die ihnen nur im Falle Lehmanns gelang Allerdings wurde Adolf Geck nicht mehr für das Landtagspräsidium nominiert; an seine Stelle trat der Mannheimer Genosse Anton Geiß, der nach dem Ende des Großherzogtums zum 1 Staatspräsidenten Badens aufsteigen sollte 88 Spätestens ab 1909 hatten sich die Reformisten oder Revisionisten, die Verfechter der Großblockpolitik, in der Partei durchgesetzt, die aus den Wahlen dieses Jahres, bei der die Sozialdemokraten acht Mandate hinzugewannen und mit zwanzig Mandaten zur zweitstärksten Fraktion – nach dem Zentrum mit 26 Mandaten, aber vor den Nationalliberalen mit 17 Mandaten – avancierten 89 Dieser Wahlerfolg bestätigte die Politik der Reformer Noch einmal versuchte die Parteilinke an Einfluss zu gewinnen und gründete zur Schulung des in ihren Augen mangelhaften Klassenbewusstseins der badischen Genossen im Sommer 1910 „Karl-Marx-Klubs“, die allerdings bereits 1911 von der Parteileitung aufgelöst wurden 90 Unterstützung fand sie bei der Berliner Parteispitze: Im Sommer 1910 folgte Rosa Luxemburg einer Bitte Adolf Gecks und kam zu einer Vortragsreise nach Baden Ihre erste Rede hielt sie am Abend des 21 August in Offenburg, nachdem sie am selbem Tag auf dem parallel stattfindenden Parteitag der badischen SPD kein Rederecht erhalten hatte Ebenso wie an den Folgetagen in Lahr (22 08 ), Durlach (23 08 ) und Pforzheim (24 08 ) sprach sie über „Sozialismus, Budgetbewilligung und Sozialdemokratie“, d h über den Kernpunkt der Auseinandersetzung 91 Nach einer Unterbrechung wegen ihrer Teilnahme am „Internationalen Sozialistenkongress“ in Kopenhagen folgten Versammlungen in Schopfheim (10 09 ), Lörrach (11 09 ) und in Mannheim (12 09 ), wo sie über „Monarchie, Kaiserreden und Sozialdemokratie“ sprach 92 Schwierig war vor allem das Zustandekommen der Mannheimer 87 88
89 90 91 92
Lehmann, Nochmals die badische Taktik (wie Anm 83), 880 Vgl Martin Furtwängler, „… ganz ohne Eitelkeit und Machtgier“ Der erste badische Staatspräsident Anton Geiß (1858–1944), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 161 (2013), 297– 324; Martin Furtwängler (Bearb ), Die Lebenserinnerungen des ersten badischen Staatspräsidenten Anton Geiß (1858–1944) Stuttgart 2014 Vgl Elsässer, Sozialdemokratie (wie Anm 58), 85 Vgl ebd , 118–134 Vgl ebd , 122 f Vgl ebd , 123
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Veranstaltung, da man hier nur mit äußerster Mühe die als illegal bezeichnete Versammlung in eine außerordentliche Mitgliederversammlung zum Thema „Streifzüge durch die Nationalökonomie“ durchsetzen konnte, zu der nur Parteimitglieder nach Vorzeigen ihrer Mitgliedsbücher zugelassen wurden 93 Alle Versuche, in der Folge die Gräben zuzuschütten und eine Verständigung der Parteiflügel zu erreichen, blieben ohne nennenswerte Ergebnisse Auch die Bemühungen, Clara Zetkin für eine Vermittlung zu gewinnen, kamen über Ansätze nicht hinaus Neuen Aufschwung erhielten die Gegner der Großblockpolitik freilich nach ernüchternden Wahlergebnissen von 1912/13 Bei den Reichstagswahlen verloren die badischen Genossen zwei ihrer drei Mandate, die die Parteilinken Ernst Eichhorn und Adolf Geck innegehabt hatten 94 Auch Gustav Lehmann schied aus dem nationalen Parlament aus, aber seine Niederlage in Wiesbaden und dem Rheingau hatte – wie oben ausgeführt – nichts mit dem Revisionsstreit oder der badischen Großblockpolitik zu tun Nur Ludwig Frank konnte seinen Sitz im Reichstag verteidigen Und bei den Landtagswahlen ein Jahr später verlor die SPD gar sieben ihrer zwanzig Mandate Über den Wahlausgang und dessen Ursachen lebte die scharfe Debatte erneut auf, in der die zuvor ins Abseits gedrängte Linke wieder das Wort ergriff: „Baden steht wieder einmal im Mittelpunkt der Parteidiskussion, denn der Ausfall der Landtagswahlen hat keine Richtung in unserer Partei befriedigt Wir sind von 20 auf 13 Mandate herabgesunken und haben – was das Schlimmere ist – 11 400 Stimmen eingebüßt […] Der Stimmengewinn des Zentrums und der Konservativen beruht zum Teil auch auf unseren Verlusten Das Zusammengehen mit den Liberalen hat es uns neben anderen Umständen erschwert, die katholische Arbeiterschaft zu gewinnen Die Hauptursache aber war, daß wir durch unsere Arbeitsgemeinschaft mit den Liberalen auch für die Gesetze verantwortlich gemacht werden konnten, gegen die das Zentrum gestimmt hat […] Nach dem Ausfall der Landtagswahl wird zweifellos auch in Baden der Klassencharakter unserer Partei schärfer betont und damit die Möglichkeit, das verlorene Terrain wieder zurückzuerobern, geschaffen werden Daß das geschieht, dafür werden schon die auch in Baden sich immer mehr zuspitzenden Klassengegensätze und wird die ökonomische Entwicklung sorgen Der Wahlausfall wird zweifellos zur Selbstkritik und zur energischen Agitations- und Organisationsarbeit führen Die nächste in vier Jahren stattfindende Landtagswahl muß uns einen Riesenaufstieg bringen; das muß und wird jetzt die Parole unserer badischen Genossen sein “95
Aber Lehmanns Analyse und sein Appell verhallten ohne Konsequenzen: die Großblockpolitik wurde bis zum Sommer 1914 fortgesetzt, als der Kriegsausbruch und das Kriegswahlabkommen aller Parteien völlig neue Rahmenbedingungen schufen Wie 93 94 95
Vgl ebd , 125 Vgl ebd , 86 f Lehmann, Der Ausfall (wie Anm 83), 177 und 181 f
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schnell sich jedoch die Einstellung der Gesamtpartei freilich in dieser Frage änderte, zeigt das Abstimmungsverhalten der Gesamtpartei bei der Bewilligung der Kriegskredite und bei der Bildung der „Weimarer Koalition“ aus SPD, DDP und Zentrum, die retrospektiv den reformerischen Kurs Ludwig Franks sowie seiner Unterstützer bestätigte und als zukunftsweisend erscheinen lässt Zu diesem Zeitpunkt war Gustav Lehmann aus der Reichs- wie Landtagspolitik ausgeschieden, allein sein Mandat im Bürgerausschuss behielt er – da während des Krieges keine Mandatswechsel vorgenommen wurden – bis 1919 Überraschenderweise blieb er der SPD bzw der „MSPD“ auch nach 1917 treu, als nicht nur sein vormaliger Mitstreiter Adolf Geck die Mutterpartei verließ und sich den „Unabhängigen Sozialdemokraten“ der USPD anschloss, die in Baden allein in Mannheim zahlreiche Genossen gewinnen konnte Welche Gründe Lehmann bewogen, ist nicht nur aus Mangel an persönlichen Zeugnissen, sondern auch aufgrund der lückenhaften Geschichte der badischen USPD – zumindest vorläufig – nicht zu klären Dass Gustav Lehmann nach 1918 eine Fortsetzung seiner politischen Tätigkeit in der MSPD verwehrt blieb, muss nach dem oben Ausgeführten nicht mehr betont werden Es überrascht deshalb nicht, dass er 1923 die Quadratestadt verließ und nach Karlsruhe zu seinem Sohn übersiedelte, der seit 1922 in der dortigen Leopoldstraße wohnte 96 Der promovierte Jurist und Regierungsrat Dr Gustav (Karl) Lehmann gehörte wie sein Vater der SPD an und referierte 1928 anlässlich der Ferienkurse der badischen Partei in den Naturfreundehäusern auf dem Feldberg und in Moosbrunn über „Die soziale Arbeiterfürsorge in den Gemeinden“ 97 Er kehrte nach seiner Scheidung 1928 für zwei Jahre nach Mannheim zurück und verzog dann nach Berlin 98 Zu diesem Zeitpunkt war sein Vater bereits zwei Jahre tot: Er starb am 20 November 1926, allerdings weder in Mannheim noch in Karlsruhe, sondern in der Heil- und Pflegeanstalt Illenau im badischen Achern und wurde dort zwei Tage später beerdigt 99 Ein Nachruf auf den jahrzehntelangen Kämpfer für den Sozialismus und die Sozialdemokratie, dessen Lebenslauf so typisch ist für die Sozialdemokraten des Kaiserreichs, war bislang nicht zu finden
96 97 98 99
Für diese Information danke ich Frau Angelika Herkert vom Stadtarchiv Karlsruhe Vgl Jörg Schadt (Hrsg und Bearb unter Mitarbeit von Michael Caroli), Im Dienst an der Republik Die Tätigkeitsberichte des Landesvorstands der Sozialdemokratischen Partei Badens 1914–1932 Stuttgart 1977, 167 Für diese Informationen danke ich Frau Karen Strobel vom Mannheimer MARCHIVUM Für diese Information danke ich Frau Karen Strobel vom Mannheimer MARCHIVUM
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg Das Beispiel Wiesbaden und die Chance der Digitalisierung1 Hendrik Schmehl I. Einleitung Der sogenannte Hungerwinter 1916/17 ist tief im kollektiven Gedächtnis der deutschen Bevölkerung verankert, ebenso wie die hohe Zahl an Hungertoten während des Ersten Weltkrieges Die absolute Höhe ist dabei unmittelbar nach dem Krieg mit etwa 750 000 mittelbaren und unmittelbaren Hungertoten angesetzt worden2, allerdings hat sich diese Zahl als überhöht herausgestellt Dies liegt auch daran, dass seitens der Reichsregierung Argumente gegen den Fortbestand der nochmals ausgeweiteten Blockade während der Friedensverhandlungen in Versailles gesucht wurden 3 Dennoch wird die Zahl durchaus auch in jüngeren Studien noch angeführt 4
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Der vorliegende Artikel beruht auf der Dissertation des Autors Vgl : Hendrik Schmehl, „Den Ehrenschild reingehalten …“ – Die Kurstadt Wiesbaden im Ersten Weltkrieg Diss phil Potsdam 2017 Vgl : Schädigung der deutschen Volkskraft durch die feindliche Blockade Denkschrift des Reichsgesundheitsamtes Berlin 1919, 12 –23 Vgl Avner Offer, The First World War An Agrarian Interpretation Oxford 1989, 24 Vgl Jörg Friedrich, 14/18 Der Weg nach Versailles Berlin 2014, 540, 693–695; Belinda Davis, Home Fires Burning Food, Politics, and Everyday Life in World War I Berlin Chapel Hill 2000, 184; Martin Rackwitz, Kriegszeiten in Kiel Alltag und Politik an der Heimatfront 1914/18 (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd 72) Kiel 2013, 221; Christoph Regulski, Klippfisch und Steckrüben: Die Lebensmittelversorgung der Einwohner Frankfurts am Main im Ersten Weltkrieg 1914–1918 (Studien zur Frankfurter Geschichte, Bd 60) Wiesbaden 2012, 334; Horst Moritz, Grunderlebnisse der Erfurter Bevölkerung im Krieg In: Stadt und Geschichte Zeitschrift für Erfurt Sonderheft 16 (2014), 32–35, hier: 35 Eine genozidale Intention der Blockade ist zu verneinen, auch wenn sie in der Dimension der Opferzahlen direkt hinter dem Völkermord an den Armeniern steht Vgl Markus Pöhlmann, Über die Kriegsverbrechen von 1914, in: Dierk Walter / Markus Pöhlmann / Flavio Eichmann (Hrsg ): Globale Machtkonflikte und Kriege Festschrift für Stig Förster zum 65 Geburtstag Paderborn 2016, 125–144, hier: 127
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Hendrik Schmehl
Zieht man jedoch die durch die Spanische Grippe5 erhöhte Sterblichkeit während der zweiten Hälfte des letzten Kriegsjahres ab, dann verringert sich die Zahl entsprechend 6 Andere Lesarten, nach der die Influenza nur deshalb so tödlich verlief, weil sie auf eine hungergeschwächte Bevölkerung traf, gelten mittlerweile als widerlegt, auch wenn nicht nur die Zeitgenossen diesen Zusammenhang konstruiert haben, sondern dies vereinzelt auch in aktuellen Studien noch getan wird 7 Ob die zusätzlichen Todesfälle jenseits der Influenza zum Großteil dem Hungertod zuzurechnen sind, ist mehr als fraglich Zwar gibt es Belege, dass Menschen im Winter 1916/17 bedingt durch Hunger auf der Straße kollabiert sind8, aber der massenhafte Hungertod auf den Straßen, wie aus dem belagerten Leningrad im Zweiten Weltkrieg oder dem Warschauer Ghetto lässt sich nicht nachweisen Aver Offner verweist auf Grundlage von statistischen Daten aus der Großstadt Leipzig darauf, dass abgesehen von besonders kritischen Phasen im Hungerwinter 1916/17 und im Sommer 1918 die Versorgung der Zivilbevölkerung im Durchschnitt ausreichend gewesen sei Zwar sank die Kalorienzahl während des Krieges erheblich ab, aber selbst während der kritischen Phasen blieb das bereits reduzierte Körpergewicht – abgesehen vom April 1917 – der untersuchten Frauen stabil und stieg danach sogar wieder an Für das kollektive Bewusstsein eines lang andauernden Hungergefühls während des Krieges spreche daher eher der veränderte Speisezettel, der nur noch wenige sättigende Fette und Proteine und stattdessen vor allem Kohlenhydrate – noch dazu in Form von Zucker – enthielt Allerdings ist einschränkend hinzuzufügen, dass „im
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Die Namensbezeichnung ist irreführend, da die Erreger vermutlich mit Truppentransportern aus den Vereinigten Staaten nach Europa kamen Bekanntheit und ihren Namen erlangte die Erkrankung durch eine Reutersmeldung zur Erkrankung der spanischen Königin im Mai 1918 Vgl Wolfgang U. Eckart, Medizin und Krieg Deutschland 1914–1924 Paderborn 2014, 196 Vgl Wolfgang Eckart, „Schweinemord“ und „Kohlrübenwinter“ – Hungererfahrungen und Lebensmitteldiktatur 1914–1918 In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 31 (2013), 11, ebenso bereits Emil Roesle, Die Geburts- und Sterblichkeitsverhältnisse,in: F[ranz] Bumm, (Hrsg ): Deutschlands Gesundheitsverhältnisse unter dem Einfluss des Weltkrieges Bd 1 Stuttgart 1928, 27 f Vgl Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd 4 München 2003, 232, schreibt, die Grippe habe die durch den Krieg geschwächte Bevölkerung Europas überfallen und dort 30 Millionen Tote gefordert Ähnlich argumentiert Richard Sautmann, „Dann bleibt er besser an der Front“ Kommunalverwaltung, Kriegsfürsorge und Lebensmittelversorgung in Oldenburg 1914–1918 Oldenburg 2012, 148 f ; Thomas Flemming / Bernd Ulrich, Heimatfront Zwischen Kriegsbegeisterung und Hungersnot – wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg erlebten München 2014, 250; Valeska Martin, Ernährungs- und Kriegswirtschaft in Schwäbisch-Hall während des Ersten Weltkriegs, in: Daniel Stihler / Andreas Maisch (Hrsg ): Schwäbisch-Hall 1914–1918 Eine Stadt und ihre Region im Ersten Weltkrieg Schwäbisch-Hall 2014, 313–330, hier: 330 Deutschsprachige Darstellungen zur Spanischen Grippe sind u a : Wilfried Witte, Tollkirschen und Quarantänen Die Geschichte der Spanischen Grippe Berlin 2008; Manfred Vasold, Die Spanische Grippe Die Seuche und der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2009 Eine weiterführende Bibliographie findet sich u a in Eckard Michels, Die „Spanische Grippe“ 1918/19 Verlauf, Folgen und Deutungen in Deutschland im Kontext des Ersten Weltkriegs In: Vf ZG 58, HF 1 (2010), 1–33, hier: FN 2–11 Vgl Davis, Home (wie Anm 4), 182
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
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Durchschnitt ausreichend“ eben auch bedeuten konnte, dass es häufig zu wenig Nahrungsmittel waren und manche Bevölkerungsteile so gut wie immer zu wenig aßen 9 Neben dem Tod durch Nahrungsmangel – häufig mit der Chiffre der Altersschwäche umschrieben – müssen auch weitere Faktoren wie die Auszehrung durch schwere Arbeit, fehlende Hygiene, Fehlernährung und Kältewellen bei mangelnder Versorgung mit Heizmaterial berücksichtigt werden, um die 424 000 bis 670 000 zusätzlichen Todesfällen während der Kriegsjahre erklären zu können 10 Unstrittig ist, dass sich in den Statistiken des Reiches die negative Entwicklung der Sterblichkeit gut nachvollziehen lässt: Während die Sterblichkeit 1913 noch bei 15 Verstorbenen pro 1 000 Personen lag, stieg sie bereits bis 1915 auf 21,6 und erreichte nach kurzfristigem Sinken 1917 im letzten Kriegsjahr 1918 ihren Höchststand von 24,8 11 Im Wesentlichen fiel das Deutsche Reich damit während des Krieges auf die Sterblichkeit der Jahre 1901 bis 1905 zurück – der Krieg machte in seinen Auswirkungen in der Heimat die Errungenschaften einer Dekade an öffentlicher Gesundheitspflege zunichte 12 Insgesamt bieten die reichsweiten Zahlen jedoch nur wenige Anhaltspunkte für die lokale Ebene: Auf dem Land, wo Subsistenzwirtschaft und hohe Freibeträge für Erzeuger vielfach das Überleben sicherten, war die Lage entspannter Regional unterschiedlich waren die Verhältnisse im viehreichen Süddeutschland etwa gegenüber den Kartoffelregionen West- und Ostpreußens 13 Vor allem aber war die Situation in den Mittel- und Großstädten, die sich am Ende einer langen Versorgungskette befanden und auf Lieferungen aus dem nahen Umland oder auch oftmals aus fernen Regionen angewiesen waren, deutlich kritischer Dort dürfte auch die höchste Zunahme an Sterbefällen aufgetreten sein 14 Für ein tieferes Verständnis der Lebensverhältnisse im 9 10
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Vgl : Offer, Interpretation (wie Anm 3), 48–53 Für Berlin ähnlich Davis, Home (wie Anm 4), 180 Vgl Eckart, Medizin (wie Anm 6), 257 f , 276 f ; Michael Epkenhans, Der Erste Weltkrieg Paderborn 2015, 178 f ; Arnulf Huegel, Kriegsernährungswirtschaft Deutschlands während des Ersten und Zweitem Weltkrieg im Vergleich Konstanz 2003, 636; Offer, Interpretation (wie Anm 3), 34–38, Pöhlmann, Kriegsverbrechen (wie Anm 4), 127 Bereits 1928 wurde die Zahl der mittelbar und unmittelbar mit der Blockade einhergehenden Sterbefälle auf 424 000 berechnet Vgl Roesle, Geburts- und Sterblichkeitsverhältnisse (wie Anm 6), 93 Die Berechnung der Sterblichkeit im Reich erfolgte auf Grundlage der Rohdaten von Tabelle 5, Zeile 4 dividiert durch Zeile 1 multipliziert mit 1 000 Vgl : Roesle, Geburts- und Sterblichkeitsverhältnisse (wie Anm 6), 25 Vgl Offer, Interpretation (wie Anm 3), 38 Vgl Roesle, Geburts- und Sterblichkeitsverhältnisse (wie Anm 6), 60 Vgl Offer, Interpretation (wie Anm 3), 27 Volker Standt behauptet für Köln gar, dass es in der Stadt keine direkten Hungertoten gegeben habe Er begründet dies damit, dass es auch nach dem Waffenstillstand keine Nennung dieser Todesursache gegeben habe, obwohl die Blockade weiterhin andauerte Durch die Revolution habe es aber keinen Grund mehr gegeben, durch Zensur mögliche Todesursachen zu verschweigen – folglich habe es auch während des Krieges keine Hungertoten gegeben Vgl Volker Standt, Köln im Ersten Weltkrieg Veränderungen in der Stadt und des Lebens der Bürger 1914–1918 Göttingen 2014, 675 f Diese Aussage erscheint kaum tragfähig, weil dabei der starke Zusammenhang beispielsweise zwischen der Tuberkulosesterblichkeit und Unterernährung völlig ausgeblendet wird Ferner bleibt Standt eine Erklärung für die von ihm errechneten 4 100 zu-
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Hendrik Schmehl
Reich und der unterschiedlichen Auswirkungen des Krieges auf die Bevölkerung und letztlich auch die Sterblichkeit, ist eine kommunale Perspektive hilfreich, um allgemeine Entwicklungen zu bestätigen und Besonderheiten herauszufinden Die preußische Kurstadt Wiesbaden stellt ein geeignetes Untersuchungsobjekt dar, um die Entwicklung der Sterblichkeit auf kommunaler Ebene zu beobachten Anders als die allermeisten Kurorte verfügte die Stadt über eine großstädtische Bevölkerung von über 100 000 Einwohnern, so dass sich auch eine statistisch relevante Zahl an Todesfällen nachweisen lässt Gleichzeitig war die Kurstadt kaum von Industrie(arbeiterschaft) geprägt und genoss den Ruf als Altersruhesitz pensionierter hoher Beamter und Militärs sowie vermögender Rentiers Gemeinhin galt Wiesbaden als Stadt der Millionäre und mit spöttischem Unterton als „Pensionopolis“ Dies war direkte Folge der städtischen Wirtschaftspolitik Ganz bewusst setzten die fortschrittsliberal geprägte Stadtpolitik auf die Förderung der Kur und die sich daraus ergebende Umwegrentabilität und auf niedrige kommunale Aufschläge auf die Einkommensteuer So war die Stadt mit ihrem milden Klima am südlichen Taunushang ein nicht nur landschaftlich attraktiver Wohnort, sondern auch finanziell 15 Mit Blick auf diese besondere Sozialstruktur Wiesbadens stellt sich die Frage, ob es bei der Entwicklung der Sterblichkeit während des Krieges besondere Auffälligkeiten gegeben hat Problematisch ist die Quellenlage für eine genaue Betrachtung der Sterblichkeit während des Krieges Die Reichsstatistik bietet allenfalls Zugriff auf die Landes- oder in Preußen auch Provinzebene – und dann auch nur als Aggregatdaten für das gesamte Jahr oder für den einzelnen Monat 16 Die erhaltenen städtischen Verwaltungsberich-
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16
sätzlichen zivilen Toten während des Krieges schuldig Zur Bedeutung von Sekundärfaktoren, die bei Unterernährung mittelbar zum Tod führen können – insbesondere Tuberkulose – vgl Elmar Pier, Die Ernährungslage in Deutschland während des Ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit (1914 bis 1923) unter besonderer Berücksichtigung ihres Einflusses auf die Ernährungsphysiologie und die gesundheitliche Situation der Bevölkerung Hannover 1991, 94–96 Der besondere Charakter Wiesbadens wird auch in der Kategorisierung der 42 deutschen Großstädte nach der Berufsstatistik deutlich: Von 42 Städten waren 13 von Bergbau und Industrie geprägt, 13 waren mischfunktionale Städte und 16 fungierten als Dienstleistungsstädte Von diesen 16 Städten gab es nur eine einzige in der Unterkategorie der „Rentnerstädte“ in denen mehr als 20 % der Bevölkerung (ohne Familienangehörige) berufslos waren, also von ihrem Vermögen oder Renteneinnahmen leben konnten Vgl Hans Heinrich Blotevogel, Methodische Probleme der Erfassung städtischer Funktionen und funktionaler Städtetypen anhand quantitativer Analysen der Berufsstatistik 1907, in: Wilfried Ehbrecht (Hrsg ): Voraussetzungen und Methoden geschichtlicher Städteforschung Köln/Wien 1979 (Städteforschung Reihe A, Darstellungen, Bd 7), 217–269, hier 230 Zur weiteren Struktur Wiesbadens vergleiche insbesondere Thomas Weichel, „Wenn dann der Kaiser nicht mehr kommt …“ Kommunalpolitik und Arbeiterbewegung in Wiesbaden 1890–1914 Wiesbaden 1991 (Schriften des Stadtarchivs Wiesbaden, Bd 1), 24, 59, Fußnote 151; Thomas Weichel, Die Bürger von Wiesbaden Von der Landstadt zur „Weltkurstadt“ 1780–1914 München 1997 (Stadt und Bürgertum, Bd 6), 320 f Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich Bd 1920 Berlin 1920 URL: https://www digizeit schriften de/download/PPN514401303_1920/PPN514401303_1920___log10 pdf [Aufruf zuletzt 30 07 2018]
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
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te17 für Wiesbaden sind nur bedingt für vergleichende Aussagen geeignet, da sie nach den Geschäftsjahren der Stadtverwaltung (jeweils von Mai bis April des Folgejahres) gegliedert sind So wurden beispielsweise bei der Zahl der Verstorbenen für 1918/19 auch die ersten Monate des Jahres 1919 mit erfasst Zudem wurde im Mai 1916 die Monatsstatistik eingestellt und nur noch der Jahresbericht mit den entsprechenden Jahreswerten herausgegeben Ferner ist unklar, in welchem Umfang gefallene Soldaten aus Wiesbaden in die Sterbestatistiken mit aufgenommen wurden, was die Auswertung nochmals erschwert Auch die bedeutende Rolle Wiesbadens als Gesundheitsstandort und medizinisches Oberzentrum für das Umland erschwert eine Untersuchung der Entwicklung von statistischen Bevölkerungskennziffern, weil sich Menschen in Wiesbaden zur Behandlung einfanden, hier manchmal verstarben und in die Sterberegister eingetragen wurden Gleiches gilt für die Fremdengäste, von denen auch mancher in Wiesbaden aus den unterschiedlichsten Gründen verstarb Im Prinzip existiert mit den Sterberegistern der Stadt eine geeignete Primärquelle zur Untersuchung der Sterblichkeit in Wiesbaden Dennoch ist eine Auswertung – trotz der Digitalisierung durch das Hessische Landesamt für geschichtliche Landeskunde18 – mühsam Allerdings existiert im Stadtarchiv Wiesbaden eine Accessdatenbank mit allen Sterbefällen zwischen dem 1 Januar 1914 und dem 31 Dezember 1918 Dieser Datensatz enthält neben den Namen und Todesdaten auch die Meldeadresse, das Geburtsdatum sowie teilweise auch den Beruf und Verwandtschaftsverhältnisse Grundsätzlich lassen sich bei den digitalisierten Sterberegistern beliebige Zeiträume von einem Tag, mehreren Wochen oder auch monatsübergreifend definieren, weil mit den Rohdaten der amtlichen Statistik gearbeitet werden kann Diese Quelle ist mangels praktikabler Zugriffsmöglichkeiten bisher kaum genutzt worden Für den vorliegenden Artikel wurden insbesondere Daten auf Monats- oder Quartalsebene verdichtet und so die Lücken der kommunalen Statistik auf Grundlage der Rohdaten ausgeglichen oder mit Blick auf Alterskohorten sogar neue Statistiken erhoben II. Gesamtbilanz der Sterblichkeit in Wiesbaden Laut der Sterberegister der Stadt starben in Wiesbaden zwischen dem 1 Januar 1914 und dem 31 Dezember 1918 insgesamt 10 978 Personen Davon waren 8 593 Zivilisten und 2 385 Soldaten, die im weitesten Sinne in Ausübung ihrer militärischen Pflicht ums Leben gekommen sind Zieht man die Personen ab, die nicht in Wiesbaden ihren Wohnsitz hatten, dann verringert sich die Zahl bei den Zivilisten um 1 121 auf 7 477 Zivilisten und bei den Soldaten um 81 auf 2 304 Ausgehend von diesen Zahlen ergibt 17 18
Verwaltungsbericht der Stadt Wiesbaden für die Zeit vom 1 April 1918 bis 31 März 1919 Wiesbaden 1919, S 11 Vgl : URL: https://www lagis-hessen de/de/subjects/intro/sn/pstr [Aufruf zuletzt 30 07 2018]
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Hendrik Schmehl
sich für Wiesbaden das folgende Bild: Betrachtet man die Entwicklung auf der Zeitachse, dann sank die absolute Zahl der Verstorbenen gegenüber 1914 in den Jahren 1915 und 1916 zunächst leicht und stieg dann sehr stark in den Jahren 1917 und 1918 an Entwicklung Einwohnerzahl und Anzahl der Verstorbenen Quelle: Sterberegister Wiesbaden, Verwaltungsberichte 1914-1918
2000
106000
1800
104000
1600
102000
1400
abs. Zahl
1200
100000
1000
98000
800 600
96000
400
94000
200 0
1914
1915
1916
1917
1918
Zahl der tatsächl ich Verstorbenen
1375
1260
1269
1600
1739
Zahl der Gefallenen
392
571
434
375
527
104922
103280
101045
96533
96970
Einwohner Wi esbaden
92000
Entwicklung der Sterblichkeit 1914-1918
Verstorbe/1000 Einwohner & Index (1914 = 100)
Quelle: eigene Berechnung/ Anne Roehrkohl, Hungerblockade und Heimatfront. Die kommunale Selbstv ersorgung in Westfalen während des Ersten Weltkrieges. Stuttgart 1991, 359
160
30
140
25
120 20
100 80
15
60
10
40 5
20 0
1914
1915
1916
1917
1918
Sterblichkeit Wiesbaden
13,11
12,21
12,58
16,57
17,94
Sterblichkeit Dt. Reich
19,1
21,4
19,3
20,6
24,8
Entwick lung Wiesbaden
100
93
96
126
137
Entwick lung Dt. Reich
100
112
101
108
130
0
115
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
Gleichzeitig sank die Stadtbevölkerung in dieser Zeit um 7,5 Prozent gegenüber 1914, da viele Einwohner die Stadt verließen und andernorts Arbeit suchten Setzt man diese beiden Tendenzen in Bezug zueinander, dann wird deutlich, dass die Sterblichkeit der Wiesbadener Zivilbevölkerung während des Krieges stark anstieg Während 1914 statistisch betrachtet von 1 000 Einwohnern 13,11 Personen starben, waren es 1917 bereits 16,57 und 1918 schließlich 17,94 Zwar lag die Sterblichkeit in Wiesbaden immer noch deutlich unter der Entwicklung für das gesamte Reich, aber dennoch ist ein Anstieg der Sterblichkeit um beinahe 40 Prozent gegenüber 1914 zu verzeichnen Insgesamt spricht die vergleichsweise niedrigere Sterblichkeit für eine bessere Versorgungslage als in anderen Orten des Reiches Sterblichkeit 1914-18 im Vergleich Quelle: Roehrkohl, Hungerblockade, 359
Sterbefälle pro 1000 Einwohner
30 25 20 15 10 5 0
1914
1915
1916
1917
1918
Herne
11,9
16,5
15,6
14,2
19,7
Lüdenscheid
11,6
18
15
15,8
20,8
Biel efeld
13,4
17,7
16,6
14,9
20,8
Wiesbaden
13,11
12,21
12,58
16,57
17,94
15,5
15
15,7
20,2
19,1
21,4
19,3
20,6
24,8
Westfalen Dt. Reich
Allerdings zeigt sich auch, dass die Stadt Wiesbaden während des Krieges eine höhere Sterblichkeit aufwies, als die Industriestädte Herne, Lüdenscheid oder Bielefeld; sie lag sogar über der Sterblichkeit der preußischen Provinz Westfalen Dies könnte auf die insgesamt jüngere Bevölkerung der Industriestädte gegenüber der Kurstadt Wiesbaden zurückzuführen sein, die zum einen über eine bessere Konstitution verfügt haben könnte und zum anderen durch Schwerarbeiterzulagen besser versorgt wurde Für einen höheren Anteil jüngerer Menschen in diesen Städten spricht auch, dass die Sterblichkeit im Jahr 1918 in Wiesbaden niedriger lag als in diesen Städten Angesichts der Spanischen Grippe, die in erster Linie bei jüngeren Menschen tödlich verlief, eine plausible Erklärung, die aber noch an Hand der Daten zu überprüfen ist
116
Hendrik Schmehl
Problematisch bleiben mögliche statistische Verzerrungen, etwa durch die Einberufung eines Teils der männlichen Bevölkerung zum Militärdienst Dies liegt darin begründet, dass Männer vielfach an der Front standen und auch in Friedenszeiten auftretende Sterbefälle in dieser Gruppe nicht als Tod in der Heimat verzeichnet wurden, sondern als Tod im Militärdienst und nicht als natürlicher Tod im zivilen Leben Es macht daher Sinn, die weitere statistische Betrachtung zu differenzieren und nur noch weibliche Todesfälle auszuwerten Hilfreich ist dabei neben den digitalisierten Sterberegistern eine bisher kaum genutzte statistische Auswertung des Reichsgesundheitsamtes aus den Kriegsjahren 19 Mit dieser kann die jährliche absolute Zahl der Sterbefälle unter Frauen in verschiedenen Städten mit den Daten aus den Wiesbadener Sterberegistern verglichen werden Todesfälle unter Frauen in verschiedenen Großstädten Quelle: Sterberegister Wiesbaden, BArch R86/4486 und BArch R86/4487
200%
Todesfälle unter Frauen 1914 = 100%
180% 160% 140% 120% 100% 80% 60% 40% 20% 0% Kassel
19
Darmstad Mühlheim Freiburg t a.d. R i.B.
Karls ruhe
Lübeck
Bochum
Plauen Augsburg Vogtland
BadenBaden
Wiesbade n
1915
104%
95%
101%
114%
115%
109%
89%
90%
95%
119%
92%
1916
106%
102%
120%
115%
117%
109%
89%
95%
100%
105%
95%
1917
116%
127%
123%
134%
123%
124%
91%
103%
107%
135%
120%
1918
151%
133%
162%
150%
146%
147%
129%
168%
131%
183%
142%
Es handelt sich um eine Umfrage des Reichsgesundheitsamtes bezüglich Zahl der zivilen Todesfälle während des Krieges in den Städten mit mehr als 15 000 Einwohnern Dabei wurde auch nach Geschlecht und Todesursache differenziert Seitens der Stadt Wiesbaden liegt keine Meldung vor, stattdessen nur ein Schreiben der Stadtverwaltung mit der Bitte um Übersendung eines zweiten Exemplars des Umfragevordruckes zwecks Beantwortung der Fragen Allerdings ist in der Akte des Reichsgesundheitsamtes keine Meldung enthalten, so dass diese Lücke mit Zahlen aus den Sterberegistern geschlossen werden muss Ausgewählt wurden unter den mehreren hundert Städten diejenigen, die eine ähnlich große Bevölkerungszahl wie Wiesbaden aufwiesen (zwischen 70 000 und 200 000 Einwohnern) Zusätzlich wurde das deutlich kleinere Baden-Baden zwecks Vergleich zu einer Kurstadt ausgewählt Vgl : BArch R86/4487 II 7074: Meldung der Stadt Wiesbaden vom 04 12 1919 Vor dem Hintergrund dieser Quelle ist die Aussage von Aver Offer, nach der es keine ausreichende Datengrundlage zur Sterblichkeit in den Städten gebe, kritisch zu betrachten Vgl Offer, Interpretation (wie Anm 3), 35 f
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
117
Unter den Frauen in den ausgewählten Städten stieg die Zahl der Todesfälle in sehr unterschiedlichem Maße an Wiesbaden lag dabei im Jahr 1917 im unteren Mittelfeld ausgewählter Städte Die Zahl der Sterbefälle unter Frauen nahm gegenüber 1914 jedoch um 20 Prozent zu und stieg damit stärker an als in Augsburg, Plauen und Bochum Noch stärkere Anstiege waren hingegen in Kassel, Darmstadt, Mühlheim a d R , Karlsruhe und Lübeck zu verzeichnen Besonders starke Abweichungen ergaben sich zu Freiburg und Baden-Baden im Jahr 1917 und 1918 Wiesbaden rangierte in der Zunahme der Sterbefälle im unteren Mittelfeld der Vergleichsstädte, was für eine bessere Versorgungslage sprechen könnte Allerdings ist eine Betrachtung der Sterblichkeit allein nach Jahreswerten problematisch Würde man nur die Gesamtzahl der Sterbefälle pro Jahr betrachten, dann könnte man zu dem Fehlschluss gelangen, dass nicht 1917 das schlechteste Versorgungsjahr gewesen sei, sondern 1918, weil in diesem Jahr die Zahl der Sterbefälle und auch die Sterblichkeit insgesamt am höchsten war III: Zeitliche Differenzierung Differenziert man die Zahl der Wiesbadener Sterbefälle weiter nach Jahresquartalen und setzt sie in Bezug zur Zahl der Sterbefälle im jeweiligen Vergleichsquartal des Jahres 1914, dann ergibt sich ein folgendes Bild: Sterbeziffen von Frauen in Wiesbaden 450
Quelle: Sterberegister Wiesbaden
abs. Zahl an Todesfällen
400 350 300 250 200 150 100 50 0
I/14 II/14 III/14 IV/14 I/15 II/15 III/15 IV/15 I/16 II/16 III/16 IV/16 I/17 II/17 III/17 IV/17 I/18 II/18 III/18 IV/18 Todesfälle 170 177 132 182 169 135 127 177 195 144 136 153 233 178 183 198 162 185 202 391
118
Hendrik Schmehl
Sterbeziffen von Frauen in Bezug zum Jahr 1914 Quelle: Sterberegister Wiesbaden
Vergleichsquartal 1914 = 100%
250%
200%
150%
100%
50%
0%
I/15
in Prozent 99%
II/15 III/15 IV/15 I/16 76%
96%
II/16 III/16 IV/16 I/17
II/17 III/17 IV/17 I/18
II/18 III/18 IV/18
97% 115% 81% 103% 84% 137% 101% 139% 109% 95% 105% 153% 215%
Auffällig ist zunächst die deutlich erhöhte Zahl an Sterbefällen im ersten und dritten Quartal des Jahres 1917 sowie der massive Anstieg im vierten Quartal 1918 gegenüber den Vergleichsquartalen des Jahres 1914 Für die erhöhten Zahlen 1917 lassen sich zwei Argumente zur Erklärung anführen: Die Sterbezahlen nahmen mit der Verschlechterung der Versorgungslage in Wiesbaden deutlich zu Diese Beobachtung deckt sich auch mit den Berichten der Stadtverwaltung und der Zeitungsberichterstattung Die Berichte des Regierungspräsidenten sprachen im April 1917 ebenfalls von einer zunehmenden Sterblichkeit, insbesondere bei älteren Menschen, und von sichtbaren Zeichen der Unterernährung bei der Bevölkerung der Großstädte Frankfurt und Wiesbaden 20 Auffällig bleibt aber, dass die Zahl der Sterbefälle im zweiten Quartal 1917 nicht sogar knapp niedriger ausfiel als im Folgejahr 21 Dies ist verwunderlich, weil die Versorgungslage im zweiten Quartal 1918 deutlich besser war als im Vergleichszeitraum des Vorjahres So stellte der Zeitraum ab dem April 1917 sogar die schwierigste Phase der Versorgungslage der Stadt Wiesbaden dar Während dieses Zeitraums brach die bis dahin noch auf niedrigem Niveau funktionierende Kartoffelversorgung zeitweise 20 21
Vgl : Zeitungsbericht des Wiesbadener Regierungspräsidenten vom 23 04 1917, in: Thomas Klein (Hrsg ), Die Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an Seine Majestät 1867– 1918 Bd 2 Darmstadt/Marburg 1996, 1113 Der Wert entspricht sogar fast dem Niveau von 1914 Da es sich aber um die absolute Zahl an Verstorbenen handelte und die Bevölkerung Wiesbadens 1917 erheblich niedriger gewesen ist als 1914, ergibt sich dennoch eine erhöhte Sterblichkeit Gegenüber 1918 veränderte sich die Bevölkerungszahl jedoch kaum noch und die Zahl der Verstorbenen war ähnlich hoch wie 1917, eine statistische Verzerrung liegt also nicht vor
119
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
zusammen und die Stadtverwaltung musste auf ihre Vorräte an Nährmitteln zurückgreifen 22 Daher drängt sich die Frage auf, warum während der besseren Versorgungsphase im ersten Quartal 1917 mehr Menschen starben als im zweiten Quartal 1917 mit deutlich schlechterer Versorgungslage Differenziert man weiter nach Monaten, dann bestätigt sich diese Tendenz: Sterbeziffern von Frauen 1917 und 1918 Quelle: Sterberegister Wiesbaden
abs. Zahl der Todesfälle
120 100 80 60 40 20 0 Anzahl 1917
Januar 54
Februar 102
März 77
April 62
Mai 69
Anzahl 1918
53
47
62
59
58
So war in der Phase ab April 1917 die Zahl der Todesfälle absolut betrachtet fast genauso hoch, wie im Folgejahr mit deutlich besserer Versorgungslage Die deutlichste Abweichung zwischen den beiden Jahren ergab sich sogar in den Monaten Februar und März 1917, also dem Zeitraum, in dem die Versorgungslage gegenüber dem Monat April noch relativ gut war Selbst die langsame Auszehrung durch niedrige Rationen erklärt die fast gleich hohen Todeszahlen im April bis Mai 1917 und 1918 nicht Denn dann müsste die Zahl der Todesfälle im ersten Quartal 1917 niedriger sein und langsam ansteigen, um im April 1917, als die Kartoffeln endgültig ausgingen, ihren Höhepunkt zu erreichen Das Gegenteil jedoch war der Fall: Die höchste Zahl an Sterbefällen trat im Februar 1917 auf – demnach zu einem Zeitpunkt, als noch viele Menschen über Kartoffelvorräte verfügten und auch seitens der Stadt noch niedrige Rationen ausgegeben werden konnten Warum explodierte die Zahl der Sterbefälle nur im Februar 1917, sank im März deutlich ab und bewegte sich ab dem April auf dem Niveau des Jahres 1918, obwohl die Versorgungslage insbesondere ab April 1917 deutlich schlechter war als im April 1918? Diese Beobachtung widerspricht der Aussage, die Menschen seien im Winter 1916/17 verhungert, und das Sterben sei im Frühjahr 1917 deshalb weitergegangen, weil die Unterernährung der Menschen nicht mehr zu beheben gewesen sei 23 22 23
Schmehl, Ehrenschild (wie Anm 1), 338–350 Vgl Sven Felix Kellerhoff, Heimatfront Der Untergang der heilen Welt – Deutschland im Ersten Weltkrieg Köln 2014, 237
120
Hendrik Schmehl
Fakt ist, dass die angespannte Versorgungslage 1917 mit zwei weiteren Faktoren zusammenfiel: Zum einen herrschte zwischen dem 20 Januar und Ende Februar eine beinahe durchgehend strenge Frostperiode Die Tiefsttemperaturen um 7 Uhr morgens lagen teilweise im zweistelligen Minusbereich; der kälteste Morgen war der 4 Februar 1917 mit 14,9 °C unter null Selbst um 14:00 Uhr mittags erreichte das Thermometer selten mehr als wenige Grad über null – am 4 Februar lag die Temperatur selbst am Mittag noch bei −7,5 °C 24 Zum anderen trat parallel zur langanhaltenden Kältewelle ein erheblicher Mangel an Heizmaterial auf Hauptursache für den Kohlenmangel war der anhaltende Frost, der die Nutzung der Binnenschifffahrt massiv behinderte Hinzu kam die Beschlagnahme von für Wiesbaden bestimmte Kohlen durch die Militärbehörden und der generelle Mangel an Transportkapazitäten bei der Eisenbahn Dadurch fiel die Lieferung eigentlich zugesagter Kohlen aus, so dass bereits zum 31 Januar 1917 erste Einschränkungen bei der Beheizung öffentlicher Gebäude vorgenommen werden mussten 25 Am 7 Februar wurde mitgeteilt, dass auf Grund von Verkehrsstockungen auf absehbare Zeit keine Kohlen mehr nach Wiesbaden kommen würden Die geringen Vorräte reichten lediglich, um einen bereits deutlich reduzierten Bedarf von acht Tagen zu decken Durch weitere drastische Maßnahmen wie die Schließung des Kaiser-Friedrich-Bades, des Kurhauses sowie sämtlicher Schulen konnte der Wochenverbrauch nochmals um 3 000 Zentner gesenkt werden, was aber gleich durch einen erhöhten Bedarf bei den Sanatorien, Lazaretten und Krankenhäusern aufgezehrt wurde, die sich bisher durch den freien Handel versorgt hatten Aus diesem Grund erließ der Magistrat am 9 Februar eine Verbrauchsregelung für Kohlen und beschlagnahmte alle Vorräte, die über zehn Tage hinausgingen – auch in den Privathaushalten Durch Bezugsscheine wurden Kohlen dann an denjenigen Teil der Bevölkerung abgegeben, der keine Kohlen mehr zur Verfügung hatte, was wiederum alle sieben Tage durch Angabe der Vorräte kontrolliert wurde Durch diese Maßnahme konnten die Brotproduktion und die Heizung der Lazarette aufrecht erhalten werden – in den allermeisten Privathaushalten dürfte jedoch nur noch ein einziger Raum beheizbar gewesen sein, so auch Oberbürgermeister Glässing in seiner Rede in der Stadtverordnetenversammlung im Februar 1917 In ärmeren Familien war selbst dies kaum gesichert, weshalb der Magistrat die Volksschulen so lange wie möglich von der Schließung ausnahm und dort einen Raum heizen ließ 26 Das 24 25
26
Vgl Stadtarchiv Wiesbaden (künftig: StAWi) V48, Nr 103: Tagebücher Wiesbaden Meteorologische Station II Ordnung 1917 Betroffen waren davon die höheren Schulen, zwei Mittelschulen, die Gewerbe- und Kaufmannsschule, die Landesbibliothek, das Krematorium Im Museum – in dem auch die Nähwerkstatt untergebracht war – wurde die Heizung minimiert Vgl : StAWi MAG Nr 154: Magistratsbeschluss vom 31 01 1916 Vgl : StAWi MAG, Nr 154: Magistratsbeschluss vom 31 01 1916; StAWi StVV, Nr 66: Protokoll der Stadtverordnetenversammlung vom 16 02 1917 Allgemein zum Kohlemangel in Wiesbaden vergleiche StAWi WI/2, Nr 2573
121
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
Wiesbadener Tagblatt hielt fest: „Hunderte von Familien in Wiesbaden […] sitzen kalt, haben weder Koks zum Heizen noch Kohle zum Kochen 27“ In der Zeit vom 13 Februar bis zum 2 März 1917 wurde nachmittags die Gasabgabe auf Grund von Kohlenmangel eingestellt 28 In der Phase der tiefsten Temperaturen in einen außergewöhnlich kalten Winter trat ein eklatanter Mangel an Heizmaterial auf Betrachtet man die Zahl der Sterbefälle und die Durchschnittstemperatur der Monate Januar bis März zusammen, dann zeigt sich eine interessante Parallelität: Ø -Temperatur und Zahl der Sterbefälle Jan-März 1917/18 Quelle: Sterberegister Wiesbaden, eigene Auswertung und StAWi V48, Nr.103
Zahl der Todesfälle/Temperatur in C°
120
3 2
100
1
80
0
60
-1 -2
40
-3
20 0
-4 Januar -0, 84
Februar -3, 98
März 0, 85
Anzahl 1917
0, 37 54
2, 05 102
2, 3 77
Anzahl 1918
53
47
62
Ø-Temp. 1917 Ø-Temp. 1918
-5
Die höchste Zahl der Sterbefälle und die stärkste Abweichung gegenüber 1918 trat im Monat Februar 1917 auf – also in der Phase, als die durchschnittliche Temperatur weit im Minusbereich lag und gleichzeitig deutlicher Mangel an Heizmaterial bestand Im Januar 1917 starben beinahe genauso viele Frauen wie im Januar 1918 und im März 1917 lag der Wert um ein Viertel höher als 1918 Entscheidend ist jedoch die mehr als doppelt so hohe Zahl an Todesfällen im Februar 1917 gegenüber dem Vergleichsmonat des Folgejahres Gleichzeitig bestand im Februar der stärkste Unterschied zwischen den beiden Jahren bei den Temperaturen Dies ist ein Indiz für einen starken Zusammenhang zwischen den niedrigen Außentemperaturen und der steigenden Zahl der Todesfälle – stärker noch, als die eigentliche Versorgungslage, weil die für die Ernährung
27 28
Wiesbadener Tagblatt, 17 02 1917, Nr 88: „Aus dem Stadtparlament“ Vgl : Verwaltungsbericht 1916/17, 37; Verwaltungsbericht 1917/18, 39 f
122
Hendrik Schmehl
zentrale Kartoffelversorgung in Wiesbaden erst im April 1917 zusammengebrochen ist Gleichwohl würde die Aussage, die Menschen seien 1917 weniger verhungert, sondern erfroren, zu kurz greifen Vielmehr sind die indirekten Auswirkungen der Kälte und des Mangels an Heiz- und Brennmaterial (auch zum Kochen!) bei gleichzeitiger Unterversorgung zu betrachten: Manche Lebensmittel – wie Kartoffeln – werden durch das Kochen überhaupt erst genießbar, bei anderen Lebensmitteln erleichtert das Kochen die Aufnahme der Nährstoffe im Körper Letzteres gilt insbesondere für pflanzliche Nahrungsbestandteile 29 Der Mangel an Brennmaterial in den Hauhalten wirkte sich auch auf die Kochmöglichkeiten aus, so dass die Verwertung der Nährstoffe in den ohnehin schon kargen Rationen reduziert wurde Der zweite Aspekt liegt in der Kombination aus Kälte und Nahrungsmangel Der menschliche Körper braucht einen funktionierenden Stoffwechsel um seine Körpertemperatur aufrecht zu erhalten Fehlt es an Nahrung, dann fällt es dem Körper schwerer, seine Temperatur zu halten und es droht ein schnelles Auskühlen des Körpers 30 Nicht zuletzt sorgte die extreme Kälte auch dafür, dass Kartoffelvorräte in den Vorratskellern leicht Frostschäden erleiden konnten Im ungleich wärmeren Winter 1918 bat eine Bürgerin, deren Kartoffelvorräte im Keller erfroren waren, den Magistrat um Zusatzbrotmarken und klagte: „Bei dem Rest der mir zusteht muss ich verhungern […] daß mir die Kartoffeln erfroren sind ist ein Fehler, der aber doch nicht mit dem Tode bestraft werden kann 31“ Es ist anzunehmen, dass sich im kalten Februar 1917 ähnliche Vorfälle gehäuft haben und die Situation weiter verschärften – obwohl die Stadtverwaltung Frostschäden an städtischen Kartoffeln finanziell ersetzte 32 Der Mangel an Brennmaterial und die außergewöhnliche Kälte wirkten demnach als Katalysator und trieben in Kombination mit dem Nahrungsmangel die Zahl der Sterbefälle zusätzlich nach oben Die ebenfalls statistisch nachweisbare Zunahme an Sterbefällen im 3 Quartal des Jahres 1917 erklärt sich hingegen weniger aus einer unzureichenden Versorgung, sondern dürfte zu erheblichen Teilen auf die zwischen Mai und September in der Stadt ausgebrochene Ruhrepedemie zurückzuführen sein 33
29
30
31 32 33
Vgl Gunther Hirschfelder, Europäische Esskultur Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute Frankfurt am Main 2001, 209–234 Dies gilt insbesondere für wichtige Spurenelemente und Vitamine Vgl Christine Hotz / Rosalind Gibson, Traditional Food-Processing an Preparation Practices to Enhance the Bioavailability of Mocrinutrients in Plant-Based Diets In: The Journal of Nutrition 137 (2007) H 4, 1097–1100 URL: http://jn nutrition org/content/137/4/1097 long [Zugriff zuletzt am 30 05 2016] Zum Zusammenhang von Unterernährung und sinkender Körpertemperatur (Hypothermie) vgl : John Butterly, Jack Shepherd, Hunger The Biology and Politics of Starvation Hanover/London 2010 (Geisel Series in Global Health and Medicine), 165 Zudem auch: Flemming/Ulrich, Heimatfront (wie Anm 7), 163 StAWi WI/2, Nr 2584, Bl 7: Schreiben an den Magistrat vom 06 05 1918 Vgl : StAWi MAG Nr 154: Magistratsbeschluss 1253a vom 20 12 1916 Der Bericht des Regierungspräsidenten spricht alleine für Wiesbaden von 523 Erkrankten und 64 Todesfällen Die Dunkelziffer dürfte entsprechend höher gelegen haben Vgl : Zeitungsbe-
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
123
IV. Spanische Grippe und Sterblichkeit nach Alterskohorten Ebenso scheinen sich die Berichte über eine bessere Versorgungslage im Jahr 1918 zu bestätigen, da die Zahl der Sterbefälle im ersten und zweiten Quartal des Jahres niedriger lagen als 1917 Statistische Verzerrungen sind dabei nicht zu erkennen, da die Wiesbadener Bevölkerung 1918 in etwa gleich groß gewesen ist wie im Jahr zuvor Erst ab dem dritten Quartal überstieg die Zahl der Todesfälle die Werte des Vorjahres und im vierten Quartal 1918 schnellten sie so explosionsartig nach oben, dass angesichts der zu diesem Zeitpunkt tendenziell guten Versorgungslage kaum auf Hunger und Unterversorgung als Ursache verwiesen werden kann Stattdessen könnte hierbei die Spanischen Grippe von zentraler Bedeutung sein: In Wiesbaden selbst taucht das „spanische Fieber“ erstmals im Juli 1918 nachrichtlich durch Berichte über Fälle in London und durch einzelne leichte Fälle in der Stadt selbst auf, wurde von der Presse aber als ungefährlich eingeschätzt 34 Im Oktober berichtete die Wiesbadener Zeitung dann schon von Einschränkungen bei der Post Zum Beginn des Novembers war die Krankheit schließlich auch in Wiesbaden weit verbreitet und es wurde geraten, Menschenansammlungen möglichst zu meiden 35 Zumindest für Wiesbaden scheint sich damit nicht zu bestätigen, dass die deutsche Zivilbevölkerung bereits im Juli 1918 besonders stark von der Grippe betroffen war Auch wenn Wiesbaden sich von der reichsweiten Entwicklung zu unterscheiden scheint, ist damit keinesfalls der bisherige Erkenntnisstand zur Spanischen Grippe zur Disposition gestellt Im Gegenteil, vielmehr bestätigt sich erneut, dass die Krankheit je nach Region und Ort teilweise deutlich unterschiedliche Verläufe nahm 36 Bestätigen lässt sich ebenfalls, dass die zweite Grippewelle ab August die Stadt ebenso wie das Reich traf – dies deckt sich mit den entsprechenden Presseberichten der Lokalzeitungen Auch wenn die zweite Welle nicht so viele Menschen erkranken ließ wie die erste Welle im Frühjahr, so war sie doch die aggressivste Phase, der etwa 64 Prozent der insgesamt an der Grippe Verstorbenen zum Opfer gefallen sein sollen 37 Deutlich zeigt sich, wie die Sterbeziffern im letzten Quartal 1918 in Wiesbaden massiv anstiegen und mehr als doppelt so hoch lagen wie im Jahr 1914 – bei einer gesunkenen Gesamtbevölkerungszahl wohlgemerkt Unterscheidet man weiter nach den einzelnen Monaten von September bis Dezember, dann zeigt sich für die Jahre 1917 und 1918 folgendes Bild:
34 35 36 37
richt des Wiesbadener Regierungspräsidenten vom 27 10 1917 In: Klein, Zeitungsberichte (wie Anm 20), 1117 Vgl Wiesbadener Zeitung, 01 07 1918, Nr 328: „Das spanische Fieber“; Wiesbadener Zeitung, 02 07 1918, Nr 330: „Das spanische Fieber“ Vgl Wiesbadener Zeitung, 09 10 1918, Nr 514: „Beschränkung der Postbestellungen in Folge der Grippe“; Wiesbadener Tagblatt, 07 11 1918, Nr 321: „Schutz gegen die Grippe“ Vgl Michels, Grippe (wie Anm 7), 10 f , 18 f Vgl Michels, Grippe (wie Anm 7), 16; Eckart, Medizin (wie Anm 6), 196
124
Hendrik Schmehl
Zahl der Sterbefälle 1917/1918 in Wiesbaden Quelle: StAWi Sterberegister
350
abs. Zahl der Fälle
300 250 200 150 100 50 0
Oktober
November
Dezember
106
121
114
127
1918
111
327
159
168
abs. Zahl an Sterbefällen/Alter in Jahren
September
1917
Zahl der Sterbefälle und Durchschnittsalter der Verstorbenen Quelle: StAWi Sterberegister
120
70
100
60 50
80
40
60
30
40
20
20 0
10 1.-7. Ok t.
8.-14. Okt.
15.-21. Okt.
22.-31. Okt.
1.-7. Nov.
8.-14. Nov.
1917
23
27
32
39
19
28
1918
47
93
99
88
44
33
Ø-Alter 1917
59,4
61,7
60,2
58,2
55,4
63
Ø-Alter 1918
45
45,8
40,2
44,1
50,4
47,5
0
Demnach lag der eigentliche Schwerpunkt der Grippeepidemie im Oktober 1918, deren Ausläufer jedoch auch in den Folgemonaten noch zu spüren gewesen sein dürften Die Zahl der Sterbefälle hatte sich auf dem Höhepunkt der Krankheitswelle Anfang Oktober 1918 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdreifacht 38 Gleichzeitig sank das Durchschnittsalter der Verstorbenen deutlich ab Dieses lag zwischen 40 und 45 Jah-
38
In Worms hatte sich die Zahl der Sterbefälle im Zeitraum vom 16 10 –04 11 1918 sogar fast verachtfacht, in Wiesbaden hingegen lag der Wert hingegen bei unter 300 Prozent Vgl : Gerold Bönnen: Worms 1914 bis 1918 Annährung an einen vergessenen Krieg, in: Gerold Bönnen (Hrsg ): „Eine furchtbar ernste Zeit …“ Worms, die Region und der „Große Krieg“ 1914 bis 1918 Worms 2014 (Der Wormsgau, Beiheft 41), 12–133, hier 98
125
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
ren, während es im Vorjahreszeitraum bei durchschnittlich 60 Jahren gelegen hatte Hier deutet sich bereits an, dass der Spanischen Grippe tendenziell eher jüngere Menschen zum Opfer fielen als ältere – auf diesen Aspekt wird noch weiter einzugehen sein Grundsätzlich von Interesse ist auch die Frage, wie sich die Sterblichkeit in den verschiedenen Altersgruppen entwickelte Wirkten sich Hunger, Mangel und Grippe gleichermaßen auf alle aus oder waren in erster Linie ältere Menschen und Kinder betroffen? Auf Grund der vorhandenen Quellen ist eine fundierte Darstellung der Sterblichkeit nach Altersgruppen in Wiesbaden nicht möglich, da unklar ist, wie sich die Wiesbadener Bevölkerung in ihren Altersgruppen während der jeweiligen Kriegsjahre zusammensetzte Auch die Altersanalyse der letzten Volkszählung im Reich aus dem Jahr 1910 eignet sich nur bedingt, da die Stadt im Krieg erheblich unter Abwanderung zu leiden hatte und bereits zwischen 1910 und 1914 um fast 5 000 Einwohner geschrumpft war Daher kann an dieser Stelle nur die Entwicklung der absoluten Sterbezahlen berücksichtigt werden Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass der Entwicklung, vor allem in den Altersgruppen der jüngeren erwerbstätigen Bevölkerung zwischen 16 und 50 Jahren, eine starke Abwanderung dieser Altersgruppe gegenüber stand Bei einer sinkenden Zahl an Menschen dieser Altersgruppe in der Stadt – die mangels Quellen nicht erhoben werden kann – würde bereits eine gleichbleibende und gegebenenfalls sogar eine sinkende Zahl an Sterbefällen in dieser Kohorte eine gestiegene Sterblichkeit bedeuten Zahl der Sterbefälle unter Frauen nach Quartal und Alter Quelle: Sterberegister Wiesbaden 250
abs. Zahl der Fälle
200
150
100
50
0
I/16
II/16
III/16
IV/16
I/17
II/17
III/17
IV/17
I/18
II/18
III/18
5-16 Jahre
9
3
5
1
9
8
18
6
9
6
9
IV/18 28
16-35 Jahre
23
24
12
19
15
23
19
14
15
28
27
95
35-50 Jahre
24
20
21
20
34
22
29
27
19
27
32
60
über 50 Jahre
127
91
92
106
172
113
95
142
118
116
122
194
Die bereits beschriebenen Höhepunkte bei der Zahl der Sterbefälle lagen im ersten und vierten Quartal 1917 sowie insbesondere im letzten Quartal 1918 Allerdings stieg die Zahl der Verstorbenen nicht in allen Alterskohorten gleichermaßen stark Am
126
Hendrik Schmehl
stärksten fiel die Steigerung in den kritischen Monaten im ersten Quartal 1917 in den Gruppen der 35- bis 50-Jährigen und über 50 Jahren aus, währenddessen die Alterskohorte zwischen 16 und 35 Jahren niedrigere Sterbeziffern aufwies als in im Jahr 1916 Die Zahl der Toten in der Altersgruppe 5 bis 16 Jahren war gegenüber dem Vorjahr annähernd gleich hoch Auch ein Bericht über den Gesundheitszustand der Bevölkerung im Regierungsbezirk Wiesbaden – zu dem neben der Stadt Wiesbaden auch die Stadt Frankfurt, der Rheingau, das Lahntal und Teile des Westerwaldes gehörten – passt zu diesen Erkenntnissen aus den Sterberegistern der Stadt Wiesbaden Demnach seien vor allem Frauen aus der städtischen Unterschicht von den gesundheitlichen Folgen wie etwa fehlender Gewichtszunahme oder sogar Abnahme betroffen, was aber auch an dem erhöhten Arbeitseinsatz dieser Gruppe gegenüber Friedenszeiten liege Starke Gewichtsverluste von bis zu 30 Kilogramm seien vor allem in der Gruppe zwischen 30 und 60 Jahren zu verzeichnen gewesen, allerdings weniger bei der arbeitenden Bevölkerung, sondern bei jenen, die „früher einer gewissen Luxusernährung gehuldigt haben39“ Außer Ermüdung und Abspannung seien aber kaum Auswirkungen auf das Allgemeinbefinden zu verzeichnen gewesen Anders hingegen sehe die Entwicklung bei der älteren Bevölkerung sowie kranken Personen aus Erstere wiesen nur eine geringe Widerstandsfähigkeit auf, so dass Krankheiten einen schnelleren und ungünstigeren Verlauf nahmen Auch mache sich der Mangel an Fett und Eiweiß vor allem bei der älteren Bevölkerung in den unterversorgten Städten bemerkbar Bei den chronisch Kranken sei insbesondere die Lungentuberkulose eine Gefahr, die mangels ausreichender Nahrungsmittelversorgung häufiger tödlich verlaufe 40 Auch Erfahrungen früherer Zeiten sowie Berichten aus anderen Orten weisen auf die höhere Sterblichkeit der Altersgruppe der über 50-jährigen in Zeiten der Unterversorgung hin 41 Hierzu gibt es zwei wesentliche Erklärungsansätze: Ältere Menschen lebten häufiger alleinstehend als jüngere Menschen mit ihren Familien Letztere bildeten eine Bedarfsgemeinschaft, in der bei einem kritischen Gesundheitszustand ein interner Ausgleich der Lebensmittelmenge vorgenommen werden konnte – etwa indem sich alle für das kranke oder besonders unterernährte Familienmitglied zurücknahmen und einen Teil ihrer Ration abgaben So konnte unter Umständen und für einen begrenzten Zeitraum auf einen individuellen Bedarf eingegangen werden, der über
39 40 41
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (künftig: HHStAW), Abt 450, Nr 6358, Bl 135–138: Bericht über den Gesundheitszustand im Regierungsbezirk Wiesbaden von Dr von Hake vom 18 04 1917 Vgl HHStAW, Abt 450, Nr 6358, Bl 135–138: Bericht über den Gesundheitszustand im Regierungsbezirk Wiesbaden von Dr von Hake vom 18 04 1917 Spätestens durch die Hungerkatastrophe in Irland im 19 Jahrhundert ist bekannt, dass vor allem Kinder und Alte zu den Opfern von Unterernährung gehören Vgl Butterly/Shepherd, Hunger (wie Anm 30), 119 Auch in Gießen ließ sich im Ersten Weltkrieg feststellen, dass vor allem ältere Frauen Opfer des Hungerwinters wurden Vgl : Ludwig Brake, Gefangen im Krieg: Gießen 1914–1919 Marburg 2014, 208 f
127
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
abs. Zahl/Prozent im vgl. zu IV/1914
den offiziellen Rationen des Einzelnen lag Alleinstehende ältere Menschen hatten diese Möglichkeit hingegen nicht Auch konnten Bedarfsgemeinschaften bei Kosten für Heizung und Kochmaterial sparen, weil diese Fixkosten auf mehr Familienmitglieder umgelegt wurden – ob der einzige beheizte Raum von einer oder fünf Personen genutzt wurde, machte dabei keinen Unterschied 42 Ebenso konnte die schwierige Nahrungsbeschaffung auf mehrere Personen verteilt werden Der zweite Erklärungsansatz könnte darin liegen, dass der extrem kalte Winter 1916/17 besonders starke Auswirkungen auf ältere Menschen hatte Klassische Erkältungskrankheiten bis hin zur Lungenentzündung stellen gerade für die ältere Bevölkerung ein erhebliches Risiko dar Eine entsprechende Auswirkung auf die Mortalität der Bevölkerung insgesamt wird ohnehin angenommen Auch begünstigte Unter- und Mangelernährung die Anfälligkeit für opportunistische Krankheiten, die normalerweise nicht zum Tod führten 43 Für das vierte Quartal 1918 bestätigt sich die Annahme, dass die Spanische Grippe starke Auswirkungen auf die Sterbeziffer in den einzelnen Altersgruppen hatte und vor allem bei den jüngeren, kräftigen Menschen einen tödlichen Verlauf nahm 44 Auch hier lohnen sich ein detaillierter Blick und ein Vergleich zwischen 1914 und 1918
Todesfälle unter Frauen über 5 Jahren in Wiesbaden in den Quartalen IV/1914 und IV/1918 Quelle: Sterberegister Wiesbaden
250
600%
200
500%
43
44
300%
100
200%
50 0
100% 5-16 Jahre
16- 35 Jahre
35- 50 Jahre
über 50 Jahre
IV/1914
15
18
19
122
IV/1918
28
93
60
192
187%
517%
316%
157%
in % zu 1914
42
400%
150
0%
Vgl Sautmann, Kommunalverwaltung (wie Anm 7), 148 Auf diesen Umstand wies bereits Max Rubner hin Vgl Max Rubner, Der Gesundheitszustand im Allgemeinen In: Franz Bumm: Deutschlands Gesundheitsverhältnisse unter dem Einfluss des Weltkrieges Stuttgart [u a ] 1928, 78 Vgl Roesle, Geburts- und Sterblichkeitsverhältnisse (wie Anm 6), 23; Butterly/Shepherd, Hunger (wie Anm 30), 214–216 Pier verweist in dem Zusammenhang auf die Warteschlangen, die sich vor Lebensmittelgeschäften bildeten und in denen zumeist Frauen über längere Zeiträume bei widriger Witterung warten mussten Vgl Pier, Ernährungslage (wie Anm 14), 96 Vgl Michels, Grippe (wie Anm 7), 16 f
128
Hendrik Schmehl
Zwar stieg die Zahl der Sterbefälle im vierten Quartal 1918 in allen Altersgruppen stark an, aber vergleicht man die absolute Zahl mit den Sterbeziffern des vierten Quartals 1914, dann zeigt sich, dass die Zuwachsraten sehr unterschiedlich ausfielen: Während die Zahl der Todesfälle bei Mädchen unter 16 Jahren um ca 90 Prozent und bei Frauen über 50 Jahren nur um ca 60 Prozent höher lag als 1914, verfünffachte sich der Wert in der Altersgruppe zwischen 16 und 35 Jahren Auch die Alterskohorte von 35 bis 50 Jahren wies eine über drei Mal so hohe Zahl an Todesfällen auf Damit bestätigt sich die Erkenntnis, dass die Spanische Grippe für die älteren Bevölkerungsteile weniger fatale Auswirkungen hatte als für junge Erwachsene, die eigentlich den Teil der Bevölkerung mit der besten gesundheitlichen Konstitution bilden 45 Für die Übersterblichkeit der jüngeren Altersgruppen gibt es verschiedene Erklärungsansätze, die aber letztlich alle nicht zu einer befriedigenden Antwort führen Eine Immunisierung der älteren Bevölkerungsteile durch die Grippewelle von 1890 oder eine Überreaktion des Immunsystems bei jüngeren Menschen scheinen keine sichere Erklärung zu sein Auch in der Hungerblockade selbst liegt keine Erklärung, weil dann nicht die gesundheitlich robusteren Alterskohorten so stark betroffen gewesen wären, sondern eher alte Menschen und Kinder 46 Jüngst wurde auch auf eine statistische Unschärfe verwiesen: Die Spanische Grippe wurde vor allem bei Soldaten als tatsächliche Todesursache eingetragen, während in der Heimat andere opportunistische Infektionen vermerkt wurden und deshalb die Spanische Grippe als eigentliche Todesursache nicht statistisch erfasst wurde In der Konsequenz führt dies bei der erkannten Todesursache Spanische Grippe zu einer statistischen Überrepräsentation junger Männer Daraus leite sich der Fehlschluss ab, die Grippe habe vor allem junge Menschen betroffen 47 Zwar sind in der Access-Datenbank der Wiesbadener Sterberegistern nicht die Todesursachen48 erfasst, aber die deutlich unterschiedliche Zunahme der Sterbefälle in den jeweiligen Alterskohorten und die geradezu explodierenden Zahl an Todesfällen im Alter zwischen 16 und 35 Jahren kann auch dieser Verweis auf die statistischen Besonderheiten nicht auflösen, zumal aufgrund der Problematik der
45 46
47 48
Vgl Offer, Interpretation (wie Anm 3), 37 Als Erklärung wird eine Überreaktion des Immunsystems, ein sogenannter „Zytokinsturm“ angeführt, bei dem das Lungengewebe massiv angegriffen wurde Davon seien insbesondere die jüngeren Alterskohorten betroffen gewesen, da diese über das schlagkräftigste Immunsystem verfügten So gesehen habe die allgemeine Schwächung der Gesamtbevölkerung durch Unterernährung die älteren Bevölkerungsteile vor einer Überreaktion des Immunsystems geschützt Vgl : Michels, Grippe (wie Anm 7), 17 Der Medizinhistoriker Wolfgang Eckart widerspricht dieser These jedoch Vgl Eckart, Medizin (wie Anm 6), 207 f Vgl Eckart, Medizin (wie Anm 6), 208 Abhilfe könnten die vier Bände der Leichenhallenregister des Alten Friedhofs und des Nordfriedhofs schaffen Allerdings sind die Bände mit über 12 000 Datensätzen und der Laufzeit von 1901–1925 nicht nach Jahren, sondern alphabetisch sortiert Deshalb wurde auf eine Auswertung verzichtet Eine Digitalisierung der Daten wäre auch hier hilfreich
129
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
eingezogenen Soldaten nur die Todesfälle bei Frauen betrachtet wurden Der massive Anstieg der Todesfälle insgesamt sowie die deutliche Überrepräsentation der Altersgruppe zwischen 16 und 35 Jahren lässt sich nur mit der Spanischen Grippe erklären Insgesamt wird reichsweit von einer Übersterblichkeit durch die Grippe in Höhe von 4,5 Promille ausgegangen, dies entspricht etwa 300 000 zusätzlichen Todesfällen Auf Wiesbaden, mit seinen 97 000 Einwohnern im Jahr 1918, übertragen würde dies in etwa 437 Grippetote bedeuten, wobei in den Städten eher von höheren Fallzahlen auszugehen ist 49 Die Sterberegister lassen auch eine Auswertung nach Beruf und damit nach gesellschaftlichem Stand zu, auch wenn sich die Fallzahlen dann von 7 477 auf lediglich 3 615 halbieren Dies liegt daran, dass vor allem bei verstorbenen Kindern, aber auch bei Rentnern und Privatiers keine eindeutige Zuordnung zu den Kategorien Unter-, Mittel- und Oberschicht möglich ist 50 Todesfälle nach gesellschaftlichem Stand Quelle: Sterberegister Wiesbaden, eigene Auswertung
600 500
abs. Zahl
400 300 2 00 100 0
49
50
1914
1915
1916
1917
1918
Unterschicht
344
303
353
451
549
Mittelschicht
199
174
195
2 38
2 69
Oberschicht
104
94
93
119
129
Vgl Eckart, Medizin (wie Anm 6), 208 f Osnabrück mit ca 80 000 Einwohnern zählte 508 Grippetote Vgl Ulrich Mühlenhoff, Ernährungssituation der Osnabrücker Bevölkerung im Ersten Weltkrieg, in: Rolf Spilker (Hrsg ): Eine deutsche Stadt im Ersten Weltkrieg Osnabrück 1914–1918 Bramsche 2014, 114–132, hier: 130 Die Einordnung in die verschiedenen Kategorien folgt der Vorgehensweise von Chickering in seiner Studie zu Freiburg Vgl Roger Chickering, Freiburg im Ersten Weltkrieg Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914–1918 Paderborn [u a ] 2009, 569
130
Hendrik Schmehl
Entwicklung Todesfälle nach gesellschaftlichem Stand Quelle: Sterberegister Wiesbaden, eigene Auswertung
180% 160%
100% = 1914
140% 120% 100% 80% 60% 4 0% 20% 0%
1914
1915
1916
1917
1918
Unterschicht
100%
88%
103%
131%
160%
Mittelschicht
100%
87%
98%
120%
135%
Oberschicht
100%
90%
89%
114 %
124 %
Im Ergebnis zeigt sich, dass insbesondere in der Unterschicht die Menge der Todesfälle bereits zum Jahr 1916 anstieg und sich dieser Trend bis 1918 nochmal verschärfte Zudem war in dieser Bevölkerungsschicht mit einer Steigerung von 60 Prozent gegenüber 1914 der stärkste Zuwachs an Todesfällen zu verzeichnen gewesen In der Mittelund Oberschicht hingegen stieg das Quantum der Verstorbenen erst 1917 über den Wert von 1914 Die Zahl der Todesfälle, die sich der Oberschicht zuordnen lassen, stieg am geringsten an und lag 1918 nur 25 Prozent über dem Niveau von 1914 Zwar können statistische Unschärfen nicht ganz vermieden werden51, aber es lässt sich in der Tendenz doch festhalten, dass Mangelernährung und die schlechte Versorgungslage bei gleichzeitig hohem Preisniveau in der Unterschicht früher und stärkere Auswirkungen auf die Sterbezahlen gehabt zu haben scheinen 52 Dafür sprechen auch die bereits beschriebenen besseren Möglichkeiten der Wohlhabenden, auf dem Schwarzmarkt zu agieren und generell mit dem gestiegenen offiziellen Preisniveau umzugehen Versucht man mittels der tatsächlichen Sterblichkeit und der Fortschreibung der Sterblichkeit des Jahres 1914 – unter Ausblendung der Gefallenen – die Zahl der während des Krieges zusätzlich Verstorbenen zu ermitteln, dann ergibt sich für die einzelnen Kriegsjahre ein gespaltenes Bild: Auffällig ist zunächst, dass die Zahl der Sterbefälle 1915 und 1916 niedriger lag als im Friedensjahr 1914 Dies hängt unter anderem mit 51
52
So dürfte die Zahl der Sterbefälle in der Unterschicht nochmals deutlich höher liegen, wenn man die Abwanderung von 7,5 Prozent der Bevölkerung während des Krieges berücksichtigen könnte, da vermutlich weniger Personen aus der Mittelschicht oder gar der Oberschicht auf der Suche nach Arbeit die Stadt verlassen haben werden Gleichzeitig dürfte eine Vielzahl der verstorbenen Rentiers und Pensionäre, die hier unberücksichtigt blieben, der Oberschicht zuzuordnen zu sein Auch für Freiburg lassen sich in Abhängigkeit von der sozialen Stellung unterschiedliche Auswirkungen des Krieges auf die Sterbeziffer nachweisen Vgl : Chickering, Freiburg (wie Anm 50), 569
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
131
der geringeren Geburtenrate zusammen, die in den Folgejahren zu absolut weniger Todesfällen bei Kindern führte Ähnlich positive Auswirkungen hatten der geringere Alkoholkonsum und das sinkende Übergewicht In der zweiten Kriegshälfte ab 1917 stieg die Sterblichkeit auf Grund von Mangelernährung und der Grippewellen stark an In der Summe sind, gemessen an der Sterblichkeit des Jahres 1914, während des Krieges gegenüber dem letzten Friedensjahr mindestens 656 Wiesbadener Zivilpersonen zusätzlich gestorben und zwar alle in den Jahren 1917 und 1918 Mit den 2 294 verstorbenen Militärangehörigen ergibt sich eine Gesamtzahl direkt und mittelbar kriegsbedingter Sterbefälle von etwa 2 950 Menschen, was 2,8 Prozent der Gesamtbevölkerung des Jahres 1914 entspricht Damit liegt Wiesbaden nur knapp unter den Zahlen für Frankfurt 53 Allerdings stellt sich die Frage, ob der Krieg zumindest im Fall der Spanischen Grippe nicht sogar höhere Todesziffern verhindert haben könnte Durch die Abschottung des Reiches während des Krieges trat die Krankheit hier später und seltener auf als im Rest Westeuropas Welche Auswirkungen die Grippewelle unter den Bedingungen einer international vernetzten Handelsnation (und nicht zu vergessen, in einer internationalen Kurstadt wie Wiesbaden) auf die Zahl der Sterbefälle gehabt hätte, kann schlechterdings nicht geklärt werden Niedriger ausgefallen wäre diese vermutlich nicht 54 V. Kindersterblichkeit Größere Gefahren als für Erwachsene bergen Mangel- und Unterernährung für Kinder Ihre Körper verfügen über weniger Reserven und befinden sich im Wachstum, so dass Entwicklungsverzögerungen und Schädigungen die Folge sein können Auch deshalb wurden Kinder und insbesondere Neugeborene bei der Rationierung bevorzugt So wurde ihnen gezielt ein Großteil der wenigen verfügbaren Milch zugeteilt Auch die bereits erwähnten vielfältigen ehrenamtlichen Leistungen, etwa die Versorgung mit einem Mittagstisch und die Schulspeisungen, waren bewusst für die Unterstützung der jüngsten Bevölkerungsteile geschaffen worden Dennoch berichtete die Rheinische Volkszeitung Ende Juli 1917, dass es keinen Zweck habe, die gestiegene Kindersterblichkeit in der Stadt zu verschweigen Verantwortlich dafür seien die lange Dauer des Krieges und die dadurch bedingte Mangelernährung Zwar gebe es Milch und Fett, manchmal auch Hafer und Grieß für die Kinder, aber nur bis zum Ende des sechsten Lebensjahres Wenn ein Kind krank werde, stehe ihm zwar Milch zu, aber die Mühlen der Bürokratie würden zu langsam mahlen Es brauche daher eine starke Hand, die die Situation ordne 55 Zumindest bei der Säuglingssterblichkeit (also der Kinder unter 53 54 55
Vgl Regulski, Klippfisch (wie Anm 4), 317 Vgl Michels, Grippe (wie Anm 7), 33; Eckart, Medizin (wie Anm 6), 195 Vgl Rheinische Volkszeitung, 28 07 1917, Nr 174: „Wo ist die starke Hand“
132
Hendrik Schmehl
einem Jahr) lässt sich die Behauptung von der im Krieg erhöhten Mortalitätsrate auf den ersten Blick nicht bestätigen: Sterblichkeit im 1. Lebensjahr in Wiesbaden Quelle: Verwaltungsbericht 1913/14 bis 1918/19
Zahl der Verstorbenen auf 100 Lebendgeburten
14,00 12,00 10,00 8,00 6,00 4,00 2,00 0,00 Sterblichkeit im 1. Lebensjahr
1913 11,27
1914 9,95
1915 12,68
1916 8,30
1917 12,20
1918 12,02
Die Säuglingssterblichkeit schwankte während des Krieges zwar sehr stark – zwischen 8,3 Verstorbenen 1915 und 12,2 im Jahr 1917 pro 100 Lebendgeburten –, aber gegenüber dem Vorkriegsjahr 1913 waren die Werte nur leicht erhöht Ein Grund hierfür könnte die bereits erwähnte Bevorzugung bei der Milchzuteilung gewesen sein Die in Wiesbaden im Vergleich zu anderen Großstädten geringe Sterblichkeit der Kleinkinder könnte auch mit der nach wie vor guten Ärzteversorgung in der Stadt zusammenhängen 56 In den nachfolgenden Altersgruppen wird die statistische Auswertung hingegen deutlich schwieriger Weder wurde diese – im Gegensatz zur Säuglingssterblichkeit – von der Stadtverwaltung gesondert erfasst, noch gibt es valide Aussagen über die Altersstruktur der Bevölkerung Es bleiben lediglich die absoluten Zahlen aus den Sterberegistern als Datengrundlage für eine Annäherung an das Thema übrig:
56
Vgl Regulski, Klippfisch (wie Anm 4), 319 f Wiesbaden wies die höchste Ärztedichte des Reiches auf Während in anderen Großstädten 9,6 Ärzte auf 10 000 Einwohner kamen, waren es in Wiesbaden 1913 mit 28 Ärzten fast dreimal so viele Vgl : Wiesbadener Zeitung, 27 07 1915, Nr 375: „Wiesbaden, die Stadt der Ärzte“
133
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
Entwicklung der Sterbefälle nach Altersgruppen und Jahren 100 = Zahl der Sterbefälle 1914
Quelle: Verwaltungsbericht 1914/15 bis 1918/19
140% 120% 100% 80% 60% 40% 2 0% 0%
1915
1916
1917
1-6 Jahre
92%
78%
111%
1918 83%
6-16 Jahre
120%
66%
116%
130%
Demnach scheint sich die Kritik der Rheinischen Volkszeitung bezüglich einer erhöhten Sterblichkeit unter Kindern im Jahr 1917 zu bestätigen, denn die Zahl der Todesfälle lag bei den 1 bis 6 Jahre alten Kindern 11 Prozent über dem Wert von 1914 Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass auch in Wiesbaden die absolute Zahl der Geburten ab 1915 drastisch sank57 und demnach im Jahr 1917 auch deutlich weniger Kinder im Alter zwischen einem und drei Jahren lebten (und hätten sterben können), dürfte bei einer Berechnung der Sterblichkeit in dieser Altersgruppe ein Anstieg im Jahr 1917 feststellbar sein – auch wenn die absolute Zahl der Sterbefälle sich nur moderat erhöhte Auch bei der von der Rheinischen Volkszeitung hervorgehobenen Gruppe der Kinder über 6 Jahren deutet die absolute Sterbeziffer auf eine Zunahme der Sterblichkeit hin Damit bestätigt sich auch für Wiesbaden ein reichsweiter Trend, nach dem die Kindersterblichkeit während des Krieges zunahm, insbesondere in der Altersgruppe zwischen 10 und 15 Jahren Hier lagen die Werte für Jungen 1918 bei 115 Prozent des Jahres 1913 und bei Mädchen sogar bei 140 Prozent des Wertes 58 Einen gegenläufigen Trend kann man allerdings aus einer anderen Quelle ableiten: Es handelt sich dabei um die Statistiken der jährlichen schulärztlichen Untersuchungen, die in Wiesbaden ab 1897 durchgeführt wurden Auch während des Krieges59 fanden diese Untersuchungen an etwa 4 500 Volks- und 1 500 Mittelschülern statt Die hö57
58 59
Während 1914 noch 1 842 Geburten (= 17,55 pro 1 000 Einwohner) verzeichnet wurden, sank diese Zahl bis zum Jahr 1918/19 auf 1 020 Geburten (= 10,52 pro 1 000 Einwohner) ab Dies entspricht einem Rückgang der Geburtenrate um 40 Prozent Vgl : Verwaltungsbericht 1915/16, 3; Verwaltungsbericht 1918/19, 11 Vgl Eckart, Medizin (wie Anm 6), 265 Lediglich für das Jahr 1914/15 liegt kein Bericht vor, da durch Schulbeschlagnahme und eingezogene Ärzte die Untersuchungen nicht im gewünschten Umfang und mit der notwenigen Sorgfalt durchgeführt werden konnten Vgl : Verwaltungsbericht 1914/15, 38
134
Hendrik Schmehl
heren Schulen wurden erst ab 1925 in die schulärztlichen Tätigkeiten mit einbezogen Zwar sind die laut den städtischen Bestimmungen für den schulärztlichen Dienst zu erhebenden Größen und Gewichte der Schülerinnen und Schüler nicht überliefert worden und ein exakter Blick auf die Auswirkungen des kriegsbedingten Mangels auf die Physiologie muss daher verwehrt bleiben, aber die Schulärzte unterteilten die Kinder zumindest nach guter, mittlerer und schlechter Konstitution Laut den Bestimmungen durfte eine gute Bewertung nur bei „vollkommen tadellosen Gesundheitszustand“ abgegeben werden und eine schlechte Bewertung nur bei „ausgesprochenen Krankheitslagen oder chronischen Erkrankungen60“ Zusätzlich vermerkten die Schulärzte einige Krankheiten, von denen insbesondere die Blutarmut oder Anämie als mögliche Folge von Unterernährung von Interesse ist Das Ergebnis ist überraschend: Gegenüber den unmittelbaren Vorkriegsjahren erhöhte sich der Anteil der untersuchten Volksschüler mit guter Konstitution leicht von 36,8 Prozent im Jahr 1913/14 auf 38,7 Prozent im Jahr 1918/19 Auch die Mittelschüler zeigten eine ähnlich positive Entwicklung Bei ihnen verbesserte sich der Wert von ursprünglich 45,4 auf 52 Prozent Noch deutlicher wird diese Entwicklung bei Betrachtung der Schüler mit schlechter Konstitution: Während für Volksschüler 1913/14 noch ein Anteil von 2,1 Prozent mit schlechter Konstitution gemessen wurde, sank dieser während des Krieges unter die zuvor nie erreichte 2 Prozent-Marke und lag zeitweise sogar nur bei 1,1 Prozent Ähnlich fiel das Ergebnis bei den Mittelschülern aus Auch dort sank der Anteil von 0,72 auf 0,2 Prozent 61 In einem Bericht über den Gesundheitszustand im Regierungsbezirk Wiesbaden wurde ebenfalls auf darauf hingewiesen, dass der Gesundheitszustand bei den Kindern in schulpflichtigen Alter trotz bemerkbarerer Auswirkungen der unAnämie unter Wiesbadener Schülern Verwaltungsbericht Wiesbaden 1911/12; 1915/16 bis 1918/19
Erkrankte in % der Schüler
1 6,00% 1 4,00% 1 2,00% 1 0,00% 8,00% 6,00% 4,00% 2,00% 0,00%
60 61
1911/1912
1 91 5/16
1916/1917
1917/1918
1918/1919
Volksschule
1 3,48%
9,41 %
5,59%
5,78%
11,05%
Mittelschule
1 4,32%
13,61%
9,75%
5,90%
1 2,1 5%
Vgl : StAWi WI/2, Nr 4409, Bl 8: Bestimmungen für den schulärztlichen Dienst an den städtischen Volks- und Mittelschulen zu Wiesbaden vom Oktober 1906, hier § 1 Vgl : Verwaltungsbericht Wiesbaden 1911/12, 1915/16–1918/19
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
135
zureichenden Versorgung insbesondere bei Stadtkindern dennoch nicht wesentlich ungünstiger als in früheren Jahren bezeichnet werden könne Dies gelte insbesondere auch für die Volksschüler 62 Auch die am stärksten mit Mangelernährung verbundenen in den Statistiken verzeichneten Krankheiten, die Blutarmut oder Anämie, zeigte einen ähnlichen positiven Entwicklung: So sank der Anteil der betroffenen Schüler ab 1915/16 deutlich und erreichte 1917/18 einen historischen Tiefpunkt Erst im letzten Kriegsjahr stiegen die Werte sowohl für die Mittel- als auch für die Volkschüler dann wieder deutlich an Einen solchen starken, weiteren Rückgang und damit eine statistisch messbare Verbesserung des Gesundheitszustandes der Schülerinnen und Schüler in Wiesbaden würde man eigentlich für die Kriegsjahre nicht erwarten und sie passen auch nicht zu der gestiegenen Zahl an Sterbefällen ab dem Jahr 1917 Ebenso wenig passt dieser Befund zu den Ergebnissen andernorts: So lassen sich vor allem bei Stadtkindern Gewichtsabnahme und Wachstumsrückstände nachweisen und der Anteil der Kinder, die unter Blutarmut litten, nahm zu Zusätzlich stieg die Zahl der Tuberkulosetoten unter den Kindern an, was auf Grund der spezifischen Verlaufsformen dieser Krankheit ein direktes Indiz für Unterernährung ist 63 Letztlich sind diese gegenläufigen Tendenzen aus den Sterbeziffern auf der einen Seite und den Schuluntersuchungen auf der anderen Seite nicht miteinander in Einklang zu bringen Allerdings gibt es andernorts Indizien, die für Zensur und Manipulation der Untersuchungswerte auch in Wiesbaden sprechen könnten: Der Direktor des Berliner Städtischen Jugendamtes, Friedrich Siegmund-Schultze64, berichtete 1919 in einer Denkschrift65 gegen den Fortbestand der Entente-Blockade während der Frie62 63 64
65
Vgl : HHStAW, Abt 450, Nr 6358, Bl 135–138: Bericht über den Gesundheitszustand im Regierungsbezirk Wiesbaden von Dr von Hake vom 18 04 1917 Vgl Eckart, Medizin (wie Anm 6), 266 f , 273; Chickering, Freiburg (wie Anm 50), 260 f ; Regulski, Klippfisch (wie Anm 4), 319 f ; Sautmann, Kommunalverwaltung (wie Anm 7), 162 f Siegmund-Schultze, Friedrich: (* 14 06 1885 in Görlitz † 11 07 1969 in Soest): Sozialpädagoge, Ökumeniker, Pazifist Studium der ev Theologie und Philosophie in Tübingen, Breslau, Marburg, Halle und Berlin Promotion 1910 Nach einem Jahr auf einer Pfarrstelle in der Friedenskirche in Potsdam Gründung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin Ost (SAG), deren Ziel es war, die Verbindung von Intellektuellen und Arbeiterschaft herzustellen und so an der Lösung der Sozialen Frage zu arbeiten Gleichzeitig aktive und publizistische Arbeit für die Ökumene und christlichen Pazifismus 1925 bis 1933 Honorarprofessor für Jugendkunde und -wohlfahrt an der Universität Berlin, 1933 Emigration nach Zürich 1948–54 Direktor der Jugend-Wohlfahrtsschule in Dortmund und Honorarprofessor an der Universität Münster für Sozialethik und -pädagogik Aktive Rolle in der Friedensbewegung Vgl : Stefan Grotefeld, „Siegmund-Schultze, Friedrich Wilhelm“ in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), 367–368 [Onlinefassung]; URL: http://www deutsche-biographie de/pnd118614061 html [Zugriff zuletzt am 28 08 2018] Vgl Friedrich Siegmund-Schultze: Die Wirkungen der englischen Hungerblockade auf die deutschen Kinder Sonderheft Eiche, Mai 1919 Unter dem Gesichtspunkt der Quellenkritik stellt sich die Frage, ob die Denkschrift nicht bewusst die Folgen der Mangelernährung und die Versuche, diese zu verheimlichen, überbetonte, um die während der Waffenstillstandsverhandlungen andauernde Blockade Deutschlands schnellstmöglich zu beenden Ausgeschlossen werden kann
136
Hendrik Schmehl
densverhandlungen in Versailles über die negativen Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Kinder Darin legte er die vielfältigen Versuche der militärischen und zivilen Behörden offen, mit denen vermieden werden sollte, dass Nachrichten über die Folgen der schlechten Kinderernährung in die Öffentlichkeit gelangen 66 Selbst seine „Anfragen bei Schul- und Kinderärzten stiessen teils auf eine völlige Ableugnung des Uebels, teils auf ernstliche Ermahnung, keinesfalls irgendwelche ungünstigen Beobachtungen bekanntzugeben 67“ Ausschließen ließe sich eine entsprechende Beschönigung der Statistik für Wiesbaden nicht – der Aktenbestand der Stadtverwaltung und des Regierungspräsidiums zu den Schuluntersuchungen ist nur zu geringen Teilen überliefert oder weist Lücken auf 68 Einschränkend könnte angeführt werden, dass der statistische Jahresbericht 1918/19 erst nach der Revolution und dem Waffenstillstand publiziert wurde und es somit eigentlich keinen Grund mehr gab, die schlechten Untersuchungsergebnisse zu verschleiern, sondern diese mit Blick auf die anhaltende Blockade durch die Alliierten eher noch zu betonen Folgt man dieser Logik, dann scheint eine Manipulation der Daten nicht auf der Ebene der Stadtverwaltung erfolgt zu sein, sondern auf der Ebene der Schulärzte selbst – denn diese erfolgte für das Jahr 1918/19 noch zu großen Teilen während des Krieges VI. Fazit Bei der Untersuchung der Sterblichkeit auf kommunaler Ebene treten die Schwierigkeiten deutlich hervor, da die statistischen Erhebungen der Zeit oftmals unzureichend sind oder es fehlen zeitlich und regional differenzierter Statistiken Erst die Auswertung der digitalisierten Sterberegister bietet einen genauen Einblick in die Entwicklung der Mortalität der Wiesbadener Bevölkerung, wie der Aufsatz darlegen konnte: So können Erkenntnisse über die Auswirkungen der Spanischen Grippe bestätigt werden, wie etwa die besondere Letalität der Krankheit für jüngere Menschen Deutlich zeigt sich auch die steigende Sterblichkeit während des Krieges mit einem Höhepunkt im Februar 1917 Es überrascht allerdings, dass bei annähernd gleich großer Bevölkerung und trotz schlechterer Versorgungslage im April und den Folgemonaten des Jahres 1917 in etwa gleich viele Menschen starben wie im Vergleichszeitraum des Jahres 1918 Im Februar 1917, dem Monat mit den tiefsten Temperaturen und einem erheblichen Mangel an Heizmaterial, starben hingegen erheblich mehr Menschen als 1918 Bereits Emil Roesle hat auf die Auswirkungen des besonders kalten Winters 1917 auf die Sterb-
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dies zumindest nicht, da die Schrift selbst betont, ihr Ziel sei das Ende der Blockade Vgl : Siegmund-Schultze, Wirkungen (wie Anm 64), 2 Vgl Siegmund-Schultze, Wirkungen (wie Anm 64), 7 f Siegmund-Schultze, Wirkungen (wie Anm 64), 20 Vgl HHStAW Abt 405 Nr 3230: Bestellung und Tätigkeit der Schulärzte 1906–1936
Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg
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lichkeit der Bevölkerung hingewiesen69 – aber dennoch überrascht der zeitliche Zusammenhang zwischen Tiefsttemperaturen, Kohlenmangel und Todeszahlen in dieser Deutlichkeit Schließlich herrscht im kollektiven Gedächtnis das Bild des „Hungerwinters“ 1917 mit Steckrüben und Mangelernährung vor, der allein für den massiven Anstieg der Sterblichkeit in dieser Phase verantwortlich gemacht wird Zum tieferen Verständnis des „Hungerwinters“, den Auswirkungen der britischen Seeblockade und den Zusammenhängen von Witterung, Kohle- und Nahrungsmangel wären deshalb weitere Auswertungen von Rohdaten aus kommunalen Sterberegistern notwendig, um die im vorliegenden Aufsatz behandelten Erkenntnisse mit Blick auf andere Städte oder Regionen zu überprüfen und einzuordnen Bestätigt sich der enge Zusammenhang zwischen der Sterblichkeit und der strengen Frostperiode auch andernorts oder starben dort erst vermehrt Menschen, als die Kartoffelversorgung zusammengebrochen ist? Wie verlief die Entwicklung im industriell geprägten Ruhrgebiet, wie im landwirtschaftlich geprägten Bayern oder West- und Ostpreußen? Zur Untersuchung der Lebenssituation der deutschen Zivilbevölkerung während des Ersten Weltkrieges ist eine genauere Vermessung ihrer Sterblichkeit von großer Bedeutung – die Digitalisierung der Sterberegister kann dazu ein Schlüssel zur Auswertung sein Gleichzeitig ist der Rückgriff auf Rohdaten der Sterberegister auch mit Blick auf die Quellenkritik von Bedeutung So deutet sich für Wiesbaden an, dass die überlieferten Berichte der Schulärzte über den Gesundheitszustand der Kinder kritischer betrachtet werden müssen, als grundsätzlich zu vermuten wäre Zum anderen bieten neue Formen der grafischen Aufbereitung von Registerdaten – etwa über eine „Heatmap“ auf alten Stadtplänen70 – interessante Ansätze Denn aus den Adressdaten der Sterberegister lässt sich beispielsweise eine unterschiedliche räumliche Verteilung der steigenden Sterblichkeit im Gebiet einer Großstadt nachweisen Daraus wiederum lassen sich Fragestellungen für die Sozialgeschichte ableiten oder auch Verknüpfungen zur Ereignisgeschichte vornehmen So wäre es beispielsweise naheliegend, dass politische Streiks und Unruhen vor allem dort auftraten, wo zuvor auch eine erhöhte Sterblichkeit nachweisbar ist Somit bietet die Digitalisierung eine Vielzahl an Chancen und Möglichkeiten, neue Fragen an vorhandene Quellen zu stellen, weil diese nun mit einem vertretbaren Aufwand nutzbar werden
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Vgl Roesle, Geburts- und Sterblichkeitsverhältnisse (wie Anm 6), 28 f Ebenso: Davis, Home (wie Anm 4), 181 f ; Michael Epkenhans, Der Erste Weltkrieg Paderborn 2015, 183 f Diesen Ansatz verfolgten Sebastian Bondzio / Christoph Rass, „Gefallene“ in der Gesellschaftsgeschichte Forschungsperspektiven zum „Massensterben“ von Soldaten im Ersten Weltkrieg In: GWU 5/6 (2014), S 338–351
„… und sie prügelten sich mit Zitronenkisten“ Gewaltausbrüche und Unruhen in Mannheim in den Anfangsjahren der Weimarer Republik Lilian Zafiri Im Jahr 1919 waren die Preise für Obst und Gemüse auf dem Mannheimer Markt stetig gestiegen Besonders für die beliebten Kirschen mussten Beträge gezahlt werden, die sich Menschen aus vielen Einkommensschichten nicht mehr leisten konnten Unmut machte sich breit; das geringe Warenangebot wurde kritisiert und viele Käufer fühlten sich übervorteilt Am 19 Juni eskalierte die Situation Nachdem mehrere gut gekleidete Herren nach dem Preis für Kirschen gefragt hatten und erfuhren, dass sie für das Pfund fast drei Mark zahlen sollten, kippten sie die Körbe kurzerhand um Die anderen Marktbesucher taten es ihnen gleich Auch die übrigen Stände wurden verwüstet und die Waren entwendet Wenige Minuten später erinnerten nur noch die dunklen Obstflecken auf den Pflastersteinen an die einstigen Auslagen der Verkäufer Ein Händler, der versuchte, sich gegen den Raub zu wehren, wurde mit einer Zitronenkiste verprügelt Anstatt mit den geraubten Waren zu flüchten, wurde die Menge auf dem Marktplatz immer größer und schimpfte erbittert über die Preise und die Kaufleute 1 Geschehnisse wie diese waren in Mannheim nach dem Ersten Weltkrieg keine Seltenheit In den verschiedensten Gesellschaftsbereichen und zu den unterschiedlichsten Anlässen gab es heftige Proteste, Diebstähle, Plünderungen und Gewalt Die Aktionen beschränkten sich nicht nur auf die illegale Beschaffung von Nahrungsmitteln, auch soziale oder politische Demonstrationen uferten aus Dabei blieb es häufig nicht bei lärmenden Protesten, auch Ausschreitungen, körperliche Gewalt und der Einsatz von Waffen konnten aus den Lebensmittelunruhen resultieren Ziel meiner Masterarbeit war es gewesen, Gewalt und Unruhen in Mannheim seit Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Beginn des Jahres 1924 aufzuzeigen und zu analysieren Hierbei wurden besonders die wirtschaftlichen Einflussfaktoren in die Untersu1
Archiv, Haus der Stadtgeschichte und Erinnerung Mannheim (künftig: MARCHIVUM), NL Emil Hofmann, Zug 9/1972, Nr 21, darin [-], Art : „Ein Sturm auf die Kirschenverkaufsstände“, in: General-Anzeiger – Badische Neueste Nachrichten, Mittagsblatt, 20 06 1919, S 3
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Lilian Zafiri
chung eingebunden Im Fokus standen die verschiedenen Formen öffentlichen Protests: Untersucht wurden Food Riots, soziale Unruhen (so zu Beispiel gewaltsam verlaufende Demonstrationen von Arbeitslosen), politische Unruhen und ausufernde Streiks Im Folgenden soll besonders auf die Food Riots eingegangen werden Während die politischen Vorfälle in der Forschung der Weimarer Republik sehr gut recherchiert sind, wurden andere Unruheformen noch nicht ganz so ausführlich behandelt In der Literatur wurde das Thema Food Riots nach dem Ersten Weltkrieg schon von Martin Geyer,2 Andrea Lefèvre3 und Jürgen Kocka behandelt Letzterer attestiert aber, dass eine genauere Untersuchung mit regionalen Aspekten gerade für die Zeit der Weimarer Republik durchaus eine Bereicherung für dieses Forschungsfeld wäre 4 In der Fachwelt hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass Unruhen dieser Art sich nicht allein mit konflikttheoretischen Ansätzen oder einem sozialhistorischen Ansatz „von unten“ erforschen lassen Es handelt sich bei Food Riots um hochkomplexe soziologische Phänomene, bei denen es einer interdisziplinären Forschung und der Frage nach dem Beziehungsgefüge ökonomischer Prozesse, sozialer Zusammenhänge und politischer Machtverhältnisse bedarf 5 Um die verschiedenen Konflikte zu analysieren, wurde mit den Methoden und Fragestellungen der Friedens- und Konfliktforschung gearbeitet, bei der nach Verlauf, Auslöser, Beteiligten und den Gegenmaßnahmen gefragt wird Um den konflikttheoretische Zugang zu ergänzen erfolgte zusätzlich eine Reflexion kultureller und sozialer Gegebenheiten Die Fokussierung auf eine einzelne Stadt und die umliegende Region erlaubt es, auf mikrohistorischer Ebene Details zu erforschen, denen aus makrogeschichtlicher Perspektive auf die Weimarer Republik nur selten Beachtung geschenkt wird Ein Problem bei der Erforschung der Unruhen stellte die lückenhafte Quellenlage dar Viele wertvolle Akten wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört oder sind dadurch nur bruchstückhaft vorhanden Einige Unterlagen verschwanden aber auch schon kurz nach dem Verfassen und wurden bei Unruhen verbrannt oder gestohlen 6 Die Forschungsarbeit setzte sich aus vielen Details und Einzelunterlagen zusammen
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Martin H. Geyer, Teuerungsprotest und Teuerungsunruhen 1914–1923 Selbsthilfegesellschaft und Geldentwertung, in: Manfred Gailus / Heinrich Volkmann (Hrsg ), Der Kampf um das tägliche Brot: Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770–1990 (= Schriften des Zentralinstituts für Sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Band 74 Opladen 1994, 319–345 Andrea Lefèvre, Lebensmittelunruhen in Berlin 1920–1923, in: Gailus/Volkmann (Hrsg ), Der Kampf um das tägliche Brot (wie Anm 1), 346–360 So mündlich vorgetragen in „Hunger, Ungleichheit und Protest Historische Befunde“, Friedrich-Ebert-Gedächtnis-Vortrag vom 10 Februar 2016, gehalten für die Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Manfred Gailus / Heinrich Volkmann, Nahrungsmangel, Hunger und Protest, in: Gailus/Volkmann (Hrsg ), Der Kampf um das tägliche Brot (wie Anm 1), 10 [-], Art : „Aus Stadt und Land Die Vorgänge am Samstag und Sonntag “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittags-Ausgabe), Nr 90, 24 02 1919, S 3
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I. Die wirtschaftliche und soziale Lage nach dem Ersten Weltkrieg war generell desolat Viele Betriebe sowie die Infrastruktur waren in einem gravierenden Zustand Eine gerechte und ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Kohle und Lebensmitteln war durch die Kriegswirtschaft kaum möglich gewesen7 und funktionierte auch nach Kriegsende nicht Die Lebensmittellage blieb lange Zeit angespannt Der Mannheimer Wochenmarkt war oftmals leer – sehr wenige Güter wurden zu hohen Preisen angeboten Die Arbeitslosigkeit war hoch und das System zur Versorgung der Erwerbslosen noch nicht ausgereift; die Kommunen enorm verschuldet und die Steuereinnahmen zusammengebrochen Durch die französische Besetzung auf der anderen Rheinseite brachen Absatzmärkte für Industrieprodukte weg, gleichzeitig wurde der Zugang zu den Nahrungsmittelherstellern aus der Pfalz abgeschnitten Im späteren Verlauf wurden die Flusshandelsrouten nach Basel blockiert und der Zahlungsverkehr erschwert In vielen Punkten war Mannheim stärker von den Krisen betroffen als der Rest des Landes Während der Inflation übertrafen die Lebenshaltungskosten in Mannheim den Landesdurchschnitt um das Anderthalbfache 8 Neben den wirtschaftlichen und politischen Problemen wirkten sich unkalkulierbare extreme Wetterbedingungen ebenfalls negativ aus Ständige Hoch- oder Niedrigwasser verhinderten den Warenverkehr auf dem Rhein, blockierten die Zulieferung von Rohstoffen und legten teilweise die Produktion Fabriken auf lange Zeit lahm Die Nahrungsmittelunruhen begannen recht früh im Untersuchungszeitraum Nach einer ausufernden politischen Demonstration im Februar 1919 stahlen Spartakisten neben Waffen und Maschinengewehren auch Lebensmittel 9 Danach folgte der zu Anfang beschriebene Kirschensturm im Juni 1919 10 Von der Reaktion der Ordnungshüter ist in keiner Quelle etwas zu lesen Weder weiß man, wie die Polizei auf das Geschehen reagierte, noch, ob sie überhaupt rechtzeitig eingriff Teilweise feierten die Zeitungen das eruptive Vorgehen der Käufer: „Für die Zukunft, dessen sind wir überzeugt, wird er [einer der Händler] den Erzeugern nicht jeden beliebigen Preis zahlen in der Hoffnung, daß das dumme Publikum schon bezahlen wird. Das Publikum hat seiner Empörung Luft gemacht.“11 Auch das Mannheimer Tagblatt war dem stattgefundenen Krawall gegenüber nicht wirklich negativ eingestellt Die Marktberichterstatterin merkte zwar an, dass mit der Aktion die falschen Leute getroffen worden waren Die Kleinhändler wären auch nur arme Leute, ebenfalls von den Erzeugern abhängig und somit zu Un7 8 9 10 11
Ulrich Kluge, Die Weimarer Republik, Paderborn [u a ] 2006, 19 MARCHIVUM, Kl Erw Nr 35, Chronik Friedrich Walther, Eintrag zum 30 10 1923 [-], Art : „Aus Stadt und Land Die Vorgänge am Samstag und Sonntag “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittags-Ausgabe), Nr 90, 24 02 1919, S 3 MARCHIVUM, NL Emil Hofmann 9/1972, Nr 21, darin [-], Art : „Ein Kirschenkrawall“, in: Mannheimer Tagblatt, Nr 164, 20 6 1919, o S Ebd , darin [-], Art : „Das Urteil der Konsumenten“, in: Volksstimme, Nr 157, 20 6 1919, o S
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recht attackiert worden Mit Freuden wurde aber berichtet, dass aufgrund der Vorfälle beim nächsten Markt die Kleinhändler streikten und nun die Erzeuger ihre Ware selbst verkaufen mussten Somit kam es zu einem Marktgeschehen, bei dem die Preise nur ein Drittel betrugen 12 Die Genugtuung darüber führte jedoch nicht zu einer Beruhigung der Situation Denn wenige Tage später geriet eine ähnliche Aktion vollkommen außer Kontrolle und hatte schwerwiegende Folgen für die innere Sicherheit Auf dem Samstagsmarkt am 21 Juni spielte sich zuerst eine ähnliche Szene ab Wieder waren die Preise „unerhört“13 hoch und erneut schritten die Mannheimer zur Selbsthilfe, in dem sie das aufgestapelte Obst und Gemüse einfach mitnahmen Als die Wehrleute, welche die Ordnung aufrechterhalten wollten, eingriffen, wurden diese verprügelt14 und es fielen Schüsse 15 Als nächstes vergriffen sich die Menschen am Angebot eines benachbarten Käseladens und bedienten sich dort am Camembert Zu dem Zeitpunkt wirkten die Unruhen auf die Berichterstatter noch kontrollierbar 16 Sie waren aber so heftig und breiteten sich so schnell aus, dass rückblickend sogar ein „organisierter Putsch“ vermutet wurde Um 10 Uhr liefen nach Aussage der Polizei junge Burschen mit Gewehren durch die Stadt 17 Diese „unruhig erscheinenden Elemente“18 gaben durch Äußerungen zu verstehen, dass nach den Vorfällen auf dem Markt nun die Geschäfte und Warenhäuser dran seien Daraufhin ließen viele Ladenbesitzer vorsorglich ihre Rollläden runter und telefonierten die Polizei an, dass es um 12 Uhr zu Plünderungen kommen sollte 19 Um halb eins zertrümmerten Jugendliche zuerst ein Schaufenster des Ladens von Johann Schreiber in T1, Nr 6 und raubten Fett, Butter, Konserven und andere Güter Währenddessen wurde die Menschenmenge auf der Straße immer größer, ging anschließend auf das Kaufhaus der Gebrüder Rothschild los20 und plünderte die ausgestellten Wäschewaren Die eintreffende Volkswehr wurde entwaffnet und die Gewehre zerstört Ein älteres Mitglied wurde schwer misshandelt, als dieser
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Ebd , darin [-], Art : „Aus Mannheim Revolution auf dem Markte “, in: Mannheimer Tagblatt, Nr 306, 21 6 1919, o S [-], Art : „Die Ausschreitungen in Mannheim Ein Situationsbericht der Volkswehr “, in: Mannheimer Generalanzeiger, (Abend-Ausgabe), Nr 281, 23 06 1919, S 2 Ebd [-], Art : „Der amtliche Bericht der Polizeibehörde “, in: Mannheimer Generalanzeiger (AbendAusgabe), Nr 281, 23 06 1919, S 2 [-], Art : „Schwere Ausschreitungen “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 6 1919, S 4 [-], Art : „Der amtliche Bericht der Polizeibehörde “, in: Mannheimer Generalanzeiger (AbendAusgabe), Nr 281, 23 06 1919, S 2 MARCHIVUM, NL Emil Hofmann 9/1972, Nr 21, darin: [-], Art : „Aufruhr und Plünderungen “, in: Neue Badische Landes-Zeitung, Nr 307, 22 6 1919, o S [-], Art : „Der amtliche Bericht der Polizeibehörde “, in: Mannheimer Generalanzeiger (AbendAusgabe), Nr 281, 23 06 1919, S 2 MARCHIVUM, NL Emil Hofmann 9/1972, Nr 21, darin: [-], Art : „Aufruhr und Plünderungen “, in: Neue Badische Landes-Zeitung, Nr 307, 22 6 1919, o S
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seinen Revolver ziehen wollte 21 „[F]erner seien sie [die Volkswehr] noch mit den gemeinsten Schimpfworten betitelt worden.22 Die Lage verschlimmerte sich zusehends: Die Querulanten zogen zum Schulhaus in K2, in dem sich sowohl die Fahndungsabteilung der Volkswehr als auch beschlagnahmte Lebensmittel befanden Die wenigen anwesenden Sicherheitskräfte wurden überwältigt, das Lager von Frauen ausgeräumt, wobei sich „geradezu schamlose Szenen“ abgespielt haben sollen 23 Eine hinzukommende Truppe versuchte den Kollegen im Schulhaus zu Hilfe zu kommen, wurde aber mit Handgranaten attackiert Ohne überhaupt die eigenen Waffen eingesetzt zu haben,24 mussten sie sich auf den Marktplatz zurückziehen Dort geriet die Mannschaft nach Aussage des Unterführers allerdings ebenfalls unter Beschuss und eröffnete daraufhin das Feuer gegen die Angreifer Nachdem einige Ordnungskräfte verletzt worden waren, zog sich die Truppe Richtung Schloss zurück 25 Allein bei diesem Zusammenstoß war es zu einem Toten und sechs Schwerverwundeten gekommen Währenddessen zogen die Plünderer des Schulhauses zum Lagerhaus Greulich und Herschel am Neckar weiter,26 wo vor allem Frauen und Kinder Zucker raubten, der gleich kistenweise weggetragen wurde 27 Ungefähr zur selben Zeit zog eine Horde von Räubern zur Moll- und Sophienstraße und hatte es dort auf die Privathäuser abgesehen; hier konnte die Volkswehr allerdings die Situation unter Kontrolle bringen und einige verhaftete Personen der Polizei übergeben 28 Dreißig Männer waren in die verschiedenen Villen eingedrungen und hatten nach Lebensmitteln verlangt Die weibliche Entourage dieser Gruppe schaffte die erbeuteten Güter sofort weg Systematisch wurden beim Eindringen in die Häuser die Telefone besetzt, damit keine Hilfe gerufen werden konnte Im Gegensatz zu den Plünderungen am Kaufhaus Rothschild, wo vor allem Wäschestücke gestohlen worden waren, lag hier das Interesse weniger an Gegenständen: Ein Fahrrad und wei-
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[-], Art : „Schwere Ausschreitungen “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 06 1919, S 4 [-], Art : „Die Ausschreitungen in Mannheim Ein Situationsbericht der Volkswehr “, in: Mannheimer Generalanzeiger, (Abend-Ausgabe), Nr 281, 23 06 1919, S 2 [-], Art : „Schwere Ausschreitungen “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 06 1919, S 4 [-], Art : „Der amtliche Bericht der Polizeibehörde “, in: Mannheimer Generalanzeiger (AbendAusgabe), Nr 281, 23 06 1919, S 2 [-], Art : „Die Ausschreitungen in Mannheim Ein Situationsbericht der Volkswehr “, in: Mannheimer Generalanzeiger, (Abend-Ausgabe), Nr 281, 23 06 1919, S 2 [-], Art : „Schwere Ausschreitungen “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 06 1919, S 4 MARCHIVUM, NL Emil Hofmann 9/1972, Nr 21, darin: [-], Art : „Aufruhr und Plünderungen “, in: Neue Badische Landes-Zeitung, Nr 307, 22 6 1919, o S [-], Art : „Die Ausschreitungen in Mannheim Ein Situationsbericht der Volkswehr “, in: Mannheimer Generalanzeiger, (Abend-Ausgabe), Nr 281, 23 06 1919, S 2
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tere Objekte wurden mitgenommen, meistens wurden die Sachwerte aber ignoriert und gezielt Nahrungsmittel erbeutet 29 Um 16 Uhr sammelte sich eine aggressive Menge vor dem Schloss Ziel war es nach Angaben des Mannheimer Generalanzeigers, den Sitz der Volkswehr auszuheben Wehrleute, die zur Hilfe eilen wollten, wurden verprügelt und die Masse versuchte in das Schloss einzudringen Die Angreifer ließen sich zunächst auch durch Warnschüsse der Volkswehr davon nicht abhalten und setzten ihren Marsch fort Erst nach weiteren Schreckschüssen zog sich die Menge vom Schlosshof zurück Gänzlich zerstreut wurde die Masse aber erst, als aus der L1-Schule mit scharfen Handgranaten geworfen wurde Die Krise war aber noch nicht ausgestanden, die Menschenmenge immer noch gewaltbereit Zwischen 19 und 20 Uhr versammelten sich wiederum Aufbegehrende vor dem Schloss und versuchten einzudringen Laut Zeitung hatten sich „die Plünderer in Revoltierende verwandelt“30 und wollten mit Inbesitznahme des Schlosses wie behauptet „weiter gesteckte Ziele erreichen“ 31 Wieder wurde nach Angabe der Volkswehr erst geschossen, als die ersten Kugeln von den Angreifern kamen und das Feuer sofort eingestellt, als sich die Kontrahenten ergaben 32 Handgranaten wurden eingesetzt, deren Donnern noch auf dem Markplatz zu hören war Die Flucht durch die Straßen war mit Lebensgefahr verbunden, nach Zeitungsberichten konnte man sich nirgendwo in der Innenstadt sicher fühlen Um 22 Uhr trat endlich Ruhe ein und eine „wahre Totenstille“33 legte sich über die Stadt Die Auswirkungen dieser heftigen Vorfälle waren enorm In einem Geschäft wurde die Schadenssumme auf 7 000 bis 8 000 Mark geschätzt In den anderen, schlimmer betroffenen Läden konnte auch Tage später das Ausmaß der Zerstörung nicht bestimmt werden 34 Insgesamt waren fünfzehn Menschen ums Leben gekommen,35 um die vierzig Leute schwer verwundet worden Auffallend viele Heranwachsende waren unter den Opfern – ein großer Anteil der Toten und Verletzten war gerade vierzehn bis achtzehn Jahre alt Auch zwei kleine Kinder hatten schlimme Verwundungen davongetragen Bei den Unruhen war die Masse an Gaffern außerordentlich groß gewesen Hier sahen die Zeitungen auch den Grund für die hohe Zahl an Verletzten Es wurde auch von Frauen mit Kinderwägen und Kleinkindern an der Hand berichtet, die aus
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[-], Art : „Schwere Ausschreitungen “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 06 1919, S 4 Ebd Ebd [-], Art : „Die Ausschreitungen in Mannheim Ein Situationsbericht der Volkswehr “, in: Mannheimer Generalanzeiger, (Abend-Ausgabe), Nr 281, 23 06 1919, S 2 [-], Art : „Schwere Ausschreitungen “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 6 1919, S 4 Ebd [-], Art : „Aus Stadt und Land Die Ausschreitungen in Mannheim Weitere Todesopfer “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittags-Ausgabe), Nr 282, 24 06 1919, S 3
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Schaulust den Zusammenrottungen gefolgt waren, anstatt sich in Sicherheit zu begeben 36 Das badische Ministerium sah in den Neugierigen einen Problemschwerpunkt In einer Kundgebung teilte es mit: „Der Polizei und der Volkswehr wäre es gelungen, ohne daß ein Tropfen Blut zu fließen brauchte, die Plünderer festzusetzen und damit den Keim weiterer Unruhen zu vernichten, wenn nicht die blöde Neugier das Publikum angelockt und dem verbrecherischen Gesindel die Möglichkeit geschaffen hätte, sich der Festnahme in der Menge zu entziehen “37
Es stellt sich allerdings die Frage, ob dieses Statement der Regierung nicht in Richtung Ausrede tendiert und eher ein Versagen der Ordnungskräfte vorlag So störend und behindernd schaulustiges Publikum auch sein mag – mit dem alleinigen Zuschieben der Schuld auf die Passanten machte es sich die Regierung zu einfach Nach diesen heftigen Vorfällen blieb der Sonntag ruhig Der Platz vor der L1-Schule war mit Stacheldraht gesichert und Plakate forderten zum Weitergehen auf Auch von den Kommunisten und der USPD hingen Anschläge aus, die zur Beruhigung beitragen sollten 38 Das badische Staatsministerium mahnte, Ansammlungen zu unterlassen und sich von „Putschversuchen“39 fernzuhalten Zudem versuchte die Regierung Gerüchten vorzubeugen, welche die Runde machten So dementierten die Behörden öffentlich die Behauptung, die badische Volksregierung hätte Lockspitzel, welche die Bürger absichtlich in die Gefahr eines Konflikts mit Polizei oder Militär brächten 40 Zugleich waren die Verteidigungsmaßnahmen verstärkt worden An entscheidenden Positionen waren Maschinengewehre errichtet und die Sicherheitskräfte verstärkt worden Aus Karlsruhe und Heidelberg waren sowohl drei Bataillone Infanterie eingetroffen als auch Minenwerfer und Pioniere 41 Diese Sicherheitsmaßnahmen reichten aber nicht aus, denn es kam in den folgenden Tagen erneut zu gewaltigen Ausschreitungen Denn auch Spannungen in der internationalen Politik wirkten sich zusätzlich auf die Situation in Mannheim aus: Die Franzosen bekamen am 23 Juni verspätet die Nachricht, dass Deutschland tatsächlich den Friedensvertrages unterzeichnen würde und setzten zuvor bei Altrip über den Rhein 42 Ebenfalls war geplant, dass französische 36 37 38 39 40 41 42
[-], Art : „Schwere Ausschreitungen “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 6 1919, S 4 Eine Kundgebung des Ministeriums, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 6 1919, S 4 [-], Art : „Schwere Ausschreitungen “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 6 1919, S 4 Eine Kundgebung des Ministeriums, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 6 1919, S 4 Ebd [-], Art : „Schwere Ausschreitungen “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 6 1919, S 4 MARCHIVUM, Kl Erw Nr 35, Chronik Friedrich Walther, Eintrag zum 23 6 1919
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Truppen bei einem Nichtunterzeichnen über die Rheinbrücke einmarschieren sollten Diese Nachricht führte zu wilden Gerüchten und einer angespannten Stimmung in der Stadt Letztendlich kam es zu keiner Besetzung durch die Franzosen und auch die übergesetzten Truppen bei Altrip hatten keinerlei militärische Auswirkungen auf Mannheim Die aufgeregte Stimmung blieb jedoch und verstärkte die nachfolgenden Ereignisse Ein deutsches Freiwilligen-Bataillon sollte gegen Abend aus der Stadt abrücken und versammelte sich vor der L1-Schule Das sahen „aufrührerische Elemente, die immer noch darauf hofften, die Oberhand zu bekommen“.43 Um das Regiment sammelte sich eine immer größere Menschenmenge Beim Abmarsch der Truppen erschollen aus der Ansammlung Beleidigungen und Schmährufe 44 Unter anderem wurde die Drohung ausgesprochen, „daß das Militär, wenn es abrücke, etwas auf den Hut bekäme“.45 Kurz nach 19 Uhr fielen dann Schüsse und das Bataillon, das sich schon auf der Landstraße befunden hatte, kehrte um und drängte die „Aufrührer“46 bis in die Unterstadt zurück Um 21 Uhr war die Situation unter Kontrolle gebracht worden und die Schießereien hörten auf Die Bilanz ergab zwei Tote47 und eine Vielzahl an Verwundeten 48 Daraufhin wurden die Vorsichtsmaßnahmen in Mannheim erneut erhöht Das badische Staatsministerium verbot Ansammlungen und Straßenumzüge Theater- und Kinovorstellungen oder andere Vergnügungen wurden abgesagt und die Polizeistunde in den Wirtschaften auf 21 Uhr festgesetzt 49 Weitere Truppenverstärkungen wurden vorgenommen Zusammen mit der Polizei sollten Hausdurchsuchungen nach Waffen vorgenommen werden Eine für den Abend des 25 Juni anberaumte Versammlung der Kommunisten im Nibelungensaal wurde verboten Vor allem fürchtete sich die Regierung vor kommunistischen und spartakistischen Gewaltakten 50 Zugleich wurden strengste Sicherheitsvorkehrungen für den Markt erlassen Nur noch Frauen durften dort einkaufen,51 was zu skurrilen Bildern führte „Das dritte Marktkuriosum: nur weibliche Besucher, aber ein Kranz von Männern außen herum, größ43 44 45 46 47 48 49 50 51
[-], Art : „Aus Stadt und Land Die Ausschreitungen in Mannheim Weitere Todesopfer “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittags-Ausgabe), Nr 282, 24 06 1919, S 3 Ebd [-], Art : „Aus Stadt und Land Die Ausschreitungen in Mannheim Verschärfte Maßnahmen “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Abend-Ausgabe), Nr 283, 24 06 1919, S 3 [-], Art : „Aus Stadt und Land Die Ausschreitungen in Mannheim Weitere Todesopfer “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittags-Ausgabe), Nr 282, 24 06 1919, S 3 Ebd MARCHIVUM, Kl Erw Nr 35, Chronik Friedrich Walther, Eintrag zum 23 06 1919 MARCHIVUM, NL Emil Hofmann 9/1972, Nr 21, darin: Bezirksamt – Polizeidirektion, „An die Einwohnerschaft Mannheims“, 24 06 1919, in: Neue Badische Landeszeitung, Nr 311, 24 06 1919, oS [-], Art : „Aus Stadt und Land Die Ausschreitungen in Mannheim Weitere Truppenverstärkungen “, in: Mannheimer Generalanzeiger, Nr 284, 25 6 1919, S 4 MARCHIVUM, NL Emil Hofmann 9/1972, Nr 21, darin: Bezirksamt – Polizeidirektion, „An die Einwohnerschaft Mannheims“, 24 06 1919, in: Neue Badische Landeszeitung, Nr 311, 24 06 1919, oS
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tenteils Schutz- und Volkswehrleute […]“.52 Ebenfalls wurde eine strenge Einhaltung der Höchstpreise für Kirschen deklariert Die Polizei war angewiesen, die Preise für das begehrte Frühobst so streng wie möglich zu überwachen Durch diese Kontrolle sollten weitere Unruhen verhindert werden 53 In den folgenden Tagen entspannte sich die Lage Am 26 Juni wurde in den Zeitungen verkündet, dass endgültig Ruhe in Mannheim herrsche, seit dem 24 war es zu keinen weiteren Vorkommnissen gekommen Es gelang sogar, einen Schwerverbrecher festzunehmen, der in den unruhigen Tagen auf Soldaten geschossen hatte 54 Diese Vorfälle waren für die Quadratstadt so ausufernd und ernst gewesen, dass sie in der Presse mit den gravierenden politischen Unruhen vom 22 und 23 Februar 1919 verglichen wurden Damals war nach einer Trauerkundgebung für den ermordeten Kurt Eisner die politische Situation vollkommen eskaliert und Mannheim hatte sich für einige Tage im Ausnahmezustand befunden 55 Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die mehrtägigen Juniunruhen tatsächlich politischer Natur waren Auffallend ist, dass weder die Regierung noch die Ordnungskräfte oder Medien wirklich eine Ahnung zu haben schienen, wer genau hinter den Ausschreitungen steckte Die Angaben waren vage und zeugen von einer gewissen Hilflosigkeit Zuerst kommunizierte die badische Regierung, dass größtenteils unreife Burschen für die Krawalle verantwortlich seien 56 Im selben Schreiben wurde jedoch gewarnt, dass Kräfte am Werk seien, die versuchten, die unpolitischen Krawalle in einen Putschversuch umzuwandeln 57 Doch wer sollte einen organisierten politischen Aufstand anführen, wenn Kommunisten58 und USPD öffentlich zur Ruhe und Besonnenheit aufgerufen hatten und auch von rechter Seite keine Agitation bekannt war?59 Wer genau sollten denn die „Putschisten“ sein, welche gedachten die Nahrungsunruhen „politisch agitatorisch auszuschlachten“?60 Wenige Tage nachdem sich die Lage entspannt hatte, wurde vom badischen Staatsministerium erneut von „politisch unreifen 52 53 54 55 56 57 58 59 60
MARCHIVUM, NL Emil Hofmann 9/1972, Nr 21, darin: [-], Art : „Marktwanderung “, Mannheimer Generalanzeiger, Nr 287, 26 06 1919, o S [-], Art : „Strengste Einhaltung der Höchstpreise für Kirschen geboten “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 282, 24 06 1919, S 3 [-], Art : „Aus Stadt und Land Ruhe in Mannheim “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 286, 26 06 1919, S 3 [-], Art : „Schwere Ausschreitungen “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 06 1919, S 4 Eine Kundgebung des Ministeriums, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 06 1919, S 4 Ebd [-], Art : „Flugblatt der Kommunistischen Partei “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Abend-Ausgabe), Nr 281, 23 06 1919, S 2 f [-], Art : „Schwere Ausschreitungen “, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 06 1919, S 4 Eine Kundgebung des Ministeriums, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 280, 23 06 1919, S 4
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Personen“ und „politischen Dunkelmännern“ gesprochen Diese seien an den Plünderungen und Gewalttätigkeiten beteiligt gewesen und würden nun versuchen „die Regierung und ihre Organe“ dafür verantwortlich zu machen 61 Das hört sich alles sehr vage an Aus den Quellen lässt sich nicht erschließen, ob und wer tatsächlich versuchte, eine politische Umwälzung anzustreben Noch mehr gewinnt man aber den Eindruck, dass die Regierung das selbst nicht wusste und deswegen dem Treiben relativ hilflos gegenüberstand Nur mit einem großen Militäraufgebot, nicht aber mit gezielten Eingriffen, gelang es, die Situation wieder unter Kontrolle bringen Auch hat es den Anschein, dass Polizei und Ordnungskräfte vollkommen überfordert waren, sobald Unruhen außer Kontrolle gerieten Gerade wenn diese auch noch mehrere Stunden vorher angekündigt worden waren, hätten die Gegenmaßnahmen effizienter verlaufen müssen Mehr Klarheit kann man dagegen über einige Plünderer erhalten Die Polizei schaffte es nach den ersten Hauptunruhen, vierzig Personen zu verhaften Davon bestand der größte Teil aus jungen Burschen, die angaben, an den kriminellen Machenschaften aus Neugierde beteiligt gewesen zu sein Weiterhin waren unter den Festgenommenen auch Frauen sowie Kinder, die kaum der Schule entwachsen waren 62 Diese Zusammensetzung der Verhafteten würde auch zu Vorfällen während des Weltkrieges selbst passen Wegen der miserablen Nahrungsverteilung war unter Jugendlichen eine zunehmende Beschaffungskriminalität aufgefallen Bei Felddiebstählen wurden immer häufiger Kinder gefasst Je länger der Krieg dauerte, desto mehr sank das Alter der Festgenommenen 63 Aber nicht nur bei den Beschaffungstouren aufs Land wurden illegale Handlungen begangen Auch in den Städten machten sich Kinder und Heranwachsende daran, Lebensmittel und andere begehrte Güter in ihrer Not auf illegalen Wegen zu beschaffen Meistens taten sie das noch nicht einmal wegen der sogenannten „Kriegsverwahrlosung“, sondern versuchten in „Komplizenschaft mit ihren Müttern“ einen Beitrag zum Familieneinkommen zu leisten 64 Die Vorgänge im Juni 1919 könnten somit schlicht eine Fortsetzung dieser Verhaltensmuster gewesen sein Der erste Übergriff auf Nahrungsmittel am 19 Juni 1919, der von den „gut gekleideten Herren“ begangen wurde, könnte tatsächlich eine Handlung von Männern aus bürgerlichen Umfeld gewesen sein Es war nicht nur das Proletariat, von dem die Unruhen ausgingen Auch in der Mittelschicht machte sich Unmut breit, wie Beispiele aus
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Eine Kundgebung der Regierung, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 284, 25 06 1919, S 4 [-], Art : „Der amtliche Bericht der Polizeibehörde “, in: Mannheimer Generalanzeiger (AbendAusgabe), Nr 281, 23 06 1919, S 2 MARCHIVUM, Tagebuch des Feldhüters Schmich, Zug 10/1900, Nr 44 Ute Daniel, Der Krieg der Frauen 1914–1918: Zur Innenansicht des Ersten Weltkriegs in Deutschland, in: Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hrsg ), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch … Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge, Band 1), Essen 1993, S 141
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anderen Städten zeigen, etwa im Fall eines Musiklehrers aus München, der in einem Delikatessengeschäft randalierte 65 In Sachen Lebensmittelunruhen kam es bereits im August erneut zu starkem Aufruhr an Markttagen Ansonsten blieb die Lage vorerst weitestgehend ruhig Ein Jahr später dagegen waren die Kirschen schon wieder ein Grund zum Ärgernis Diesmal war es aber nicht der hohe Preis, der Probleme bereitete Die süßen Früchte waren nun so billig, dass die Käuferinnen sich einen Kampf um diese lieferten Die Marktkontrolle ließ nach diesen Vorgängen den Handelsplatz sofort abriegeln Nach kurzer Zeit hatte sich die Lage aber wieder beruhigt und die Absperrung konnte aufgehoben werden Trotzdem verursachte der Zwischenfall helle Aufregung um den Markt herum Parallel zum Obstvorfall kam es an der Nordseite des Marktes beim Eier- und Käsehändler Rommeiß in H1 ebenfalls zu Übergriffen Der Ladenbesitzer „beging die Unvorsichtigkeit in der kritischen Stunde einen Wagen mit Handkäs“66 vor seinem Geschäft abzuladen Wann immer diese kritische Stunde war – eventuell zur Zeit des Kirschensturms – drang auf jeden Fall eine Anzahl von Arbeitern in den Laden ein und zwang den Verkäufer, die Kisten für 10 Mark statt 32 Mark zu verkaufen Bevor aber noch alle Kisten verkauft waren, traf auch schon die Polizei ein und schaffte es, mit einem starken Mannschaftsaufgebot dem Treiben ein Ende zu bereiten und die Menge aus dem Laden heraus zu befördern In beiden Fällen reagierten die Ordnungskräfte rasch und effizient Wie beim vorjährigen Vorfall mit den Kirschen zeigte der Berichterstatter Sympathie mit den Aufständischen Er pries sowohl die Qualität des ergatterten Käses als auch den erfreulich billigen Preis an, der „an die paradiesischen Verhältnisse vor dem Krieg“67 erinnerte Ein anderer Zeitungsautor kritisierte hingegen deutlich die Untätigkeit der Regierung, was die Preise der Produkte und den Umgang mit den Konsumenten anging: „Helfen wird das warnende Exempel [der Zwang zum billigeren Verkaufen] nur einen Tag – im übrigen wird die Regierung weiter untätig zusehen wie bisher. Man hat ja nötigenfalls Maschinengewehre.“68 Hier wird eine offene Kritik an den Sicherheitsorganen formuliert Einige Zeitgenossen fühlten sich offenbar von der Polizei eher bedroht als beschützt Kritisiert wurde, dass das Unruhepotential lange ignoriert wurde Kam es zu Vorfällen, wurden dann jedoch drastische Gegenmaßnahmen ergriffen
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Geyer, Teuerungsprotest und Teuerungsunruhen (wie Anm 2), 329 Ebd Ebd MARCHIVUM, NL Emil Hofmann, Zug 9/1972, Nr 22, darin: [-], Art : „Unruhe auf dem Markt “, in: Mannheimer Tribüne, Nr 152, 05 07 1920, o S
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II. Zu exzessiven Ausschreitungen wie im Vorjahr kam es jedoch nicht und auch nach kleineren Vorfällen setzte erst einmal eine Phase der Entspannung in Sachen Lebensmittelunruhen ein Erst als in Folge der Rheinlandbesetzung 1923 die Inflation immer weiter anstieg, brachen die Auseinandersetzungen um Nahrung wieder auf Im Verlauf des Sommers gab es bereits wieder kleinere Vorfälle Wirklich kritisch wurde die Situation, als im Herbst der Wert der Mark immer schneller verfiel und die Hyperinflation einsetzte Erneut war die Versorgung mit Lebensmitteln gefährdet Nicht weil es an Waren mangelte, sondern weil die Preise so exorbitant hoch waren, dass keiner sich die Güter mehr leisten konnte 69 Von da an häuften sich die Geschehnisse und nahmen auch an Intensität zu Am 15 Oktober 1923 waren Streitigkeiten um Nahrungsmittel erneut der Auslöser schwerer Krawalle, die sowohl politische als auch soziale Komponenten hatten und zusätzlich mit einem Streik korrelierten Als an diesem Tag die Händler und Bauern ihre Ware zurückhielten und die ohnehin angespannte Nahrungsversorgung dadurch noch instabiler wurde, machte sich Unmut in der Stadt breit Morgens kam es vor dem Rathaus zu einer Erwerbslosendemonstration, woraufhin der Platz geräumt und mit Stacheldraht abgesperrt werden musste Schon hier zeigte sich die Situation angespannt, aber erst gegen Nachmittag kam es zu offenen Gewalttätigkeiten Am Messplatz kam es zu größeren sozialen und politischen Unruhen mit Personenschäden und an der Friedrichsbrücke brachen Schießereien aus Im Zuge dieser Unruhen wurden aber auch Ladengeschäfte und Fuhrwagen ausgeraubt 70 Nachdem das Lebensmittelgeschäft Kadel bestohlen worden war, richtete sich das Plündern auch auf Warenhäuser Der Metzger Fritz Wohlgezogen, der wegen Plünderungen verurteilt wurde, schildert in der Gerichtsverhandlung um seinen Diebstahl die Vorgänge folgendermaßen: „Während ich vor der Volksküche stand, sah ich, daß sich vor dem Warenhaus Kader eine große Menge Leute ansammelte Aus Neugierde ging ich nun auch hin und als ich dort ankam, wurden gerade die Scheiben des Warenhauses Kader eingeschlagen, worauf von der Menge in das Warenhaus geströmt wurde Ich blieb nun stehen, um zu sehen, was es weiter gibt und da kamen aber auch schon im Handumdrehen Leute aus dem Warenhaus mit Plündererware Da ich selbst kein Geld hatte und mir nichts kaufen konnte, begab ich mich auch hinein, um mir eventuell etwas Brauchbares zu holen Während ich drinnen war, hörte ich von außen, es käme die Schupo, weshalb ich ohne weiteres nach Hemden griff, die mir gerade zur Hand waren “71
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Geyer, Teuerungsprotest und Teuerungsunruhen (wie Anm 2), 321 MARCHIVUM, Kl Erw Nr 35, Chronik Friedrich Walther, Eintrag zum 15 10 1923 Generallandesarchiv Karlsruhe (künftig: GLA KA), Bestand 276, Nr 113, S 2
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Die geplünderte Ware wurde von dem Täter anschließend verkauft 72 Das Beispiel zeigt, wie schnell eine Plünderung eine Eigendynamik entwickeln konnte Leicht schlossen sich Menschen, die vielleicht keine kriminelle Absicht gehabt hatten, den Plünderern an, um sich Gegenstände und Nahrung anzueignen Damit trugen sie zur Verbreitung und Intensivierung der Vorfälle bei Bei den Vorfällen am 15 Oktober wurde von einem Angeklagten zu Protokoll gegeben, dass er nur drei Ballen Stoff aufgehoben und mitgenommen habe, die Plünderer aus einem Kaufhaus auf die Straße geworfen hatten 73 Dieses Verhalten war kein Einzelfall, sondern ist auch bei anderen Vorfällen in Mannheim zu beobachten 74 Plünderer stahlen nicht nur für sich selbst und die eigene Bereicherung, sondern warfen oft die Waren auf die Straße Ob dies aus Lust an der Verwüstung geschah oder um anderen die Möglichkeit zur „Versorgung“ zu geben, kann nicht beantwortet werden Auch in den folgenden Wochen erschütterten immer wieder Plünderungen und Aufläufe den Alltag Nach politischen Ereignissen konnte es ebenfalls zu Nahrungsmittelunruhen kommen und die Unruhetypen somit verschmelzen Infolge des Hitler-Ludendorff-Putsches herrschten am 9 November 1923 strenge Sicherheitsvorkehrungen, um ein Ausbreiten des Umsturzversuches zu verhindern Als nach dem Zusammenbruch der politischen Bewegung die Zensur und andere Vorschriften zur vorsorglichen Kontrolle in Baden wieder aufgehoben wurden, kam es ab Mittag zu Plünderungen von Bäcker- und Metzgerläden durch Arbeitslose 75 Eventuell wurden diese Unruhen durch den Putsch begünstigt Vielleicht waren sie aber ganz „normale“ Teuerungsunruhen, die sich unabhängig von den politischen Ereignissen abspielten Wie bei den Vorfällen am 13 November 1923: Hier waren vor allem Lebensmittelgeschäfte und Lager in der Neckarstadt, den Außenstadteilen und in Rheinau betroffen Einen Einblick in die Dynamik der Masse, das Vorgehen der Diebe und die unterschiedlichen Erfahrungen der Bestohlenen geben einige Gerichtsprozesse Schon mittags drangen Plünderer in einzelne Läden ein Ein Bäcker schildete muss unter dem Druck der Menge unfreiwillig seine Ware hergeben.76 Aber auch „Plünderungen“ ungewöhnlicher Art fanden an diesem Mittag statt In einem zweiten Bäckerladen wurde nicht ein Wort der Drohung ausgesprochen und keiner der Anwesenden nahm von selbst etwas von den Backwaren weg Stattdessen bekamen sie ohne Erpressung etwas zum Essen Die Metzgerei gegenüber erlebte sogar eine „Ausraubung“ geradezu höflicher Natur Anna Berger, die Ehefrau des Metzgers, stand hinter der Theke als drei Leute in den Laden kamen Die Ankömmlinge sagten, dass sie Hunger hätten und ob sie nicht ein Stückchen Wurst bekommen könnten, worauf die Metzgersfrau jedem et-
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Ebd , S 54 und 56 GLA KA, Bestand 276, Nr 58 So zum Beispiel in den Unruhen vom 13 11 1923, siehe hierzu: GLA KA, Bestand 276, Nr 33 MARCHIVUM, Kl Erw Nr 35, Chronik Friedrich Walther, Eintrag zum 15 10 1923 GLA KA, Bestand 276, Nr 33, S 33
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was gab Weiter erzählte sie: „Die Leute bedankten sich und gingen fort. Hiernach kamen noch 20 bis 25 Leute nach und nach in den Laden die auch um ein Stück Wurst baten. Ich gab jedem ein Stückchen und auch diese Leute bedankten sich und gingen wieder.“77 Neben dieser gesitteten Art der Bittstellung entwickelte sich auch eine gemäßigte, positive Gruppendynamik Auch wenn Anna Berger keine Person erkannte und alle unter dem Deckmantel der Anonymität leicht kriminelle Handlungen hätten begehen können, machte sich keiner eines ernsten Vergehens schuldig Einige Leute ermahnten die anderen Gruppenmitglieder, „sie sollen ja nichts wegnehmen, sondern sich mit dem genügen was sie geschenkt bekämen.“ Die Metzgersfrau bemerkte auch, dass es in dem Gedränge einfach gewesen wäre, von der wertvollen Schaufensterauslage oder aus den Regalen etwas mitzunehmen Aber nach der Aktion war alles noch vorhanden und an seinem Platz Deswegen gab Anna Berger auch bei der Kriminalpolizei an, nur eine Zeugenaussage machen, auf eine Anzeige aber verzichten zu wollen Alles was sie gegeben habe, sei freiwillig und ohne jeden Zwang geschehen 78 Diese beiden Geschehnisse beim Bäcker und Metzger waren bemerkenswerte Ausnahmen bei den Plünderungen, die jeweils um die Mittagszeit stattfanden Am Nachmittag desselben Tages nahmen die Ereignisse an Fahrt auf Nach Angabe des Drehers Karl Frey hatten die Neckarauer Arbeitslosen zwischen 14 und 16 Uhr eine Versammlung in der Wirtschaft „Zum Engel“ abgehalten Ein Sprecher berichtete dort, dass in Mannheim „Krach“ wäre und die Anwesenden verhindern müssten, dass ihre „Arbeitsbrüder“ in der Quadratstadt „totgeschlagen“ würden Daraufhin löste sich die Versammlung auf und ging in kleineren Trupps durch die Schulstraße und Luisenstraße, wo die Pläne offenbar geändert wurden Statt die angeblich bedrängten Erwerbslosen zu unterstützen, wurde nun Läden geplündert 79 Ein größerer „Haufen“ zog zum Warenlager der Firma Reichert und Söhne Dort wurde das Depot gestürmt, der Portier überrannt80 und die Lebensmittel sowohl entwendet als auch auf die Straße geworfen 81 Dort hatten sich schon Kinder versammelt, um über die Sachen herzufallen 82 Der Tagelöhner Heinrich Kling konnte bezeugen, dass das plündernde Gefolge immer von älteren Burschen angeführt wurde, die er sogar kannte und mit Namen benennen konnte 83 Im Zuge dieser Geschehnisse wurde die Menge immer größer und auch andere Menschen, nicht nur die Arbeitslosen, waren an den Unruhen beteiligt Der Taglöhner Alois Lang erzählt, wie viele Menschen an dem Treiben aktiv und passiv teilnahmen: „Ich glaube, es war an diesem Tag niemand mehr von Rheinau in den Häusern, alles war auf
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Ebd , S 25 Ebd Ebd , S 5 GLA KA, Bestand 276, Nr 61, S 1 GLA KA, Bestand 276, Nr 33, S 5 GLA KA, Bestand 276, Nr 87, S 2 GLA KA, Bestand 276, Nr 61, S 3
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der Straße und schaute sich die Sache an.“84 Nach den Vorfällen am Nachmittag spitzte sich die Lage später erneut zu, wie in einem Bericht der Behörden vermerkt wurde: „Am Abend […] hatten sich im Rheinhafen und in Rheinau grössere und kleinere Gruppen ungeordnet durcheinander gewürfelter Menschen gebildet, deren Zahl sich nicht auf den ersten Blick feststellen ließ […] Die Gruppenteilnehmer waren zu diesem gemeinschaftlichen rechtswidrigen Handeln räumlich derart zusammengetreten, dass – ihnen auch bewusst – sie als eine vereinte Macht nach außen erkennbar waren “85
Diese Menge bewegte sich dann auf die Läden und Villen in der Relaisstraße, an den vierzig Morgen und der Karlsruher Straße zu Betroffen war zum Beispiel die Villa des Fabrikdirektors Berghegger, vor der Arbeitslose der Familie drohten „sie könnten auch Wein saufen, alles würden sie zusammenschlagen, wenn sie nichts bekämen.“86 Die Besitzer telefonierten die Polizei an und meldete die Bedrängung, bekam aber zur Antwort, dass er nicht mit Hilfe rechnen könne Immerhin konnte seine Gattin mit den Belagerern verhandeln Diese hatten die Tore schon eingedrückt, standen bereits im Garten und verlangten nach Mehl Nach einer Debatte öffneten die Bergheggers zwei Personen die Tür Die Plünderer wollten das Mehl mitnehmen, ließen aber auf Bitte der Bestohlenen einen Teil zurück 87 Bei dem Kolonialwarenhändler Friedrich Gruber kam ebenfalls eine große Menschenmenge an das Haus, klopfte an die Fenster und rief „Wir haben überall etwas bekommen, geben sie freiwillig heraus, andernfalls holen wir mit Gewalt.“88 Obwohl der Händler von Leuten umzingelt wurde, weigerte er sich, an diesem Abend etwas auszuteilen Er teilte den Plünderern mit, dass sie am nächsten Morgen einen Sack Mehl bekämen, wenn sie nun endlich abziehen würden Daraufhin gingen die Eindringlinge tatsächlich und am nächsten Morgen um acht standen zwei Leute mit einem Wagen vor der Tür Als Friedrich Gruber sich erneut weigerte, etwas abzugeben, kamen weitere Personen, deren Namen er sogar kannte Sie verlangten von ihm, die Ware jetzt herauszurücken Als Begründung gaben sie an, dass sie das Mehl auf dem Sportplatz verteilen wollten und der Weg für die anderen Leute zu weit sei Nach einigen Diskussionen verteilte der Kolonialwarenhändler unter Druck in seinem Laden pro Person 1 bis 1,5 Pfund Mehl 89 Insgesamt waren allein am Abend des 13 Novembers 1923 über vierzehn Villen und Geschäfte von der Menge aufgesucht worden Dabei war das Verhalten bei den Plünderungen höchst unterschiedlich In einigen Fällen blieb es tatsächlich dabei, dass
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GLA KA, Bestand 276, Nr 65, S 1 Ebd , S 65 GLA KA, Bestand 276, Nr 65, S 1 GLA KA, Bestand 276, Nr 105, S 27 Ebd , S 29 GLA KA, Bestand 276, Nr 63, S 13
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ohne große Gewaltandrohung schlicht um Lebensmittel gebeten wurde 90 Mit einigen Bestohlenen diskutierten die Plünderer halbwegs rational, wie im Fall des Kolonialwarenhändlers oder bei der Villa der Bergheggers In den meisten Fällen aber herrschte eine extreme Gewaltbereitschaft Beim Fabrikdirektor Adolf Christ trommelten die Leute an die Läden, kletterten an den Blitzableitern in den zweiten Stock und schrien, um eingelassen zu werden 91 Auch bei der Privatperson August Klein versuchte die Masse den Küchenladen aufzubrechen 92 Die Menge bestand aber nicht nur aus Burschen und Männern; „auch tobten vor dem Haus die Weiber“, wie der Bäckermeister Friedrich Ebert zu Protokoll gab 93 Die hohe Zahl an Menschen – teilweise berichteten die Ausgeraubten von bis zu zweihundert Personen – entwickelte eine starke Gruppendynamik, welche die aggressiven Tendenzen verstärkt haben mag 94 Es gab aber auch definitiv Anführer, welche die Masse lenkten und aufwiegelten, um ihre Ziele durchzusetzen Mindestens zwei Rädelsführer, Emil Schlang95 und Karl Walther, wurden sowohl von verschiedenen Ausgeraubten als auch von anderen Dieben identifiziert Emil Schlang brüllte vor der Villa der Bergheggers „Freßwaren heraus, sonst schlagen wir alles zusammen, die können hergeben, die haben genug darin.“96 Karl Walther drohte erpresserisch und kalkulierend einer Ladenbedienung Nachdem diese der Menge mitgeteilt habe, sie hätte keine Waren, antwortete Walther: „Wenn Sie nichts freiwillig hergeben, dann gehe ich fort und lasse die Leute machen, was sie wollen, wir wollen einmal nachsehen, ob Sie nichts haben.“97 Und es war auch Walther, der am nächsten Morgen vor der Tür des Händlers stand und ihn zwang, das Mehl abzugeben, um es an die anderen Leute zu verteilen 98 Interessanterweise schien es einige Plünderer gar nicht zu stören, dass man sie erkannte Der Bäckermeister Karl Stoll wusste genau, wer in bedroht und bestohlen hatte „Am Mittwoch, den 14.11.1923 mittags 12.45 Uhr kamen Georg Krupp, Karl Berlejung, Herman Bekstein, Eugen Ripp, Wilhelm Scharz in meinen Laden und fragten, ob ich auch etwas hergeben wolle, damit es keine Plünderungen gäbe. Ich erklärte mich bereit, 30 Brote zu stiften. Ich habe das Brot unter dem Druck der Masse hergegeben.99 Bei den Dieben der Inflationsunruhen lässt sich sowohl eine Bandbreite an Täterprofilen als auch an Verhaltensmustern beobachten Es gab Menschen, welche einfach 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99
So im Fall der Anna Kolmerer, GLA KA, Bestand 276, Nr 105, S 37 f GLA KA, Bestand 276, Nr 105, S 15 GLA KA, Bestand 276, Nr 63, S 17 GLA KA, Bestand 276, Nr 65, S 23 GLA KA, Bestand 276, Nr 22, S 19 und GLA KA, Bestand 276, Nr 63, S 2 Zusätzlich zu dem Beispiel im Text wurde er von zwei weiteren Zeugen erkannt, als er als Gruppenführer in Läden Lebensmittel verlangte Siehe hierzu: GLA KA, Bestand 276, Nr 63, S 15 und GLA KA, Bestand 276, Nr 105, S 37 GLA KA, Bestand 276, Nr 65, S 1 GLA KA, Bestand 276, Nr 105, S 21 Ebd GLA KA, Bestand 276, Nr 63, S 19
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nur die Gunst der Stunde ergriffen und Lebensmittel aufhoben, die auf die Straße geworfen wurden 100 Mutigere nutzten die Gelegenheit und stürmten der Menge hinterher, um in deren Windschatten die Waren aus den Läden zu holen 101 Es gab Gewaltbereite, die mit Rufen aufstachelten, es herrschte Zerstörungswut und Vandalismus In anderen Fällen ging der Diebstahl über Nahrungsmittel hinaus; einige Räuber wollten nicht nur ihren Magen füllen, sondern nahmen auch wertvolle Arbeitsgeräte mit 102 Andere führten die Menge an und leiteten die Geschehnisse Es gab aber auch Personen, die einfach nur Hunger hatten, faktisch um Nahrung bettelten und andere Gruppenmitglieder ermahnten, friedlich zu bleiben Unter den Plünderern waren Kinder, Burschen, Männer, Frauen, Arbeitslose – am 13 November fast die gesamte Bevölkerung Rheinaus Es ist nicht möglich, bei den Unruhen 1923 die Unruhestifter auf eine Gruppe oder ein Milieu zu reduzieren Die Kriminalität ist übergreifend, weil auch der Mangel übergreifend war III. Im Folgenden soll nun betrachtet werden, wie Polizei und Regierung mit den Unruhen umgingen und wie sie versuchten, diese einzudämmen Bei den beschriebenen Food Riots im Jahr 1919 kann definitiv ein Versagen und eine Dysfunktion der Ordnungskräfte festgestellt werden Oft wurde beschrieben, dass die Polizei entweder nicht da war oder viel zu spät eintraf 103 Auch bei den ausufernden Geschehnissen vom 21 Juni 1919 wirkt das Vorgehen unkoordiniert und somit wenig professionell Obwohl die Unruhen sogar mehr als zwei Stunden vorher angekündigt wurden, schaffte es die Polizei nicht, sich gegen die Vorfälle zu wappnen 104 In den nachfolgenden Jahren kann jedoch eine bessere Vorbereitung auf potentielle Ausschreitungen beobachtet werden Schon im Januar 1920 wurde der Polizeiapparat durch eine neu geschaffene Sicherheitspolizei verstärkt Deren Aufgabe war es, für die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zum Vollzug von Gesetzen und Verordnungen, zum Schutz des öffentlichen und privaten Eigentums von Personen und zur Verhütung von strafbaren Handlungen“105 zu sorgen Für eine optimale Einsetzbarkeit sollte die neue Einheit auch außerhalb ihres Dienstsitzes und auf Anordnung des Staatsministeriums auch in benachbarten Län100 101 102 103
GLA KA, Bestand 276, Nr 61, S 4 GLA KA, Bestand 276, Nr 58, S 23 GLA KA, Bestand 276, Nr 22, S 15 MARCHIVUM, NL Emil Hofmann, Zug 9/1972, Nr 21, darin [-], Art Die Marktpolizei, in: General-Anzeiger, Nr 290, 28 06 1919, o S 104 [-], Art : „Der amtliche Bericht der Polizeibehörde “, in: Mannheimer Generalanzeiger (AbendAusgabe), Nr 281, 23 06 1919, S 2 105 GLA KA, Bestand 362, Nr 9742, Brief des Innenministers Remmele vom 12 Januar 1920 an die Bezirksämter, die Sicherheitspolizei betreffend
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dern eingesetzt werden, um bei Unruhen als Unterstützung der anderen Ordnungskräfte zu dienen 106 Infolge der steigenden Inflation im Jahre 1923 können bei der Regierung und Polizei weitere Vorbereitungen auf eventuelle Unruhen festgestellt werden Im September wurde der Polizei in ganz Baden vom Staatsministerium aus die Erlaubnis erteilt, wegen der angespannten Lage Versammlungen, Demonstrationen und Umzüge unter freiem Himmel zu verbieten, sobald die öffentliche Sicherheit dadurch gefährdet wäre 107 Ende Oktober versuchte die badische Regierung erneut, durch eine gesteigerte Mobilität der Polizei den Schutz vor Unruhen zu verbessern Dafür sollten die Gendarmeriebeamten Sonderkommandos bilden, die nach Bedarf an vorher bestimmte Orte des Landes versetzt und bei Ausschreitungen schnell eingesetzt werden könnten 108 Am 10 November 1923, drei Tage vor den extremen Ausschreitungen in Mannheim, wurden alle Bezirksämter in Baden gewarnt Wegen der besonderen Notlage weiter Teile der Bevölkerung seien Wucher und Schieberei als eine Gefahr der öffentlichen Ordnung anzusehen Deswegen müssten die Ämter mit aller Entschiedenheit dagegen vorgehen Um die Sicherheit zu gewährleisten, sollten Preistreiber deshalb auch in Schutzhaft109 genommen werden können 110 Es war auf jeden Fall weitsichtig von der Regierung, die angespannte Situation im Auge zu behalten und Vorsorge zu treffen In einigen Fällen kann auch ein deutlicher Erfolg in der Eindämmung der Unruhen gesehen werden Bei den Plünderungen am Nachmittag des 13 Novembers 1923 agierte die Polizei durchaus souverän und effizient Als das Lager der Firma Reichert geplündert wurde, setzte sich sofort die Bereitschaftspolizei in Bewegung Schon nach einer Stunde konnte diese die entflohenen Plünderer auf dem Feld zwischen Neckarau und Rheinau festnehmen Außerdem er-
106 Ebd 107 GLA KA, Bestand 309, Nr 7, Brief des Ministers des Innern vom 24 September 1923 an die Bezirksämter und die Landeskommissäre, Versammlungen unter freiem Himmel betreffend 108 GLA KA, Bestand 362, Nr 165, Brief des Ministers des Innern vom 29 Oktober 1923 an die Oberamtmänner, Schutz bei Unruhen betreffend 109 Der Begriff „Schutzhaft“ ist durch die Vorgänge im „Dritten Reich“ historisch vorbelastet und mit äußerster Vorsicht zu verwenden Trotzdem darf der Begriff nicht allein auf die Zeit des Nationalsozialismus reduziert werden Die Bezeichnung Schutzhaft wurde für bestimmte Formen der Ingewahrsamnahme durch die Polizei bereits in der Weimarer Republik und im Kaiserreich zwar nicht als normativer Terminus technicus verwendet, war jedoch im juristischen Sprachgebrauch gebräuchlich Gemeint war damit, dass Personen dann in polizeiliche Verwahrung genommen werden konnten, wenn der Schutz dieser Person selbst oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sittlichkeit, Sicherheit und Ruhe diese Maßregel erforderlich machte Siehe dazu: Walter Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge Verfassungsrechtliche Grenzen des Streikrechts in der Daseinsvorsorge Zugleich ein Beitrag zur Staatsaufgabenlehre sowie zur Grundrechtsdogmatik des Art 9 Abs 3 GG (= Studien und Beiträge zum öffentlichen Recht, Band 21), Tübingen 2016, S 126 110 GLA KA, Bestand 362, Nr 207, Brief des Ministers des Innern vom 10 November 1923 an die Bezirksämter, Schutzhaft gegen Schieber betreffend
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folgten offenbar so viele Verhaftungen, dass das Amtsgefängnis vollkommen überfüllt war und einige Festgenommene in die Landesgefängnisse verlegt werden mussten 111 Auch zeugen die vielen Gerichtsakten von einer sorgfältigen und schnellen Arbeit der Judikative 112 Warum trotz der Effizienz des Polizeieinsatzes am Nachmittag des 13 Novembers 1923 die Ausschreitungen am Abend so außer Kontrolle liefen, ist schwer zu erklären Besonders frappierend ist, wie lange die Menge die Villen und Läden bedrängen konnte, ohne dass sie von Ordnungshütern aufgehalten wurden Nach den Zeugenaussagen fingen die ersten Übergriffe um 18 Uhr113 an und gingen mindestens bis mindesten kurz vor Mitternacht weiter 114 Zudem lagen die von den Plünderungen betroffenen Adressen nicht weit voneinander entfernt: Sie waren alle in unmittelbarer Nachbarschaft und die betroffenen Straßen kreuzten sich teilweise Es kann also nicht davon gesprochen werden, dass sich die Menge zerstreut durch die gesamte Stadt bewegte hatte und somit ein Zugriff erschwert gewesen wäre Auch die Tatsache, dass die Bedrohten die Polizei bereits um halb acht antelefonierten, ihnen aber mitgeteilt wurde, „daß [sie] nicht auf Hilfe rechnen könnten“,115 ist mehr als schockierend Es gibt keine Anzeichen, dass die Sicherheitskräfte anderweitig gebunden gewesen wären Stattdessen konnten die Plünderer noch lange ihren Kräften freien Lauf lassen Es stellt sich daher die Frage, ob die heftigen Nahrungsmittelunruhen nicht erst durch ein Versagen der Ordnungskräfte derartig ausufern konnten Ein weiteres Versagen der Sicherheitskräfte finden wir bei einer Plünderung am 17 November 1923 Hier war das Problem jedoch nicht, dass nicht gut genug vorgesorgt worden wäre oder ein Fehler von Seiten der Ordnungskräfte vorgelegen hätte Vielmehr stellte sich hier schlicht die Lokalität als fatal heraus, da die Übergriffe in der Besatzungszone der Franzosen passierten Die Kartoffelgroßhandlung der Gebrüder Weil hatte schon seit Tagen aus ihrem Lager an der Neckarspitze Lebensmittel an Bedürftige verschenkt An diesem Tag wollten jedoch vierzig bis fünfzig Personen gewaltsam in das Lager eindringen Nachdem Mitarbeiter der Firma versucht hatten sie abzuweisen, machte sich die Menge über die an den Gleisen stehenden Güterwagen mit Transitwaren her, deren Inhalt Kartoffeln für das Saargebiet und die Schweiz waren Während die Diebe die Kartoffelsäcke davontrugen, musste der einzige Wachmann dem Treiben hilflos zuschauen Und da sich das Lager in besetztem Gebiet befand, konnte kein größeres Polizeiaufgebot eingesetzt werden Währenddessen sahen die Franzosen dem Treiben der „Selbstversorger“ lachend zu und unternahmen nichts 111 112 113 114 115
GLA KA, Bestand 276, Nr 61, Schreiben des Inspektors des Amtsgefängnisses vom 12 November 1923 Ein Angeklagter wurde nach vier Wochen schon verurteilt Ebd , Schreiben des Amtsgerichts vom 25 Januar 1924 GLA KA, Bestand 276, Nr 63, S 15 GLA KA, Bestand 276, Nr 105, S 33 Ebd , S 27
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Nach dem Überfall befürchtete die Firmenleitung, dass sich die erfolgreiche Aktion der Kartoffeldiebe herumsprechen und es zu einer Wiederholung der Tat kommen könnte Auch andere Geschäftsleute, deren Lager sich im Besatzungsgebiet befanden, hatten mit denselben Problemen und mehrfachen Plünderungen zu kämpfen 116 Vergleicht man die Beobachtungen mit anderen Forschungen, die sich mit dem Thema Hunger und Sozialprotest beschäftigen, finden sich viele Parallelen und Gemeinsamkeiten, aber auch einige Unterschiede Ein interessantes Detail ist, dass in anderen Städten Lebensmittelplünderungen oft mit antisemitischen Angriffen einhergingen Es bestand ein tiefes Ressentiment gegen Erzeuger und Händler von Lebensmitteln – vor allem wenn diese Juden waren In einigen Fällen beschuldigte die Masse allein auf Grund der Religion einige Ladenbesitzer als Wucherer oder Schieber und griff unter antijüdischen Parolen gezielt deren Geschäfte an 117 In Mannheim findet sich hingegen kein einziger Hinweis auf ein derartiges Verhalten Zwar wurde am 21 Juni 1919 das Kaufhaus Rothschild geplündert, aber antisemitische Parolen waren nicht zu hören Da an diesem Tag noch mehrere andere Läden ausgeraubt wurden, ist der Raub schlicht und einfach damit zu erklären, dass es sich um ein bekanntes und großes Geschäft handelte Dies unterscheidet die Quadratstadt von anderen deutschen Städten Weiter liefert die Forschung von Eric Hobsbawm hilfreiche Ansätze Er untersuchte soziale Unruhen in vorindustriellen Städten und nahm eine Bewegung war, die er den „Mob“ nannte Trotz der unterschiedlichen Epoche wies diese Bewegung sehr viele Ähnlichkeiten mit den protestierenden Mannheimern in der frühen Weimarer Republik auf Der „Mob“ hatte meist keine politischen Ideen, sondern agierte nur gegen die existenziellen und aktuellen Nöte wie Arbeitslosigkeit, hohe Preise oder das Verhalten der Händler Bei den Mannheimern vermischen sich zwar die Food Riots mit sozialen oder politischen Unruhen, aber oft stehen die Subsistenzunruhen auch solitär Der „Mob“ hatte aber auch den Anspruch, gehört zu werden – was sehr gut zu den Mannheimer Plünderern passt, die etwa nach dem Klauen der Kirschen das öffentliche Schimpfen anfingen Der klassische Mob beging seine Aktionen nicht nur aus Protest, sondern weil er etwas erreichen wollte 118 Hobsbawm beobachtete zudem, dass die Unruhestifter sich nicht nur aus Verbrechern zusammensetzten, sondern vor allem kleine
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[-], Art : „Wegnahme von Kartoffeln und Kohlen“, in: Mannheimer Generalanzeiger (Mittag-Ausgabe), Nr 530, 17 11 1923, S 3 Karin Hartewig, „Eine sogenannte Neutralität der Beamten gibt es nicht “ Sozialer Protest, bürgerliche Gesellschaft und Polizei im Ruhrgebiet, in: Alf Lüdtke (Hg ), „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“ Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19 und 20 Jahrhundert (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 991) Frankfurt am Main 1992, 308 und Geyer, Teuerungsprotest und Teuerungsunruhen (wie Anm 2), 331 Eric Hobsbawm, Sozialrebellen Archaische Sozialbewegungen im 19 und 20 Jahrhundert Gießen 1979, 148 f
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Leute waren 119 Sein Fazit ist, dass es sich bei dem „Mob“ um eine archaisch-soziale Bewegung handelte 120 Markant ist zudem, dass der Begriff „Selbsthilfe“ in den Bewegungen eine große Rolle spielt und zu einem Schlagwort der damaligen Zeit wurde 121 Der Begriff zeigt die Handlungsunfähigkeit des Staates, die Bürger ausreichend mit bezahlbaren Gütern zu versorgen und gegen Schiebereien vorzugehen Der Ineffizienz und Ohnmacht der staatlichen Organe steht die Selbsthilfe von Organisationen, kleinen Gruppen und Individuen gegenüber Nachdem der Markt nach Unruhen vollkommen leer war und alle Händler und Erzeuger ihn mieden, hörte der Autor eines Marktberichtes Sätze wie „Wir werden schon raus aufs Land gehen und holen, was wir brauchen.“122 Der Akt der Selbsthilfe ist ein typisches Merkmal der Food Riots, die von ihren Charakteristika eigentlich gar nicht mehr in das 20 Jahrhundert passen Eigentlich waren sie ein Phänomen, das vom 17 bis ins frühe 19 Jahrhundert in Europa gehäuft auftrat und den Hunger als zentralen Antrieb hatte Im Zuge der verbesserten Nahrungsmittelversorgung verschwand diese Art von Protest aber weitestgehend 123 Thomas Lindenberger untersuchte Unruhen in Berlin von 1900 bis 1914 und kam zu dem Ergebnis, dass Lebensmittelrevolten absoluten Seltenheitswert hatten 124 Die Lebensmittelunruhen in der Weimarer Republik waren in ihren Ausprägungen und ihren Verläufen etwas Archetypisches, das eher der Vergangenheit angehörte und somit für einen Rückschritt der gesellschaftlichen Verhältnisse steht In seinen Forschungen über archaische Proteste stellte Hobsbawm fest, dass bei Unruhen häufig ein „collective bargaining by riot“ einsetzte 125 Jürgen Kocka übersetzt diesen Begriff mit „Tarifverhandlungen durch Tumulte“ 126 Noch besser trifft es die zweite Wortbedeutung von bargaining: Feilschen, also ein „kollektives Runterhandeln durch Tumulte“ Der „klassische Mob“ zwang durch öffentliche Gewalt die Obrigkeit, akute Not zu lindern und zum Beispiel Nahrungsmittel auszugeben 127 Genau dieses Muster lässt sich bei den Food Riots der Weimarer Republik wiederfinden Allerdings unternahmen die Behörden sehr wohl Versuche, die Versorgung aufrecht zu halten
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Ebd , S 150 Ebd , S 166 Geyer, Teuerungsprotest und Teuerungsunruhen (wie Anm 2), 327 MARCHIVUM, NL Emil Hofmann, Zug 9/1972, Nr 21, darin [-], Art : „Marktwanderung“, in: General-Anzeiger, Nr 281, 23 6 1919, o S 123 Jürgen Kocka, Hunger, Ungleichheit und Protest Historische Befunde, Skript des Verfassers für den Friedrich-Ebert-Gedächtnis-Vortrag vom 10 Februar 2016, gehalten für die Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, S 4 124 Thomas Lindenberger, Die Fleischrevolte am Wedding Lebensmittelversorgung und Politik in Berlin am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in: Gailus/Volkmann (Hrsg ), Der Kampf um das tägliche Brot (wie Anm 1), 290 Ebenso Gailus/Volkmann, Nahrungsmangel (wie Anm 5), 15 125 Kocka, Hunger (wie Anm 123), 6 126 Ebd 127 Hobsbawm, Sozialrebellen (wie Anm 118), 149
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Das „Herunterhandeln“ spielte sich dennoch im direkten Kontakt zwischen Händlern und aufgebrachten Verbrauchern ab In anderen Städten funktionierte „collective bargaining by riot“ hingegen noch als Druckmittel auf die Politiker: So hatte es beispielsweise in Bochum in den Anfangsjahren der Republik Food Riots gegeben Nach diesen Plünderungen gab der Magistrat ein Flugblatt heraus, in dem versprochen wurde, die Preise zu senken, Lebensmittel zu beschaffen und Luxuswaren vom Markt fernzuhalten 128 Hier findet sich ein Merkmal, das die Mannheimer Unruhen einerseits mit den vorindustriellen Ereignissen verbindet, andererseits aber auch von diesen unterscheidet: Es geht in den Nachkriegsjahren nicht nur darum, sich durch die Plünderungen vor dem Hungertod zu retten Wem es allein ums Überleben geht, der fängt nicht an, mit einem Händler um siebzig Prozent Preisnachlass zu feilschen – stattdessen würde er direkt stehlen Es geht in diesem Fall um faire Preise, Gerechtigkeit oder besser gesagt, um das Bedürfnis nach einer normalen Ernährungs- und Lebenssituation Denn ein Merkmal sticht bei den Food Riots in Mannheim besonders hervor: Die Konflikte drehten sich der zwar um Nahrungsmittel Aber im Fokus standen selten überlebenswichtige Sattmacher, sondern „Luxusartikel“ wie Käse oder Obst, speziell Kirschen Auch in den Forschungen von Andrea Lefèvre über die Hungerunruhen in Berlin war eher das Obst im Fokus des Interesses Seltener drehte sich der Konflikt um Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln 129 Auch in Bochum wurden Marktstände umgestoßen, weil die Preise für Erdbeeren und Kirschen als zu teuer empfunden wurden 130 Und noch ein Merkmal fällt besonders stark auf: Betteln und Landstreicherei, typische Symptome der Armut, nehmen von 1918 bis 1922 in Baden deutlich ab Die generelle Lebenssituation scheint schlecht zu sein, aber genau am untersten Rand der Gesellschaft besserten sich die Verhältnisse 131 Erst im Spätherbst des Jahres 1923, zur Zeit der Hyperinflation, drehten sich in Mannheim die Aktionen mehr um essentielle Nahrungsmittel: Auf Sachwerte oder Delikatessen war kaum ein Plünderer aus Ein Mensch, der vor dem Verhungern steht, regt sich nicht über die Preise von Camembert auf oder geht wegen Kirschen ein Risiko ein Auch wurden die Warenhäuser 1919 nicht wegen knurrender Mägen um Blusen, Wäschestücke und Stoffballen erleichtert Im Fall akuten Hungers hätten die Plünderer sich nur auf die Lebensmittelläden konzentriert Der größte Teil der Mannheimer Bürger musste über Jahre hinweg sehen, wie sich Wohlhabende trotz größter Not immer noch vieles leisten konnten,
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Hartewig, „Eine sogenannte Neutralität der Beamten gibt es nicht “ (wie Anm 117), 301 Lefèvre, Lebensmittelunruhen (wie Anm 3), 348 Hartewig, „Eine sogenannte Neutralität der Beamten gibt es nicht “ (wie Anm 117), 302 GLA KA, Bestand 362, Nr 169, Brief des Badischen Statistischen Landesamts an die Bezirksämter vom 20 November 1922, Bestrafung des Bettels und der Landstreicherei betreffend
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das einfache Volk aber auf der Strecke blieb 132 Es wurden Triumphe gefeiert, wenn durch einen Kirschensturm oder die Bedrängung eines Käsehändlers „paradiesische Verhältnisse vor dem Krieg“133 erreicht wurden Selbst die Presse zeigte sich bei der Berichtserstattung der Geschehnisse mit der Selbsthilfe der Konsumenten solidarisch Bis auf die Plünderungen 1923 sind die Lebensmittelunruhen eine Möglichkeit, seiner Wut freien Lauf zu lassen und für kurze Zeit zu niedrigen Preisen etwas zu konsumieren, was man schon lange Zeit auf seiner Speisekarte vermisst hat IV. Insgesamt handelte es sich im Fall von Mannheim in den Anfangsjahren der Weimarer Republik um eine Stadt, die von Unsicherheiten, besonders aber von wirtschaftlichen Problemen betroffen war In diesem schwierigen Umfeld kam es nun zu Unruhen und Gewaltausbrüchen unterschiedlichster Art Neben den Food Riots wurden in der Masterarbeit auch soziale Unruhen, politische Unruhen als auch gewaltsam verlaufende Streiks untersucht Teilweise korrelierten die Nahrungsmittelaufstände mit den anderen Ausschreitungen In 11 % aller Fälle vermischten sie sich mit politischen Unruhen oder Streik In 26 % verliefen sie genuin 134 Dadurch waren sie die zweithäufigste Konfliktart in Mannheim Nur die politischen Unruhen verzeichneten mehr Vorfälle Teilweise fingen Ausschreitungen mit Lebensmittelstürmungen an und bekamen dann Züge von politischen oder sozialen Unruhen Damit boten die Food Riots ein hohes Konfliktpotential Die Abwehrmaßnahmen und die Eindämmungsstrategien der Behörden unterschieden sich innerhalb des Untersuchungszeitraums insgesamt und je nach Unruhetyp stark Manchmal agierten die Sicherheitskräfte professionell und konnten entweder Unruhen schnell eindämmen oder zumindest die Täter nach einiger Zeit stoppen Von vielen anderen Vorfällen ist aber bekannt, dass die Ordnungskräfte höchst unkoordiniert handelten und nach Stunden immer noch nicht am Einsatzort waren Manchmal geschah es auch, dass sie angekündigten Randalen gänzlich unvorbereitet begegneten Bei anderen Vorfällen gab es dagegen Kritik, dass die Polizei zu lange abwarten würde, um die Probleme dann mit übertriebener Vehemenz und Maschinengewehren zu lösen 135 In einigen Fällen ist anzunehmen, dass ausufernde Ereignisse 132 133 134 135
MARCHIVUM, NL Emil Hofmann, Zug 9/1972, Nr 21, darin: [-], Art : „Es lebe der „freie Handel““, in: Volksstimme, Nr 157, 20 06 1919, Nr 157, o S MARCHIVUM, NL Emil Hofmann, Zug 9/1972, Nr 22, darin: [-], Art : „Ein Zwischenfall auf dem Wochenmarkt“, in: General-Anzeiger, Nr 289, 03 07 1920, o S Lilian Zafiri, Und sie prügelten sich mit Zitronenkisten Gewaltausbrüche und Unruhen in Mannheim in den Anfangsjahren der Weimarer Republik, phil MA, Mannheim 2017, S 95 MARCHIVUM, NL Emil Hofmann, Zug 9/1972, Nr 22, darin: [-], Art : „Unruhe auf dem Markt “, in: Mannheimer Tribüne, Nr 152, 05 07 1920, o S
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durch ein Fehlverhalten der Sicherheitskräfte begünstigt wurden Im Laufe der Jahre gab es freilich Verbesserungen Polizei, Staatsanwaltschaft und Politik versuchten nun, Ausschreitungen vorzubeugen Dennoch blieb in einigen Fällen ein schlechtes Krisenmanagement bestehen Wertet man die Zahlen in Statistiken auf, ergibt sich ein sehr interessantes Bild Nicht nur die Anzahl der Unruhen wurde untersucht Auch die Intensität wurde eruiert Aufgezeigt wird, ob es zu Sachschäden, Personenschäden, Toten, „nicht nennenswerten“ Schäden oder einer Kombination der vier Ausprägungen kam 136 Die Food Riots korrelierten hingegen häufig mit externen Faktoren – in erster Linie mit der Nahrungsmittelversorgung In den Jahren 1921 und 1922, als die Ernährungssituation halbwegs stabil war, ist kein einziger Food Riot festzustellen Sie wirkten auch hinsichtlich ihrer Intensität aus der Retrospektive vergleichsweise harmlos 137 In 40 % aller Fälle wurden keine nennenswerten Schäden verursacht Kein anderer Ausschreitungstyp hatte einen so hohen Prozentsatz an glimpflich verlaufenen Geschehnissen Die Anzahl der Personenschäden war relativ niedrig Was überwog, waren logischerweise die Sachschäden – denn bei den Food Riots war es häufig das Ziel, Nahrungsmittel illegal in Besitz zu bringen Und da die Diebstähle unter Sachschäden fallen, ist hier der Anteil mit 50 % besonders hoch Trotz dieser vergleichsweise „positiven“ Bilanz wurden die Food Riots damals vermutlich nicht als harmlos wahrgenommen Vielmehr waren sie in vielerlei Hinsicht eine erhebliche Störung Zum einen brachten die meisten Subsistenzunruhen weitere negative Folgen mit sich: Entweder streikten die Markthändler oder es durfte nur unter strengster Bewachung eingekauft werden Waren am Tag der Nahrungsmittelstürme einige Menschen in den Vorteil billiger Waren gekommen, hatten tags darauf viele Käufer einen großen Nachteil Zum anderen war dieses „öffentliche-illegale“ Verhalten ein Phänomen, das den damaligen Zeitgenossen unbekannt war Dieses nichtgesellschaftsfähige Verhalten war ein herausstechendes Zeichen dafür, in welchen Krisenzeiten sozialer Not sich die Menschen befanden Auch konnte aus dem Geschehen heraus nie beurteilt werden, ob es bei einem „einfachen“ Nahrungsmittelsturm blieb oder ob die aufgeregte Masse an schimpfenden, fluchenden und plündernden Menschen nicht zu größeren Ausschreitungen übergehen würde
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Es wird allerdings in dieser Bewertung kein Unterschied gemacht, ob die verschiedenen Schäden gering oder schwerwiegend waren Ob ein Sachschaden wenige Mark oder mehrere Millionen kostete, ob ein Verletzter nur eine gebrochene Nase hatte oder krankenhausreif geschlagen wurde, ob es einen Toten oder ein Dutzend gab, bleibt in der Intensitätsstatistik unbeachtet Das liegt an der schlechten Aussagekraft der Quellen Durch die Art der Archivalien und die vielen verschollenen Unterlagen ist eine eindeutige Aussage in vielen Fällen nicht mehr möglich Wenige Dokumente geben Auskunft über exakte Zahlen Deswegen fächert die Statistik diese Informationen nicht weiter auf, sondern verharrt auf einem weniger detaillierten Niveau Zafiri, Und sie prügelten sich mit Zitronenkisten (wie Anm 134) 99
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Mal waren diese spontan und entstanden aus der Situation heraus, mal lagen Hinweise auf Anstiftung zur Plünderung vor Auch die Tätergruppen und ihr Vorgehen unterschieden sich stark Von Kindern über Jugendliche, von Frauen, Männern, Erwerbslosen und aller Wahrscheinlichkeit nach auch Bürgerlichen, ist fast jede Bevölkerungsgruppe vertreten Einmal kam es zu brutalen Plünderungen unter Ausübung körperlicher Gewalt, mal zu „Ladenstürmungen“, die eher an kollektive Bettelaktionen erinnern; in anderen Fällen leiten Anführer die Menge In vielen Fällen können wir bei den Menschen ein Verhalten beobachten, dass an den von Eric Hobsbawm definierten „klassischen Mob“ erinnert Die Ausbrüche, das Stehlen von Nahrung und Zerstören von Marktständen sind eigentlich archaische Formen, um gegen die Preise zu demonstrieren und eine Regulierung einzufordern Allerdings geht es häufig nicht um überlebenswichtige „Sattmacher“, sondern um Leckerbissen wie Obst und Käse Zugleich sind Food Riots ein Ventil, der Frustration über die jahrelange, ungerechte Nahrungsmittelverteilung freien Lauf zu lassen Erst durch die Not während der Hyperinflation geraten die Grundnahrungsmittel wieder in den Fokus des Interesses
Die „Weinbetrüger“-Prozesse in Rheinhessen Zur „Arisierung“ des jüdischen Weinhandels Julia Kreuzburg Auf einem Motivwagen des Rosenmontagszugs in Mainz 1936 war der Appell zu lesen: „Im Wein liegt Wahrheit nur allein, kaufst Du beim Deutschen Handel ein!“1 Vor einem großen Weinfass standen mehrere Personen; sie trugen traditionelle jüdische Kleidung, dunkle Kaftane und Kopfbedeckung Das Fass hatte mehrere Zapfhähne, die mit den Bezeichnungen unterschiedlicher Weinlagen beschriftet waren Der Wagen trug weiterhin folgende Aufschrift: „Han mer auch Eintopf gemacht! Fremde Art hat, so betätigt deutschen Handel schwer geschädigt “2 Der Wagen und das antisemitische Hetzmotto nahmen Bezug auf Prozesse gegen jüdische Weinhändler im Raum Rheinhessen, die seit 1935 vor dem Landgericht Mainz verhandelt wurden Mehrere Firmen wurden wegen diverser Vergehen im Zusammenhang mit ihrer Berufsausübung angeklagt Jene Strafverfahren sind als Teil des Verdrängungsprozesses jüdischer Weinhandelsunternehmen in Rheinhessen zu sehen Dabei handelt es sich um eine bislang kaum untersuchte Thematik Die Geschichte Rheinhessens während des Nationalsozialismus fand in der Forschung einige Beachtung 3 Zur Weinwirtschaft im 20 Jahrhundert und im Speziellen zum Weinhandel liegen hingegen bisher kaum wissenschaftliche Publikationen vor 4 Hier liefern eher die Arbeiten von Laienhistorikern 1 2 3
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Siehe Abbildung und Erläuterung bei Michael Brodhaecker, Menschen zwischen Hoffnung und Verzweiflung Der Alltag jüdischer Mitmenschen in Rheinhessen, Mainz und Worms während des „Dritten Reiches“ (Studien zur Volkskultur in Rheinland-Pfalz, Bd 26) Mainz 1999, 301 Ebenda Zum Forschungsstand siehe Walter Rummel, Regionen im Nationalsozialismus Ein Forschungsbericht aus rheinland-pfälzischer Sicht, in: Michael Kißener (Hrsg ), Rheinhessische Wege in den Nationalsozialismus Studien zu rheinhessischen Landgemeinden von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Diktatur Worms 2010, 9–59 und Markus Würz, Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinhessen Ein Überblick über die (Forschungs-)Literatur, in: Museum Alzey/Altertumsverein für Alzey und Umgebung e V (Hrsg ), „Beseelt mit Hitlergeist“ … bis zum bitteren Ende Nationalsozialismus im Alzeyer Land Alzey 2012, 11–29 Als älteste Publikation mit wissenschaftlichem Anspruch ist Friedrich Bassermann-Jordan, Geschichte des Weinbaus, Bd 2 2 Aufl Frankfurt a M 1923 [ND Landau 1991], aufzuführen Daniel
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Anhaltspunkte für weitergehende Recherchen 5 Auch die Bedeutung der Juden für den Weinhandel blieb bisher nahezu unbeachtet 6 Das Forschungsdesiderat der sogenannten „Weinbetrüger“-Prozesse7 dient als Anlass, um in vorliegendem Beitrag ausgewählte Strafverfahren zu untersuchen und sowohl die Geschehnisse als auch die Schicksale der Weinhändler exemplarisch nachzuzeichnen 8 I. Zum jüdischen Weinhandel in Rheinhessen im frühen 20. Jahrhundert Mainz galt als „Zentralort des rheinhessischen Weinhandels“9 Die Betätigung von Juden im Weinhandel hatte dort lange Tradition 1935 gab es in der Stadt 186 Wein-
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Deckers, Eine Geschichte des deutschen Weines Im Zeichen des Traubenadlers Mainz 2010, setzt sich mit der Geschichte der berufsständischen Verbände von Weinbau und Weinhandel auseinander Die Entwicklung im 19 Jahrhundert ist bei Helmut Mathy, Kurmainzer Weinbau und Weinhandelspolitik vom 17 bis 19 Jahrhundert, in: Alois Gerlich (Hrsg ), Weinbau, Weinhandel und Weinkultur Sechstes Alzeyer Kolloquium (Veröffentlichungen des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz, Bd 40) Stuttgart 1993, 187–222, nachzulesen Besonders hinzuweisen ist auf den Sammelband Andreas Wagner (Hrsg ), Weinbau in Rheinhessen Beiträge des Kulturseminars der Weinbruderschaft Rheinhessens zu St Katharinen am 14 November 2015 (Schriften zur Weingeschichte, Bd 190) Wiesbaden 2016 Hinsichtlich des Untersuchungszeitraums hierfür besonders relevant ist der Aufsatz von Pia Nordblom, „Die Brücke von flüssigem Gold“ Weinbau in Rheinhessen zur Zeit des Nationalsozialismus, 44–68 Als aufgrund fehlender Belege nicht strengen wissenschaftlichen Standards entsprechend, aber nichtsdestotrotz informativ, sind folgende Publikationen aufzuführen: Hans Charissé, Der Verband rheinhessischer Weinhändler 1900–1950 Mainz 1950; Dieter Graff, Die deutsche Weinwirtschaft in den 1930er Jahren (Schriften zur Weingeschichte, Bd 171) Wiesbaden 2011; Hans-Jörg Koch, Rheinhessen, Weinhessen Skizzen aus 2000 Jahren (Schriften zur Weingeschichte, Bd 19) Wiesbaden 1969; Adam Reitzel, Mainz Stadt des deutschen Weines Mainz 1964; Hartmut Keil / Felix Zilien, Der deutsche Wein 1933 bis 1945 Eine historische Betrachtung Dienheim 2010 Einzig vorliegend: Günther List, Juden im Landauer Weinhandel Skizze einer Gründerzeit, in: Alfred Kuby (Hrsg ), Juden in der Provinz Beiträge zur Geschichte der Juden in der Pfalz zwischen Emanzipation und Vernichtung 2 Aufl Neustadt a d W 1989, 65–85; Heiko Müller, Jüdische Weinhändler in Neustadt, in: Paul Habermehl / Hilde Schmidt-Häbel (Hrsg ), Vorbei – Nie ist es vorbei Beiträge zur Geschichte der Juden in Neustadt (Schriftenreihe der Bezirksgruppe Neustadt im Historischen Verein der Pfalz, Bd 13) Neustadt a d W 2005, 239–254; Angelika Pichotta, Jüdische Weinhändler in Landau, in: Stadtarchiv Landau (Hrsg ), Juden in Landau Beiträge zur Geschichte einer Minderheit (Schriftenreihe zur Geschichte der Stadt Landau in der Pfalz, Bd 7) Landau 2004, 39–53; Uwe Schellinger, Wein, Wohltätigkeit und sozialer Aufstieg Die Geschichte der jüdischen Familie Durlacher aus Kippenheim, in: Die Ortenau 85, 2005, 379–40 So die Bezeichnung in der zeitgenössischen Publizistik, siehe Stürmer 30, 1939, Kampf der jüdischen Tarnung Der vorliegende Beitrag fasst Ergebnisse einer Masterarbeit „Die ‚Arisierung‘ des jüdischen Weinhandels in Rheinhessen“, Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2016, zusammen Er legt einen ausdrücklichen Schwerpunkt auf die justiziellen Maßnahmen, namentlich die Prozesse gegen jüdische Weinhändler aus Mainz Nordblom, Weinbau (wie Anm 4), 47
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handlungen, wovon schätzungsweise ein Drittel in jüdischer Hand waren 10 Nach der Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft waren 1940 nur noch 140 Weinhandlungen übrig geblieben 11 Auch die Zahl der jüdischen Einwohner in Mainz sank von 3 147 im Jahr 1933 auf 2 072 im Juni 1938 12 Von den davon insgesamt 649 aus Mainz ins Ausland ausgewanderten Juden gingen 226 ins europäische Ausland, 207 in die USA und die übrigen nach Palästina, Südamerika, Südafrika und Siam 13 Es gibt keine verlässlichen Zahlen darüber, bis zu welchem Anteil die jüdischen Unternehmen liquidiert oder „arisiert“ wurden, oder welche Firmen in „arische“ Hände übergingen In etwa lässt sich sagen, dass von den reichsweit 100 000 jüdischen Betrieben im Jahr 1932 noch rund 40 000 im April 1938 bestanden 14 Drei ausgewählte Mainzer Firmen machen den Untersuchungsgegenstand aus Sie waren sämtlich Weingroßhandlungen vom Typus der „distributierenden“ Weinhändler 15 Es handelt sich um die Geschäfte H Sichel Söhne, S Heymann Söhne und
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Deutsches Weinfach-Adreßbuch, Bd 1, Weinhandels-Adreßbuch 22 Aufl Mainz 1935, 275–277 Verlässliche quantitative Angaben über die Anzahl oder den Anteil von Juden im rheinhessischen Weinhandel sind kaum möglich Nordblom, Weinbau (wie Anm 4), 62, warnt davor, die Angaben nationalsozialistischer Propaganda, wonach der Weinhandel hauptsächlich von Juden betrieben worden sei, zu übernehmen, da es sich hier um ein ideologisch aufgeladenes Vorurteil handelte In einer Aktennotiz des Gauwirtschaftsberaters Hessen (siehe Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (künftig:HHStAW) 519/1 132, Aktennotiz des Gauwirtschaftsberaters vom 17 August 1938) heißt es, dass der Mainzer Weinhandel „fast ganz unter jüdischer Flagge gesegelt sei“ Graff, Weinwirtschaft (wie Anm 5), 46, gibt einen Anteil der Juden im Weinhandel von 80 Prozent an, wobei er keinen Beleg für seine Angabe anführt Insgesamt lassen sich also lediglich Tendenzen bezüglich der Anzahl der jüdischen Weinhandlungen im Vergleich zu den nichtjüdischen angeben Als einziger Anhaltspunkt, ob es sich bei den 186 Firmen um jüdische handelte, können die Namen gelten Deshalb wurde ein Abgleich der Firmennamen mit Mainzer jüdischen Familiennamen vorgenommen Da keine geeignetere Übersicht der Mainzer jüdischen Einwohner überliefert ist, galt als Referenzwerk: Bundesarchiv Koblenz (Hrsg ), Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, URL: https://www bundesarchiv de/gedenkbuch/einfuehrung html de?page=1 (Zugriff am 9 August 2018) Dieser Abgleich ist gewiss nicht präzise, da dabei erstens nicht sichergestellt werden kann, ob es sich bei den Weinhändlern tatsächlich um Juden handelte (beispielsweise beweist die Deportation des Juden Meyer nicht, dass die Weinhandlung Meyer ebenfalls in jüdischem Besitz war) und zweitens weil weitere Weinhandlungen aus der Übersicht jüdisch sein könnten, auch wenn kein Jude mit demselben Familiennamen in der Deportiertenübersicht auftaucht Ziel ist hier aber auch keine exakte Angabe, sondern es soll lediglich eine Tendenz aufgezeigt werden Auf Grundlage dieser Vorgehensweise ist die Angabe von 80 Prozent nicht haltbar Adreßbuch der Stadt Mainz 59 Aufl Mainz 1940 Hans-Walter Hermann, Von der Assimilation zur Deportation Jüdisches Leben in Rheinland-Pfalz zwischen den beiden Weltkriegen, in: Michael Matheus (Hrsg ), Juden in Deutschland Stuttgart 1995, 101–118, hier 112 Dieser Schwund entstand auch durch Binnenwanderung Brodhaecker, Menschen (wie Anm 1), 222, gibt für 1939 noch 1461 jüdische Einwohner in Mainz an Brodhaecker, Menschen (wie Anm 1), 367 Reimer Voß, Steuern im Dritten Reich Vom Recht zum Unrecht unter der Herrschaft des Nationalsozialismus München 1995, 136 Bis in die Zeit des Nationalsozialismus unterschied man hinsichtlich der Weinhändlertypen zwischen dem „kollektierenden“ und dem „distributierenden“ Weinhandel Der „kollektierende“
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Weinhandlung Jakob Blum Die Unternehmen wurden teilweise bereits im 19 Jahrhundert gegründet – entweder direkt in Mainz oder im Umland – und etablierten sich im Mainzer Wirtschaftsleben H Sichel Söhne wurde 1857 in Mainz von dem aus Sprendlingen stammenden Hermann Sichel gegründet Der Firmensitz lag auf der Kaiserstraße 26–30; auf dem Grundstück wurden Wohnhäuser für die Familie sowie Büroräume und Keller für ein Weinlager erbaut Bald eröffnete die Weingroßhandlung Filialen in Berlin, London (1895), Bordeaux (1883) und New York (1910), die jeweils von Familienangehörigen geführt wurden 16 1930 war die Firma in den Händen der nächsten Generation: Hermann, Eugen, Karl und Franz Sichel 17 Sie hatte sich zur größten Weinhandlung in Mainz entwickelt und beschäftigte rund 60 Mitarbeiter 18 Die Firma S Heymann Söhne wurde in Mainz von dem aus dem rheinhessischen Gau-Bickelheim stammenden Salomon Heymann gegründet 1898 übernahmen seine Söhne Heinrich, Julius und Karl Heymann das Geschäft 19 Auch die Weinhandlung S Heymann Söhne wurde als eine der wichtigsten in der Branche und Region angesehen20: „Diese Firma entwickelte sich dank unseres Fleisses + Energie zu einer der bedeutendsten seiner Art in Deutschland “21 Neben dem Hauptgeschäft in der Breidenbachstraße kauften die Brüder die Wiesbadener Firma Wilhelm Beckel und am 18 November 1933 die Firma Julius Stern in Frankfurt auf, beides Weinhandelsbetriebe Im Oktober 1933 gründeten sie mit einem ihrer Angestellten, Fritz Prosch, die Emmerich-Josef-Kellerei Fritz Prosch & Co, die bald ausschließlich im Besitz von Heinrich und Karl Heymann war 22 Die Weinhandlung Jakob Blum, gegründet 1880, war in der Kaiserstraße 48 ansässig 23 Sie ging 1916 an die Söhne von Jakob Blum, Richard und Willi Blum, über, die 1928 noch das Privatweingeschäft L O von Zwierlein gründeten
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Weinhändler in ländlichen Regionen kaufte Trauben, Maische, Most und Wein vom Winzer und übernahm die Weiterverarbeitung selbst Parallel dazu entwickelte sich vornehmlich in größeren Städten der „distributierende“ Weinhandel Diese Weinhändler erwarben Weine fassweise in großen Mengen, füllten sie ab und verkauften sie Siehe dazu Paul Bergweiler, Die Konzentration im Weinhandel Dargestellt an der Struktur des rheinland-pfälzischen Weinhandels Trier 1981, 1; Nordblom, Weinbau (wie Anm 4), 61 Peter Sichel, The Secrets of my Life Vintner, Prisoner, Soldier, Spy Bloomington (IN) 2016, 3–7 Sichel gibt als Gründungsjahr der Londoner Filiale 1896 an Landesarchiv Speyer (künftig: LA Speyer) J 10 7100, Klageschrift für Karl Sichel wegen Rückerstattung vom 25 März 1958 PNL Peter Sichel, Antrag auf Zubilligung eines doppelten Wohnsitzes vom 18 Januar 1936; Deckers, Traubenadler (wie Anm 4), 106 LA Speyer J 85 5048, Lebenslauf Heinrich Heymann vom 28 Juni 1936 LA Speyer J 85 5048, Urteil in der Strafsache Heymann vom 25 April 1936 So Heinrich Heymann, in: LA Speyer J 85 5048, Lebenslauf Heinrich Heymann vom 28 Juni 1936 LA Speyer J 85 5048, Urteil in der Strafsache Heymann vom 25 April 1936 Die Geschäftsgründung erfolgte, weil die Brüder beabsichtigten, den Export in die USA auszubauen LA Speyer J 10 2184, Klageschrift wegen Rückerstattung vom 10 Mai 1949
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II. Zur „Arisierung“ in Mainz und ihre Folgen für jüdische Weinhändler Bei dem Terminus „Arisierung“ handelt es sich um einen zeitgenössischen Ausdruck Er bezeichnete in völkisch-antisemitischen Kreisen schon in den 1920er Jahren die Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben 24 Antisemitisch meint in diesem Kontext die säkuläre, politisch und sozial motivierte Judenfeindschaft, wie sie im 19 Jahrhundert entstanden ist, in Abgrenzung zu der christlich-religiösen Judenfeindschaft früherer Epochen 25 Der Quellenbegriff „Arisierung“ wurde synonym mit „Entjudung“ (im Bereich Wirtschaft) verwendet; eine amtliche Definition oder offiziöse Begriffsbestimmung aus der NS-Zeit existiert jedoch nicht 26 Inzwischen wurde der Ausdruck mit nuancierenden Bedeutungen in die Forschungssprache übernommen Zum Teil wird eine enge Definition angenommen, also die reine Besitzübertragung eines jüdischen Unternehmens in „arische“ Hände Ein weiteres Begriffsverständnis subsumiert darunter den gesamten Verdrängungsvorgang gegen Juden und ihre wirtschaftliche Existenzvernichtung 27 In vorliegendem Beitrag wird ein sehr weiter und prozesshafter Arisierungsbegriff zugrunde gelegt, der alle Maßnahmen umfasst, die die Erwerbstätigkeit und die ökonomische Existenzgrundlage betrafen Nach dem 30 Januar 1933 begann die nationalsozialistische Regierung reichsweit antijüdische Gesetze zu erlassen Eines ihrer erklärten Ziele war es, den jüdischen Einfluss aus der deutschen Wirtschaft zurückzudrängen In einem Memorandum des SD-Amtes IV/2 vom 24 Mai 1934 an Reinhard Heydrich hieß es: „Das Ziel der Judenpolitik muß die restlose Auswanderung der Juden sein […] Den Juden sind die Lebensmöglichkeiten – nicht nur wirtschaftlich genommen – einzuschränken “28 Zu 24 25 26
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28
Maren Janetzko, Die „Arisierung“ mittelständischer jüdischer Unternehmen in Bayern 1933–1939 Ein interregionaler Vergleich (Mittelfränkische Studien, Bd 22) Ansbach 2012, 17 Ulrich Wyrwa, Moderner Antisemitismus, in: Wolfgang Benz (Hrsg ), Handbuch des Antisemitismus Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd 3, Begriffe, Theorien, Ideologien Berlin/ New York 2010, 209–214 Frank Bajohr, „Arisierung“ als gesellschaftlicher Prozeß Verhalten, Strategien und Handlungsspielräume jüdischer Eigentümer und „arischer“ Erwerber, in: Peter Heyes [u a ] (Hrsg ), „Arisierung“ im Nationalsozialismus Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis Darmstadt 2000, 15–30, hier 15; Shaul Esh, Art „Entjudung“, in: Enzyklopädie des Holocaust Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden 1, 1993, 412–413, hier 412 Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd 38) Göttingen 1966, 124, Anm 27; Angela Verse-Herrmann, Die „Arisierungen“ in der Land- und Forstwirtschaft 1938–1942 (VSWG, Beih 131) Stuttgart 1997, 12; Avraham Barkai, Art „Arisierung“, in: Enzyklopädie des Holocaust Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden 1, 1993, 78–82, hier 78; Wolfgang Mönninghoff, Enteignung der Juden Wunder der Wirtschaft Erbe der Deutschen Hamburg/Wien 2001, 12; Uwe Adam, Art „Antijüdische Gesetzgebung“, in: Enzyklopädie des Holocaust Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden 1, 1993, 48–51, hier 49 f Memorandum des SD-Amtes IV/2 an Heydrich, 24 Mai 1934, in: Michael Wildt (Hrsg ), Die Judenpolitik des SD 1935 bis 1938 (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Bd 71) München 1995, 66–69, hier 66 f
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einem frühen Zeitpunkt der nationalsozialistischen Herrschaft also stand das Motiv der offiziellen Verfolgungspolitik bis 1939 fest: Die gesamten Arisierungsmaßnahmen bis 1939 zielten auf die Auswanderung der deutschen Juden ab 29 Ab 1933 wurden zahlreiche Einzelmaßnahmen verschiedenster Art ergriffen, um Juden aus der deutschen Wirtschaft zu verdrängen und ökonomisch zu enteignen Dabei verlief die „Arisierung“ branchenspezifisch und lokal sehr unterschiedlich,30 wobei gleichwohl von einer sich immer mehr verschärfenden Lage auszugehen ist, von einer „kumulativen Radikalisierung“31 der Geschehnisse Der reichsweite Boykott jüdischer Geschäfte, Warenhäuser, Ärzte und Rechtsanwälte vom 1 April 1933 kann neben seiner antisemitisch-politischen Relevanz als Ausgangspunkt der Arisierungspolitik verstanden werden 32 Auch in Mainz fanden Boykotthandlungen statt Die Lokalpresse berichtete: „Der Boykott gegen jüdische Geschäfte […] hat zu keinen wesentlichen Zwischenfällen geführt Die Mehrzahl der betroffenen Geschäfte hatte von vornherein nicht geöffnet “33 Dennoch wurde die Kampagne von Zeitgenossen als bedrohlich wahrgenommen: Eugen Sichel schickte seine beiden Kinder Ruth und Peter während des Boykotts zu Verwandten in das dem Völkerbund unterstehende Saargebiet 34 Die jüdischen Weingroßhändler von Mainz besaßen aber typischerweise kein Ladengeschäft und waren von den Vorkommnissen daher kaum oder gar nicht betroffen: „The boycott turned out to be unsuccesful, and we [Ruth und Peter Sichel] returned home after a couple of weeks “35 Zu diesem Zeitpunkt dachte die Familie Sichel erstmals an Auswanderung Angesichts des nach wie vor gut laufenden Geschäfts sahen sie aber keine Veranlassung für eine Ausreise 36 In Mainz kontrollierte der Wirtschaftsbund im Mai 1933, ob „arische“ Geschäfte als solche gekennzeichnet waren 37 Hiervon dürften die jüdischen Weingroßhandlungen mangels öffentlicher Verkaufsfläche ebenfalls weniger betroffen gewesen sein Die „Kommunal-politische Abteilung des Kreises Mainz“ gab darüber hinaus ein Ver29 30
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Mönninghoff, Enteignung (wie Anm 27), 24 Andrea Hurton, Der sukzessive Ausschluss von „Konfektions-“ und „Modejuden“ aus der „Volksgemeinschaft“ 1933–1939 Antijüdische Darstellungen in den Branchenmedien der Textil- und Modewirtschaft in Wien und Berlin vor dem Hintergrund der NS-„Arisierungs“-Politik, in: Michael Nagel / Moshe Zimmermann (Hrsg ), Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte Erscheinungsformen, Rezeption, Debatte und Gegenwehr (Die deutsche Presse Kommunikationsgeschichte im Europäischen Raum, Bd 15 / Presse und Geschichte Neue Beiträge, Bd 74) Bremen 2013, 715–736 Hans Mommsen, Art „Der Nationalsozialismus Kumulative Radikalisierung und Selbstzerstörung des Regimes, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon 16, 1976, 785–790 Genschel, Verdrängung (wie Anm 27), 54–55 Mainzer Anzeiger, 3 April 1933, Nr 79, 4, Die Boykottbewegung in Mainz Sichel, Secrets (wie Anm 16), 97 Ebenda. Ebenda Mainzer Tageszeitung, 20 Juni 1933, in: Anton Keim (Hrsg ), Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 in Mainz Eine Dokumentation Mainz 1983, 265
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zeichnis der „deutschen“ Firmen von Mainz heraus, was durch den Ausschluss der jüdischen Weinhändler aus dem Verzeichnis eine Diskriminierung darstellte 38 Besonders empfindlich traf die Weingroßhändler die Inseratensperre durch nationalsozialistische Zeitungen, da sie ein wichtiges Werbemittel darstellten 39 Im Laufe des Jahres 1934 verschwanden jegliche Inserate jüdischer Weinhändler aus den Fachzeitschriften und der Tagespresse 40 Die Deutsche Wein-Zeitung druckte schon Ende des Jahres 1933 keine Anzeigen von jüdischen Firmen mehr 41 In lokalen Wirtschaftsblättern, wie der Rhein-Mainischen Wirtschafts-Zeitung, in der die Firma H Sichel Söhne regelmäßig inserierte, erschienen ab 1935 keine Anzeigen mehr 42 Neben Maßnahmen wie der Inseratensperre waren die Weingroßhändler auch direkt betroffen Noch Anfang 1933 schrieb die Deutsche Wein-Zeitung anlässlich des 75-jährigen Firmenjubiläums von H Sichel Söhne über Hermann Sichel, den Enkel des gleichnamigen Firmengründers, der langjährig in mehreren Berufsorganisationen engagiert war: „Wer heute im Fache kennt ihn nicht […]? Alle verehren in Hermann Sichel eine unserer führenden Persönlichkeiten, die sich dank ihrer umfassenden Fach- und Sachkenntnis jederzeit, wenn es gilt, für die Belange des Faches einzutreten, in selbstloser Weise der Allgemeinheit zur Verfügung stellen Herrn Hermann Sichel […] gebührt der aufrichtige Dank aller Fachkollegen, die manchmal gar nicht wissen oder beurteilen können, was alles Hermann Sichel für sie leistet und wie erfolgreich er ihre Interessen vertritt Möge Herr Hermann Sichel noch lange dem deutschen Weinfache erhalten bleiben!“43
Wenige Wochen später allerdings, nach dem 1 April 1933, musste er sein Amt als Vorsitzender des Bundes Südwestdeutscher Weinhändler-Vereine und als Vorsitzender der Geschäftsstelle Deutscher Weinhandelsverbände niederlegen 44 Schon im März hatte er als Vorsitzender der Handelskammer zurücktreten müssen 45 Peter Sichel fasst die Geschehnisse von 1933 wie folgt zusammen: „Nothing much happened; it was too early in the New Order In spite of Nazi SA […] men in uniform posted in front of stores and large streamers warning Germans not to buy from
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Mainzer Anzeiger, 3 Juli 1933, Nr 151, 4, Deutsche Geschäfte Genschel, Verdrängung (wie Anm 27), 68 Deckers, Traubenadler (wie Anm 4), 115 Otto Anhaus, 100 Jahre Deutscher Weinhandel 100 Jahre Deutsche Wein-Zeitung Mainz 1964, 126; Kurt Düwell, Die Rheingebiete in der Judenpolitik des Nationalsozialismus vor 1942 Beitrag zu einer vergleichenden zeitgeschichtlichen Landeskunde (Veröffentlichungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn, Bd 65 ) Bonn 1967, 95 Rhein-Mainische Wirtschaftszeitung, Ausgaben 1933–1935 Zit n Deckers, Traubenadler (wie Anm 4), 106 f Düwell, Rheingebiete (wie Anm 41), 95; Deckers, Traubenadler (wie Anm 4), 107 Mainzer Anzeiger, 30 03 1933, Nr 76, 4, Die Maßnahmen in Mainz
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Jews, the population largely ignored this, since they bought where the prices were the best, having little money to spend “46
Nach dem „Röhm-Putsch“ Ende Juni und Anfang Juli 1934 beschloss Eugen Sichel seine beiden Kinder auf Schulen nach England zu schicken Ende des Jahres gab es in mehreren Städten – darunter in Mainz – entgegen der Anordnungen des Reichswirtschaftsministeriums im Rahmen des Weihnachtsgeschäfts Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte und Warenhäuser Trotz all dieser Maßnahmen gaben die Familien Blum, Heymann und Sichel ihre Weinhandlungen noch nicht auf Die allgemeine Überzeugung, dass sich die Situation wieder zum Besseren wenden würde, was in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft viele dazu brachte, in Deutschland zu bleiben, sorgte wohl auch dafür, dass die Weinhändler blieben Seit Ende Mai 1935 kam es erneut zu einem Anstieg antijüdischer Aktionen, desgleichen in Mainz, wo die Polizeidirektion im August und September deren Unterlassung anordnete 47 Am 6 September 1935 fand in der Stadt eine Massenkundgebung der Nationalsozialisten mit 16 000 Teilnehmern statt 48 1936 und 1937 begann der Ausschluss jüdischer Weinhändler von den Weinversteigerungen: Im rheinhessischen Bad Kreuznach kam es auf einer Weinversteigerung des Vereins der Naturweinversteigerer Nahe zu einer Stürmung der Veranstaltung durch die örtliche SA, die forderte, dass die jüdischen Händler von der Versteigerung ausgeschlossen werden sollten Die Trupps wurden zwar des Saales verwiesen, aber im Jahr darauf wurden keine jüdischen Teilnehmer mehr zu den Versteigerungen zugelassen Zu den Auktionen Rheingauer Weingüter erhielten „nichtarische“ Firmen seit Mai 1938 keinen Zuschlag mehr 49 Die Vorkommnisse von 1936 und 1937 in Bezug auf die „Arisierung“ und die Folgen für den Weingroßhandel waren ereignispolitisch wenig auffällig; es waren „ruhige Jahre“50, die „Illusion einer Schonzeit“51 Bis Ende 1937 kann man daher insgesamt nicht von einer systematischen Enteignung sprechen, vielmehr handelte es sich um Teilmaßnahmen und Einzelverordnungen 52 Dennoch waren bis zum Frühjahr 1938 60 bis 70 Prozent der jüdischen Betriebe in Deutschland nicht mehr existent 53 46 47 48 49 50 51 52 53
Sichel, Secrets (wie Anm 16), 97 Genschel, Verdrängung (wie Anm 27), 90–92 und 109–111 Mainzer Anzeiger, 07 09 1935, Nr 208, 3, 16 000 Mainzer rechnen ab Deckers, Traubenadler (wie Anm 4), 128 Genschel, Verdrängung (wie Anm 27), 137 Bezeichnung nach Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“ Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933–1945 Frankfurt a M 1987, 65 Götz Aly, Hitlers Volksstaat Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus 4 Aufl Frankfurt a M 2015, 54 Jens Schnauber, Deutsche Unternehmen in der Geschichtsfalle Rückerstattungsakten als historische Quelle, in: Thomas Brechenbacher / Michael Wolffsohn (Hrsg ), Geschichte als Falle Deutschland und die jüdische Welt Neuried 2001, 197–215, hier 199
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Die letzte Phase der „Arisierung“ begann im Herbst 1937 Die Lage der Mainzer Weingroßhändler verschärfte sich, wobei der Novemberpogrom 1938 als Auslöser für eine Radikalisierung der Ereignisse wirkte 54 Im Herbst 1937 begann auf der reichsweiten Ebene eine Periode der „offenen Ausschaltung“55 der Juden aus dem Wirtschaftsleben Ziel war es, sie zur ‚freiwilligen‘ Aufgabe ihrer Betriebe – zunächst noch durch Wirtschaftserschwerungen und noch nicht durch organisierte Verdrängung – zu bewegen 56 Die regionalen Behörden zeigten sich gleichwohl noch in der zweiten Jahreshälfte 1938 unzufrieden mit dem Fortgang der Verdrängung jüdischer Weinhändler Einem Bericht des Mainzer Polizeipräsidenten vom 15 August 1938 ist dazu Folgendes zu entnehmen: „Der Weinhandel in Mainz, der von jeher zum größten Teil in jüdischem Besitz war, arisierte sich bis jetzt noch nicht in dem Umfang, wie dies im übrigen Handel geschah Dies ist wohl darauf zurückzuführen, daß es sich nicht um offene Ladengeschäfte, sondern überwiegend um Versandgeschäfte handelt Die großen Weinprozesse haben gezeigt, in welch skrupelloser Weise die Weinjuden ihre Kunden hereinlegten […] Eine raschere Arisierung des hiesigen Weinhandels müßte angestrebt werden “57
III. Prozesse als Arisierungsmaßnahme Bei den „großen Weinprozessen“ handelte es sich um Maßnahmen der Jurisdiktion, die Teil der Verdrängungs- und Enteignungspolitik der jüdischen Bevölkerung waren Recht und Justiz wurden im Nationalsozialismus zum Zweck politischer Verfolgung und der Durchsetzung der „Judenpolitik“ instrumentalisiert 58 Das nationalsozialistische Rechtssystem charakterisierte einerseits die Aufgabe des Gleichheitsprinzips und andererseits die Beibehaltung der Grundlagen von Rechtsstaatlichkeit Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde die Gewaltenteilung abgeschafft und die
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Jochen Rath / Walter Rummel, „Dem Reich verfallen“ – „den Berechtigten zurückerstattet“ Enteignung und Rückerstattung jüdischen Vermögens im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz 1989– 1953 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd 96) Koblenz 2001, 57 Genschel, Verdrängung (wie Anm 27), 139 Genschel, Verdrängung (wie Anm 27), 142 und 149 Bericht des Polizeipräsidenten zu Mainz betr die Juden in Mainz im Jahre 1936 und 1937, abgeschlossen am 1 Mai 1938, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz / Landesarchiv Saarbrücken (Hrsg ), Dokumentation zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Rheinland-Pfalz und im Saarland von 1800–1945, Bd 6, Die national-sozialistische Judenverfolgung in Rheinland-Pfalz 1933–1946 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd 17) Koblenz 1972, 108–122, hier 115 Ralph Angermund, „Recht ist, was dem Volke nutzt “ Zum Niedergang von Recht und Justiz im Dritten Reich, in: Karl-Dietrich Bracher [u a ] (Hrsg ), Deutschland 1933–1945 Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft 2 Aufl Düsseldorf 1993, 57–75, hier 57
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nationalsozialistische Ideologie zum Normativ der Rechtsprechung erhoben Das „Rassenrecht“ als Sonderrecht beseitigte die Gleichheit aller deutschen Staatsbürger vor dem Gesetz unabhängig von Geschlecht oder Religion Die Rechtsprechung ging entsprechend von der rassistisch determinierten Ungleichheit der Menschen aus 59 In Mainz wurden allein 1937 sieben jüdische Firmen angeklagt60; dabei wurde wegen verschiedenster Vorwürfe prozessiert 61 Im Fall der jüdischen Weinhändler sahen sich die Betroffenen hauptsächlich mit Vorwürfen in Bezug auf das Wein- oder Devisengesetz sowie mit Anklagepunkten wegen Betrugs, Wucher oder der „arischen Tarnung“ von Firmen konfrontiert Im Februar und März 1938 wurde aus Anlass vermehrter strafrechtlicher Anzeigen gegen meist jüdische Weinfirmen im Gau Hessen-Nassau über den Umgang mit Weinstrafsachen diskutiert Der Oberstaatsanwalt beim Landgericht Mainz argumentierte, dass ausländische Käufer eine Vorliebe für süße Weine hätten, weswegen ihnen deutsche Weinhändler häufig gezuckerte Produkte schickten: „Einerseits handelt es sich selbstverständlich um strafbare Handlungen, da ja diese wirtschaftlichen Belange keinen Schuld- oder Strafausschließungsgrund darstellen, andererseits wird jedoch durch ein Strafverfahren gegen eine Firma, die eine nicht unerhebliche Weinausfuhr hat, wegen dieser geschilderten Straftaten [Zuckerung von Wein] für den deutschen Devisenmarkt eine nicht unerheblicher Schaden entsteht [sic] […] Um nun die deutsche Weinausfuhr und den deutschen Devisenmarkt nicht zu schädigen, beabsichtige ich, in diesen Fällen das Verfahren […] einzustellen “62
Der Generalstaatsanwalt in Darmstadt sah in diesem Vorgehen zwar die Gefahr, dass unaufrichtige Winzer und Weinhändler die Argumentation als Ausrede für die ungesetzliche Zuckerung von Weinen verwenden könnten, stimmte dem Oberstaatsanwalt Mainz aber prinzipiell zu 63 Der Präsident des Reichsgesundheitsamts lehnte ein solches Vorgehen jedoch mit der Begründung ab, dass „eine stillschweigende Duldung der Ausfuhr von Erzeugnissen der zuletzt erwähnten Art mit dem Ansehen der deut-
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Almuth Püschel, „… der Angeklagte ist Jude“ Die Auswirkungen der antisemitischen Gesetzgebung auf Bürger der Provinz Brandenburg 1933–1934 2 Aufl Potsdam 1998, 9–12 LA Speyer J 10 7695, Lebenslauf Richard Blum vom 28 August 1958 Auch gegen nichtjüdische Weinhändler und -kommissionäre wurde prozessiert, doch der Anteil jüdischer Händler war größer; siehe dazu Kevin Goldberg, Wie der Wein in Mitteleuropa jüdisch wurde, in: Andreas Lehnardt (Hrsg ), Wein und Judentum ( Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, Bd 2) Berlin 2014, 229–246, hier 238 Vgl beispielsweise Püschel, Gesetzgebung (wie Anm 59), passim, die unter anderem Vergehen gegen das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ sowie Postvergehen und Vergehen gegen das Tierschutzgesetz untersucht Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (künftig: HStAD) G24 Generalstaatsanwalt 2012, Schreiben des Oberstaatsanwalts Mainz an den Reichsminister der Justiz vom 11 Februar 1938 HStAD G24 Generalstaatsanwalt 2012, Stellungnahme des Generalstaatsanwalts Darmstadt vom 11 März 1938
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schen Weine [nicht] in Einklang zu bringen“64 sei Eine Entscheidung im Hinblick auf das Vorgehen gegen gezuckerte Weine ist der Akte nicht zu entnehmen Doch die Debatte zeigt auf, dass gesamtwirtschaftliche Interessen auch Anfang 1938 noch einen wichtigen Faktor im Vorgehen gegen jüdische Weinhändler darstellten Ihre Rolle für die deutsche Devisenwirtschaft war noch derart wichtig, dass eine Schädigung des jüdischen Weinhandels als nicht ohne Weiteres abfangbar galt Die im Folgenden geschilderten Strafverfahren beleuchten die Perspektive der Betroffenen Sofern angesichts der Überlieferungssituation möglich, wurde der Prozessverlauf dokumentiert und das Urteil ausgewertet Es wird deutlich, dass die Vorwürfe gegen die Angeklagten in erster Linie dem Zweck der Rufschädigung und des Prestigeverlusts dienten Daneben waren Verfahren besonders wegen Devisenvergehen ein übliches Vorgehen, bei denen die jüdischen Firmeninhaber in der Regel zu hohen Geldstrafen verurteilt wurden Neben den juristischen Quellen ist die zeitgenössische Presse ein wertvoller Fundus – sowohl was inhaltliche Informationen angeht als auch die Wahrnehmung der Prozesse durch die Öffentlichkeit Die mediale Berichterstattung und die Propaganda der Presse sind Faktoren, die für die „Arisierung“ eine „vorwärtstreibende Wirkung“ hatten 65 Sie griffen die Geschehnisse auf und berichteten in tendenziöser Weise darüber, was die öffentliche Meinung wesentlich mitbestimmte Neben der regionalen Tageszeitung Mainzer Anzeiger66 berichtete sogar die reichsweit erschienene Wochenzeitung Der Stürmer67 über einige Strafverfahren gegen jüdische Weinhändler Der Mainzer Anzeiger veröffentlichte in den Jahren 1933 und 1934 ver-
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HStAD G24 Generalstaatsanwalt 2012, Stellungnahme des Präsidenten des Reichsgesundheitsamts vom 25 April 1938 Genschel, Verdrängung (wie Anm 27), 58 Der Stürmer beispielsweise verstand sich als Mittel zum „Kampf “ bei der Verdrängung der Juden aus der deutschen Wirtschaft und war durch seine tendenziöse Berichterstattung maßgeblich an den Arisierungsprozessen beteiligt, siehe Melanie Wager, Warenhausjude, Wäschejude, Autojude Der Stürmer und die Arisierung, in: Eckart Dietzfelbinger / Matthias Henkel (Hrsg ), Entrechtet Entwürdigt Beraubt Die Arisierung in Nürnberg und Fürth Petersberg 2012, 17–39, hier 36 f Der Mainzer Anzeiger war zur amtlichen Gauzeitung geworden, wodurch die Reichsregierung und das Gaupresseamt Hessen direkten Einfluss auf die Inhalte hatten Die Informationen zur Tagespresse in Mainz wurden einer Übersicht der Stadtbibliothek Mainz entnommen, die Anspruch auf Vollständigkeit erhebt Der „Stürmer“ war ein antisemitisches Hetzblatt mit hoher Auflagenzahl und folglich hohem Bekanntheits- und Verbreitungsgrad Es handelte sich zwar nicht um ein Parteiblatt, aber personell und ideologisch war es durchaus parteinah Der Herausgeber war Julius Streicher Der Stürmer eignet sich auch zur Untersuchung lokaler Themen, da er – immer in Anlehnung an seine antisemitische Kernthematik – lokale Ereignisse aufgriff und detailliert über sie berichtete Siehe dazu Wager, Warenhausjude (wie Anm 65), 17–19; Karl-Heinz Reuband, Die Leserschaft des Stürmer im Dritten Reich Soziale Zusammensetzung und antisemitische Orientierungen, in: HSR 33/4, 2008, 214–254, hier 215, URL: http://www ssoar info/ssoar/bitstream/handle/document/19163/ ssoar-hsr-2008- no_4__no_126-reuband-die_leserschaft_des_sturmer_im pdf?sequence=1 (Zugriff am 10 August 2018)
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gleichsweise wenige Beiträge mit antisemitischer Rhetorik Am 29 Oktober 193568 und am 16 April 193669 berichtete die Zeitung über den Prozess gegen die Brüder Heinrich, Karl und Julius Heymann Der erste Artikel nahm eine ganze Seite ein und enthielt eine sprachlich stark antisemitische Ausrichtung Der zweite Artikel war kürzer und neutraler, wenn auch nicht vollkommen wertfrei formuliert Er gab hauptsächlich Sachargumente aus der laufenden Verhandlung wieder Am 24 Februar 193870 erschien ein Artikel über die Strafsache gegen die Weinhandlung Blum Der Devisenprozess gegen Hermann, Eugen, Karl und Franz Sichel bildete am 17 Januar 1939 das Thema eines Artikels71 Der Stürmer berichtete in gezielten Kampagnen über einzelne jüdische Weinhändler aus Mainz: Im Dezember 193572 in einem Artikel über die Weinhandlung Heymann und den Prozess sowie in einem mehrseitigen Titelthema mit dem Aufmacher „Riesenbetrug“73 im Mai 1936 Im März 1938 titelte der Stürmer mit „Weinbetrüger“74 und berichtete über den Weinprozess gegen die Brüder Blum Zur Familie Sichel erschien im Februar 1939 ein Beitrag auf der Titelseite75, der die Verurteilung der Inhaber der Weinhandlung Sichel wegen Devisenvergehen thematisierte Der Fall Heymann Am 4 Dezember 1935 wurde gegen die Brüder Heymann vor der Strafkammer des Landgerichts Mainz wegen beruflicher Vergehen Anklage erhoben 76 Zu diesem Zeitpunkt befanden sich Heinrich und Karl Heymann bereits seit fünf Wochen in Untersuchungshaft 77 Julius Heymann war in Berlin vorläufig festgenommen und nach Mainz überstellt worden, wo er seit dem 14 November 1935 im Landgerichtsgefängnis Mainz einsaß 78 Die Inhaftierung war für die Beklagten und für die Angehörigen eine psychi-
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Mainzer Anzeiger, 29 10 1935, Nr 8, 8, Riesenschwindel einer jüdischen Weinfirma Mainzer Anzeiger, 16 04 1936, Nr 89, 4, Jüdische Schädlinge des deutschen Weinhandels Mainzer Anzeiger, 24 02 1938, Nr 46, 6, Raffinierte Betrugsmethoden zweier Juden Mainzer Anzeiger, 17 01 1939, Nr 14, 5, Die Devisenverbrechen der Juden Sichel Stürmer 51, 1935, Weinjuden Der erste Beitrag im Stürmer scheint sich stark am Artikel des Mainzer Anzeiger von Oktober zu orientieren Viele Informationen finden sich in ähnlichen Formulierungen wieder, die Beispiele für angeblich falsch etikettierte Weine sind dieselben und die Argumentationen ähneln sich Stürmer 19, 1936, Riesenbetrug Der Bericht wurde laut Vortext von einem Sonderberichterstatter verfasst Er erinnert in vielen Passagen an den Artikel von Oktober 1935 zu demselben Thema Stürmer 11, 1938, Weinbetrüger Stürmer 8, 1939, Jüdischer Landesverrat LA Speyer J 85 5049, Anklageerhebung vom 28 Januar 1936 LA Speyer J 85 5049, Personenbeschreibung Karl Heymann vom 12 November 1935; LA Speyer J 85 5048, Aufnahmeersuchen an das Landgerichtsgefängnis vom 30 Oktober 1935 LA Speyer J 85 4325, Einlieferungsbeleg vom 14 November 1935; LA Speyer J 85 4325, Beleg Überführung vom 11 November 1935
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sche Belastung Heinrich Heymann schrieb am 3 November 1935 in einem Gesuch um ein Kopfkissen an den Untersuchungsrichter: „Seit den 8 Tagen, welche ich mich in Untersuchungshaft befinde[,] habe keine 10 Stunden geschlafen [sic] Die Sorgen der Zukunft + die Gedanken[,] die ich mir mache[,] weil ich der Auffassung bin schuldlos festgehalten zu werden, sind nicht allein die Veranlassung […] “79
Sein gesundheitlicher Zustand hatte sich in jener kurzen Zeitspanne drastisch verschlechtert: „Ich […] leide an Gallenkohlik […] [und habe] seit 8 Tagen 3 allerdings leichtere Anfälle von Gallenkohlik [sic] gehabt “80 Eva Heymann, die Ehefrau von Karl Heymann, beschreibt in einem Brief vom 23 Januar 1936 das Unrechtsgefühl, dass sie angesichts der Verhaftung ihres Mannes empfand Für sie stand fest, dass die Anklage eine diskriminierende Maßnahme war: „Ja, wenn nur einmal diese trostlose, furchtbare Zeit herum waere! Es muß doch bald ein Ende nehmen, denn es ist doch haarstraeubend, daß man unschuldige Männer so lange fest haelt[,] nur weil sie Juden sind “81
Am 25 Januar 1936 hielt sie brieflich fest: „[…] 13 Wochen bitteren Leids […] deshalb kann ich das furchtbare Unrecht, das man an uns begeht, nicht begreifen “82 Sie beklagte, dass ihr Mann lediglich wegen seiner Religionszugehörigkeit angeklagt sei Die Briefe unterlagen der Zensur; das Landgericht leitete beide nicht an Karl Heymann weiter, da sich die Verfasserin in „unangemessener Weise über die […] Untersuchungshaft auslässt “83 Die Urteilsschrift vom 25 April 1936 über das Verfahren gegen die Brüder Heymann umfasst mehr als 40 Seiten 84 Ziel des Gerichts sei es, „insbesondere bezüglich des Strafmasses […] nicht nur Einzelfälle strafrechtlicher Zuwiderhandlungen festzustellen, sondern auch den Umfang und die Bedeutung des Geschäftes der Angeklagten Heymann, die Persönlichkeit der Angeklagten[,] ihre Geschäftsführung u s w zu prüfen “ Die Urteilsbegründung öffnet mit der Feststellung der Religionszugehörigkeit der Heymanns: „Die Angeklagten drei Gebrüder Heymann, nämlich Julius, Karl und Heinrich Heymann sind Juden “ Diese Formulierung war typisch für Gerichtsurteile zur Zeit des Nationalsozialismus, die in Strafverfahren gesprochen wurden Die Ange79 80 81 82 83 84
LA Speyer J 85 5048, Schreiben von Heinrich Heymann an den Untersuchungsrichter Landgericht Mainz vom 4 November 1935 Ebenda LA Speyer J 85 5049, Brief Eva Heymann an Karl Heymann vom 23 Januar 1936 Ebenda LA Speyer J 85 5049, Beschluss des Landgerichts Mainz vom 29 Januar 1936 Die Informationen und Zitate der folgenden Auswertung sind, sofern nicht anders gekennzeichnet, dem Urteilsschreiben entnommen: LA Speyer J 85 5048, Urteil in der Strafsache Heymann vom 25 April 1936
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klagten wurden dadurch von vornherein kriminalisiert 85 Die formelhafte Verwendung ist als Beschreibung eines objektiven Merkmals der Angeklagten in Sinne der Kennzeichnung ihres rechtlichen Status zu verstehen Weitere antisemitisch konnotierte Äußerungen finden sich im Urteilsschreiben nicht Hinsichtlich des Geschäftsgebarens stellt das Gericht zunächst sogar klar, dass das Weinhandelsgeschäft aus „kleinen Anfängen“ durch „Fleiß und Sachkunde […] zu einem der größten am Platze“ geführt worden sei Da es sich um ein Strafverfahren handelte, trat kein privatrechtlicher Kläger auf Es erfolgt allerdings der Hinweis, dass die Anklage „zufolge [einer] vertrauliche[n] Anzeige“ erhoben wurde Die Vorwürfe lassen sich in mehrere Kategorien einteilen: „arische Tarnung“ einer Firma, Vergehen gegen das Weingesetz (§ 2 Verschnitt, § 5 Verbot irreführender Bezeichnungen und § 6 Herkunftsangabe)86, Wucher sowie Betrug Heinrich und Karl Heymann plädierten während des gesamten Prozesses für unschuldig Sie bestritten jegliche „betrügerische Absicht“ oder „wucherischen Vorsatz“ Das Gericht stellt als Ergebnis des Verfahrens fest, dass sich Heinrich und Karl Heymann des fortgesetzten gemeinschaftlichen Betrugs (nach §§ 263 Abs 1, 73 StGB) sowie der fortgesetzten gemeinschaftlichen Zuwiderhandlung gegen §§ 2, 5 und 6 WG schuldig gemacht haben Hinsichtlich der angeblichen „arischen Tarnung“ von Firmen und damit einhergehend der Täuschung der Kunden über die „Rassezugehörigkeit“ der Inhaber wurden die Angeklagten freigesprochen Auch die Begehung eines volksschädlichen Betrugs im Sinne des § 263 Abs 4 Satz 2 StGB wurde vom Gericht verneint Hinsichtlich des Strafmaßes wirkte sich strafmildernd aus, dass Heinrich und Karl Heymann nicht einschlägig vorbestraft waren Außerdem betraf der gemeinschaftlich begangene Betrug einen verhältnismäßig kleinen Teil des Gesamtgeschäfts, nämlich nur den Rotwein-, Schaumwein- und Spirituosenverkauf Die anderen Weine und die Geschäftsbücher waren laut dem Gutachten des Weinkontrolleurs „in tadelloser Ordnung“ Der Vorsatz sei nicht aus einer wirtschaftlichen Notsituation erwachsen, vielmehr haben sich die Vergehen aus einem „allmählich eingerissenen Missbrauch“ ergeben Insgesamt habe die Verhandlung Belege einer allgemein guten kaufmännischen Gesinnung erbracht, sodass das strafrechtliche Verschulden als nicht sehr hoch zu bewerten sei Straferschwerend wirkte sich die langjährige Fortsetzung des Betrugs und der rechtswidrigen Umbenennung von Weinen aus Überdies wird in der Urteilsschrift vermerkt: „Die Angeklagten als Nichtarier hätten sich auch spätestens bei dem nationalen Umbruch befragen und prüfen müssen, ob ihre Geschäftsgrundsätze den neuen Anschauungen
85 86
Püschel, Gesetzgebung (wie Anm 59), 9 Ludwig Sinsheimer, Das Weingesetz vom 25 Juli 1930 nebst der Verordnung zur Ausführung des Weingesetzes vom 16 Juli 1932 und ergänzendem Anhang München 1933, 27, 55 und 72
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Stand hielten Die Angeklagten haben das auch getan und haben auch das Anfechtbare in ihrem Geschäftsgebaren erkannt; wenn sie gleichwohl ihre Grundsätze nicht abänderten, so musste das im Strafmaß zum Ausdruck kommen “
Am 25 April 1936 wurden Heinrich und Karl Heymann durch die zweite Strafkammer des Landgerichts Mainz zu neun Monaten Haft sowie zu je 7 100 RM verurteilt Julius Heymann wurde freigesprochen Er war gleichberechtigter Gesellschafter und Anteilseigner am Gewinn, wohnte aber in Berlin und war an der Geschäftsführung nicht beteiligt Nach Absitzen der Strafe wurden Heinrich und Karl Heymann am 26 August 1936 aus dem Gefängnis entlassen 87 Der Stürmer klagte über das in seinen Augen milde Urteil gegen die Brüder Heymann und forderte von den Gerichten härtere Strafen, um die jüdischen Weinhändler abzuschrecken 88 Die Weinverbraucher sollten daraus lernen, ihren Weinbedarf künftig nicht mehr bei Juden zu decken 89 Eine „Säuberung“ des Weinhandels sei folglich nicht nur im Interesse des deutschen Weinhandels, sondern des gesamten deutschen Volkes So werde zum einen der Konkurrenzkampf ausgeschaltet und zum anderen verhindert, dass der Ruf eines Weingebiets in Verruf gerät Der Gau Hessen habe bereits mit der Verdrängung der Juden begonnen: „Er [der Gau Hessen] hat das Signal zum Angriff gegeben! Und die ganze deutsche Winzerschaft muß entschlossen diesen Kampf aufnehmen! Das ganze deutsche Volk muß teilhaben an dieser Generalsäuberung! Deutsche Weine sind Edelerzeugnisse! Deutsche Weine können sich mit den besten der ganzen Welt messen […] Gelingt es uns den Juden aus unserem Weinhandel auszuschalten, dann sind wir das einzige Land geworden, in dem jüdische Betrügereien aufgehört haben für immer Dann ist der deutsche Weinhandel der sauberste auf der ganzen Welt “90
Karl Heymann verließ mit seiner Frau im November 1936 das Land Im Januar 1937 teilten sie dem Kreiswirtschaftsberater in Mainz mit, dass sie nicht beabsichtigten zurückzukehren Heymann beauftragte einen Rechtsanwalt vor Ort mit der Abwicklung der Angelegenheiten in Sachen Reichsfluchtsteuer Laut Kapitalfluchtsteuerbescheid vom 13 Januar 1937 betrug die Höhe der Abgabe 57 818 RM nebst 20 Prozent Verzögerungszuschuss Wenn Steuerpflichtige die Reichsfluchtsteuer nicht rechtzeitig entrichteten, war eine Verurteilung wegen Steuerflucht die Folge Zusätzlich konnte vom zuständigen Finanzamt ein Steuersteckbrief mit der Aufforderung, den Steuerflüchtigen festzunehmen, erlassen werden Mit der Bekanntmachung des Steckbrie-
87 88 89 90
LA Speyer J 85 5048, Entlassungsverhandlung Heinrich Heymann vom 26 August 1936; LA Speyer J 85 5049, Gefangenenbuch Karl Heymann von 1936 Stürmer 19, 1936, Riesenbetrug Stürmer 51, 1935, Weinjuden Stürmer 19, 1936, Riesenbetrug
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fes konnte das Vermögen des Steuerpflichtigen beschlagnahmt werden, um die Ansprüche auf Reichsfluchtsteuer und die Geldstrafe aus der Verurteilung zu sichern 91 Heymann und seine Ehefrau wurden wegen Vergehens gegen das Reichsfluchtsteuergesetz zu je 2500 RM Geldstrafe verurteilt 92 Am 1 März wurde ein Steuersteckbrief veröffentlicht 93 Am 26 Oktober 1937 erfolgte schließlich die Aberkennung der Staatsangehörigkeit von Karl Heymann; sein Vermögen wurde am 1 April 1938 auf Grundlage des „Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14 Juli 1933“ zugunsten des Deutschen Reiches beschlagnahmt 94 Nach der Auswanderung von Karl Heymann waren auf Sperrmarkguthaben von Heinrich Heymann in Höhe von insgesamt 160 000 RM gemäß § 37a des Devisengesetzes Sicherungsanordnungen getroffen worden: „Ich habe mich, um etwaige Verletzungen der Devisenbestimmungen bei ihrer bevorstehenden Auswanderung vorzubeugen, zu der Anordnung veranlasst gesehen, zumal auch schon Ihr Bruder [Streichung im Original] früherer Mitinhaber ausgewandert bzw ausgebürgert worden ist “95
Heinrich Heymann wanderte Ende April 1939 mit seiner Ehefrau nach England und später in die USA aus Der überwiegende Teil des Vermögens und des beweglichen Besitzes von Heinrich Heymann war im Deutschen Reich verblieben Das waren unter anderem Sperrmarkguthaben, Gold- und Silberschmuck, Versicherungsleistungen und Bankkonten 96 Heymann hatte außerdem eine Speditionsfirma mit der Verschiffung des Umzugsguts beauftragt Diese Besitztümer wurden von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und später veräußert 97 Die Gesellschaftsform der Firma S Heymann Söhne wurde am 9 Januar 1939 aufgelöst und die Liquidation mit Heinrich und Julius Heymann als Abwickler damit beschlossen 98 Die Flucht entzog den Emigranten die Existenzgrundlage: Heinrich Heymann war wegen des Transvisums eine Erwerbstätigkeit in England nicht erlaubt; 91 92 93 94
95 96 97 98
Vierte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutz des inneren Friedens vom 8 Dezember 1931, in: RGBl I 79, 1931, 699–745, hier 731–735 Mainzer Anzeiger, 08 05 1937, Nr 105, 7, Gegen das Reichsfluchtsteuergesetz vergangen; Mainzer Anzeiger, 09 03 1938, Nr 57, 5, Ein Mainzer Jude wollte verduften Mainzer Anzeiger, 01 03 1937, Nr 50, 5, Die Juden Heymann steuerpflichtig LA Speyer J 10 3274, Vorläufiger Beschluss in Sachen Wiedergutmachung vom 17 November 1950 und Beschluss in Sachen Wiedergutmachung vom 12 September 1951; LA Speyer J 10 3275, Beschluss in Sachen Wiedergutmachung vom 20 März 1951; LA Speyer L 38 31 Z 4286, Beschluss in Sachen Rückerstattung vom 24 September 1961; LA Speyer L 37 33 Z 4286, Beschuss in Sachen Rückerstattung vom 3 November 1951 HHStAW 519/3 12899, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten Darmstadt an Heinrich Heymann vom 8 November 1938 HHStAW 518 15707 1, Antrag auf Entschädigung [undatiert]; HHStAW 519/N 19279, Schreiben Rechtsanwalt Höra an den Regierungspräsidenten Wiesbaden vom 21 November 1961 HHStAW 518 15707 1, Eidesstattliche Erklärung vom 28 Mai 1962 HHStAW 518 15707 1, Auszug Handelsregister vom 16 Juni 1958
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daher hatte die Familie kein Einkommen In den USA arbeitete er später als „Cigarrenvertreter“, wobei er 200 $ pro Jahr verdiente Seine Frau beschrieb diese Tätigkeit als Beschäftigung für Leute, die keine andere Arbeit finden konnten 99 In ihren früheren Berufen konnten die Auswanderer nicht weiterarbeiten Die Karriere, die sie sich aufgebaut hatten, war hinfällig und berufliches Fortkommen war ihnen folglich verbaut Für die ausgewanderten und geflüchteten Weinhändler erfolgte der wirkliche „Finanztod“100 zumeist erst im Ausland Der Fall Blum Gegen die Weingroßhandlung Jakob Blum wurde ebenfalls wegen Vergehen gegen das Weingesetz prozessiert 101 Willi Blum wurde am 28 August 1937 in das Landgerichtsgefängnis aufgenommen Am 19 Februar 1938 wurde er mit einer blutenden Wunde am linken Unterarm vorgefunden, die von einer Rasierklinge herrührte Blum machte dazu folgende Aussage, die schriftlich festgehalten und beglaubigt wurde: „Ich habe die ganze letzte Zeit nicht mehr richtig geschlafen, da mich meine Strafsache und die lange Haft nervös gemacht hat Auch vergangene Nacht wachte ich schon gegen 12 Uhr auf und habe mir in der Schlaftrunkenheit den Schnitt mit der Rasierklinge beigebracht, ohne mir dessen recht bewusst zu sein Die Verletzung war nur gering, weshalb ich erst bei Aufschluss der Anstalt [um 6 Uhr morgens; Anmerkung der Verfasserin] mich meldete Ich hatte nicht die Absicht, mir das Leben zu nehmen In meiner Strafsache steht nächsten Montag Hauptverhandlungstermin vor der 2 Strafkammer an Ich hatte die Genehmigung des Richters, meinen eigenen Rasierapparat zu benutzen “102
Insgesamt war die physische und psychische Verfassung von Willi Blum während seiner Haft beeinträchtigt: Schon am 1 September 1937 wurde im Ärztlichen Befundblatt Nervenschwäche vermerkt Mehrmals wurden rheumatische Beschwerden oder zahnärztliche Behandlungen notiert Am 19 Februar 1938, nachdem man ihn in seiner Zelle mit dem Schnitt über dem Handgelenk aufgefunden hatte, notierte der Arzt in Blums Akte: „Depressionszustand?“103 Ob die von ihm gemachte Aussage also der Wahrheit entsprach oder ob sie unter Druck entstand, kann nur noch gemutmaßt werden
99 HHStAW 518 15707 1, Eidesstattliche Erklärung vom 28 Mai 1962 100 Claus Füllberg-Stolberg, Sozialer Tod – Bürgerlicher Tod – Finanztod Finanzverwaltung und Judenverfolgung im Nationalsozialismus, in: Katharina Stengel (Hrsg ), Vor der Vernichtung Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialismus (Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd 15) Frankfurt a M 2007, 31–58, hier 40 101 LA Speyer J 85 6278, Vorladung Willi Blum vom 21 Februar 1938 102 LA Speyer J 85 6278, Meldung des Anstaltsarztes an das Landgericht Mainz vom 19 Februar 1938 103 LA Speyer J 85 6278, Ärztliches Befundblatt Landgerichtsgefängnis Mainz für Willi Blum
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Über diesen Prozess sind keine Unterlagen überliefert Weitere Akten aus der Provenienz des Amtsgerichts Mainz ergaben, dass Richard und Willi Blum bereits 1923 wegen „irreführender Bezeichnung von Nahrungsgenußmitteln“ zu einer Geldstrafe von je 10000 Mark verurteilt wurden 104 1926 wurden sie erneut wegen Vergehen gegen das Weingesetz angeklagt Die Klage wurde aber wegen der Unredlichkeit der Zeugen, die Mitarbeiter in der Firma Jakob Blum waren, abgewiesen 105 Fraglich ist, ob die früheren Verfahren im Zusammenhang mit der Berufsausübung dazu beitrugen, dass 1937 ein Prozess gegen sie angestrebt wurde Der Mainzer Anzeiger berichtet über das Urteil gegen Willi Blum, worin ihm ein dreijähriges Berufsverbot erteilt wird, was für den Verfasser des Artikels folgerichtig erscheint: „[…] Blum trieb Sabotage am Aufbauwerk des Staates, […] er verdient nicht mehr das Vertrauen, seinen Beruf weiter auszuüben […] da er als Gefahr für den sauberen deutschen Weinhandel zum Schutze der Allgemeinheit ausgeschaltet werden muss “106
Jüdische Weinhändler wurden argumentativ für den Niedergang der deutschen Weinkultur verantwortlich gemacht Auch der Stürmer107 schrieb über die „üble[n] Weinbetrüger“ Blum Es wurden die allgemeine „Skrupellosigkeit“ und „Charakterlosigkeit der Judengenossen“ genannt, gefolgt von einem Appell: „Kampf den fremdrassigen Volksbetrügern!“ Der Prozess beanspruchte die finanziellen Reserven der Brüder So gab Richard Blum 1956 an, dass der Großteil seines Vermögens in Sachwerten angelegt gewesen war: „Die Prozesskosten haben einen erheblichen Teil meines Vermögens verschlungen “108 Dazu kam das Urteil zu einem Jahr Gefängnis und 2 000 RM für Willi Blum und 3 Monate Gefängnis sowie 1 500 RM Geldstrafe für Richard Blum Willi Blum war durch ein Berufsverbot für die Dauer von drei Jahren beruflich isoliert Im August 1938 sahen sich die Brüder Richard und Willi Blum gezwungen, ihr Grundstück samt Garten, Hofreite, Wohnhaus, Weinhandlung und Weinkeller zu veräußern Alles deutet darauf hin, dass die Weinhandlung Jakob Blum bereits im Lauf des Jahre 1938 aufgegeben werden musste, spätestens aber mit Verkauf des Grundbesitzes im August Die Auflösung des Geschäfts erfolgte also in direkter Konsequenz des Strafverfahrens Den Blums wurde ein Kaufpreis in Höhe von 57 500 RM gezahlt, während der Einheitswert bei 59 000 RM lag Bis zu ihrer Auswanderung im Sommer 1939 lebten sie als Mieter weiterhin in einem Stockwerk des Wohnhauses 109 Auch Weinberge in Nier104 105 106 107 108 109
LA Speyer J 44 71, Auszug aus der Strafliste Richard Blum und Willi Blum LA Speyer J 44 71, Schriftsatz an die hessische Staatsanwaltschaft vom 27 Oktober 1926 Mainzer Anzeiger, 24 02 1938, Nr 46, 6: „Raffinierte Betrugsmethoden zweier Juden“ Stürmer 11, 1938, Weinbetrüger LA Speyer J 10 7695, Lebenslauf Richard Blum vom 28 August 1958 LA Speyer J 10 2184, Schreiben an das Amt für kontrollierte Vermögen in Mainz vom 31 Januar 1949
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stein mit mehr als 1 600 qm Fläche veräußerten die Brüder im Juni 1938 Richard und Willi Blum befanden sich zum Zeitpunkt des Verkaufs noch wegen Vergehens gegen das Weingesetz im Gefängnis, weshalb der Onkel der Brüder, Gustav Blum, als Vermittler agierte Der Verkauf erfolgte an einen Halbjuden: „Wenn wir als Juden nun schon verkaufen müssen, dann verkaufen wir es eher als an einen anderen an Dich als Halbjuden, denn Du kannst ja noch dableiben “110 Am 31 Januar 1939 wurde die Gesellschaft Jakob Blum aufgelöst 111 Richard Blum wanderte am 3 August 1939 über England nach Amerika aus Bei der Auswanderung durfte er gemäß der „Verordnung über die Devisenbewirtschaftung“ lediglich den für den Reisegeldverkehr gültigen Freibetrag von 10 RM Bargeld mitnehmen Das übrige Bargeld nahm man ihm an der niederländischen Grenze ab 112 Das Umzugsgut, das bei einer Speditionsfirma einlagerte, wurde entweder bei der Zwischenlagerung in Rotterdam bei Luftangriffen 1940 zerstört oder von Deutschen nach der Besetzung der Niederlande für das Reich beschlagnahmt 113 Richard Blum musste in den USA hart für seinen Lebensunterhalt arbeiten Er erlitt 1952 eine schwere Herzattacke, durch die er zum Teil erwerbsunfähig wurde: „Waehrend ich in Mainz Inhaber von zwei Firmen und gesund war und in Einklang zu meiner Erziehung in Deutschland und im Ausland ein genuegendes Einkommen hatte fuer ein sorgenfreies Leben, lebe ich hier in Amerika seit meiner Einwanderung in kleinen Verhaeltnissen und wurde krank “114
Der Fall Sichel Der Erlass der „Nürnberger Gesetze“ gab für Familie Sichel den Ausschlag, ihre Ausreise zu planen Sie stellten einen Antrag auf Genehmigung eines Zweitwohnsitzes mit der Bitte um Freistellung von den Beschränkungen des deutschen Devisengesetzes Sie gaben an, dass es ihnen aus privat- und volkswirtschaftlichen Gründen nicht möglich sei, eine völlige Loslösung vom Inland vorzunehmen: „Wir glauben nämlich, dass es vom deutschen devisenrechtlichen Standpunkt aus gesehen erwünscht ist, wenn der aus unserem umfangreichen Exportgeschäft resultierende Devisenanfall für Deutschland erhalten bleibt […] Während im Falle völliger Auswanderung
110 111 112 113 114
LA Speyer J 10 2183, Beweisantrag Rechtsanwalt Jakob an das Landgericht Mainz vom 1 Oktober 1951 LA Speyer J 10 2183, Auszug Handelsregister vom 29 September 1951 LA Speyer J 10 7695, Lebenslauf Richard Blum vom 28 August 1958 LA Speyer J 10 7695, Urteil in Sachen Rückerstattung vom 21 Feb LA Speyer J 10 7695, Lebenslauf Richard Blum vom 28 August 1958
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der zumindest successive Abbau der meisten unserer Angestellten […] notwendig wäre, hoffen wir bei Bewilligung des Doppelwohnsitzes Entlassungen vermeiden zu können “115
Einen Zweitwohnsitz hielten sie auch insofern für zweckmäßig, da sie „durch verstärktes Exportstreben und durch entsprechend grössere Betätigung im Ausland einen Ausgleich suchen müssen für den Ausfall, der nun einmal bei dem Bestreben der Ausschaltung des jüdischen Handels im Inland auf die Dauer nicht zu vermeiden ist “116
Aufgrund der verknappten Devisenzuteilung für jüdische Unternehmen müsse die Firma Sichel Marken Import befürchten, auf Dauer nicht mehr genügend importieren zu können 117 Die Verhandlungen über den Transfer von Besitz dauerten an, ohne zu einem Ergebnis zu führen 118 Ende 1937 erfuhr die Familie erst durch Bezahlung eines Angestellten des Reichsministeriums des Inneren, dass in ihrer Akte der Vermerk angeführt sei, dass sie aus wirtschaftlicher Perspektive durch ihr Exportgeschäft nützliche Devisenbeschaffer waren, denen eine Ausreisegenehmigung zu verweigern sei 119 Auf diese Weise erlangten die Sichels Gewissheit, dass sie auf legalem Wege niemals eine Ausreisegenehmigung erhalten würden In der Folge bereiteten die Familienmitglieder ihre Flucht vor Im April und Mai 1938 veräußerten sie Teile ihrer Geschäftsanteile und Aktien und ließen sich über Wochen verteilt größere Summen in mehreren Etappen von ihren privaten Konten auszahlen Am 20 Mai befanden sich die vier Inhaber Hermann, Eugen, Karl und Franz Sichel ein letztes Mal gemeinsam in Mainz Bereits zehn Tage später hatten sie alle das Land verlassen Karl und Franz Sichel hatte wegen der Notwendigkeit von Geschäftsreisen ohnehin Ausreisegenehmigungen und konnten problemlos nach England reisen 120 Hermann Sichel war über 70 Jahre alt und herzkrank und wanderte so unter Behelf eines Vorwands, dass seine Anwesenheit in den USA für die amerikanischen Geschäfte notwendig sei, zusammen mit seiner Frau nach New York aus Eugen Sichel und seine Frau arrangierten mit der Leiterin der Mädchenschule, die ihre Tochter besuchte, dass den deutschen Behörden glaubhaft versichert wurde, ihre Tochter Ruth sei lebensgefährlich an Meningitis erkrankt und liege in England im Krankenhaus Den Eltern wurde eine Ausreisegenehmigung er-
115 116 117 118 119
PNL Peter Sichel, Antrag auf Zubilligung eines doppelten Wohnsitzes vom 18 Januar 1936 Ebenda Ebenda Sichel, Secrets (wie Anm 16), 98 f Sichel, Secrets (wie Anm 16), 99, zitiert die Auskunft des Beamten: „The Sichels are economically valuable Jews They should be well treated, but never permitted to leave Germany “ Die Sichels haben allein 1934 rund 1,4 Millionen RM aus Devisen erwirtschaftet; ihr Anteil am gesamten deutschen Weinexport betrug 10 Prozent, siehe PNL Peter Sichel, Antrag auf Zubilligung eines doppelten Wohnsitzes vom 18 Januar 1936 120 Karl Sichel reiste später weiter in die USA, siehe LA Speyer J 10 7100, Klageschrift für Karl Sichel wegen Rückerstattung vom 25 März 1958
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teilt, um das vermeintlich im Sterben liegende Kind zu besuchen Die beiden reisten nach London, wohin auch der Sohn Peter von seinem englischen Internat aus gebracht wurde Die Sichels profitierten also von ihren internationalen Geschäftsbeziehungen, die ihnen die Aus- und Weiterreise ermöglicht hatten Franz Sichel reiste von England aus nach Frankreich, das er im September 1939 aber ebenfalls verließ Sein Bruder Eugen ging mit seiner Familie von London nach Bordeaux 1940 wurde seine Frau im Lager Gurs interniert, er selbst kam mit seinem Sohn in ein Konzentrationslager in Libourne Die Tochter Ruth lag zu dieser Zeit stationär im Krankenhaus Es gelang ihnen später nach Portugal und von dort aus gemeinsam nach New York zu reisen 121 Am 2 Juni 1938 traf in Mainz ein Schreiben von Hermann, Eugen, Karl und Franz Sichel ein, die durch Londoner Rechtsanwälte den deutschen Behörden mitteilen ließen, dass sie nicht nach Deutschland zurückkehren und daher das Unternehmen auflösen würden Die Zollfahndungsstelle Mainz leitete sofort Ermittlungen ein Noch am selben Tag wurde ein Treuhänder für die Firma bestellt und auf Grund von § 37a des Devisengesetzes durch das Oberfinanzpräsidium Hessen Sicherungsanordnungen auf das Vermögen getroffen Bis August war auf diese Weise das gesamte Vermögen der Sichels erfasst worden Gegen das Unternehmen und die Inhaber wurde wegen des Verdachts, in ungesetzlicher Weise Vermögenswerte ins Ausland geschafft zu haben, am 30 Juni ein Arrestbefehl verhängt und ein Pfändungsbeschluss erlassen Im Juni und Juli wurde die Abwesenheitspflegschaft der vier Inhaber beschlossen 122 Am 7 September 1938 erging schließlich die Pfändung der Geschäftsanteile der Gesellschafter und ihrer Ansprüche auf Auszahlung der Gewinnanteile und Guthaben durch Beschluss des Generalstaatsanwalts und des Amtsgerichts Mainz für das Deutsche Reich Obwohl es sich bei den Maßnahmen des Oberfinanzpräsidenten lediglich um Sicherungsanordnungen handelte, betrieben das Oberfinanzpräsidium und der Generalstaatsanwalt die sofortige Verwertung des gesamten Vermögens der Firma und deren Inhaber unter Missachtung der Zwangsvollstreckungsvorschriften 123 Sicherungsanordnungen stellten grundsätzlich nur Verfügungsbeschränkungen dar, die keine darüber hinausgehenden Eingriffe in Recht und Besitz des Betroffenen anmaßen konnten 124 Per Gerichtsvollzieher erfolgte so bereits im Juli 1938 die Pfändung von rund 292 000 l Fasswein (mitsamt den Fässern), 108 000 l deutschen Flaschenweinen
PNL Peter Sichel, Abschrift Abwesenheitsurteil vom 16 /17 Januar 1938; Sichel, Secrets (wie Anm 16), 99–124 122 PNL Peter Sichel, Abschrift Abwesenheitsurteil vom 16 /17 Januar 1938; LA Speyer J 10 7097, Klageschrift wegen Rückerstattung vom 25 März 1958; HHStAW 519/A Wsb 197, Antrag auf Rückerstattung 123 LA Speyer J 10 7100, Klageschrift für Karl Sichel wegen Rückerstattung vom 25 März 1958; LA Speyer J 10 7097, Klageschrift wegen Rückerstattung vom 25 März 1958 124 Normann Schmidt, Entziehung von Geldvermögen, in: Walter Schwarz (Hrsg ), Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd 2, Das Bundesrückerstattungsgesetz München 1981, 311–364, hier 317 f 121
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und 12 000 l ausländischen Flaschenweinen Andere Weine wurden laut Pfändungsprotokoll dem Finanzamt Mainz-Innenstadt übereignet Dabei handelte es sich um hochwertige und kostspielige Weine und demnach um nicht zu vernachlässigende Vermögensverluste Neben dem Verkauf von Geschäftsanteilen wurden Konten sowie sämtliche Möbel, Hausrat, Wäsche, Kleidungsstücke, Silbersachen, also die gesamte bewegliche Habe, gepfändet Im Februar 1940 fand die Veräußerung von Firma und Grundstück mitsamt der Wohnungseinrichtung im Wert von 30 000 RM statt 125 Bei der Nachprüfung der Arisierungsvorgänge stellte die Industrie- und Handelskammer Mainz Folgendes fest: „Als Sonderfalle von schwerwiegender Art vermögen wir nur den Fall der Entjudung der Firma Sichel Söhne in Mainz zu bezeichnen, bei welchen u E der Übernahmepreis um mehrere Hunderttausend Reichsmark hinter dem angemessenen Preis zurückgeblieben ist “126
Nachdem die vier Inhaber der Firma H Sichel Söhne 1938 geflüchtet waren, wurden sie wegen mehrerer Verstöße gegen das Devisengesetz angeklagt Am 16 /17 Januar 1939 erging vom Landgericht Mainz ein Abwesenheitsurteil wegen Devisenvergehen 127 Das Gericht sah es als sicher an, dass die Auswanderung und die im Zusammenhang mit der Ausreise begangenen Zuwiderhandlungen gegen das Devisengesetz langfristig geplant und vorbereitet worden waren Es erkannte die Mittäterschaft aller vier früheren Geschäftsinhaber beim Verstoß gegen § 13, Abs 1 Devisengesetz (Versendung oder Überbringung von Wertpapieren ins Ausland ohne Genehmigung), gegen § 21, Abs 1 Devisengesetz (Verfügung über ausländische Wertpapiere, die nicht an einer deutschen Börse zu Handel zugelassen sind, ohne erforderliche Genehmigungen)128 und bei der Zuwiderhandlung gegen § 134 Vereinszollgesetz (Bannbruch, also die Ausführung von Gegenständen gegen Verbot und ohne ordnungsgemäße Anzeige bei den zuständigen Zollstellen)129 an Außerdem hätten die Sichels ausstehende Forderungen in Höhe von mehr als 375 000 RM an die Firma Selected Wine Company Ltd übereignet; eine wahrscheinlich von den Angeklagten nach ihrer Auswanderung neu gegründete Firma, deren Direktoren die mit der Vertretung der Sichels beauftragten 125
126 127 128 129
LA Speyer J 10 7100, Klageschrift für Karl Sichel wegen Rückerstattung vom 25 März 1958; LA Speyer J 10 7097, Klageschrift wegen Rückerstattung vom 25 März 1958; LA Speyer H 53 1775, Vermerk Grundstücksverkauf Sichel Söhne, Mainz vom 9 Mai 1940; HHStAW 519/A Wsb 197, Antrag auf Rückerstattung LA Speyer H 53 1773, Schreiben der Industrie- und Handelskammer Mainz an den Oberbürgermeister Mainz und den Landrat des Landkreises Mainz vom 18 August 1941 PNL Peter Sichel, Abschrift Abwesenheitsurteil vom 16 /17 Januar 1938 Die im Haupttext nachfolgenden Informationen und Zitate stammen, sofern nicht anderweitig gekennzeichnet, aus der Abschrift Gesetz über die Devisenbewirtschaftung vom 4 Februar 1935, in: RGBl I 10 1935, 106–113, hier 107 f Vereinszollgesetz vom 1 Juli 1869, in: Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes 30, 1869, 317–364, hier 355 f
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Rechtsanwälte waren Die Verfügung sei ohne entsprechende Genehmigung erfolgt, worin ein Verstoß gegen § 9, Abs 2 Devisengesetz (Verfügung über Forderungen in ausländischer Währung ohne Genehmigung) sowie gegen § 11, Abs 2 Devisengesetz (Verfügung über Forderungen in inländischer Währung ohne Genehmigung) zu sehen sei 130 Eugen und Karl Sichel hätten sich zudem des Vergehens gegen § 42, Abs 1, Ziff 8 Devisengesetz schuldig gemacht, indem sie einer Anordnung der Devisenstelle des Oberfinanzpräsidiums Darmstadt, ihre ausländischen Aktien auf das Depot der Deutschen Bank umzulegen, nicht nachgekommen seien Das Gericht sah in den Vergehen wegen der Überbringung von Wertpapieren ins Ausland, der Verfügung über diese Wertpapiere und über Auslandsguthaben einen besonders schweren Fall im Sinne des § 42 Abs 1 Devisengesetz Bei den Wertpapieren habe es sich um das in Tochtergesellschaften ruhende Auslandvermögen der Firma H Sichel Söhne gehandelt; so sei der deutschen Devisenwirtschaft ein Gesamtbetrag von knapp 1 Millionen RM entzogen worden, wodurch der „devisenwirtschaftliche Schaden […] daher außergewöhnlich gross“ sei Hinsichtlich der Strafzumessung wurde zu Ungunsten der Angeklagten festgestellt, dass sie „in raffinierter Weise den deutschen Devisenbehörden gegenüber den Anschein erweckten“, einen Zweitwohnsitz im Ausland zu Geschäftszwecken einrichten zu wollen Das Gericht sah hier eine Täuschungsabsicht der Sichels: Während der „Verhandlungen mit diesen Behörden über die Bedingungen ihrer legalen Auswanderung“ hätten sie bereits „die Vorbereitungen für die später erfolgte illegale Auswanderung“ getroffen Hinsichtlich der Strafzumessung wurden gesetzliche Tatbestände bei jüdischen Angeklagten häufig extensiv ausgelegt131: Neben Gesamtfreiheitsstrafen von vier Jahren Zuchthaus erhielten die Sichels hohe Geldstrafen Sie wurden zu jeweils 800 000 RM wegen der Verfügung über ausländische Wertpapiere ohne Genehmigung und zu jeweils 400 000 RM wegen der Verfügung über Forderungen in ausländischer und inländischer Währung verurteilt Eugen und Karl Sichel erhielten zusätzliche Freiheitsstrafen (2 Monaten für Eugen Sichel und 3 Monate für Karl Sichel) und Geldstrafen wegen der Nichtbefolgung von Aufforderungen des Oberfinanzpräsidiums Der letzte Absatz des Urteils enthält eine Schlüsselpassage, die zwar in formaler Hinsicht banal erscheint, aber die Enteignungsabsicht hinter dem Urteil zum Ausdruck bringt: Da die Einziehung der Werte, auf die sich die strafbaren Handlugen bezogen, nicht möglich war, da sie sich im Besitz der Sichels befanden, ordnete das Gericht nach § 45 Abs 1 Devisengesetz die zusätzliche Zahlung von 950 000 RM gegen alle Angeklagten sowie 55 000 RM gegen Karl Sichel und 13 000 RM gegen Eugen Si-
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Gesetz über die Devisenbewirtschaftung vom 4 Februar 1935, in: RGBl I 10, 1935, 106–113, hier 107 Diemut Majer, „Fremdvölkische“ im Dritten Reich Ein Beitrag zur nationalsozialistische Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements (Schriften des Bundesarchivs, Bd 28) Boppard a Rhein 1981, 610
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chel an Die Zusatzzahlung war derart hoch, dass hier die Enteignungsabsicht augenscheinlich wird Devisenstrafverfahren gegen Juden waren im „Dritten Reich“ nicht unüblich Die Publizistik berichtete meist ausführlich darüber, wodurch eine abschreckende Wirkung auf die Öffentlichkeit erzielt werden sollte Auch das Verfahren gegen die Sichels wurde in den Medien diskutiert Die Urteile enthielten in der Regel hohe Geldstrafen, aber ebenfalls Freiheitsstrafen Beides war im Fall Sichel gegeben Das Vorgehen von Behörden, Justiz und Presse in diesen Strafsachen kriminalisierte die Angeklagten, die lediglich ihr Eigentum behalten wollten 132 Besonders ausführlich behandelt der Stürmer die angeblichen Devisenvergehen der Sichels Die Devisenvergehen wurden stets in Zusammenhang mit der Schädigung der deutschen Wirtschaft gesehen: „Durch ungeheuerliche Devisenschiebungen sucht er [der Jude] die Wirtschaft des deutschen Volkes zu vernichten “133 „Devisenschieber“ seien folglich „Verbrecher“ und „Landesverräter“ 134 Nach einer ausführlichen Einführung für Laien, was Devisenvergehen sind und welche Folgen Vergehen gegen das Devisengesetz haben, knüpft ein Abschnitt „Warum gerade die Juden Devisen schieben?“135 an Der Verfasser konstatierte: um die deutsche Wirtschaft „zu vernichten“ und um eine neue Inflation herbeizuführen 136 Die Prozesse sind als Teil der Arisierungsvorgänge in Mainz zu verstehen Als solche erschienen sie auch bereits aus zeitgenössischer Perspektive, wie der Stürmer berichtete: „In Mainz, der schönen alten Stadt am deutschen Rhein, haben schon zahlreiche Prozesse stattgefunden, die Zeugnis ablegten über die Verworfenheit und Niedertracht des jüdischen Volkes Prozesse, die später richtunggebend wurden für manche Gesetze und Verordnungen gegen den Juden! Es sei nur erinnert an den großen Weinbetrügerprozeß Gebrüder Heymann, […] an den Prozeß Blum, an die Verhandlungen gegen die vier Millionendevisenschieber Sichel usw “137
Die beiden Urteile, die für die Prozesse Heymann und Sichel vorliegen, sind in sprachlicher Hinsicht kaum ausfallend gegenüber den jüdischen Angeklagten formuliert Im Fall Heymann wurden nur an einer Stelle negativ-erniedrigende Äußerungen gegen Juden gemacht, nämlich in Bezug auf einen Vertreter der Firma Die Beschreibungen waren aber nicht dezidiert antisemitisch; es wurden keine Vorwürfe vermeintlich „typisch“ jüdischer Eigenschaften vorgebracht
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Schmidt, Geldvermögen (wie Anm 124), 316; Rath/Rummel, Reich (wie Anm 54), 50 Stürmer 8, 1939, Jüdischer Landesverrat Ebenda Ebenda Ebenda Stürmer 30, 1939, Kampf der jüdischen Tarnung
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Der Einfluss der jüdischen Herkunft auf die Entscheidung des Gerichts kann nicht pauschal bewertet werden: Im Prozess Heymann ist das aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht festzustellen Das Gericht schildert eine differenzierte Beweisführung, die in Einzelfällen sogar zu Freisprüchen gegen einige Vorwürfe führt Folgt man der These, dass die Ermittlung aufgrund eines Hinweises eines Konkurrenten aufgenommen wurde, der die jüdischen Kollegen schädigen wollte, ist anzunehmen, dass die jüdische Herkunft bei der Einleitung des Ermittlungsverfahrens tatsächlich eine Rolle gespielt hat 138 Im Fall Sichel wurde Anklage erhoben, weil sie bei ihrer Flucht gegen das Devisengesetz verstoßen haben, das zum Zwecke der Enteignung und finanziellen Diskriminierung von Juden in der Form bestand Die jüdische Herkunft der Angeklagten und die Situation der Juden in Deutschland sind in diesem Fall die entscheidenden Faktoren für Motiv und Vergehen der Sichels und für die Anklage gegen sie Abgesehen von den Umständen, dass die jüdische Herkunft der Auslöser für beide Prozesse war, wurden beide Urteile gemäß dem kodifizierten Recht gesprochen Die Schilderung der Tatbestände und Entscheidungsgründe im Fall Heymann zeigen eine Zurückhaltung des Gerichts hinsichtlich der Beachtung neuer Wertvorstellungen Das entspricht den Ergebnissen der historischen Forschung in Bezug auf die Rechtsprechung gegen jüdische Unternehmen, der zufolge die Gerichte grundsätzlich bis 1938 daran festhielten, dass die „jüdische Rassezugehörigkeit“ allein noch kein Grund für eine nachteilige rechtliche Behandlung sei 139 Im Prozess Sichel hingegen fällt auf, dass die Strafzumessung ausschließlich anhand straferschwerender Gründe festgelegt wird Die jüdische Herkunft und die Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in Deutschland haben das Strafverfahren erst initiiert Prozesse wegen Devisenvergehen zeigen die Notlage, in der sich viele Juden mit Ausreiseplänen befanden, da das nationalsozialistische Devisenrecht den Transfer des eigenen Vermögens ins Ausland quasi unmöglich machte 140 Ohne die diskriminierende und auf die Enteignung der Juden abzielende Politik wären die Sichels nicht straffällig geworden
Rath/Rummel, Reich (wie Anm 54), 58, weist auf die Vielzahl an vermeintlichen belastenden Beweisen gegen jüdische Erwerbstätige hin, die bei der Gestapo durch Denunziationen eingingen, und die schließlich Fälle der Justiz wurden 139 Genschel, Verdrängung (wie Anm 27), 130 140 Wolf-Arno Kropat / Ernst Noam, Juden vor Gericht 1933–1945 Dokumente aus hessischen Justizakten (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen Justiz und Judenverfolgung, Bd 1) Wiesbaden 1975, 18
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IV. Schlussbetrachtung: Die Verdrängung des jüdischen Weinhandels aus Mainz Die erste Phase nationalsozialistischer Herrschaft zwischen 1933 und 1935 zeichnete sich für die Mainzer Weinhändler durch Maßnahmen der Wirtschaftserschwerung aus, weniger durch systematisch rechtliches Vorgehen Für die Weingroßhändler ergab sich daraus noch keine akute Veranlassung zur Aufgabe ihrer Geschäfte Dennoch haben sie zum Teil erste Vorkehrungen für eine Ausreise getroffen 1935 waren jüdische Weinhändler folglich noch nicht so weit vom Markt verdrängt worden, dass sie wirtschaftlich bedeutungslos gewesen wären Das lag an der Rolle, die sie für die deutsche Devisenwirtschaft spielten, aber ebenso am Bedarf an Weinhändlern angesichts der Erntemengen von 1934 141 Der zweite Abschnitt von 1936 bis zum Sommer 1937 war für die Weinhändler politisch ereignislos Der Erlass der „Nürnberger Gesetze“ hatte zunächst keine unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen für die Berufsausübung Dennoch setzen bereits Ende 1935 die Maßnahmen der Justiz ein: die Prozesse gegen jüdische Weinhandelsfirmen mit Anklagen wegen des Verstoßes gegen das Wein- und Devisengesetz, des Betrugs, des Wuchers und der „Tarnung“ von Firmen In den letzten Friedensjahren ausgehend vom Herbst 1937 begann ein systematisches, staatlich gesteuertes Vorgehen hinsichtlich der „Arisierungen“ Neben der wirtschaftlichen Verdrängung erfolgten verstärkt Zugriffe auf das Privatvermögen Die Prozesse der Jahre 1938 und 1939 führten in mindestens einem Fall in unmittelbarer Folge zur Geschäftsaufgabe Somit trug die Justiz zu einer Kriminalisierung der Juden und zu ihrer Verdrängung bei Die Rolle, die jüdische Firmen im Weinhandel einnahmen, wurde im Nationalsozialismus politisch instrumentalisiert und zu einem festen Bestandteil der staatlichen antisemitischen Propaganda 142 Die Presseberichterstattung im Zusammenhang mit den „Arisierungen“ war bestimmt von einer Verknüpfung konkreter Vorwürfe mit dem Argument der Schädigung der deutschen Wirtschaft und somit der „Volksgemeinschaft“ Damit wurde der Aufruf nach einer „Säuberung“ des deutschen Weinhandels verbunden, sodass hier eine agitatorische Komponente festzustellen war Sprachlich konnte auf antisemitische Topoi zurückgegriffen werden, die allesamt den „schlechten Charakter“ von Juden behaupteten 143 Offene Aufrufe zur Bekämpfung jüdischer Weinhändler erschienen nur im Stürmer, nicht aber im Mainzer Anzeiger Dadurch wird besonders deutlich, dass der Stürmer ein Hetzblatt war, das nicht nur zu drastischerer Sprache griff, sondern auch zum Aktionismus aufrief Das
141 Deckers, Traubenadler (wie Anm 4), 120 142 Verse-Herrmann, Land- und Forstwirtschaft (wie Anm 21), 31 f 143 Wolfgang Benz, Bilder vom Juden Studien zum alltäglichen Antisemitismus München 2001, 21
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Kampfethos wurde begleitet von einem aggressiven Ton 144 Die breite und tendenziöse mediale Rezeption der Arisierungsvorgänge in Mainz zielte auf die Schädigung des Ansehens und den Prestigeverlust der Weinhandlungen über die regionalen Grenzen hinaus ab Sie waren somit Teil des umfangreichen Verdrängungsprozesses der Juden aus dem wirtschaftlichen und sozialen Leben Insgesamt kann festgehalten werden, dass die jüdischen Familien im Mainzer Weingroßhandel ihre Stellungen bis 1938 behaupten konnten 1938/39 hingegen mussten sie ihre Unternehmen schließlich aufgeben Ihre frühere Geltung für die lokale Wirtschaft und die Prominenz in Fachkreisen waren damit ebenso hinfällig wie ihr zumeist beachtliches Privatvermögen Die Bedeutung ihrer Exporttätigkeit hat ihre Verdrängung höchstens aufschieben, nicht aber aufhalten können 145 Die Verdrängung der Juden aus der rheinhessischen Wirtschaft hatte besonders für den regionalen Weinhandel Folgen, wo der Anteil jüdischer Händler verhältnismäßig hoch gewesen war 146 Insgesamt wurden in Mainz bis 1941 18 Weinhandlungen „arisiert“, das heißt an „deutsche“ Käufer veräußert; darunter auch H Sichel Söhne Bei den übrigen Firmen erfolgte die Liquidation, so auch bei S Heymann Söhne und Weinhandlung Jakob Blum Auf diese Weise fand allein zwischen dem 19 und 21 Juli 1938 in Mainz eine Pfändung von insgesamt 819 500 l Fasswein, 278 500 l deutschen Flaschenweinen und 20 308 l ausländischen Weinen von jüdischen Weinfirmen statt 147 Die regionale Fallstudie der Arisierungsvorgänge konnte folgendes Bild konkretisieren: Die Verdrängung jüdischer Weinhändler in Mainz aus der Wirtschaft wurde im Besonderen durch das Zusammenspiel rechtlicher Rahmenbedingungen, justizieller Maßnahmen und der regionalen sowie überregionalen Medien bewerkstelligt Es wird deutlich, dass – auch im Hinblick auf die jüdischen Weinhändler – die „Arisierung“ angesichts der Legitimation der Maßnahmen durch Recht und Gesetz sowie durch die intensive Beteiligung offizieller Instanzen nichts Anderes als ein „legalisierter Raub“ war 148
144 Manfred Rühl, Der Stürmer und sein Herausgeber Versuch einer publizistischen Analyse Nürnberg 1960, 134 145 So auch die Einschätzung von Nordblom, Weinbau (wie Anm 4), 64 146 Pia Nordblom, Wirtschaftsgeschichte In: Friedrich Kahlenberg / Michael Kißener (Hrsg ), Kreuz, Rad, Löwe Rheinland-Pfalz Ein Land und seine Geschichte, Bd 2, Vom ausgehenden 18 bis zum 21 Jahrhundert Mainz 2012, 259–328, 301 147 LA Speyer J 10 7097, Klageschrift wegen Rückerstattung vom 25 März 1958 148 Adam, Gesetzgebung (wie Anm 27), 50
Forum
Quo vadis, Europa? Die Zukunft Europas Referate der Tagung der Hambach Gesellschaft vom 5. November 2017
Die Zukunft Europas – aus britischer Sicht Philipp Gassert „Die Zukunft Europas“ ist nicht eigentlich mein Fach 1 Ich bin Historiker; und diese gelten bestenfalls als rückwärtsgewandte Propheten Wir wissen es hinterher besser, Prognostik ist nicht unsere Stärke Dennoch lässt sich aus der Geschichte nicht allein Orientierungswissen für die Zukunft gewinnen, wie man an diesem historischen Ort wohl erwarten kann Wir können in dem Sinne aus der „Geschichte etwas lernen“, dass wir Muster in der Vergangenheit identifizieren, die dann zur Erklärung gegenwärtiger Entscheidungsprozesse beitragen können (Politikwissenschaftler_innen sprechen von „Pfadabhängigkeiten“) Hinzu kommt jedoch, dass Kenntnis der Vergangenheit nicht allein bei der Erklärung heutiger Entwicklungen hilft, sondern dass Geschichte als gesunkenes Kulturgut (also das, was man „Erinnerung“ nennt), selbst ein Faktor bei Entscheidungen über die Zukunft unserer Gesellschaften und unserer Länder ist Welches Bild die Briten beziehungsweise ein Teil der britischen Bevölkerung und ihrer Eliten von der Geschichte des Vereinigten Königreichs und Europas hatten beziehungsweise haben, erklärt, warum es 2016 zu einem so drastischen, in seinen Folgen unabsehbaren, in meiner Sicht vollkommen überflüssigen Schritt wie der Entscheidung über den Austritt aus der EU kommen konnte
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Das Vortragsformat wurde beibehalten und nur für die wichtigsten Zitate Belege ergänzt
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In meinem Vortrag möchte ich drei Dinge tun Erstens werde ich an zwei Beispielen aus der aktuellen britischen Populärkultur (dem Film Dünkirchen und dem Roman München) mittels der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs unterstreichen, wie konträr britische Perspektiven auf Europa sind Derselbe historische Zusammenhang der späten 1930er Jahren lässt sich mal proeuropäisch, mal europaskeptisch deuten Denn wir haben es nicht mit einer einzigen Sichtweise auf Europa zu tun, so wie es auch nicht „die“ französische oder „die“ polnische Sicht auf Europa gibt, genauso wenig wie „das“ deutsche Europabild oder „das“ deutsche Bild Frankreichs, Polens oder Großbritanniens Das Vereinigte Königreich ist über die „europäische Frage“ tief gespalten Zweitens möchte ich diesen „britischen Blick“ auf Europa dahingehend historisieren, dass ich die komplizierte Geschichte des Verhältnisses Großbritanniens zum Prozess der europäischen Integration streife Dabei geht es vor allem um das Verhältnis zu Deutschland und Frankreich Denn die EU ist – cum grano salis – ein deutsch-französisches Projekt Sie ist vorstellbar ohne das Vereinigte Königreich, auch wenn das schmerzt Sie ist theoretisch vorstellbar auch ohne Polen oder Ungarn Aber sie scheint mir nicht vorstellbar zu sein ohne Deutschland und Frankreich Deutsche und Franzosen müssen sich selbstkritisch fragen, was sie zu dieser dramatischen Fehlentscheidung beigetragen haben Unter dieser wird vor allem das Vereinigte Königreich selbst leiden Aber sie schwächt auch das liberale Element in der EU Die „Achse“ Paris-Berlin wird durch Brexit gestärt Doch ist das im Interesse der EU und der europäischen Integration? Der Abschied der Briten hinterlässt eine empfindliche Lücke Drittens frage ich mich, was wir aus der britischen Kernschmelze lernen können Der Brexit ist auch daher so erstaunlich, weil sich hier, scheinbar ohne Not, eine große alte Nation von vielem verabschiedet hat, wofür sie bisher stand: Pragmatismus, Ironie, Skepsis gegenüber Ideologie und einfachen Lösungen; auch Toleranz und Höflichkeit Nicht nur Europa, auch die großen britischen Institutionen werden von den Brexiteers unter Beschuss genommen: Die Souveränität des Parlaments, eine „geheiligte Kuh“ der britischen Politik, wird angezweifelt Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung und andere politische Traditionen werden von den rechten Populisten in Misskredit gezogen Der Brexit war eine von ehrgeizigen und eitlen Politikern mit angezettelte populistische Revolte, der die Etablierten nicht mutig entgegen traten Es war ein verantwortungsloser Schritt, der aus Ängstlichkeit nicht verhindert wurde; aber auch aus dem historischen Unvermögen heraus, Europa den Briten „richtig“ zu erklären Die Krise der Beziehungen zu Europa ist eine Krise der britischen Politik und der britischen Institutionen Es ist erstaunlich, wie sehr die Emotionen jenseits des Kanals hoch kochen können Es scheint, wie es Robert Harris in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung meinte, als hätten die Brexiteers „alle Leidenschaft für sich gepachtet“ 2
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„Pokern ohne Karten“, Interview mit Robert Harris, Süddeutsche Zeitung, 2 November 2017
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Die Proeuropäer hingegen wirkten lange Zeit blass und leidenschaftslos Doch vergleichbare Entwicklungen kennen wir auch in unserem eigenen Land, auch in Frankreich oder Polen Auch hier sind gegenwärtig die Leidenschaften auf der Seite der Europakritiker und Nationalisten Was können und sollten wir dem entgegen setzen? Sollten wir wieder leidenschaftlicher für Europa streiten und für eine gemeinsame Identität der Europäer – eine Frage, die man in Hambach stellen sollte Mein Plädoyer geht daher in Richtung einer Vertiefung der Union und der Stärkung ihrer emotionalen, identifikatorischen Seite 3 I. Dünkirchen und München Christopher Nolans Dunkirk über den Rückzug der britischen Armee in Dünkirchen 1940 hat im Sommer 2017 Diskussionen darüber ausgelöst, ob der Film und das zugrunde liegende Ereignis nun Material für die Unterstützer oder die Gegner des Brexit lieferten 4 Der Film ist im konkreten Sinne unpolitisch Eine geplante Szene mit Churchill im Imperial War Room wurde geschnitten Wir sehen keinen schnarrenden Hitler auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände, keinen demagogisch sich überschlagenden Goebbels im Sportpalast Wir sehen allein, wie das Individuum Mächten ausgeliefert ist, die es nicht kontrollieren kann Dennoch wurde der Film sofort politisch gedeutet: Nigel Farage, ehemals Chef der UK Independence Party und einer der wichtigsten Köpfe der „Leave“-Kampagne, forderte junge Menschen auf, den Film zu sehen 5 Der Historiker Niall Ferguson, der sich vom „Remainer“ zum „Brexiteer“ gewandelt hatte, war der Meinung, dass Dunkirk die Fähigkeit der Briten zeige, das Beste aus einer „beschissenen Lage“ zu machen: „This is not the time for second thoughts [on Brexit] – any more than May 1940 was the time for peace talks “6 Der „Geist von Dünkirchen“ ist ein britischer Mythos: „Ein kolossales militärisches Desaster“, so Churchill 7 Doch zugleich ein geordneter Rückzug, keine Flucht in Panik Dünkirchen legte die psychologisches Basis für ein Rückkehr im Triumph 1944/45, als
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In diesem Sinne Ulrike Guérot, Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie Bonn 2016 Vgl Hanns-Georg Rodeck, „Für die Briten ist Dünkirchen alles, und für uns? In: Die Welt, 26 Juli 2017 Nigel Farage, „I urge every youngster to go out and watch #Dunkirk“, Twitter, 25 Juli 2017, https:// twitter com/nigel_farage/status/889971797386514434?lang=de (letzter Aufruf 20 August 2018) Niall Ferguson, „It is not our finest hour, but Brexit must stand: A little Dunkirk spirit will secure our own flight from the continent“, 23 Juli 2017, http://www niallferguson com/journalism/politics/ it-is-not-our-finest-hour-but-brexit-must-stand (letzter Aufruf 20 August 2018) Will Dahlgreen, „What acutally happend at Dunkirk“, 21 Juli 2017, BBC News, https://www bbc com/news/entertainment-arts-40641801 (letzter Aufruf 20 August 2018)
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das Vereinigten Königreich und die USA den europäischen Kontinent von Westen her zurück eroberten Vor allem aber zeigt Dünkirchen, dass die britische Geographie, das heißt die Insellage, der Demokratie das Überleben und den triumphalen Sieg über den Totalitarismus ermöglichte, wenn auch letztere nicht ohne sowjetische und amerikanische Hilfe möglich geworden wäre Robert Harris bricht nun in seinem Roman München mit diesem hegemonialen Narrativ 8 Sein heimlicher Held ist Neville Chamberlain, den er in einem überraschend positiven Licht zeichnet München, das Symbol der „Appeasment“-Politik, sei ein gangbarer Kompromiss gewesen, der Dünkirchen und damit Großbritanniens Überleben überhaupt erst ermöglicht habe Die Bevölkerung in München jubelte nicht Hitler, sondern Chamberlain und Daldier zu und damit denjenigen, die für Frieden und Kompromisse standen „Man kann gegen einen Gangster nicht pokern, wenn man nicht einmal Karten in der Hand hat“, lässt Harris Chamberlin sagen: „Ich glaube, dieses Risiko eingehen zu müssen“, mit Hitler zu verhandeln, auch wenn er weiß, dass ihn die Nachwelt nicht gnädig behandeln wird Es sei dahin gestellt, dass die meisten Briten Hitler 1938 noch anders sahen als 1940/41 Aber Harris’ Botschaft ist klar: Der Mann hatte Mut Wo sind mutige Politiker heute? Der Zweite Weltkrieg war Großbritanniens größter Triumph Und doch läutete er den Abschied vom Empire ein Diesen Preis musste das Land für den Sieg bezahlen Doch angesichts dieses Siegs über Deutschland wurde der Untergang des Weltreichs erträglich und wurde ohne größere Friktionen hingenommen Weil Großbritannien nicht von deutschen Truppen erobert worden war, musste es sich nach 1945 nicht in der gleichen Weise um die Eindämmung Deutschlands kümmern, wie dies Frankreich nach langen inneren Debatten, mit dem Schuman-Plan und der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS), aus Einsicht in die Notwendigkeit tat Der Souveränitätsverzicht zugunsten europäischer Institutionen, fiel den Franzosen schwer Aber man ging diesen Schritt, nicht zuletzt auch auf Drängen der Amerikaner, die sich als „Geburtshelfer“ Europas für die supranationale Integration einsetzten 9 Für eine freundliche, durchaus zugewandte Distanz der Briten zum europäischen Projekt nach 1945 steht bekanntlich Churchills Züricher Rede 1946 Er spricht sich dort für „etwas Erstaunliches aus“, wie er meinte, eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland, auch damit Frankreich wieder die moralische Führung Europas übernehmen könne Aber, er machte zugleich klar, dass beim Aufbau einer Union der europäischen Staaten, Großbritannien, das British Commonwealth of Nations, „das mächtige Amerika“, und wie er damals noch hoffte, auch die Sowjetunion „Freund
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Robert Harris, München Roman Aus dem Englischen von Wolfgang Müller München 2017 Vgl Beate Neuss, Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozess 1945–1958 Baden-Baden 2000
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und Förderer des neuen Europas sein und für sein Recht auf Leben und Glanz eintreten“ würden 10 Ja, so lässt sich Churchills Haltung als Oppositionspolitiker 1946 fassen, wir finden die Sache der europäischen Integration ganz gut und auch sehr wichtig, schließlich wird dadurch das gefährliche Deutschland eingedämmt Doch wir, im Vereinigten Königreich, gehen unseren eigenen Weg in die Zukunft, der vielleicht auch ein wenig besser ist als der der kontinentalen Europäer Damit bin ich beim Verhältnis Großbritanniens zur Europäischen Union II. Großbritannien und die EU „Willy you must get us in, so we can take the lead“ (Willy, Du musst uns herein bringen, damit wir die Führung übernehmen können) 11 Mit so viel entwaffnender Offenheit soll sich der britische Foreign Secretary George Brown gegenüber Willy Brandt geäußert haben, der damals als Außenminister in der ersten Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger amtierte Brown war Labour-Außenminister unter Harold Wilson als Großbritannien 1967 zum zweiten Mal die Mitgliedschaft in den Europäischen Institutionen beantragte Wie 1961 sollte es auch diesmal am Veto von Charles de Gaulle scheitern Letzterer wollte genau das verhindern, dass das Vereinigte Königreich im Zusammenspiel mit der BRD eine Führungsrolle übernehmen und damit Frankreichs potentielle Hegemonie schwächen würde Warum stellte Großbritannien überhaupt 1961 und dann noch einmal 1967 einen Antrag auf eine Mitgliedschaft, damals noch in EWG, EGKS und Euratom?12 Die Umstände sind erhellend, denn diese Entscheidung für Europa im Sinne der Hinwendung zur supranationalen Integration war wie auch im Falle von Frankreich und Deutschland, aber auch der Niederlande, eher ein Ausdruck der Schwäche als der Stärke 1946, zum Zeitpunkt von Churchills Züricher Rede, war Großbritannien auf dem Zenit seiner Macht gestanden Aber von da an ging es stetig bergab 1947 wurde Indien unabhängig, zugleich gestand sich die Londoner Regierung ein, dass sie Griechenland und die Türkei in ihrem Kampf gegen kommunistische Aufständische nicht mehr
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Vgl Gerhard Brunn, Die europäische Einigung von 1945 bis heute Stuttgart, 3 Aufl 2009, 7–9; Winston Churchill, speaking in Zurich, 19 September 1946, The Churchill Society, http://www churchill-society-london org uk/astonish html (letzter Aufruf 20 August 2018) Willy Brandt, Erinnerungen Frankfurt am Main 1990, 249; siehe auch Mark Gilbert, The Significance of the British Entry into the European Community in 1973, in: Antonio Varsori / Guia Migani (Hrsg ), Europe in the International Arena during the 1970 s Entering a Different World Brüssel u a 2011, 71–82 Vgl Anne Deighton, The Second British Application for Membership of the EEC, in: Wilfried Loth (Hrsg ), Crisis and Compromises: The European Project 1963–1969, Baden-Baden/Brüssel 2001, 391–405
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unterstützen konnte und rief die Amerikaner um Hilfe Diese reagierten mit der Truman-Doktrin, dem Marschall-Plan und dem Aufbau einer westeuropäischen Verteidigung gegen die UdSSR Auch die „weißen“ Dominions des Empire wandten sich nun den Amerikanern zu 1956 in der Suez-Krise erfolgte die zweite große britische Demütigung durch Sowjets und Amerikaner Ab 1960 wurden Schlag auf Schlag fast alle anderen Kolonien in Afrika und Asien in die Unabhängigkeit entlassen Premierminister Harold MacMillan hielt 1960 eine wegweisende Rede vor dem südafrikanischen Parlament in Kapstadt: In „The Winds of Change“ erklärte er den weißen Südafrikanern, die vollauf damit beschäftigt waren, das erst 1948 eingeführte Apartheid-System auszubauen und zu konsolidieren, dass es angesichts der demographischen Tatsachen keinen Sinn mache, imperiale Strukturen künstlich aufrecht zu erhalten 13 Er erntete damit den offenen Widerspruch des südafrikanischen Premierministers Hendrik F Verwoerd Doch sprach Macmillan vor allem seine eigenen Landsleute an, die er auf eine Zeit „nach dem Empire“ vorbereiten wollte Der Eintritt in die europäischen Organisationen war damit einerseits politisch motiviert, weil England angesichts des Zerfalls des Empires und auch der mangelnden Kohäsionskräfte im Commonwealth of Nations zunehmend allein stand Aber der Schritt hatte auch klare wirtschaftliche Motive Denn die viel höhere wirtschaftliche Dynamik der kontinentaleuropäischen Länder war Anfang der 1960er Jahre unübersehbar geworden Frankreich modernisierte sich im Gemeinsamen Markt, die Bundesrepublik erlebt ihr Wirtschaftswunder, auch die Niederlande, Belgien und Italien machten wirtschaftlich ähnlich große Fortschritte und erzielten enorme Wohlstandzuwächse für ihre Bevölkerungen Nur Großbritannien dümpelte hinterher, drohte als der „kranke Mann Europas“ abgehängt zu werden 1973 wurde der Beitritt zur nun fusionierten einheitlichen EG tatsächlich möglich De Gaulle war gestorben, dessen Nachfolger Georges Pompidou für einen britischen Beitritt offener Vor allem Willy Brandt als Bundeskanzler setzte sich nachdrücklich für die Norderweiterung ein 14 Die Sozialdemokraten empfanden eine stärkere Affinität zu den protestantischen Nordlichtern Europas sowie zu den Briten, während das ursprüngliche deutsch-französische europäische Projekt mit Adenauer und de Gaulle als Gallionsfiguren der Spitze einen spürbaren konservativ-katholisch-christdemokratischen Grundton besessen hatte Dies war nicht zuletzt im Kontext der „AtlantikerGaullisten“-Kontroverse der 1960er Jahre recht deutlich geworden
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Harold Macmillan, Rede vor dem Parlament in Kapstadt, 3 Februar 1960, abgedruckt in African Yearbook of Rhetoric 2/3, 2011, 27–39 Vgl Andreas Wilkens, Willy Brandt und die europäische Einigung, in: Mareike König / Matthias Schulz (Hrsg ), Die Bundesrepublik Deutschland und die europäische Einigung 1949–2000 Politische Akteure, gesellschaftliche Kräfte und internationale Erfahrungen Festschrift für Wolf D Gruner Stuttgart 2004, 167–184
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Indes erfolgte der Beitritt zur EG 1973 unter für Großbritannien demütigenden Umständen In den drei Jahren unmittelbar davor, unter der konservativen Regierung von Edward Heath, hatte Chaos geherrscht Das Land wurde von einer Wirtschaftskrise und einer Streikwelle heimgesucht Wie Rafael Behr im „Guardian“ argumentiert hat, ging der Eintritt mit einem Gefühl der Scham und der Schande einher 15 Der Eintritt nun in die EG oder den „Common Market“, wie man in Großbritannien bis zuletzt bevorzugt sagte, war ein Stück Kapitulation, ein geordneter Rückzug wie in Dünkirchen Dennoch hat Großbritannien als EG- und später EU-Mitglied immer wieder eine Sonderrolle beansprucht Margaret Thatcher rang hart um den „Britenrabatt“ Und David Cameron konnte die Mitgliedschaft „neu verhandeln“, was am Ende den Brexit nicht verhindern sollte III. Der Brexit und die Zukunft Europas Es lohnt sich, mit dem Zug nach London zu fahren Die (Noch)-Wirtschaftsmetropole der EU wirkt auf den Bahnfahrer europäischer als vor dreißig Jahren, als ich als Student zum ersten Mal dort hinreisen konnte, mit der Fähre von Dünkirchen und dem altertümlichen „boat train“ zur Victoria Station Äußerlich sind die Unterschiede zu anderen nordeuropäischen Metropolen geringer geworden Auch weil London kulturell vielfältiger ist als der Rest von Großbritannien, aufgrund von Einwanderung aus Kontinentaleuropa und aus aller Welt, finden sich schon rein äußerlich mehr Gemeinsamkeiten Die Weltstadt an der Themse boomt und sie hat sich auch mehrheitlich für den Verbleib in der Union entschieden Mit gutem Grund, denn der Austritt erfolgte, als es London und dem Vereinigten Königreich wirtschaftlich so gut ging wie schon lange nicht mehr Die 44 Jahre in der EU waren die Jahre, in den London erneut zur Weltfinanzmetropole aufstieg und in jeder Beziehung New York das Wasser reichen konnte Sie führten das krisengeschüttelte Großbritannien zurück auf den Pfad der Prosperität Großbritannien leiste einen wichtigen Beitrag dazu, die liberale Seite in Europa zu stärken und eine gewisse Skepsis gegenüber grandiosen Plänen einer weiteren Zentralisierung der EU in den innereuropäischen Diskursen aufrecht zu halten Künftig werden sich etwa Niederländer und Balten mit ihrer Kritik an deutsch-französischen etatistischen Planspielen nicht mehr hinter London verstecken können Andere, wie Polen oder Ungarn, haben nun kein großes Land mehr, das sich Sonderrechte heraus verhandelt, wovon dann auch die „Kleineren“ profitieren konnten
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Rafael Behr, Dunkirk Reveals the Spirit that has Driven Brexit: Humiliation, in: The Guardian 26 Juli 2017
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Wie sehen die Briten künftig Europa? Auch hier kommt es darauf an, wen man fragt: Viele wünschen sich heute einen Brexit vom Brexit, zumal die Regierung von Theresa May recht planlos agiert Sehr wahrscheinlich dürfte das nicht sein: Manchmal sieht es so aus, als würde der Schiffbruch noch einmal verhindert, zumal sich auch die negativen wirtschaftlichen Folgen immer konkreter zeigen Aber die Politik im Vereinigten Königreich fürchtet sich von der sehr lautstarken, in der nationalistischen Boulevard-Presse großen Rückhalt findende Austrittsfraktion Obwohl Austrittsbefürworter wie Farage oder Johnson politisch abgestürzt sind, treiben sie die Politik weiter vor sicher her, ähnlich wie rechte Populisten in Deutschland Der Brexit bedeutet die Verabschiedung einer alten Weltmacht in die Provinzialität, wobei sich die wirtschaftlichen Aspekte mittelfristig irgendwie regeln lassen Viele Briten sehen das mit Bedauern, doch sie sind machtlos, angesichts des populistischen Durchmarschs 2016 Für England bedeute der Brexit, dass es mit einem mächtigen Europa direkt vor seiner Haustür konfrontiert sein könnte: Ein europäischer Block, den man 1810 (gegen Napoleon) oder 1940 (gegen Hitler) bekämpfte Die EU ist durch den Austritt der Briten geschwächt Aber sie wird Politik und Wirtschaft des Vereinigten Königreichs weiter prägen, ohne dass das formal wieder souveräne gewordene Land in den europäischen Räten mitsprechen könnte Formale Souveränität hat ihren Preis: Brexit ermöglicht die Anmutung von Autonomie, bei realiter weniger Mitbestimmung Souveränität im Zeitalter der Globalisierung ist ein schlechter Witz Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Nationale Autonomie wird im europäischen Verbund garantiert Dem „Brexit“-Votum liegt ein historischer Irrtum zugrunde, nämlich die Auffassung, dass die EU das Ende der europäischen Nationalstaaten bedeute Das Gegenteil ist der Fall: Europa war und ist der Retter der europäischen Nationalstaaten, wie der britische Historiker Alan Milward schon über vor 30 Jahren argumentiert hat 16 In der Welt der Giganten, mit den USA, China und Indien sowie kommenden Mächten wie Indonesien oder Brasilien sind praktisch alle europäischen Länder Zwerge Alle großen Probleme (Migration, globale Erwärmung) sind international und rufen nach übernationalen Lösungen Dabei sind die europäischen Entscheidungsstrukturen zweifellos defizitär Politik wird weiter exklusiv national legitimiert Das ist das in der EU zu lösende Kernproblem, so der Münchener Politologe Werner Weidenfeld 17 Es geht nicht mehr ohne stärkere demokratische Legitimierung der europäischen Institutionen Dafür bedarf es aber auch einer stärkeren Identifikation der Menschen mit der EU Was können wir aus dem Desaster des Brexit lernen? Wir müssen den Menschen in Deutschland und Europa weiter und immer wieder neu erklären, dass Autonomie, auch nationale Autonomie, nicht mit Alleingängen hergestellt wird (da irren die Kata16 17
Alan S. Milward, The European Rescue of the Nation State London 1992 Werner Weidenfeld, Die Bilanz der europäischen Integration 2017, in: Jahrbuch der Europäischen Integration 37, 2017, 15–20, hier: 18
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lanen) Sonst leben wir am Ende nicht in einem Europa der Vaterländer, um de Gaulles alte Formulierung zu benutzen, die gerade im rechtspopulistischen Spektrum so gerne aufgegriffen wird Am Ende lebten wir in einem Europa der Schrebergärten Ein Schrebergarten ist eine possierliche Einrichtung Man machte es sich dort an einem Wochenende gerne bequem Doch viel Sicherheit bietet ein solcher Schrebergarten nicht, zumal wenn sich der „Geburtshelfer“ und langjährige Protektor Europas, die USA, seinerseits in einen ungesunden Isolationismus verabschiedet und der transatlantische Graben wächst Dass Europa im Sinne der supranationalen Integration die Nationen sichert, das hatte die Generation von de Gaulle, Adenauer und de Gasperi verstanden Zuletzt scheint uns der Blick für die großen Linien abhandengekommen zu sein Vermutlich ist der Leidens- und Handlungsdruck einfach nicht hoch genug ist; jedenfalls nicht so hoch wie in den 1940er und 1950er Jahren, als das europäische Projekt auf den Weg gebracht wurde, um wirtschaftliches Chaos einzudämmen und sich zugleich (West-)Europa von der Sowjetunion auch militärisch bedroht sah Es ist eine große Aufgabe unserer Zeit, gegen vereinfachende Brexit-Lösungen für eine Vertiefung der Union zu werben, um lokale und nationale Autonomie zu gewährleisten Nur mit einem integrierten Europa werden die europäischen Nationen weiter eine Chance haben, ihren Werten in der Welt Geltung zu verschaffen
Quo vadis Europa? Ein Blick auf Frankreich Johannes M Becker Ich argumentiere aus meiner Sicht als Frankreich-, Friedens- und Konfliktforscher, mit einem Schwerpunkt auf der Zeit nach 1945 Freilich auch als Bewohner dieses Landes, mit einem Zweitwohnsitz seit über vier Jahrzehnten 1 Eigentlich, ein wenig zugespitzt, braucht Frankreich Europa nicht Es ist ein Land mit einer ungeheuer langen Eigenständigkeit: Seit 843, dem Vertrag von Verdun, gibt es eine Hauptstadt, eine Währung Frankreich ist ein zentrales Land der Aufklärung im 18 Jahrhundert, (gar mit einer zweiten, nachholenden Aufklärung Ende der 60er Jahre des 20 Jahrhunderts), und ein Land mit einer großen Kolonialgeschichte: Am Ende des 1 Weltkrieges umfasst das Empire Français das 21fache des französischen Territoriums 2 Frankreich hat über lange Jahrhunderte auch naturräumlich, wirtschaftlich und politisch alles: Küsten, Berge, Weiten, dazu Kolonien Das Land könnte sich also eigentlich auf seine Bestände konzentrieren 3 Dennoch hat es immer Protagonistinnen und Protagonisten gegeben für eine enge Zusammenarbeit mit den Partnern vor allem auf dem europäischen Kontinent In Politik und Kultur Die Gründe dieser Menschen waren und sind vielschichtig: a) Das Land hat Grenzen mit vielen Ländern: eine mit Belgien und Luxemburg eine – besonders leidvolle – mit Deutschland, eine mit der Schweiz, mit Italien und mit Spanien b) Französisch als Hochkultur-Sprache verbindet seit Jahrhunderten viele Menschen; aktuell erfasst die Politik der Francophonie über 50 Staaten mit über 300 Millionen Menschen: Hier werden französische Sprache und französische Kultur im besten Sinne des Wortes gepflegt c) Die Erkenntnis dieser Europa-Visionärinnen und –Visionäre war: Nur bei guter Zusammenarbeit werden die Grenzen durchlässiger, werden kultureller Austausch und Handel dauerhaft und nachhaltig erleichtert Nur multilateral vorteilhafte Beziehungen verhindern Kriege
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Nach 1945 erhält das Europa-Denken auch auf französischer Seite eine zusätzliche Dynamik: a) Nach 1870/71 und 1914/18 sind nun zum dritten Mal innerhalb von 70 Jahren deutsche Truppen auf französischem Territorium gewesen b) Frankreich ist durch den langen Krieg und die deutsche Besatzung sehr geschwächt, dazu durch die innere Zerrissenheit zwischen den Anhängern der collaboration auf der einen, der résistance auf der anderen Seite c) Die beginnenden Kolonialkriege (Indochina, Algerien) gehen verloren, schwächen das Land zusätzlich Europa gewinnt für das Gros der politischen Klasse einen Wert als Kompensation für die verlorene Weltgeltung d) Den beiden großen Kriegen (Frankreich ist nun von 1940 bis 1962 ununterbrochen im Krieg!) folgt die Phase der décolonisation, der meist friedlichen Ablösung vieler zumeist subsaharischer Staaten von Frankreich Das Land verliert seine Position als Weltmacht e) Frankreich befindet sich nun im Meer der Systemkonkurrenz zwischen den Lagern der beiden in der Realität einzigen Gewinnern des Zweiten Weltkrieges, den USA und der UdSSR, dabei im selben Boot mit West-Deutschland: dem des Antisowjetismus Charles de Gaulle, einer der herausragenden Führer der résistance, später dann Regierungschef der Regierung der libération (unter Einschluss der Kommunisten), spricht Ende der 1950er Jahre – in dem Moment, da die westdeutsche Ökonomie die französische überholt – (sinngemäß) davon, dass „Frankreich seinen ärgsten Feind umarmen“ müsse Hier findet sich ein zweites starkes Argument für ein französisches Europa-Engagement: der Versuch einer Kontrolle (West) Deutschlands und gleichzeitig eines Profitierens vom Nachbarn Diese Politik unternimmt große Anstrengungen: a) Bereits 1951 erfolgt die Gründung der EGKS (Kohle und Stahl, nicht Kartoffeln und Getreide werden nun gemeinsam vermarktet!); b) 1954 versucht Frankreich durch die „Notlösung“ EVG (Europäische Verteidigungs-Gemeinschaft)) eine eigenständige westdeutsche Armee zu verhindern (de Gaulle geht hier 1954 sogar eine erneute Kooperation mit den Kommunisten ein); c) Paris versucht durch die (Beitritts-)Verhinderungspolitik gegenüber Großbritannien eine westeuropäische Armee (natürlich unter alleiniger französischer Atom-Führung) gegen die US-dominierte NATO aufzubauen: die WEU, die Westeuropäische Union, ist fürderhin das französische Gegenmodell zur NATO Eine letzte Anstrengung gegenüber dem gefürchteten furor teutonicus Deutschlands sehe ich in der Einführung des EURO, der Schaffung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) Hier will das Frankreich des Neo-Gaullisten Mitterrand das neue (Groß-)Deutschland endgültig unter das
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europäische Dach bringen und jeglichen Osteuropa-Ideen in Bonn/Berlin (1989 ff ) die Luft nehmen In einigen französischen und britischen Medien war um den 3 Oktober 1990 herum die Rede von „Le/The Grossdeutschland“ Heute ist Frankreich – neben Deutschland – einer der Motoren Europas Das Land ist fest integriert, manche Irritationen und Eskapaden sind fast vergessen (beispielsweise die Aktionen gegen die Weintransporte aus Italien und Spanien/ Portugal nach 1986 oder auch das gescheiterte Referendum gegen den europäischen Verfassungsentwurf 2005–56 Prozent der Bevölkerung stimmten „contre“) Heute dient die europäische Idee in Frankreich der politischen Klasse des Zentrums in aller Regel zur positiven Profilierung Aber auch die Hilfe Europas bei der Korrektur der Exportstärke Deutschlands ist heute ein Thema: Macrons Vorstöße (eine europäische Wirtschaftsregierung, eine Intensivierung der europäischen Rüstungspolitik etc ) seien hier genannt Wobei der amtierende Staatspräsident viele seiner jüngsten Vorstöße (etwa gegen die Exportdominanz Deutschlands) rasch wieder zurücknahm Der extremen Rechten (Front National/FN – seit Neuestem Rassemblement National) dient Europa, vor allem die EU, als Feindbild: Der, so die Diktion der LePen et alii, weitgehende Verlust der Souveränität, eine ungezügelte Flucht-/Migrationspolitik à la Merkel sind hier die Stichworte Die Linke der France Insoumise fordert, die EU neu zu beleben als Instrument eines Sozialen Europa (was bei 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit verständlich erscheint) Der BREXIT wird das Gewicht Frankreichs (wie auch das Deutschlands) in Europa wie in der EU weiter verstärken Nicht zuletzt wegen seiner Force de Frappe Besonders die seit der BREXIT-Entscheidung unübersehbare Beschleunigung der Versuche, militärische Strukturen in der EU zu schaffen, ist hier zu nennen Der alte Traum in Paris ist eine wie auch immer zu nennende militärische Struktur, die sich dem Einfluss der USA weitgehend entzieht Und die nur eine Nuklearmacht kennt Eine Karte hat der „Europäer“ Macron bislang nicht gespielt, die lange Jahrzehnte eine französische Spezifik in der Europa-Politik war: die des Ausgleichs zu den Staaten Osteuropas und Russlands, der ehemaligen Sowjetunion Russland kam bislang in seinen programmatischen Reden nur am Rande vor Hier sind der Staatspräsident und seine Mann- und Frauschaft noch nicht „en marche“ …
Ps : Lektüre-Interessierten empfehle ich neben den vorzüglichen Tageszeitungen Le Monde und FAZ die Zeitschriften Dokumente/Documents – Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog / Revue du Dialogue Franco-Allemand aus dem Dokumente-Verlag Lohmar und Lendemains aus dem Gunter Narr-Verlag in Tübingen Darüber hinaus sind Schatzkästlein des Wissens das Frankreich-Lexikon (2 Aufl , 2005) sowie das Handbuch Französisch (2003) aus dem Erich Schmidt-Verlag Berlin
Polen und Europa, keine einfache Geschichte Peter Oliver Loew Polen und Europas Zukunft, das ist eine lange Geschichte 1 Heute, wo in Warschau die Partei von Jarosław Kaczyński regiert, könnte man meinen, dass das Land sich rasch von Europa entfernt, dass es an Europa nicht interessiert ist Aber so einfach ist die Sache nicht Um die Frage nach Polens Zukunft in Europa zu klären, ist ein kurzer Blick in die Geschichte angebracht Auch wenn die von den Veranstaltern dieser Diskussion aufgeworfene Frage „Quo vadis“ bis in die biblische Antike zurückreicht und später vom polnischen Schriftsteller Henryk Sienkiewicz durch seinen gleichnamigen Roman weltberühmt wurde, beginnt Polens Präsenz in Europa erst am Ende des 10 Jahrhunderts: Mit der Taufe seines ersten historisch belegten Herrschers wurde es Teil des christlichen Abendlandes Seine Eliten verstanden sich stets als Teil Europas, selbst als das Land im in der Frühen Neuzeit weit nach Osten ausgriff, bis Kiew und ans Schwarze Meer, und sich gegen Russen, Tataren, Osmanen behauptete Als Polen gegen Ende des 18 Jahrhunderts zwischen Preußen, Österreich und Russland geteilt wurde, entfernte sich das Land nicht nur von den Landkarten, sondern auch aus dem europäischen „Mainstream“: Ohne Staatsgebiet war kein Staat zu machen, und ökonomische Rückständigkeit wie auch fehlende politische Betätigungsmöglichkeiten ließen vor allem das russische Teilungsgebiet weit hinter die Entwicklung des europäischen Westens zurückfallen Dennoch blieben die Eliten weitgehend europäisch orientiert und die – aussichtslosen – polnischen Aufstände gegen Russland galten den europäischen Demokraten als leuchtende Vorbilder im Kampf gegen die Unterdrückung 1832 auf dem Hambacher Schloss war Polen eines der großen Themen 1918 entstand Polen wieder als selbständiger Staat, mit einer dezidiert europäischen Identität, zugleich aber stand es – wie viele der neuen Staaten jener Zeit – im Bann eines oft rauschhaft erlebten Nationalgefühls, das sich bei Teilen der Bevölkerung in Gestalt eines teils sehr selbstbewussten Nationalismus explizit auch gegen die Nach-
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barn richtete – gegen die staatlichen Nachbarn in Europa ebenso wie gegen die ethnischen Minderheiten im eigenen Land 1939 geriet Polen zwischen die Fänge zweier totalitärer Europa-Konzeptionen, der nationalsozialistischen und der sowjetischen, die beide eine den Kontinent umspannende Neuordnung planten Zerrissen und zerstört, blieb das Land nach sechs schrecklichen Jahren unter sowjetischer und deutscher Besatzung, nach Millionen von Todesopfern, Deportierten und Degradierten im „sozialistischen Lager“ Die Gründung der Gewerkschaft Solidarność 1980 und der Elitenkompromiss am „runden Tisch“ 1989 ebneten den Weg für den Fall des Eisernen Vorhangs Polen begab sich auf den Weg „zurück nach Europa“, wie man dies damals nannte – auch wenn die liberale Intelligenz stets darauf hinwies, dass man ja immer zu Europa gehört habe, es also kein Weg „zurück“ sei, allenfalls ein Weg zurück in den „Westen“ Die Aufnahme in die NATO 1999 und in die Europäische Union 2004 banden das Land eng an diesen Westen, womit eine langgehegte Hoffnung vieler Generationen von Polen in Erfüllung zu gehen schien Bei der Volksabstimmung zum EU-Beitritt stimmten 77,45 % der Polen dafür Schon damals aber schien Polen kein einfacher Partner in Europa zu sein Nicht vergessen sind die scharfen Diskussionen, als zu Beginn des neuen Jahrtausends über die europäische Verfassung diskutiert wurde: Polen drohte die Verhandlungen platzen zu lassen und forderte mit dem Slogan „Nizza oder der Tod“ andere Stimmregeln als vorgesehen (in Nizza waren bei einer der entscheidenden Konferenzen bestimmte Regelungen beschlossen worden) Und als das Land unter dem postkommunistischen Ministerpräsidenten Leszek Miller 2003 beschloss, sich an der Seite der USA am Zweiten Golfkrieg zu beteiligen, während Deutschland und Frankreich sich dagegen aussprachen, schien die Einheit Europas durch die besondere transatlantische Verbundenheit des noch nicht einmal in die EU aufgenommenen Staates gefährdet Donald Rumsfeld, der US-Verteidigungsminister, sprach damals schon vom „alten“ und vom „neuen“ Europa und sah die Zukunft des Kontinents bei den „frischen“, „unverbrauchten“ Staaten wie Polen Nach dem ersten Wahlsieg durch die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) von Jarosław Kaczyński 2005 kamen erstmals Zweifel auf im „alten Europa“, ob Polen tatsächlich schon reif sei für die liberale westliche Staatengemeinschaft Kaczyński gab sich gerne als Euroskeptiker, zumindest als ein Skeptiker des liberalen Europas Doch der Spuk dauerte nur zwei Jahre, die Koalitionsregierung zerfiel 2007 Es folgten acht „ruhige“ Jahre unter der liberal-konservativen Regierung von Donald Tusk, in der Polen als stabile Demokratie und wirtschaftlich erfolgreicher Staat reüssierte und in der EU deutlich an Ansehen gewann Die Zustimmungswerte zur EU waren die gesamte Zeit über hoch und lagen durchweg über 70 Prozent Das hatte mehrere Gründe: Zum einen schätzen die Polen die politische Stabilität und Sicherheit, die die Mitgliedschaft in der EU gewährt, auf der anderen Seite spüren sie aber auch die Effekte der großen Transfersummen, die selbst eine ursprünglich sehr skeptische Gruppe, die Landwirte, zu Euroenthusiasten hat werden lassen
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Der Regierungswechsel von Herbst 2015 hin zur Partei „Recht und Gerechtigkeit“, die man als national-konservativ, als sozial-national, als national-populistisch oder katholisch-national bezeichnen kann, dieser Wechsel ließ die Begeisterung der Polen gegenüber EU nicht sinken, im Gegenteil: Im Euro-Barometer von 2017 meinten 84 % aller Polen, das Land habe von der EU-Mitgliedschaft profitiert – hinter Irland, Malta, Litauen und Luxemburg war das der höchste Wert Zum Vergleich – in Deutschland sagten dies 77 %, in Frankreich 58 % und in Großbritannien nur 55 % (aber auch – immerhin 55 %) Als wichtigste positive Folgen der EU-Mitgliedschaft nannten die Polen an erster Stelle den gemeinsamen Arbeitsmarkt und dann das Wirtschaftswachstum Gleichzeitig ging die Regierung auf Distanz zu den meisten Mitgliedsländern der EU, insbesondere im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise Anlass zum Dissens gab es aber auch aufgrund der rasch erfolgenden totalen Übernahme aller staatlichen Institutionen durch die PiS in einem geradezu revolutionären Furor Die schrittweise Demontage wichtiger Prinzipien und Institutionen des Rechtsstaates riefen die EU auf den Plan, die mehrfach das Vorgehen vor allem gegen das Verfassungsgericht und das Gerichtswesen insgesamt scharf verurteilte Polen wirft nun den meisten EU-Staaten vor, sich ungerechtfertigterweise in Polen einzumischen und schmiedet selbst Allianzen innerhalb der EU, wo man die Visegrád-Gruppe beleben will, ohne damit allerdings bislang viel Erfolg zu haben, und außerhalb der EU, wo man das Konzept des „Intermariums“ fördert, jener Vorstellung, ein Staatenblock zwischen Ostsee und Schwarzem Meer (und neuerdings auch der Adria) könne sich zwischen Ost und West als neuer politischer und ökonomischer Faktor etablieren Patriotismus, ja teils auch scharfer Nationalismus stehen derzeit hoch im Kurs Ein wohlbedachtes Symbol war gleich zu Beginn der PiS-Herrschaft, dass die damalige Premierministerin Beata Szydło nach ihrem Amtsantritt die EU-Fahnen aus dem Presseraum ihrer Kanzlei entfernen ließ und fortan nur noch vor polnischen Fahnen auftrat Die Haltung der Regierung gegenüber Europa wird sehr gut in einer Äußerung von Beata Szydło im September 2017 deutlich: „Wir verlangen die Einhaltung der EU-Verträge und akzeptieren kein Diktat der größten Staaten (…) Wir wollen in der EU sein, wir schätzen sie und darum haben wir das Recht, die Einhaltung der Prinzipien anzumahnen, einen wahren gemeinsamen Markt, Sicherheit, Entwicklung “ (Sieci Prawdy, 4 –10 9 2017)
Auf der deklarativen Ebene will die polnische Rechts-Regierung Europa also mitgestalten, empfindet sich als zentraler Bestandteil der Union, obwohl sie etwa eine weitere politische Integration der Staatengemeinschaft ablehnt Unter Mitgestaltung versteht sie vor allem die Bereiche Wirtschaft und Sicherheit, wobei man in einigen Aspekten auch ein Mehr an Zusammenarbeit vorschlägt, etwa bei der Energiepolitik oder bei einer gemeinsamen Verteidigungspolitik Jarosław Kaczyński hat sogar eine
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gemeinsame europäische Armee vorgeschlagen, obwohl die PiS-Verteidigungspolitik gleichzeitig US-amerikanische Rüstungslieferanten zu bevorzugen scheint Gleichzeitig aber zettelt die Regierung und ihr Lager immer neue Konflikte in Europa an Mit Deutschland hat man sich wegen Kriegsreparationen angelegt, mit Frankreich brach ein Streit aus, als ein längst besiegelter Rüstungsauftrag bei Airbus gecancelt wurde, der Ukraine wird antipolnischer Nationalismus vorgeworfen, und selbst mit ebenfalls euroskeptischeren Regierungen wie in Ungarn und Tschechien ist man sich nicht in allen Dingen grün Dazu kommen widersprüchliche Äußerungen über Juden bzw Israel – während die Bemühungen der PiS, die öffentliche Diskussion über mögliche polnische Beteiligung am Holocaust unter Strafe zu stellen, weltweit für Empörung gesorgt haben, hat sich die Regierung in Warschau auch sehr zustimmend zum jüdischen Nationalismus und zur Palästinenserpolitik der Regierung Netanjahu geäußert Oft sind diese außenpolitischen Konflikte jedoch vor allem der Innenpolitik geschuldet: Wenn das polnische Regierungslager an die Zukunft Europas denkt, denkt es erst einmal an Polen selbst Indem es von Deutschland Reparationen fordert oder jüdische Themen politisch instrumentalisiert, denkt es vor allem an die Mobilisierung von Wählergruppen im Inland, die sich insbesondere durch die Emotionalisierung vermeintlich tabuisierter Topoi ansprechen lassen Dies wird dann auf Nachfrage als Bestandteil von „nationalem Interesse“, von „Staatsraison“ dargestellt, als „alternativlose“ Politik Eine Aushandlung politischer Entscheidungsprozesse im Verlauf einer offenen politischen Debatte ist dem Regierungslager dagegen fremd Dennoch kann öffentlicher Widerstand aus dem Inland wie Ausland auch dazu führen, dass die Regierung zurückrudert, wie etwa beim „Holocaust-Gesetz“ geschehen Dieser Widerstand leitet sich unter anderem daraus ab, dass es neben der Regierung in Polen noch eine breit gefächerte Opposition gibt, die liberal, linksliberal, links oder auch liberal-konservativ ist und in der Regel dem liberalen, offenen Europa gegenüber sehr freundlich eingestellt ist Allerdings betrifft dies nicht alle Aspekte der europäischen Integration; gerade bei den Liberal-Konservativen gibt es nach wie vor Skepsis etwa hinsichtlich der Einführung des Euro Dennoch ist Europa eine Hoffnung der Opposition: Bei den großen Demonstrationen gegen die Regierung, die meistens von zivilgesellschaftlichen Initiativen organisiert wurden, wehte stets die Europafahne Andersherum ist Polen aber auch in Europa präsent, ja mancherorts ist es Hoffnung oder gar Rettung: Polnische Kultur, polnische Firmen, polnische Migranten sind längst zu einem unverzichtbaren Bestandteil mittelund westeuropäischer Lebenswelten geworden, und das eben nicht nur durch bedeutende Vertreter polnischer Kunst oder Kinematographie, sondern auch durch Pflegekräfte, Spargelstecher und Handwerker Doch die wesentliche Frage lautet: Kann Polen in seinem derzeitigen Zustand dazu beitragen, um auf die Frage „Quo vadis Europa?“ eine Antwort zu finden? Im Verein mit Ungarn und dem seit kurzem populistisch regierten Italien scheint es die liberalen
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Grundfeste der Europäischen Union zu erschüttern Dabei ist ein Teil der polnischen Vorwürfe gegenüber dem instutionalisierten Europa aber durchaus ernst zu nehmen: Die jahrelange Vernachlässigung des Themas „Energiesicherheit“ ist angesichts potentieller russischer Erpressungsversuche kaum zu verstehen; allerdings ist es spätestens seit dem Amtsantritt von Donald Tusk als EU-Ratspräsidenten stärker ins Bewusstsein der politischen Öffentlichkeit gerückt Ähnlich verhält es sich mit den ostmitteleuropäischen Sorgen hinsichtlich der militärischen Potentiale der EU-Staaten Das Thema, das von den Populisten jedoch bei weitem am häufigsten für eine Anti-EU-Stimmung verwendet wird, die Migrationsfrage, ist noch weit von einer Lösung entfernt: Nicht, weil es nicht an ernsthaften Versuchen mangelt, sondern vielmehr weil es – einmal in die Welt gesetzt – auf lange Zeit hin als eine Möglichkeit dienen wird, rhetorisch gegen die Europäische Union und ihre Institutionen sowie gegen die liberalen Verfassungsordnungen und ihre Vertreter vorzugehen Nur eine vehemente, deutlich sichtbare Reform der europäischen Strukturen, ein neuer europäischer Aufbruch können diesen Kräften den Wind aus den Segeln nehmen Gleichzeitig muss die EU aber auch die polnische Gesellschaft schützen, auch vor dem Verfassungsbruch ihrer eigenen Regierung Diese Rolle der EU ist ein steter Balanceakt, der durch die wuchtig vorgetragenen Angriffe von Populisten natürlich in ständiger Gefahr steht Polens Rolle für Europa wiederum ist, wenn man es positiv sieht, die eines steten Mahners, an einer Verbesserung der Union nicht zu verzagen, sondern konsequent strukturelle Verbesserungen umzusetzen Die große Offenheit vieler Bevölkerungskreise gegenüber Europa und transnationaler Zusammenarbeit macht Hoffnung darauf, dass Polen bald auch wieder eine konstruktive Rolle innerhalb der Union spielen wird
Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser PD Dr Johannes M. Becker hat nach seinem 1973 beendeten Wehrdienst (Major der Reserve) das Studium der Politologie, Geographie und Sportwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg mit dem Diplom (1980) und dem Staatsexamen (1981) abgeschlossen Seine Dissertation über das deutsch-französische sicherheitspolitische Verhältnis hat er 1985 eingereicht Die Habilitationsarbeit zu Frankreichs Sicherheitspolitik unter François Mitterrand legte er 1990 in Paris und Marburg vor Seitdem ist er, unterbrochen durch Lehrstuhlvertretungen, Privatdozent der Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkten Frankreich, Europa sowie Friedens-und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg und von 2004–2017 war er dort Koordinator/Geschäftsführer am Zentrum für Konfliktforschungen In Forschung und Lehre widmete er sich den Internationalen Beziehungen mit den Schwerpunkten Sicherheitspolitik und deutsch-französisches Verhältnis, zudem befasste er sich mit den Perspektiven der Europäischen Union sowie mit der Sozialpolitik und damit verbundenen ethischen Fragen Prof Dr jur Martin Dossmann studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Bonn, München, Freiburg i Br Er promovierte 1985 an der Universität Münster mit einer Dissertation über die kommunale Selbstverpflichtung zur Aufstellung eines Bebauungsplanes Heute ist er Hauptgeschäftsführer des Wirtschafts- und Arbeitgeberverbandes Bauwirtschaft Rheinland-Pfalz und Honorarprofessor an der Hochschule Mainz Als Frucht seiner Beschäftigung mit der Geschichte von Studium und Studentenschaft legte er 2017 ein Buch über die Geschichte der Freiburger Studentenverbindungen mit dem Titel „Freiburgs Schönheit lacht uns wieder“ vor Daraus ist auch sein Beitrag für dieses Heft hervorgegangen Jeremias Fuchs (M A ) nahm zum Wintersemester 2010/2011 ein Studium der Geschichtswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie an der University of Turku (Finnland) auf, welches er 2014 mit dem Bachelor of Arts abschloss Zum Sommersemester 2014 begann er ebenfalls an der Universität Mainz neben dem Masterstudium der Neuzeitlichen Geschichte ein Studium der Politikwissenschaften und des Öffentlichen Rechts, das er 2016 mit dem Bachelor of Arts abschloss Seit Abschluss des Masterstudiums in Geschichte arbeitet er am Max-Planck-Institut für
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Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser
europäische Rechtsgeschichte an seiner Dissertation zur Herausbildung von Sonderordnungsregimen im deutschen Sozialstaat des späten 19 und frühen 20 Jahrhunderts Prof Dr Philipp Gassert ist seit 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim Er forscht im Bereich der deutschen und europäischen Geschichte sowie der transatlantischen Beziehungen und der US-Außenpolitik des 20 und 21 Jahrhunderts Seine wichtigsten aktuellen Themengebiete sind die Protestund Friedensbewegungen im Kalten Krieg Zuletzt erschienen: „Bewegte Gesellschaft: Deutsche Protestgeschichte seit 1945“ (Stuttgart 2018) Julia Kreuzburg, M A , studierte Geschichte und Komparatistik / Europäische Literatur an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Sie war als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl Neueste Geschichte und als Tutorin in Neuerer/Neuester Geschichte tätig Innerhalb des Vorhabens „Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914“ der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, verfasst sie zurzeit eine Dissertation zu jüdischen Politikern im Kaiserreich Prof Dr Wilhelm Kreutz studierte Geschichte, Germanistik und Politische Wissenschaften an der Universität Mannheim Er wurde 1982 mit der Arbeit „Die Deutschen und Ulrich von Hutten Rezeption von Autor und Werk seit dem 16 Jahrhundert“ an der Universität Mannheim promoviert und habilitierte sich 1992 ebendort mit der Arbeit „Revolution-Reform-Revolution Regierungspolitik und Parlamentarismus im nachmärzlichen Bayern“ Von 1978 bis 1993 und von 1995 bis 2000 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Historischen Instituts der Universität Mannheim Von 1993 bis 1995 vertrat er den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Rostock Von 2002 bis 2014 unterrichtete er am Karl-Friedrich-Gymnasium Mannheim die Fächer Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde; von 2008 bis 2014 war er zudem Fachberater für Geschichte und Landeskunde des Regierungspräsidiums Karlsruhe Seit 1993 lehrt er als Privatdozent, seit 2014 als außerplanmäßiger Professor an der Universität Mannheim Neuere und Neueste Geschichte Seine Forschungsschwerpunkte sind die (südwest-)deutsche Geschichte der Aufklärung, die demokratischen Bewegungen des 19 und frühen 20 Jahrhunderts, die deutsch-jüdische Geschichte und die Geschichte des Films Er ist seit 2008 Vorsitzender der Hambach Gesellschaft Der Historiker Dr Peter Oliver Loew ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt Seine wissenschaftliche Interessen liegen auf der Geschichte und Gegenwart der deutsch-polnischen Beziehungen, der Geschichte der Polen in Deutschland, der Geschichte Danzigs und auf der Kultur- und Musikgeschichte Aus seinen wissenschaftlichen Studien sind unter anderem Bücher „Wir Unsichtbaren Geschichte der Polen in Deutschland“ (München 2014) und „Danzig Biographie einer Stadt“ (München 2011) hervorgegangen
Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser
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Nach Forschungs- und Lehrtätigkeit an mehreren Universitäten war Prof Dr Karsten Ruppert von 1995 bis 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Die Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die internationalen Beziehungen vom 17 bis zum 20 Jahrhundert, die Geschichte der politischen Bewegungen in Deutschland sowie Ideen- und Verfassungsgeschichte Er ist seit 2008 stellvertretender Vorsitzender der Hambach Gesellschaft Zuletzt ist von ihm erschienen „Die Pfalz im Königreich Bayern“ Dr Hendrik Schmehl studierte die Fächer Mittlere und Neuere Geschichte, Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung promovierte er bei Prof Dr Sönke Neitzel zunächst in Mainz und dann an der Universität Potsdam über die Kurstadt Wiesbaden während des Ersten Weltkrieges Lilian Zafiri wurde 1989 in Frankfurt am Main geboren Nach ihrem Abitur nahm sie ein Bachelorstudium der Kultur- und Wirtschaftswissenschaften in Mannheim und Norwegen auf In Heidelberg und Zürich folgte ein Masterstudium der Geschichte Daneben war sie im Journalismus und in Forschungsprojekten tätig und leitete Seminare der Hanns-Seidel-Stiftung Der Schwerpunkt ihrer historischen Arbeiten liegt in der Wirtschaftsgeschichte und in der Zeit um den Ersten Weltkrieg
Andreas Braune / Mario Hesselbarth / Stefan Müller (Hg.)
Die USPD zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus 1917–1922 Neue Wege zu Frieden, Demokratie und Sozialismus? Weimarer schriften zur republik — banD 3 XXXII, 262 Seiten mit 7 s/w-Fotos und 3 s/w-Abbildungen 978-3-515-12142-2 kartoniert 978-3-515-12148-4 e-book
Die Spaltung der Arbeiterbewegung zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie prägte die verhängnisvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland entscheidend mit. In Vergessenheit gerät dabei oft, dass sich zu Beginn nicht KPD und SPD gegenüberstanden. Vielmehr hatte sich im April 1917 die USPD in Opposition zur Burgfriedenspolitik der SPD gegründet. Sie war an den Protesten und Massenstreiks gegen den Krieg beteiligt und trat in der Revolution 1918/19 für einen radikaleren Schnitt mit der alten Ordnung ein. Zwischen einer an Stabilität orientierten SPD und dem zur Weltbewegung strebendem Kommunismus war für die USPD als radikalem Flügel der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung jedoch bald kein Platz mehr. Die kurze Phase der USPD als Massenpartei von 1917 bis 1922 veranschaulicht, dass es in den Vorstellungen der Zeitgenossen viele Wege zu Frieden, Demokratie und Sozialismus gab – in jedem Fall mehr als zwei. Der Blick auf die USPD lädt dazu ein, den offenen
Zukunftshorizont der Akteure des demokratischen Aufbruchs seit 1918 ernster zu nehmen. mit beiträgen von Stefan Müller & Andreas Braune & Mario Hesselbarth, Hartfrid Krause, Wolfgang Kruse, Thilo Scholle, Walter Mühlhausen, Max Bloch, Marcel Bois, Stefan Bollinger, Bernd Braun, Mike Schmeitzner, Axel Weipert, Reiner Tosstorff Die herausgeber Andreas Braune ist Politikwissenschaftler und stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Mario Hesselbarth ist Historiker und ehrenamtlicher Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen e.V. Stefan Müller ist Historiker und Referent im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Hier bestellen: www.steiner-verlag.de
Michael Dreyer
Hugo Preuß Biografie eines Demokraten WeImArer schrIften zur republIk — bAnd 4 XXV, 513 Seiten mit 2 Tabellen 978-3-515-12168-2 gebunden 978-3-515-12170-5 e-bOOk
Hugo Preuß war nicht nur einer der wichtigsten theoretischen Vordenker der modernen Demokratie in Deutschland, sondern war als Politiker auch wesentlich an der Verfassunggebung der Weimarer Republik beteiligt. Als Staatsrechtler entwickelte Preuß die demokratische Genossenschaftstheorie und zählt damit zu den Begründern des Pluralismus in Deutschland. Zudem war Preuß als politischer Publizist aktiv im Kampf für die Demokratisierung des Kaiserreiches und ergriff nach 1919 zur Verteidigung der Republik und zur Abwehr des Antisemitismus die Feder. Preuß war damit ein früher Verfechter des Konzepts der wehrhaften Demokratie gegen die vor allem rechten Feinde der Weimarer Republik. Als liberaler Politiker wurde Preuß in der Berliner Kommunalpolitik ein Exponent sozialliberaler Ideen. 1918 war er Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei und zeichnete als erster Reichsinnenminister der Weimarer Republik für die Wahlen zur
Nationalversammlung und für den Prozeß der Verfassunggebung verantwortlich, den er vom ersten Entwurf der Verfassung bis zur Verabschiedung begleitete. Bis zu seinem Tod gehörte er dem Landtag Preußens an, wo er in der DDP für die Weimarer Koalition eintrat. Aus dem InhAlt Vorwort | Hugo Preuß – Die Wiedergeburt eines Unzeitgemäßen | Hugo Preuß – Eine biographische Einführung | Das staatsrechtlich-politische Denken Hugo Preuß’ | Hugo Preuß als Politiker | Epilog – Spuren eines Lebens | Quellen- und Literaturverzeichnis | Sach- und Personenregister der AutOr Michael Dreyer ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Vorstandsvorsitzender des Weimarer Republik e.V. und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik.
Hier bestellen: www.steiner-verlag.de
Albert Dikovich / Alexander Wierzock (Hg.)
Von der Revolution zum Neuen Menschen Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19: Philosophie, Humanwissenschaften und Literatur Weimarer Schriften zur republik — band 5 347 Seiten 978-3-515-12129-3 kartoniert 978-3-515-12130-9 e-book
Das Ende des Ersten Weltkriegs, der Untergang der Monarchien und die Revolution bedeuteten nicht nur den Zusammenbruch von Recht und Ordnung: Die Zäsur von 1918/19 war im mitteleuropäischen Kontext auch ein symbolischer Kollaps der überlieferten Ordnungsbegriffe und Sinngebungen, der zur Neuorientierung herausforderte. Es war die Forderung der Stunde, den Menschen auszurüsten für eine veränderte Wirklichkeit – und zwar in physischer, psychischer und moralischer Hinsicht. In Kunst und Literatur wie auch in Wissenschaft und Politik – auf ganz unterschiedlichen Gebieten also – begann eine Suchbewegung nach dem Neuen Menschen. Als Kreuzungspunkt konkurrierender Imaginationen avancierte er zum Zentraltopos des Auf- und Umbruchs in Gesellschaft und Politik. Die Spannbreite
reicht dabei von Ideen der politischen Romantik, des Pazifismus, der sozialreformerischen Biopolitik und dem Rätekommunismus bis hin zum Liberalismus. Die Autorinnen und Autoren zeigen mit ihren Beiträgen, wie heterogen die Vorstellungen waren, die um diese Menschenerneuerung kreisten, fragen nach ihrer Bedeutung für die Revolutionen in Mitteleuropa von 1918/19 und loten neue Forschungsperspektiven aus. mit beiträgen von Andreas Braune & Michael Dreyer, Albert Dikovich & Alexander Wierzock, Karl-Heinz Lembeck, Detlef Siegfried, Clemens Reichhold, Vratislav Doubek, Enikő Darabos, Katharina Neef, Christoffer Leber, Verena Wirtz, Annamária Biró, Sebastian Schäfer, Christian Marty, Michael Gormann-Thelen
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Aufsätze Karsten Ruppert Griechischer Freiheitskampf und deutscher Philhellenismus Martin Dossmann Freiburg und das Hambacher Fest: Wie wirkte sich das Hambacher Fest 1832 auf die Universitätsstadt Freiburg i. Br. aus? Zugleich ein Beitrag zum Leben von Karl von Rotteck und Philipp Jacob Siebenpfeiffer Jeremias Fuchs „Gott mehr gehorchen als den Menschen“: Bischof von Kettelers Überlegungen zur Begründbarkeit eines katholischen Widerstandsrechts im Kulturkampf Wilhelm Kreutz Gustav Adolf Lehmann (1855–1926): Ein vergessener Sozialdemokrat des Kaiserreichs
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Hendrik Schmehl Sterblichkeit der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg: Das Beispiel Wiesbaden und die Chance der Digitalisierung Lilian Zafiri „… und sie prügelten sich mit Zitronenkisten“: Gewaltausbrüche und Unruhen in Mannheim in den Anfangsjahren der Weimarer Republik Julia Kreuzburg Die „Weinbetrüger“-Prozesse in Rheinhessen: Zur „Arisierung“ des jüdischen Weinhandels Forum Quo, vadis, Europa? Die Zukunft Europas: Referate der Tagung der Hambach-Gesellschaft vom 5. November 2017 Philipp Gassert Die Zukunft Europas – aus britischer Sicht Johannes M. Becker Quo vadis Europa? Ein Blick auf Frankreich Peter Oliver Loew Polen und Europa, keine einfache Geschichte
ISBN 978-3-515-12392-1
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7835 1 5 1 2392 1