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German Pages 616 Year 1973
JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE
DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN ZENTRALINSTITUT FÜR GESCHICHTE
JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE HERAUSGEGEBEN VON HORST BARTEL, ERNST ENGELBERG, HEINZ HEITZER, WALTER NIMTZ, HEINRICH SCHEEL VERANTWORTLICHER REDAKTEUR: WOLFGANG SCHRÖDER REDAKTIONELLE BEARBEITUNG: RENATE ULBRIEG
JAHRBUCH FÜR G E S C H I C H T E
AKADEMIE-VERLAG . BERLIN 1972
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Redaktionsschluß: 15. Februar 1971
Erschienen im Akademie-Verlag (¡mbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1972 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/30/72 Gesamtherstellung: VEB Druckerei ,,Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza/DDR Bestellnummer: 2130/6 • E S 14 A EDV 751 988 9
Inhalt WOLFGANG KÜTTLER
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen als Problem der allgemeinen Feudalismusforschung. . . . .
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Theoriß u n d Praxis des aufgeklärten Absolutismus in Brandenburg-Preußen
53
Konservatives Rebellentum im antinapoleonischen Unabhängigkeitskampf. Zur Beurteilung des Freischarzuges unter Ferdinand von Schill 1809
107
INGRID MITTENZWEI
HELMUT BOCK
HORST B A R T E L / W A L T E R SCHMIDT
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen der Geschichtedesdeutschen Volkes im 19. J a h r h u n d e r t . . .
147
Marxismus und Opportunismus in der Gewerkschaftsfrage 1891 - 1 8 9 3
191
Die H a l t u n g des deutschen Imperialismus zur Gründung der Tschechoslowakischen Republik 1918/1919 .
263
Zur Volksfrontpolitik der Kommunistischen nationale .
309
WOLFGANG SCHRÖDER
GERHARD FUCHS
ERWIN LEWIN
Inter-
GOTTFRIED DITTRICH
Die S E D und die Aktivisten- u n d Wettbewerbsbewegung in den Jahren 1948 bis 1950
343
HELMUT GRIEBENOW/KURT MEYER
Die Einbeziehung der Großbauern in die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft in der D D R . . . .
371
MANFRED BENSING/ELLY HEILHECKER
Die Arbeiterklasse der D D R an der Schwelle der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Probleme ihres W a c h s t u m s in den J a h r e n 1961/1962
397
Die Entwicklung der wirtschaftlichen sozialistischen Integration zwischen der D D R u n d der UdSSR. (Juni 1964 bis Dezember 1968).
417
HORST RAKOWSKI
ILSE HEYMANN/PETER W I C K
Moderne Informationsverarbeitung in der Geschichtswissenschaft
449
H A N S SGHLEIER
Explizite Theorie, Imperialismus, Bismarck und H e r r Wehler 477
Dokumentationen HEINRICH SCHEEL
Spitzelberichte aus dem jakobinischen Mainz
501
Franz von Papen und die „Germania". E i n Beitrag zur Geschichte des politischen Katholizismus und der Zentrumspresse in der Weimarer Republik
539
Walter Schröder — ein deutscher Kommunist . . . .
605
Autorenverzeichnis
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H E R B E R T GOTTWALD
OLAF GROEHLER
WOLFGANG RÜTTLER
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen als Problem der allgemeinen Feudalismusforschung
Begriff, Entstehung und Periodisierung des Feudalismus als Gesellschaftsformation sind seit langem Gegenstand einer gründlichen und oft sehr kontroversen Diskussion in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft; sie sind darüber hinaus ein immer wieder hoch aktuelles Thema der wissenschaftlichen und politisch-ideologischen Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Historiographie.Das Feudalismusproblem ist nicht nur gewissermaßen die Grundfrage der Mediävistik, sondern es berührt Geschichtsbild und Geschichtstheorie insgesamt und bezieht sich unmittelbar auf so wichtige Fragen der zeitgeschichtlichen Entwicklung und der aktuellen Politik wie die Möglichkeit des nichtkapitalistischen Entwicklungsweges, die gesellschaftlichen Voraussetzungen und revolutionären Perspektiven in unterentwickelten, noch teilweise vorkapitalistisch strukturierten Ländern. Gerade diese aktuelle Seite der zunächst den Mediävisten vorbehaltenen Feudalismusforschung hat das Blickfeld so global ausgeweitet, daß die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Varianten und Typen vorkapitalistischer Entwicklungsformen natürlicherweise neue Fragestellungen und Probleme in der universellen Anwendung des "klassischen", stark am westeuropäischen Muster orientierten Feudalismusbegriffs hervorriefen. Die Feudalismusdiskussion wurde auf diese Weise in die umfassendere Erörterung der Gesetzmäßigkeiten, der inhaltlichen und chronologischen Stufenfolge sowie des Wesens der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen überhaupt einbezogen. In dieser Diskussion, an der marxistische Historiker und Archäologen aus vielen Ländern, vor allem aber ein großer Kreis sowjetischer Althistoriker, Orientalisten und Mediävisten, teilnehmen und die gegenwärtig noch lange nicht abgeschlossen ist, wird praktisch das gesamte wissenschaftlich-theoretische und methodologische Instrumentarium für die Periodisierung, Strukturbestimmung und universalhistorische Zuordnung der Übergangsperioden zu den vorkapitalistischen antagonistischen Klassengesellschaften und dieser Formation selbst anhand der einschlägigen Hinweise der Klassiker des MarxismusLeninismus sowie neuen Materials und vergleichender Analysen der Entwicklung in Europa,
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Wolfgang KUttler
Asien, Afrika und Amerika überprüft und durch neue Fragestellungen bereichert. 1 Ganz gleich, wie man die oft sehr weitgehenden Schlußfolgerungen einzelner Forscher beurteilen mag, es bleibt die Notwendigkeit, dieArgumente, diehierbeizu Fragen des Übergangs zur Klassengesellschaft und der Entstehung und Abfolge der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen sowie im speziellen Fall zum Begriff und zur weltgeschichtlichen Einordnung des Feudalismus geäußert wurden, bei der Erforschung der Feudalentwicklung im jeweils zu betrachtenden Lande mit zu berücksichtigen. Umgekehrt ist es natürlich noch wichtigeT, daß die konkreten Forschungsergebnisse zur Geschichte des Feudalismus bzw. der vorkapitalistischen Formationen überhaupt, die für einzelne Länder gesichert sind oder noch gewonnen werden, methodisch und theoretisch für die Erörterung und Klärung der allgemeinen Probleme voll ausgeschöpft werden. Auf dem XIII. Internationalen Historikerkongreß in Moskau vom 16. bis 23. August 1970 war eines der großen Themen der Genesis und dem Begriff des Feudalismus gewidmet, und in den Beratungen über dieses Problem wurde nicht zufällig immer wieder eine ausgewogene Synthese konkreter Detailforschung mit methodologischer und theoretischer Verallgemeinerung gefordert. Die sowjetische Referentin Z.V. Udal'cova, die zusammen mit E . V . Gutnova einen viel beachteten und mit großer Zustimmung aufgenommenen Rap2 port über die Genesis des Feudalismus in den europäischen Ländern vorgelegt hatte , wies in ihren einleitenden Bemerkungen zur Diskussion unter anderem darauf hin, daß in der vergleichenden Analyse der verschiedenen Übergangsprozesse zum Feudalismus vor allem hinsichtlich der Geschichte der Völker der UdSSB und insbesondere zur Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen noch vieles zu tun sei. In der Tat hatte schon 1969 die Zeitschrift "Voprosy istorii" auf diese Lücke im bisherigen Forschungsstand aufmerksam gemacht und einen allerdings nicht weiter diskutierten Beitrag von Ju. A. Kizilov veröffentlicht, in dem ebenfalls betont wurde, daß die Genesis des Feudalismus in der Rui 1
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Vgl. zuletzt den Sammelband Leninskie idei v izucenii istorii pervobytnogo obscéstvâ, rabovladenija i feodalizma, Red. P . I. Zasurcev u . a . , Moskau 1970, und: Zaozerskala. E . I . , Marksistsko-leniniskoe ucenie ob obscestvenno-ëkonomiceskich formacijach i diskussii 1920-ch i 1960-ch godov, in: Aktual'nye problemy istorii Rossii ëpocha feodalizma, Red. L . V . Cerepnin u . a . , Moskau 1970, S. 9-38; ferner zur Information Günther, Rigobert. Herausbildung und Systemcharakter der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (im folgenden: ZfG), 1969, H. 1/2, S. 194-208, mit einer ausführlichen Literaturauswahl, und den in einigen'Grundfragen sehr umstrittenen sowjetischen Sammelband Problemy istorii dokapitalisticeskich obscestv. Bd 1, Moskau 1968, sowie speziell zur Genesis des Feudalismus in Westeuropa die Materialien einer wissenschaftlichen Session vom 3 0 . 5 . bis 3.6.1966 in Moskau, in: Srednie Veka, Bd 31, Moskau 1968 (im folgenden: SV 31). Oudaltzova. Z.V./Goutnova. E . V . , La genèse du féodalisme dans les pays d'Europe, Moskau 1970 = XIII. Congrès International des Sciences Historiques.
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen
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bis jetzt in der außerordentlich lebhaften Diskussion Uber den Charakter und die historische Stufenfolge der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen nur eine geringe Rolle gespielt habe und somit einer der wichtigsten und zahlenmäßig bedeutendsten ethnischen Bereiche des frühmittelalterlichen Europa aus der Argumentation praktisch ausgeklammert worden sei. ^ Die prinzipielle Zuordnung der frühmittelalterlichen russischen Geschichte zu den weltgeschichtlichen Entwicklungsprozessen jener Epoche, die durch die verschiedenen Varianten des Übergangs zum Feudalismus geprägt wurde, hat inzwischen zahlreiche neue Fragen an die Detailforschung und die wissenschaftlich-theoretische Beurteilung sowie auch in allgemein geschichtsmethodologischer Hinsicht aufgeworfen, die bisher gar nicht oder in früheren Diskussionen auf noch unzureichender konkreter Forschungsbasis gestellt worden sind. Hinzu kommt, daß gerade die Frage des russischen Feudalismus für die allgemeine Feudalismusdiskussion besondere Bedeutung hat, erstens objektiv, weil das Kiever Beich sehr verschiedenartige innere und äußere Faktoren der Genesis und Entfaltung der feudalen Formation in sich vereinigte, und zweitens in politisch-ideologischer Hinsicht, weil der russische Feudalismus in der Auseinandersetzung um den Modellcharakter und die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und ihrer Ergebnisse eine immer wichtigere Bolle spielt. In den folgenden Ausführungen können zu diesem sehr umfassenden Problemkomplex natürlich keine fertigen Lösungen oder geschlossenen Konzeptionen vorgetragen werden, zumal da schon die Fragestellung als solche teilweise auf Neuland führt. Jedoch ist es möglich und notwendig, auf Grund der bisherigen Forschungsergebnisse und Gesamtdarstellungen einige Probleme aufzuwerfen und Wege zu ihrer Erforschung und theoretischen Zuordnung anzudeuten. Wir gehen dabei aus vor allem von der sehr gründlichen und in sich geschlossenen Darstellung des bis zur Fertigstellung der einschlägigen Abschnitte erreichten Standes der sowjetischen Forschung und der verallgemeinernden Gesamtsicht in der neuen "Istorija SSSR s drevnejsich vremen do nasichdnej"^und von den teilweise in diese Gesamtdarstellung eingeflossenen Ergebnissen einer großangelegten Diskussion aus dem Jahre 1964, deren Beiträge jetzt - zum Teil in redigierter Form - in einem 5 Sammelband vorliegen. 3 4 5
Kizilov, Ju. A . . Predposylki perechoda vostocnogo slavjanstva k feodalizmu, in: Voprosy istorii, 1969, H. 3, S. 93. Istorija SSSR s drevnejsich vremen do nasich dnej v dvuch serilach v dvenadcati tomach (im folgenden: Istorija SSSR),1. Serie, Bde 1, 2, Moskau 1966. Problemy vozniknovenija feodalizma u narodov SSSR. hg. von Z.V. Udal'cova, Moskau 1969.
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Wolfgang KUttler Gemäß der Themenstellung werden dabei zunächst besonders die Übergangsperiode
von der Urgesellschaft zur antagonistischen Klassengesellschaft bei den Ostslawen und die frühfeudale Epoche der Kiever Rus im Mittelpunkt stehen, wobei hinsichtlich der Periodisierung und Gesamteinschätzung der Feudalentwicklung in Bußland auch die Problematik des entwickelten Feudalismus und der Auswirkungen der t'ataromongolischen Invasion und Fremdherrschaft mit berücksichtigt werden muß. Um die Ausgangspositionen der Forschung richtig zu erfassen, ist zunächst ein kurzer Rückblick auf die bewegte Geschichte der Diskussion um das hier zu behandelnde Thema notwendig. Dadurch werden in aller Eindringlichkeit seine wissenschaftliche Relevanz und seine politische Aktualität deutlich, sind doch Fragen der Entstehung, der Struktur und der Besonderheiten des Feudalismus in Rußland von verschiedenen Ausgangspunkten und politisch-wissenschaftlichen Positionen her heftig umstritten, seitdem es eine moderne Rußlandgeschichtsschreibung gibt. Auf das engste mit der Frage nach den Ursprüngen des russischen Volkes und Staates verbunden, wurde die frühmittelalterliche Geschichte Rußlands zunächst in der adligen und bürgerlichen russischen Historiographie auch besonders unter dem im 19. Jh. zunehg mend aktuellen Aspekt der ethnischen und staatlichen Tradition untersucht.
Das entschei-
dende Problem, durch das die mittelalterliche Entwicklung Rußlands zum direkten Gegenstand der politisch-ideologischen Auseinandersetzung zwischen den Klassen und vor allem auch innerhalb der revolutionären Bewegung im 19. Jh. geworden ist, war jedoch die Frage nach dem Wesen und den Perspektiven der russischen Obscina. Die ungewöhnliche Stabilität der Dorf gerne inschaft über viele Geschichtsepochen hinweg veranlaßte nicht nur die Vertreter der Reaktion, in die scheinbare Unveränderlichkeit dieser archaischen Institution des bäuerlichen Gemeinwesens Hoffnungen zu setzen, die bei ihnen hauptsächlich auf die Fernhaltung revolutionärer Erschütterungen vom zaristischen Herrschaftssystem gerichtet waren. Von ganz entgegengesetzter Position aus erwarteten viele revolutionäre Demokraten und insbesondere die Narodniki von der Dorfgemeinde die Lösung der gesellschaftlichen Widersprüche durch die unmittelbare Errichtung eines Agrarsozialismus unter Umgehung des westeuropäischen Kapitalismus und seiner offensichtlich gewordenen tiefen inneren Gegensätze. Demgegenüber wiesen die russischen Marxisten, zunächst besonders Plechanov, unterstützt.durch entsprechende Hinweise von Marx und Engels, auf Grund der Analyse
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Vgl. Istoriografija istorii SSSR. hg. von V.E. Illerickij und I.A. Kudrjavcev, Moskau 1961; Grekov. B . D . . Kievskaja R u s ' , Moskau 1953, S. 12.
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen
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der gesellschaftlichen Entwicklung Rußlands nach, daß sich der Kapitalismus seit der Bauernreform von 1861 trotz aller fortbestehenden feudalen Fesseln auch auf dem Lande, und dort besonders auf dem Wege der sozialen Differenzierung der Bauernschaft und des damit 7 verbundenen inneren Zerfalls der Dorfgemeinde, unaufhaltsam durchzusetzen begann. Am Anfang der Leninschen Etappe in der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung und zugleich am Beginn der marxistischen Geschichtswissenschaft in Rußland steht nicht zufällig die allseitige Auseinandersetzung Lenins mit den agrarsozialistischen Utopien des Narodnicestvo. In seinen berühmten Arbeiten "Was sind die Volksfreunde und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?", "Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland", "Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung" u . a . bewies Lenin die Haltlosigkeit der These, daß Rußland über die Dorfgemeinde direkt zum Sozialismus gelangen könnte und dazu der Kapitalismus mit dem Widerspruch von Kapital und Arbeit als Voraussetzung nicht nötig wäre. Er deckte gleichzeitig das reaktionär-apologetische Wesen aller Theorien von der unerschütterlichen Verwurzelung einer klassenindifferenten, patriarchalischen Staatsmacht im russischen Bauernvolk auf, indem e r die Klassenbedingtheit jeder staatlichen Macht und der gesetzmäßigen Abfolge der Gesellschaftsformation des Feudalismus und des Kapitalismus mit den ihnen eigenen sozialökonomischen Strukturen und Klassenkonstellationen auch in Rußland nachwies. Noch von einer anderen Seite wurde das Problem des frühmittelalterlichen russischen Staates aktuell: Die traditionelle bürgerliche Normannentheorie, wonach Staat und Kultur der alten Rus entweder ganz oder doch in entscheidendem Maße auf den äußeren Impuls der normannischen Eroberung, Staatsschöpfung und Siedlung zurückzuführen seien, erhielt vor dem ersten Weltkrieg mit der Verschärfung der imperialistischen Gegensätze vor allem von Seiten der deutschen bürgerlichen Osteuropa-Geschichtsschreibung eine bedeutende Zuspitzung. Durch die Normannentheorie sollten den Ostslawen grundsätzlich die Fähigkeit zur selbständigen Staatsbildung sowie die politische und kulturelle Originalität abgesprochen und damit die Herrschaftsansprüche des deutschen Imperialismus in Osteuropa historisch
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Zur Stellung von Marx vgl. die Briefentwürfe an Vera Zasulic, in: Marx/Engels, Werke, Bd 19, Berlin 1962, S. 384-406; allgemein vgl. Istorija Kommunisticeskoj Partii Sovetskogo So.juza, Bd 1: Sozdanie bol'sevistskoj partii 1883-1903 gg., Moskau 1961, S. 22 f f . , 123 ff. Ebenda, S. 194 ff. - W.I. Lenins Kritik des narodnicestvo ist prägnant zusammengefaßt in seiner Untersuchung über "Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland", in: Lenin. W . I . , Werke, Bd 3, Berlin 1960, S. 11 f f . , 621 f.
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Wolfgang KUttler
gestützt werden." Dies wurde besonders am Vorabend und während des ersten Weltkrieges aktuell. Nach 1917 erhöhte sich die Aktualität des Themas durch die politisch-ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Sozialismus und Imperialismus. Weiin auch die Normannentheorie seither durch die Ergebnisse der historischen und archäologischen Forschungen in der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Ländern eindeutig widerlegt wurde und daher von den bürgerlichen Rußlandhistorikern inzwischen teilweise stark modifiziert werden mußte 10 , so ist das Problem der Besonderheiten des russischen Feudalismus und der Entwicklungsunterschiede zwischen Bußland und West- bzw. Mitteleuropa im Mittelalter dennoch heute mehr denn je ein Hauptbetätigungsfeld der imperialistischen Ostforschung, besonders in Westdeutschland. Die mittelalterliche russische Geschichte ist zunehmend zum Gegenstand imperialistischer und rechtsrevisionistischer Geschichtskonstruktionen geworden, mit denen nachgewiesen werden soll, daß die historischen Voraussetzungen für den Sieg der sozialistischen' Revolution in Rußland weltgeschichtlich gesehen abartig wären und folglich die Grundzüge der sozialistischen Sowjetgesellschaft sowie des Leninismus auf die hochentwickelten kapitalistischen Industrieländer nicht übertragen werden könnten. 11 Die Christianisierung der Rus durch die Ostkirche, die fehlende direkte Symbiose mit der Antike, das
Ausbleiben
des Dualismus zwischen kirchlicher und weltlicher Universalmacht und schließlich ganz besonders das tataromongolische Joch werden als Grundlagen und treibende Faktoren einer Entwicklung angesehen, durch die Rußland zum dauernden Gegenpol des Abendlandes, zum Zentrum der Verneinung der bürgerlich-demokratischen Freiheiten sowie ihrer politischen wie geistesgeschichtlichen Vorläufer in der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit geworden sei. Der führende westdeutsche Südosteuropahistoriker Georg Stadtmüller bezeichnet in seiner in den westdeutschen Schulen weitverbreiteten "Geschichtlichen Ostkunde" die Grenze zwischen den römisch-katholischen und den griechisch-katholischen
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Allgemein zu den politischen Absichten der entstehendeh imperialistischen Ostforschung im wilhelminischen Deutschland vgl. Giertz. Horst. Das Berliner Seminar für ostpreußische Geschichte und Landeskunde (bis 1926), in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas (im folgenden: JbGUV), Bd 10, Berlin 1967, S. 183-217. 10 Vgl. Saskol'skii, I . P . . Normanskaja teorija v sovremennoj nauke, Moskau 1965; Widera, Bruno. Zur Normannenfrage in der Frühgeschichte Rußlands, in: JbGUV, Bd 6, Berlin 1962, S. 423-432. 11 Repräsentativ dafür ist Lemberg. Eugen. Osteuropa und die Sowjetunion. Geschichte und Probleme. Ein Beitrag zur deutschen Ostkunde, 2. Aufl., Salzburg 1956, S. 19 ff., unter der bezeichnenden Überschrift "Der eigentliche Osten - ein anderes Menschenbild".
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen
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Missionsgebieten als Demarkationslinie zwischen Ost und West, durch die schon im Mittelalter die Einflußgebiete zwischen westlicher konstitutioneller Demokratie und östlichem Totalitarismus abgesteckt worden seien. Im Westen seien dem "staatsfreien Eigenbezirk" der römischen Kirche die Eigenrechte des Adels und der Städte, das ständische Prinzip mit Widerstandsrecht und Eindämmung der Staatsgewalt gefolgt. "In der orthodoxen Christenheit des Ostens hingegen fehlten die beiden genannten Gegenspieler des staatlichen Allherrschaftsstrebens; infolgedessen konnte sich der Staat zu cäsaropapistischer Totalität 12
entfalten, in Byzanz wie in Moskau!" Angesichts der offenkundigen Geschichtsklitterung und des zu deutlichen Mangels an Seriosität muß diese direkte Kontinuitätslinie vom orientalisch-byzantinischen Cäsaropapismus über den asiatisch-mongolischen Despotismus zur Totalitarismusdoktrin dem anspruchsvolleren Publikum gegenüber durch distanzierte scheinobjektive Zurückhaltung ergänzt werden. Auch dann aber, wie unter anderem bei Stökl, wird immerhin noch das Vorhandensein des Feudalismus in einer 13 dem übrigen Europa vergleichbaren Form f ü r Rußland bestritten bzw. angezweifelt. Über einen klassenindifferenten,, formalrechtlichen, nur an West- und Mitteleuropa orientierten Begriff des Feudalismus kommt es dann doch wieder zur Behauptung von der Uberzeitlichen Verschwommenheit, Undifferenziertheit und Irrationalität des autokratischen russischen Staates ebenso wie seiner späteren revolutionären Gegenspieler. ^ Jedenfalls aber wird aus dem angeblich während, der ganzen .Feudalepoche aufgetretenen Entwicklungsrückstand Rußlands gegenüber Westeuropa zu- einem großen Teil die Begründung für eine Kardinalthese jeglicher bürgerlicher Apologie gegenüber dem Sozialismus' abgeleitet, für die Behauptung nämlich, daß Rußland zum Sozialismus noch nicht reif gewesen sei und die Sowjetunion daher kein Modell der modernen weltgeschichtlichen Entwicklung abgeben könne. Damit ist zugleich die Ausgangspositipn geschaffen, um auch die Normannentheorie in einem größeren Zusammenhang trotz aller nicht mehr zu bestreitenden wissenschaftliehen Gegenbeweise ins Spiel zu bringen» Rußland bedürfe als Grenzzone zwischen Europa und Asien, so wird argumentiert, der Symbiose mit der geistigen und politischen Struktur des Westens; diese habe stattgefunden zuerst ituForm des Eindringens einer staatstragenden oder jedenfalls reichsbildenden normannischen Oberschicht; später durch die Beeinflussung der nordwestlichen«und südwestlichen Rus sowie der Ukrainer und Belorussen von Seiten der Hanse, Polen-Litauens und Ungarns; schließlich durch die "Europäi12 Stadtmüller. Georg. Geschichtliche Ostkunde, Bd 1: Die Zeit bis zum Jahre 1914, 2 . , veränd. Aufl., München/Stuttgart 1963, S. 24. 13 Stökl. Günther. Russische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2 . , veränd. Aufl., Stuttgart 1965 = KröneVe Taschenausgabe, Bd 244, S. 68, 147. 14 Ebenda, S. 210 f . , 217, 229, 304, 536.
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Wolfgang Küttler
sierung" unter Peter I. und im modernen zaristischen Staat. Sie sei aber jedesmal durch übermächtige Gegenkräfte asiatisch-orientalischer Prägung von außen oder aus dem Inneren der russischen Gesellschaft heraus wieder vernichtet oder auf oberflächliche, rein 15 machtpolitisch-technische Resultate beschränkt worden. Die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft, insbesondere die sowjetische Mediävistik und Archäologie, hat bei der Ausarbeitung eines wissenschaftlichen Geschichtsbildes vom Gesamtprozeß der mittelalterlichen russischen Geschichte die völlige Haltlosigkeit dieser apologetischen Fälschungen und der auf der Herauslösung einzelner Faktoren aus ihrem historischen Zusammenhang basierenden Konstruktionen über die Geschichte Rußlands überzeugend bloßgestellt. Ausgehend von der Leninschen Konzeption der gesetzmäßigen Entwicklung Rußlands vom Feudalismus zum Kapitalismus und zur siegreichen sozialistischen Revolution, wurde in einer Fülle grundlegender Untersuchungen und in vielen Gesamtdarstellungen die prinzipielle Übereinstimmung der Grundzüge der mittelalterlichen russischen Geschichte mit den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung des Feudalismus nachgewiesen. Vor allem B . D . Grekov und inzwischen international be» 16 kannte Forscher wie Tichomirov, Rybakov, PaSuto, Cerepnin, Smirnovu.a. haben daran entscheidenden Anteil; besonders bedeutend waren die Forschungsergebnisse der sowjetischen Archäologie. Ihnen kommt angesichts der Lückenhaftigkeit der schriftlichen Überlieferung für die Aufhellung des Übergangs zur Klassengesellschaft und des Entstehens des Staates bei den Ostslawen sowie für die Klärung des sozialökonomischen Entwicklungs17 standes der ostslawischen Stämme besonderes Gewicht zu. Die wichtigsten Ergebnisse dieser langjährigen umfassenden Zusammenarbeit von
15
Vgl. hierzu besonders Markert. Werner, Rußland und die abendländische Welt, in: Derselbe.Osteuropa und die abendländische Welt. Aufsätze und Vorträge, mit einem Geleitwort von Hans Rothfels, Göttingen 1966, S. 61-77; Rimscha, Hans v . , Geschichte Rußlands, Wiesbaden 1960 , S. 34, 37, 47, 52, 113, 137, 142 (in der 2. Aufl., 1970, wörtlich übernommen); zurückhaltender, aber in der gleichen Richtung Stökl, S. XI. 16 Vgl. unter anderen Grekov, Kievskaja Rus'; derselbe. Die Bauern in der Rus von den ältesten Zeiten bis zum 17. Jahrhundert, Bde 1-2, Berlin 1958 f . ; derselbe. Feodal'nye otnosenija v Kievskom gosudarstve, Moskau/Leningrad 1937; Rybakov. B . A . , Remeslo drevnej Rusi, Moskau 1948: Tichomirov. M. N.. Drevnerusskie goroda, 2. Aufl., Moskau 1956: Pasuto. V . T . . Obrazovanle Litovskogo gosudarstva, Moskau 1959: Cerepnin, L . V . . Obrazovanie edinogo russkogo gosudarstva, Moskau 1960; Pasuto. V . T . , Vne&njaja politika drevnej Rusi, Moskau 1968. 17 Zu nennen sind vor allem A.V. Archicovskij, A . L . Mongajt und P.N. Tret'jakov (vgl. Widera. Bruno. Novgorod vom 10. bis 15. Jahrhundert im Lichte archäologischer Ausgrabungen, in: JbGUV, Bd 9, Berlin 1966, S. 327-347; derselbe, Der Ackerbau in der Rus bis zum Einfall der Mongolen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte [im folgenden: JbWG], 1969, Teil 1, S. 241-278, mit ausführlichen Literaturnachweisen).
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen
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Historikern und Archäologen waren der Nachweis einer hochentwickelten Ackerbaukultur und eines bedeutenden Niveaus der handwerklichen Produktion sowie die Feststellung eines eigenständigen Übergangs zur Klassengesellschaft und der Entstehung staatlicher Organisationsformen bei den Ostslawen als die entscheidenden inneren Faktoren, die schließlich zur Herausbildung des mächtigen frühfeudalen Kiever Reiches führten. Außerdem wurde für die Entwicklung der Rus umfangreiches Quellenmaterial erschlossen und ausgewertet, das sie sowohl hinsichtlich der inneren sozialökonomischen und politischen Struktur als auch in bezug auf ihre internationale Stellung als gleichwertige und vergleichbare Größe in die mittelalterliche europäische Staatenwelt einordnen läßt. Da die Ostslawen zu denjenigen europäischen Völkern gehörten, die nicht über die unmittelbare Synthese mit den ausgeprägten Klassenverhältnissen des Römischen Reiches zum Feudalismus gelangten, wurde jedoch zugleich mit dieser prinzipiellen Klärung des weltgeschichtlichen Platzes auch das Problem des inhaltlichen Verhältnisses und der genetischen Beziehung des russischen Feudalismus sowohl zur Urgesellschaft als auch zur Sklavenhaltergesellschaft aufgeworfen. Im wesentlichen sind es drei Varianten, die in der älteren sowjetischen Mediävistik hinsichtlich der Frage nach der weltgeschichtlichen Zuordnung der Genesis der Klassengesellschaft bei den Ostslawen vorgeschlagen wurden: erstens die These, daß die Sklaverei auch bei den Ostslawen bereits entwickelt, jedoch infolge der allgemeinen Krise der Sklavenhaltergesellschaft in den Feudalismus transformiert worden sei 19 allem von Grekov
18
; zweitens die vor
auch für die Rus vertretene Theorie der Entstehung des Feudalismus
durch die Synthese zwischen zerfallender Urgesellschaft und Antike bei nur unbedeutender Ausprägung der Sklaverei und drittens die Unterscheidung zwischen zwei möglichen Wegen zum Feudalismus, primär über den Zerfall der Urgesellschaft bzw. sekundär Uber die Krise und den Untergang der Sklavenhalterordnung, wobei der Übergangsprozeß zum Feu20 dalismus bei den Ostslawen dem primären Typ zugerechnet wird. Im Prinzip wird die dritte der genannten Auffassungen - zumindest was die theoretische Zuordnung der frühmittelalterlichen russischen Geschichte angeht, aber auch hinsichtlich der allgemeinen Typisierung der Genesis des Feudalismus in Europa - von der Mehrheit der sowjetischen Mediävisten geteilt und ist zu einer wesentlichen Grundlage der marxisti-
18 19 20
Vgl. zuletzt P-jankov. A . P . . Social'nyj stroj vostoönych slavjan v VI-VIII vv., in: Problemy vozniknovenija feodalizma, S. 52-70. Vgl. besonders Grekov. Kievskaja Rus', S. 30, 517 ff. Zur bisherigen Diskussion vgl. Kizilov. in: Voprosy istorii, 1969, H. 3, S. 91.
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Wolfgang Küttler
sehen Feudalismusdiskussion überhaupt geworden. Auch Udal'cova und Gutnova gehen bei ihrer Typologie der Genesis des Feudalismus in Europa davon aus, daß der Feudalismus europäischen Typs sowohl aus der Synthese mit der antiken Sklavenhaltergesellschaft 21
als auch unmittelbar aus dem spontanen Zerfall der Urgesellschaft hervorgegangen ist. Die begrifflichen Grundlagen und die sachliche Argumentation für diese Auffassung sind im ersten Band der neuen "Istorija SSSR" von B.A. Bybakov sehr klar zusammengefaßt worden. Über die Möglichkeiten der Entstehung des Feudalismus schreibt B.A. Bybakov: "Der Feudalismus entstand im Ergebnis des Zerfalls der urgesellschaftlichen Ordnung, als diese einen Entwicklungsstand der Produktivkräfte erreicht hatte, bei dem die individuelle Wirtschaft möglich war, und auch im Ergebnis des Zerfalls der Sklavenhalterordnung, die infolge der niedrigen Produktivität der Sklavenarbeit, des physischen Aussterbens der Sklaven und der ständigen Aufstände der Unterdrückten keine Perspektive mehr 22
hatte." Der Feudalismus ist eine universelle Formation, die sowohl gegenüber der Urgesellschaft als auch im Verhältnis zur Sklavenhalterordnung einen gesellschaftlichen Fortschritt darstellt, weil in der Feudalordnung die zur weiteren Entwicklung der Produktivkräfte notwendige Klassenspaltung unter Bedingungen durchgesetzt wird, die für die unmittelbaren Produzenten günstiger sind als in der Sklaverei, bzw. weil der Feudalismus die in der späten Sklavenhaltergesellschaft herrschende ausweglose Stagnation der sozialökonomischen 23 Entwicklung überwindet.
"Grundlage der Produktionsverhältnisse in der Feudalordnung
ist das Eigentum des Herrn an den Produktionsmitteln, in erster Linie am Boden, und das beschränkte Eigentum am Produzenten, dem hörigen Bauern. Neben dem feudalen Eigentum existiert das Gemeineigentum an Ackerland und das persönliche Eigentum des Bauern und Handwerkers an den Produktionsinstrumenten und an seiner privaten, auf persönlicher Ar24 beit begründeten Wirtschaft." Die Feudalherren eignen sich das Mehrprodukt mittels der Bodenrente an. Die Feudalrente kann die verschiedenen Formen der Fron, der Produkten- und der Geldrente annehmen, wobei für den Feudalismus die Herrschaft der Naturalwirtschaft kennzeichnend ist, während sich Handwerk, Warenwirtschaft und Handel in den befestigten Städten entwickeln und von diesen aus die gesamte Sozialstruktur beeinflussen. Neben den beiden Formen des feudalen Grundbesitzes, der Votcina, d.h. dem f r e i veräußerbaren Erbbesitz (Allod), 21 22 23 24
Oudaltzova/Goutnova. S. 1 ff. Istorija SSSR. Bd 1, S. 374. Ebenda, S. 3€6 f f . Ebenda, S. 373 f
Die Genesis des Feudalismus bei den OstBlawen
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und dem Pomest'e, d.h. dem vom Herrscher oder von einem anderen Feudalherrn zu beschränktem Besitzrecht übertragenen Land (Lehen), nimmt der zunächst außerhalb des unmittelbaren Einflußbereichs der Feudalherren weiterbestehende freie bäuerliche Landbesitz an Bedeutung ständig ab, so daß sich Feudalherren und abhängige Bauern als gesell25 schaftliche Hauptklassen gegenüberstehen. Dieses Modell des Feudalismus entspricht, wie man leicht erkennt, dem Begriff des entwickelten europäischen Feudalismus, wie er durch den raschen und gründlichen Zerfall der traditionellen, aus der Urgesellschaft stammenden gesellschaftlichen Beziehungen bei den "Barbaren"Völkern unter dem Einfluß der in Basis und Überau hochentwickelten antiken Klassengesellschaft und zum Teil auch durch direkte politische und territoriale Verflechtung mit dieser auf der einen und durch die konsequente Überwindung der Sklavenhalte rordnung mit dem Untergang des weströmischen Reiches bzw. durch die Eroberung großer Teile des oströmischen Territoriums auf der anderen Seite entstanden ist. Die wiedergegebene Definition geht davon aus, daß von Anfang an das Ausbeutungsverhältnis zwischen dem individuellen feudalen Grundeigentümer und dem ebenso individuell wirtschaftenden abhängigen Bauern die strukturbestimmende Tendenz der Herausbildung feudaler Klassenbeziehungen wie im allgemeinen, so auch im speziellen Fall bei den Ostslawen war. Sie schließt ferner Zwischenstufen zwischen der Urgesellschaft und dem Feudalismus aus und ordnet die ganze Vielfalt der sozialen Erscheinungen in der Übergangsperiode, die keineswegs geleugnet wird
26
, einem "vorfeudalen" Entwicklungsstadium zu, das zugleich das 26a höchste Stadium und die Krise der Urgesellschaft darstellt. Auf diesen theoretischen Grundlagen aufbauend, wird die Entstehung des Feudalismus 27 bei den Ostslawen von Rybakov in großen Zügen wie folgt dargestellt : Die wichtigsten sozialökonomischen Voraussetzungen für die Genesis des Feudalismus sind der Aufschwung der Produktivkräfte in Ackerbau und Viehzucht, die beginnende zweite gesellschaftliche
Arbeitsteilung und damit die rasche Entwicklung des Handwerks, der zunehmende Produktenaustausch und Handel sowie auf der Basis dieser Veränderungen der Übergang von der Sippen- zur Territorial- bzw. Nachbarschaftsgemeinde. Damit tritt die Urgesellschaft in ihr höchstes und letztes Stadium ein, das durch die militärische Demokratie und die Entstehung größerer sozialer Einheiten, von Stämmen und später Stammesbünden, gekennzeichnet ist.
25 26 26a 27
Ebenda, S. 375. Ebenda, S. 365. Vgl. den Diskussionsbeitrag von Rybakov. B . A . , in: SV 31, S. 54-56. Istorila SSSR, Bd 1, S. 337 f f . , 354 f f . , 481 ff.
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Wolfgang Küttler Der zunächst zeitweilige, später dann stabile Zusammenschluß zu Stammesbünden zum
Zwecke gemeinsamer Feldzüge gegen Byzanz und zur besseren Verteidigung der eigenen Siedlungsgebiete gegen die Angriffe der Steppen- und Nomadenvölker von Osten und Südosten führt zuerst bei den am weitesten südlich in der Waldsteppenzone siedelnden Ostslawen zur Entstehung fortgeschrittener politischer Organisationsformen, am stärksten und dauerhaftesten bei den Poljanen mit dem Zentrum Kiev. Dieser Prozeß des Zerfalls der Urgesellschaft und der Entstehung von Vorformen des Feudalismus wird in die Zeit vom 6. bis zum 9. Jh. datiert. Er beginnt also mit dem nachweisbaren Auftreten des östlichen Zweigs der Slawen in ihrem osteuropäischen Siedlungsgebiet und endet mit der Entstehung einer staatsähnlichen politischen Organisation im Kiever Raum. Die heftige Kontroverse um die Ethnogenese der Ostslawen in der vorauf28
gegangenen Periode
kann in dem hier zu betrachtenden Zusammenhang außer acht gelas-
sen werden, da sie das Problem der Genesis des Feudalismus im engeren Sinne nicht berührt. Für die Zeit vor der Staatsbildung wird bereits zugleich mit der Aussonderung einer vornehmlich militärischen Stammesaristokratie und der Ausprägung von Vorformen einer fürstlichen Zentralgewalt die Entstehung größeren privaten Grundbesitzes innerhalb und außerhalb der Dorfgemeinde angenommen, die - wie sich aus den archäologischen Untersüchungen ostslawischer Siedlungen ergibt - schon eine deutliche Differenzierung aufweist und Ackerbauer und Handwerker vereint. Die Erzeugung eines Mehrprodukts in Ackerbau und Handwerk sowie die Möglichkeiten der Bereicherung und der Beschaffung abhängiger Arbeitskräfte durch Feldzüge gegen benachbarte Stämme und auf das Gebiet des Byzantinischen Reiches schaffen die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen für die beginnende Klassenteilung. Es bilden sich sowohl Formen der patriarchalischen Sklaverei als auch der frühfeudalen Abhängigkeit in den Beziehungen des Fürsten- und Kriegeradels sowie der entstehenden Schicht von privaten Grundbesitzern zu einer aus verarmten Mitgliedern der Dorfgemeinde sowie aus Kriegsgefangenen sich rekrutierenden Schicht Unfreier. Infolge der das Römische bzw. Byzantinische Reich erschütternden allgemeinen Krise der Sklavenhaltergesellschaft und besonders wegen der für die Ausnutzung relativ unproduktiver Sklavenarbeit in großem Stil ungeeigneten Natur des Siedlungsraums kann sich die Sklaverei bei den Ostslawen wie bei den Germanen nicht als dominierendes Ausbeutungsverhältnis 28 Vgl. besonders Tret'iakov. P . N . . Finno-ugry, balty i slavjane na Dnepre i Volge, Moskau/Leningrad 1966; Liapuskin. I . I . , Slavjane vostocnoj Evropy nakanune obrazovanija drevnerusskogo gosudarstva, Moskau 1968, und den Bericht von Widera. Bruno, in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas (im folgenden: JbGS), Bd 15/2, Berlin 1971, S. 187-199.
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen
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durchsetzen und bleibt auf der Stufe der patriarchalischen Sklaverei stehen. Die strukturund entwicklungsbestimmende Tendenz des Übergangs zur Klassengesellschaft ist die allmähliche Entstehung des Feudalismus. Alle genannten Faktoren zusammen führen im 9. Jh. zur Staatsbildung mit dem Zentrum Kiev, das in zeitgenössischen bzw. auf älteren Quellen beruhenden späteren Berichten byzantinischer, arabischer und westeuropäischer Chroniken bereits als mächtiger Fürstensitz und Mittelpunkt eines ausgedehnten Machtbereichs geschildert wird. Damit ist der Übergang zur Feudalordnung als vorherrschender Formation, wenn auch noch lange nicht der jetzt erst voll einsetzende Feudalisierungsprozeß, im wesentlichen vollzogen; die Rus 29 tritt in die Periode des Frühfeudalismus ein. Dieses in sich geschlossene Gesamtbild stützt sich zwar auf umfangreiche archäologische und historische Untersuchungen, muß aber infolge der völlig ungenügenden Quellensituation notwendigerweise in wichtigen Punkten hypothetisch bleiben. Es ist daher natürlich, daß aus der konkreten Einzelforschung immer wieder gewichtige Einwände erhoben worden sind, die vor allem auf die Methode des Analogieschlusses von späteren Verhältnissen, besonders des 11. J h . , auf die durch schriftliche Quellen kaum erhellte Frühzeit30 gerichtet sind. Auf die Schwächen dieses Verfahrens weist Bruno Widera mit Recht hin. Die Zweifel beziehen sich vor allem auf die Existenz privaten Grundbesitzes einschließlich feudaler Ausbeutungsverhältnisse in größerem Ausmaß schon in der Übergangsperiode und im 9./10. Jh. sowie auf die These, daß die Tendenz zur Herausbildung feudaler Abhängigkeit schon in dieser frühen Phase alle anderen Ausbeutungsformen und besonders die Ausnutzung von Sklavenarbeit überwogen habe. Diskutabel erscheint auch die eindeutige Kontinuitätslinie, die direkt von den Anfängen des Stammesbundes der Poljanen(Ros) bis zum frühfeudalen Kiever Reich gezogen wird und die eine aus den Quellen mit mindestens ebenso guten Gründen abzuleitende Zwischenstufe einer Vielheit möglicher staatlicher 31
-
Kristallisationspunkte übergeht. Zweifellos ist der Analogieschluß vom nachgewiesenen Ergebnis einer Entwicklung, in diesem Fall also von der fortgeschrittenen feudalen Klassenstruktur vor allem des 12. und 13. J h . , auf das Wesen und die bestimmenden Tendenzen derjenigen gesellschaftlichen Verhältnisse und Prozesse, die diesen vorausgingen, eine durchaus legitime Methode. Nicht zu bestreiten ist auch, daß das archäologische Material tatsächlich bereits für die
29 Istorija SSSR, Bd 1, S. 356 f . , 367, 372, 481 ff. 30 Vgl. die Rezension von Widera. Bruno, in: JbGS, Bd 14/1, Berlin 1970, S. 195-203. 31 Istorija SSSR, Bd 1, S. 359 f f . , 476 ff.; zur Kritik vgl. besonders LiapuSkin, Slavjane vostocnoj Evropy, a . a . O .
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hier in Frage stehende Zeit zwischen dem 6. und 9. J h . auf eine fortschreitende soziale 32 Differenzierung schließen läßt. Dabei muß allerdings berücksichtigt werden, daß die archäologischen Ergebnisse zwar f ü r die Feststellung einer sozialen Gliederung als solcher unmittelbare Aussagen zulassen, daßaberdie exakte Bestimmung der Art des vorhandenen AusbeutungsVerhältnisses ohne Hinzuziehung schriftlicher Quellen bedeutend schwieriger • • 33 ist. Rybakovs im Prinzip von zahlreichen anderen sowjetischen F o r s c h e r n geteilte Auffassung stützt sich methodologisch und theoretisch besonders auf die gründlichen Studien von Friedrich Engels Uber die Herausbildung der Klassengesellschaft und des Staates bei den Germanen, die eine noch heute in den Grundlagen gültige Gesamtsicht des Übergangs von der Urgesellschaft bzw. der antiken Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus In West34 europa enthalten.
Engels bezieht seine Untersuchungen jedoch Im wesentlichen auf das
Gebiet der germanisch-römischen Synthese und hebt die Entwicklung in Rußland - wie auch Marx - infolge der dort viel stärkeren 35und länger anhaltenden Existenz des Gemeinbesitzes von den geschilderten Prozessen ab. In der Diskussion um die Frage, ob diejenigen europäischen Völker, die nicht Uber die direkte Synthese mit den ausgeprägten Klassenverhältnissen des römischen Reiches zum Feudalismus gelangten - darunter ein großer Teil der Germanen und auch die meisten Slawen - , von Anfang an dem von Engels beschriebenen Entwicklungstyp prinzipiell zugeordnet werden können, und mehr noch hinsichtlich der außereuropäischen Typen des Feudalismus sind inzwischen neue Probleme grundsätzlich methodologischer Art aufgeworfen worden. Sie betreffen vor allem das Wesen der gesellschaftlichen Beziehungen in der als "vorfeudal" behandelten Übergangsperiode zur feudalen Klassengesellschaft sowie die weltgeschichtliche Einordnung und begriffliche Bestimmung des Feudalismus. Bei den Diskussionen um die Genesis und das Wesen des Feudalismus wie allgemein über die Stufenfolge und gegenseitige Zuordnung der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen ist die Hypothese einer möglichen Alternative der gesellschaftlichen Entwicklung in der Übergangsperiode zur antagonistischen Klassengesellschaft entwickelt worden.
32 33 34
35
Vgl. besonders T r e t ' l a k o v und, zusammenfassend, Istorija SSSR, Bd 1, S. 308 f f . Vgl. Herrmann. Joachim, Frühe klassengesellschaftliche Differenzierungen in Deutschland, in: ZfG, 1966, H. 3, S. 398. Vgl. besonders Engels. F r i e d r i c h . Die Mark; Zur Urgeschichte der Deutschen; Fränkische Zeit, in: Marx/Engels. Werke, Bd 19, S. 315-330; 425-473; 474-494; derselbe. Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, Abschn. VII, VIII, in: Marx/Engels, Werke , Bd 21, Berlin 1962, S. 127-151. Derselbe. Fränkische Zeit, in: Marx/Engels, Werke, Bd 19, S. 475; vgl. Marx. K a r l . Brief an V . l . Sassulitsch, E r s t e r Entwurf, in:Ebenda, S. 388 f .
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen
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Es wurde nämlich besonders die Frage erörtert, ob nicht sowohl der Sklavenhaltergesellschaft in ihrer entwickelten antiken Form als auch dem Feudalismus ein ursprüngliches Stadium klassengesellschaftlicher Beziehungen oder aber eine besondere frühe klassenge36 seilschaftliche Formation vorausgegangen sei. Aus dieser Hypothese folgte die Diskussion über Kriterien, nach denen sich solche ursprünglichen Formen der Klassengesellschaft angesichts ihrer in fast allen Varianten und auf verschiedenen Stadien der vorkapitalistischen Klassengesellschaften angenommenen Existenz der Stufenfolge und dem allgemeinen Ablauf der sozialökonomischen Formationen zuordnen lassen. Den theoretischen Ausgangspunkt 37 bildeten die Hinweise von Marx über die sogenannte asiatische Produktionsweise , deren Interpretation bis heute heftig umstritten ist. Bei der Kontroverse um den Begriff der asiatischen Produktionsweise reicht die Skala der Auffassungen von der Ablehnung der Fragestellung überhaupt bis zur Anerkennung einer sechsten universellen Gesellschaftsformation. Die asiatische Produktionsweise wurde als das letzte Stadium der Urgesellschaft, als universelle ursprüngliche Klassengesellschaft, als spezifische, auf der Bewässerungswirtschaft beruhende antagonistische Klassengesellschaft mit besonderer Ausprägung im Orient, als einzige vorkapitalistische Formation mit besonderen Entwicklungsvarianten in der Sklavenhaltergesellschaft und im Feudalismus, vornehmlich in ihrer europäischen Ausformung7 und schließlich als besondere Entwicklungsvariante sowohl der Sklavenhaltergesellschaft als auch des Feudalismus interpretiert. Jede weltgeschichtliche Generalisierung des Begriffs der asiatischen Produktionsweise, den Marx selbst in seinen späteren Schriften nicht mehr gebrauchte, ist jedoch theoretisch und methodologisch fragwürdig. Offensichtlich benutzte Marx diesen Terminus als Arbeitshypothese zur Klärung eines allerdings generellen Problems - nämlich der Frage der Zwischenstadien zwischen Urgesellschaft und entwickelter Klassengesellschaft - , 39 auf das ihn vor allem das Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse in Asien gelenkt hatte.
36 Vgl. besonders Danilova, L . V . , Diskussionnye problemy teorii dokapitalisticeskich obscestv, in: Problemy istorii dokapitalisticeskich obscestv, S. 27-66; zur Kritik solcher Hypothesen vgl. Pasuto. V.T./Salov, V.I./Cerepnin. L . V . . Marksistskoleninskij princip partijnosti icgo sovremennye kritiki, in: Aktual'nye problemy istorii Rossii epochi feodalizma, a . a . O . , S. 39-63. 37 Vgl. vor allem die Arbeit von Marx, Karl, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen, Berlin 1952. 38 Günther, in: ZfG, 1969, H. 1/2, S. 195 f. 39 Vgl. dazu mit ausführlichen Belegen Günther, in: ZfG, 1969, H. 1/2, S. 199-202, und ähnlich Hoffmann. Ernst. Zwei aktuelle Probleme der geschichtlichen Entwicklungsfolge fortschreitender Gesellschaftsformationen, in: Ebenda, 1968, H. 10, S. 1265-1281.
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Unabhängig von dieser oder jener Zuordnung lassen sich aus Studien und einzelnen Hinweisen von Marx charakteristische Merkmale der von ihm untersuchten und beschriebenen gesellschaftlichen Verhältnisse herauskristallisieren, die R. Günther wie folgt zusammenfaßt: Gemeinbesitz an Grund und Boden; Einheit von kleinem Landwirtschafts- und Handwerksbetrieb in der Dorfgemeinde; Produktion im wesentlichen für den Selbstbedarf; Überwiegen der einfachen gesellschaftlichen Reproduktion bei wenig fortgeschrittener gesellschaftlicher Arbeitsteilung; weitgehendes Zusammenfallen von Grundrente und Staatssteuer; wirtschaftliche Stagnation; Integration von Stadt und Land; in einigen Fällen, aber nicht als notwendige Voraussetzung das Vorherrschen der Bewässerungswirtschaft; allge40 mein als typisches politisches System die Despotie. Günther generalisiert diese Merkmale seinerseits zur Kategorie der "formativen" Produktionsweise, aus der sich auf verschiedenen Entwicklungsstufen, zu verschiedenen Zeiten sowie unter ganz unterschiedlichen natürlichen Bedingungen die altorientalische Klassengesellschaft, die antike Sklavenhaltergesellschaft und unter Beeinflussung durch 41 höher entwickelte ältere Klassengesellschaften der Feudalismus herausgebildet hätten. Versuche, diese Merkmale und Entwicklungsfolgen weltgeschichtlich zu verallgemeinern, haben, wie sich aus den oben referierten Interpretationen zeigt, nicht nur zu theoretisch fruchtbaren Fragestellungen geführt. Es sind vielmehr dabei auch Tendenzen deutlich geworden, die direkt oder indirekt darauf hinauslaufen, die marxistisch-leninistische Lehre von der gesetzmäßigen, aufsteigenden Folge der Gesellschaftsformationen und damit eine entscheidende Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung überhaupt in Frage zu stellen bzw. zumindest bis zur Entstehung des Kapitalismus durch andere Strukturprinzipien zu ersetzen. Die absolute Relativierung des Wesens und der Stufenfolge der vorkapitalistischen Formationen oder deren Zusammenfassung zu einer einzigen Gesellschaftsordnung mit zeitlich und örtlich unterschiedlichen Varianten sind jedenfalls nicht zu einer schöpferischen Lösung der wissenschaftlichen Streitfragen geeignet. Darin ist der prinzipiellen Kritik von Danilov in einem Beitrag zu Grundfragen der Geschichtsmethodologie 42 voll zuzustimmen. Ernsthafte Beachtung für die Untersuchung von Übergangsprozessen zur entwickelten antagonistischen Klassengesellschaft verdienen jedoch alle Bestrebungen, das Übergangs40 Günther, in: Ebenda, 1969, H. 1/2, S. 200. 41 Ebenda, S. 198. 42 Danilov. A . . K voprosu o metodologii istoriceskoj nauki, in: Kommunist, 1969, H. 5, S. 68 ff. (Gekürzte dt. Ausg.: Danilov, A . , Zu methodologischen Problemen der Geschichtswissenschaft, in: Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 1970, H. 12, S. 1246-1259.)
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Stadium von der Urgesellschaft zu einer ausgeprägten antagonistischen Formation, im hier zu erörternden Falle zum Feudalismus, als Übergangsepoche besonderen Charakters zu bestimmen, deren Wesensmerkmale weder der Urgesellschaft noch dem Feudalismus direkt untergeordnet werden können. Besonders hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Annahme einer besonderen Periode zwischen Urgesellschaft und Feudalismus, die der verstorbene bekannte sowjetische Mediävist A. I. Neusychin generell für die gesellschaftlichen Verhältnisse der Barbarenvölker vor der Synthese mit der Antike vertreten hat.43 Neusychin bezeichnet dieses Stadium als "dofeodal'nyj period", es habe nicht mehr die Grundstruktur der Urgesellschaft, d.h. Gemeineigentum ohne Privatbesitz an P r o duktionsmitteln und ohne Klassen, und noch nicht die für entwickelte Klassengesellschaften typische Monopolisierung des Privateigentums an den Produktionsmitteln in den Händen 44 einer herrschenden Klasse aufzuweisen. Methodologisch hat dieses Herangehen an die Problematik den Vorteil, daß es nicht von vornherein auf eine der beiden extrem kontroversen Lösungen, d . h . entweder auf die Annahme der unmittelbaren Entstehung des Feudalismus aus der Urgesellschaft als generelle Gesetzmäßigkeit oder auf die weltgeschichtliche Generalisierung der asiatischen Produktionsweise bzw. verwandter Entwicklungstypen als selbständige Formation, festgelegt ist. Es geht vielmehr um nicht mehr und nicht weniger als um die Wesensbestimmung des Zwischen- oder Übergangsstadiums, das die Urgesellschaft vom Feudalismus trennt. Für dessen Hervorhebung gegenüber diesen beiden Formationen spricht schon der bislang nur wenig berücksichtigte Umstand, daß der Prozeß der Ablösung der ursprünglich klassenlosen, nichtantagonistischen Gesellschaft durch eine antagonistische Klassenformation ebenso wie der Übergang von der Ausbeutergesellschaft überhaupt zum Kommunismus eine 45 höhere Wertigkeit besitzt als Ubergänge zwischen antagonistischen Formationen. Höhere Wertigkeit bedeutet in diesem Zusammehange nicht nur, daß es sich um tiefere
43
Neusychin. A . I . , Dofeodal'nyj period kak perechodnaja stadija ot rodo-plemennogo stroja k rannefeodal' nomu, in: Problemy istorii dokapitalisticeskich obscestv, S. 596 f f . , besonders S. 616; Thesen dazu in: SV 31, S. 45-48; vgl. derselbe, Vozniknovenie zavisimogo krest' janstva kak klassa rannefeodal'nogo obScestva v Zapadnoj Evrope VI-VIH vv., Moskau 1956 (Dt. Ausg.: Neusychin, A . I . , Die Entstehung der abhängigen Bauernschaft als Klasse der frühfeudalen Gesellschaft in Westeuropa vom 6. bis 8. Jahrhundert, Berlin 1961). 44 Derselbe, Dofeodal'nyj period, in: Problemy istorii dokapitalisticeskich obscestv, S. 616 f . 45 Vgl. Lewin. Gunther, Zur Diskussion über die marxistische Lehre von den Gesellschaftsformationen, in: Mitteilungen des Instituts für Orientforschung, 1969, H. 1, S. 137 f f . , besonders S. 149.
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Einschnitte in der weltgeschichtlichen Entwicklung handelt, sondern auch, daß die neue Entwicklungsstufe zunächst durch eine relativ lange und stärker ausgeprägte Übergangsphase eingeleitet wird. Bezogen auf unser Thema, stellt sich die Frage, ob sich ein solches Zwischenstadium historisch konkret, gegenüber Urgesellschaft und Sklavenhalterordnung einerseits und Feudalismus andererseits abgrenzen läßt. Diese Frage ist unmittelbar verbunden mit dem Problem der Entstehungsbedingungen des Feudalismus. Die Annahme eines besonderen Stadiums - entweder mit Neusychin als dem Feudalismus vorausgehende, durch Privateigentum an Produktionsmitteln, aber noch nicht durch klar definierbare Klassenverhältnisse charakterisierte Phase oder weitergehend als frühe Klassengesellschaft bestimmt - schließt jedenfalls die spontane Entstehung des Feudalismus aus der Urgesellschaft ohne Synthese mit der Antike oder einer anderen älteren antagonistischen Klassengesellschaft aus. A . J a . Gurevic, einer der exponiertesten und umstrittensten Vertreter dieser Auffassung, hat entsprechend seiner Ausgangsposition folgerichtig aus seinen umfangreichen Untersuchungen Uber die Frühformen der Klassengesellschaft in Skandinavien, unterstützt von anderen Teilnehmern der Diskussion, besonders von L.V. Danilova, die Existenz einer ursprünglichen "barbarischen" Klassengesellschaft abgeleitet, in die er auch ausdrücklich die dem Feudalismus vorausgehende Periode in der Geschichte der außerhalb des Bömischen Reiches lebenden europäischen Völker mit einbezieht und für die er im wesentlichen die bereits genannten Merkmale einer besonderen frühklassengesellschaftli46 chen Produktionsweise als typisch ansieht. Erinnert sei auch an die über die frühmittelalterliche deutsche Geschichte geführte Kontroverse, ob in der Germania vor der fränkischen Zeit Klassenverhältnisse "sui generis" (Müller-Mertens) oder schon vor- bzw. frühfeudale Entwicklungsformen vorgeherrscht 47 hätten. Hinsichtlich der in diesem Streitpunkt an die Adresse der Archäologen gerichteten Fragen stellte J . Herrmann auf Grund des vorliegenden Materials bei aller gebotenen Vorsicht fest, daß "die sehr schnelle Eigenentwicklung in der Germania sowie die frühe -Entwicklung ausgesprochen individuellen Produktions- und Ausbeutungsformen in den 46
Vgl. Gureviö. A.Ja». Svobodnoe krest'janstvo feodal'noj Norvegii, Moskau 1967, S. 14, und die scharfe Kritik bei Danilov. in: Kommunist, 1969, H. 5, S. 77. 47 Vgl. Müller-Mertens, Ekkehard, Vom Regnum Teutonicum zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: ZfG, 1963, H. 2; derselbe. Die Genesis der Feudalgesellschaft im Lichte schriftlicher Quellen, in: Ebenda, 1964, H. 8; Töpfer, Bernhard, Zu einigen Grundfragen des Feudalismus, in: Ebenda, 1965, H. 3; Bartmuß. HansJoachim. Die Genesis der Feudalgesellschaft in Deutschland, in: Ebenda, H. 6, und den Bericht über die Diskussion ebenda, H. 5, S. 846 ff.
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen
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Hofverbänden, nicht im Rahmen der Dorfgemeinden", keinen Anhaltspunkt bieten, "der dazu berechtigte, sie in die Nähe der außerordentlich immobilen ursprünglichen Klassengesellschaft oder der asiatischen Produktionsweise zu rücken". Vielmehr sei anzunehmen, daß die fränkische Eroberung eher "eine nivellierende Modifikation bestehender und in der Teudenz frühfeudaler Verhältnisse" nach dem Muster des durch die Synthese mit dem römischen Erbe in Basis und Überbau weiter fortgeschrittenen westfränkischen Gebiets gewesen s e i . 4 8 "Sui generis" könne daher höchstens für den momentanen Vergleich mit dem Entwicklungsniveau des Frankenreichs und für die starken patriarchalischen Formen gelten, von denen die Klassendifferenzierung bei den ostrheinischen Stämmen noch geprägt wurde. "Schwerlich aber gilt ' s u i generis' im Sinne eigener Gesellschaftsordnung gegenüber den Produktionsverhältnissen des Frühfeudalismus schlechthin. Denn in ihrer Tendenz und in ihrem Wesen entwickelten sich aus den urgesellschaftlichen Produktionsverhältnissen in der Germania Produktionsverhältnisse frühfeudalen Charakters auch vor den westfränkischen Eingriffen. Diese Auffassung entspricht der von der Mehrheit der Diskussionsteilnehmer damals vertretenen Meinung, und sie deckt sich im wesentlichen auch mit der bereits ausführlich geschilderten Darstellung Rybakovs über die vcrfeudale Periode bei den Ostslawen. Auch Neusychin, der ein Zwischenstadium als "dofeodal'nyj period" sowohl von der Urgesellschaft als auch vom Feudalismus abgrenzt, hält an der klaren Trennung von klassenloser 50 und Klassengesellschaft fest. Gegen eine solche Lösung, die gleichzeitig die Besonderheit des Übergangsstadiums anerkennt und eine frühe Klassengesellschaft als selbständige Zwischenstufe ablehnt, wandte sich Rybakov in der Diskussion der Vorlage Neusychins mit dem Argument, daß der Begriff "dem Feudalismus vorausgehende Phase" zwar die obere, aber nicht die untere Grenze der zu untersuchenden Periode definiere und daher deren Bestimmung als vorfeudales, zugleich höchstes und letztes Stadium51der Urgesellschaft oder - mit Engels - als militärische Demokratie vorzuziehen sei. Damit aber bleibt Neusychins eigentliches Anliegen, die Charakterisierung einer besonderen Übergangsperiode zwischen Urgesellschaft und Feudalismus, unberücksichtigt. Abgesehen von Einzelfragen kritisieren die Befürworter einer spontanen Entstehung des Feudalismus aus der Urgesellschaft an der Hypothese von einem mehr oder weniger eigenständigen Zwischenstadium vor allem, daß dadurch die inhaltlich und begrifflich
48 49 50 51
Herrmann. Joachim, Frühe klassengesellschaftliche Differenzierungen, S. 419. Ebenda, S. 422. Neusychin. Dofeodal'nyj period, a . a . O . , S. 616 f. SV 31, S. 55.
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notwendige klare Unterscheidung zwischen den Formationen verwischt werde und daß die Grundfrage nach dem Typ der Produktionsverhältnisse, nach dem gesellschaftlichen Hauptwiderspruch und nach dem Wesen der herrschenden Klasse letztlich unbeantwortet oder zumindest unklar geblieben sei. Ein Übergangs- oder Zwischenstadium außerhalb der Urgemeinschaft und des Feudalismus wird daher schon aus prinzipiellen methodologischen Erwägungen abgelehnt. Wie bereits ausgeführt, bleibt bei dieser insgesamt vorherrschenden Theorie die notwendige Analogie von den Verhältnissen des entwickelten europäischen Feudalismus auf die Entstehungsbedingungen des Feudalismus überhaupt problematisch; denn der hier vorausgesetzte Begriffsinhalt weicht von dem als normal bezeichneten spontanen Entstehungsweg insofern ab, als e r ganz wesentlich durch Bedingungen mitgeprägt worden ist, die außerhalb der Urgesellschaft entstanden waren und auf deren Zersetzung massiv einwirkten. Engels, der die beginnende Klassendifferenzierung in den Hofverbänden auch 52 in der ostrheinischen Germania schon kannte , hat diesen Zusammenhang bei der zusammenfassenden Gegenüberstellung der Ursachen der Staatsbildung bei Griechen, Römern und Germanen ganz unmißverständlich hervorgehoben: In Athen "entspringt der Staat direkt und vorherrschend aus den Klassengegensätzen, die sich innerhalb der Gentilgesellschaft selbst entwickeln. In Rom wird die Gentilgesellschaft eine geschlossene Aristokratie inmitten einer zahlreichen, außer ihr stehenden, rechtlosen aber pflichtenschuldigen Plebs; der Sieg der Plebs sprengt die alte Geschlechtsverfassung und errichtet auf ihren Trümmern den Staat, worin Gentilaristokratie und Plebs bald beide gänzlich aufgehen. Bei den deutschen Überwindern des Römerreichs endlich entspringt der Staat direkt aus der E r oberung Kgroßer fremder Gebiete, die zu beherrschen die Gentilverfassung keine Mittel Q bietet." Die hier deutlich unterstrichene Bedeutung des Syntheseproblems ergibt sich auch noch von einer anderen Seite her. Da außer in Japan keine außereuropäische Feudalgesellschaft selbständig die Perspektive einer höheren Formation hervorbrachte, liegt die in der Tat sehr wesentliche Frage nach den Ursachen der schnelleren progressiven Entwicklung des europäischen Feudalismus, aus dem der Kapitalismus hervorging, nahe. Zumeist wird die Synthese mit der entwickelten antiken Sklavenhaltergesellschaft in dieser oder jener Form als die Voraussetzung für die außerordentliche Dynamik der Feudalentwicklung in Europa bis zur Genesis des Kapitalismus angesehen. Eine vergleichende Betrachtung
52 Vgl. Engels. Friedrich, Die Mark, in: Marx/Engels, Werke, Bd 19, S. 319 f. 53 Derselbe. Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, in: Marx/Engels. Werke, Bd 21, S. 164.
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der verschiedenen Übergänge fuhrt sogar häufig noch einen Schritt weiter, indem für den direkten Übergang von der Urgesellschaft zum Feudalismus der Einfluß einer älteren, bereits entwickelten antagonistischen Klassengesellschaft als notwendige Bedingung ange54 sehen wird. Wenn also die unseres Erachtens durchaus berechtigte Frage gestellt wird, ob auch in Europa dem Feudalismus zumindest in Ansätzen ein besonderes gesellschaftliches Entwicklungsstadium des Übergangs von der Urgesellschaft zur ausgeprägten antagonistischen Klassengesellschaft vorausging - und zwar entweder ehe die Synthese mit der Antike e r folgte oder dort, wo es diese nicht oder nur sehr mittelbar gab - , so sollte der Aspekt der progressiven Gesamtentwicklung der 55Weltgeschichte und ihrer entscheidenden Zäsuren im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Nebep den ostrheinischen Germanen, den Westslawen und den skandinavischen Völkern eignen sich die Ostslawen besonders zur näheren Untersuchung dieses wichtigen allgemeinen Problems, da diese Völker in sehr ähnlicher Weise ohne direkte antike Synthese und über eine sehr lange Übergangsperiode mit mehr oder weniger ausgeprägten Relikten der Urgesellschaft zum Feudalismus des entwickelten europäischen Typs gelangten. Udal' cova und Gutnova fassen die Entstehungsprozesse der Feudalgesellschaft in diesem größeren Teil Europas zu einem Typ der Genesis des Feudalismus zusammen, der durch eine spontane Herausbildung aus der Urgesellschaft gekennzeichnet sei, und zählen sogar England und Südwestdeutschland 56 als Gebiete mit nur kurzer, frühzeitig unterbrochener römischer Herrschaft dazu. Bei dieser räumlich zutreffenden Typologie bleibt zunächst zu fragen, ob der weitgespannte Rahmen des zweiten Typs nicht zweckmäßig weiterer Unterteilung bedarf. Einmal fehlt die zweifellos vorhandene indirekte, vermittelnde Synthese, wie sie z . B . die in das fränkische Großreich einbezogenen Gebiete erlebten; zum anderen war der Grad der sozialökonomischen Differenzierung in den verschiedenen unter dem zweiten Typ subsumierten Gebieten vor der Herausbildung des Feudalismus und des feudalen Staates unterschiedlich. Für die Ostslawen ist es wahrscheinlich, daß sich bei ihnen die Klassenteilung und Staatsbildung zwar auf der Grundlage einer weiter fortgeschrittenen Entwicklung der Produktivkräfte, aber vor allem infolge der weit schwierigeren natürlichen Bedingungen auf einer weniger fortgeschrittenen Stufe des Zerfalls des urgesellschaftlichen 54 55
Günther, in: ZfG, 1969, H. 1/2, S. 206. Vgl. allgemein Engelberg. Ernst. Fragen der Evolution und Revolution in der Weltgeschichte, in: Ebenda, 1965, Sonderh. : Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Zum XII. Internationalen Historikerkongreß in Wien 1965, S. 9-18. 56 Oudaltzova/Goutnova. S. 15 ff.
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Gemeineigentums vollzog als bei Griechen und Römern. Die gesellschaftlichen Veränderungen bei den Ostslawen seit dem 6. Jh. waren von diesem Umstand maßgeblich beeinflußt. Da eine Ansiedlung in ausgedehnten, dicht besiedelten Zentren nicht möglich war und die einzelnen Siedlungsplätze durch Wälder, Sümpfe, Flüsse und Seen weit voneinander getrennt und auch abgeschieden gelegen waren, bildeten sich sehr stabile, relativ abgeschlossene Siedlungsgemeinschaften (Dorfgemeinden, Obsciny) heraus. In ihnen wurde bereits vor der Herausbildung des Feudalsystems im wesentlichen jenes Produktionsniveau in Ackerbau, Viehzucht und Handwerk-erreicht, das im Prinzip auch danach vorherrschend blieb. Es ermöglichte eine beträchtliche Anhäufung gesellschaftlichen und individuellen Vermögens und damit die soziale Differenzierung innerhalb der Dorfgemeinschaft, wie sowohl die 57 archäologischen als auch die wenigen vorhandenen schriftlichen Quellen bezeugen. Gleichzeitig waren jedoch die Integrität dieser Siedlungsgemeinschaft und die Stabilität urgemeinschaftlicher Organisationsformen weiterhin wesentliche Voraussetzungen für die Produktion, so daß es im Prozeß der Klassenteilung allen jenen Kräften, die auf eine endgültige Differenzierung und Auflösung derObscina hinwirkten, im wesentlichen nur möglich war, diese Gemeinschaft als Ganzes allmählich 5 8ökonomisch, sozial und politisch zu unterwerfen. Zerschlagen werden konnte sie nicht. Infolgedessen ist es wahrscheinlich, daß auf denjenigen Besitzungen, die sich im Ergebnis der Aussonderung einer Stammesaristokratie aus den urgemeinschaftlichen Bindungen, durch kriegerische Eroberung oder durch Ablösung Wohlhabender von der Dorfgemeinde gebildet hatten, die patriarchalische Form der Sklaverei vorherrschte. Diese weitete sich zunächst durch die Versklavung von Kriegsgefangenen und in zunehmendem Maße auch von verarmten oder ruinierten ehemaligen Angehörigen der Dorfgemeinde sogar noch aus. Aus Forschungen maßgebender sowjetischer Mediävisten wird die wichtige Rolle deutlich, welche die patriarchalische Sklaverei bei den Ostslawen und noch geraume Zeit im Kiever Reich gespielt hat. 59 So hat vCerepnin in einer vergleichenden Untersuchung der 57
Vgl. unter anderen Dovzenok. V . l . . Ob Ökonomie eskich predposylkach slozenija feodal'nych otnosenij u vostocnych slavjan, in: Problemy vozniknovenija feodalizma, S. 28-39, und Braicevskij. M. J u . , Proizvodstvennye otnosenija u vostocnych slavjan v period perechoda ot pervobytno-obscinnogo stroja k feodalizmu, in: Ebenda, S. 39-52 (vom Standpunkt der direkten Entstehung des^Feudalismus aus), kritisch dagegen Liapuskin, Slavjane vostoenoj Evropyj vgl. auch Sirinskij. S.S., Ob-ektivnye zakonomernosti i sub-ektivnyj faktor v stanovlenii drevnerusskogo gosudarstva, in: Leninskie idei S. 189-211, bes. S. 190-198. 58 Vgl. Scapov. J a . N . . O social'no-ekonomiceskich ukladach v Drevnej Husi XI - pervoj poloviny XII v. in: Aktual' nye problemy, o . a . O . , S. 85-110, bes. S. 97 ff. Eine vollständige Auswertung dieses ausgezeichneten Aufsatzes war leider nicht möglich, weil er erst nach Abschluß der Arbeit eingesehen werden konnte. 59 Vgl. Widera. Bruno, Neue sowjetische Forschungen über Staat und Gesellschaftsordnung der alten Rus, in: JbGUV, Bd 12, Berlin 1968, S. 355,
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen
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Aussagen über die sozialen und politischen Verhältnisse der Rus in den verschiedenen Redaktionen der Russkaja Pravda festgestellt, daß die älteste, 1015 für Novgorod erlassene Fassung Jaroslavs des Weisen eindeutig als feudal bestimmbare Abhängigkeitsformen überhaupt nicht beschreibt, wohl aber ausführlich Sklaverei bzw. ihr verwandte Formen der KnechtSchaft.
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Nicht nur der Terminus "rab", sondern auch die häufiger auftretende Bezeichnung
"cholop" spiegelt den sozialen Status des Sklaven oder wenigstens ihm sehr nahekommende 61 Abhängigkeitsformen wider.
Generalisierend stellt Rybakov mit Recht fest, daß "die Skla-
verei in ihrer patriarchalischen Form in der Periode des Zerfalls der Urgesellschaft, beim Übergang zum Feudalismus.noch eine sehr wesentliche Bedeutung im Leben der Gesellschaft 62 hatte"
. Jedoch erreichte diese Ausbeutungsform bald ihre Grenzen, die vor allem durch
die gegenüber den in der Dorfgemeinde selbständig wirtschaftenden Bauern bedeutend geringere Arbeitsproduktivität und durch die Nachteile bei der Beherrschung der schwierigen natürlichen Bedingungen gegeben waren. Zum bestimmenden Produktionsverhältnis oder sogar zur herrschenden Formation konnte sich die Sklaverei daher nicht entwickeln, wie in der Kritik an dahin gehenden Auffassungen 63 von P-jankov von den meisten Teilnehmern der Diskussion mit Nachdruck betont wurde. Andererseits lassen das Schweigen oder zumindest die sehr undeutlichen Aussagen der Quellen hinsichtlich einer klar definierbaren feudalen Abhängigkeit vor dem 11. Jh. vermuten, daß diese sich erst im Verlaufe eines komplizierten Prozesses und aus sehr verschiedenen Wurzeln ausbildete. Die freien oder in die Abhängigkeit vom Fürsten geratenen Obscinniki, in den Quellen zumeist unter dem noch nicht völlig geklärten Oberbegriff "Smerden" zusammengefaßt, auf der einen und die eindeutig versklavten oder verknechteten, ganz in der Verfügungsgewalt der Herren befindlichen Personen auf der anderen Seite sind deutlicher zu fassen als jene Schicht, in der wir feudal abhängige Bauern im eigentlichen Sinne, also auf individueller Eigenwirtschaft und mit eigener Verfügung über Produktionsmittel vom privaten Grundeigentümer beschränkt abhängige Personen, vermuten können. Die Termini "rjadovici", "vdaci", "zakupy", "naimity", "izgoi", aber auch die Beschrei60
Cerepnin. L . V . . Obscestvenflo-politiceskie otnosenija v drevnej Rusi i Russkaja Pravda, in: Drevnerusskoe gosudarstvo i ego mezdunarodnoe znacenie, Moskau 1965, S. 128 f f . , besonders S. 138, wobei der Verfasser jedoch auf die gewisse Einseitigkeit und Unvollständigkeit der Quelle hinweist. 61 Zur Sklavenfrage vgl. unter anderem Zimin. A . A . . Chlopy v drevnej Rusi, in: Istorija SSSR, 1965, H. 5; Romanov, B . A . . Ljudi.i nravy drevnej Rusi, Moskau 1966, und zuletzt Kolyceva, E . I . , Nekotorye problemy rabstva i feodalizma v trudach V . l . Lenina i sovetskoj istoriografii, in: Aktual'nye problemy, a . a . O . , S. 120-147. 62 Istorija SSSR. Bd 1, S. 372. 63 Problemy vozniknovenija feodalizma. S. 104 f f . , 114 f .
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billig von einzelnen Fürsten oder Gefolgs'euten abhängiger Smerdenund von "obel'nye cholopy" (Schuldknechten) deuten sicher auf die wachsende Bedeutung begrenzter persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse hin, durch die sich verarmte, verschuldete oder ganz ruinierte und sozial degradierte Personen innerhalb und außerhalb der fortbestehenden 64 Obsciny einem Angehörigen der Oberschicht unterstellten. Die Ausgrabungen von Chotomel', wo ein durch Größe und Ausstattung deutlich aus den umliegenden bäuerlichen Wohnstätten he raus ragender Herrensitz nachgewiesen werden konnte, die Nachricht der Nestorchronik Uber das Eigentum der Großfürstin Olga an den drei Dörfern Vysgorod, O l ' z i c i und Budutino sowie der Griechenvertrag von 944, der männliche und weibliche V e r t r e t e r nicht nur der F ü r s t e n - , sondern auch der Bojarenfamilien nennt, bezeugen die Existenz einer erblich grundbesitzenden Oberschicht von Fürsten und Bojaren, geben aber keinen definitiven Aufschluß über die Form der Abhängigkeit zwischen Grundbesitzern und Produzenten. Deutlich werden nur die Umrisse einer herrschenden Klasse mit äußeren Merkmalen einer frühfeudalen Hierarchie spätestens im 10. J h . An der Spitze steht der F ü r s t oder Großfürst mit den ihm untergebenen Fürsten und seinen Gefolgsleuten, nach i h r e r sozialen Stellung in " ä l t e r e " und "jüngere" (starsie und mladsie druzinniki) untergliedert. 6 5 Die älteste Pravda nennt einfach "Mannen" als deutlich von den anderen Bevölkerungsschichten abgehobene Angehörige der Oberschicht (narocitye muzi).
66
Die archäologischen Untersuchungen weisen ebenfalls eine durch Reichtum, 67 religiöse Vorstellungswelt und militärische Macht ausgezeichnete Oberschicht nach. Jedoch reichen diese Angaben nicht aus, um das f ü r das 12. und 13. J h . , teilweise
schon f ü r die zweite Hälfte des 11. J h . erkennbare Netz von eindeutig feudalen F ü r s t e n und Herrensitzen (zamki, choromy, grady) mit klar erkennbaren Attributen der Grundherr68
Schaft
als organische Weiterentwicklung dieser früheren Verhältnisse zu bezeichnen,
auch wenn die Besiedlungskontinuität in einigen Fällen in f r ü h e r e Jahrhunderte zurückreicht.
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65 66 67
68 69
Ausführlich und immer noch grundlegend erläutert bei Grekov, Kievskaja R u s ' , S. 158 f f . , und derselbe. Die Bauern in der Rus, Bd 1, Teil 2; vgl. Sverdlov, M . B . , Smerdy v drevnej Rusi, in: Istorija SSSR, 1970, H. 5, S. 61 f f . Vgl. Istorija SSSR, Bd 1, S. 360 f . , 485 f f . , 491 f f . ; ausführlich Grekov, Kievskaja R u s ' , Kap. VI, S. 275 f f . Drevnerusskoe gosudarstvo. S. 132. Grekov, Die Bauern in der Rus, Bd 1, S. 86; Istorila SSSR, Bd 1, S. 254; vgl. die Novgoroder Ausgrabungsergebnisse (Widera, Novgorod vom 10. bis 15. J a h r hundert, in: JbGUV, Bd 9, S. 346 f . ) ; Sirinskii. Ob-ektivnye zakonomernosti, a . a . O . , S. 196 f f . Vgl. Istorija SSSR, Bd 1, S. 522 f f . Tichomirov. Kap. I, S. 9 f f .
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen
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Die Ablösung der unzweifelhaft mindestens seit dem 6. Jh. bestehenden Stammesaristokratie mit zunächst nur zeitweiligen, später im Stammesbund schon stabileren Herrschaftszentren (Fürstentümern) durch eine feudale Oberschicht über- und untergeordneter Votcinniki mit eigenen privaten Grundherrschaften ist jedenfalls erst von der zweiten Hälfte des 11. Jh. an schlüssig nachzuweisen. Zweifellos gab es bereits vorher privaten Grundbesitz, aber, wie bereits angedeutet, wurde e r offensichtlich noch bis in die Blütezeit des Kiever Reichs hinein mindestens zu 70 einem erheblichen Teil durch die Ausbeutung von Sklaven bewirtschaftet. Ebenso unbestritten ist auch, daß daneben je nach den örtlichen Gegebenheiten mehr oder weniger intakt noch die Dorfgemeinde mit freien oder nur in Form von Abgaben an den Großfürsten abhängigen Bauern bestand. Wahrscheinlich war im 9., 10. und 11. Jh. sogar noch ein sehr großer Teil der unmittelbaren landwirtschaftlichen Produzenten frei bzw. bei noch stabiler obscina nur der Zentralgewalt abgabepflichtig. Dieser Eindruck wird durch die Tatsache verstärkt, daß nach der Christianisierung der Rus, die als staatliche Konstituierung einer Kirchenorganisation nach griechischorthodoxem Ritus und als Einführung einer verbindlichen Staatsideologie erfolgte, selbstän71 diger kirchlicher Grundbesitz erst sehr viel später nachgewiesen werden kann. Die kirchlichen Würdenträger und Institutionen wurden aus staatlichen Einnahmen oder, genauer gesagt, aus dem an den Großfürsten zu entrichtenden Zehnten versorgt. Zweifellos spielt hier der Umstand eine Rolle, daß sich in der Rus nicht schon vor der staatlichen Sanktionierung ein Netz von kirchlichen Niederlassungen gebildet hatte und diese zumeist erst nach der offiziellen Annahme des Christentums entstanden. Dennoch bleibt die Frage offen, warum Vladimir die Kirche nicht gleich nach ihrer Konstituierung mit selbständigem Grundbesitz ausstattete. J a . N . Scapov gibt hierfür folgende Erklärung: "Die Zeit vom Ende des 10. bis zur zweiten Hälfte des 11. Jh. ist die frühfeudale ' Zehnten'-Periode in der Existenz der Kirche in der Rus, die sich von der Periode des entwickelten Feudalismus unterscheidet, als die Kirche als Grundeigentümer zum vollberechtigten Mitglied der Organisation der herrschenden Klasse, des Staates, wird. Bis zum Auftreten eigenen Grundbesitzes der kirchlichen Organisationen hatte die Kirche keine oder kaum eigene Existenzgrundlagen außerhalb der staatlichen oder fürstlichen Einkünfte. Sie existierte 70 Die von §irinskii. Ob-ektivnye zakonomernosti, S. 202, Anm. 48, vertretene Auffassung, daß Sklaven im 9. und 10. Jahrhundert in der ostslavischen Sozialstruktur überhaupt keine Bedeutung mehr gehabt hätten, widerspricht den Ergebnissen gründlicher Untersuchungen anderer Forscher, so vor allem von A.A. Zimin, vgl. Anm. 61. 71 Vgl. dazu die gründliche Untersuchung von Scapov. J a . N . . Cerkov' v sisteme gosudarstvennoj vlasti drevnej Rusi, in: Drevaerusskoe gosudarstvo, S. 279 ff.
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auf Grund von Mitteln, die durch den Fürsten als frühfeudalen Eigentümer in verschiedener Form, vorwiegend als dan eingezogen und ihr nach bestimmter, traditionell geregel72 ter Pflicht zugeteilt wurden." Diese Form der materiellen Versorgung der Kirche im Kiever Reich durch Zuwendungen aus den Einkünften des Großfürsten erhärtet die Bedenken, ob die feudale Grundherrschaft zum Zeitpunkt der Christianisierung schon die vorherrschende Eigentumsform gewesen ist; denn sonst wäre eine Ausstattung der Kirche mit Land zweifellos zweckmäßiger gewesen. Das Material über die beginnende Klassenteilung und die innere Organisation der Gesellschaft bei den Ostslawen bis zum 10. Jh. läßt also nicht eindeutig eine Interpretation zu, die eine Anwendung des oben vorgestellten Feudalismusbegriffs auf diesQ Entwicklungsphase - bis zur Mitte des 8. J h . als vorfeudal und bereits vom ausgehenden 8. J h . oder vom Beginn des 9. Jh. an als friihfeudal - zwingend begründen würde. Das gilt auch dann, wenn man unterstellt, daß selbstverständlich die Quellen des frühen Mittelalters insgesamt zumeist Begriffe verwenden, die aus entwickelteren Verhältnissen übernommen waren und in ihrer Übertragung auf eine im Umbruch befindliche Gesellschaft mit Notwendigkeit ungenau sein mußten. Zusammenfassend kann man wohl dem Urteil L. V. Cerepnins Uber die in der ältesten Eusskaja Pravda beschriebenen gesellschaftlichen Zustände Anfang des 11. Jh. zustimmen: " . . . daß die Gesellschaft dieser Zeit frühfeudal (mit starken Elementen der Sklaverei) war und daß sich schon eine herrschende Klasse herausgebildet hatte ('narocitye mu£i'), die die politische Macht in der Hand hatte und zur Festigung
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der sich entwickelnden feudalen Staatlichkeit Institutionen der Gentilverfassung ausnutzte." Diese außerordentlich vorsichtige Einschätzung läßt den notwendigen Spielraum für die ganze Kompliziertheit des Übergangsprozesses zum Feudalismus und für das dabei typische langfristige Nebeneinanderbestehen verschiedener, sich teilweise überlagernder und gegenseitig verflechtender gesellschaftlicher Beziehungen, nämlich starker Überreste urgesellschaftlicher Verhältnisse aus dem Zerfallsstadium der Territorial- oder Nachbarschaftsgemeinde und der damit eng verbundenen und durch die Berührung mit Ostrom sowie durch die Kriegszüge der ostslawischen Stämme bzw. der Kiever Fürsten zunächst noch verstärkten patriarchalischen Sklaverei einerseits und progressiver Ansätze frühfeudaler Ausbeutungsverhältnisse andererseits. Grundsätzlich ist ein solches Nebeneinander verschiedener alter und neuer gesellschaftlicher Verhältnisse in Übergangsepochen nichts Außergewöhnliches, sondern sogar eine 72 Ebenda, S. 350 f . 73 Ebenda, S. 139.
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ganz normale und gesetzmäßige Erscheinung. Mit Recht hat E . M . Zukov zu Beginn der Diskussion über die Genesis des Feudalismus bei den Völkern der UdSSR im Jahre 1964 betont, daß es "reine", unvermischt und in klassischer Modellform ausgeprägte Gesellschaftsformationen in der konkreten Geschichte nicht gibt, sondern daß sie sich immer, und ganz besonders in der Zeit ihrer Entstehung, in einem komplizierten Wechsel Verhältnis mit 74 Uberresten vergangener und Keimformen weiter fortgeschrittener Verhältnisse entwickeln. Auch der "klassische", direkt aus der Synthese mit der antiken Gesellschaft hervorgegangene westeuropäische Feudalismus kennt noch lange nach seiner Entstehung Relikte der' Urgesellschaft und Formen der Sklaverei; anders wäre das Ergebnis einer "Synthese" auf der Grundlage dieser beiden Formationen ja auch gar nicht vorstellbar. Jedoch schuf der revolutionäre Prozeß der Zerstörung des weströmischen Reiches, der Gründung neuer Staatswesen auf seinem Boden und der damit verbundenen Überwindung sowohl der urgesellschaftlichen Ordnung als auch der Sklavenhaltergesellschaft als h e r r schender Formation im Bereich der direkten Synthese die sozialökonomischen und politischen Voraussetzungen und Triebkräfte für eine möglichst rasche, tiefgreifende und gründliche Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse von unten und von oben. Diese vollzog sich durch die durchgreifende Klassenspaltung in private Grundbesitzer und begrenzt abhängige und unmittelbare Produzenten auf der einen und durch die unter den Bedingungen ausgeprägter bereits vorhandener Überbauinstitutionen sehr beschleunigte Herausbildung 75 der Feudalhierarchie auf der anderen Seite. Auch außerhalb dieses Schmelztiegels - bei den ostrheinischen Germanen, in Skandinavien und in den west- und ostslawischen Siedlungsgebieten - war der Übergang zur feudalen Klassengesellschaft seinem Wesen nach eine soziale Revolution, doch vollzog sich hier die Entstehung klassengesellschaftlicher Verhältnisse langsamer und komplizierter, dauerte die Übergangsepoche länger, konnten sich in stärkerem Maße urgesellschaftliche Strukturen behaupten, so daß hier das Problem eines besonderen Übergangsstadiums deutlicher zutage tritt. Der polnische Mediävist Henryk towmiafiski hat in seinem dem XIII. Internationalen Historikerkongreß vorgelegten Referat über soziale Wandlungen in Mittel- und Osteuropa vom 6. bis 12. J h . , anknüpfend an umfangreiche eigene Untersuchungen, die Unterscheidung 74 Zukov, E . M . , Einleitung zu:Problemy vozniknovenija feodalizma, S. 12 f . 75 Theoretisch grundlegend Engels. Friedrich, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, Abschn. VIII, in: Marx/Engels. Werke, Bd 21, S. 141-151; vgl. Ljublinska,ia. A . D . . Tipologica rannego feodalizma v zapadnoj Evrope i problema romano-germanskogo s inte za, in: SV 31, S. 9-17,und zuletzt Sevelenko. A . J a . , K tipologii genezisa feodalizma, in: Voprosy istorii, 1971, H. 1, S. 97-107.
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zwischen zwei Typen der Genesis des Feudalismus je nach der Stufenfolge und den Triebkräften sowie dem zeitlichen und inhaltlichen Verhältnis von Feudalisierung und Staatsbildung vorgeschlagen. Kriterium dafür ist vor allem die jeweils vorherrschende Form der Wechselbeziehungen zwischen der Entstehung des dezentralisierten feudalen Eigentums und der Herausbildung des Feudalstaates. Der private Feudalismus kann einerseits durch die Dotierung von Gefolgsleuten seitens der frühfeudalen Staatsmacht und andererseits gewissermaßen von unten, durch die Unterwerfung der Produzenten unter die ökonomische und juristische 76 Herrschaft privater feudaler Grundeigentümer entstehen. iowmianski stellt ferner fest, daß für das slawische Frühmittelalter eine zentralisierte Struktur der Ausbeutung typisch gewesen ist und daß sich für diesen Raum die weitverbreitete Auffassung, die Masse der Bevölkerung sei schon vor der Errichtung der feudalen 77 Staatsmacht abhängig gewesen, heute nicht mehr aufrechterhalten läßt. In der Tat ist diese Erkenntnis seit langem nicht mehr grundsätzlich umstritten, soweit sie den Vorgang als solchen angeht, der in ähnlicher Form für die Genesis des Feudalismus bei den Sachsen nach der Einbeziehung in das fränkische Großreich und, worauf u . a . Saskol'ski hinweist, 78 in Skandinavien
zutrifft.
Kontrovers wird die Frage erst, wenn die Staatsbildung als der eigentliche konstitutive und zugleich revolutionierende Umschlag zur Entstehung des Feudalismus als gesellschaftliches System angesehen wird, eine These, die in der Diskussion um das Wesen der vor79 kapitalistischen Gesellschaftsformationen u . a . von N.F. Kolesnickij vertreten wurde und die unseres Erachtens zumindest für die Länder außerhalb der unmittelbaren Synthese einen sehr erwägenswerten Lösungsversuch darstellt. Resümieren wir zunächst, ehe die eigentlichen Streitpunkte näher betrachtet werden, konkret bezogen auf die Ostslawen, die wesentlichen Argumente, die für eine Genesis des eigentlichen Feudalismus durch "Feudalisierung von oben" angeführt werden. Bei der Durchsetzung der Feudalordnung kommt der übergreifenden frühfeudalen Herrschaftsausübung - im Kiever Reich durch den Großfürsten - und dem allmählichen Entstehen 76
Lowmianski. Henryk, Transformations sociales en Europe Centrale et Orientale aux VI°-Xir siècles, Moskau 1970, S. 13 = XIII. Congrès International des Sciences Historiques. 77 Ebenda. - Vgl. unter anderem das Handbuch Die Slawen in Deutschland, hg. von Joachim Herrmann, Berlin 1970, S. 200 ff. 78 Saskol'skii. I . P . , Problemy periodizacii istorii skandinavskich stran, in: Skandinavskij sbornik, Bd 8, 1964, S. 356 f. 79 Kolesnickij. N . F . , K voprosu o ranneklassovych obscestvennych strukturach, in: Problemy dokapitalistiôeskich obëcrestv, S. 618 f f . , besonders S. 635 ff.
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen
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eines staatlichen Machtapparates entscheidende Bedeutung zu. Selbstverständlich ist dies erst von dem Zeitpunkt an möglich, da sowohl durch die innere Zersetzung der urgesellschaftlichen Dorfgemeinde als auch durch die allgemeine Krise der Sklavenhaltergesellschaft in den weiter entwickelten Nachbarländern des Schwarzmeer- und Mittelmeerraumes sowie infolge der fortschreitenden Auflösung und Nivellierung der Gentilverfassung nach der Bildung von StammesbUnden die objektiven sozialen Voraussetzungen für die Staatsbildung gegeben sind. Selbst hervorgegangen aus einer noch ursprünglichen, nicht voll ausgeprägten Klassenteilung, wird die staatliche Macht, die zunächst wie in allen frühmittelalterlichen Reichen auf der Basis persönlicher Über- bzw. Unterordnung entsteht und weitgehend noch Vorstellungen und Einrichtungen aus der Gentilverfassung konserviert, zur revolutionierenden Kraft im Sinne der Durchsetzung der Feudalordnung in einer Vielfalt teilweise quantitativ noch überwiegender gesellschaftlicher Bindungen aus früheren Entwicklungsu
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epochen.
,
Friedrich Engels charakterisiert diese Funktion des entstehenden Staates, die auch unter den Bedingungen der barbarisch-römischen Synthese prinzipiell die gleiche war, nach der Auflösung der Gentilgemeinschaft in Dorfgenossenschaften: " . . . eine solche Zusammensetzung des Volkes aus lauter kleinen Genossenschaften, die zwar gleiche, aber eben deshalb keine gemeinsamen ökonomischen Interessen haben, macht eine nicht aus ihnen hervorgegangene, ihnen fremd gegenüberstehende, sie mehr und mehr ausbeutende Staatsgewalt zur Bedingung der Fortexistenz der Nation", d.h. der neu entstehenden 81 ethnischen Verbände und Völker. Das noch fortbestehende Gentilprinzip kommt dabei stufenweise abnehmend zunächst in der losen Organisationsform des zeitweiligen Zusammenschlusses von Stammesfürsten und ihren Gefolgsleuten bei Feldzügen und zur Abwehr von Angriffen, dann in der stabileren Form der Stammesbünde unter herrschenden Geschlechtern und schließlich noch in den frühfeudalen Staaten in der noch mehr oder weniger kollektiv geprägten Organisation der herrschenden Dynastie zum Ausdruck. Im Kiever Reich ist sie als gemeinsam die Macht verkörpernde Gemeinschaft unter Vorherrschaft des jeweils ältesten Mitglieds gedacht. Das sich fortschreitend durchsetzende Feudalprinzip zeigt sich in der Herausbildung einer ganzen Hierarchie abhängiger Gefolgsleute, in der wachsenden Macht des Herrschers und schließlich in der Durchbrechung des gemeinsamen Personen Verbandes durch die beginnende territoriale Untergliederung in relativ selbständige Fürstentümer. Mit diesem für alle friihfeudalen Reiche in dieser oder jener Form gesetzmäßigen Vorgang, der schließlich 80 81
Vgl. die ähnliche Darstellung in: Die Slawen in Deutschland. S. 222 ff. Engels. Friedrich. Fränkische Zeit, in: Marx/Engels. Werke, Bd 19, S. 475.
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den Übergang zum entwickelten Feudalismus anzeigt, setzte sich dae Prinzip der Votcina endgültig durch. Die soziale Differenzierung, die vor der feudalen Staatsbildung, also im östlichen Mittel-, in Nord- und Osteuropa bis zum 9. bzw. 10. J h . , nur bis zu den Anfängen eines frühfeudalen Privateigentums an Grund und Boden, bis zur patriarchalischen Sklaverei und zur Herausbildung einer noch stark in Stammestraditionen verwurzelten Aristokratie fortgeschritten ist, setzt sich mit Hilfe der integrierenden Staatsgewalt über die alten Gentilverfassungsinstitutionen hinweg und unterwirft schrittweise auch die noch überwiegend freien Bauern und ihre Dorfgemeinden der sozialen Abhängigkeit. Dadurch werden zugleich der innere Differenzierungsprozeß und die Herausbildung von privaten Grundherren - bei den Ostslawen Votcinniki - aus der Dorfgemeinde stimuliert. Beide Vorgänge, die Entstehung eines Grundeigentums fürstlicher Gefolgsleute und Verwalter in zunächst nur dem Herrscher zinspflichtigen oder tributär abhängigen Gebieten auf der einen und die Aussonderung wohlhabender Landbesitzer aus der Dorfgemeinde auf der anderen Seite, wachsen erst durch die Aktivität der Staatsgewalt zur allgemeinen Feudalisierung zusammen, die für die Rus erstmals im ausgehenden 11. Jh. und dann im 12. und 13. Jh. in den Quellen deutlich und umfassend nachweisbar ist. Von da an datiert auch in größerem Umfang der eigenständige feudale Grundbesitz der Kirchen. Die Bauern sind jetzt, in feudaler Abhängigkeit verschiedenen Grades, in ihrer Mehrzahl nicht mehr dem Staat, sondern bestimm82
ten Angehörigen der Feudalklasse direkt unterworfen. Die Votöina der Fürsten und Bojaren, d.h. der befestigte Herrensitz mit eigener Grundherrschaft, wird zur vorherrschenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Einheit des Landes; der Feudalismus ist damit als herrschendes gesellschaftliches System in der Breite und Tiefe ausgeprägt. Allgemein wird die Bedeutung der feudalen Staatsbildung einhellig anerkannt. Starke Einwände wurden aber gegen die Annahme einer konstitutiven Rolle des Staates bei der Genesis des Feudalismus u . a . von Danilov erhoben, der den Befürwortern einer relativ selbständigen Vorstufe des Feudalismus vorwirft, sie würden den Staat aus seiner sozialen 83 und klassenmäßigen Bedingtheit herauslösen. Wenn man den frühfeudalen Staat nur als das organisch gewachsene Resultat einer spontanen Evolution der Urgesellschaft zum Feudalismus ansieht, sind diese Bedenken
82 Grekov. Die Bauern in der Rus, Bd 1, S. 15 f f . , 184 ff.; Istorija SSSR. Bd 1, S. 530 f f . , 573 ff. 83 Danilov, in: Kommunist, 1969, H. 5, S. 74 ff.
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen
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auch vollauf berechtigt und konsequent. Die Staatsbildung kann nicht eine Entwicklung einleiten, von der sie selbst hervorgebracht wurde, sie kann sich weder außerhalb der Formationen noch, soweit sie als feudal zu bezeichnen ist, unabhängig von einer herrschenden Feudalklasse vollziehen. Diese Kritik läuft, wie man sieht, in dieselbe Richtung wie die Einwände gegen die Annahme eines besonderen Stadiums der frühen Klassengesellschaft zwischen Urgemeinde und Feudalsystem. Geht man von der Annahme einer unmittelbaren, organischen Entstehung des Feudalismus aus der sich zersetzenden Urgesellschaft aus, so muß es ferner als widersprüchlich erscheinen, wenn von einer übergreifenden, die Feudalisierung erst eigentlich durchsetzenden Funktion des Staates gesprochen wird. Denn bei einer direkten Herleitung der Genesis des Feudalismus aus der Evolution der späten Urgesellschaft sind die Anfänge der sozialen und politischen Differenzierung zugleich Anfänge des Feudalismus und des Feudalstaates. Das gilt dann für die Dorfältesten, für das System der Volosti bei den Ostslawen und für die daraus emporwachsende Stammesaristokratie, den Sippen- und Kriegeradel sowie die ersten instabilen Stammesfürstentümer genauso wie für die Institutionen des entstehenden frühfeudalen Großreiches. Zwischen diesen Formen der politischen Gewalt gibt es nach dieser Auffassung keine prinzipielle Zäsur, sondern es besteht ein direktes genetisches Verhältnis. Schließlich wird gefragt, wie denn ein Staat, der nicht aus bereits dominierenden feudalen Verhältnissen hervorgegangen ist und die eigentliche Feudalentwicklung erst durchsetzt, überhaupt als feudal bezeichnet werden kann und welche gesellschaftlichen Faktoren, wenn nicht feudale Produktionsverhältnisse und eine Klasse von Feudalherren, ihm den feudalen Charakter und die feudale Richtung der Herrschaftsausübung verliehen haben sollen. Zunächst ist die allen diesen Einwänden zugrunde liegende Ausgangsposition, daß der frühfeudale Staat notwendigerweise das Ergebnis einer schon mehr oder weniger ausgeprägten Feudalordnung sein müsse, zu prüfen. Dabei muß nochmals darauf hingewiesen werden, daß sich der Übergang von der Urgesellschaft, d . h . einer nichtantagonistischen Formation, zur antagonistischen Klassengesellschaft unter anderen Bedingungen vollzieht als die Ablösung einer antagonistischen Klassengesellschaft durch die andere. In diesem Falle ist die Übergangsperiode nicht einfach die Ablösung der überlebten Ordnung durch eine neue, bereits in allen wesentlichen Grundzügen vorgebildete Gesellschaft, sondern sie umfaßt den langwierigen heterogenen Prozeß der Klassenteilung überhaupt, d . h . , die Umgestaltung ist keineswegs zwangsläufig von vornherein auf diese oder jene antagonistische Klassenformation gerichtet.
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Wolfgang Küttler Die sozialen Auseinandersetzungen, die diesen Prozeß hervorriefen, vorantrieben
und begleiteten, sind daher auch sehr von denen verschieden, die spätere Übergangsepochen kennzeichnen. Da wir es mit dem Prozeß der Entstehung "on Klassen und damit überhaupt erst mit der Herausbildung der Politik im gesellschaftlichen Leben zu tun haben, beginnt 84 sich auch der Klassenkampf in dieser Epoche erst als "nächste treibende Macht" der gesellschaftlichen Entwicklung auszubilden. Im Falle der Synthese mit der antiken Sklavenhaltergesellschaft verschmilzt dieser Vorgang von außen und innen mit der Entwicklung der ausgereiften Klassengegensätze zwischen Sklavenhaltern auf der einen und Sklaven und Kolonen auf der anderen Seite. Die sozialen Auseinandersetzungen innerhalb der germanischen Stämme und Stammesbünde werden überlagert durch die Gegensätze zwischen den Klassen der alten Gesellschaft und den Kampf der in das römische Reich vordringenden Völker insgesamt gegen die Sklavenhalterordnung und ihren Staat. Ebenso wie "Herrschaft 85 über Unterworfene mit der Gentilverfassung unverträglich" war , d.h. also die noch bestehenden urgesellschaftlichen Bindungen aufgelöst wurden, waren es andererseits bei den Barbarenvölkern "nicht ihre spezifischen nationalen Eigenschaften...,86 die Europa verjüngt haben, sondern - einfach ihre Barbarei, ihre Gentilverfassung".
Engels drückt
mit diesen Feststellungen sehr prägnant die Dialektik zwischen Auflösung der Urgesellschaft, militärisch-politischer und sozial-revolutionärer Zerschlagung der Sklavenhalterordnung und ihres Staates und Entstehung des europäischen Feudalismus aus. Der Kampf der freien, im Gemeineigentum verwurzelten Bauern der germanischen und slawischen Stämme gegen Sklaverei und Sklavenhalterstaat, die Klassenkämpfe innerhalb der untergehenden antiken Gesellschaft und die Auseinandersetzungen innerhalb der "Barbaren"-stämme schufen also in untrennbarer Wechselbeziehung die feudale Klassengesellschaft. Der Klassenkampf wird nicht einfach um die Durchsetzung des Feudalismus als der höheren Gesellschaftsordnung geführt. Vielmehr ergibt sich aus dem Zusammenwirken der verschiedenen sozialen Gegensätze und Auseinandersetzungen jene im Verhältnis zur Sklaverei und zur Urgesellschaft sowie zu allen ursprünglichen Formen der Klassenteilung (patriarchalische Sklaverei, Knechtschaft) und den ihnen entsprechenden Institutionen (Sklavenhalterstaat, militärische Demokratie, Despotismus) progressive Gestaltung des Klassenantagonismus, die den Feudalismus im aufsteigenden Stadium charakterisiert. 84 Marx. Karl/Engels. Friedrich, Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u . a . , in: Marx/Engels. Werke, Bd 19, S. 165. 85 Engels. Friedrich, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, in: Marx/Engels. Werke, Bd 21, S. 146. 86 Ebenda. S. 150.
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Zumal außerhalb der Sphäre der unmittelbaren Synthese mit der Antike wurden die sozialen Auseinandersetzungen, in denen die Klassen und der Staat entstanden, von der Masse der unmittelbaren Produzenten sehr häufig für die Erhaltung der alten, auf Gemeineigentum und persönlicher Freiheit beruhenden urgesellschaftlichen Ordnung und gegen die Vertreter der entstehenden Ausbeutungsverhältnisse geführt. Der Kampf der Bauern der Dorfgemeinde gegen staatliche Tributerhebung und der Widerstand ganzer Stämme gegen die Zentralgewalt, schließlich die Kämpfe angegriffener oder unterworfener Völker gegen den expansiven Großstaat - alles das sind typische Formen des Klassenkampfes der Volksmassen in der Übergangsepoche und im Frühfeudalismus, 87 die Rybakov auch für die Frühgeschichte der Ruä ausführlich darstellt. Engels hat überzeugend nachgewiesen, daß dieser Kampf nicht etwa regressiv war, sondern daß er in allen seinen widerspruchsvollen Formen und nicht zuletzt durch die E r haltung urgesellschaftlicher Traditionen und Institutionen bis weit in die antagonistische 88 Klassengesellschaft hinein dem Feudalismus seinen fortschrittlichen Inhalt gab.
In diesem
Sinne war es die Gentilverfassung, "die Europa verjüngte". Gerade diese Besonderheiten im Austragen der entstehenden sozialen Gegensätze, die die Übergangsepoche von der Urgesellschaft zum Feudalismus auszeichnen, sind ein Argument dafür, daß die entstehende Klassengesellschaft nicht von Anfang an feudale Struktur aufwies, weil diese erst in einem langwierigen Prozeß gegen vielfältige ursprüngliche oder überlebte alte Klassenverhältnisse durchgesetzt, erkämpft werden mußte, und das zumal im viel langwierigeren Übergangsprozeß außerhalb des römischen Reichsgebietes. Nach der Auflösung der Gentilverfassung ist die Entstehung des Staates eine gesellschaftliche Notwendigkeit, aber "die Form dieser Staatsgewalt", schreibt Engels, "ist 89 wieder bedingt durch die Form, in der sich die Genossenschaften zur Zeit befinden". Die Herausbildung des Staates als integrierender Gewalt in der Hand einer sich bildenden herrschenden Klasse ist also ebensowenig von vornherein determiniert wie die Richtung der Klassenspaltung selbst; in ihr können Elemente des sogenannten asiatischen Despotismus, die in der Territorialgemeinde und der patriarchalischen Sklaverei ihre Basis haben, ferner Formen des auf großen Sklavenbesitz beruhenden antiken Stadtstaates und schließlich der noch stark in urgesellschaftlichen Institutionen wurzelnde frühfeudale Gefolgschaftsverband entstehen. Für die Rus sind alle diese Varianten in verschiedenen älteren und 87 Istorija SSSR. Bd I, S. 480, 493, 512 f f . , 573 ff. 88 Engels. Der Ursprung der F a m i l i e . . . , a . a . O . , S. 148-151. 89 Derselbe. Fränkische Zeit, a . a . O . , S. 475.
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neueren Hypothesen schon als dominierend angesehen worden. Das Kiever Reich erschien einmal als der auf Fernhandel und Wucher gegründete Staat von Sklavenhaltern; dann wieder als primitive urgesellschaftliche Vereinigung von Stämmen, die zu ihrer inneren Ordnung 90 der Anrufung auswärtiger Ordnungsmächte bedurften (Normannentheorie) , und schließ91 lieh als orientalische Despotie (Plechanov). Inzwischen ist die feudale Grundrichtung der Entwicklung des Kiever Reiches klar e r wiesen. Bei der Herausbildung der Vorstufen des Feudalstaates in den verschiedenen Stammesbünden ebenso wie bei der Entstehung des frühfeudalen Kiever Reiches handelte es sich um einen Vorgang, der aus der inneren sozialökonomischen und politischen Evolution der 92 Of.tslawen
und durch die eigenständige Verarbeitung der verschiedenen Einflüsse von
Seiten der im Zerfallsstadium befindlichen antiken Sklavenhaltergesellschaft erwachsen ist. Das Kiever Reich war nach Herkunft, wirtschaftlicher und sozialer Basis sowie in seiner Kultur ein vorwiegend slawischer frühfeudaler Großstaat, der von Anfang an mehrere nichtslawische Stämme und Bevölkerungsschichten, u . a . auch die normannischen Druzinniki, in sich vereinigte. Die Herkunft der Dynastie ist allgemein und erst recht in mittelalterlichen Reichen kein Kriterium für die sozial ökonomische, ethnische und kulturelle Basis der staatlichen Entwicklung, so daß die immer wieder von den "Normannisten" betonte normannische Genealogie des Kiever Herrscherhauses, selbst wenn sie voll zutrifft, das eigentliche Anliegen der Normannentheorie keineswegs zu stützen vermag. Über die Rolle der Normannen, die sehr in legendäres Dunkel gehüllt ist, läßt sich mit Sicherheit nur so viel sagen, daß die Feldzüge skandinavischer und slawischer Heerführer und Druzinniki gegen Byzanz und die politischen Auseinandersetzungen, die die Anwesenheit der Normannen z . B . in Novgorod und Kiev hervorriefen, ein Faktor unter vielen anderen gewesen sind, die den Zusammenschluß der ostslawischen Stämme zu einem Staat beschleunigten. Unter diesen äußeren Faktoren hatten jedoch zweifellos die Beziehungen zu Byzanz und die93 Notwendigkeit der gemeinsamen Abwehr von Nomadeninvasionen weit größere Bedeutung. Die Feststellung des Primats der inneren Entwicklung und der voraufgegangenen Klassenbilduiig schließt jedoch nicht die oben begründete Hypothese aus, daß diese Basis 90 Noch Stökl meint, daß die Ostslawen "in ihrer sozialen und politischen Organisation für uns merkwürdig unprofiliert bleiben" (S. 29), und billigt daher dem Bericht der Nestor-Chronik über die Einladung der Normannen Wahrscheinlichkeit zu. 91 Vgl. Pavlova-Sil'vanskaja. M . P . . K voprosu ob osobennostjach absoljutizma v Rossii, in: Istorija SSSR, 1968, H. 4, S. 71-85, besonders S. 80 ff. 92 Vgl. Sirinskij, Ob-ektivnye zakonomernosti..., mit ausführlichen Literaturangaben. 93 Vgl. Istorija SSSR, Bd 1, S. 488 ff.; ferner das bereits zitierte Buch von Saskol' skij und die Rezension vonWidera, Bruno, in: JbGS, Bd 13/2, Berlin 1969, sowie derselbe, Der Ackerbau in der Rus, in: JbWG, 1969, Teil 1, S. 271 ff.
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noch sehr heterogen und in der Vielfalt frühklassengesellschaftlicher Übergangsformen noch keineswegs vorherrschend feudal war und daß sie e r s t nach der Entstehung des Kiever Großreiches durchgängig in Richtung auf die Feudalisierung umgestaltet wurde. Auf die Wirkung, die die Annahme des Christentums in diesem Umgestaltungsprozeß hatte, kann hier nur hingewiesen werden; nähere Ausführungen würden ein gesondertes Vorhaben ausfüllen. Auch darf der direkte und indirekte Einfluß, den die Antike über Vermittlung von Byzanz auf die verschiedenen Phasen der Klassen- und Staatsbildung genommen hat, nicht unterschätzt werden. E r wirkte durch den unmittelbaren Übertritt ganzer Stammesorganisationen auf byzantinisches Gebiet vom 6. J h . an, durch die Feldzüge und die engen Handelsverbindungen der Fürsten und i h r e r Druzinniki und schließlich durch die - wenn auch weitgehend unabhängige, so doch byzantinischem Vorbild folgende - institutionelle und ideolo, 94 gische Orientierung der Kirche in der Rus.
Es kann also mit Grekov angenommen w e r -
den, daß wie in den meisten europäischen Ländern außerhalb des römischen Reichsgebietes auch in der Rus der innere Zerfallsprozeß der Urgesellschaft, die innere soziale Differenzierung und die direkte oder indirekte Berührung mit der antiken Sklavenhaltergesellschaft in ihrem Krisenstadium zusammengenommen der gesellschaftlichen Entwicklung jene Richtung gaben, die aus einem ursprünglich noch unbestimmten Nebeneinander v e r schiedener klassengesellschaftlicher Tendenzen und der urgesellschaftlichen Verhältnisse schließlich den frühfeudalen Staat und den europäischen Typ des Feudalismus hervorbrachte. Die feudale Staatsbildung als qualitativ höhere Stufe gegenüber den verschiedenen Vorformen staatlicher Macht hatte in diesem Gesamtprozeß eine revolutionäre Funktion. Sie war zugleich Ergebnis der Klassenspaltung und richtunggebender Faktor innerhalb dieses P r o z e s s e s . Die entscheidende Funktion des altrussischen Staates bei der Durchsetzung der Feudalordnung ist unbestritten. Kontrovers bleibt aber e r s t e n s , wann sich das Kiever Reich als frühfeudaler Staat gebildet hat, und zweitens, ob schon die bis zum 9. J h . nachweisbaren politischen Organisationsformen vor allem um den Stammesbund der Poljanen-Ros in den Zusammenhang der feudalen Staatsbildung gehören. Sirinskij spricht bereits f ü r das 9. J h . von 95 einer ausgeprägten Feudalklasse mit eigenem Klassenbewußtsein. Zweifellos sind die daran geknüpften Untersuchungen über das Wechselverhältnis objektiver und subjektiver 94
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Zu den Beziehungen zwischen der Rus und Byzanz vgl. Litavrin. G . G . / J a n i n , V . L . , Nekotorye problemy russko-vizantijskich otnoäenij v DC-XV v v . , in: Istorija SSSR, 1970, H. 4, S. 32-53. Zur Christianisierung vgl. unter anderem Poppe. Andrzej, PanStwo i koäiot na Rusi w XI. wieku, Warschau 1968. Sirinskij.Ob-ektivnve z a k o n o m e r n o s t i . . . , S. 210 f .
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Faktoren bei der Staatsbildung bei den Ostslawen sehr interessant. Sirinskijs Hinweise auf die Bedeutung der zweiten gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Herausbildung von verschiedenen Regionen mit relativ entwickelten Austauschbeziehungen und zunehmendem Fernhandel sowie der Abwehr äußerer Angriffe für die Staatsbildung, die sich auf umfangreiche archäologische und historische Forschungen verschiedener Autoren stützten, fassen das bisher zu rekonstruierende Bild der Voraussetzungen für das Kiever Großreich zusammen. Dabei fallen allerdings hinsichtlich der Herausbildung des feudalen Grundbesitzes und der feudalen Klassenbeziehungen, des Entwicklungsgrades der Ware-Geld-Beziehungen und der Frage der Stadtsiedlungen eindeutig überzogene Einschätzungen auf, die weit über die von Rybakov in der Istorija SSSR vermittelte Gesamtsicht hinausgehen. Die Ergebnisse von archäologischen Untersuchungen und die wenigen vorhandenen schriftlichen Quellen werden sehr weitgehend verallgemeinert, so daß seit Beginn des 9. Jh. eine früh96 feudale Gesellschaft und eine kontinuierliche feudale Staatsentwicklung angenommen werden. Wie oben bereits dargelegt, ist hier jedoch größte Vorsicht geboten. Es erscheint mindestens ebenso begründet - wenn auch natürlich in gleicher Weise hypothetisch - , wenn Ljapuskin vor einer Überschätzung des sozialökonomischen Entwicklungsgrades warnt und 97Keinesfalls von einer feudalen Staatsbildung vor der zweiten Hälfte des 9. Jh. spricht. Selbst die aus der zweiten Hälfte des 9. Jh. überlieferten Ereignisse sind noch so wenig hinsichtlich klarer Merkmale eines feudalen Staatswesens profiliert, daß vorsichtiger vom Prozeß der Herausbildung des frühfeudalen Kiever Reichs seit Mitte des 9. Jh. gesprochen werden sollte. Die Kontinuität des Kiever Fürstentums braucht deshalb nicht bestritten zu werden. Aber sie war keine a priori den Keim des feudalen Reiches in sich tragende Entwicklung; vielmehr wurde Kiev auf Grund einer ganzen Kette von Ereignissen und infolge günstiger objektiver und subjektiver Voraussetzungen schließlich zum Zentrum eines Reiches, in dessen Entstehung eine neue Qualität der gesellschaftlichen Entwicklung bei den Ostslawen insgesamt zum Ausdruck kam. Dieser Umschwung vollzog sich von der Mitte des 9. Jh. an; er bedeutete die Wende von der Übergangsepoche zum Frühfeudalismus in der Rus. Auch der vorläufige Abschluß dieses Prozesses, der keinesfalls auf ein einziges Datum oder auf eine eng abgegrenzte Zeitspanne fixiert werden kann, läßt sich nach unserer Hypothese ungefähr datieren. Die innere Ausgestaltung des Kiever Staates zu einem relativ stabilen, die meisten
96 Ebenda, S. 199 ff. 97 Ljapuskin. Slavjane vostocnoj Evropy, a . a . O .
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ostslawischen Stämme umfassendem Reich vollzog sich unter der Herrschaft Igors und vor allem in der Regierungszeit Olgas (945-969), für die sich die wesentlichen Strukturen und Institutionen des frühfeudalen Großreiches erstmals klar bestimmen lassen. Die Integration der ostslawischen Stämme in einem mehr und mehr organisierten Gesamtstaat kennzeichnet die Durchsetzung der feudalen Entwicklungstendenz und schafft die Voraussetzung für deren Verwirklichung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und in allen Gebieten des Reiches. Fast zur gleichen Zeit entstanden frühfeudale Staatswesen auch in Polen, Ungarn und in den skandinavischen Ländern. In allen diesen Ländern setzte sich die zentrale frühfeudale Staatsgewalt in erbitterten Auseinandersetzungen mit den aus der Auflösung der militärischen Demokratie unmittelbar hervorgegangenen politischen Organisationsformen, den Stämmen und Stammesfürstentümern, durch. Selbst aus diesen hervorgegangen - wie z.B. das Kiever Großfürstentum aus dem Stammesbund der Poljanen - , erhielt die Zentralgewalt unter veränderten Bedingungen des Klassenkampfes bei schon fortgeschrittener Klassenspaltung, durch den Einfluß benachbarter Staatswesen und durch äußere Bedrohung eine veränderte Funktion. Der daraus erwachsende Konflikt mit den alten Institutionen erforderte die Erweiterung der eigenen Machtbasis durch Ausdehnung der Machtsphäre, durch soziale und wirtschaftliche Unterwerfung noch freier Dorfgemeinden und ganzer Stämme, durch die Heranbildung und Dotierung zuverlässiger Gefolgsleute. Auf diese Weise wurde das tributäre Abhängigkeitsverhältnis freier Dorfgemeinden 98 und unterworfener Stämme zu einer wesentlichen Form feudaler Ausbeutung. In der Diskussion um die Genesis des Feudalismus bei Ost- und Westslawen wurde mit Recht immer wieder darauf hingewiesen, daß in den Ländern außerhalb der unmittelbaren Synthese die Ausbeutung durch den relativ zentralisierten frühfeudalen Staat, der die Tendenz zur Großreichbildung gesetzmäßig in sich trägt, die primäre, zunächst dominierende Form des Feudalverhältnisses war. Erst später folgte ihr die durchgreifende "Feudalisierung von oben" auf dem Wege der Dotierung der Gefolgsleute des Herrschers, später der Kirche 99 und immer neuer Schichten von Dienstleuten und Lehnsträgern. Damit setzten sich zugleich auch in der Rus verschiedene Stufen der Vasallität und der feudalen Unter- und Überordnung durch. V.T. Pa&uto hat in einer sehr aufschlußreichen Studie nachgewiesen, daß das später im Moskauer Staat übliche Dienstverhältnis des mestniöestvo bereits in der vormongolischen Zeit existierte. Er verweist weiterhin darauf, 98 Vgl. Istorija SSSR. Bd 1, S. 354; Udal'cova Z . V . . O rabote sekcii naucnogo soveta "Genezis i razvitie feodalizma", in: Problemy vozniknovenija feodalizma, S. 22. 99 Vgl. Oudaltzova/Goutnova. S. 17 f . ; jbowmianski. S. 11 ff.
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daß sich mit der Herausbildung einer ganzen Skala von abgestuften Vasallitätsverhältnissen und den entsprechenden Formen (Treueid, Dienstpflicht usw.) in der vormongolischen Rus beim Übergang zum entwickelten Feudalismus die Institutionen des Lehnswesens genauso entwickelten wie in anderen Feudalstaaten, natürlich mit besonderen Merkmalen und Eigenarten, in der Rus als Vater-Sohn-Verhältnis, wie es sich schon in den traditionellen Bezeichnungen starsaja und mladäaja druzina und später in der Unterscheidung von Bojaren und Bojarenkindern widerspiegelt.**^ Mit der quantitativen und qualitativen Ausbreitung des Städtewesens durch fürstliche Neugründungen und Neuentwicklungen sowie durch die Intensivierung von Handel und Gewerbe, mit der Herausbildung neuer, kompakterer und wirtschaftlich, sozial und politisch stärker durchorganisierter Zentren, mit innerem und äußerem Landesausbau sowie bäuerlicher und städtischer Kolonisation vor allem im Nordosten, Nordwesten und Südwesten der Rus entwickeln sich die Grundzüge des Hochfeudalismus, wie sie in ganz Europa festzustellen 101 sind
, und gleichzeitig auch die internationalen Beziehungen der Rus. Auch in der Ausbildung verschiedener beratender und mitbestimmender Institutionen
der Feudalherren, von Fürstentagen und vertraglichen Vereinbarungen zwischen Fürsten und Vasallen sowie zwischen Fürsten bzw. der Kirche und Städten, wie sie ebenfalls von 102 Pasuto analysiert worden sind , zeigen sich die charakteristischen Merkmale der hochfeudalen Gesellschaft. Was früher im Vergleich zum Kiever Großreich oft abwertend als "feudale Zersplitterung" bezeichnet wurde, stellt sich somit als der zu den übrigen Ländern Europas zeitlich und inhaltlich parallele Übergang vom frühen zum entwickelten Feudalismus dar. Pasuto hat den Vorgang der frühfeudalen Großreichbildung und der Auflösung dieses Imperiums in kleinere, territorial organisierte Feudalstaaten auf die Auswirkungen hin untersucht, die dieser Prozeß in den sozialökonomisch und politisch weniger fortgeschrittenen nichtslawischen Gebieten der Rus hatte. Aus der Herausbildung neuer Zentren und Territorialstaaten und aus dem Klassenkampf sowie den kulturellen Leistungen der Volksmassen gingen nicht nur die Anfänge der großrussischen, der ukrainischen und der belorussischen Nation hervor, sondern bildeten sich auch die Voraussetzungen für das Zusammenleben slawischer und nichtslawischer Völker in einer fortgeschrittenen hochfeudalen Staatenwelt im großen osteuropäischen Raum. "Die barbarische Invasion der mongolischen Horden und der deutschen Ritterheere unterbrach und deformierte diesen naturhistorischen 100 Pasuto, V . T . , Certy politiceskogo stroja drevnej Rusi, in: Drevnerusskoe gosudarstvo, S. 51 ff. 101 Istorija SSSR, Bd 1, S. 574. 102 Pasuto. in: Drevnerusskoe gosudarstvo, S. 11 f f . ; vgl. auch Janin. V . L . . Problemy social'noj organizacii novgorodskoj respubliki, in: Istorija SSSR, 1970, H. 1, S. 44-54.
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Prozeß des Ausreifens selbständiger slawischer und nichtslawischer Staaten, die durch die Macht der ursprünglich einheitlichen, später feudal zersplitterten Rus verbunden waren." Da jedoch das Kiever Reich einen vorwiegend slawischen ethnischen Kern und tiefe Wurzeln in der "vorfeudalen Kolonisation des Volkes" sowie bedeutende Traditionen des gemeinsamen Kampfes der verschiedenen Völker gegen äußere Bedrohung und innere Unter103 drückung aufwies, konnten diese Ansätze nicht ausgelöscht werden. Die Unterbrechung und Deformierung des hochfeudalen Entwicklungsprozesses in Osteuropa durch äußere Invasionen, vor allem aber durch das tartaromongolische Joch, wird auch im zweiten Band der Istorija SSSR nicht expressis verbis, aber doch durch die faktische Darstellung als die wichtigste Ursache für den Entwicklungsrückstand Rußlands zu Beginn der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus angeführt. ^ ^ Cerepnin analysiert in einer sehr materialreichen Untersuchung der sozialökonomischen Entwicklung während der Periode der Einigung der russischen Länder um Moskau den sehr erschwerten Reproduktionsprozeß nach der Invasion, die besonders im städtischen Bereich verheerende Auswirkungen hatte. Während sich die Landwirtschaft durch die großen Kolonisationsleistungen der russischen Bauern relativ schnell erholen konnte, waren Handel und Gewerbe nicht nur durch die einmaligen Verluste, sondern durch die wiederholten Raubzüge der Tataren, durch die soziale und wirtschaftliche Unsicherheit und die erzwungene Abgeschlossenheit der einzelnen Wirtschaftsgebiete für lange Zeit hinter das in der vormongolischen Rus e r reichte Niveau zurückgeworfen. Die kaum betroffenen Zentren wie Novgorod und Pskov oder wie Galizien und Wolynien gerieten dagegen politisch zu sehr in die Einflußsphäre auswärtiger Mächte, als daß sie später einen geeigneten Kristallisationspunkt für die staatliche Einigung und den Unabhängigkeitskampf gegen die Tataren hätten bilden können. Dennoch entwickelte sich Rußland auch unter diesen außerordentlich schweren Bedingungen in den Grundzügen ähnlich wie die anderen europäischen Länder, allerdings auf einer bedeutend weniger eingeschränkten, eher noch stabilisierten feudalen Basis und bei schwächerer Eigenentwicklung des Bürgertums, so daß schließlich Gutsherrschaft und Leibeigenschaft besonders krasse und zählebige Formen annehmen konnten. Diese Gesamtsicht legt den Schluß nahe, daß die Stabilität der Dorfgemeinde in Rußland infolge der schwachentwickelten Marktbeziehungen und der Schwäche des Bürgertums sowie 103 PaSuto. V . T . , Osobennosti struktury Drevnerusskogo gosudarstva, in: Drevnerusskoe gosudarstvo, S. 126 f. 104 Istorija SSSR. Bd2, S. 7 f . , 47 f . , 58 ff. 105 Ebenda, S. 65 f f . , 74 ff. Vgl. Cerepnin, L . V . , Obrazovanie russkogo centralizovannogo gosudarstva, Moskau 1960.
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der noch lange wirksamen Abgeschlossenheit weiter Gebiete des riesigen Territoriums bis in die Zeit der Genesis des Kapitalismus erhalten blieb und die Dorfgemeinde vom Feudalstaat auf vielfältige Weise zur Erhaltung der Feudalordnung mißbraucht werden 4.
1 0 6
konnte. Dies führt zur eingangs gestellten Frage zurück, ob nicht auch Besonderheiten bereits der Genesis des Feudalismus diesen Prozeß mit bestimmt haben. Das betrifft selbstverständlich vor allem den Vergleich zu den Ländern der direkten Synthese mit der antiken Sklavenhaltergesellschaft. Gleichzeitig fallen in der weiteren Entwicklung Rußlands deutliche Parallelen zu den ostelbischen deutschen Gebieten auf, vor allem zu Preußen, zu den baltischen Ländern und Polen-Litauen, in denen sich ebenfalls, ohne jahrhundertelanges Tatarenjoch, Leibeigenschaft und Gutsherrschaft ausbildeten und die Genesis des Kapitalismus in ähnlicher Weise verzögert wurde bzw. auf dem "preußischen Wege", durch allmähliche Anpassung des Alten an das Neue und durch Reformen von oben, vor sich ging. Diese Entwicklung besonders hatten Marx, Engels und Lenin im Auge, als sie die Zählebigkeit und Stabilität der russischen Dorfgemeinde und ganz allgemein alle altertümlichen Organisationsformen in der Agrarstruktur des Zarenreichs und auch anderer mittel- und osteuropäischer Länder als 107 vorsintflutliche, barbarische Relikte längst überlebter Geschichtsepochen bezeichneten. Gleichzeitig gab Lenin allen jenen, die daraus in dieser oder jener Richtung eine unabänderliche und überzeitliche Prädestination Rußlands ableiten wollten, sehr deutlich zu verstehen, daß es sich hier um Relikte handelte, deren Existenz - auch wenn sie noch so hartnäckig und scheinbar stabil sein mochte - nichts am gesetzmäßigen Ablauf des in den Grundzügen der fortschreitenden universalhistorischen Entwicklung entsprechenden P r o zesses der russischen Geschichte ändern konnte. In der russischen Dorfgemeinde nur die sich seit Jahrhunderten reproduzierenden archaischen Organisationsformen zu beobachten,sei für eine wissenschaftliche ökonomische Betrachtungsweise völlig abwegig. "Für einen Ökonomen aber ist es jedenfalls ganz unstatthaft, über dem Studium der verschiedenen Arten der Bodenumteilung, ihrer Verfahrenstechnik und dgl. m. die Frage zu vergessen, welche Wirtschaftstypen sich innerhalb der Dorfgemeinde herausbilden, wie
106 Vgl. Scapov, O social'no-èkonomiceskich ukladach, a . a . O . , S. 99. 107 Vgl. unter anderem Marx, Karl. Briefentwürfe an Vera Sassulitsch, in: Marx/Engels. Werke, Bd 19, Berlin 1965, S. 398; Marx an Engels am 14. März 1968, in: Ebenda, S. 42; Lenin, W . I . . Eine Revolution vom Typus 1789 oder vom Typus 1848?, in: Werke, Bd 8, Berlin 1959, S. 249; derselbe. Die ersten Ergebnisse der politischen Gruppierung, in: Ebenda, Bd 10, Berlin 1958, S. 399; derselbe, Sozialismus und Krieg, in: Ebenda, Bd 21, Berlin 1960, S. 299.
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sich die Beziehungen gestalten zwischen denen, die Lohnarbeiter beschäftigen, und denen, die sich zu schwerer Arbeit verdingen, zwischen Wohlhabenden und Armen, zwischen denen, die ihre Wirtschaft vervollkommnen und technische Verbesserungen einfuhren, und 108
denen,die verelenden, ihre Wirtschaft aufgeben und aus dem Dorfe abwandern." Diese auf die Herausbildung des Kapitalismus bei starken retardierenden Relikten der voraufgegangenen Perioden bezogenen methodischen Hinweise gelten genauso auch für das Problem der Genesis des Feudalismus unter den oben ausgeführten Bedingungen starker fortbestehender gesellschaftlicher Beziehungen aus anderen Formationen. Entscheidend bleibt also die Frage, was innerhalb und außerhalb der sich differenzierenden urgemeinschaftlichen Verhältnisse vor sich ging, wie. die beginnende Klassenteilung ihre schließlich dominierende feudale Tendenz bekam und welche wirtschaftlichen, sozialen und politischen Faktoren diese Tendenz durchsetzten. Auf Grund einer sorgfältigen Abwägung der verschiedenen Argumente erscheint die Annahme eines frühklassengesellschaftlichen Entwicklungsstadiums zwischen der Zersetzung der Urgesellschaft und der feudalen Staatsbildung, dem revolutionären Umschlag zur Herrschaft des Feudalismus, als nützliche Arbeitshypothese für eine Erklärung dieser Vorgänge. Dieses Entwicklungsstadium wird erstens dadurch gekennzeichnet, daß die patriarchalische Sklaverei und verwandte ursprüngliche Formen der Knechtschaft und persönlichen Abhängigkeit sowie die sie repräsentierenden gesellschaftlichen Schichten zu Beginn der Klassenteilung die Herausbildung von Ansätzen eines privaten frühfeudalen Grundbesitzes noch eindeutig überwogen. Die patriarchalische Sklaverei war wahrscheinlich auch für die direkt aus der inneren Differenzierung der Dorfgemeinde hervorgegangenen Ausbeutungsverhältnisse in ihrem ersten Stadium typisch. Zweitens wirkte die "übergreifende" Ausbeutungsfunktion des Staates bzw. der verschiedenen zur Staatsbildung hinführenden Formen der Macht als maßgebliche Vorstufe der Feudalisierung der noch lange sehr stabilen urgesellschaftlichen Dorfgemeinde, die gleichzeitig die Voraussetzungen der Klassenteilung und eine anhaltende Reproduktion ihrer auf dem Gemeineigentum basierenden Struktur hervorbrachte. Der Feudalismus setzte sich dann mit und nach der Staatsbildung durch im Ergebnis einer Verflechtung und Überlagerung dieser verschiedenen Entwicklungstendenzen als diejenige Ordnung, die die Notwendigkeit der Eigeninitiative des unmittelbaren Produzenten bei der Erhaltung von Ackerbau, Viehzucht und Handwerk am zweckmäßigsten mit den E r fordernissen der Klassenspaltung verband.
108 Derselbe, Die Agrarfrage in Rußland am Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Ebenda, Bd 15, Berlin 1962, S. 84.
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Wolfgang Küttler Schließlich wurde dieses Entwicklungsstadium durch den Hauptwiderspruch zwischen
den entstandenen Ausbeutungsformen der patriarchalischen Sklaverei und erster Keimformen von Feudalverhältnissen sowie der aus der militärischen Demokratie und den politischen Zusammenschlüssen von Stämmen zu Stammesbünden hervorgegangenen Frühformen einer staatlichen Gewalt auf der einen und den noch mehr oder weniger freien Dorfgemeinden sowie den fortbestehenden Institutionen der Gentilverfassung auf der anderen Seite bestimmt. Es hatte nicht den Charakter einer eigenen Formation, wies aber gegenüber dem voraufgegangenen Zerfallsstadium der Urgesellschaft und gegenüber dem nachfolgenden Feudalismus stark ausgeprägte Besonderheiten auf. Es handelte sich also um ein Übergangsstadium, das größere Selbständigkeit besaß als die Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus, weil die Voraussetzungen zur Umwandlung in die nächsthöhere Gesellschaftsordnung durch die spontane Evolution allein nicht geschaffen werden konnten. Für die dem Feudalismus voraufgehende Periode bei den Ostslawen und in anderen nicht durch die unmittelbare Synthese geprägten Bereichen ist folglich zu prüfen, ob sie allein mit dem Zerfallsprozeß der Urgesellschaft eindeutig genug und mit der Bezeichnung "vorfeudal" überhaupt richtig bestimmt werden kann. Da mehrere gesellschaftliche Entwicklungsformen nebeneinander erkennbar sind, erscheint die Bezeichnung als Frühstadium der klassengesellschaftlichen Entwicklung 1 ^ richtiger, da dieser Prozeß kaum von vornherein der Kategorie Feudalismus subsumiert werden kann. Schließlich müßte die Grekovsche Synthesetheorie, die unseres Erachtens auch bei Berücksichtigung der im ostlsawischen Gebiet weniger direkten Einwirkung der Antike viele Argumente für sich hat, durch neue konkrete Forschungen und im Zusammenhang mit der Diskussion um die Besonderheiten des europäischen Entwicklungstyps des Feudalismus nochmals überprüft werden. Dabei ist vor allem die Frage einer indirekten, vermittelten Synthese auch für den Vergleich mit anderen europäischen Ländern wichtig. Die vorstehenden Ausführungen sind, wie schon betont, als Fragen mit dem Ziel der schärferen Problemstellung gedacht und sollen dazu beitragen, Wege zu finden, wie der Prozeß der Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen stärker als bisher unter dem universellen Aspekt des Vergleichs früher klassengesellschaftlicher Entwicklungen und der in ihnen angelegten Alternativen analysiert werden kann. Auch wenn man die notwendige Vorsicht gegenüber extremen Lösungsvorschlägen walten läßt, bleiben Probleme offen,
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Diesen Terminus verwendet Herrmann. Joachim. Anfänge und Grundlagen der Staatsbildung bei den slawischen Stämmen westlich der Oder, in: ZfG, 1967, H. 3, S. 446, und unterstreicht die Parallelen zu den Verhältnissen bei den Germanen "vor der fränkisch-romanischen Synthese" (vgl. Die Slawen in Deutschland. S. 200).
Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen
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die nur durch neue Forschungen und eine nochmalige Überprüfung der vorhandenen F o r schungsergebnisse und Verallgemeinerungen zu lösen sind - eine Aufgabe, die wiederum ohne enge Zusammenarbeit von Fachleuten aus verschiedenen Fachgebieten, vor allem Althistorikern, Archäologen, Orientalisten, Mediävisten und Philologen, nicht bewältigt werden kann und die für die allgemeine Diskussion um Begriff und Typen des Feudalismus in der Weltgeschichte sehr bedeutsam ist.
INGRID MITTENZWEI
Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus in Brandenburg-Preußen
Im Jahre 1928 regte auf dem VI. Internationalen Historikerkongreß in Oslo der französische Historiker Michel Lhöritier die Bildung einer Internationalen Kommission zur Geschichte des aufgeklärten Absolutismus a n . 1 Die im Anschluß daran geführte internationale Diskussion und die im Verlaufe der Debatte vorgetragenen Versuche zur Deutung dieses Phäno2
mens
zeugen vom außerordentlichen Interesse, das die bürgerliche Geschichtswissen-
schaft nach den Erschütterungen des imperialistischen Systems im ersten Weltkrieg und dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution diesem Problem entgegenbrachte. Dabei war es eindeutig die Tatsache, daß es in der Geschichte der Menschheit zu unterschiedlichen Zeiten Herrscher gegeben hat, die Veränderungen im Leben der Gesellschaft auf evolutionärem Wege, über Reformen von oben, herbeiführten, die das Bedürfnis nach einer Beschäftigung mit diesem Fragenkomplex weckte. Seit dieser Diskussion ist das Interesse am aufgeklärten Absolutismus nicht erloschen. Zwar gab es Zeiten, so während des Faschismus und des zweiten Weltkrieges, in denen es zurücktrat. Doch rückte es nach der Katastrophe des deutschen Imperialismus im zweiten Weltkrieg und den in seinem Gefolge auftretenden sozialen Umwälzungen in einigen europäischen Ländern wieder in das Blickfeld der bürgerlichen Geschichtswissenschaft. Aller3 dings entstanden kaum neue, umfassende Arbeiten. Dafür aber gab es höchst selten eine Publikation über historische Entwicklungen In der zweiten Hälfte des 18. J h . , in der nicht Gedanken über den aufgekärten Absolutismus geäußert worden wären. Es ist auffällig, daß die Tendenz eines unhistorischen Herangehens an dieses Problem, die während der inter-
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Lhéritier, Michel, Le rôle historique du despotisme éclairé, particulièrement au XVIIIe siècle, in: Bulletin of the International Committee of Historical Sciences (im folgenden: Bulletin), Bd 1, Washington 1929, S. 612. Über diese Diskussion vgl. Mittenzwei. Ingrid, Über das Problem des aufgeklärten Absolutismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (im folgenden: ZfG), 1970, H. 9, S. 1163.
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Ingrid Mittenzwei
4 nationalen Diskussion deutlich hervortrat , heute weitgehend überwunden ist. Der aufgeklärte Absolutismus wird als eine Erscheinung des 18. Jh. begriffen; Aufklärung und Absolutismus werden in einen direkten Zusammenhang gebracht. Das hat zur Folge, daß die von gegenwärtigen Entwicklungen ausgehende Fragestellung Reform oder Revolution zum eigentlichen Drehpunkt aller Erörterungen über den aufgeklärten Absolutismus geworden ist. Denn wenn, wie das durchaus richtig ist, der aufgeklärte Absolutismus als eine Erscheinung begriffen wird, die in die zweite Hälfte des 18. Jh. gehört, dann wird eine Einordnung in die sich während dieser Zeit in Europa vollziehenden Prozesse unumgänglich, dann bietet sich ein Vergleich mit der Französischen Revolution geradezu an. Nicht daß ein solcher Vergleich überhaupt gezogen wird, ist deshalb einer Auseinandersetzung wert, sonder» der offensichtliche Vorrang, der der angeblich reformerischen vor der in Frankreich vollzogenen revolutionären Lösung eingeräumt wird. Fritz Härtung, der sich bereits an der internationalen Diskussion Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre beteiligt hat^ und im Grunde genommen bis heute auf 6 seinen damals eingenommenen Positionen verblieb , betrachtet den aufgeklärten Absolu7 tismus "als Abschwächung, als die Endphase" der absoluten Monarchie . Der schon Ende des 18. Jh. aufgestellten Behauptung, daß die heilsame Revolution, die die Franzosen von unten nach oben gemacht hatten, gsich in Preußen allmählich von oben nach unten vollziehen würde, stimmt Härtung nicht zu.
Gerade diese im Jahre 1799 vom preußischen Minister
Struensee vertretene Auffassung aber ist in letzter Zeit in der imperialistischen Geschichtsschreibung mehr und mehr zur dominierenden geworden. Der aufgeklärte Absolutismus wird als eine Art "Revolutionsersatz" gesehen. So glaubt Georg Grüll, daß Maria Theresia und besonders Joseph n . über die "dräuende Revolution von unten, die in Frankreich einen blutigen Sieg errungen hatte", durch die "Revolution
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In diesem Zusammenhang kann nur auf Lefêbvre. Georges. Le despotisme éclairé, in: Annales historiques de la Révolution française, Paris 1949, S. 97-115, und auf Morazé. Charles, Finance et despotisme. Essai sur les despotes éclairés, in: AnnalesEconomies-Sociétés-Civilisations, Bd 3, Paris 1948, S. 279-296, verwiesen werden. Vgl. hierzu Mittenzwei, in: ZfG, 1970, H. 9, S. 1163. Härtung, Fritz. Die geschichtliche Bedeutung des aufgeklärten Despotismus in Preußen und in den deutschen Kleinstaaten, in: Bulletin, Bd 9, Washington 1937, S. 3-21. Das zeigen sein Aufsatz "Der aufgeklärte Absolutismus", in: Historische Zeitschrift (im folgenden: HZ), Bd 180, 1955, S. 15-42, sowie der unveränderte Abdruck dieses Artikels in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates, hg. von Hanns Hubert Hofmann, Köln-(West-)Berlin 1967, S. 152-172. Ebenda, S. 171. Ebenda, S. 172.
Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus von oben" gesiegt hätten.
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Karl-Heinz Osterloh faßt in seiner Studie über den österreichi-
schen Aufklärer Joseph von Sonnenfels, auf Resultate der Revolution von 1848 verweisend, zusammen, was für ihn das Wesen des aufgeklärten Absolutismus ausmacht: "Damit war das Ende einer Epoche erreicht, die selbst ihre historische Aufgabe darin gesehen hatte, den Durchbruch zur modernen Welt, der anderswo zum revolutionären Bruch mit der ständisch-monarchischen Tradition geführt hatte, auf dem Wege einer systemimmanenten Evolution zu e r r e i c h e n . K a r l Otmar v. Arentin schließlich bezeichnet den aufgeklärten Absolutismus als "die deutsche Form der Revolution" 1 *. Insofern seien Französische Revolution und aufgeklärter Absolutismus zwei Lösungen ein und desselben Problems, und er empfiehlt den Historikern, sich ausgangs des 18. J h . doch mehr mit den herrschenden 12
Kräften zu beschäftigen. Dies sei wichtiger als ein Aufspüren revolutionärer Elemente. Man geht sicher nicht fehl, wenn man das außerordentliche Interesse an der Reformpolitik absoluter Herrscher in der Spätphase des feudalen Staates mit den historischen Erfahrungen in Zusammenhang bringt, die diese Ideologen des Imperialismus in der Gegenwart sammeln mußten. Die Furcht vor den revolutionären Erschütterungen unserer Zeit veranlaßte sie, sich verstärkt solchen historischen Perioden zuzuwenden, die die scheinbare Vermeidbarkeit von Revolutionen beweisen, in denen sich die herrschende Klasse angeblich Mäßigung auferlegte und durch "kluge" Reformpolitik dazu beitrug, den "sozialen Frieden" zu erhalten. Obwohl nicht erst in den letzten ein bis zwei Jahren hervortretend, sind diese Ansichten Einstimmung und Frucht der augenblicklich in Westdeutschland zwar stark angefochtenen, aber immer hoch vorherrschenden politischen Linie. Für "den langen Weg der Reformen", auf den sich nach den Worten des derzeitigen Bundespräsidenten Heinemann die SPD begeben hat, bedarf es historischer Vorbilder. Daß sowohl während der internationalen Debatte über den aufgeklärten Absolutismus als auch in den darauf folgenden Publikationen niemals die Frage nach den Ursachen für das Aufkommen dieser Staatsform gestellt wurde, ist symptomatisch für die bürgerliche Geschichtsschreibung. Die Beantwortung gerade dieser Frage aber, die von marxistischen Historikern aufgeworfen wurde, ist geeignet, das Wesen der mit dem Terminus "aufge-
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11 12
Grüll, Georg, Bauer, Herr und Landesfürst. Sozialrevolutionäre Bestrebungen der oberösterreichischen Bauern von 1650 bis 1648, Linz 1963, S. 363. Osterloh. Karl-Heinz. Joseph von Sonnenfels und die österreichische Reformbewegung im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Eine Studie zum Zusammenhang von Kameralwissenschaft und Verwaltungspraxis, Lübeck-Hamburg 1970, S. 261 = Historische Studien, hg. von Wilhelm Berges, Otto Brunner u . a . , H. 409. Arentin, Karl Otmar v . . Heiliges Römisches Reich 1776-1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, Teil 1, Wiesbaden 1967, S. 108. Ebenda, S. 107.
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Ingrid Mittenzwei
k l ä r t e r A b s o l u t i s m u s " bezeichneten Veränderungen bloßzulegen. Ausgangspunkt f ü r jeden V e r s u c h e i n e r Definition des a u f g e k l ä r t e n A b s o l u t i s m u s muß die u n b e s t r e i t b a r e T a t s a c h e s e i n , daß auch a u f g e k l ä r t e r A b s o l u t i s m u s A b s o l u t i s m u s i s t . Die K l a s s i k e r des M a r x i s m u s - L e n i n i s m u s haben s i c h n u r in a n d e r e n Zusammenhängen, sozusagen am Rande, m i t dem aufgeklärten A b s o l u t i s m u s b e s c h ä f t i g t . Marx ging auf ihn bei d e r C h a r a k t e r i s i e r u n g d e s politischen Standorts s o l c h e r Männer wie d e r Spanier F l o r i d a b i a n c a und J o v e l l a n o s ein, wobei e r e r s t e r e n a l s " V e r t r e t e r d e s a u f g e k l ä r t e n D e s p o t i s m u s " b e z e i c h n e t e , "den ein P o m b a i , ein F r i e d r i c h I I . , ein J o s e p h II. v e r t r a t "
13
.
Engels benutzte diesen Begriff g l e i c h f a l l s z u r Kennzeichnung J o s e p h s II. E r wandte ihn d a r ü b e r hinaus auf einige F ü r s t e n k l e i n e r e r d e u t s c h e r T e r r i t o r i a l s t a a t e n und auf K a t h a 14 rina II. a n . Lenin schließlich s p r a c h im Zusammenhang mit d e r Entwicklung d e s r u s s i 15 sehen Staates Uber einzelne P e r i o d e n d e s " a u f g e k l ä r t e n " A b s o l u t i s m u s . Diese B e m e r k u n g e n d e r K l a s s i k e r l a s s e n nicht n u r Schlußfolgerungen auf den P e r s o n e n k r e i s zu, auf den s i e den Begriff des aufgeklärten A b s o l u t i s m u s b z w . Despotismus a n wandten, s o n d e r n auch ü b e r den h i s t o r i s c h e n P l a t z d i e s e r P h a s e g e s e l l s c h a f t l i c h e r Entwicklung. F ü r Lenin w a r d e r a u f g e k l ä r t e A b s o l u t i s m u s eine P e r i o d e d e r " S e l b s t h e r r s c h a f t " , also des A b s o l u t i s m u s , und M a r x verwies bei d e r C h a r a k t e r i s i e r u n g d e r obengenannten P e r s o n e n d a r a u f , daß s i e einen Gegensatz r e p r ä s e n t i e r t e n , " d e r noch j e n e r Epoche des 18. J h . a n g e h ö r t e , die dem Z e i t a l t e r d e r F r a n z ö s i s c h e n Revolution v o r a n g i n g " 1 ^ . Diese Zuordnung zum A b s o l u t i s m u s und in die Zeit v o r d e r F r a n z ö s i s c h e n Revolution w a r f ü r die m e i s t e n m a r x i s t i s c h e n H i s t o r i k e r , die sich mit dem a u f g e k l ä r t e n A b s o l u t i s m u s b e s c h ä f 17 tigten, methodologischer Ausgangspunkt i h r e r Überlegungen. Neue A n s ä t z e z u r Klärung d e s s e n , was m a n u n t e r a u f g e k l ä r t e m A b s o l u t i s m u s zu v e r stehen habe, wurden in d e r seit 1968 in d e r s o w j e t i s c h e n G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t g e f ü h r 18 ten Diskussion g e m a c h t .
Da Rußland im 18. J h . im V e r h ä l t n i s zu solchen e u r o p ä i s c h e n
Ländern wie England und F r a n k r e i c h in s e i n e r sozialökonomischen Entwicklung z u r ü c k g e blieben w a r , m a n die gleiche F e s t s t e l l u n g , wenn auch mit A b s t r i c h e n , f ü r viele deutsche
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15 16
M a r x . K a r l . Das r e v o l u t i o n ä r e Spanien, in: M a r x / E n g e l s , W e r k e , Bd 10, B e r l i n 1961, S. 450. E n g e l s . F r i e d r i c h , Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: Ebenda, Bd 8, B e r l i n 1960, S. 33: d e r s e l b e . V a r i a ü b e r Deutschland, in: Ebenda, Bd 18, B e r l i n 1962, S. 593; d e r s e l b e . Was hat die A r b e i t e r k l a s s e m i t Polen zu t u n ? , in: Ebenda, Bd 16, B e r l i n 1962, S. .161. Lenin. W . I . . Wie die Sozialrevolutionäre aus d e r Revolution Bilanz ziehen, in: Lenin, W . I . , W e r k e , Bd 15, Berlin 1962, S. 335. M a r x . K a r l . D a s r e v o l u t i o n ä r e Spanien, in: M a r x / E n g e l s , W e r k e , Bd 10, S. 450.
Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus
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Territorialstaaten treffen muß, ergaben sich in der Diskussion zahlreiche Möglichkeiten des historischen Vergleichs und schließlich auch der Versuch einer Typisierung des europäischen Absolutismus. Die von A . N . Cistozvonov entwickelte These von den zwei Ent19 Wicklungsvarianten des europäischen Absolutismus , deren zweite von Wolfgang Küttler folgerichtig mit der Herausbildung kapitalistischer Elemente im europäischen Maßstab in 20 Zusammenhang gebracht wurde
, war der entscheidende Ansatzpunkt für das Verständnis
des Absolutismus in solchen Ländern, in denen die sozialökonomischen Voraussetzungen für seine Entstehung im Innern nur schwach herangereift waren. Führt man die Gedanken Cistozvonovs und Küttlers noch ein wenig weiter und wendet man die von Marx gegebene Einschätzung, nach der die "absolute Monarchie in den Über21
gangsperioden erscheint"
, mit dem geschärften Blick eines Zeitgenossen einer neuen,
von revolutionären Übergängen gekennzeichneten Geschichtsepoche schöpferisch an, so kann man die Herausbildung des Absolutismus in I.ändern mit schwacher kapitalistischer Entwicklung als einen in der Übergangsperiode vom Feudalismus zum Kapitalismus auftretenden, unter dem Zwang des Nebeneinanderbestehens von kapitalistischer und feudaler
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Vgl. dazu unter anderen Sashegyi, Oskar, Zensur und Geistesfreiheit unter Joseph II. Beitrag zur Kulturgeschichte der habsburgisehen Länder, Budapest 1958, S. 4 f f . = Studia Historica Academiae Scientiarum Hungaricae, Bd 16; Schlechte, Horst, Die Staatsreform in Kursachsen 1762-1763. Quellen zum Kursächsischen Retablissement nach dem Siebenjährigen Kriege, Berlin 1958, vor allem die Einleitung, S. 5 f f . ; Hess, Ulrich. Geheimer Rat und Kabinett in den Ernestinischen Staaten Thüringens. Organisation, Geschäftsgang und Personalgeschichte der obersten Regierungssphäre im Zeitalter des Absolutismus, Weimar 1962, S. 167 f f . = Veröffentlichungen des Thüringischen .Landeehauptarchivs Weimar, Bd 6; Schilfert. Gerhard, Deutschland 1648-1789. Lehrbuch der deutschen Geschichte (Beiträge), 2. veränd. Aufl., Berlin 1963, S. 156 f f . ; Hoffmann. Peter. Aufklärung, Absolutismus, aufgeklärter Absolutismus in Rußland, in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Bd 4, Berlin 1970, S. 9 f f . = Veröffentlichungen des Instituts für Slawistik, Nr 28/IV.
Avrech, A.Ju.. Russkij absoljutizm i ego rol' v utverzdenii kapitaliszma v Rossii, in: Istorija SSSR, 1968, H. 2, S. 82 f f . (Dt. Übersetzung: Awrech. A.Ju.. Der Absolutismus und seine Rolle bei der Herausbildung des Kapitalismus, in: Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 1969, H. 2, S. 166 f f . ) Cistozvonov. A . N . . Nekotorye aspekty problemy genezisa absoljutizma, in: Voprosy istorii, 1968, H. 5, S. 46 f f . : Sapiro. A . L . . Ob absoljutizme v Rossii, in: Istorija SSSR, 1968, H. 5, S. 75 f f . ; Pavlova-Sil'vanskaia. M . P . . K voprosu ob osobennostjach absoljutizma v Rossii, in: Ebenda, H. 4, S. 82 f f . 19 Cistozvonov. in: Voprosy istorii, 1968, H. 5, S. 62. 20 Küttler. Wolfgang, Gesellschaftliche Voraussetzungen und Entwicklungstyp des Absolutismus in Rußland, in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd 13/2, Berlin 1969, S. 94. 21 Marx. Karl. Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral, in: Marx/Engels. Werke, Bd 4, Berlin 1959, S. 346.
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Ingrid Mittenzwei
Ordnung in Europa notwendig gewordenen Versuch der Anpassung des veralteten Herrschaftsapparates an die neuen, im europäischen Maßstab wirkenden bzw. sich entwickelnden Gesetzmäßigkeiten ansehen. Dabei sind die jeweiligen Vermittlungslinien, die konkreten Erscheinungsformen dieser Einwirkung natürlich vom Historiker für jedes Land detailliert zu untersuchen. Faßt man den Absolutismus so auf, dann ist auch das Problem des aufgeklärten Absolutismus relativ leicht zu lösen, dann handelt es sich beim aufgeklärten Absolutismus um einen Versuch, den bereits absolutistischen Machtapparat den Bedingungen des sich im europäischen Maßstab u.a. durch das Aufkommen der Aufklärung zuspitzenden Widerspruchs zwischen der sich entwickelnden Bourgeoisie und dem Feudalabsolutismus im Interesse der weiteren MachtausUbung durch die herrschende Klasse anzupassen. Dabei können der Grad dieser Anpassung und seine Formen äußerst verschiedenartig sein. Wahrscheinlich haben wir es mit einem ähnlichen Prozeß zu tun, der heute die Monopolbourgeoisie zwingt, auf die veränderten Bedingungen in der Welt in dieser oder jener Form zu reagieren. Gerhard Schilfert hat die sehr zutreffende Beobachtung gemacht, daß es aufgeklärten 22
Absolutismus nur in relativ zurückgebliebenen Staaten gab.
Tatsächlich stoßen wir auf die-
se Erscheinung vor allem in einigen deutschen Territorialstaaten, allen voran in Preußen und in Österreich, aber auch in Rußland. Bezeichnenderweise gab es auf den Historikerkongressen, die sich mit dem aufgeklärten Absolutismus beschäftigten, keinen englischen Rapport, während im holländischen festgestellt wurde, daß der aufgeklärte Absolutismus 23 keine Frucht holländischen Bodens sei. Auch in Frankreich entstand kein aufgeklärter 24 Absolutismus als Regierungsform.
Dafür kam dort bei den Frühaufklärern die Idee vom
aufgeklärten Königtum auf, die von den Physiokraten in anderer Form wiederaufgenommen wurde. Fragt man nach den Ursachen für das Aufkommen dieser Erscheinung lediglich in der Theorie, so stößt man auf die für das Verständnis des aufgeklärten Absolutismus entscheidende Frage nach dem Kräfteverhältnis zwischen Bürgertum und Absolutismus. Die Frühaufklärung in Frankreich kam gerade - und nicht zufällig - in dem Moment auf, als der Absolutismus seinen Höhepunkt überschritt. "Die Zeit der Aufklärung beginnt mit dem Zusammenbruch der überspannten Kriegs- und Finanzpolitik des allzu langlebigen Sonnen-
22 23 24
Schilfert, S. 157. Goslinga. Adriaan, Der aufgeklärte Absolutismus in Holland, in: Bulletin, Bd 9, S. 78. Vgl. hierzu Olivier. Martin, Les pratiques traditionelles de la royauté française et le despotisme éclairé, in: Ebenda, Bd 5, Washington 1933, S. 701 f f .
Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus
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25 königs", schrieb der Kenner der französischen Aufklärung, Werner Krauss.
Die sozialen
Voraussetzungen der französischen Aufklärung waren sowohl der Niedergang des absolutistischen Regimes als auch der Aufstieg des französischen Bürgertums. In den von den Frühaufklärern entwickelten Vorstellungen über die Gesellschaft hatte auch die Frage nach den Möglichkeiten der von ihnen angestrebten Umgestaltung Platz. Es entspricht dem im Vergleich zur zweiten Hälfte des 18. Jh. noch nicht kräftig genug entwickelten Selbstbewußtsein, daß einige Frühaufklärer, besonders Voltaire, diese Umgestaltung innerhalb der herrschenden Monarchien glaubten herbeiführen zu können. Noch nicht entwickelt genug, um in der Theorie andere Formen der gesellschaftlichen Umgestaltung konzipieren zu können, war der Widerspruch zwischen Bürgertum und Absolutismus andererseits bereits so weit entwickelt, daß sich die von den Aufklärern angestrebten Veränderungen in Frankreich selbst nicht mehr verwirklichen ließen. Davon zeugen die Verfolgungen, denen die Aufklärer ausgesetzt waren, die Verbote ihrer Werke. Die Blicke der Aufklärer richteten sich daher auf andere Staaten Europas. Im Vergleich zu Frankreich waren die deutschen Territorialstaaten, einschließlich Preußens, wirtschaftlich zurückgeblieben. Demzufolge war auch der Prozeß der Herausbildung der neuen Bourgeoisklasse nicht so weit fortgeschritten wie in Frankreich. Auch 26
der Absolutismus war, worauf Marx besonders hinweist
, in Deutschland später entstan-
den als in Frankreich, weshalb seine Wirkungsmöglichkeiten im Innern noch nicht e r schöpft waren. Das Verhältnis zwischen Bürgertum und Absolutismus war noch nicht so zugespitzt wie in Frankreich. Indes begann die aufkommende Bourgeoisie, auf wirtschaftspolitischem und ideologischem Gebiet Ansprüche geltend zu machen. Diese stellten die Herrschaft des Absolutismus in Deutschland zwar noch nicht in Frage, blieben aber auch nicht ohne Wirkung auf die Gesellschaft. Diese besondere Situation, die durch erste Regungen des Bürgertums auf wirtschaftspolitischem und ideologischem Gebiet charakterisiert wird, bereitete den Boden, auf dem die Einflüsse des erstarkenden französischen Bürgertums wirksam werden konnten, wirksam auf das Bürgertum selbst, aber auch auf Teile der herrschenden Klasse. Friedrich II. hatte schon während seiner Kronprinzenzeit Beziehungen zu französischen Frühaufklärern geknüpft. Beschäftigt man sich mit seinen literarischen Produkten aus dieser Zeit, besonders mit dem "Antimachiavell", aber auch mit dem Briefwechsel Friedrichs mit Voltaire, so springt sofort ein Umstand ins Auge, der von der bürgerlichen 25 Krauss. Werner, Studien und Aufsätze, Berlin 1959, S. 196 = Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd 8. 26 Marx, Die moralisierende K r i t i k . . . , in: Marx/Engels, Werke, Bd 4, S. 346.
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Ingrid Mittenzwei
Geschichtsschreibung bisher völlig übersehen wurde: die Umfunktionierung der trotz aller Differenzierungen ihrem Wesen nach bürgerlichen Theorie vom Gesellschaftsvertrag im feudalen Sinne. Nachdem sich Friedrich im ersten Kapitel des "Antimachiavell" zur Lehre vom Gesellschaftsvertrag bekannt und erklärt hatte, daß sie Grundlage seiner folgenden Darlegungen sei, benutzte er diese Lehre zur theoretischen Begründung seines Machtanspruchs, indem er erstens unter allen möglichen Regierungsformen, einschließlich der 27 republikanischen, die monarchische für die beste erklärte , indem er zweitens unter den monarchischen der Selbst regierung der Fürsten, also dem Absolutismus, den Vorrang 28
gab
und indem er drittens die sich für ihn aus dem Gesellschaftsvertrag ableitende Ver-
pflichtung des Fürsten, "sein Volk glücklich zu machen", als das beste Mittel ansah, Aufruhr zu vermeiden. "Ein zufriedenes Volk wird niemals an Aufruhr 29 denken, ein glückliches Volk bangt vor dem Verlust seines Herrschers", schrieb e r .
Und er führte zum
Beweis seiner These bezeichnenderweise ein Ereignis aus dem 17. Jh. an: "Nie hätten sich die Holländer gegen die Spanier erhoben, hätte nicht die Gewaltherrschaft der Spanier 30 so alles Maß überschritten."
Die alles Maß überschreitende Gewaltherrschaft war es
also, die nach Friedrichs Meinung zu Aufruhr führte und in dem von ihm gebrauchten Beispiel - wie wir heute wissen - zur bürgerlichen Revolution. Revolutionäre Erhebungen zu vermeiden,war das eigentliche Ziel der Beschränkungen, die sich ein aufgeklärter Fürst auferlegen sollte. Zwar glaubte der Kronprinz, "daß es mit der 31 Mode der Aufstände und Revolutionen in unseren Tagen völlig vorbei zu sein scheint" , doch zog sich der Gedanke, so zu regieren, daß keine Ursachen für Aufruhr entstehen, durch den ganzen "Antimachiavell" Auch in seinen späteren Arbeiten, in den "Politischen Testamenten", in seinen beiden Pamphleten aus dem Jahre 1770, die eine Antwort auf die in ihren gesellschaftlichen Konsequenzen radikaler gewordene französische Spätaufklärung darstellten, sowie in seiner Arbeit "Regierungsformen und Herrscherpflichten" war dieser Gedanke stets relevant. Als Du Marsais in seinem 1769 von Holbach herausgegebenen "Essai sur les 32 préjugés"
die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frankreich einer scharfen Kritik unter-
zog und dabei auch vor dem König nicht haltmachte, fühlte sich Friedrich II. verpflichtet, für diesen in die Schranken zu treten. Wie 17 Jahre später Joseph II. anläßlich der belgischen 27
Die Werke Friedrichs des Großen. In deutscher Übersetzung, Bd 7: Antimachiavell und Testamente, hg. von Gustav Berthold Volz, Berlin 1913, S. 8. 28 Ebenda, S. 92. 29 Ebenda, S. 8. 30 Ebenda. 31 Ebenda, S. 69. 32 Zum Werk und zu seinem Verfasser vgl. Krauss. Werner. Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin 1963, S. 273 f f . = Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft. Bd 16.
Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus
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Uuruhen von den regierenden Häuptern Europas erwartete, daß es ihnen naheginge, wenn 33 seine, Josephs, Autorität untergraben würde , so reagierte Friedrich II, bereits 1770, als die radikaler werdenden französischen Aufklärer den französischen König angriffen. Mit seinem Gespiir für die Konsequenzen und die Tragweite dieser Angriffe übte der preußische König "Solidarität" mit dem attackierten Haupt der französischen Monarchie. Dabei entwickelte e r Auffassungen, die zwar nicht neu waren, ihre Schärfe jedoch aus der Situation heraus, eingesetzt zur Verteidigung des "ancien régime", erlangten. "Wie, Herr Philosoph", so wandte sich Friedrich an den Autor des "Essai sur les préjugés", "Sie Schützer der Sitten und der Tugend, wissen Sie nicht, daß ein guter Bürger die Regierungsform, unter der er lebt, achten soll? Wissen 34 Sie nicht, daß es einem Bürger nicht zukommt, die Machthaber zu beschimpfen... ?" Hatte die Fiktion vom Gesellschaftsvertrag dem preußischen Kronprinzen noch zur theoretischen Begründung seines Herrschaftsanspruchs gedient, hier wurde sie als Waffe gegen ihre eigenen radikalen Verfechter eingesetzt. Dem Volk, das nach der Idee vom Gesellschaftsvertrag die Macht an die Fürsten übertrug, wurde von Friedrich II. Achtung vor der einmal existierenden Regierungsform abverlangt. Kritik wurde ihm verwehrt. Daß dem preußischen König die ursprünglich bürgerliche Idee vom Gesellschaftsvertrag nun nicht mehr nur zur Begründung, sondern zur Verteidigung seiner Herrschaft diente, wird im weiteren ganz offensichtlich. Schon durch seine beiden "Politischen Testamente" zog sich wie ein roter Faden der Gedanke, daß es wichtigste Aufgabe der preußischen Herrscher sei, den bestehenden sozialen Aufbau der Gesellschaft zu konservieren. Stets verteidigte Friedrich II. in Theorie und Praxis die Vorrechte des Adels. Und so ist es nur folgerichtig, wenn e r in seiner "Kritik der Abhandlung 'Über die Vorurteile'" sagte: "Wo die Rechte der Geburt nicht anerkannt werden, lebt nicht philosophische F r e i 35 heit, sondern kleinbürgerliche und lächerliche Eitelkeit." Deutlicher kann man es nicht ausdrücken: Philosophische Freiheit, wie sie Friedrich II. verstand, hatte von der bestehenden Ordnung auszugehen, mußte in ihrem Rahmen bleiben. Was Friedrich II. in dieser Schrift noch nicht vollkommen offen, sondern nur im Untertext aussprach, das wurde zum Hauptanliegen seiner im gleichen Jahr verfaßten "Kritik des 'Systems der Natur'". Holbachs "Système de la nature", mit dem das
33 Vgl. Mitrofanov. Paul v . , Joseph n . Seine politische und kulturelle Tätigkeit, 1. Teil, Wien 1910, S. 235. 34 Die Werke Friedrichs des Großen, Bd 7, S. 244. 35 Ebenda, S. 245.
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materialistische Denken der französischen Aufklärung seinen Höhepunkt erreichte 36 , hatte bei Freund und Feind Aufsehen erregt. Zu denen, die es scharf zurückwiesen, gehörte Friedrich II. Vier Hauptpunkte habe der Verfasser des "Système de la nature" in seinem Werk behandelt. Vor allem der vierte rief den Zorn des königlichen Philosophen hervor, weshalb er selbst diesen Abschnitt mit den Worten "die Herrscher als Ursachen allen 37 Unglücks des Staates" umschrieb. Es war vor allem die aus der Lehre vom Gesellschaftsvertrag gezogene revolutionäre Schlußfolgerung von der Kündbarkeit des Vertrages durch das Volk, die Friedrich zurückzuweisen beabsichtigte. "Sollten die verstiegenen Ideen unseres Philosophen jemals in Erfüllung gehen", schrieb er, "so müßten zuvor die Regie38 rungsformen sämtlicher Staaten von Europa umgestaltet werden." Der revolutionäre Umsturz in Europa, die revolutionäre Umgestaltung der bestehenden Regierungen, das war die Konsequenz, die sich für Friedrich aus dem "Système de la nature" ergab. Deshalb zog der preußische König, der sich so gern als Mäzen der französischen Aufklärer sah, in die "literarische Schlacht". Den Charakter der von Friedrich gegen Holbach gerichteten Angriffe hat niemand treffender zu kennzeichnen vermocht als Voltaire, der an D'Alembert schrieb, daß der König von Preußen immer die Partei seiner Bande ergreife und darüber 39 verärgert sei, daß die Philosophen keine Royalisten wären. In der Tat, solange und sofern die Philosophen Royalisten waren, galt ihnen die Sympathie des preußischen Königs. Als sie - ohne die Monarchie als Staatsform bereits abzulehnen - begannen, sich kritisch gegen die bestehende Ordnung zu wenden, wurde Friedrich ihr erbitterter Feind. Die im Jahre 1777 von Friedrich II. verfaßte Schrift "Regierungsformen und Herrscherpflichten" entbehrt jeder polemischen Schärfe. Gerade deswegen ist sie für die feudale Ausnutzung des Naturrechts durch den preußischen König symptomatisch. In dieser Schrift erklärt der Preußenkönig zum wiederholten Male die Monarchie zur besten aller Staatsformen. Allerdings müsse sie richtig gehandhabt werden. Mit dem Blick auf die Türkei verurteilte Friedrich II. den Despotismus. Der türkische Despot dürfe straflos die größten Grausamkeiten begehen, müsse dafür aber immer mit dem Umsturzstreben seiner Völker rechnen. Auch in der Adelsherrschaft - Friedrich verwies auf Polen - pflege "Mißbrauch der Gewalt, wie ihn die ersten Glieder des Staatsganzen treiben, gewaltsame Umwälzungen nach sich
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Naumann. Manfred. Holbach und das M^terialismusproblem in der französischen Aufklärung, in: Grundpositionen der französischen Aufklärung, Berlin 1955, S. 116. Die Werke Friedrichs des Großen. Bd 7, S. 258. Ebenda, S. 267. Naumann, in: Grundpositionen der französischen Aufklärung, S. 106.
Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus zu ziehen"
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. Die "richtig gehandhabte" Monarchie war für Friedrich also auch hier der
Staat, der solche Umwälzungen vermeiden kann. Was Friedrich unter "richtiger Handhabung" der Monarchie verstand, führte er wenig später aus. Danach erhofften die Bürger, die "einem ihresgleichen immer nur darum den Vorrang vor allen zugestanden, weil sie Gegendienste von ihm erwarteten", die Aufrechterhaltung der Gesetze, unbestechliche Pflege der Gerechtigkeit, kraftvollen Widerstand gegen Sittenverderbnis und die Verteidigung 41 des Staates gegen seine Feinde. Wegen dieser in vielen Schriften des preußischen Königs vorhandenen, allgemeinsten Phrasen über die Pflichten des Herrschers wurde der preußische Staat unter Friedrich II. von vielen bürgerlichen Geschichtsschreibern als "Rechtsstaat" bezeichnet. Dieser Begriff, der über das Wesen eines Staates, über seinen Klasseninhalt nichts aussagt, im Gegenteil dazu dient, ihn zu verschleiern, verdeckt auch im vorliegenden Falle den wahren Charakter des preußischen Staates. Geht man über die von Friedrich ausgesprochenen allgemeinsten Phrasen hinweg und untersucht, wie sich der preußische König nun konkret, sei es auch nur in der Theorie, die Verwirklichung dieser Grundsätze dachte, so stößt man einerseits auf Gedanken über das Justizwesen. Jedoch beschränkten sich diese auf eine bessere Handhabung der bestehenden Gesetze. Anderseits aber findet man neben diesen indirekt auf die Festigung der bestehenden Ordnung zielenden Maßnahmen eine offene Verteidigung der spätfeudalen Ordnung, so z . B . , wenn Friedrich über die Leibeigenschaft spricht. In den meisten Staaten Europas findet man Provinzen, wo die Bauern an die Scholle gefesselt seien als Leibeigene ihrer Edelleute. "Von allen Lagen ist dies die unglücklichste und muß das menschliche Gefühl am tiefsten empören. Sicherlich ist kein Mensch dazu geboren, der Sklave von seinesgleichen zu sein. Mit Recht verabscheut man diesen Mißbrauch und meint, man brauche nur zu wollen, um die barbarische Unsitte abzuschaffen. Dem ist aber nicht so; sie stützt sich auf alte Verträge zwischen den Grundherren und den Ansiedlern. Der Ackerbau ist auf der Bauern Frondienste zugeschnitten. Wollte man diese widerwärtige Einrichtung mit einem Male abschaffen, so würde man die ganze Landwirtschaft über den Haufen werfen. Der Adel müßte dann für 42 einen Teil der Verluste, die er an seinen Einkünften erleidet, Entschädigung erhalten." Die "richtige Handhabung" der Monarchie, die Friedrich aus dem Gesellschaftsvertrag ableitete, vertrug sich bei ihm folglich sogar mit der Leibeigenschaft. Deren sofortige Abschaffung würde, wie Friedrich genau sah, den Adel, auf den er setzte und als dessen
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Die Werke Friedrichs des Großen. Bd 7, S. 227. Ebenda. Ebenda, S. 233.
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Interessenvertreter er sich immer verstand, schädigen. Die Anerkennung des Naturrechts durch Friedrich und die sich für ihn daraus in der Theorie ableitenden Maßnahmen gingen von der bestehenden Ordnung aus. Diese sollte "verbessert", aber nicht verändert werden. In der Abhandlung des preußischen Königs über den "Essai sur les préjugés" stellte Friedrich die Frage: Kann man denn sein Vaterland nur fördern, wenn man es um und um kehrt und alle bestehende Ordnung über den Haufen wirft ? Gibt es nicht mildere Mittel, die man lieber anwenden sollte, um dem Vaterland mit Nutzen zu dienen? Diese milderen Mittel, für die Friedrich eintrat, durften aber nie so weit gehen, die materielle Basi3 der herrschenden Klasse anzutasten und damit deren Klassenherrschaft zu gefährden. Wenn Fritz Härtung in der von ihm entwickelten Definition des aufgeklärten Absolutismus die naturrechtlich-aufgeklärte Staatslehre als ein unabdingbares Element dieser Staatsform betrachtet, so erweist sich schon diese Prämisse als anfechtbar, geht man nicht von der Oberfläche, sondern vom Wesen der Erscheinungen aus. Die Fiktion vom Gesellschafts veitrag als Ursprung des Staates, deren Anfänge schon in der Antike zu finden sind, die in der Zeit des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus zum weitverbreiteten Element früher bürgerlicher Gesellschaftsauffassung wurde, 43 hatte beinahe so viele Ausprägungen wie philosophische Verfechter. Es ist charakteristisch, daß Friedrich II. an diejenigen bürgerlichen Denker anknüpfte, die aus unterschiedlichen objektiven Ursachen - aus dem schon bewußt gewordenen Gegensatz zum Volk einerseits und der Unreife der sozialen Voraussetzungen andererseits - für eine starke Staatsmacht eintraten, die Monarchie als beste Staatsform ansahen und ihre bürgerlichen Interessen mit Hilfe eines Monarchen durchsetzen wollten. Von diesen Denkern, speziell von Bayle und 44 Voltaire
, entlieh Friedrich Gedanken über das Königtum und dessen "innere Zügelung",
ohne jedoch die bürgerliche Zielsetzung mit zu übernehmen. Friedrich ließ sich folglich nicht von der naturrechtlich-aufgeklärten Staatslehre leiten, wie Härtung meint, e r entlehnte lediglich einer bestimmten Richtung dieser Lehre die für ihn zur theoretischen Begründung seiner Macht so nützlichen Gedanken vom aufgeklärten Königtum. Er legte sie feudal aus, während die genannten französischen Aufklärer mit ihrer Hilfe ihre eigenen 43
Vgl. hierzu Pähl. Gerhard. Einige Probleme der Naturrechtslehre im Völkerrecht des 17. und 18. Jahrhunderts, j u r . Diss., Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft "Walter Ulbricht", Potsdam-Babelsberg 1956 (Ms.). 44 Vgl. hierzu Berney. Arnold. Friedrich der Große. Entwicklungsgeschichte eines Staatsmannes, Tübingen 1934, S. 60 ff. - Dagegen bestritt bereits früher Volteiini. Hans v . . Die naturrechtlichen Lehren und die Reformen des 18. Jahrhunderts, in: HZ, Bd 105, 1910, S. 65 f f . , einen wirksamen Einfluß der französischen Aufklärer. Er führt die Reformen des aufgeklärten Absolutismus auf den Einfluß des deutschen Naturrechts zurück.
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bürgerlichen Interessen zum Ausdruck brachten. Zur anderen Richtung dieser Lehre, die aus dem Urvertrag die Möglichkeit der Künd45 barkeit des Vertrages ableitete und die Idee der Volkssouveränität entwickelte , vor allem zu den revolutionären Auslegungen der französischen Spätaufklärung, verhielt sich Friedrich II. offen feindlich. Hier gab es keine Anknüpfungsmöglichkeiten, hier wurde am feudalabsolutistischen Machtanspruch gerüttelt. Deshalb war die vom preußischen König gezogene Konsequenz der Kampf mit offenem Visier um die Erhaltung der eigenen Herrschaft. Friedrichs Regierungspraxis ist oft als ein Verrat an seinen Ideen aus der Kronprinzenzeit empfunden worden. Zu einer solchen Auffassung kann man nur kommen, wenn man - wie das viele bürgerliche Historiker noch heute tun - die Illusionen der F r ü h a u f k l ä r e r teilt. Friedrichs begrenzte Bereitschaft zur Aufnahme aufklärerischer Gedanken war aber auch kein Scheinmanöver.
Philosophisch und literarisch i n t e r e s s i e r t , künstlerisch begabt,
mit den geistigen Strömungen seiner Zeit, besonders mit den französischen vertraut, klug genug, um die Macht dieser neuen Gedanken zu erkennen, konnte sich Friedrich den von der bürgerlichen Aufklärung ausgehenden Ideen nicht verschließen. Da die nicht rousseauistische Richtung der Aufklärung eine Politik der Reformen verfolgte und zuversichtlich war, diese Reformen durch Überzeugung der Herrschenden durchsetzen zu können, bestand objektiv die Möglichkeit, daß ihre Gedanken von Vertretern der h e r r s c h e n den Klasse aufgenommen wurden. Die Einsicht in die gesellschaftlichen Entwicklungen war noch zu gering, um eine bewußte Umdeutung und Verfälschung im Sinne der herrschenden Klasse möglich zu machen. Eine Anpassung, Nutzbarmachung, Umfunktionierung durch V e r t r e t e r derFeudalklasse aber hat es gegeben, konnte e s geben, bis die von bürgerlicher Seite gezogenen revolutionären Konsequenzen eine feudale Ausdeutung unmöglich machten. Die Ausnutzung bürgerlicher Gesellschaftsauffassungen durch solche H e r r s c h e r wie Friedrich I I . , Joseph II. und Katharina II. ist im Grunde genommen ein Zeugnis dafür, daß die Todesstunde der Feudalgesellschaft näherrückte. Die herrschende Klasse war nicht mehr in der Lage, eigene Theorien zur Sicherung i h r e r Herrschaft zu f a b r i z i e r e n . Sie mußte sich klassenfremder Ideen bedienen, wobei sie naturgemäß auf solche zurückgriff, die wegen ihrer Unreife und Inkonsequenz am leichtesten ausdeutbar waren. Daß nach dem Gesagten nicht von einer tatsächlichen "Umbildung" des Staates, von einer Änderung seines Klassenwesens die Rede sein kann, liegt f ü r den marxistischen
45
So z . B . bereits Johannes Althusius (vgl. Gierke. Otto Friedrich v . , Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, Breslau 1880, S. 76 f . ) .
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Historiker auf der Hand. Aber nicht das verstand Fritz Härtung, wenn e r den aufgeklärten Absolutismus als eine Regierungsweise definierte, die "sich in der Form an den alten 46 monarchischen Absolutismus hielt, ihn im Wesen aber umbildete" . Ihm ging es, folgt man seinen weiteren Ausführungen, lediglich um die Durchsetzung bestimmter aufklärerischer Ideen in der Regierungspraxis. Und diese Frage ist in der Tat eine neue Untersuchung wert; denn nur die Konfrontation von Theorie und Praxis und der Vergleich mit anderen "aufgeklärten Absolutismen" lassen den Grad der Anpassung des absolutistischen Staatsapparates an die neuen Bedingungen sowie die Veränderungen im Kräfteverhältnis zwischen dem aufkommenden Bürgertum und dem niedergehenden Feudalabsolutismus sichtbar werden. Als Friedrich n . im Jahre 1740 den Thron bestieg, waren die Erwartungen vieler französischer und deutscher Aufklärer hochgespannt. Doch schon die Affäre von Herstal führte bei einigen zur Ernüchterung. Rückblickend auf diese Zeit, schrieb im Jahre 1757 der spätere Vorsitzende der sächsischen Restaurationskommission Fritsch, ein An47 hänger Bayles und Montesquieus , daß diese Affäre Europa auf die ersten Schritte eines Fürsten aufmerksam machte, dessen Liebe für die schönen Künste auf gemäßigtere Unternehmen hatte hoffen lassep. Die Vergrößerung der Armee, die nach der Inbesitznahme von Herstal erfolgte, habe die Hoffnungen auf einen philosophischen König ganz und gar dahinschwinden lassen.^ 8 Der Einfall in das unter österreichischer Herrschaft stehende Schlesien im gleichen Jahre führte vor allem im literarischen Frankreich zu namenloser 49 Enttäuschung.
Niemand hatte dort damit gerechnet, daß der Autor des "Antimachiavell"
seine Regierungszeit mit einem Angriffskrieg eröffnen würde. Hatte Friedrich doch in dieser viele französische Leser meinten, Idealbild eines aufgeklärten 50 das FürstenSchrift, auch aufwie außenpolitschem Gebiet entworfen. In der französischen Aufklärung war
46 47 48
49 50
Härtung. Die geschichtliche Bedeutung des aufgeklärten Despotismus, in: Bulletin, Bd 9, S. 3. Über Fritsch vgl. Schlechte, Horst, Zur Vorgeschichte des "Rétablissement" in Kursachsen, in: Forschungen aus mitteldeutschen Archiven. Zum 60. Geburtstag von Hellmut Kretzschmar, Berlin 1953, S. 347 ff. Denkschrift Fritschs "Considérations sur la maison de Brandenbourg", Oktober 1757, in: Die Staatsreform in Kursachsen 1762-1763. Quellen zum Kursächsischen Rétablissement nach dem Siebenjährigen Kriege, hg. und eingeleitet von Horst Schlechte, Berlin 1958, S. 174. Vgl. Skalweit. Stephan. Frankreich und Friedrich der Große. Der Aufstieg Preußens in der öffentlichen Meinung des "ancien régime", Bonn 1952, S. 55 ff. Bahner. Werner, Der Friedensgedanke in der Literatur der französischen Aufklärung, in: Grundpositionen der französischen Aufklärung, S. 184 f.
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als Reflex auf die vielen, die Kräfte des Landes und des Volkes verzehrenden Kriege des französischen Absolutismus auch eine außenpolitische Konzeption entstanden, die die Kriege der Herrscher Europas als Kabinetts- und Handelskriege verdammte und schließlich zur Anprangerung des Krieges überhaupt Uberging. Nur den Verteidigungskrieg hielt sie 51 für zulässig.
Dieser Konzeption schienen die Darlegungen im 26. Kapitel des "Antimachiavell"
zu entsprechen. Doch war diese Entsprechung nur scheinbar. Die Illusionen vieler Frühaufklärer über den preußischen Kronprinzen führten zu offensichtlichen Fehldeutungen. Friedrich betrachtete es zwar als eine Lebensaufgabe für die Fürsten Europas, niemals die Bündnisse und Verträge aus dem Auge zu verlieren, die das Gleichgewicht der europäischen Mächte ermöglichten, weil 52 sich eine solche Mißachtung früher oder später zu ihrem Verderben auswachsen würde. Aber gerade diese These vom Gleichgewicht zwischen den großen europäischen Staaten als einem Mittel zur Erhaltung des Friedens war schon angezweifelt worden. Sie wurde auch im folgenden von der französischen Aufklärung besonders deshalb verurteilt, weil sie den Prinzipien53des Naturrechts widersprach und in der Praxis zu verhängnisvollen Folgen geführt hatte. Aber selbst diese schon angefochtene These wurde durch Reflexionen Friedrichs über die Fälle eingeschränkt, in denen Kriege zur "zwingenden Notwendigkeit" würden. Friedrich erwähnte hier einmal Verteidigungs- und Präventivkriege. "Nicht weniger wohlbegründet" als diese fand er Kriege, "mit denen ein Herrscher bestimmte Rechte oder bestimmte Ansprüche, die man ihm bestreiten will, 54 behauptet"
. Auch wenn der Kronprinz abschließend solche Kriege zur Erhaltung des
Rechtszustandes in der Welt und zur Verhütung der Völkerverknechtung als notwendig bezeichnete, viele seiner Zeitgenossen wußten aus Erfahrung, daß es immer irgendwelche Rechtstitel gab, die zur Begründung eines Angriffskrieges ins Feld geführt werden konnten. Friedrich selbst hatte bei seinem Überfall auf Schlesien solche Rechtstitel parat. Aber e r hielt sich nicht damit auf, sie vor der Welt darzulegen. Eine Berufung 55 auf solche Rechtsansprüche war nicht mehr "friderizianischer Stil", wie Ritter meint. Der König überließ die Rechtfertigung seines Angriffskrieges Juristen. Wieviel e r von solchen "Rechtstiteln" hielt, zeigt seine zynische Randbemerkung auf einer Rechtsdeduktion, die ihm sein Minister Podewils vorlegte: "Bravo, das ist die Arbeit eines trefflichen Charlatans !" Sieht man sich noch andere Äußerungen des preußischen Kronprinzen zu außenpolitischen Fragen an, so ist der schockierende Eindruck des Schlesischen Krieges auf die Zeitgenossen 51 52 53 54
Ebenda, S. 176. Die Werke Friedrichs des Großen, Bd 7, S. 110. Bahner, in: Grundpositionen der französischen Aufklärung, S. 176 f. Die Werke Friedrichs des Großen, Bd 7, S. 111 f.
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nur als Ausdruck der Illusionen verständlich, die sich französische und deutsche Aufklärer gemacht hatten. Unverständlich aber sind alle Erklärungs- und Deutungsversuche bürgerlicher Historiker, die "die moderne Geisteswissenschaft", "ausgestattet mit allen Erkenntnismitteln eines geschärften historischen Bewußtseins und den verfeinerten Werkzeugen psychologischer Analyse", bemühen mUssen, um den angeblich "klaffenden Widerspruch zwischen der fast gleichzeitigen Offenbarung des Philosophen und Machtpolitikers in Fried56 rieh" mit den außerordentlichen Spannungen seines Wesens erklären zu können. Bereits im Brief an Natzmer aus dem Jahre 1731 hatte der blutjunge preußische Kronprinz sein späteres außenpolitisches Programm fixiert. Von der Lage des preußischen Staates ausgehend, seinem zerstückelten Länderbesitz, legte er seine Pläne über die "Abrundung" Brandenburg-Preußens dar. Damals bereits stellte er seine Maxime auf: 57 "Denn wer nicht vorwärts kommt (ich spreche von der großen Politik), der geht zurück." Daß Schlesien in dieser Zeit noch nicht in seinem Blickfeld lag und bei den wünschenswerten E r werbungen nicht genannt wurde, ist unwesentlich, ging es doch einzig und allein darum, daß der erst Neunzehnjährige plante, was der spätere König ausführte. Schon damals e r klärte Friedrich, daß er nur als "Politiker ohne Erörterung der Rechtsgründe" spreche, "denn jeder der von mir berührten Punkte verdient eine besondere5 Darlegung der Rechts8 gründe und Ansprüche, die das Haus Brandenburg erheben kann." Die Rechte und Ansprüche eines Herrschers, für deren Durchsetzung Friedrich im "Antimachiavell" ausdrücklich Kriege als zulässig erklärte, wurden im Natzmer-Brief zwar nicht dargelegt, auf sie wurde aber damals bereits als Mittel zur Begründung möglicher "Neuerwerbungen" verwiesen. Besieht man es genauer, so rechtfertigte Friedrich sowohl im Natzmer-Brief wie im "Antimachiavell" die Europa seit langer Zeit erschütternden Kabinettskriege; denn auch für diese wurden gewöhnlich "Rechtsgründe und Ansprüche" ins Feld geführt. Von einem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis kann somit auf außenpolitischem Gebiet nicht die Rede sein. Friedrichs außenpolitische Konzeption widersprach den Ideen der französischen Aufklärer. Beginnend mit dem Natzmer-Brief, läßt sich über den "Antimachiavell" bis zu den "Politischen Testamenten" eine oft bis in Einzelheiten gehende Übereinstimmung von Theorie und Praxis feststellen. Die vom Kronprinzen im "Antimachiavell" gerechtfertigten Kriege, den Präventivkrieg und den Krieg zur Durchsetzung von "Rechten und Ansprüchen", hat der König geführt; die von ihm in Aussicht genommenen "Neuerwerbungen"
55 56 57 58
Ritter, Gerhard. Friedrich der Große. Ein historisches Profil, Leipzig 1936, S. 101. Skalweit, S. 55. Die Werke Friedrichs des Großen. Bd 7, S. 197. Ebenda, S. 198.
Theorie und P r a x i s des aufgeklärten Absolutismus
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zum Teil wenigstens wirklich erworben. Daß e r sein außenpolitisches P r o g r a m m , vor allem das i.i den "Testamenten" konzipierte, nicht voll verwirklichen konnte, lag am realen Kräfteverhältnis der Zeit. In der Außenpolitik waren folglich Theorie und Praxis feudal. Ähnlich verhielt e s sich bei dem Widersacher Friedrichs, Joseph II. Der um 29 J a h r e Jüngere, der e r s t im J a h r e 1780,sechs J a h r e vor dem Tode Friedrichs, die alleinige Herrschaft über die ö s t e r r e i c h i schen Erblande antrat, kann schon deshalb nicht einfach mit dem preußischen König v e r glichen werden, weil seine Tätigkeit, in die Zeit nach dem Siebenjährigen Kriege fallend, schon auf andere soziale Kräfte Rücksicht zu nehmen hatte und von ihnen beeinflußt wurde. Wenn dennoch künftig hin und wieder die Methode des Vergleichs angewandt wird, dann stets unter Berücksichtigung der anders gearteten, bereits zugespitzten Klassenkampfsituation. Was aber die außenpolitische Linie Josephs II. betrifft, so war sie von gleichen Grundsätzen wie die Friedrichs geprägt. Josephs Pläne zur Erwerbung Bayerns sind nur allzugut b e kannt. Auch nach dem Scheitern des Projekts im Bayrischen Erbfolgekrieg gab e r die Hoffnung auf eine Erwerbung Bayerns, möglicherweise im Tausch gegen andere habsburgi59 sehe Ländereien, nicht auf. Abrundung seines Herrschaftsbereiches, Schaffung eines möglichst geschlossenen Länderkomplexes, das war ebenso sein Ziel wie das F r i e d r i c h s . Nur in einer Hinsicht unterschied sich der österreichische H e r r s c h e r vom preußischen: Joseph begründete seine außenpolitischen Pläne und Absichten nicht ideologisch. E r umgab sie nicht mit dem Anspruch auf Recht und Wahrheit. Jedoch hielt sich auch der preußische König im Verlaufe der J a h r e i m m e r weniger mit der ideologischen Rechtfertigung s e i n e r aggressiven Absichten auf. Nimmt man folglich die beiden im Konzert der europäischen Großmächte wirklich in Erscheinung tretenden deutschen Fürsten, deren Politik wir unter dem Begriff des "aufgeklärten Absolutismus" f a s s e n wollen, so läßt sich f ü r beide sagen, daß ihre Außenpolitik von den Ideen der Aufklärung unberührt blieb. Und das ist auch ganz e r k l ä r l i c h . Auf dem Felde der Außenpolitik, der zwischenstaatlichen Beziehungen, mußte sich das Klassenwesen der von beiden durchgeführten Politik am ehesten zeigen. Wenn man im Innern des Landes Reformen zur Sicherung der eigenen Herrschaft durchführen konnte, in der Außenpolitik war eine "Reformpolitik" unmöglich, ohne zugleich den feudalen Anspruch auf Machterweiterung aufzugeben, dem freilich auch die aufkommende Bourgeoisie zustimmte, wie überhaupt gerade diese Ideen der Aufklärung über die Klassengesellschaft hinauswiesen. Trotz der Ernüchterung, zu der der Überfall auf Schlesien bei einigen Aufklärern führte,
59
Zur Außenpolitik Josephs II. vgl. Mitrofanow, Bd 1, Kap. II, S. 113 f f .
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blieb der Einfluß Friedrichs II. auf die französische und deutsche Aufklärung groß. Das lag in erster Linie an einigen auf innenpolitischem Gebiet durchgeführten Veränderungen. Als Voltaire Friedrich II. brieflich nach seinen ersten Regierungsmaßnahmen fragte, verwies dieser am 27. Juni 1740 u.a. darauf, daß er die Grundlagen für eine neue Akademie geschaffen, eine Behörde für Handel und Industrie gegründet und Maler und Bildhauer in 60 seinen Dienst genommen habe. Worauf ihm Voltaire befriedigt antwortete: "Vos ordres 61
me semblaient positifs."
Daß Friedrich hier auf seine gleich nach Regierungsantritt ein-
setzenden Bemühungen anspielte, große Gelehrte, die Elite der europäischen Geisteswelt nach Berlin zu holen, ist so allgemein bekannt, daß auf eine Darlegung von Einzelheiten verzichtet werden kann. Friedrich hätte in seinem Brief an Voltaire noch auf andere Dinge verweisen können. Durch eine allerdings nie veröffentlichte Kabinettsorder vom 3. Juni 1740 verfügte er, 62 "bei denen Inquisitionen die Tortur gänzlich abzuschaffen" . Allerdings nahm er sofort die Einschränkung vor: " . . . außer bei dem crimine laesae majestatis und Landesverrätherei, auch denen großen Mordthaten, wo viele Menschen ums Leben gebracht oder viele Delinquen63 ten, deren Connexion herauszubringen nöthig, impliciret sind." Im Kampf der Aufklärung gegen die Folter als ein mit dem Naturrecht nicht zu ver64 , . , einbarendes Mittel kommt Thomasius eine bedeutsame Stellung zu.
Wenn Friedrich
unmittelbar nach seiner Regierungsübernahme die Anwendung der Folter zwar nicht gänzlich untersagte, aber doch einschränkte, so ist das gewiß dem Einfluß der Aufklärung zuzuschreiben. Auch später ist Friedrich von seinen 1740 geäußerten Grundsätzen nicht abgewichen. Die Tortur war für ihn ein grausames und zugleich zur Entdeckung der Wahrheit ungewisses Mittel, das er abgeschafft haben 66 wollte. 6 5 Lieber wollte er zwanzig Schuldige freisprechen als einen Unschuldigen opfern.
60 61 62 63 64
65 66
Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Voltaire, hg. von Reinhold Koser und Hans Droysen, Bd 2, Leipzig 1909, S. 9 f. Ebenda, S. 16. Acta Borussica. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert (im folgenden: Acta Borussica. Behördenorganisation), Bd 62, Berlin 1901, S. 8. Ebenda. Über Thomasius sind von den Historikern der DDR umfangreiche Forschungen angestellt worden. Einen Überblick über die Literatur vermitteln Steiger. Günther/Straube. Manfred. Zur Geschichte der Universitäten und Hochschulen der DDR, in: ZfG, 1960, Sonderh.: Historische Forschungen in der DDR. Analysen und Berichte. Zum XI. Internationalen Historikerkongreß in Stockholm 1960, S. 573, Anm. 9. Acta Borussica. Behördenorganisation, Bd 10, Berlin 1910, S. 97. Die Werke Friedrichs des Großen. Bd 8, Berlin 1913, S. 35.
Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus
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Gleichzeitig zeigen die 1740 vorgenommenen Einschränkungen die Handschrift des preußischen Königs. Da ihm der Staat und sein vermeintliches Interesse stets oberste Richtschnur aller seiner Handlungen war, mußte ihm die Anwendung der Folter im Falle von Majestätsverbrechen als unabdingbar erscheinen. Und doch ging Friedrich in diesem Falle weiter als seine Umgebung. Cocceji, sein Chefjustizminister, äußerte Zweifel und schlug in weitaus mehr Fällen die Beibehaltung 67 der Folter vor.
Das Kriminalkollegium, zur Stellungnahme aufgefordert, erweiterte
sogar die von Cocceji gemachten Einschränkungen um ein beträchtliches. Es bezeichnete die Folter zwar als ein trügliches Mittel, die Wahrheit zu erforschen, aber dies vor allem deshalb, weil sie nicht immer ausreiche, hartnäckige und starke Personen zum Geständnis 68
zu zwingen.
Die Frage der Folter wurde von Cocceji auch in den kommenden Jahren
wieder aufgeworfen. In bestimmten schwierigen Fällen versuchte er, vom König die Erlaubnis zur Anwendung der Tortur zu erwirken. Zwar 69gestattete Friedrich im Jahre 1752 eine Ausnahme von seiner einmal aufgestellten Regel , doch blieb e r in dieser Frage seinem Grundsatz treu. Schließlich hätte Friedrich in seinem Brief an'Voltaire auch auf die von seinen späteren Geschichtsschreibern so gepriesene "Aufhebung" der Zensur für die Berliner Zeitungen verweisen können. Das seinem Kabinetts minister Podewils gegenüber geäußerte Wort 70 von den "Gazetten", die, wenn sie interessant sein sollen, "nicht geniret werden" müßten ist, von der bürgerlichen Geschichtsschreibung kolportiert, zum Inbegriff aufklärerischer Politik des preußischen Königs geworden. Bereits Mehring hat jedoch auf den außenpolitischen Zweck verwiesen, den diese Maßnahme zumindest mitverfolgte. Hatte Friedrich seinem bedenklichen Minister gegenüber doch auch darauf verwiesen, daß "fremde Ministri sich nicht würden beschwern können, wenn 71 in den hiesigen Zeitungen hin und wieder Passagen anzutreffen, so ihnen mißfallen könnten" , woraus Mehring folgerichtig schlußfolgerte, daß es sich "bei dieser glorreichen ' Preßfreiheit' um nichts als um einen alten und freilich ewig neuen diplomatischen Kniff, um die Möglichkeit" handelte, "auswärtigen Mächten
67 68 69 70
Acta Borussica. Behördenorganisation, Bd 6/2, S. 9. Ebenda, S. 10. Ebenda, Bd 9, Berlin 1907, S. 310. Vgl. Deutsches Zentralarchiv (im folgenden: DZA) Merseburg, Hist.Abt.II, Rep.9, F . 2 a l , F a s z . 3 , fol. 8; vgl. ferner Preuss. Johann David Erdmann, Friedrich der Große. Eine Lebensgeschichte, Bd 3, Berlin 1833, S. 251 f f . , sowie Geisler. Erich. Die Preßgesetzgebung Friedrichs des Großen im Hinblick auf seine Stellung zu Naturrecht und Aufklärung, Diss., Greifswald 1921 (Ms.). 71 DZA Merseburg, Rep. 9, F. 2 a l , Fasz.3, fol. 8.
72
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allerlei unangenehme Dinge sagen and dabei doch die Hände in Unschuld waschen zu können"
72
.
Es ist bekannt, daß diese nur den sogenannten Artikel von Berlin betreffende Verfügung sehr bald wieder aufgehoben wurde. Da unmittelbar nach Aasbruch des Schlesischen Krieges mit Unwillen vermerkt wurde, daß Haude Nachrichten über den schlesischen Kriegsschauplatz veröffentlichte, erging am 31. Dezember 1740 ein Edikt, nach dem der 73 "Artikel von Berlin" dem Kriegsrat Ilgen zur vorhergehenden Zensur zu übergeben wäre und nichts abgedruckt werden dürfe, was "Seiner Königlichen Majestät höchsten affairen" beträfe; eine Verfügung, in die sich Haude nur schwer schickte, denn am 28. Januar 1741 war eine erneute Order nötig. Der Verleger hatte dem 74 ersten Edikt nicht Folge geleistet und den Artikel noch nicht zur Zensur eingereicht. Was die übrigen Nachrichten betraf, so sollten sie nach wie vor f r e i gedruckt werden dürfen. Am 9. Juli bescheinigte Friedrich II. in einer Kabinettsorder an das Departement für Auswärtige Angelegenheiten den Berliner Verlegern wieder, daß sie "von der ihnen e r statteten Freiheit, die Zeitungen sonder vorgängige Censur drucken zu lassen, einen gedruckt hätten, die ausübelen Gebrauch" gemacht und verschiedentlich Unwahrheiten 75 wärtigen Mächten "so empfindlich als anstößig" wären. Ferner wären königliche Dekrete, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen, ohne Diskretion publiziert worden. Deshalb verfügte der preußische König, "daß die Freiheit, öffentliche Zeitungen sonder vorhergängige Censur drucken zu lassen, aufgehoben sein und nurgedachte Gazettes nicht eher zum Druck gegeben werden sollen, bis selbige vorher76durch einen vernünftigen, dazu autorisierten Mann censiret und approbiret worden seind" . Was war passiert ? Was veranlaßte Friedrich II., die "Gazetten" nun doch zu "genieren" ? Im Verlaufe des Jahres 1742 war es wiederholt zu Protesten ausländischer Mächte gegen in Brandenburg-Preußen erscheinende Zeitungen oder anderweitige Schriften gekommen. Besonders empfindlich reagierte nach den Ereignissen des Jahres 1742 der r u s s i sche Hof. Kleinigkeiten, wie eine am 5. Januar veröffentlichte Nachricht über eine mögliche Rückkehr des Fürsten Nariskin nach Petersburg, führten zu einem förmlichen Protest des russischen Gesandten und von Seiten Friedrichs zu drastischen Maßnahmen. Der Heraus77 geber der Zeitung wurde 14 Tage in sogenannten zivilen Arrest gesperrt. Im Sommer V
v
des gleichen Jahres ergab sich für den Gesandten Bußlands in Berlin, Cernicev,
72 Mehring, Franz. Gesammelte Schriften, Bd 9, Berlin 1963, S. 71. 73 DZA Merseburg, Hist. Abt. II, Rep. 9, F . 2 a 1, Fasz. 3, fol. 15. 74 Ebenda, fol. 21. 75 Acta Borussica. Behördenorganisation, Bd 6/2, S. 620. 76 Ebenda. 77 DZA Merseburg, Hist. Abt. II, Rep. 9, F . 2 a 1, Fasz. 5.
Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus
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erneut Anlaß zum Eingreifen. Ein zeitweilig in Berlin ansässiger Professor, Johann Samuel Strimesius, hatte eine Schrift mit dem Titel "Zufällige Gedanken bey Gelegenheit der heutigen Staats-Veränderungen" verfaßt. In dieser zum Lobe Friedrichs II. geschriebenen Arbeit, in der Friedrich, "das Wunder unserer Zeiten", den zahlreichen russischen Herrschern seit Peter I. gegenübergestellt wurde, griff Strimesius, ehemals Professor für Geschichte an der Königsberger Universität, zu der zweifelhaften Methode, die russischen Herrscher so gering wie möglich zu machen, auf daß das Licht seines Helden um so heller erstrahle. Die zu offensichtliche Apologie Friedrichs schlug nicht zum Nutzen des Professors aus. Sein Held verfügte vierwöchigen Hausarrest und erzwang eine Ent78 Gleichfalls aus dem Jahre 1742 stammt eine
schuldigung vor dem russischen Gesandten.
Beschwerde des schwedischen Ministers Rudenschöld gegen einen Artikel vom 14. April in der "Hallischen wöchentlichen Relation", der auf die Beziehungen zwischen Rußland 79 und Schweden einging. Friedrichs Verfügung über die Berliner Presse, unmittelbar nach der Übernahme der Regierungsgewalt erlassen, erklärt sich zweifellos aus seinem persönlichen Verhältnis zur Aufklärung, vor allem zur französischen. Der preußische König wollte wirklich "interessante Gazetten", ein vielbeachtetes Geistesleben, er wollte, aus welchen Gründen auch immer, Berlin zum deutschen Athen machen. Das aber war nur möglich, wenn die literarischen Produkte der Aufklärer in Brandenburg-Preußen auch gedruckt und vertrieben werden konnten. Zahlreich waren im Briefwechsel des Kronprinzen mit Voltaire die Gedanken über das künftige Verhältnis des Königs zur Aufklärung. "Les philosophes dignes de ce nom voleront dans vos Etats", suggerierte Voltaire dem Kronprinzen und fuhr fort: " . . . régnez, 80 monseigneur, et que les arts vienneut vous chercher." Wiederholt bezeichnete Voltaire 81 Berlin als das künftige deutsche Athen. Friedrich nahm diese Prophezeiung mit Genug82
tuung auf. "Que Berlin devienne Athènes, j'en accepte l'augure."
Voltaires Briefe an
den jungen Kronprinzen zeugen vom Versuch französischer Aufklärer, auf die Herrscher Europas Einfluß zu gewinnen. Sie sind Ergebnis jener Konzeption, nach der gesellschaftliche Veränderungen im Rahmen der bestehenden Monarchien vollzogen werden sollten. Voltaires als Prophezeiung und Schmeichelei formulierte Forderung nach Förderung der Künste
78 79 80 81 82
Ebenda. Ebenda, Fasz. 4, fol. 17 ff. Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Voltaire, Bd 1, Leipzig 1908, S. 5. Ebenda, S. 22, 45. Ebenda, S. 48.
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und Wissenschaften fiel auf fruchtbaren Boden. Schon im 21. Kapitel des "Antimachiavell" formulierte Friedrich unter der Überschrift "Wie ein Fürst sich Ruhm erwirbt": "Nichts 83 gibt einem Reiche mehr Glanz, als wenn die Künste unter seinem Schutz erblühen." Friedrichs Verfügung über die Berliner Presse, in seinen ersten Regierungstagen getroffen, ist nur im Zusammenhang mit dessen Bestrebungen zu verstehen, Berlin wirklich zum deutschen Athen zu machen. In diesem Falle traf sich der Wunsch des preußischen Königs mit den Ansprüchen der Aufklärer wie überhaupt der aufsteigenden bürgerlichen Klasse; denn die Freiheitsforderung der sich entwickelnden Bourgeoisie galt in dieser Zeit noch vorwiegend der Möglichkeit, Gedanken und Meinungen frei äußern zu können. Im Kampf der neuen, zur Macht bestimmten Klasse spielte die Forderung nach Pressefreiheit eine außerordentliche Rolle. Friedrich entsprach ihr in ganz beschränktem Maße und für eine sehr kurze Zeit. Doch die von ihm von Anfang an verfolgte außenpolitische Nebenabsicht richtete sich nur allzu schnell gegen ihn selbst. Aus diesem Grunde bestand er in der folgenden Zeit auf einer strengen Zeitungszensur. Immer wieder waren es außenpolitische Affären, die ihm Veranlassung zum Einschreiten gaben. 1750 rügte e r in einer Kabinettsorder an Podewils, daß die in Berlin erscheinenden deutschen Zeitungen sich zu "emancipiren anfangen". In diesem Falle waren es in- und ausländische Berichte über die Türkei, die ihn veranlaßten, die bisherige Zensur zu kritisieren und den Geheimrat 84 Vockerodt künftig mit der Zensur zu beauftragen. Dieser erhielt die Weisung, nichts 85 Anstößiges über öffentliche Affären durchgehen zu lassen. Fünf Jahre später, als dem Geheimrat von Hertzberg die Zensur der französischen Zeitung in Berlin übertragen wurde, erhielt Podewils den Auftrag, diesen zu instruieren, "damit nichts in solchen Zeitungen glissiren möge, so auswärtigen Puissancen choquant oder Mir sonsten unanständig sein 86
könnte"
. Als wenig später schließlich der bisherige Zensor Vockerodt abgesetzt und
statt dessen dem Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin L. de Beausobre die Zensur der deutschen und französischen Zeitungen übertragen wurde, erhielt dieser genaue Weisungen. Beausobre sollte nichts durchgehen lassen, worüber sich ausländische Mächte beschweren könnten. Besonders sollte auf den russischen Hof Rücksicht genommen und nichts veröffentlicht werden, was Militär- oder Finanzangelegenheiten dieses Staates beträfe. Dagegen könnte alles, was in Petersburger Zeitungen Uber dort veranstaltete "Festivitäten" erschiene, nachgedruckt werden. 87 Verboten waren ferner alle und jede
83 84 85 86 87
Die Werke Friedrichs des Großen, Bd 7, S. 90. Acta Borussica. Behördenorganisation, Bd 9, S. 33. Ebenda. Ebenda, Bd 10, S. 221. Ebenda, S. 295.
Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus
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Nachrichten über die preußische Armee. Schließlich war auch der Druck von Edikten und sonstigen Verordnungen des preußischen Staates ohne vorherige Genehmigung nicht erlaubt. Der Sinn dieser Instruktion für Beausobre ist eindeutig. Ein König, der so viele außenpolitische Aktivitäten entwickelte wie Friedrich, der so häufig aus machtpolitischen Erwägungen seine Bündnispartner wechselte, konnte es in einer Zeit wie dieser seinen Zeitungsschreibern nicht selbst überlassen, ausländische Mächte zu kritisieren. Da Friedrich gerade seine außenpolitischen Pläne stets in tiefstes Dunkel hüllte, sie selbst seinen engsten Mitarbeitern verborgen hielt, es entwickelte Formen einer Manipulierung der öffentlichen Meinung und daher eine zielgerichtete Lenkung gegen bestimmte Staaten nicht gab, "opferte" der preußische König seinen einmal aufgestellten und von aufklärerischen Ideen nicht unbeeinflußten Grundsatz einer beschränkten Pressefreiheit seiner auf die Stärkung Preußens gerichteten Außenpolitik. Gerade in der Situation des J a h r e s 1755, ein J a h r vor Ausbruch des Siebenjährigen Krieges, als es ihm darum ging, die mehr als andere gefürchtete Großmacht Rußland für sich zu gewinnen bzw. in den kommenden Auseinandersetzungen zu neutralisieren, mußten ihm Kritiken und Indiskretionen der Berliner P r e s s e über diesen Staat als verderblich erscheinen. Deshalb die besondere Rücksicht, die e r seinem Zensor gegenüber Rußland empfahl. Ein Staat wie Preußen konnte sich die Pressefreiheit, auch wenn sie von vornherein nur auf bestimmte Publikationen und Artikel beschränkt war, nicht leisten. Deshalb entsprach es nur zu genau den veränderten Absichten des preußischen Königs, wenn im Jahre 1755 Danckelmann auf eine Bitte der "Gesellschaft zur Aufnahme der Religion", eine freie P r e s s e ohne Zensur zu genehmigen, antwortete, daß der König "dergleichen P r e s s e höchst bedenklich finde und nicht gemeinet s e i , dergleichen in seinen Landen zu OQ
verstatten"
. Wie tief das Dunkel war, das über dem preußischen Kabinett auch später
noch lag, wie wenig über innen- und außenpolitische Ziele und Maßnahmen nach außen drang, das zeigt die versteckte Kritik, die Christian Friedrich Daniel Schubart in seiner "Deutschen Chronik" noch in den siebziger Jahren übte. Schubart, dessen Verhältnis zu Friedrich II. 89 kritischer war, als e s auch in letzter Zeit noch angenommen wurde
, bedauerte wiederholt
seine Unkenntnis über das, was wirklich in Preußen vorging. "Von Sparta schreibt man nur in Kriegszeiten und dann auch nicht ohne Zittern", schrieb e r am 16. März 1775. "Im Frieden weiß man nichts zu sagen, als Leonidas mustert seine Völker, denkt im Cabinette, spricht mit alten und erfahrenen Kriegern, ißt seine schwarze Suppe und l ä ß t ' s e r s t , wenn
88 89
Ebenda, S . 315. Kegel, Rudolf, Die nationalen und sozialen Werte in der Publizistik Christian Friedrich Daniel Schubarts unter besonderer Berücksichtigung seines Lehens und seiner Lebensumstände, phil. D i s s . , Greifswald 1959 (Ms.), vor allem S . 64 ff.
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sein Heer schon auf fremdem Boden ist, die Zeitungsschreiber wissen, was e r tun w i l l . "
90
Für die übrige Buchproduktion bestand im Staate Friedrichs II. niemals Zensurfreiheit, wenn die Verhältnisse, die Friedrich beim Regierungsantritt vorfand, auch ungeord91 net waren und erlassene Verfugungen sehr "weitherzig" ausgelegt wurden. Schon am 30. September 1742 rief der preußische König diese Verordnungen jedoch ins Gedächtnis zurück. Es waren nämlich nach seiner Meinung bedenkliche und anstößige Schriften in B e r lin erschienen, besonders solche "über politische und frembde Mächten berührende A f f a i ren" 92 . Anläßlich ähnlicher Vorkommnisse an der Universität Halle, wo Schriften verkauft worden sein sollen, "die Seiner Königlichen Majestät höchsten Persohn und dero Etat und 93 interesse nachtheilig, auswärtigen Puissancen auch verkleinerlich" gewesen
, ordnete
Friedrich im Dezember des gleichen Jahres an, an den Universitäten und Gymnasien, wo es keine Zensoren gab, solche sofort einzusetzen. Diese sollten darauf achten,94daß derartige "anstößige" Schriften weder "ediret, gedrucket oder verkauftet werden"
.
Daß es
für Friedrich II. hinsichtlich der Buchzensur wieder und wieder zu Ärgernissen kam, lag offensichtlich an den unübersichtlichen Zensurverhältnissen. Den ersten Versuch, auch hier zu zentralisieren und die gesamte Zensur in den preußischen Ländern einer einheitlichen Behörde zu unterstellen, unternahm e r im November 1747, als er der Akademie der Wissenschaften das Privilegium erteilte, alle Druckerzeugnisse, einschließlich der Hochzeits95 und Trauergedichte sowie der Leichenreden, zu zensieren.
Diesem Privilegium lag kei-
neswegs das Bestreben zugrunde, die Buchproduktion Preußens unter die Kontrolle eines so gelehrten und der Aufklärung verpflichteten Gremiums zu stellen, wie es die Akademie war. Friedrich verfolgte mit dieser Maßnahme zwei Absichten: Einmal ging es ihm um die Zentralisierung des Zensurwesens, und zweitens glaubte e r mit 96diesem Privilegium eine für die Akademie wichtige finanzielle Frage lösen zu können.
Für die Zensur hatten die
Buchdrucker oder Autoren nämlich eine Gebühr an die Akademie zu entrichten. An dieser finanziellen Seite ist das Projekt Friedrichs schließlich auch gescheitert. Es erhob sich eine wahre Flut von Protesten. Die Buchdrucker überhäuften die Kammern der einzelnen Provinzen, aber auch den König selbst mit Eingaben, so daß sich dieser genötigt sah, das 90 91
92 93 94 95 96
Deutsche Chronik aus dem Jahre 1774, hg. von Christian Friedrich Daniel Schubart, Augsburg 1774, S. 172. v g l . Fontius, Martin, Voltaire in Berlin. Zur Geschichte der bei G . C . Walther veröffentlichten Werke Voltaires, Berlin 1966, S. 15 f f . = Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd 24. DZA Merseburg, Hist.Abt.II, Rep. 9, F . 2 a, Fasz. 8, f o l . 20. Ebenda, Fasz. 9, f o l . 5. Ebenda, f o l . 5. Ebenda, Fasz. 10, f o l . 3. Vgl. Font ius, S. 17.
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Privileg wieder aufzuheben. Zweifellos hätte sich die Übergabe der Zensur an die Akademie belebend auf das Geistesleben in Brandenburg-Preußen ausgewirkt. Nach dem Scheitern des Projekts gab Friedrich II. den Gedanken an eine Zentralisierung der Zensur nicht auf. Vorkommnisse in Berlin, namentlich die "Verlegung schädlicher Bücher und Pasquillen" durch den dafür zu sechsmonatiger Festungshaft verurteilten V e r 97 leger Johann Adam Rüdiger und letztlich Beschwerden über den von Voss verlegten "Wahrsager", veranlaßten den preußischen König zum Erlaß seines Zensurediktes vom 11. Mai 1749. Der letzte Anstoß f ü r dieses Edikt war geradezu lächerlich. Die "Schulbe98 , weil
dienten" von Berlin hatten an der Nummer 7 des "Wahrsagers" Anstoß genommen
dort angeblich ihr ganzer Stand verunglimpft worden s e i . Tatsächlich enthielt diese Nummer eine Satire auf das verknöcherte und den Bedürfnissen des Lebens schlecht entsprechende Schulwesen dieser Zeit. Diese Satire sowie eine in Nummer 9 veröffentlichte über das "Lob der Herren Hahnreihe" - mit der sich der Autor Uber die philosophische Lehre von Leibniz lustig machte, nach der die bestehende Welt die beste aller Welten sei - genügten, um das Zensurwesen endgültig zu regeln. Am 11. Mai 1749 erließ der König ein Edikt über die Einsetzung einer Zensurkommission. Danach wurde die Zensur der historischen Werke dem Mitglied der Akademie der Wissenschaften Peloutier, die d e r theologischen Probst Süßmilch übertragen, die philosophischen Arbeiten zensierte Jacob Eisner (nach dessen Tode wurde 1751 der Rektor des Joachimsthalschen Gymnasiums in Berlin, Heinius, zum Zensor eingesetzt), Direktor der philologischen Klasse der Akademie, und die juristischen Johann Georg Buchholtz, Geheimer Tribunals- und Postrat in Berlin und s p ä t e r e r Kom99 m i s s a r f ü r die J u s t i z r e f o r m in Cleve. Von dieser allgemeinen Zensur waren alle Akademie- und Universitätsschriften ausgenommen, da f ü r die Universitäten ja bereits die Zensur der Fakultäten bestand. Schließlich unterlagen alle Arbeiten, die die politischen Interessen Preußens berührten, der Zensur des Departements f ü r Auswärtige Angelegenheit e n . Wenn Martin Fontius in seiner interessanten Arbeit über das französische Buch in Deutschland feststellt, daß man unter Friedrich II. "von einer echten Zensur" kaum sprechen k ö n n e * ^ , so i r r t e r . Die Beschränkung seiner Arbeit auf das französische Buch, das der König ja tatsächlich tolerierte und dessen Einfuhr, Druck, Nachdruck und Vertrieb bis auf wenige Ausnahmen wirklich keinen Einschränkungen unterlag, ließ Fontius v e r m u t lich zu dieser Fehleinschätzung kommen. Damit soll ein wichtiges Ergebnis seiner Arbeit,
97 98 99 100
DZA Merseburg, Hist. Abt. II, Rep. 9, F . 2 a, F a s z . 8, fol. 57. Ebenda, F a s z . 11, fol. 4. Acta Borusstca. Behördenorganisation, Bd 8, S. 315 f. Fontius, S. 16.
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nämlich die Tatsache, daß es für die von der französischen Aufklärung schon geleistete Gedankenarbeit optimale Infiltrationsmöglichkeiten in Brandenburg-Preußen gab 1 "''', nicht angezweifelt werden. Nur darf man die Zensurverhältnisse in diesem Staate nicht an den Aufnahmemöglichkeiten für das französische Buch messen. Denn daß die 1749 eingerichtete Zensur tatsächlich streng über alle in Preußen erscheinenden Druckerzeugnisse wachte, bezeugt kein Geringerer als Lessing. Als Lessing während des Siebenjährigen Krieges mit Gleim über dessen Gedicht "An die Kriegsmuse nach dem Siege bei Zorndorf' in Kon102
flikt geriet
und aus diesem Grunde dessen Druck verzögerte, teilte er Gleim in einem
Brief vom 16. Dezember 1758 seine sachlichen Gründe gegen das Gedicht mit. Gleichzeitig verwies er darauf, daß "itzt, bei großer Strafe, nicht eine Zeile ohne Zensur und Erlaubnis hier in Berlin gedruckt werden darf, und erst heute erfahre ich, daß es die Zensur nicht passieren kann" 103 . Eine strenge Order erging im November 1759 auch an die Universität Halle, weil in den dortigen Zeitungen Nachrichten über Friedrichs Bundesgenossen erschie104 nen waren, die dieser nicht billigte. Besieht man folglich die ersten Schritte Friedrichs II., die seinen Ruhm begründeten, ein "aufgeklärter" Fürst zu sein, etwas genauer, so zeigt sich von allem Anfang an, wo die unüberschreitbare Grenze jeder Reformpolitik lag. Der preußische König, der in den ersten Wochen seiner Regierung noch am ehesten geneigt war, die langgehegten Pläne seiner Kronprinzenzeit zu verwirklichen, sah sich sofort genötigt, die getroffenen Verfügungen einzuschränken bzw. zurückzunehmen, wenn es das Interesse des absolutistischen Staates erforderte. Als nach dem Überfall auf Schlesien die begrenzte Freiheit für die Berliner Presse mit den machtpolitischen Plänen des Königs kollidierte, "opferte" er sie. Friedrichs Machtpolitik - sein Drang nach Eroberung, nach "Abrundung" seines Herrschaftsbereiches - war eine unüberwindliche Barriere. Ihr hatte sich alles unterzuordnen. Wo diese Machtpolitik durch die Aktivitäten des Bürgertums, z . B . durch die der Presse, auch nur im geringsten gefährdet schien, nahm Friedrich zurück, was er unter dem Einfluß der Aufklärung in seiner Kronprinzenzeit geplant und in den ersten Regierungstagen in begrenztem Maße verwirklicht hatte. 101 Ebenda, S. 17. 102 Über die Auseinandersetzung zwischen Lessing und Gleim während des Siebenjährigen Krieges vgl. Weber, Peter, Lessings 'Minna von Barnhelm'. Zur Interpretation und literarhistorischen Charakterisierung des Werkes, in: Studien zur Literaturgeschichte und Literaturtheorie, hg. von Hans-Günther Thalheim und Ursula Wertheim, Berlin 1970 S. 47 ff« 103 Less'ing*. Gotthold Ephraim, Gesammelte Werke in zehn Bänden, Bd 9, Berlin-Weimar 1968, S. 183. 104 DZA Merseburg, Hist. Abt. II, Rep. 9, F . 2 a 1, Fasz. 4, fol. 157.
Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus -sten beiden Schlesischen Kriege
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ließen Friedrichs Initiative auf innenpolitischem
Gebiet bald zum Stillstand kommen. Wo die Waffen sprachen, konnte von Reformen nicht die Rede sein. Nach Beendigung der Kriege begann Friedrich II. der inneren Politik wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Im Mittelpunkt seiner Tätigkeit stand nun in dem Jahrzehnt zwischen dem zweiten Schlesischen und dem Siebenjährigen Krieg neben der Wirtschaftspolitik die sogenannte Justizreform. 105 Über die Justizreform Friedrichs II. gibt es eine umfangreiche bürgerliche Literatur
,
die den Verlauf des Reformwerks bis in alle Einzelheiten nachgezeichnet hat. Nicht Ergänzung dieser Literatur und auch nicht in erster Linie Neudeutung der friderizianischen Politik auf dem Gebiet der Justizpflege soll und kann daher Ziel der vorliegenden Studie sein. Hier wie auch in anderen Teilbereichen der inneren Politik interessiert das Verhältnis von Theorie und Praxis, von aufgeklärtem Denken und Politik, weil nur auf diese Weise der Zweck der vorliegenden Arbeit erfüllt und nachgewiesen werden kann, in welchem Maße sich der preußische Staat unter Friedrich II. den neuen gesellschaftlichen Bedingungen anpaßte und anzupassen vermochte. Überblickt man das publizierte Aktenmaterial über die Justizreform Friedrichs I I . , so fällt auf, daß es ursprünglich vor allem praktische Bedürfnisse waren, die den preußischen König zwangen, Veränderungen ins Auge zu fassen. Unter seinem Vater, Friedrich Wilhelm I . , war die Justiz zweifellos der Zweig der inneren Verwaltung gewesen, der am wenigsten entwickelt worden war. In den ersten Jahren seiner Regierung wurde Friedrich n . 106 daher mit vielen Klagen über schleppende Justiz überhäuft. Wiederholt wandte er sich an seine Minister mit der Forderung, "alles anzuwenden, damit die täglich überhand nehmenden Klagen über die schlechte und langwierige Justice im Grunde und prompte" behoben
105 Vgl. unter anderen Koser, Reinhold, König Friedrich der Große, Stuttgart 1890; Hintze, Otto, Friedrich der Große und die preußischen Justizreformen des 18. Jahrhunderts, in: Recht und Wirtschaft, J g . 1, Berlin 1912, S. 129-135; Neufeld, Hans, Die Friderizianische Justizreform bis zum Jahre 1780, phil. Diss., Göttingen 1910; Springer. Max. Die Coccejische Justizreform, München/Leipzig 1914; Schmidt. Eberhard, Die Kriminalpolitik Preußens unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., Berlin 1914 = Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 3. Folge, 1. Bd, 2. Heft; derselbe. Rechtsentwicklung in Preußen, 2. Aufl., Berlin 1929, S. 25 ff.; derselbe. Die Justizpolitik Friedrichs des Großen, in: Heidelberger Jahrbücher, Bd 6, 1962, S. 95 ff.; derselbe. Rechtsprüche und Machtsprüche der preußischen Könige, Leipzig 1943; Conrad. Hermann. Deutsche Rechtsgeschichte, Bd 1, Karlsruhe 1954; derselbe. Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts, Köln-Opladen 1961 = Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen; Geisteswissenschaften, H. 95. 106 Acta Borussica. Behördenorganisation, Bd 6/2, S. 506, 562, 614, 663, 781
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würden.
Cocceji, der schon unter Friedrich Wilhelm I. mit der Neuordnung des
Justizwesens begonnen hatte, erbot sich, den König über die wahren Ursachen des Verfalls zu unterrichten, doch fand galt, er, solange Friedrichs Interesse der Cocceji Eroberung und Behauptung Schlesiens noch kein Gehör. 108 Am 11. hauptsächlich Juli 1743 wurde vom 109 König aufgefordert, über die Ursachen des Verfalls zu berichten. Noch einmal aber setzte Friedrich II. "bei diesen gegenwärtigen Conjuncturen" notwendige Schritte zu einer Verbesserung des Justizwesens a u s . 1 1 0 Erst am 14. Januar 1745 befahl er seinen Ministern Cocceji, Broich und Arnim, "bei den Justizcollegien solche Einrichtungen zu treffen, daß alle Processe ohne Weitläuftigkeiten nach wahrem Rechte binnen Jahresfrist abgetan werden könnten"
Damit nahm die Justizreform in Brandenburg-Preußen ihren Anfang,
Sie betraf ausschließlich das Zivilrecht und konzentrierte sich in ihrer ersten Phase auf die Entwicklung und Durchsetzung einer neuen Gerichtsverfassung. Dabei war es hauptsächlich Cocceji, der eine enorme Energie entwickelte, um die von ihm konzipierten und vom König genehmigten Veränderungen in der Praxis durchzusetzen. Cocceji war ein Mann bürgerlicher Herkunft. Sein Vater war als Universitätsprofessor in Heidelberg, Utrecht und später in Frankfurt (Oder) tätig gewesen und für seine Verdienste um den preußischen Staat im Jahre 1702 geadelt worden. Als Friedrich II. den Thron bestieg, war Cocceji bereits 60 Jahre alt und verfügte über außerordentlich große Erfahrungen in der politischen Praxis. Aber er war, wie Hintze feststellte, schwerlich unter die Führer 112
der Aufklärung zu rechnen.
An seinem mit 20 Jahren in seiner Inauguraldisputation
verteidigten und im Grunde genommen gegen die Lehrer des Naturrechts, Grotius und Pufendorf, gerichteten Grundsatz, nach dem alles 113 Recht seinen Ursprung im göttlichen Willen habe, hielt er zeit seines Lebens fest. Daß es dieser konservative, mit einem überdurchschnittlichen Organisationstalent begabte Mann war, dem in Preußen die ideelle und praktische Durchsetzung der Justizreform übertragen wurde, prägte die Reform zumindest in ihrer ersten Phase. Von Friedrich II. selbst wurde in den ersten Jahren wenig an geistiger Potenz in die Justizreform investiert. Sein Bestreben erschöpfte sich in dem stereotyp geäußerten
107 108 109 110 111 112
Ebenda, S. 506. Ebenda. Ebenda, S. 615. Ebenda, S. 618. Ebenda, S. 841. Ebenda, Bd 6/1. Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs II., Berlin 1901, S. 115. 113 Ebenda, S. 114.
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Verlangen, "alle Processe in Einem J a h r , so viel möglich, in allen Instantien zum Ende" 114 zu bringen.
Cocceji konzentrierte sich zunächst auf diese Aufgabe. Als Frucht seiner
praktischen Bemühungen in den einzelnen Provinzen legte e r dem König im Mai 1748 den Entwurf einer neuen Prozeßordnung, das "Project des Codicis Fridericiani Marchici oder eine, nach S r . Königl. Majestät von Preußen selbst vorgeschriebenen Plan entworfene Kammer-Gerichts-Ordnung, nach welcher Prozesse in einem J a h r durch drei Instanzen 115 zu Ende gebracht werden sollen und müssen" , v o r . Das Ergebnis dieser im F r i e d e n s jahrzehnt zwischen 1746 und 1756 unternommenen Arbeit war eine dem absolutistischen Zentralisierungsbestreben entsprechende Vereinheitlichung der Gerichtsverfassung und 116 der Prozeßordnung.
Gerade darin bestand nach Hintze der Kern der zu unternehmenden
Veränderungen im Justizwesen. Nach seiner Meinung handelte es sich darum, "die stehengebliebene territoriale Gerichtsverfassung, jene althergebrachte, wenig veränderte O r g a nisation der Rechtspflege, die in den Bedürfnissen der t e r r i t o r i a l e n Kleinstaaten des 16. und 17. Jahrhunderts wurzelte, umzuwandeln in eine F o r m , die den Bedürfnissen und Aufgaben des vergrößerten Staatswesens, des der Einheit und Centralisation zustrebenden 117 Gesamtstaates entsprach"
. Wenn dieser Zweck in der ersten Phase der J u s t i z r e f o r m
im wesentlichen erreicht wurde, so spricht dies zwar f ü r die Fortsetzung der von F r i e d r i c h s Vater begonnenen Bestrebungen nach Vereinheitlichung und Zentralisierung des preußischen Staates, noch nicht aber vom Einfluß aufklärerischer Ideen. Damit soll kein Werturteil über diesen Teil der Justizreform gefällt werden. Die Vereinheitlichung war zweifellos notwendig und gereichte auch, wie aus vielen Aktenstücken hervorgeht, den unteren Schichten des Volkes zum Vorteil, die unter den vorher mitunter sogar Jahrzehnte währenden Prozessen gelitten und erhebliche finanzielle Aufwendungen zu tragen hatten. Nur kann die Justizreform in i h r e r Anfangsphase noch nicht als Beweis f ü r aufgeklärtes Denken 118 gelten, das nach Meinung Hartwigs Friedrichs Stellung zur Rechtspflege bestimmte. E r s t im "Politischen Testament" aus dem J a h r e 1752 tauchte neben anderen bereits vorher wiederholt geäußerten Gedanken über eine prompte Justiz eine Idee auf, die tatsächlich aufklärerischen Einflüssen zugeschrieben werden kann. Schon vorher hatte sich F r i e d r i c h in theoretisch verallgemeinerter F o r m "über die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen", geäußert. 119 Friedrich schrieb im "Politischen Testament": "Ich habe mich 114 Ebenda, Bd 7, Berlin 1904, S. 141. 115 Ebenda, Bd 8, S. 1. 116 Vgl. Schmidt, Eberhard, Kammergericht und Rechtsstaat. Eine Erinnerungsschrift, (West-)Berlin 1968, S. 20. 117 Acta Borussica. Behördenorganisation, B d 6 / 1 , S. 86. 118 Härtung, in: HZ, Bd 180, 1955, S. 26. 119 Vgl. Die Werke Friedrichs des Großen, Bd 8, S. 22-39.
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entschlossen, niemals in den Lauf des gerichtlichen Verfahrens einzugreifen; denn in den 120 Gerichtshöfen sollen die Gesetze sprechen, und der Herrscher soll schweigen." Diese hier formulierte Erkenntnis wird seit Koser auf die Einwirkung des 1748 erschienenen 121
"Geist der Gesetze" von Montesquieu zurückgeführt.
Auchdie obenerwähnte Abhand-
lung, die am 22. Januar 1750 in der Akademie der Wissenschaften 122verlesen wurde, soll in mehrfacher Hinsicht von Montesquieu beeinflußt worden sein. Vergleicht man Montesquieus Arbeit mit der Abhandlung Friedrichs n . , so wird man unschwer feststellen, daß die Übereinstimmung in bestimmten Fragen nur 123 oberflächlich war. Schon die Grundtendenz des Werkes, die, wie neuere Forschungen betonen
, nicht im
englischen Konstitutionalismus, sondern in der ständisch beschränkten französischen Monarchie des Mittelalters ihr Gesellschaftsideal suchte, mußte dem auf Zentralisierung des Staatswesens und Ausschaltung aller Zwischengewalten gerichteten absolutistischen Denken des Preußenkönigs zutiefst widersprechen. Gerade deshalb ist es interessant sowie für das Verhältnis Friedrichs zur Aufklärung wichtig zu beobachten, wie der preußische König einem seinen Grundanschauungen keineswegs entsprechenden Werk "Nützliches" entnahm und als Regierungsmaxime deklarierte. Aus der MontesquieuschenDarstellung über die Gesetze entlehnte Friedrich nur die 124 eine Forderung, daß sie dem Geist der Nation entsprechen müßten. Für Montesquieu aber stellte sich gerade dieses Problem viel breiter und vielschichtiger dar. Die Gesetzmäßigkeit war für ihn eine objektive, wenn auch durch die Urvernunft inaugurierte Erscheinung. Aus dieser wichtigen, von ihm auf die Natur wie die Gesellschaft bezogenen Erkenntnis schloß er auf das Vorhandensein eines objektiven Rechts. Von dieser falschen Schlußfolgerung aus einer richtigen Teilerkenntnis ausgehend, entwickelte Montesquieu seine Gedanken über die positiven Gesetze, deren historische Bedingtheit e r erkannte und die er auf die natürlichen, geographischen, biologischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten 125 eines Landes sowie auf die dort herrschende Regierungsform zurückführte. Diese neue 120 Friedrich der Große. Die Politischen Testamente, übersetzt von Friedrich v. OppelnBronikowski, mit einer Einführung von Gustav Berthold Volz, Berlin 1922, S. 4. 121 Koser, Bd 1, S. 333. 122 Vgl. Schmidt. Eberhard. Montesquieus 'Esprit des lois' und die Problematik der Gegenwart von Recht und Justiz, in: Festschrift für Wilhelm Kiesselbach, Hamburg 1947, S. 193; ferner die Einführung von Friedrich August v. d. Heydte zu Charles Baron de Montesquieu. Vom Geist der Gesetze. Eine Auswahl, (West-)Berlin 1950, S. 66. 123 Vgl. zu dieser Neueinschätzung Krauss, Werner. Die Entstehungsgeschichte von Montesquieus "Esprit des lois", in: Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, S. 241 ff. 124 Die Werke Friedrichs des Großen. Bd 8, S. 26. 125 Vgl. Montesquieu. GEuvres complétes, hg. von Jean Brethe de la Gressage, Bd 1, Paris 1950, S. 26 f.
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Erkenntnis Montesquieus, die, wie Werner Krauss formulierte, darauf hinauslief, "im Gesetz den geschichtlich begrenzten Willen einer bestimmten Gesellschaftsbildung zu 126
sehen"
, verstand Friedrich nicht. Für ihn blieb von der ganzen, relativ allseitig formu-
lierten Bedingtheit der Gesetze nur die Forderung nach nationaler Entsprechung, wobei national für ihn mit preußisch identisch war. Ganz deutlich tritt die eng auf den eigenen Nutzen bedachte Übernahme und Umdeutung fremder Gedanken durch Friedrich II. bei der Behandlung des Staatsrechts zutage. Für Friedrich reduzierte sich die widersprüchliche Behandlung des Staatsrechts durch Montesquieu, die in einer eindeutigen Ablehnung der Despotie gipfelte, auf den einen für seine Staatsräson wichtigen Satz, daß die "Gesetzgeber der Monarchien gewöhnlich die Fürsten 127 selbst" sind. Der in der Tradition der "noblesse de robe" stehende Montesquieu, der die historisch erworbenen Privilegien dieser Schicht zu wahren bemüht war, ging jedoch bei seiner Feststellung von den Fürsten als der Quelle der Gewalt auf dem Gebiete des 128öffentlichen und privaten Rechts von der Existenz eines staatlichen Grundgesetzes aus , das nach seiner Meinung Zwischengewalten und vermittelnde Körperschaften voraussetzte, die dem Schutz der Gesetze zu dienen hatten. Solche Zwischengewalten waren für Montesquieu zweifellos die französischen parlements, also die Justizorgane, sowie die Stände. Deren politische Vorrechte wollte Montesquieu gewahrt wissen; ohne sie werde der Monarch zum Despoten. Es ist klar, daß diese Gedanken Friedrich gar nicht behagen konnten, und so blieb von der den Interessen seiner Klasse dienenden Feststellung Montesquieus über die Monarchie nur der Satz von den Fürsten als der Quelle aller Gewalt auf rechtlichem Gebiet übrig. All das schließlich, was Montesquieu an Gedanken über die staatsbürgerliche Freiheit entwickelte, die für ihn mit Sicherheit identisch war, sucht man bei Friedrich vergeblich. Es zeigt sich also, daß der König von Preußen einerseits an der Begründung der bürgerlichen Rechte der Individuen in der Gesellschaft vorbeiging, andererseits aber aus den ständisch geprägten Vorstellungen Montesquieus über die Monarchie nur das für ihn Brauchbare entnahm. Da er auf diese Weise einseitig auswählte und wichtige Gedanken ihrer eigentlichen sozialen Funktion entkleidete, konnte er in seinem "Politischen Testament" auch ohne Sorgen für seine Macht den Grundsatz von der Nichteinmischung in die Rechtsprechung übernehmen. Für Montesquieu leitete sich der Grundsatz, nach dem in der Monarchie der Fürst 126 Krauss, Studien und Aufsätze, S. 198. 127 Die Werke Friedrichs des Großen. Bd 8, S. 31. 128 Montesquieu. Œuvres complètes, Bd 1, S. 45.
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nicht selbst Recht sprechen kann
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, aus seiner Idee von der Teilung der Gewalten und
dem Gleichgewicht zwischen den Gewalten ab. Friedrich übernahm diesen Satz, ohne gleichzeitig auch dessen P r ä m i s s e anzuerkennen. Auf diese Weise ergab sich, daß sich der Leitsatz, nach dem in den Monarchien die Gesetzgeber die Fürsten selbst sind, mit dem Grundsatz der Nichteinmischung in die Rechtsprechung ganz ausgezeichnet vertrug; denn solange der Herrscher der Gesetzgeber war, solange am herrschenden Recht nichts Entscheidendes zugunsten der neuen aufstrebenden Klasse verändert wurde, solange sich der F ü r s t nicht einmal dem ausgleichenden Gewicht der Montesquieuschen Zwischengewalten anzupassen hatte, solange e r schließlich, wie das Friedrich tat, den einmal gegebenen Aufbau der Gesellschaft wie seinen Augapfel hütete und konservierte, so lange konnte die relative Unabhängigkeit des Richters nicht mit dem Absolutismus kollidieren, so lange diente sie den gleichen Zwecken wie Friedrichs naturrechtlich bestimmte Staatsauffassung überhaupt: der Sicherung seiner absolutistischen Herrschaft. Denn sind die Gesetze der Fürsten "mild und gerecht", so schrieb Friedrich, der auch diesen Gedanken der Montesquieuschen Schrift entnahm, "so erhalten sie sich von selber, da jeder Bürger seinen Vorteil dabei findet. Sind sie aber hart und tyrannisch, so werden sie bald abgeschafft, weil man sie mit Gewalt aufrechterhalten muß und der Tyrann allein gegen ein ganzes Volk 130 steht, das nichts so sehr wünscht, als sie zu beseitigen." Von dieser Ansicht her geraten die Bemühungen Friedrichs um mildere Strafgesetze, wie die begrenzte Aufhebung der 1 3 1 r F o l t e r , die gleichfalls vorgenommenen Einschränkungen bei Verhängen der Todesstrafe 132 aber auch die von ihm eingeleitete Umgestaltung der Ehegesetzgebung , ins rechte Licht. Die Milderung der Rechtsprechung - eine wichtige Forderung der Aufklärung - war f ü r Friedrich die beste Garantie zur Erhaltung der bestehenden Gesetze. Daß sich Friedrich in der Folgezeit nicht i m m e r strikt gegenüber einmal aufgestellten Postulaten verhielt, war f ü r ihn keine Besonderheit. Zwar wies e r in den folgenden Jahren des öfteren erbetene Eingriffe, sogenannte Machtsprüche, in schwebende zivilrechtliche Verfahren ab, sein ständiges und mit zunehmendem Alter wachsendes Mißtrauen gegenüber seinen Beamten einschließlich der Juristen veranlaßte ihn 1779 jedoch zu dem drastischen Eingreifen in den Prozeß des Müllers Arnold.
129 Ebenda, S. 151. 130 Die Werke Friedrichs des Großen. Bd 8, S. 31. 131 Vgl. Acta Borussica. Behördenorganisation. Bd 6/2, S. 625; Bd 7, S. 441; Bd 9, S. 94 f. Zur Einschränkung der Todesstrafe und der Gründe dafür vgl. auch Schmidt, Die Kriminalpolitik Preußens, S. 28 ff. 132 Acta Borussica. Behördenorganisation, Bd 7, S. 153.
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Was die andere Seite der Justizreform betrifft, die Herstellung eines sogenannten Landrechtes, so hat Cocceji diese Arbeiten nicht beenden können. E r lieferte zwar im 133 November 1748 den ersten Teil des Landrechtes ab , der das Personen- und Familien134 recht enthielt, und im Mai 1751 den zweiten Teil mit dem Sachen- und Erbrecht , an d e r Vollendung der Arbeit hinderte ihn jedoch der Tod. Am herrschenden Recht aber hätte auch die Vollendung dieses Entwurfs und seine Einführung in die Praxis nichts geändert, stellte e r doch im Grunde genommen lediglich den nicht einmal geglückten Versuch einer Kompilation und Systematisierung des bestehenden Rechts d a r . So hat die J u s t i z r e f o r m Friedrichs II. in i h r e r ersten Phase vor allem praktischen Bedürfnissen des absolutistischen Staates gedient. Das Justizwesen als die letzte Domäne ständischen Einflusses in Brandenburg-Preußen galt es zu neutralisieren und in den Gesamtstaat zu i n t e g r i e r e n . Als dann im Verlauf der Reform tatsächlich aufklärerisches Gedankengut wirksam wurde, bewirkte dies keineswegs eine Weiterführung der Reform über den eigentlichen Zweck hinaus. Berücksichtigt man zudem noch die hartnäckigen Bemühungen Friedrichs II. zur E r h a l tung der Grundstruktur der existierenden Gesellschaft, so erweist sich der Grad der Anpassung an die neuen im internationalen Maßstab entstehenden Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Warenproduktion als äußerst minimal. Friedrichs Politik konzentrierte sich im sozialen Bereich darauf, die im Verlaufe der historischen Entwicklung entstandene Klassenkonstellation zu konservieren und gegen alle Einflüsse, die sich aus der entwickelten Warenproduktion und den entstehenden kapitalistischen Verhältnissen ergaben, abzuschirmen. Seine Verbote, Güter des Adels an Vertreter des Bürgertums zu verkaufen, häuften sich 135 in den Jahrzehnten zwischen den Kriegen. Da im Zusammenhang mit der wachsenden Finanzkraft des Bürgertums und der zunehmenden Verschuldung des Adels sich die Fälle des Verkaufs von Gütern mehrten, glaubte der preußische König eingreifen zu müssen, um Verschiebungen im sozialen Gefüge der Gesellschaft zu verhindern. Zieht man das Fazit dieser e r s t e n Etappe friderizianischer Politik und erwägt die Frage, inwieweit der aufgeklärte Absolutismus nicht nur Theorie, sondern auch gesellschaftliche Praxis war, so muß man eindeutig feststellen, daß die gesellschaftliche P r a x i s nicht einmal der bereits im feudalen Sinne umfunktionierten Theorie entsprach. Sie blieb inkonsequent und fand ihre Grenzen jeweils dort, wo es um die machtpolitisch bestimmten Interessen des brandenburgisch-preußischen Absolutismus ging. Und auch in den wenigen Fällen, in denen von einer zeitweiligen Übereinstimmung zwischen Theorie und P r a x i s 133 Ebenda, Bd 8, S. 155. 134 Ebenda, Bd 9, S. 158 f. 135 Ebenda, Bd 9, S. 681; Bd 9, S. 63, 218.
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gesprochen werden kann, diente die Praxis wie die bereits umfunktionierte Theorie der Festigung der absolutistischen Herrschaft des preußischen Königs. Es ist bezeichnend, daß es in dieser Phase friderizianischer Innenpolitik unter den höheren Beamten kaum Persönlichkeiten gab, die man unter die führenden Männer der Aufklärung zählen könnte. Insofern war der "aufgeklärteste" Kopf der preußischen Regierung tatsächlich der König selbst. Die Aufklärung saß bei ihm in Sanssouci zu Tisch. In seinen Amtsstuben war sie nur selten zu finden. Der Einfluß aufklärerischer Ideen wurde daher in der Regierungspraxis immer nur vermittelt, über den König,wirksam. Direkt hat das Bürgertum niemals Einfluß auf die Entscheidungen preußischer Politik gewinnen können. Der Siebenjährige Krieg unterbrach erneut Friedrichs innenpolitische Tätigkeit. Erst nach Beendigung des Krieges wurde sein unmittelbarer Einfluß auf die Staatsgeschäfte wieder wirksam. In dieser neuen Periode friderizianischer Innenpolitik gewinnt für die Behandlung des "aufgeklärten" Absolutismus ein Bereich an Bedeutung, der bisher bewußt aus der Darstellung ausgeklammert wurde: die Wirtschaftspolitik. Friedrich II. ist zeit seines Lebens von seinen einmal gefaßten wirtschaftspolitischen Prinzipien nicht abgewichen. Diese entstammten vorwiegend merkantilistischen Vorstellungen bzw. merkantilistischer Wirtschaftspraxis in ihrer französischen Ausprägung. Mit ihrer Hilfe war der preußische König in den ersten Jahren seiner Regierungszeit in beschränktem Maße in der Lage, die bis dahin nur schwach entwickelten Keime kapitalistischer Produktion zumindest in den mittleren preußischen Provinzen sowie das ökonomische Zusammenwachsen dieser Provinzen zu fördern. Anders wurde die Lage, als die kräftiger gewordenen kapitalistischen Produktionsverhältnisse andere Stimulierungsmittel erforderten. Als theoretischer Reflex dieser in einigen Ländern Europas, vorwiegend in England, Frankreich und Holland, aber auch in abgeschwächtem Maße in verschiedenen deutschenTerritorienauftretenden E r scheinung entstanden in Frankreich und England in Form des Physiokratismus und der klassischen englischen Ökonomie neue ökonomische Lehrmeinungen. Dabei ist der Ende der fünfziger Jahre aufkommende Physiokratismus als die wirtschaftspolitische Variante der französischen Aufklärung anzusehen. Will man folglich der Frage nachgehen, ob und inwieweit auch auf wirtschaftspolitischem Gebiet neue Impulse wirksam wurden, so muß man sich zwangsläufig mit der Entwicklung nach dem Siebenjährigen Krieg beschäftigen. Erst für diese Zeit kann im übertragenen Sinne überhaupt von einer "aufgeklärten" Politik auf wirtschaftspolitischem Gebiet die Rede sein. Es ist eine von der gesamten bürgerlichen wie marxistischen Geschichtsschreibung anerkannte Tatsache, daß physiokratische Ideen niemals Einfluß auf Friedrich II. gewinnen konnten. Während sich für die Schmoller-Schule jedoch auch daraus Möglichkeiten apologetischer Betrachtung ergaben, kam Fritz Härtung
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zu dem Ergebnis, daß sich Friedrichs persönliche Stellung auf dem Gebiete der Wirtschafts136 Politik unverkennbar hemmend auswirkte. Unter dem Druck der nach dem Siebenjährigen Kriege gestiegenen finanziellen Bedürfnisse des preußischen Staates und der 1763 ausbrechenden, mehrere europäische Länder erfassenden Krise traten einige Züge der bisherigen Wirtschaftspolitik Friedrichs II. extremer hervor. Während sich aus dem physiokratischen System das "laissez faire, laissez aller, die ungehinderte freie Konkurrenz, Beseitigung aller Staatseinmischung, Monopole 137 usw. von der Industrie" als Konsequenz ergab , steigerte Friedrich die Staatseinmischung. Die Reglementierung der Wirtschaft, seine Eingriffe in die Wirtschaftsführung privater Betriebe, die Vergabe von Monopolen, die damit verbundene faktische Behinderung der freien Konkurrenz sowie die Beschränkung des Handels stiegen in einem solchen Maße, 138 daß der preußische König sogar von merkantilistischer Position her kritisiert wurde. Friedrich begann seine wirtschaftspolitische Tätigkeit nach dem Kriege mit der Einrichtung der Regie, die zur meistgehaßten Institution im preußischen Staate werden sollte. Um die höheren Ausgaben für die Armee bestreiten zu können, waren Mehreinnahmen e r forderlich, die der preußische König durch eine Veränderung der Steuerverwaltung, eine Umgestaltung des indirekten Steuersystems und die Einführung neuer Abgaben zu 139 erzielen suchte.
Zur Errichtung dieser neuen Steuerverwaltung holte Friedrich Franzosen
nach Berlin, die Mirabeau später als "die zur Wissenschaft der Erpressung gebildeten Zöglinge der französischen Fiscalität" bezeichnete, die aus einem Lande gekommen seien, wo diese den höchsten Grad der Vollendung erhalten habe, und die in Preußen kein anderes 140 Interesse hätten, als ihre Stelle zu behalten. Fast gleichzeitig veranlaßte Friedrich die Gründung einiger Gesellschaften, u . a . der Levantinischen und der See-AssekuranzGesellschaft, die mit außerordentlichen Monopolen ausgestattet wurden und nachteilig
136 Härtung, in: HZ, Bd 180, 1955, S. 163. 137 Marx, Karl, Theorien Uber den Mehrwert, in: Marx/Engels, Werke, Bd 26/1, Berlin 1965, S. 23. 138 Vgl. dazu den in Kürze im "Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte" erscheinenden Aufsatz von Mittenzwei. Ingrid. Wirtschaftspolitik - Territorialstaat - Nation. Die Haltung des preußischen Bürgertums zu den wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Preußen und Sachsen (1740-1786), der diese Fragestellung vor allem im Hinblick auf den Handel ausführ lieh-behandelt. 139 Vgl. Schultze, Walther. Geschichte der preußischen Regieverwaltung von 1766-1786. Ein historisch-kritischer Versuch, Leipzig 1888, S. 19. 140 Von der Preußischen Monarchie unter Friedrich dem Großen. Unter Leitung des Grafen von Mirabeau abgefaßt und in einer sehr verbesserten und vermehrten deutschen Übersetzung hg. von Jacob v. Mauvillon, Bd 1, Braunschweig 1794, S. 146.
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auf das Wirtschaftsleben einzuwirken begannen. Besonders die Levantinische Gesellschaft behinderte durch ihr Monopol auf die Einfuhr von Baumwolle die in Preußen rasch aufblühen141 den Baumwollmanufakturen , die sich im Unterschied zum Seidengewerbe weitgehend ohne staatliche Unterstützung entwickelten. Die Fortsetzung der Zollkriege mit Sachsen und Österreich, die 1765 in Sachsen und Preußen sogar 142 zum beiderseitigen Einfuhrverbot f ü r alle im anderen Lande hergestellten Waren führte , widersprach in wachsendem Maße dem s t e i genden Austauschbedürfnis der kapitalistischen Manufakturen. Das Festhalten Friedrichs an überholten wirtschaftspolitischen Vorstellungen, die Beibehaltung der Begie, zu der sich F r i e d r i c h trotz aller Kritik unter Einführung einiger Veränderungen entschloß, die damit verbundenen Plackereien f ü r den Handel, die wirtschaftliche Absonderung Preußens von den anderen deutschen Territorialstaaten und die bis zuletzt fortdauernden zollpolitischen Auseinandersetzungen wurden weitgehend von machtpolitischen Interessen diktiert. Friedrich rechnete auch nach dem Siebenjährigen Kriege mit kriegerischen Auseinandersetzungen. Der Dualismus mit Österreich, f ü r den e r durch die Eroberung Schlesiens den Grund gelegt hatte, ließ die ständige Kriegsbereitschaft f ü r ihn zum ersten Grundsatz seiner Innen- und Außenpolitik werden. Nichts blieb von dieser ständigen Kriegsbereitschaft unbeeinflußt. In Österreich seinen "Erbfeind" für imm e r und ewig sehend, äußerte Friedrich II. 17 82 in seinen "Betrachtungen Uber den politischen Zustand Europas" denVerdacht, daß Joseph II. die preußische Monarchie 143völlig z e r t r ü m m e r n wolle. " E r wird ruhig meinenTod abwarten, b e v o r e r Handans W e r k l e g t . " Auf den Fall dieses Krieges war der gesamte preußische Staatshaushalt ausgerichtet. In seiner zwei J a h r e später verfaßten Schrift über die preußische Finanz Verwaltung errechnete der preußische König z . B . auf der Grundlage der Bilanz von 1783/1784 den erzielten Überschuß im staatlichen Etat, um gleich daran die Überlegung zu knüpfen: "Man muß sich durchaus hüten, dieses Kapital auf dauernde Ausgaben zu verwenden. Es muß vielmehr f ü r den Krieg aufgespart werden, 144 der sicherlich ausbrechen wird, wenn ich kaum die Augen geschlossen habe." Da es aber gerade die Abgaben auf den Durchgangshandel zwischen Sachsen und Polen waren, die nach seiner Meinung die preußische Bilanz positiv gestalteten, hielt der König von Preußen am Zollkrieg mit Sachsen fest, über den gegen Ende seiner Regierungszeit beinahe ebenso viele Klagen erhoben wurden wie gegen die Regie.
141 Vgl. z . B . die Proteste des Manufakturunternehmers Isaac Benjamin Wulf (DZA Merseburg, Hist. Abt. II, Rep. 95, Nr. 5, Bd 1, fol. 81 f f . ) . 142 Acta B c r u s s i c a . Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Preußens 1740-1786, bearbeitet von Hugo Rachel, Bd 3/H, Berlin 1928, S. 252. 143 Die Werke Friedrichs des Großen, Bd 7, S. 218. 144 Ebenda, S. 222.
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Während Friedrich wirtschaftspolitische Vorstellungen beibehielt, die dem Stand der ökonomischen Entwicklung widersprachen, gab es in Deutschland Territorialstaaten, die sich den neuen aus Frankreich kommenden Ideen gegenüber aufgeschlossener verhielten und sie in der Wirtschaftspraxis anzuwenden begannen. Zu diesen Staaten gehörte Sachsen, dessen Voraussetzungen zur Übernahme der neuen Ideen freilich auch günstiger als die Preußens waren. Die 1762, also noch während des Krieges, in Sachsen eingesetzte Restaurationskommission, die die Interessen des sächsischen Großhandels und der Manufakturunternehmer vertrat, entwickelte für den wirtschaftlichen Bereich Reformvorschläge, die neben merkantilistischen Ideen in entscheidenden Punkten bereits auf Auffassungen der Physiokra145 ten und ihrer Vorgänger basierten. Das von Vertretern dieser Kommission entwickelte Idealbild einer auf der freien Konkurrenz beruhenden Wirtschaft, in die der Staat so wenig 146 wie möglich eingreift, entsprach physiokratischen Grundsätzen. Der nach 1763 in Sachsen spürbar werdende Einfluß bürgerlicher Handels- und Unternehmerkreise, der sich durch die Arbeiten der Landesökonomie-, Manufaktur- und Kommerzien-Deputation auf das wirtschaftliche Leben auszuwirken begann, führte allmählich zu einer gleichfalls physiokratischen Ansichten entsprechenden stärkeren Orientierung auf den Freihandel. Während der preußische König im Jahre 1766 die zaghafte Opposition seiner Beamten gegen die von ihm vorgenommene Verschärfung seines wirtschaftspolitischen Systems rigoros unterdrückte, indem e r den Geheimen Finanzrat Erhard Ursinus seines Amtes enthob und auf die Festung Spandau schickte, gewannen fast gleichzeitig in Sachsen über die Restaurationskommission für eine beschränkte Zeit wirkliche Vertreter der Aufklärung - wie 147 Fritsch und Gutschmidt, der spätere Kabinettsminister - Einfluß auf die Politik. Wenn Preußen folglich in dem für die Konstituierung der neuen kapitalistischen Ordnung entscheidenden Bereich, der Wirtschaft, von jeglichem "aufklärerischen" Einfluß durch den König selbst abgeschirmt wurde, so blieb dieser Staat damit eindeutig hinter Sachsen zurück. Die physiokratischen Ansichten über das Manufaktursystem und die diesen entsprechenden wirtschaftspolitischen Mittel waren jedoch nur abgeleitete. Dem Übergangscharakter der französischen Wirtschaft entsprechend, in der der feudale agrarische Bereich das Übergewicht hatte, galt das Hauptinteresse der Physiokraten der Landwirtschaft, die für
145 Schlechte, Die Staatsreform in Kursachsen, S. 41. 146 Ebenda. 147 Über die Auffassungen von Fritsch und Gutschmidt vgl. derselbe, Zur Vorgeschichte des 'Rétablissements' in Kursachsen, in: Forschungen aus mitteldeutschen Archiven, S. 349 ff.
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sie entscheidende Basis aller wirtschaftlichen Tätigkeit war, da in ihr und nur in ihr angeblich Mehrwert erzeugt wurde. Als Konsequenz aus dieser Feststellung wollten sie auch nur die Grundrente besteuern. In der Steuerlehre der Physiokraten schlug daher, wie Karl Marx treffend charakterisierte, "die scheinbare Verherrlichung des Grundeigentums in [dessen] ökonomische Verneinung und in Bestätigung der kapitalistischen Produktion" 148 149 um. Dieses "feudale Aushängeschild" der neu entwickelten bürgerlichen politischökonomischen Theorie machte die Theorie selbst geeignet, von Vertretern der herrschenden Klasse aufgenommen zu werden. So sind in Deutschland Karl Friedrich von Baden und Joseph II. in ihrer Agrar- und Steuerpolitik von physiokratischen Vorstellungen beeinflußt worden. Davon zeugt die Steuerreform Josephs II. In einem vom 24. November 1783 stammenden Handbillett bezeichnete Joseph den Grund und Boden als die einzige Quelle, aus der alles komme und in die alles zurückfließe, weshalb der Grund und Boden allein in der Lage sei, die Bedürfnisse des Staates zu befriedigen. 150 Der Kaiser plädierte für eine einzige Grundsteuer im Sinne der Physiokraten. Zwar ließ sich die tatsächlich eingeleitete Reform nicht in der geplanten Konsequenz verwirklichen, doch führte sie immerhin zu einer bis dahin in den habsburgischen Ländern nicht gekannten Steuergleichheit zwischen Adel und feudalabhängigen Bauern. Sie war auch die Grundlage für die weiterführende Agrargesetzgebung mit ihrer für die Bauern günstigen neuen Regulierung der Feudallasten und der Umwandlung der Frondienste in Geldrente. 151 Daß sich die Bauern damit nicht mehr begnügen wollten , daß es in der Beurteilung der bürgerlichen Pächter feudalen Grundbesitzes durch die Physiokraten und Joseph II. grundsätzliche, aus ihrer gegensätzlichen Klassenposition resultierende Unterschiede gab, kann hier nicht näher ausgeführt werden. Blieb Joseph mit seiner Steuer- und Agrarreform auch hinter den Hoffnungen der Bauern und den Plänen der Physiokraten zurück, so hebt sich seine Politik gerade In diesem Punkte doch entscheidend von der Friedrichs II. ab. Eine Steuerreform hat es in Preußen unter Friedrich II. nicht gegeben. Sie wurde von diesem auch nie ins Auge gefaßt. Die Zahlung der Kontribution, der auf dem platten Lande lastenden Steuer, war Pflicht der bäuerlichen Untertanen. Der Adel wurde in Preußen nicht oder nur unwesentlich zu Steuerzahlungen an den Staat herangezogen. Wo Joseph II. wesentliche finanzielle Vorrechte des Adels angriff, konservierte Friedrich n . 148 Marx, Theorien über den Mehrwert, in: Marx/Engels, Werke, Bd 26/1, S. 22. 149 Vgl. Kuczvnski. Jürgen. Zur Theorie der Physiokraten, in: Grundpositionen der französischen Aufklärung, S. 30 f. 150 Vgl. Rozdolski, Roman. Die große Steuer- und Agrarreform Josefs II. Ein Kapitel zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte, Warschau 1961, S. 18. 151 Ebenda, S. 127 ff.
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die bestehenden Verhältnisse. Überhaupt war "Konservation", wie es im zeitgenössischen Sprachgebrauch hieß, das große Schlagwort friderizianischer Agrarpolitik. Er "konservierte" den Adel, indem er den Ankauf von Gütern durch Bürgerliche erschwerte, der wachsenden Verschuldung vieler Adeliger durch die Schaffung der sogenannten Landschaften entgegenwirkte und entgegen besseren Einsichten auf den geringsten Widerstand des Adels hin den 1763 dem pommerschen Kammerpräsidenten von Brenckenhoff diktierten Befehl zur Aufhe152 bung der Leibeigenschaft faktisch zurücknahm. Friedrich II., der Widerstand gegen seine Politik mit rücksichtsloser Härte zu unterdrücken pflegte, blieb, wo es sich um die sozialen Beziehungen zwischen Gutsbesitzern und feudalabhängigen Bauern handelte, der vom Adel ausgehenden Opposition gegenüber verständnisvoll. "Konservation" war schließlich auch das Grundprinzip dessen, was gemeinhin als "Bauernschutz" bezeichnet wird. Nicht um die Erhaltung des Bauern ging es ihm, sondern um die Beibehaltung der Bauernhöfe und Bauernhufen. Die Ursachen für diese Politik waren letztlich militärischer Art. Die Verflechtung von Militärsystem und Agrarverfassung, die Otto Büsch in überzeugender Weise kenntlich 153 gemacht hat
, die Rücksicht auf die Armee, in der der Bauer den Soldaten, der Gutsbe-
sitzer den Offizier zu stellen hatte, ließen die Sorge um die Konservierung der bestehenden Klassenverhältnisse zum obersten Prinzip friderizianischer Politik werden. Eine Veränderung dieser Verhältnisse hätte Folgen für das in Preußen herrschende Militärsystem, die Kantonverfassung, gehabt. Die Militarisierung des öffentlichen Lebens bestimmte daher die Grenzen der von Friedrich II. durchgeführten Agrarpolitik. Sie war, beurteilt man die friderizianische Innenpolitik insgesamt, der Bereich, in dem die konservative Haltung des preußischen Königs am deutlichsten hervortrat. Aber sie war im Zusammenhang mit der Manufaktur- und Gewerbepolitik zugleich der entscheidende Bereich für die sich anbahnende neue Ordnung: Sie war der Prüfstein für eine "wirkliche" Anpassung an die neuen im Zusammenhang mit dem Manufakturkapitalismus entstehenden Gesetzmäßigkeiten. Friedrichs Agrar- und Gewerbepolitik hält einer solchen Prüfung nicht stand. Trotz gelegentlicher Einsichten in die Lage der Bauern hörte bei Friedrich die Aufklärung und ihre Berücksichtigung in der staatlichen Praxis da auf, wo es um die Beziehungen zwischen den Grundklassen der Feudalgesellschaft ging. Im Vergleich zu Preußen war daher der Grad der Anpassung an die neuen mit dem Aufkommen des Manufakturkapitalismus entstehenden Bedingungen in Sachsen und Österreich unvergleichlich größer. 152 Eggert. Oskar. Die Maßnahmen der preußischen Regierung zur Bauernbefreiung in Pommern, Köln-Graz 1965, S. 53 = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur Pommerschen Geschichte, H. 9. 153 Büsch. Otto. Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen, (West-)Berlin 1962, S. 56 ff. = Veröffentlichungen der Berliner Historischen Kommission, Bd 7.
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Ingrid Mittenzwei Die Bemühungen F r i e d r i c h s II. auf dem Gebiete d e s J u s t i z w e s e n s galten auch nach
dem Siebenjährigen K r i e g e lange Zeit lediglich d e r " p r o m p t e n " J u s t i z . Mit Klagen ü b e r P r o z e ß v e r s c h l e p p u n g e n behelligt, w a r d e r p r e u ß i s c h e König bemüht, die ihm bekannten U r s a c h e n f ü r solche Verschleppungen zu b e s e i t i g e n . E r s t gegen Ende s e i n e r R e g i e r u n g s zeit e r k a n n t e e r , beeinflußt von seinein neuen J u s t i z m i n i s t e r C a r m e r , die Notwendigkeit z u r W e i t e r f ü h r u n g d e r R e f o r m . C a r m e r w a r nach dem Sturz des b i s h e r i g e n Chefs d e r J u s t i z , d e s G r o ß k a n z l e r s F ü r s t , a m 25. D e z e m b e r 1779 zum neuen Großkanzler ernannt w o r d e n . 154 Heuer bezeichnet C a r m e r a l s einen bewußten V e r t r e t e r des F e u d a l a d e l s . Die Gründung d e r s c h l e s i s c h e n L a n d s c h a f t im J a h r e 1769 z . B . ging auf einen von C a r m e r v e r f a ß t e n E n t wurf z u r ü c k . C a r m e r w a r , wie sein H e r r , d e r Aufklärung gegenüber d u r c h a u s nicht .feindlich g e s i n n t . E r t o l e r i e r t e s i e , solange s i e g e w i s s e , die s t a a t l i c h e Ordnung b e r ü h r e n d e G r e n z e n nicht ü b e r s c h r i t t . C h a r a k t e r i s t i s c h f ü r s e i n e Stellung z u r Aufklärung ist ein B r i e f , den e r an den H e r a u s g e b e r d e r " B e r l i n e r C o r r e s p o n d e n z " , C r a n t z , s c h i c k t e . Crantz hatte in d e r e r s t e n N u m m e r s e i n e s Blattes ein U r t e i l k r i t i s i e r t , d a s ü b e r den sogenannten neuen M e s s i a s Rosenfeldt verhängt worden w a r , und eine S c h r i f t d e s bekannten P r e d i g e r s Schulz wohlwollend r e z e n s i e r t . C a r m e r s c h r i e b dazu: "Sie haben e s in den b i s h e r e r s c h i e n e n e n B l ä t t e r n m i t d e r L a n d e s r e l i g i o n und den L a n d e s - G e s e t z e n zu thun und lachen d a r i n n ü b e r die Geschichte und L e h r s ä t z e d e r einen sowie über, g e w i s s e Verordnungen d e r a n d e r n . Dieß thut kein Mann, dem sein Vaterland und seine Neben-Menschen lieb s i n d . E r weiß, daß Religion und G e s e t z e die einzigen Grundfesten a l l e r Ruhe, Ordnung und Sicherheit im 155 Staat a u s m a c h e n . "
C a r m e r , dem Ruhe, Ordnung und Sicherheit im Staat ü b e r a l l e s
gingen und d e r Religion und Gesetze a l s die e r f o r d e r l i c h e n Mittel dazu a n s a h , b r a c h t e d e r p r e u ß i s c h e König ein ungewöhnliches Maß an V e r t r a u e n entgegen, v e r g l e i c h b a r n u r d e m , d a s e r in seinen e r s t e n C h e f j u s t i z m i n i s t e r , Cocceji, gesetzt h a t t e . Die entscheidende O r d e r f ü r die zweite E t a p p e d e r J u s t i z r e f o r m , v e r f a ß t von C a r m e r , e r g i n g a m 14. A p r i l 1780. In i h r f o r m u l i e r t e d e r König durch den Mund C a r m e r s die neuen Aufgaben. Im wesentlichen ging e s um die E r a r b e i t u n g e i n e r neuen P r o z e ß o r d n u n g und u m den schon u n t e r Cocceji entstandenen Plan e i n e r Kodifikation d e s R e c h t s , d e r E r a r b e i t u n g e i n e s Allgemeinen G e s e t z b u c h e s . 156 Die e r s t e Aufgabe w a r bald g e l ö s t . 1781 e r s c h i e n d a s
154 H e u e r . U w e - J e n s . A l l g e m e i n e s L a n d r e c h t und K l a s s e n k a m p f . Die A u s e i n a n d e r s e t z u n gen um die P r i n z i p i e n des Allgemeinen L a n d r e c h t s Ende d e s 18. J a h r h u n d e r t s a l s A u s d r u c k d e r K r i s e des F e u d a l s y s t e m s in P r e u ß e n , B e r l i n 1960, S. 83. 155 DZA M e r s e b u r g , H i s t . Abt. II, R e p . 9, F . 2 a, F a s z . 30, f o l . 21. 156 Vgl. Corpus j u r i s F r i d e r i c i a n u s . E r s t e s Buch von d e r P r o z e ß o r d n u n g , B e r l i n 1781, S. III.
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157 "Corpus juris Fridericianum. Erstes Buch von der Prozeßordnung"
. Die Lösung der
zweiten erforderte einen längeren Zeitraum. Die Vorgaben für das Allgemeine Gesetzbuch, die die Order vom 14. April enthielt, waren denkbar allgemein. Das Gesetzbuch sollte in deutscher Sprache abgefaßt werden, das "Wesentliche mit dem Natur-Gesetz und der heutigen Verfassung Übereinstimmende" des Römischen Rechts sowie die eigenen Landesgesetze enthalten. 158 Friedrich befahl für die Arbeiten am Gesetzbuch die Bildung einer "Gesetzes159 Kommission", die künftig auch bei strittigen Fällen zu Rate gezogen werden sollte. Heuer hebt mit Recht hervor, daß der Grundton dieser noch so allgemein gehaltenen Order doch ganz eindeutig war. Es. ging um die rechtliche Sanktionierung des Bs stehenden durch eine 160 große Kodifikation. Die mit der Kodifikation beauftragten Juristen, insbesondere Klein 161 und Svarez, wären in weitaus stärkerem Maße als Cocceji der Aufklärung verpflichtet. Aber sie standen ideologisch wie viele andere preußische Aufklärer auf den Positionen des aufgeklärten Absolutismus. Der von ihnen formulierte Endzweck des Staates unterschied sich zwar grundsätzlich von der von Friedrich seit seiner Kronprinzenzeit verteidigten Aufgabe des absoluten Herrschers, "sein Volk glücklich zu machen". Der obrigkeitlichen Bevormundung des Volkes, der Scheidung in den Fürsten, der "glücklich" machte,und in das unmündige Volk, das sich "glücklich" machen ließ, stellte Svarez den nüchtern und klar formulierten bürgerlichen Endzweck des Staates entgegen, der für ihn mit Sicherung des Eigentums und des Staatsbürgers identisch war. Doch mußte in einer Zeit des Übergangs, in der das Feudaleigentum noch vorherrschte, diese dem Schutze des bürgerlichen Eigentums dienende Forderung auch dem Schutze und der Sicherung des feudalen dienen. Revolutionäre Sprengkraft hätte eine solche Forderung nur im Zusammenhang mit tatsächlicher Machtveränderung erhalten können. Wenn Klein und Svarez daran auch keineswegs dachten, vielmehr notwendige Reformen vom bestehenden Staat erwarteten, so drückten ihre Gedanken und Reformvorschläge doch echte Bedürfnisse der erstarkenden Manufakturbourgeoisie aus, die an der Sicherung ihres Eigentums durch den Staat stark interessiert
157 Zur Einschätzung der neuen Prozeßordnung vgl. Heuer, S. 80 f . , Anm. 4. Heuer hebt den undemokratischen Charakter der neuen Prozeßordnung hervor, der die Untertanen des letzten Rechtsschutzes beraubt hätte, führt dagegen nicht aus, daß die Einschränkung der außerordentlichen Rechte der Advokaten in der Prozeßführung eine durchaus notwendige Angelegenheit war; nur erfolgte- die Lösung dieses Problems in einer für den preußischen Staat typischen Weise. 158 Corpus iuris Fridericianus, S. X f. 159 Ebenda, S. XIII. 160 Heuer, S. 82. 161 Über die Ansichten von Svarez vgl. Stölzel, Adolf. Carl Gottlieb Svarez, Berlin 1885, über die von Svarez und Klein Heuer. S. 84 ff.
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war. Das sich in der Tätigkeit Kleins und Svarez' ausdruckende Streben nach bürgerlicher Gesetzlichkeit ließ sich jedoch nur in Ansätzen verwirklichen. Heuer hat mit vollem Recht auf die Widersprüchlichkeit des Allgemeinen Gesetzbuches aufmerksam gemacht, das zugleich die Forderungen der werdenden Bourgeoisie und der Bauern nach bürgerlicher Gesetzlichkeit, das Interesse des liberalen Adels an einer schrittweisen Erweiterung der Rechtssicherheit und die scheinbare Unerschütterlichkeit des feudalabsolutistischen Machtapparates zum Ausdruck gebracht habe. Heuer resümiert: "Daher lösten sie (die Prinzipien i des Allgemeinen Gesetzbuches - I.M.) den Widerspruch zwischen den feudalabsoluten Verhältnissen und der Forderung nach Gesetzlichkeit nicht, wohl aber drückten sie ihn aus. Sie leiteten keine Revolution von unten ein, wohl aber bereiteten sie eine Revolution von „162 u oben vor." Die Arbeiten am Gesetzbuch gingen in den letzten Lebensjahren Friedrichs n . zügig voran. Vom Frühjahr 1784 an wurden die einzelnen Teile des Entwurfs zur Diskussion gestellt. "Philosophische Rechtsgelehrte", praktische Juristen und solche Leute, die, ohne Rechtsgelehrte zu sein, sich dem Studium der "praktischen Weltweisheit" gewidmet bzw. durch und Geschäfte Verstand undDamit Kenntnis erworben hätten, sollten zu den Lektüre vorliegenden Entwürfenden ihre Meinunggeschärft sagen. 163 wurde der Kreis derjenigen, die über das Gesetzbuch urteilen sollten, wie Heuer richtig bemerkt, zwar von vornherein 164 eingeschränkt.
Dennoch war hier etwas geschehen, was es in der bisherigen Praxis
eines feudalen Staates noch nie gegeben hatte. Geplante Veränderungen in einem wichtigen Bereich des Überbaus wurden einer begrenzten Öffentlichkeit vorgelegt. Das hieß zwar noch lange nicht, daß die zu erwartenden Vorschläge auch berücksichtigt werden würden, aber allein die Möglichkeit einer Meinungsäußerung rief bei den Vertretern der bürgerlichen Intelligenz eine beträchtliche Wirkung hervor. Friedrichs Maßnahme zeugt ein übriges Mal davon, daß das Verhältnis zwischen dem feudalabsolutistischen Staat und der aufstrebenden neuen Klasse noch nicht so zugespitzt war, daß eine Kritik an den Einrichtungen des Staates gefährlich werden konnte. Da ein großer Teil der preußischen Aufklärer politisch auf dem Boden des aufgeklärten Absolutismus stand, auf Reformen von oben hoffte, konnte Friedrich n . die geplante Reform auch zur Diskussion stellen. Eine ähnliche Maßnahme zur gleichen Zeit in Frankreich oder etwas später auch in Preußen wäre schon undenkbar gewesen. 162 Ebenda, S. 148. 163 Eggers, Christian, Sammlung von Urkunden und Aktenstücken zur Geschichte der neuen Preußischen Gesetzgebung, Kiel 1794, S. 82. 164 Heuer, S. 153.
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Hier ist nicht der Ort, die eingereichten Änderungsvorschläge auf ihren Inhalt hin zu analysieren; nur das Echo auf die Möglichkeit einer Meinungsäußerung soll untersucht werden. Man blättere einmal im betreffenden Jahrgang der "Berlinischen Monatsschrift", diesem für die preußische Aufklärung repräsentativen Organ, und man wird finden, daß die Möglichkeit einer Diskussion den bereits vorhandenen Illusionen Uber den friderizianischen Staat neue Nahrung gab. So schrieb z.B. ein mit E.v.K. zeichnender Autor: "Es ist wahrscheinlich einer der größten Vorzüge der preußischen Länder . . . , daß daselbst wichtige Materien, auch solche, die in Staats- und Regierungsgeschäfte einschlagen, ziemlich frei behandelt werden, selbst von einer Seite, die den angenommenen Grundsätzen des Staats gerade zu widersprechen scheint. Dies beweisen mehrere in diesen Landen erschienene Schriften von Privatpersonen. Fast nichts beweist es aber mehr als das so viel ich weiß einzige Beispiel, womit vor kurzem von einem hohen Departement selbst der Entwurf des 165 allgemeinen Gesetzbuchs für die preußischen Staaten angekündigt ward." Selbst Kant ging in seinem vielzitierten und leider zu wenig analysierten Aufsatz "Was ist Aufklärung?" auf die zur Diskussion gestellten Entwürfe des Allgemeinen Landrechts ein. Diese Debatte galt ihm als Beweis für die aufgeklärte Denkungsart des preußischen Königs, der gesehen habe, "daß selbst in Ansehung seiner Gesetzgebung es ohne Gefahr sei, seinen Untertanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen, und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben, 166 sogar mit einer freimütigen Kritik der schon gegebenen, der Welt öffentlich vorzulegen." In einem anderen für das Verhältnis von Bürgertum und Staat entscheidenden Bereich der Innenpolitik scheint die Relation zwischen aufgeklärter Theorie und praktischer Tätigkeit auf den ersten Blick hin genau umgekehrt. War im Justizwesen die Theorie zumindest da, wo es sich um allgemeine Feststellungen und Erörterungen handelte, der gesellschaftlichen Wirklichkeit weit voraus, blieb sie in diesem Sinne Programm, so scheinen in der zweiten Etappe friderizianischer Regierung die offiziellen Verlautbarungen über das Zensurwesen viel engherziger und eingeschränkter als die vom Monarchen selbst tolerierte Praxis. Schon das im letzten Kriegsjahr erscheinende Zirkular des Auswärtigen Departements an alle Regierungen, Landeskollegien und Universitäten rief das Verbot ins Gedächtnis zurück, keine "in die Publica" einschlagenden Bücher ohne Genehmigung des Auswärtigen Departements drucken oder verkaufen zu lassen. Gegen dieses Verbot hätten während des 167 Krieges Buchdrucker und Buchführer "aus schnöder Gewinnsucht" verstoßen. Am 1. Juni 165 Berlinische Monatsschrift, hg. von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester, Bd 3, Januar bis Juni 1784, Berlin 1784, S. 521 f. 166 Ebenda, Bd 4, Juli bis Dezember 1784, S. 481. 167 Acta Borussica. Behördenorganisation, Bd 12, Berlin 1926, S. 616 f.
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Ingrid Mittenzwei
1772 erschien ein neues Zirkular zur Bücherzensur. Es erneuerte das Edikt von 1749, ernannte, da die Zensoren verstorben waren, zur Zensur der historischen Schriften Finanzrat Kahle, der juristischen den Geheimen Tribunalrat Steck, der theologischen Oberkonsistorialrat Teller und der philosophischen Professor Sulzer. Zum Unterschied von bisherigen Verordnungen wurden die Professoren der Universitäten, deren Schriften vordem von den Fakultäten zu zensieren waren, angehalten, die Arbeiten, "die die Interessen auswärtiger Mächte berührten", an das "Departement für Auswärtige Affairen" einzureichen. Die Zensur medizinischer Schriften wurde eingeführt, und die Zeitungen der Provinz, für die es noch keine einheitliche Regelung gab, wurden der Zensur der Regierung oder der Justiz168 kollegien unterstellt.
Auch das am 17. April 1772 erlassene Edikt über die Zensur der
Zeitungen enthielt im Grunde genommen eine Verschärfung bisheriger Verordnungen. Nach diesem Edikt waren ausnahmslos alle Artikel, selbst die von Kabinettsministern eingesandten, zu zensieren. Die Rubrik mit dem sogenannten Gelehrten Artikel sollte gleichfalls der Zen169 sur eingereicht werden.
Die eingesetzten Zensoren, an Unterwürfigkeit und strikten
Gehorsam gewöhnt, unternahmen ebenfalls alle Anstrengungen, diese verschärften und erweiterten Anordnungen durchzusetzen. Das bekam selbst Nicolai sehr bald zu spüren, der 1775 vom Generalfiskal aufgefordert wurde nachzuweisen, ob seine "Allgemeine Deut170 sehe Bibliothek" vor dem Drucke zensiert worden sei. Bereits dieser Vorgang um die "Allgemeine Deutsche Bibliothek" zeigt typische Formen der Zensurpolitik in Preußen. Nicolai wandte sich nach dieser Aufforderung an den König und legte die Gründe dar, warum eine vorhergehende Zensur der "Allgemeinen Deutschen Bibliothek" so gut wie unmöglich sei, worauf der König am 4. Dezember 1775 entschied, daß der Generalfiskal Nicolai nicht 171 länger behelligen solle.
Friedrich II., der über die gewissenhafte Einhaltung seiner
Edikte streng wachte, der seinen Untergebenen nie die Freiheit eigener Auslegung und Entscheidung zubilligte, gestattete in einigen bedeutsamen Fällen Ausnahmeregelungen, die die Illusion einer nie vorhandenen Pressefreiheit nährten und den Ruf Friedrich II. als Beschützer und Förderer der Wissenschaften steigerten. Während der Auseinandersetzung um die "Allgemeine Deutsche Bibliothek" war von Friedrich n . auch eine Entscheidung gefällt worden, die für die Folgezeit von Bedeutung sein sollte. Friedrich verfligte, daß alle in Preußen verlegten Bücher, die außerhalb Preußens gedruckt würden, der hiesigen 168 169 170 171
DZA Merseburg, Hist. Abt. II, Rep. 9, F . 2 a, Fasz. 25, fol. 50 ff. Ebenda, F . 2 a 1, Fasz. 10, fol. 74. Ebenda, F . 2 a, Fasz. 14, fol. 127 ff. Ebenda.
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Zensur nicht einzureichen seien. Diese Verordnung, die natürlich mit dem Wissen um die Zensurverhältnisse in anderen deutschen Territorialstaaten erlassen worden war, diente in den kommenden Jahren vielen Verlegern als Mittel, von der Berliner Zensur abgelehnte Bücher oder einzelne Zeitschriftenausgaben anderswo erscheinen zu lassen; denn was dem preußischen Zensor als unliebsam und unerlaubt auffiel, das mußte nicht unbedingt auch in anderen Staaten die Aufmerksamkeit der Zensur auf sich lenken, sondern konnte bei der herrschenden Rivalität zwischen den einzelnen Territorialstaaten für sie erwünschte Gelegenheit sein, Nachrichten über Preußen zu verbreiten. So beschwerte sich Anfang 1779 der nach dem Tode des Zensors für historische Schriften Kahle eingesetzte neue Zensor Schlüter darüber, daß Buchdrucker und Verleger von der Zensur abgelehnte Schriften "auswärts" drucken ließen. Als Beispiel verwies er auf Büschings "Reise nach Regahn", die in Leipzig gedruckt worden sei, und auf den 11. Band des von demselben herausgegebenen 172 "Magazins".
Die Diskrepanz zwischen der Strenge der Zensoren und der Großzügigkeit
des Königs blieb auch in den folgenden Jahren bestehen; sie verstärkte sich sogar in den achtziger Jahren, als die aktiver werdende preußische Intelligenz der Zensur viel häufiger Gelegenheit zu Einschränkungen und 173 Verboten gab. Als 1782 Johann Heinrich Schulz sein Buch "Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen ohne Unterschied der Religionen" herausgeben wollte, strich ihm Oberkonsistorialrat Teller einige Passagen. Dagegen wandte sich Schulz in einer Beschwerde an 174 Friedrich II. Daraufhin wurde die Schrift dem Oberkonsistorialrat Irwing zur erneuten 175 Zensur überreicht. Dieser sprach sich für den Druck aus. Ein Jahr später - die Schrift war bereits erschienen - wandte sich das Oberkonsistorium an Friedrich II., um über die Arbeit Klage zu führen, weil Schulz in der Vorrede zum dritten Teil ausdrücklich alle Reli176 gionen "aufhebe".
Friedrich stellte sich schützend vor Schulz. Er befahl, die angestreng-
te Untersuchung niederzuschlagen. Schulz habe sich als Schriftsteller nur gegenüber seinem Publikum zu verteidigen. Zur Prüfung seiner spekulativen Sätze seien Leute, "die seine Gemeine ausmachen, nicht aufgelegt". Im Grunde genommen wies der König hiermit jede Einmischung des Oberkonsistoriums in die Zensur zurück. Er verwies es auf seine eigentlichen Pflichten, nämlich darauf zu achten, ob Schulz seine Gemeinde zu gutgesinnten 172 Ebenda, Fasz. 25, fol. 101. 173 Über die weltanschauliche Position Johann Heinrich Schulz' vgl. Finger, Otto, Johann Heinrich Schulz, ein Prediger des Atheismus, in: Beiträge zur Geschichte des vormarxistischen Materialismus, Berlin 1961, S. 213-254, sowie Gulyga, W.A.. Der deutsche Materialismus am Ausgang des 18. Jahrhunderte, Berlin 1966, S. 107-117. 174 DZA Merseburg, Hist. Abt. II, Rep. 9, F. 2 a, Fasz. 15, fol. 66. 175 Ebenda, fol. 70. 176 Ebenda, Fasz. 18, fol. 32.
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Ingrid Mittenzwei 177
Menschen erziehe.
Vergleicht man die Haltung des preußischen Königs in dieser Ange-
legenheit mit seinem fast gleichzeitigen Vorgehen in einer Affäre, die die "Berliner Correspondenz" betraf, so werden die Grenzen "friderizianischer Pressefreiheit" deutlich sichtb a r . Kriegsrat Crantz, der Herausgeber, hatte 1779 für seine Blätter die Zensurfreiheit als besonderes Privileg erhalten. 1782 wurde diese Zensurfreiheit aufgehoben, weil Crantz sie angeblich mißbraucht hatte. Erschienen waren neben einer Rezension des Buches von Schulz, Uber die sich der Zensor mokierte, und der schon erwähnten Kritik am Prozeß des "neuen Messias" ein außerordentlich scharfer Angriff auf die preußische Zensur und ein Artikel über die Reformpolitik Josephs n . , in dem Crantz auf die Widersprüche zwischen aufgeklärter Theorie und Praxis in Österreich verwies. Den Prediger Schulz hatte Friedrich geschützt, als dieser vom Oberkonsistorium angegriffen worden war, Kriegsrat Crantz ließ 178 e r verhaften.
Solange vom Druck bestimmter Werke, auch wenn sie atheistische Gedan-
ken enthielten, keine direkte Wirkung auf die in Preußen herrschenden politischen und sozialen Verhältnisse zu erwarten war, solange durch solche Publikationsorgane wie die "Allgemeine Deutsche Bibliothek" oder auch die "Berlinische Monatsschrift" die Beförderung der Richtung innerhalb der deutschen Aufklärung zu vermuten war, die auf den Positionen des aufgeklärten Absolutismus verharrte, so lange ließ Friedrich den Autoren dieser Publikationen relativ freie Hand, schützte sie selbst vor seinen eigenen Zensoren, die nur die von ihm erteilten Anordnungen befolgten. Jede Kritik aber an den Verhältnissen, im preußischen Staat, und sei sie noch so zahm, wurde mit Zustimmung des Königs unterdrückt. Das mußten selbst die Herausgeber der "Berlinischen Monatsschrift", Gedike und Biester, erfahren, als in der Dezembernummer des Jahres 1783 in der Artikelserie "Über Berlin, von einem Fremden" der Ausdruck "durchlauchtiger Pöbel" fiel. Diese im übrigen äußerst wohlwollende Artikelserie, die die Beleuchtung und die Straßenverhältnisse in Berlin kritisierte, die Regierungsweise Friedrichs II. aber in den höchsten Tönen pries, hatte in dem der preußischen Aufklärung gewidmeten vierten Brief auf den Aberglauben verwiesen, den es auch in Berlin noch gab. In diesem Zusammenhang fiel der kritisierte Begriff vom durchlauchtigen Pöbel. Er genügte, um den Herausgebern eine Rüge einzubringen. Die Herausgeber'müßten begreifen, "daß die in dem hiesigen Staat erlaubte Freyhelt zu schreiben und Freymüthigkeit in Urtheilen aller Art nicht bis zu Anzüglichkeiten herabsinken . . . dürfe und daß dergleichen Mißbrauch um so weniger geduldet werden könne, wenn . . . ein so unschicklicher Angriff Personen nicht anders als auf werden Glieder kann" des Königlichen oder mit demselben nahewaren ver179 . UrteileHauses wandte gedrucket über staatliche Einrichtungen 177 Ebenda, fol. 36. 178 Ebenda, Fasz. 16, 17. 179 Ebenda, Fasz. 18. fol. 29.
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in Preußen nicht erlaubt. Dagegen konnten die Schriftsteller und Publizisten Uber die Künste, die Philosophie, die Religion soviel "räsonnieren", wie sie nur wollten. Nur eine Einschränkung gab es da. Die vorgebrachten Gedanken bzw. die Organe, in denen sie veröffentlicht wurden, mußten so exklusiv sein, daß sie das Volk nicht erreichen konnten. Wiederum zur gleichen Zeit, als Friedrich II. Johann Heinrich Schulz schützte, wurde die sogenannte Predigtenkritik verboten. Offenbar nach dem Vorbild der in Österreich erscheinenden "Wöchentlichen Wahrheiten für und wider die Prediger in Wien", die vom sogenannten Institut der Predigtkritiker herausgegeben wurden, hatten Ritter von Steinberg und der ehemalige Theaterdichter Blümicke 1783 damit begonnen, auch in Berlin eine solche Zeitschrift zu drucken. Diese rief sehr bald die Klagen der kritisierten Prediger hervor. Carmer stellte daher dem Departement für Auswärtige Angelegenheiten anheim, ob es nicht besser sei, "den Schweynereien dieser unberufenen Kriticken, durch welche das fiir den Staat so wichtige Amt der Prediger in den Augen des Volkes verächtlich und lächerlich gemacht" 180 würde, zu verbieten.
In Wien hatten diese Predigerkritiken sehr rasch das Volk e r -
reicht und eine volkstümliche Opposition hervorgerufen. Sie wurden dort jedoch anfangs toleriert, weil für Joseph II. die Auseinandersetzung mit der Kirche, ihre Unterordnung unter den absolutistischen Staat noch kein völlig gelöstes Problem war. Im protestantischen Preußen drohte dem absolutistischen Regime von der Kirche her keine Gefahr. Hier konnte die Predigtkritik nicht in den Dienst des Absolutismus gestellt werden, hier konnte und wollte man daher auch nicht die mit ihr verbundenen Nebenwirkungen auf das Volk dulden. Deshalb erging am 6. Mai 1783 die Verordnung an den Generalfiskal, den weiteren Druck zu verbieten. ^ ^ Würde man die Edikte Friedrichs II. und Josephs n . Uber die Zensur miteinander vergleichen, so fiele ein solcher Vergleich zweifellos zugunsten Josephs aus. Das zeigt vor allem der von Joseph getane letzte Schritt in einer Reihevon die Zensur betreffenden progressiven Maßnahmen: die unter182 dem Einfluß van Swietens im Jahre 1786 verordnete AbSchaffung der Präventivzensur. Doch auch in diesem Falle vermögen Edikte nicht alles über die tatsächlich herrschenden Verhältnisse auszusagen. Auch die josephinische •"Pressefreiheit" war eine Illusion. Die Freiheit der Kritik, die Joseph in den "Grundregeln einer ordentlichen künftigen Bücher-Zensur" ausdrücklich zuließ und auch auf seine eigene Person bezog, hatte ihre Grenzen. Sie galt nicht für Werke, die "gefährliche und unleidliche"
180 Ebenda, fol. 19. 181 Ebenda, fol. 22. 182 Zur Zensurpolitik Josephs vgl. Sashegyi. über die Verordnung von 1786 vor allem S. 118 ff.
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Sätze enthielten, nicht für Arbeiten Uber das geistliche und das Staatsrecht und vor allem 183 nicht für die Literatur, die vom "großen Haufen" gelesen wurde. Zudem dauerte der schöne Traum der "Pressefreiheit" nicht lange. Die sich zuspitzenden Verhältnisse, die Flut von Broschüren, die nach der Neuregelung der Zensur in Österreich aufkam, die Angriffe auf sein Regierungssystem, die hauptsächlich von biirgerlich-freimaurerischer Seite geübt wurden, und nicht zuletzt die sich unter dem Einfluß der Französischen Revolution verschärfende Lage in Brabant, wo sich die Stände zur Lehre von der Volkssouveränität bekannten, veranlaßten Joseph n . , die Präventivzensur wieder einzuführen. Beide aufgeklärte Monarchen, Joseph und Friedrich, haben folglich für eine gewisse Zeit eine bestimmte Art von Literatur, die nicht offen gegen das herrschende System gerichtet war, toleriert, der eine auf gesetzlicher Basis, der andere als Ausnahme von erlassenen Regeln. Dabei ist Joseph n . in vieler Hinsicht weiter gegangen als Friedrich II. Aber schließlich erwies sich gerade bei Joseph, der die mit der Französischen Revolution zusammenhängende verstärkte Aktivität des deutschen Bürgertums noch am eigenen Leib zu spüren bekam, daß Zensurerleichterungen und Absolutismus nur so lange miteinander bestehen können, wie das wachsende Selbstbewußtsein des Bürgertums die gegebenen Erleichterungen nicht gegen die Macht des Feudalabsolutismus gebraucht. Überschaut man die 46 Jahre währende Regierungszeit Friedrichs n . und stellt man erneut die Frage nach dem Verhältnis zwischen aufgeklärter Theorie und Wirklichkeit, zwischen Denken und Tun, so kann man, obwohl das im Rahmen eines Aufsatzes vorgelegte Material notwendig beschränkt bleiben mußte, nun klarer urteilen. Die vielbesprochene Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis gab es wirklich, aber nicht in dem vereinfachten Sinne, daß sich aufgeklärtes und damit bürgerliches Denken einerseits und damit nicht oder nur beschränkt übereinstimmende gesellschaftliche Praxis im Widerspruch zueinander befanden. Schon die theoretischen Ansätze waren von einem scharfsinnigen und klugen Vertreter der herrschenden Feudalklasse, vom preußischen Monarchen, neu durchdacht und nicht mehr mit ihren Ursprüngen identisch. Mit sicherem Klasseninstinkt hatte Friedrich n . lediglich die Ideen übernommen, die ihm und seinem Staat dienlich werden konnten. Das war möglich, weil die Aufklärung als Ideologie der neuen zur Macht strebenden Ausbeuterklasse in sich uneinheitlich war und Elemente enthielt, die ausnutzbar waren. Zudem griff der preußische König nur auf ihre unausgereiften, frühen Formen zurück. Aber auch diese wurden "umgedacht", ehe sie zur Grundlage staatlicher Praxis in einigen
183 Ebenda, S. 19 f.
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wenigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens werden konnten. Selbst bei formaler Ähnlichkeit hatten sich dadurch Inhalt und Funktion der Ideologie geändert. Die "umfunktionierte" aufgeklärte Theorie Friedrichs n . war ihrer Funktion nach feudal. Doch auch diese umfunktionierte Theorie war bereits eine Form, in der sich die Anpassung der alten herrschenden Klasse an die neuen Entwicklungsbedingungen vollzog. Die neue Ideologie ließ sich nicht unterdrucken. Zwar konnte man gegen sie mit staatlichen Repressivmaßnahmen vorgehen, und in vielen Staaten Europas war das auch geschehen, aber das hatte ihren Siegeszug nicht aufhalten können. Wenn sie nun in der zweiten Hälfte des 18. Jh. selbst auf gekrönte Häupter Europas einwirkte und, von diesen "umgedacht", zur Begründung und Gestaltung staatlicher Praxis diente, so konnte trotz des Funktionswandels der Ideologie diese Praxis nicht ohne Zugeständnisse an die neue aufstrebende Klasse auskommen. Welcherart diese Zugeständnisse waren, wie weit die Anpassung an neue Bedürfnisse ging, das hing von den konkreten Beziehungen zwischen entstehender Bourgeoisie und alter Feudalklasse sowie zwischen dieser und dem Feudalabsolutismus ab. In Preußen waren dieser Anpassung durch die Stärke der herrschenden Klasse und die Schwäche der aufkommenden Bourgeoisie von vornherein enge Grenzen gesetzt. Aus diesem Grunde war selbst die umfunktionierte Theorie als ideologische Grundlage für einige Bereiche staatlicher Politik völlig ungeeignet. Von der Militärpolitik war im vorliegenden Aufsatz in zusammenhängender Form bewußt nicht die Rede, weil es verschwendete MUhe gewesen wäre, diese auch nur von der Fragestellung her mit der Aufklärung in Beziehung zu bringen. Darüber hinaus hatten sich von den hier untersuchten Zweigen staatlicher Politik zwei als von neuen Ideen völlig unbeeinflußt erwiesen: die Außenpolitik und die Wirtschaftspolitik. Das war kein Zufall; denn auf beiden Gebieten hätte sich auch nur die geringste Anpassung an neue Bedürfnisse auf die staatliche Grundstruktur ausgewirkt. Für die auf Abrundung und Erweiterung des Herrschaftsbereiches ausgerichtete preußische Außenpolitik ließ sich nicht einmal die umfunktionierte Theorie als ideologische Begründung gebrauchen. Man sollte meinen, daß die Sachlage in bezug auf die Wirtschaftspolitik anders gewesen wäre, zeigt doch das Beispiel Josephs n . und auch das Sachsens, daß hier eine gewisse Berücksichtigung bürgerlicher Interessen durchaus ohne einschneidende Auswirkungen auf die Herrschaft der feudalen Klasse möglich war. In Preußen war die Situation jedoch eine andere. Hier hätte eine Politik, wie sie in Sachsen und Österreich praktiziert wurde, die Grundlagen des preußischen Staates getroffen. Die enge Verflochtenheit der Außenpolitik mit der Wirtschaftspolitik, die Unterordnung der letzteren unter die aggressive Außenpolitik hatten zur Folge, daß Veränderungen in einem Bereich notwendig auch Wandlungen im anderen hervorrufen mußten. Jede auch noch so geringe Berücksichtigung physiokrati-
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Ingrid Mittenzwei
scher Vorstellungen in der Gewerbe- und Handelspolitik hätte Auswirkungen auf die Beziehungen Preußens zu anderen Staaten, einschließlich der deutschen Territorialstaaten, haben mUssen. Mit Österreich und Sachsen, den hauptsächlich Betroffenen, aber hat Friedrich n . während seiner ganzen Regierungszeit in einem hartnäckigen, bald mit kriegerischen, bald mit wirtschaftlichen Mitteln ausgetragenen Kampf gestanden. Ging es ihm im Verhältnis zu Sachsen um die absolute Vorherrschaft, die zumindest in seinen "chimärischen Träumen" bis zur direkten Eroberung ausgedehnt wurde, so versuchte e r im Verhältnis zu Österreich das politische und militärische Gleichgewicht zu sichern, das im Verlaufe der Schlesischen Kriege entstanden war. Eine Orientierung auf den Freihandel, wie sie sich in Sachsen durchzusetzen begann, aber wäre mit einem Verzicht auf bisher eingesetzte wirtschaftliche, vor allem zollpolitische Druckmittel gegenüber Sachsen und Österreich verbunden gewesen. Sie hätte zudem Einnahmequellen verschlossen, die Friedrich n . für seinen Militärhaushalt verwandte. Eine Agrarpolitik gar, wie sie Joseph n . vertrat, hätte bei der engen Verknüpfung von Agrarverfassung und Kantonsystem in Preußen nicht ohne Wirkung auf die Beziehungen zwischen Gutsherren und feudalabhängigen Bauern und damit auch auf die sozialen Träger der preußischen Armee, auf die aus Gutsbesitzern gebildete Offizierskaste und die von Bauern gestellten Soldaten, bleiben können. Bei dem in Preußen herrschenden Rekrutierungssystem mußte sich jede den Bauern gewährte Freizügigkeit auf die Armee, das Rückgrat des preußischen Staates, auswirken. Ohne diese Armee aber wären alle machtpolitischen Pläne der preußischen Herrscher von vornherein Illusion gewesen. Diese Machtpolitik war außen- und innenpolitischer Drehpunkt aller von der h e r r schenden Klasse unternommenen Maßnahmen. Sie aufzugeben hieß die Grundlagen des preußischen Staates antasten. Deshalb konnte es auf wirtschafts- und außenpolitischem Gebiet auch nicht die geringste Anpassung an die neuen vom Bürgertum ausgehenden Einflüsse geben. Hier blieben Theorie und Praxis in ihrer einmal gegebenen feudalabsolutistischen Machart preußischer Prägung. Nur in einigen Bereichen des staatlichen Überbaus hatte es in Preußen Veränderungen gegeben. Doch nicht einmal hier ließ sich eine völlige Übereinstimmung von Theorie und Praxis feststellen. Am ehesten war sie noch im Justizwesen anzutreffen, wo die Milderung der Strafgesetze, die Änderungen im Zivilprozeß und die zumindest theoretisch verworfenen Eingriffe des Monarchen in die Rechtsprechung, von aufklärerischen Vorstellungen angeregt, in beschränktem Maße auch Bedürfnissen des Bürgertums Rechnung trugen. Das Justizwesen war der Bereich staatlicher Politik, in dem zumindest in der zweiten Etappe der Justizreform bürgerliche Aufklärer stärker zum Zuge kamen. Welche tatsächliche Bedeutung diese Tätigkeit aufgeklärter Beamten hatte, läßt sichermessen, wenn man berücksichtigt, daß
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der alternde König auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik nach wie vor diejenigen unter seinen Beamten bekämpfte, die neuen Vorstellungen Einfluß verschaffen wollten. Das geschah nicht nur oder nicht in erster Linie aus der Unfähigkeit des preußischen Königs, diese neuen Vorstellungen zu begreifen. So unfähig war er wieder nicht, daß er nicht verstanden hätte, daß stärkere Einflüsse neuer Ideen und ihrer sozialen Träger auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik Folgen nach sich ziehen mußten, die das ganze von ihm "konservierte" soziale Gefüge und damit die Grundlage des preußischen Staates angetastet hätten. Im Justizwesen war es für die herrschende Klasse dagegen weitaus ungefährlicher, Vertretern der bürgerlichen Aufklärung einen gewissen Einfluß auf die Staatsgeschäfte einzuräumen; nicht, weil das Recht ein für die Macht der herrschenden Klasse unwichtiger Teil des Überbaus wäre, sondern weil hier die Tätigkeit der Aufklärer in Bahnen gelenkt werden konnte, die der bestehenden Ordnung dienlich waren. Was schadeten den Gutsherren die Bemühungen des preußischen Königs, seiner Minister und auch der preußischen Justizaufklärer, die Prozeßführung zu vereinfachen und die Prozesse zu verkürzen ? Wurde doch an der Patrimonialgerichtsbarkeit nichts verändert. Was schadete dem preußischen Staat die Milderung der Strafgesetzgebung? Hatte diese doch auch wirtschaftliche Hintergründe. Ein zum Tode Verurteilter konnte dem preußischen Staat nicht mehr nützen, ein zu Zuchthaus Verurteilter aber für ihn arbeiten. Zudem blieb f ü r den wirklich einschneidenden staatsrechtlichen Teil der Rechtspflege die aufgeklärte Theorie nur Programm. Der für das Verhältnis des Bürgertums - namentlich der bürgerlichen Intelligenz zum absolutistischen Staat Friedrichs n . entscheidende Bereich war dessen Wissenschaftspolitik, kurz sein Verhältnis zur Aufklärung. Im vorliegenden Aufsatz wurde lediglich das Zensurwesen näher beleuchtet. Auf keinem Gebiet traten die Illusionen großer Teile der bürgerlichen Intelligenz Uber Friedrich n . stärker hervor. Hier wurde als "wirklich" genommen, was es in Wirklichkeit nicht gab. Hier war von Pressefreiheit die Rede, obwohl Friedrich n . zeit seiner Regierung niemals Pressefreiheit gewährt hatte. Diese Illusionen konnten aufkommen, weil sich in Preußen eine merkwürdige Arbeitsteilung durchgesetzt hatte. Da Friedrichs II. Zensoren auf striktes Einhalten der Gesetze achteten, konnte der König tolerant sein. Nicht auf der Willkür der Zensoren beruhten die Schwankungen in der Zensurpolitik, wie Geisler meint, sondern auf der des Königs. Dieser konnte Ausnahmen zulassen, weil ein Teil gerade der preußischen Aufklärer, in Illusionen über den aufgeklärten Absolutismus befangen, "staatstreu" war und Veränderungen zwar wünschte, sie aber nicht selber erkämpfen wollte. Viele preußische Aufklärer setzten nach wie vor auf Reformen, erhofften sie vom Herrscher. Das war auch ein Grund dafür, warum Friedrich II. im Unterschied zu Joseph II. bis zu seinem Tode nicht von seiner Form des aufgeklärten Absolutismus abweichen mußte.
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Ingrid Mittenzwei Damit ist bereits Wesentliches über objektive Funktion und gesellschaftliche Wirkung
des aufgeklärten Absolutismus in Preußen gesagt. Er hat einen Teil des aufkommenden Bürgertums daran gehindert, sich seiner selbst bewußt zu werden. Obgleich die aus der ersten Begierungszeit Friedrichs n . vorliegenden Äußerungen von Vertretern des Bürgertums zu seiner Politik nicht so zahlreich sind wie die aus der zweiten Etappe, ein Vergleich daher nur bedingt möglich ist, läßt sich ein sehr langsam vor sich gehender Prozeß der Ernüchterung nicht Ubersehen. Von ihm wurden weniger die im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehenden führenden Vertreter der Berliner Aufklärung erfaßt. Noch in den achtziger Jahren erklang die Sprache der "Berlinischen Monatsschrift" nicht kühner. Es war eine unterhalb dieser Gruppe von Aufklärern stehende Schar von Publizisten, vor allem aber viele der bedeutendsten Dichter dieser Zeit, die das wahre Wesen des friderizianischen Staates erkannt hatten und mit Kritik nicht zurückhielten. Schon das Echo auf die Schrift Friedrichs gegen die deutsche Dichtung legte vom wachsenden Selbstbewußtsein des deutschen Bürgertums Zeugnis ab. Dennoch läßt sich nicht übersehen, daß sich für einen beachtlichen Teil der preußischen bürgerlichen Intelligenz der bürgerliche Anspruch auf Freiheit, der im weitesten Sinne Beseitigung aller feudalen Vorrechte bedeutete, auf die Freiheit rien Denkens beschränkte. Da Friedrich II. diese Freiheit angeblich gewährte und Verstöße gegen sie seinen Beamten angelastet werden konnten, hielt sich bis zu seinem Tode die Illusion von der Möglichkeit bürgerlicher Veränderungen im Rahmen der bestehenden Monarchie. Der aufgeklärte Absolutismus hat folglich die Entwicklung des bürgerlichen Selbstbewußtseins in Preußen gehemmt und damit den in den deutschen Territorialstaaten ohnehin verlangsamten Prozeß der Formierung der neuen, zur Macht strebenden Klasse aufgehalten. Insofern müssen aufgeklärter Absolutismus in Deutschland und Französische Revolution tatsächlich im Zusammenhang gesehen werden, jedoch nicht in dem von der bürgerlichen Geschichtsschreibung in letzter Zeit beschriebenen Sinne. Der aufgeklärte Absolutismus Friedrichs II. war kein Revolutionsersatz, denn er hat keine der notwendig gewordenen bürgerlichen Umgestaltungen in Basis und Überbau herbeigeführt, er hat im Gegenteil Bestehendes mit äußerster repressiver Gewalt konserviert. Der aufgeklärte Absolutismus war daher nicht der Beginn einer "Revolution" von oben. Auch die Revolution von oben hat ja die Umgestaltung der alten Ordnung zum Inhalt. Er war nicht einmal eine Reform der bestehenden Gesellschaft, sondern nur eine innerhalb der gegebenen Ordnung, wie es Hans Magnus Enzensberger natürlich in Zusammenhang mit gegenwärtigen Entwicklungen einmal scharfsinnig ausgedrückt hat. Und auch diese "Reform" konnte in Preußen auf Grund des bestehenden Kräfteverhältnisses und der noch vorhandenen Stabilität des Absolutismus sehr begrenzt bleiben.
Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus
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Das Regime des aufgeklärten Absolutismus bestand nur kurze Zeit. Friedrich n . starb rechtzeitig genug. Seine Beformen waren ebenfalls beschränkt genug, um nicht noch zu seinen Lebzeiten zurückgenommen werden zu müssen. Die Erschütterung Europas durch die Französische Revolution hat e r nicht mehr erlebt. Deshalb läßt sich Uber das Verhältnis von aufgeklärtem Absolutismus und Französischer Revolution, über Reform und Revolution, viel besser am Beispiel Josephs II. urteilen. Der aufgeklärte Absolutismus, der als Frucht jener eigenartigen Situation charakterisiert werden kann, die durch Zuspitzung des Gegensatzes zwischen Bourgeoisie und Feudalabsolutismus in Europa, besonders in Frankreich, und noch nicht voll ausgereiftem Gegensatz zwischen diesen sozialen Kräften im eigenen Land gekennzeichnet war, war historisch überlebt, sobald das seiner Kraft bewußte Bürgertum seinen eigenen Gegensatz zum absoluten Herrscher zu begreifen begann. Dieser Zeitpunkt trat sowohl in Österreich als auch in Preußen in Ansätzen vor der Französischen Revolution in Erscheinung. Wangermann hat nachgewiesen, daß der aufgeklärte Absolutismus in Österreich Ende der achtziger Jafire 184 bereits "von links" Uberholt wurde. Die Steuer- und Agrarreform Josephs II., die diesen doch vorteilhaft von Friedrich II. abhob, ging den feudalabhängigen Bauern in den habsburgischen Ländern nicht mehr weit 185 genug. Sie hofften und erwarteten eine Abschaffung der feudalen Abhängigkeit Uberhaupt. Ähnliches ist Uber die Aktivität der sogenannten 186 josephinischen Intelligenz zu sagen. Der aufgeklärte Absolutismus Josephs blieb hinter den Forderungen dieser Schichten zurück. In dem Maße aber, wie die Opposition im Lande zunahm, wie sich das Kräfteverhältnis wandelte, wie sich auch der Druck der feudalen Kräfte auf das Regime verstärkte, nahm Joseph n . , noch bevor die Französische Revolution zu UnterdrUckungsmaßnahmen Anlaß gab, einen Teil seiner Reformen zurück. Es ist interessant, daß zur gleichen Zeit ähnliche Entwicklungen in Preußen vor sich gingen. Hier wurden diese Änderungen in der Regel mit dem Thronwechsel in Zusammenhang gebracht. Eine solche Sicht der Geschichte ist oberflächlich. Nicht der andere Herrscher und seine persönliche Haltung waren Ursache für die unmittelbar nach Friedrichs Tode, noch vor der Französischen Revolution, erlassenen Edikte, die, wie die WölLnerschen, gegen die von Friedrich in gewisser Beziehung tolerierte preußische Aufklärung gerichtet waren, sondern die nach dem Tode Friedrichs aufflammenden Forderungen des Bürgertums an den
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Wangermann. Ernst. Von Joseph n . zu den Jakobinerprozessen, Wien-Frankfurt (Main)ZUrich 1966. 185 Rozdolski. S. 127 ff. 186 Sashegyi. vor allem S. 126 ff.
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Staat, die vor allem die Wirtschaftspolitik betrafen, die, von Friedrich II. in sein machtpolitisches Korsett gezwungen, den Bedürfnissen des manufakturkapitalistischen Bürgertums immer mehr widersprach.* 817 Die Entwicklungen in Österreich und Preußen zeigen, daß der aufgeklärte Absolutismus nur so lange möglich war, wie der Gegensatz zwischen entstehender Bourgeoisie und Feudalabsolutismus noch unausgereift war. Mit der Zuspitzung der Gegensätze auf Grund der fortschreitenden manufakturkapitalistischen Entwicklung gab die herrschende Klasse selbst den Versuch etaer Reform innerhalb der bestehenden Ordnung auf. Sie griff zu altbewährten Mitteln brutaler Unterdrückung. Oer aufgeklärte Absolutismus war daher nicht die deutsche Französische Revolution, e r sicherte lediglich für eine historisch begrenzte Frist die zum Untergang reife Feudalordnung, indem e r Teile der werdenden Bourgeoisie an sich band. E r machte die Revolution historisch um so notwendiger.
187 Vgl. hierzu Kesselbauer, Günther. Die preußische Bourgeoisie in Handel und Gewerbe und ihre Bestrebungen zur Durchsetzung der neuen, kapitalistischen Produktionsverhältnisse (1789 bis 1806), wirtschaftswiss. Diss., Berlin 1958 (Ms.).
H E L M U T BOCK
Konservatives Rebellentum im antinapoleonischen Unabhängigkeitskampf. Zur Beurteilung des Freischarzuges unter Ferdinand von Schill 1809
Auch fUr Ferdinand von Schill, den preußischen Empörer, kann das Dichterwort klingen: "Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein CharaKterbild in der Geschichte." Doch sind Unterschiede des historischen Urteils nicht nur mit Friedrich Schillers Prolog zu "Wallenstein" zu erklären. Seitdem Marx durch schöpferische Aufhebung der deutschen Klassischen Philosophie das Geschichtsverständnis vom Kopf auf die Füße stellte, gilt der objektive gesellschaftliche Prozeß als oberster Maßstab für subjektives Denicen und Handeln. Diese materialistische Erklärung konkreter Geschichte muß auch Meinungsverschiedenheiten entwirren helfen, die nicht von der "Parteien Gunst und Haß" gefärbt, sondern sozusagen innerhalb einer Partei entstanden sind. Im Geschichtslehrbuch der sozialistischen Oberschule wird die "Tat des Majors von Schill" in einem besonderen Abschnitt gewürdigt. Der Mitteilung, daß Schill mit seinem Regiment rebellierte, um "das Zeichen für eine allgemeine Erhebung gegen Napoleon zu geben", folgt ein längeres Zitat aus dem Aufruf "An die Deutschen", das nur den Appell zur Waffenerhebung, nicht auch die konservative Zielsetzung wiedergibt. 1 "Noch war das Volk nicht entschlossen genug, diesen Aufruf in die Tat umzusetzen", lautet der Kommentar, Die SchUler werden mit der Vorstellung entlassen, allein die Lethargie der Volksmassen, nicht auch Schills Handlungsart sei für das Scheitern der patriotischen Erhebung verantwortlich zu machen. Im Deutschen Armeemuseum zu Potsdam wurde Schill als ein "Revolutionär" interpretiert; mit Berufung auf gebräuchliche Geschichtslehrbücher galt er auch dort als ein Teil jener gesellschaftlichen Kräfte, die die "Revolution von oben" ver2
traten und die Insurrektion der Volksmassen anstrebten. Die vorliegende Arbeit nennt Schill einen konservativen Rebellen: Sein Gesellschaftsprogramm zielte auf die Wiederherstellung der feudalen Ordnung. Seine militärpolitische
1 2
Geschichte. Lehrbuch für Klasse 7, Berlin 1968, S. 165. Der Verfasser stützt sich hier auf Führungen im Deutschen Armeemuseum vom Oktober 1967 und auf die Diskussion anläßlich der Verteidigung seines Buchmanuskripts "Schill. Rebellenzug 1809" im Deutschen Militärverlag am 2.11.1967.
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Strategie, die die geringen, aber bestehenden Möglichkeiten zur Volksinsurrektion keineswegs ausschöpfte, entsprach nicht den Intentionen der Stein, Scharnhorst, Gneisenau, Grolman und Clausewitz, auch nicht dem Drängen des entschiedenen Teils der Volksmassen. Die Meinungsverschiedenheit Uber den einzelnen Vorgang "Schill" hangt mit der Meinungsverschiedenheit Uber den allgemeinen gesellschaftlichen Prozeß der bürgerlichen Umwälzung auf deutschem Boden zusammen. Es scheint umstritten zu sein, wie lange der Kapitalismus im Schöße des herrschenden Feudalismus reifte und wann der unmittelbare Vorgang seines Sprunges in die eigenständige Existenz begann. Philosophisch lauten die Fragen: Wann endete Evolution, begann Revolution? Wann schlug quantitative Veränderung in qualitative Veränderung um? Wann begann die sprunghafte, revolutionäre Form der Entwicklung, in der sich der Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaftsformation vollzog? Die Antworten, die in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft gegeben werden, gehen gemeinsam von der weltgeschichtlichen Bedeutung der Französischen Revolution aus, nennen 1789 den Beginn einer Epoche, in der der Kapitalismus über den Feudalismus siegte. Doch sind die Erklärungen über das Verhältnis zwischen der französischen und der deutschen bürgerlichen Umwälzung verschieden. Die erste Auffassung betont den Einfluß der Französischen Revolution auf Deutschland nur, weil durch sie "wesentliche feudale Hemmnisse für die gesellschaftliche Entwicklung beseitigt wurden" - und sie knüpft an diese Prämisse den Schluß: "Um die Mitte des 19. J a h r hunderts waren auch in Deutschland die bürgerliche Revolution und die national-staatliche 3 Einigung notwendig geworden." Der logische Zusammenhang beider Feststellungen mag den Gedanken auslösen, es habe der dialektische Umschlag von der alten zur neuen Qualität erst 1848 angefangen, es müsse die bürgerlich-demokratische Revolution, die in der Jahrhundertmitte die herrschenden Staatsgewalten erschütterte, zugleich auch 4 als ein Beginn des qualitativen Umschlags der ganzen Gesellschaft angesehen werden. Die andere, hier vertretene Auffassung will die Auswirkungen der Französischen Revolution entschiedener akzentuieren: Die Volks aufstände, die seit 1789 in deutschen T e r r i torialstaaten ausbrachen, eröffneten die akute Zerfallskrise des feudalen Systems, und durch Frankreichs Annexion und gesellschaftliche Veränderung des linksrheinischen Gebiets, durch rheinbündische und preußische Reformen begann die bürgerliche Umwälzung. Sie
3 4
Präzisierter Lehrplan für Geschichte. Klasse 7. Berlin 1967, S. 6 f. Auch in der Literaturgeschichtsschreibung wird 1848 als Epochenzäsur, aufgefaßt (vgl. Deutsche Literaturgeschichte in einem Band, hg. von Hans Jürgen Geerdts, Berlin 1968).
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war - philosophisch gesprochen - eine Revolution, die die deutsche Gesellschaft in der Zeit von rund acht Jahrzehnten vom feudalen zum kapitalistischen System wandelte. Die Massenerhebungen von 1848/1849 aber waren innerhalb dieses revolutionären Gesamtprozesses eine bürgerlich-demokratische Revolution, mit der der Klassenkampf für die Durchsetzung des Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie in Deutschland den Höhepunkt 5 und die entscheidende Zuspitzung erfuhr. Diese verschiedenartige Beurteilung des Allgemeinen führt zwangsläufig zu verschiedenartiger Beurteilung des Besonderen und des Einzelnen in der Geschichtsperiode von 1807 bis 1815. Hegt man die Ansicht, der Qualitätssprung vom Feudalismus zum Kapitalismus habe erst mit der Revolution von 1848/1849 begonnen, so müßte diese Geschichtsperiode noch innerhalb des evolutionären Reifens des Kapitalismus gesehen werden: Der antinapoleonische Unabhängigkeitskampf und Schills Rebellentum würden nicht an den sozialen und nationalen Aufgaben der bürgerlichen Umwälzung zu messen sein. Begreifen wir aber die Zeit von 1789 bis 1871 in der Weltgeschichte als Epoche des Sieges des Kapitalismus und in der deutschen Geschichte als Einheit der bürgerlichen Umwälzung, so sind wir genötigt, am Beispiel des antinapoleonischen Unabhängigkeitskampfes die Dialektik der sozialen und nationalen Frage im Sinne des bereits laufenden Prozesses der revolutionären Gesellschaftsumwälzung zu interpretieren: Die nationale Bewegung muß nach bürgerlich-fortschrittlichen und feudal-restaurativen Kräften differenziert, Schills subjektives Wirken muß nach seinem Verständnis oder Unverständnis für den. objektiven Prozeß der bürgerlichen Umwälzung beurteilt werden. Das Allgemeine: Beginn der bürgerlichen Umwälzung und napoleonische Fremdherrschaft Im Prozeß des gesetzmäßigen Übergangs von der ökonomischen Gesellschaftsformation des Kapitalismus war die Zeit, die 1789 mit der französichen bürgerlichen Revolution begann und 1871 mit der Konstituierung der ersten Arbeitermacht - der P a r i s e r Kommune - abschloß, die Epoche des Sieges und der Festigung des Kapitalismus in den fortgeschrittenen 5
Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 1: Von den Anfängen der deutschen Arbeiterbewegung bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Berlin 1966, S. 85 f f . ; Deutsche Geschichte in Daten, hg. vom Institut für Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1967, S. 335-472; Streisand. Joachim. Deutsche Geschichte in einem Band. Ein Überblick, Berlin 1968, S. 83-154; Mottek. Hans. Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd 2: Von der Zeit der Französischen Revolution bis zur Zeit der Bismarckschen Reichsgründung, Berlin 1964, S. 1-17; Das Reformministerium Stein. Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren 1807/08, hg. von Heinrich Scheel, 3 Bde, Berlin 1966-1968, Bd 1, S. v n f f .
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Heimat Book g
Ländern.
Der Hauptwiderspruch zwischen Feudalismus und Kapitalismus, der sich als
antagonistischer Klassenwiderspruch zwischen dem Feudaladel und der Bourgeoisie entwickelte, wurde durch bürgerliche Revolutionen und die Bildung bürgerlicher Staaten gelöst. Da der kapitalistische Fortschritt mit objektiver Notwendigkeit zur Herausbildung nationaler Märkte und zur Errichtung von Nationalstaaten tendierte, vollzog sich die revolutionäre Umwälzung bei jenen Völkern, die in territorialstaatlicher Zersplitterung oder unter Fremdherrschaft lebten, im Zusammenhang mit nationalen Einigungs- und Unabhängigkeitsbewegungen. Deshalb beurteilt Lenin den Charakter dieser Epoche wiederholt mit dem Blick auf ihre nationalen Kriege: "Die Große Französische Revolution eröffnete eine neue Epoche in der Geschichte der Menschheit. Von dieser Zeit bis zur Pariser Kommune, von 1789 bis 1871, stellten die bürgerlich-fortschrittlichen nationalen Befreiungskriege einen besonderen Typus von Kriegen dar. Mit anderen Worten: Der Hauptinhalt und die historische Bedeutung dieser Kriege waren die Beseitigung des Absolutismus und des Feudalismus, 7 ihre Untergrabung, die Abwerfung eines national fremden Jochs." Wie in der Weltgeschichte, so brachte diese Epoche auch in der deutschen Geschichte jene Umwälzung hervor, die den revolutionären Sprung von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaftsformation zum Inhalt hatte. Aber die unendliche qualitative Mannigfaltigkeit der Erscheinungen der materiellen g Welt bedingt eine unendliche Vielzahl von konkreten Formen dialektischer Sprünge.
Dieser Grundsatz erklärt philosophisch, warum die bür-
gerliche Umwälzung in Deutschland nicht die "klassische" Form wie in Frankreich, sondern eine andere Erscheinungsform annahm. Der konkret-historische Prozeß in Deutschland ergab sich aus den Bedingungen und der Aufgabenstellung der Revolution. Die allgemeinen Aufgaben der bürgerlichen Revolution - gemessen an Frankreich - bestanden Ökonomisen in der Beseitigung der feudalen Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse, der veralteten Gewerbeverfassung, der lokalen Zersplitterung der Produktion zugunsten kapitalistischer Verhältnisse; sie bestanden politisch in der Beseitigung des feudalabsolutistischen Staats und in der Errichtung des bürgerlichen g Staats. Da Deutscnland aber infolge der Struktur des alten Kaiserreiches noch 1789 in rund dreihundert Territorien zerrissen war, mußte die Revolution nicht schlechthin das feudale System überwinden, sondern - als besondere Aufgabe - die staatliche Zersplitterung beseitigen und einen einheitlichen bürgerlichen Nationalstaat herbeiflihren. 6 7 8 9
Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Berlin 1963, S. 12. Lenin. W.I.. Sozialismus und Krieg, in: Derselbe, Werke, Bd 21, Berlin 1968, S. 300. Vgl. Marxistische Philosophie. Lehrbuch, Berlin 1967, S. 406. Vgl. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, S. 1 f .
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Am Anfang der Epoche dominierten noch die feudalen Produktionsverhältnisse. Der Adel, dessen Klassenherrschaft durch den mehr oder weniger entwickelten Absolutismus in den vielen Klein- und Mittelstaaten und den zwei großen Territorialstaaten Österreich und Preußen gesichert war, besaß den größten Teil des Bodens und ließ ihn durch hörige oder sogar leibeigene Bauern bewirtschaften. Die Privilegienordnung, die diese Eigentumsund Ausbeutungsverhältnisse auf dem Lande sanktionierte, bestimmte ebenso das ökonomische Leben in der Stadt: Zunftverfassungen schränkten das Gewerbe, Zoll- und Akzisebestimmungen schnürten den Handel ein. Doch hatten sich innerhalb der feudalen Gesellschaftsformation die neuen Produktivkräfte und Wirtschaftsformen des Manufakturkapitalismus entwickelt. Unter dem Einfluß der industriellen Revolution Englands begann in der deutschen Textilindustrie, im Bergbau und im Hüttenwesen sogar schon die Ersetzung der manuellen Arbeit durch die Maschinenkraft, so daß die Industrielle Revolution auch hier vorbereitet wurde. 1 0 Die umfassende Anwendung dieser modernen Produktivkräfte wurde jedoch behindert durch die feudale Bindung der Arbeitskräfte, die absolutistische Wirtschaftspolitik, das Privilegienwesen, die Produktion ftir vorwiegend lokale Märkte und den Mangel an Kapital; sie erforderte statt dessen die Lösung der ländlichen Bevölkerung aus feudaler Untertänigkeit, die Freiheit des Gewerbes und des Güterverkehrs, die Bildung eines nationalen Marktes. Den feudalen Produktionsverhältnissen entsprechend, waren Adel und Bauern die Grundklassen, die die Einheit und den Kampf der Gegensätze innerhalb des herrschenden Systems der Gesellschaftsformation von alters her verkörperten. Bourgeoisie, Kleinbürgertum und Lohnarbeiter stellten soziale Klassen und Schichten dar, die teils noch in dieses System integriert waren, teils aber als Träger kapitalistischer Produktionsverhältnisse die Elemente der zukünftigen ökonomischen Gesellschaftsformation repräsentierten. Die Bourgeoisie war objektiv dazu bestimmt, das herrschende System zu beseitigen: Sie mußte als politischer Hegemon den Klassenkampf leiten und sich mit den Volksmassen - mit Bauern, Kleinbürgern und Arbeitern - zur Durchsetzung der bürgerlichen Umwälzung verbünden, die den Inhalt der Epoche im ganzen und der Perioden im einzelnen prägte. Der antifeudale Klassenkampf erhielt ein epochemachendes Beispiel durch die Französische Revolution von 1789. Sie gab Anstoß zu Unruhen und Aufständen der feudal unterdrückten Bauern auf dem Lande, des Kleinbürgertums und der Lohnarbeiter in den Städten. Diese Volksbewegungen gipfelten in der Konstituierung der Mainzer Republik, der ersten bürgerlich-demokratischen Staatsordnung auf deutschem Boden. ^ 10 Ebenda, S. 73 f f . , 78-118. 11 Streisand. Joachim. Deutschland von 1789 bis 1815. Von der Französischen Revolution bis zu den Befreiungskriegen und dem Wiener Kongreß, 2 . , veränd. Aufl., Berlin 1961, S. 12-21, 34-43.
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Leitete der Kampf der Volksmassen den Zusammenbruch des Feudalsystems ein, so verhinderte jedoch die territorialstaatliche Zersplitterung Deutschlands objektiv eine Ausweitung der lokalen Rebellionen zur nationalen bürgerlich-demokratischen Revolution; sie begünstigte vielmehr die Konterrevolution bei der Unterdrückung der Aufstände. Die Schwäche der subjektiven FUhrungskraft zeigte sich am Verhalten der Bourgeoisie, die infolge der Vielstaaterei, der daraus hervorgehenden wirtschaftlichen und politischen Beschränkung noch keine nationale Klasse und darum nicht fähig war, ihre historische Mission anzutreten. Am kapitalistischen Fortschritt interessiert, sympathisierte sie zwar mit den freiheitlichen Ideen der Französischen Revolution, doch mied sie den revolutionären Kampf der Volksmassen. Die Mehrheit der bürgerlichen Intelligenz hoffte die absoluten Fürsten durch Aufklärung bewegen zu können, mit bürgerlichen Beformen die feudale Privilegienordnung zu beseitigen und in Konstitutionellen Monarchien die Interessen des besitzenden Bürgertums wahrzunehmen. Dieser frühe Liberalismus knüpfte in der Theorie an Montesquieu an und war 12
politisch-praktisch auf das Königreich England orientiert.
Gegen ihn wirkten die Verfech-
ter des bürgerlich-revolutionären Demokratismus - nach französischen Maßstäben auch "Jakobinismus" oder "Sansculottismus" genannt - als eine Minderheit: Sie wandten sich mit Benutzung der Ideen Rousseaus und mit Parteinahme für die französische Republik an die Volksmassen, versuchten die gesellschaftliche Umwälzung als eine Notwendigkeit zu erklären, erstrebten den Fortschritt auf dem Wege der Volksrevolution und bezeichneten die Republik als die einzige Staatsform, in der die Souveränität des Volkes verwirklicht werden 13 konnte.
Obgleich von der feudalen Reaktion verboten und verfolgt, handhabten die deut-
schen Jakobiner die Waffen der anonymen Flugschrift und der revolutionären Konspiration; sie steigerten sich am Ende des alten Jahrhunderts 14 zur Konzeption für eine nationale Revolution und die Errichtung einer deutschen Republik.
Doch scheiterten auch diese Demokra-
ten an der Verworrenheit deutscher Zustände. Damit sich Hegemon und Volksmassen für eine bürgerlich-demokratische Revolution zum Sturz der feudalen Gesellschaftsordnung formieren konnten, mußten die schlimmsten Aus-
12
Grab. Walter. Demokratische Strömungen in Hamburg und Schleswig-Holstein zur Zeit der ersten französischen Republik, Hamburg 1966, S. 14 ff. = Veröffentlichungen des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd 21. 13 Ebenda, S. 18 ff. 14 Scheel. Heinrich. Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 1962; Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, hg. von Heinrich Scheel, Berlin 1965.
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wüchse der ökonomischen und politischen Zersplitterung auf deutschem Boden verschwinden. Diese Entwicklung wurde von einer politischen Kraft eingeleitet, die unter Ausnutzung der innerdeutschen Widerspruche von außen wirkte: der kapitalistischen Gesellschaftsordnung Frankreichs sowie der in ihr herrschenden Großbourgeoisie. Die Territorialmächte des deutschen Reiches hatten in der Französischen Revolution ein Kraftzentrum erkannt, das den Feudalismus gefährdete und die antifeudalen Bewegungen förderte. In Illusionen über die Stabilität ihres gealterten Svstems befangen, verbündeten sie sich miteinander, mit den anderen Feudalmächten Europas und mit England, um die revolutionären Wirkungen Frankreichs auszuschalten. Doch ergab dieser internationale Konflikt, daß das feudale Staatensystem seine bisherige Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent einbüßte: In vier fortschrittlichen Kriegen (1792 - 1797, 1799 - 1801, 1805, 1806 - 1807) bewies Frankreich seine politisch-militärische Überlegenheit, und es beschleunigte die Zerstörung der feudalen Gesellschaftsordnung. Seit dem Ende der Jakobinerdiktatur (1794) und dem Machtantritt der Großbourgeoisie erstrebte Frankreich in wachsendem Maße die Vormachtstellung in Europa. Besonders die Militärdiktatur Napoleon Bonapartes (1799), die die arbeitenden Klassen im eigenen Lande unterdrückte und die Revolutionäre in Deutschland fallenließ, schreckte vor Annexionen und Plünderungen nicht zurück, um den welthistorischen Klassenkampf der Bourgeoisie gegen den Feudaladel, aber auch den kapitalistischen Konkurrenzkampf gegen das bürgerliche England zu ihren Gunsten zu entscheiden. So annektierte Frankreich durch die Friedensverträge von Basel (1795), Campo Formio (1797) und Lunöville (1801) alle linksrheinischen deutschen Gebiete; dort vertrieb es "die Adligen, Bischöfe und Äbte und alle jene kleinen 15 Fürsten, die so lange Zeit eine Marionettenrolle in der Geschichte gespielt hatten" . Indem Frankreich - mit Unterstützung der deutschen cisrhenanischen Fortschrittskräfte den Feudalismus auf dem Wege militärischer Administration und bürgerlicher Reformen beseitigte, eröffnete es im Rheinland, das später wieder an Deutschland fiel (1815), die bürgerliche Umwälzung, die qualitative Veränderung der deutschen Gesellschaftszustän16
de.
Auch alle weiteren Maßnahmen dienten der Herstellung einer politischen Umwelt, die
dem großbürgerlichen Interesse förderlich war. Durch den Reichsdeputationshauptschluß (1803) erzwang Frankreich die Auflösung und die Aufteilung von 112 weiteren Staaten, so daß die Vielstaaterei verringert wurde. Die Gründung des Rheinbundes, dessen 15 Engels, Friedrich. Deutsche Zustände, in: Marx/Engels, Werke, Bd 2, Berlin 1959, S. 568. 16 Vgl. Marx. Karl. Der Gesetzentwurf Uber die Aufhebung der Feudallasten, in: Ebenda, Bd 5, Berlin 1959, S. 278; Engels. Friedrich, Die deutsche Reichsverfassungskampagne, in: Ebenda, Bd 7, Berlin 1960, S. 115 f.
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16 feudale Mitgliedsstaaten sich der Vorherrschaft Frankreichs unterwarfen und ihre Trennung von Kaiser und Reich proklamierten, führte das Ende des Reiches herbei (1806). Nach der Niederwerfung des friderizianischen Preußen besiegelte Napoleon den beschleunigten Verfall des Feudalsystems mit dem Diktatfrieden von Tilsit (1807). Zu dieser Zeit waren alle deutschen Staaten dem Napoleonischen Rheinbund beigetreten und faktisch der Militärdiktatur der französischen Großbourgeoisie unterstellt. Nur Österreich und das verkleinerte Preußen bewahrten unter dem Zwang bedrückender Verträge eine Unabhängigkeit, die um so weniger sicher war, als sich auch Rußland, das letzte große Bollwerk des Feudalismus in Europa, mit Frankreich verbündete. Die bürgerliche Gesellschaftsordnung Frankreichs hatte den militärischen Sieg Uber die feudale Gesellschaftsordnung des ganzen Kontinents errungen. Aber das kapitalistische System Frankreichs war durch den Widerspruch zwischen Bourgeoisie und arbeitenden Klassen bestimmt, welcher der napoleonischen Militärdiktatur die Zweischneidigkeit des bürgerlichen Fortschritts und des Antidemokratismus gab. Dieser Widerspruch übte auch in der Außenpolitik dialektische Wirkungen aus. 17 So trieb die französische Fremdherrschaft in Deutschland einerseits die Lösung des Hauptwiderspruchs der Epoche weiter voran: Bürgerliche Reformen in den napoleonischen Protektoratsstaaten Westfalen und Berg, zum Teil auch in den anderen Rheinbundstaaten Frankfurt, Baden und Anhalt, schafften Raum für die Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse, indem sie die Bauern von der Leibeigenschaft erlösten und der Bourgeoisie die Gewerbefreiheit, die Besteuerung des Adels, die Geschworenengerichte, überhaupt das ganze bürgerliche Gesetzbuch brachten. Andererseits bewirkte die Fremdherrschaft eine nationale Unterdrückung: Kontinentalsperre und französische Wirtschaftshegemonie befreiten zwar die Bourgeoisie von der Konkurrenz englischer Waren, sie unterbanden aber die Ausfuhr der rheinisch-bergischen Metallwarenfabrikation und der preußischen Textilindustrie, sie ruinierten die norddeutschen Hafenstädte, sie brachten den Holz- und Getreidehandel der ostelbischen Gebiete zum Erliegen. Die Fortdauer der Napoleonischen Kriege führte in den Rheinbundstaaten zu stetiger Belastung durch tributpflichtige Bereitstellung von Menschen, Geld und Material, in Preußen zur Auspressung durch unerträgliche Kont ributionen. 17 Streisand. Deutschland von 1789 bis 1815, S. 134-142; Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, S. 79 ff.; derselbe. Zu den ökonomischen Auswirkungen der Fremdherrschaft, in: Der Befreiungskrieg 1813, Berlin 1967, S. 95-105; Heitzer, Heinz. Der Rheinbund - Kern des napoleonischen Unterdrückungssystems in Deutschland, in: Ebenda, S. 83-93; derselbe, Insurrectionen zwischen Weser und Elbe. Volksbewegungen gegen die französische Fremdherrschaft im Königreich Westfalen (1806-1813), Berlin 1959; Huber. Ernst Rudolf. Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart 1957, S. 88 ff.
Konservatives Rebellentum 115 Ergebnis dieser Politik waren widersprüchliche Reaktionen bei den deutschen Gesellschaftsklassen. Der Adel, der den Zusammenbruch seines Systems durch Unterwerfung aufzuhalten suchte, behielt einerseits die politische Macht, verlor aber andererseits die staatliche Sanktion der feudalen Produktionsverhältnisse. Die Bourgeoisie gewann einerseits die formalrechtliche Förderung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und erreichte örtlich - wie im Linksrheinischen und in Sachsen - auch den faktischen Aufschwung der Produktivkräfte, sie erlitt andererseits große materielle Einbußen. Die Volksmassen, unter denen nur ein Teil der Bauern durch den Gewinn persönlicher Freiheit formal begünstigt wurde, kamen real kaum in den Genuß des Fortschritts, weil sie die Last des Steuerdrucks, der Kontributionen, der Kriegsdienstpflicht und der Wirtschaftskrise am stärksten bedrückte. J e länger die Fremdherrschaft währte, desto weniger war sie für die deutschen Gesellschaftsklassen in ihrer Gesamtheit erträglich. Der Hauptwiderspruch zwischen Feudalismus und Kapitalismus wurde modifiziert durch den Widerspruch zwischen der bestehenden Fremdherrschaft und dem objektiven Be18
dürfnis nach "Selbstentwicklung der Nation"
. Der bürgerliche Staat mußte sich zukünf-
tig als Nationalstaat konstituieren, der Sieg der kapitalistischen Gesellschaftsformation auf deutschem Boden erforderte die nationale Unabhängigkeit. Deshalb konnte die Beseitigung der Fremdherrschaft nicht ohne Interesse und Aktivität der Bourgeoisie und der Volksmassen gelingen. Sie verlangte von deutschen fortschrittlichen Kräften selbst Maßnahmen, die die Lösung des Hauptwiderspruchs der Epoche vorantrieben: Maßnahmen auf dem Wege 19 zum "bürgerlichen Staat"
.
So erstand gegen die Konzeption des Fortschritts und der nationalen Unterdrückung, die durch Napoleon repräsentiert wurde, eine patriotische Konzeption des Fortschritts und der nationalen Befreiung. Die Widerstandskräfte konzentrierten sich im wesentlichen außerhalb der Rheinbundstaaten, des unmittelbaren Wirkungsbereiches des napoleonischen Systems. In Preußen gelangten liberale Reformer in die führenden Regierungsämter und eröffneten unter dem Ministerium Stein auch hier die bürgerliche Umwälzung: Sie nahmen den Bauern die Last der Erbuntertänigkeit, gaben der Bourgeoisie die Freiheit des Grundstücke rwerbs, die städtische Selbstverwaltung und die Gewerbefreiheit, wandelten den Staatsapparat nach den Prinzipien fachlicher Zuständigkeit und Zentralisation, reformierten das Militärwesen. 20 Ihre weiterzielenden Absichten, den Geburtsadel und seine politische 18
Engels, Friedrich, Ernst Moritz Arndt, in: Marx/Engels, Werke, Ergänzungsbd, 2. Teil, Berlin 1967, S. 123. 19 Lenin, W.I., Die Hauptaufgabe unserer Tage, in: Derselbe, Werke, Bd 27, Berlin 1969, S. 149. 20 Das Reformministerium Stein.
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Macht auf dem Lande (Patrimonialgerichtsbarkeit u.a.) einzuschränken, auch eine konsti21
tutionelle Verfassung zu proklamieren , scheiterten freilich am Widerstand des Feudaladels. Deshalb brachten diese Reformen zwar den "Beginn der bürgerlichen Revolution in 22
Preußen"
, aber nicht die grundstürzende Umwälzung des feudalen Überbaus, nicht die
Entmachtung des Adels. Die bUrgerlich-nationalen Ziele der preußischen Reformer wurden vom reaktionären Adel nicht gebilligt. Während eine Adelsfraktion mit Napoleon kollaborierte, schloß sich eine andere der Unabhängigkeitsbewegung an, verfolgte jedoch feudal-restaurative Absich* 23 ten. Das widerspruchsvolle Zusammenwirken der bürgerlich-fortschrittlichen und der feudal-restaurativen Kräfte bestimmte auch die Ideologie und die geistige Kultur der antinapoleonischen Bewegung. Die fortgeschrittensten Patrioten griffen auf die deutsche Klassik zurück, die seit dem Ende des alten Jahrhunderts ihre historisch-politische Konzeption entfaltete: Sie verlangte die Förderung des bürgerlichen Fortschritts durch Erziehung der Menschen zur Humanität. Indem sie sich als deutsche Nationalkultur auffaßte, erstrebte sie zugleich eine Synthese des Nationalen und des Menschheitlichen in der Überzeugung, daß eine geistige Leistung von Weltrang nur durch Aufgeschlossenheit gegenüber der Geschichte und der Kultur auch anderer Völker zu erreichen sei. Die Klassik verarbeitete die geschichtlichen Erfahrungen der bürgerlichen Länder Westeuropas und verfocht die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts, interpretierte die Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten des Menschen unter den Bedingungen der Epoche der bürgerlichen Umwälzung und wirkte für ein Welt- und Menschenbild, das auf Fortschritt, Humanität, realistische Aneignung der Wirklichkeit gegründet war. Die Mehrzahl der Gegner der Fremdherrschaft wurde von der Romantik beeinflußt, die um die Jahrhundertwende ebenfalls als bürgerliche Strömung aufgestiegen, aber im Vergleich zur Klassik tief widersprüchlich war. Im Widerstand gegen die großbürgerliche Macht Napoleons vermengte sie ihre Kritik, die auch gegen antihumanistische Erscheinungsformen des Kapitalismus gerichtet war, mit rückschrittlichen Auffassungen vom Mittelalter als einer "guten alten Zeit". Den fortschrittlichen Optimismus und den Rationalismus der Aufklärung in gewissem Sinne zurücknehmend, leistete sie einer Restaurationsideologie Vorschub, die am Ende dieser Geschichtsperiode als Konzeption des herrschenden Adels
21 22
Ebenda, Bd 3, S. 1136 ff. Engels. Friedrich. Ergänzung der Vorbemerkung von 1870 zu "Der deutsche Bauernkrieg", in: Marx/Engels, Werke, Bd 18, Berlin 1962, S. 513.
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in der Romantik wirkte: Sie erhob das Mittelalter zum Inbegriff eines in FUrst und Kirche geborgenen, in Ständeordnung und Christentum vereinigten Volkes. "Organische Kontinuität" und "friedliche Evolution" wurden zu Schlagworten, die jeden revolutionären Angriff auf den Staat als eine Vergewaltigung des "natürlich Gewordenen " zurückwiesen. Ein mystischer Volksbegriff und eine nationalistische Selbstüberhebung sollten im Bewußtsein der Volksmassen den Widerspruch zwischen feudaler Reaktion und bürgerlichem Fortschritt verwischen. Die deutsche Unabhängigkeitsbewegung wurde durch das Vorbild der Spanier ermutigt, die seit 1808 gegen Frankreich einen erbitterten Nationalkrieg führten. Das Jahr 1809 brachte im Zusammenhang mit Österreichs Krieg gegen Frankreich auch den Bauernaufstand in Tirol und die ersten nationalen Erhebungen in Norddeutschland. Aber erst nach dem Einsetzen einer ökonomischen Krise (1810) und dem Scheitern des wahnwitzigen Versuchs, die innenpolitischen Schwierigkeiten Frankreichs durch den außenpolitischen Erfolg einer Unterjochung Rußlands auszugleichen (1812), verlor die großbürgerlich-napoleonische Militärdiktatur ihre Stabilität. Der Sieg des russischen Volkes über Napoleons Grande Armée wurde von den bürgerlichen Reformern und den teils von ihnen beeinflußten, teils spontan agierenden Volksmassen wahrgenommen. Durch Volksbewaffnung und Erhebung in Preußen - auch im napoleonisch besetzten Norddeutschland - zwangen die Massen den widerstrebenden Feudaladel und den preußischen König zum Waffenbündnis mit Rußland (Februar 1813): Sie gaben dem Unabhängigkeitskampf die insurrektionellen Züge eines 24 Volkskrieges. Da der kleinstaatliche Partikularismus die nationale Entwicklung seit langem behinderte und die RheinbundfUrsten als Verräter der deutschen Unabhängigkeit wirkten, verbanden die entschiedensten Patrioten mit dem allgemeinen Kriegsziel, die Fremdherrschaft zu stürzen, auch die Forderung nach Entmachtung der Rheinbundfürsten und den Wunsch nach nationaler Einheit. Doch wurden in der Öffentlichkeit keine klaren bürgerlich-nationalstaatlichen Konzeptionen diskutiert: Das Verlangen nach einem einheitlichen und großen Vaterland, das an sich mit der bürgerlichen Entwicklungstendenz übereinstimmte, wurde durch rückwärtsweisende Argumente ausgesprochen, die Kaiser und Reich des Mittelalters ein Vorbild f ü r die Zukunft nannten. Unter den Militärorganisationen war das Streben nach Unabhängigkeit und Überwindung feudalstaatlicher Zersplitterung am deutlichsten in der 23 Über die verschiedenen Strömungen innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung vgl. Streisand. Deutschland von 1789 bis 1815, S. 143 ff. 24 Vgl. ebenda, S. 208-237; Helmert. Heinz/Usczeck. Hans-Jürgen. Der Befreiungskrieg 1813/14. Militärischer Verlauf, Berlin 1963.
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Russisch-Deutschen Legion und im Lützowschen Freikorps verkörpert; Offiziere und Soldaten, die verschiedenen deutschen Staaten entstammten, hofften Kern eines zukünftigen Nationalheeres zu sein. Durch den Beitritt Österreichs zur englisch-russisch-schwedisch-preußischen Koalition (August 1813) erhielten jedoch die feudalreaktionären Kräfte das Übergewicht. Den Reformern im Militär und in Regierungsämtern fehlte eine kraftvolle Bourgeoisie als Rückhalt. Sie konnten zwar den militärisch-strategischen Einsatz der Volksmassen lenken und den Sieg in der Entscheidungsschlacht bei Leipzig sichern; aber sie waren zu schwach, die Übereinkunft der verbündeten Dynastien mit den deutschen Rheinbundfiirsten und somit die Vorherrschaft des Feudaladels zu verhindern. Der Kampf, den die Fortschrittskräfte für eine nationale Unabhängigkeit nach außen und für eine bessere politisch-soziale Ordnung im Innern begonnen hatten, entartete in einen Kampf der Fürsten gegen Frankreichs bürgerliche Gesellschaftsordnung. Endigte der erste Krieg (1813/1814) schon mit der Wiedererhebung der Bourbonen auf den französischen Königsthron, so mangelten dem zweiten 2Krieg (1815) wesentliche Merkmale einer gerechten und fortschrittlichen Vertei5 jdigung. Der Widerspruch zwischen französischer Fremdherrschaft und nationaler Unabhängigkeit wurde gelöst. Doch während die großbürgerlich-napoleonische Militärdiktatur infolge der spanischen, russischen, deutschen Unabhängigkeitskriege und des englischen Konkurrenzkampfes zusammenbrach, machten die Fürsten den Versuch, das zerrüttete feudale System zu erhalten. Diese Restaurationspolitik war gegenüber dem bürgerlichen Fortschritt in Deutschland eine reaktionäre Alternative: Unfähig, die gesellschaftlichen Neuerungen im ganzen rückgängig zu machen, konservierte sie jedoch die Herrschaft der Dynastien und des Junkertums. Sie hemmte die bereits stattfindende bürgerliche Umwälzung, so daß die Lebensinteressen der Bourgeoisie und der Volksmassen nur verkrüppelt und stückweise zur Geltung kamen. Es blieb einer zukünftigen bürgerlich-demokratischen Revolution als Aufgabe vorbehalten, diesen konterrevolutionären Weg der Durchsetzung des Kapitalismus zu korrigieren.
25 Über den Charakter des Krieges von 1815 gibt es unter marxistischen Historikern Meinungsverschiedenheiten (vgl. Bock. Helmut. Rezension zu Joachim Streisand, Deutschland von 1789 bis 1815, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1961, H. 1, S. 199; derselbe. Deutsch-Sowjetische Historikertagung "1813. Zum 150. Jahrestag des Befreiungskrieges", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1964, H. 1, S. 92 f . ) .
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Das Besondere: Bürgerliche Reformen des Ministeriums Stein und nationale Unabhängigkeitsbewegung in Preußen Die komplizierte Dialektik des objektiven und subjektiven Faktors zu Beginn der bürgerlichen Umwälzung äußerte sich vor allem in folgender Tatsache: Objektiv hatte der qualitative Umschlag von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaftsformation begonnen; doch subjektiv hatte die Bourgeoisie ihre historische Rolle als Hegemon des Kampfes für den bürgerlichen Fortschritt noch nicht angetreten. Erfolgten daher die Reformen im Linksrheinischen und in den Rheinbundstaaten unter der Leitung einer ausländischen großbürgerlichen Militärbürokratie, so waren die Akteure der Reformen in Preußen eine Avantgarde des Fortschritts, die sich klassenmäßig aus dem liberalen Flügel des Adels und aus der bürgerlichen Intelligenz rekrutierte. Die Adligen unter den preußischen Reformern entstammten in der Regel nicht der ostelbischen Gutsbesitzerklasse: Teils waren sie in nichtpreußischen Territorien aufgewachsen, aus freiem Entschluß als Beamte und Offiziere in den Dienst der absoluten Monarchie Preußen getreten, teils waren sie bürgerlicher Herkunft und hatten den Adelstitel erst im Staatsdienst erlangt. Die ungeadelten Vertreter der bürgerlichen Klassen, soweit sie nicht in Intelligenzberufen wirkten, waren gleichfalls Beamte und Offiziere, die der herrschenden Klasse "den nötigen Verstand lieferten, um zu regieM
ren"
2 6
. Waren diese gesellschaftlichen Kräfte auch seit langem von liberalen Ideen der Auf-
klärung erfaßt, so blieb doch ihre wichtigste Erfahrung der Sieg der französischen bürgerlichen Revolution. Sie hatten Frankreichs Triumph über das feudale Europa zumeist nicht als exponierte Revolutionsanhänger, sondern als untergeordnete Staatsdiener im Lager der Konterrevolution erlebt, neigten zu Montesquieu, nicht zu Rousseau, und teilten Edmund Burkes Polemik gegen die französischen Jakobiner. Erst inmitten der akuten Zerfallskrise des Feudalsystems waren sie von der Notwendigkeit des kapitalistischen Fortschritts ganz überzeugt worden, so daß sie partielle Vorstöße im Sinne eines frühen Liberalismus gewagt hatten; erst der Ruin Altpreußens, den sie als den Bankrott überholter Ideen und Einrichtungen auffaßten, hatte ihnen höchste Regierungsämter und reformatorischen Handlungsraum- frei gemacht. Sie genossen anfangs sogar die moralische Unterstützung Napoleons, der die preußischen Liberalen vor den Karren französischer Ausbeutungsinteressen spannen wollte. Als Erneuerer des gesellschaftlichen Lebens waren die Reformer des Ministeriums Stein keine demokratischen Revolutionäre. Sie erkannten die Volksmassen als gewaltige 26
Mehring. Franz, Gesammelte Schriften, Bd 6, Berlin 1965, S. 264.
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Triebkraft des sozialen und nationalen Fortschritts, wünschten diese aber unter das Kommando der Monarchie gestellt. England galt ihnen als das klassische Land, in dem sich die Durchsetzung des Kapitalismus auf relativ friedlichem Wege vollzog. So verfochten sie in Preußen die bürgerliche Umwälzung auf dem Wege einer "Revolution von oben": unter der Spitze des Königtums und - soweit wie möglich - mit der Billigung des Adels, der sich mit Bourgeoisie und Volksmassen verständigen sollte. Diese bejahende Haltung zum preußischen Staat war damals nicht bloße Spekulation. Nach der Katastrophe von Jena und Auerstedt war der altpreußische Absolutismus zerrüttet, die Armee zerschlagen, dem Adel die umfassende Verfügungsgewalt Uber den Staat verlorengegangen. So nutzten die Reformer die von ihnen besetzten Begierungsämter; der Staat wurde zum Hauptinstru27 ment für den Beginn der bürgerlichen Umwälzung. Die Reformen lösten bei den verschiedenen Klassen, Klassenfraktionen und Schichten widersprüchliche Wirkungen aus. Der größte Teil des Hofadels und die hohe Bürokratie, die bislang den Staat im friderizianischen Geiste verwaltet hatten, leisteten Gegenwehr und kollaborierten mit den Franzosen, deren Ablehnung gegen die Reformer in dem Grade wuchs, wie diese mit den liberalen Neuerungen zugleich die Kräfte des nationalen Widerstands ermutigten und formierten. Der Landadel, der vor dem Kriege die Ausfuhr von Getreide und Holz betrieben hatte, litt unter der napoleonischen Kontinentalsperre und war gegen Frankreich gestimmt; er grollte jedoch den Reformern, weil sie "die Revolutionierung des Vaterlandes, den Krieg der Besitzlosen gegen das Eigentum, der Industrie gegen den Ackerbau, des Beweglichen gegen das Stabile, des krassen Materialismus gegen die von Gott eingeführte Ord28 nung" förderten.
Der Hochadel in der Armee, auf Zuchtrute und Kadavergehorsam
eingeschworen, durch die militärische Niederlage jedoch geschwächt und lächerlich gemacht, wurde durch die Reformer aus einflußreichen Stellungen verdrängt und reagierte mit Haß. Aber die Masse des übrigen Offiziersadels, von dem nur jeder Zehnte infolge des napoleonischen Abrüstungsdiktats bei der neuen preußischen Streitmacht (42 000 Mann) eine Anstellung fand, schürte die Erbitterung gegen Frankreich und tolerierte - auch ohne liberale Gesinnung - die Maßnahmen der Reformer, soweit sie den zukünftigen Krieg zweckmäßig vorbereiteten.
27 Vgl. Das Reformministerium Stein, Bd 1, S. XV. 28 Msr-witz. Friedrich August Ludwig v.d. • Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege, Bd 1: Lebensbeschreibung, Berlin 1908, S. 492; vgl. auch die "Kritik des Steinschen Testaments", in: Ebenda, Bd 2, Teil 1: Tagebücher, politische Schriften und Briefe, Berlin 1913, S. 239-251.
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Die Bourgeoisie, vormals sogar durch merkantilistische Wirtschaftspolitik in wachsende Konjunktur gesetzt, jetzt aber im Würgegriff napoleonischer Zollpolitik, beklagte den Zusammenbruch des Fernhandels, der Textilindustrie und anderer Unternehmungen. Ihre Unzufriedenheit über die Fremdherrschaft fand um so mehr Auftrieb, als die bürgerlichen Reformen nicht nur in den Rheinbundstaaten, sondern nun auch in Preußen selbst vollzogen wurden. Da aber ihre Interessen als Ausbeuterklasse nicht mit den besonderen sozialen Interessen der werktätigen Klassen übereinstimmten und ihr seit den Tagen der Französischen Revolution das Schreckbild eines terroristischen Jakobinismus vorschwebte, hegte sie Furcht vor radikalen Stimmungen im Volke. So erklärte sich die schwache Bourgeoisie auch deshalb für die Reformer, weil deren Neuerungen auf dem Wege staatlicher Administration erfolgten. Gleichwohl waren die Volksmassen - Bauern, Kleinbürger und Lohnarbeiter - die soziale Schubkraft für das Wirken der preußischen Reformer. Die Bauern, gegen adlige Herrschaft und feudale Untertänigkeit in Unruhe begriffen, waren das mobilste Element unter den antifeudalen Volksmassen, und sie wurden zunehmend auch von antifranzösischer Gesinnung erfaßt, weil die Eroberer statt der Bauernbefreiung die Lasten der Einquartierung, der Kriegskontribution und der Plünderung brachten. Der Unmut des Kleinbürgertums wurde durch die ökonomische Notlage genährt: Es produzierte f ü r einen Lokalmarkt, auf dem Kaufkraft und Nachfrage sanken, weil Kriegs- und Steuerlasten stiegen. Doch wurde diese Unzufriedenheit durch radikale Äußerungen der Handwerksgesellen, Arbeiter und Tagelöhner Ubertroffen, deren Verelendung unabwendbar war. Zudem lungerten die abgemusterten Soldaten der altpreußischen Armee als Lumpenproletarier auf den Straßen. Die Existenzkrise der Zunfthandwerker und der Lohnarbeiter, die schon seit Generationen ein Verfallszeichen der Feudalgesellschaft gewesen war, wurde jetzt vor allem als eine Folge der Franzosenherrschaft empfunden. Der Widerstand gegen Frankreich erschien als ein Ausweg, der auch durch das Wirken der Reformer gewiesen wurde. Stein sagt in der Nassauer Denkschrift: "Soll die Nation veredelt werden, so muß man dem unterdrückten Teile derselben Freiheit, Selbständigkeit und Eigentum geben und ihm 29 den Schutz der Gesetze angedeihen lassen." Die fortschrittlichen Mitglieder und Helfer des Reformministeriums waren von der Erkenntnis durchdrungen, daß die Maßnahmen zur Beseitigung der Fremdherrschaft im Einklang mit der bürgerlichen Umwälzung stehen mußten. Selbst der Staat konnte nur Hauptinstrument für Reformen sein, wenn e r Mittel
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Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, neu hg. von Walther Hubatsch, Bd H/2, Stuttgart 1959, S. 395.
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und Gegenstand der Umwälzung zugleich war; ohne sich selbst zu erneuern, konnte e r die Erneuerung der sozialen Verhältnisse nicht bewirken. So schreibt Theodor v. Schön: "Einig waren wir unbedingt darin, daß das französische Joch abgeschüttelt und Selbständigkeit erlangt werden sowie daß unser Staat seine verrotteten Institutionen verlassen und an30 gemessene Einrichtungen zum Fortschritt und zur Belebung des Volkes treffen müsse." Diese Einsicht bestimmte nicht nur die praktizierenden Reformer in Regierung und Armee, sondern auch die propagandistisch wirkenden Schriftsteller Friedrich Buchholz und 31 Friedrich v. Coelln, die Philosophen Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Schleiermacher. Eingebettet in die Fülle zeitgenössischer Reformdokumente und dennoch unter ihnen hervorragend sind die Denkschriften des Heeresreformers Neithardt v. Gneisenau, der den Zusammenhang von sozialer und nationaler Frage, den bürgerlichen Inhalt der deutschen Unabhängigkeitsbewegung, sehr konsequent beurteilt hat (August 1808). Um das politische Hauptziel, die Beseitigung der Fremdherrschaft, zu erreichen, sollten die vereinigten Kräfte der Nation für Volksaufstände organisiert werden. Als unabdingbare Voraussetzung hierfür wurden Maßnahmen genannt, die zu einer fortschrittlichen Gesellschaftsordnung führen konnten: "Aber es ist billig und staatsklug zugleich, daß man den Völkern 32 ein Vaterland gebe, wenn sie ein Vaterland kräftig verteidigen sollen." Gneisenau vertrat eine Konzeption zur Bildung des deutschen Nationalstaats. Durch die bürgerliche Umwälzung sollten in Preußen "freie Verfassung" und "einfacher geordnete Verwaltung" ins Leben treten. Dadurch sollte es auch anderen Deutschen wünschenswert erscheinen, unter Preußens Krone für die "Befreiung des gemeinsamen Vaterlandes" zu kämpfen und mit "gemeinschaftlichen Gesetzen zu leben". Die Forderung nach einer "guten, vom Throne ausgehenden, von anderen Völkern beneideten Konstitution" zielte auf konkrete Reformen, die der bereits erlassenen Agrarreform (Oktoberedikt 1807) folgen sollten: städtische Selbstverwaltung, freiheitliches Repräsentativsystem, Erneuerung der staatlichen Behördenorganisation, allgemeine Wehrpflicht und Abbau des überalterten 33 stehenden Heeres. Der nationale Unabhängigkeitskrieg, der durch Maßnahmen des
30 Schön, Theodor v . , Aus den Papieren, Bd 4, o.O. und o . J . S. 571 f . , zit. nach: Obermann, Karl. Bemerkungen über die soziale und nationale Bedeutung der preußischen Reformbewegung unter dem Ministerium des Freiherrn vom Stein, in: Die Volksmassen - Gestalter der Geschichte. Festgabe für Leo Stern, Berlin 1962, S. 135. 31 Vgl. Bock. Helmut. Schill. Rebellenzug 1809, Berlin 1969, S. 30 f f . , 42 ff. 32 Gneisenau, Neithardt v . . Schriften von und über Gneisenau, hg. von Fritz Lange, Berlin 1954, S. 231-232. 33 Thimme, Friedrich, Zu den Erhebungsplänen der preußischen Patrioten im Sommer 1808. Ungedruckte Denkschriften Gneisenaus und Scharnhorsts, in: Historische Zeitschrift (im folgenden: HZ), Neue Folge, Bd 50, 1901, S. 89 ff.
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gesellschaftlichen Fortschritts vorzubereiten war, sollte kein neuer Eroberungskrieg sein; e r sollte der "Veredelung der Völker" dienen, die "nur in ihrer wechselseitigen Unabhängigkeit gedeihen" konnten. Gneisenaus "Konstitution für die allgemeine Waffenerhebung des nördlichen Deutschlands gegen Frankreich" (ebenfalls vom August 1808)^ nannte weitere fortschrittliche, sogar revolutionäre Maßnahmen: Neben dem stehenden Heer waren nationale Streitkräfte des Volkes zu bilden; die Bataillone dieser Nationalarmee wählten sich ihre Offiziere und Unteroffiziere selbst. Jeder Bauer, der f ü r die Unabhängigkeit zur Waffe griff, sollte Boden erhalten, der von allen Feudalprivilegien befreit war. Diejenigen deutschen Fürsten, welche ihre Truppen gegen die nationalen Streitkräfte fechten ließen, sollten den Thron verlieren, und jeder Adelstitel, der nicht durch nationale Taten erneuert wurde, sollte verschwinden. Vermittelte diese Denkschrift eine revolutionäre Konzeption zur politischen Liquidierung der Rheinbundfürsten, so mußte sie auch darüber Auskunft geben, was mit den Ländern dieser Fürsten geschehen und wie der Unabhängigkeitskampf zur nationalen Einheit führen konnte: "Wir erkennen alle Deutsche als unsere Brüder und erklären feierlich, daß wir nicht die Absicht haben, ihr Gebiet mit dem unsrigen zu vereinigen; nur diejenigen deutschen Völker, welche mit uns unter gemeinschaftlichen Gesetzen leben wollen, werden in unseren Bund aufgenommen... Für den preußischen Staat wird eine freie Kon35 stitution proklamiert." Die frühliberalen Reformen des Ministeriums Stein zu Beginn der "bürgerlichen Revolution in Preußen" sind nicht identisch mit Bismarcks antidemokratischer "Revolution von oben" am Ende der Epoche. Ebensowenig kann auch Gneisenaus Konzeption, obgleich sie auf eine nationale Einheit unter Preußens Führung orientiert .war, mit Bismarcks obrigkeitlicher Blut-und-Eisen-Politik gleichgesetzt werden. Gneisenaus Konzeption weist revolutionär-demokratische Züge auf. Sie baute auf eine nationale Insurrektion bewaffneter Volksmassen. Unter der Führung reformwilliger und nationalbewußter Fürsten sollten revolutionäre Mittel angewendet werden, die von einer demokratischen Lösung der Agrarfrage bis zum Sturz verräterischer Rheinbunddynastien reichten. Das war im Sinne des klassischen Dramatikers Friedrich Schiller ("Wilhelm Teil") gedacht: Freiheitliche Volksmassen und aufgeklärte Fürsten sollten sich zum Kampf gegen Fremdherrscher und Kollaborateure vereinigen. Als militärpolitischer Mentor des Rebellen Ferdinand v. Schill verdient Gneisenau besondere Beachtung, wenngleich e r nicht die gesamte Reformbewegung repräsentierte, 34 35
Ebenda, S. 95 ff. Vgl. auch Gneisenau, S. 236 f .
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sondern deren linken FlUgel vertrat. Die Reformbewegung wies Unterschiede auf, die sich aus klassenmäßiger Herkunft, gesellschaftlicher Stellung, Individualität des Charakters und der Erfahrungen ergaben. Doch Lenins Urteil, wonach die historische Situation dem nationalen Aufschwung nach 1807 "keinen anderen Ausweg als den zum bürgerlichen Staat" 36 geboten habe
, bezeichnet nicht nur die damalige objektive Notwendigkeit, sondern auch
das subjektive Erkenntnisvermögen der meisten preußischen Reformer. War diese Bewegung nicht denkbar ohne das Ziel der nationalen Befreiung, so mußte sie zusammen mit ihren Reformen strategische und taktische Pläne zur Vorbereitung der Nationalerhebung hervorbringen. Darauf übten auch internationale Vorgänge einen Einfluß aus. Seitdem nämlich die Einwohner der spanischen Provinz Asturien den Volkskrieg gegen den Eroberer Napoleon proklamiert (24. Mai 1808) und die Massen in Spanien sich erhoben hatten, begannen in Österreich die Rüstungen für einen neuen Krieg. Da bereiteten die preußischen Reformer den Nationalaufstand in Norddeutschland vor. Auch Stein entschied für Volksinsurrektion (11. August): "Es muß daher in der Nation das Gefühl des Unwillens erhalten werden über den Druck und die Abhängigkeit von einem fremden, übermütigen, täglich gehaltloser werdenden Volke - man muß sie mit dem Gedanken der Selbsthilfe, der Aufopferung des Lebens und des Eigentums, das ohnehin bald ein Mittel und ein Raub der herrschenden Nation wird, vertraut erhalten, man muß gewisse Ideen über die Art, 37 wie eine Insurrektion zu erregen und zu leiten, verbreiten und beleben." In diesem Zusammenhang verwies Stein auf die Denkschriften Gneisenaus und Scharnhorsts. Gneisenaus obengenannte Denkschriften 3enthalten für den Unabhängigkeitskampf der 8 Volksmassen besondere Taktikanweisungen. Der Kleine Krieg, den in feudalen Kabinettskriegen nur Söldnerkorps - sogenannte Parteigänger - führten, sollte zur revolutionären Gefechtsweise patriotischer Volkskräfte werden. Kleine und kleinste Einheiten überall im Lande verteilt, meist im Rücken der feindlichen Streitkräfte operierend, sollten dem Gegner Schaden zufügen: Hinterhalte legen, •Überfälle machen, den Nachschub stören, Kuriere abfangen, Offiziere ausheben, Magazine, Heerstraßen und Brücken zerstören, 39 kleine Abteilungen bekämpfen. So den Gegner ständig in Unruhe versetzend, sollten sie die Operationen der regulären Truppen des eigenen Landes unterstutzen. Diese Guerillas oder Partisanen waren keine geschulten Soldaten im Systemsinne der stehenden Heere.
36 Vgl. Anm. 19. 37 Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd II/2, S. 810. 38 Thimme, in: HZ, NF, Bd 50, 1901, S. 91 f . , 96. 39 Vgl. Hahlweg, Werner. Typologie des modernen Kleinkrieges, Wiesbaden 1967, S. 9.
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Sie waren situationsbedingte Volkskämpfer, ganz auf ihre natürlichen Fähigkeiten gestellt, heimatgebunden, vereinzelt und in Gruppen fechtend, auf die Dauer nur erfolgreich durch Ortskenntnis und Schnelligkeit, Umsicht und Kombinationsgabe, selbständiges Denken und Handeln, patriotische Überzeugung und - was das.Wichtigste war - durch Unterstatzung der breiten Volksmassen. Historisch-konkrete Erfahrungen lagen vor. Der Nordamerikanische Unabhängigkeitskrieg gegen England war ein fortschrittlicher Beginn, der Aufstand verhetzter Bauern in der Vendée gegen die Jakobiner ein konterrevolutionäres Zwischenspiel, der spanische Nationalkrieg gegen Napoleon ein offenbarer Erfolg des Guerillakriegs. In den Plänen der preußischen Militärreformer spielten die Guerillas oder Partisanen die Rolle des sich potenzierenden Faktors der nationalen Widerstandskraft; aber stets im 40 strategischen Zusammenhang mit dem Krieg regulärer Truppen ! Das betonte Scharnhorst, der Gneisenaus Volkskriegspläne durch eine eigene Denkschrift (21. August) unterstützte: "Preußen ist daher entschlossen, sobald der Krieg zwischen Österreich und Frankreich ausbricht, mit allen seinen Kräften den Krieg gegen Frankreich anzufangen... Die Truppen in Preußen brechen sogleich offensiv über die Weichsel vor und dringen in Vereinigung mit den pommerschen Truppen gegen die mittlere O d e r . . . In dem Augenblick dieses Vordringens bricht ein allgemeiner Aufstand in Pommern, der Neumark, in der Mark und im Magdeburgischen, in Niedersachsen, Westfalen, Hessen, Thüringen und 41 Franken a u s . . . "
Der insurrektioneile Kampf der Kleinkriegsverbände sollte also in
Verbindung mit den großen Operationen der regulären Streitkräfte geführt werden. Diesen Gesichtspunkt betonte später42auch Clausewitz, Scharnhorsts Mitarbeiter, an der Allgemeinnen Kriegsschule in Berlin. Ein weiterer Grundgedanke des Guerillakriegs kam hinzu. Wenn der Volksaufstand mit den Mitteln des Kleinen Krieges erfolgreich sein sollte, bedurfte e r der Unterstützung einer starken, für den Feind nicht greifbaren, auswärtigen Macht. Diese Anlehnungsmacht sollte die Kleinkriegsverbände unaufhörlich mit Waffen und Material versorgen, ihnen Rückendeckung geben, notfalls auch Zuflucht gewähren. Das war ein strategischer Gedanke, den Scharnhorst in einer zweiten Denkschrift (21. August) ausführte, wobei e r dem preußischen König zu Verhandlungen mit England riet: "Um der Insurrektion, welche in den 40
Vgl. Helmert, Heinz, Die Kriegskunst der preußischen Armee am Vorabend des Befreiungskrieges, in: Das Jahr 1813. Studien zur Geschichte und Wirkung der Befreiungskriege, hg. von Heinrich Scheel, Berlin 1963, S. 39 f . , 44 ff. 41 Scharnhorst. Schöpfer der Volksbewaffnung. Schriften von und über Scharnhorst, Berlin 1953, S. 76 f. 42 Vgl. Hahlweg. Werner. Preußische Reformzeit und revolutionärer Krieg,in: Wehrwissenschaftliche Rundschau, 1962, Beiheft 18, S. 26-39.
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preußischen Provinzen bei dem Ausbruch des Krieges stattfinden soll, mehr Nachdruck zu geben, muß sobald als möglich von England aus in Hannover ein ähnlicher Aufstand im 43 Die Landung von einigen tausend Kämpfern an der Nordvoraus organisiert werden." seeküste, ihr schneller Vormarsch in Gruppen von zwanzig bis vierzig an den Harz, die Sollinger Berge, den Teutoburger und den Lippischen Wald, an die Gebirge und Wälder Westfalens wurden gefordert. Andere Truppen sollten den Nachschub der Waffen übernehmen. Ostfriesland wurde als ein günstiges Gebiet für preußische Truppenlandungen bezeichnet, von hieraus sollte das Volk in Westfalen zum Aufstand formiert werden. "Das Ganze muß durch England mit Waffen und Geld unterstützt werden", lautet Scharnhorsts 44 Zusammenfassung.
Die Anlehnungsmacht für norddeutsche Aufstände war somit genannt.
Mit der örtlichen Vorbereitung des Insurrektionskriegs wurden ausgewählte Personen beauftragt. In einem Verzeichnis von der Hand Scharnhorsts sind die leitenden Mitglieder geheimer Provinzialdirektionen aufgeführt: u . a . Major v. Chasot für die Mark Brandenburg, Oberst Graf v. Götzen für Schlesien, Major v. Schill für Pommern. Ihre Aufgaben sind klar umrissen: "1. Suchen sie gutgesinnte und erschlossene Männer auf die Lage des Staates und des Volks aufmerksam zu machen, sie zum Aufstand vorzubereiten, indem sie sich mit ihnen Uber die Mittel zu demselben bereden. 2. Patriotisch gesinnte, entschlossene Offiziere werden von den Mitgliedern der Direktionen einzeln und gleichsam privatim mit Geld unterstützt, mit der Idee der Insurrektion vertraut gemacht und aufgefordert, sich ranzionierte und beurlaubte Soldaten zu attachieren, ihre Bewaffnung vorzubereiten usw. 3. Insbesondere suchen die Mitglieder der Direktionen auf die 45 Gesinnung der Geist liehen zu wirken, damit diese das Volk unvermerkt vorbereiten..." Tatsächlich haben Gneisenau und Scharnhorst zu den genannten Personen Verbindungen unterhalten, die 46 konspirativen Charakter besaßen. Im geistigen Klima dieser Planung und Organisierung des nationalen Widerstands schrieb Stein dann auch jenen unverschlüsselten Brief an 47 Wittgenstein (Mitte August) , der Angaben über Aufstandsvorbereitungen im Großherzogtum Hessen und im Königreich Westfalen enthielt; e r wurde von adligen Kollaborateuren an die Franzosen verraten und führte den Sturz des leitenden Staatsministers h e r b e i . ^ Die Reformbewegung und die nationalen Widerstandskräfte gerieten in eine krisenartige
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Scharnhorst. Schöpfer der Volksbewaffnung. S. 78 f . Ebenda, S. 81. Thimme. in: HZ, NF, Bd 50, 1901, S. 97 ff. Vgl. Bock. Schill, S. 57 f f . , 67 ff. Stein. Briefe und amtliche Schriften, Bd II/2, S. 813 ff. Raack. R . C . r The Fall of Stein, Cambridge 1965.
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Situation. Napoleon preßte den preußischen König zum Pariser Vertrag (8. September): Dieser ließ die Kontributionen, Besatzungsprivilegien und Militärschranken bestehen, zwang zur Anerkennung Joseph Bonapartes als König von Spanien und verpflichtete Preußen für den Fall, daß zwischen Frankreich und Österreich Krieg ausbrach, zur Bereit49 Stellung eines Hilfskorps in Stärke von 12 000 Mann. Der König sprach gegen Stein die Entlassung aus, stellte "geheime Gesellschaften und Verbindungen" unter Strafe (24. Dezember) und reiste nach Petersburg (Ende Dezember 1808 bis Februar 50 1809), wo e r sich enger an den Zaren, den damaligen Bündnispartner Napoleons, anschloß. Doch am 9. April 1809 brach der Krieg Österreichs gegen Frankreich aus, der e r s t mals von einer nationalen Massenstimmung getragen und sofort durch den Ausbruch des Tiroler Bauernaufstands unterstützt wurde. Das Ereignis stellte alle Klassen und Schichten in Preußen vor eine Entscheidung, die um so weniger abzuweisen war, als soziale Not diese Klassen in Unruhe hielt. Bourgeoisie und Kleinbürgertum opponierten mit Berufung auf die neue Städteordnung gegen die Steuerpolitik, den ganzen Geschäftsgang der alten Bürokratie, und die Bauern rotteten sich zu Protesten gegen gutsherrschaftliche sowie staatliche Abgabenpolitik zusammen, wobei sie sich auf die fortschrittliche Tendenz der 51 Steinschen Agrarreform beriefen. "Wie verschieden die Meinungen und Ansichten der einzelnen sein mögen, so treffen sie doch darin wie in einem Brennpunkte zusammen, daß jetzt oder nie die Zeit der Erlösung von dem Joche Napoleons gekommen ist",52berichtete Oberpräsident Sack am 24. April 1809 an den Innenminister Graf von Dohna. Außenminister Graf von der Goltz schrieb an die Königin: "Wenn der König länger zaudert, einen der öffentlichen Meinung, die sich laut für Krieg gegen Frankreich erklärt, 53 entsprechenden Entschluß zu fassen, so wird unfehlbar eine Revolution ausbrechen." Der preußische Monarch, im formalen Sinne noch König von Gottes Gnaden, sah sich vor der Wahl zwischen drei ungleichen Möglichkeiten: Kriegsbündnis mit Frankreich oder KriegsbUndnis mit Österreich oder Neutralität. Das Staatsministerium und die Prinzen stimmten für Österreich. Doch der König, auf Kollaborateure und Konservative seines Hofes gestützt, orientierte sich an der russischen Politik: Da der Zar am Bündnis mit 49 Lehmann. Max. Scharnhorst, Bd 2, Leipzig 1887, S. 192. 50 Das Reformministerium Stein. Bd 3, S. 1135; Spenersche Zeitung, Nr 154, v. 24.12.1808; Lehmann. S. 244 f. 51 Berichte aus der Berliner Franzosenzeit 1807-1809. Nach den Akten des Berliner Geheimen Staatsarchivs und des Pariser Kriegsarchivs, hg. von H. Granier, in: Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven, Bd 88, Leipzig 1913, S. 349, 383 , 390 f . 52 Ebenda, S. 411. 53 Lehmann, S. 263.
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Napoleon festhielt, entschied Preußens Krone zögernd fUr bewaffnete Neutralität.
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Der Einfluß der leitenden Reformer auf die Entscheidungen des Monarchen, aber auch auf die Massenbewegung war seit Steins Sturz erheblich zurückgedrängt. Von Gegnern und Denunzianten umstellt, konnten sie der Kontrolle kaum entrinnen. Stein war in österreichischer Emigration, Scharnhorst hatte den König auf seiner Reise nach Petersburg begleiten müssen, Gneisenau wurde zu monatelanger Inspektions- und Urlaubsreise nach 55 Schlesien geschickt.
So waren die Führer des sozialen und nationalen Fortschritts gehin-
dert, die patriotische Bewegung im Sinne der Insurrektionspläne von 1808 unmittelbar zu leiten. Vergeblich wirkten sie für ein Bündnis mit Österreich. Da aber der König für bewaffnete Neutralität, also immerhin auch für Rüstung entschied, rüstete Scharnhorst Uber die Schranken des Pariser Vertrages 56 hinaus und hielt in Militärkreisen die Hoffnung auf einen Krieg gegen Frankreich wach. In Berlin wirkte unter der Leitung des Stadtkommandanten Graf v. Chasot, unter Mithilfe des Majors v. Schill, des Predigers Schleiermacher, einer unbekannten Anzahl von Offizieren und bürgerlichen Intellektuellen, das illegale 57 Komitee, das nach den Anweisungen Scharnhorsts und Gneisenaus gebildet worden war.
Es schickte Kundschafter aus, die
die Bewegungen der Franzosen überwachten und ein Netz geheimer Verbindungen aufrecht hielten: zu Mitverschworenen in der Mark Brandenburg, zu ehemals preußischen Beamten, Offizieren und Soldaten in den napoleonischen Gebieten bei Magdeburg und Bielefeld, zu Oberst Dörnberg in der westfälischen Hauptstadt Kassel, zu einer "Gesellschaft der Volksfreunde" in Pommern, zu Waffenwerkstätten in Hamburg, Bremen und Lübeck, zu den entthronten Fürsten von Hessen-Kassel und Braunschweig in Prag, zu den Regierungen in Wien und London. Es waren leicht verletzbare Fäden eines konspirativen Systems, an denen immanenter Widerspruch zerrte. Patriotische Unruhe und Druck der Volksmassen trieben die auf Empörung zielenden Kräfte zu baldigem Losbruch; feudaler Dienstgehorsam gegenüber dem absoluten König hielt sie zwanghaft zurück. Daraus erwuchs eine Spannung, die den Konspirateuren nur erträglich sein mochte, solange sie in der Einbildung lebten, der König werde Verschwörung und Insurrektion zu guter Letzt billigen. Aber in der konkreten Situation war es unmöglich, die befreiende Aktion in unwirkliche Ferne zu verrücken. Chasot und Schill drängten die Reformer in Königsberg, westfälische Insurgenten drängten Chasot und Schill in Berlin: Sie forderten das Alarmsignal. 54 Vgl. Bock, Schill, S. 74 ff., 107 ff. 55 Vgl. Lehmann. S. 244 f . ; Pertz, G.H., Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau, Bd 1: 1760-1810, Berlin 1864, S. 484-496. 56 Vgl. Lehmann. S. 247; Bock, Schill, S. 76 f. 57 Vgl. ebenda, S. 73 f . , 79 ff.
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Konspiration und Insurrektion widersprachen der pronapoleonischen Neutralitätspolitik des Königtums . Wollten die Patrioten den nationalen Unabhängigkeitskampf bereits 1809 versuchen, so mußten sie die Widerstandsbewegung organisieren; sie mußten die spontane Triebkraft der Massen lenken und ausnutzen, um das Königtum, das als politische und moralische Macht durchaus noch im Bewußtsein des Volkes anerkannt war, in die Bewegung hineinzureißen. Bei alledem stand das Gebot, die Nation zu befreien, aber höher als jede Rücksicht auf die herrschende Dynastie Hohenzollern. So hatte sich Gneisenau schon im 58 Februar für die Notwendigkeit eines "vulkanischen Weges" ausgesprochen. Auch Stein sollte drei Jahre später in radikaler Zuspitzung formulieren: " Mir sind die Dynastien in diesem Augenblick der großen Entwicklung vollkommen gleichgültig, mein Wunsch ist, daß Deutschland groß und stark werde, um seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit und Nationalität wiederzuerlangen und zu behaupten in seiner Lage zwischen Frankreich und Rußland - dieses ist das Interesse der Nation und ganz Europas, es kann auf dem Weg alter, 59 zerfallener und verfaulter Formen nicht erhalten werden..." Die Konzeption der preußischen Reformer gewann revolutionär-demokratische Züge, je mehr sich der nationale Widerspruch verschärfte und je weniger die Politik der herrschenden Dynastien den nationalen Aufgaben entsprach. Was bei den großen Reformern klare Erkenntnis war, herrschte nicht so im Komitee Chasots und seiner Mitverschworenen. Das wurde durch die Insurrektion Kattes im Gebiet 60 der ehemals preußischen Altmark offenbar (2.-4. April 1809).
Der Insurgentenführer
handelte in der Illusion, das Einverständnis des Königs zu besitzen, und verkündete im königlich-westfälischen Stendal die Restauration der alten Gesellschaftszustände. Viele seiner Gefährten waren altpreußische, dienstentlassene Soldaten, die in dem Glauben mitzogen, dem Gottesgnadentum der Hohenzollern, dem sie vormals die Treue geschworen hatten, auch jetzt noch verpflichtet zu sein. Die Insurrektion scheiterte am Verrat Mitverschworener, die im Widerstreit zwischen Rebellentum und Königstreue für letztere entschieden; sie scheiterte, weil Konservative in der preußischen Militärbürokratie, durch die Denunziation aufmerksam gemacht, den Aufstand im Interesse des Königtums abwürgten. Die Insurrektion scheiterte aber auch an der Moral der Insurgenten selbst, die ihre Fähigkeit zu freiem rebellischem Handeln verloren, sobald in ihnen die Illusion des königlichen Einverständnisses zerstört war.
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Delbrück. Hans. Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau, Bd 1, 3 . , veränd. Aufl., Berlin 1908, S. 172 f . Stein. Briefe und amtliche Schriften, Bd in, Stuttgart 1961, S. 818. Bock, Schill, S. 84-102.
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Helmut Bock Die Niederlage der Erhebung Kattes vermittelt die historisch-politische Lehre, daß
bei Alleingültigkeit feudal-restaurativer Ideologie der Kampf für die nationale Befreiung nicht begonnen, geschweige denn gewonnen werden konnte. Der Unabhängigkeitskampf erforderte ein rebellisches Nationalgefühl, das die Schranken des feudalen Absolutismus und des Dienstgehorsams überwand; er gewann zudem an Realität, je klarer die Patrioten eine nationale und bUrgerlich-freiheitliche Antithese gegen die Fremdherrschaft entfalteten. Das Einzelne: Konservativer Rebell und nationale Volksbewegung Die antinapoleonische Strömung in Preußen wurde 1809 von Kräften getragen, deren gesellschaftliches Bewußtsein auf sehr verschiedenen Stufen der Erkenntnis stand. Die Schriftsteller Buchholz und v. Coelln, der Philosoph Fichte und der Prediger Schleiermacher, die teils demokratischen, teils liberalen Anhänger Steins verkörperten das Streben nach bürgerlichem Fortschritt und nationaler Unabhängigkeit. Sie hatten sich zu einer Erkenntnis aufgeschwungen, die sie befähigte, enge dynastische Interessen zu überspringen: Nicht nur der Bestand der Hohenzollerndynastie, sondern das selbständige Wachstum der deutschen Nation war bedroht. Nicht Preußen allein, ganz Deutschland sollte von der Fremdherrschaft erlöst werden. Aber die Masse der Gegner Napoleons hinkte der A vantgarde des fortschrittlichen Nationalbewußtseins nach. Sie tastete in dumpfer Ahnung nach dem Ausweg aus der Krise. Sie war zugleich noch befangen im Traditionalismus der alten Gesellschaft und in naiver Anhänglichkeit an das Königtum von Gottes Gnaden. Diese Bewegung, die in der Negation gegen Frankreich vereinigt war, hatte ein Bedürfnis nach volkstümlichen Persönlichkeiten: willens und fähig, die gemeinsamen Interessen und Ziele der zwiespältigen Masse auszudrücken, die Mannigfaltigkeit der Einzelwillen und Einzelaktivitäten in einen Gesamtwillen und eine Gemeinschaftsaktion zu verwandeln. Darin liegt der historische Beruf großer Persönlichkeiten, daß sie die Widersprüche des gesellschaftlichen Lebens klarer auffassen, genauer artikulieren, bewußter angehen als spontan wirkende Volksmassen und mitlaufende Zeitgenossen. Sie haben Wege zu weisen, die zur Lösung führen. Sie bringen - nach Fichtes Wort - die "großen Nationalangelegenheiten an das Volk" 6 * und versetzen so die Triebkräfte des Fortschritts aus dem Zustand der Halbwissenheit und der Planlosigkeit in schöpferische Handlung. In der Krise der deutschen Nation verlangten die unruhigen Massen nach Männern mit rebellischer Kühnheit, politischer Fortschrittlichkeit, militärischer Erfahrung und Beliebtheit im Volke. Ihr Auftritt war Notwendigkeit, die aus dem objektiven Prozeß der 61
Fichte, Johann Gottlieb, Reden an die deutsche Nation, hg. von Rudolf Eucken, Leipzig 1922, S. 17 f.
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bürgerlichen Umwälzung und ihrer nationalstaatlichen Tendenz erwuchs; sie mußten kommen und ihre Anhänger um das Banner des nationalen Widerstands sammeln. Aber dem Zufall blieb überlassen, wer die Männer sein würden, die in entscheidender Stunde den Volksmassen Preußens oder sogar ganz Norddeutschlands das Fanal zum Kampf gegen die Fremdherrschaft entzündeten. Wäre doch die Weltgeschichte sehr bequem zu machen und mystischer Natur, wenn die Zufälligkeit als natürliche Ergänzung und Erscheinungsform 62
der Notwendigkeit keine Rolle spielte.
Das gilt vor allem für Zeiten und Zustände, in
denen keine nationale Klasse - noch weniger eine starke politische Partei - die notwendigen Maßnahmen mit Sorgfalt erwägt, plant und organisiert. "Diese Zufälligkeiten fallen natürlich selbst in den allgemeinen Gang der Entwicklung und werden durch andre Zufälligkeiten wieder kompensiert. Aber Beschleunigung und Verzögrung sind sehr von solchen ' Zufälligkeiten' abhängig - unter denen auch der ' Zufall' des Charakters der Leute, die zuerst an 63 der Spitze der Bewegung stehn, figuriert." Zu dem Zufall, daß eine Persönlichkeit mit individuellem Charakter zur bestimmten Zeit in einem gegebenen Lande aufsteht, gehören auch die zufälligen Ereignisse, die den historischen Auftritt einer qolchen Persönlichkeit 64 unmittelbar veranlassen.
So auch im Jahre 1809.
Der Mann, der ohne Einwilligung des preußischen Königs die kühne Erhebung gegen Napoleon wagte und das vorzeitige Signal zum Kampfe gab, war Ferdinand v. Schill. Das Ereignis, das die Rebellion gegen napoleonische Fremdherrschaft und preußischen Untertanengehorsam eröffnete, war die Rebellion des 2. Brandenburgischen Husarenregiments in Berlin. Der am 6. Januar 1776 bei Dresden geborene Ferdinand v. Schill
65 war Sohn eines
Freikorpsführers bürgerlicher Herkunft aus Böhmen, der auf unbekannte Weise den Adelstitel erworben, im Dienste österreichischer, sächsischer, preußischer Soldherren den Kleinen Krieg der sogenannten Parteigänger betrieben und als Oberstleutnant in Schlesien den Ruhestand erreicht hatte. Der junge Schill diente seit seinem 15. Lebensjahr im preußischen Dragonerregiment Ansbach-Bayreuth, nahm am konterrevolutionären Krieg gegen Frankreich teil und machte seit dem Baseler Frieden bei Pasewalk Garnisondienst. Ungleich Gneisenau, der zwei Jahrzehnte seines Lebens gleichfalls als Truppenoffizier in preußischen Garnisonen verbringen mußte, ergriff Schill nicht die Gelegenheiten, seinen 62
Vgl. Marx an Ludwig Kugelmann am 17. April 1871, in: Marx/Engels. Werke, Bd 33, Berlin 1966, S. 209; vgl. zum Verhältnis zwischen Notwendigkeit und Zufälligkeit auch Engels an W. Borgius am 25. Januar 1894, in: Ebenda, Bd 39, S. 205 ff. 63 Marx an Ludwig Kugelmann am 17. April 1871, in: Ebenda, Bd 33, S. 209. 64 Lukäcs, Georg, Der historische Roman, Berlin 1955, S. 331. 65 Über Schills Herkunft und frühe Lebensereignisse vgl. Bock. Schill, S. 46-54.
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Charakter in arbeitsamer Strenge durch Bildung und Wissenschaft auszuformen. Aber geistige Regsamkeit, Hilfsbereitschaft bis zur Aufopferung, Lebhaftigkeit und Kühnheit waren bürgerliche und militärische Tugenden in Schill. Noch 1806 mit dem Ruf belastet, einer der ältesten Sekondeleutnants der Armee zu sein, brachte ihm der Krieg gegen Frankreich endlich die Gelegenheit der Bewährung: Aus der Katastrophe bei Auerstedt rettete e r sich verwundet nach Kolberg in Pommern, und e r bildete dort aus versprengten Soldaten, entflohenen Kriegsgefangenen, patriotischen Bürgern und Bauern ein Freikorps für den Kleinen Krieg. Mit sechs KUrassieren und einer List glückte ihm der erste Handstreich; mit einem Korps von 1500 Reitern und Fußsoldaten kämpfte e r wenig später in regulären Gefechten gegen die französischen Eroberer. E r fand in Gneisenau, dem Verteidiger Kolbergs, einen Vorgesetzten, der die Kampfkraft regulärer Truppen durch Volksinsurrektion vervielfachen wollte und Schill sicher beurteilte: kein talentvoller Anführer eines großen Korps, kein kenntnisreicher, kühler Kopf, aber ein tapferer Fechter, lebhafter Charakter, geborener Freischärler, dessen Volkstümlichkeit viele Teilnehmer sammeln wird. ^ Schills Freikorpspraxis unterschied sich von Söldnergeist und Parteigängerei des Vaters, auch von der Heeresverfassung der königlichen Armee, deren Reste meist im alten Zwang fortlebten. E r hatte begriffen, was im Kampf gegen Napoleons bürgerlich freie Soldaten vonnöten war, und nahm für sein Freikorps die Heeresreform Scharnhorsts 6V und Gneisenaus im kleinen vorweg. Die Soldatenmißhandlungen und die Adelsprivilegien bei der Besetzung von Offiziersstellen wurden abgeschafft. Ehrengerichte sprachen Lob und Tadel aus. Tirailleurtaktik gestattete persönliche Initiative im Gefecht. Tapferkeit vor dem Feind bahnte den Aufstieg zum Offizier. Verbundenheit mit dem Volke war Bedingung für jedes Gelingen des Kleinen Krieges. Wohl nannten die adligen Konservativen diese Neuerungen: Ungehorsam, Disziplinlosigkeit, rebellische Ausschweifung. Aber Schill wurde zum volkstümlichen Inbegriff der wenigen tadelfreien Offiziere, die im Chaos der Niederlage, der schmählichen Flucht, der feigen Kapitulationen den Franzosen bis zur letzten Minute trotzten und den Preußen das Beispiel eines ungebrochenen Widerstands vorlebten. Aus dem Dunkel der Unbekanntheit meteorhaft emporgestiegen, empfing e r für Tapferkeit den Majorsrang und den Orden Pour le mérite. Weitere Rangerhöhungen wies e r mit aufrichtigem Selbstbekenntnis zurück, nannte fehlende Bildung einen Mangel seines Charakters: 66
Vgl. Gneisenau an Generaladjutant von Kleist am 15. Mai 1807, in: Krieglstein. C. F r h r . Binder v . , Ferdinand von Schill. Ein Lebensbild, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der preußischen Armee, neue Ausg., Berlin 1909, S. 95 ff. 67 Eckermann. Walther, Ferdinand von Schill. Rebell und Patriot, Berlin 1963, S. 27-48; Bock, Schill, S. 49 f .
Konservatives Rebellentum
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"Nur In der Attacke, dem Patrouillen-Feldwachendienst, einen Überfall zu machen etc. beruht mein Posten, auf dem ich mich vielleicht, aber auch nur vielleicht, auf meinem 68
rechten Platz befinden w ü r d e . . A b e r preußische Soldaten, Bürger und Bauern woben eine Legende um Schill, die verbreitetem Franzosenhaß Luft machte. Sie war patriotische Überhöhung der Wahrheit, phantastische Ruhmredigkeit, die einen braven Major in die 69 schimmernde Rüstung des Helden steckte. Gneisenau gab der volkstümlichen Legende die politische Funktion: "Durch Schills Popularität und allverbreiteten Namen können noch schöne Dinge getan werden; wir müssen daher solchen verherrlichen, soviel wir können." 7 0 In den Insurrektionsplänen der preußischen Reformer vom Sommer 1808 spielte Schill eine exponierte Rolle. Man findet seinen Namen in Scharnhorsts Mitgliederliste der geheimen Provinzialdirektionen, und Gneisenau selbst unterhielt fast regelmäßig Verbindung zu Schill. 71 "Ich schwöre Ihnen, daß ich bereit bin, bis zur Verzweiflung Ihre Pläne realisie72 ren zu helfen", schrieb Schill an Gneisenau. Bei Vollziehung der Insurrektionspläne, die einen hohen Grad praktischer Verschwörung bedingten, tat Schill als Konspirateur eher zuviel als zuwenig. Unter dem Deckmantel "Leo" knüpfte e r von seiner pommerschen Garnison aus geheime Fäden zu Attentätern, die Napoleon im Walde bei Weimar vergeblich auflauerten, zu einer Widerstandsgruppe im westfälischen Gebiet der Festung Magdeburg, zur geheimen Gesellschaft der Volksfreunde in der Festung Stettin, deren französische 73 Besatzung überwältigt werden sollte. Als der König mit der Unterzeichnung der Pariser Konvention und der Entlassung Steins näher denn je zu Napoleon rückte, als die Kollaborateure des altpreußischen Adels den Einfluß der Reformer zurückdrängten, riet Schill zum Wagnis einer "Hofintrige", einer Rebellion also, um die Franzosenanhänger zu überrennen. Doch gelang es Gneisenau, in kühl wägender Beurteilung der Lage den heißspornigen Ver68 69
70 71 72 73
Pick. Albert, Aus der Zeit der Not, 1806-1815. Schilderungen zur preußischen Geschichte aus dem brieflichen Nachlaß des Feldmarschalls Neidhardt von Gneisenau, Berlin 1900, S. 24. Anekdoten und Charakterzüge aus dem Leben des Königlich Preußischen Majors von Schill oder Kurzer Abriß seines Lebens. o.O. 1809; Kleine Begebenheiten und Charakterzüge aus dem französisch-preußischen Kriege 1806/07, Jena 1807/1808; Wahrhafte und treue Darstellung der so mancherlei kühnen Unternehmungen des Königlich-Preußischen Majors Ferdinand von Schill. Berlin 1809. Gneisenau an Bärsch am 2. Februar 1809, in: Barsch, Georg, Beiträge zur Geschichte des Tugendbundes, Hamburg 1852, S. 19 f . Vgl. Bock. Schill,. S. 6, 49, 56 f f . , 67 f f . , 78. Schill an Gneisenau am 5. Oktober 1808, in: Krieglstein, S. 110. Vgl. Thimme. S. 97; Bärsch. Beiträge zur Geschichte des Tugendbundes, S. 11 f f . ; Die Reorganisation des preußischen Staates unter Stein und Hardenberg. 1. Abt.: Das preußische Heer vom Tilsiter Frieden bis zur Befreiung, 1807 bis 1814, Bd 1/2, in: Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven, Bd 94, Neue Folge, hg. von R. Vaupel, Leipzig 1938, S. 694, 696, 697.
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schwörer zurückzuhalten.
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Die Reformer erwirkten zwar einen königlichen Kabinettsbe-
fehl, wonach Schill am 10. Dezember 1808 an der Spitze preußischer Truppen Berlin besetzte, das von den Franzosen geräumt war. Aber Scharnhorst mußte den König, der Schills Triumphzug beargwöhnte, mit der Anweisung zufriedenstellen: Im Falle der Unruhe75 Stiftung sei der Volksheld "unschädlich zu machen" . Als Regimentschef und vaterländischer Propagandist personifizierte Schill in Berlin alle Bewegungen, die gegen die Fremdherrschaft vereint strömten. E r war durch einen Geheimbrief Scharnhorsts legitimiert: "Sie sind auf einem guten Posten, und die Zeit ist nahe, wo wir auf kräftige Handlungen rechnen müssen. Haben Sie ein gutes Auge auf die Dinge in Österreich; der Krieg wird dort ganz wahrscheinlich in diesem Jahre noch ausbrechen, vielleicht schon zum Frühjahr. Wir müssen alsdann überall fertig sein, um den Kleinen Krieg zu unternehmen, und auf Sie rechne ich dabei am meisten. Es wäre gut, wenn Sie sich alsdann Magdeburgs zu bemächtigen suchten und Mitteldeutschland insurgierten. An Teilnahme wird es Ihnen unter der dortigen Bevölkerung nicht fehlen. Doch warten 76 Sie das Zeichen ab und übereilen Sie nichts." Der Platz, den Schill ausfüllen sollte, ist klar umrissen. Den Kleinen Krieg jenseits der Elbe führen, um den Krieg Österreichs zu unterstützen! Opferwille und Tatkraft, Kühnheit, Organisationstalent und Erfahrung waren individuelle und besondere Eigenschaften Schills, die das objektive Bedürfnis der Unabhängigkeitsbewegung nach fähigen Kleinkriegsführern zu erfüllen schienen. Sind energisch geführte Volksmassen die Triebkraft großer geschichtlicher Bewegung, so konnte im Frühjahr 1809 nur ein kräftiger Volkswille, durch Maßnahmen des sozialen Fortschritts für die Lösung der nationalen Frage aktiviert, die Neutralitätspolitik des preußischen Königs brechen. Nur sie konntenauch die patriotische Konspiration der Napoleongegner rechtfertigen. Nieder mit Bonaparte! hieß die Angriffsspitze, die volkstümliche Führer als Erreger der Massen handhaben sollten. Ganz natürlich fiel die Wahl auf Schill, den Liebling von Hunderttausenden. Kundschafter v. Tempsky schrieb im März aus der Umgebung von Magdeburg: "Wir wissen mit Zuverlässigkeit, daß die Stimmung der Menschen in Westfalen von der Art ist, daß niemand länger Geduld haben, sondern losarbeiten will. Wenn es nicht binnen des Monats geschieht, verlieren wir zuviel Leute... Kommen Sie selbst und dringen mit vor, so sind wir des Sieges gewiß: Ihr Name gilt für eine
74 Ebenda, S. 717. 75 Ebenda, S. 783; Bärsch, Beiträge zur Geschichte des Tugendbundes, S. 16 f . 76 Scharnhorst an Schill, in: Scharnhorsts Briefe. Bd 1: Privatbriefe, hg. von Karl Linnebach, München-Leipzig 1914, S. 360. - Der undatierte Brief wurde wahrscheinlich Ende Februar/Anfang März 1809 verfaßt.
Konservatives Rebellentum Gottheit schon, an den jeder mit fester Zuversicht glaubt."
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Da fieberte auch Schill nach Entscheidung. Nicht nur der Impuls der Volksmassen und der Eifer der Freunde ermutigten zur Tat. Das Vertrauen Gneisenaus und Scharnhorsts erfüllte ihn. Sein LebensgefUhl, seine Einbildungskraft, sein Handlungsdrang verwuchsen mit dem Wissen um die hohe Rolle, die ihm in den Plänen der Reformer zugedacht war. Und sogar v. Borstell, dem Fitigeladjutanten des Königs, gestand Schill mit aufgipfelndem Selbstbewußtsein: Er wolle an die Spitze einer "bedeutenden Partei" treten und durch küh78 nen Angriff die Festung Magdeburg für Preußen zurückgewinnen. Es war eine Absicht, die in der allgemeinen Tendenz der Notwendigkeit lag, die Fremdherrschaft zu beseitigen. Aber wie die Notwendigkeit an den Zufall, ihre natürliche Erscheinungsform, gebunden ist, so sollte Schills Tat nicht nach mathematischem Kalkül, sondern durch zufällige Veranlassung erfolgen. Über den geheimen Aufstandsvorbereitungen der Patrioten hing das Damoklesschwert der königlichen Mißbilligung. So wurde die verfrühte Insurrektion Kattes, die in der irrigen Annahme erfolgte, der König sei einverstanden und Schill werde mit einem starken Truppenkorps gegen Magdeburg vorrücken, desavouiert und abgewürgt. Auch die Aktivität der Mit verschworenen, die in anderen Gebieten des Königreichs Westfalen die Insurrektion vorbereitet hatten, nahm unter unvorhergesehenen Zwischenfällen ihren Lauf. Am 10. April wurde Kundschafter Romberg, der Briefe und Bildnisse Schills zu Patrioten nach Bielefeld bringen sollte, von den Franzosen verhaftet und zum Geständnis gebracht; die 79 westfälische Regierung reagierte mit schärfster Beschwerde an den Hof in Königsberg. Währenddessen wurde auch die geplante Erhebung Dörnbergs, der mit Schill im Einverneh80
men stand, verraten und am 22. April bei Kassel zu vorzeitigem Losbruch gezwungen. Also war Schill bloßgestellt, Dörnbergs Insurrektion nicht mehr aufzuhalten. Die höfische Partei der Kollaborateure setzte in Königsberg jedes Mittel ein, um die Patrioten anzuschwärzen; sie denunzierte Scharnhorst als das Haupt eines Bundes, der den König stürzen wollte, nannte Chasot und Schill die Führer einer rebellischen Verschwörung in Berlin. 81 Am 25. April verfügte der König die Dienstenthebung der Majore Chasot
77 78 79 80 81
Haken. J . C . L . . Ferdinand von Schill, Eine Lebensbeschreibung, Bd 2, Leipzig 1824, S. 20 f. Kriegelstein. S. 289. Vgl. Bock, Schill; S. 79 f . , 109 ff. Ebenda, S. 11, 115; Heitzer. Insurrectionen zwischen Weser und Elbe, S. 146-195. Lehmann. S. 277; Deutsches Zentralarchiv Merseburg (im folgenden: DZA Merseburg): Preußen, Oberste Staatsbehörden, Geheimer Rat, Rep. 63, Konvolut 88, Militaria, Nr. 732, Bl. 2-5, undatierter Bericht des Oberleutnants HUnerbein an den König (Anlage zum Formschreiben Scharnhorsts v. 25.4.1809). Vgl. Bock. Schill, S. 112 ff.
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und Schill sowie ihre Abreise zur militärgerichtlichen Untersuchung nach Königsberg.
82
Doch ehe der Befehl nach Berlin kam, empfing Schill eine Geheimdepesche Ribbentrops, eines Königsberger Generalkriegskommissars, der vor d^r Entscheidung des Regenten 83 warnte und zu sofortigem Aufbruch trieb (27. April). Da beschloß Schill, zusammen mit Major Adolf v. Liitzow und Leutnant Bärsch, einem Vertrauten Gneisenaus, in aller Heim84 lichkeit den befehlswidrigen Vormarsch nach Westfalen. Wohl hatte Scharnhorst vor Übereilung gewarnt, und das verheißene Zeichen zum Angriff war nicht eingetroffen; wohl fehlte auch von Gneisenau jede persönliche Nachricht. Aber des Königs Haftbefehl mußte die längst vorbereitete Erhebung zunichte machen, wenn das Pflichtgefühl nur f ü r die Hohenzollerndynastie, nicht auch für die deutsche Nation entschied, wenn Untertanengehorsam über Nationalbewußtsein siegte. Dabei schien die allgemeine politische Lage günstiger denn je zu sein: Frankreichs Armeen waren im Krieg gegen England, Spanien und Österreich gebunden. Der Volksaufstand war aus der abstrakten Theorie in die Praxis getreten, zeigte begeisternde Erfolge: die Guerillas in Spanien, Andreas Hofer und seine Bauern in Tirol, Dörnberg und seine Rebellen im Königreich Westfalen. Von allen Schauplätzen des Kampfes lagen Erfolgsmeldungen vor. Es schien der richtige Augenblick gekommen zu sein, in ganz Norddeutschland die Fahne des Aufruhrs zu entrollen; es schienen die Verhältnisse zu gebieten, den König durch einen Gewaltakt der Selbsthilfe von der Notwendigkeit des nationalen Kampfes zu Uberzeugen. Lützow hat auch späterhin fest daran gehalten: "Der Augenblick war richtig gewählt. Fraglich 85 war der Erfolg, nicht gewiß, aber möglich. Das Unternehmen war groß." Am 28. April führte Schill das 2. Brandenburgische Husarenregiment unter dem Vorwand, vor den Toren der Stadt ein Manöver abzuhalten, aus Berlin. Im Namen des preußischen Herrscherhauses, das durch den "Thronräuber Napoleon" bedroht sei, rief e r die ihm untergebenen Soldaten und Offiziere zum Kampf gegen die Fremdherrschaft auf und 86 ließ sie zunächst in dem Glauben, e r handle nach königlichem Geheimbefehl. Der Vormarsch des Rebellenkorps führte durch die rheinbündischen Gebiete des Königreiches Sachsen und der drei anhaltinischen Fürstentümer, wo in Dessau, Köthen und Bernburg jubelnde Volksmassen die Reiter begrüßten. Die Elbe wurde am 1. Mai bei Wittenberg, die Saale am 3. Mai bei Bernburg überschritten, und am 4. Mai betrat das 82 83 84 85 86
DZA Merseburg, a . a . O . , Nr 712, Bl. 37-38, Friedrich Wilhelm m . an Staatsminister Graf v . d . Goltz am 25.4.1809; Friedrich Wilhelm m . an L'Estocq am 25. April 1809, abgedr. bei: Krieglstein. S. 133. Vgl. Bock. Schill, S. 117. Ebenda, S. 117 ff. Lützow. Adolf v . . Schill und dessen Charakter, zlt. nach: Krieglstein. S. 321. Vgl. Bock. Schill, S. 119-126.
Konservatives Kebellentum
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Korps napoleonisches Territorium des Königreichs Westfalen. Hier zuerst war auf deutschem Boden östlich des Rheines eine liberale Verfassung eingeführt: Beseitigt waren die Institutionen der Leibeigenschaft und der feudal-junkerlichen Patrimonialgerichtsbarkeit, die Steuerfreiheit des Klerus und des Adels, verkündet waren Geschworenengerichte, Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz, Gewerbefreiheit, Münzeinheit, und mit der Religionsfreiheit war die Emanzipation der Juden ausgesprochen. Doch wie Kaiser Napoleon der Degen des französischen Bourgeois, so war König Jérôme, waren die französischen Spitzenkader seiner Beamtenschaft die Kolonialpeitsche des Imperiums. Ihre Reformen z e r störten die Sozialstruktur der feudalen Gesellschaft nicht gewaltsam und gründlich, sie gaben Adel und Klerus die Möglichkeit, sich hinter der Fassade rechtlicher Gleichheit als aristokratische Eigentümer und Staatsbeamte einzurichten. Es mochte mit Billigung eines Teils des Adels geschehen, wenn rheinbündische Lobredner dem Fremdherrscher Kränze flochten: " E r erspart uns blutige Revolutionen, die der fortschreitende Zeitgeist notwendig gemacht hätte, indem e r den deutschen Fürsten Beispiel und Hilfe bietet, sie selbst, ohne 87 Einwirkung der rohen Menge, zu b e w e r k s t e l l i g e n . . D a s war auch im engen Sinne der Bourgeoisie gesprochen. Einerseits zu fortgeschritten, um gleich den Tiroler Bauern mit frommer Einfalt und provinzieller Beschränktheit gegen Napoleon und f ü r eine Restauration zu kämpfen, war sie andererseits zu rückständig und feige, um die nationale Unruhe für den kapitalistischen Fortschritt, für den Aktivismus eines bürgerlichen Nationalbewußtseins auszunutzen und die Führung der Volksmassen an sich zu reißen. Gingen aus Adel und Bourgeoisie auch einzelne Verfechter der nationalen Unabhängigkeit hervor, so setzten sich doch die eigentlichen Träger der elementaren Widerstandsbewegung aus altpreußischen Soldaten, hungernden Bauern, Handwerksgesellen und Lohnarbeitern zusammen, deren soziale Empörung in den.derzeitigen Regierern die Repräsentanten der Fremdherrschaft anfeindete. Die massenhaften Fahnenfluchten der Konskribierten, die Steuerverweigerungen und spontanen Gewaltausbrüche der Stadt- und Landbevölkerung waren eine Sprengkraft, die das noch wurzellose westfälische Königtum gefährdete. Auch besaßen die Namen der von Napoleon vertriebenen Monarchen - die preußischen, hessischen und braunschweigischen Fürstenhäuser - noch Anziehungskraft. Der naive Monarchismus, an sich Ausdruck politischer Unreife und Hemmnis f ü r bürgerliches Nationalbewußtsein, ermöglichte die Sammlung heterogener und zersplitterter Kräfte. Die romantische Fiktion einer Einheit von "angestammten Fürstenhäusern und Volk", eine an sich nur relative Einheit von letztlich unversöhnlichen Gegensätzen, konnte noch Hilfsmittel sein, wenn die 87 Sibyllinlsche Blätter. 1807, zit. nach: Schulze, Friedrich, Die Franzosenzelt in deutschen Landen, Bd 1, Leipzig 1908, S. 13.
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Volksmassen von klarsichtigen Führern zum Kampf gegen den Usurpator Napoleon organi88
siert wurden. Das Kriterium einer jeden großen historischen Gestalt liegt erstens in der Fähigkeit, in konkreter Gesellschaftssituation die objektive Notwendigkeit sowie die daraus hervorgehenden Bedürfnisse des Fortschritts zu erkennen, zweitens in der Fähigkeit, die erkannten Bedürfnisse und die Mittel ihrer Befriedigung zu formulieren, drittens in der Fähigkeit, das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis schöpferisch, wenn nötig revolutionär zu lösen, wozu gehört, daß die gesellschaftlichen Kräfte im Sinne der errungenen Erkenntnisse organisiert, strategisch und taktisch geleitet werden. Wie klar haben doch Stein, Scharnhorst, Gneisenau, Clausewitz und andere den Zusammenhang von sozialer und nationaler Frage, den bürgerlichen Inhalt des deutschen Unabhängigkeitskampfes aufgefaßt. Auch sie waren hineingeboren in gesellschaftliche Konflikte, die unabhängig von ihrem Willen bestanden, und mußten den objektiven Prozeß ihrer Welt erst ergründen. Doch sie begriffen sich als Menschen im Zeitalter der bürgerlichen Revolution und waren um die Aneignung ihrer Resultate bemüht: Der bürgerlich reformierte Staat sollte Hort und Ziel des nationalen Kampfes sein. Waren ihre Reformen gegenüber Frankreichs Großer Revolution nur ein bescheidener Anfang, so waren sie in deutschen Verhältnissen immer ein Erfolg, den patriotische Agitatoren nicht ignorieren durften, wenn sie in bürgerlich r e formierten Rheinbundstaaten zum nationalen Aufbruch riefen und mit den Volksmassen auch die Bourgeoisie gewinnen wollten. Schill jedoch vertrat in seinen Proklamationen an die Bevölkerung des Königsreichs 89 Westfalen ein konservatives Programm. Wohl, da e r ohne Rücksicht auf dynastische Kabinettspolitik den Volkskrieg verlangte, bestätigte e r sein Rebellentum wider die Dienstpflicht des Absolutismus. Doch offenbarte e r zugleich eine Rückständigkeit des politischsozialen Denkens, das den Bedürfnissen nationaler Befreiung ganz eigentümlich widersprach. Da war kein Wort für bürgerliche und volksfreundliche Neuerungen, kein kluger Hinweis auf Reformen in Preußen, die den Vorlauf der fortschrittlichen Gesetzgebung Westfalens aufholen sollten. Da war nur die Phrase von einer Verfassung, welche gewesenen Untertanen das von Napoleon gestürzte Feudalsystem als verlorenes Glück anpries und die eine Restauration der feudalen Gesellschaftsordnung verkündete. Wenngleich Schill auf dem Gebiet militärischer Organisation und Taktik fortschrittliche Maßnahmen gefördert hatte, so blieb er doch einer umfassenden Ansicht der Gesellschaftsbewegung verschlossen. Sein Denken war befangen in der Ideologie einer überholten Ordnung und ihrer volksfeindlichen Konstitutionen. 88 Vgl. Heitzer, Insurrectionen zwischen Weser und Elbe, S. 146-195, 294-306. 89 Vgl. Bock. Schill, S. 138-143, 175 ff.
Konservatives Rebellentum
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Dagegen kontrastierten seine vagen Vorstellungen vom Volkskrieg. Denn wo in einem Lande und seiner Gesellschaft der Prozeß der bürgerlichen Umwälzung läuft, sprengt jeder Volksaufstand die Schranken des sklavischen Untertanengehorsams, sind Volkskämpfer, die selbständig zur Waffe greifen und fremdländische Bedrücker verjagen, nicht willens, ihr Haupt unter das alte Joch zu beugen. Entweder wollte Schill die Restauration: Dann konnte e r die große Erhebung eines rebellierenden Volkes nicht wünschen. Oder e r wollte den Massenaufstand: Dann durfte e r die Restauration nicht Ziel des Kampfes nennen. Ist nun die Praxis das Prüffeld der Theorie, so mußte sich in der Wirklichkeit des Handelns scheiden, was nebelhaftes Denken zusammenfügte. Tatsächlich wurden die kleinbürgerlichplebejischen Aufstände, die anläßlich des Rebellenzuges in Halle und Halberstadt ausbrachen, nicht nur nicht genutzt, sondern von Schills Offizieren und Soldaten im Namen von Ruhe 90 und Ordnung unterdrückt.
Ihnen bedeutete eine Einbeziehung des Volkes in den Unabhän-
gigkeitskampf nicht allgemeine Volksbewaffnung im Sinne Gneisenaus und Scharnhorsts, sondern konventionelle Werbung von Freiwilligen für Schills Korps. Die nationale Volkserhebung verkleinerte sich zur Sache von Militärs, die sich berufen fühlten, gewappneter Arm des preußischen Monarchen zu sein, im großen und ganzen aber Ruhe als Bürgerpflicht verlangten. Schills konservative Grundhaltung offenbarte sich ebenfalls auf militärpolitischem Gebiet, sobald er mit seinem Korps in eine Krise geriet, die strategische Entscheidungen von ungewöhnlicher Tragweite verlangte. Am 4. Mai erreichten ihn in Bernburg drei Hiobsbotschaften: Erstens waren die Insurgenten bei Kassel von Jeromes Garde niedergeschlagen worden, Dörnberg und seine Mitverschworenen verhaftet oder entflohen; zweitens waren die Österreicher bei Regensburg von den Franzosen besiegt worden, sie hatten den Rückzug angetreten und ihre Kaiserstadt Wien dem Zugriff Napoleons überlassen; drittens schickte der preußische Gouverneur aus Berlin heftigste Vorwürfe, befahl im höchsten Auftrage die unverzügliche Rückkehr des Regiments und Schills Gestellung vor das Kriegs91 gericht.
Schills Schlußfolgerung lautete: Überlegene Kräfte des Feindes würden bald
die kleine preußische Truppe vernichten, deshalb solle die Befreiung der deutschen Staaten einstweilen preisgegeben und das Regiment über die Elbe zurückgeführt werden, e r selbst wolle sich Österreich anschließen oder sich nach England einschiffen. Es war das Reagieren eines.konservativen Rebellen, der auf das nachträgliche Einverständnis seines Königs gehofft hatte und nun mit dem Vertrauen des Monarchen den Erfolg des Handelns in schwieriger Lage verloren glaubte. 90 Ebenda, S. 149 f f . , 169 ff. 91 Ebenda, S. 154 f .
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Helmut Bock Aber das Verständnis für die unabweisliche Aufgabe, dem Befreiungskampf ein Vorbild
zu geben, lebte kraft objektiver Notwendigkeit fort. Entschlossene Offiziere, von denen viele auf eigene Faust zu Schill gestoßen waren, widersetzten sich dem Rückzug. Unter der Führung Adolf v. Lützows drängten sie Schill zu dem gemeinsamen Beschluß, den Militäraufstand fortzusetzen: Sie überschritten so alle bewußt die Ordnung der Armee und gaben dem Regiment auch subjektiv - was objektiv durch den Abmarsch aus Berlin längst Tatsache war - den Charakter einer Rebellenschar. Überdies wurden gegen Schill strategische Alternativen vertreten, die den vorjährigen Insurrektionsplänen der preußischen 92 Reformer entsprachen.
Im Vorstoß nach Westen sollte Schills Kavallerie den Feind
durch rasche Streifzüge und Überfälle beunruhigen, bis sich das Kriegsglück wieder Österreich zuneigte und die Volksmassen in Westfalen für den Nationalaufstand gewonnen waren. Dieser Offensivplan rechnete mutig mit der Gefahr eines tragischen Endes, war aber auch mit optimistischer Weitsicht angelegt. Galt es doch in ungemein schwieriger Lage, da Dörnbergs Scheitern unabänderlich, Österreichs Endsieg fraglich, die mögliche Anzahl norddeutscher Insurgenten nicht bekannt war, das Schwert mit ganzer Wucht in die Waagschale zu werfen. Eine Offensivstrategie, die nicht zurück hinter die Elbe, sondern vorwärts auf napoleonisches Gebiet führte, konnte die glimmende Unruhe der Volksmassen schüren und vielleicht zu Aufständen entfachen. Gewiß war dies kein unfehlbares Erfolgsprogramm. Es gab keine Siegesgarantie. Auch mochten die Gegenspieler Schills, indem sie die westelbische Volksinsurrektion verfochten, nicht unbedingt Anhänger einer bürgerlich-fortschrittlichen Gesellschaftsentwicklung sein. Aber sie waren bereit, die mögliche Leistungsfähigkeit auf das Äußerste anzuspannen - das einzige, was ihnen in ihrer Lage mit Kühnheit und Beharrlichkeit zu tun blieb, wobei sie auf Hilfe oder Rettung durch England rechnen durften. Sie waren entschlossen, eine Insurrektion zu wagen, deren Praxis sie wahrscheinlich sogar zu modernen Erfahrungen des Guerillakrieges und der Politik getrieben hätte. Was Marx mehr als ein halbes Jahrhundert später zum Ruhme der Pariser Kommunarden sagte, hätte im abgewandelten Sinne für die todesmutigen Unabhängigkeitskämpfer gelten können: Welche Elastizität, welche historische Initiative, welche Aufopferungsfähigkeit. . . ! Die Demoralisation der Massenbewegung 93 ist ein viel größeres Unglück als der Untergang einer beliebigen Anzahl von "Führern". Aber Schill blieb in der Strategie und Taktik des Insurrektionskrieges begrenzten E r fahrungen verhaftet. Die Festung Kolberg war seine Kriegsschule gewesen, auf der e r das Freischärlertum im Einverständnis seines Königs ausüben lernte. Wenn e r jetzt Kom92 Ebenda, S. 153-162. 93 Marx an Ludwig Kugelmann am 12. und 17. April 1871, in: Marx/Engels. Werke, Bd 33, S. 205-209.
Konservatives Rebellentum
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mandeur eines schnellfüßigen, wohlausgerüsteten Kavalleriekorps war, das Offensivpläne wagen konnte, so beherrschte ihn doch der Gedanke: Eine Festung müsse Rückhalt und Sicherheit bieten. Schill verkannte die taktische Gefechtsweise der Insurgenten, für die unberechenbare Streifzüge und Überfälle, mit wechselnden Orten und Kriegslisten, die gemäßeste Art des Kampfes sind. Er befahl den Marsch zur Ostseeküste, um die Festung Stralsund zum Widerstands Zentrum des Patriotismus zu machen. Diese Entscheidung verhinderte den großartigen Versuch eines Insurrektions- oder Guerillakrieges nach spanischem 94 Muster. Das unentschiedene Gefecht bei Dodendorf (5. Mai) •, das ohne Not und taktischen Plan angenommen wurde und Schills besten Offizieren - darunter Adolf v. Lützow - Leben oder Gesundheit kostete, war ein militärischer Achtungserfolg, dessen moralische Wirkungen bei den Volksmassen infolge der Preisgabe einer Insurrektion nahezu unbeansprucht blieben. Die kleinen Streiftrupps, die Schill bis an den Harz und nach Lüneburg ausschwärmen ließ, hatten nicht die Bildung von Insurgentengruppen, sondern nur die Beschlagnahme . 95 von königlich-westfälischen Staatskassen zum Ziel. Die Volksunruhen in Öbisfelde, Quedlinburg, Braunschweig, Hamburg und anderen Orten, die in Erwartung eines Schill96 sehen Vormarsches ausbrachen, wurden nicht genutzt. Die etwa 900 Freiwilligen, die insbesondere im ehemals preußischen Gebiet der Altmark zum Rebellenkorps kamen, 97 wurden auf konventionelle Weise eingegliedert und nicht für den Guerillakampf organisiert. Indem Schill den Rebellenzug nach Stralsund lenkte, machte e r einen faktischen Rückzug hinter die Elbe - ein hinreichender Grund für den Heeresreformer Grolman, seine Teil98 nähme zu versagen.
Über den bewußten Verzicht, eine Insurrektion zu wagen, hat Schill
selbst schönfärbend reflektiert: "Nachdem ich mich Uberzeugt hatte, daß nur von einem Organisieren, nicht viel aber von einem Insurgieren sich zu versprechen sei, mußte ich meine Wünsche auf Stralsund99richten, um durch diesen Ort mit den britischen Schiffen in Verbindung zu kommen." Adolf v. Lützow indessen hat so geurteilt: "Schill war von Natur mit vielem Verstand, einem unerschütterlichen persönlichen Mut und vorzüglicher Verschlagenheit begabt. - Als Soldat war e r kühn, jedoch wo er als Feldherr, das heißt als Befehlender auftrat, da trugen seine Unternehmungen, seine Pläne nicht den Stempel der Kühnheit. Lächerlich ist es, ihn als einen verwegenen Parteigänger zu schildern, da
94 95 96 97 98 99
Vgl. Bock, Schill, S. 162-169. Ebenda, S. 169 f. Ebenda, S. 173 f f . , 190 f. Ebenda, S. 176 ff. Ebenda, S. 178 f . Schill an Erzherzog Karl am 30. Mai 1809, zit. nach: Krieglstein. S. 303.
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Helmut Bock
alle seine Umgebungen bezeugen, daß e r jede Gelegenheit vorbeigehen ließ, sich als solchen zu beweisen." 1 0 0 Schill war ein konservativer Rebell; sein politischer Charakter gleicht dem des erfolgreicheren Yorck, dergegen NapoleondieKonventionvonTauroggenabschloß. 101 Sein historisches Verdienst ist unbestritten: Er nahm das Wagnis des Rebellentums auf sich und gab das unvergeßliche Beispiel einer Initiative zur nationalen Erhebung. Doch ist seine Art der Rebellion nicht mit Handlungen zu verwechseln, die in Verhältnissen antagonistischer Gesellschaftsordnungen als revolutionär bezeichnet werden. Der Revolutionär, ob rebellischer Einzelgänger, ob Führer der Massen, handelt gegen die herrschende Ordnung, ist von der Notwendigkeit erfüllt, sie im Namen des Fortschritts vernichten zu müssen. Der konservative Rebell aber glaubt an die herrschende Ordnung, will das Herkömmliche gegen Störungen schützen, wagt nur im Namen der "guten alten Zeit", ihrer hohen Repräsentanten, die gebotene Grenze zeitweilig zu verletzen. Der Revolutionär höhnt dem herrschenden Geist der Gesetze, dem Zwang des Überlebten, und indem e r mit Bewußtheit zur umstürzenden Tat schreitet, handelt er f r e i . Der konservative Rebell aber anerkennt im Prinzip diesen herrschenden Geist der Gesetze als die Regel des Lebens, und indem e r wie mit angehaltenem Atem auf die nachträgliche Billigung, die Legalisierung seiner disziplinwidrigen Tat hofft, handelt e r unfrei. So etwa stehen Danton und Schill, beide als Streiter für die Unabhängigkeit ihrer Nationen, in weitem Abstand. Den einen kümmerte kein Urteil des Königs: Er beugte in Ludwig XVI. die greise Monarchie aufs Schafott, und mit dem Königskopf fiel der jahrhundertealte Irrglaube des Gottesgnadentums. Dem anderen aber konnte ein Urteil seines Monarchen das moralische Rückgrat brechen: Er wollte die schneidige Waffe des preußischen Königs sein und fürchtete dessen Mißbilligung wie den Fluch einer bösen Tat. Das königliche Verdikt hat nicht lange auf sich warten lassen. Daß Jérôme, König von Westfalen, am 5. Mai einen Steckbrief gegen Schill erließ und 10 000 Mark als Kopfgeld bot, daß Napoleon im 6. Armeebulletin vom 9. Mai Schill einen "brigand" und Deserteur titulierte, gegen den er ein Korps von 60 000 Mann aufbieten wollte, mochte den Rebellen weniger bekümmern.
102
Doch der Parolebefehl des preußischen Königs vom 8. Mai
100 Lützow. in: Ebenda, S. 319-325. 101 Bock, Helmut. Rebell im Preußenrock. Tauroggen 1812, Berlin 1963. 102 Staats- und gelehrte Zeitung des Hamburgischen unparteiischen Korrespondenten. Nr. 5, v. 12.5.1809. - Ein Original befindet sich im Kulturhistorischen Museum Stralsund: Schilliana. 6. französisches Armeebulletin v. 9.5.1809, zit. nach: Bärsch. Georg. Ferdinand von Schills Zug und Tod im Jahre 1809. Zur Erinnerung an den Helden und die Kampfgenossen, Berlin 1860, S. 82.
Konservatives Rebellentum
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war eine schwere Belastung für Schill: "Der Major v. Schill und alle, die mit ihm gegan103 gen sind, sollen einem strengen Militärgerichte unterworfen werden." Gab es außerhalb des Monarchismus noch keine wirklich nationale Ideologie, keine formierte Klasse, Organisation, Partei, die das Selbstbewußtsein deutscher Insurgenten stärkte, so verfehlte das königlich-preußische Urteil nicht ganz seine niederschlagende Wirkung bei Schill und vielen seiner Mitstreiter. Das heißt nicht, sie hätten ihre heroische Bolle ohne Tapferkeit und Opfermut bis zum bitteren Ende gespielt. Doch auf dem Marsch zur Küste und in den Tagen des Niedergangs in Stralsund kamen Argwohn, Bestürzung und Widerstand auf, 104 subjektive Reflexe einer unausweichlichen Krise. Marx nannte den "gemeinsamen Stempel" aller gegen das napoleonische Frankreich 105 geführten Unabhängigkeitskämpfe eine "Regeneration, die sich mit Reaktion paart". Er meinte die Trübung der nationalen Erneuerung durch den abgestandenen Bodensatz des Spätfeudalismus. Schill selbst war die Fleischwerdung dieses Widerspruchs. Trotz patriotischer Leidenschaft und Volkstümlichkeit blieb er de® feudalen System verhaftet. Auch in Stralsund, wo er sich vom 25. bis zum 31. Mai gegen napoleonische Übermacht
106
verschanzte und verteidigte, lagen Legitimismus und Rebellentum ständig im Widerstreit. Im Sinne legitimistischer Staatsinteressen nahm er Stralsund und Vorpommern für den König von Schweden in Beschlag, betrachtete er sich nicht als ein "rechtmäßiger Besitzer"; aber er pochte auf die "Rechte des Eroberers" und ignorierte geflissentlich, daß Schweden seit dem Regierungsumsturz (13. März 1809) zu Napoleon neigte. Mit Gefühlen der Schuld und in dem Bestreben, die Gunst des eigenen Monarchen zurückzugewinnen, bestimmte er die hundert besten Stralsunder Kanonen als ein Geschenk für den König von Preußen; aber den Krieg führte er weiter auf eigene Faust, und er dachte nicht daran, seinen König um Erlaubnis zu fragen. Nach feudaler Werbeart kaufte er gegen hohe Bezahlung ehemals schwedische Soldaten als Söldner für die Bedienung seiner Artillerie; aber unter Androhung des revolutionären Terrors befahl er die Einberufung der Rügenschen Landwehr und die Requisition aller materiellen Mittel für seine Freischar. Es waren widerspruchsvolle Äußerungen eines Mannes, der sich subjektiv als legitimer Stellvertreter von Landesfürsten auffaßte, objektiv aber als Anführer einer Rebellenschar behaupten mußte. In zweifellos ungünstiger Situation hat Schills Denken und Handeln nie einen echten Ansatz für die Lösung 103 104 105 106
DZA Merseburg, a . a . O . , Bl. 70, Parolebefehl Friedrich Wilhelms in. v. 8.5.1809; Spenersche Zeitung. Nr. 58, v. 16.5.1809. Vgl. Bock. Schill, S. 198 ff. Marx. Karl. Das revolutionäre Spanien, in: Marx/Engels, Werke, Bd 10, Berlin 1961, S. 444. Vgl. Bock. Schill, S. 220 ff. ,
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Helmut Bock
des gesellschaftlichen Hauptwiderspruchs geboten. Als ein konservativer Rebell besiegelte 107 er den Versuch einer Nationalerhebung am 31. Mai in Stralsund mit dem Soldatentod. Große und volkstümliche Namen symbolisieren Sammelpunkt und Marschrichtung. Doch sie üben ihre Wirkung, weil streitbare Massen sie in der Höhe halten. Große Namen können sich von der individuellen Person ihrer Träger ablösen, um allgemein wie Feldzeichen zu sein. So geschah es mit Schill: Der Initiator und FUhrer des nach ihm benannten Freischarzugs war nichts ohne die Mitstreiter, deren Zustimmung ihn trug. 108
Von den 100 Offizieren waren 71 erst nach Feldzugsbeginn zu Schill gekommen
- die
meisten mit dem klaren Bewußtsein, daß Preußens König den Akt nationaler Selbsthilfe mißbilligte und sie nicht als reguläre Soldaten, sondern als Insurgenten, Rebellen, Empörer betrachten wUrde. Bereit zu Wagemut und Tapferkeit, vertraten sie aber auch den Anspruch, Schills Pläne freimütig beurteilen zu dürfen. Beim Kriegsrat in Bernburg und bei Auseinandersetzungen in Stralsund haben sie davon Gebrauch gemacht. Sie haben Schill hart gefordert; das Wollen und Planen der Besten von ihnen ging weiter, als er zu leisten imstande war. Doch weil militärische Disziplin die Grundbedingung des ganzen Unternehmens war, sind sie Schill fast ausnahmslos bis zum Ende gefolgt. Nach dem Tod ihres Anführers und dem endgültigen Zusammenbruch der Insurrektion haben sie dem Gegner einen Waffenstillstand abgetrotzt und die Reste der Freischar nach Preußen zurückgeführt. Die Hälfte der 109 52 Heimgekehrten wurde mit Festungsarrest bestraft. Elf gefangene Offiziere starben im Feuer eines französischen Hinrichtungskommandos. Die übrigen fielen im Kampf, oder sie schlössen sich der späteren Insurrektion des Herzogs v. Braunschweig-Oels an. Die Soldaten repräsentierten im eigentlichen Sinne die nationale Rolle der Volksmassen. Sie waren keine Bilderbuchhelden, als sie Schill in den Kampf folgten. Denn obgleich Persönlichkeiten, die die gesellschaftlichen Bewegungen leiten, von Bedürfnis und Wirken der Massen getragen sind, so ist doch der hohe Gedanke nicht stets auch Bewußtsein der einzelnen, die in der Masse ihre Kraft und ihr Leben daransetzen, damit sich Geschichte vollzieht. Es waren Menschen, von denen Karl Marx sagt, daß sie vor allem essen, trinken, sich kleiden müssen, ehe sie Politik und Philosophie treiben können. Sie waren die Ungenannten, nach denen Bertolt Brechts lesender Arbeiter fragt: die Namenlosen, die träumten und handelten, litten und kämpften, starben und Geschichte machten. 107 Ebenda, S. 243-254. 108 Ebenda, S. 222. 109 Kriegsrechtliches Urteil, abgedr. bei: Haken. S. 194-209. Bestätigung durch königlichen Schiedsspruch: DZA Merseburg, a . a . O . , Parolebefehl Friedrich Wilhelms in. v. 16.9.1809.
Konservatives Bebellentum
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Etwa 550 Berufssoldaten bildeten das 2. Brandenburgische Husarenregiment, das Schill aus Berlin folgte; etwa 1300 Freiwillige stießen im Verlaufe des Rebellenzuges hinzu. 1 1 0 Die Altgedienten waren eine straff organisierte Elitetruppe, die in Schill einen Helden verehrte und den Kriegszug eine Tugend nannte. Unter den Freiwilligen gab es bürgerliche Intellektuelle, die auf der Höhe der Aufgaben standen, und ehemalige preußische Soldaten, die einfältig glaubten, den Fahneneid, den sie einst f ü r Preußen leisteten, unter Schill erfüllen zu müssen. Die Handwerker, Bauern, Tagelöhner aber knüpften soziale und nationale Hoffnungen an den Rebellenzug, suchten in Schill den Heros einer besseren Zeit. Tapfer und verwegen, waren sie freilich ungeübt und ungebärdig. In der Wildheit ihres Auftretens, der Buntheit ihrer Kleidung, der Regellosigkeit ihrer Bewaffnung stachen sie von den Stammtruppen ab, lebten sie mit dem trotzigen Bewußtsein, von jenen als "zusammengelaufenes Volk", als "Sansculotten" beargwöhnt zu werden. Auf diese Männer, die dem sozialen Typus des Guerilla wohl am nächsten kamen, konnte Schill kaum mit herkömmlicher Befehlsgewalt wirken; e r beeindruckte sie vielmehr durch seine Beredsamkeit, seinen Mut und den Glanz der Legende. Von allen diesen Soldaten starben allein 400 auf den Wällen und in den Straßen Stralsunds, 14 wurden standrechtlich von den Franzosen erschossen, 543 gerieten in Gefangenschaft, verelendeten als Arbeitssklaven auf den Galeeren von Brest und Cherbourg. 1 1 1 Neben den spanischen Guerillas und den Tiroler Bauern waren Schills Rebellen die ersten, die das Fanal des Kampfes entzünden halfen. Sie rüttelten bewußt und unbewußt an absolutistischen Thronen, lebten nationales Selbstbewußtsein, souveräne Empörung und volkstümliche Insurrektion vor. Schills Rebellen waren tragische Gestalten, die bei dem Versuch, den Konflikt zwischen Fremdherrschaft und Unabhängigkeit zu lösen, scheiterten. Aber sie waren Vorkämpfer für die nötige Lösung dieses Widerspruchs, der vier Jahre später fiel: Am 30. Dezember 1812 unterzeichnete Yorck als ein zweiter Rebell im Preußenrock die Konvention von Tauroggen, und im Frühjahr 1813 wurde die Freischar Adolf v. Lützows, des Gefährten Schills, zum neuen Symbol des Kampfes für deutsche Freiheit und Einheit. Nun glänzten die Schillschen Rebellen in patriotischen Herzen als Helden einer optimistischen Tragödie.
110 Vgl. Bock, Schill, S. 224 f . 111 Ebenda, S. 255.
HORST B A R T E L / W A L T E R SCHMIDT
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen . der Geschichte des deutschen Volkes im 19. Jahrhundert
Im Lebenswerk des Mitbegründers des Marxismus Friedrich Engels nehmen seine Leistungen auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft einen erstrangigen Platz ein. Engels hatte wesentlichen Anteil an der Entdeckung des "große(n) Bewegungsgesetz(es) der Geschichte" 1 , durch die sie erst zu einer Wissenschaft wurde, weil sie "zum erstenmal auf ihre 2 wirkliche Grundlage gestellt"
wurde. Die Ausarbeitung der dialektisch-materialistischen
Geschichtsauffassung war - wie Marx' und Engels' gemeinsame Arbeiten aus der Entstehungsperiode des wissenschaftlichen Kommunismus und Engels' zur gleichen Zeit entstandene Schrift Uber die "Lage der arbeitenden Klasse in England" überzeugend ausweisen das gemeinsame Werk von Marx und Engels. Die von ihnen "vollzogene Umwälzung der 3 gesamten Auffassung von der Weltgeschichte"
basierte darauf, daß sie konsequent von den
Positionen der revolutionärsten Klasse der Gesellschaft, der Arbeiterklasse ausgingen. Deren Interessen verlangten eine rückhaltlose Aufdeckung der Gesetzmäßigkeiten der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, denn daraus ergab sich der wissenschaftliche Nachweis vom gesetzmäßigen Sieg der Arbeiterklasse und ihrer sowie der ganzen Menschheit Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung. Daraus erklärt sich in erster Linie auch das hohe Interesse, das Engels - ebenso wie Marx und Lenin - jederzeit den Fragen der Geschichte entgegenbrachte. Geschichtliche Untersuchungen und Darstellungen waren für das Begründen und Weiterentwickeln der Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus, insbesondere für die Vervollkommnung der Strategie und Taktik der proletarischen Partei ebenso unabdingbar notwendig wie für die Weckung und Förderung des proletarischen Klassenbewußtseins. "SchonKarl Marx und Friedrich Engels widmeten der Geschichte besondere Aufmerksamkeit", hob Walter Ulbricht ausdrücklich hervor. "Sie studierten die Entwicklung und die Erfahrungen des Klassenkampfes und der Arbeiterbewegung in Deutschland und in zahlreichen anderen Ländern. Daraus zogen sie entschei1
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Engels. Friedrich. Vorrede zur dritten Auflage von Marx' Schrift "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", in: Marx/Engels, Werke, Bd 21, Berlin 1962, S. 249. Derselbe. Karl Marx, in: Ebenda, Bd 19, Berlin 1962, S. 103. Ebenda, S. 102.
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Horst Barte 1/Walter Schmidt
dende Schlußfolgerungen für die Ausarbeitung und Weiterentwicklung des Marxismus und für die Entwicklung der wissenschaftlichen Strategie und Taktik der revolutionären Arbeiterpartei. In ihren Werken behandelten sie die Grundfragen der Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert. Die meisterhafte Anwendung des historischen Materialismu 4 in diesen Werken macht sie zu Vorbildernfür unsere geschichtswissenschaftlichen Arbeiten." Engels' Verdienst um die Entwicklung der Geschichtswissenschaft schließt deshalb gleichermaßen sein Wirken als Historiker, seine ausgesprochen historischen Arbeiten ein, in denen e r die dialektisch-materialistische Geschichtstheorie in der Geschichtsschreibung anwandte. Er leistete damit einen entscheidenden Beitrag zur Konzipierung des einheitlichen wissenschaftlichen Geschichtsbildes, das in seinen Grundzügen von den Klassikern 5 des Marxismus-Leninismus erarbeitet wurde. Vor allem gilt dies für die Geschichte des deutschen Volkes. Auch in der Geschichtsschreibung bestand eine gewisse Arbeitsteilung zwischen Marx und Engels. Ganz abgesehen davon, daß Marx und Engels sich ständig mit Grundfragen der geschichtlichen Entwicklung in den verschiedenen Ländern, unterschiedlichen Epochen und einzelnen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens beschäftigten und sich darüber gegenseitig konsultierten, waren Marx' spezielle g historische Darstellungen doch mehr, den geschichtlichen Klassenkämpfen in Frankreich und in gewissem Maße auch in 7 England gewidmet, während Engels' hauptsächliches Arbeitsgebiet die deutsche Geschichg te darstellte. Dem besonderen Interesse von Marx und Engels an der Geschichte Englands, Frankreichs und Deutschlands lagen objektive Ursachen zugrunde. Es ergab sich aus der Stellung der Klassenkämpfe in diesen Ländern im Rahmen der weltgeschichtlichen Entwicklung jener Epoche. England, Frankreich und Deutschland waren, abgesehen von den USA, die 4 5
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Ulbricht. Walter. Zum Entwurf "Grundriß der-Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung", in: Derselbe, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 10, S. 555 f. Zur Marx' und Engel* s Rolle als Historiker vgl. Heitzer. Heinz. Über das Geschichtsbild von Karl Marx und Friedrich Engels, in: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Berlin 1963, Bd I, S. 339 f f . ; vgl. auch die umfangreichen sowjetischen Sammelbände: Marks-istorik, Moskau 1968 und Engel's-teoretik, Moskau 1970, insbesondere das von L . J . Golm an verfaßte Kapitel IV: ¿ngel' s - odln iz osnovapoloiniko marksistskoj istoriceskoj nauki, S. 238-344. Vgl. vor allem Marx. Karl.' Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: Marx/Engels, Werke, Bd 7, Berlin 1964, S. 9 f f . : derselbe. Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Ebenda, Bd 8, Berlin i960, S. 111 f f . : derselbe. Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Ebenda, Bd 17, Berlin 1964, S. 313 ff. Zu den Ursachen für das besondere Interesse an der französischen Geschichte siehe Engels, Vorrede zur dritten Auflage von Marx' Schrift "Der achtzehnte Brumaire", in: Ebenda, Bd 21, S. 248 f . Dies vor allem deutlich in den historischen Kapiteln von Marx' Hauptwerk "Das Kapital". Dabei ist zugleich Engels' intensive Beschäftigung mit der Geschichte Englands beachtet worden, was vor allem für die Entstehungsperiode des Marxismus gilt.
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
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drei fortgeschrittensten Länder des 19. Jh. In England und Frankreich hatte die bürgerliche Revolution bereits gesiegt und die kapitalistische Produktionsweise sich durchgesetzt. In Deutschland war die bürgerliche Umwälzung am Ende des 18. Jh. eingeleitet worden und vollzog sich unter komplizierten Verhältnissen. Die deutsche bürgerliche Revolution reifte in der Mitte des 19. Jh. unter wesentlich fortgeschritteneren weltgeschichtlichen Bedingungen heran als die vorangegangenen bürgerlichen Revolutionen. Der springende Punkt war, daß sowohl in England und Frankreich als auch in Deutschland seit den 30er und 40er Jahren das Proletariat bereits als Klasse auftrat und eine selbständige Arbeiterbewegung existierte. Die geschichtlichen Kämpfe in Deutschland erforderten deshalb starke Beachtung, weil sich hier in der Mitte des 19. Jh. ein revolutionäres Zentrum von europäischer Bedeutung herausgebildet hatte. Das Charakteristische bestand darin, daß in Deutschland der Prozeß der Emanzipation der Arbeiterbewegung unter Bedingungen einer noch nicht vollzogenen bürgerlichen Umwälzung stattfand und die revolutionäre Arbeiterbewegung daher vor besonders komplizierten Fragen stand. Sie mußte sofort ihr eigenes politisches Konzept im Kampf um die bürgerliche Demokratie verfechten. Daraus erklärte sich, weshalb auch Lenin sich außerordentlich intensiv gerade mit der deutschen Geschichte beschäftigte. Sie wurde für Lenin in erster Linie deshalb ein zentrales Thema eigener historischer Analysen, weil sich in der deutschen Arbeiterbewegung im 19. Jh. der Marxismus am weitestgehenden durchgesetzt hatte. In der deutschen Arbeiterbewegung hatten Marx und Engels direkt gewirkt und auf sie den größten Einfluß genommen. Für die Weiterentwicklung der proletarischen Politik und Taktik waren gerade die Lehren aus der deutschen Geschichte des 19. Jh. von allergrößter Bedeutung, weil hier seit Entstehen der revolutionären Arbeiterpartei am Vorabend der Achtundvierziger Revolution das dialektische Wechselverhältnis zwischen dem Kampf um Demokratie und dem Ringen um Sozialismus der Drehpunkt der Klassenauseinandersetzungen war. Lenins Stellungnahmen zur deutschen Geschichte sind eil) integrierender Bestandteil des marxistisch-leninistischen Bildes der Geschichte des deutschen Volkes. Hatte Engels schon als revolutionärer Demokrat sein großes Interesse für die ge-
9 schichtliche Vergangenheit des deutschen Volkes immer wieder nachdrücklich bekundet , so erreichte es mit seinem Übergang zum proletarischen Kommunismus sofort auch eine neue Qualität. Genau zu dem Zeitpunkt, als er gemeinsam mit Marx restlos Klarheit Uber die objektiven Gesetzmäßigkeiten gewann, denen die geschichtliche Entwicklung folgte, 9
vgl. F-nftnl«, Friedrich. Die deutschen Volksbücher, in: Marx/Engels,Werke, Ergänzungsbd, 2. Teil, Berlin 1967, S. 13 f f . , und derselbe, Ernst Moritz Arndt, in: Ebenda, S. 118 ff.
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Horst Barte 1/Walter Schmidt
machte er sicn auch daran, von diesen neu gewonnenen theoretischen Positionen aus einen ersten geschlossenen Abriß der neueren deutschen Geschichte, d.h. der Epoche des endgültigen Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, z.i entwerfen. Das Resultat dieser ersten umfangreicheren historischen Bemühungen Engels' war seine leider nicht abgeschlossene Artikelserie über die "Deutschen Zustände" von Herbst 1845 bis Anfang 1846. Sie fanden ihre Fortsetzung und Ergänzung in den politisch-theoretischen Kampfschriften vor und während der Revolution von 1848/1849.
In diesen Schriften wurde sofort das
Generalthema angeschlagen, das alle späteren Betrachtungen zur deutschen Geschichte beherrschte und sich in der Frage zusammenfassen läßt: Unter welchen Bedingungen und auf welchen Wegen setzten sich die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland durch? Die zweite Etappe intensiver Beschäftigung mit Fragen der Geschichte des deutschen Volkes fällt in die Zeit der Auswertung der Erfahrungen der Revolution von 1848/1849. Es ist für die zentrale Stellung des Historischen im Marxismus kennzeichnend, daß Marx und Engels die Klassenkampferfahrungen der Revolutionszeit fast ausschließlich in Form historischer Analysen und Darstellungen theoretisch verallgemeinerten. Während Marx die französische Geschichte seit 1830 und im weiteren Sinne seit 1789 erstmals gründlich vom Standpunkt des historischen Materialismus durchleuchtete, lieferte Engels die ersten geschlossenen historischen Abhandlungen über die bisherigen Höhepunkte im Ringen des deutschen Volkes um die Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts, über die frühbürgerliche Revolution von 1517 bis 1526 und die bürgerlich-demokratische Revolution 12 von 1848/1849.
E r schuf damit das Fundament für das Verständnis der gesamten deut-
schen Geschichte seit dem ausgehenden Mittelalter. Marx' und Engeis' historische Schriften dieser Periode waren alle, wie Lenin schrieb, "glänzende und tiefschürfende Muster13 beispiele der materialistischen Geschichtsschreibung" . Die dritte Etappe und den eigentlichen Höhepunkt in Engels' Schaffen als Historiker bilden die achtziger Jahre. Das Charakteristische der historischen Arbeiten aus dieser Zeit besteht darin, daß Engels die geschichtlichen Auseinandersetzungen der Epoche der 10 11
12 13
Ebenda, Bd 2, Berlin 1962, S. 564 ff. Vgl. vor allem derselbe. Die preußische Verfassung, in: Ebenda, Bd 4, Berlin 1964, S. 30 f f . ; derselbe [Der Status quo in Deutschland], in: Ebenda, S. 40 f f . , sowie die zahlreichen historisch angelegten Artikel Engels' in der "Neuen Rheinischen Zeitung" von 1848/1849. Derselbe, Die deutsche Reichsverfassungskampagne, in: Ebenda, Bd 7, S. 109 ff.; derselbe, Der deutsche Bauernkrieg, in: Ebenda, S. 327 f f . ; derselbe. Der Kommunisten-Prozeß zu Köln, in: Ebenda, Bd 8, S. 398 ff. Lenin. W . I . . Karl Marx, in: Derselbe, Werke, Bd 21, Berlin 1960, S. 47.
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
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Durchsetzung des Kapitalismus in Deutschland und im weiteren Sinne auch die Jahrhunderte des Zerfalls des Feudalismus und des Übergangs zur kapitalistischen Gesellschaftsformation seit dem 15. Jh. jetzt von einer neuen historischen Warte aus tiefer und umfassender darzustellen vermochte. Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre des 19. Jh. war die Epoche des Sieges des Kapitalismus in den fortgeschrittenen Ländern und auch in Deutschland im wesentlichen abgeschlossen; die Pariser Kommune leitete zugleich eine neue Epoche ein. Dessen waren sich Marx wie Engels sehr wohl bewußt. Es galt daher, mehr oder weniger abgeschlossene historische Prozesse, an deren Analyse Marx und Engels seit ihrem Eintritt in die Klassenkämpfe ihrer Zeit schon gearbeitet hatten, vom Standpunkt des schließlich Erreichten nochmals zu durchforschen und dabei nicht nur alle in der Geschichte angelegten Alternativen genauer zu erfassen, sondern auch die Fortschritte sowie die Grenzen der historischen Ergebnisse im Ringen zwischen Revolution und Konterrevolution in Deutschland von 1789 (bzw. 1517/1526) und 1871 nüchtern zu bilanzieren. Das war eine Voraussetzung für die präzise Bestimmung der Aufgaben, die das deutsche Proletariat noch zu lösen hatte. Es ist kein Zufall, daß sich Engels sehr bald nach 1871 durch gründliche historische Studien dieser Aufgabe unterzog. Bereits 1873/1874 wandte er sich wieder intensiv der deutschen Geschichte mit der Absicht zu, einen zusammenhängenden Abriß der Geschichte des deutschen Volkes von 1789 bis zum Beginn der siebziger Jahre des 19. Jh. zu schrei14 ben. In dieser Zeit verfaßte Engels seine unter dem Titel "Varia über Deutschland" 15 bekannt gewordenen Skizzen zur deutschen Geschichte seit dem Ende des 15. Jh. Aus ihnen ist die Gliederung der vorgesehenen Geschichtsdarstellung klar abzulesen. Zwar kam das Buch nicht zustande, aber erste Ergebnisse seiner Forschungen flössen in die Nachbemerkung zum Vorwort seiner Arbeit über den "Deutschen Bauernkrieg" e i n . 1 6 Damals entstanden offenbar auch die Vorarbeiten für das später geschriebene Manuskript über die "Rolle der Gewalt in der Geschichte". Seitdem hat diese Thematik Engels nicht mehr losgelassen.
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"Ich wollte für den Volksstaat etwas über Deutschland schreiben, bin aber in soviel ökonomische und statistische Studien dieserhalb verwickelt worden, daß e s wohl ein Büchlein, wo nicht gar ein Buch werden wird" (Friedrich Engels an Wilhelm Liebknecht am 27. Januar 1874, in: Marx/Engels, Werke, Bd 33, Berlin 1966, S. 615). Vgl. dazu derselbe [.Varia über Deutschland], in: Ebenda, Bd 18, Berlin 1964, S. 589 ff. Vgl. derselbe ["Vorbemerkung zur dritten Auflage "Der deutsche Bauernkrieg"], in: Ebenda, S. 512 ff.
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Horst Bartel/Walter Schmidt Seit Anfang der achtziger Jahre trugen diese Forschungen reiche Früchte in Gestalt
zahlreicher Arbeiten zur deutschen Geschichte. Vier Themenkreise standen im Vordergrund: Erstens beschäftigten Engels die Urgeschichte und die Probleme der Übergangsepoche von Urgesellschaft und Sklaverei zum Feudalismus auf deutschem Boden. Zweitens arbeitete e r die Besonderheiten der Entwicklung Deutschlands im Feudalzeitalter heraus und befaßte sich erneut intensiv mit Reformation und Bauernkrieg und den katastrophalen Folgen ihrer Niederlage. Es war Engels* ausgesprochene Absicht, den "Bauernkrieg" 17 neu zu schreiben und ihn als "Angelpunkt der ganzen deutschen Geschichte" darzustellen. Wesentlich stärker als in den fünfziger Jahren betonte e r nun nicht nur den untrennbaren Zusammenhang von Reformation und Bauernkrieg, sondern wies auch auf den spezifisch bürgerlichen Charakter dieser beiden Bewegungen hin und stellte sie unter diesem BlickWinkel als "Revolution Nr. 1 der Bourgeoisie" 18 und als die erste der "drei großen Ent19 scheidungsschlachten" des europäischen Bürgertums gegen den Feudalismus in den Gesamtzusammenhang der europäischen Geschichte. Mit dieser neuen und umfassenden Einschätzung der Reformation und des Bauernkrieges als einer frühen bürgerlichen Revolution eröffnete Engels der marxistischen Geschichtsschreibung den Weg zu einer umfassenden Analyse dieses wichtigen Höhepunkts der deutschen Geschichte. Drittens bildete das Ergebnis der bürgerlichen Umwälzung in Deutschland im 19. Jh. einen zentralen Gegenstand Engelsscher historischer Analysen. Viertens - und dies stellte einen besonderen Schwerpunkt dar - untersuchte e r tiefgründig das Eingreifen des deutschen Proletariats in die geschichtliche Entwicklung und die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, vor allem in der ersten Etappe ihrer Entwicklung in den dreißiger und vierziger Jahren des All dies läßt deutlich werden, daß Engels zu dem von den Klassikern des MarxismusLeninismus erarbeiteten einheitlichen konzeptionellen Leitfaden der Geschichte des deutschen 17 "Meinen 'Bauernkrieg' arbeite ich ganz um. Wird Angelpunkt der ganzen deutschen Geschichte. Das gibt auch Arbeit. Aber die Vorstudien sind so gut wie fertig" (Friedrich Engels an Friedrich Adolph Sorge am 31. Dezember 1884, in: Ebenda, Bd 36, Berlin 1967, S. 264). Vgl. auch derselbe. Zum Bauernkrieg, in: Ebenda, Bd 21, S. 392; ferner Friedrich Engels an Karl Kautsky am 21. Mai 1895. in: Ebenda, Bd 39, Berlin 1968, S. 482 f . 18 Derselbe, Zum Bauernkrieg, in: Ebenda, Bd21, S. 402. 19 Derselbe, Einleitung [zur englischen Ausgabe "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"], in: Ebenda, Bd 22, Berlin 1963, S. 300. 20 Begonnen hatte Engels damit bereits Ende der sechziger Jahre in seiner ersten MarxBiographie, als e r der Lassalle-Legende offen entgegentrat und als den eigentlichen Beginn der deutschen Arbeiterbewegung die Entstehung und das Wirken des Bundes der Kommunisten klarstellte (vgl. derselbe, Karl Marx, in: Ebenda, Bd 16, Berlin 1964, S. 361 ff.).
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
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Volkes wohl am meisten beigesteuert hat. Aus seiner Feder stammen die zahlreichsten und umfangreichsten Abhandlungen zur deutschen Geschichte. Engels lieferte die erste marxistische Analyse der geschichtlichen Entwicklungsprozesse auf deutschem Boden in 21
der Zeit der Urgesellschaft.
Ihm verdankt die Geschichtswissenschaft die erste histo-
risch-materialistische Darstellung des ersten großen revolutionären Umbruchs in der deutschen Geschichte, der Übergangsepoche von Urgesellschaft und Sklaverei zur Gesell22 schaftsformation des Feudalismus. Er umriß zum erstenmal wissenschaftlich die Beson23 derheiten der Entwicklung Deutschlands im Feudalzeitalter und deren Ursachen. Das zentrale Thema seiner historischen Studien aber war die Uber Jahrhunderte währende Zeit des Zerfalls der feudalen und des revolutionären Übergangs zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung, also jene historischen Prozesse, die die letzte Ausbeuterordnung vorbereiteten, zu ihrer Durchsetzung und damit auch zur Formierung der Klasse führten, die fähig und berufen ist, durch den Sturz des Kapitalismus sowie den Aufbau der ausbeutungsfreien sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft die Vorgeschichte der Menschheit abzuschließen und ihre eigentliche Geschichte einzuleiten. Engels kommt damit das Verdienst zu, als erster den gesetzmäßigen Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland in seiner ganzen Kompliziertheit und WidersprUchlichkeit skizziert zu haben. Engels' besonderes Interesse galt dabei vier Fragenkomplexen: Erstens beschäftigte er sich immer wieder aufs neue mit den beiden revolutionären Wendepunkten in diesem großen Zeitabschnitt von der Wende des 15. zum 16. bis zum 24 letzten Drittel des 19. J h . : mit Reformation und Bauernkrieg von 1517 bis 1526 und mit der Revolution von 1848/1849. Damit stellte er von vornherein klar, daß auch in der deutschen Geschichte die historisch aufsteigende, progressive, revolutionäre Linie des Kampfes der Volksmassen das letztlich Ausschlaggebende und Bestimmende ist. Dies war zugleich eine entschiedene Absage gegen alle Auffassungen, der qualvolle und verkrüppelte Weg der Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts, den Deutschland von der Niederlage der frühbürgerlichen Revolution bis ins 19. Jh. durchmachte, wäre die wesentliche Eigen21 Derselbe. Zur Urgeschichte der Deutschen, in: Ebenda, Bd 19, S. 425 ff. 22 Derselbe, Die Mark, in: Ebenda, S. 315 ff.; derselbe. Fränkische Zeit, in: Ebenda, S. 474 ff.; ferner derselbe. Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, Abschnitte VII, VIII, in: Ebenda, Bd 21. S. 127 ff. 23 Vgl. vor allem derselbe [Varia Uber Deutschland], in: Ebenda, Bd 18, S. 589 ff.; derselbe. Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie, in: Ebenda, Bd 21, S. 392 ff. 24 Über Engels als Historiker des Bauernkrieges vgl. Bensing. Manfred. Friedrich Engels' Schrift über den deutschen Bauernkrieg, ihre aktuelle Bedeutung 1850 und ihre Rolle bei der Herausbildung der marxistischen Geschichtswissenschaft, in: Friedrich Engels' Kampf und Vermächtnis, Berlin 1961, S. 158 ff.
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Horst Bartel/Walter Schmidt
tümlichkeit der deutschen Geschichte.
Wenn Engels wie auch Marx von einer "Misere"
26
in der deutschen Geschichte sprachen
, dann galt diese Feststellung der Charakterisie-
rung der geschichtlichen Unfähigkeit der herrschenden Klassen in Deutschland - des Feudaladels und der Bourgeoisie - , die auch in ihrer Aufstiegsphase ihre progressiven Aufgaben nicht zu lösen vermochten. "Ihre Feststellungen von der 'Misere' in der deutschen Geschichte waren eindeutig gegen die volksfeindlichen Ausbeuterklassen gerichtet und dienten als Waffe im Klassenkampf des Proletariats. Sie dienten der Mobilisierung der Volksmassen zum Kampf für die Beseitigung der Macht der Fürsten und27des Adels, für den Sieg der bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland..." An den revolutionären Höhepunkten der deutschen Geschichte wies Engels die entscheidenden progressiven Traditionen des deutschen Volkes nach und nutzte sie bewußt zur Entwicklung und Förderung des demokratischen Bewußtseins der Volksmassen und des proletarischen Klassenbewußtseins. In diesem Sinne schrieb er in der Einleitung zu seiner Arbeit "Der deutsche Bauernkrieg" im Jahre 1850: "Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition. Es gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder an die Seite stellen können, wo das deutsche Volk eine Ausdauer und Energie entwickelte, die bei einer zentralisierteren Nation die großartigsten Resultate erzeugt h ä t t e . . . Es ist an der Zeit, gegenüber der augenblicklichen Erschlaffung, die sich nach zwei Jahren des Kampfes fast überall zeigt, die ungefügen, aber kräftigen und zähen 28
Gestalten des großen Bauernkriegs dem deutschen Volke wieder vorzuführen." Zweitens galt Engels* - ebenso wie Marx' - besonderes Interesse der Entstehung und Entwicklung jener Klasse und ihrer Bewegung, die in unüberbrückbarem Gegensatz zu den deutschen Ausbeuterklassen stand und einen vollständigen Bruch mit der reaktionären Vergangenheit Deutschlands zu vollziehen sich anschickte: dem Aufstieg der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung, der in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jh. seinen Anfang nahm. In der modernen Arbeiterklasse und ihrem revolutionären Befreiungskampf 25
Bürgerliche Ideologen haben wiederholt versucht, Marx' und Engels' Bild von der deutschen Geschichte in dieser Weise zu mißdeuten. In jüngster Zeit hat sich der westdeutsche "Marxologe" Iring Fetscher darangemacht, die Konzeption von Marx und Engels zur Geschichte des deutschen Volkes zu verfälschen, indem e r in geradezu programmatischer Weise ihre Arbeiten zur deutschen Geschichte "unter den Titel "Die deutsche Misere'" stellt (vgl. Marx. Karl/Engels, Friedrich, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, hg. von Iring Fetscher, Frankfurt/M.-Hamburg 1969, Einleitung, S. 7-14). 26 Friedrich Engels an Franz Mehring am 14. Juli 1893. in: Marx/Engels, Werke, Bd 39, S. 99 ff. 27 Ulbricht, in: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 10, S. 565. 28 Engels, Der deutsche Bauernkrieg, in: Marx/Engels, Werke, Bd 7, S. 329.
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
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erblickte Engels die einzige Garantie f ü r eine echte Wende der deutschen Geschichte zu 29 Demokratie und gesellschaftlichem F o r t s c h r i t t . "Hat die deutsche Bourgeoisie bewiesen, welchen jammervollen Mangel sie leidet an politischer Fähigkeit, Disziplin, Mut, Energie, so hat die deutsche Arbeiterklasse gezeigt, daß sie alle diese Eigenschaften in reichlichem 30 Maß b e s i t z t . " Ihr Kampf, schrieb e r an anderer Stelle, ist " d e r einzig großartige, der einzige, der auf der Höhe der Zeit steht, der einzige, der die Kämpfer nicht ermattet, 31 sondern mit i m m e r neuer Energie versieht" . Die Erfahrungen d e r geschichtlichen Entwicklung haben Engels' wissenschaftliche Erkenntnisse vollauf bestätigt. Engels' Konzeption der deutschen Geschichte erwies sich in allen Punkten bis in die Gegenwart hinein nicht nur als wissenschaftlich tragfähig, sondern auch allen bürgerlichen und rechtsopportunistischen Geschichtsinterpretationen haushoch überlegen. Drittens beschäftigte Engels vorrangig jene Epoche in der deutschen Geschichte, in der sich in Deutschland revolutionäre Lösung der Aufgaben der bürgerlichen Umwälzung sowie Aufkommen und Aufstieg der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung gleichsam ü b e r schnitten: die Zeit von der Großen Französischen Revolution (und im engeren Sinne seit den dreißiger und vierziger Jahren des 19. J h . ) bis zur Reichsgründung und zur P a r i s e r Kommune von 1871. Viertens schließlich legte Engels den Grundstein f ü r das wissenschaftliche Geschichtsbild der deutschen Geschichte von der Reichsgriindung und der P a r i s e r Kommune bis zum Ende des 19. J h . E r begründete, daß nunmehr die Arbeiterklasse ins Zentrum d e r geschichtlichen Bewegung auch in Deutschland gerückt war und ihr Kampf gegen den preußischdeutschen Militärstaat und ihre Vorbereitung auf die künftigen Klassenschlachten um ihre eigene Befreiung den eigentlichen Inhalt dieser Epoche ausmachten. In Engels' Konzeption der deutschen Geschichte im 19. J h . bildete bei der Analyse d e r Dialektik des Ringens der zwei Klassenlinien der revolutionäre Kampf der Volksmassen und besonders der Arbeiterklasse den Kern. Gerade dadurch leistete e r auch den ersten entscheidenden Beitrag zur Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung, die diese f ü r die geschichtliche Entwicklung ausschlaggebende revolutionäre Linie von vornherein ignorierte, leugnete und verleumdete oder sie - wie gerade in jüngster Zeit durch Umdeutung im bürgerlichen Sinne zu fälschen sucht.
29 30 31
Vgl. Friedrich Engels an Eduard Bernstein am 2. März 1883, in: Ebenda, Bd 35, Berlin 1967, S. 443. Derselbe, Einleitung [ z u r englischen Ausgabe "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"], in: Ebenda, B d 2 2 , S. 311. F r i e d r i c h Engels an Eduard Bernstein am 2 5 . / 3 1 . Januar 1882, in: Ebenda, Bd 35, S. 266.
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Horst Bartel/Walter Schmidt Engels' Verdienst besteht zunächst darin, gemeinsam mit Marx zum erstenmal den
Charakter der durch die Französische Revolution von 1789 eingeleiteten weltgeschichtlichen Epoche und somit auch den Inhalt der geschichtlichen Prozesse in Deutschland in dieser Zeit wissenschaftlich exakt bestimmt zu haben. Gestützt auf ihre in der Mitte der vierziger Jahre gewonnenen Erkenntnisse von der gesetzmäßigen Ablösung einer Uberholten Gesellschaftsformation durch eine dem Stand der Produktivkräfte entsprechende neue Gesellschaftsordnung, kennzeichneten sie bereits am Vorabend der Revolution von 1848/1849 die Zerstörung der feudalen Gesellschaft und die volle Durchsetzung der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung als das Wesen der in Deutschland vor sich gehenden geschichtlichen Auseinander32 Setzungen.
Es handelte sich fUr sie von vornherein um die Durchsetzung einer allgemeinen
Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung, die mit der Französischen Revolution von 1789 auch in Deutschland auf die Tagesordnung gesetzt und schon eingeleitet worden war. Von dieser Warte aus gelangten sie zu einer wissenschaftlich begründeten Definition des Charakters und der Aufgaben der in den vierziger Jahren in Deutschland heranreifenden Revolution als bürgerliche Revolution, die mit einer Verspätung von einem halben Jahrhundert und damit aber auch unter neuen, fortgeschritteneren Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung das nachzuvollziehen hatte, was in England im 17. und in Frankreich am Ende des 18. J h . in einem großen revolutionären Akt erreicht worden war: die radikale Beseitigung des Feudalismus und die Installierung der Bourgeoisherrschaft und 33 der bürgerlichen Gesellschaft. Marx und Engels waren jedoch nicht in erster Linie Historiker dieser geschichtlichen Vorgänge, sondern vor allem selbst geschichtliche Akteure, die als die entschiedensten Revolutionäre für die konsequente revolutionär^demokratische Lösung der geschichtlichen Aufgaben dieser Epoche kämpften. Ihre historischen Analysen und Darlegungen waren diesem politischen Ziel untergeordnet, sie waren zugleich politische Kampfschriften der revolutionären proletarischen Partei, in denen ihr Programm fUr die Vollendung der bürgerlichen Umwälzung niedergelegt war. 34 Marx und Engels vermochten gerade deshalb
32
Vgl. dazu die ausgezeichnete Analyse der Schriften von Marx und Engels unter diesem Aspekt von Förder. Herwig, Marx und Engels am Vorabend der Revolution, Berlin 1960. 33 Engels. Friedrich [Der Status quo in Deutschland], in: Marx/Engels, Werke, Bd 4, S. 40 f f . ; Marx. Karl. Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral, in: Ebenda, S. 331 f f . ; Marx. Karl/Engels,Friedrich. Manifest der Kommunistischen Partei, in: Ebenda, S. 492 ff.; Engels. Friedrich. Die Bewegungen von 1847, in: Ebenda, S. 494 f f . ; derselbe. Drei.neue Konstitutionen, in: Ebenda, S. 514 ff. 34 Das gilt im besonderen für das "Manifest der Kommunistischen Partei", die Artikel der "Neuen Rheinischen Zeitung", die "Märzansprache der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten" von 1850 und Engels' Arbeit "Die preußische Militärfragfr und die deutsche Arbeiterpartei".
Friedrich Engels zu einigen Grandproblemen
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den Kern der Klassenkämpfe, die Stellung der einzelnen Klassen und die verschiedenen historischen Alternativen wissenschaftlich exakt zu erfassen. War der Beginn dieser Epoche der deutschen Geschichte mit dem Jahr 1789 schon in Engels' ersten Arbeiten klar gekenn35 zeichnet , so erfolgte in seinen historischen Schriften der achtziger Jahre dann auch die präzise Bestimmung ihres Abschlusses: "Den Abschluß der Periode aber bildet die Kommu36 ne von P a r i s . " Wenn Marx und Engels einerseits klarstellten, daß den geschichtlichen Auseinandersetzungen dieser Epoche in Deutschland objektiv wirkende gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten zugrunde lagen, so legten sie andererseits, um den politischen Kampf richtig führen zu können, jederzeit größtes Gewicht darauf, die spezifischen Formen und Wege und die konkreten historischen Bedingungen, unter denen sich die objektiven Gesetzmäßigkeiten des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus durchsetzten, herauszuarbeiten. Die konsequente Einbettung der deutschen Geschichte in die weltgeschichtliche Entwicklung und die Methode des historischen Vergleichs mit der Entwicklung in den damals fortgeschrittensten Ländern England und Frankreich, die ihre bürgerlichen Revolutionen bereits mit E r folg durchgeführt hatten, waren daher von Anfang an hervorstechende Merkmale Engelsscher 37 Geschichtsbetrachtung. Vor allem die französische Geschichte galt ihm ebenso wie Marx geradezu als Maßstab, weil hier "die geschichtlichen Klassenkämpfe mehr als anderswo jedesmal bis zur Ent38 Scheidung durchgefochten w u r d e n . . . " Das betraf in e r s t e r Linie die welthistorische Epoche der bürgerlichen Revolutionen, die durch die Große Französische Revolution von 1789 bis 1794 auf dem europäischen Kontinent eingeleitet worden war, und den in den dreißiger Jahren des 19. Jh. beginnenden Kampf des aufstrebenden Proletariats gegen die herrschende Bourgeoisie, der in Frankreich sofort in besonders ausgeprägten, scharfen Formen ausgefochten wurde. Engels verwies noch 1895 mit allem Nachdruck darauf, daß "wir alle, was unsere Vorstellungen von den Bedingungen und dem Verlauf revolutionärer Bewegungen betraf, unter dem Bann der bisherigen geschichtlichen Erfahrung, namentlich derjenigen Frankreichs" standen. "Dieseh aletztere war es ja gerade, die die ganze europäische Geschichte seit 1789 beherrscht t t e . . . " 39 35 Vgl. Engels, Deutsche Zustände, in: Marx/Engels, Werke, Bd 2, S. 564. 36 Derselbe. Einleitung [zu "Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850"], in: Ebenda, Bd 22, S. 516. 37 Vgl. Friedrich Engels an Franz Mehring am 14. Juli 1893, in: Ebenda, Bd 39, S. 99 f . 38 Derselbe, Vorrede zur dritten Auflage von Marx' Schrift "Der achtzehnte Brumaire", in: Ebenda, Bd 21, S. 248. 39 Derselbe. Einleitung [zu "Die Klassenkämpfe in Frankreich"], in: Ebenda, Bd 22, S. 512.
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Horst Bartel/Walter Schmidt Als eine der wichtigsten Besonderheiten der bürgerlichen Revolution im weiten Sinne
des Wortes kennzeichneten Marx und Engels die Tatsache, daß sie nicht nur den Feudalismus zu beseitigen und die bürgerliche Gesellschaft zur herrschenden Ordnung zu machen hatte, sondern daß in ihrem Verlauf zugleich eine historisch längst überholte, in den westeuropäischen Ländern in der Zeit der Herrschaft der absoluten Monarchien erledigte Aufgabe mitgelöst werden mußte: die Überwindung der feudalstaatlichen Zersplitterung und die Herstellung eines bürgerlichen Nationalstaates. "Seit dem Ausgang des Mittelalters arbeitet die Geschichte auf die Konstituierung Europas aus großen Nationalstaaten hin. Solche Staaten allein sind die normale politische Verfassung des europäischen h e r r schenden Bürgertums und sind ebenso unerläßliche Vorbedingung zur Herstellung des harmonischen internationalen Zusammenwirkens der Völker, ohne welches die Herrschaft des 40 Proletariats nicht bestehn kann." Mit dem Aufschwung der kapitalistischen Entwicklung, die im 19. Jh. durch die industrielle Revolution und die Herausbildung des Industriekapitalismus bestimmt wurde, war die Beseitigung der staatlichen Zersplitterung zu einer ökonomischen Notwendigkeit ersten Ranges geworden. Die Zersplitterung galt Engels als der größte Hemmschuh für die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise in Deutschland. Daher nahm die Frage der Herstellung eines einheitlichen Nationalstaats im Verlauf der bürgerlichen Umwälzung in Deutschland einen zentralen Platz ein und stand auch an erster Stelle im revolutionären Programm von 41 Marx und Engels.
Durch Gegenüberstellung Deutschlands und der Länder Westeuropas
in der Frage der Zentralisation verdeutlichten sie in aller Schärfe die Zurückgebliebenheit der deutschen Verhältnisse und die besondere Problematik der deutschen bürgerlichen Revolution. "In Deutschland ist der Kampf der Zentralisation mit dem Föderativwesen der Kampf zwischen der modernen Kultur und dem Feudalismus. Deutschland verfiel in ein verbürgerlichtes Feudalwesen in demselben Augenblicke, wo sich die großen Monarchien im Westen bildeten... Es verarmte, während sie sich bereicherten. Es verbauerte, während sie großstädtisch wurden... Selbst nur vom bürgerlichen Standpunkt betrachtet, ist die widerspruchslose Einheit Deutschlands die erste Bedingung, um es aus der bisherigen Misere zu erretten und den Nationalreichtum zu erschaffen."42 In dieser Ein-
40 41 42
Derselbe, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Ebenda, Bd 21, S. 407. Vgl. vor allem die "Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland" vom März 1848, in: Ebenda, Bd 5, Berlin 1964, S. 3. Programme der radikal-demokratischen Partei und der Linken zu Frankfurt, in: Ebenda, S. 42.
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
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Schätzung wird aber auch klar, daß Marx und Engels - und darin besteht ihr eigentliches Verdienst - die nationale ProblematiK stets als ein abgeleitetes, ein Teilproblem des großen sozialen Umgestaltungsprozesses vom Feudalismus zum Kapitalismus begriffen. Oeshalb sahen sie den eigentlichen Inhalt der nationalen Einigungsbewegung in Deutschland in der Beseitigung der feudalen Verhältnisse, im Sturz der Macht der reaktionären Feudalklasse, die das Hauptinteresse an einer staatlichen Zersplitterung hatte. Zugleich stellten sie den bürgerlichen Klassencharakter der sich konstituierenden deutschen Nation und des zu erringenden deutschen Nationalstaates heraus. War die Bildung dieses Nationalstaates ein Teil der bürgerlichen Revolution, so mußte dessen Gestaltung entscheidend davon abhängen, ob sich die revolutionären oder konterrevolutionären Kräfte im Prozeß der bürgerlichen Umwälzung durchsetzen. Das epochale Ereignis der Französischen Revolution von 1789, "das die moderne Ge43 sellschaft bis in ihre tiefste Grundlage erschüttert hat" , galt Engels wie Marx als entscheidende Zäsur in der Geschichte des deutschen Volkes. Dieses Jahr war für sie der Ausgangspunkt der bürgerlichen Umwälzung auch in Deutschland. In Engels' Sicht wurde die bürgerliche Umgestaltung in Deutschland durch die direkten und indirekten Wirkungen der Französischen Revolution eingeleitet. Engels veranschlagte deren revolutionierenden Einfluß um so höher, ja sah ihn geradezu als entscheidend für den weiteren gesellschaftli44 chen Fortschritt in Deutschland an
, als - infolge des durch das Scheitern der frühbürger-
lichen Revolution verursachten allgemeinen Niedergangs Deutschlands - die Kraft der progressiven gesellschaftlichen Kräfte nicht ausreichte, um die historisch notwendige bürgerliche Umgestaltung allein in Gang zu setzen. Bereits 1845 schrieb Engels, daß "der alte verfaulte Zustand Deutschlands 1792 bis 1813 von den französischen Armeen 45 an der Wurzel getroffen wurde" . "Sie brachen eine Lichtung"; und ebenso wie Hegel und Goethe erschien auch ihm zeit seines Lebens Napoleon in erster Linie als der "Repräsentant der Revolution, der Verkünder ihrer Grundsätze, der Zerstörer der alten feudalen 46 Gesellschaft"
. An dieser Sicht der geschichtlichen Ereignisse um die Wende vom 18.
zum 19. Jh. hielt Engels auch später fest. Noch 1873 umriß er in seinen "Varia über Deutschland" die Situation in Deutschland am Ende des 18. Jh. in zugespitzter, weil aphoristischer FormRevolution wie folgt: brachte "Die reine Sackgasse; nur Hilfe von außen konnte Hilfejedoch kommen - die Französische sie." 47 Unter der verstand Engels nicht nur 43 44 45 46 47
Engels. Deutsche Zustände, in: Ebenda, Bd 2, S. 564. Vgl. vor allem ebenda, S. 564 f f . , aber auch Friedrich Engels an W. Borgius am 25. Januar 1894, in: Ebenda, Bd 39, S. 206. Derselbe. Deutsche Zustände, in: Ebenda, Bd 2, S. 578. Ebenda, S. 568. Derselbe [Varia über Deutschland], in: Ebenda, Bd 18, S. 592 f .
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die direkten Eingriffe der französischen Revolutionsarmee und später Napoleons in die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland. Als eine Folge der Französischen Revolution betrachtete e r auch die nach 1806 in Preußen eingeleiteten bürgerlichen R e f o r m e n . ^ Gegen die "offizielle und nationalservile Geschichtsschreibung", die die "altpreußische Bauernbeschwindlung als ein weltbefreiendes Ereignis" darzustellen suchte, setzte e r die Französi49 sehe Revolution als "die eigentliche Ursache der ganzen Ablösung" . In den unter dem Eindruck der Niederlage von 1806 in Preußen eingeleiteten Reformen erblickte Engels den Beginn der bürgerlichen Umwälzung in dem nach Österreich größten und mächtigsten deutschen 50 Teilstaat. Auf dem Hintergrund der sich aus der kapitalistischen Entwicklung ergebenden Notwendigkeit zur Konstituierung selbständiger bürgerlicher Nationalstaaten wertete Engels auch den Charakter der antinapoleonischen Kriege, insbesondere der Befreiungskriege von allgemeine Völkerkrieg Napoleon warschrieb der Rückschlag allen 1813/1814. Völkern von"Der Napoleon mit Füßen getretenengegen Nationalgefühls", e r 1887 51des undbei griff damit einen Gedanken auf, den er in seiner Arbeit über "Ernst Moritz Arndt" schon als 52 revolutionärer Demokrat geäußert hatte. Er stellte die Befreiungskriege in den großen geschichtlichen Zusammenhang der durch die Französische Revolution eingeleiteten und geprägten welthistorischen Epoche und hob vor allem die eigenständige revolutionäre Aktivität der Volksmassen hervor, die die "Volkserhebung von 1813" trotz aller qualitativen 53 Unterschiede doch verwandt machte mit der Großen Französischen Revolution. "In Preußen stand das ganze Volk auf", schrieb Engels 1890, "und zwang den feigen Friedrich 54 Wilhelm III. zum Krieg gegen Napoleon." Unter diesem Blickwinkel erfolgte auch die hohe Wertschätzung der preußischen Militärreformer. "Das Militärsystem als Ganzes, das
48 Derselbe. Deutsche Zustände, in: Ebenda, Bd 2, S. 573. 49 Derselbe. Wilhelm Wolff, in: Ebenda, Bd 19, S. 74. 50 Derselbe [Vorbemerkung zur dritten Auflage "Der deutsche Bauernkrieg"], in: Ebenda, Bd 18, S. 513. 51 Derselbe. Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Ebenda, Bd 21, S. 407. 52 "Denn nicht die Abschüttelung der Fremdherrschaft, . . . nicht die errungene ' Freiheit' war das größte Resultat des Kampfes, sondern dies lag in der Tat selbst . . . daß wir uns bewaffneten, ohne die allergnädigste Erlaubnis der Fürsten abzuwarten, ja die Machthaber zwangen, an unsere Spitze zu treten, kurz, daß wir einen Augenblick als Quelle der Staatsmacht, als souveränes Volk auftraten, das war der höchste Gewinn jener J a h r e . . . " (derselbe. Ernst Moritz Arndt, in: Ebenda, Ergänzungsbd, 2. Teil, S. 120 f . ) . 53 " . . . an die Verwandtschaft dieser ungeheuren Volkstat (der Großen Französischen Revolution - H. B./W. Sch.) mit der Volkserhebung von 1813 dachte niemand..." (ebenda, S. 122). 54 Derselbe, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, in: Ebenda, Bd 22, S. 28.
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
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dann in Preußen eingeführt wurde, war ein Versuch, den Volkswiderstand gegen den Feind 55 zu organisieren, soweit das in einer absoluten Monarchie Uberhaupt möglich w a r . " Mehr als der Charakter der antinapoleonischen Befreiungskriege beschäftigten Engels deren negative Ergebnisse, die in den Beschlüssen des Wiener Kongresses von 1815 ihren Niederschlag fanden und zu einer Restauration der politischen Herrschaft der reaktionären Adelsklasse führten. " . . . Deutschland bot ebenso wie jedes andere Land das Bild einer schamlosen Reaktion, nur daß es einen Zug von Furchtsamkeit und Schwäche aufzuweisen 56 hatte..."
Gleichwohl machte Engels von Anfang an darauf aufmerksam, daß eine einfache
Rückkehr zu den Verhältnissen vor 1789 auch in Deutschland ausgeschlossen war. Alle Versuche, die bürgerlichen Umgestaltungen schlankweg rückgängig zu machen, scheiterten. Die herrschende Adelsklasse war vielmehr gezwungen, eine Adaption an die neuen sich entwickelnden kapitalistischen Verhältnisse zu vollziehen. Engels hat als erster die komplizierte Spezifik der gesellschaftlichen und vor allem der politischen Zustände umrissen, die die geschichtliche Entwicklung in Deutschland nach 1815 charakterisierte: "Man hatte es fUr unmöglich befunden, das alte System von 1789 in Deutschland wieder einzuführen. Die veränderten Zeitumstände zwangen die Regierungen, ein neues System zu erfinden, das Deutschland eigentümlich war. Die Aristokratie war gewillt zu regieren, aber zu schwach; das Bürgertum war weder gewillt zu regieren noch stark genug dazu - beide waren jedoch stark genug, um die Regierung zu einigen Konzessionen zu veranlassen. Die Regierungsform war daher eine Art Bastardmonarchie. In einigen Staaten schuf eine Verfassung einen Anschein von Garantie für die Aristokratie und das Bürgertum; für die übrigen gab es überall eine bürokratische Regierung - das ist eine Monarchie, die angeblich die Interessen des Bürgertums durch eine gute Verwaltung wahrnimmt, eine Verwaltung, die jedoch von Aristokraten geleitet und deren Tätigkeit vor den Augen des Publikums soviel wie möglich verborgen gehalten wird. Die Folge davon ist die Entstehung einer besonderen Klasse von administrativen Regierungsbeamten, in deren Händen die Hausmacht konzentriert ist und die gegen alle anderen Klassen 57 in Opposition steht. Es ist die barbarische Form der Herrschaft des Bürgertums." In der Schwäche der progressiven Kräfte im Innern Deutschlands, die auch einen restaurativen Rückschlag nach dem Sturz Napoleons und der Beseitigung der französischen Fremdherrschaft durch die Befreiungskriege von 1813/1814 nicht zu verhindern vermochten, sah Engels ein Charakteristikum der deutschen Geschichte zu Beginn der bürgerlichen Umge55
Derselbe, Der Kampf in Frankreich, in: Ebenda, Bd 17, S. 170; siehe auch derselbe, Preußische Franktireure, in: Ebenda, S. 203 ff. 56 Derselbe. Deutsche Zustände, in: Ebenda, Bd 2, S. 575. 57 Ebenda, S. 581.
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staltung. Das galt sowohl für die Zeit der französischen Revolutionskriege und der antinapoleonischen Befreiungskämpfe als auch für die Periode unmittelbar nach 1815. 58 Dieser Umstand prägte wesentlich Verlauf und erste Ergebnisse der bürgerlichen Umwälzung. Die Beseitigung des Feudalismus erfolgte nicht auf einen Schlag, sondern gleichsam stückweise und in mehreren Schüben. Auch wies der Grad der revolutionären Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse von Anfang an vor allem auf dem Lande in den einzelnen Landesteilen außerordentlich große Unterschiede auf. Dafür war letztlich ausschlaggebend, daß die Macht der reaktionären Feudalklasse nicht gebrochen wurde und sie deshalb die bürgerliche Umgestaltung nicht nur hemmen, sondern auch zu ihren Gunsten ausnutzen konnte. Während im Linksrheinischen der Feudalismus schon zu Beginn des 19. Jh. mit Stumpf 59 und Stiel ausgerottet wurde
, begann die Beseitigung des Feudalismus auf dem Lande
in den meisten Teilen Deutschlands, insbesondere in Ostelbien, nur schleppend und vor allem auf dem Wege der Ablösung, der den für die Bauern ungünstigen Weg der Herstellung fift bürgerlicher Verhältnisse in der Landwirtschaft darstellte.
Engels gab, die Verallgemei-
nerungen Wilhelm Wolfis aus dessen "Schlesischer Milliarde" von 1849 fortführend, die erste geschlossene Darstellung des "preußischen Weges" der Entwicklung des Kapitalismus in 61 der Landwirtschaft.
Mit diesem Weg wurde aber eine Entwicklung eingeleitet, die dadurch
charakterisiert war, daß sich der gesellschaftliche, bürgerlich-kapitalistische Fortschritt wiederum in verkrüppelter, für die Volksmassen besonders qualvoller Form durchzusetzen drohte. Doch war diese Entwicklung zunächst nicht irreversibel, sondern korrigierbar. Die revolutionär-demokratische Alternative zu diesem von den reaktionären Klassen geprägten Weg bürgerlicher Umgestaltung war im revolutionären Kampf der Bauern und im Wirken der freilich schwachen revolutionär-demokratischen Kräfte (von Engels Georg Forster ausdrücklich erwähnt) 62 zwar von Anfang an vorhanden. Dochdenen wurden diese
58
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"So bestand die revolutionäre Partei in Deutschland von 1815 bis 1830 nur aus Theoretikern. Sie rekrutierte sich aus den Universitäten; sie bestand ausschließlich aus Studenten" (ebenda). Vgl. auch: " . . . und sogar die aus der ökonomischen Elendslage Deutschlands von 1648 bis 1830 entspringende tödliche Ermattung und Impotenz des deutschen Spießbürgers . . . war nicht ohne ökonomische Wirkung. Sie war eines der größten Hindernisse des Wiederaufschwungs und wurde erst erschüttert dadurch, daß die Revolutions- und Napoleonischen Kriege das chronische Elend akut machten..." (Friedrich Engels an W. Borgius am 25. Januar 1894, in: Ebenda, Bd 39, S. 206). Derselbe. Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, in: Ebenda, Bd 22, S. 488; derselbe, Die deutsche Reichs Verfassungskampagne, in: Ebenda, Bd 7, S. 115 ff. Derselbe, Wilhelm Wolff, in: Ebenda, Bd 19, S. 74, 82; derselbe. Die Mark, in: Ebenda, S. 328. Engels vergleicht interessanterweise bereits die Agrarentwicklung in Preußen mit der in Rußland nach 1861 (vgl. derselbe, Wilhelm Wolff, in: Ebenda, S. 74). Derselbe, Deutsche Zustände, in: Ebenda, Bd 2, S. 577.
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
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Kräfte erst in dem Maße zu einer realen geschichtlichen Macht, wie sich in Deutschland selbst Hegemon und Triebkräfte der bürgerlichen Revolution formierten und in der Revolution von 1848/1849 zum Entscheidungskampf antraten. Der Zeitraum, in dem sich diese grundlegende Veränderung im Kräfteverhältnis der Klassen vollzog und eine revolutionäre Lösung der Aufgaben der bürgerlichen Umwälzung in Angriff genommen wurde, umfaßt die dreißiger und vierziger Jahre des 19. J h . In diesen zwei Jahrzehnten erfolgte der qualitative Umschlag. Auf diesen entscheidenden Wandel in den Klassenkampfbedingungen in Deutschland hat Engels immer wieder das Augenmerk gelenkt und die Zeit der Vorbereitung und Durchführung der bürgerlich-demokratischen Revolution in seinen historischen Arbeiten sowohl unmittelbar nach der Achtundvierziger Revolution als auch in den achtziger 63 Jahren darum stets als einen einheitlichen Komplex behandelt. Mit den Auswirkungen der französischen Revolution von 1830 auf Deutschland setzte der Wandel ein, der mit dem Übergang der preußischen Bourgeoisie ins Lager der Opposition 1840 und dem Auftreten der Arbeiterklasse innerhalb Deutschlands in den 40er Jahren eine neue Stufe erreichte und in der Revolution von 1848/1849 seinen Höhepunkt fand. Die gesamte nachfolgende geschichtliche Entwicklung in Deutschland wurde durch diese neuen Bedingungen, besonders das Auftreten der Arbeiterklasse und die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848/1849 geprägt. Sie stand nicht mehr - wie die Zeit nach 1789 - im Zeichen der Französischen Revolution, sondern der deutschen bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/1849, die selbst allerdings nur Teil einer breiten europäischen Revolutionsbewegung war und in die die Arbeiter bereits als Klasse eingriffen. "Und doch war sie die Periode der Vorbereitung Deutschlands für die Revolution von 1848", schrieb Engels dazu, "und alles, was seitdem bei uns geschehen, ist nur eine Fortsetzung von 1848, nur Testamentsvollstreckung der Revolution."^ Von größter Bedeutung für die neue Qualität der geschichtlichen Entwicklung war, daß jetzt die Arbeiterklasse als politische Kraft in die Klassenauseinandersetzungen zwischen feudaler Reaktion und bürgerlichem Fortschritt einzugreifen begann. Auch diese Zäsur sah ,
63
Vgl. derselbe, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: Ebenda, Bd 8, S. 7 ff.; derselbe. Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Ebenda, Bd 21, S. 401 ff. j derselbe. Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Ebenda, S. 265 f f . , und Engels' Arbeiten zur Geschichte des Bundes der Kommunisten. Obwohl Engels in einigen Schriften das Jahr 1815 stark heraushebt, lag für ihn der Zeitpunkt, an dem in Deutschland selbst die Massen aktiv zu werden begannen, erst in den dreißiger und vierziger Jahren (vgl. dazu auch ebenda, Bd 2, S. 582; Bd 21, S. 411 f . ) . 64 Derselbe. Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Ebenda, S. 265.
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Engels auf weltgeschichtlichem Hintergrund, im Zusammenhang mit dem selbständigen Auftreten der Arbeiterbewegung in den dreißiger und vierziger Jahren in England, Frank65 reich und Deutschland.
Bereits in ihren Schriften vom Vorabend der Revolution von
1848/1849 kennzeichneten Marx und Engels dies als die wichtigste Besonderheit der deutschen bürgerlichen Revolution, die eine Folge der fortgeschrittenen weltgeschichtlichen Bedingungen war, unter denen sie heranreifte und stattfand. Die sich aus dem Eintritt der Arbeiterklasse in die Arena des Klassenkampfes ergebenden Konsequenzen für den weiteren Gang der bürgerlichen Umwälzung in Deutschland bildeten einen Schwerpunkt in allen späteren historischen Arbeiten Engels'. Er arbeitete vor allem heraus, daß die revolutionären Kräfte damit eine wesentliche Verstärkung erfuhren und die Arbeiterklasse nicht nur den größten Anteil an den revolutionären Kämpfen hatte und deren Hauptlast trug, sondern sich auch als entschiedenster Vorkämpfer der Sache der bürgerlichen Demokratie erwies. Das galt in erster Linie für die Revolution von 1848/1849. "Die Revolutionen waren damals überall das Werk der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse war es, die die Barrikaden 66 errichtete und ihr Leben in die Schanze schlug." Freilich verrichteten 1848 "unter prole67 tarischer Fahne proletarische Kämpfer nur die Arbeit der Bourgeoisie"
.
Engels stellte ebenso klar, daß das deutsche Proletariat wegen seiner zahlenmäßigen Schwäche, politischen Zurückgebliebenheit und ideologischen Unreife weder 1848/1849 Führungskraft für die bürgerliche Revolution sein noch unter den schon weiter fortgeschrittenen, günstigeren Verhältnissen der sechziger Jahre
den Kampf zum revolutionären
Sturz der Dynastien führen konnte. E r ließ keinen Zweifel daran, daß die Masse der gerade zu politischem Leben erwachenden deutschen Arbeiter noch fast vollständig unter bürgerlichem und kleinbürgerlichem Einfluß stand und historisch nur als linker vorwärtsdrängen68 der Flügel der bürgerlichen Demokratie aufzutreten vermochte. Gleichwohl existierte vor und während der Revolution von 1848/1849 bereits eine kleine bewußte Vorhut in Gestalt des Bundes der Kommunisten, dessen historischen Platz und Rolle als erste revolutionäre deutsche Arbeiterpartei Engels umfassend bestimmte. Vor allem zahlreiche seiner historischen Arbeiten aus den achtziger Jahren waren diesem
65 66 67 68
Derselbe, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: Ebenda, Bd 19, S. 207, 240. Deigelbe, Anden italienischen L e s e r , in: Ebenda, Bd 22, S. 365. Derselbe, Vorwort [ z u r polnischen Ausgabe des "Manifests der Kommunistischen Partei"] (1892), in: Ebenda, S. 283. Derselbe. Marx und die "Neue Rheinische Zeitung" 1848 bis 1849, in: Ebenda, Bd 21, S. 17 f .
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen Thema gewidmet.
69
165
In ihnen begründete Engels generell die marxistische Konzeption der
Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in der Periode ihrer Lostrennung von Bourgeoisie und Kleinbürgertum von den dreißiger Jahren bis zum Ende der sechziger Jahre des 19. Jh. Sie läßt sich in fünf Punkten zusammenfassen: Marx' und Engels' erstes und wichtigstes Verdienst bestand darin, daß sie die Notwendigkeit der Emanzipation des Proletariats vom Einfluß der Bourgeoisie und seine Entwicklung zu einer selbständigen politischen Klassenkraft durch Bildung einer eigenen politischen Partei als ersten Schritt auf dem Wege seiner Befreiung begründeten. Die "Parteibildung des Proletariats" kennzeichneten sie als die erste Bedingung für den erfolgreichen Kampf und für den Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung. In Deutschland kam noch hinzu, daß die Arbeiterklasse schon im Prozeß ihrer Formierung in die Kämpfe der bürgerlichen Revolution eingreifen mußte und daher in besonderem Maße einer politisch selbständigen Partei bedurfte. Damit war aber auch der Inhalt der ersten Hauptperiode der Geschichte der Arbeiterbewegung bestimmt: die Lostrennung vom Einfluß der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums und der Zusammenschluß der fortgeschrittenen Teile des Proletariats in 70 einer politischen Klassenpartei. Engels definierte zweitens das Grundproblem der Geschichte der Arbeiterbewegung in dieser Periode ihrer Verselbständigung: das Verschmelzen von Marxismus und element a r e r Arbeiterbewegung. Am klarsten formulierte er dies in einer knappen Skizze über die Herausbildung des Bundes der Kommunisten: "Der deutsche Sozialismus datiert lange vor 1848. Er wies anfangs zwei unabhängige Strömungen auf. Einerseits eine reine Arbeiterbewegung. . . Dann eine theoretische Bewegung... diese Richtung wird gleich von vornherein beherrscht durch den Namen Marx. Das 'Kommunistische Manifest' vom Januar 1848 bezeichnet die Verschmelzung beider Strömungen, eine Verschmelzung vollendet und besie71 gelt im Glutofen der Revolution..." Dieser Grundgedanke findet sich dann auch bei der Darlegung der Aufgabe der I. Internationale in den sechziger Jahren wieder. 72 69
Vgl. derselbe. Wilhelm Wolff, in: Ebenda, Bd 19, S. 53 ff.; ferner derselbe [Georg Weerth, der erste und bedeutendste Dichter des deutschen Proletariats] , in: Ebenda, Bd 21, S. 5 f f . ; derselbe. Vorwort [zu "Karl Marx vor den Kölner Geschwornen"], in: Ebenda, S. 198 ff.; derselbe, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: Ebenda, S. 206 f f . ; derselbe. Marx und die "Neue Rheinische Zeitung", in- Ebenda S. 16 ff. 70 Vgl. dazu Bartel. Horst/Schmidt. Walter. Zur Entwicklung der Auffassungen von Marx und Engels Uber die proletarische Partei, in: Marxismus und Arbeiterbewegung Berlin 1970, S. 7 ff. 71 Engels. Friedrich. Der Sozialismus in Deutschland, in: Marx/Engels. Werke, Bd 22, S. 248. 72 Derselbe. Vorrede [ z u r englischen Ausgabe des "Manifests der Kommunistischen Partei"] (1888), in: Ebenda, Bd 21, S. 353.
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Horst Barte 1/Walter Schmidt Drittens arbeitete Engels heraus, daß sich der Parteibildungsprozeß des deutschen
Proletariats zwischen 1830 und 1871 in zwei Etappen vollzog, deren erste die Periode der Entstehung und Entwicklung des Bundes der Kommunisten umschloß und deren zweite durch die Formierung der Eisenacher Partei unter dem Einfluß der I. Internationale 73 und in Auseinandersetzung mit dem Lassalleanismus Charakterisert war. Viertens stellte Engels als erster die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in dieser Periode in mehreren Arbeiten zusammenhängend dar. Das gilt vor allem fUr die erste Etappe, die Geschichte des Bundes der Kommunisten, deren revolutionäre Traditionen wachzuhalten er als sein besonderes Anliegen betrachtete. Er zerstörte damit von vornherein die noch heute von der bürgerlichen und sozialdemokratischen Geschichtsschreibung genährte Legende, nach der angeblich nicht Marx, sondern74Lassalle an der Wiege der modernen Arbeiterbewegung in Deutschland gestanden habe. Fünftens stand seit dem Vormärz die Frage nach der Stellung und den Aufgaben des deutschen Proletariats und seiner revolutionären Partei in den Kämpfen zur Beseitigung des Feudalismus und zur Durchsetzung einer revolutionären bürgerlichen Demokratie im Zentrum der Überlegungen von Engels wie von Marx. Es war eine charakteristische Besonderheit der bürgerlichen Revolution in Deutschland, die Engels als erster herausarbeitete, daß das eigentliche revolutionäre Alternativprogramm zu den von den Junkern unter dem Druck der ökonomischen Entwicklung und der Kämpfe der Volksmassen unternommenen Versuchen, die bürgerliche Umwälzung auf einem ihnen genehmen Wege zu vollziehen, nicht von den bürgerlichen Klassen, sondern von den politischen Repräsentanten des Proletariats entwickelt und verfochten wurde. 1884 umriß Engels dieses Programm wie folgt: "Das Interesse des Proletariats verbot ebensosehr die Verpreußung Deutschlands wie die Verewigung der Kleinstaaterei. Es gebot die endliche Vereinigung Deutschlands zu einer Nation, die allein den von allen überkommenen kleinlichen Hindernissen gereinigten Kampfplatz herstellen konnte, auf dem Proletariat und Bourgeoisie ihre Kräfte messen sollten. Aber es verbot ebensosehr die Herstellung einer preußischen Spitze; der preußische Staat mit seiner ganzen Einrichtung, seiner Tradition und seiner Dynastie war gerade der einzige ernsthafte innere Gegner, den die Revolution in Deutschland niederzuwerfen h a t t e . . . Auflösung des preußischen, Zerfall des österreichischen Staates, wirkliche Einigung
73 Derselbe, Der Sozialismus in Deutschland, in: Ebenda, Bd 22, S. 248 f . ; ferner derselbe. Karl Marx und der Sozialismus des Herrn Bismarck, in: Ebenda, Bd 19, S. 97; derselbe, Karl Marx, in: Ebenda, Bd 16, S. 361. 74 Vgl. ebenda. Über Marx als Historiker des Bundes der Kommunisten vgl. Kandel', E . P . , Marks i problemy istorii sojuza kommunistov, in: Marks - istorik, S. 475 ff.
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
167
Deutschlands als Republik - ein anderes revolutionäres, nächstes Programm konnten wir 75 nicht haben." Es war 1848/1849 die proletarische Partei, die jene Maßregeln verfocht, die "erst das Schlachtfeld präparieren und die Bahn fegen - eine unteilbare Republik usw., Sachen, die wir damals vertreten mußten gegen die Leute, deren natürlicher 76 und normaler Beruf es gewesen wäre, sie durchzusetzen oder wenigstens zu fordern" . Ja, infolge des Verrats der Bourgeoisie sah sich die kleine bewußte Vorhut des deutschen Proletariats, ohne schon in der Lage zu sein, die Führung der Revolution zu Ubernehmen, in bestimmten Entscheidungssituationen, wie in der Steuerverweigerungskampagne von 1848, gezwungen, 77 "den Kampf.da auf [zu] nehmen, wo die Bourgeoisie vom Schlachtfeld ausgerissen war" . Die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848/1849 stand zeitlebens im Mittelpunkt des politischen wie historischen Interesses von Marx und Engels. In der Periode der Vorbereitung dieser Revolution begann ihr bewußtes politisches Leben, wurden sie zu Theoretikern und FUhrern des revolutionären Proletariats und konzipierten dessen politisches Programm für diese Revolution. Die Revolution selbst gehört zu den Höhepunkten ihrer praktisch-politischen Tätigkeit, und der Eindruck sowie die Erfahrungen dieser Revolution bestimmten ihre gesamte weitere politische und theoretische Entwicklung. "In der Tätigkeit von Marx und Engels selbst tritt die Periode ihrer Beteiligung am revolutionären Massenkampf 1848/1849 als zentraler Punkt hervor", schrieb Lenin. "Von diesem Punkt gehen sie aus bei der Beurteilung der Geschicke der Arbeiterbewegung und der Demokratie der verschiedenen Länder. Zu diesem Punkt kehren sie stets zurück, um das innere Wesen der verschiedenen Klassen und ihrer Tendenzen in klarster und reinster Form zu bestimmen. Vom Standpunkt der damaligen revolutionären Epoche beurteilen sie stets die späteren, weniger bedeutenden politischen Gebilde, Organisationen, politischen Aufgaben und politi78 sehen Konflikte." Es gibt wohl kein Ereignis der deutschen Geschichte, das Engels so'umfassend und tiefschürfend untersucht und dargestellt hat wie die Revolution von 1848/1849. Auf sie kam e r in der Tat immer wieder zurück. Aufgaben, Charakter, Verlauf und Ergebnisse dieser Revolution waren Gegenstand zahlreicher seiner historischen Schriften. Ihm kommt das Verdienst zu, die historische Stellung der deutschen Revolution von 1848/1849 als erster wissenschaftlich bestimmt zu haben. Ihren speziellen Platz in der deutschen Geschichte sah Engels vor allem durch folgende Faktoren begründet: 75 Engels. Marx und die "Neue Rheinische Zeitung", in: Marx/Engels, Werke, Bd 21, S. 19 f. 76 Friedrich Engels an Joseph Weydemeyer am 12. April 1853, in: Ebenda, Bd 28, Berlin 1965, S. 580. 77 Derselbe. Wilhelm Wolff, in: Ebenda, Bd 19, S. 63. 78 Lenin. W.I.. Gegen den Boykott, in: Derselbe, Werke, Bd 13, Berlin 1963, S. 24.
168
Horst Bartel/Walter Schmidt Erstens begriff Engels die Revolution von 1848/1849 als den revolutionären Höhepunkt
in der gesamten Epoche der bürgerlichen Umwälzung in Deutschland. Es war die Periode höchster Kraftentfaltung der Volksmassen als Schöpfers der Geschichte und die Entscheidungssituation im Ringen zwischen revolutionären und konterrevolutionären Kräften um die Überwindung des Feudalismus generell und um die Art und Weise seiner Beseitigung und der Herstellung bürgerlicher Verhältnisse im besonderen. 1848/1849 wurden in Deutschland die Weichen gestellt. Da die Revolution eine Niederlage erlitt, hatte dies, wie Engels ausführlich darlegte, außerordentlich negative Folgen für die weitere Entwicklung Deutschlands. Engels machte vor allem deutlich, daß damit die entscheidende Chance ungenutzt blieb, die reaktionären Kräfte zu entmachten und eine revolutionäre Lösung der Aufgaben der bürgerlichen Umwälzung zu erreichen. Statt dessen vermochte das reaktionäre Junkertum seinen Einfluß weiter geltend zu machen. Das folgenschwerste negative Ergebnis bestand darin, daß sich nun der konterrevolutionäre "preußische Weg" der bürgerlichen Um79 wälzung vollends durchsetzen konnte. Gleichwohl erschöpfte sich in Engels' Sicht die Stellung und die Rolle der deutschen Revolution von 1848/1849 nicht in ihrer Niederlage und deren Folgen. Als größte revolutionäre Massenaktion in Deutschland zwischen 1789 und 1871 übte sie trotz ihrer Niederlage auch wesentliche positive Wirkungen auf die weitere geschichtliche Entwicklung aus. Und gerade diesen Aspekt hat Engels in seinen späteren historischen Schriften immer wieder herausgearbeitet. Er ließ deutlich werden, daß die ganze folgende Periode der deutschen Geschichte, die erst 1871 abschloß, im Zeichen der Revolution von 1848/1849 stand, einer bürgerlichen Revolution, die aber schon wesentlich mit geprägt wurde durch die Teilnahme des Proletariats. Die Revolution von 1848 erwies sich trotz ihrer Niederlage als ein entscheidender Hebel, um die kapitalistische Gesellschaftsordnung durchzusetzen und die Bildung eines bürgerlichen deutschen Nationalstaates zum Abschluß zu bringen. Zwar war es 1848/1849 nicht gelungen, die revolutionär-demokratische Alternative der bürgerlichen Umgestaltung, wie sie am klarsten von Marx und Engels selbst vertreten wurde, zum Siege zu bringen, doch die Beseitigung der feudalen Verhältnisse und damit auch die Überwindung der feudalstaatlichen Zersplitterung Deutschlands mußten nun beschleunigt erfolgen. Die konterrevolutionären Sieger von 1848 standen selbst unter dem 79 Engels. Friedrich. Zur Wohnungsfrage, in: Marx/Engels, Werke, Bd 18, S. 258 ff.; derselbe [Vorbemerkung zur dritten Auflage "Der deutsche Bauernkrieg"], in: Ebenda, S. 513; derselbe. Wilhelm Wolff, in: Ebenda, Bd 19, S. 82. - Hier spricht Engels davon, daß der Feudalismus auf dem Lande "wenigstens der Form nach" beseitigt war. "Aber auch nur der Form nach. Überall, wo großer Grundbesitz vorherrscht, erhält sich eine halbfeudale Herrschaftsstellung der großen Grundeigentümer, auch unter sonst modern-bürgerlichen Bewirtschaftungsverhältnissen." Das gelte besonders für Ostelbien.
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
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Zwang der Revolution und mußten die Lösung der Aufgaben der bürgerlichen Umgestaltung in Angriff nehmen. Sie taten dies auf konterrevolutionäre Weise, gegen das Volk, in ihrem Interesse, weswegen wichtige Aufgaben nicht erfüllt wurden und die bürgerliche Revolution unvollendet blieb, aber "Bismarck war gezwungen, Deutschland in seiner Art umzuwäl80 zen"
. In diesem Sinne schrieb Engels: "Die Revolution von 1848, die, unter proletarischer
Fahne, proletarische Kämpfer nur die Arbeit der Bourgeoisie tun ließ, setzte auch durch ihre Testamentsvollstrecker Louis Napoleon und Bismarck die Unabhängigkeit Italiens, Deutschlands und Ungarns durch..." 81 "Die Totengräber der Revolution waren ihre Testa82 mentsvollstrecker geworden." Engels wies im einzelnen nach, wie die Revolution auf den verschiedenen Gebieten ungeachtet ihrer Niederlage als gesellschaftliche Triebkraft wirkte. Am deutlichsten wurde dies bei der Beseitigung des Feudalismus auf dem Lande, die nun bis Mitte der sechziger Jahre im wesentlichen abgeschlossen wurde. "Das Jahr 1848 öffnete endlich den ebenso bornierten wie eingebildeten preußischen Krautjunkern die Augen." Nach den Bauernerhebungen "sah nun auch der hirnloseste Junkerschädel ein: Die Frondienste83waren unmöglich geworden, lieber gar keine als solche von diesen rebellischen Bauern." Das galt aber auch für die industrielle Entwicklung, die, wie Engels schrieb, "durch die Revolution von 1848 mit ihren bürgerlichen Fortschritten, so schwach sie waren", wesentlich beschleu84 nigt wurde.
Das Bürgertum wurde "mächtig aus dem alten ererbten Schlendrian aufge-
rüttelt. Es hat einen, wenn auch bescheidenen Anteil an der politischen Macht bekommen; und jeder politische Erfolg der Bourgeoisie wird ausgebeutet in einem industriellen Auf„85 Schwung."
Zweitens erhielt die Achtundvierziger Revolution in dem von Engels entscheidend mitgeprägten Geschichtsbild einen heraus ragenden Platz, weil es die erste Revolution in der Weltgeschichte war, an der sich das Proletariat aktiv beteiligt hatte und teilweise schon mit selbständigen Forderungen aufgetreten war. Das galt vorwiegend für Frankreich, aber in gewissem Sinne auch für Deutschland. Engels umriß in seinen Arbeiten den hohen Anteil der deutschen Arbeiter an der Revolution und wies nachdrücklich sowohl auf die Fortschritte als auch die Grenzen ihrer politischen Selbständigkeit hin. Sein besonderes Interesse aber 80 Derselbe, Vorwort [zur englischen Ausgabe "Die Lage der arbeitenden Klasse in England"], in: Ebenda, Bd 22, S. 273. 81 Derselbe. Vorwort |_zur polnischen Ausgabe des "Manifests der Kommunistischen Partei"] (1892), in: Ebenda, S. 283. 82 Derselbe. Einleitung [zu "Die Klassenkämpfe in Frankreich"], in: Ebenda, S. 56. 83 Derselbe. Zur Geschichte der.preußischen Bauern, in: Ebenda, Bd21, S. 245. 84 Derselbe. Vorwort [zur zweiten Auflage "Zur Wohnungsfrage"], in: Ebenda, S. 331. 85 Derselbe. Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Ebenda, S. 408.
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Horst Bartel/Walter Schmidt
galt dem Wirken der bewußten kommunistischen Vorhut in der deutschen Revolution, dem Bund der Kommunisten, und seinem wichtigsten zentralen Stützpunkt im Revolutionsjahr, der "Neuen Rheinischen Zeitung". Es war ein charakteristisches Merkmal ftir die deutsche Achtundvierziger Revolution, daB die erste revolutionär-proletarische Partei hier ihr Hauptbetätigungsfeld hatte. Engels wies nach, daß die Revolution von 1848/1849 die erste große Bewährungsprobe des Marxismus und vor allem der marxistischen Politik und Taktik war.
86
Drittens begriff Engels die deutsche Revolution deshalb als Höhepunkt der Geschichte in der Epoche seit 1789, weil sie die entscheidende Zäsur in der Stellung der deutschen Bourgeoisie darstellte. Die Entwicklungsgeschichte der deutschen Bourgeoisie herausgearbeitet zu haben ist wesentlich Engels' Verdienst. Er machte bereits im Vormärz darauf aufmerksam, daß die deutsche Bourgeoisie sich erst im Gefolge der industriellen Entwicklung in den dreißiger Jahren als Klasse formierte und 1840 mit dem Eintritt der preußischen Bourgeoisie in die oppositionelle Bewegung auch als selbständige politische Kraft in 97 Erscheinung trat.
Seit diesem Zeitpunkt begann sie auch ihre Funktion als Hegemon der
antifeudalen Kräfte wahrzunehmen. Trotz aller Kompromißbereitschaft, die besonders die deutsche Bourgeoisie von Beginn an kennzeichnete und die Marx und Engels sehr wohl sahen, werteten sie ihr politisches Wirken im Vormärz doch im Ganzen als progressiv, weil die Bourgeoisie in den Grundsatzfragen zunächst in Opposition blieb und durch88die regierungsfeindliche Haltung die antifeudale Bewegung der Massen objektiv förderte.
Das
galt hauptsächlich fUr ihr Auftreten im preußischen Vereinigten Landtag von 1847, der den Höhepunkt in der Entwicklung der deutschen Bourgeoisie als progressive politische Kraft darstellte. Der Bruch in dieser Entwicklung setzte unmittelbar nach Beginn der Revolution von 1848 ein. Marx und Engels wiesen nach, wie die Bourgeoisie^ die von vornherein nur auf Reformen und auf Vereinbarung mit den herrschenden Mächten Uber eine Machtbeteiligung aus war, angesichts der französischen Februarrevolution auf ein Zusammengehen nicht mit dem revolutionären Volk, sondern mit der Reaktion einschwenkte und nach dem Sieg der Märzrevolution mit ihr ein Bündnis schloß. "Die deutsche Bourgeoisie, die eben erst ihre große Industrie zu begründen anfing, hatte weder die Kraft noch den Mut, noch 89 die zwingende Notwendigkeit, sich die unbedingte Herrschaft im Staate zu erkämpfen." 86 Vgl. vor allem derselbe. Marx und die "Neue Rheinische Zeitung", in: Ebenda, S. 18 ff. 87 Derselbe, Deutsche Zustände, In: Ebenda, Bd 2, S. 578, 583 f . ; ferner derselbe, Die preußische Verfassung, in: Ebenda, Bd 4, S. 30 ff., und derselbe [Der Status quo in Deutschland], in: Ebenda, S. 44 ff. 88 Derselbe, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: Ebenda, Bd 8, S. 18 ff. 89 Derselbe. Marx und die "Neue Rheinische Zeitung", in: Ebenda, Bd 21, S. 17.
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
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Es muß festgehalten werden, daß die deutsche Bourgeoisie die bürgerliche Revolution v e r r i e t , die zu führen sie berufen w a r , ohne im eigenen Lande schon wirklich gefährdet zu sein durch die Existenz d e r neuen, ihr unversöhnlich gegenüberstehenden Klasse, die sich i h r e r geschichtlichen Rolle noch keineswegs bewußt w a r . "Geschreckt nicht durch das, was das deutsche Proletariat war, sondern das, was es zu werden drohte und was das französische schon war, sah die Bourgeoisie nur Rettung in jedem, auch dem feigsten Kom90 promiß mit Monarchie und Adel." Angesichts bürgerlicher Versuche, den Verrat d e r deutschen Bourgeoisie in geradezu fatalistischer Manier als eine durch das Auftreten d e r 91 Arbeiterklasse bedingte objektive Notwendigkeit zu erklären , verdienen gerade jene Hinweise Engels' ausdrückliche Beachtung, in denen e r darauf aufmerksam machte, daß außer in Frankreich in keinem anderen der fortgeschrittenen Länder Europas 92die Bourgeoisie 1848 vom Proletariat bereits direkt in i h r e r Herrschaft bedroht w a r . Die deutsche Bourgeoisie stand durchaus nicht vor einer f ü r sie ausweglosen Situation, die nur ein Bündnis mit der Reaktion zuließ; sie stand als Klasse 1848 historisch in einer Entscheidungssituation, und sie schlug bewußt die Alternative des revolutionären Kampfes gegen den Feudalismus aus. "Wie i m m e r feig, opferten die deutschen
Bourgeois ihre gemeinsamen, das heißt 93 politischen Interessen, damit j e d e r sein Privatinteresse, sein Kapital r e t t e . . . " Unter dem Eindruck der Juniinsurrektion des P a r i s e r P r o l e t a r i a t s wurde dieses reaktion ä r e politische Klassenbündnis dann besiegelt. 94 "Von da an t r a t die Masse der Bourgeoisie in ganz Europa auf die Seite der Reaktion." Obwohl die Bourgeoisie aufgrund d i e s e r Politik die im März gewonnenen politischen Machtpositionen wieder v e r l o r , ja die Reaktion nach Wiederherstellung i h r e r Macht von sich aus das Bündnis löste, und obwohl die Bourgeoisie in den sechziger Jahren nochmals eine zeitweilige Linksschwenkung machte, k o r r i gierte sie ihre grundsätzlich antidemokratische, auf eine Hegemonie der Volkskräfte gegen den Feudalismus verzichtende und mit der Reaktion paktierende Position nie m e h r . Der V e r r a t an ihrer historischen Aufgabe, die bürgerliche Revolution zu führen, war seit 1848 perfekt. Das w a r aber auch, wie Marx und Engels als e r s t e nachwiesen, die Hauptursache f ü r die Niederlage der Revolution.
90 91
Ebenda, S. 18. Vgl. Schieder. Theodor, Vom Deutschen Bund zum Deutschen Reich, in: Gebhardt, Bruno, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd 3, Stuttgart 1960, S. 137. 92 Engels. Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Marx/Engels, Werke, Bd 21, S. 407 f . : f e r n e r derselbe. An den italienischen L e s e r , in: Ebenda, Bd 22, S. 365 f . ; derselbe. England 1845 und 1885, in: Ebenda, Bd 21, S 4 191 f f . ; derselbe, Vorwort [zu "Karl Marx vor den Kölner Geschwornen"], in: Ebenda, S. 365/366. 93 Derselbe. Wilhelm Wolff, in: Ebenda, Bd 19, S. 63. 94 Derselbe, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Ebenda, Bd 21, S. 423.
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Horst Bartel/Walter Schmidt Da die Revolution keine ihrer Aufgaben gelöst hatte, deren Lösung aber infolge der
beschleunigten industriellen Entwicklung unaufschiebbar wurde, entstand mit der Niederlage der Revolution die Möglichkeit, die bürgerliche Umwälzung auf konterrevolutionärem Wege unter Führung der Junkerklasse zu Ende zu bringen. Jetzt erst konnte diese für die Volksmassen ungünstige Alternative zu einer historischen Realität werden. Engels hat, 95 ausgehend von Marx' Hinweisen , als erster diese historische Alternativsituation wissenschaftlich analysiert und dargestellt. Auch jetzt war eine revolutionär-demokratische Bewältigung der Aufgaben der bürgerliche Umgestaltung noch eine reale, durch geschichtliche Kräfte - nämlich Proletariat und Kleinbürgertum - vertretene Alternative. Gerade das aber wird von der Masse der bürgerlichen Historiker geleugnet, für die der Bismarcksche Weg die einzige noch verbliebene Möglichkeit zur Herstellung des bürgerlichen National96 staates darstellt.
Marx' und Engels' Konzeption steht dem diametral entgegen. Es war Engels'
Verdienst, als e r s t e r die drei damals objektiv bestehenden Möglichkeiten zur Zuendeführung der bürge rlichen Revolution in Deutschland nach 1849 bestimmt zu haben: e rstens den Weg einer Volksrevolution, derdie radikale Vernichtung des Feudalismus und die Herstellung einer demokratischen Republik bedeutete. Er wurde am entschiedensten von der Arbeiterklasse und von Marx und Engels selbst vertreten; zweitens eine "Revolution von oben" unter Führung Preußens und drittens - was Engels jedoch von vornherein als illusionär abtat - unter der Hegemonie Österreichs. Für Engels war die Geschichte des deutschen Volkes in den sechziger Jahren bestimmt von dem erbitterten Hingen zwischen den revolutionär-demokratischen und den konterrevolutionären Kräften um die endgültige Gestaltung des bürgerlichen deutschen Nationalstaats. Von dieser Auffassung ging Lenins Konzept von den zwei prinzipiell möglichen Wegen, die zur Durchsetzimg des Kapitalismus und der Einigung Deutschlands zwischen 1849 97 und 1871 bestanden, aus. Von größter Bedeutung für das Verständnis der Geschichte des deutschen Volkes ist Engels' konzeptionelle Wertung der Reichsgründung von 1871 sowie des Charakters und der historischen Stellung des preußisch-deutschen Reiches. Im prinzipiellen Gegensatz zu der neuerlichen Behauptung des rechtssozialdemokratischen Historikers Steinberg, daß die Gründung des Deutschen Reiches in Engels' Sicht ein "positiver Faktor" gewesen sei und 95
Marx, Karl. Die Erfurterei im Jahre 1859, in: Ebenda, Bd 13, Berlin 1964, S. 414 ff.; vgl. dazu auch Obolenskaja, S.V., Karl Marks o putjach istoriceskogo razvitija Germanii po revoljucii 1848 g . , in: Marks - istorik, S. 370 ff. 96 Ganz in dieser Linie liegt eine der zahlreichen neueren westdeutschen Publikationen zur Reichsgründung von 1871: Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, hg. von Theodor Schieder und Ernst Deuerlein, Stuttgart 1970. 97 Lenin. W . I . , August Bebel, in: Derselbe, Werke, Bd 19, Berlin 1962, S. 287 f.
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
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98 e r "letztlich diesem Reich eine positive Funktion" zuwies
, stimmte Engels völlig mit der
klassischen Definition von Karl Marx aus dem Jahre 1875 überein, in der Marx das 1871 geschaffene preußisch-deutsche Reich als einen Staat charakterisierte, der nichts anderes war "als ein mit p?rlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, poli99 zeilich gehüteter Militärdespotismus" . Für Engels hatte das deutsche Volk 1871 "seine Einheit in der preußischen Kaserne" gefunden.^0*' Gewiß verkannte Engels zu keinem Zeitpunkt die Fortschritte, die mit der Überwindung des Partikularismus und der Bildung eines bürgerlichen deutschen Nationalstaates verbunden waren. E r hatte dabei vornehmlich drei Gesichtspunkte im Auge. Erstens entsprach der bürgerliche Nationalstaat den Bedürfnissen der kapitalistischen Wirtschaft und schuf notwendige Voraussetzungen für die volle Entfaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung auf ihrer eigenen Grundlage. "Die Industrie und der Handel Deutschlands", schrieb Friedrich Engels rückblickend 1888, "hatten sich zu einer Höhe entwickelt, das Netz deutscher Handelshäuser, das den Weltmarkt umspannte, war so ausgebreitet und so dicht geworden, daß die Kleinstaaterei zu Hause und die Recht- und Schutzlosigkeit im Ausland nicht ^
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langer zu ertragen waren." Zweitens vermochte sich mit der raschen Entfaltung des Kapitalismus das moderne Industrieproletariat voll herauszubilden. Der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat wurde nunmehr zum entscheidenden gesellschaftlichen Gegensatz. Damit aber trat jene Klasse in den Mittelpunkt der geschichtlichen Entwicklung, die mit ihrer eigenen Befreiung das ganze deutsche Volk von Ausbeutung und Unterdrückung befreit. "Wir haben endlich einen Welthandel, eine wirklich große Industrie, eine wirklich 102moderne Bourgeoisie . . . und . . . ebenfalls ein wirkliches gewaltiges Proletariat bekommen."
Damit zeigte Engels
gleichzeitig den untrennbaren Zusammenhang zwischen der vollen Entwicklung des Kapitalismus, der Herausbildung einer modernen Bourgeoisie und der Entwicklung einer modernen Arbeiterklasse auf. Nunmehr konnte sich der Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit frei entfalten. Dies war jedoch von außerordentlicher Bedeutung für das neue Klassenkräf98 99 100 101 102
Steinberg, Hans-Josef. Sozialismus, Internationalismus und Reichsgründung, in: Reichsgründung 1870/71, S. 341. Marx. Karl. Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, in: Marx/Engels, Werke, Bd 19, S. 29. Marx. Karl/Engels, Friedrich [Brief an den Ausschuß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei], in: Ebenda, Bd 17, S. 269. Engels, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Ebenda, Bd 21, S. 426. Derselbe [Vorbemerkung zur dritten Auflage "Der deutsche Bauernkrieg"], in: Ebenda, Bd 18, S. 515.
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Horst Bartel/Walter Schmidt
teVerhältnis, das mit der Bildung des Deutschen Reiches entstand. Der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse wurde endgültig zum entscheidenden Gegensatz.
103
An anderer Stelle bemerkten Marx und Engels gemeinsam: "Die Verhältnisse werden sich 104 auf großem Maßstab entwickeln und vereinfachen." Drittens hob Engels hervor, daß die revolutionäre Arbeiterbewegung einen günstigeren Kampfboden und bessere Möglichkeiten flir die eigene Organisation und die Vorbereitung auf die künftigen Klassenauseinandersetzungen, besaß. Die Überwindung der Kleinstaaterei ermöglichte der Arbeiterklasse, sich auf nationaler Grundlage zu entwickeln und zu formieren. Darin war sich Engels mit Marx völlig einig, der in bezug auf den Deutsch-Französischen Krieg in einem Brief am 20. Juli 1870 feststellte: "Siegendie Preußen, so die Zentralisation der
State
105
power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse."
Diesen Gesichtspunkt hervorhebend, war Engels schon 1866 nach der Bildung des Norddeutschen Bundes zu der auch auf das Jahr 1871 Ubertragbaren Einsicht gelangt: "Wir können also meiner Ansicht nach gar nichts andres tun, als das Faktum einfach akzeptieren, ohne es zu billigen, und die sich jetzt jedenfalls darbieten müssenden größeren Fazilitäten zur nationalen Organisation und Vereinigung des deutschen Proletariats benutzen, soweit wir „106 können." Dennoch stand im Mittelpunkt der historischen Wertung Engels' die Tatsache, daß das Deutsche Reich auf reaktionäre Weise entstanden war. Für den von Bismarck durchgesetzten Weg der Herstellung des bürgerlichen Nationalstaats prägte Engels den wissenschaftlich präzisen Begriff der "Revolution von oben". Damit kennzeichnete er die historisch ungünstigste Form der Einigung Deutschlands, die den besonders reaktionären Charakter des neugegründeten Staates prägte und seine historische Stellung bestimmte. Der Sieg des konterrevolutionären Weges, durch den wesentliche Aufgaben der bürgerlichen Revolution unerfüllt blieben, war nur möglich geworden, weil die Bourgeoisie ihre historische Funktion als Hegemon bei der bürgerlichen Umgestaltung nicht wahrnahm und nicht einmal vermochte, 107 "in einer revolutionären Epoche revolutionär zu sein" Friedrich Engels machte in diesem Zusammenhang noch auf einen entscheidenden Umstand aufmerksam. Durch den Verrat der Bourgeoisie, durch ihr ständiges Paktieren mit 103 104 105 106 107
Ebenda, S. 513. Marx/Engels [Brief an den Ausschuß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei], in: Ebenda, Bd 17, S. 269. Karl Marx an Friedrich Engels am 20. Juli 1870, in: Ebenda, Bd 33, S. 5. Friedrich Engels an Karl Marx am 25. Juli 1866, in: Ebenda, Bd 31, Berlin 1965, S. 241. Lenin. W.I.. Vorwort zur russischen Ausgabe der Broschüre: W. Liebknecht, "Kein Kompromiß, kein Wahlbündnis!", in: Derselbe, Werke, Bd 11, Berlin 1958, S. 405.
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den reaktionären, feudalbUrokratischen und junkerlichen Kräften, die sich immer gegen eine staatliche Zentralisation wehrten, wurde die Herstellung des deutschen Nationalstaates - gemessen am welthistorischen Prozeß der bürgerlichen Umwälzung - außerordentlich verzögert. Sie vollzog sich faktisch erst am Ende der Epoche der bürgerlichen Revolutionen. 1888 kommentierte das Engels mit den Werten: "Das war aber keine welthistorische Errungenschaft, wie der jetzt chauvinistisch werdende Bourgeois ausposaunte, sondern eine sehr, sehr späte und unvollkommene Nachahmung dessen, was die französische Revolution schon 108 siebzig Jahre früher getan, und was alle anderen Kulturstaaten längst eingeführt." In diesem Zusammenhang gewinnen auch die Untersuchungen von Friedrich Engels Uber die spezifischen Formen der politischen Herrschaft in Deutschland, über den preußischdeutschen Bonapartismus besondere Bedeutung. Seit den sechziger Jahren des 19. J h . ist Engels auf diese Frage immer wieder ausführlich eingegangen. Daß sich diese Bemerkungen vornehmlich in Arbeiten zu grundsätzlichen Fragen der Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung finden - so in der "Militärfrage" von 1 8 6 5 * ^ , der "Wohnungsfrage" von 1872**", der Vorbemerkung zum "Bauernkrieg" von 1874* 1 1 wie auch in der Arbeit über den "Ursprung 112 der Familie, des Privateigentums und des Staats" und letztlich in dem Fragment über 113 "Die Rolle der Gewalt in der Geschichte" - , zeigt, daß der Mitbegründer des wissenschaftlichen Kommunismus dem Problem des Bonapartismus für den Klassenkampf des Proletariats große Bedeutung beimaß. Ohne hier die Engelsschen Arbeiten umfassend zu 114 analysieren
, soll auf einige Aspekte aufmerksam gemacht werden.
Zunächst hat Engels die ökonomischen und sozialen Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung des Bonapartismus untersucht. Der rasche Übergang zum Kapitalismus auf konterrevolutionäre Weise in den fünfziger und sechziger Jahren bildete die Grundlage für die Herausbildung des Bonapartismus: " . . . die reißend schnelle industrielle Entwicklung" hatte "den Kampf zwischen Junkern und Bourgeois verdrängt durch den Kampf zwischen Bourgeois und Arbeitern, so daß auch im Innern die gesellschaftlichen Grundlagen des alten 108 Engels, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Marx/Engels, Werke, Bd 21, S. 435. . . . . 109 Vgl. derselbe, Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei, in: Ebenda, Bd 16, S. 37 ff. 110 Vgl. derselbe, Zur Wohnungsfrage, in: Ebenda, Bd 18, S. 209 ff. 111 Vgl. derselbe [Vorbemerkung zur dritten Auflage "Der deutsche Bauernkrieg ] , in: Ebenda, S. 512 ff. 112 Vgl. derselbe, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: Ebenda, Bd 21, S. 25 ff. 113 Vgl. derselbe, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, In: Ebenda, S. 405 ff. 114 Eine wichtige Studie dazu legte Ernst Engelberg vor (vgl. Engelberg. Ernst, Zur Entstehung und historischen Stellung des preußisch-deutschen Bonapartismus, in: Beiträge zum neuen Geschichtsbild. Zum 60. Geburtstag von Alfred Meusel, Berlin 1956, S . 236 f f . ) .
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Staats eine vollständige Umwälzung erfuhren"'^''. Dadurch waren die Kräfteverhältnisse der "langsam verwesenden Monarchie" verändert worden. " . . . von dem Augenblick, wo es darauf ankam, nicht mehr den Adel gegen das Andrängen der Bourgeoisie, sondern alle besitzenden Klassen gegen das Andrängen der Arbeiterklasse zu schützen, mußte die alte absolute Monarchie völlig übergehen in die eigens zu diesem Zweck herausgearbeitete Staatsform: die bonapartistische Monarchie."
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Die Möglichkeit der Ausbildung dieses
Systems hing wesentlich davon ab, daß neben der relativ starken Klasse des großgrundbesitzenden Adels in Preußen "eine verhältnismäbig junge und namentlich sehr feige 117 Bourgeoisie" existierte
, die im Unterschied zu Frankreich oder auch England nicht
um die alleinige politische Macht kämpfte. Diese sozialen Faktoren bedingten auch - und damit ist ein zweiter Aspekt angesprochen - den politischen Charakter der bonapartistischen Diktatur. Diese balancierte nicht nur zwischen Bourgeoisie und Adel, sondern suchte den schnell anwachsenden Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auszunutzen. Das ermöglichte eine Staatsgewalt, die - diese Kräfteverhältnisse nutzend - wesentlich auf der Macht einer "besonderen Offiziers- und Beamtenkaste" beruhte und sich den "Schein der Selbständigkeit gegenüber 118 der Gesellschaft" gab.
Die Staatsform - so schrieb Engels - , die sich daraus ergab,
war der Scheinkonstitutionalismus. Die Spezifik des politischen Systems in Preußen, die Dominanz des Militarismus im gesamten gesellschaftlichen Leben, prägte natürlich auch den Bonapartismus. So spielten gerade die Militärkaste und der Militärapparat eine große Rolle im bonapartistischen System. Nicht nur, daß Bismarck als bonapartistischer Diktator bei der Manipulierung wichtiger politischer Entscheidungen - wie etwa bei der Durchsetzung der Militärgesetze 1874 und 1887/1888 - immer auch Interessen des Militärapparates direkt zur Stärkung seiner persönlichen Macht zu nutzen wußte: der Militarismus war die entscheidende Grundlage zur Aufrechterhaltung und zeitweisen Stärkung des Scheinkonstitutionalismus Friedrich Bonapartismus Engels berücksichtigte diese spezifischen und schrieb, daß derüberhaupt. preußisch-deutsche drei Köpfe habe: Bismarck, Seiten den 119 Monarchen Wilhelm I. und den Generalstabschef Moltke.
Diese Hinweise von Engels
sind nicht nur für die Beurteilung der sozialdemokratischen Taktik im Kampf gegen das 115 Engels [Vorbemerkung zur dritten Auflage "Der deutsche Bauernkrieg"], in: Marx/Engels, Werke, Bd 18, S. 513. 116 Ebenda. 117 Derselbe, Zur Wohnungsfrage, in: Ebenda, S. 258. 118 Ebenda. 119 Friedrich Engels an August Bebel am 12. April 1888, in: Ebenda, Bd 37, Berlin 1967, S. 51.
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militaristische System und die bonapartistische Diktatur wichtig, sondern sie weisen auch darauf hin, daß die Untersuchung der Struktur des Machtapparates in Preußen-Deutschland und ihrer Veränderungen wichtige Aufschlüsse über die PolitiK der herrschenden Klassen bringt. Die Veränderungen der Struktur und damit zusammenhängend wiederum des Gesamtcharakters der bonapartistischen Diktatur wurden von Engels nicht von den Fähigkeiten und Intentionen der handelnden Personen abhängig gemacht. Engels sah diese Frage im engsten Zusammenhang mit dem historischen Standort des Bonapartismus. Damit sei auf einen dritten Aspekt hingewiesen. In den Ergänzungen zur Vorbemerkung von 1870 zu seinem Buch "Der deutsche Bauernkrieg" hat Engels ausgeführt, daß in dem sich in Preußen und Deutschland sehr langsam vollziehenden Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus die Entstehung des Bonapartismus eine relativ fortschrittliche Erscheinung war. Ja, e r schrieb, "daß dieser Übergang der größte Fortschritt war, den Preußen seit 1848 gemacht, so sehr war Preußen hinter 120
der modernen Entwicklung zurück"
.Engels stellte hier ausschließlich den Gesichtspunkt
der welthistorischen Entwicklung zum Kapitalismus in den Vordergrund und konnte daher den Bonapartismus gegenüber den verrottenden feudalen staatlichen Zuständen als "moderne Staatsform" kennzeichnen, weil e r die "Beseitigung des Feudalismus zur Voraussetzung 121
hat"
. Die bürgerliche Umwälzung vollzog sich in Deutschland in ihrer letzten - allerdings
für die zukünftige Entwicklung sehr wichtigen - Phase im Rahmen der politischen Herrschaftsform des Bonapartismus. Die relative Fortschrittlichkeit des Bonapartismus band Engels somit eindeutig an die bürgerliche Umwälzung. Das bedeutet, daß mit dem Abschluß dieses geschichtlichen Prozesses auch der Bonapartismus überlebt war, seine Fortexistenz grundsätzlich reaktionären Charakter annahm und zur Deformierung des gesellschaftlichen Systems beitrug. Den Zeitpunkt der entscheidenden Veränderung in der historischen Wertung des Bonapartismus hat Engels genau fixiert. In seiner nachgelassenen Arbeit über "Die Rolle der Gewalt in der Geschichte" schrieb e r nach einer Analyse der Klassenkräfte, speziell der erbärmlichen Rolle der deutschen Bourgeoisie: "Wie die Dinge 1871 in Deutschland lagen, war ein Mann wie Bismarck in der Tat auf eine zwischen den Klassen lavierende Politik angewiesen. Und soweit ist ihm nichts vorzuwerfen. Es kommt nur darauf an, auf welches Ziel diese Politik gerichtet war. Ging sie, einerlei in welchem Tempo, aber bewußt und resolut auf die schließliche Bourgeoisherrschaft los, so war sie im Einklang mit der geschichtlichen Entwicklung, soweit sie dies vom Standpunkt der besitzenden Klassen 120 Derselbe [Vorbemerkung zur dritten Auflage "Der deutsche Bauernkrieg"], in: Ebenda, Bd 18, S. 513. 121 Ebenda.
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Uberhaupt sein konnte. Ging sie los auf die Erhaltung des altpceußischen Staats, auf die allmähliche VerpreuQung Deutschlands, so war sie reaktionär und zum schließlichen Scheitern verdammt. Ging sie los auf die bloße Erhältung der Herrschaft Bismarcks, so war sie 122
bonapartistisch und mußte enden wie aller Bonapartismus."
Bismarck schlug 1871 nicht
den zuerst genannten Weg ein, sondern konzentrierte sich auf die Festigung seiner persönlichen Macht. In seinen Notizen zur geplanten WeiterfUhrung der Arbeit "Die Rolle der Gewalt in der Geschichte" schrieb Engels zu dieser zweiten Entwicklungsphase des Bonapartismus sarkastisch: "Bismarck am Ende - wird reaktionär, blödsinnig... Der Junker tritt in den 123 Vordergrund, aus Mangel andrer Ideen." In seiner Arbeit über den "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" von 1884 hat Engels den sozialen und politischen Inhalt dieser Phase der bonapartistischen Diktatur klar gekennzeichnet: "Hier werden Kapitalisten und Arbeiter gegeneinander 124 balanciert und gleichmäßig geprellt zum Besten der verkommenen preußischen Junker." Friedrich Engels gab bei der Analyse des Bonapartismus ein Musterbeispiel fUr die Anwendung der materialistischen Dialektik. Ausgehend125 von den historischen Aufgaben der Hauptklassen und ihrer Rolle in der jeweiligen Epoche , hat er das Wechselverhältnis von sozialökonomischen und politischen Faktoren ausführlich untersucht. Daher ist die Analyse des Bonapartismufi nicht nur für eine marxistische Darstellung dieser Problematik bedeutsam, sondern bietet zugleich methodologisch grundsätzliche Hinweise fUr den Historiker. Friedrich Engels hat - um einen vierten Aspekt hervorzuheben - bei der Behandlung des Bonapartismus immer wieder auf die Rolle der deutschen Bourgeoisie aufmerksam gemacht, ja er hat nachgewiesen, daß die geschichtlich verhängnisvollen Folgen der lang andauernden bonapartistischen Diktatur wesentlich im Zusammenhang mit der Rolle der deutschen Bourgeoisie stehen. In seiner Arbeit "Die Rolle der Gewalt in der Geschichte" zeigte Engels, daß es nach 1871 objektiv durchaus möglich war, auf die Durchsetzung der "Bourgeoisherrschaft loszusteuern", die allein die Möglichkeit geschaffen hätte, 126 "die massenhaften Uberreste aus der Zeit des verfaulenden Feudalismus zu beseitigen"
122 Derselbe, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Ebenda, Bd 21, S. 454. 123 Ebenda, S. 463. 124 Derselbe, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: Ebenda, S. 167. 125 Lenin. W.I.. Unter fremder Flagge, in: Derselbe, Werke, Bd 21, S. 134. 126 Engels, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Marx/Engels, Werke, Bd 21, S. 454.
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Die außerordentlich schwächliche Haltung der deutschen Bourgeoisie, die als ökonomisch stärkste Klasse aus Angst vor den Volksmassen und besonders vor der Arbeiterklasse keinen Kampf um eine den ökonomischen Bedingungen adäquate politische Herrschaftsform filhrte, stellte damit die Existenzbedingung der bonapartistischen Diktatur dar. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die bürgerliche Geschichtswissenschaft die Gesamtproblematik des Bonapartismus bisher im wesentlichen umgangen hat. Mit den traditionellen bürgerlichen Methoden konnte diese Frage nicht erfaßt werden; an einer klaren Einschätzung der Rolle der deutschen Bourgeoisie hat die imperialistische Historiographie kein Interesse. Den vorwiegend reaktionären Charakter des 1871 gegründeten Deutschen Beiches sah Engels vor allem in dreierlei Hinsicht: Erstens: Die Reichsgründung stärkte und konservierte die Macht der reaktionären Klassenkräfte, namentlich die des Junkertums. Das zeigte sich besonders in der Gestaltung und im Ausbau des Staatsapparates. Das Reich wurde zu einem reaktionären Machtzentrum ausgebaut und zum wichtigsten Instrument der herrschenden Klassen in ihrem Kampf gegen die Arbeiterbewegung, gegen jede demokratische Bewegung und gegen die im Reich lebenden nationalen Minderheiten, hauptsächlich gegen die von Preußen unterdrückte polnische Bevölkerung. Die durch die Reichsverfassung festgelegte staatliche Struktur mit ihrer Machtkonzentration bei Kaiser und Bundeskanzler sowie der weitgehend eingeengten Macht des Reichstages bedeutete die volle Machtentfaltung der reaktionären Bürokratie und der Militärclique. Die Gestaltung des Staates und seiner reaktionären Politik begünstigte seit 1871 die Aktionen und Bestrebungen der reaktionärsten Kräfte des Großkapitals und förderte besonders die reaktionäre Innenpolitik und aggressive Außenpolitik. Zweitens: Bereits nach dem Preußisch-Österreichischen Krieg von 1866 schrieb Engels an Marx: " . . . der Hauptnachteil ist die unvermeidliche Überflutung Deutschlands durch 127 das Preußentum, und das ist ein sehr großer." Und 1875 erklärte er im "Volksstaat": "Man sieht, nicht Frankreich, sondern das Deutsche Reich preußischer Nation ist der 128
wahre Repräsentant des Militarismus."
Friedrich Engels erkannte völlig klar die Ver-
klammerung von Reichseinheit, Preußentum und Militarismus. Es war vor allem die dominierende Stellung Preußens im Deutschen Reich, die Vorherrschaft des durch die klassenmäßige und staatliche Struktur besonders reaktionären Staates, welche die Entwicklung und Politik des Deutschen Reiches wesentlich bestimmte. Das geschichtlich verhängnisvolle Verhältnis Preußen - Reich war das Ergebnis der konterrevolutionären Durchsetzung des Kapitalismus 127 Friedrich Engels an Karl Marx am 25. Juli 1866, in: Ebenda, Bd 31, S. 241. 128 Derselbe, Offiziöses Kriegsgeheul, in: Ebenda, Bd 18, S. 583.
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in der militaristischen Reichsgründung und blieb daher auch ein grundsätzliches gesellschaftliches Problem - solange das Reich und Preußen existierten. "Das Deutsche Reich", schrieb Friedrich Engels 1886 weit vorausschauend, "wird in Lebensgefahr gebracht 129 durch seine preußische Grundlage." Friedrich Engels wies in seinen historischen Analysen immer wieder auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen Preußen und dem Militarismus hin. Ohne den preußischen 130 Militarismus ist Preußen nichts, stellte e r 1876 fest. Die Vorherrschaft Preußens im Reich führte zur weiteren Ausdehnung des Militarismus. Der Militärapparat und seine Verwaltungs- und Planungsorgane standen fast außerhalb jeder parlamentarischen Kontrolle. Klassenmäßig vor allem von Junkertum und Teilen der Großbourgeoisie getragen, durchdrungen vom spezifisch preußischen Kastengeist, wurde die forcierte Militarisierung aus antidemokratisch-innerpolitischen und aggressiv-außenpolitischen Motiven faktisch 131 zum "Hauptzweck des Staates" . Der Militärapparat und seine Führungsorgane erhielten ein bedeutendes politisches Gewicht bei der Entscheidung aller innen- und außenpolitischen Fragen. Drittens: Friedrich Engels erkannte ebenso wie Karl Marx bereits im Prozeß der Gründung des Deutschen Reiches die reaktionäre Rolle dieses Staates in der internationalen Politik. Mit der Unterstützung bei der Niederschlagung der Pariser Kommune und dem Raub Elsaß-Lothringens verkündete der neue preußisch-deutsche Staat, schrieb Engels 132 1888, "die brutale Gewalt offen und ungeheuchelt als sein Grundprinzip" . Die Annexion bewirkte dauernde Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich, sie barg von Anfang an die Gefahr der politisch-militärischen Einkreisung durch Frankreich und Rußland. Innen- und Außenpolitik der herrschenden Klassen Deutschlands waren dadurch wesentlich . eingeengt. Der einzige Ausweg wurde in der verstärkten Militarisierung gesucht, wodurch in Europa ein Wettrüsten ausgelöst, eine grundsätzlich äußere und innere Gefährdung der nationalen Existenz des deutschen Volkes hervorgerufen wurde. Geradezu prophetisch sagte Friedrich Engels 1887 das Ergebnis dieser Politik voraus: "Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher niegeahnten Ausdehnung und Heftigkeit . . . Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über
129 Friedrich Engels an August Bebel am 13. September 1886, in: Ebenda, Bd 36, S. 524. 130 Vgl. derselbe. Preußischer Schnaps im deutschen Reichstag, in: Ebenda, Bd 19, S. 51. 131 Derselbe. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: Ebenda, Bd 20, Berlin 1962, S. 158. 132 Derselbe, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Ebenda, Bd 21, S. 446.
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das Straßenpflaster rollen . . . allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Sieges der Arbeiterklasse . . . Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze-getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine 133 unvermeidlichen Früchte trägt." Engels ließ in seiner Beurteilung des 1871 entstandenen preußisch-deutschen Militärstaates zu keinem Zeitpunkt auch nur den geringsten Zweifel aufkommen, daß das neue Deutsche Reich sowie die das Heich tragenden Klassenkräfte mit den Kräften des Volkes und besonders der Arbeiterklasse unversöhnbar sind. Das preußisch-deutsche Reich einerseits und die Volksmassen andererseits bildeten unversöhnliche Gegensätze. Es gab nur eine echte Alternative zum bestehenden preußisch-deutschen Militärstaat: Sturz und Beseitigung dieses Staates und die Errichtung einer demokratischen Republik. Das bedeutete fUr Engels freilich nicht, die mit der Reichsgründung erfolgte Herstellung eines bürgerlichen Nationalstaats ungeschehen zu machen und 134 Deutschland auf den "Stand der Zersplitterung und Ohnmacht von vor 1866 zurückwerfen" zu lassen. In seiner klassischen Kritik am Erfurter Programmentwurf von 1891 war die entscheidende historisch-politische Konzeption Engels' zur Überwindung des preußischen Militärstaats fixiert: "Und wir haben nicht die 1866 und 1870 gemachte Revolution von oben wieder rückgängig zu machen, sondern 135ihr die nötige Ergänzung und Verbesserung zu geben durch eine Bewegung von unten." Der entscheidende Ausgangspunkt für die Betrachtung der gesamten geschichtlichen Entwicklung im letzten Drittel des 19. Jh. war für Engels aber nicht die Reichsgründung, sondern die Pariser Kommune. Sie nimmt in dem von ihm wesentlich mitgeprägten wissenschaftlichen Geschichtsbild einen zentralen Platz ein. Friedrich Engels erkannte, wie Lenin später formulierte, daß die Pariser Kommune den Prozeß der bürgerlichen Umgestaltung beendete. Sie schloß sie aber nicht nur in dem Sinne ab, daß sie eine der letzten großen Klassenschlachten in der Epoche der bürgerlichen Umgestaltungen selbst war und trotz ihrer Niederlage entscheidend dazu beitrug, mit der Republik diejenige staatliche Organisation des Kapitalismus zu schaffen, "in der die Klassenverhältnisse am wenigsten 136 verhüllt hervortraten"
, sondern vor allem in dem Sinne, als sie eindeutig die Grenzen
der historischen Perspektive der Bourgeoisie und deren gesellschaftliche Leistungsfähigkeit, die an die Überwindung des Feudalismus gebunden war, zeigte. Engels wie Marx sahen in 133 Derselbe, Einleitung [zu Sigismund Borkheims Broschüre "Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806 - 1807"], in: Ebenda, S. 350 f . 134 Friedrich Engels an Paul Lafargue am 27. Juni 1893,in: Ebenda, Bd 39, S. 90. 135 Derselbe, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: Ebenda, Bd 22, S. 236. 136 Lenin. W.I., Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx, in: Derselbe. Werke, Bd 18, Berlin 1965, S. 577.
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der Pariser Kommune ein historisches Ereignis von ungeheurer Tragweite. Als erster Versuch der Arbeiterklasse, die Macht zu erobern und die sozialistische Gesellschaft zu errichten, wies sie weit in die Zukunft und war auch v"n größter Bedeutung für das richtige Verständnis, der geschichtlichen Bewegung in Deutschland, besonders für die Ausarbeitung der revolutionären Alternative zum preußischen Militärstaat. In der Kommune fand die historische Tendenz des Niedergangs der Bourgeoisie und des Aufstiegs der Arbeiterklasse zur schließlich historisch bestimmenden Klasse prägnant ihren Ausdruck. Mit Marx war sich Engels darin einig: Die Kommune war "die erste Revolution, in der die Arbeiterklasse offen anerkannt wurde als die einzige Klasse, die noch zu einer gesellschaftlichen Initiative fähig war"
137
. Sie skizzierte, wie Marx schrieb, eine neue "nationale Organi138 sation", die wirkliche Einheit der Nation. Mit der Pariser Kommune war ein neuer 139 "Ausgangspunkt von welthistorischer Wichtigkeit" gegeben. Und 20 Jahre nach diesem welthistorischen Ereignis faßte Friedrich Engels noch einmal die entscheidende Lehre aus der Pariser Kommune mit den Worten zusammen: "Möge die im Verfall befindliche Bourgeoisie abtreten oder untergehen, und es lebe das Proletariat . . . die internationale soziale Revo140 lution!"
War für Engels die Französische Revolution von 1789 Ausgangspunkt und Modell
für den Prozeß der bürgerlichen Umgestaltung, fUr den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, so wurde die Pariser Kommune in seinem historischen Urteil der Zentralpunkt für die weiteren Klassenauseinandersetzungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat nach Abschluß der bürgerlichen Umgestaltung, für die Vorbereitung der Arbeiterklasse auf ihre eigene Revolution. Von der historischen Mission des Proletariats, den kapitalistischen Ausbeuterstaat zu stürzen und den Sozialismus aufzubauen, ließ sich Engels bei der Bestimmung der historischen Alternative zum bestehenden preußisch-deutschen Staat leiten. Seine Beseitigung konnte nur als ein Schritt auf dem Wege zur sozialistischen Revolution verstanden werden. Als unmittelbares Ziel des Kampfes der deutschen Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten betrachtete Engels nach 1871 die Errichtung einer demokratischen Republik. "Bei uns kann und muß das erste, unmittelbare dereinen FormDurchgangspunkt, nach ebenfalls nicht anderes sein als 141 SieResultat die bürgerliche Republik." bildet nur zunächst "zur Eroberung 142 der großen Massen der Arbeiter für den revolutionären Sozialismus". Den gleichen Gedanken legte Engels In seiner Schrift "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums 137 Marx. Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Marx/Engels, Werke, Bd 17, S. 344. 138 Ebenda, S. 340 ff. 139 Karl Marx an Ludwig Kugelmann am 17. April 1871, in: Ebenda, Bd 33, S. 209. 140 Engels, Friedrich [Grußadresse an die französischen Arbeiter zum 20. Jahrestag der Pariser Kommune], in: Ebenda, Bd 22, S. 187. 141 Friedrich Engels an Eduard Bernstein am 27. August 1883, in: Ebenda, Bd 36, S. 54 f . 142 Ebenda, S. 55.
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und des Staats" dar, als e r - in Übereinstimmung mit der These, die Marx in seiner Kritik am Gothaer Programmentwurf niedergelegt hatte - schrieb, daß in der demokratischen Republik, der höchsten Staatsform der modernen Gesellschaft, "der letzte Entscheidungs143 kämpf zwischen Proletariat und Bourgeoisie allein ausgekämpft werden kann" Mit der richtigen Bestimmung des dialektischen Wechselverhältnisses zwischen dem Kampf um Demokratie und dem Ringen um Sozialismus war die Antwort auf die Frage nach der Zielsetzung des Kampfes gegen die preußisch-bonapartistische Diktatur Bismarcks gegeben. Fiir Engels stand es außer Frage, daß auch der Übergang von der junkerlichbourgeoisen konstitutionellen Monarchie zur bürgerlich-demokratischen Republik in Deutschland nur auf revolutionärem Wege erfolgen kann. Heftig wandte sich Engels 1891 gegen opportunistische Illusionen, man könne "auf gemütlich-friedlichem Weg die Republik ein144 richten"
. Demokratische Republik bedeutete für Engels erstens die restlose Beseitigung
der Kle instaate re i und die Vernichtung Preußens: "Einerseits muß die Kleinstaaterei beseitigt werden . . . Andererseits muß Preußen aufhören zu existieren, muß in selbst verwaltende Provinzen aufgelöst werden, damit das spezifische Preußentum aufhört, auf Deutschland zu lasten. Kleinstaaterei und spezifisches Preußentum sind die beiden Seiten des Gegensatzes, worin Deutschland jetzt gefangenliegt und wo immer die eine Seite der anderen als Entschuldigung und Existenzgrund dienen muß." 145 Daher lobte Engels 1892 auch vor allem die "Lessing-Legende" von Franz Mehring: "Und die Zerstörung der preußischen 146 Legende ist absolut nötig, ehe Preußen in Deutschland verschwinden kann." Zweitens verstand Friedrich Engels unter demokratischer Republik als Alternative zum preußisch-deutschen Militärstaat, wie er in seiner Kritik des Erfurter Programmentwurfs formulierte, "Konzentration aller politischen Macht in den Händen der Volksvertre147 tung" und "vollständige Selbstverwaltung in Provinz, Kreis und Gemeinde durch nach allgemeinem Stimmrecht gewählte Beamte. Abschaffung aller von Staats wegen ernannten 148 Lokal- und Provinzialbehörden." Der Kampf um die demokratische Ordnung war aber keineswegs das Endziel der sozialistischen Bewegung, sondern nur das Teilziel einer unumgänglichen Etappe auf dem 143 Derselbe. Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: Ebenda, Bd 21, S. 167. 144 Derselbe. Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: Ebenda, Bd 22, S. 235. 145 Ebenda. 146 Friedrich Engels an August Bebel am 16. März 1892, in: Ebenda, Bd 38, Berlin 1968, S. 308. 147 Derselbe, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: Ebenda, Bd 22, S. 235. 148 Ebenda, S. 237.
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Wege zur Errichtung der Diktatur des Proletariats. "Die demokratische Republik", erläuterte W.I. Lenin den Gedanken von Engels, "ist der nächste Zugang zur Diktatur des Proletariats", denn diese Republik"führt unvermeidlich zu einer solchen Ausdehnung, Entfaltung, Entblößung und Verschärfung dieses Kampfes, daß, sobald einmal die Möglichkeit entsteht, die Grundinteressen der unterdrückten Klassen zu befriedigen, diese Möglichkeit 149 unausbleiblich und allein durch die Diktatur des Proletariats . . . verwirklicht wird." Sosehr Engels die Forderung nach der demokratischen Republik in Deutschland in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte, so ließ e r andererseits keinerlei Illusionen über ihren historischen Platz im Klassenkampf des Proletariats zu. 1894 schrieb e r an Lafargue: "Die Republik unterscheidet sich von der Monarchie dem Proletariat gegenüber nur dadurch, daß sie die fertige politische Form für die künftige Herrschaft des Proletariats i s t . . . Aber die Republik wird wie jede andere Regierungsform durch ihren Inhalt bestimmt; solange sie die Herrschaftsform der Bourgeoisie ist, ist sie uns genauso feindlich wie irgendeine Monarchie... Es ist also eine völlig unbegründete Illusion, sie ihrem Wesen nach für eine sozialistische Form zu halten... Wir können ihr Zugeständnisse ent150 reißen, aber ihr niemals die Ausführung unserer eigenen Arbeit übertragen." Engels erblickte daher in der demokratischen Republik den günstigsten Kampfboden für die Entscheidungsschlacht zwischen Bourgeoisie und Proletariat und mithin das Ziel der nächsten Etappe des Klassenkampfes in Deutschland. In Engels' Geschichtsbild über das letzte Drittel des 19. Jh. war die Arbeiterklasse die einzige Kraft in Deutschland, die in der Lage war, den preußisch-deutschen Militärstaat zu stürzen. Wenn auch Engels in den achtziger und neunziger Jahren durchaus noch unter bestimmten historischen Voraussetzungen damit rechnete, daß Teile der Bourgeoisie gezwungen werden, in den Kampf um eine bürgerliche Republik einzutreten, so erkannte e r doch letztlich in der Arbeiterklasse die entscheidende Kraft im Ringen um bürgerlichdemokratische Rechte und um eine demokratische Republik. Damit galt es für die Arbeiterklasse nach 1871, wie Engels ausdrücklich formulierte, "die versäumte Arbeit der 151 Bourgeoisie nach [zu] holen" und sich auf diese Weise gleichzeitig jenen Kampfboden zu verschaffen, auf dem "der letzte Entscheidungskampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie 152 allein ausgekämpft werden kann" 149 Lenin. W . I . , Staat und Revolution, in: Derselbe, Werke, Bd 25, Berlin 1960, S. 459. 150 Friedrich Engels an Paul Lafargue am 6. März 1894, in: Marx/Engels, Werke, Bd 39, S. 215 f . 151 Derselbe. Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: Ebenda, Bd 22, S. 233. 152 Derselbe, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: Ebenda, Bd 21, S. 167.
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Erstrangige Bedeutung maß Engels in diesem Zusammenhang in den letzten Jahrzehnten seines Lebens der jungen aufstrebenden revolutionären Bewegung in Rußland bei. Von einer bürgerlich-demokratischen Revolution in Rußland erwartete e r den entscheidenden Anstoß für die Entwicklung einer revolutionären Situation in Europa, speziell in Deutschland. Eine Revolution in Rußland, so meinte Engels, würde eine grundlegende Veränderung des Kräfteverhältnisses in Europa bringen und den Befreiungskampf des Proletariats außerordentlich erleichtern. Engels antizipierte die später tatsächlich eintretende Entwicklung,
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als e r schrieb: " . . . und Rußland bildet die Vorhut der revolutionären Aktion in Europa." Zum marxistischen Geschichtsbild Friedrich Engels' Uber das letzte Drittel des 19. Jh. gehört die Rolle der deutschen Arbeiterpartei als führender Kraft der Arbeiterklasse. Für ihn war es klar, daß die Arbeiterklasse ohne revolutionäre Partei nicht ihre historischen Aufgaben zu lösen vermochte. Den inneren Zusammenhang zwischen Arbeiterklasse, Partei und revoluionärer Alternative drückte Engels in seinem Begrüßungsschreiben an den Erfurter Parteitag aus, jenen Parteitag, auf dem sich die zur marxistischen Massenpartei gereifte Partei August Bebels und Wilhelm Liebknechts das Erfurter P r o gramm gab. Er erklärte: "Der Parteitag hat an einem glorreichen Datum angefangen. Der 14. Oktober ist der Jahrestag der Schlachten von Jena und Auerstedt, wo das alte vorrevolutionäre Preußen zusammenbrach. Möge der 14. Oktober 1891 für das verpreußte 154 Deutschland das von Marx vorausgesagte 'innere Jena' einleiten!" Friedrich Engels war sich, als e r diese Zeilen niederschrieb, vollkommen bewußt, daß der Sturz des preußisch-deutschen Militärstaates nicht automatisch und spontan erfolgen, sondern nur das Ergebnis eines erbitterten Klassenkampfes zwischen der Arbeiterklasse und ihren Verbündeten einerseits und dem junkerlich-bourgeoisen Ausbeuterblock andererseits sein konnte. Die Dialektik dieses Klassenkampfes, das Ringen der beiden entgegengesetzten Klassenlinien bestimmen das Geschichtsbild von Friedrich Engels. Der Bourgeoisie räumte Friedrich Engels nach 1871 auf Grund ihres Verrats selbst ihrer eigenen Interessen keinerlei historische Perspektive mehr ein. "Unsere deutsche Bourgeoisie ist dumm und feig", schrieb e r 1889, "sie hat nicht einmal verstanden, die ihr 1848 durch die Arbeiterklasse erkämpfte politische Herrschaft zu ergreifen und festzuhalten; die A r beiterklasse muß in Deutschland erst die Reste des Feudalismus und des patriarchalischen Absolutismus wegfegen, die unsere Bourgeoisie längst aus der Welt zu schaffen verpflichtet w a r . " 155 Die deutsche Bourgeoisie hat nie die Fähigkeit besessen, schrieb er an anderer 153 Derselbe [Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des "Manifests der Kommunistischen Partei"] (1882), in: Ebenda, Bd 19, S. 296. 154 Friedrich Engels an Karl Kautsky am 14. Oktober 1891, in: Ebenda, Bd 38, S. 180. 155 Derselbe. Die Abdankung der Bourgeoisie, in: Ebenda, Bd21, S. 383.
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Stelle in der gleichen Arbeit, "als herrschende Klasse die Nation zu führen und zu vertreten"*^ Demgegenüber hat Friedrich Engels die Kraft und die historische Rolle der Arbeiterklasse erkannt und ihr vertraut, als diese sich erst keimhaft regte. Am Ende seines Lebens 157 war die Arbeiterklasse "in den Vordergrund der gesellschaftlichen Entwicklung gedrängt" Wenn Engels mit Stolz auf die große internationale "Armee von Sozialisten, unaufhaltsam vorwärtsschreitend, täglich wachsend an Zahl, Organisation, Disziplin, Einsicht und 158 Siegesgewißheit" verwies und hervorhob: "Alles was geschieht in der ganzen Welt, 159 geschieht mit Rücksicht auf uns. Wir sind eine Großmacht..." , so wußte er, daß damit die Rolle und Verantwortung der Arbeiterklasse und speziell ihrer revolutionären Partei außerordentlich angewachsen war. "Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabeisein, selbst schon begriffen haben, für was sie mit Leib und Leben eintreten . . . verstehen, was 160 zu tun i s t . "
Die Verbindung von wissenschaftlichem Kommunismus und Arbeiterbewegung,
die die revolutionäre Partei verkörpert und gewährleistet, gewann damit entscheidend an Gewicht als conditio sine qua non des siegreichen Kampfes der Arbeiterklasse. "In unserer Taktik steht eins fest für alle Länder und Zeiten: Die Arbeiter zur Bildung einer eigenen, unabhängigen und allen bürgerlichen Parteien 161 entgegengesetzten Partei zu bringen", bekräftigte Engels 1892 gegenüber Kautsky.
Und er erhärtete dieses Axiom des wissen-
schaftlichen Kommunismus - dabei die wachsende Rolle der Partei betonend - gerade unter dem Bezugspunkt des "Tags der Entscheidung": "Daß das Proletariat seine politische Herrschaft, die einzige Tür in die neue Gesellschaft, nicht erobern kann ohne gewaltsame Revolution, darüber sind wir einig. Damit am Tage der Entscheidung das Proletariat stark genug ist, zu siegen, ist es nötig - und das haben M[arx] und ich schon seit 1847 vertreten - , daß es eine besondere Partei bildet,162 getrennt von allen anderen und ihnen entgegengesetzt, eine selbstbewußte Klassenpartei." Gegen scheinradikale und offen rechtsopportunistische Bestrebungen forderte Engels revolutionäre, auf die Perspektive des proletarischen Klassen156 Ebenda, S. 384. 157 Derselbe. Einleitung [zu "Die Klassenkämpfe in Frankreich"], in: Ebenda, Bd 22, S. 510. 158 Ebenda. 159 Derselbe [Rede auf einer sozialdemokratischen Versammlung in Wien am 14. September 1893], in: Ebenda, S. 410. 160 Derselbe. Einleitung [zu "Die Klassenkämpfe in Frankreich"], in: Ebenda, S. 523. 161 Friedrich Engels an Karl Kautsky am 14. Oktober 1891, in: Ebenda, Bd 38, S. 446. 162 Friedrich Engels an Gerson T r i e r am 18. Dezember 1891,in: Ebenda, Bd 37, S. 326.
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
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kampfes ausgerichtete Konsequenz und schöpferische Anwendung des Marxismus als Grundlage für den erfolgreichen Kampf der Partei. Dabei ließ sich Engels von der Grundauffassung leiten, daß die Bolle der revolutionären Arbeiterpartei unaufhörlich wächst, sowohl bei der Vorbereitung der Arbeiterklasse auf die Entscheidungsschlacht gegen die Ausbeuterklassen und ihr Gesellschaftssystem und bei der Heranführung der Massen an die Revolution 163 als auch - mit schnell wachsender Gewichtigkeit - am "Tag der Entscheidung" , erst recht danach, "um den Sieg zu sichern, um die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft 164 zu zerstören"
und den Sozialismus aufzubauen.
Fiir Engels wie für Marx war die Erkenntnis von der historischen Mission der deutschen Arbeiterklasse und ihrer führenden Kraft, der revolutionären Arbeiterpartei, der entscheidende Kern des vcn ihnen konzipierten Bildes über die Geschichte des deutschen Volkes. In diesem Sinne schrieb Engels als Prinzip der Geschichtsschreibung, daß "der Schlachtendonner von Spichern, Mars-la-Tour und Sedan, und was daranhängt, weit weniger Bedeutung haben als die anspruchslose, ruhig aber stetig fortschreitende Entwicklung des 165 deutschen Proletariats" Die Arbeiten, die Engels in seinen letzten Lebensjahren verfaßte, und besonders sein interner Briefwechsel belegen eindrucksvoll, daß e r die Haupttendenz der gesellschaftlichen Entwicklung im Heranreifen der objektiven und subjektiven Voraussetzungen für den Kampf der Arbeiterklasse um die politische Macht erkannte. Diese Auffassung entsprach prinzipiell dem Charakter der Epoche, in der sich bis zur Jahrhundertwende der unmittelbare Übergang zum Imperialismus vollzog. Freilich sah Engels, wie bekannt, den möglichen Zeitpunkt der Entscheidungsschlacht zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie auch in Deutschland in verkürzter Perspektive. Doch hat e r das Ereignis selbst auf Grund seiner Einsicht in die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten richtig vorausgesagt. W.I. Lenin hat an die Grundgedanken des Engelsschen Geschichtsbildes angeknüpft, als e r die in sich geschlossene Theorie der sozialistischen Revolution unter den neuen Bedingungen des Imperialismus entwickelte. Unter der Führung der Partei der Bolschewiki hat die russische Arbeiterklasse im Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft zum ersten Male die von Engels wie Marx ausgearbeitete Theorie und konzipierte proletarische Revolution verwirklicht. Es war ein Akt von tiefster Symbolik, wenn die junge Sowjetmacht, 163 Derselbe, Einleitung [zu "Die Klassenkämpfe in Frankreich"], in: Ebenda, Bd 22, S. 524; siehe auch ebenda, Bd 37, S. 326. 164 Friedrich Engels an Paul Lafargue am 2. Juni 1894, in: Ebenda, Bd 39, S. 255. 165 Derselbe (Vorbemerkung zur dritten Auflage "Der deutsche Bauernkrieg"] , in: Ebenda, Bd 18, S. 515.
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im schwersten Existenzkampf gegen ihre inneren und äußeren Feinde befindlich und alle Kraft dafür benötigend, knapp ein Jahr nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution ein Denkmal für Karl Marx und Friedrich Engels schuf. Bei der Einweihung des Grundsteins dieses Denkmals umriß W.I. Lenin prägnant den zentralen Kern des Engelsschen Geschichtsbildes: "Das große weltgeschichtliche Verdienst von Marx und Engels besteht darin, daß sie durch ihre wissenschaftliche Analyse den Beweis erbracht haben für die Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus sowie seines Übergangs zum Kommunismus, in dem es keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mehr geben wird. Das große weltgeschichtliche Verdienst von Marx und Engels besteht darin, daß sie den Proletariern aller Länder ihre Rolle, ihre Aufgabe, ihre Berufung aufgezeigt haben: sich als erste zum revolutionären Kampf gegen das Kapital zu erheben und in diesem Kampf 166
alle Werktätigen und Ausgebeuteten um sich zu vereinigen."
Friedrich Engels selbst
hat diesen Grundgedanken am Ende seines Lebens mit den Worten formuliert: "Die Morgenröte einer neuen und besseren Gesellschaft steigt für die unterdrückten Klassen aller Länder leuchtend empor. Und überall schließen die Unterdrückten ihre Reihen; überall reichen sie sich über die Grenzen, über die verschiedenen Sprachen hinweg die Hand. Es formiert sich das Heer des internationalen Proletariats, und das nahende neue Jähr167 hundert wird es zum Siege führen!" Die von Marx und Engels herausgearbeiteten grundlegenden Entwicklungslinien der deutschen Geschichte haben sich auch für das 20. Jh. als gültig erwiesen. Die deutsche Geschichte wurde auch in unserem Jahrhundert bestimmt von der Dialektik des Kampfes der zwei Klassenlinien. Trotz der Niederlagen und Rückschläge, die die fortschrittlichen Kräfte noch erlitten, trat deutlicher als in früheren Jahrhunderten durch den Kampf der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei die aufsteigende, progressive Linie in den Mittelpunkt der geschichtlichen Entwicklung und vermochte sich mit den ersten beiden siegreichen Revolutionen in der deutschen Geschichte, der antifaschistisch-demokratischen und der sozialistischen Revolution auf dem Boden der DDR, erstmals voll durchzusetzen. Die geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jh. bestätigen vollauf die Engelssche Auffassung über die historische Stellung und Rolle der deutschen Bourgeoisie. Diese Klasse, die, wie Engels 1889 resümierend schrieb, "die Fähigkeit, als herrschende Klasse die 168 Nation zu führen und zu vertreten, nie gehabt hat" , die ihre eigene Revolution 1848/1849 166 Lenin, W.I.. Rede bei der Enthüllung eines Denkmals für Marx und Engels (7. Oktober 1918), in: Derselbe, Werke, Bd 28, Berlin 1959, S. 160. 167 Engels. Friedrich [Grußadresse an die Sozialisten Siziliens], in: Marx/Engels, Werke, Bd 22, S. 477. 168 Derselbe, Die Abdankung der Bourgeoisie, in: Ebenda, Bd 21, S. 384. «
Friedrich Engels zu einigen Grundproblemen
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verriet und sich mit der reaktionären Junkerklasse gegen das Volk und den historischen Fortschritt verbündete, stürzte in der Niedergangsphase ihrer Geschichte das deutsche Volk und die Völker Europas in zwei Weltkriege und setzte selbst die Existenz des deutschen Volkes aufs Spiel. Der reaktionäre und volksfeindliche Charakter der deutschen Bourgeoisie ließ sie in unserem Jahrhundert zur größten Gefahr für den Frieden in Europa werden. Die deutsche Arbeiterklasse, die im 19. Jh. zu einer geschichtlichen Macht herangewachsen war, erwies sich als die entscheidende Kraft gegen die verhängnisvolle Politik der deutschen Bourgeoisie. Zwar gelang es der deutschen Arbeiterklasse im ersten Ansturm auf die Bastionen des deutschen Imperialismus und Militarismus während der Novemberrevolution von 1918 noch nicht, die Macht des Imperialismus zu stürzen und eine friedliche, demokratische und sozialistische Entwicklung einzuleiten. Doch der nächste große revolutionäre Ansturm, die antifaschistisch-demokratische und die sozialistische Revolution auf dem Boden der DDR, sah die reaktionären Verderber Deutschlands bereits auf der Verliererseite. Mit ihnen wurde die entscheidende Wende in der deutschen Geschichte eingeleitet. Das gelang vor allem deshalb, weil die Erfahrungen, die die Arbeiterklasse 1918 und in den folgenden Jahren gesammelt hatte, ausgewertet, die Lehren aus der siegreichen Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und der niedergeschlagenen deutschen Novemberrevolution von der revolutionären marxistisch-leninistischen Partei gezogen wurden. Was von den revolutionären deutschen Bauern in der frühbürgerlichen Revolution von 1517 bis 1526 nicht erreicht wurde, weil sie ohne Führungskraft blieben, wozu die deutschen Bourgeois sich 1848/1849 als unfähig erwiesen, weil sie den Profit höher stellten als die Interessen des gesellschaftlichen Fortschritts, das vollbrachte die deutsche Arbeiterklasse in den zwei größten deutschen Revolutionen auf dem Boden der DDR, nachdem sie den bürgerlichen Einfluß auf die Arbeiterbewegung und ihre dadurch verursachte Spaltung überwunden hatte, die sie 1918 noch daran hinderte, als Sieger aus den Klassenkämpfen hervorzugehen. Die Arbeiterklasse erzwang den seit Jahrhunderten notwendigen Durchbruch zu einer progressiven Entwicklung, die in unserer Epoche nur in sozialistischen Bahnen verlaufen kann. Es traf die Voraussage von Marx und Engels ein, "daß die geschichtliche Leitung Ubergegangen ist auf das Proletariat, eine Klasse, die sich nach ihrer ganzen Gesellschaftslage nur dadurch befreien kann, daß sie alle Klassenherrschaft, alle Knecht 169 schaft und alle Ausbeutung überhaupt beseitigt"
. Die Errichtung der Arbeiter-und-Bau-
ern-Macht und der Auf- und Ausbau der sozialistischen Gesellschaft brachten die große geschichtliche Wende. Erstmals in der deutschen Geschichte war der Erfolg den Volksmassen 169 Derselbe. Karl Marx, in: Ebenda, Bd 19, S. 104.
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beschieden, weil sie von der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei geführt wurden. Ihr Sieg in der DDR ist endgültig und unwiderruflich. Auf deutschem Boden ist mit dem Sieg der Arbeiterklasse unter Führung ihrer Partei und dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der DDB das Engelssche Vermächtnis erfüllt worden. Damit verwirklicht sich das sozialistische Geschichtsbild Friedrich Engels', das die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats, die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei und die Grundsätze des proletarischen Internationalismus für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft zum entscheidenden Zentralpunkt hat. Mit der Gründung der DDR haben in der deutschen Geschichte jene Kräfte gesiegt, die stets erbittert gegen politische Unterdrückung und ökonomische Ausbeutung, für den historischen Fortschritt und für den Sieg des Volkes gestritten haben. So ist auf deutschem Boden als Ergebnis des jahrhundertelangen Ringens zwischen Fortschritt und Reaktion ein Staat entstanden, der die sozialistische Epoche der deutschen Geschichte eröffnet. Die DDR verkörpert die von Engels bis in seine letzten Lebensjahre hinein herausgearbeitete aufsteigende, progressive Linie unseres Volkes, sie bildet die entscheidende Wende und die Gestaltung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus den bisherigen Höhepunkt der deutschen Geschichte. Brüderlich mit der Sowjetunion verbunden, wächst die Deutsche Demokratische Republik unter der bewährten Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei als ein Staat, der sich in voller Übereinstimmung mit dem Grundgesetz unserer Epoche, der Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus im Weltmaßstab, befindet. Mit dieser historischen Entwicklung hat das von Friedrich Engels ausgearbeitete und konzipierte Geschichtsbild seine glänzende Bestätigung durch die gesellschaftliche Praxis auch im Geburtsland der Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus gefunden.
WOLFGANG SCHRÖDER
Marxismus und Opportunismus in der Gewerkschaftsfrage 1 8 9 1 — 1 8 9 3
1 Im Kampf gegen den junkerlich-bourgeoisen, preußisch-deutschen Militärstaat war die Partei August Bebels und Wilhelm Liebknechts zur marxistischen Massenpartei gewachsen und hatte sich zur stärksten und einflußreichsten Kraft der internationalen Arbeiterbewegung entwickelt. Mit ihrem Sieg über Bismarck und das Sozialistengesetz hatte sie bewiesen, daß die revolutionäre Arbeiterbewegung nicht nur der Politik des Klassenstaates erfolgreich zu trotzen, sondern sogar strategische Leitlinien der herrschenden Klassen zu durchkreuzen vermochte. Grundlage ihres erfolgreichen Kampfes war die Durchsetzung des Marxismus in der deutschen Arbeiterbewegung, die sich im marxistischen Erfurter Programm (1891) dokumentierte und das Ergebnis sowohl der unablässigen Hilfe von Karl Marx und Friedrich Engels als auch der Erfahrungen war, die die Parteien im Klassenkampf gesammelt hatte. 1 Es war diese Verbindung von praktischen Kampferfahrungen und der Aneignung der marxistischen Theorie, die die deutsche Arbeiterbewegung dazu befähigt hatte, wichtige Probleme des proletarischen Klassenkampfes zukunftsweisend zu lösen. Zu diesen Leistungen gehörten insbesondere die Schaffung der revolutionären Arbeiterpartei und ihre Entwicklung
1 2
Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in 8 Bdn, Bd 1, Berlin 1966, S. 416 ff. j Bartel. Horst, Die Durchsetzung des Marxismus in der deutschen Arbeiterbewegung im letzten Drittel des 19. J h . , in: ZfG 1966, H. 8, S. 1334 ff. Vgl. Bartel, Horst/Schmidt. Walter. Zur Entwicklung der Auffassungen von Marx und Engels Uber die proletarische Partei, in: Marxismus und deutsche Arbeiterbewegung, Studien zur sozialistischen Bewegung im letzten Drittel des 19. J h . , hg. von Horst' Bartel, Hellmut Hesselbarth, Wolfgang Schröder und Gustav Seeber, Berlin 1970, S. 7 ff.; Schmidt.Walter. Kontinuität und neue Qualität in der Entwicklung der Parteiauffassung von Marx und Engels zu Lenin, in: BzG 1969, H. 6, S. 915 ff.
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Wolfgang Schröder
2 3 zur marxistischen Massenpartei , die revolutionäre Parlamentstaktik oder die unter dem 4 Sozialistengesetz praktizierte Verbindung von legalem und illegalem Kampf. Dazu gehörte ebenfalls die Lösung des Gewerkschaftsproblems, die - auf der Grundlage der von Marx und Engels entwickelten g Konzeption - bereits prinzipiell mit der Gründung der Eisenacher Partei erreicht wurde und wegweisend für die internationale Arbeiterbewegung werden sollte. Allerdings hatte die fast 25jährige Erfahrung, die die revolutionäre Sozialdemokratie seit der Herausbildung der Eisenacher Partei gesammelt hatte, auch erwiesen, daß die Lösung solch grundsätzlicher Fragen des proletarischen Klassenkampfes nicht ein einmaliger Akt, sondern ein ständiger Prozeß war. Und was für die Erscheinungsformen und Kampfmethoden der Arbeiterbewegung überhaupt galt, das traf auch auf das Gewerkschaftsproblem zu: Auch prinzipiell richtige Grundsätze mußten stets von neuem überprüft und vertieft, konkretisiert und entsprechend neuen Erfordernissen des Klassenkampfes weiterentwickelt werden, und zwar sowohl in der theoretischen Auffassung als auch in der politischen Praxis. Tatsächlich wurden die Rolle der Gewerkschaftsbewegung und das wechselseitige Verhältnis von Partei und Gewerkschaften jeweils dann von neuem diskutiert, wenn sich die objektiven Kampfbedingungen veränderten oder die Arbeiterbewegung selbst einen neuen Abschnitt
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Vgl. Seeber, Gustav, Die deutsche Sozialdemokratie und die Entwicklung ihrer revolutionären Parlamentstaktik von 1867 bis 1893, Einführung in die originalgetreue Reproduktion des Buches "Die Sozialdemokratie im deutschen Reichstag", Berlin 1970; derselbe, Wahlkämpfe, Parlamentsarbeit und revolutionäre Politik, in: Marxismus und deutsche Arbeiterbewegung, S. 219 ff.; Weien, Manfred, Die Entwicklung der revolutionären Parlamentstaktik der deutschen Sozialdemokratie und der Kampf um ihre Durchsetzung in den ersten Jahren des Sozialistengesetzes unter bes. Berücksichtigung der Jahre von 1878 bis 1884, phil.Diss., Leipzig 1968. Vgl. Bartel, Horst. Marx und Engels im Kampf um ein revolutionäres deutsches Parteiorgan 1879 - 1890. Zu einigen Problemen der Hilfe von Karl Marx und Friedrich Engels für den Kampf des "Sozialdemokrat" gegen das Sozialistengesetz, Berlin 1961; Engelberg, Ernst. Revolutionäre Politik und Rote Feldpost, 1878 - 1890, Berlin 1959; Gemkow. Heinrich, Friedrich Engels' Hilfe beim Sieg der deutschen Sozialdemokratie über das Sozialistengesetz, Berlin 1957; Fricke, Dieter, Bismarcks Prätorianer, Die Berliner politische Polizei im Kampf gegen die deutsche Arbeiterbewegung (1871 bis 1898), Berlin 1962; Seeber, Gustav. Lenin und die deutsche Arbeiterbewegung von 1871 bis zum Ausgang des 19. J h . , in: BzG, H. 2, S. 191 ff. Vgl. Herrmann, Ursula, Der Kampf von Karl Marx um eine revolutionäre Gewerkschaftspolitik In der I. Internationale 1864 - 1868, Berlin 1968. Ettelt. Werner/Schröder, Wolfgang, Zur Rolle der Gewerkschaftsbewegung bei der Herausbildung der "Eisenacher" Partei, in: Die großpreußisch-militärische Reichsgründung, hg. von Horst Bartel und Ernst Engelberg, 1. Bd, Berlin 1970, S. 552 ff.
Marxismus und Opportunismus i h r e r Entwicklung e r r e i c h t e .
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Beides war besonders in den neunziger Jahren des 19. J h .
der Fall, die sich auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens als eine Zeit des Übergangs erwiesen.
8
In diesen Jahren galt e s , erstmalig in der internationalen Arbeiterbewegung die Strategie der marxistischen Massenpartei im Ringen um die Eroberung der politischen Macht und die Vorbereitung der Massen auf die entscheidenden Klassenkämpfe konkret auszuarbeiten. Ein Teilproblem dieses zentralen Komplexes war die Gewerkschaftsfrage. Anliegen des vorliegenden Aufsatzes ist es, die Auseinandersetzungen um die Gewerkschaftskonzeption zu verfolgen, die in den beginnenden neunziger Jahren des 19. J h . zwischen Marxismus und Opportunismus in der deutschen Arbeiterbewegung geführt wurden und auf dem Kölner P a r teitag 1893 einen Höhepunkt erreichten. Wie der Kampf der Arbeiterklasse überhaupt, so war auch das gewerkschaftliche Ringen keineswegs auf eine Ebene beschränkt, sondern erfaßte alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Was Marx Mitte der sechziger J a h r e aussprach, als e r die gewerkschaftlichen Organisationen "nicht nur als Mittel der Organisation der Arbeiterklasse zum Kampfe mit der Bourgeoisie" beurteilte, sondern zugleich - in bezug auf den militaristischen Staat - als "ein Durchbrechen der Polizeiherrschaft und des B ü r o k r a t i s m u s . . . , eine Maß9 regel zur Mündigmachung der ' Untertanen'" wertete , galt auch f ü r den Ausgang des 19. J h . Die Rolle der Gewerkschaften ist nur zu e r f a s s e n , wenn man ihre mehrdimensionalen Aktivitäten berücksichtigt, sei es hinsichtlich des Erweckens, Sammeins und Organisierens der Arbeiterklasse, des Konsolidierens der Verbände und i h r e r Gliederungen, i h r e r V e r teidigung gegen die herrschenden Klassen, gegen offene Repressalien und scheinbare V e r lockungen, sei es hinsichtlich des Schutzes der Arbeiterklasse gegenüber den Unternehmern und dem Ausbeuterstaat
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durch ökonomische Forderungen und Streiks, durch Abwehr von
Vgl. Ettelt, Werner. Der Kampf um die Durchsetzung einer marxistischen Gewerkschaftspolitik in der deutschen Arbeiterbewegung... 1868 bis 1873, phil. D i s s . , Berlin 1966; Krause. Hans-Dieter. Der Kampf um die Durchsetzung einer marxistischen Gewerkschaftspolitik in der deutschen Arbeiterbewegung . . . 1873 bis 1878, phil. D i s s . , Berlin 1965; F ö r s t e r . Alfred. Die Gewerkschaftspolitik der deutschen Sozialdemokratie während des Sozialistengesetzes (1880 bis 1885/86), phil. D i s s . , Berlin 1969; Schröder. Wolfgang. Die Gewerkschaftsbewegung in der Konzeption der revolutionären Sozialdemokratie 1869 bis 1891, in: Marxismus und deutsche Arbeiterbewegung, S. 103 f f . Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 1, S. 418 f f . ; Engelberg. E r n s t , Deutschland von 1871 bis 1897, Berlin 1965 (Lehrbuch der deutschen Geschichte, Beiträge, 8), S. 289 f f . Karl Marx an Friedrich Engels am 18.2.1865, in: MEW, Bd 31, S. 76.
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Aussperrungen und Maßregelungen, durch Kritik und Kontrolle gesetzlicher Bestimmungen, sei es das Wahrnehmen demokratischer Rechte oder die Forderung nach ihnen usw. Die Gewerkschaften waren, alles in allem, ein Mittel, die Arbeiter "selbständig gehn zu l e h r e n " ^ , die Arbeiterklasse selbstbewußt und kampffähig zu machen, sie den unüberbrückbaren Klassengegensatz zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie und dem junkerlichbourgeoisen Militärstaat erkennen zu lehren und sie zum Kampf um die proletarische Alternative gegenüber dem bestehenden Ausbeutungs- und Herrschaftssystem zu führen. Diese Alternativstellung der freien Gewerkschaften gegenüber den herrschenden Klassen - auch das "Correspondenzblatt der Generalkommission" zeugt davon - war die entscheidende Komponente für die Rolle der Gewerkschaften im Klassenkampf, und gerade diese Komponente wurde in erster Linie durch die Existenz und den Einfluß der revolutionären marxistischen Massenpartei geprägt. Als Bestandteil der von der Partei August Bebels und Wilhelm Liebknechts geführten sozialistischen Arbeiterbewegung hatten die freien Gewerkschaften wesentlichen Anteil an der Organisierung des Klassenkampfes, der Vertretung der Interessen der Arbeiterklasse und an der Verbreiterung der Basis der sozialistischen Bewegung. Diesen größeren Zusammenhang haben wir vorausgesetzt, wenn wir im folgenden mit der Frage nach der Gewerkschaftskonzeption eine Komponente aus diesem - durch die dialektische Einheit von ökonomischem, politischem und ideologischem Kampf bestimmten - Komplex näher betrachten. Die vorliegende Studie erfaßt nur einen Teilaspekt der politisch-ideologischen Auffassungen der freien Gewerkschaftsbewegung, und zwar in mehrfachem Sinne: Einmal erscheint uns die weitergehende Frage nach den politisch-ideologischen Positionen der freien Gewerkschaften, die sich ganz besonders auf die auch im ideologischen Bereich bestimmende prinzipielle Feindschaft gegenüber dem Kapitalismus und der Bourgeoisie als Klasse sowie dem junkerlich-bourgeoisen Gesellschaftssystem und dem antidemokratischen Militärstaat einerseits und der grundsätzlichen sozialistischen Zielstellung andererseits konzentrieren müßte, eine umfassendere Untersuchung zu erfordern, als die vorliegende Studie sein kann. Zum anderen konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die Generalkommission und deren Vorsitzenden Carl Legien, die jedoch - zu Beginn der neunziger Jahre noch weniger denn je - mit der freien Gewerkschaftsbewegung keineswegs identisch war. Es sei ausdrücklich hervorgehoben, daß die im folgenden angeführten Auffassungen Legiens keineswegs von dem gesamten gewerkschaftlichen Funktionärskörper geteilt oder gar bedingungslos unterstützt wurden. Über die innergewerkschaftliche Diskussion
10 Karl Marx an J . B . von Schweitzer am 13.10.1868, in: Ebenda, Bd 32, S. 570.
Marxismus und Opportunismus
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zur Gewerkschaftsauffassung - die Bolle und Funktion der Gewerkschaftsbewegung als Bestandteil der sozialistischen Arbeiterbewegung im Klassenkampf - wird eine selbständige Untersuchung vorbereitet. Endlich muß einschränkend darauf verwiesen werden, daß wir die Gewerkschaftskonzeption primär mit dem Maßstab der sozialistischen Zielsetzung des proletarischen Klassenkampfes messen, was vor allem deshalb notwendig ist, weil die politisch-ideologischen Auffassungen der Führungsgremien untersucht werden. Gemessen an der sozialistischen Ideologie und in der Konfrontation mit der marxistischen Massenpartei, erscheinen notwendig tradeunionistische Vorstellungen als bürgerliche Ideologie innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung. Dieser Aspekt muß bei der Frage nach der Gewerkschaftskonzeption der entscheidende sein. Hierbei sind jedoch drei Einschränkungen zu machen: Zunächst ist das tradeunionistische Bewußtsein, also jenes Bewußtseinsniveau, zu dem'die Arbeiter selbständig zu gelangen vermögen, nicht nur bürgerliche Ideologie, sondern Ausgangspunkt und Durchgangsstufe im Prozeß der Aneignung des sozialistischen Klassenbewußtseins, das durch den wissenschaftlichen Kommunismus verkörpert ist. Dieser Aspekt mußte in unserer Untersuchung notwendig zurücktreten. Zum anderen sicherte der überragende Einfluß der marxistischen Massenpartei, daß tradeunionistische Vorstellungen in der deutschen Arbeiterbewegung von vornherein - im Gegensatz zum "alten" Unionismus oder zu den Hirsch-Dunckerächen Gewerkvereinen - , mit sozialistischen Auffassungen verbunden, auf das sozialistische Ziel des proletarischen Klassenkampfes ausgerichtet waren. Schließlich handelt es sich auch bei den theoretischen Auffassungen Legiens in der hier behandelten Zeitspanne zwar um Anzeichen einer nichtmarxistischen Konzeption der Gewerkschaftsbewegung, vor allem im Hinblick auf den Weg zum sozialistischen Ziel, aber diese Konzeption war noch nicht voll ausgebildet, in der freien Gewerkschaftsbewegung noch keinesfalls vorherrschend und, was besonders wichtig ist: Sie war korrigierbar. Hierum gingen im Grunde die Auseinandersetzungen. Untersucht die vorliegende Studie auch nur einen begrenzten Teilausschnitt der Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Opportunismus in der Gewerkschaftsfrage, so handelt es sich doch um Probleme, die - wie die weitere Entwicklung eindringlich bewies weitreichende Konsequenzen in sich bargen. Entscheidend für den Charakter und die Konzeption der sozialistischen Arbeiterbewegung war die Durchsetzung des Marxismus, die sich in der Herausbildung der marxistischen Massenpartei und dem Erfurter Programm dokumentierte und auch die Positionen der freien Gewerkschaftsbewegung bestimmte. Der Marxismus wurde von der kämpfenden A r beiterklasse aufgenommen undsetzte sich -entsprechend den konkreten Anforderungen des
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Klassenkampfes - in seinen verschiedenen Bestandteilen unterschiedlich durch. So ist offensichtlich, daß sich die wichtigsten ökonomischen Kategorien des Marxismus alp entscheidende Kriterien sowohl der Einschätzung des Kapitaiismus als auch der sozialistischen Ziel Verstellung in der gesamten Arbeiterbewegung durchgesetzt hatten. Hier zeigte sich die Wirkung von Marx' "Kapital" besonders deutlich. Die Gewerkschaftszeitungen, deren Analyse unsere Erkenntnisse über den Grad der Aneignung und Anwendung des Marxismus durch die Arbeitermassen wesentlich ergänzen kann, beweisen zugleich, daß, von diesen ökonomischen Kategorien ausgehend, zentrale politisch-ideologische Prinzipien des Marxismus wie etwa die Auffassung von der Rolle der Arbeiterklasse, vom Klassenkampf gegen die Ausbeuterklassen und den preußisch-deutschen Militärstaat, vom proletarischen Internationalismus, von der Notwendigkeit der Überwindung des kapitalistischen Gesellschaftssystems usw. zum Allgemeingut der Arbeiterklasse geworden waren. Dabei ist freilich unverkennbar, daß die Aneignung des Marxismus und seine schöpferische Anwendung im Klassenkampf keineswegs ein abgeschlossener Prozeß war, sondern eine ständige Aufgabe blieb. Dabei galt es vor allem, die schnelle Ausbreitung des Einflusses des Marxismus durch eine theoretische Vertiefung der marxistischen Erkenntnisse zu vervollkommnen, die Aufnahme wesentlicher Grundsätze des wissenschaftlichen Kommunismus zur Aneignung des Marxismus als Gesamtsystem weiterzufuhren. Die komplexe Aneignung des Marxismus war die Voraussetzung für seine konsequente, schöpferische Anwendung im Klassenkampf. In den neunziger Jahren des 19. Jh. gewann dabei der theoretisch-ideologische Kampf weiter an Gewicht: Erstens mußten viele neuzurproletarischen Bewegung gestoßene Arbeiter innerhalb der marxistischen Massenpartei zum sozialistischen Klassenbewußtsein erzogen werden; der ideologische Reifeprozeß, den die revolutionäre Sozialdemokratie vom Eisenacher zum Erfurter Programm durchlaufen hatte, reproduzierte sich in diesem Sinne mit dem wachsenden Einfluß der Partei auf die gesamte Arbeiterklasse stets von neuem. Das galt auch für die anderen Arbeiterorganisationen, vorwiegend für die Gewerkschaften. Zweitens wurden durch den unmittelbaren Übergang zum Imperialismus, der sich in den neunziger Jahren vollzog, besonders hohe Ansprüche an die ideologisch-theoretische Leistung der Arbeiterklasse und ihrer Partei gestellt. Das resultierte einerseits aus den sich sukzessive verändernden objektiven Kampfbedingungen, andererseits aus der neuen gesellschaftlichen Rolle, in die die Arbeiterklasse mit dem Heranreifen der neuen weltgeschichtlichen Epoche hineinwuchs und die qualitativ neue Anforderungen an den subjektiven Faktor stellte. Die theoretis'che Verarbeitung dieser Veränderungen, die alle Grundprobleme des Klassenkampfes von neuem aufwarfen, und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen
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für die Strategie und Taktik der gesamten Arbeiterbewegung waren in den neunziger Jahren des 19. Jh. zusätzlich kompliziert, als es sich um die Zeit des Umschlags handelte, in der entscheidende Wesenszüge der neuen Epoche erkennbar wurden, die alten Kampfbedingungen aber noch vorherrschten. Die Lösung der neu heranreifenden Fragen war um so dringender, als die noch ungelösten Probleme des proletarischen Klassenkampfes nicht nur Ansatzpunkte, sondern zugleich Quellen für opportunistische Auffassungen und Bestrebungen darstellten. Der Opportunismus konnte nur dann nicht nur zurückgewiesen, sondern wirklich überwunden werden, wenn es den marxistischen Kräften gelang, durch die schöpferische Anwendung des Marxismus auf die zur Lösung drängenden Fragen vollgültige Antwort zu geben. Jede marxistische Antwort mußte im unmittelbaren Klassenkampf gegen den junkerlich-bourgeoisen Militärstaat und die diesen tragenden Klassen sowie in zugespitzter Auseinandersetzung mit opportunistischen Konzeptionen und Kräften innerhalb der Arbeiterbewegung erarbeitet werden. Das traf ebenfalls auf das Gewerkschaftsproblem zu. Drittens bewirkten einerseits die Veränderungen der objektiven Kampfbedingungen, andererseits die flexiblere Taktik der herrschenden Klassen in ihrem Kampf gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung eine Aktivierung opportunistischer Bestrebungen innerhalb der proletarischen Bewegung. Der von Lenin nachgewiesene direkte Zusammenhang von Imperialismus und Opportunismus galt bereits für die Zeit des Übergangs zum Imperialismus. Auch in dieser Beziehung ist die wachsende Rolle des ideologisch-theoretischen Kampfes unverkennbar: Die bürgerliche Ideologie war endgültig von der Ignoranz gegenüber dem wissenschaftlichen Kommunismus zum - historisch-defensiven - Kampf gegen den Marxismus übergegangen und konzentrierte sich immer mehr darauf. So waren in den neunziger Jahren auf allen Gebieten wachsende Anforderungen an die revolutionäre Einheit der sozialistischen Arbeiterbewegung gestellt. Als ein Faktor, der diese revolutionäre Einheit, die nur durch den Marxismus gewährleistet werden konnte, gefährdete, erwiesen sich dabei tradeunionistische Bewußtseinselemente, die in der Gewerkschaftsbewegung immanent vorhanden waren und in der Generalkommission einen Kristallisationsicern erhielten. Historisch gesehen bildeten tradeunionistische Auffassungen und Bestrebungen vielfach jene politisch-ideologische Ausgangsposition, von der die Arbeiterklasse die Aneignung marxistischer Grundsätze in Angriff nahm. Dieser historische Prozeß, der im Wirken der I. Internationale besonders deutlich wird, reproduzierte sich ständig von neuem, vor allem durch den Eintritt bisher unorganisierter Kräfte - die zum sozialistischen Klassenbewußtsein erzogen werden mußten - in die Arbeiterbewegung, aber auch dadurch,
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daß die kapitalistischen Verhältnisse tradeunionistische Auffassungen in der Arbeiterklasse immer wieder erzeugen. Die Zurückdrängung und Überwindung tradeunionistischer Auffassungen war und ist daher unter kapitalistischen Bedingungen ein notwendiger Bestandteil im Kampf um die Durchsetzung des Marxismus. Nach dem Fall des Sozialistengesetzes erhielten die tradeunionistischen Bewußtseinselemente, die in der sozialistischen Arbeiterbewegung vorhanden waren, ein qualitativ neues Gewicht: Sie wurden mit der Gründung der Generalkommission gewissermaßen institutionalisiert. Die Mitglieder der Generalkommission waren ausnahmslos Sozialisten, Mitglieder und Funktionäre der marxistischen Massenpartei. Als Arbeiter (vorwiegend in Klein- oder mittleren Betrieben beschäftigt) hatten sie sich zwar wichtige marxistische Prinzipien zu eigen gemacht, aber infolge der gesellschaftlichen Verhältnisse in PreußenDeutschland niemals gründlich und systematisch die marxistische Theorie studieren können. Das neu entstandene zentrale Führungsgremium der freien Gewerkschaften, deren Vorsitzender, im Waisenhaus aufgewachsen, gerade 30 Jahre zählte, war zwar Bestandteil der sozialistischen Arbeiterbewegung, in der sich der Marxismus durchgesetzt hatte, verfügte aber bei weitem nicht über die jahrzehntelange Kampferfahrung und das politischideologische Niveau, das den marxistischen Führungskern der revolutionären Sozialdemokratie um August Bebel auszeichnete. So wurden tradeunionistische Bewußtseinselemente, die in der Gesamtbewegung sekundäre Bedeutung hatten, Bestandteil der Konzeption eines Führungsgremiums der sozialistischen Arbeiterbewegung; und wie die folgende Entwicklung lehrte, wurden diese tradeunionistischen Elemente innerhalb der Generalkommission nicht radikal ausgemerzt, sondern konserviert. Insbesondere in der zentralen Gewerkschaftsführung erwiesen sie sich als Einwirkung bürgerlicher Ideologie und äußerten sich schließlich als Reformismus. Ein entscheidender Faktor war daher die offene Auseinandersetzung mit den opportunistischen Tendenzen, eine Auseinandersetzung, die die marxistischen Kräfte fortlaufend führten und die in bezug auf den spezifischen, in der Generalkommission konzentrierten "gewerkschaftlichen" Opportunismus 1893 einen Höhepunkt erreichte. Für die bundesrepublikanische Historiographie sind diese Auseinandersetzungen, die in der grundsätzlichen Zurückweisung des Revisionismus auf den Parteitagen in Hannover 1899 und Dresden 1903 kulminierten und außerordentliche Auswirkungen auf die Formung des proletarischen Klassenbewußtseins hatten, nur unter dem Aspekt des Auftretens antimarxistischer Auffassungen interessant. Steinberg beklagt geradezu, daß durch "den Revisionismusstreit das de facto schon Tolerierte wieder zum Gegenstand der grundsätzlichen
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Auseinandersetzung" wurde und "hoffnungsvolle Ansätze zu einer allmählichen Abkehr von dogmatischen Positionen zerstört" worden seien. Überdies "gewann auch die Politik der Radikalen erst Konturen in der Auseinandersetzung" 11 . Er möchte den Eindruck erzeugen, "daß das Gros der sozialistischen Arbeiterschaft der Theorie des Sozialismus absolut fernstand" und "von den Massen in Deutschland der sich als Wissenschaft gebende Sozialis12 mus nicht aufgenommen und verstanden wurde". Eingeschworen auf die "Integrations"Konzeption, feiert die offen bürgerliche wie die offizielle sozialdemokratische Literatur alle opportunistischen, vom Marxismus divergierenden Tendenzen, die die Kraft und Aktionsfähigkeit der Arbeiterklasse schmälerten und schließlich zersetzten, als "die fruchtbaren Ansatzpunkte der späteren Aufwärtsentwicklung". Dabei spielte und spielt die - wie es euphemistisch heißt - "realistische und sachliche Einstellung der Gewerkschaften" eine wichtige Rolle; ihnen sei es gelungen, "die in theoretischen Spiegelfechtereien erstarrende Partei in der Führung des praktischen Emanzipationskampfes weitgehend abzulösen"; sie hätten "die Einordnung der Arbeiterschaft in den Gesamtkomplex des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens der Nation", d.h. des kapitalistischen Ausbeutungs13 und Herrschaftssystems, "vorbereitet". Daß die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung die verhängnisvollen Konsequenzen opportunistischer Politik, die sich gegen die grundsätzlichen Interessen der Arbeiterklasse richtete, besonders sichtbar macht, wird dabei ebenso verschwiegen wie die historische Entwicklung des Marxismus als Theorie und Praxis, die den proletarischen Emanzipationskampf vollauf bestätigt hat. Die Problematik der nachfolgenden Untersuchung umriß Lenin mit dem Satz: "Als die höchste Form der Klassenvereinigung der Proletarier, die revolutionäre Partei des Proletariats . . . sich herauszubilden anfing, da begannen die Gewerkschaften unvermeidlich gewisse reaktionäre Züge zu offenbaren... Aber anders als vermittels der Gewerkschaften, anders als durch ihr Zusammenwirken mit der Partei der Arbeiterklasse ging die Entwicklung des Proletariats nirgendwo in der Welt vor sich und konnte auch nicht vor sich gehen." 1 11
Steinberg, Hans-Josef. Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie, Zur Ideologie der Partei vor dem 1. Weltkrieg, Hannover 1967, S. 110 (Schriftenreihe des F o r schungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung). 12 Ebenda, S. 141 und S. 142. 13 Ritter. Gerhard A . . Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die sozialdemokratische Partei und die freien Gewerkschaften 1890 - 1900, Berlin-Dahlem 1959, S. 127 und S. 151 (Studien zur europäischen Geschichte aus dem Friedrich-MeineckeInstitut der Freien Universität Berlin, III). Vgl. dazu grundsätzlich: Unbewältigte Vergangenheit. Handbuch zur Auseinandersetzung mit der westdeutschen bürgerlichen Geschichtsschreibung, hg. von Gerhard Lozek, Helmut Meier, Walter Schmidt und Werner Berthold, Berlin 1970, bes. S. 24 ff. und S. 337 ff. 14 Lenin, W . I . , Der "linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Derselbe, Werke, B d 3 1 , S. 35.
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Wolfgang Schröder II
Die Gewerkschaftskonzeption der revolutionären Sozialdemokratie hatte sich in mehr als zwei Jahrzehnten theoretisch und praktisch bewährt. E.s spricht für die Bedeutung, die die Partei der Gewerkschaftsbewegung zumaß, wenn sich der erste Parteitag nach dem Fall des Sozialistengesetzes ausführlich mit der Situation der Gewerkschaften und ihrer 15 Rolle im Klassenkampf beschäftigte. Der Parteitag erklärte Streiks und Boykotte zu unumgänglichen Waffen der Arbeiterklasse, und zwar sowohl zur Verteidigung als auch zur Verbesserung ihrer sozialen und politischen Lage innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Er bezeichnete es "als eine zwingende Notwendigkeit, daß die Arbeiterklasse zur Führung solcher Kämpfe'sich gewerkschaftlich organisiert, und zwar möglichst in zentralistischen Verbänden, um sowohl durch die Wucht der Zahl wie die Wucht der materiellen Mittel und nach sorgfältig getroffenen Erwägungen den beabsichtigten Zweck möglichst vollkommen erreichen zu können". ^ Eine starke und kämpferische Gewerkschaftsbewegung gehörte ebenso zu den grundsätzlichen Postulaten der revolutionären Sozialdemokratie, wie sie den ökonomisch-sozialen Kampf als unabdingbaren Bestandteil des proletarischen Klassenkampfes erachtete. Das war im Erfurter Programm fixiert, das nicht nur eine theoretische Wertung der Gewerk17 schaftsbewegung und ihres Kampfes gab , sondern mit dem Arbeiterschutz-Programm und in den "nächsten Forderungen" geradezu ein Aktionsprogramm auch für den Gewerkschaftskampf enthielt. Auf der Basis der marxistischen Gesellschaftsauffassung und der historischen Mission der Arbeiterklasse begründete das Programm nachdrücklich die Einheit der von der revolutionären Sozialdemokratie geführten Arbeiterbewegung und ordnete mithin die Gewerkschaften und ihre Kämpfe organisch in die revolutionäre Gesamtkonzeption der Partei ein. Das war um so bedeutungsvoller, als die marxistische Gewerkschaftskonzeption in den innerparteilichen Auseinandersetzungen unmittelbar nach dem Fall des Sozialistengesetzes von zwei Seiten angegriffen wurde: Die "Jungen", die zunächst den ökonomischen Kampf und die Gewerkschaftsbewegung weitgehend negiert hatten, nach ihrer Niederlage auf dem Hallenser und Erfurter Parteitag jedoch eine Art syndikalisches Ausschließlichkeitsprinzip der Gewerkschaften proklamierten, hatten innerhalb der Gewerkschaftsbewegung ein Pendant in den Lokalisten. Diese verfochten mit der Begründung, die reaktionäre Vereinsgesetzgebung 15
Vgl. Schröder. Wolfgang. Klassenkämpfe und Gewerkschaftseinheit. Die Herausbildung und Konstituierung der gesamtnationalen deutschen Gewerkschaftsbewegung und der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Berlin 1965, S. 155 ff. 16 Protokoll des Hallenser Parteitages 1890, S. 216. IV Schröder. Wolfgang. Die Gewerkschaftsbewegung in der Konzeption der revolutionären Sozialdemokratie, in: Marxismus und deutsche Arbeiterbewegung, S. 181 ff.
Marxismus und Opportunismus im Deutschen Reich verbiete
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politische Diskussionen in den Zentralverbänden, die lokale
Organlsationsform, die den Anforderungen des Klassenkampfes längst nicht mehr gentigen konnte. Wenn sie in einigen Berufen auch ebenso erbitterte wie unfruchtbare Auseinandersetzungen um die Organisationsfrage und eine Zersplitterung der Kräfte bis zur Spaltung herbeiführten, so blieben sie doch in der sozialistischen Gewerkschaftsbewegung insgesamt in verschwindender Minderheit und konnten deren organisatorische Prinzipien nicht verändern. Dennoch stellten sie eine Gefahr dar, weil allein schon die Fragestellung: lokale oder zentrale Organisation desorientierend wirken mußte in einer Zeit, da diese Frage faktisch längst entschieden war und es auf die Erarbeitung einer revolutionären Strategie der zentralisierten Gewerkschaftsbewegung ankam - eine Aufgabe, von der der Streit um die Orga18 nisationsform ablenkte.
Vor allem aber zeigte sich, daß der notwendigen Abwehrstellung
der Zentral verbände gegenüber den lokalen Organisationsprinzipien zugleich die Tendenz innewohnte, die revolutionäre Programmatik der Sozialdemokratie in der Gewerkschaftsbewegung zurücktreten zu lassen, als deren Gralshüter sich die Lokalisten fälschlich aufwarfen. Das schränkte nicht nur die unmittelbare Wirkung des Erfurter Programms auf die Gewerkschaftsbewegung außerordentlich ein, sondern erweiterte auch den Resonanzboden für die rechtsopportunistische Konzeption, die Georg von Vollmar in den "Eldorado"-Reden vorlegte - eine Konzeption, die keineswegs nur ein Fanal für eine erneute Verstärkung der opportunistischen Kräfte in der Partei selbst darstellte: Sie lief zugleich darauf hinaus, die in der Gewerkschaftsbewegung immanent vorhandene tradeunionistische Beschränktheit 19 zu verstärken.
Hier zeigte sich eine verhängnisvolle Wechselwirkung: Die in den Gewerk-
schaften wirkenden tradeunionistischen Beschränktheiten, die sich insbesondere in der Tendenz zur Reduzierung der Gewerkschaftsarbeit auf den Tageskampf oder die "rein" ökonomischen Interessen der Arbeiter gegenüber den Unternehmern zeigten, stel' .an eine Basis für opportunistische Kräfte innerhalb der revolutionären Sozialdemokratie dar, die umgekehrt die falsche Begrenzung der Gewerkschaftsarbeit auf eine reformistische Konzeption unterstützten und damit verstärkten. 18
19
Vgl. Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands (im folgenden Correspondenzblatt) Nr. 6 vom 9.3.1892, Zum Gewerkschaftskongreß: " E s soll darüber entschieden werden, ob die Gewerkschaften ausschließlich nur als eine Vorschule für die politische Bewegung zu gelten haben und darum als politische Vereine lokal zu organisieren sind oder ob die Hauptaufgabe der Gewerkschaften darin zu suchen ist, daß sie eine weitere Herunterdrückung der Lebenshaltung der Arbeiter verhindern und für eine Erhöhung derselben sorgen sollen" und daher "zur zentralisierten Organisationsform" greifen müßten. Vgl. Vollmar. Georg v . . Über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie, München 1891, bes. S. 11 ff.
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Wolfgang Schröder In der Vergangenheit hatte es sich erwiesen, daß allein der Marxismus in der Lage war,
den Kampf um unmittelbare Tagesinteressen mit dem revolutionären Ziel des proletarischen Klassenkampfes, den ökonomischen mit dem politischen und ideologischen Klassenkampf zu einem einheitlichen Prozeß zu verbinden. Gerade weil sich die revolutionäre Sozialdemokratie den Marxismus aneignete und ihrer Politik zugrunde legte, war sie in der Lage gewesen, sich von der sektiererischen Negierung der Gewerkschaftsbewegung und ihrer Kämpfe, die in Deutschland durch den Lassalleanismus verkörpert wurde, ebenso fernzuhalten wie von einer Einengung des proletarischen Klassenkampfes auf eine tradeunionistische Politik, die in Gestalt der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine in geradezu extremer Form ebenfalls in Deutschland existent war. Es war ihr gelungen, unter ihrer Führung alle Erscheinungsformen des proletarischen Klassenkampfes zusammenzufassen. Ein Grundprinzip der Parteiauffassung, die die revolutionäre Sozialdemokratie vertrat, gab Karl Kautsky in seinem Kommentar zum Erfurter Programm mit den Worten Ausdruck: "So rasch auch das Proletariat zunimmt, sein kämpfender Teil ist in noch rascherer Zunahme begriffen. Das kämpfende Proletariat ist aber das weitaus wichtigste und ergiebigste Bekrutierungsgebiet der Sozialdemokratie. Sie ist im wesentlichen nichts anderes als der zielbewußte 20
Teil des kämpfenden Proletariats." Wie innerhalb der Partei die Durchsetzung der marxistischen Konzeption des proletarischen Klassenkampfes ein ständiger Prozeß war, der stets von neuem in der Auseinandersetzung gegen opportunistische Kräfte und Bestrebungen durchgekämpft werden mußte, so war auch die führende Rolle der Partei in der gesamten Arbeiterbewegung und die Vereinigung aller Erscheinungsformen der Arbeiterbewegung unter der revolutionären Konzeption der Partei ein ständiges Ringen gegen antimarxistische Auffassungen und divergierende Bestrebungen. Es war eines der hervorragendsten Verdienste der revolutionären Sozialdemokratie, die tradeunionistischen Beschränktheiten innerhalb der gewerkschaftlichen Bewegung gesprengt und damit gesichert zu haben, daß sich die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland als Bestandteil der sozialistischen Arbeiterbewegung entwickelte. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine blieben dank dem unablässigen Kampf der Partei um die Arbeiterklasse je länger je mehr außerhalb der eigentlichen Arbeiterbewegung und wurden trotz aller Ver21
folgungen von den sozialdemokratischen Gewerkschaften zahlenmäßig übertroffen.
Nicht
die von den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen angestrebte "Harmonie" von Arbeit und Kapital bestimmte Strategie und Taktik der deutschen Gewerkschaftsbewegung, sondern der 20 Kautsky. Karl. Das Erfurter Programm, S. 217. 21 Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine hatten 1885 51 000 Mitglieder, Uberschritten 1889 in ihrer Mitgliederzahl die 60 000 und erst 1896 die 70 000. Demgegenüber zählten die freien Gewerkschaften 1886 81 207, 1889 121 647 und 1896 329. 230 Mitglieder.
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Klassenkampf gegen das Kapital und die antikapitalistische Grundhaltung, die die revolutionäre Sozialdemokratie mit ihrer sozialistischen Programmatik verkörperte. Das erwies das Schicksal des Unterstützungsvereins Deutscher Buchdrucker, der sich - eine Ausnahme unter den deutschen Gewerkschaften - unter nichtsozialistischer Führung befand, sich 1888 der preußischen Polizeiaufsicht unterwarf und, gestützt auf die organisatorisch, zahlenmäßig und finanziell starke Gewerkschaftsorganisation, eine Politik der Vereinbarung mit den Unternehmern anstrebte. Im Klassenkampf erlitt diese tradeunionistische Konzeption ein klägliches Fiasko: Die Buchdrucker-Organisation mußte ihre Sonderstellung zwischen den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen und der sozialistischen Arbeiterbewegung aufgeben und schloß sich der sozialdemokratisch beeinflußten Gewerkschafts22
bewegung an.
In die Auseinandersetzungen, die innerhalb des Buchdrucker-Verbandes
ausgetragen wurden, griff August Bebel mit einer grundsätzlichen Rede vor 5 000 Arbeitern im Berliner Feen-Palast ein. In scharfer Frontstellung gegen reformistische Gewerkschaftskonzeptionen, die besonders in der Führung der Buchdrucker-Organisation verwurzelt waren, entwickelte Bebel die revolutionäre, sozialistische Gewerkschaftskonzeption und wies nach, daß die Arbeiter "noch weitere Ziele haben, daß sie sich nicht mit kleinen Konzessiönchen Innerhalb der heutigen bürgerlichen Gesellschaft zu begnügen, sondern 23 diese Gesellschaft in eine bessere, sozialistische umzuwandeln haben" . Das Beispiel der Buchdruckerbewegung steht für die vielfältigen und intensiven Bemühungen der marxistischen Kräfte, die Einheit der von der revolutionären Sozialdemokratie geführten Arbeiterbewegung zu verstärken und opportunistische Bestrebungen, die sich in der Gewerkschaftsbewegung in tradeunionistischen oder gar offen reformistischen Bestrebungen zeigten, zurückzudrängen. Existenz und Festigung der sozialdemokratisch geführten Gewerkschaftsbewegung, deren Funktionäre fast ausnahmslos Parteimitglieder waren und deren Mitglieder nahezu selbstverständlich in der revolutionären Sozialdemokratie 22
Schröder. Wolfgang. Buchdruckerbewegung, Kapital und Staat, in: BzG 1967, H. 4, S. 636 f f . ; derselbe. Die Buchdruckerbewegung unter dem Sozialistengesetz. Der Neunstundenkampf, in: Hundert Jahre Kampf der Gewerkschaften der graphischen A r beiter seit der Gründung des Deutschen Buchdruckerverbandes im Jahre 1866 bis zur Gegenwart, Berlin 1966, S. 116 ff. 23 Vorwärts. Berliner Volksblatt, Nr. 92 vom 23.1.1892, Was lehren uns die letzten großen Streiks ? Wenn auch die reformistische Führung des Buchdruckerverbandes nicht den Anschluß der Buchdrucker-Organisation an die sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung verhindern konnte, so verstand sie es doch, weiterhin an der Spitze des Verbandes zu bleiben, und verstärkte durch ihren Einfluß die reformistischen Tendenzen der Generalkommission. Emil Döblinklagte in einem Brief an Lujo Brentano Uber die "großen Schwierigkeiten", "den sozialdemokratischen Strömungen im Buchdruckerverband entgegenzutreten". Hue, Otto, Neutrale oder parteiliche Gewerkschaften?, Bochum 1900, S. 7.
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ihre politische Interessenvertreterin und Führerin erkannten, waren hervorragende Erfolge und ein wichtiges Verdienst der Partei August Bebels und Wilhelm Liebknechts, die dadurch in der Tat den proletarischen Klassenkampf auf allen Gebieten zu führen in. der Lage war. Unmittelbar nach dem Fall des Sozialistengesetzes erlangte die sozialistische Gewerkschaftsbewegung eine neue Qualität. Entsprechend den wachsenden Anforderungen des Klassenkampfes schlössen sich die sozialdemokratisch geführten Zentralverbände auf der Berliner Gewerkschaftskonferenz 1890 und endgültig auf dem Halberstädter Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands 1892 zu einer einheitlichen Gewerkschaftsbewegung zusammen und schufen in der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands eine eigene 24 zentrale GewerkschaftsfUhrung. Damit wurde das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften grundsätzlich neu aufgeworfen. Hatte bisher die Partei und ihr marxistischer Führungskern die alleinige Führung der gesamten Arbeiterbewegung innegehabt - auch die Leitungen der Zentralverbände hatten in der Parteiführung die einzige zentrale Führungskörperschaft anerkannt
so änderte
sich diese Situation mit der Gründung der Generalkommission, die sich als neue zentrale Institution innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung herausbildete und die Führung der Gewerkschaftsbewegung beanspruchte. Die Generalkommission entstand als Produkt und Instrument des proletarischen Klassenkampfes; ihre Entstehung war historisch bereits konzipiert in den Unions-Bestrebungen, die durch das Sozialistengesetz vereitelt worden 25 waren.
Selbst wenn die Generalkommission nicht unmittelbar auf Initiative der Partei-
führung konstituiert wurde, so waren ihre Mitglieder ausschließlich sozialdemokratische Funktionäre. Auch in ihrem zentralen Führungsgremium erwies sich die deutsche Gewerkschaftsbewegung als sozialistische Bewegung. Dennoch war eine neue Situation entstanden, und sowohl innerhalb der Partei als auch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, die auf dem Boden des Klassenkampfes stand und sozialdemokratischen Charakter besaß, wuchs das Bedürfnis, das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften unter Berücksichtigung der neuen Gegebenheiten festzulegen. Dabei ging es keineswegs nur um Fragen des Zusammenwirkens der Partei- und Gewerkschaftsfiihrung, zumal da die Generalkommission bei weitem auch nicht annähernd über eine ähnliche Autorität in der Gewerkschaftsbewegung verfügte, wie sie der sozialdemokratische Parteivorstand in der gesamten Arbeiterbewegung besaß.
24 Schröder, Wolfgang, Klassenkämpfe und Gewerkschaftseinheit, S. 207 ff. 25 Vgl. Krause, Hans-Dieter, Der Kampf um die Durchsetzung einer marxistischen Gewerkschaftspolitik...
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Die gegpnseitige Abstimmung, die Abgrenzung und vor allem die Zusammenarbeit zwischen Partei- und Gewerkschaftsführung waren eine unabdingbare Notwendigkeit, aber sie waren nur Teil eines umfassenderen Problems: Es galt, für die Partei wie für die gewerkschaftlichen Organisationen, die Konzeption der Gewerkschaftsarbeit von neuem zu überprüfen, den Funktions- und Verantwortungsbereich der Gewerkschaften im Rahmen der gesamten sozialistischen Arbeiterbewegung zu präzisieren und dabei - das war die weiterführende Frage - das Verhältnis von ökonomisch-sozialem, politischem und ideologischem Kampf, zwischen den Tagesinteressen der Arbeiterklasse und dem sozialistischen Klassenziel, das Verhältnis von Reform und Revolution, von Demokratie und Sozialismus theoretisch und in der politischen Praxis zu vertiefen. Auch bei der weiteren Lösung der Gewerkschaftsfrage erwies sich - ähnlich wie beim Bündnisproblem - die Klärung des Verhältnisses von demokratischem und sozialistischem Kampf als das Grundproblem, das den Schlüssel zur Antwort auf alle anderen damit zusammenhängenden Fragen darstellte. Nur mit diesem Schlüssel war es möglich, die Gewerkschaften, die sich nunmehr auch organisatorisch zur einheitlichen, zentral geführten Bewegung zusammengefügt hatten, fest in die revolutionäre sozialistische Arbeiterbewegung zu integrieren und - unter Berücksichtigung der Spezifik der Gewerkschaftsbewegung und ihres Funktionsbereiches - eine für Partei und Gewerkschaften gleichermaßen gültige Strategie und Taktik zu erarbeiten, die auf die Perspektive des proletarischen Klassenkampfes ausgerichtet sein mußte und die Einheit der revolutionären Arbeiterbewegung für den Kampf gegen soziale Ausbeutung und politische Unterdrückung zu gewährleisten hatte.
III Die sozialdemokratische Partei betrachtete es als ihre Funktion, "den Klassenkampf des 26
Proletariats zielbewußt und zweckmäßig zu gestalten"
, d . h . , alle Bereiche des proleta-
rischen Klassenkampfes zu verbinden und auch das tagtägliche Ringen um unmittelbare Teilinteressen der Arbeiter in die sozialistische Gesamtkonzeption zu integrieren. "Für die Sozialdemokratie gibt es nur eine Aufgabe. In der sozialistischen Literatur wie in der Tagespresse, in Vereinen und Volksversammlungen wie im Reichstage führt das in der Sozialdemokratie politisch organisierte Proletariat ziel- und klassenbewußt den Kampf gegen seinen Todfeind, gegen den Kapitalismus. Unser Ziel ist die Beseitigung der bürgerlichen Gesellschaft, zu deren Erbe und Nachfolger die sozialistische Gesellschaft
26
Protokoll des Berliner Parteitages 1892, S. 74.
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berufen ist", hieß es im Rechenschaftsbericht der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, den diese erstmalig dem Berliner Parteitag 1892 schriftlich vorlegte. "Was auf diesem Wege innerhalb der heutigen Gesellschaft für die Arbeiterklasse erreicht wird, gilt nur als Wegzehrung für den weiteren Vormarsch, ist nichts weiter als eine Abschlagszahlung, die dazu dient, das Proletariat besser auszurüsten mit den Kampfmitteln, deren es bedarf, 27 um seine geschichtliche Mission zu erfüllen." Zu diesen Kampfmitteln, die sowohl die objektiven Bedingungen des Klassenkampfes (wie demokratische Rechte usw.) als auch die Entwicklung des subjektiven Faktors umfaßten, gehörten auch die Gewerkschaften und ihre spezifischen Kampfformen wie Streiks, Boykotte usw. Als Organisationen der Arbeiterklasse selbst hatten die Gewerkschaften in der Gesamtkonzeption der revolutionären Sozialdemokratie schon deshalb einen wichtigen Platz, da diese von der Erkenntnis ausging: "Die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, die Beseitigung der Klassenherrschaft, die Abschaffung des kapitalistischen Produktionssystems kann und wird niemals das Werk eines in dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft wurzelnden Parlaments sein. Hierzu bedarf es der Organisation der sozialistischen Gesellschaft, die zu erkämpfen Zweck und Ziel der ihrer Aufgabe bewußten Arbeiter28
klasse i s t . "
Die proletarischen Organisationen, von denen nach der Partei die gewerk-
schaftlichen Arbeiterorganisationen zweifellos die wichtigsten waren, machten die Arbeiterklasse kampffähig und bildeten die Basis sowohl der außerparlamentarischen als auch der parlamentarischen Erfolge. Je besser die qualitative und quantitative Kräftigung der Arbeiterorganisationen gelang, desto intensiver und zielbewußter konnte der Klassenkampf geführt werden. Die marxistische Massenpartei, die 1890 etwa 100 000, 1895 etwa 150 000 Mitglieder zählte, hatte eine stabile Massenbasis in der Arbeiterklasse; ihre Verbindung zu den Arbeitern, die nicht der Partei angehörten, war keineswegs nur mittelbar - beispielsweise über die Gewerkschaftsverbände - , sondern direkt gegeben. Dies hob der Parteivorstand in seinem Bericht an den Berliner Parteitag hervor: "Tritt doch immer mehr und mehr deutlicher die Tatsache in Erscheinung, daß in allen Fragen, bei denen die Interessen der Arbeiter als Klasse auf dem Spiel stehen, immer größere Massen der Arbeiter jenen gegnerischen Parteien die Gefolgschaft verweigern, die sie ihnen bisher widerspruchslos in allen politischen Streitfragen geleistet haben. Ohne Anhänger der Sozialdemokratie zu sein, ohne deren Programm, das sie oft gar nicht kennen, von Anfang bis Ende zu unterschreiben, sind diese Arbeiter sowohl durch das Verhalten der gegnerischen Parteien in allen wirt27 Ebenda. 28 Ebenda.
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schaftlichen Fragen wie auch durch die Stellungnahme und Kritik der Sozialdemokratie gegenüber den schwächlichen, halben oder geradezu nichtssagenden ' R e f o r m e n ' der Regierungen und Parteien instinktiv zu der Überzeugung gekommen, daß ihre Interessen heute nur noch von e i n e r P a r t e i ernsthaft und rückhaltlos gewahrt und vertreten werden: der Sozial29 demokratie!"
Was ftir das Verhältnis der marxistischen Massenpartei und der breiten
Schicht d e r nichtorganisierten Arbeiter zutraf, galt e r s t recht f ü r das Verhältnis zwischen P a r t e i und Gewerkschaften: Die Gewerkschaftsorganisationen und ihre P r e s s e standen zwar "formell mit der P a r t e i in keinem Zusammenhang; da indes im Reiche dank d e r historischen Entwicklung und der Stärke u n s e r e r Partei Arbeiterbewegung und Parteibewegung gleichbedeutende Begriffe geworden sind, so ist, mit vereinzelten Ausnahmen, auch die ganze Gewerkschaftspresse Deutschlands im sozialistischen Geiste gehalten und dient30wieder dazu, die Gewerkschaftsbewegung mit dem sozialistischen ' G i f t e ' zu durchtränken." Trotzdem war unverkennbar, daß sich in der Gewerkschaftsbewegung, die sozialistischen Charakter trug und in der sich - wie in der gesamten Arbeiterbewegung - der Marxismus weiter ausbreitete, zugleich ein P r o z e ß der Verbreitung opportunistischer Auffassungen und Bestrebungen vollzog, der insbesondere in der Generalkommission, dem FUhrungsorgan der f r e i e n Gewerkschaften, eine Basis fand. Das zeigte sich b e r e i t s unmittelbar nach dem Halberstädter Gewerkschaftskongreß, der im März 1892 stattgefunden hatte. Die Generalkommission wandte sich in ihrem Funktionärsorgan, dem "Correspondenzblatt", zwar gegen bürgerliche Erwartungen, daß sich "die deutschen Gewerkschaften schon in den Fußtapfen der englischen Trade-Unions oder g a r , was noch lächerlicher ist, im F a h r w a s s e r der deutschen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine" befänden, und betonte demgegenüber, "daß die Mitglieder der Gewerkschaften nach wie vor der bürgerlichen Gesellschaft, der privatkapitalistischen Produktionsweise ablehnend gegenüberstehen und nur zur Beseitigung der letzteren durch die Organisation die Kraft und Widerstandsfähigkeit der Arbeiterklasse zu heben suchen". Im gleichen Atemzug jedoch polemisierte sie gegen die von einem "Teil der Parteigenossen" vertretene "Ansicht, daß der Bestand der biirger31 liehen Gesellschaft von gar nicht zu langer Dauer sein wird" , wobei sie ausdrücklich auch gegen F r i e d r i c h Engels anging. Hier wird ein zentraler Ansatzpunkt opportunistischer Konzeptionen sichtbar, der auch auf dem E r f u r t e r Parteitag 1891 Gegenstand der Auseinandersetzungen w a r . Wenn die Generalkommission nur ein halbes J a h r nach E r f u r t die Prärogative Vollmars, nunmehr 29 30 31
Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 40. Correspondenzblatt N r . 7 vom 4.4.1892, Urteile über den Gewerkschaftskongreß.
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in tradeunionistischem Gewand, von neuem aufgriff, so ging es keineswegs um die
Korrek-
tur einer zu unmittelbaren Revolutionserwartung oder gar einer theoretisch verkürzten Revolutionsperspektive, wie sie etwa bei Bebel vorhanden war. Die entscheidende Frage war vielmehr jenes Problem, das Friedrich Engels als "unsre Ankunft bei der Möglichkeit 32 der Herrschaft"
bezeichnete, also die grundsätzliche Orientierung auf den Kampf um die
politische Macht. Objektiv rückte dieser entscheidende Bezugspunkt des proletarischen Klassenkampfes in den neunziger Jahren immer mehr in den Vordergrund: Die relativ "friedliche" Periode des Klassenkampfes neigte sich dem Ende zu, und mit dem unmittelbaren Übergang zum Imperialismus kündigten sich die veränderten Kampfbedingungen und die revolutionären Aufgaben der neuen weltgeschichtlichen Epoche, einer Epoche der Stürme und Revolutionen, an. Gerade in dieser Zeit, da objektiv die proletarische Revolution zur historischen Aufgabe wurde, schob die Generalkommission in ihren konzeptionellen Erwägungen die Möglichkeit, die junkerlich-bourgeoise Klassenherrschaft durch den revolutionären Ansturm des Proletariats hinwegzufegen, in eine entfernte Zukunft ab. Sie kehrte gewissermaßen die objektiv gegebene Problemstellung des proletarischen Klassenkampfes um und vergab sich dadurch die Chance, die Gewerkschaftsarbeit konzeptionell auf die heranreifenden neuen Bedingungen und Aufgaben des Klassenkampfes auszurichten. Sie betonte immer stärker, daß die gewerkschaftlichen Aufgaben "in der bürgerlichen Gesellschaft" lägen: "Wenn wir fortfahren wollen, auch für die Gewerkschaften nur in die Zukunft zu blicken, und uns nicht mit dem augenblicklich Möglichen begnügen und auf dem Erreichten weiter bauen wollen, dann dürfte die Zeit über die Organisationen hinrauschen, ohne daß sie jemals dazu kämen, auch nur annähernd ihren Zweck zu erfüllen. Die Partei würde wesentlich an ihrem revolutionären Charakter Einbuße erleiden, wenn sie mit ihrer Tätigkeit allzusehr Boden in der bürgerlichen Gesellschaft zu finden suchte. Diese praktische Tätigkeit sollte eine Aufgabe der Gewerkschaften sein, deren Bestrebungen 33 durch die Gesetzgebung der nötige Rückhalt gewährt wird." Obwohl die Generalkommission als Instrument des proletarischen Klassenkampfes entstanden war, verdichteten sich in ihr bereits unmittelbar nach ihrer Gründung die opportunistischen Tendenzen schnell und beeinflußten zunehmend ihre gesamte Tätigkeit. Das war insofern besonders verhängnisvoll, als die Generalkommission, das jüngste zentrale Leitungsgremium innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung, wachsenden Einfluß auf die gesamte Wirksamkeit zunächst der Gewerkschaftsverbände, dann darüber hinaus zunehmend auch auf die Partei selbst ausübte. 32 33
Friedrich Engels an August Bebel am 24./26.10.1891, in: MEW, Bd 38, S. 189. Correspondenzblatt Nr. 7 vom 4.4.1892, Urteile über den Gewerkschaftskongreß.
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Die opportunistischen Tendenzen der Generalkommission konkretisierten sich zuerst und am sichtbarsten in Bestrebungen, die Gewerkschaftsbewegung von der marxistischen Massenpartei abzusondern. Charakteristisch für die Art und Weise, in der die Generalkommission argumentierte, waren etwa folgende Auslassungen: "Die deutsche Arbeiterbewegung hat von Anbeginn an einen rein politischen Charakter getragen, und man glaubte in leitenden Parteikreisen, die Kluft, welche die heutige Gesellschaft von der sozialistischen noch trennt, durch die politische Aktion überbrücken oder überspringen zu können. Man legte nicht genügend Gewicht darauf, daß der Gang der gesellschaftlichen Entwicklung ein überaus langsamer ist und übersah es, die Einrichtungen zu schaffen, welche den Arbeiter zu jenem fortgesetzten Opfermut und der unbeugsamen Konsequenz erziehen, wie sie nur der ununterbrochene gemeinsame Kampf um die notwendigsten Lebensbedingungen zu erzeugen vermag. Man hielt diese Einrichtungen, die Gewerkschaftsorganisationen, für reaktionär, und behauptete, daß die Arbeiter in den Organisationen-versimpeln und versumpfen... noch heute sehen wir, wie intelligente Parteianhänger, die leitende Stellungen in der politischen Bewegung haben, die Gewerkschaften nur als ein notwendiges Übel betrachten, als ein 34 ungeartetes K i n d . . . " Mit diesem verzerrten Geschichtsbild negierte die Generalkommission die Gewerkschaftskonzeption der revolutionären Sozialdemokratie und deren praktische Verwirklichung in mehr als zwanzigjähriger Entwicklung. Damit eliminierte sie nicht nur eine hauptsächliche Wurzel der freien Gewerkschaftsbewegung, die entscheidend Gestalt und Charakter der deutschen Gewerkschaften im ausgehenden 19. Jh. mitprägte; sie abstrahierte zudem von den reichen historischen Erfahrungen, die sowohl der von Partei und Gewerkschaften geführte Klassenkampf als auch die theoretischen Diskussionen um die Gewerkschaftsauf35 fassung der revolutionären Sozialdemokratie darboten. Statt dessen fing die Generalkommission an, in wachsendem Maße die Gewerkschaftsbewegung Englands in ihre grundsätzliche Orientierung einzubeziehen. Dort dominierten die Gewerkschaften in der Arbeiterbewegung; eine marxistische Partei war noch nicht vorhanden bzw. erst in der Herausbildung begriffen. Überdies hatten gerade in der englischen Gewerk-
34 35
Ebenda, Nr. 16 vom 11.7.1892. vgl. Ettelt, Werner. Der Kampf um die Durchsetzung einer marxistischen Gewerkschaftspolitik 1868/1869 bis 1873; Krause. Hans-Dieter, Der Kampf um die Durchsetzung einer marxistischen Gewerkschaftspolitik 1873 bis 1878; Förster. Alfred. Die Gewerkschaftspolitik der deutschen Sozialdemokratie 1880 - 1885/1886; Schröder. Wolfgang. Die Gewerkschaftsbewegung in der Konzeption der revolutionären Sozialdemokratie, in: Marxismus und deutsche Arbeiterbewegung, S. 103 ff.
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schaftsbewegung antisozialistische Kräfte vorherrschenden Einfluß zumindest auf die Füh36 rung der proletarischen Massenorganisationen. Natürlich war die Auswertung der internationalen Erfahrungen im Klassenkampf eine notwendige Aufgabe, die die Arbeiterbewegung jedes Landes erfüllen mußte, und so auch die Generalkommission. Dabei kam es vor allem auf die politisch-ideologische Konzeption an, die entscheidend war für die Art und Weise der Auswertung und Anwendung internationaler Erfahrungen. In geradezu klassischer Weise hatte es sich speziell hinsichtlich des Gewerkschaftsproblems bereits Ende der sechziger Jahre des 19. Jh. bewiesen: Die gleiche Aufgabe, die Nutzbarmachung der Erfahrungen der Trade-Unions, führte zu entgegengesetzten Ergebnissen. Für bürgerliche Politiker ä la Max Hirsch diente die Übertragung bestimmter Organisations-Prinzipien der Trade-Unions zur Aufpfropfung nicht der vorwärtsweisenden Erscheinungen, sondern aller antisozialistischen, probürgerlichen Bestrebungen, 37 die es innerhalb der Trade-Unions gab. Sie mündeten in den Versuch, die Gewerkschaftsbewegung zu nutzen, um innerhalb der Arbeiterbewegung selbst3einen Stützpunkt der 8 Bourgeoisie, einen Damm gegen den Sozialismus, zu schaffen. Die marxistischen Kräfte verhinderten jedoch die angestrebte Verschüttung der progressiven Lehren, die die Trade-Unions der internationalen Arbeiterbewegung vermittelten. Getragen von Karl Marx, Friedrich Engels, der I. Internationale und auf deutschem Boden vor allem von Wilhelm Liebknecht, war die kritische Transformation der Erfahrungen der englischen Arbeiterbewegung, die insbesondere in der Gewerkschaftskonzeption der "Eisenacher" Partei ihren Niederschlag fand, wichtiger Bestandteil des Ringens 39 um die Formierung der deutsehen Arbeiterbewegung auf marxistischer Grundlage. So wurden die progressiven Leistungen der Trade-Unions als stimulierender Faktor für die Entwicklung der revolutionären Arbeiterbewegung fruchtbar gemacht und damit auch die Grundlage für eine kämpferische sozialistische Gewerkschaftsbewegung geschaffen.
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Vgl. Piazza, Hans, Der Londoner Dockarbeiterstreik von 1889. Ein Beitrag zur Geschichte der sozialistischen Bewegung und des Neuen "Unionismus" in England, phil. Diss., Leipzig 1962; Bünger, Siegfried. Friedrich Engels und die britische sozialistische Bewegung 1881 bis 1895, Berlin 1962. 37 Vgl. die "Englischen Briefe" von Max Hirsch, zum großen Teil wiedergegeben bei Müller. Hermann. Die Organisationen der Lithographen, Steindrucker und verwandten Berufe, Berlin 1917, S. 143 ff. 38 v g l . Webb, Sidney und Beatrice, Die Geschichte des Britischen Trade Unionismus, Stuttgart 1895, S. 318; Kautsky. Karl. Das Erfurter Programm, S. 213 f. 39 vgl. Ettelt. Werner/Schröder. Wolfgang. Zur Rolle der Gewerkschaftsbewegung bei der Herausbildung der "Eisenacher" Partei, in: Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung, Bd I.
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Ein Vierteljahrhundert später, zu Beginn der neunziger Jahre, war die Frage nach den Lehren, die aus der Entwicklung der englischen Gewerkschaftsbewegung zu ziehen waren, von neuem aktuell. Der offensichtliche Bankrott des "alten" Unionismus und der probürgerlichen "Lib-Lab"-Politik, der prononciert bürgerlichen Arbeiterpolitik der "old leaders", die bedeutungsvollen Klassenkämpfe der englischen Arbeiterklasse, die Organisation des ungelernten Proletariats der Großindustrie, die scharfen Auseinandersetzungen zwischen dem "neuen" Unionismus mit den bourgeoisen Gewerkschaftsführern forderten geradezu nach einer revolutionären, den spezifisch tradeunionistischen Reformismus über40 windenden Konzeption der Gewerkschaftsarbeit. Die Generalkommission war jedoch weit davon entfernt, diese Aufgabe zu erfüllen. Sosehr sie innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung Front gegen die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine bezog, weil diese die Gewerkschaftsbewegung spalteten und der Illusion einer Klassenharmonie zwischen Kapital und Arbeit anhingen, so wenig berücksichtigte die Generalkommission das Ringen der beiden Klassenlinien innerhalb der britischen Gewerkschaftsbewegung. Mehr noch: Während sie immer lauter über eine mangelnde Unterstützung der Gewerkschaften - d . h . der Generalkommission - durch die Partei klagte, begann sie bereits ein einheitliches Auftreten der sozialistischen Kräfte im internationalen Maßstab gegen antisozialistische Bestrebungen der Führer der Trade-Unions zu hintertreiben. Das zeigte sich in der Stellungnahme der Generalkommission zu dem Versuch der "alten" Trade-Union-Führer, unter ihrer Vorherrschaft einen Gegenkongreß gegen den internationalen Sozialisten- und Arbeiterkongreß in Zürich 1893 zu organisieren und damit die internationale Arbeiterbewegung zu spalten. Was 1888/1889 mißlungen war, sollte 1893 auf Initiative der englischen Gewerkschaftsführer und unter der Flagge des Kampfes um den Achtstundentag erneut versucht werden, nämlich, die internationale Arbeiterbewegung auf opportunistische Positionen zu drängen bzw. der sozialistischen Internationale eine reformi41 stische Internationale entgegenzustellen. "Das verlangt Aktionen von uns, womöglich einiges Vorgehen des ganzen Kontinents", 42 signalisierte Friedrich Engels. Den "mehr und mehr reaktionär sich entwickelnden alten 43 Trades-Union-Leuten" mit ihrer "Anmaßung . . . , die bestehende kontinentale Bewegung
40 Vgl. Piazza. Hans. Der Londoner Dockarbeiterstreik; Morton.A.L./Täte. Georg. Die britische Arbeiterbewegung 1770 - 1920, Berlin 1960, S. 164 ff. 41 Vgl. Bünger. Siegfried, Friedrich Engels und die britische sozialistische Bewegung; Wittwer. Walter, Zur Vorgeschichte des Internationalen Sozialistenkongresses 1893 in Zürich, in: Marxismus und deutsche Arbeiterbewegung, S. 649 f f . 42 Friedrich Engels an Laura Lafargue am 11.9.1892, in: MEW, Bd 38, S. 451. 43 Friedrich Engels an Regine und Eduard Bernstein am 17.9.1892, in: Ebenda, S. 463.
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ignorieren zu wollen und eine andere unter ihrer Leitung und in ihrem Sinne ins Leben zu 44 rufen" , müsse gezeigt werden, "daß das klassenbewußte kontinentale Proletariat nicht daran denkt, sich unter die Leitung von Leuten zu begeben, denen das Lohnsystem für 45 eine ewige und unerschütterliche Welteinrichtung gilt". Friedrich Engels fügte hinzu: "Ein wahres Glück, daß die borniert-einseitige ausschließliche Gewerkschaftsbewegung 46 jetzt ihren reaktionären Charakter so eklatant an die Sonne stellt." Namens der deutschen Sozialdemokratie forderte August Bebel in einem Artikel in der "Neuen Zeit", "diesem 47 Gewerkvereinskongreß demonstrativ fernzubleiben" . Bebel charakterisierte die antisozialistische Position "der alten exklusiven Unionsführer", die 48 sich durch die sozialistisehe Arbeiterbewegung "in ihrer Herrschaftsstellung bedroht" sahen: "Die alten englischen Gewerkvereinsführer fürchteten das weitere Umsichgreifen der sozialistischen Ideen in ihren eigenen Reihen und die Stärkung der Opposition, wie sie namentlich in den neuen Unionen der ungelernten Arbeiter sich aufgetan hat durch den Besuch der internationalen Arbeiter49 kongresse."
Er bezeichnete den Kampf um die Durchsetzung des gesetzlichen Achtstunden-
tages als "eine eminent politische Frage" und verwies nachdrücklich auf die Priorität der sozialistischen Arbeiterbewegung in diesem Ringen. Zugleich warnte er davor, "bloß einer einzigen Frage wegen, deren Lösung keineswegs in nächster Aussicht steht", einen internationalen Kongreß einzuberufen. "Kommen die Vertreter der Arbeiterklasse der verschiedenen Länder zu einem internationalen Kongreß zusammen, dann haben sie auch noch eine Reihe anderer Fragen, die an Wichtigkeit jener der gesetzlichen Regelung des Achtstundentages nicht nachstehen, ja sie übertreffen, zu erörtern. Ein internationaler Arbeiterkongreß hat vor allem auch klarzustellen, daß Fragen, wie die über die gesetzliche Normierung der Arbeitszeit, die Regulierung der Löhne, der Fabrikgesetzgebung usw., doch nur Teile der allgemeinen sozialen Frage und nicht diese selbst sind und daß in letzter Instanz Fragen wie die, was muß geschehen, um die Klassengegensätze aufzuheben und damit dem Lohnsystem und den auf ihm beruhenden Gesellschaftszuständen ein Ende zu machen, Fragen 50 sind, mit denen ein internationaler Arbeiterkongreß sich ebenfalls zu beschäftigen hat." Er verwies darauf, daß die alten Trade-Union-Führer, die den Sozialismus hassen, "die
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Friedrich Engels an Paul Lafargue am 17.9.1892, in: Ebenda, S. 465. Friedrich Engels an August Bebel am 11.9.1892, in: Ebenda, S. 456. Ebenda. Bebel. August, Ein.internationaler Kongreß für den Achtstundentag, in: Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/1893, 1. Bd, S. 41. 48 Ebenda, S. 39. 49 Ebenda, S. 41. 50 Ebenda, S. 42.
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von ihnen beeinflußten Arbeiter von jeder Berührung mit diesem gefährlichen Gifte fernzuhalten" suchten. "Jene sind die Konservativen, wir die Revolutionäre in der Bewegung. Wasser und Feuer vertragen sich nicht miteinander. Der Tag kommt zwar sicher, aber wir haben das Herankommen dieses Tages zu beschleunigen, indem wir klare Stellung 51 gegen Bie nehmen und ihrem Anhang die Augen öffnen." Bebels Ausführungen sind hier deshalb so ausführlich wiedergegeben worden, weil zu dieser Zeit kaum etwas anderes die politisch-ideologische Divergenz zwischen dem marxistischen Führungskern der deutschen Arbeiterbewegung um August Bebel einerseits und der Generalkommission andererseits so deutlich reflektiert als die unterschiedliche Stellungnahme zu diesem Problem. Etwa zwei Wochen nach dem Erscheinen des Artikels von August Bebel veröffentlichte die Generalkommission eine Stellungnahme, in der sie sich zwar der 52 Aufforderung, dem von den Trade-Unions projektierten Kongreß fernzubleiben, anschloß , sich hauptsächlich aber von der prinzipiellen Motivierung dafür distanzierte. "Es läßt sich diese Handlungsweise (des Glasgower Trade-Union-Kongresses - W.S.) vom theoretisch-sozialistischen Standpunkte wohl nicht verstehen, dagegen werden diejenigen, welche anerkennen, daß durch die Tätigkeit der Gewerkschaften die Lebenshaltung der 53 englischen Arbeiter erhöht worden ist , diesen Beschluß begreif lieh finden", führte die Generalkommission aus und verstieg sich - obwohl sie wissen mußte, daß die alten Führer des TUC sich nur gezwungenermaßen zur Anerkennung der Forderung nach dem Achtstundentag bereit gefunden hatten - zu der Erklärung: "Der praktische Engländer hält die E r ringung des Achtstundentages für wichtiger, als Erörterungen über Anarchismus oder Sozialismus . . . Die internationalen Sozialistenkongresse haben sich mit der Frage des 51 Ebenda; Engels erklärte sich mit diesem Artikel "ganz einverstanden: ruhig, würdig, entschieden". Friedrich Engels an August Bebel am 26.9.1892, in: MEW, Bd 38, S. 477. 52 Nachdem sich bereits die Kongresse der französischen Arbeiterpartei und der f r a n zösischen Gewerkschaften gegen den Separatkongreß erklärt hatten und der "Vorwärts" auch die deutschen Gewerkschaften zu analogen Stellungnahmen aufgefordert hatte, wandte sich der Berliner Parteitag in einer Resolution gegen den von den Führern der Trade Unions geplanten Kongreß, forderte zur Teilnahme am Züricher Kongreß 1893 auf, "welcher allein als der Vertretungskörper des klassenbewußten internationalen Proletariats angesehen werden kann", und forderte eine Erweiterung der Tagesordnung durch die Diskussion Uber "Die politische Betätigung der Arbeiterklasse" und "die Stellung der Arbeiter zum Krieg". Protokoll des Berliner Parteitages 1892, S. 215 f. 53
Vgl. dazu Bünger. Siegfried. Die Rolle der liberalen Bourgeoisie bei der Herausbildung des Trade Unionismus in Großbritannien, in: ZfG, XV. J g . 1967, H. 7, S. 1193 ff.
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Achtstundentages befaßt, doch ist den diesbezüglich gefaßten Beschlüssen nicht die genügende Würdigung später zuteil geworden. Gestehen wir es doch offen ein, daß Beschlüsse so lange ohne praktischen Wert sind, als nicht genügend Macht und Mittel vorhanden, sie durchzuführen. Macht und Mittel liegen aber einzig und alnin in der Organisation der Arbeiter. Und da haben wir Deutsche ganz besonders viel gesündigt. Während z.B. die Franzosen nach dem Pariser Kongreß (1889 - W.S.) ihre ganze Kraft der Organisation widmeten, durch E rrichtung von Syndikaten der gewerkschaftlichen Organisation feste Stützpunkte gaben, begnügten wir in Deutschland uns damit, die Idee des Sozialismus in die Arbeitermassen zu tragen, ohne eine Armee zu schaffen, welche die Idee verfechten und ihre 54 praktische Durchführung erkämpfen soll." Diese Auslassungen liefen auf das Postulat hinaus: "Während der Pariser Kongreß einen richtigen Anlauf nahm, dem praktischen Sozialismus eine gebührende Stelle einzuräumen, waren die Verhandlungen des Brüsseler Kongresses wieder mehr theoretischer Natur. . . . Wenn hier nicht Wandel geschaffen wird, dann werden die internationalen Kongresse bald ausschließlich der Kampfplatz sozialistischer Theoretiker sein, während das eigentliche Arbeiterelement immer mehr zurücktreten wird. Die Beschlüsse der Kongresse sind ja wissenschaftlich unantastbar, aber sie überbrücken nicht die Kluft zwischen der heutigen und der sozialistischen Gesell55 Schaft." Die Generalkommission, die ihren Angriff nicht auf die antisozialistischen Führer der englischen Gewerkschaftsbewegung, sondern gegen die marxistischen Kräfte, insbesondere gegen "unsere deutschen Theoretiker" richtete, wies sogar die Auffassung zurück, "daß zwei solche Kongresse . . . Zwiespalt in die Reihen des internationalen Proletariats tragen würden", und behauptete, der Gewerkvereinskongreß "würde die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter Englands und des56Kontinents sicher einander näher bringen und dies wäre wünschenswert und vorteilhaft". Mit dieser Stellungnahme offenbarte die Generalkommission deutlich ihre tradeunionistische Beschränktheit gegenüber grundsätzlichen Fragen des Klassenkampfes. Die Herabsetzung der marxistischen Arbeiterführer als wirklichkeitsfremde "Theoretiker" gegenüber den vorgeblich realistischen "Praktikern" der Generalkommission, die Überhebung der Gewerkschaften gegenüber der revolutionären Partei und die fälschliche Verbrämung des ' Ringens um unmittelbare Tages- bzw. Teilinteressen der Arbeiterklasse als "praktischen
54
Correspondenzblatt Nr. 23 vom 10.10.1892, Internationaler Gewerkschaftskongreß. In tendenziöser Absicht stellte die Generalkommission die Situation der französischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung überhöht dar. 55 Ebenda. 56 Ebenda.
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Sozialismus" waren deutliche Anzeichen für das Abrücken der eben erst konstituierten zentralen GewerkschaftsfUhrung von der marxistischen Konzeption des proletarischen Klassenkampfes, insbesondere von der proletarischen Revolution. W i r haben allerdings im Auge zu behalten, daß es sich dabei um einen außerordentlich widerspruchsvollen Prozeß handelte: Die Symptome einer reformistischen Auffassung des Klassenkampfes speziell in der Gewerkschaftsbewegung, die sich mehr und mehr verdichteten und in einzelnen - wesentlichen - Äußerungen nahezu voll ausgeprägt waren, wurden immer wieder durchkreuzt und überlagert durch die auch von der Generalkommission v e r tretene grundsätzliche Feindschaft gegenüber der Bourgeoisie und dem Ausbeuterstaat sowie durch die sozialistische Zielstellung. Es war dies keineswegs nur eine taktisch motivierte Doppelgleisigkeit; diese Widersprüchlichkeit lag vielmehr im Wesen des T r a d e unionismus selbst begründet. E r reflektierte wohl das Streben der Arbeiterklasse nach der sozialistischen Alternative zum Kapitalistischen Ausbeutungssystem, war aber unfähig, die ganze Schärfe dieser Alternative - schon gar nicht die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats - zu erfassen. Statt dessen nahmen in der tradeunionistischen Argumentation "allgemein-menschliche" Begründungen des Sozialismus und Begriffe wie die Forderung nach einer "Gleichberechtigung" des Proletariats breiten Raum ein, allerdings sozial motiviert und mit dem Postulat der Beseitigung der Ausbeutung verbunden. Die Unzulänglichkeit der Zielauffassung des proletarischen Klassenkampfes, die aus tradeunionistischen Einflüssen resultierte, mußte unweigerlich potenziert in Erscheinung treten, wenn die Frage nach dem Weg zum sozialistischen Ziel aufgeworfen war. Hier kam hinzu, daß die tradeunionistische Orientierung nicht nur durch eine unvollkommene Aneignung der marxistischen Theorie verengt war, sondern überdies noch sehr einseitig von den Problemen des ökonomischen Kampfes innerhalb der Sphäre von Kapital und Arbeit, also einem Teilbereich des Klassenkampfes, ausging. Damit waren aber komplizierte Fragen wie die wechselseitige Verbindung des ökonomischen, politischen und ideologischen Kampfes oder das dialektische Verhältnis von Reform und Revolution höchstens in T e i l aspekten lösbar. Unter diesem Gesichtspunkt wird offenbar, daß der Widerspruch nicht, wie es die Generalkommission darzustellen suchte, zwischen "theoretischem" und "praktischem" Sozialismus klaffte, sondern zwischen der Realität des revolutionären Klassenkampfes und der stark beschränkten theoretischen Auffassung durch die Generalkommission. Die so beschränkte theoretisch-ideologische Vorstellung der Generalkommission war vor allem deshalb besonders gefährlich, weil diese als ein Führungsgremium der sozialistischen Arbeiterbewegung nicht nur schlechthin aktuelle Aufgaben zu erfüllen, sondern die Gegenwartsprobleme in konzeptioneller, auf die Zukunft der proletarischen Bewegung ausgerichte-
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t e r Sicht zu entscheiden hatte. Hierbei mußten tradeunionistische Tendenzen, die in der gewerkschaftlichen Bewegung immanent vorhanden waren, als Symptome einer reformistischen Konzeption in Erscheinung treten. Dem wirkten jedoch, abgesehen von jenen revolutionären Auffassungen, die selbst innerhalb der Generalkommission den tradeunionistischen Tendenzen entgegenstanden, drei wesentliche Faktoren entgegen: einmal die objektiven Kampfbedingungen in PreußenDeutschland, die jede selbständige Begung der Arbeiterklasse, mochte sie sich auch nur auf Teilbereiche des Klassenkampfes erstrecken, notwendigerweise in Konfrontation mit dem junkerlich-bourgeoisen Militärstaat brachten; zum anderen die Kampfaktionen der Arbeiterklasse selbst, die die Grenzen und die Einwirkungen der tradeunionistischen Einflüsse immer wieder durchbrachen; vor allem aber die marxistische Massenpartei, die die Verbindung von Marxismus und Arbeiterbewegung verkörperte und den entscheidenden Einfluß auf die Strategie und Taktik der gesamten Arbeiterbewegung,einschließlich der Gewerkschaften, ausübte. Der Berliner Parteitag, der im November 1892 stattfand, setzte sich mit opportunistischen Auffassungen auseinander, die wiederum von Vollmar hinsichtlich des Verhältnisses der Arbeiterklasse zum junkerlich-bourgeoisen Militärstaat vertreten worden waren. Die Bilanz der als "Staatssozialismus-Debatte" bekannt gewordenen innerparteilichen Diskussion ziehend, betonte Wilhelm Liebknecht als Referent des Parteitages: "Der Staat von heute ist die organisierte kapitalistische Gesellschaft, ein Klassenstaat, der auf der heutigen Produktionsform beruht, sie anerkennt und ihr dient, der also darauf beruht, daß die Arbeitsinstrumente im Besitz einer Klasse sind, welche die andere Klasse ausbeutet."
57
Er bekräftigte nochmals, "daß der Sozialismus revolutionär ist, revolutionär sein muß, 58 und im Krieg auf Lebet oder Tod steht mit dem reaktionären Staat" . Wilhelm Liebknecht wies alle Illusionen über Charakter und Politik des, junkerlich-bourgeoisen Militärstaates, die durch sozialreformerische Maßnahmen erzeugt waren, zurück; diese Maßregeln, die die kapitalistische Ausbeutung in keiner Weise einschränkten, hätten "statt den Arbeiter zu befreien, im Gegenteil die Tendenz, die Macht des heutigen Klassen- und Polizeistaats noch zu stärken, und sind einem antisozialistischen, konservativen, ja positiv reaktionären 59 Gedanken entsprungen".
Und Bebel verwies auf das politische Ziel, das die herrschenden
Klassen mit sozialen Zugeständnissen verfolgten: Damit sei "bezweckt, die Arbeiter der Sozialdemokratie abwendig zu machen... Man will die Massen gewinnen und sie von uns loslösen."®" 57 Protokoll des Berliner Parteitages 1892, S. 175. 58 Ebenda. 59 Ebenda, S. 182. 60 Ebenda. S. 197; vgl. S. 199,
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In der "Staatssozialismus-Debatte", die allerdings auch auf dem Berliner Parteitag nicht zur völligen politisch-ideologischen Klärung der Staats- und Revolutionstheorie führte (gerade das Verhältnis von Demokratie und Sozialismus blieb ungeklärt oder gar unerörtert), wurden immanent zentrale Thesen des spezifisch gewerkschaftlichen Opportunismus zurückgewiesen. Obwohl sich jedoch unmittelbar vor dem Berliner Parteitag die Symptome für die zunehmend opportunistischen Tendenzen der Generalkommission häuften, unterzog der Parteitag Position und Politik der Generalkommission keiner grundsätzlichen Kritik. Dennoch beschäftigte sich der Parteitag in seinem 8. Tagesordnungspunkt "Das Gencssenschaftswesen, der Boykott und die Kontrollschutzmarke" mit einigen Auffassungen, die in verschiedenen Gewerkschaftsverbänden zutage getreten waren und mit der marxistischen Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung nicht in Einklang standen. Als Referent wies Ignaz Auer reformistische Illusionen über die sich schnell ausbreitenden Arbeiter-Genossenschaften zurück und forderte - wie es in der vom Parteitag angenommenen Resolution h i e ß - , "namentlich den Glauben zu bekämpfen, daß Genossenschaften imstande seien, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu beeinflussen, die Klassenlage der Arbeiter zu heben, den politischen und gewerkschaftlichen Klassenkampf der Ar61 beiter zu beseitigen oder auch nur zu mildern". Den Boykott bezeichnete Auer als eine Waffe "für den politischen und gewerkschaftlichen Kampf der Arbeiterklasse..., die nur unter der aktiven Teilnahme der großen, 62 heute noch nicht organisierten Massen wirksam in Anwendung gebracht werden kann"
. Indem der Parteitag vor allem die realen Voraussetzun-
gen und Anwendungsmöglichkeiten des Boykotts untersuchte, trug er wesentlich dazu bei, diesen als zielgerichtet angewandtes und wirksames Kampfmittel der Arbeiterklasse in deren Arsenal einzufügen. Kernpunkt der Diskussion war die Einschätzung der Kontrollmarke.
63 Diese sollte den
Käufer davon informieren, daß die Arbeiter, die das entsprechende Produkt hergestellt hatten, zu gewerkschaftlich festgesetzten Bedingungen (Arbeitszeit, Lohn) arbeiteten. Die Verbraucher wurden von den betreffenden Gewerkschaften - in erster Linie der Hutmacher, teilweise der Tabak- und Textilarbeiter - aufgefordert, nur die mit Kontrollmarken versehenen Produkte zu kaufen, die anderen aber zu boykottieren. Dadurch sollten - über den Konsumenten - auch jene Unternehmer zur Anerkennung der gewerkschaftlichen F o r derungen gezwungen werden, die sich den Arbeiterforderungen hartnäckig widersetzten.
61 62 63
Ebenda, S. 220. Ebenda, S. 227 ff. Zu der zuvor um die Kontrollmarke geführten Diskussion vgl. Die Neue Zeit, 10. J g . 1891/1892, 2. Bd, S. 368 f f . , 531 ff. und 632 ff.
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Ein solches Mittel konnte naturgemäß nur dort Wirkungen zeigen, wo die Konsumenten vorwiegend Arbeiter waren. Schon deshalb spielte die Kontrollmarke nur in wenigen Verbänden eine Rolle. Wenn sich der Parteitag dennoch mit der Kontrollmarke beschäftigte, so aus drei Gründen: Abgesehen davon, daß die Erörterung eines neuen Kampfmittels vor den Parteitag gehörte, stellten die Hut- und Tabakarbeiter in einigen Orten den Stamm der Parteiorganisation. Besonders aber mußte sich der Parteitag gegen die Verabsolutierimg der Kontrollmarke als Kampfmittel wenden. Ignaz Auer verwies auf eine von der Kontrollkommission der deutschen Hutmacher herausgegebene Broschüre "Die Kontrollmarke und ihre Bedeutung für die Arbeiterschaft", in der angesichts der Unternehmer-Koalition und des arbeiterfeindlichen Eingreifens der Staatsorgane behauptet wurde, daß "mit Sicherheit . . . auch der berechtigtste und bestorganisierte Streik nur Niederlagen und Wunden bringen wird. Es ist daher notwendig, daß man die alte Kampfesweise verläßt bzw. sie 64 nur gebraucht, wo sich ein anderes Hilfsmittel nicht anwenden läßt." Die Arbeiter-Kontroll-Kommission der Textilarbeiter erklärte gar, daß der Streik, 65 der "zumeist nichts mehr helfen kann, als unzeitgemäß in die Rüstkammer gehört" . Ähnlich lautete eine von den Delegierten der Tabakarbeiter auf dem Halberstädter Kongreß eingebrachte Resolution, die dieser Gewerkschaftskongreß gegen nur eine Stimme annahm. Unter Berufung auf die wachsende Industrielle Reservearmee sprach die Resolution davon, daß "der Streik als Mittel zur Erreichung besserer Arbeltsbedingungen Immer mehr an Wert verliert" und daher in einzelnen Branchen "anstelle des Streiks zur Einführung einer Kontroll-Schutzmarke" geschritten worden sei. Der Beschluß erkannte die Schutzmarke "überall da, wo sie sich mit Erfolg anwenden läßt, als berechtigtes Kampfmittel auf wirtschaftlichem Gebiet" an und verpflichtete "die organisierte Arbeiterschaft 66 Deutschlands, diesem System die vollste Unterstützung angedelhen zu lassen". Damit gewann die Kontrollmarke in doppelter Weise an Gewicht: Sie war durch Beschluß des allgemeinen Gewerkschaftskongresses, des höchsten Organs der deutschen Gewerkschaftsbewegung, als gewerkschaftliches Kampfmittel sanktioniert worden. Und sie war - teilweise sogar offen ausgesprochen - nicht nur als eine mögliche Aktionsform, sondern auch als Ersatz für den wirklichen Klassenkampf des Proletariats proklamiert worden. Dagegen nahm der Parteitag Stellung. Indem er die Bedeutung der Kontrollmarke für die Arbeiterbewegung im Verhältnis zu den tatsächlichen Kampfmitteln drastisch
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Zlt. nach: Protokoll des Berliner Parteitages 1892, S. 230. Zit. nach: Ebenda. Protokoll der Verhandlungen des ersten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, abgehalten zu Halberstadt vom 14. bis 18. März 1892, Hamburg 1892, S. 74.
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relativierte, erfüllte e r eine Aufgabe, die vor dem Halberstädter Gewerkschaftskongreß gestanden hatte, aber von diesem unterlassen worden war. Der Parteitag lehnte die Kontrollmarke nicht generell ab, verlangte aber kategorisch: "Die Parteigenossen haben gegen die Kontrollmarke sich in allen den Fällen zu erklären, wo ihrer Einführung der Gedanke 67 zugrunde liegt, mittels derselben den gewerkschaftlichen Kampf überflüssig zu m a c h e n . . . " Schon hieraus ging hervor, daß die revolutionäre Sozialdemokratie den gewerkschaftlichen Kämpfen und mithin, was immer wieder bekräftigt wurde, den Gewerkschaftsorganisationen 68 als Bestandteil des proletarischen Klassenkampfes große Bedeutung zumaß. Ungeachtet dessen warf der Vorsitzende der Generalkommission, Carl Legien, unterschwellig der Partei eine Negierung der Gewerkschaftsbewegung vor. Drei Gründe führte er für eine angebliche Änderung in der Haltung der Partei gegenüber den Gewerkschaften an: erstens den Fall des Sozialistengesetzes, "der den Gedanken aufkommen ließ, daß die Organisation der Gewerkschaften, welche während des Sozialistengesetzes die Arbei69 terbewegung ungemein gestützt haben, überflüssig geworden sei" . Der gegenteilige 70 Gewerkschaftsbeschluß des Hallenser Parteitages entzog dem jedoch den Boden. Zweitens hätten die Streikniederlagen die Meinung hervorgerufen, "die Kontraktion des Kapitals ist so groß geworden, daß selbst die besten Organisationen die Macht desselben nicht mehr 71 zu brechen vermögen".
Dem stand jedoch die offizielle Parteiauffassung entgegen, die
die Niederlage der Streiks vornehmlich der wirtschaftlichen Krisensituation, zum anderen aber der Schwäche der Gewerkschaften, die es zu beseitigen gelte, zuschrieb. Die hauptsächliche Ursache für die angebliche Abwendung von der Gewerkschaftsbewegung sah Legien jedoch darin, "daß unsere Partei immer größere Ausdehnung gewinnt. Sie beschränkt sich nicht mehr auf die Lohnarbeiter, sondern eine ganze Reihe Kleingewerbetreibender, kleiner Unternehmer stehen mit als Genossen in der Organisation; und diese kleinen Unternehmer fühlen den Druck, welchen die Gewerkschaften . . . ausüben" und der "ihren persönlichen Interessen und Verhältnissen zuwiderstrebt". "Aus diesen Gründen ist die starke Strömung gegen das Genossenschaftswesen, den Boykott und die Kontrollschutzmarke entstanden." 72
67 Protokoll des Berliner Parteitages 1892, S. 221. 68 Vgl. dazu den Bericht des Partei-Vorstandes an den Berliner Parteitag, ebenda, S. 87 sowie die Ausführungen von Ignaz Auer (S. 233 f.), Friedrich Theiß und Gustav Slomke (S. 242). 69 Ebenda, S. 239. 70 Protokoll des Hallenser Parteitages 1890, S. 216 f. 71 Protokoll des Berliner Parteitages 1892, S. 239. 72 Ebenda. Kennzeichnenderweise griff Legien dabei auf die Argumentation der "Jungen" zurück, worauf Auer ausdrücklich verwies.
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Wolfgang Schröder Legiens Argumentation berührte echte Probleme der Gewerkschaftskonzeption der
marxistischen Massenpartei, die von der Partei erst zum Teil gelöst waren, aber im Prozeß der weiteren Ausarbeitung der revolutionären Strategie und Taktik des Klassenkampfes unbedingt gelöst werden mußten. Diese echten Fragen - auf die wir noch zurückkommen - wurden aber von Legien lediglich als Ansatzpunkte für ungerechtfertigte Angriffe gegen die Partei genutzt. Der von Legien vorgelegte Resolutionsentwurf forderte vom Parteitag die Erklärung, "daß das Genossenschaftswesen, der Boykott und die Kontrollschutzmarke Kampfesmittel der Gewerkschaften sind und die sozialdemokratische Partei nur insofern berühren, als die Personen, welche diese Kampfesmittel anwenden, Parteigenossen s i n d . . . Alle drei Kampfesmittel sind nur innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft anwendbar und stehen daher mit der sozialdemokratischen Partei, welche diese Gesellschaft bekämpft, in keinem 73 Zusammenhang."
Unverkennbar lief diese Forderung darauf hinaus, die Partei von der
allseitigen Führung des proletarischen Klassenkampfes abzudrängen und gewissermaßen gewerkschaftseigene Souveränitätsrechte für den gesamten "praktischen" Kampf zu beanspruchen. ^ Es war charakteristisch für die Konzeption der Generalkommission, daß dieser Anspruch mit der Forderung gekoppelt war, es sei "Pflicht eines jeden Genossen, der Gewerkschaftsorganisation anzugehören und sich deren Beschlüssen, soweit sie den gewerkschaftlichen Boden nicht verlassen und keine Verletzung der Parteiprinzipien enthalten, 75 zu fügen"
.
Selbstverständlich war für die Gewerkschaftsverbände und ihre Aktionen eine feste Organisationsdisziplin notwendig. Im Zusammenhang mit der angestrebten gewerkschaftlichen Okkupation des gesamten "praktischen" Kampfes jedoch wird - auch wenn die Formulierung unausgesprochen gegen die Lokalisten gerichtet sein mochte - prinzipiell der Anspruch der Generalkommission deutlich, die Verfügungsgewalt Uber die Parteimitgliedschaft für den Bereich des Kampfes innerhalb des Gahmens der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu erlangen. Der Berliner Parteitag lehnte diese Ansprüche der Generalkommission ab, indem er Legiens Resolution verwarf. Damit war jedoch das Problem selbst nicht geklärt. 73 Ebenda, S. 221. 74 Dieser Anspruch war - angesichts der in den Streiks zutage getretenen Schwäche und der im Vergleich zur Partei geringen Aktionsfähigkeit der Gewerkschaften völlig unreal und stieß, da er der Parteiauffassung der Sozialdemokratie entgegenstand, auf so starken Widerstand, daß Legien noch vor Beginn der eigentlichen Debatte - offensichtlich nach internen Diskussionen - diese Passage seiner Resolution zurückzog. Ebenda. 75 Ebenda, S. 222.
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Mit der Gründung der Generalkommission hatte die gewerkschaftliche Bewegung endgültig die lokalen und Berufsschranken durchbrochen. Diesem bedeutungsvollen Fortschritt stand jedoch schroff entgegen, daß sich diese Generalkommission zugleich als Kristallisationskern tradeunionistischer Bestrebungen innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung erwies. Diese tradeunionistischen Tendenzen verdichteten sich gerade zu einem Zeitpunkt, als sich in der marxistischen Massenpartei unter Führung Vollmars ein kleinbürgerlich-opportunistischer Flügel formierte, der vor allem in Süddeutschland schnell wachsenden Einfluß erlangte und die marxistischen Kräfte zur Verteidigung der revolutionären Grundlage und Politik der Arbeiterpartei zwang. Die tradeunionistische Infiltration, die besonders in der Generalkommission sichtbar wurde, wirkte faktisch in der gleichen Richtung wie die Vollmarschen Angriffe auf die marxistische Strategie und Taktik der Partei. Während sich jedoch Vollmar erst darum bemühte, gewissermaßen eine Hausmacht für den von ihm vertretenen Opportunismus zu schaffen, war die Generalkommission das zentrale Führungsorgan für die nach der revolutionären Arbeiterpartei wichtigste Klassenorganisation des Proletariats, die Gewerkschaftsbewegung. Insofern mußten die - wie wir heute wissen - Symptome eines sich auf tradeunionistischer Grundlage herausbildenden Reformismus innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung ein besonderes Alarmzeichen sein, zumal da die Generalkommission den Anschein zu erwecken suchte, als seien ihre tradeunionistischen Abirrungen identisch mit den spezifischen Belangen der Gewerkschaftsbewegung überhaupt. Noch war allerdings die tradeunionistische Tendenz nicht die alleinige Komponente, die Position und Politik der Generalkommission bestimmte, auch wenn sie sich unübersehbar verstärkte; und noch weniger war die Generalkommission, sosehr sie sich um eine gegenüber der Partei selbständige Basis bemühte, identisch mit der gewerkschaftlichen Klassenbewegung. Aber es war bereits erkennbar, daß die tradeunionistischen Tendenzen des zentralen Führungsorgans der Gewerkschaftsbewegung, auch wenn es sich in dieser Funktion noch nicht vollkommen gegenüber den einzelnen Verbänden durchgesetzt hatte, wachsenden Einfluß auf die gesamte Gewerkschaftsbewegung erlangten und damit deren Kraft und Aktionsfähigkeit beeinträchtigten. Angesichts dieser sich bereits im Herbst 1892 abzeichnenden Situation reichte es nicht mehr aus, wenn Ignaz Auer namens der Partei und ihrer Führung bekräftigte: " . . . über die Stellung zu den Gewerkschaften ist man klar; wir wollen die Gewerkschaften unter76 stützen." Die bloße Zurückweisung entstellender Anwürfe der Generalkommission genügte 76 Ebenda, S. 247.
222 Wolfgang Schröder nicht, um das Wechselverhältnis von Partei und Gewerkschaften unter den veränderten objektiven und subjektiven Voraussetzungen zu klären. Diese Aufgabe löste der Berliner Parteitag nicht; e r nahm sie nicht einmal in Angriff. Sie harrte aber dringend einer Lösung. Insofern hatte das "Correspondenzblatt" der Generalkommission durchaus recht, als es erklärte: "Die Frage wird wohl oder übel auf den nächsten Parteitagen wieder auftauchen und präzise Stellung zu den Bestrebungen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter ge77 nommen werden müssen."
Allerdings durfte die notwendige Lösung des Gewerkschafts-
problems keineswegs im Sinne der Ansprüche der Generalkommission erfolgen, die auf eine Herabsetzung der Rolle der revolutionären Partei gegenüber der Gewerkschaftsbewegung hinausliefen. Im Verhältnis von marxistischer Massenpartei und der gewerkschaftlichen Massenbewegung ging es um eine zentrale, für die Zukunft des proletarischen Klassenkampfes entscheidende Frage: die Gewährleistung der Einheit der sozialistischen Arbeiterbewegung auf revolutionärer Grundlage. Dazu war die entschlossene und konsequente Auseinandersetzung mit den sich in der Gewerkschaftsbewegung verstärkenden tradeunionistischen oder gar reformistischen Auffassungen und Bestrebungen notwendig. Das erforderte aber vor allem, die Gewerkschaftsbewegung stärker in die revolutionäre Konzeption der marxistischen Massenpartei der Arbeiterklasse zu integrieren, in Theorie und Praxis die einheitliche Führung der Arbeiterklasse durch die revolutionäre Arbeiterpartei sicherzustellen. IV Unmittelbar nach dem Berliner Parteitag trat die Gewerkschaftsfrage in den Hintergrund: Der Kampf gegen die bis dahin größte Militärvorlage forderte die Konzentration aller Kräfte der Arbeiterklasse. Unter Führung der Partei entwickelte sich eine große außerparlamentarische Massenbewegung gegen die forcierte Militarisierungspolitik des junkerlich-bourgeoisen Staates. Die Gewerkschaften waren in diese antimilitaristische Massenbewegung integriert. Die Generalkommission erklärte es für "zweckmäßig, daß die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter alles vermeiden, was die Kraft der Arbeiterklasse bei diesem politischen Kampf zu schwächen oder zu zersplittern geeignet ist", und rief dazu auf, die gewerkschaftlichen Kräfte - angefangen von Agitatoren bis zu finanziellen 78 Mitteln - für den antimilitaristischen Kampf einzusetzen. Sie kennzeichnete den Militarismus als entscheidenden Bestandteil des junkerlich-bourgeoisen Herrschaftssystems 77
Correspondenzblatt Nr. 27 vom 5.12.1892, Der sozialdemokratische Parteitag und die Gewerkschaften. 78 Correspondenzblatt Nr. 11 vom 29.5.1893, Zur Lage.
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und warnte vor den "Folgen, die eintreten werden, wenn die herrschenden Klassen ihre 79 bisherige Machtstellung erhalten oder dieselbe noch verstärken". Damit meinte sie keineswegs nur die materiellen Lasten, die der Ausbau des Militärapparates den Volksmassen aufbürdete, sondern vor allem die drohende Beschneidung oder gänzliche Vernichtung der demokratischen Rechte - sie verwies auf das allgemeine, direkte und geheime Wahlrecht, "die ohnehin äußerst beschränKte Vereins- und Versammlungsfreiheit" und den "geringe [n] 80 Teil Preßfreiheit, den wir haben" - durch die Reaktion. Im antimilitaristischen Kampf, der die scharfe Konfrontation der Arbeiterklasse mit den herrschenden Klassen besonders deutlich machte, war die Frage nach der proletarischen Alternative aufgeworfen. Auch die Generalkommission ging darauf ein und deutete in doppelter Weise eine Antwort an. Sie forderte entgegen dem antidemokratischen Charakter des junkerlich-bourgeoisen Militärstaates die größtmögliche Erweiterung der demokratischen Rechte. In diesem Zusammenhang erklärte sie, "daß eine fortschrittliche Veränderung der heutigen Gesetzgebung nicht durch die besitzende, sondern einzig und allein durch die Arbeiterklasse erfolgen kann", und forderte, "alle Kräfte anzuspannen, um der Arbeiter81
klasse in der gesetzgebenden Körperschaft ein entscheidendes Übergewicht zu geben". Wenn der Kampf um die Verteidigung und Ausdehnung demokratischer Rechte eine der grundlegenden Komponenten in der Politik der Generalkommission war, so war diese im Konzept der zentralen Gewerkschaftsführung wesentlich auf die parlamentarische Ebene verlagert. Dabei wird eine für den Tradeunionismus charakteristische Einengung des politischen Kampfes deutlich. Das zeigte sich auch in jenen Stellungnahmen der Generalkommission, die sich grundsätzlich gegen "unsere heutige Gesellschaft, 82 aufgebaut auf Klassenherrschaft und Unterdriickung der Schwachen und Besitzlosen" , richteten. Die Generalkommission prangerte die antidemokratischen Maßnahmen und die Ausbeutungsmethoden der herrschenden Klassen an und wertete sie als Beweis für die Notwendigkeit, daß "jeder des Endzieles der Bewegung der Arbeiter, Umgestaltung dieser Gesellschaft, eingedenk sein" müsse, "wenn wir auch gegenwärtig als Gewerkschaften den Kampf um unsere Existenz und Verbesserung unserer 83 Lebenshaltung führen". Als Ziel des proletarischen Klassenkampfes bezeichnete die Generalkommission die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, wobei sie ausdrücklich betonte, "daß wir keines79 Ebenda. 80 Ebenda. 81 Ebenda. 82 Correspondenzblatt Nr. 13 vom 19.6.1893, Verschärfte Aufsicht über die Gewerkschaften. 83 Ebenda.
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Wolfgang Schröder
wegs der Ansicht sind, die Wirren der bürgerlichen Gesellschaft, die soziale Frage würden einseitig durch die Gewerkschaften gelöst werden". Dazu sei es vielmehr "notwendig, daß die ausgebeuteten besitzlosen Volksmassen die politische Macht erringen". Die "Eroberung der politischen Macht" jedoch war in der Vorstellung der Generalkommission wesentlich eingeengt und vorrangig als Erringung einer parlamentarischen Mehrheit interpretiert. "Wir sind vielmehr überzeugt", erläuterte die Generalkommission ihre Konzeption, "daß die Überführung der Produktionsmittel aus dem Privatbesitz zum Gemeingut der Gesellschaft 84 sich hauptsächlich auf dem Wege der Gesetzgebung vollziehen wird." Hier lag ein wesentlicher Ansatzpunkt für die reformistischen Auffassungen, die zunehmend die Führungstätigkeit der Generalkommission prägten. Wie sich geradezu minutiös nachweisen läßt, beeinflußten die theoretische Einengung des politischen Kampfes und die reformistische Fehleinschätzung des Weges zum sozialistischen Ziel entscheidend die Wertung des Platzes, den die Gewerkschaften im Klassenkampf einzunehmen hatten. Die Überhöhung der Gewerkschaften im Verhältnis zur Partei paarte sich dabei mit einer Unterschätzung ihrer Rolle bei der Verwirklichung der historischen Mission des Proletariats. Wenn die Generalkommission erklärte: "Man täuscht sich, wenn man glaubt, daß die Gewerkschaften eine gar geringfügige Stellung in dem Emanzipationskampfe der Arbeiter einnehmen", und dabei auf die "letzten Entscheidungskämpfe" verwies, "die weit schwerer sein werden als die Kämpfe, die wir jetzt führen", so bezog sie die "Stellung der Gewerkschaften im Emanzipationskampfe der Arbeiter" nahezu ausschließlich auf den ökonomischen Kampf gegen das Kapital im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Darüber hinausgehende Funktionen der Gewerkschaften sah sie vorrangig in der Entwicklung von 'Disziplin, Opfermut und Eintreten für die Interessen der Gesamtheit" - Eigenschaften, die, wie die Generalkommission fälschlicherweise behauptete, "vornehmlich" im ökonomischen Kampf, "durch die Tätigkeit der Gewerkschaften den Arbeitern anerzogen" 8 ^ würden. Von dieser Position aus wandte sie sich gegen "diejenigen in Deutschland, welche 86
stets und ständig die politische Bewegung über die gewerkschaftliche stellen"
. Sie ver-
wies auf die Folgen der "Geringschätzung, welche ein Teil der amerikanischen Genossen . . . der Gewerkschaftsbewegung gegenüber an den Tag legten", die "die Entfremdung einer großen Anzahl von Gewerkschaftsmitgliedern" von der sozialistischen Bewegung "zur selbstverständlichen Folge" gehabt habe, und warnte mit drohendem Unterton, daß "nicht auch einmal in Deutschland traurige Erfahrungen nach dieser Richtung hin gemacht werden": 84 85 86
Correspondenzblatt Nr. 14 vom 3.7.1893, Zur Unterstützung der Streiks. Ebenda. Correspondenzblatt Nr. 18 vom 11.9.1893, Die Bedeutung des Internationalen ArbeiterKongresses in Zürich für die Gewerkschafts-Bewegung.
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"Die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter waren in Deutschland und sind noch heute die Kerntruppen der Partei"; die Partei habe daher "größeres Gewicht auf die Heranziehung der indifferenten Massen zur Gewerkschaftsbewegung" zu legen. "Die sozialistische P a r t e i hat in Deutschland auf die Arbeitermassen gewaltigen Einfluß", führte die Generalkommission aus und monierte an die Adresse der Partei gerichtet: "Das Entschuldigen des F e r n bleibens der Arbeiter von den Gewerkschaften mit dem ständigen Hinweis auf die w i r t s c h a f t liche Krisis und die Mißerfolge im wirtschaftlichen Kampfe ist nicht der Weg, Proselyten 87 f ü r die Organisation zu w e r b e n . " Diese Ausführungen der General^ mmission, die eine kaum verhüllte PolemiK mit der marxistischen Partei waren, stellten gewissermaßen die gewerkschaftsspezifische Auswertung des Internationalen Sozialistischen Arbeiter-Kcngresses dar, der im August 1893 in Zürich tagte und zur "nationalen und internationalen Ausgestaltung der Gewerkschaften" Stellung nahm. Berichterstatter der Kommission, die in Zürich den Resolutionsentwurf vorbereitete, war Adolf von Elm, Mitglied und ideologischer F ü h r e r der Generalkommissit n. E r betonte in seinem Bericht: "Die Gewerkschaftsbewegung zu fördern, sei im Interesse der gesamten Arbeiterbewegung dringend erforderlich"; e r stellte fest, "Deutschland habe eine starke politische Arbeiterpartei, die Gewerkschaftsbewegung dagegen sei dort nur schwach" und versicherte den Vertretern der englischen Gewerkschaften enthusiastisch, "daß das, was sie in heroischem Kampfe geleistet, uns mit Bewunderung erfüllt, daß wir ihre Organisationen als mustergültige anerkennen und uns bestreben wollen, ihnen auf der 88 Bahn der Organisation nachzueifern". Diese uneingeschränkte Solidarisierung mit jenen Gewerkschaftsführern, unter denen tradeunionistische Auffassungen zumindest noch stark verbreitet waren, verband Elm mit dem Ausruf: "Die Masse der Arbeiter gewerkschaftlich gut organisiert und politisch aufgeklärt, werden wir bald das große Ziel erreichen, welches uns allen vorschwebt, die Befreiung des Proletariats vom Joche des Kapitalismus !" Elms Thesen waren das Konzept der Generalkommission, in dem der Partei - gleichsam als bloße propagandistische Vereinigung zur Aufklärung der Arbeiter - gegenüber der Gewerkschaftsbewegung eine untergeordnete Rolle zugewiesen w a r .
87 88
Ebenda. Protokoll des Internationalen Arbeiterkongresses in der Tonhalle Zürich vom 6. bis 12. August 1893, Zürich 1894, S. 49. Vgl. im Gegensatz dazu die kritischen Äußerungen von Engels, in: MEW, Bd 39, S. 213 und 248.
226
Wolfgang Schröder Der von Elm begründete Beschlußentwurf bekräftigte die Brüsseler Resolution über 89
Streiks und Boykotts
und erklärte in bezug auf Notwendigkeit und Funktionsbereich der
Gewerkschaften: "Den Kampf der Arbeiterklasse auf wirtschaftlichem Gebiet einheitlich und wirkungsvoll gestalten kann nur die Arbeiterorganisation. Pflicht aller klassenbewußten Arbeiter ist e s , sich ihren respektiven Organisationen anzuschließen. Pflicht der politischen Arbeiterpartei und der Arbeiterpresse ist es, die Organisationen der Arbeiter auf gewerkschaftlichem Gebiet mit aller Energie zu fördern; die Gewerkschaften sind berufen, die Pfeiler der künftigen Organisation der Gesellschaft zu bilden und ist deren Ausbau deshalb
90
neben der Erringung der politischen Macht der Arbeiterklasse eine absolute Notwendigkeit." Dieser Resolutionsentwurf übertrug den Gewerkschaften die Verantwortung für den ökonomischen Kampf; im Unterschied zur Brüsseler Streik-Resolution wies e r die Gewerkschaften über den Rahmen des Kapitalismus hinaus und suchte deren Perspektive in der sozialistischen Gesellschaft zu bestimmen. Unverkennbar jedoch blieb die postulierte "Pflicht der politischen Arbeiterpartei" zur Unterstützung der Gewerkschaften, die noch'dazu in ihrem 91 Funktionsbereich lediglich auf den wirtschaftlichen Kampf beschränkt definiert wurden , höchst einseitig: Die politische und ideologische Verantwortung der Gewerkschaften im proletarischen Klassenkampf, die gewerkschaftlichen "Pflichten" gegenüber der Partei wurden nicht einmal angedeutet. Der "neben der Erringung der politischen Macht" geforderte "Ausbau der Gewerkschaften" war mehr als doppeldeutig: Bezogen auf die sozialistische Gesellschaft, konnte diese Definition der Rolle der Gewerkschaften eine revolutionäre Konzeption darstellen, auch wenn sie das Verhältnis zum proletarischen Staat und zur Partei völlig unberührt ließ. Die Gewerkschaften wären danach als die Träger bzw. Organisatoren der sozialistischen Volkswirtschaft angesehen worden. Folgen wir dieser Auslegung, so fällt sofort auf, daß der vor der sozialistischen Gesellschaft notwendige und entscheidende Einschnitt des proletarischen Klassenkampfes, die proletarische Revolution, nicht erwähnt war. Ohne 89
90
91
Die Brüsseler Gewerkschaftsresolutionwar mitder des Hallenser Parteitages identisch und orientierte die Gewerkschaftsarbeit auf den ökonomischen und demokratischen Kampf innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Vgl. Protokoll des Brüsseler Kongresses 1891. Protokoll des Züricher Kongresses, S. 50. Später erklärte sich Bebel ausdrücklich gegen den Passus, daß die Gewerkschaften die "Pfeiler der künftigen Organisation der Gesellschaft" seien; er habe in Zürich nicht dagegen gesprochen, da diese Auffassung "unschädlich" s e i . Vorwärts Nr. 262 vom 7.11.1893, Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratie. Vgl. die Achtstundentags resolution des Züricher Kongresses, Protokoll des Züricher Kongresses, S . 19, wo direkt ausgesprochen wurde: "Die Gewerkschaftsorganisation der Arbeiter hat den außer politischen freien Kampf mit dem Unternehmertum fUr den Achtstundentag zu führen, um dadurch der gesetzlichen Einführung des Achtstundentages für die ganze Arbeiterklasse den Weg zu bereiten."
Marxismus und Opportunismus
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diesen zentralen Bezugspunkt aber konnten die tatsächlichen - und keineswegs nur den ökonomischen Bereich betreffenden - Aufgaben der Gewerkschaften als Kampforganisationen der Arbeiterklasse höchstens als Torso formuliert werden. Das traf weit mehr zu, wenn wir die "Ausgestaltung der Gewerkschaften neben der E r ringung der politischen Macht" als Ausdruck einer reformistischen Konzeption werten. In diesem f a l l wurde die proletarische Revolution gänzlich eliminiert und die gesamte Gewerkschaftsarbeit vom Kampf um die politische Macht der Arbeiterklasse konzeptionell abgesondert. Dann erscheint zwangsläufig die Eroberung der politischen Macht als Erringung einer parlamentarischen Mehrheit, als jene von Engels sarkastisch glossierte opportunistische Illusion vom *'frischfrommfröhlichfreie[n] 'Hineinwachsen' der alten Sauerei ' in die 92 sozialistische Gesellschaft'" . Das "Correspondenzblatt" hatte dies kurz vor dem Züricher Kongreß mit den Worten umschrieben: "In diesem Ringen um die politische Macht sind aber die gewerkschaftlichen Organisationen derjenige Faktor, welcher, solange die heutige Gesellschaft besteht, die Kräfte des Proletariats 93 gegen die unmäßige Ausbeutung durch den Kapitalismus zu schützen und zu wahren hat" , also ebenfalls, wörtlich genommen, für die Gewerkschaften eine passive Haltung im Kampf um die politische Macht in Anspruch genommen. Der Züricher Kongreß nahm den von Elm begründeten Resolutionsentwurf der Kommissions-Mehrheit jedoch nicht an, sondern stimmte mit einer Mehrheit von 12 (Vertreter der Arbeiterbewegung Englands, Belgiens, Italiens, der USA, Australiens, Rumäniens, Spaniens, Bulgariens, Serbiens, Norwegens, Frankreichs und Hollands) gegen 6 Stimmen (der deutschen, österreichischen, dänischen, schweizerischen, ungarischen und polnischen Delegierten) dem Gegenantrag der Kommissions-Minderheit zu. Dieser bestätigte ebenfalls die Brüsseler Gewerkschaftsresolution, beschränkte dann aber die "Obliegenheit" der Arbeiterklasse auf gewerkschaftlichem Gebiet darauf, "Berufsvereine zu bilden, um ihre Berufsinteressen zu verteidigen, ihre Löhne zu schützen und der kapitalistischen Ausbeutung 94 Widerstand leisten zu können". In allgemeiner Form wurde am Schluß der Resolution postuliert, "die Arbeiter aller Organisationen ohne Unterschied der Rasse und der Berufe zu einer kompakten Masse zu gruppieren, um für die politische Tätigkeit, im Kampfe gegen den Kapitalismus, eine genügende Macht zu besitzen, um die vollständige Emanzipation des Proletariats zu s i c h e r n " ^ . 92 Friedrich Engels an Karl Kautsky am 29.6.1891, in: MEW, Bd 38, S. 125. 93 Correspondenzblatt Nr. 14 vom 3.7.1893, Zur Unterstützung der Streiks. 94 Protokoll des Züricher Kongresses, S. 51. 95 Ebenda, S. 51 f.
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Wolfgang Schröder In ihrer Auswertung des Züricher Kongresses legte die Generalkommission keinerlei
Gewicht auf die Unterschiede zwischön den beiden Resolutians-Vorlagen zur Gewerkschaftsfrage; sie erklärte vielmehr, daß in ihnen "grundsätzliche Unterschiede nicht [zu] finden" seien, und stellte die organisatorischen Festlegungen - Zentral verbände auf Berufsbasis, internationale Verbindung der jeweiligen Berufs verbände, der Gewerkschaftsbewegungen der verschiedenen Länder sowie der Arbeitersekretariate,Gründung von Arbeiterbörsen - in den 96 Vordergrund.
Bezeichnenderweise druckte das "Correspondenzblatt" nur den ersten Teil
der beiden Resolutions-Entwürfe ab und nahm nicht die geringste Notiz von dem auf Amerika und Australien bezüglichen zweiten Teil des Gewerkschaftsbeschlusses, der lautete: "In Erwägung, daß die Entwicklung des Kapitalismus in diesen ausgedehnten Ländern ein Stadium erreicht hat, wo die rein ökonomische Organisation der Arbeiterschaft absolut ohnmächtig werden wird, wenn sie nicht sofort durch die politische Aktion auf der Grundlage der internationalen sozialistischen Bewegung ersetzt wird . . . verlangt der Kongreß mit Nachdruck, daß die Arbeiterorganisationen Amerikas und Australiens sich nicht nur mit den betreffenden europäischen Organisationen in Verbindung setzen, . . . sondern daß sie namentlich sich losmachen von den politischen Bourgeoisparteien und ebenfalls große sozialistische Arbeiterparteien bilden und damit mit ihren Brüdern Europas zur Befreiung der Arbeiterklassen s c h r e i t e n . " ^ Statt dessen nutzte die Generalkommission den Züricher Kongreß, der von ihr als
98
"zweifellos der bedeutendste" von "allen bisher abgehaltenen internationalen Kongressen" gewertet wurde, um die Verantwortung für die zahlenmäßige Schwäche der deutschen Gewerkschaftsbewegung der marxistischen Massenpartei aufzubürden. Vornehmlich an die Partei gerichtet, forderte sie, "dafür zu wirken, daß wir bei dem nächsten Kongreß 1896 in London unserer ganzen Stellung in der politischen Arbeiterbewegung entsprechend auch bezüglich unserer Gewerkschaftsbewegung nicht hintan stehen" und "uns bei dem nächsten internationalen Kongreß eine Beschämung über die Machtlosigkeit unserer deutschen Arbei99 terbewegung auf wirtschaftlichem Gebiet erspart bleibe". Damit gab die Generalkommission den Tenor an, mit dem sie die Vorbereitung auf den Kölner Parteitag der deutschen Sozialdemokratie 1893 betrieb. Zu einem beträchtlichen Teil durch die Generalkommission inspiriert, nahmen in der Tat, je näher der Parteitag rückte, die Vorwürfe über eine mehr oder weniger starke Ver96
Correspondenzblatt Nr. 18 vom 11.9.1893, Die Bedeutung des Internationalen Arbef ter-Kongresses in Zürich für die Gewerkschaftsbewegung. 97 Protokoll des Züricher Kongresses, S. 50. 98 Correspondenzblatt Nr. 18 vom 11.9.1893. 99 Ebenda.
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nachlässigung der Gewerkschaftsbewegung durch die Partei zu. Sie wurden nicht nur auf gewerkschaftlichen Zusammenkünften, sondern auch bereits auf Volks- und allgemeinen Arbeiterversammlungen erhoben; als Argument diente dabei die geringe Aktionsfähigkeit der deutschen Gewerkschaften. Schon im Juli 1893 wies der "Vorwärts" - wahrscheinlich die Ergebnisse einer Sitzung des sozialdemokratischen Parteivorstandes mit den Vertrauensmännern der Berliner Parteiorganisation zusammenfassend - diese Vorwürfe, die nach "Plan und Methode" erhoben würden, scharf z u r ü c k . 1 0 0 Ausdrücklich auf die "Unabhängigen" gezielt, inhaltlich jedoch ebenso an die Adresse der Generalkommission gewandt, legte der "Vorwärts" den Kern der Frage bloß, um den es in den Auseinandersetzungen in der Gewerkschaftsfrage ging: "Die deutschen Gewerkschaften, die gegen die Bourgeoisie organisiert worden sind, werden sich nicht dazu mißbrauchen lassen, die Arbeit der Bourgeoisie zu verrichten, der es vor allen Dingen darauf ankommt, das deutsche Proletariat vom politischen Schlachtfelde zu entfernen. Und gegen die politische Tätigkeit des Proletariats richten sich, bewußt und unbewußt, alle Anstrengungen derer, die unseren Arbeitern vorreden, die Sozialdemokratie vernachlässige die gewerkschaftliche Bewegung über der politischen. Das ist einfach nicht w a h r . " 1 0 1 Der "Vorwärts" verwies auf die traditionelle Förderung der Gewerkschaftsbewegung. durch die Partei und bekräftigte nochmals die Gewerkschaftskonzeption der revolutionären Sozialdemokratie: "Und wir haben auch niemals der gewerkschaftlichen Bewegung eine untergeordnete Stellung gegenüber der politischen zugeteilt. Wir haben allezeit die Notwendigkeit und Vollberechtigung der gewerkschaftlichen Bewegung neben der politischen anerkannt. Verwahrung haben wir bloß dagegen eingelegt, daß die Gewerkschaftsbewegung die politische überwuchere oder gar verdränge und ausschließe." Die Konsequenzen einer tradeunionistischen Beschränkung machte der "Vorwärts" an Hand historischer Erfahrungen der englischen Arbeiterbewegung deutlich. "Mit dem Beispiel des englischen Tradeunionismus vor Augen mußten wir vor dem einseitigen Kultus der Gewerkschaftsorganisation warnen, der in England dazu geführt hat, daß die englische Arbeiterklasse, seit dem Scheitern der politischen Chartistenbewegung, ein volles halbes Jahrhundert lang auf politischem Gebiet die Schleppträgerin und Handmagd der Bourgeoisie gewesen ist - eine unwürdige Rolle, von welcher das englische Proletariat jetzt allmählich durch den Sozialismus erlöst wird, und vor welcher das deutsche Proletariat bewahrt zu haben das Verdienst der deutschen Sozialdemokratie i s t . " 1 0 2
100
Hauptarchiv Potsdam, Prov. B r . , Rep. 30, Berlin C, Pol. P r ä s . Tit. 95, Nr. 14951, Bl. 87. 101 Vorwärts Nr. 172 vom 25.7.1893, Ein ungerechter Vorwurf. 102 Ebenda.
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Wolfgang Schröder In weiteren Artikeln bekräftigte der "Vorwärts" die Notwendigkeit der Gewerkschaften.
"Eine einheitliche geschlossene Organisation ist sowohl in politischer wie in gewerkschaftlicher Hinsicht von Nutzen und trägt zur Stärkung der Partei bei . . . Für die Partei wäre es aber geradezu Selbstmord, sähe sie scheel auf die Gewerkschaftsbewegung; denn diese erfüllt vor allem die Aufgabe, die Schar unserer Kämpfer schlagfertig zu halten. Eine Arbeiterklasse, deren wirtschaftliche Daseinsbedingungen sehr niedrig sind, kann nicht zähe, widerstandsfähige Kämpferin für ihre Rechte sein. Deshalb erfüllt die Gewerkschaftsbewegung eine nicht zu unterschätzende Aufgabe; würde dies verkannt, so trüge die gesamte 103 Arbeiterbewegung den Schaden." An anderer Stelle wandte sich der "Vorwärts" gegen den "Pessimismus derjenigen unserer Parteigenossen, denen die Leitung der GewerkschaftsOrganisationen obliegt", und gab seiner Gewißheit Ausdruck, daß bei einer zu erwartenden Konjunktur die Gewerkschaften einen neuen Aufschwung erfahren würden. "Erst wenn die Masse der Fünf- und Zehnpfennigvereine gut fundierten Organisationen Platz gemacht hat, werden die Gewerkschaften eine Mauer bilden, die auch in Zeiten wirtschaftlichen Niederganges stark genug sein wird, um dem Unternehmertum einigermaßen Trutz bieten zu können." Mit diesen Artikeln war die Position der Partei in der Gewerkschaftsfrage vor dem Kölner Parteitag klar umrissen, die insgesamt eine tragfähige Grundlage für ein fruchtbares, durch die Klasseninteressen des Proletariats bestimmtes Zusammenwirken von Partei und Gewerkschaften ermöglichte und den Aufschwung der Gewerkschaftsbewegung förderte. Ungeachtet dessen setzte die Generalkommission ihre Verdächtigungen gegenüber der Partei massiert fort. Als sie "die Stellung der sozialdemokratischen Partei zur Gewerk 105 schaftsbewegung"
in einem umfangreichen Artikel behandelte, war ihr Hauptgesichts-
punkt nicht der Zusammenhang von Partei und Gewerkschaften hinsichtlich ihrer gemeinsamen Traditionen, der gemeinsamen Frontstellung gegen die herrschenden Klassen und den preußisch-deutschen Militärstaat, der gemeinsamen Aufgaben und Ziele im Klassenkampf. Im Gegenteil: Sie suchte geradezu nach Ansatzpunkten für die öffentliche Polemik gegen die Haltung der Partei in der Gewerkschaftsfrage, ganz offensichtlich mit der Absicht, auf diesem Wege eine Verselbständigung der Gewerkschaften von der sozialistischen
103 Ebenda, Nr. 192 vom 17.8.1893, Die Vernachlässigung der Gewerkschaftsbewegung. 104 Ebenda, Nr. 215 vom 13.9.1893, Die Bedeutung der Gewerkschaftsorganisationen; der Artikel war ausdrücklich als Stellungnahme gegen das Correspondenzblatt Nr. 18 vom 11.9.1893 gekennzeichnet. 105 Correspondenzblatt Nr. 19 vom 25.9.1893.
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Arbeiterpartei zu erzwingen. Charakteristisch für die Methode des Vorgehens war beispielsweise, daß die Generalkommission aus der Distanzierung des "Vorwärts" von der "albernen Ansicht" einzelner Parteimitglieder unter dem Sozialistengesetz, "man dürfe die Gewerk106 schaftsbewegung nicht unterstützen" , die Berechtigung ihrer Anschuldigungen gegenüber der Partei ableitete. Sachlich verlangte die Generalkommission den "Beitritt der Parteiführer" und aller Parteimitglieder in die Gewerkschaftsverbände sowie eine weitergehende Agitation für die Gewerkschaftsbewegung seitens der Parteipresse. Pharisäerhaft erklärte sie: "Was wir bezwecken, ist, den angeblichen Vorwürfen gegen die Partei oder deren Leitung die Spitze 107 abzubrechen, indem wir an Beispielen aus der Praxis das Gegenteil erweisen können." Tatsächlich aber war sie weit entfernt, "an Beispielen aus der Praxis das Gegenteil zu erweisen", obwohl die durch die Generalkommission forcierten "Diskussionen", wie sie selbst in diskreter Umhüllung schrieb, "dem mit den Verhältnissen nicht Vertrauten es erscheinen lassen, als bestände ein 108Gegensatz zwischen der Arbeiterbewegung auf politischem und gewerkschaftlichem Gebiet". Wenn die Generalkommission von "den beiden parallel marschierenden Truppenkörpern in der deutschen Arbeiterbewegung" sprach, in bezug auf die Gewerkschaftskonzeption des marxistischen Führungskernes der Partei immer wieder bohrend den "Unterschied . . . zwischen der systematischen Unterstützung und der wohlwollenden Duldung oder gelegentlichen ungünstigen Kritik" beschwor und endlich mangels an Beweisen das "Gefühl" der "Genossen, die vornehmlich der Gewerkschaftsorganisation sich widmen", für sich in Anspruch nahm, "daß ein Teil der ausschließlich politisch tätigen Parteigenossen einem Aufschwung der Gewerkschaftsbewegung nicht sympathisch gegenüber109 steht",
so war das Ausdruck einer Konzeption. Dahinter verbarg sich die Tendenz, die
Gewerkschaftsbewegung von der revolutionären Partei abzugrenzen, wobei die Generalkommission das ökonomisch-soziale Ringen der Arbeiterklasse innerhalb der Sphäre von Kapital und Arbeit - also einen Teilbereich des Klassenkampfes - und die entsprechende Organisationsform als (zumindest für lange Zeit) ausschlaggebenden Faktor des proletarischen Klassenkampfes hinzustellen suchte. Die fortgesetzte Polemik richtete sich nicht nur gegen die führende Rolle der Partei, deren Funktion die Generalkommission schon ein Jahr zuvor darauf einschrumpfen ließ, "abgesehen von den auf dem Gebiete des Arbeiterschutzgesetzes zu verfechtenden Einrich106 107 108 109
Vorwärts Nr. 215 vom 13.9.1893. Correspondenzblatt Nr. 19 vom 25.9.1893, Die Stellung der sozialdemokratischen Partei und Gewerkschaftsbewegung. Ebenda. Ebenda.
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tungen, hauptsächlich die theoretischen Fragen Uber den Ausbau der gesellschaftlichen Organisation resp. deren Gestaltung in der Zukunft zu erörtern" 1 1 **. Sie mußte auch unweigerlich in der Richtung wirken, den "praktischen" Tageskampf, auf den sich die Gewerkschaften konzentrierten, konzeptionell von der sozialistischen Zielstellung des proletarischen Klassenkampfes überhaupt abzudrängen. Die sich damit ankündigenden Gefahren wurden von der Parteiführung erkannt. "Während früher die Gewerkschaften als ein zwar selbständiger, aber immer nur als ein Teil der organisierten, klassenbewußten Arbeiterbewegung betrachtet sein wollten und auch betrachtet wurden - etwa wie die Artillerie eine Spezialwaffe in der Armee, aber doch nicht diese selbst, sondern nur ein Teil derselben ist - macht sich seit der Gründung der Generalkommission das Bestreben bemerklich, die Gewerkschaften von der politischen Partei zu trennen und beide Organisationen als rivalisierende Mächte zu behandeln", erklärte Ignaz Auer gegenüber der Generalkommission und warnte namens der Parteiführung: "Ich halte diese Bestrebungen, welche speziell in der Generalkommission ihren Ausgangs- und Stützpunkt haben, für sehr verkehrt und, wenn sie größeren Anklang fänden, geradezu für verhängnisvoll für die ganze deutsche Arbeiterbewegung." 111 Auer wies "die hochfliegenden Pläne" der Generalkommission zurück: "Aber die deutsche Arbeiterbewegung 112 ist nun einmal kein Feld, auf dem der Weizen der Gompers und Konsorten blüht." V In seinem Rechenschaftsbericht, der dem Kölner Parteitag 1893 gedruckt vorlag und von 113 bezeichnet
Wilhelm Liebknecht als "eine besonders wertvolle und eingehende Arbeit"
wurde, widmete der sozialdemokratische Parteivorstand der Gewerkschaftsbewegung breiten Raum. Den "engen Zusammenhang jener Gewerkschaftskreise mit der sozialdemokratischen 114 Bewegung"
hervorhebend, bekräftigte er nochmals die seit mehr als zwei Jahrzehnten
verfolgte Gewerkschaftskonzeption der Partei. "Die sozialdemokratische Partei hat sich von 110 111 112 113 114
Ebenda, Nr. 27 vom 5.12.1892, Der sozialdemokratische Parteitag und die Gewerkschaften. Ignaz Auer an Carl Legien, zit. nach: Protokoll des Kölner Parteitages 1893, S. 186. Ebenda. Es war charakteristisch, daß Legien, der den internen Brief Auers auf dem Parteitag vorlas, ihn als Beweis wertete, daß "jedenfalls der Genosse Auer der Bewegung nicht so ganz sympathisch gegenübersteht". Liebknecht. "Wilhelm. Der Kölner Parteitag, in: Die Neue Zeit, XH. J g . 1893/94, 1. Bd, S. 165. Protokoll des Kölner Parteitages 1893, S. 37. Der Parteivorstand verwies u . a . auf den Züricher Kongreß, auf dem in der deutschen Delegation "auch die Repräsentanten der Gewerkschaften" vertreten waren; "aber auch unter diesen ist nicht einer gewesen, der nicht zu den Mitgliedern der Partei zählet". Ebenda, S. 35.
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jeher und auch sofort, als sie in Deutschland wieder offen auftreten konnte, auf dem Parteitag in Halle, mit aller Entschiedenheit für die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation und für starke Organisationen ausgesprochen", erklärte der Parteivorstand und fügte, die gegenteiligen Verdächtigungen der Generalkommission zurückweisend, hinzu: 115 "Diesen Standpunkt zu verlassen, dazu dürfte heute weniger als jemals Anlaß vorliegen . . . " Dem Rechenschaftsbericht lag die Auffassung zugrunde, daß die Gewerkschaftsbewegung eine notwendige Erscheinungsform der Arbeiterbewegung ist, die gesetzmäßig aus dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit erwächst und speziell die unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse gegenüber den kapitalistischen Ausbeutern wahrzunehmen hatte. Der ökonomische Kampf allein, als dessen spezifischer Träger die Gewerkschaften angesehen wurden, konnte das kapitalistische Ausbeutungsverhältnis nicht grundsätzlich in Frage stellen. Ausdrücklich warnte der Parteivorstand vor einer opportunistischen Überschätzung des ökonomischen Kampfes und forderte, "daß Uber den Kämpfen und Streben um bessere Arbeitsbedingungen die letzten Ziele der sozialdemokratischen Bewegung: die Beseitigung der Klassenherrschaft und die Umwandlung der Produktionsmittel aus kapitalistischem in 1X6 gesellschaftliches Eigentum nicht vergessen werden" dürfe. Damit bekräftige der Parteivorstand zwei wesentliche, für die Auseinandersetzung mit ökonomistischen Auffassungen entscheidende Grundsätze der marxistischen Gewerkschaftskonzeption. Einmal machte er nochmals die Grenzen des ökonomischen Tageskampfes deutlich. "Die Kennzeichnung der gewerkschaftlichen Kämpfe und Bestrebungen als eines Palliativs, das wohl geeignet sei, den Arbeitern bei günstiger Konjunktur auf dem Arbeitsmarkt bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen, und das weiter auch dazu diene, in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs die Unternehmer davor zurückzuschrecken, ihr soziales Übergewicht schrankenlos zu mißbrauchen - das aber nie dazu führen könne, die Arbeiterklasse vom Drucke der Kapitalherrschaft endgültig zu befreien, diese Kennzeichnung ist einfach Pflicht unserer Presse. Die Zumutung, aus 'taktischen Rücksichten' das Aussprechen dieser Wahrheiten zu unterlassen, kann nicht erfüllt werden, wenn unsere Bewegung nicht den sozialdemokratischen Charakter verlieren und der Versumpfung anheimfallen 117 soll", hieß es im Rechenschaftsbericht des Partei Vorstandes. Damit betonte der Parteivorstand zum anderen die revolutionäre sozialistische Alternative der Arbeiterklasse gegenüber, dem Ausbeutungssystem als entscheidenden Maßstab und Orientierungspunkt auch für die Gewerkschaften und ihre Aktionen. Mit der proletarischen
115 Ebenda, S. 42. 116 Ebenda, S. 38. 117 Ebenda.
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Alternativkonzeption bekämpften die marxistischen Kräfte die tradeunionistischen Auffassungen, die in der Gewerkschaftsbewegung immer wieder reproduziert wurden. Es wäre aber eine zu einseitige Auffassung, dies nur unter dem Aspekt der Grenzen des ökonomischen Kampfes zu sehen; vielmehr ging es zugleich immer darum, die sich aus den ökonomischen Kämpfen entwickelnden antikapitalistischen Tendenzen, die in der deutschen Gewerkschaftsbewegung vor allem infolge des Einflusses der revolutionären Arbeiterpartei besonders stark waren, zu fördern und voll wirksam zu machen. Die antikapitalistische Grundhaltung der Uberwiegenden Mehrheit der Mitglieder der freien Gewerkschaften, die sich u . a . darin ausdrückte, daß der gewerkschaftliche Mitglieder-und Funktionärsstamm durch Parteimitglieder gestellt wurde, war eine wesentliche Brücke für die Verbindung des ökonomischen und politischen Kampfes, des Ringens um unmittelbare Tagesinteressen mit der sozialistischen Zielstellung des proletarischen Klassenkampfes, f ü r die weitere Durchsetzung des Marxismus in der gesamten Arbeiterbewegung. Als Kampforganisationen der Arbeiterklasse waren die Gewerkschaften objektiv und so auch im Bewußtsein ihrer sozialistischen Mitglieder integriert in die sozialistische Alternative, die die proletarische Klassenbewegung unter Führung der revolutionären Sozialdemokratie verkörperte. Dem stand jedoch entgegen, daß die grundsätzliche Zurückweisung ökonomistischer Erscheinungen durch die marxistischen Kräfte unterderhand transformiert wurde in eine theoretische Reduzierung der Gewerkschaftsbewegung auf den ökonomischen Kampf. Das aber war gerade ein Kardinalpunkt in der Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Opportunismus in der Gewerkschaftsfrage. Gerade die Trennung der Gewerkschaftsarbeit von der sozialistischen Zielstellung des proletarischen Klassenkampfes war der Kern des sich in der Gewerkschaftsbewegung, besonders in der Generalkommission, schnell ausbreitenden Opportunismus. Die marxistischen Kräfte in der deutschen Arbeiterbewegung kämpften gegen diese wachsenden opportunistischen Einflüsse. Während sie jedoch die revolutionäre sozialistische Zielstellung des proletarischen Klassenkampfes, die Ubergeordnete Rolle des politischen Uber den ökonomisch-sozialen Kampf und die führende Rolle der Partei gegen die tradeunionistischen bzw. schon reformistischen Angriffe der Generalkommission verteidigten, ließen sie mit der fälschlichen Identifikation der Gewerkschaftsbewegung lediglich mit den unmittelbaren ökonomischsozialen Interessen und Bestrebungen der Arbeiter eine zentrale Grundposition des gewerkschaftlichen Opportunismus von vornherein unangetastet. Dabei konnte selbst Legion ohne Abstriche zugestehen: "Niemals ist von den Führern der gewerkschaftlichen Bewegung behauptet worden, daß die gewerkschaftliche Organisation etwas anderes als ein Palliativ-
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118
mittel sei innerhalb der heutigen bürgerlichen Gesellschaft."
Dahinter steckte die
Auffassung, daß die Gewerkschaften sich vor allem oder sogar voll und ganz auf die Verbesserung der Lage der Arbeiter innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung zu konzentrieren hätten. Nur wenn diese enge und einseitige Definition der Gewerkschaftsbewegung, die einen wesentlichen Nährboden des Reformismus bildete, zerschlagen wurde, konnte der Opportunismus der Generalkommission wirksam bekämpft werden. Davon mußte entscheidend die Einschätzung der Perspektive sowohl der Gewerkschaftsbewegung als auch des ökonomischen Kampfes beeinflußt werden. Diesen Schlüssel fanden oder ergriffen die marxistischen Kräfte damals jedoch nicht. Während sie von revolutionären Positionen aus mit vollem Recht vor einer Überschätzung des ökonomischen Kampfes warnten und dessen Grenzen zeigten, reduzierten sie in der theoretischen Auffassung - ungewollt und im Gegensatz zu der von ihnen selbst entwickelten marxistischen Gewerkschaftskonzeption - den Funktionsbereich der Gewerkschaften unterderhand lediglich auf diesen ökonomischen Kampf, d.h. auf das Ringen innerhalb der Sphäre von Kapital und Arbeit, im Rahmen des kapitalistischen Gesellschaftssystems. Das resultierte zweifellos aus der notwendigen Abwehr der tradeunionistischen Unterschätzung der Gewerkschaftsbewegung und der Selbstüberhöhung der Generalkommission, die - wie Fischer auf dem Kölner Parteitag direkt aussprach - "eine Art parlamentarisches Komitee der Gewerkschaften bilden" wolle, "welches mit der Parteileitung wie von Macht 119 zu Macht"
zu verhandeln suche. Demgegenüber galt es, die führende Rolle der Partei
als Repräsentanz und Führerin der gesamten Arbeiterbewegung zu begründen. Aus der geschichtlichen Entwicklung der Arbeiterbewegung hatte dies Kautsky - der im "Kommunistischen Manifest" entwickelten Konzeption folgend - in seinem 1892 e r schienenen Buch "Das Erfurter Programm" dargelegt. E r charakterisierte den ökonomischen Kampf als historischen Ausgangspunkt der Arbeiterbewegung. Die damit entstehenden Ge120 werkschaften als "wirtschaftliche(n) Kampfesorganisationen der Arbeiter"
wertete
Kautsky unter doppeltem Aspekt: Erstens sah er in ihnen gewissermaßen die Durchgangsstufe im Prozeß der Parteibildung der Arbeiterklasse, die als Äußerungen und zugleich Resultat des proletarischen Klassenkampfes gegen die Bourgeoisie die Formierung der Arbeiterbewegung wesentlich förderte. Das traf nicht nur in historischem Sinne zu. Was Kautsky auch durch die Abschnittsüberschrlften: Die Gewerkschaftsbewegung - Der politische 118 Ebenda, S. 184. 119 Ebenda, S. 205. 120 Kautsky. Karl, Das Erfurter Programm, S. 212.
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Kampf - Die Arbeiterpartei . . . die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus als historischen Entwicklungsprozeß der gesamten Arbeiterklasse deutlich machte, reproduzierte sich ständig von neuem, wenn bislang indifferente Arbeiter zur sozialistischen Arbeiterbewegung stießen. Bei aller Würdigung dieser den Formierungsprozeß der Arbeiterklasse fördernden Tendenz verwies jedoch Kautsky zugleich auf die hemmenden Tendenzen, die er aus der "urspriinglicheQn] Verwandtschaft der Gewerkschaftsbewegung mit der zünftigen Gesellenbewegung"
121
herleitete und die in der "Tendenz einer kastenmäßigen
Abschließung, nach einseitiger Verfolgung bloß der engeren Berufsinteressen ohne Rück122
sieht auf die allgemeinen Arbeiterinteressen"
zum Ausdruck kamen. Auf den "alten"
Unionismus in England anspielend, erklärte Kautsky: "Wo die Gewerkschaftsbewegung zu einer Pflege einseitigen Kastengeistes und zu aristokratischer Abschließung der bessergestellten Arbeiter führt, da trägt sie nicht nur nichts zur Hebung des gesamten Proletariats als Klasse bei, sie ist sogar imstande, dieselbe zu hemmen und zu verzögern. Sie ist ein viel wirksameres Mittel dazu als die brutalen und geistlosen 123Unterdrückungsmaßregeln, welche die herkömmliche Staatsweisheit anzuwenden liebt" ,und führe in der Konsequenz dazu, "das Proletariat zu spalten und seine widerstandsfähigsten Bestandteile aus Vor124 kämpfern in Unterdrücker seiner wehrloseren Bestandteile zu verwandeln". Die entscheidende Schlußfolgerung, die Kautsky aus diesen historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung zog, lautete: Erst 125 indem die Arbeiterbewegung "sich zu einer gesonderten Arbeiterpartei verdichtet" , vollbringt das Proletariat den "entscheidenden Schritt, . . . die Nabelschnur zu zerschneiden, die es politisch mit der bürgerlichen Gesell126 schaft verknüpft, aus deren Schöße es hervorgegangen". Diese gegenüber der tradeunionistischen Überhebung notwendige Relativierung der Gewerkschaftsbewegung war von grundsätzlicher Bedeutung für die weitere Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Opportunismus in der Gewerkschaftsfrage. Hier kann nur darauf verwiesen werden, daß Lenin in "Was tun?" es als ¡'Grundirrtum aller Ökonomisten" bezeichnete, "daß man das politische Klassenbewußtsein der Arbeiter aus ihrem ökonomischen Kampf sozusagen von innen heraus entwickeln könne, d.h. ausgehend allein (oder zumindest hauptsächlich) von diesem Kampf, basierend allein (oder zumindest hauptsächlich) auf diesem Kampf . . .
121 122 123 124 125 126
Ebenda, Ebenda, Ebenda. Ebenda, Ebenda, Ebenda,
S. 212. S. 213. S. 214. S. 227. S. 226.
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Das politische Klassenbewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der 127 Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern." Zweitens wertete Kautsky die Gewerkschaftsbewegung und ihre 128 Kämpfe "als Teile des großen Klassenkampfes, den das , und betonte: "Man hat mitunter den politischen Kampf dem gesamte Proletariat führt" wirtschaftlichen entgegengestellt und es für notwendig erklärt, daß das Proletariat sich einseitig nur dem einen oder dem anderen zuwende. In Wahrheit sind beide voneinander 129 nicht zu trennen." Die Verflechtung von ökonomischem und politischem Kampf, von der revolutionären Sozialdemokratie seit langem erkannt und zu einem Axiom in Theorie und Praxis erhoben, mußte sich im Verhältnis von Partei und Gewerkschaften reflektieren. Kautsky untersuchte dieses Verhältnis in Polemik gegen antimarxistische Auffassungen, die mit der Phrase von der "direkten Gesetzgebung durch das Volk" die sozialistische Arbeiterpartei und erst recht die Diktatur des Proletariats in Frage zu stellen suchten. Er bekräftigte den Grundsatz "Nur als politische Partei kann die 130 Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit zu einem festen, dauernden Zusammenschluß gelangen" und hob, die führende Bolle der Partei gegenüber den Gewerkschaften betonend, hervor: "Die Bildung und das Wirken einer besonderen Arbeiterpartei, welche für die Arbeiterklasse die politische Macht erobern will, setzt bereits in einem Teile der Arbeiterschaft ein hochentwickeltes Klassenbewußtsein voraus. Aber das Wirken dieser Arbeiterpartei ist das mächtigste Mittel, 131in der Masse der Arbeiterschaft das Klassenbewußtsein zu erwecken und zu fördern." Damit wurde seitens der marxistischen Kräfte eine zentrale These der Generalkommission korrigiert, die besagte, daß in erster Linie durch die Gewerkschaftsorganisationen und ihre Kämpfe die "Kerntruppe der Partei" organisatorisch, politisch und ideologisch geschult würde. Demgegenüber wies Kautsky nach, daß die Existenz einer starken sozialistischen Partei der entscheidende Faktor auch flir die Stärke, die Stoßrichtung und für die Einheit der Gewerkschaftsbewegung ist. Wir haben Kautskys Argumentation unter dem Aspekt zu werten, inwieweit sie dazu beitrug, daß die marxistischen Kräfte für die Gewerkschaftsdebatte auf dem Kölner Parteitag theoretischen Vorlauf gewannen. Die marxistischen Kräfte hatten um 1892/1893 Lenin, W . I . . Was tun?, in: Derselbe, Werke, Bd 5, S. 435 f . Kautsky. Karl. Das Erfurter Programm, S. 215. Ebenda, S. 219. Kautsky. Karl. Die direkte Gesetzgebung durch das Volk und der Klassenkampf, in: Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93 , 2. Bd, S. 525. 131 Ebenda. 127 128 129 130
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in der Gewerkschaftsfrage zwei neu auftretende Probleme zu lösen: einmal das wechselseitige Verhältnis von marxistischer Massenpartei und zentralisierter Gewerkschaftsbewegung, deren neues Merkmal die Generalkommission als zentrales Führungsorgan und Repräsentanz der Einheit der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegenüber den Sonderinteressen der einzelnen Berufe und deren Organisationen war. Und zum anderen ging es darum, den sich gerade in diesem zentralen Führungsgremium der Gewerkschaftsbewegung konzentrierenden Opportunismus zu überwinden, um die Einheit der gesamten Arbeiterbewegung unter Führung der marxistischen Massenpartei auf revolutionärer Grundlage zu sichern. Zur Lösung dieser beiden Probleme entwickelte Kautsky entscheidende Grundsätze; insbesondere betonte e r die übergeordnete Stellung der Partei in der proletarischen Klassenbewegung. Seine Argumentation dazu fußte jedoch nicht auf einer konkreten Analyse der Situation der deutschen Arbeiterbewegung, sondern bezog sich fast ausschließlich auf den historischen Entwicklungsgang der Arbeiterbewegung überhaupt bzw. auf den "alten" Tradeunionismus in England. Daher konnte e r nur Teilantworten geben. Während e r mit vollem Recht hervorhob, daß "die Arbeiterpartei als Vertreterin der Klasseninteressen des gesamten Proletariats notwendigerweise . . . dahin gelangen" muß, die kapitalistische "Produktionsweise selbst zu bekämpfen, innerhalb welcher eine Emanzipation des Proletariats unmöglich ist", stempelte e r die Gewerkschaften fälschlich zu "rein ökonomischen Organisationen", die "als bloße Berufsorganisationen sich nur Ziele innerhalb der heutigen 132 Produktionsweise setzen können". Damit war nicht nur der Charakter der Gewerkschaften falsch definiert - als Kampforganisationen der Arbeiterklasse konnten sie keineswegs nur "rein ökonomische Organisationen" sein - , sondern darüber hinaus die strategische Ausrichtung der Gewerkschaftsarbeit auf einen Teilbereich ihres Wirkens, auf "Ziele innerhalb der heutigen Produktionsweise" beschränkt. Diese Fehleinschätzung der Gewerkschaftsbewegung und ihres unmittelbaren Funktionsbereiches mußte in der Praxis unweigerlich dazu führen, daß der von der Generalkommission verkörperte Opportunismus in der Gewerkschaftsbewegung jenen Spielraum gewann, den die süddeutschen Opportunisten133 durch den Mund Grillenbergers ein Jahr später innerhalb der Partei selbst forderten. Allerdings müssen dabei zwei Faktoren in Rechnung gestellt werden, die die weitere theoretische Klärung der Gewerkschaftsfrage durch die marxistischen Kräfte hemmten: Erstens machten es die reaktionären Verhältnisse im preußisch-deutschen Reich unmöglich,
132 Ebenda. 133 Protokoll des Frankfurter Parteitages 1894, S. 123.
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daß die Gewerkschaftsverbände offen politischen Charakter annehmen konnten. Obwohl sie von sozialdemokratischen Funktionären geführt wurden und die Parteimitglieder den Kern der Gewerkschaftsmitglieder stellten, mußten die Gewerkschaftsverbände offiziell "die Politik" ausschließen, da die Vereinsgesetzgebung eine Verbindung von politischen Vereinen 134 bei Strafe ihrer Auflösung untersagte. Zweitens ergaben sich die Schwierigkeiten, die bei der theoretischen Fixierung des Aufgabenbereiches und der zukünftigen Bolle der Gewerkschaften auftraten, keineswegs ausschließlich, ja nicht einmal in erster Linie aus mangelnder theoretischer Einsicht, 135 sondern waren Reflex des "nicht befriedigenden Standes der Gewerkschafts-Organisationen" , den der Parteivorstand konstatierte. Im Bericht der sozialdemokratischen Beichstagsfraktion hieß es: "Die Bereicherung einer kleinen Minorität ist die Triebfeder der heutigen Gesellschaftsorganisation. In der Aussaugung und Niederhaltung der Massen erblicken die herrschenden Klassen ihre Aufgabe, bei deren Erfüllung sie sich alle ökonomischen und wirtschaftlichen Machtmittel dienstbar machen, um kraft der herrschenden ökonomischen Gesetze den heutigen Gesellschaftszustand zu 136 verewigen."
Die Organisation und der Kampf der Arbeiterklasse - auch auf gewerk-
schaftlichem Gebiet - mußten die Möglichkeiten der herrschenden Klassen zur "Niederhaltung der Massen" eingrenzen und so die Voraussetzungen schaffen helfen, um den "heutigen Gesellschaftszustand" in Frage zu stellen. Die tatsächliche Wirkung der Gewerkschaftsbewegung, mochte sie theoretisch noch so hoch prognostiziert sein, warf gerade in diesem Zusammenhang weniger die Frage auf, welche Funktionen sie zu übernehmen hätte, als vielmehr das Problem, ob sie wenigstens ein Minimum der Anforderungen des Klassenkampfes, und sei es auch nur im ökonomischen Kampf, erfüllen könne. Das war der springende Punkt aller Diskussionen, N N
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Wolfgang Schröder Die Gewerkschaften waren vor allem mit den unmittelbaren kapitalistischen Ausbeutern
in den Betrieben konfrontiert. Befand sich die Partei politisch in der Offensive gegen die herrschenden Klassen, mußten sich die Gewerkschaften in der ersten Hälfte der neunziger Jahre fast vollständig auf die Defensive beschränken. Sie rekrutierten insgesamt nur wenig mehr als das Zehnfache der Anzahl der Arbeiter, die allein Krupp beschäftigte. Es war ihnen noch nicht gelungen, das Proletariat der Großindustrie, also den Kern der Arbeiter142 klasse, als entscheidende Kraft der Gewerkschaftsverbände zu organisieren. Vorwiegend noch auf Arbeiter der Klein- und Mittelbetriebe gestützt, konnte die Gewerkschaftsbewegung nicht die notwendige Schlagkraft erreichen. Das fiel um so mehr ins Gewicht, als die kapitalistische Ökonomie in wachsendem Maße durch die Monopole geprägt wurde, die schnell ihren Einfluß auf die Politik und das System des preußisch-deutschen Militärstaates erweiterten, und die Kampfbedingungen im ökonomischen Kampf überdies durch Unternehmerkoalitionen, speziell zum Kampf gegen die Gewerkschaften geschaffene "Arbeitgeber"-Ver143 bände, verändert wurden.
Die noch ausstehende Organisation der Masse des großindu-
striellen Proletariats mußte unter diesen Umständen die strategische Wertung der Gewerkschaften, besonders ihrer Bolle in entscheidenden Klassenschlachten, erheblich erschweren. Die hier nur fragmentarisch aufgeführten Gesichtspunkte waren gewiß Faktoren, die die Bedeutung der Gewerkschaftsbewegung geringer erscheinen ließen, als sie in Zukunft tatsächlich werden sollte. Und zweifellos spielte dabei auch die verkürzte Revolutionsperspektive der marxistischen Kräfte eine Rolle, die es zumindest fraglich erscheinen ließ, ob es den Gewerkschaften gelingen werde, bis zu dem in absehbarer Zukunft zu erwartenden Kampf um die politische Macht der Arbeiterklasse den offenkundigen Nachholebedarf aufzufüllen. Vor diesem Hintergrund traten die divergierenden Tendenzen, die sich in der Haltung der Generalkommission gegenüber der marxistischen Massenpartei und ihrer revolutionären Konzeption zeigten, um so deutlicher hervor. Die provisorische Tagesordnung des Kölner Parteitages enthielt, obwohl sich die vorbereitenden Partei- und Volksversammlungen wie auch der Tätigkeitsbericht des Parteivorstandes mit dem Gewerkschaftsproblem beschäftigten, keinen speziellen Punkt zur Gewerkschaftsfrage. 144 In Anträgen zur Tagesordnung regten Mitglieder aus Berlin, dem 142 Vgl. Schröder. Wolfgang. Klassenkampf und Gewerkschaftseinheit, S. 59 ff. und S. 295 ff.; Troeltsch.W./Hirschfeld. Paul. Die deutschen sozialdemokratischen Gewerkschaften. Untersuchungen und Materialien Uber ihre geographische Verbreitung 1896 - 1903, Berlin 1907. 143 Vgl. Kuczynski, Jürgen, Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1871 bis 1900, Berlin 1962, S. 121 ff.: Kessler. Gustav. Die Deutschen Arbeitgeber-Verbände, Leipzig 1907, S. 21 ff. 144 Protokoll des Kölner Parteitages 1893, S. 104.
Marxismus und Opportunismus 245 Wahlkreis Teltow-Beeskow-Charlottenburg, aus Altona, Bielefeld und Niederbarnim an, 145 die Stellung der Partei zur Gewerkschaftsbewegung auf dem Parteitag zu erörtern. Nach einigem Fiir und Wider beschloß der Parteitag, "die Gewerkschaftsbewegung und ihre Unterstützung durch die Parteigenossen" als sechsten Punkt der Tagesordnung zu behandeln. Max Schippel, den Legien schon vor dem Parteitag als Referenten zur Gewerkschaftsfrage verpflichtet hatte, lehnte die Übernahme des Referats ab; der Parteitag wählte an seiner Stelle Carl Legien zum Referenten und Ignaz Auer zum Korreferenten. Aus dieser gewissermaßen vorbereitenden Diskussion sind zwei Aspekte hervorzuheben: Erstens war von vornherein die Zugehörigkeit der Parteimitglieder zu den jeweiligen Gewerkschaftsorganisationen der zentrale Punkt der Diskussion. Ging dies schon aus den Anträgen, die aus Niederbarnim, Frankfurt/a.M., Mannheim, Marburg und Rostock vorgelegt wurden, hervor, so schlugen die beiden Delegierten von F r a n k f u r t / a . d . O . , Leo Arons und Christian Buder, in einem gesonderten Antrag vor, daß der Parteitag auf eine Diskussion der Gewerkschaftsfrage verzichte und statt dessen einfach die Zugehörigkeit zu 146 der entsprechenden Gewerkschaft als "Pflicht eines jeden Parteigenossen" bezeichne. Das lehnte der Parteitag ab, da man - wie der Hamburger Vertreter Otto Stolten erklärte "sich nicht meuchlings ohne Debatte eine bestimmte Stellungnahme aufdrängen lassen" könne. Dennoch war damit von Anfang an die Diskussion iiber das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften, im Gegensatz zum Bericht des Parteivorstandes, auf den Eintritt aller Parteimitglieder in die Gewerkschaften, also auf einen Teilaspekt des Problems, orientiert. Zweitens ließ die Äußerung des Berliner Partei- und Gewerkschaftsfunktionärs Fritz Zubeils, der die Gewerkschaftsdiskussion forderte, da sonst "der Streit zwischen gewerkschaftlicher und politischer Bewegung bedauerlicherweise nur in immer weitere Kreise hineingetragen" w e r d e b e r e i t s die Tendenz erkennen, die von der Generalkommission ausgehenden Angriffe als "Streit zwischen gewerkschaftlicher und politischer Bewegung" aufzufassen. Das war aber nur der Eindruck, den die Generalkommission zu erzeugen suchte. Die Ouvertüre zur Gewerkschaftsdiskussion auf dem Kölner Parteitag offenbarte bereits, daß es der Generalkommission gelungen war, dieser Diskussion ihre Fragestellung vorzugeben, und zwar im Widerspruch zu der im Bericht des Parteivorstandes enthaltenen Konzeption. Tatsächlich handelte es sich in den von der Generalkommission provozierten Auseinandersetzungen nicht um einen Gegensatz zwischen Gewerkschaftsbewegung und
145 146 147 148
Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 104 und S. 24. Ebenda, S. 105. Ebenda.
147
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Partei, sondern zwischen Marxismus und Opportunismus, der auch innerhalb der Gewerkschaften auszufechten war. Es war also eine Verschiebung des eigentlichen Problems, die Scheidelinie zwischen Partei und Gewerkschaften zu ziehen, sie ging vielmehr auch durch die Gewerkschaftsorganisationen selber. Das Ziel der Auseinandersetzungen konnte daher nicht nur die Klärung des wechselseitigen Verhältnisses von Partei und Gewerkschaften sein, sondern die Sicherung der marxistischen Position und Politik der freien Gewerkschaften durch Überwindung der opportunistischen Auffassungen, die sich in der Generalkommission konzentrierten. VI Der Vorsitzende der Generalkommission hatte, zum Referenten gewählt, die einmalige Chance, vor dem höchsten Gremium der Partei die wesentlichsten Probleme der Gewerkschaftsbewegung zu entwickeln, die Hoffnungen verschiedener Kreise der herrschenden Klassen auf einen Zwiespalt zwischen Partei und zentraler Gewerkschaftsfiihrung gründlich zu zerschlagen und einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der gemeinsamen politischideologischen Position und Konzeption von Partei und Gewerkschaften, zur Stärkung des einheitlichen Kampfes der Arbeiterklasse gegen soziale Ausbeutung und politische Unterdrückung zu leisten. Legien stellte jedoch nicht den Kampf gegen Kapital und junkerlich-bourgeoisen Militärstaat, also die Kampfaufgaben und die revolutionäre Perspektive der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen in den Mittelpunkt seines Referates, sondern - von den objektiven Aufgaben der Arbeiterklasse weitgehend abstrahiert - das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften, und zwar aus der einseitigen Sicht der Generalkommission. Dabei beharrte e r auf der bereits in mehreren "Correspondenzblatt"-Artikeln erkennbaren Konzeption. Der von Legien vertretene Resolutionsentwurf, von Leo Arons eingebracht, bezeichnete es als Aufgabe der Gewerkschaften, erstens "die geschlossenen Reihen zu bilden, welche sich der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen nach Kräften entgegenstemmen", und "zu Zeiten des Nachlassens der Krisen" den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen zu führen; und zweitens "die indifferenten Arbeitermassen heranzuziehen, das Solidaritätsgefühl zu wecken und Aufklärung über die allgemeine wirtschaftliche Lage . . . zu verbrei149 ten".
Damit waren zweifellos wesentliche Funktionen der Gewerkschaften umrissen,
wobei vor allem die Verknüpfung von ökonomischem Ringen und propagandistischer Tätig-
149 Ebenda, S. 181.
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keit wichtig war. Demgegenüber fehlten allerdings die Bezugnahme auf die politische Funktion der Gewerkschaften und die klare Fixierung ihrer Frontstellung gegenüber den herrschenden Klassen und dem Ausbeuter Staat sowie die prinzipielle Zielstellung der Gewerkschaftsbewegung, die sich nicht auf Teilergebnisse innerhalb des kapitalistischen Systems beschränken durfte. Der Resolutionsentwurf bezeichnete es als "Pflicht eines jeden Parteigenossen, wenn nicht zwingende Gründe ihn hindern, einer der in seinem Gewerbe bestehenden gewerkschaftlichen Organisationen anzugehören", und wandte sich dagegen, "daß selbst in Kreisen vorgeschrittener Parteigenossen die Anteilnahme an der Gewerkschaftsbewegung nicht genügend rege ist". Die "Veranlassung zu dieser Lässigkeit" seien einerseits "die vielfach ungünstigen Erfahrungen der letzten Jahre In den Kämpfen um die Arbeitsbedingungen, andererseits die noch in manchen Köpfen herrschende irrige Meinung, daß das mächtige Anwachsen der politischen Partei die Tätigkeit der gewerkschaftlichen Organisationen überflüssig u ., 1 5 0 mache". Auf diesen letzten Punkt konzentrierte Legien seine Ausführungen, deren Grundlinie durch vier Gesichtspunkte abgesteckt werden kann: Erstens kam es ihm auf eine Aufwertung der Gewerkschaftsbewegung gegenüber der Partei an. Ausdrücklich wiederholte er in diesem Zusammenhang die in mehreren "Correspondenzblatt"-Artikeln vorgetragenen Angriffe auf die Partei und deren angebliche Vernachlässigung der Gewerkschaftsbewegung. Damit sollte offensichtlich der doppelte Zweck erreicht werden, einmal die subjektiven Ursachen für die faktische Stagnation der Gewerkschaftsbewegung von den Gewerkschaftsleitungen auf die Partei zu transformieren, zum anderen die Kritik der Gewerkschaftsleitungen aller Ebenen von der Generalkommission und ihrer politisch-ideologischen Position abzulenken und zugleich die Gewerkschaftsfunktionäre auf die Generalkommission einzuschwören. Legien gestand direkt ein, daß diese Angriffe die "Veranlassung zu der neuerlichen Diskussion über die gewerkschaftliche Orga151 nisation"
gegeben hatten. "Unsere Stellungnahme ist offenbar in der letzten Zeit inner-
halb der Parteipresse auf sehr fruchtbaren Boden gefallen; es wurden sehr gute Artikel Uber die Gewerkschaftsbewegung gebracht, und wir könnten damit sehr zufrieden sein. Aber andererseits genügt nicht. Die etwa bestehenden müssen ausgeglichen werden. Und dazu dies ist der Parteitag die noch geeignete Stelle."Differenzen 152
150 Ebenda. 151 Ebenda, S. 183. 152 Ebenda, S. 182.
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Wolfgang Schröder Legien hielt Gewerkschaftsdebatten auf den Parteitagen "durchaus nicht für einen Nachteil"
und schlug vor, den Parteitagen"neben dem Bericht über die politische Bewegung einen Bericht über den Stand der gewerkschaftlichen Bewegung" vorzulegen. Ermotivierte seinen Vorschlag damit, 153 daß "beide . . . fast gleich wichtig sind" . Seine weiteren Ausführungen bezogen sich auf diese Motivierung und sind ein aufschlußreicher Beleg für die - tradeunionistische Auffassungen charakterisierende - Überhöhung der Gewerkschaftsbewegung gegenüber der sozialistischen Partei. Sie begannen mit der Feststellung, "daß derjenige Kreis der Parteigenossen als der bessere gilt, der ein besseres Einkommen und eine bessere Lebenshaltung hat". Daraus folgerte Legien, allein auf die Gewerkschaftsbewegungbezogen:"... wenn es der Bewegung gelingt, auch nur einiges auf diesem Gebiet zu erreichen, so ist das schon ein Vorteil, der die Partei veranlassen muß, 154 sie zu unterstützen."
In dieser Argumentation entfiel zumindest die Bolle der Partei im
ökonomischen Kampf der Arbeiterklasse, der durchaus nicht allein Monopol der Gewerkschaften war und sein konnte: Allein schon die Existenz der revolutionären Partei zwang Kapital und Ausbeuterstaat - wie Bismarck in bezug auf die Sozialgesetzgebung eingestanden hatte - zu ökonomisch-sozialen Zugeständnissen. Aber nicht nur indirekt oder durch parlamentarische Tätigkeit nahm die Partei Einfluß auf die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse; sie hatte die außerparlamentarischen Massenaktionen gegen die volksfeindliche Zollpolitik der herrschenden Klassen 1891/1892 geführt, und allein seit 1890 waren aus der Parteikasse über 100 000 Mark 155 entnommen worden, "um Wunden zu heilen, welche verunglückte Streiks geschlagen" Was sich bereits bei den knappen Sätzen über den ökonomischen Kampf andeutete, trat offen zutage, als Legien die Rolle von Partei und Gewerkschaften im politisch-ideologischen Bereich des Klassenkampfes vergleichend behandelte. Er erneuerte zunächst den alten Grundsatz: "Die gewerkschaftliche Organisation ist die Vorschule für die politische Bewegung" und verwies auf die Funktion der Gewerkschaften bei der Gewinnung jener "Arbeiterkreise, die absolut dem wirtschaftlichen und politischen Kampfe bisher ferngestanden haben": "Die Gewerkschaftsorganisation zieht den Arbeiter dadurch heran, daß sie ihm materielle Vorteile in Aussicht stellt, ihm den Mangel an Harmonie zwischen Arbeit und Kapital 156 klarlegt und so auch die indifferentesten Arbeiterschichten in die Bewegung hineinzieht." An diese richtigen Überlegungen, die auf der Einheitlichkeit der sozialistischen Arbeiterbewegung basierten, schloß Legien jedoch die einseitige Behauptung an, die Gewerkschafts153 154 155 156
Ebenda. Ebenda, S. 183. Korreferent Auer, ebenda, S. 220. Ebenda, S. 183.
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157 bewegung sei "das beste Agitationsmittel für die politische Bewegung"
. Damit war faktisch
zugunsten der tradeunionistischen Haltung die Bedeutung des politischen Kampfes der Arbeiterklasse weitgehend eliminiert, und zwar im Widerspruch zu der allein schon in der überragenden Stellung der Partei in der deutschen Arbeiterbewegung zum Ausdruck kommenden Realität der mobilisierenden und bewußtseinsbildenden Wirkung gerade des politischen Kampfes. Aber Legien ging noch weiter, als er die gewerkschaftliche Organisation, die er in gleichem Atemzug als "Palliativmittel . . . innerhalb der heutigen bürgerlichen Gesellschaft" 158 bezeichnete, als "die beste Erziehungsanstalt für unsere Genossen" , als "eine viel bessere Schule als die politische Organisation" wertete, "viel besser geeignet, 159 den Arbeiter zu einem festen Charakter, zu einem opferfreudigen Genossen zu machen".
Er behauptete:
"Die politische Organisation stellt an ihre Zugehörigen nicht die Anforderungen wie die gewerkschaftliche. Die erstere findet ihren Hauptausdruck in der Beteiligung an den Wahlen. Es ist ja für den Arbeiter nicht so schwierig, alle 5 Jahre einmal einen Wahlzettel abzugeben; einem Wahlverein beizutreten, alle vier Wochen einmal eine Versammlung zu besuchen und die geringen Beiträge zu zahlen, welche die politische Organisation fordert. Im Gegensatz dazu verlangt die gewerkschaftliche Organisation stets und steigend materielle Opfer von ihren Mitgliedern, sie fordert, daß er beim Lohnkampf mit seiner ganzen Existenz, mit seiner ganzen Person für die Gesamtheit eintritt. Diese Forderung stellt die Partei 160 niemals an ihre Angehörigen. (Widerspruch)" Diese tendenziöse Gegenüberstellung, die sachlich haltlos war, machte den Kernpunkt der Auseinandersetzungen um das Gewerkschaftsproblem ganz besonders deutlich. Die von Legien verfolgte Gewerkschaftskonzeption, die auf einer tradeunionistischen Überhöhung der Rolle der Gewerkschaften basierte und sich vorwiegend oder gar ausschließlich auf den Kampf um die Verbesserung der Lage der Arbeiter innerhalb des kapitalistischen Ausbeutungssystems konzentrierte, war mit der Negierung und Verfälschung der von der revolutionären Sozialdemokratie verkörperten Parteiauffassung identisch. In der Tat bildete die Parteiauffassung stets, und so auch in den neunziger Jahren, das entscheidende Kampffeld in der Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Opportunismus. 157 158 159 160
Ebenda. Ebenda, S. 184. Ebenda, S. 183. Ebenda, S. 183/184. Legien streifte nur en passant die künftigen Aufgaben des Klassenkampfes. Er verwies lediglich darauf, daß die "gegenwärtigen Kämpfe" auf politischem wie auf gewerkschaftlichem Gebiet "ja überaus schwer" seien, "aber die zukünftigen werden noch bedeutend schwieriger sein, und in diesen bevorstehenden Kämpfen und eventuell im letzten Entscheidungskajnpf brauchen wir Leute, welche ihre ganze Person und Existenz für die Gesamtheit einsetzen". Ebenda, S. 184.
250
Wolfgang Schröder Ebenfalls In bezug auf die Gewerkschaftsfrage war es notwendig, der von der General-
kommission unter Legien vorgenommenen tradeunionistischen Transformation der bisherigen Gewerkschaftsauffassung vor allem durch die Verteidigung und Weiterentwicklung der marxistischen Parteiauffassung entgegenzuwirken und damit zugleich die marxistische Gewerkschaftskonzeption gegenüber den opportunistischen Angriffen durchzusetzen. Denn wenn auch die Gewerkschaftspolitik der revolutionären Sozialdemokratie nur ein Teilbereich ihres Bingens war, so erwies sich doch die Gewerkschaftsfrage als ein Schnittpunkt, an dem die wichtigsten Probleme der Strategie und Taktik des proletarischen Klassenkampfes - von der Organisation über den ökonomischen bis zum politischen und ideologischen Kampf - zusammentrafen. Für Legien war die angestrebte Aufwertung der Gewerkschaftsbewegung gegenüber der sozialistischen Partei jedoch nur der allgemeine Rahmen für ein spezielleres Ziel: Er verlangte zweitens die Anerkennung der Generalkommission als "Gesamtvertretung" und alleinige Führungsinstanz der freien Gewerkschaften. Legien selbst ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es ihm dabei um weit mehr ging als etwa nur um die ressortmäßige Abgrenzung der Leitungsfunktionen der Generalkommission innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung. E r strebte vielmehr die generelle Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Generalkommission und der von ihr zu führenden freien Gewerkschaftsbewegung gegenüber der revolutionären Partei und deren marxistischem Führungskern an, und zwar nicht nur organisatorisch, sondern auch politisch und ideologisch. Gewissermaßen als Leitfaden der Gewerkschaftspolitik kolportierte Legien - sinnverändernd - eine Äußerung August Bebels, wonach man sich "dem ökonomischen Kampfe . . . mehr zugewandt habe, nachdem man eingesehen habe, daß der Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft noch recht fern sei, und dieselbe doch, wie der letzte Wahlkampf be161 weise, noch recht fest stehe" . Von dieser Position aus polemisierte Legien gegen die Auffassung, "daß der wirtschaftliche Kampf doch sehr wenig Aussichten biete, weil die Stellung der Kapitalisten eine zu starke ist"162 und demgegenüber "der Kampf für die politische Macht stets der wichtigere bleiben" werde. Der Vorsitzende der Generalkommission, der zuvor gewissermaßen die Monopolisierung des gesamten ökonomischen Kampfes durch die Gewerkschaften vertreten hatte, proklamierte damit faktisch den Vorrang des ökonomischen Kampfes innerhalb des kapitalistischen Ausbeutungssystems gegenüber dem politischen Kampf um die Macht der Arbeiterklasse. 161 Ebenda, S. 182; vgl. Protokoll des Internationalen Arbeiter-Congresses zu Paris, S. 24. 162 Ebenda, S. 185.
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251
Die ökonomistische Orientierung, die von der Generalkommission ausging, beschränkte sich also keinesfalls auf die Überbewertung des ökonomischen gegenüber dem politischen Kampf, sondern griff auch direkt auf die Konzeption des politischen Kampfes selbst über, wie die Teilnahme führender Gewerkschaftsfunktionäre an dem Kongreß des Freien Hoch163 stifts in Frankfurt/a.M.
zeigte. Legien rechtfertigte auf dem Parteitag ausdrücklich
die darin zum Ausdruck kommende tradeunionistische, sich von der Führung der revolutionären Partei lösende Politik der Generalkommission und erklärte: "Will man aber den Gewerkschaften die Möglichkeit lassen, auf dem Boden der heutigen.Gesellschaftsordnung fUr die Besserstellung der Arbeiter 164 zu wirken, so müssen sie auch berechtigt sein, da zu wirken, wo sie wirken können." Die Teilnahme und besonders die Art und Weise des Auftretens der Gewerkschaftsführer an der Zusammenkunft bürgerlicher Sozialreformer war ein Symptom für die Richtung, in die sich die politische Aktivität der Generalkommission entwickelte. Wenn Legien faktisch die Selbständigkeit "der Gewerkschaften" auch auf politischem Gebiet verlangte, so wurde damit die Einheit der proletarischen Klassenbewegung in Frage gestellt, die durch die Führung der revolutionären Sozialdemokratie verkörpert war. Die Formel, in die Legien diese Unabhängigkeit der Generalkommission von der Parteiführung kleidete, lautete: Partei und Gewerkschaften seien gleichberechtigte Bewegungen, "die nebeneinander hergehen müßten" 1 6 5 . Politisch-ideologisch wird diese Formel schon damit charakterisiert, daß sie von Legien in Polemik gegen die Partei entwickelt wurde. Damit sind wir an einem dritten Kernpunkt angelangt, der Legiens Referat auf dem Kölner Parteitag prägte. Aus einzelnen, teilweise mehr als ein Jahr zurückliegenden Artikeln der Parteipresse, namentlich der Stellungnahme des "Vorwärts" zum Ergebnis des Halberstädter Gewerkschaftskongresses 1892, einem Kommentar des "Chemnitzer Beobachters" zu der 1892 von der Generalkommission zusammengestellten Statistik über die Stärke und Leistungsfähigkeit der deutschen Gewerkschaften sowie einer Besprechung des "Volksblattes für Teltow-Beeskow" über die Streikbewegung in Australien suchte Legien den Nachweis zu führen, daß die Vorwürfe der Generalkommission über eine "mangelnde Sympathie gegenüber der Gewerkschaftsbewegung" berechtigt seien. Selbst Bebel sollte nach Legien "früher ein entschiedener Gegner der 163 Vgl. Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung in Industrie- und Handelsstätten, Schriften des Freien Deutschen Hochstifts, Berlin 1894. Legien erklärte hier, die Arbeiter würden "mit Lust und Liebe zur Stelle sein, wenn es sich darum handelte, auf sozialem Gebiet mitzuarbeiten. Sie wollen nur als gleichberechtigte Faktoren betrachtet und nicht stets und ständig hintenangesetzt werden." 164 Protokoll des Kölner Parteitages 1893, S. 214. 165 Ebenda.
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Gewerkschaftsbewegung gewesen sein"
166
, und in der Warnung Auers vor opportunistischen
Bestrebungen der Generalkommission und ihren Folgen erblickte Legien den Beweis, "daß jedenfalls der Genosse Auer der Bewegung nicht so ganz sympathisch gegenübersteht". 1 6 7 Offensichtlich war System darin, wenn Legien in den polemischen Artikeln des "Correspondenzblattes" wie auch auf dem Parteitag jede kritische Stellungnahme zur Generalkommission und zu ihrer Haltung als Beweis "mangelnder Sympathie" gegenüber der Gewerkschaftsbewegung Uberhaupt zu behandeln suchte. Damit sollte sowohl die Generalkommission von jedem Widerspruch und Widerstand abgeschirmt als auch die Gewerkschaftsbewegung als Ganzes mit der Generalkommission und ihrer politisch-ideologischen Position identifiziert und von der Führung durch die Partei gelöst werden. Dabei versuchte Legien, die Besorgnisse über die Politik der Generalkommissiön mit der Erklärung zu überspielen: "Daß die Gewerkschaften jemals einen Gegensatz zu der politischen Organisation bilden könnten, daran ist gar nicht zu denken; die Leitung liegt ja in den Händen von Personen, die auch auf dem politischen Gebiete fortwährend tätig sind. Die Leitung der deutschen Arbeiterbewegung ist von Anfang an eine politische gewesen... Wenn man den Gang der Dinge in England mit den Trade Unions betrachtet, so kann man doch in Deutschland nicht dahin kommen, von wo die Engländer jetzt abzugehen im Begriff sind; das wäre ein Rückschritt, 168 und BUckschritte kann es für uns nicht geben." Viertens war die von Legien vertretene Forderung nach einer Tabu-Erklärung der Generalkommission, die die Gewerkschaftsbewegung der alleinigen und ungeschmälerten Führung durch die Generalkommisslon Uberantworten sollte, von vornherein gekoppelt mit dem Anspruch der Generalkommission, von einer selbständigen Position zur Politik der Partei öffentlich Stellung zu nehmen. "Die gewerkschaftlichen Organisationen haben sich in der Generalkommission eine Gesamtvertretung geschaffen, in ihr soll sich das gewerkschaftliche Leben konzentrieren; sie ist verpflichtet, alles, was in der Parteibewegung vorgeht und der gewerkschaftlichen nachteilig sein könnte, zurückzuweisen und 169 dagegen zu polemisieren." Nach Lage der Dinge war damit die von tradeunionistischen - also opportunistischen Tendenzen geprägte Kritik an der marxistischen Mässenpartei und ihren Positionen gemeint. Legien betonte: "Ich bin stets dafür eingetreten, daß unsere Partei, eine Kampfpartei,
166 167 168 169
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,
S. S. S. S.
182. 187. 188. 185.
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eine straffe Unterordnung unter den Willen der leitenden Personen braucht, aber deshalb hat man noch lange keine Ursache, jede andere Meinung einfach abzuschlachten und zu unterdrücken. Wir brauchen Leute, die selbständig zu denken und zu handeln vermögen, und 170 dazu muß man die Leute erziehen." Er forderte damit jene "Freiheit der Kritik", unter deren Flagge die opportunistischen Kräfte gegen die marxistischen Positionen angingen, solange sie nicht selbst die Führung der Partei in Händen hatten. Wenn Legien appellierte, 171 "alle bestehenden Meinungsverschiedenheiten in anständiger Weise zu begleichen" , so war er dazu selbst keineswegs bereit. Was e r im öffentlichen Auftreten noch kaschierte, formulierte e r - das Verhältnis von marxistischer Parteiführung und Generalkommission betreffend - im internen Briefwechsel mit Theodor Leipart, seinem Nachfolger als Vorsitzenden der Drechsler-Vereinigung, im Klartext: "Der Krieg ist also f e r t i g . . . es fragt 172 sich, wer das Genick dabei brechen wird." Den "Herren" vom Parteivorstand sei gezeigt worden, "daß die Zeit anbricht, in der sie nicht mehr absolut zu herrschen vermögen. . . Vergessen ist nichts, und nachgeben werde ich auf keinen Fall, mag da kommen, •ii M 173 was will." Eingebettet in diese Konzeption, die hier in vier Gesichtspunkten umrissen wurde, erhob Legien "im Namen der organisierten Arbeiterschaft" die Forderung, daß die Partei ihre Kräfte auf die Unterstützung und Stärkung der freien Gewerkschaftsbewegung konzentrieren müsse. "Nachdem aber einmal durch die Partei die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation anerkannt worden ist, muß man alles daran wenden, sie von dieser Schwäche zu befreien." Dazu sei zunächst notwendig, "daß die hervorragenden Genossen sich dieser Organisation ebenso zuwenden wie der politischen", 174 und "daß auch die politisehe Presse für die gewerkschaftliche Bewegung eintritt". Legien erhob damit längst grundsätzlich in der Praxis ausgeführte Forderungen, die e r auch auf die Generalkommission ausgedehnt wissen wollte. Dahinter aber steckte mehr, als etwa Wilhelm Liebknecht wahrhaben wollte, als e r spottete: "Wenn 175 je ein kreißender Berg ein lächerliches Mäuschen gebar, so ist das hier der Fall." Auf den ersten Blick mochte es erscheinen, daß Legien bemüht sei, die Stagnation der freien Gewerkschaften durch eine Anlehnung an die starke marxistische Massenpartei zu überwinden. Tatsächlich 170 Ebenda, S. 216. 171 Ebenda. 172 Carl Legien an Theodor Leipart, Oktober 1893, zit. nach: Carl Legien, Ein Gedenkbuch von Th. Leipart, Berlin 1929, S. 86. 173 Carl Legien an Theodor Leipart, November 1893; ebenda, S. 89. 174 Protokoll des Kölner Parteitages 1893, S. 187. 175 Ebenda, S. 197.
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lief jedoch seine Konzeption darauf hinaus, daß sich die Partei mit allen Kräften auf die gewissermaßen bedingungslose Unterstützung der Gewerkschaftsorganisationen, vor allem aber der Generalkommission konzentrieren sollte. Im Gewand der "Unterstützung der Gewerkschaftsbewegung" forderte Legien faktisch eine Umpolung der Partei im tradeunionistischen Sinne, die Unterordnung der Partei unter die Gewerkschaftsfiihrung, namentlich unter die Generalkommission, die Zurücksetzung des politischen Kampfes und der soziali176 stischen Zielstellung zugunsten tradeunionistischer Aufgaben. VII In der Tat war die Schwäche der freien Gewerkschaftsbewegung, die sich in den Klassenkämpfen der beginnenden neunziger Jahre deutlich offenbart hatte, eine Achillesferse der sozialistischen Arbeiterbewegung. Die Stärkung der Gewerkschaften und ihre Entwicklung zu wirklich kampfkräftigen proletarischen Massenorganisationen war eine wesentliche Aufgabe, und zwar gerade unter dem Blickwinkel der herannahenden Klassenkämpfe, für die bereits abzusehen war, daß starke Gewerkschaftsverbände im außerparlamentarischen Kampf wichtige Funktionen zu erfüllen hatten. Von strategischer Bedeutung für die künftige Bolle der Gewerkschaftsbewegung war auf agitatorisch-organisatorischem Gebiet die Lösung zweier Aufgaben: einmal das Eindringen in jene Gebiete, in denen die sozialistische Arbeiterbewegung nur wenig Einfluß oder noch gar keine festen Positionen besaß, in denen also auch die werktätige Bevölkerung durch die herrschenden Klassen besonders leicht manipulierbar war. Das traf insbesondere auf das platte Land, und hier wiederum auf die osteIbischen Gebiete zu. Wenn in dieser Eichtling die Aufgabe mehr darin bestand, durch agitatorische Kleinarbeit von vornherein eine zweite Vendée zu verhindern - gewissermaßen das Hinterland für jene Entscheidungen zu sichern, die in den Großstädten und Industriegebieten fallen mußten - , so standen die Gewerkschaften zum anderen vor der entscheidenden und vorrangigen Aufgabe, den Kern der Arbeiterklasse, das großindustrielle Proletariat, zu erfassen, d.h. die soziale Basis der Gewerkschaften, die überwiegend noch Arbeiter der Klein- und Mittelbetriebe erfaßten, grundlegend zu verändern. In dieser Hinsicht hatte der große Bergarbeiterstreik von 1889, in dem schon die spon177 tanen Aktionen von 150 000 Arbeitern "das Kaiserreich erzittern" ließen, neue Dimensionen für gewerkschaftliche Kämpfe offenbart, die bis zur Frage nach der Funktion der 176 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 1, S. 437. 177 Engels. Friedrich [Der Bergarbeiterstreik an der Ruhr 1889], in: MEW, Bd 21, S. 377.
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Gewerkschaften bei der Vorbereitung und Durchsetzung der proletarischen Revolution reichten. Das Proletariat der Großindustrie war zum Kern der Arbeiterklasse geworden; von seiner Organisation und Kampffähigkeit hing in erster Linie die Schlagkraft der Arbeiterklasse sowie der proletarischen Organisationen ab. Die Großindustrie, die Grundlage der kapitalistischen Produktion und der bourgeoisen Klassenherrschaft,war zugleich der neuralgische Punkt, an dem das gesamte kapitalistische System empfindlich getroffen werden konnte. Gerade in diesem Zusammenhang wird jedoch deutlich, daß die Kräftigung der Gewerkschaftsbewegung nicht, wie Legien es darstellte, lediglich eine Aufgabe der Organisation und Sammlung der Arbeiterklasse war, sondern in entscheidendem Maße ein politisch-ideologisches Problem: Es mußte gesichert werden, daß die Gewerkschaftsbewegung als Bestandteil der sozialistischen, von der Partei geführten Arbeiterbewegung ihre Funktionen im Klassenkampf erfüllen konnte. Dazu war die Überwindung jener tradeunionistischen - also opportunistischen - Tendenzen, Auffassungen und Bestrebungen erforderlich, die sich vor allem in der Generalkommission, dem zentralen Führungsinstrument der Gewerkschaftsbewegung, konzentrierten. Dabei handelte es sich nicht um das Problem des Verhältnisses der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter zur marxistischen Massenpartei, sondern um das Verhältnis der führenden Gewerkschaftsfunktionäre zum wissenschaftlichen Sozialismus und um ihre Unterordnung unter die Führung der Partei, um die Ausrichtung der gesamten Gewerkschaftsarbeit nicht nur auf die ökonomischen Tagesinteressen, sondern auch auf die grundsätzlichen Klasseninteressen des Proletariats, die den Sturz des Kapitalismus durch die proletarische Revolution und die Errichtung der Diktatur des Proletariats erforderten. Der Parteitag wies die Kernpunkte der Konzeption der Generalkommission in Legiens Referat mit aller Schärfe zurück. Ignaz Auer, Korreferent zur Gewerkschaftsfrage, wandte sich gegen den Anspruch der Generalkommission, mit ihrer politisch-ideologischen Position und den Angriffen auf die marxistische Massenpartei die gesamte Gewerkschaftsbewegung zu repräsentieren, indem er die Frage aufwarf: "Sind denn Generalkommission und Gewerk178 Schäften identisch? Ja, Genosse Legien, sind Sie denn die Gewerkschaftsbewegung?" Richard Fischer betonte: "Heute ist es die Klage, daß die Parteiführer Gegner der Gewerkschaften seien. Und sehen wir uns die Rufer in diesem Streite etwas näher an, so finden wir z.B. in Berlin darunter Leute, die s . Z . unter dem Sozialistengesetz in der ersten Stunde der Gefahr die Partei verraten, sich mit Händen und Füßen für das Einschwenken in den 178 Protokoll des Kölner Parteitages 1893, S. 189.
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königlich-preußischen Gewerkverein' ereifert und seit Jahr und Tag sich um die Partei nicht mehr gekümmert haben. Da kann man doch wohl an den uneigennützigen Motiven dieses Streites zweifeln. Wie steht es denn aber nun wirklich? Bei den Tabak-, Metall-, Holzarbeitern, bei den Schneidern, Schuhmachern und Malern, lauter starken Zentralisationen, da gibt es keinen Streit zwischen Partei und Gewerkschaften, auch in den Blättern dieser großen Gewerkschaften begegnen wir keinem Ausbruch des Schmerzes Uber einen Gegensatz zwischen Partei- und Gewerkschaftsbewegung. Aber bei den Genossen, für welche die Generalkommission das non plus ultra darstellt, ist der Schmerz dahin zum Ausdruck gekommen, daß es deshalb nicht vorwärts gehen wollte, weil die Partei nicht 179 Sympathie genug habe." Damit war die Ausgangsbasis, auf der Legiens Argumentation aufbaute, auf die Realität reduziert und der Ansatzpunkt für die Kernfrage freigelegt: Wenn Legien den Eindruck zu erwecken suchte, als handle es sich um "Meinungsverschiedenheiten" zwischen Partei und Gewerkschaften, so stellte der Parteitag richtig, daß der Gegensatz vielmehr lautete: marxistische oder tradeunionistische Gewerkschaftspolitik. Und dieser Gegensatz war zwar auch, aber nicht allein zwischen Partei und Gewerkschaften auszufechten, er mußte jedoch besonders innerhalb der Gewerkschaftsbewegung entschieden werden. Daß'es möglich war, wurde schon durch (Jas Auftreten einiger namhafter Gewerkschaftsfunktionäre auf dem Parteitag bewiesen. So distanzierte sich der Leiter der Schneider-Gewerkschaft Paul Reißhaus sachlich von Legiens Angriffen auf die Partei und ihre Führung 180 ; und im 181 gleichen Sinne traten der bewährte Metallarbeiterfunktionär Friedrich Wilhelm Metzger 182 und indirekt auch der Vorsitzende der Schuhmacher-Organisation Wilhelm Bock auf. 183 Auf dem Parteitag erhielt Legien, von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen , keine Unterstützung, sondern stieß auf entschiedenen Widerspruch, Ignaz Auer griff auf die Auseinandersetzungen zwischen der Eisenacher Partei und dem ADAV um die Gewerkschaftsfrage zurück und widerlegte aus geschichtlicher Sicht die Klagen Legiens Uber die Vernachlässigung der Gewerkschaftsbewegung durch die Partei, die Wilhelm Liebknecht als "Angriffe, haltlose Angriffe" bezeichnete, "denn184 die Angegriffenen haben ihr Möglichstes getan, um die Gewerkschaftsbewegung zu fördern". Liebknecht, der seit Mitte der sechziger Jahre entscheidenden Anteil an der Ausarbeitung einer.marxistischen Gewerkschafts179 180 181 182 183
Ebenda, S. 204. Ebenda, S. 196. Ebenda, vgl. auch Protokoll des Berliner Parteitages 1892, S. 238. Ebenda, S. 205. Lediglich der Kieler Delegierte Heinrich Ströbel, der Flensburger Vertreter Holzhäuser, Albert Paul aus Hannover und - zurückhaltend - Max Schippel äußerten sich im Sinne Legiens. 184 Ebenda, S. 197.
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Politik und vor allem ihrer Durchsetzung in der deutschen Arbeiterbewegung hatte, verwies auf die englische Arbeiterbewegung, wo "gegenüber dem ' Nichts-als-Trades Unionismus' ein neuer Trades Unionismus sich herausgebildet hat, der die Unfruchtbarkeit der einseitigen Gewerkschaftsbewegung begriffen hät, die Notwendigkeit der politischen Bewegung anerkennt 185 und flir sie wirkt".
Der "Soldat der Revolution" polemisierte speziell gegen die von
Legien vorgenommene Umkehrung des Verhältnisses von politischem und ökonomischem Kampf und betonte: "Wir sind alle für die Gewerkschaften, aber dagegen, daß man in ihnen das Hauptziel erblickt, daß man glaubt, durch sie allein könne die Macht des Kapitals gebrochen werden. Das Kapital kann nicht auf seinem eigenen Boden vernichtet werden. Man muß ihm den Boden unter den Füßen wegziehen und ihm die politische X 86 Macht aus den Händen reißen. Und das ist nur möglich durch politischen Kampf." Und Bruno Schoenlank korrigierte die Legiensche Verzerrung des Verhältnisses von Partei und Gewerkschaften mit dem Hinweis, die Partei "sei eine proletarische Bewegung, nicht eine Bewegung gewerkschaftlich organisierter Arbeiter . . . Die Partei müsse die Gewerkschaften . . . unterstützen, sich mit gebundenen Händen ihr ausliefern, könne sie nicht." 187 Der Vertrauensmann des n . Berliner Wahlkreises Otto Antrick warnte vor der Tendenz, daß "die Führer der Gewerkschaftsbewegung . . . die Gewerkschaftsbewegung über die poli188
tische stellen wollen"
, und Gustav Keßler, der allerdings in den fruchtlosen Auseinander-
setzungen um lokale oder zentrale Organisation der Gewerkschaften als Wortführer der Lokalisten eine verhängnisvolle Rolle spielte, verwies auf "die G e f a h r . . . , die in dem Schmieden eines zweiten Hammers, nämlich der Gewerkschaftskommission, liegt" und 189 "zu einer Spaltung der Arbeiterbewegung führen könnte". Das deutete auch tfichard Fischer an, als er die Tendenz der Generalkommission zurückwies, "eine Art parlamentarisches Komitee der Gewerkschaften bilden" zu wollen, "welches mit der Parteileitung wie von Macht zu Macht verhandelte". 190 August Bebel wandte sich dagegen, "die Partei mit aller Gewalt zur Agitationsschule 191 für die Gewerkschaften" zu machen. Bebel, der das Gewerkschaftsproblem als "hoch192 wichtige Frage"
wertete, legte den Kern der Auseinandersetzungen mit den Worten bloß:
"Die Gewerkschaftspresse muß sich mit den kleinen Fragen beschäftigen, und darin liegt die große Gefahr, daß sie das große Ziel aus den Augen verliert und so der allgemeinen 185 Ebenda. 186 Ebenda, S. 198. 187 Ebenda, S. 199. 188 Ebenda, S. 210. 189 Ebenda. 190 Ebenda, S. 205. 191 Ebenda, S. 200. 192 Ebenda, S. 199.
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Verwässerung Vorschub leistet."
193
Von grundsätzlicher und vorwärtsweisender Bedeutung
war Bebels Widerspruch gegen die Auffassung, daß eine tradeunionistische Politik gewisser194 maßen automatisch sozialistisches politisches Bewußtsein erzeugen könne. "Der Canossagang eines Teils der Gewerkschaftsführer nach Frankfurt muß im Gegenteil notwendig dazu 195 beitragen, auch noch die politische Bewegung zugrunde zu richten." Bebel erkannte die tradeunionistischen Tendenzen vor allem in gewerkschaftlichen Führungsgremien als eine Quelle des Opportunismus nicht nur in der Gewerkschaftsbewegung, sondern auch in der Partei. Ein interessanter Beleg dafür waren die Ausführungen Max Schippeis. Als dieser die ökonomistische Argumentation mit der Frage vertrat: "Wo steht der Achtstundentag näher? Bei uns, die wir 14, 16, 18 Stunden Arbeitszeit, aber eine starke politische Partei haben, oder in England, wo keine politische Partei existiert, wo die Arbeiter noch vielfach gegen ein Achtstundengesetz stimmen, aber z . B . die Bergleute den Achtstundentag gesetzlich errungen haben?", warf August Bebel ein: "Aber die politische Macht der engli196 sehen Arbeiter!"
und machte damit die Grenzscheide zwischen tradeunionistischer und
marxistischer Arbeiterpolitik deutlich. Bebels Diskussionsrede war eine scharfe Kampfansage gegen die tradeunionistische Reformpolitik, die er als "sozialdemokratische Wadestrümpfelei" bezeichnete, die "direkt zur Versumpfung führen müsse". Daß sich'dagegen "nicht ein einziges Parteiblatt aufgelehnt" habe, "muß für uns ein Wink sein, von jetzt an genau aufzupassen, was die Führer treiben". Bebel schloß "mit dem alten römischen Mahnruf: Haben die Konsuln acht, daß dem Gemeinwesen kein Schaden geschieht! Und wenn die Konsuln nicht(Lebhafter fähig sind,Beifall)" das zu verhüten, dann mögen die Parteigenossen Gericht 197 über sie halten. 193 Ebenda, S. 201. 194 Ebenda, S. 202. Bebel bewegte sich damit jener qualitativ neuen Erkenntnis zu, die Lenin in der Auseinandersetzung mit dem Ökonomismus in "Was tun?" entwickelte, als er begründete, daß das sozialistische Bewußtsein nicht ausschließlich und allein aus dem ökonomischen Kampf entstehen könne. Vgl. Lenin. W . I . , Werke, Bd 5, S. 384 ff. 195 Protokoll des Kölner Parteitages 1893, S. 202. Vgl. ebenda, S. 248, wo Bebel dieses Problem noch einmal behandelte. E r erklärte unter Zustimmung des Parteitages, daß der Appell "an die allgemeine Menschenfreundlichkeit", den Carl Kloß in Frankfurt erlassen habe, "in direktem Gegensatz zu unserer ganzen Auffassung vom Klassenkampfe" stehe und "daß die übergroße Mehrheit der Partei nimmer zugeben wird, daß wir uns in fortgesetzte Verhandlungen mit den Feinden einlassen, weil vielleicht dabei ein kleiner Vorteil herausspringen könnte. . . . Sollte die Rüge, die auf dem Parteitag ausgesprochen ist, großen Beifall hier gefunden hat und noch größeren im Lande finden wird, nicht genügen, die Genossen von solchen Canossagängen fernzuhalten, dann wird der nächste Parteitag dazu bestimmte Stellung zu nehmen haben. (Beifall)." 196 Ebenda, S. 208. 197 Ebenda, S. 202.
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Allerdings schätzte August Bebel, von einer verkürzten Revolutionsperspektive ausgehend, die Perspektive der Gewerkschaftsbewegung und ihre Rolle im Klassenkampf falsch ein. Aus der Feststellung der Züricher Gewerkschaftsresolution, daß die gewerkschaftliche Organisation allein ohnmächtig sei gegenüber der konzentrierten Macht des Kapitalismus 198 und daher der politische Kampf in den Vordergrund treten mlisse , zog Bebel den einseitigen Schluß: "Wir mögen gewerkschaftlich organisiert sein, wie wir wollen, wenn das Kapital einmal allgemein eine solche Macht erobert hat, wie bei Krupp und Stumm, in der Dortmunder Union, in den Kohlen- und Eisenindustriebezirken Rheinlands und Westfalens, dann ist es mit der gewerkschaftlichen Bewegung aus, dann hilft nur noch der politische Kampf. Aus ganz natürlichen und selbstverständlichen 199 Ursachen wird den Gewerkschaften ein Lebensfaden nach dem andern abgeschnitten." Diese Stellungnahme Bebels erwies sich bald schon in der Praxis als Fehleinschätzung, die die Klärung der strategischen Rolle der Gewerkschaften erheblich erschwerte. Wir haben jedoch zu berücksichtigen, daß es sich dabei um einen Komplex ungelöster Probleme handelte, fiir deren Lösung in der gesamten internationalen Arbeiterbewegung noch keine Erfahrungswerte vorlagen. So konnte die Stagnation der freien Gewerkschaften in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, die besonders augenfällig im Vergleich zu dem schnell wachsenden Einfluß der Partei war, in der Tat die Frage aufwerfen, ob diese relative Schwäche der Gewerkschaften objektiv bedingt sei oder nur zeitweiligen Charakter trage. Ungeklärt war ferner die Frage, welche Funktionen die als notwendig erkannten Gewerkschaften bei Existenz der marxistischen Massenpartei zu erfüllen hatten und wie ihr Zusammenwirken mit der Partei, zumal nach Bildung der Generalkommission, zu gestalten sei. Vor allem aber haben wir in Rechnung zu stellen, daß die Fehleinschätzung Bebels aus der Besorgnis 198 Protokoll des Züricher Kongresses 1893, S. 50 f. 199 Protokoll des Kölner Kongresses 1893, S. 201. Dieser Auffassung widersprachen einige Diskussionsredner, darunter Hermann Molkenbuhr und Max Schippel. Karl Kautsky begründete in der "Neuen Zeit", daß damit die Gewerkschaften "nicht zur Unfruchtbarkeit verurteilt", sondern "ihnen dadurch nur neue Aufgaben gestellt, neue Felder der Tätigkeit eröffnet und ihr Charakter dadurch geändert" würden und sich "der Schwerpunkt der Bewegung immer mehr auf das politische Gebiet" verlagere. Kautsky, Karl, Der Kapitalismus fin de siècle, IV. Die Zentralisation des Kapitals und die Gewerkschaften, In: Die Neue Zeit, Xü. Jg. 1893/94, l . B d , S. 522. Bebel selbst verwies kurz nach dem Kölner Parteitag darauf, daß "der Kampf In Deutschland vorzugsweise ein politischer werde . . . und daß mit der steigenden Übermacht der sich immer mehr konzentrierenden Kapitalsmacht dieser Kampf auch immer mehr ein Kampf um die politische Macht werden müsse", womit e r den entscheidenden Gesichtspunkt der Veränderung der Klassenkampfbedingungen im unmittelbaren Übergang zum Imperialismus t r a f . Vorwärts Nr. 262 vom 7.11.1893, Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratie.
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über die sich besonders innerhalb der zentralen Gewerkschaftsführung verdichtenden divergierenden Tendenzen und der Abwehr des spezifisch tradeunionistischen Opportunismus resultierten. Die Zurückweisung der tradeunionistischen Überhöhung des ökonomischen Kampfes, der vorwiegend ökonomistischen Orientierung, die die Generalkommission der Partei zu oktroyieren suchte, der Überschätzung der Gewerkschaften, der Herabsetzung der Rolle der Partei und des revolutionären politischen Kampfes, der Zurückdrängung des sozialistischen Klassenziels gegenüber der tradeunionistischen Tagespolitik - das war die unabdingbare Pflicht des marxistischen Arbeiterführers August Bebel. Überdies trafen Bebels Äußerungen Uber die Perspektive des gewerkschaftlichen Funktionsbereiches tatsächlich eine reale Tendenz, wenn wir beachten, daß Bebel - fälschlicherweise - die Gewerkschaften als "rein" wirtschaftliche Kampforganisationen definierte. "In Deutschland ist durch die sozialpolitische, zumal die Versicherungsgesetzgebung, dieser Zweig der gewerkschaftlichen Tätigkeit entzogen und ihr damit ein Lebensnerv durchschnitten worden, der gerade in England und bei den deutschen Buchdruckern zur Blüte beigetragen hat. Weitere wichtige Gebiete, deren Bearbeitung mit zu den Hauptaufgaben der Gewerkschaften gehörten, sind ihnen durch die Gesetzgebung auf dem Gebiete der Gewerbeordnung entzogen worden . . . Mit jeder Erweiterung der staatlichen Befugnisse wird das Feld der gewerkschaftlichen 200 Betätigung noch mehr eingeengt", führte Bebel aus.
In der Tat fiel mit der staatlichen
Sozialgesetzgebung eine Reihe von Unterstützungskassen aus dem gewerkschaftlichen Organisationskörper heraus, die bislang in der gewerkschaftlichen Agitation und Organisation sowie bei der Stabilisierung der Verbände eine erhebliche Rolle gespielt hatten. Ein wesentlicher Zweck der Sozialgesetzgebung war es, der Arbeiterklasse dieses Mittel aus der Hand zu schlagen, und seit dem Ende der achtziger Jahre suchten die herrschenden Klassen mit juristischen und administrativen Methoden die Arbeiterorganisationen zur Liquidation der wichtigsten "Versicherungskassen", vor allem für Krankheit und Invalidität, zu zwingen. Das war ein Indiz für die objektive Entwicklungstendenz, daß sich der ökonomische Kampf der Arbeiterklasse immer mehr auf politisches Gebiet verlagerte, daß also unmittelbare ökonomische Tagesinteressen des Proletariats weit mehr als zuvor durch den politischen 201 Kampf wahrgenommen werden mußten. Daraus ergab sich aber gerade die Notwendigkeit, die ökonomistische Begrenzung der Gewerkschaftsauffassung - die in der politischen Praxis in nahezu allen Gewerkschaftsverbänden ohnehin durchbrochen war - auch in der theoretischen Einschätzung zu überwinden 200 Protokoll des Kölner Parteitages 1893, S. 201. 201 Vgl. dazu ausführliche Argumentation bei Bebel. August. Gewerkschafts-Bewegung und Politische Parteien, Stuttgart 1900, bes. S. 18 f f .
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und auf dieser Basis die marxistische Gewerkschaftspolitik einschließlich des Wechselverhältnisses von marxistischer Massenpartei und zentralisierter Gewerkschaftsbewegung weiterzuentwickeln. Diese Aufgabe konnte der Kölner Parteitag, vor die Notwendigkeit gestellt, vor allem die von Legien vorgetragenen opportunistischen Angriffe auf Position und Charakter der Partei zurückzuweisen, nicht lösen. Der Parteitag lehnte die von Legien vertretene Resolution Arons in namentlicher Abstimmung ab und nahm darauf einstimmig die von Auer, Bebel, Liebknecht u.a. vorgelegte Resolution an. Sie bekräftigte die Gewerkschaftsbeschlüsse des Hallenser Parteitages, die "die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation zur Führung der wirtschaftlichen Kämpfe ausgesprochen und die kräftigste Unterstützung der Gewerkschaftsbewegung durch Anschluß an die bestehenden Organisationen oder Neugründung an Orten, wo solche nicht bestehen, den Parteigenossen empfohlen" hatten. Eine prinzipielle oder taktische Änderung der Stellung der Partei zur Gewerkschaftsbewegung sei nicht notwendig, erklärte der Parteitag, wiederholte "den Ausdruck der Sympathie mit der Gewerkschaftsbewegung und legt den Parteigenossen von neuem die Pflicht auf, unermüdlich für die Erkenntnis der Bedeutung der gewerkschaftlichen Organisationen zu 202
wirken und mit aller Kraft für deren Stärkung einzutreten" Damit war die prinzipielle Haltung der Partei zur Gewerkschaftsbewegung von neuem bestätigt, und - darin lag das Verdienst der Gewerkschaftsdiskussion in Köln - die tradeunionistischen Auffassungen, die Legien als Angriff auf die marxistische Massenpartei vorgetragen hatte, waren eindeutig abgewiesen. Dabei blieben jedoch wichtige Probleme offen. Vor allem wurde das konkrete Verhältnis von Partei und Gewerkschaftsbewegung nicht näher bestimmt. Das war um so folgenschwerer, als die Kölner Gewerkschaftsresolution die "Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation" lediglich mit der "Führung wirtschaftlicher Kämpfe" motivierte. Diese - wesentlich durch die reaktionäre Vereinsgesetzgebung in Preußen-Deutschland verursachte - zu enge Definition der Gewerkschaften mußte den Kampf gegen ökonomistische Tendenzen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung zwangsläufig erschweren. So wurden "die Bedeutung der Gewerkschaften innerhalb der gesamten Arbeiterbewegung, ihre Aufgaben bei der Heranführung des Proletariats an die proletarische 203 Revolution und im Kampf um die Macht . . . auf dem Kölner Parteitag nicht geklärt" Die zweitägige Gewerkschaftsdebatte endete auf dem Kölner Parteitag dort, wo die sachliche Lösung beginnen mußte. Opportunistische Kräfte wie Max Schippel und insbesondere
202 Protokoll des Kölner Parteitages 1893, S. 180/181. 203 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 1, S. 438.
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Carl Legien nutzten die - ein wesentliches Teilgebiet betreffende - Fehleinschätzung Bebels und die von den marxistischen Kräften in der deutschen Arbeiterbewegung nicht bis zur Übereinstimmung geklärte Frage nach der Perspektive und der strategischen Funktion der Gewerkschaften und ihrer Aktionen, um vom Kern der Auseinandersetzung, dem Kampf zwischen Marxismus und Opportunismus in der Gewerkschaftsfrage, abzulenken und die Weiterentwicklung der marxistischen Gewerkschaftspolitik zu hintertreiben. Wilhelm Liebknecht erklärte zwei Wochen nach dem Parteitag, daß "die Gewerkschafts204 frage . . . in Köln wohl gestellt und gestreift, aber nicht erledigt worden" sei. Die weiterschwelende Gewerkschaftsfrage war zu diesem Zeitpunkt von opportunistischen Kräften bereits wieder aufgegriffen, um in öffentlicher Pressepolemik den in Köln verlorenen Boden wiederzugewinnen. Von neuem waren die marxistischen Kräfte gezwungen, den Kampf gegen die eben zurückgewiesenen tradeunionistischen Auffassungen aufzunehmen.
204 Rede des Reichstagsabgeordneten Wilhelm Liebknecht über den Kölner Parteitag mit besonderer Berücksichtigung der Gewerkschaftsbewegung, gehalten zu Bielefeld am 29. Oktober 1893, Bielefeld 1893, S. 3, Vorwort (datiert vom 15.11.1893).
GERHARD FUCHS
Die Haltung des deutschen Imperialismus zur Gründung der Tschechoslowakischen Republik 1918/1919
Die prinzipiell feindliche Stellung des deutschen Imperialismus zu einem selbständigen, einheitlichen Staat der Tschechen und Slowaken wurde in der Zeit der faschistischen Diktatur evident und kann daher für diesen Zeitraum selbst von den Apologeten des monopolistischen Herrschaftssystems nicht bestritten werden. Die Regierungen der Weimarer Republik j e doch, so behaupten die westdeutschen bürgerlichen Historiker, hätten sich von Anfang an wohlwollend, zumindest aber korrekt zur jungen Tschechoslowakei verhalten, und Stresemanns Locarnopolitik sei sogar um eine weitere Verbesserung des Verhältnisses bemüht gewesen. * Diese Darstellungstendenz tritt seit der Proklamierung der sogenannten neuen Ostpolitik besonders ausgeprägt hervor, wobei eine Traditionslinie vom "europäischen Friedens- und Verständigungspolitiker" Stresemann zur Außenpolitik der Bonner Regierungen - namentlich nach Adenauer - gezogen wird. Wie wenig diese politischen Zweckkonstruktionen der historischen Wahrheit entsprechen, 2
wurde für die "Ära Stresemann" bereits in detaillierter Weise nachgewiesen.
Die vorlie-
gende Untersuchung zeigt nun, daß der deutsche Imperialismus schon zur Geburt der Tschechoslowakischen Republik eine wenig rühmliche, keineswegs korrekte oder gar wohlwollende Haltung eingenommen, sondern im wesentlichen - wenn auch notgedrungen mit anderen taktischen Mitteln und strategischen Zielsetzungen - jene feindselige Politik fortgesetzt hat, die seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts gegenüber dem nationalen Befreiungskampf der Tschechen und Slowaken entwickelt wurde.
1 2
Vgl. z . B . den Sammelband Das deutsch-tschechische Verhältnis seit 1918, hg. von Eugen Lemberg und Gotthold Rhode,Stuttgart 1969, S. 25 f . , 44 f . Fuchs. Gerhard. Von Locarno nach München. Zur Kontinuität der aggressiven Politik des deutschen Imperialismus gegenüber der Tschechoslowakei und Polen, in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas (im folgenden: JbGUV), Bd 12, Berlin 1968, S. 127 ff.; derselbe. Aggressive Planungen des deutschen Imperialismus gegenüber der Tschechoslowakei in der Zeit der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (im folgenden: ZfG), 1968, H. 10, S. 1309 ff.
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Gerhard Fuchs Entsprechend der Ambition, Weltmachtpolitik zu betreiben, strebte der deutsche Im-
perialismus danach, ein recht weitgefaßtes Mitteleuropa zu beherrschen, um von da aus weitere Teile Kontinentaleuropas zu seiner Einflußsphäre m machen und die Expansion nach Übersee, vor allem aber in den Nahen Osten vorzutragen. Die Siedlungsgebiete der Tschechen und Slowaken lagen nicht nur direkt auf der Linie Berlin-Bagdad, sondern ragten als "slawischer Keil" in den "deutschen Volksboden", wie sich die Ideologen der Expansion auszudrücken pflegten, hinein. Die Unterdrückung jeglicher Regung, die auf die nationale Gleichberechtigung der Tschechen und Slowaken im Rahmen der Habsburgermonarchie gerichtet war, ist daher Integrierender Bestandteil aller Expansionskonzeptionen, gleich ob sie vorwiegend "großdeutsch" oder, wie zunehmend in den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg, "mitteleuropäisch" orientiert waren. Von der Anerkennung des Rechtes der Tschechen und Slowaken auf Selbstbestimmung, auf nationale Unabhängigkeit und selbständige staatliche Existenz ganz zu schweigen, verlangten die extremsten nationalistischen Eiferer sogar die Beseitigung dieses slawischen "Pfahles im Fleische" des deutschen Volkes durch Germanisierung bzw. Vertreibung der Tschechen und damals auch die Magyarisierung der Slowaken. Die Unterstützung der Ausbeuterklassen der namentlich in den Randgebieten Böhmens und Mährens siedelnden Deutschen, die als Teil der deutsch-österreichischen Herrschernation der k . u . k . Monarchie die verbissensten Verfechter der antitschechischen Unterdrückung! und Germanisierungspolitik waren, ergab sich folgerichtig aus solchen politischen Zielsetzungen.
3
Zu den Beweggründen, die das Wilhelminische Deutschland und die Habsburgermonarchie bewogen, den ersten imperialistischen Weltkrieg auszulösen, zählte auch die Absicht, den nationalen Befreiungskampf der im Deutschen Reich und in der Donaumonarchie unterdrückten Völker, darunter an vorderer Stelle der Tschechen und Slowaken, auf lange Zeit zu 4 paralysieren.
Das Gegenteil jedoch trat ein, obwohl die Reichsregierung die k . u . k . Behör-
den in äußerst nachdrücklicher Weise zu scharfem Vorgehen gegen den anwachsenden nationalen Befreiungskampf drängte. Vor allem die Februarrevolution und die Große Sozialistische Oktoberrevolution in Rußland, das wichtigste und folgenreichste Ereignis in der Periode des Weltkrieges, waren es, die neben der immer spürbarer werdenden militärischen und ökonomischen Unterlegenheit der Mittelmächte dem nationalrevölutionären Kampf entscheidende Impulse gaben. Gehörte doch das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung zu den zentralen Losungen, unter denen die Bolschewiki die Völker Rußlands in den Kampf führten. 3 4
Fuchs. Gerhard/Körniger. Heinz. Der deutsche Imperialismus und die Tschechoslowakei, in: Deutsch-tschechoslowakische Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig 1964, S. 90-97. Deutschland im ersten Weltkrieg, Bd 1, Berlin 1968, S. 103.
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Die weltweiten Folgen des Roten Oktober, sowohl die revolutionierende Wirkung auf die Werktätigen im Machtbereich der Mittelmächte als auch die Veränderungen in den g außenpolitischen Konzeptionen der Entente , schufen in entscheidendem Maße die Bedingungen, unter denen der nationale Befreiungskampf der Tschechen und Slowaken zum Erfolg geführt werden konnte. Als die werktätige Bevölkerung Prags am 28. Oktober 1918 nach dem Bekanntwerden des Waffenstillstandsangebots Österreich-Ungarns auf die Straße strömte, konnte der Tschechische Nationalaus'schuß ohne bewaffneten Kampf die Macht aus den Händen der seit dem großen Januarstreik durch zahlreiche Massenaktionen des revolutionären Proletariats erschütterten kaiserlichen Bürokratie Ubernehmen und den selbständigen tschechoslowakischen Staat proklamieren. Der Slowakische Nationalrat beschloß am 30. Oktober in Turciansky Sväty Martin die "Deklaration des slowakischen Volkes", die sich für den Zusammenschluß der Slowaken mit dem tschechischen Brudervolk in einem gemeinsamen Staat aussprach. Der tschechoslowakische Staat war damit politische Wirklichkeit geworden. Er entstand im Ergebnis des Zusammenwirkens des nationalen Befreiungskampfes in der Heimat, dessen Haupttriebkraft das revolutionäre Proletariat war, und der tschechoslowakischen Auslandsaktion, die von Tomás G. Masaryk, Edvard Benes * 7 und dem Slowaken Milan Eastislav Stefánik geführt wurde. Die nationale Revolution hatte gesiegt. Sie hatte die Grenzen einer bürgerlich-demokratischen Umwälzung jedoch nicht überschritten, obwohl bereits die objektiven Voraussetzungen - eine hochentwickelte kapitalistische Wirtschaft, ein starkes Proletariat, eine revolutionäre Situation - für das Hinüberwachsen in die sozialistische Revolution gegeben waren. Aber die vor allem in ihrer Führung opportunistisch verseuchte Sozialdemokratie verfügte weder über die ideologisch-politischen noch organisatorischen Qualitäten, um das spontan handelnde Proletariat und seine Verbündeten im revolutionären Kampf zu führen. Auch die linken Gruppierungen, die sich mit dem in der Sozialdemokratie seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution verstärkt verlaufenden Differenzierungsprozeß herauszubilden begannen, waren in jeder Hinsicht noch zu schwach, um die Rolle der Avantgarde zu Übernehmen. Lenins Theorie vom Hinüberwachsen der bürgerlich-demokratischen in die sozialistische Revolution war ihnen außerdem zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt.
5 6
7
Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 3, Berlin 1966, S. 20 ff. Zeman. Zbynék A . . Der Zusammenbruch des Habsburgerreiches 1914-1918, Wien 1963, S. 228 f . ; Krfêek. Jaroslav. Die Oktoberrevolution in Rußland und das Entstehen der Tschechoslowakei, in: Conférence international du 50 anniversaire de la République Tchécoslovaque. Communications, Prag 1968, S. 97 ff. Smeral'. J a . B . . Obrazovanie. Cechoslovackoj respubliki v 1918 godu, Moskau 1967, S. 134 ff.
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Gerhard Fuchs
Hinzu kam, daß große Teile der tschechischen Arbeiterklasse die Illusion hegten, die nationale Befreiung würde gleichzeitig auch entscheidende soziale Veränderungen mit sich bringen. So entstand die Tschechoslowakische Republik als kapitalistischer Staat mit bürgerlich-demokratischer Begierungsform. Aberg selbst dieses Ergebnis, die Beseitigung des halbabsolutistischen Habsburgerregimes , dessen undemokratischer Charakter durch die Militärdiktatur im Kriege noch verschärft worden war, und die Erringung der nationalen und staatlichen Unabhängigkeit bedeuteten fUr die auf das engste verwandten Brudernationen der Tschechen und Slowaken, die von nun an in der Gemeinschaft eines einheitlichen Staates lebten, einen großen historischen Fortschritt. Die Gefahr der Germanisierung bzw. der Magyarisierung, die den Tschechen und Slowaken gedroht hatte, war gebannt. Die Entwicklung der beiden Nationen konnte sich ohne die störenden Eingriffe der bislang die nationale Vorherrschaft ausübenden deutschösterreichischen und magyarischen Ausbeuterklassen besser entfalten. Der Arbeiterklasse und ihren Verbündeten boten die neuen staatlichen und politischen Verhältnisse wesentlich günstigere Bedingungen für ihren Kampf um die endgültige Befreiung von jeder Ausbeuterherrschaft. Mit dem Zerfall Österreich-Ungarns und der Entstehung der Nachfolgestaaten, darunter der Tschechoslowakischen Republik, war eingetreten, was der deutsche Imperialismus unter allen Umständen zu verhindern getrachtet hatte; denn eine solche Veränderung in der internationalen Kräftekonstellation mußte notwendig zu einer empfindlichen Einbuße an Macht und Einflußmöglichkeiten für das deutsche Monopolkapital führen. Ganz zu schweigen davon, daß sich damit alle "Mitteleuropa"-Planungen als Fehlkalkülerwiesen hatten. Die führenden Vertreter des Wilhelmischen Reiches hatten den Zerfall der Donaumonarchie
8
9
Lenin sprach im Jahre 1913 in der Polemik gegen die Verfechter der national-külturellen Autonomie von "dem rückständigen, feudalen, klerikalen, bürokratischen Österreich, wo jegliches soziale und politische Leben durch das elendig kleinliche Gezänk (ja schlimmer noch: durch die Raufereien) wegen der Sprachen gehemmt i s t . . . " (Lenin, W.I., Werke, Bd 19, Berlin 1962, S. 500). Der ehemalige Generalstabschef v. Waldersee rechnete bereits in einer Tagebucheintragung v. 12.12.1897 mit der "Katastrophe" Österreich-Ungarns, allerdings mit der Schlußfolgerung, dann "mit Gewalt ein Großdeutschland schaffen" zu müssen (Denkwürdigkeiten des General-Feldmarschalls Alfred Grafen von Waldersee. Bd 2, Stuttgart-Berlin 1923, S. 407). - Am 22.5.1914 schrieb der deutsche Botschafter in Wien, Heinrich v. Tschirschky, an Staatssekretär Jagow: "Wie oft lege ich mir in Gedanken die Frage vor, ob es wirklich noch lohnt, uns so fest an dieses in allen Fugen krachende Staatsgebilde anzuschließen und die mühsame Arbeit weiter zu leisten, es mit fortzuschleppen" (zit. nach: Klein. Fritz. Probleme des Bündnisses
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9 aus ihren Uberlegungren zwar nicht völlig ausgeschlossen , aber nicht damit gerechnet, daß das imperialistische Deutschland zu gleicher Zeit infolge seiner militärischen Niederlage und schwerer innerer Erschütterungen faktisch zu außenpolitischer Aktionsunfähigkeit verdammt sein würde. Sollte der Habsburger Vielvölkerstaat einstürzen, so wollten sie ihr Mitteleuropakonzept in anderer Weise durchsetzen. Beispielsweise hatte Friedrich Naumann im Oktober 1915 mit dem slowakischen bürgerlichen Politiker Milan Hodza eine Unterredung, in deren Verlauf e r nicht verhehlte, daß e r und seine Freunde in Deutschland für den Fall der Auflösung Österreich-Ungarns Mitteleuropa nach ihren eigenen Plänen zu organisieren gedächten. Solche auch in offiziellen Kreisen gehegten Pläne liefen auf die direkte militärische Unterordnung der k . u . k . Länder unter den deutschen Imperialismus hinaus.*** Entgegen allen hochfliegenden Plänen und den von Wunschdenken geprägten Durchhalteparolen war nun aberdieSituation eingetreten, daß die Oberste Heeresleitung (OHL) mit den Erzmilitaristen Hindenburg und Ludendorff an der Spitze die militärische Niederlage eingestehen und am 29. September 1918 der Reichsregierung die dringende Aufforderung zugehen lassen mußte, mit der Entente Waffenstillstandsverhandlungen einzuleiten. Dadurch sollte der völlige militärische Zusammenbruch vermieden werden und soviel an Macht und territorialen Faustpfändern in der Hand des deutschen Imperialismus verbleiben, daß er einmal erträgliche Friedensbedingungen aushandeln konnte. Zum anderen sollten für die bereits damals ins Auge gefaßte zweite Runde der militärischen Auseinandersetzung zur Neuaufteilung der Welt günstige Ausgangsstellungen erhalten bleiben. 1 1 Aus dieser Position erklärt sich die Haltung, die der deutsche Imperialismus im Oktober und November 1918 zur Geburt des tschechoslowakischen Staates einnahm. Hinsichtlich der hierbei einzuschlagenden Taktik war man sich in den reichsdeutschen Führungskreisen
zwischen Österreich-Ungarn und Deutschland am Vorabend des ersten Weltkrieges, in: Österreich-Ungarn in der Weltpolitik 1900 bis 1918, Berlin 1965, S. 156). 10 Gaian. Koloman. Die tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen in der Periode des Zerfalls der österreichisch-ungarischen Monarchie und der Entstehung des tschechoslowakischen Staates, in: Probleme der Ökonomie und Politik in den Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1960, S. 185; Tokody. Gyula. Die Pläne des Alldeutschen Verbandes zur Umgestaltung Österreich-Ungarns, in: Acta Histórica, Bd 9, Budapest 1963, S. 65. 11 Das während der Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk um die Jahreswende 1917/1918 von der OHL geforderte umfangreiche Annexionsprogramm begründete Hindenburg so: "Ich will für den nächsten Krieg gegen Rußland den Raum für die Bewegungen des deutschen linken Flügels sichern" (zit. nach: Militarismus gegen Sowjetmacht 1917 bis 1919. Das Fiasko der ersten antisowjetischenAggression des deutschen Militarismus, Berlin 1967, S. 26).
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keineswegs einig; doch ist allenthalben, sowohl bei der politischen Beichsleitung wie bei der OHL, das Bestreben zu erkennen, aus dem Zusammenbruch der Donaumonarchie soviel wie möglich für sich herauszuholen, die Entstehung der Tschechoslowakei als lebensfähiger Staat zu verhindern oder sie von vornherein in eine Lage zu drängen, die sie Uber kurz oder lang von Deutschland abhängig machen mußte. Am 14. Oktober 1918 schrieb Ludendorff an den Staatssekretär des Äußeren, Wilhelm Solf: "Die Ereignisse der letzten Wochen lenken die besondere Aufmerksamkeit auf Österreich. Wenn sich die Oberste Heeresleitung dieser Frage annimmt, so geschieht es deshalb, weil sie auch für unsere militärische Zukunft von einschneidender Bedeutung ist. Vielleicht werden wir in nicht zu ferner Zeit vor die Lage gestellt, dem Deutschtum in Österreich unseren militärischen Schutz gewähren zu müssen." Im Hinblick auf die mögliche Entstehung slawischer Nachfolgestaaten erklärte dann Ludendorff, unter den deutschösterreichischen Politikern werde immer mehr die Frage erörtert, "ob es nicht an der Zeit sei, den Anschluß an das Deutsche Reich vorzubereiten". Ludendorff schloß mit folgender annexionistischer Erwägung: "Daß ein Anschluß der deutschstämmigen Gebiete früher oder später kommt, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Für die Enttäuschungen, die der Krieg auf anderen Gebieten bringt, wäre diese Entwicklung immerhin ein wertvoller Ausgleich, den wir nicht 12
außer acht lassen dürfen."
Der gleichzeitig geäußerte, sich auf den Osten und Südosten
konzentrierende Kompensationsgedanke ist ein weiteres Moment, das in der Außenpolitik der herrschenden Klassen Deutschlands13in der Endphase des Krieges bis hin zum FriedensSchluß eine nicht geringe Rolle spielte. Graf Botho v. Wedel, der deutsche Botschafter in Wien, gab seinerseits der Reichsregierung Ratschläge, wie sie sich gegenüber dem im Entstehen begriffenen tschechoslowakischen Staat verhalten solle. In seinem Bericht an den Reichskanzler, Prinz Max von Baden, vom 16. Oktober schrieb er: "Wenn sich der tschechische Staat konstituiert, ist für die von Deutschösterreich so gut wie abgeschnittenen Deutschen Böhmens der Anschluß
12 13
Zit. nach: Zeman. S. 241 f. Vgl. die Studie von Zsigmond, Laszlo, Versuche des deutschen Imperialismus, seine Machtpositionen nach Ost- und Südosteuropa hinübe rzurett'en (1919-1920), in: Acta Histórica, Bd 5, Budapest 1958, S. 47 ff. - Der sächsiche Gesandte in Wien schrieb bereits in seinem Bericht v. 25.4.1918, daß in Tirol eine bayrische Irredenta bestehe und mit der Angliederung Tirols, Vorarlbergs und Salzburgs an Bayern zu rechnen sei, woraus er den Schluß zog: "Für Sachsen könnten sich gegebenenfalls in Deutsch-Böhmen ähnliche Aussichten eröffnen; und sie rechtzeitig ins Auge zu fassen erscheint mir unbedingt geboten" (Staatsarchiv Dresden, Sächsische Gesandtschaft Wien, Nr. 384, Bericht Nr. 188; vgl. auch Deutschland im ersten Weltkrieg. Bd 3, Berlin 1969, S. 516).
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an das Reich die einzige Bettung... Die Aufnahme Nordböhmens mit seinen reichen Kohlenschätzen wäre außerdem für unser Vaterland ein großer Gewinn und würde in Wien nicht einmal mit Berechtigung verübelt werden, da sich das Vorgehen nicht gegen Wien, sondern gegen die Tschechen richten würde. Ich bin daher der Meinung, daß wir Nordböhmen als eine besondere Frage ansehen und behandeln müssen und den Abfall zwar mit größter Vor14 sieht, aber direkt fördern müssen." Wedel bezieht sich hierbei auf die seit Anfang Oktober 1918 in zunehmendem Maße erhobenen Forderungen deutschböhmischer Politiker, das von ihnen reaktionär-nationalistisch interpretierte Selbstbestimmungsrecht 15 der Deutsehen in Böhmen durch den Anschluß an das Deutsche Reich geltend zu machen. Wedels Meinung fand in Berlin positiven Widerhall, weil sie mit den Intentionen des Auswärtigen Amtes und der OHL übereinstimmte. Staatssekretär Paul v. Hlntze, der jetzt das Auswärtige Amt im Großen Hauptquartier vertrat, gab in einem an Wedel gerichteten Brief vom 19. Oktober seiner Meinung Ausdruck, daß e r angeblich "nur schweren Herzens an die Behandlung eines Problems herantrete, das letzten Endes die Vivisektion unseres Bundesgenossen bedeutet", und e r sehr viel lieber auch fernerhin eine Politik verfolgt hätte, "welche die Erhaltung und Kräftigung der Donaumonarchie erstrebte". Nichtsdestoweniger riet e r angesichts der Lage dem Botschafter, seinen österreichischen Freunden zu sagen: "Sollte es in Österreich, sehr gegen unseren Wunsch und Willen, zu einem katastrophalen Zusammenbruch kommen, so würden die Deutschen bei uns selbstverständlich Schutz und Rückhalt finden." 1 6 Offensichtlich in Kenntnis dieser Haltung der Berliner Stellen traten am 21. Oktober 1918, nach dem letzten Versuch Kaiser Karls, mit seinem Manifest vom 16. Oktober und der darin enthaltenen Konzeption eines Föderativstaates die Monarchie doch noch zu erhalten, die deutschen Reichsratsabgeordneten Österreichs einschließlich derer der böhmischen Länder in Wien zusammen und konstituierten sich als provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich. Sie beanspruchten in einer Resolution "die Gebietsgewalt über 17 das ganze deutsche Siedlungsgebiet, insbesondere auch in den Sudetenländern" . Am
14
Zit. nach: Brttgel. Johann Wolfgang. Tschechen und Deutsche 1918 bis 1938, München 1967, S. 55. 15 Gajan, Die tschechoslowakisch-deutschen Begehungen, in: Probleme der Ökonomie und Politik, S. 191 f f . ; Vznik samostatn^ho Ceskoslovenska a aeverni Cechy. Üsti nad Labem 1968, S. 26. 16 Zit. nach: Zeman, S. 242 f . 17 Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, hg. und bearbeitet von Herbert Michaelis und Ernst Schwaepler, Bd 3: Der Weg in die Weimarer Republik, (West-)Berlin o. J . , Dok. Nr. 669, S. 283.
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gleichen Tag schrieb Wedel in seinem Bericht nach Berlin: " . . . Das tschechische Böhmen allein wäre ein Krüppelstaat, nur mit Deutschböhmen vereint
wäre das Königreich Böhmen
ein lebensfähiges Gebilde... Für uns ist die böhmische Frage von allergrößter Bedeutung. Gelingt es den Tschechen, ganz Böhjnen als Staat zu gründen, so werden wir an Böhmen einen sehr unangenehmen Nachbarn haben; gelingt es ihnen nicht und mUssen die Tschechen auf das deutsche Gebiet verzichten, dann werden sie von uns abhängig sein, sie werden zu uns kommen m ü s s e n . . U n d wieder forderte er: "Wir mUssen daher die Deutsch-Böhmen kraftvoll unterstützen, damit sie ihre Selbständigkeit gegenüber den Tschechen sichern..." Abschließend richtete Wedel einen beschwörenden Hilferuf um Lebensmittel nach Berlin, denn Teilen der Alpenlande und Böhmens drohe eine schwere Hungerkatastrophe. Wenn Deutschland nicht helfe, müßten die Deutschösterreicher "eventuell vor Tschechen und Ungarn . . . auf Gnade und Ungnade kapitulieren, oder eine blutige Revolution ist unausbleib18 lieh"
. Beides war verständlicherweise für den kaiserlichen Diplomaten eine unerträgliche
Vorstellung. So hatte sich bis zur zweiten Oktoberhälfte in deutschen Regierungskreisen eine "An19 schluß"-Politik
herausgebildet, die an die Stelle der bis dahin dominierenden Bemühungen
um die Aufrechterhaltung der Donaumonarchie trat. Im Rahmen dieser Politik bildete das andererseits mit der Geburt der Tschechoslowakei zusammenhängende Problem der deutschbesiedelten Grenzgebiete der böhmischen Länder "eine besondere Frage" (Wedel). Im Geheimschreiben Solfs an Wedel 20 vom 19. Oktober ist dieses Konzept erstmals in zusammenhängender Weise dargelegt.
Bezüglich der Friedenskonferenz empfiehlt Solf, die Bildung
eines autonomen Deutschösterreichs zu forcieren, damit es sein Selbstbestimmungsrecht verlangen könnte. Sollte auf diese Weise der "Anschluß" vollzogen werden können, bestünde das Ziel hinsichtlich der Nachfolgestaaten darin, die Königreiche Böhmen und Ungarn politisch wie ökonomisch so eng wie möglich an Deutschland zu binden, d.h. also in vom deutschen Imperialismus abhängige Länder zu verwandeln. 18
Deutschland und die Tschechoslowakei 1918-1945. Dokumente über die deutsche Politik, Prag 1965, Dok. Nr. 2, S. 46 f . 19 Zu den Problemen des "Anschlusses", die sich auf das Territorium der späteren Republik Österreich beziehen, vgl. Kölling. Miriam. Deutsehland, Österreich und der Anschluß 1918-1922, phil. Diss., Berlin 1965 (Ms.). - Diese Problematik wird in vorliegendem Aufsatz nur insoweit behandelt, als es zur Ergänzung und Verdeutlichung der Politik des deutschen Imperialismus gegenüber der entstehenden Tschechoslowakei erforderlich ist. 20 Vgl. den Text bei Kogan. Arthur G., Genesis of the Anschluss Problem: Germany and the Germans of the Hapsburg Monarchy in the Autumn of 1918, in: Journal of Central European Affairs, Bd 20, April 1960, Nr. 1, S. 32 f f .
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Gleichzeitig begann die deutsche Regierung, diese politische Konzeption in die Tat umzusetzen. Über ihre Mittelsmänner entfachte sie noch in der zweiten Oktoberhälfte in den deutschsprachigen Gebieten der Doppelmonarchie eine Propagandakampagne, die auf die Verbreitung des Anschlußgedankens abzielte. So fanden auch in den Randgebieten Böhmens, z . B . am 16. Oktober in Troppau, am 24. in Reichenberg, am 28. in Aussig, von großdeutsch orientierten Organisationen getragene Veranstaltungen statt, auf denen die staatsrechtliche Angliederung "Deutschböhmens" an das Reich gefordert wurde. Am 28. Oktober beantragte Solf dringend 10 Millionen Mark für "geheime politische Zwecke in Österreich", die das Schatzamt 3 Tage später bewilligte. Sie flössen größtenteils nach "Deutschösterreich" und dienten in erheblichem Maße auch dazu, um auf die Presse entsprechend 21
einzuwirken.
So sollte vor der internationalen Öffentlichkeit der Eindruck erweckt
werden, daß die deutsche Bevölkerung der Alpen- und Sudetenländer es sei, die in ihrer Gesamtheit den Anschluß an Deutschland wünsche. Angesichts ihres Waffenstillstandsersuchens waren die deutschen Imperialisten peinlich darauf bedacht, seitens der Alliierten nicht des Annexionismus bezichtigt zu werden. Die Anschlußbewegung sollte ausschließlich als von Deutschösterreich ausgehend erscheinen. Parallel zu diesen politischen Aktionen erwog die Oberste Heeresleitung den Gedanken, militärisch einzugreifen. Namentlich "Deutschböhmen" sollte auf diese Weise aus dem Verband der böhmischen Länder herausgebrochen, dem entstehenden tschechoslowakischen Staat entzogen und dem unmittelbaren Herrschaftsbereich des deutschen Imperialismus eingegliedert werden. Solf hatte keine prinzipiellen Einwände, er warnte aber vor übereilten Handlungen. Und Wedel wies darauf hin, daß nach 22 außen die Initiative für einen militärischen Zugriff nicht von Berlin ausgehen dürfe. Am 22. und 23. Oktober weilte eine dreiköpfige Delegation des Vollzugsausschusses der deutschösterreichischen Nationalversammlung, darunter auch ein Abgeordneter Deutschböhmens, in Berlin und machte auf der Rückreise auch in Dresden Station. Ihre Aufgabe bestand darin, mit der Reichsregierung sowie mit der sächsischen Staatsregierung über Lebensmittellieferungen und eventuelles militärisches Eingreifen zugunsten Deutschösterreichs einschließlich der vorwiegend deutsch besiedelten Randgebiete der böhmischen Länder zu verhandeln. Auf Grund der prekären Lage, in der sich Deutschland in jenen Tagen selbst befand, wurde die Delegation zwar nicht mit Begeisterung empfangen, erhielt aber doch gewisse Zusagen. Die OHL schlug vor, begrenzte Infanterie- und Kavalleriekontingente
21 22
Kölling. Deutschland, Österreich und der Anschluß, S. 64 f . ; Zeman, S. 234; Kogan, in: Journal of Central European Affairs, Bd 20, 1960, Nr. 1, S. 32, 39. Ebenda, S. 26 f.
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als "Schutztruppen" in Böhmen einmarschieren zu lassen, falls darum ersucht werde und die österreichische Armee sich dazu nicht mehr in der Lage erweisen solle. Für einen Einmarsch preußischer, sächsischer und bayrischer Kontingente als "Polizeitruppen" zur "Aufrechterhaltung der Ordnung" hatten sich auf das dringende Ansuchen des sogenannten Deutschen Volksrats für Böhmen beim deutschen Generalkonsul in Prag bereits am 10. und 23 11. Oktober die bei der Wiener Regierung akkreditierten Vertreter der OHL ausgesprochen. Auch in Dresden scheinen ähnliche Versprechungen gemacht worden zu sein. Eine diesbezügliche Stimmung war in bürgerlichen Kreisen Sachsens jedenfalls vorhanden. Eines ihrer Sprachrohre, die "Leipziger Neuesten Nachrichten", reagierte auf die Ausrufung der Tschechoslowakischen Bepublik am 28. Oktober mit ausgesprochener Schärfe. Durch dieses Ereignis, so schrieb das Blatt in der Ausgabe vom 30. Oktober, sei die Frage Deutschböhmens aktuell geworden. Der Anspruch des neuen Staates auf die historischen Grenzen der böhmischen Länder, d.h. einschließlich der vorwiegend deutschbesiedelten Randgebiete, müßte als feindseliger Akt angesehen werden. Die Zeitung verwies auf die Millionen deutschen Kapitals, die in Böhmen entlang der Elbe investiert worden seien, und forderte die deutsche Regierung auf, diese Werte durch geeignete Maßnahmen zu sichern. Sie sollte die Tschechen nicht in Zweifel darüber lassen, daß man entschlossen sei und über die Mittel verfüge, um jeden Übergriff auf dem Gebiet des Selbstbestimmungsrechtes 24 der Deutschen abzuwehren. Nachdem die tschechische Bourgeoisie in Prag zur Macht gekommen, Bulgarien und die Türkei aus dem Kriege ausgeschieden waren und Kaiser Karl um sofortigen Waffenstillstand gebeten hatte, der am 3. November 1918 in Padua unterzeichnet wurde, war eine weitere entschiedene Verschlechterung der militärischen Lage des deutschen Imperialismus eingetreten. Die Oberste Heeresleitung zeigte sich besorgt, die auf diese Weise geöffnete SUdflanke zu sichern. 25 Außerdem ging in der Nacht zum 3. November beim Auswärtigen Amt
23
Gai an. Die tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen, in: Probleme der Ökonomie und Politik, S. 200 f f . ; derselbe. Deutschland und die Entstehung der CSR, in: Conférence international du 50 anniversaire, S. 5 f. ; Opocensky. Jan, Vznik nârodnich stâtu v fijnu 1918^ Prag 1927, S. 190 f f . ; Brügel, S. 53 f . ; Molisoh. Paul, Die sudentendeutsche Freiheitsbewegung in den Jahren 1918-1919, Wien-Leipzig 1932, S. 29. 24 Vgl. Gai an, Die tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen, in: Probleme der Ökonomie und Politik, S. 201 f . ; Opo£ensk£, Vznik nârodnich stâtû, S. 191 f. 25 Bereits am 1.11.1918 meldete der sächsische Militärbevollmächtigte im Großen Hauptquartier an den sächsischen Kriegsminister u . a . : "Deutsch-Böhmen: Grenzschutz ist angeordnet. Die Frage des Besetzens von Deutsch-Böhmen wird erwogen" (Die Auswirkungen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland. hg. von Leo Stern, Berlin 1959, Dok. Nr. 769, S. 1723 = Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 4/IV).
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das dringende telefonische Ersuchen Lodgman von Auens, des "Landeshauptmanns von Deutschböhmen", ein, den Behörden Aussigs gegen Hungerunruhen und Plünderungen militärische Hilfe zu gewähren; Wien sei hierzu nicht in der Lage. In der Sitzung des Reichskabinetts vom 5. November legte Wilhelm Groener - der seit dem 30. Oktober als Nachfolger Ludendorffs in der Stellung des Ersten Generalquartiermeisters fungierte - dar, wie er die SUdfront des Reiches gegen den erwarteten Angriff der Ententetruppen, unter denen e r auch tschechoslowakische vermutete, zu stabilisieren gedachte. Die bayrische Grenze sollte durch die Besetzung Nordtirols, die sächsische und schlesische Grenze durch V e r stärkungen gesichert werden. In diesem Zusammenhang wurde auch erwogen, einige 26 deutschböhmische O r t e , z . B . denBahnknotenpunKt Aussig, zu besetzen.
Groener wollte
aber angesichts der eigenen Schwäche nach Möglichkeit den Kampf mit tschechoslowakischen Truppen vermeiden, die e r für gut und stark hielt. Für den soeben ins Leben getretenen, sich in der ersten Konsolidierung befindenden tschechoslowakischen Staat bedeuteten selbst diese aus der Defensive heraus getroffenen Planungen eine Gefahr. Denn mit dem Sieg vom 28. Oktober waren die Grenzen des neuen Staates noch keineswegs gesichert, und die nun zur Macht gelangte tschechische Bourgeoisie hatte Mühe, ihre territorialen Ansprüche durchzusetzen, die sich neben den historischen Ländern der böhmischen Wenzelskrone und der Slowakei auch auf von Ukrainern bewohntes Gebiet, die sogenannte Karpatenukraine, erstreckten. Außerdem bereiteten die durch den Krieg zerrütteten Wirtschafts Verhältnisse, das soziale Elend und die drohende Gefahr revolutionärer Volksaktionen den neuen Machthabern nicht geringe Sorgen. Eben an dieser Stelle gedachten bestimmte Kreise des deutschen Imperialismus die junge Tschechoslowakei zu treffen. Staatssekretär v. Hintze formulierte seine Erwägungen über eine wirtschaftliche Erpressung am 29. Oktober so: "Gegenüber Böhmen könnten wir wirtschaftlichen Druck durch Sperrung der Salzausfuhr ausüben, da Böhmen bisher fast vollständig von uns mit Salz beliefert wurde... Bitte feststellen zu wollen, wie die Oberste Heeresleitung aus militärischen Gründen sich dazu stellt, derartige Kampfmaßnahmen gegen Böhmen und Un27 garn zu t r e f f e n . "
26
27
Opocensky. Jan. Umsturz in Mitteleuropa. Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns und die Geburt der Kleinen Entente, Hellerau bei Dresden 1931, S. 384 f f . ; derselbe. Konec monarchie Rakousko-uherskß, Prag 1928, S. 705 f f . ; Scheide mann. Philipp. Der Zusammenbruch, Berlin 1921, S. 191 f f . ; Matthias.Erich/Morsey, Rudolf. Die Regierung des Prinzen Max von Baden, Düsseldorf 1962, Dok. Nr. 129, S. 529, 541; Kogan. in: Journal of Central European Äffairs, Bd 20, 1960, Nr. 1, S. 40 f . Deutsches Zentralarchiv Potsdam (im folgenden: DZA Potsdam), Auswärtiges Amt, Wirtschaftliche Beziehungen zur Tschechoslowakei, Bd-Nr. 6614, Bl. 1.
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Gerhard Fuchs Die aggressivsten Kreise des deutschen Imperialismus suchten also noch in der Stunde
ihrer schwersten militärischen Niederlage die Machtverhältnisse in der von ihnen beanspruchten Herrschaftssphäre Europas nach ihren Intentionen unter Mißachtung des Selbstbestimmungsrechtes der anderen Völker zu gestalten. Der objektiv gegebene Widerspruch zwischen der expansiven Politik des deutschen Imperialismus und den Lebensinteressen der Nachbarvölker, insonderheit der Tschechen und Slowaken, wurde an jenem Knotenpunkt der europäischen, ja der Weltgeschichte, den die Entwicklung der Jahre 1917 bis 1919 darstellt, in eklatanter Weise deutlich. Zugleich traten die gerade in jenen Kreisen ausgeprägte Unfähigkeit, das Verhältnis der eigenen Kräfte zu denen des Gegners richtig einzuschätzen, und der Grundzug, sich auf Biegen und Brechen dem historischen Fortschritt in den Weg zu stellen, augenscheinlich hervor. Doch die Geschichte folgt - damals wie heute - nicht dem illusionären Wunschdenken der reaktionären Herrschaftskreise des deutschen Imperialismus. Mit den Gesetzen der Geschichte in Konflikt gekommen, mußten sie vielmehr mit dem am 11. November im Walde von Compiögne abgeschlossenen Waffenstillstand nicht nur ihre vollständige militärische Niederlage vor aller Welt eingestehen, sondern hatten alle Mühe, ihre unter den Schlägen der deutschen Novemberrevolution wankende Macht überhaupt aufrechtzuerhalten. Diese Umstände waren es, die alle gegen die Entstehung eines selbständigen tschechoslowakischen Staates gerichteten Absichten und Pläne zunichte werden ließen. Eine militärische Intervention unterblieb. So stand auch das im Oktober 1918 begonnene separatistische Abenteuer der deutschen Nationalisten in den böhmischen Ländern von vornherein unter dem niedergehenden Stern des deutschen Imperialismus. Die nationalistischen Führungskreise der vorwiegend in den Randgebieten Böhmens und Mährens lebenden deutschen Bevölkerungsteile machten der tschechischen Bourgeoisie ihren Herrschaftsanspruch streitig. Namentlich die politischen Sprecher der deutschen Gutsbesitzer und Kapitalisten wollten sich nicht damit abfinden, daß sie mit der Errichtung des tschechoslowakischen Staates ihre Stellung, die sie im alten Österreich als führender Teil der Herrschernation innehatten, einbüßen und nach der tschechischen Großbourgeoisie politisch wie wirtschaftlich nur einen nachgeordneten Rang einnehmen sollten. Deshalb stimmten sie ein demagogisches Wehgeschrei über die Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen in den böhmischen Ländern an, jenes Rechtes, das sie zu einer Zeit, als sie selbst noch fest im Sattel saßen, den Tschechen und Slowaken zynisch und hartnäckig verweigert hatten. Um mit einer Politik des Fait accompli Einfluß auf die bevorstehende Friedenskonferenz zu gewinnen, auf der auch die Grenzfragen verhandelt werden sollten, betrieben die deutschen Nationalisten die Abtrennung der vorwiegend, aber nicht geschlossen deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens und Mährens, die seit
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Jahrhunderten mit dem tschechischen Kern organisch eine politische und wirtschaftliche Einheit bildeten. Die in Wien versammelten deutschen Abgeordneten der böhmischen Länder vollzogen als Antwort auf die Proklamierung der Tschechoslowakischen Bepublik seit dem 29. Oktober 1918 nacheinander die Konstituierung der Provinzen "Deutschböhmen" und "Sudetenland" sowie der Kreise "Deutschsüdmähren" und "Böhmerwaldgau". Während für "Deutschböhmen" die Gebiete Nord- und Nordwestböhmens beansprucht wurden, maßte sich die "Regierung" von "Sudentenland" die Oberhoheit Uber Nordmähren und Österreichisch-Schlesien sowie über die deutschen Sprachinseln Iglau, Olmütz und Brünn an. Die beiden Provinzen e r klärten ihren Beitritt zu dem am 21. Oktober entstandenen Staatsgebilde Deutschösterreich, 28
die beiden Kreise schlössen sich den Ländern Ober- bzw. Niederösterreich an.
Ein Blick
auf die Landkarte genügt, um festzustellen, daß "Deutschböhmen" und "Sudetenland" untereinander und zu den Alpenländern29keinerlei territoriale Verbindung hatten; denn dazwischen lagen die tschechischen Gebiete. Wohl aber grenzten diese Provinzen an das Deutsche Reich, wohin auch - ausgesprochen und unausgesprochen - die gesamte separatistische Aktion tendierte. Der nationalistische Deutsche Volksrat für Böhmen z.B. erhob auf seiner Sitzung vom 29. Oktober in Aussig die Forderung, daß "Deutschböhmen" an das Deutsche 30 Reich angeschlossen werde. 28 Gaian. Die tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen, in: Probleme der Ökonomie und Politik, S. 198 f f . : Strauss. Emil. Die Entstehung der Tschechoslowakischen Republik, Prag 1935, S. 293 f f . ; César. Jaroslav/Cernv. Bohumil. Od sudetonémeckého separatismu k plánum odvety. Iredentisticky puc némeckych nacionalistu v CSR v letech 1918-1919, Liberec 1960, S. 59 ff. 29 In jenen Tagen schrieb der deutschböhmische rechte Sozialdemokrat Josef Seliger, einer der Hauptakteure der separatistischen Umtriebe, in der Wiener Zeitschrift "Der Kampf 1 , daß die vorwiegend deutsch besiedelten Gebiete Böhmens "nicht fähig sind, miteinander ein einheitliches, selbständiges Deutschböhmen zu bilden, da es doch ganz unmöglich ist, acht voneinander durch die breite Kluft des tschechischen Siedlungsgebietes geschiedene und so weit auseinandergerissene Landfetzen, so gewissermaßen in der Luft, über das Ausland hinweg zu einem einheitlichen Staats- und Verwaltungsgebiet zu vereinigen, das doch in e r s t e r Linie auch ein einheitliches Wirtschaftsgebiet sein muß. So etwas hätte nicht seinesgleichen in der ganzen Welt und wäre der höchste staatspolitische Widersinn..." (zit. nach: Brägel, S. 52). 30 César. Jaroslav/Cerny. Bohumil. Politika némeckych burzoazních stran v Ceskoslovensku v letech 1918-1938, Teil 1: 1918-1929, Prag 1962, S. 63 f . , 69, 78 f . , 96. - Für das Industrierevier von Mährisch-Ostrau und Teschen entwickelten die dortigen deutschen Nationalisten, gegenüber der tschechischen und polnischen Bevölkerung in der Minderheit, eine Neutralisierungskonzeption. Sie nutzten hierbei den Streit zwischen der polnischen und der tschechischen Bourgeoisie um die Grenzziehung in diesem Raum wie auch unterschiedliche Auffassungen hierzu zwischen den Ententemitgliedern aus. Doch auch diese Pläne, die von reichsdeutscher Seite im Zusammenhang mit der Oberschlesienfrage wohlwollend gefördert wurden, scheiterten endgültig im Jahre 1920 (Valenta. Jaroslav. Plány némecké burzoazie na neutralizad Ostravska a Tesínska v letech 1918-1920, in: Slezsky sborník, 1960, H. 3, S. 289-311).
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Gerhard Fuchs Dieser staatsrechtlichen Konstruktion und der großdeutschen Konzeption entsprechend,
sollte das von der provisorischen deutschösterreichischen Nationalversammlung am 12. November 1918 beschlossene "Gesetz Uber die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich" auch flir die deutschen Separatistenregime in Böhmen und Mähren Geltung haben. Es proklamierte einmal - endlich und unter dem Druck der Ende Oktober in Wien ausgebrochenen Revolution - die republikanische Staatsform. Zum anderen aber lautete der zweite Artikel dieses Gesetzes: "Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik. Besondere Gesetze regeln die Teilnahme Deutschösterreichs an der Gesetzgebung und Verwaltung der Deutschen Republik sowie die Ausdehnung des Geltungsbereiches von 31 Gesetzen und Einrichtungen der Deutschen Republik auf Deutschösterreich." Die deutschböhmischen Nationalisten setzten also auf die "Anschlußpolitik", die von der Reichsregierung im Oktober angesichts des Zerfalls der Habsburgermonarchie eingeleitet worden war. Andererseits betrachtete der deutsche Imperialismus die großdeutschen Kräfte in Böhmen und Mähren als Vorposten seiner expansionistischen Politik. Natürlich waren die Erfolgsaussichten in bezug auf die Aktion "Deutschböhmen" noch geringer als hinsichtlich eines eventuellen "Anschlusses" Österreichs: erstens, weil die politischen und ökonomischen Hauptkräfte in den böhmischen Ländern, die tschechische Großbourgeoisie und ihr sich formierender Machtapparat, entschlossen waren, ihre Grenzansprüche durchzusetzen; zweitens - und das war der entscheidende Faktor - , weil die Entente den Anspruch der tschechischen Großbourgeoisie auf die historischen Grenzen der böhmischen Länder unterstützte. Das galt vor allem flir die nach der Hegemonie Uber Europa strebende
imperialistische
Bourgeoisie Frankreichs, aber auch - mit bestimmten Modifikationen und über alle Sonderinteressen im alliierten Lager hinweg - für die herrschenden Klassen Großbritanniens, Italiens und der USA. Denn die Tschechoslowakei war vom französischen Imperialismus zum mitteleuropäischen Stützpfeiler seiner Hegemonialpolitik ausersehen, und außerdem versprach der eben gegründete Staat im Gegensatz zu dem von der Revolution erfaßten Deutschland, "Ruhe und Ordnung" im Sinne der Bourgeoisie zu garantieren und seiner Rolle als antibolschewistischem Bollwerk immer effektiver gerecht zu werden. Namentlich Benes war es, der - damals noch in Paris wirkend - einerseits die Prager Regierung 32 beschwor, jegliche "Anarchie" im Lande zu vermeiden , und andererseits die Verdienste 31 Ursachen und Folgen. Bd 3, Dok. Nr. 671, S. 285. 32 In einem Schreiben an den Prager Nationalausschuß vom 5.11.1918 empfahl Benes, auch den Deutschen und sogar Wien Lebensmittel zur Verfügung zu stellen, "um der Gefahr einer Zersetzung und blutiger Unruhen vorzubeugen... Wir haben unter den Verbündeten ergebene Freunde, und wir haben uns überall dadurch Respekt verschafft, daß wir auf so entschlossene Art und Weise Ruhe und Disziplin in den eigenen Reihen
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und vorhandenen Potenzen der tschechischen Bourgeoisie und ihres Staates bei der Be33 kämpfung des Bolschewismus unermüdlich betonte bzw. offerierte. Hierbei führte Benei immer wieder die in Rußland während des Krieges aufgestellte tschechoslowakische Aus34 landsarmee ins Treffen , die sich in ihrer Mehrzahl unter dem Einfluß reaktionärer Offiziere und der von Masaryk persönlich betriebenen antibolschewistischen Agitation auf die Seite der Konterrevolution stellte. Die 50 000 Legionäre besetzten die Transsibirische Eisenbahn, stürzten die örtlichen Sowjets entlang dieser Trasse und waren als in jener Etappe der Interventionskriege kampfkräftigste Einheit der Weißgardisten fUr die Sowjetmacht eine große Gefahr. Die antisowjetische und antikommunistische Haltung der tschechischen Bourgeoisie wurde denn auch von den Alliierten durch weitgehende Erfüllung der Grenzansprüche - auch gegenüber Ungarn und Polen - honoriert. Der tschechoslowakische Nationalausschuß in Prag unternahm mehrere Versuche, mit den separatistischen "Regierungen" von "Deutschböhmen" und "Sudetenland" zu einem Ausgleich zu kommen; es wurde sogar der Eintritt von Vertretern der deutschen Bevölkerung in den Nationalausschuß bzw. die Regierung ins Gespräch gebracht. Doch konnte bezeichnenderweise nur Übereinstimmung darin erzielt werden, einen geregelten Ablauf der Verwaltung zu gewährleisten, damit "kein Chaos entstünde", unter allen Umständen "den gegenseitigen Schutz von Eigentum und Leben" zu garantieren sowie "jede Unruhe und Unordnung 35 im Lande" zu vermelden.
Nur in der unbedingten Aufrechterhaltung des kapitalistischen
Gesellschaftssystems waren sich die Verhandlungspartner einig. aufrechterhalten haben. Es wäre verhängnisvoll für uns, wenn jetzt irgendwelche inneren Widersprüche zutage träten oder wenn unser Land jetzt in Anarchie verfiele. Alle unsere politischen Forderungen kämen und werden nur verwirklicht werden, wenn sich unser Volk würdig verhält..." (zit. nach: Gajan, Die tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen, in: Probleme der Ökonomie und Politik, S. 220). 33 In einem Memorandum v. 16.12.1918 an den Präsidenten und den Kriegsminister Frankreichs wies Benes darauf hin, daß in Sachsen und Bayern, in Berlin, Wien und Budapest der Bolschewismus weiter um sich greife. "Unter solchen Umständen", so fuhr BeneS fort, "entschloß sich die Regierung der Republik, Uberaus energisch eine Nationalarmee aufzustellen, . . . eine mächtige Barriere gegen die bolschewistische Bewegung zu errichten und im gesamten Gebiet der Tschechoslowakei absolute Ordnung herzustellen" (zit. nach: Ebenda, S. 229). 34 In dem Memorandum, das Beneä am 20.12.1918 an die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und der USA richtete, wurde auf die Opfer verwiesen, die das tschechoslowakische Volk flir die Sache der Alliierten gebracht habe. "Auch heute", hieß es dann, "da der Kampf im Westen beendet ist, vergießen unsere Menschen weiterhin in den fernen sibirischen Ebenen ihr Blut für die gemeinsamen Interessen" (zit. nach: Ebenda, S. 230). 35 Zit. nach: Ebenda, S. 204.
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Gerhard Fuchs Indes scheiterte an der Weigerung des in Prag verhandelnden "Landeshauptmanns" von
"Deutschböhmen", Lodgman von Auen, und seines sozialdemokratischen Stellvertreters, Josef Seliger, den einheitlichen tschechoslowakischen Staso in seinen, was die böhmischen Länder anbelangte, historischen Grenzen anzuerkennen, das weitergehende tschechische 36 Kompromißangebot.
Da die tschechische Bourgeoisie noch Uber wenig Machtmittel ver-
fügte und außerdem bereits in der Slowakei zur Behauptung ihrer Gebietsansprüche gegenüber Ungarn militärisch engagiert war, wollte sie nach Möglichkeit eine bewaffnete Auseinandersetzung vermeiden. Wenn sich die Prager Regierung nach der Weigerung der deutschen Provinzregierungen, auf den angebotenen Kompromiß einzugehen, trotzdem zur militärischen Besetzung der Grenzgebiete entschloß, so wohl nicht zuletzt deshalb, weil genügend Anzeichen für die innere Labilität der Separatistenregime vorlagen. In den Grenzgebieten, die von Kriegsverlusten, Wirtschaftsnot und Hunger besonders heimgesucht waren, kam es Anfang November 1918 mehrfach zu Hungerunruhen, wobei Lebensmittellager von der erregten Menge geplündert und Anschläge auf Läden und Wohnsitze von Wucherern und Schwarzhändlern verübt wurden. Wenn diese Aktionen auch völlig spontanen Charakter trugen und sich nicht gegen das kapitalistische System als Ganzes richteten, so sah die örtliche deutsche Bourgeoisie in ihnen doch eine Gefahr. Da sich die Bürgergarden wie auch die von den "Provinzregierungen" aufgestellten "Volkswehren" als unzureichend oder sogar als unzuverlässig erwiesen, baten die Selbstverwaltungsorgane mehrere deutscher Städte, darunter Asch, Reichenberg, Aussig, Leitmeritz, T r o p p a u u . a . , um militärischen Schutz bei der von der deutschen Propaganda so geschmähten tschechoslowakischen Regierung In Prag. 37 Die Hilfe wurde gewährt. Die gemeinsamen Klasseninteressen der tschechischen und deutschen Bourgeoisie in den böhmischen Ländern gegenüber den aufbegehrenden Ausgebeuteten und der Gefahr des Übergreifens der deutschen Novemberrevolution erwiesen sich - nicht zum erstenmal in der Geschichte - stärker als die im Kern auf dem kapitalistischen Konkurrenzkampf beruhenden nationalen Gegensätze.
38
Die von nationalistischen Abgeordneten gebildeten und auf Großdeutschland vereidigten Separatistenregierungen hatten keineswegs die gesamte deutschböhmische Bourgeoisie hinter sich, wie es, nach der damaligen deutschen Presse zu urteilen, äußerlich den Anschein haben mochte. Wurde die Massenbasis der großdeutschen Tendenzen vor allem durch 36 37
Ebenda.S. 216 f f . : Brägel, S. 61 ff. Gajan, Die tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen, in: Probleme der Ökonomie und Politik, S. 205 f . ; Brügel, S. 57 ff.; Smeral', S. 325 f . : Vznik samostatngho Ceskoslovenska, S. 20, 32, 153. 38 Molisch. Paul, Vom Kampf der Tschechen um ihren Staat, Wien-Leipzig 1929, S. 160.
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die kleinbürgerlichen Schichten gebildet, so stand die Industriebourgeoisie dem "Anschluß" damals sehr skeptisch oder direkt ablehnend gegenüber. Sie fürchtete vor allem die Konkurrenz der technisch und auch sonst überlegenen reichsdeutschen Industrie. Nach dem 9. November 1918 verlor das von der Revolution erschütterte Deutsche Reich noch mehr an Anziehungskraft, zumal da sich in der Tschechoslowakei das kapitalistische System zunächst als relativ stabil erwies. Außerdem gehörte die CSR zu den Siegerstaaten, während Deutschland aus der Friedensregelung schwere finanzielle und wirtschaftliche Belastungen zu erwarten hatte. So zogen es die entscheidenden Kreise der sudetendeutschen Bourgeoisie vor, im Staate des tschechischen "Erbfeindes", der ihnen fürs erste ihr Kapitalistendasein und ein bestimmtes Maß an Profit sicherte, zu verbleiben. Folglich gaben sie den Separatistenregierungen wenig oder gar keine Unterstützung, sondern entsandten vielmehr, abgeschirmt vor der Öffentlichkeit, Deputationen zum tschechoslowakischen Handelsminister, 39 v um ihn ihrer Loyalität gegenüber der CSR zu versichern. Am 27. November begannen tschechoslowakische Truppeneinheiten mit der Besetzung des nordböhmischen Braunkohlengebietes. Am 16. Dezember fiel Reichenberg, der Sitz der Regierung von "Deutschböhmen", die mit Lodgman an der Spitze über Zittau nach Wien floh, kampflos. Bis Ende Dezember war das gesamte Grenzgebiet faktisch in der Hand der Prager Regierung. Die tschechischen Kompanien und Bataillone in einer Gesamtstärke von knapp drei Regimentern - größere Einheiten der eben erst im Entstehen begriffenen tschechoslowakischen Heimatarmee waren kaum verfügbar - überwanden mühelos den nur vereinzelt auftretenden schwachen Widerstand der sogenannten deutschen Volkswehren; denn nach vier Jahren Schützengrabendasein waren die kriegsmüden deutschen Soldaten - einige Eiferer und Landknechtsnaturen ausgenommen - froh, daß das aussichtslose separatistische Abenteuer ein Ende fand und sie zu ihren Familien zurückkehren konnten. Mit dieser erfolgreichen militärischen Aktion, die mit dem alliierten Oberbefehlshaber Marschall Foch abgestimmt war, hatte die tschechoslowakische Regierung ihrerseits ein entscheidendes Fait accompli für die Grenzfestlegungen der bevorstehenden Friedensverhandlungen geschaffen. Die Niederlage der Separatisten war auch dadurch nicht zu verhindern, daß vor allem die österreichische Regierung, zum Teil auch reichsdeutsche örtliche Be-
39 Vgl. Smeral'. S. 326 f . ; Zern an. S. 244; Gajan, Die tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen, in: Probleme der Ökonomie und Politik, S. 224, 227; Brügel. S. 54 f . , 73 ff.; Deutschland und die Tschechoslowakei. Dok. Nr. 2, S. 46; Nemecky Imperialismus proti CSR (1918-1939). Prag 1962, Dok. Nr. 33, S. 105; Vznik samostatného ¿eskoslovenska, S. 186; Pozärsky. Josef. Nemeckä delnickä trfda na Liberecku pH vzniku Öeskoslovenska, in: Severni Öechy a Mnichov, Usti nad Labem 1969, S. 42 f.
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hörden, Uber Bayern, Sachsen und Schlesien Waffen, Munition und Geldmittel fUr die Volks40 wehren einschleusten.
Zu einer massiven Hilfeleistung war der deutsche Imperialismus
aus militärischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage. Er mußte - von papierenen Protesten abgesehen - die Niederlage derer, die in der Tschechoslowakei fUr ihn arbeiteten, hinnehmen. Nach Abschluß des Waffenstillstandes sahen sich die verantwortlichen polltischen Vertreter des Deutschen Reiches in ihren offiziellen Verlautbarungen und Handlungen gegenüber der Tschechoslowakei zu starker Zurückhaltung und sogar zu einzelnen wohlwollenden Gesten veranlaßt. Es ging dem deutschen Imperialismus darum, auf der bevorstehenden F r i e denskonferenz erträgliche Bedingungen auszuhandeln; daher wäre es politisch höchst unklug gewesen, durch eine offen feindselige Haltung gegenüber der Tschechoslowakei namentlich Frankreich zu verärgern. Die revolutionäre Erhebung der deutschen Werktätigen, die am 9. November 1918 auch die Reichshauptstadt erfaßte und zum Sturz der Hohenzollernmonarchie ftihrte, engte den außenpolitischen Spielraum des deutschen Imperialismus noch mehr ein. In jener Entwicklungsphase mußte die deutsche Monopolbourgeoisie alle Kraft darauf konzentrieren, sich mit Hilfe der Verräter aus den Reihen der Sozialdemokratie, der Ebert, Scheidemann, Noske und Co., des revolutionären Ansturms gegen das fluchbeladene kapitalistische Gesellschaftssystem zu erwehren. In engem Zusammenhang hiermit stehen die Versuche der geschlagenen deutschen Imperialisten, sich durch haßerfüllten Antikommunismus und Antisowjetismus als Klassenverbündete bei den Ententeimperialisten anzubiedern, nicht zuletzt mit dem Hintergedanken, das eigene Fell durch den bevorstehenden Friedensvertrag nicht allzukurz geschoren zu bekommen. Daraus erklärte sich die Haltung Erzbergers im Walde von Compidgne, auf dessen Intervention in den Waffenstillstandsvertrag die Klausel aufgenommen wurde, daß die im Osten tief in Sowjetrußland stehenden deutschen Truppen im Gegensatz zu denen
40
Deutschland und die Tschechoslowakei, Dok. Nr. 3, S. 48 f . ; § m e r a l ' . S. 324, 329; Strauss, S. 299 f . ; Gajan.Die tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen, in: Probleme der Ökonomie und Politik, S. 223; Kogan. in: Journal of Central European Affairs, Bd 20, 1960, Nr. 1, S. 47. - Am 22. November protestierte die tschechoslowakische Regierimg bei den Alliierten gegen illegale Waffentransporte aus Österrreich und Deutschland für die Separatisten. Die in die mährische Station Hannsdorf (Hanusovice) einrückenden Regierungstruppen z . B . fingen dort einen Waggon mit 800 Gewehren und 120 000 Schuß Munition ab und stellten Quittungen über einen bereits ausgelieferten Transport von 800 Gewehren und 600 000 Schuß Munition sicher.
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41 an der Westfront bis auf weiteres in ihren Positionen verbleiben sollten.
Die Spekulation,
sich auf diesem Wege Zugeständnisse der Siegermächte einzuhandeln, bildete auch einen wesentlichen Hintergrund der antisowjetischen Baltikumaktionen, die der deutsche Generalstab mit sogenannten Freikorpsformationen bis tief in42die zweite Hälfte des Jahres 1919 hinein weit außerhalb der Reichsgrenzen inszenierte. Die objektiv gegebenen gemeinsamen Klasseninteressen, die Besiegte und Sieger im Kampf gegen die Sowjetmacht und die sozialistische Revolution vereinten, waren auch ein nicht unwesentliches Motiv der partiellen sowie zeitweiligen Verständigung zwischen dem deutschen Imperialismus und der tschechischen Bourgeoisie. Das änderte jedoch nichts daran, daß der deutsche Imperialismus dem neuentstandenen Staate im Prinzip feindlich gegenüberstand. Die Umstände waren es, die die herrschenden Kreise Deutschlands in jener Entwicklungsetappe zwangen, zumindest im offiziellen Bereich aus taktischen Erwägungen heraus zur Tschechoslowakei ein erträgliches Verhältnis zu schaffen. Vorreiter dieser Taktik waren die beiden kaiserlichen Generalkonsuln in Prag und Brünn, die, den nationalen und demokratischen Umwälzungen in Böhmen und Mähren am nächsten, als erste für gute offizielle Beziehungen zur neuentstandenen Tschechoslowakei eintraten. Am 29. Oktober 1918 erschien Freiherr v. Gebsattel, seit 1913 deutscher Generalkonsul in Prag, als e r s t e r ausländischer Diplomat aus Anlaß der Proklamation des selbständigen tschechoslowakischen Staates beim Nationalausschuß in Prag. E r konstatierte befriedigt, daß die persönliche Sicherheit der 40 000 in Böhmen lebenden reichsdeutschen Staatsbürger gewährleistet wäre, und äußerte den Wunsch nach freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und dem Deutschen Reich. In ähnlicher Weise trat der deutsche Generalkonsul in Brünn, Dr. Wever, beim dortigen Nationalausschuß auf. Auch ihm ging es besonders darum, die Versicherung zu erhalten, daß die in Mähren lebenden Angehörigen des Deutschen Reiches unter dem Schutz des tschechoslowakischen Staates stünden. Am 2. November begab sich Gebsattel erneut zum Prager Nationalausschuß, um - wie e r nach Berlin schrieb - "auf eigene Faust" zu erklären, daß die Regierung des Deutschen Reiches den tschechoslowakischen Staat anerkenne und zur Zulassung eines diplomatischen Vertreters in Berlin bereit sei. Gebsattel antwortete damit auf die Anfrage des Nationalausschusses, ob e r eine Weisung Uber die diplomatische Anerkennung aus Berlin erhalten habe. Staatssekretär Solf stimmte dem Vorgehen Gebsattels im Prinzip zu,
41 Militarismus gegen Sowjetmacht. S. 125. 42 Ebenda, S. 145 ff.
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betonte aber ausdrücklich, daß damit die historischen Grenzen der böhmischen Länder keineswegs anerkannt seien. ^ Nun war Gebsattel keineswegs Uber Nacht vom chauvinistischen Saulus zum demokratischen Paulus geworden. In Übereinstimmung mit dem Konzept des Auswärtigen Amtes hatte e r seit 1913 die antitschechische Politik der deutschböhmischen Nationalisten unterstützt, weshalb e r es anläßlich des 28. Oktober 1918 für ratsam hielt, das Konsulatsarchiv zu verbrennen. Zur Begründung dieses Schrittes schrieb e r am 1. November nach Berlin: "Das Bekanntwerden dieser Akten würde unser Verhältnis zum neuen Staate auf das schwerste kompromittiert und die Anknüpfung guter Beziehungen zu den Tschechen auf lange Zeit 44 hinaus unmöglich gemacht haben." Gegen Interpretationen von Publizisten, denen zufolge e r in jenen Tagen die Prager Regierung beglückwünscht und deren Gebietsansprüche anerkannt hätte, hat sich Gebsattel später ausdrücklich gewandt. Er betonte, weder geäußert zu haben, daß das Deutsche Reich keine Spanne Bodens von Deutschböhmen wollte, noch irgend etwas bemerkt zu haben, was eine Stellungnahme gegen 45 die separatistischen Bestrebungen der deutschböhmischen Nationalisten bedeutet hätte. Was Gebsattel dazu getrieben hatte, die Exponenten der tschechischen Bourgeoisie mit solcher Eile der loyalen oder sogar freundschaftlichen Haltung der deutschen Reichsregierung zu versichern, war demnach keineswegs prinzipieller politischer Sinneswandel. Vielmehr hatte ihn zu solchem Handeln offensichtlich die Sorge bewogen, die neue tschechoslowakische Staatsmacht könne andernfalls militärisch gegen das bereits geschlagene Deutschland vorgehen oder zumindest die reichsdeutschen Staatsbürger ausweisen und deren Eigentum beschlagnahmen. Eine - wie sich erweisen sollte - völlig unbegründete Befürchtung; denn die nach mehreren Seiten um die Sicherung ihrer Gebietsansprüche ringende tschechische Bourgeoisie, die bemüht war, ihr Regime polit'isch zu stabilisieren, war ihrerseits daran interessiert, einen Konflikt mit dem Deutschen Reich zu vermeiden. So konnte Geb43
Galan. Die tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen, in: Probleme der Ökonomie und Politik, S. 202 f . ; Brügel. S. 198 f . : Im Hinblick auf den Anschluß Deutschösterreichs kommentierte Wilhelm Solf, Staatssekretär des Äußern, v. Gebsattels Schritt in einem an diesen gerichteten Telegramm vom 7. November so, daß eine eventuelle ausdrückliche Anerkennung der CSR "der territorialen Frage nicht präjudizieren" würde. Und weiter schrieb Solf: "Bezüglich Anerkennung tschechoslowakischen Staates wird Schritt Euer Wohlgeboren vom 2.d. hier so ausgelegt, daß Euer Wohlgeboren erklärt haben, Deutsche Regierung sei bereit, tschechoslowakischen Staat anzuerkennen, falls dieser beglaubigten diplomatischen Vertreter nach Berlin entsendet und damit de facto diplomatische Beziehungen mit uns aufnimmt." 44 Zit. nach: Ebenda, S. 56. 45 Molisch, Die sudentendeutsche Freiheitsbewegung, S. 30 f . : Diese "Versicherungen" gab v. Gebsattel Molisch - offensichtlich um die Wende von den zwanziger zu den dreißiger Jahren - in einer persönlichen Mitteilung.
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sattel mit Recht nach Berlin berichten: "Ich bin Uberzeugt, daß die Tschechen an offene Feindseligkeit gegen uns nicht denken, und stehe ferner unter dem Eindruck, daß sie ge46 sinnt sind, gute Beziehungen zu uns anzuknüpfen." Nach dem Konzept Gebsattels war es nur logisch, daß e r der Reichsregierung entschieden davon abriet, den deutschböhmischen Nationalisten bei ihren separatistischen Umtrieben offen Hilfe zu erweisen. "In dieser Beziehung", schrieb e r am 30. Oktober an das Auswärtige Amt; "darf ich erwähnen, daß wir sie (die Tschechen - G . F . ) an ihrer empfindlichsten Stelle treffen würden, wenn wir die Bestrebungen der Deutschböhmen, sich an 47 Deutschland anzuschließen, begrüßen würden." Am 4. November informierte Gebsattel seine Berliner Vorgesetzten darüber, daß die Vertreter des Nationalausschusses in den mit ihm mehrfach geführten Gesprächen unabdingbar an der Zugehörigkeit Böhmens als einheitliches Ganzes zum tschechoslowakischen Staat festgehalten hatten. Und unter Bezugnahme auf die Hilferufe deutschböhmischer Stadtverwaltungen zur Unterdrückung von Hungerunruhen schrieb e r dann: "Es würde sie (die Tschechen - G. F.) daher aufs äußerste r e i z e n . . . , wenn wir Truppen oder auch nur Polizei- oder Gendarmerieabteilungen nach Deutschböhmen entsenden würden. Die anscheinend uns günstige Stimmung würde alsbald ins Gegenteil umschlagen. In unserem eigenen Interesse scheint es mir also geboten, derartigen Hilferufen 48 nicht zu entsprechen und die Ansuchenden an den Närodni Vybor zu verweisen..." Auch Botschafter Wedel in Wien empfahl seiner Regierung, zur Auseinandersetzung zwischen den deutschböhmischen Separatisten und Prag eine abwartende Haltung einzunehmen, um Bürgerkrieg sowie Konflikte zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakei zu vermeiden. "Aus diesem Grunde", s c h r i e b e r a m 16. November, "bin ich deutschösterrei49 chischen Winken nach deutscher Waffenhilfe in Deutschböhmen stets ausgewichen." Neben der zunehmenden militärischen Schwäche, den sich auftürmenden Ernährungsschwierigkeiten und der drohenden Revolution haben diese Stimmen zweifellos dazu beigetragen, daß Reichsregierung und OHL den deutschböhmischen Separatisten Ende Oktober/ Anfang November keine wirksame militärische Hilfe leisteten. Nach dem Ausbruch der Novemberrevolution und dem Abschluß des Waffenstillstandes konnten bei einigermaßen realistischer Lagebetrachtung hierfür faktisch gar keine Möglichkeiten mehr gesehen werden. Es mehrten sich die Stimmen, die mit Rücksicht auf die bevorstehenden Friedensverhandlungen jeden Konflikt mit der Tschechoslowakei vermeiden wollten. In vorausschau46
Zit. nach: S. 11. 47 Zit. nach: 48 Zit. nach: 49 Zit. nach:
Brägel. S. 198; vgl. auch Gaian. Deutschland und die Entstehung der CSR, Brügel, S. 57. Ebenda, S. 58. Ebenda, S. 64 f.
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ender Weise hatte der sSchsische Gesandte tn Wien bereits in seinem Bericht vom 11. Oktober gewarnt: "Mit dem 'Einmarschieren' sind die Herren Militärs immer leicht bei der Hand. Es ist meines Erachtens sehr zu wünschen, daß es dazu nicht kommt, denn es wäre damit eine doppelte Gefahr einer Störung der Friedensverhandlungen und einer dauernden 50 Vergiftung unseres künftigen Verhältnisses zum tschechischen Nachbarstaat verbunden." Auf dieser Linie entwickelten am 3. November im Kriegskabinett namentlich Erzberger und Solf Gedanken zur Taktik, die gegenüber dem soeben proklamierten tschechoslowakischen Staat einzuschlagen wäre. Laut Protokoll äußerte "Erzberger: Wir dürfen nicht in Österreich und Böhmen alles laufen lassen, damit nicht der Bolschewismus absolut Herr der Lage wird. Das Auswärtige Amt muß bald Maßnahmen treffen fUr die Regelung der politischen und wirtschaftlichen Fragen zwischen uns und den neugegrlindeten Staaten. Diese sind vom Kaiser als selbständig anerkannt worden, wir können daher direkt mit ihnen in Verbindung treten... Wir müßten uns so bald wie möglich in Prag festsetzen und Delegierte dorthin senden. Solf: Was Böhmen betreffe, so werde sich dieser Staat am schnellsten konsolidieren, deshalb habe e r den Deutschen (in den böhmischen Ländern - G . F . ) den Rat gegeben, vorläufig in den sauren Apfel zu beißen, und die O . H . L . habe e r gebeten, keine kriegerischen Handlungen gegen Böhmen vorzunehmen, sondern nur erweiterten Grenzschutz als Hilfsaktion für die Deutschen. Erzberger: Es bestehe Gefahr, daß durch Verbrüderung der Polen und Tschechen Oberschlesien uns verlorengehe, deshalb sei Böhmen für uns ganz besonders wichtig; daher müßten wir zunächst die Tschechen gewinnen, damit sie nichts gegen uns tun.
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Scheidemann ist auch für sofortige Entsendung von Vertretern nach Böhmen..." Auf die Erhaltung des durch die militärisch siegreichen imperialistischen Konkurrenten gefährdeten territorialen Besitzstandes der deutschen herrschenden Klassen bedacht, suchten deren politische Repräsentanten die tschechische Bourgeoisie für ein faktisches Stillhalteabkommen zu gewinnen. Deshalb "keine kriegerischen Handlungen gegen Böhmen", die angesichts der eigenen militärischen Schwäche ohnehin ein höchst abenteuerliches Unterfangen gewesen wären, und der Rat an die deutschböhmischen Separatisten, "vorläufig in den sauren Apfel zu beißen" und auf direkte militärische Unterstützung aus dem Reich zu verzichten. Höchst bemerkenswert ist die Einschränkung "vorläufig", was nur heißen kann, daß bei einer Veränderung der Situation zugunsten des deutschen Imperialismus auch 50 Zit. nach: Ebenda, S. 53. 51 Matthias/Morsey. Dok. Nr. 121, S. 481 f . ; vgl. ähnliche Äußerungen v. Haeftens, v. Payers, Solfs und Erzbergers in der Kabinettssitzung vom 4. November (ebenda, Dok. Nr. 122, S. 489, 493).
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diese Form der Hilfe gewährt werden könne. Auch solle keineswegs völlig auf die Unterstützung der deutschböhmischen Nationalisten verzichtet werden; denn wenn auch keine militärische Intervention, so doch "erweiterten Grenzschutz als Hilfsaktion für die Deutschen", sagte Solf. Welch vielfältige Formen der Illegalen Kooperation und Hilfestellung bis hin zu ausgedehnter Spionage und politischer Subversion hierunter offensichtlich verstanden wurden, wird noch gezeigt werden. Während die imperialistischen Herrschaftskreise Deutschlands prinzipiell an ihrer feindlichen Einstellung zum selbständigen Staat der Tschechen und Slowaken festhielten, sollte die gewählte Taktik der tschechischen Bourgeoisie und ihrer Armee in der gegebenen Situation kein Motiv für ein Vorgehen gegen Deutschland liefern. Auf bestimmten Gebieten wurde vielmehr sogar eine Zusammenarbeit angestrebt. Die objektiv gegebene Interessengleichheit der tschechischen wie der reichsdeutschen Bourgeoisie auf Teilgebieten der Wirtschaft und Politik, z . B . im Kampf gegen die "bolschewistische Gefahr", kam dieser taktischen Konzeption entgegen. Dementsprechend stießen die seit Ende Oktober 1918 mehrfach in Berlin und Dresden persönlich und schriftlich mit der Bitte um Waffenhilfe vorstellig werdenden Vertreter der separatistischen "Aktion Deutschböhmen" auf große Zurückhaltung und wurden bezüglich 52 einer direkten militärischen Intervention abschlägig beschieden. Am 17. Mai 1919 erhielten wiederum nach Berlin gekommene sudetendeutsche Emissäre im Auftrag des in Paris weilenden deutschen Außenministers Brockdorff-Rantzau die ausdrückliche Weisung,53 "daß jetzt nichts geschehen möge, was dem Reich die Verhandlungen erschweren könnte" Auf erneute Vorstöße von Mitgliedern der nach Wien geflohenen Regierung von "Deutschböhmen" reagierte das Auswärtige Amt am 9. Juni mit einem Runderlaß, in dem unter Hinweis auf die schwierige internationale Position des Deutschen Reiches angewiesen wurde, alles zu vermeiden, "was als Parteinahme in dem Konflikt zwischen Deutschböhmen und 54 Tschechen gedeutet werden könnte" . Abgesehen von allgemeinen außenpolitischen Erwägungen im Hinblick auf den bevorstehenden Friedensschluß, ließ es nicht zuletzt die äußerst prekäre wirtschaftliche Lage Deutschlands ratsam erscheinen, mit dem in seinen sogenannten historischen Ländern - also 52
Bei einzelnen Regierungsvertretern gab es natürlich auch noch andere Motive für diese ablehnende Haltung. So berichtet Paul Molisch, einer jener Historiker, die die separatistische Aktion rechtfertigen, der damalige sozialdemokratische Innenminister der sächsischen Regierung, Richard Lipinski, habe der "deutschböhmischen Frage völlig verständnislos" gegenübergestanden und Lodgman nach der Flucht der "deutschböhmischen Landesregierung" aus Reichenberg beschworen, "die Bewegung aufzugeben, da durch sie die deutsche Revolution vor dem Ausland als annexionistisch kompromittiert werden müßte" (Molisch. Die sudentendeutsche Freiheitsbewegung, S. 98). 53 Ebenda, S. 166 f. 54 Zit. nach: Brügel. S. 81.
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Böhmen, Mähren und Schlesien - ökonomisch relativ hochentwickelten tschechoslowakischen Staat zumindest für die nächste Zukunft gute Beziehungen zu pflegen. Dies um so mehr, als bereits seit Jahrzehnten,zum Teil seit Jahrhunderten, zwischen Böhmen und Deutschland ein reger Wirtschaftsverkehr herrschte. Deutschland gehörte zu den Haupthandelspartnern der böhmischen Länder. Eine Unterbrechung oder länger andauernde Störungen, wie sie aus dem seit der Auflösung des Habsburgerstaates gegebenen vertragslosen Zustand erwachsen konnten, widersprachen auch den Interessen der tschechischen Bourgeoisie. Sie wollte Spezialmaschinen, Erzeugnisse der chemischen und elektrotechnischen Industrie beziehen. Den reichsdeutschen Wirtschaftspartnern, und hier insbesondere den Industriekreisen Sachsens und Bayerns, ging es vordringlich um die Wiederaufnahme der Braunkohlen- und Kaolinlieferungen aus Böhmen, aber auch um Holz, Zucker, Malz und Gebrauchsgiiter. Auf Initiative der Regierung Bayerns kam am 22. November 1918 in Prag eine Handelsvereinbarung zwischen diesem Freistaat und der CSR zustande. Am 7. Dezember wurde im Ergebnis von Verhandlungen, die seit Mitte November über das deutsche Generalkonsulat liefen, in Berlin ein provisorisches Handelsabkommen zwischen der CSR und Deutschland 55 abgeschlossen.
Seitens der Entente, namentlich Frankreichs, stießen diese Vereinbarun-
gen auf Kritik, bedeuteten sie doch in gewisser Weise eine wirtschaftliche Erleichterung für Deutschland, das man weiterhin der Blockade aussetzte. Auch der erstrebten engen Bindung des jungen tschechoslowakischen Staates an die Politik des französischen Imperialismus konnten solche Aktionen möglicherweise zuwiderlaufen. Bestimmte Kreise der tschechischen herrschenden Klassen wiederum befürchteten, daß sie die Unterstützung Frankreichs für56 ihre territorialen Ansprüche verlieren könnten, und erhoben deshalb kritisehe Einwände. So machten die Handelsvereinbarungen die Kompliziertheit der BeziehunV
gen sowohl zwischen Siegerstaaten, zu denen auch die CSR zählte, und Besiegten wie innerhalb der Siegermächte deutlich: Partielle Interessenkoinzidenz und imperialistische Widersprüche waren eng verquickt. Ein weiterer sehr wesentlicher, bereits 1918 und Anfang 1919 auf beiden Seiten wirkender Faktor war die gemeinsame Furcht der reichsdeutschen und der tschechischen Bourgeoisie vor der "bolschewistischen Gefahr". Sie trug einerseits ganz entscheidend dazu bei, daß sich die deutschen Imperialisten keine annexionistischen Abenteuer gegenüber der jungen Tschechoslowakei erlauben konnten, und war andererseits dafür mitbestimmend,
55 56
Gaian, Koloman, Nömecky Imperialismus a ceskoslovensko-n&meckö vztahy v letech 1918-1921, Prag 1962, S. 127 f f . ; Cösar/Cerny, Politika nemeckych burzoaznich stran, T . 1, S. 97, Anm. 134. Ebenda, S. 168, Anm. 31, S. 181, Anm. 72: Gaian, Nemecky Imperialismus, S. 130.
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daß die tschechoslowakische Regierung, die sich, völkerrechtlich gesehen, mit Deutschland im Kriegszustand befand, an der Zuspitzung der Beziehungen zu diesem Nachbarn nicht interessiert war. Vielmehr lag beiden Seiten eher an einer Kooperation zur Unterdrückung des Kampfes der revolutionären Arbeiterklasse gegen das imperialistische Ausbeutungs system. Am 16. November 1918 hatte Karel Kramär als erster Ministerpräsident der Tschechoslowakei eine Unterredung mit dem deutschen Vizekonsul Schwarz, die einmal die wirtschaftlichen Beziehungen und zum anderen eine gemeinsame Haltung gegen die revolutionäre Bewegung betraf. Voller Befriedigung schrieb Schwarz in seinem Bericht nach Berlin: "Der Kampf gegen den Bolschewismus", so habe sich Kramär geäußert, "sei eine Frage, die Deutschland und die Tschechoslowakische Republik gemeinsam berühre. Es könne Deutschland keineswegs erwünscht sein, wenn die bolschewistische Bewegung etwa nach Böhmen 57 übergreife."
In welchem Maße sich die tschechische Bourgeoisie dessen bewußt war,
daß vom Ausgang der Klassenkämpfe in Deutschland auch ihr eigenes Schicksal abhing, zeigte sich drei Monate später in Äußerungen des mährischen Landespräsidenten, Jan Cerny, gegenüber dem deutschen Konsul in Brünn, Wever. Cerny hatte bereits als hoher k. u. k. Bürokrat für "Ruhe und Ordnung" gesorgt; und später sollte er sich mehrfach als Premier von Beamtenregierungen bei der Niederschlagung revolutionärer Aktionen des tschechoslowakischen Proletariats "rühmlich" hervortun. "Der Leiter der Statthalterei, Hofrat Czerny", so berichtete Wever am 30. Januar 1919, noch die k. u. k. Bezeichnungen für Behörde und Titel seines Gesprächspartners verwendend, "empfing mich bei meiner Rückkehr von Berlin mit der Frage: Werden Sie der Bolschewiki in Deutschland Herr werden? Auf meine Antwort, daß ich hiervon innerlich überzeugt von Berlin abgereist sei, sagte e r sofort sichtlich erleichtert: Dann können wir uns hier ihrer auch erwehren. Wenn Sie in Preußen aber nicht fest durchgreifen, sind wir hier auch verloren." Entsprechend der taktischen Richtlinie, mit dem Schreckgespenst des Bolschewismus von der Entente Zugeständnisse zu erreichen, betonte Wever sofort, daß Cernys Wunsch nur dann in Erfüllung gehen könne, wenn die Friedensbedingungen der deutschen Regierung "weiteren Halt im Volke gäben". Sollten sie jedoch in der Richtung der Waffenstillstandsbedingungen liegen, "könnte leicht ein neuer Umsturz erfolgen. Für den Bestand der Regierung wäre ein gütiger
57
Zit. nach: Ebenda, S. 128, Anm. 3. - Bereits am 15.11.1918 hatte Kramär in einem Bericht an Benes geschrieben: "Vorläufig ist bei uns Ruhe, obwohl der Tag, an dem in Deutschland Throne gestürzt wurden, eine schwere Prüfung war" (Galan, Die tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen, in: Probleme der Ökonomie und Politik, S. 209).
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Frieden unbedingte Voraussetzung."
So suchten die Vertreter des deutschen Imperialis-
mus aus der teilweisen Interessenidentität mit dem Konkurrenten machtpolitische Vorteile für sich herauszuschlagen. Diese ersten Verständigungsgespräche waren der Beginn einer Entwicklung, die zur offiziellen Vereinbarung des tschechoslowakischen Innenministeriums mit dem Staatskommissariat für die Überwachung der öffentlichen Ordnung in Berlin vom Januar 1920 Uber die gemeinsame Bekämpfung'des "Bolschewismus" führte. Den Hintergrund dieser Tendenzen zur Zusammenarbeit bildete die sich vor allem im Frühjahr und Sommer des Jahres 1919 zeigende erneute Verschärfung des Klassenkampfes in Europa. Sie war gekennzeichnet durch den Interventionsfeldzug gegen die junge Sowjetmacht in Rußland, durch die Januarkämpfe in Berlin, die bayrische Bäterepublik, die ungarische und die slowakische Räterepublik sowie die blutigen Auseinandersetzungen der österreichischen Arbeiter mit der Reaktion im April. Nicht zuletzt trug die Gründung der Dritten, der Kommunistischen Internationale im März 1919 in Moskau entscheidend zur weiteren Formierung und Aktivierung der revolutionären Kräfte bei. All diese revolutionären Faktoren wirkten auf die "Friedensmacher" in Paris wie auf die Verlierer des imperialistischen Krieges und engten schon damals, als die moderne weltgeschichtliche Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus soeben erst durch die siegreiche Große Sozialistische Oktoberrevolution eingeläutet war, den politischen Spielraum der imperialistischen Reaktion in nicht unerheblichem Maße ein. Die soeben beleuchteten gemeinsamen Klasseninteressen des deutschen Imperialismus und der tschechischen Bourgeoisie im Kampf gegen die revolutionäre Bewegung eliminierten jedoch nicht ihre Konkurrenzgegensätze im Streit um die Neugestaltung der Machtsphären in Mitteleuropa; sie beeinflußten lediglich die Formen, in denen dieser Kampf ausgetragen wurde. Die herrschenden Kreise Deutschlands gaben den Anspruch auf die Hegemonie zumindest Uber Mitteleuropa, des weiteren dann auf nachhaltigen Einfluß in Ost- und Südosteuropa keineswegs auf. Sie hielten ihn im Prinzip aufrecht, veränderten allerdings entsprechend der gegebenen Situation die taktischen Mittel und strategischen Zielsetzungen. Vor allem verbarg man diesen Anspruch hinter der Phrase vom Selbstbestimmungsrecht aller deutschsprachigen Bevölkerungsteile Europas, zu deren Anwalt sich die Sprecher der deutschen Regierung - von niemandem hierzu legitimiert - machten. Deutschösterreich unter Einschluß der Randgebiete Böhmens und Mährens war hierbei das wichtigste Zielobjekt.
58
Zit. nach: Derselbe. NfemeckyImperialismus, Fotokopie Nr. 1 nach S. 256.
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In den ersten Tagen nach dem 9. November 1918, als die Macht des deutschen Imperialismus stark ins Wanken geraten war, sahen sich die imperialistischen Führungskreise bei der Verfolgung ihrer annexionistischen Ambitionen zu äußerster Vorsicht veranlaßt. Es konnten zunächst nur unter der Hand Entscheidungen für spätere Zeit, wenn man die Revolution niedergeschlagen haben würde, angebahnt werden. Sie wurden darin vom "Bat der Volksbeauftragten" und von den hinter ihm stehenden Kreisen der SPD und USPD, die auch in außenpolitischer Hinsicht auf Kontinuität bedacht waren, voll unterstützt. Solf charakterisierte am 30. November intern die taktische Orientierung für diese Phase so: "Wenn wir auch, um die Friedensverhandlungen nicht zu beeinträchtigen, nach außen hin die Vereinigung Deutsch-Österreichs mit dem Reich möglichst unauffällig betreiben müssen, so muß doch um so stärker unter der Hand gearbeitet werden, um den Beitritt Deutsch-Österreichs, der für die ganze Lage des Deutschtums im Osten mitentscheidend sein wird, zu fördern 59 und sicherzustellen."
Schrittweise und zögernd zunächst erfolgten seit der zweiten No-
vemberhälfte vor allem auf juristischem Gebiet Vorbereitungen für den nach Friedensschluß vorgesehenen "Anschluß". Intensiver wurde auf den Anschluß hingearbeitet, als nach der blutigen Niederschlagung der revolutionären Arbeiter Berlins im Januar, den Wahlen zur Nationalversammlung und deren Konstituierung Anfang Februar 1919 die Nieder60 läge der Arbeiterklasse besiegelt, die Novemberrevolution beendet
und erste Schritte
zu einer gewissen Konsolidierung der imperialistischen Staatsmacht getan waren. Den offiziellen Auftakt hierzu gab Friedrich Ebert am 6. Februar 1919 in seiner Eröffnungsrede vor der Weimarer Nationalversammlung, 61 an deren Wahl die in Deutschland befindlichen Deutschösterreicher teilnehmen konnten.
Im Namen der Reichsregierimg
erklärte er demagogisch: "Das deutsche Volk hat sich sein Selbstbestimmungsrecht im Innern erkämpft." - Tatsächlich jedoch bestimmten nach wie vor die Monopole und die Junker. - "Es kann es jetzt nach außen nicht preisgeben." Ebert begrüßte "voll Freude" die AnSchlußerklärungen der deutschösterreichischen Nationalversammlung und sagte dann: "Unsere Stammes- und Schicksalsgenossen dürfen versichert sein, daß wir sie im neuen Reich der deutschen Nation - mit offenen Armen und Herzen willkommen heißen . . . Ich darf auch wohl die Erwartung aussprechen, daß die Nationalversammlung die künftige Reichsregierung ermächtigt, baldigst mit der Regierung des deutsch-österreichischen 59
Zit. nach: Kölling. Mirjam. Die Annexionsbestrebungen des deutschen Imperialismus gegenüber Österreich im Frühjahr 1919, in: Jahrbuch für Geschichte (im folgenden: JbG), Bd 1, Berlin 1967, S. 181. 60 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd3, S. 195. 61 Graf Brockdorif-Rantzau. Dokumente und Gedanken um Versailles, Berlin 1925, S. 147.
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Freistaates Uber den endgültigen Zusammenschluß zu verhandeln."
62
In der Debatte zur
Begierungserklärung Scheidemanns bzw. in Entschließungen sprachen sich die Vertreter aller in der Nationalversammlung vertretenen Parteien - von den Deutschnationalen bis zur 63 USPD - für den "Anschluß" aus. D. Naumann von den Deutschdemokraten polemisierte hierbei gegen das "böhmische Staatsrecht" und rief aus: "Heute heißt es: Nationalität! Mögen die Tschechen unter sich bleiben und ihren Staat begründen; die Deutschen aber, 64 die in Böhmen sind, sollen ihren Anschluß nach der deutschen Seite herüber finden." Am 21. Februar bestätigt die Nationalversammlung in einem von allen Fraktionen unterstützten Beschluß "den deutschösterreichischen Brüdern, daß über die bisherigen staatlichen Grenzen hinweg die Deutschen des Reiches und Österreichs eine untrennbare Einheit bilden, und spricht die zuversichtliche Hoffnung aus, daß durch die von den Regierungen einzuleitenden Verhandlungen die innere Zusammengehörigkeit bald in festen65staatlichen Formen einen von allen Mächten der Welt anerkannten Ausdruck finden wird" . Als am 7. Februar den Abgeordneten eine Grußbotschaft der "Deutsch-böhmischen Landesversammlung" vorgetragen wurde, worin die sich im Wiener Exil befindlichen Absender die Hoffnung aussprachen, "daß in naher Zeit das Volk Deutsch-Österreichs, insbesondere Deutsch-Böhmens, mit seinen Brüdern im Reiche im großen, einheitlichen
66
Nationalstaate vereinigt wird", reagierten die Abgeordneten mit stürmischem Beifall. Und der Sozialdemokrat Eduard David, unmittelbar darauf zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt, ging demonstrativ auf diese "Begeisterung" ein und erklärte den 67 Anschluß zur "Herzenssache" des ganzen deutschen Volkes. Ihrem Inhalt nach gleichartige, ebenfalls noch im Februar eingehende Erklärungen aus dem "Gau Böhmerwald" und der "Provinz Sudentenland", in denen zugleich die Hoffnung auf "baldige Befreiung" vom "tschechischen Joch" zum Ausdruck gebracht wurde, hatten ähnliche Reaktionen zur Folge. 68
62
63 64 65 66 67 68
Ursachen und Folgen, Bd 3, Dok. Nr 652, S. 249 f. - Zur Gesamtproblematik dieser dann tatsächlich aufgenommenen Verhandlungen und zu den hierbei in Deutschland, Österreich und auf internationaler Ebene wirkenden Faktoren sowie zu den Motiven und Aktivitäten der deutschen Monopolbourgeoisie bezüglich der Annexion Österreichs vgl. Kölling. Die Annexionsbestrebungen, in: JbG, Bd 1, S. 185 ff. Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919, hg. von Eduard Heilfron, Berlin o. J . , Bd 1, S. 122, 179, 253; vgl. auch Kölling. Die Annexionsbestrebungen, in: JbG, Bd 1, S. 186. Die Deutsche Nationalversammlung. S. 134. Ursachen und Folgen. Bd 3, Dok. Nr. 677, S. 288. Die Deutsche Nationalversammlung. S. 15 f. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 88, 205.
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Die innenpolitische Massenbasis fiir die annexionistischen Ambitionen der herrschenden Kreise Deutschlands sollte durch eine Welle von Versammlungen und Kundgebungen 69 wie auch auf dem Wege der P r e s s e - und Flugblattpropaganda geschaffen werden. Ihre politischen T r ä g e r waren großdeutsch orientierte Organisationen, wie der Alldeutsche 70 Verband
, der Verein für das Deutschtum im Ausland, die Großdeutsche Vereinigung,
der Großösterreichische Arbeiterausschuß u . a . Hinzu kamen die entsprechenden P r e s s e organe und die auf reichsdeutschem Territorium errichteten Exposituren der sudetendeutschen Irredentisten. Auf der ersten derartigen Großveranstaltung, die bereits am 17. November 1918 in Berlin stattfand, trat neben Schriftstellern und bekannten Professoren auch der preußische Kultusminister Haemisch auf. E r versprach Deutschösterreich und 71 insbesondere "Deutschböhmen" seine volle Unterstützung. Das Selbstbestimmungsrecht war die zentrale Losung, die bei all diesen Veranstaltungen bis zum Überdruß strapaziert wurde. Im Munde solcher Leute wie Claß oder Stresemann, die während des Krieges als eifernde Verfechter eines zügellos annexionistischen "Siegfriedens" hervortraten, war der Begriff Selbstbestimmungsrecht der Völker die reine Blasphemie. Einmal hat Gustav Stresemann als Führer der soeben aus den Nationalliberalen hervorgegangenen < Deutschen Volkspartei die mit dem Begriff Selbstbestimmungsrecht kaschierten machtpolitischen Hoffnungen und Ambitionen aufgedeckt, als e r im Verlauf einer Bede am 19. Dezember 1918 in der Stadthalle zu Osnabrück sagte: "Wir müssen die Österreicher herzlich willkommen heißen . . . Gelingt es uns . . . , die Deutsch-Österreicher an uns zu fesseln, dann kommen wir über manches hinweg, was wir nach anderer Richtung hin verloren haben; dann haben wir den großen Block der 70 Millionen Deutschen inmitten Europas, von dem gilt, was der alte Bismarck gesagt hat: Da liegen wir denn wie ein Klotz inmitten Europas, an dem keiner vorbeigehen kann, den e r beachten muß. Erreichen wir das, dann werden wieder andere Zeiten kommen, dann werden andere politische Konstella72 tionen unsere Lage erleichtern." Mitte Januar begannen Bourgeoisie und sozialdemokratische Führung, die Anschlußpropaganda zu koordinieren. Im Zusammenhang mit einer 69 70
Vgl. Galan, N&mecky imperialismus, S. 86 f . Über die diesbezüglichen Ausführungen der Bamberger Erklärung des Alldeutschen Verbandes vom 16.2.1919 schreibt Krück: "Die Erhaltung des zahlenmäßigen Bestandes des deutschen Volkes und des von ihm besiedelten Volksbodens fordere gebieterisch, daß ganz Deutschösterreich einschließlich der deutschen Westbezirke Ungarns und das alte deutsche Kolonialgebiet der baltischen Länder in den Reichsverband aufgenommen werden" (Krück, Alfred, Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1890-1939, Wiesbaden 1954, S. 128). 71 Galan. Die tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen, in: Probleme der Ökonomie und Politik, S. 213 f . 72 Stresemann. Gustav, Reden und Schriften, Bd 1, Dresden 1926, S. 237.
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"Kundgebung der reichsdeutschen Presse" erschienen in den bürgerlichen und sozialdemokratischen Zeitungen zahlreiche Artikel, die den "Anschluß" Österreichs und der deutsch73 sprachigen Randgebiete der Tschechoslowakei forderten. Auch von den offiziellen Vertretern der deutschen Außenpolitik wurde der Anspruch auf den Anschluß Deutschösterreichs unter ausdrücklicher Einbeziehung der Bandgebiete Böhmens und Mährens verfochten. Am 14. Februar 1919 erklärte Brockdorff-Bantzau vor der Weimarer Nationalversammlung: "Das deutsche Volk ist über alle staatlichen Grenzen, auch Uber die Grenzen des alten Reiches hinaus, eine lebendige Einheit, und das einige Reich ist seine natürliche Lebensform." Daraus leitete e r auch den Anschluß Deutschösterreichs als "eine späte Korrektur an einem Fehler der Reichsgründung" ab, um dann fortzufahren: "Schon jetzt darf die Deutsche Nationalversammlung und darf ich als Leiter der deutschen auswärtigen Politik Verwahrung einlegen gegen die Unbill, die Deutschösterreich von ehemaligen Reichsg«u>08sen (des Habsburgerreiches - G.F.) angetan wird. Der neue tschechoslowakische Staat verletzt das Gesetz, dem e r die Selbstentstehung verdankt, indem e r nicht nur die Deutschen. Böhmens und Mährens mit Waffengewalt unter seine Botmäßigkeit zu zwingen sucht, sondern auch nach Südosten hin von Deutschen bewohntes Gebiet beansprucht." Der neue Staat tue dies, "um seinen wirtschaftlichen Ausdehnungsdrang zu befriedigen. Selbst auf deutsches Reichsgebiet droht e r Uberzugreifen. Gegen solche Ubergriffe muß scharfer Protest eingelegt werde«,." Und entsprechend der im Hinblick auf die Friedensverhandlungen eingeschlagenen Taktik fügte der deutsche Außenminister hinzu: "Über die wirtschaftlichen Bedürfnisse des tscha^oslowakischen Staates, die aus der Abgeschlossenheit vom Meere herzuleiten sind, wird ruhig verhandelt werden können. Das neue Deutschland hat am Gedeihen des aufstrebenden Nachbarn ein gleiches vitales Interesse 74 wie dieser an Deutschlands wirtschaftlicher Gesundheit." Es muß betont werden, daß die Wohngebiete der deutschsprachigen Bevölkerungsteile in Böhmen, Mähren und der Slowakei, gegen deren Eingliederung in das Staatsgebiet der Tschechoslowakei Brockdorff-Rantzau scharf protestierte, niemals zum deutschen Nationalstaat Bismarckscher Prägung gehört haben. Dieser Protest war eine politische Anmaßung. Er hatte wie die gesamte Propagandawelle eine mehrfache politische Funktion, und zwar innen- wie außenpolitisch. Den großdeutschen Nationalisten innerhalb der Tschechoslowakei sollte moralischer Rückhalt gegeben und gleichzeitig die Aufmerksamkeit der werktätigen Bevölkerung von den brennenden sozialen und politischen Fragen, vom Klassenkampf gegen das imperialistische System abgelenkt werden auf tatsächliches oder vermeintliches Unrecht, 73 Kölling. Deutschland, Österreich und der Anschluß, S. 145. 74 Brockdorff-Rantzau. S. 52 f .
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das der ausländische "Erbfeind" dem deutschen Volke zufügte. In dieser Funktion traten auch die rechten SPD-Fiihrer erneut in Erscheinung. Zum Beispiel äußerte Friedrich Ebert, der neugewählte Reichspräsident, auf einer Protestversammlung gegen die im Entwurf überreichten Friedensbedingungen am 18. Mai 1919 in Berlin u . a . , es sei "ein unerträglicher Gedanke, daß die tapferen Deutschen in Nordböhmen nun vergewaltigt werden sollen" 7 5 . Die heuchlerische Berufimg auf das Selbstbestimmungsrecht wurde vor allem gegenüber den Siegermächten praktiziert; es war der Versuch des einen, des geschlagenen imperialistischen Räubers, den anderen, triumphierenden vor der internationalen Öffentlichkeit - und natürlich auch vor dem eigenen Volk - ins Unrecht zu setzen. Dementsprechend hieß es in der Note der deutschen Friedensdelegation vom 19. Mai 1919 zum alliierten Friedensvertragsentwurf in unserem Zusammenhang: "Deutschland verlangt, daß das Selbstbestim76 mungsrecht auch zugunsten der Deutschen in Osterreich und Böhmen geachtet wird." Es muß allerdings betont werden, daß es damals den imperialistischen großdeutschen Demagogen infolge Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht der deutschen Werktätigen sowie der anhaltenden Revolutionierung bedeutender Teile der Arbeiterklasse nicht gelang, eine aktive Massenbewegung für den "Anschluß" zu formieren. Der zahlenmäßig wenig bedeutende Anhängerkreis rekrutierte sich vorwiegend aus immer noch nationalistisch verblendeten Intellektuellen und Kleinbürgern. Nach der Besetzung der Randgebiete der böhmischen Länder durch tschechoslowakische Truppen war hinsichtlich
ihres "Anschlusses" eine neue Situation entstanden. Die Separa-
tistenregime existierten nicht mehr, ihre führenden Vertreter waren in der Mehrzahl außer Landes, nach Österreich oder Deutschland, gegangen. Die Annexions- bzw. Separationsabsichten hatte man jedoch weder in Kreisen des deutschen Imperialismus noch bei den sudetendeutschen Nationalisten aufgegeben. So entstand vorwiegend auf Initiative deutschböhmischer Nationalisten ein neuer Plan. Er sah vor, auf reichsdeutschem und österreichischem Territorium Truppen zu sammeln, um auf dem Wege einer Kombination von bewaffnetem Putsch im tschechoslowakischen Grenzgebiet und militärischem Angriff von außen das erklärte Ziel zu erreichen. Jedenfalls wollte man durch eine bewaffnete Aktion auf die "Friedensmacher" in Paris einwirken und sie zu einer Grenzziehung entgegen den Wünschen der tschechischen Bourgeoisie oder zumindest zur Gewährung eines
75 Zit. nach: Gajan, Nfemecky Imperialismus, S. 73 f . 76 Brockdorff-Rantzau. S. 85.
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Plebiszits in den fraglichen Gebieten veranlassen.
77
Wenn diese Konzeption angesichts der
Hegemonialpläne des französischen Imperialismus und des Platzes, den die Tschechoslowakei darin einnahm, auch wiederum völlig illusionär war, so wurde doch mit Eifer versucht, sie in die Tat umzusetzen. Von vornherein war es klar, daß solche Pläne ohne die Unterstützung der reichsdeutschen und der österreichischen Behörden nicht durchführbar waren. Wenn diese Hilfe nach Möglichkeit im Bahmen des taktischen Gesamtkonzepts des deutschen Imperialismus gewährt wurde, so spielte offensichtlich die Überlegung eine Rolle, daß die vorgesehenen Aktionen nicht von reichsdeutschen Staatsangehörigen unternommen und damit der Entente keine Angriffspunkte geboten werden sollten. Denn die im reichsdeutschen Grenzgebiet aufgestellten Truppen rekrutierten sich einmal aus in der Tschechoslowakei beheimateten ehemaligen Offizieren, Unteroffizieren und Soldaten der aufgelösten k. u. k. Armee sowie der sogenannten Volkswehren, aus Elementen also, die das Söldnerdasein einer Arbeit im zivilen Bereich vorzogen oder aber keine Arbeit fanden; zum anderen aus Personen, die sich durch Hetzpropaganda oder Störaktionen gegen den tschechoslowakischen Staat vergangen hatten und nun vor dem Zugriff der Behörden Uber die Grenze flohen. Spezielle Werbeaktionen, namentlich in Nordmähren und Österreichisch-Schleslen, sprachen junge, politisch unerfahrene und nationalistisch verhetzte Männer an und veranlaßten sie, Uber die Grenze zu gehen, um sich auf die "Befreiung" der Heimat vorzubereiten. Zunächst konnten die sudetendeutschen Irredentisten rings um die Grenzen Böhmens, Österreichisch-Schlesiens und Mährens Stützpunkte errichten: die "Hilfsvereinigung für Südböhmen" in Wien; die neue Amtsstelle der Kreishauptmannschaft Znaim in Betz; das "Deutschböhmische Hilfsbüro" in Dresden sowie Stützpunkte in Ziegenhals, die sogenannte Hilfsstelle für das Sudetenland, und Neiße in Preußisch-Schlesien. Der im Februar 1919 in Wien gegründete "Hilfsverein für Deutschböhmen und Sudetenland" bildete die Dachorganisation für die Geschäftsstellen in den entsprechenden Gebieten. Der Hilfsverein reaktivierte landsmännische Vereinigungen in verschiedenen Gebieten Deutschlands und errichtete in 78 nahezu jeder größeren deutschen Stadt seine Zellen. 77
Molisch, Die sudentendeutsche Freiheitsbewegung, S. 164; C6sar/Cerny, Politika n&meckych burzoaznich st ran, T . 1, S. 173 ff. - Die Angaben Molischs, der aus Quellen "sudentendeutscher" Provenienz schöpft, wesentlich ergänzend und erweiternd, haben Cösar/Cerny und Gajan aus Archiven der CSSR reiches Material zutage fördern können; denn die tschechoslowakischen Staatsorgane haben die irredentistische Bewegung sehr aufmerksam verfolgt. 78 Molisch, Die sudetendeutsche Freiheitsbewegung, S. 67 f . , 77 f . , 135 f f . , 164; Ceaar/fcerny. Politika nemeckych burzoaznich stran, T. 1, S. 119 f f . , 128; Gajan, Nemecky Imperialismus, S. 90 ff.; Birke. Ernst. Der Erste Weltkrieg und die Gründung der Tschechoslowakei 1914-1919, in: Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd 3, Stuttgart 1968, S. 401 f . : Nemecky Imperialismus proti CSR. Dok. Nr. 29, S. 95 ff.
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Von da aus entwickelte sich eine großangelegte Propagandaaktion fiir das "Selbstbestimmungsrecht" der Deutschen in der Tschechoslowakei. Deutschböhmische Abgeordnete hielten Vorträge in allen Gebieten des Deutschen Beiches. Broschüren und Pressedienste, wie die "Flugblätter fiir Deutschösterreichs Becht", die "Siidostdeutsche Korrespondenz" und die "Zeitschrift des Hilfsvereins fiir Deutschböhmen und Sudetenland",
die ebenfalls
den Charakter eines Nachrichtenmagazins trug, wurden an alle reichsdeutschen Parlamente, an die einflußreichsten Zeitungen und auch ins Ausland verschickt. Die Wiener "Neue freie Presse", die "Frankfurter Zeitung", die Berliner "Vossische Zeitung" sowie die Zeitungen Bayerns verbreiteten besonders häufig das ihnen von den sudetendeutschen Irredentisten zugestellte Material, das sich durch großdeutschen Nationalismus, bösartigeGehässigkeit 79 und Verleumdungen gegenüber der Tschechoslowakei auszeichnete. Molisch rühmt die besondere Biihrigkeit des Dresdner "Hilfsbüros", dessen Mitarbeiter zusammen mit Schriftstellern, wie Hermann Ullmann, "den Grund zur Anschlußbewegung im Deutschen Beich" gelegt hätten. Aus jenen Beratungen sei schließlich der Österreichisch-Deutsche Volksbund entstanden. Außerdem hätten sie sich maßgeblich im Verein für das Deutschtum im Ausland, beim Deutschen Schutzbund in Berlin und beim Deutschen Auslandsinstitut 80
in Stuttgart betätigt. Neben den bereits genannten Organisationen und Institutionen einer imperialistischen Auslandswirksamkeit waren es auch der Alldeutsche Verband, die Deutschnationale Volkspartei und die Deutsche Volkspartei, dank deren Unterstützung die sudetendeutschen I r r e dentisten ihre staatsfeindliche Tätigkeit gegen die Tschechoslowakei betreiben konnten. Ohne finanzielle Hilfe hätte sich das ganze Unternehmen nicht entfalten können. Wie die tschechoslowakischen Sicherheitsorgane feststellten, ließ Matthias Erzberger den Organisatoren der irredentistischen Agitation 15 000 Mark zukommen. Aus Österreich wurden 2 Millionen Kronen in die CSH eingeschleust, zur Angleichung an eine tschechoslowakische Währungsmaßnahme mit in Dresden angefertigten gefälschten Stempeln bedruckt und von irredentistischen Organisationen in Umlauf gesetzt. Auf diese und ähnliche Weise konnte die Tätigkeit der Stützpunkte innerhalb der CSB finanziert werden, die eine umfangreiche Flugblattagitation entfalteten, Spionage betrieben und über ein V-Männer-System militärisehe Diversionsakte sowie den bewaffneten Putsch vorbereiteten. 81
79 Molisch, Die sudentendeutsche Freiheitsbewegung, S. 68, 136 f . , 143 f . ; C6sar/Cerny, Politika nemeck^ch burzoaznich stran, T . 1, S. 119; Gaian. Nemecky Imperialismus, S. 65. 80 Molisch, Die sudentendeutsche Freiheitsbewegungen, S. 136 f . 81 Ebenda, S. 67, 134 f . , 166, 172; C6sar/Cerny. Politika nemeckych burzoaznich stran, T . 1, S. 121, 137, 146 ff.; Nemecky Imperialismus protl CSR, Dok. Nr. 18, S. 72 f .
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Gerhard Fuchs Waren alle Aktivitäten nur mit wohlwollender Unterstützung seitens reichsdeutscher
Behörden und Organisationen möglich, so traf dies auf die militärischen Vorbereitungen in ganz besonderem Maße zu. Sie konnten nur in direkter Zusammenarbeit mit der konterrevolutionären deutschen Armee vonstatten gehen. Vor allem das in Breslau noch bestehende Armeeoberkommando Stid mit seinem großen Stab von Offizieren förderte die Formierung von "Sudetenbataillonen" im Raum Ziegenhals, rüstete sie aus, auch mit Maschinengewehren und Artillerie, und plante ihren Einsatz an der Seite regulärer reichsdeutscher Truppen - in dieser Hinsicht entgegen der Taktik des Auswärtigen Amtes - sowohl gegen die Tschechoslowakei als auch gegen Polen, zu dem sich die Beziehungen ständig zuspitzten. Das "Deutschböhmische HilfsbUro" in Dresden arbeitete vermittels eines eigenen Militärreferats an der Aufstellung der "Deutschböhmischen Legion", in entscheidendem Maße unterstützt durch den sächsischen Minister für Militärwesen, den Sozialdemokraten Gustav 82
Neuring
, der in Dresden ein Rekrutendepot für sudetendeutsche Abteilungen einrichten
ließ. In Bayern bestimmte das Reichswehrgruppenkommando München die Wehrbezirke Hof, Passau und Regensburg für die Aufstellung deutschösterreichischer Truppenformationen, deren Soldaten aus den tschechoslowakischen Böhmerwaldgebieten stammten. Auch stimmte Bayerns Ministerpräsident, der rechte Sozialdemokrat Johannes Hoffmann, der Auffassung deutschböhmischer Vertreter zu, daß im Konfliktfall Deutschböhmen als Reichsgebiet betrachtet und die Front möglichst an die Sprachgrenze vorgeschoben werden 83 sollte. Die Reichsregierung war selbstverständlich über diese Maßnahmen informiert, denn es fanden mehrfach Verhandlungen mit den sudetendeutschen Nationalisten statt. Freilich übte namentlich das Auswärtige Amt entsprechend der taktischen Gesamtkonzeption Vorsicht und enthielt sich bindender staatsrechtlicher Erklärungen. So bekamen deutschböhmische Vertreter keine bestimmte Zusage auf ihren Wunsch, daß die Reichsregierung "zu gegebener Zeit erklären möge, auch gegen die Entschlüsse der Entente auf der Einverleibung 84 der deutschen Sudetengebiete zu beharren" . Auch sonst machten die Vertreter des Auswärtigen Amtes Einwände und mahnten zur Vorsicht. "Immerhin", so meint Molisch, 82
83
84
Neuring war ein besonders eifriger Verfechter des "Anschlusses". Am 4.3.1919 schrieb e r an das Gesamtministerium u . a . : "Vom Standpunkt des Ministeriums fUr Militärwesen ist die Angliederung (Deutschböhmens an Sachsen - G . F . ) unter allen Umständen wünschenswert und mit allen Mitteln zu fördern" (Staatsarchiv Dresden, sächsisches Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Nr. 1823). Molisch. Die sudentendeutsche Freiheitsbewegung, S. 136, 169 f f . : C6sar/6erny. Politika nemeck^ch burzoaznich st ran, T . 1, S. 127 f f . : Gaian. Nemecky Imperialismus, S. 107, 109, 113: Birke, in: Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd 3, S. 404: Nemecky Imperialismus proti CSR. Dok. Nr. 19, 20, S. 73 ff. Molisch. Die sudetendeutsche Freiheitsbewegung, S. 143, vgl. auch 168 f .
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297
"sollte bei den reichsdeutschen Einwänden gegen sudetendeutsche Pläne nur ein Schwebezustand hergestellt werden, bis die Lage der Dinge klarer zu Ubersehen wäre. Vorbereitende Arbeiten für den Fall einer Ablehnung des Friedensvertrages konnten mit Bewilligung 85 der Reichsregierung fortgesetzt werden." Bis Mitte Mai waren diese Vorbereitungen schon so weit gediehen, daß 12 000 bis 20 000 Mann - die Angaben schwanken - in sudetendeutschen Freikorpsformationen auf dem Territorium des Deutschen Beiches zum Einfall in die Tschechoslowakei bereitstanden. Zu diesem Zeitpunkt verhandelten sudetendeutsche Irredentisten auch mit Noske über verstärkte militärische Unterstützung. "Der Reichswehrminister Noske", berichtet Molisch, "bekundete viel Verständnis fiir die sudetendeutsche Sache und zog gleich Erkundigungen ein, ob die Lieferung von Waffen möglich sei. Er zeigte sich geneigt, Material an die Grenze zu schaffen, um für alle Fälle vorbereitet zu sein." Freilich wollte und konnte selbst ein Noske keine bestimmte Äußerung zur politischen Forderung des radikalen Flügels der sudetendeutschen Irredentisten abgeben, "daß im Falle des Drunter- und Drübergehens einfach die Sache der Sudetendeutschen zur Reichssache gemacht und so der Anschluß via facti vollzogen werde". Vielmehr erklärte Noske, "er wisse heute noch nicht, was er 86
in drei Tagen für eine Politik machen müsse"
.
In alldem wird das taktische Doppelspiel des deutschen Imperialismus gegenüber der jungen Tschechoslowakei deutlich. Und es entbehrt nicht einer gewissen politischen Pikanterie, daß ausgerechnet mit der Person des Freiherrn v. Gebsattel, den wir als Vorreiter dieser Taktik kennengelernt haben, das Spiel mit gezinkten Karten wenigstens teilweise aufflog. Anfang März 1919 berichtete die Presse Uber eine von den tschechoslowakischen Sicherheitsorganen aufgedeckte, großangelegte Spionageaffäre, deren Zentrum das deutsche Generalkonsulat in Prag war. Namentlich der Vizekonsul, Dr. Schwarz, organisierte nicht nur umfangreiche Spionage fUr Berlin, Wien und Budapest, sondern unterstützte auch eifrig die staatsfeindliche Tätigkeit der deutschen Irredentisten in der CSR. Schwarz wurde am 28. Februar 1919 verhaftet und seinem Vorgesetzten, Generalkonsul v. Gebsattel, der weitere Aufenthalt in der Tschechoslowakei untersagt. Man stellte ihm einen Sonderzug zur Verfügung, mit dem er am 3. März Prag für immer verließ. Das Auswärtige Amt und Außenminister Brockdorff-Rantzau persönlich spielten die Ahnungslosen und ließen durch Wolffs TelegraphenbUro mitteilen, daß die Verantwortung für Hand-
85 Ebenda, S. 167. 86 Ebenda, S. 168.
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lungen untergeordneter Beamter nicht auf sie abgewälzt werden dürfe. Im übrigen ließen die Untersuchungen erwarten, daß sich am Verhältnis zwischen Deutschland und der 87 Tschechoslowakei nichts ändern werde. So sollte diese Blöße, die man sich gegeben hatte, wieder bedeckt und die Fortführung der eingeschlagenen Taktik gesichert werden. Der wendige Edvard Benes benutzte allerdings sofort in einem Memorandum an Clemenceau vom 10. März die Affäre, um seine Gegenspieler in Berlin bei den Alliierten weiter in Mißkredit zu bringen und die Berechtigung der Prager Ansprüche zu untermauern. Das gleiche Ziel verfolgte die Verbalnote der Regierung vom 11. März an die Vertretungen 88
der verbündeten Mächte. Benes hatte allen Grund zu derartigem Handeln: Die Alliierten registrierten mit Mißbehagen die zunehmende Wühltätigkeit der sudetendeutschen Irredentisten, die darauf abzielte, eine offene Krisensituation in den Grenzgebieten Böhmens und Mährens zu schaffen. Für den 4. März, den Tag des Zusammentritts der konstituierenden österreichischen Nationalversammlung, an deren Wahl sich die Deutschen in der CSR nicht - wie es ihre nationalistischen Führer wollten - beteiligen konnten, wurden ein Generalstreik in den Grenzgebieten und große Protestdemonstrationen organisiert. Die deutschen Sozialdemokraten unter Josef Seliger hatten an diesen provokatorischen Aktionen wesentlichen Anteil. Die auf beiden Seiten angestachelten nationalistischen Leidenschaften führten zu schweren Zusammenstößen mit tschechoslowakischen Militäreinheiten, die das Feuer eröffneten. Etwa 50 Tote und mehr als 100 Verletzte waren die Opfer dieser verantwortungslosen Politik. Die radikalsten Gruppen der Irredenta hatten das Eingreifen der Freikorpsformationen von reichsdeutschem und österreichischem Boden zu diesem Zeitpunkt einkalkuliert, was 89 jedoch unterblieb. Doch selbst nach dieser schweren Niederlage gaben sich die sudetendeutschen Irredentisten sowie ihre Hintermänner in Österreich und in Deutschland noch nicht geschlagen. Sie setzten neue Hoffnungen auf die Ablehnung der Anfang Mai bekannt gewordenen überaus schweren Friedensbedingungen und die Wiederaufnahme des Kampfes in Form eines "Volkskrieges". Bei dieser Gelegenheit sollte die Kombination Putsch plus Invasion gegen die Tschechoslowakei zur Anwendung kommen. Die irredentistischen Rechtskräfte sahen sich in ihren Absichten bestärkt, als sich im Mai und Juni die Lage für die tschechische Bourgeoisie sehr kompliziert gestaltete. 87 88 89
Gaian, Némecky Imperialismus, S. 92 ff.; César/Cerny, Politika némeckych burioazntch stran, T . 1, S. 143 f . Ebenda, S. 150: Gajan. Némecky imperialismus, S. 98 f . Ebenda, S. 94 f f . : César/Cerny. Politika némeckych burzoaznich stran, T . Ì , S. 142 f f . ; Brügel. S. 175 ff.
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Die am 27. April im Verein mit rumänischen Truppen begonnene, anfangs erfolgreiche Intervention gegen die Ungarische Räterepublik verwandelte sich unter den Gegenschlägen der Revolutionsarmee bald in Rückzug und regellose Flucht. In tschechoslowakischen Militäreinheiten zeigten sich unter dem Einfluß revolutionärer Agitation Disziplinschwierigkeiten. In Böhmen spitzten sich erneut die sozialen Gegensätze zu: Die Werktätigen protestierten in machtvollen Demonstrationen gegen Teuerung, Wucher und Korruption. In Kladno entstanden Anfang Mai Arbeiterräte. Am 16. Juni wurde in Presov die Slowakische Räterepublik ausgerufen. Die Prager Regierung sah in der Verhängung des Standrechts 90 über das ganze Land die Ultima ratio. In jenen Wochen traten die auf österreichischem und reichsdeutschem Territorium aufgestellten reaktionären sudetendeutschen Freikorpseinheiten aktiver in Erscheinung. Sie versahen als Ortskundige nicht nur den Patrouillendienst an der Grenze, wodurch sie starke tschechoslowakische Sicherungskräfte banden, sondern provozierten auch Schießereien. In Preußisch-Schlesien gestartete Flugzeuge des AOK VI kreisten über tschechoslowakischem Staatsgebiet und warfen, z.B. ilberTroppau, Flugblätter ab. Der militärische Nachrichtendienst der CSR meldete zunehmende Konzentrationen von Freikorpseinheiten an der schlesischen, sächsischen und bayrischen Grenze. Im Lande selbst wurden zahlreiche Geheimzellen ausgehoben, die mit den Interventionstruppen vermittels eines von Offizieren unterhaltenen Kurierdienstes kooperierten. Die Lage spitzte sich weiter zu, als die Irredentisten für den 14. Juni einen neuen Generalstreik ankündigten. Die Prager Regierung schätzte die Lage sehr ernst ein. Selbst General Pell6, der Leiter der französischen Miliv 91 tärmission in der CSR, und mehrere Minister richteten Alarmmeldungen nach P a r i s . Es bestand in Rechtskreisen des deutschen Imperialismus in der Tat die Absicht, die Friedensbedingungen abzulehnen und der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen seitens der Alliierten mit einem "Volkskrieg" zu begegnen. Die reaktionär pervertierte Rückbesinnung auf das Jahr 1813 stand, z . B . bei den Alldeutschen, im Hintergrund. Generalquartiermeister Groener berichtet in seinen Erinnerungen über die diesbezüglichen Aus92 einandersetzungen in der OHL wie auch in der politischen Führungsspitze. Schließlich
90
Prehled Seskoslovenskychdfejin,Teil 3: 1918-1945, Prag 1960, S. 79 ff.; Gajan. Némecky Imperialismus, S. 77. 91 Ebenda, S. 106 f f . , 110 ff. : Molisch, Die sudentendeutsche Freiheitsbewegung, S. 134, 163; Némecky Imperialismus proti CSR, Dok. Nr. 22-26, S. 78 ff. : Deutschland und die Tschechoslowakei. Dok. Nr. 4, S. 49 ff. 92 Groener. Wilhelm. Lebenserinnerungen, Jugend, Generalstab, Weltkrieg, hg. v. Friedrich F r h r . v. Gaertringen, Göttingen 1957, S. 492 ff.
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zerrannen diese verzweifelten Hoffnungen der abenteuerlichsten Gruppen des deutschen Imperialismus in ein Nichts, als die OHL im Ergebnis einer systematischen Umfrage nüchtern feststellen mußte, da3 85 - 95 Prozent der deutschen Bevölkerung es ablehnten, ihre Haut erneut für die Monopolherren, Junker und Militaristen zu Markte zu tragen. Die Große Sozialistische Oktoberrevolution in Rußland, die deutsche Novemberrevolution und die revolutionären Bewegungen der ersten Hälfte des Jahres 1919 gaben in ihrer Wirkung auf das deutsche Volk den imperialistischen Hasardeuren nicht den Trumpf in die Hand, dessen sie in ihrem verantwortungslosen Vabanquespiel bedurft hätten. Von einem "Volkskrieg" konnte unter diesen Umständen keine Bede sein. Mit der Unterzeichnung der Friedensverträge von Versailles am 28. Juni und St.-Germain am 10. September war auch das taktische Doppelspiel des deutschen Imperialismus gegenüber der Tschechoslowakei gescheitert. Deutschland mußte "die vollständige Unabhängigkeit der Tschechoslowakei" anerkennen und "sein Einverständnis mit der Ab93 grenzung dieses Staates" durch die Alliierten erklären. Die Friedensverträge verboten ausdrücklich den "Anschluß" Österreichs an Deutschland; der entsprechende Artikel der 94 Weimarer Verfassung mußte geändert werden. Die Tschechoslowakei erhielt für Böhmen, Mähren und das ehemalige Österreichisch-Schlesien die sogenannten historischen Grenzen zugesprochen. Der entsprechende Artikel des Friedensvertrages lautete: "Die Grenze zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei bildet die alte Grenze zwischen Österreich95 Ungarn und dem Deutschen Reich, so wie sie am 3. August 1914 bestand." Eine Ausnahme bildete das sogenannte Hultschiner Ländchen, ein bisher zu Preußisch-Schlesien gehöriges, wenig bedeutendes Gebiet von etwa 320 Quadratkilometer Größe mit rund 49 000 Einwohnern überwiegend slawischer Zunge, das entgegen allen von deutscher Seite organisierten Pro96 v 97 testaktionen an die CSR fiel. 93 Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Alliierten und Assoziierten Mächten. Charlottenburg 1919, Artikel 81, S. 117. 94 Ebenda, Artikel 80, S. 115: Ursachen und Folgen. Bd 3, Dok. Nr. 679, 680, S. 289 f . 95 Der Friedensvertrag. Artikel 82, S. 117. 96 Wojewodskie Archiwum Pafistwowe Wrocfaw, Rejencja Opolska, Prezydialne Biuro, Bd 202, S. 19: Bereits am 27.12.1918 gab das Auswärtige Amt der preußischen Regierung den Hinweis, die tschechischen Ansprüche durch Landräte, Bürgermeister, Gemeindevorsteher, Kreistage usw. - in den betroffenen Gebieten zurückweisen zu lassen. Vgl. auch Valenta. Jaroslav. Pripojenf Hlucinska k Öeskoslovenskd republice, in: Slezsky sbornik,1960, H. 1. 97 Der Friedensvertrag. Artikel 83, S. 117 ff.; DZA Potsdam, Deutsche Stiftung, Bd 957, S. 170. - Die tschechoslowakische Regierung wollte - gewissermaßen zum reichlichen Ausgleich für Hultschin - drei deutschsprachige Kreise in West- und Nordböhmen an Deutschland abtreten. Clemenceau lehnte aber a limine ab, weil Deutschland aus dem verlorenen Kriege nicht mit Landgewinn hervorgehen dürfe (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn: Politische Beziehungen der Tschechoslowakei zu Deutschland, Bd 8, S. L 121182; Büro des Reichsministers, Tschechoslowakei, Bd 2, S. D 617978).
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Die Niederlage des deutschen Imperialismus im ersten Weltkrieg war endgültig besiegelt und der Versuch, aus dem Zerfall des Habsburgerreiches als Kompensation fiir Gebietsverluste an anderer Stelle zu profitieren, gescheitert. Diese Politik hatte sich auch mit Notwendigkeit gegen die Entstehung und Konsolidierung eines lebensfähigen tschechoslowakischen Staates gerichtet. Die subjektiv tolerante oder sogar wohlwollende Haltung einzelner deutscher Politiker gegenüber dem jungen Staat konnte an diesem objektiven Trend nichts ändern. Johann Wolfgang Brügel versucht, zur Stützung seiner zentristischen Gesamtkonzeption aus solchen Einzelstimmen und bestimmten anderen Umständen ein "korrektes Verhalten 98 der Weimarer Republik" zur entstehenden Tschechoslowakei zu konstruieren. Zu diesem Zwecke greift e r jene Stimmen auf, die im offiziellen Verhältnis zur CSR Zurückhaltung übten und für partielle, z.B. wirtschaftliche Zusammenarbeit eintraten; andererseits verschweigt bzw. bagatellisiert e r alle Zeugnisse, die das aggressive, annexionistische Wesen der Politik des deutschen Imperialismus betreffen. In dem Bestreben, die von Ludwig Czech, von 1921 bis 1938 Vorsitzender der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der CSR, während der zwanziger und dreißiger Jahre verfochtene politische Konzeption als die für das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen allein richtige nachzuweisen, kann oder will Brügel - ehemals Sekretär Czechs - das taktische Doppelspiel des deutschen Imperialismus, seine grundsätzlich feindselige Haltung gegenüber der Tschechoslowakei nicht aufdecken. Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung zu diesem Fragenkomplex steht seit eh und jeh - bis in die westdeutsche Gegenwart - eindeutig auf nationalistischen, jüngst zum Teil leicht "europäisch" verbrämten Positionen. Sie ergreift Partei für den deutschen Imperialismus. Diese Historiker geben vor, das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes sowie der deutschen Bevölkerungsteile in der Tschechoslowakei zu verfechten, und beurteilen dementsprechend die "Anschluß"-Politik des Reiches sowie den Separatismus und Irredentismus der sudetendeutschen Nationalisten positiv. In heuchlerischer Weise b r e chen sie in Wehklagen darüber aus, daß die Pariser Vorortverträge gegen das Selbstbestim99 mungsrecht der Sudetendeutschen verstoßen hätten. Der historisch progressive Charakter der Entstehung eines selbständigen, lebensfähigen tschechoslowakischen Staates wird nicht 98 Vgl. Brügel, S. 78 ff. und passim. 99 Als eines der jüngsten Beispiele vgl. Birke, in: Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd 3, S. 427 und passim. - Birke, der im Gleichklang mit der "neuen Ostpolitik" Bonns relativ zurückhaltend formuliert, führt auch einen großen Teil der Autoren an, die ihrem Tsshechenhaß freien Lauf lassen.
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gesehen, umgangen oder direkt verneint. Dafür schwelgt man entweder in Illusionen über ein mögliches Fortbestehen des historisch längst überlebten Habsburgerreiches, natürlich in reformierter Form, oder verficht - übrigens im Gleichklang mit bürgerlichen und rechtssozialistischen Politikern jener Jahre - unter ahistorischem Rückgriff auf die Revolution von 1848/1849 die großdeutsche Konzeption. Derartiger Argumentationen bedienen sich vor allem rechtssozialdemokratische Ideologen. Indes hatte sich inzwischen die politische Situation in Mitteleuropa völlig gewandelt.
'
Die von Marx und Engels, vom Bund der Kommunisten 1848/1849 vertretene Politik sollte die Hohenzollern und die Habsburgermonarchie stürzen sowie den freien demokratischen Zusammenschluß aller deutschen Gebiete, einschließlich der deutschsprachigen Teile des österreichischen Kaiserreichs, zu einer einheitlichen demokratischen Republik herbeiführen. Diese großdeutsche Konzeption war damals, als die Beseitigung der feudalabsolutistischen Zustände und der staatlichen Zersplitterung zugunsten der Schaffung eines großen deutschen Nationalstaates auf der historischen Tagesordnung stand, revolutionär und fortschrittlich. Nach der Niederlage der Revolution, der antidemokratischen Bismarckschen Reichsgründung durch "Eisen und Blut" und dem damit verbundenen Ausscheiden Österreichs aus dem deutschen Nationalverband, das von nun an eine selbständige nationale Entwicklung nahm, sowie mit dem Eintreten Deutschlands in die monopolkapitalistische Entwicklungsphase wurde die großdeutsche Losung im Munde bürgerlicher Politiker und Ideologen reaktionär.''' 0 0 Sie diente nicht mehr dem historischen Fortschritt, sondern der Expansionspolitik des deutschen Imperialismus oder zumindest der Erhaltung seines Herrschaftssystems. Die deutschen revolutionären Marxisten bestimmten ihre Haltung zur großdeutschen Losung bzw. zur "Anschlußfrage" stets nach deren objektiv gegebenem sozialem Inhalt. Deshalb verhielten sich der Spartakusbund und dann die Kommunistische Partei Deutschlands im Herbst und Winter 1918/1919 zunächst abwartend. Sie konzentrierten den politischen Hauptstoß auf den Sturz des imperialistischen Herrschaftssystems. In dieser Entwicklungsphase war potentiell ein Zusammengehen des revolutionären Proletariats in Deutschland mit den Klassenbrüdern in Österreich-Ungarn möglich. Es hätte beiderseits die Kräfte vervielfacht. Als dies jedoch nicht gelang, die Novemberrevolution in bürgerlichdemokratischen Grenzen steckenblieb und die proletarisch-revolutionären Kräfte eine Niederlage erlitten, nahm die KPD eindeutig gegen den "Anschluß" Stellung. In einem Artikel des Parteiorgans "Rote Fahne" vom 28. Februar 1919 mit der Überschrift "Groß-
100 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 1, Berlin 1966, S. 103, 239.
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deutschland" wird klargestellt, daß die Anschlußbewegung unter den gegebenen Bedingungen nur dem Imperialismus diente.
Trotz der Novemberrevolution blieben die Machtgrund-
lagen des reaktionären imperialistischen Herrschaftssystems in Deutschland erhalten und r
damit die Tendenz zur Expansion nach außen und zur Unterdrückung jeder wirklich demokratischen Begung im Innern. "Es geht nicht um Motive, nicht um Worte", betonte Lenin, "sondern um die objektiven, von ihnen unabhängigen Umstände, die das Schicksal und die Bedeutung der Losungen, der Taktik oder Oberhaupt der Richtung einer gegebenen Partei 102
oder Gruppe bestimmen." Der "Anschluß" der deutschen Bevölkerungsteile der Tschechoslowakei hätte daher nicht den Einzug in das "große, freie, sozialistische Deutschland" bedeutet, wie ihn Josef Seliger - übrigens wenige Wochen nach dem Mord 103an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht - vor deutschböhmischen Arbeitern postulierte , sondern die Machtbasis der in Deutschland ihre Herrschaft wieder stabilisierenden reaktionären Kräfte erweitert. Aus der daraus gewonnenen Einsicht hat Karl Kreibich, der Führer des revolutionären Reichenberger Proletariats, seine im November/Dezember 1918 eingenommene "Anschluß" Position sehr bald aufgegeben. Er trat damals sogar fUr die Verteidigung Reichenbergs gegen die Mitte Dezember 1918 anrückenden tschechoslowakischen Truppen ein. Erläuternd schreibt Kreibich hierüber in seinen Memoiren, die 104revolutionären deutschen Arbeiter Nordböhmens hätten in jenen Tagen vor der Frage gestanden "Zur tschechoslowakischen Republik oder zu Deutschland?" Vom Standpunkt des Revolutionärs bot sich folgendes Bild:
101 Kölling, Deutschland, Österreich und der Anschluß, S. 92 f . ; dieselbe. Die Annexionsbestrebungen, in: JbG, Bd 1, S. 182. 102 Lenin, Werke,Bd 19, S. 252. 103 Zit. nach: Rabl. Kurt. Das Ringen um das sudetendeutsche Selbstbestimmungsrecht 1918/19, München 1958, S. 76. - Seliger operierte damit ganz auf der Linie des führenden Austromarxisten und Außenministers "Deutschösterreichs" Otto Bauer. Einer der Tricks der SPÖ-Führung zur Abwürgung der Revolution bestand darin, die sozialen Forderungen der Arbeiterklasse ins Nationale zu kanalisieren. So erklärte Otto Bauer Ende Januar 1919: "Der Anschluß an Deutschland bahnt uns also den Weg zum Sozialismus" (zit. nach: Kölling. Deutschland, Österreich und der Anschluß, S. 115). 104 Diese Frage stellte sich deshalb so, weil die von Lenin gewiesene optimale Variante der Revolution in Österreich-Ungarn, nämlich-die Bildung eines sozialistischen Großstaates durch die gemeinsame revolutionäre Aktion der Arbeiter aller Nationalitäten und im Bündnis mit Sowjetrußland, von den opportunistischen und zugleich nationalistisch verseuchten Führungen der sozialdemokratischen Parteien der Doppelmonarchie nicht aufgegriffen wurde (vgl. den von Lenin und Swerdlow unterzeichneten "Aufruf an die Arbeiter der ganzen Monarchie", der am 3.11.1918 in der "Pravda" erschien; abgedr. bei: Priester. Eva. Kurze Geschichte Österreichs, Wien 1949, S. 589 ff.).
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"In Deutschland war wirklich Devolution, die nach außen hin wie die russische Revolution aussah." Dagegen war Karel Kramär, der Vorsitzende der provisorischen tschechoslowakischen Regierung, "ein typischer Repräsentant des Großkapitals", das im Bündnis mit der konterrevolutionären Entente die Republik beherrschte. Die führenden tschechischen So-
105
zialdemokraten waren lediglich für die "ruhige", nationale antihabsburgische Revolution. Als Kreibich dann erkannte, daß die deutsche Novemberrevolution das monopolistische Ausbeutungssystem unangetastet ließ und die tschechoslowakische Republik unter diesen gegebenen Umständen die einzig mögliche, wenigstens relativ progressive Lösung war, trat er fUr die WeiterfUhrung des sozialen Kampfes auf dem Boden der CSR an der Seite der tschechischen Klassenbrüder ein. Mit seinen Anhängern konstituierte er sich zur Reichenberger Linken, die 1921 die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei mitbegründete. Die Angliederung der deutschen Bevölkerungsteile Böhmens und Mährens an ein vom Monopolkapital beherrschtes Deutschland hätte um so weniger dem historischen Fortschritt gedient, als die sudetendeutsche irredentistische Bewegung von reaktionären, antidemokratischen Kräften beherrscht wurde, denen sich die Führung der deutschböhmischen Sozialdemokraten unter Josef Seliger, trotz aller revolutionären Phraseologie, in allen wesentlichen Fragen, vor allem hinsichtlich der Machtfrage, anpaßte. Beispielsweise trugen die auf reichsdeutschem Boden aufgestellten bewaffneten Kräfte der Irredenta, die "Sudetenbataillone" und "Deutschböhmischen Legionen", ausgesprochen konterrevolutionären Charakter. In diesen Einheiten sollte "eine entsprechende Propaganda . . . der Schaffung von die Disziplin schädigenden Einrichtungen, wie Soldatenräten, entgegenarbeiten", 106
berichtet Molisch.
Eindeutiger noch kommt das Wesen der genannten Truppenkörper
darin zum Ausdruck, daß sie mit den reichsdeutschen Freikorpsmandanten, wie Roßbach, Heickmann und Escherich, Verbindung herstellten; zu jenen weißgardistischen Terrorformationen also, die den revolutionären Kampf der deutschen Arbeiter gegen das monopolistisch-junkerliche Herrschaftssystem im Einvernehmen mit der Regierung Ebert-Scheidemann-Noske im Blut erstickten und im Baltikum im Interesse des deutschen Imperialismus sowie der baltischen Barone gegen die Sowjetmacht vorgingen. Schon im ersten Halbjahr 1919 wurden ins Reich übergetretene Deutsche aus der Tschechoslowakei für die Baltikumformationen angeworben und dort auch eingesetzt. 107 Als nach dem Friedensschluß
105 Kreibich. Karel, Tesny domov - äiry svet, Liberec 1968, S. 264 ff.; vgl. auch Jauernig. Edmund, Die deutsche Novemberrevolution und die tschechoslowakische Arbeiterbewegung, in: JbGUV, Bd 3, Berlin 1959, S. 148 f . ; PoSärsky. S. 43 ff. 106 Moltsch. Die sudetendeutsche Freiheitsbewegung, S. 166.
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die sudetendeutschen Freikorpsformationen aufgelöst werden mußten, meldete sich, wie Molisch schreibt, "von den Deutschböhmen in Bayern und Sachsen . . . der Großteil zu jenen Truppenkörpern, die ins Baltikum gingen. Sie machten dort die Kämpfe gegen die Bolschewiken mit." Als sie auch das Baltikum verlassen mußten, war es nur folgerichtig, daß diese ursprünglich für die "Befreiung der Heimat vom tschechischen Joch" - wie bürgerliche Historiker, namentlich "sudetendeutscher" Provenienz, zu formulieren pflegen - bestimmten konterrevolutionären Landsknechte sich zu den Putschisten gegen die Weimarer 108
Bepublik gesellten. "Später waren viele dieser Leute am Kapp-Putsch beteiligt." Leuten, die - wie 6s die Massaker in Berlin, München, Bremen und an anderen Orten Deutschlands beweisen - in barbarischer Weise Konterrevolution praktiziert, diesen Verbrechen zugestimmt oder sie auch nur geduldet haben, ein Ringen um das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes oder deutscher Bevölkerungsteile in der Tschechoslowakei zuzusprechen ist ein Hohn auf den demokratischen, progressiven Inhalt dieses Prinzips. Es sei denn, man stellt sich auf die Position des annexionistischen Mißbrauchs des Selbstbestimmungsrechtes, die als taktische Linie von den Vertretern des deutschen Imperialismus bereits in den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk eingenommen wurde. Damals sahen sich die deutschen Imperialisten den von Marx, Engels und Lenin erarbeiteten, dem109 historischen Fortschritt dienenden Auffassungen vom Selbstbestimmungs recht der Völker erstmals in einem staatlichen, von der sowjetischen Delegation vorgelegten Verhandlungsdokument gegenübergestellt. Nicht mehr in der Lage, das keineswegs von Wilson, sondern von der Sowjetmacht110 mit ihrer Geburtsurkunde, dem Dekret über den Frieden vom 8. November 1917, in das Völkerrecht eingeführte Becht der Nationen auf Selbstbestimmung offen abzulehnen oder zu ignorieren, suchten die deutschen Verhandlungspartner diese Losung zu mißbrauchen. Der deutsche Delegationsleiter und Staatssekretär des Äußeren, Bichard v. Kühlmann, bekannte später selbst seine Absicht, die sowjetischen Verhand107 Ebenda, S. 136; C6sar/6ernv. Politika nfemeckych burSoaznich stran, T . 1, S. 123, 126, 149; Nfemecky imperialismus proti CSR. Dok. Nr. 21, 28, S. 77, 94 f. - Am 10 Februar wurde der Weimarer Nationalversammlung eine Grußadresse des "Deutschösterreichischen Arbeiter- und Soldatenrats Dresden" - einer Expositur reaktionärer, vorwiegend deutschböhmischer Irredentisten - kundgemacht, und zwar "im Namen der tausend Deutsch-Österreicher, die als Freiwillige bei Ober-Ost unsere Zusammengehörigkeit bekräftigen" (Die Deutsche Nationalversammlung. S. 38). 108 Molisch. Die sudetendeutsche Freiheitsbewegung, S. 173; Gajan, N&mecky imperialismus, S. 117 f. 109 Die wesentlichsten Merkmale der proletarischen Lehre vom Selbstbestimmungsrecht formuliert Arzinger, Rudolf H., Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart, Berlin 1966, S. 56 f. 110 Vgl. ebenda, S. 58, 70 f.
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lungspartner in eine "rein akademische Diskussion Uber das Selbstbestimmungsrecht der Völker und seine mögliche praktische Anwendung zu verstricken, und was wir an t e r r i torialen Zugeständnissen durchaus brauchten, uns durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker hereinzuholen"***. Der darin zum Ausdruck kommende Annexionismus blieb auch in der Folgezeit für die Haltung der reaktionären Fiihrungskreise des deutschen Imperialismus, einschließlich der ihm dienenden rechtssozialistischen Führer, zum Selbstbestimmungsrecht bestimmend. Das gilt auch für die Historiker und Publizisten, die Uber die Nichtbeachtung des Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen durch die Siegermächte seither so aufdringlich lamentieren. Der Begriff Selbstbestimmungsrecht ist im Munde der Wortsprecher des deutschen Imperialismus reine Demagogie, lediglich zur Tarnung der egoistischen, antinationalen Klasseninteressen der Ausbeuter bestimmt. Das demokratisch und progressiv verstandene Hecht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung konnte und kann nur im Kampf gegen das Monopolkapital sowie seine politischen, militärischen und ideologischen Exponenten errungen werden, so wie es in der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik geschehen ist. Ein fast durchgängig verwendetes Argument der bürgerlichen deutschen Historiker ist die Behauptung, "die Tschechen" hätten die 1919 erfolgte Grenzziehung nur durch betrügerische Machenschaften gegenüber den Alliierten, durch Falschinformationen, die Außenminister Benes in seinen Memoranden der Friedenskonferenz über die nationalen Bevölkerungsverhältnisse in den Grenzgebieten gab, erreicht. Der "Tschechenstaat" sei gewissermaßen durch Lug und Trug entstanden, weshalb ihm indirekt oder direkt die Existenzberechtigung innerhalb der 1919 gezogenen Grenzen abgesprochen wird. Nun haben wir schon gesehen, daß namentlich die französischen Imperialisten einem möglichen territorialen Zuwachs für Deutschland mit aller Entschiedenheit entgegentraten und deshalb die selbst von der Prager Regierung ausgehenden Kompromißangebote hinsichtlich der Grenzziehung ausschlugen. Für die historische Bewertung der Grenzen von 1919 kann nicht die Politik der tschechischen Bourgeoisie, die bezüglich der Mittel zur Durchsetzung ihrer Klasseninteressen auf innen- und außenpolitischem Gebiet gewiß nicht wählerisch war, ausschlaggebend sein. Entscheidend ist, daß unter den Bedingungen, wie sie sich 1918/1919 in Mitteleuropa herausbildeten, die Entstehung eines selbständigen tschechoslowakischen Staates eine historische Notwendigkeit war. Nur ein dementsprechendes Vorgehen lag auf dem Wege zur Lösung der nationalen Frage der Tschechen und Slowaken, die damals
111 Kühlmann. Richard v . . Erinnerungen, Heidelberg 1948, S. 523 f.
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wesentlich in der Sicherung einer freien und ungestörten Entwicklung der tschechischen und der slowakischen Nation unter den komplizierten Verhältnissen Mitteleuropas, d.h. 112
vor al,lem in der Nachbarschaft des deutschen Imperialismus bestand.
In der Tschecho-
slowaKischen Republik verwirklichte sich das Recht der Tschechen und Slowaken auf selbständige staatliche Existenz, freilich mit den Einschränkungen, die sich aus dem bourgeoisen Klassencharakter des Staates ergaben. Für die Lebensfähigkeit dieses Staates waren die historischen Grenzen der böhmischen Länder von erstrangiger Bedeutung. Sie bildeten - ungeachtet der Nationalität ihrer Bewohner - seit Jahrhunderten eine wirtschaftliche, politische und weitgehend auch kulturelle Einheit. In den Grenzgebieten befanden sich bedeutende Bodenschätze, vor allem Kohle und Kaolin, sowie ein großer Teil der Grundstoff- und namentlich der verarbeitenden Industrie. Auch das Verkehrswesen, das Straßen- und Eisenbahnnetz, war radial, mit Prag als Mittelpunkt, angelegt. Die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Sudetendeutschen in Form des Anschlusses der Grenzgebiete an Deutschland, d.h. die Zerschlagung dieser Einheit zu verlangen, hieß die Lebensfähigkeit des tschechoslowakischen Staates von vornherein zu untergraben bzw. ihn zu engster Kooperation mit dem deutschen Imperialismus, in die Rolle eines Satellitenstaates innerhalb der Einflußsphäre des reaktionären deutschen Monopolkapitals zu zwingen. Eine so geartete nationale Selbständigkeit der Tschechen und Slowaken wäre eine Farce gewesen. Andererseits lag eine Stärkung der territorialen Machtbasis des deutschen Imperialismus, der Hauptbarriere gegen jeden historischen Fortschritt in Mitteleuropa, auch nicht im Interesse des deutschen Volkes, dessen Kampf für die Lösung seiner nationalen Lebensfragen, d.h. vor allem fiir den Sturz des monopolistischen Herrschaftssystems nur noch weiter erschwert worden wäre. Deshalb hätte der "Anschluß" an den unmittelbaren Machtbereich des deutschen Monopolkapitals selbst für die in Böhmen, Mähren und tschechoslowakisch Schlesien lebenden deutschen Bevölkerungsteile keineswegs ihren richtig verstandenen Lebensinteressen entsprochen. Den deutschen Werktätigen in der Tschechoslowakei stellte die Geschichte vielmehr die Aufgabe, zusammen mit ihren tschechischen und slowakischen Klassenbrüdern innerhalb der Grenzen dieses Staates für demokratischen und sozialen Fortschritt, für nationale Rechte zu kämpfen. Das monopolistische Herrschaftssystem in Deutschland betrieb auch in der Phase seiner eklatanten, gesetzmäßigen Niederlage am Ende des ersten Weltkrieges eine Politik, die den Lebensinteressen des tschechischen und slowakischen Volkes zuwiderlief. Freilich hatten sich die Formen und Methoden dieser Politik angesichts des veränderten internationalen 112 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Prchlik. Karel. in: Die nationale Frage in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1900 bis 1918, Budapest 1966, S. 332.
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Gerhard Fuchs
Kräfteverhältnisses gewandelt. Die taktischen Mittel waren weitgehend von der Tatsache bestimmt, daß nacn der Novemberrevolution bis zum Sommer 1919 die parlamentarisch wendige Monopolgruppe dominierte, Ihre Linie war in jenen Monaten geeigneter als die der abenteuerlich-militaristischen Kräfte, um die Gesamtinteressen der herrschenden 113 Klassen Deutschlands wahrzunehmen. Nach wie vor blieb jedoch der deutsche Imperialismus in Mitteleuropa das größte Hindernis auf dem Wege des historischen Fortschritts, der auch die Entstehung und Entwicklung eines unabhängigen selbständigen Staates der Tschechen und Slowaken einschloß.
113 Vgl. Rüge. Wolfgang. Zur Taktik der deutschen Monopolbourgeoisie im Frühjahr und Sommer 1919, in: ZfG, 1963, H. 6, S. 1092, 1113 ff.
ERWIN
LEWIN
Zur Volksfrontpolitik der Kommunistischen Internationale
Die antifaschistische Volksfrontpolitik der Kommunistischen Internationale, die auf das engste mit dem VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale verbunden ist, war das Ergebnis der Verallgemeinerung der Erfahrungen der kommunistischen Weltbewegung im Kampf gegen Faschismus und Krieg für Demokratie, Frieden und Sozialismus. Auf dem VII. Kongreß wurde entsprechend den neuen, schwierigen Bedingungen des Klassenkampfes eine Politik ausgearbeitet, die den Erfordernissen des antifaschistischen, demokratischen Kampfes voll und ganz entsprach und die fiir die revolutionäre Bewegung der Internationalen Arbeiterklasse neue Perspektiven eröffnete. Die Bedeutung dieses Kongresses und seine theoretischen wie politischen Erkenntnisse und strategisch-taktischen Schlußfolgerungen fiir die kommunistische Weltbewegung sind von Vertretern kommunistischer Parteien sowie in der historischen Literatur umfassend gewürdigt worden.1 Das Anliegen unseres Beitrages besteht darin herauszuarbeiten, wie die Kommunistische Internationale die auf dem Kongreß konzipierte Politik der Volksfront in einem länger dauernden Prozeß erfolgreich in der Praxis durchsetzte und schöpferisch weiterentwickelte. Mit der Errichtung des Faschismus in Deutschland, der vom Kongreß als "Hauptanstifter eines neuen imperialistischen Krieges" und "als Stoßtrupp der internationalen 2
Konterrevolution" charakterisiert wurde, war die faschistische Weltgefahr außerordentlich groß geworden. Unter den Bedingungen der faschistischen Diktatur und der Aggressionspolitik verschärfte sich die Unterdrückung der Arbeiterklasse und anderer werktätiger Klassen und Schichten nicht nur in den faschistischen Ländern. Auch in. anderen Ländern
1
2
Vgl. u.a. Die unbesiegbare Kraft der Ideen des Internationalismus. Internationales Treffen anläßlich des 30. Jahrestages des VII. Kongresses der Komintern, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus, 1966, H. 12; Lejbzon. B.M./Sirinia. K . K . , Povorot v politike Kominterna, Moskau 1965; Die Kommunistische Internationale. Kurzer historischer Abriß, Berlin 1970. Pieck. Wilhelm/Dimitroff. Georgi/Togliatti. Palmiro. Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und Faschismus, Berlin 1960, S. 87.
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Erwin Lewin
setzte das Finanzkapital zur Offensive auf die Lebensinteressen der Arbeiter, Bauern und selbst der Klein- und Mittelbourgeoisie an. Immer offensichtlicher wurde, daß der internationale Faschismus wachsende Bedrohung der Demokratie und des Friedens, der Kultur und des gesamten menschlichen Fortschritts bedeutete. Die Kommunistische Internationale und ihre Sektionen mußten angesichts der ungeheuren Gefahr, die vor allem dem Weltfrieden erwuchs, alle antifaschistischen Kräfte in einer breiten Abwehrfront zusammenschließen. Die Komintern trug als einzige politische Kraft den neuen Anforderungen in vollem Maße Rechnung. Der VII. Kongreß gab eine exakte wissenschaftliche Analyse des Faschismus, die auf den vorausgegangenen Erkenntnissen der Kommunistischen Internationale beruhte, und verband diese mit einer richtigen strategischen und taktischen Orientierung der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten im Kampf gegen Faschismus, Imperialismus und Krieg. Insbesondere die Erkenntnis der Kommunistischen Internationale, daß die Errichtung des Faschismus nicht einfach einen Regierungswechsel bedeutet, sondern eine Änderung der Form der kapitalistischen Klassenherrschaft, machte es notwendig und möglich, die Frage der Beziehungen zwischen den kommunistischen Parteien und anderen politischen Parteien und Richtungen auf neue Weise zu stellen. "Durch die Liquidierung der Überreste der bürgerlichen Demokratie", erklärte Georgi Dimitroff auf dem Kongreß, "durch die Erhebung der offenen Gewalt zum Regierungssystem untergräbt der Faschismus die demokratischen Illusionen und die Autorität der Gesetzlich3 keit unter den werktätigen Massen." Die Kommunisten mußten die in den Massen wachsende Unzufriedenheit Uber die faschistische Politik und die Angriffe des internationalen Faschismus ausnutzen und breiteste Schichten in Stadt und Land gegen den Faschismus mobilisieren. Die Kommunistische Internationale und ihre Sektionen mußten deshalb möglichst genau bestimmen, welche Klassenkräfte als Bündnispartner im Kampf gegen den Faschismus zu gewinnen sind. Die Komintern orientierte darauf, daß im antifaschistischen Kampf alle jene politischen und sozialen Kräfte als Verbündete der Arbeiterklasse zu betrachten sind, die objektiv in Widerspruch zur faschistischen Diktatur und zu den Faschisierungsbestrebungen gerieten und die aus ihrer Oppositionsstellung heraus sich in dieser oder jener Form am antifaschistischen Kampf beteiligten. Es ist die Pflicht der Arbeiterklasse und ihrer Partei, daß sie "im Kampf gegen Faschismus und Krieg den möglichen Kreis der Verbündeten auf solche gesellschaftlichen Gruppen, Klassen und Nationen ausdehnt", betonte D. S. Manuilski
3
Ebenda, S. 106.
Zur Volksfrontpolitik der KI
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in seinen Ausführungen über die Bedeutung des VII. Kongresses, "die überhaupt keine Anhänger der Diktatur des Proletariats, keine Anhänger der sozialistischen Revolution sind"^. Der Kongreß analysierte in umfassender Weise die Möglichkeiten und Bedingungen zur Bildung einer antifaschistischen Arbeitereinheitsfront als Grundlage einer breiten antifaschistischen Volksfront. Im Mittelpunkt stand die Frage, alle Möglichkeiten und Wege zur Schaffung der Einheitsfront der Arbeiterklasse und einer einheitlichen antifaschistischen Volksfront auszunutzen. Diese Frage behandelte nicht nur Georgi Dimitroff in seinem Hauptreferat. Sie war ebenso das Anliegen aller Diskussionsbeiträge der Delegierten, in denen eine kritische Analyse der Erfahrungen der gesamten kommunistischen Bewegung im Kampf um die Einheit, gegen Fasenismus und Kriegsgefahr vorgenommen wurde. Im Ergebnis formulierte der VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale die antifaschistische Einheits- und Volksfrontpolitik, die eine Weiterentwicklung der marxistisch-leninistischen Bündnispolitik unter den Bedingungen der Offensive des Finanzkapitals und der faschistischen Diktatur darstellte und die gleichzeitig eine neue Etappe im Kampf der A r beiterklasse um die Vorbereitung und Durchführung revolutionärer Umgestaltungen einleitete. Die Herausbildung antifaschistischer Volksfronten hing in hohem Maße von der Entstehung der Einheitsfront der Arbeiterklasse ab. Georgi Dimitroff betonte in seinem Schlußwort auf dem Kongreß, "daß die Einheitsfront des Proletariats und die antifaschistische Volksfront durch die lebendige Dialektik des Kampfes miteinander verbunden sind, sich verflechten, im Laufe des praktischen Kampfes ineinander übergehen und keineswegs durch eine 5 chinesische Mauer voneinander getrennt sind" . Die machtvolle Einheitsfront der Arbeiterklasse bildete das Rückgrat der Volksfront, die Volksfront ihrerseits konnte als starke Triebkraft für den Zusammenschluß der Arbeiterbewegung, als Scnule zur Meisterung der Aufgaben der Massenpolitik zurückwirken. Unter bestimmten Bedingungen war es sogar möglich, daß sich die Volksfront parallel zur Einheitsfront herausbilden konnte. Das hing jedoch von der konkreten Situation in jedem Lande ab. Die Kommunistische Internationale ließ sich bei der Ausarbeitung der Volksfrontpolitik von den von W.I. Lenin formulierten Erkenntnissen über die Gesetzmäßigkeiten der demokratischen Revolution und die allgemeingültigen Aufgaben des demokratischen Kampfes leiten und wandte sie auf die konkreten Bedingungen, die mit der Offensive des Faschismus entstanden
4 5
Manuilski. D.S., Die Ergebnisse des VII. Weltkongresses der Komintern, Moskau/ Leningrad 1935, S. 11. Dimitroff. Georgi. Für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus, in: Derselbe, Ausgewählte Schriften, Bd 2, Berlin 1958, S. 634.
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Erwin Lewin
waren, an. Zugleich stützte sie sich auf die eigenen Erfahrungen der Einheitsfront und Bündnispolitik. Die von der Komintern schon zu Beginn der zwanziger Jahre - insbesondere die von Georgi Dimitroff nach dem antifaschistischen Septemberaufstand 1923 in Bulgarien -
g
formulierten Schlußfolgerungen über die Einheitsfront und deren Ausweitung bildeten von ihrer theoretischen Konzeption her einen Ansatz für die antifaschistische und antiimperialistische Volksfrontpolitik, die auf dem VII. Kongreß formuliert wurde. Die vom Kongreß entwickelte Volksfrontkonzeption bedeutete kein Zurückweichen der internationalen Arbeiterbewegung. Sie war auf die Vorbereitung der kommunistischen P a r teien auf den entscheidenden Kampf mit dem faschistischen Imperialismus gerichtet. Die Volksfrontpolitik basierte auf dem tiefen Verständnis der Kommunisten für den Zusammenhang des Kampfes um Demokratie und Sozialismus, der von W.I. Lenin für die Bedingungen des Imperialismus begründet worden war. Lenin hatte mehrmals betont, daß der Kampf für Demokratie die Werktätigen auf den Sieg Uber die Bourgeoisie vorbereitet, da sich die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten zusammenschließen und im Verlauf7 des demokratischen Kampfes die Notwendigkeit erkennen, sozialistische Ziele aufzustellen. Die Komintern wandte die Leninschen Erkenntnisse schöpferisch auf die konkreten Bedingungen des Klassenkampfes an. Sie betrachtete die Volksfront weder als eine organisatorische Angelegenheit noch als Frage eines einfachen parlamentarischen Zusammengehens mit anderen politischen Parteien. Für die kommunistische Bewegung bedeutete die Volksfrontpolitik jene Etappe in der Klassenauseinandersetzung, in der die Massen der Werktätigen aktiviert werden und der Kampf gegen die reaktionäre Macht des Monopolkapitals und die faschistische Diktatur zur Einschränkung und Zurückdrängung der Ausbeutung und kapitalistischen Unterdrückung führen sollte. Reaktionäre Vertreter der herrschenden Klassen sowie opportunistische Führer der Sozialistischen Arbeiterinternationale (SAI) widersetzten sich der Erkenntnis, daß der Faschismus nicht nur die revolutionäre Arbeiterbewegung zu zerschlagen suchte, sondern auch die Grundlagen der bürgerlichen Demokratie beseitigen und ebenfalls die Interessen bestimmter Schichten der nichtmonopolistischen Bourgeoisie verletzen würde. Sie richteten deshalb ihre Angriffe gegen die Bemühungen der Kommunisten, unter der Führung der Arbeiterklasse breite antifaschistische Kampfbündnisse zur Verteidigung von Demokratie
6
7
Vgl. derselbe. Offener Brief an die Arbeiter und Bauern Bulgariens, in^Ebenda, S. 128, 151; Dimov. Nenco. K voprosu o taktike edinogo fronta v dejatel'nosti BKP (1921-1925 gg.), in: Sovetskpe Slavjanovedenie, 1970, Nr. 2, S. 87 ff. Lenin. W . I . . Die sozialistische Bevolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in: Derselbe, Werke, Bd 22, Berlin 1960, S. 145 ff.
Zur Volksfrontpolitik der KI
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und Frieden zu schmieden. Bürgerliche und rechtssozialdemokratische Geschichtsschreiber bestreiten die prinzipielle Bedeutung der Volksfrontpolitik für die Strategie der kommunistischen Weltbewegung bis in die Gegenwart. Sie verbreiten als Hauptthese, daß die Kommunistische Internationale die Volksfrontpolitik angeblich nur ausgearbeitet habe, um möglichst viele - auch nichtkommunistische - Kräfte für die machtpolitischen Interessen der Sowjetunion auszunutzen, daß es sich dabei nur um ein vorübergehendes Lavieren gehandelt habe usw. g Die "Argumente", derer sie sich bedienen, sind keineswegs neu. Schon führende Vertreter der 9SAI verleumdeten die Bemühungen der Komintern als Manöver, dem nicht zu trauen sei.
Das Ziel solcher "wissenschaftlicher" Erkenntnisse ist, die Möglichkeit
für ein Zusammengehen verschiedener politischer Kräfte und sozialer Gruppen unter der Führung der Arbeiterklasse überhaupt zu negieren bzw. nur für einen historisch begrenzten Zeitraum anzuerkennen, um ein gemeinsames Handeln sozialdemokratischer und kommunistischer Werktätiger mit anderen, nichtproletarischen Kräften gegen das staatsmonopolistische Herrschaftssystem zu verhindern. Die von der Kommunistischen Internationale ausgearbeitete Volksfrontpolitik führte zu einer Vereinigung aller antifaschistischen Kräfte, die weit über die Arbeiterklasse hinausreichte und in deren Rahmen die Arbeiterklasse die führende Rolle im Kampf für allgemeindemokratische und antifaschistische Ziele übernahm. Um die Führung in der Volksfront im Interesse des werktätigen Volkes durchzusetzen, mußte die Arbeiterklasse konsequent für die Verteidigung und Vertiefung der demokratischen Freiheiten eintreten und sich auch für die grundlegenden sozialen und nationalen Forderungen aller vom Monopolkapital und vom Faschismus ausgebeuteten und unterdrückten Klassen und Schichten einsetzen. Der VH. Kongreß empfahl deshalb den kommunistischen Parteien als Grundlage für den Zusammenschluß aller antifaschistischen Kräfte, die Aufgaben zur Zurückdrängung und Zerschlagung des Faschismus zu formulieren. Dazu gehörte neben dem Eintreten für die Verbesserung der Lebensbedingungen (Verkürzung der Arbeitszeit, Altersversorgung u . a . ) Insbesondere die Verteidigung der nationalen Freiheit und Unabhängigkeit der Völker durch die Kommunisten.
8
9
Vgl. Nollau. Günther. Die Komintern. Vom Internationalismus zur Diktatur Stalins, in: Das Parlament, 1964, Beilage.1: Aus Politik und Zeitgeschichte, S. 31; Bahne, Siegfried. Von der Gründung der KPD bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd 13/14, (West-)Berlin 1965, S. 310 f f . : Braunthal. Julius. Geschichte der Internationale, Bd 2, Hannover 1963, S. 501 f f . ; Pirker. Theo. Komintern und Faschismus. Dokumente zur Geschichte und Theorie des Faschismus, Stuttgart 1965, S. 68. Vgl. Thorez. Maurice. Diskussion zum Bericht des Genossen Dimitroff, in: VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale. Gekürztes stenographisches Protokoll, Bd 2, Moskau 1939, S. 219.
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Erwin Lewin Das große Verdienst der Komintern besteht darin, daß auf dem VII. Kongreß klar
herausgearbeitet wurde: Die demokratischen und antifaschistischen Bestrebungen der Arbeiterklasse sind Bestandteil ihres Ringens um den Sozialismus, der Kampf gegen den Faschismus ist eine notwendige Aufgabe, Uber deren Lösung der Weg zur sozialistischen Revolution führt. In diesem Sinne wurde auch die Haltung der kommunistischen Parteien zu einer Regierung der proletarischen Einheitsfront oder der antifaschistischen Volksfront, die sich im Verlaufe dieses Ringens mit der faschistischen und imperialistischen Reaktion herausbilden konnte, festgelegt.*^ Das Ziel eineT solchen Regierung konnte nicht einfach darin bestehen, die bürgerliche Demokratie wiederherzustellen, sondern sie mußte als Regierung des Kampfes gegen Faschismus und Reaktion den Charakter einer revolutionären Übergangsmacht, eine Demokratie neuen Typus anstreben. Sie mußte einschneidende Maßnahmen gegen das Monopolkapital treffen, um zu verhindern, daß der Faschismus von neuem sein Haupt erheben könne. Die Regierung der Volksfront mußte reale Garantien für die Freiheit aller demokratischen Kräfte schaffen und durfte keine Behinderung für die Entfaltung der Arbeiterbewegung zulassen. Im Ringen der kommunistischen Parteien um die praktische Verwirklichung wurden diese Richtlinien und Erkenntnisse der Komintern angewandt und schöpferisch weiterentwickelt. Die auf dem VII. Kongreß ausgearbeitete politische Orientierung wurde nicht nur von den Sektionen der Kommunistischen Internationale begrüßt. Viele sozialdemokratische Arbeiter stimmten ebenfalls den Beschlüssen des Kongresses zu. Die Vereinigung der Reihen der Arbeiterklasse, der Bauernschaft, aller Werktätigen und aller Anhänger der Demokratie auf der Grundlage einer breiten Einheitsfront entsprach den Anforderungen des praktischen Kampfes gegen Faschismus und Kriegsgefahr. Die Durchsetzung einer solchen breiten Bündnispolitik war jedoch kein einfacher Prozeß. Die Herstellung der Einheitsfront und der antifaschistischen Volksfront stieß sowohl auf den Widerstand der herrschenden Klassen in den faschistischen wie in den nichtfaschistischen Ländern als auch auf die Ablehnung der rechten Führer der SAI. Die faschistische und reaktionäre bürgerliche Propaganda forderte eine einheitliche Front aller Antikommunisten, um sie der Politik der Einheits- und Volksfront entgegenzustellen. Die Orientierung des VII. Kongresses und seine Beschlüsse sahen sich auch Angriffen "linker" Kräfte in der Arbeiterbewegung ausgesetzt, die in der Volksfrontpolitik eine Aufgabe der kommunistischen Klassenpositionen erblickten. Bereits auf dem Kongreß hatte Julian Lenski, der Generalsekretär der Kommu-
10
Pieck/Dimitroff/Togliatti , S. 135 ff.
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nistischen Partei Polens, solche Auffassungen zurückgewiesen und erklärt, daß die Volksfront kein reformistischer Einfall sei, sondern daß sie "den Kampf der Millionenmassen entfalten, die faschistischen Barrieren brechen und zum Sturz der faschistischen Bande der Unterdrücker des Volkes führen" müsse. ^ Georgi Dimitroff stellte in der Auseinandersetzung mit rechten und linken Kritikern der Volksfrontpolitik heraus: "Man kann sich schwer eine größere politische Kurzsichtigkeit denken, als die Prinzipien des Klassenkampfes der Politik der Volksfront gegenüberzustellen."
12
Die Beschlüsse des VII. Kongresses über die Einheits- und Volksfrontpolitik versetzten die kommunistischen Parteien in die Lage, eine klare strategisch-taktische Konzeption für ihr eigenes Vorgehen auszuarbeiten. Nach dem Kongreß vermochten sie in vielen Ländern in ständiger Wechselwirkung mit der Kommunistischen Internationale, in deren leitenden Organen die Erfahrungen der nationalen Sektionen kollektiv beraten und für die gesamte kommunistische Bewegung verallgemeinert wurden, die antifaschistische Volksfrontpolitik erfolgreich durchzusetzen. Im Jahre 1935 zeichneten sich im internationalen Kräfteverhältnis sichtbare Veränderungen ab. Der VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale hatte bereits darauf hingewiesen, daß sich die Ergebnisse des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion außerordentlich günstig auf die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zugunsten der revolutionären Arbeiterbewegung auswirkten. Der Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion brachte eine entscheidende politische, ökonomische, militärische und moralische Stärkung des ersten sozialistischen Staates und bildete eine Stütze für die von der kommunistischen Weltbewegung entwickelte neue Orientierung, die auf den Kampferfahrungen der KPdSU und aller kommunistischer Parteien beruhte. Gleichzeitig waren die werktätigen Massen nach den revolutionären Kämpfen des österreichischen und spanischen Proletariats im Jahre 1934 und nach dem erfolgreichen Widerstand der französischen Arbeiterklasse gegen die Offensive des Faschismus im gleichen Jahre mehr und mehr davon durchdrungen, daß es möglich ist, den Faschismus erfolgreich abzuwehren. "Und wenn das Jahr 1934 das Jahr der ersten Welle des Widerstandes gegen den vorstoßenden Faschismus in Österreich, Spanien und Frankreich war", hieß es in der "Kommunistischen Internationale", "so war das Jahr 1935 das Jahr des ernstlichen Beginns der großen
11 12
VII. -Vsemirnyl Kongress KommunistiSeskogo Internacionala. Kommunist ifieskaj a Partija Pol'si za antifaäistskij narodnyj front, Moskau 1935, S. 40. Dimitroff, Georgi. Die Volksfront zum Kampf gegen Faschismus und Krieg, in: Derselbe. Ausgewählte Schriften, B d 3 , Berlin 1958, S. 38.
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Kräftesammlung der internationalen Arbeiterklasse gegen den Faschismus."
13
Diese Ent-
wicklung war nicht zuletzt auf die mobilisierende Kraft und auf die konsequente Anwendung der Beschlüsse des VII. Kongresses durch .die Komintern und ihre Sektionen zurückzuführen. Im Herbst 1935, kurze Zeit nach dem Kongreß, ergriff das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) die Initiative und unterbreitete der SAI konkrete Vorschläge zu gemeinsamen Aktionen gegen die Aggression des faschistischen Italien in 14 Abessinien und die damit verbundene Kriegsgefahr. Das EKKI betrachtete diese Vorschläge auf der Grundlage der Beschlüsse des Kongresses als einen möglichen Ausgangspunkt für die Verwirklichung der Einheitsfront. Die SAI lehnte jedoch gemeinsame Aktionen der internationalen Arbeiterklasse gegen den faschistischen Aggressor ab und verließ sich auf Sanktionen des Völkerbundes. So erreichten die von der Kommunistischen Internationale und ihren Sektionen organisierten Aktionen nicht die notwendige Breite, um den italienischen Faschismus in die Schranken weisen zu können. Das EKKI verurteilte den Widerstand der Gegner einer antifaschistischen Einheitsund Volksfrontpolitik ganz entschieden und unternahm seinerseits konkrete Maßnahmen, um die Voraussetzungen für den Kampf gegen Faschismus und Krieg In den eigenen Reihen 15 zu verbessern.
In der Zeit von September 1935 bis Ende 1937 wurden auf den Sitzungen
des Sekretariats und des Präsidiums des EKKI Berichte von 36 kommunistischen Parteien über die Durchsetzung der strategischen und taktischen Linie des VII.
Kongresses
erörtert. Die Tätigkeit einzelner Parteien - so der französischen, 16 spanischen, deutschen und chinesischen - war mehrmals Gegenstand der Beratungen. Die Bemühungen des EKKI verdeutlichen, daß die Kommunistische Internationale und ihre Sektionen alles daransetzten, um die Massen für die Einheits- und Volksfront zu gewinnen. Von außerordentlicher Bedeutung für die konkrete Anwendung der Einheits- und Volksfrontpolitik war die Sitzung des Präsidiums des EKKI im März/April 1936. Georgi Dimitroff Das internationale Proletariat sammelt seine Kräfte, in: Die Kommunistische Internationale (im folgenden: KI), 1936, H. 1, S. 26. 14 Vgl. Gottwald. Klement, Der italienische Krieg, die Aktionseinheit der Arbeiterklasse und der Standpunkt der SAI, in: Ebenda, 1935, H. 19, S. 1670; Ercoli, M., Die Aufgaben der Einheitsfront im Kampf gegen den imperialistischen Krieg, in: Ebenda, H. 21, S. 1832 ff. 15 Vgl. Kuusinen. Otto. Kein Grund zur Selbstzufriedenheit, in: Ebenda, 1936, H. 1, S. 37 ff. 16 Vgl. Kuranow. G . G . . Der Kampf der kommunistischen Weltbewegung nach dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale für den Zusammenschluß aller Werktätigen gegen Faschismus und imperialistischen Krieg, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (im folgenden: BzG), 1966, H. 4, S. 619. 13
Zur Volksfrontpolitik der KI
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stellte in seinem Referat fest, daß sich die Richtigkeit der Orientierung des VII. Kongresses im praktischen Kampf bestätigt habe. Gleichzeitig wies e r darauf hin, daß es Schwächen bei der Anwendung der neuen Linie gäbe und die erreichten Ergebnisse noch nicht überall den Erfordernissen des Kampfes entsprächen. "Man darf das nicht nur mit der Politik der sozialdemokratischen Parteien, mit der Politik der Zweiten Internationale e r k l ä r e n . . . " , führte Georgi Dimitroff aus. "Man muß meiner Meinung nach auch das auffinden, was bei uns selbst - sowohl in der Kommunistischen Internationale als auch in den kommunistischen Parteien - nicht ausreicht, und ernsthaft darüber nachdenken und sich 17 diesbezüglich vor keiner Selbstkritik scheuen." Georgi Dimitroff beschäftigte sich weiter mit der Frage, wie durch konkrete, klar formulierte und zündende Losungen die breiten Massen zu antifaschistischen Aktionen mobilisiert und, ausgehend von den Massenbewegungen in Frankreich und Spanien, entsprechende Formen der Volksfront in weiteren Ländern geschaffen werden könnten.^ 8 Die Volksfrontbewegung nahm, entsprechend der historischen Entwicklung und der politischen Situation des jeweiligen Landes, verschiedene Formen und unterschiedliche Ausmaße an. In Frankreich, wo bereits am Vorabend des VII. Kongresses die Einheitsfront der Arbeiterklasse entstanden war, fand die strategische und taktische Orientierung der Kommunistischen Internationale mit der Entwicklung im Frühjahr 1936 eine glänzende Bestätigung. Dank der klugen Gewerkschaftspolitik der Französischen Kommunistischen Partei und der Unterzeichnung des Einheitsfrontabkommens mit der Sozialistischen Partei entstand in Frankreich die Volksfront als Bündnis der Arbeiter, Bauern und städtischen Mittelschichten, die durch die FKP, die Sozialistische Partei, die Radikalsozialistische Partei und die Gewerkschaften vertreten wurden. In den Wahlen vom April/Mai 1936 erreichte die Volksfront in Frankreich einen großen Sieg. Das Gewicht der Arbeiterparteien und insbesondere der FKP wuchs bedeutend an. Die Volksmassen erzwangen eine grundsätzliche Veränderung des Kräfteverhältnisses im Lande und die Bildung einer Volksfrontregierung 19 unter dem Sozialisten Léon Blum. Die FKP, die führende Kraft der Volksfront, erhielt in ihrem Kampf eine ständige Unterstützung durch die Kommunistische Internationale, wie Maurice Thorez auf dem
17 Ree' G.M. Dimitrova na zasedanii presidiuma UCKI 23 marta 1936 g. ob itogach primeneniia taktiki edinogo fronta i zadaSach organizacii bor'by protiv vojny i fasizma, in: Voprosy Istorii KPSS, 1969, Nr. 3, S. 10 f. 18 Ebenda, S. 11. 19 Vgl. Der Sieg der Volksfront in Frankreich, in: KI, 1936, H. 5, S. 447.
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VII. Kongreß betonte.
20
In mehreren Beratungen, an denen Vertreter der FKP unmittel21
bar beteiligt waren, nahm das EKKI zur Entwicklung der Volksfront in Frankreich Stellung. "Der Sieg der V o l k s f r o n t . . s c h r i e b das Organ des EKKI nach den Wahlen in Frankreich, "setzt nicht die Notwendigkeit des weiteren energischen Kampfes gegen den Faschismus von der Tagesordnung ab. Der Kampf ist durchaus nicht beendet. Im Gegenteil: der wirkliche Massenkampf fttr die Auflösung und Entwaffnung der faschistischen Banden, für ihre Isolierung von den Massen steht noch bevor. Es steht bevor ein beharrlicher Kampf um die völlige und unwiderrufliche Niederlage des Faschismus, um die Sicherung und Erweiterung der demokratischen Rechte und Freiheiten, um die Durchsetzung der Forderungen der Arbeiter- und Bauernmassen, ein hartnäckiger Kampf um die Erhaltung des 22
Friedens." Das EKKI unterstutzte die FKP in ihrem schweren Kampf gegen die Aushöhlung der Volksfront durch die Reaktion und die versöhnlerische Haltung der Führer der Sozialistischen Partei. Eine besondere Rolle spielte dabei die Frage nach dem Verhältnis der Kommunistischen Partei zur Volksfrontregierung, die durch die Praxis des Kampfes in Frankreich gestellt wurde. Um die Volksfront unter den Massen zu festigen, empfahl die Komintern der FKP, mit der Regierung der Sozialisten und Radikalen unter Léon Blum zusammenzuarbeiten und sie bei der Durchsetzung des Programms der Volksfront zu unterstützen. Die Festigung der Volksfront auf der unteren Ebene war unter den konkreten Bedingungen Frankreichs wichtiger, als auf die Bildung einer Regierung unter Beteiligung der Kommunisten zu drängen, um der Reaktion keine Angriffsmöglichkeiten gegen die 23 Volksfront zu bieten. Die FKP ging deshalb bei der Ausarbeitung ihrer Politik davon aus, "daß man nicht durch einen überstürzten Vormarsch der Arbeiter die Zukunft der Volksfront aufs Spiel setzen und nicht zulassen dürfe, daß zwischen der Arbeiterklasse und den Mittelschichten, besonders der Bauernschaft, ein Riß entstehe". "Die ganze Volksfront muß vorrücken", schrieb Maurice Thorez. "Die Arbeiterklasse darf nicht erlauben, daß man sie isoliert und zu einem verfrühten Kampf provoziert. Wir haben unsere jetzige Politik in der uns bindenden Formel zusammengefaßt: 'Alles für die Volksfront, alles durch die Volksfront. ' " 24 Auf diese Weise konnte die Kommunistische Internationale anhand der praktischen 20 Vgl. Thorez. Diskussion zum Bericht, S. 206. 21 Vgl. SirinjäT K . . Politika narodnogo fronta, in: Iz istorii Kominterna, Moskau 1970, S. 151 ff. 22 Der Sieg der Volksfront in Frankreich, in: KI, 1936, H. 5, S. 447. 23 Vgl. Sirinja, Politika narodnogo fronta. in: Iz istorii Kominterna, S. 153. 24 Thorez,. Maurice. Alles für die Volksfront, alles durch die Volksfront, in: KI, 1936, H« 9) S. 832*
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Erfahrungen in Frankreich die Schlußfolgerungen, die auf dem VII. Kongreß Uber die mögliche Teilnahme von Kommunisten an einer Volksfrontregierung gezogen worden waren, konkretisieren und die Bedingungen und Voraussetzungen für eine solche Teilnahme genauer bestimmen. ^ Die Volksfrontpolitik der FKP ermöglichte es nicht nur, die Angriffe der Reaktion und des Faschismus zurückzuschlagen, sondern sie führte auch zu wesentlichen Erfolgen bei der Verwirklichung der sozialökonomischen Forderungen der französischen Werktätigen. Die Volksfront ermöglichte die Durchsetzung von sozialen Maßnahmen und Beformen wie der Vierzig-Stunden-Woche, Lohnerhöhungen und bezahltem Urlaub, der Anerkennung der Rechte der Gewerkschaften durch die Unterzeichnung von Kollektivverträgen und der Wahl von Betriebsvertrauensmännern, der Verbesserung der Lage der Bauern in Form einer Aufwertung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse u . a . Besondere Aufmerksamkeit schenkte die FKP den Forderungen der Kleineigentümer und kleinen.Geschäftsleute, der Handwerker, der Erwerbslosen und Rentner. Wichtige Reformen, beispielsweise der Altersversorgung und zur Regelung der Beamtengehälter, stießen auf den erbitterten Widerstand der Großbourgeoisie. Die französische Reaktion versuchte schon in der ersten Periode der Durchführung des Volksfrontprogramms, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet durch Preiserhöhungen und Verletzung der Sozialgesetze in den Betrieben, wieder zum Angriff überzugehen. Aber die Hoffnungen der Großbourgeoisie und der faschistischen Reaktion, eine Zurücknahme des Volksfrontprogramms, vor allem des sozialen Programms, zu erzwingen, blieben unerfüllt. Die FKP setzte sich für die Festigung und Erweiterung der Einheit der Arbeiterklasse sowie der Einheit der werktätigen Massen in der Volksfront ein, um die wirtschaftlichen Forderungen der verschiedenen werktätigen Schichten durchzusetzen, um Heer, Polizei und Verwaltungsapparat von faschistischen Elementen zu säubern, den Gewerkschaftsbund zu stärken und das republikanische Spanien im Kampf gegen die faschistischen Interventen zu unterstützen. Die Politik der FKP, die "Volksfront, die Front des Brotes, des Friedens und der 26
Freiheit" zu festigen
, fand die volle Unterstützung der Arbeiterklasse und der werktätigen
Massen, die bereit waren, die Angriffe der Reaktion zurückzuschlagen und die Volksfront zu stärken. Sie wurde von der Komintern voll und ganz gebilligt. Auf dem 9. Parteitag der FKP, der im Dezember 1937 in Arles stattfand, verfolgte die Partei ihre Orientierung 25 26
Vgl. Die Kommunistische Internationale. S. 5üö. Vgl. Cogniot. J . . Das Ministerkabinett geht - die Volksfront bleibt, in: KI, 1937 , H« 8, S. 733«
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konsequent weiter. Maurice Thorez entwickelte den Gedanken, daß es notwendig ist, enger mit den christlichen und katholischen Werktätigen zusammenzuarbeiten, "in deren Interesse der gemeinsame Kampf mit ihren kommunistischen, sozialistischen und radikalen Brüdern 27 gegen die gemeinsamen Feinde aller Werktätigen liegt" . Der 9. Parteitag bewies die Bereitschaft der FKP, das Band der Aktionseinheit fester zu knüpfen und die Bemühungen der Reaktion, die Volksfront zu spalten, zurückzuschlagen. Auf der Grundlage des Einheitsfrontabkommens strebten die Kommunisten immer wieder danach, das Programm der Volksfront im Interesse des französischen Volkes zu verwirklichen. Im Sommer 1938, als die Werktätigen ihre Besorgnis Uber die Entwicklung in Frankreich zum Ausdruck brachten, stellte die FKP konkrete Forderungen auf. Sie verlangte u . a . Maßnahmen zur Wiederherstellung der Kaufkraft der Werktätigen und zur finanziellen Gesundung sowie politische Maßnahmen gegen die faschistischen Umtriebe und zur Vertei28
digung des Friedens. Die Volksfront in Frankreich scheiterte an den Angriffen der französischen Großbourgeoisi im Verein mit dem internationalen Monopolkapital und der unentschlossenen und letztlich ablehnenden Haltung der reformistischen sozialistischen FUhrer zur Einheitsfront. Ihr entscheidendes Ergebnis bestand darin, daß sie den Machtantritt des Faschismus in Frankreich verhindern konnte. "Das ist der größte Sieg des Proletariats und der Demokratie in Europa", schrieb Georgi Dimitroff. "Und die Werktätigen der anderen 29 kapitalistischen Länder können und müssen viel vom französischen Proletariat lernen." Der Französischen Kommunistischen Partei gebührt das Verdienst, daß dank ihren beharrlichen Anstrengungen für die Durchsetzung der Forderungen der Volksfront der Zusammenhalt der werktätigen Massen auch nach dem Zerfall der Vollsfrontregierung 1938 aufrechterhalten und der Grundstein für den erfolgreichen Kampf der französischen Röstistance gelegt wurde. Die antifaschistische Einheits- und Volksfrontpolitik der Komintern, der aufopferungsvolle Kampf der Kommunisten gegen die faschistische Diktatur und ihre Bemühungen, ein Zusammengehen aller ehrlichen antifaschistischen Kräfte zu erreichen, förderten das Vertrauen und die Bereitschaft bei vielen sozialdemokratischen Arbeitern und Vertretern demokratischer Schichten, auch in anderen Ländern der faschistischen Gefahr gemeinsam entgegenzuwirken. 27
Duclos. Jacques, Der 9. Kongreß der Kommunistischen Partei Frankreichs, in: Ebenda, 1938, H. 3/4, S. 278. 28 Vgl. Decaux, J . , Zum 4. Jahrestag des Einheitsfrontpaktes in Frankreich, in: Ebenda, H. 8, S. 791. 29 Dimitroff, Die Volksfront zum Kampf gegen Faschismus und Krieg, in: Derselbe, Ausgewählte Schriften, Bd 3, S. 50.
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In Spanien verfolgte die kommunistische Partei mit Unterstützung der Komintern angesichts eines möglichen faschistischen Umsturzes einen klaren Kurs auf die Schaffung der Volksfront. Das EKKI entsandte Jacques Duclos nach Madrid, um die Kommunistische Partei Spaniens in den Verhandlungen mit dem Führer der spanischen Linkssozialisten Largo Caballèro über ein gemeinsames Vorgehen der kommunistischen und sozialistischen Arbei30 ter zu unterstützen.
Die KPS knUpfte in ihrem Bestreben, eine breite Front aller Antifa-
schisten zu schaffen, an Forderungen an, die sowohl Kommunisten und Sozialisten als auch Anarchisten, Republikaner und katholische Nationalisten stellten. Dazu gehörte die Forderung nach Aufhebung der Todesurteile gegen die Teilnehmer an den Oktoberkämpfen 1934 in Asturien und nach Amnestie für 30 000 politische Gefangene. Daran waren alle spanischen Werktätigen interessiert. Deshalb bildeten diese Forderungen die Grundlage für gemeinsame Aktionen. Die Entschlossenheit der Arbeiterklasse und aller demokratischen Kräfte, der faschistischen Reaktion in Spanien den Weg zu verlegen, kennzeichnete die Verhandlungen zwischen der Kommunistischen, der Sozialistischen und der Republikanischen Partei und führte zur Gründung der Volksfront, die als Kampfbündnis aller republikanischen und demokratischen Kräfte entstand und sowohl die Massen der Arbeiter und Bauern als auch der städtischen Mittelschichten umfaßte. Im Februar 1936 erreichte die spanische Volksfront bei den Wahlen zu den Cortes einen großen Erfolg. Der Wahlsieg und die Bildung einer Volksfrontregierung bestätigten ebenso wie die Entwicklung in Frankreich die strategische und taktische Orientierung des VII. Kongresses der Kommunistischen Internationale. "Spanien hat gezeigt", schrieb die "Kommunistische Internationale", "daß ès nur eine Kraft gibt, die die faschistische Offensive aufhalten und zurückwerfen kann: Diese Kraft ist die mächtige Massenbewegung in der Einheitsfront der Arbeiterklasse und in der antifaschistischen Volksfront. Diese Kraft 31 kann den Faschismus besiegen und wird ihn besiegen." Der Sieg der Volksfront war ein entscheidender Schritt zur demokratischen Umgestaltung Spaniens. Trotzdem war die drohende Gefahr des Faschismus noch nicht gebannt. Die Kommunistische Internationale orientierte darauf, zur Verteidigung 32 der Republik entsprechende politische und wirtschaftliche Maßnahmen zu ergreifen. Als wichtigste Aufgaben ergaben sich, den antifaschistischen Kampf zu entfalten, die Bodenfrage zu lösen, die Steuerlasten für die Bauern zu vermindern, die Löhne zu erhöhen, den Staatsapparat von monarchistischen und faschistischen Elementen zu säubern sowie die nationalen 30 Vgl. Duclos, Jacques. Mémoires, Bd2: 1935-1939, Paris 1969, S. 106 ff. 31 Der Sieg der Volksfront in Spanien, in: KI, 1936, H. 3, S. 202. 32 Vgl. Die Kommunistische Internationale. S. 506.
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Forderungen der Basken, Katalonier u . a . zu verwirklichen. Das Präsidium des EKKI faßte einen Beschluß, in dem die Politik der Kommunistischen Partei Spaniens zur a l l s e i 33 tigen Festigung der Volksfront voll unterstützt wurde. Gemeinsam mit der Führung der spanischen P a r t e i arbeitete das EKKI eine prinzipielle, elastische Politik zur Stärkung der Volksfront a u s . Die spanischen Kommunisten konzentrierten ihr Augenmerk auf die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiterklasse, auf die Annäherung und Zusammenarbeit mit den sozialistischen und insbesondere mit den anarcho-syndikalistischen Arbeitern. Die KPS bemühte sich auch, Einfluß auf die katholischen Bevölkerungsschichten zu gewinnen. Sie t r a t dem provokatorischen Niederbrennen von Kirchen und Klöstern entschieden entgegen und zog die Trennungslinie nicht zwischen Katholiken und Kommunisten, sondern zwischen Republikanern und Antirepublikanern. Entscheidend f ü r die Festigung der Volksfront war die Bildung von Volksfrontkomitees in den Wohnbezirken, Betrieben und auf dem Lande als unmittelbarer Ausdruck des Willens der antifaschistischen Massen, um die Forderungen 34 nach Brot, Freiheit und Frieden auch garantieren zu können. Die Kräfte der Reaktion, die bei den Wahlen eine Niederlage erlitten hatten, bereiteten jedoch eine Meuterei gegen die demokratische Republik vor. Im Juli 1936 erhoben die faschistischen Generale unter Franco - unmittelbar unterstutzt vom deutschen und italienischen Faschismus - ihr Haupt gegen die Republik. Damit begann die
heldenhafte Etappe
der antifaschistischen Volksfront Spaniens, in der der Kampf f ü r die demokratische Umgestaltung des Landes aufs engste mit dem Abwehrkampf gegen die deutsch-italienische faschistische Intervention verschmolz. Die Kommunistische Internationale wies wiederholt darauf hin, daß sich in Spanien der Kampf gegen den Faschismus im internationalen Maßstab entwickelte. In Spanien ging es um die Festigung der militärstrategischen Positionen der faschistischen Achsenmächte im Mittelmeerraum und letztendlich um die Schaffung wichtiger Voraussetzungen f ü r die Entfesselung eines neuen Krieges. Deshalb war die Sache der Demokratie und des Friedens, die Sache des Kampfes gegen Faschismus und Krieg in allen Ländern der Welt untrennbar mit den Interessen der Volksfront in Spanien verbunden.^ 5 Das spanische Volk leistete trotz d e r ungünstigen Bedingungen, unter denen es den Kampf gegen die faschistischen Aufrührer und die ausländischen Interventen aufnehmen
33 34 35
Vgl. Präsidiumssitzung des EKKI (Mai 1936>, in: KI, 1936, H. 7, S. 677 f . Ebenda. Vgl. Dimitroff. Georgi. Zwei J a h r e heroischer Kampf des spanischen Volkes, In: Ebenda, 1938, H. 8, S. 711 f f .
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mußte, der faschistischen Offensive entschlossenen Widerstand. "Der ganze Verlauf des Kampfes des spanischen Volkes", schrieb Georgi Dimitroff, "hat die Richtigkeit der Politik der Volksfront unwiderlegbar bewiesen . . . Ohne die Volksfront wäre das spanische Volk schon längst innerlich desorganisiert, von den faschistischen Eroberern zerschlagen 36 und unterjocht worden." Auf internationaler Ebene war es die sozialistische Sowjetunion, die sich der Nichteinmischungspolitik der Westmächte entschieden widersetzte und die dem heldenhaften spanischen Volk nicht nur moralische, sondern auch militärische Hilfe leistete. Die aktive Unterstützung durch die Sowjetunion wirkte sich unmittelbar auf die Festigung der spanischen Volksfront aus. Die Kommunistische Internationale gewährte dem Kampf des spanischen Volkes unmittelbare Hilfe, die in zwei Richtungen erfolgte: erstens durch eine Analyse der spanischen Revolution und die damit verbundenen konkreten Hinweise für die Volksfrontpolitik im Inneren und zweitens durch ein umfassendes Aktionsprogramm des EKKI zur Unterstützung der Spanischen Republik auf internationaler Ebene. Das EKKI nahm allein im Jahre 1936 dreimal(im Mai., September und Dezember) zu Grundfragen der Volksfront und des nationalrevolutionären Kampfes in Spanien Stellung. Im September 1936 beschäftigte sich das Sekretariat des EKKI eingehend mit den Aufgaben und dem Charakter der demokratischen Revolution. Georgi Dimitroff wies in seinen Ausführungen darauf hin, daß die spanische Revolution bei dem bestehenden Klassenkräfteverhältnis Uber den Rahmen einer bürgerlich-demokratischen Revolution in der Epoche des Imperialismus hinausging. Zum erstenmal stand damit in der Praxis konkret die Frage nach der demokratischen Revolution neuen Typus bzw. nach dem Staat37der neuen Demokratie, die theoretisch auf dem VII. Kongreß konzipiert worden war. Die Komintern kam zu der Einschätzung, daß "die demokratische Republik, die in Spanien errichtet wird", einen neuen Typ der demokratischen Republik, eine "neue Demo38 kratie" verkörperte.
Die Schlußfolgerungen Uber den Charakter der spanischen Revo-
lution und ihre Triebkräfte boten der KPS eine unmittelbare Hilfe in ihrem Kampf für die Stärkung der Volksfront. Der Generalsekretär der spanischen Partei, José Diaz, formulierte davon ausgehend als Hauptaufgabe, "unsere Demokratie, unsere parlamentarische Republik neuen Typus", die "auf der aktiven Teilnahme der Massen am politischen Leben des Landes
36 Ebenda, S. 716. 37 Vgl. Vvstuplenie G.M. Dimitrova na zasedanii Sekretariata UCKI 18 sentjabrja 1936 g. po ispanskomu voprosu. in: Voprosy Istorii KPSS, 1969, Nr. 3, S. 12 ff. 38 Vgl. Ercoli. M., Über die Besonderheitender spanischen Revolution, in: KI, 1936, H. 11/12, S. 1101 ff.
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[basiert]"
, mit allen Mittein zu verteidigen. Nach dem faschistischen Franco-Putsch
und der Intervention Deutschlands und Italiens forderte die Kommunistische Internationale den sofortigen Abzug der faschistischen Interventionsstreitkräfte, die Aufhebung der Blockade über die Spanische Republik und Sanktionen des Völkerbundes gegen die faschistischen Aggressoren. Im Oktober 1936 wandte sich das EKKI an die SAI und schlug vor, gemeinsam gegen die Politik d e r "Nichteinmischung"
vorzugehen, die Waffenlieferungen fiir die faschisti-
schen Aufruhrer zu verhindern und der spanischen Bevölkerung, insbesondere 40 den Frauen und Kindern, Hilfe in F o r m von Lebensmitteln und Kleidung zu gewähren. Die Komintern bemUhte sich vom ersten Tage an, konkrete Aktionen der Arbeiter und aller antifaschistischen Kräfte im internationalen Rahmen zur Verteidigung des spanischen Volkes zu organisieren, weil sie davon ausging, daß "eine gemeinsame Aktion der Parteien und Gewerkschaftsorganisationen des Weltproletariats in allen Ländern solch eine machtvolle Bewegung ausgelöst [ h ä t t e j , die schon in k ü r z e s t e r F r i s t die gesamte internationale Lage verändert, d e r Offensive der faschistischen Aggressoren den Weg v e r s p e r r t und zweifellos die Befreiung sowohl des spanischen wie des chinesischen Volkes von den faschistischen E r o b e r e r n 41 erleichtert hätte"
. Ungeachtet der aufrechten persönlichen Haltung einiger sozialistischer
F ü h r e r , wie Brouck^res, Vanderveldes u . a . , lehnte die S^I die Vorschläge der Komintern ab. Unter dem Druck der Forderungen vieler sozialdemokratischer Arbeiter fand sich zwar die Führung der SAI im Juni und Juli 1937 in Annemasse und P a r i s zu Verhandlungen mit der Komintern bereit 42 , die V e r t r e t e r der SAI kamen jedoch nicht mit dem Ziel, "die Aktionseinheit der internationalen Arbeiterorganisationen praktisch herzustellen, sondern nur, um die Zweckmäßigkeit gemeinsamer Aktionen, dort, wo es möglich ist, anzuerken43 nen"
. Nur die Komintern blieb den Prinzipien des proletarischen Internationalismus t r e u . Die internationale Solidarität mit dem spanischen Volk fand ihren Ausdruck in v e r -
schiedenen Formen: in Demonstrationen und Protesten zum Schutz der Spanischen Republik 39 40 41 42
43
Diaz, J o s é . Schließt die Reihen der Volksfront enger! Zerschmettert die Meuterer und Interventen!, in: Ebenda, 1938, H. 1, S. 58. Vgl. Voi na i revoliucija 1936-1939, Bd 1, Moskau 1968, S. 434; siehe auch Die Kommunistische Internationale, S. 534. Dimitroff, Zwei J a h r e heroischer Kampf des spanischen Volkes, in: KI, 1938, H. 8, S. 722. Vgl. Briefwechsel des Exekutivkomitees der Komintern mit der Sozialistischen Arbeiterinternationale Uber die Aktionseinheit, in: Ebenda, 1937, H. 6, S. 529 f f . ; Reisberg. Arnold. Die Bemühungen d e r Kommunistischen Internationale um die internationale Aktionseinheit zur Unterstützung des kämpfenden spanischen Volkes, in: Interbrigadisten, Berlin 1966, S. 151 f f . Dimitroff. Georgi. Faschismus ist Krieg, in: Derselbe, Ausgewählte Schriften, Bd 3, S. 81.
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und gegen die Zerstörung friedlicher spanischer Städte und Dörfer, in Sendungen von Lebensmitteln und Medikamenten, in Forderungen nach Abberufung der faschistischen Interventionstruppen. Ihre höchste Form fand sie in der Teilnahme der Internationalen Brigaden 44 am Freiheitskampf des spanischen Volkes. Viele freiwillige antifaschistische Kämpfer aus aller Welt gaben für die Sache des spanischen Volkes ihr Leben. Die Kommunistische filternationale schmiedete mit der Organisierung der Internationalen Brigaden, denen nicht nur Kommunisten, sondern Antifaschisten verschiedener politischer Richtungen angehörten, "auf den Schlachtfeldern in Spanien die internationale antifaschistische Front . . . Das war für viele Parteien, politische Funktionäre und künftige Staatsmänner eine echte militärische 45 und politische Schule."
José Diaz erklärte zur Hilfe der Komintern für das heldenhaft
kämpfende spanische Volk, daß sie "eine äußerst wichtige Rolle [spielte]. Unser Volk wird der Kommunistischen Internationale und ihrem ruhmvollen Steuermann, dem großen antifaschistischen Kämpfer, GenossenDimitroff, derunermüdlichdafürkämpfte undkämpft, daß sich alle Kräfte des internationalen Proletariats zur Unterstützung Spaniens vereinigen und ge46 meinsam handeln, ewig dankbar sein." Die Volksfront in Spanien vermittelte der Komintern wichtige Lehren, insbesondere für das Schmieden breiter nationaler Einheitsfronten gegen den internationalen Faschismus. Als sich die militärische Lage für die Spanische Republik zu Beginn des Jahres 1938 verschlechterte, orientierte die KPS im Einvernehmen mit dem EKKI darauf, einen Block aller spanischen Patrioten, eine nationale Einheit zu schaffen, in der alle Spanier ohne Unterschied der Klasse und ideologischen Richtung, Arbeiter, Bauern, Angehörige des städtischen Kleinbürgertums und der Intelligenz sowie Vertreter der Bourgeoisie, die sich gegen eine Versklavung Spaniens durch die deutschen und italienischen faschistischen 47 Interventen zur Wehr setzten, zusammenstanden. Diese im antifaschistischen Kampf gewonnenen Erkenntnisse besaßen eine prinzipielle Bedeutung für die Strategie der kommunistischen Parteien in anderen Ländern. So wie das spanische Volk nicht nur für die Freiheit und Unabhängigkeit Spaniens, sondern auch die Erhaltung des Friedens und der demokratischen Errungenschaften für die Werktätigen der ganzen Welt kämpfte, so war diese Politik von außerordentlicher Bedeutung für die Bündnispolitik der Komintern und der anderen Sektionen während der schweren Jahre des antifaschistischen Widerstandskampfes. Die KPS hat selbst während des zweiten Weltkrieges, als der Kampf gegen die Einbeziehung 44
Vgl. dazu Kühne. Horst, Revolutionäre Militärpolitik 1936-1939. Militärpolitische Aspekte des national-revolutionären Krieges in Spanien, Berlin 1969, S. 167 ff. 45 Die Kommunistische Internationale, S. 532 f. 46 Diaz, Schließt die Reihen der Volksfront enger, a . a . O . , S. 55. 47 Vgl. Istorija Kommunistióeskoj partii Ispanii. Moskau 1961, S. 186; Jemines, Antonio. R . , Zweieinhalb Jahre Krieg für die Unabhängigkeit Spaniens, in: KI, 1939, H. 1, S. 79 ff.
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des Landes in den Krieg auf Seiten Hitlerdeutschlands in den Mittelpunkt rückte, diese Politik unter den neuen Bedingungen erfolgreich fortgeführt. Die Kommunistische Internationale stärkte mit i h r e r grundlegenden Orientierung auf die Einheits- und Volksfrontpolitik und durch ihre unmittelbare Hilfe bei der Organisierung der Volksfrontbewegung in den Jahren nach dem VII. Kongreß auch die Positionen der kommunistischen Parteien in anderen Ländern Europas und außerhalb des europäischen Kontinents. In den Beschlüssen über die Aufgaben der nationalen und internationalen Sektionen unterstützte die Komintern deren Maßnahmen f ü r den Zusammenschluß aller antifaschistischen Kräfte und vermittelte wertvolle Erfahrungen. Die Leitungsorgane der Komintern berieten gemeinsam mit den Vertretern der einzelnen Parteien über die wichtigsten Fragen des Kampfes in ihren Ländern. ^ In England, wo die Voraussetzungen f ü r die Volksfront auf dem Boden einer breiten demokratischen Bewegung f ü r die Bildung einer Friedensallianz gegen die faschistischen Achsenmächte entstanden, verhinderte die Massenbewegung der englischen Arbeiterklasse trotz der ablehnenden Haltung der Labour-Führung zur Einheitsfront den Machtantritt der Faschisten. Das EKKI nahm unmittelbaren Anteil an der Ausarbeitung der Politik der 49 Kommunistischen Partei Großbritanniens. Die Kommunistische Partei schlug als Grundforderungen f ü r ein gemeinsames P r o g r a m m der Volksfront vor: die Verteidigung der demokratischen Rechte und die Verbesserung d e r Lebensbedingungen des englischen Volkes sowie die Verwirklichung einer Außenpolitik, die auf eine enge Zusammenarbeit Englands und Frankreichs mit der Sowjetunion und auf gemeinsame Aktionen gegen die faschistischen Aggressoren gerichtet w a r . In der amerikanischen Kommission des EKKI warnte Georgi Dimitroff die Kommunistische P a r t e i der USA, die Politik der Regierung zu idealisieren und eine Nachtrabpolitik gegenüber der imperialistischen Regierung zu betreiben. F ü r die amerikanischen Kommunisten bestand eine wesentliche Aufgabe darin, die machtvolle Massenstimmung des Volkes f ü r den Frieden und die Bewegung gegen die Neutralitätspolitik in den Strom der antifaschistischen Volksfrontbewegung einzubeziehen. E s kam darauf an, die T r ä g e r dieser Massen-
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49 50
Vgl. Die Kommunistische Internationale. S. 513 f f . ; ausführlicher zum Ringen der kommunistischen Parteien in Polen, Ungarn und anderen Ländern siehe Protokoll der wissenschaftlichen Konferenz des Instituts f ü r Marxismus-Leninismus beim ZK der SED und des Instituts f ü r Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED aus Anlaß des 30. Jahrestages der B r ü s s e l e r Konferenz der KPD (als Manuskript v e r vielfältigt). v g l . Die Kommunistische Internationale, S. 515. v g l . Campbell, J . B . , Der Kampf um die Volksfront in Großbritannien, in: KI, 1938, H. 7, S. 651.
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Stimmungen - die Amerikanische Liga ftir Frieden und Demokratie, die Freunde der Lincoln-Brigade, die Organisation der spanischen Veteranen u . a . - zu stärken und sich nicht ausschließlich auf die Bildung einer Arbeiter-Farmerpartei zu beschränken. Diese Organisationen verbreiteten die Wahrheit über den antifaschistischen Kampf des spanischen Volkes zur Verteidigung der Demokratie, sie unterstützten die amerikanischen Freiwilligen in Spanien und setzten sich für den Boykott japanischer Waren und für die Unterstützung des chinesischen Volkes in seinem gerechten Kampf ein. Nur über diese praktischen Maßnahmen konnte dem amerikanischen Volk die Einsicht vermittelt werden, daß den faschistischen Aggressoren Einhalt geboten und zugleich jene Kräfte, die der Volksfront im Lande 51 zustrebten, gefördert werden konnten. Die praktisch verwirklichte Volksfrontpolitik der Kommunistischen Internationale bewirkte, daß auch der antifeudale, antiimperialistische und antifaschistische Kampf in den Kolonien und abhängigen Ländern breite Ausmaße annahm. So gelang es den kommunistischen Parteien in Chile und anderen latein- und mittelamerikanischen Ländern, durch ihren aufopferungsvollen Kampf für den Zusammenschluß der Arbeiter, Bauern sowie kleinbürgerlicher und selbst radikaler Kräfte der nationalen Bourgeoisie die Pläne des nordamerikanischen Imperialismus und der einheimischen Reaktion zur Errichtung 52 faschistischer Diktaturen zunichte zu machen. Von außerordentlicher Bedeutung waren die Erfahrungen der spanischen Volksfront für die Entwicklung in China. Der Einfall des japanischen Militarismus komplizierte die Lage im Lande sehr. Die KPCh konnte ihren revolutionären Kampf nur weiterführen, wenn durch den Zusammenschluß aller patriotischen Kräfte der Sieg Uber den gemeinsamen Feind - die japanischen Eroberer - erkämpft wurde. Mit unmittelbarer Hilfe des EKKI schmiedete die KPCh die antijapanische nationale Einheitsfront, die den Eroberungsplänen der faschistischen Aggressoren sowohl in Asien als auch in Europa und anderen Teilen 53 der Welt einen schweren Schlag versetzte. Von entscheidender Bedeutung waren die Beschlüsse des VII. Kongresses und die praktischen Maßnahmen des EKKI für die Ausarbeitung einer breiten Volksfrontpolitik in den faschistischen Ländern. Dort war die Durchsetzung eines Volksfrontbündnisses 51 Vgl. Brown. Fred. Gegen die Politik der Isolierung in den USA, in: Ebenda, H. 5, S. 410. 52 Siehe Sirinja, Politika narodnogo fronta, in: Iz istorii Kominterna, S. 170 ff. 53 Vgl. Beschluß des Präsidiums des EKKI. in: KI, 1938, H. 7, S. 698; siehe auch Piazza. Hans. Die Bedeutung des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale für die nationale Befreiungsbewegung, in: Kolloqium anläßlich des 85. Geburtstages Georgi Dimitroffs, Georgi-Dimitroff-Museum Leipzig, 1968, S. 71 f f . ; Komintern i Vostok. Moskau 1969.
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ä u ß e r s t k o m p l i z i e r t . Zum U n t e r s c h i e d von F r a n k r e i c h und solchen L ä n d e r n , in denen keine offene f a s c h i s t i s c h e Diktatur b e s t a n d , konnte in den f a s c h i s t i s c h e n Staaten keine b r e i t e F r o n t a l l e r A n t i f a s c h i s t e n auf l e g a l e m Wege g e s c h a f f e n w e r d e n . In Deutschland b e i s p i e l s w e i s e s t i e ß die Politik d e r KPD nicht n u r auf die b r u . a l e Unterdrückung und den T e r r o r d e r f a s c h i s t i s c h e n Machtorgane, dem alle revolutionären und oppositionellen K r ä f t e u n t e r w o r f e n w u r d e n , s o n d e r n auch auf ein ausgeklügeltes System d e r f a s c h i s t i s c h e n M a s s e n b e e i n f l u s s u n g , d e r nationalen und antikapitalistischen Demagogie. Deshalb konnte die KPD in i h r e r Volksfrontpolitik die E r f a h r u n g e n a n d e r e r L ä n d e r nicht s c h e m a t i s c h ü b e r n e h m e n , s o n d e r n sie mußte eine F o r m d e r Z u s a m m e n a r b e i t a l l e r a n t i f a s c h i s t i s c h e n K r ä f t e finden, die u n t e r den Bedingungen d e r f a s c h i s t i s c h e n Diktatur a m w i r k s a m s t e n w a r . " G e r a d e in H i t l e r - D e u t s c h l a n d m u ß m a n b e s o n d e r e , p a s s e n d e F o r m e n und Losungen finden", r i e t die " K o m m u n i s t i s c h e I n t e r n a t i o n a l e " . "Wenn keine Möglichkeit b e s t e h t , eine Bewegung durch Aktionen m i t offenem V i s i e r a u s z u l ö s e n , m u ß man neben d e r illegalen Agitation und d e r H e r s t e l l u n g i l l e g a l e r Verbindungen solche legalen F o r m e n d e r Bewegung ausfindig m a c h e n , die e i n e r a n t i f a s c h i s t i s c h e n Bewegung nicht gleichen (und schon g a r nicht d e r f r a n z ö s i s c h e n Volksfront ähnlich sind), die a b e r die M a s s e n allmählich in die Bahn d e r Opposition und 54 des W i d e r s t a n d s gegen die Politik d e r f a s c h i s t i s c h e n R e g i e r u n g l e n k e n . " Die drohende K r i e g s g e f a h r , die zunehmende Ausplünderung d e s deutschen Volkes, d e r T e r r o r nicht n u r gegen die r e v o l u t i o n ä r e n A r b e i t e r , s o n d e r n auch gegen die p r o t e s t i e renden B a u e r n , W i s s e n s c h a f t l e r , K ü n s t l e r und die gläubigen Werktätigen f ü h55 r t e n in D e u t s c h land l a n g s a m zu e i n e m P r o z e ß d e r Sammlung d e r a n t i f a s c h i s t i s c h e n K r ä f t e .
In d e r S t e l -
lungnahme zu den E r g e b n i s s e n d e r B r ü s s e l e r Konferenz d e r KPD gab d a s P r ä s i d i u m d e s EKKI den Hinweis, den R a h m e n d e r Volksfront dadurch zu e r w e i t e r n , daß auch V e r t r e t e r b ü r g e r l i c h e r P a r t e i e n , die 56 zum Kampf gegen die f a s c h i s t i s c h e Diktatur b e r e i t w a r e n , einbezogen w e r d e n s o l l t e n . Die KPD v e r f o l g t e , ausgehend vom B r ü s s e l e r Manifest, eine k l a r e O r i e n t i e r u n g . S e h r positiv w i r k t e s i c h auf den Z u s a m m e n s c h l u ß a l l e r H i t l e r g e g n e r die Gründung und Tätigkeit d e s V o l k s f r o n t a u s s c h u s s e s in P a r i s a u s . " D a s P r o b l e m d e r Sammlung d e r K r ä f t e b e s t e h t d a r i n " , s c h r i e b W a l t e r U l b r i c h t , " d i e M a s s e n von d e r Notwendigkeit und Möglichkeit d e r Rettung Deutschlands v o r den f a s c h i s t i s c h e n K r i e g s a b e n t e u e r a zu überzeugen und eine Politik z u r Entfaltung d e s M a s s e n w i d e r s t a n d e s gegen die u n e r t r ä g l i c h e n O p f e r , eine Politik d e r Volksfront u n t e r den Bedingungen d e r Illegalität d u r c h z u f ü h r e n . " 57 Da m i t d e r E r r i c h t u n g d e r f a s c h i s t i s c h e n T e r r o r h e r r s c h a f t jede legale
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z w e i J a h r e Kampf f ü r die a n t i f a s c h i s t i s c h e V o l k s f r o n t , in: KI, 1937, H. 9, S. 807. Vgl. dazu Geschichte d e r deutschen A r b e i t e r b e w e g u n g . Bd 5, B e r l i n 1966, S. 144 f f . Vgl. Die K o m m u n i s t i s c h e I n t e r n a t i o n a l e . S. 497.
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Betätigungsmöglichkeit für die Antifaschisten verlorenging, mußten andere Formen für eine Verständigung der antifaschistischen Kräfte genutzt werden: beispielsweise durch die Zusammenarbeit in der Deutschen Arbeitsfront (DAF), der Nationalsozialistischen Betriebsorganisation (NSBO), in den Sportorganisationen, im Luftschutz, in der Hitlerjugend oder im Reichsheer. Entscheidend dabei war, daß sich die beiden Arbeiterparteien, KPD und 58 SPD, Uber ein gemeinsames Vorgehen verständigten. Im faschistischen Deutschland erfolgten die Annäherung und der Zusammenschluß der Hitlergegner über vielfältige Formen: liber die Flüsterpropaganda und die Verbreitung von Meldungen illegaler Sender. Das war einer der ersten Schritte im Kampf um die freie Meinungsäußerung. Eine weitere Möglichkeit, die von den Kommunisten bewußt ausgenutzt wurde, war der Kampf um die Rechte und Forderungen der Arbeiter in den Betrieben auf der sehr begrenzten legalen Ebene. Die Kommunisten unterstützten die Forderungen und Beschwerden an die Funktionäre der DAF gegen die Verlängerung der Arbeitszeit, gegen Sonntagsschichten u . a . , indem sie sich auf die tariflichen Bestimmungen bzw. auf Ver59 sprechungen der NSDAP beriefen. Tatsächlich konnten auf diese Weise erste Ergebnisse nicht nur in einzelnen Betriebsabteilungen, sondern in größeren Betrieben erreicht werden, wodurch Voraussetzungen für breitere Widerstandsaktionen und in größerem Rahmen entstanden. Mit den zunehmenden Kriegsprovokationen, die Deutschland an den Rand eines neuen Kriegsabenteuers führten, wuchs auch die Opposition der gläubigen Schichten. Entgegen den Verfechtern der sogenannten reinen Prinzipien des Sozialismus ließ sich die KPD ebenso wie alle Sektionen der Kommunistischen Internationale von dem Grundsatz ihrer BUndnispolitik leiten, daß man die gläubigen Massen nicht geringschätzig behandeln, sondern in die gemeinsame Front des Kampfes einbeziehen muß. Hinzu kam, daß die werktätigen Gläubigen - Katholiken und Protestanten - wie ihre atheistischen Klassenbrüder durch die Aufhebung der Gewissensfreiheit, die Zuchthausurteile und die Schrecken der Konzentrationslager am eigenen Leibe erleben mußten, was der Faschismus bedeutete. Die gläubigen Massen strebten deshalb nach politischer Aktivität und suchten nach einer Orientierung. Die Aufgabe der Kommunisten bestand darin, ihnen den Ausweg im gemeinsamen Kampf gegen Faschismus und Krieg zu weisen.
57
Ulbricht. Walter. Der Kampf gegen Hitlers Kriegspolitik in Deutschland, in: Derselbe ZurGeschichtederdeutschenArbeiterbewegung, Bd2:1933-1946, 2. Zusatzbd, Berlin 1968, S. 159. 58 Ebenda, S. 160. 59 Vgl. derselbe. Neue Aufgaben der KPD, in: Ebenda, Bd 2, Berlin 1954, S. 159.
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Erwin Lewin Die auf der Negation des faschistischen Systems bzw. seiner Auswüchse beruhende
Haltung der nichtproletarischen Bündnispartner reichte jedoch für die Beständigkeit des Bündnisses nicht aus. Es war notwendig, die nichtproletarischen Kräfte schrittweise für die antiimperialistische demokratische Umgestaltung der Gesellschaft zu gewinnen. Eine bedeutende Rolle spielte dabei die Frage der Perspektive dieser Klassen und Schichten in 60
Deutschland nach dem Sturz der Hitlerdiktatur.
Die KPD orientierte von Anbeginn darauf,
daß die Einigung der antifaschistischen Kräfte nur durch eine Verständigung über die nächsten Teilforderungen und Uber die Konzipierung eines gemeinsamen Zieles erreicht werden konnte.®* Auf der Brüsseler Konferenz hatte die KPD als strategisches Ziel formuliert, mit der Volksfront die demokratische Ordnung wiederherzustellen und über die Errichtung einer demokratischen Republik die Mehrheit des deutschen Volkes auf den Übergang zum Sozialismus vorzubereiten. Auf der Berner Konferenz der KPD im Jahre 1939 wurde die strategische Orientierung präzisiert und in enger Zusammenarbeit mit dem EKKI ein Programm für diese neue Ordnung ausgearbeitet, das zugleich die Plattform für die erfolgreiche Bündnispolitik bildete, die sich im Feuer des antifaschistischen Widerstandskampfes und nach der Befreiung in der antifaschistisch-demokratischen und sozialistischen Revolution bewährte. Die Kommunistische Internationale und ihre Sektionen vermochten in den Jahren nach dem VII. Kongreß auf Grund ihrer konstruktiven Bündnispolitik viele Werktätige flir den Kampf gegen den Faschismus zu mobilisieren. In mehreren Ländern - darunter in Frankreich, England, den USA und einigen lateinamerikanischen Ländern - konnte die Arbeiterklasse, deren Rolle im Leben der Nation bedeutend angewachsen war, im Verein mit den antifaschistischen Kräften den Machtantritt des Faschismus verhindern. "Es ist wichtig", schrieb Klement Gottwald anläßlich des 20. Jahrestages der Kommunistischen Internationale, "sich' in Erinnerung zu rufen, daß seit dem Machtantritt Hitlers in Deutschland der Faschismus in keinem bedeutenden Lande der Welt aus eigener innerer Kraft zur Macht kam; weder durch die Cagoulards in Frankreich noch die Mosleyleute in England. 62 Es hat sich gezeigt, daß es möglich ist, dem Faschismus den Weg zu versperren."
60
Vgl. Vietzke, Siegfried. Zur Entwicklung der Konzeption der KPD über die deutsche demokratische Republik (1936), in: Jahrbuch für Geschichte, Bd 4, Berlin 1969, S. 149 ff. 61 Vgl. Ulbricht, Neue Aufgaben der KPD, in: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 2, S. 161. 62 Gottwald. Klement. Zum 20. Jahrestag der Kommunistischen Internationale, in: KI, 1939, H. 3, S. 262 f . .
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Die erfolgreiche Abwehr des Faschismus im Ergebnis der Einheits- und Volksfrontpolitik vermittelte den kommunistischen Parteien und den werktätigen Massen viele Erfahrungen, die für den weiteren Kampf gegen Faschismus und Kriegsgefahr große Bedeutung 63 ubesaßen. o Am Vorabend des zweiten Weltkrieges verschärfte sich die internationale Situation in erheblichem Maße. Die Kräfte des Faschismus und andere reaktionäre imperialistische Kreise, die zeitweise zurückgedrängt werden konnten, suchten wieder in die Offensive zu gelangen. Das hatte verschiedene Ursachen. Der Aufschwung der revolutionären und demokratischen Bewegung, die Ergebnisse der Volksfrontpolitik, die wachsende Stärke der Sowjetunion - alle diese Faktoren bewirkten, daß die faschistischen Mächte versuchten, ihre Positionen durch internationale Abmachungen zu stärken. Ausdruck dafür war die Unterzeichnung des Antikominternpaktes im November 1936, der von der Kommunistischen Internationale als "vereinbarter Vorstoß des Faschis64 mus auf der internationalen Arena" charakterisiert wurde. Es entstand ein militärpolitisches Bündnis mit ausgesprochen antikommunistischem und aggressivem Charakter, das nichtnurdie Sowjetunion, sondern alle friedlichen Völker bedrohte. Die Unterzeichnung dieses Abkommens widerspiegelte aber auch die Unruhe der faschistischen Aggressoren vor der anwachsenden Massenbewegung. "Der Berliner Pakt ist offenkundig gegen die einige Volksfrontbewegung gerichtet", schrieb die "Kommunistische Internationale". "Er ist darauf berechnet, die kleinbürgerlichen Organisationen abzuschrecken, gemeinsam mit 65 den Kommunisten am antifaschistischen Kampf teilzunehmen." Als Schlußfolgerung daraus ergab sich, eine feste Vereinigung aller Friedenskräfte zu erreichen. Der Kampf gegen die wachsende Gefahr eines neuen Weltkrieges und für den Zusammenschluß der Friedenskräfte in der ganzen Welt bildete deshalb einen unmittelbaren Bestandteil der Bündnispolitik gegen den Faschismus. Die Komintern orientierte ihre Sektionen in dieser Zeit darauf, eine größtmögliche Vereinigung aller friedliebenden 66 Kräfte in jedem Lande zu erreichen und eine internationale Friedensfront zu schaffen.
63 Über die Ergebnisse der antifaschistischen Volksfrontbewegung in den Jahren nach dem VII. Kongreß siehe auch Manuilski, D.S., Bericht der Delegation der KPdSU(B) beim Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale an den XVIII. Parteitag, in: Ebenda, Sonderheft, S. 54 ff. 64 Die Berliner Abmachung der Hauptkriegsanstifter, in: Ebenda, 1937, H. 1, S. 7. 65 Ebenda, S. 10. 66 Vgl. Dimitroff. Georgi. Die Einheitsfront des Kampfes für den Frieden, in: Ebenda, 1936, H. 5, S. 395 ff.; ausführlicher über den Zusammenhang zwischen Volksfrontpolitik und Friedenskampf siehe Anders. Maria. Der VII. Weltkongreß der Komintern und der Kampf um den Frieden, in: BzG. 1969, H. 3.
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Erwin Lewin Die herrschenden Kreise in den imperialistischen Ländern, die offen danach strebten,
sich mit den faschistischen Mächten gegen die Herausbildung einer internationalen Volksfront und gegen die Sowjetunion zu verständigen, widersetzten sich der friedensgefährdenden Politik der faschistischen Aggressoren dagegen nicht. Sie orientierten sich vielmehr auf Abmachungen mit den Achsenmächten und auf die Durchführung einer faschistenfreundlichen Politik. Der Abschluß des Münchener Abkommens 1938 bildete einen Höhepunkt in der offenen Begünstigung der faschistischen Staaten und ihrer Aggressionen durch die imperialistischen Westmächte. Die Kommunistische Internationale brandmarkte das Münchener Abkommen als eine "Politik der ehrlosen Kapitulation und der verbrecherischen Handlangerdienste für die faschistische Bäuberbande...", das "anstatt den Frieden zu retten . . . die kaum mehr abzuwendende Gefahr eines langwierigen, unermeßliche Opfer fordernden 67 Weltkrieges heraufbeschworen" hat. In seiner Analyse der internationalen Entwicklung nach dem Münchener Abkommen formulierte der Generalsekretär der Komintern folgende Aufgaben für die internationale Arbeiterbewegung: " . . . die Politik der räuberischen Abmachungen zwischen den faschistischen Aggressoren und den imperialistischen Cliquen Englands und Frankreichs zu sprengen; der in den Ländern der bürgerlichen Demokratie das Haupt erhebenden Reaktion, die gegen die sozialen Errungenschaften der Werktätigen, gegen die demokratischen Freiheiten, gegen die Arbeiterbewegung gerichtet ist, eine entschiedene Abfuhr zu erteilen; den Sieg des spanischen und chinesischen Volkes Uber die faschistischen Bäuber zu sichern; das tschechoslowakische Volk und die Völker der kleinen Länder gegen die fremdländische Versklavung zu verteidigen; der Arbeiterklasse und den Völkern der faschistischen Länder in ihrem Kampfe gegen die Diktatur der faschistischen Gangster und Kriegsbrandstifter allseitige 68 Hilfe zu erweisen." Eine außerordentliche Bedeutung erlangte die Unterstützung für das tschechoslowakische Volk, denn nach der Okkupation Österreichs wurde die Gefahr eines faschistischen Angriffs durch Hitlerdeutschland ganz akut. Die Kommunistische Internationale orientierte auf eine entschlossene Verteidigung der demokratischen Bechte des tschechoslowakischen Volkes und der Interessen aller anderen Völker. "Die Volksmassen, die Organisationen der Arbeiter und der Werktätigen müssen die Gefahr erkennen, in der sie sich befinden... Gegen diese reaktionäre Verschwörung das Volksfrontbündnis der Arbeiter mit den Bauern und städti-
6V Die Verschwörung von Miinchen. in: KI, 1938, H. 10, S. 977 f. 68 Dimitroff, Georgi. Einheitsfront des internationalen Proletariats und der Völker gegen den Faschismus. Nach der Münchener Verschwörung, in: Ebenda, H. 12, S. 1253.
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sehen Mittelschichten zu festigen, alle Organisationen der Werktätigen zu mobilisieren, die brüderliche Zusammenarbeit der Kommunisten und Sozialisten mit den aufrechten 69 Demokraten und den gläubigen Massen zu verstärken, ist eine unaufschiebbare Aufgabe." Die KPTsch rief die Volksmassen auf, die Unabhängigkeit des Landes zu verteidigen, wobei sie sich auf ihre Forderungen an die Regierung, die Gleichberechtigung der nichttschechischen Bevölkerung zu verwirklichen, stützte. Am 1. Mai 1938 organisierte die KPTsch Demonstrationen, auf denen tschechoslowakische, deutsche, ungarische und ukrainische Antifaschisten geschlossen und einmütig gegen die provokatorischen Forderungen der Faschisten und für die Verteidigung der tschechoslowakischen Selbständigkeit auftraten. An dieser Kampfentschlossenheit des werktätigen Volkes, seine Unabhängigkeit zu verteidigen, scheiterte auch der Versuch des deutschen Faschismus, die faschistische Wehrmacht be70 reits im Mai 1938 in die Tschechoslowakei einrücken zu lassen. Die Bemühungen der Komintern, die Kräfte der Arbeiterklasse und die internationalen demokratischen Kräfte zusammenzuschließen, wurden von der internationalen Sozialdemokratie wenig unterstützt. Rechte Führer einiger sozialdemokratischer Parteien, darunter der britischen Labour Party und der tschechoslowakischen Sozialdemokratie, und der SAI widersetzten sich der Einheits- und Volksfrontpolitik sowohl im nationalen Rahmen als auch international, wie ihr Verhalten zu den Angeboten der Komintern, gemeinsame Aktionen für das spanische Volk durchzuführen, bewies. Sie stellten sich nicht darauf ein, die bürgerliche Demokratie zu erneuern, sondern sie orientierten sich vielmehr darauf, die staatsmonopolistischen Bestrebungen des Monopolkapitals und die staatliche Einflußnahme auf das wirtschaftliche und politische Leben zu verstärken, um das Aufbegehren der Massen bereits im antifaschistischen Rahmen abzufangen und die Arbeiterklasse in das kapitalistische 71 System welter zu integrieren. Am Vorabend des zweiten Weltkrieges entstand für die internationale Arbeiterbewegung und für die Sowjetunion eine komplizierte Situation. Die Kommunistische Internationale warnte wiederholt vor dem Ausbruch eines umfassenden imperialistischen Krieges. Bereits die Niederwerfung des spanischen Volkes hatte den Brandherd eines neuen großen imperialistischen Krieges noch mehr entfacht. Am 1. Mai 1939 wandte sich das EKKI mit einem Vorschlag an die SAI und den Internationalen Gewerkschaftsbund, Verhandlungen über die Schaffung der Einheitsfront gegen die Brandstifter des Krieges aufzunehmen. Das EKKI
69 Die Verschwörung von München, in: Ebenda, H. 10, S. 989. 70 Vgl. Die Tschechoslowakei und der Weltfriede, in: Ebenda, H. 7, S. 608 ff. 71 Vgl. Die Kommunistische Internationale. S. 542.
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schlug "als Plattform für die Aktionseinheit" vor: Verteidigung des Friedens auf der Grundlage der entschlossenen Abwehr der faschistischen Aggressoren, Organisierung der kollektiven Sicherheit, Kampf in jedem kapitalistischen Land gegen die verräterische Politik der reaktionären Bourgeoisie, die ein Übereinkommen mit den faschistischen Aggressoren auf 72 Kosten "der Freiheit und Unabhängigkeit ihres eigenen Volkes sucht" . Dieser Vorschlag wurde nicht berücksichtigt. Um die Kriegsbrandstifter zu zügeln und den Frieden zu erhalten, mußte jede Möglichkeit im Interesse der revolutionären Kräfte genutzt werden. Die Regierung der Sowjetunion trug den entstandenen Bedingungen Rechnung, 73 als sie den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag unterzeichnete. Die Kommunistische Internationale unterstützte den Abschluß des Vertrages, der im Interesse der Sicherung des Friedens erfolgte und durch den die außenpolitische Isolierung des Sowjetstaates überwunden sowie wertvolle Zeit für die weitere Stärkung des sowjetischen Wirtschafts- und Militärpotentials - der entscheidenden Faktoren in der Auseinandersetzung mit dem F a schismus - gewonnen werden konnte. Die Haltung der Komintern, die teilweise bei verschiedenen kommunistischen Parteien Unverständnis hervorrief, bedeutete weder eine Änderung in der Einschätzung des Faschismus, noch wurde dadurch die Volksfrontpolitik aufgegeben, wie bürgerliche und rechtssozialdemokratische Geschichtsschreiber und Renegaten bis in 74 die Gegenwart behaupten.
Das EKKI verfolgte die grundlegenden Prinzipien der Volks-
front konsequent weiter und orientierte die kommunistischen Parteien darauf, breite antifaschistische Bündnisse herzustellen. In den Direktiven für die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei sowie für mehrere Parteien Mitteleuropas, der Balkanländer und Skandinaviens vom Sommer 1939 wurden die Aufgaben für die Entfaltung des Widerstandes gegen 75 die faschistischen Aggressoren formuliert. Trotz einiger Rückschläge bestätigte die Entwicklung auch am Vorabend des zweiten Weltkrieges, daß die Komintern mit ihrer Orientierung auf die und Massen Volksfrontpolitik den richtigen Weg eingeschlagen und 76 die Unterstützung derEinheitswerktätigen gefunden hatte.
72 Aufruf des EKKI zum 1. Mai 1939, in: KI, 1939, H. 5, S. 558. 73 vgl. Geschichte der sowjetischen Außenpolitik 1917-1945, 1. Teil, Berlin 1969, S. 424. 74 Vgl. Nollau, in: Das Parlament, 1964, Beilage 1, S. 40 f f . : Hoppe. August. Diarium der Weltrevolution, Pfaffenhofen (Ilm) 1967, S. 229; Braunthal, S. 517 ff.; Pirker, Theo, Utopie und Mythos der Weltrevolution. Zur Geschichte der Komintern, München 1964, S. 47; De Groot. Paul, De dertiger Jaren 1936-1939, Amsterdam 1964, S. 153 ff. 75 Vgl. Die Kommunistische Internationale. S. 543 f . 76 Vgl. dazu Krivoguz, I.M./Molcanov. I . M . . Lenin i bor'ba za edinstvo rabocego dvizenija, Moskau 1969, S. 295 ff.
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Die antifaschistische Volksfrontkonzeption erlangte nach der Entfesselung des Weltbrandes, mit der Durchsetzung der faschistischen Neuordnungspolitik in vielen europäischen Ländern größte Bedeutung für den nationalen und sozialen Befreiungskampf der unterjochten Völker und seine Ausweitung bis zum bewaffneten Widerstand. Die Komintern orientierte ihre Sektionen darauf, alle Kriegsgegner zu mobilisieren und eine Beendigung des imperialistischen Weltbrandes zu erzwingen. Für die kommunistischen Parteien ergab sich als Aufgabe, den Volksmassen in allen Ländern die wahren Ursachen des Krieges aufzudecken und mit allen Mitteln für seine Beendigung zu wirken, um so die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sie ihre führende Rolle in der Arbeiterbewegung und ihre historische Mission 77 erfüllen konnten. Die Kommunistische Internationale setzte ihre ganze Kraft ein, um die internationale antifaschistische Zusammenarbeit und Solidarität weiterzuentwickeln. "Die Verwirklichung der Kampfeinheit der Arbeiterklasse und die Schaffung einer wahren Volksfront gegen den von den Kapitalisten entfesselten Krieg", schrieb Georgi Dimitroff, "gegen die wütende ßeaktion und die schrankenlose Ausplünderung der Massen liegt im Lebensinteresse der Millionen Arbeitsmenschen der kapitalistischen Welt und vor allem der kriegführenden Länder. Und die Kommunisten stellen den Kampf für die Einheit der proletarischen Reihen und den Zusammenschluß der werktätigen78Massen nicht nur nicht ein, sondern verzehnfachen ihre darauf gerichteten Anstrengungen." Dabei fanden sie in der unabhängigen Außenpolitik der Sowjetunion, die die Grenzen des sozialistischen Staates sicherte, eine feste Stütze. In einem Artikel in der "Kommunistischen Internationale" betonte Palmiro Togliatti, daß "die Existenz der mächtigen Sowjetunion, ihre Friedenspolitik, ihre konkreten Vorschläge für die Beendigung des bewaffneten Konfliktes, alle ihre Anstrengungen, die Ausbreitung dieses Krieges einzuschränken, der Losung des Kampfes für den Frieden von allem Anfang an einen realen Inhalt gaben und diese Losung, die den Interessen und Wünschen der Völker entspricht, zu der konkretesten und gerechtesten Plattform für die Vereinigung der Kräfte der Arbeiterklasse, der Werktätigen und der79Völker machten, die aus der Hölle dieses Krieges heraus oder ihr fernbleiben wollen" . Die Komintern orientierte ihre Sektionen gleichzeitig darauf, den Kampf für die Verteidigung der nationalen Interessen der unterjochten Völker zu führen. Bereits in seinem Bericht an den XVIII. Parteitag der KPdSU(B) hatte D.S. Manuilski darauf hingewiesen, 77 Vgl. Dimitroff. Georgi. Der Krieg und die Arbeiterklasse der kapitalistischen Länder, in: KI, 1939, November, S. 1124 ff. 78 Ebenda, S. 1122. 79 Ercoli. M.. Der Kampf Lenins gegen den Sozialchauvinismus während des ersten imperialistischen Weltkrieges, in: Ebenda, 1941, H. 3, S. 246.
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"daß die Werktätigen den gerechten Krieg eines jeden Volkes fUr seine nationale Unabhängigkeit gegen die imperialistischen ßäuber unterstutzen werden. Sie werden den Krieg unterstützen, der zur schnellsten Niederlage der Weltreaktion und ihres Stoßtrupps - Deutschlands, Japans und Italiens - beiträgt... Die Kommunisten halten es für ihre erste Pflicht, die Werktätigen aller Länder zu mobilisieren, um dem Volk Hilfe zu leisten, das einen 80
gerechten Krieg fUhrt, um mit allen Mitteln den Sieg dieses Volkes zu fördern." Eine mit dem imperialistischen Charakter des Krieges verbundene Gesetzmäßigkeit bestand darin, daß der faschistische deutsche Imperialismus danach strebte, allen okkupierten Völkerndas Joch der nationalen Unterdrückung aufzuerlegen. Die unterdrückten Völker setzten sich jedoch entschlossen zur Wehr und trugen durch ihren Freiheitskampf Krieg hinein". Es entstand "ein völlig neues und machtvolles Element in den gegenwärtigen 81 eine breite "Front der unterdruckten Völker und Nationen"
.
Die Ausweitung der faschistischen Aggression, die Okkupation immer neuer Länder und die Durchsetzung der "Neuordnungspolitik" bewirkten, daß der Krieg bereits in seiner ersten Phase in zunehmendem Maße Elemente des nationalen antifaschistischen Befreiungskampfes einschloß. Die Kommunistische Internationale hat im weiteren Kriegsverlauf diese Entwicklungstendenz voll erkannt und daraus die entsprechenden Schlußfolgerungen gezogen. In den okkupierten Ländern waren es die Kommunisten, die, gestützt auf die Einschätzung des EKKI Uber das mögliche Umschlagen des imperialistischen Krieges in einen gerechten 82
Befreiungskrieg
, als erste den Kampf für die Wiedergewinnung der nationalen Selbständig-
keit und der demokratischen Rechte aufnahmen. Die Durchsetzung des faschistischen Massenvernichtungsprogramms verstärkte den Widerstandsgeist patriotischer Kräfte aus allen Volksschichten. Durch den persönlichen Einsatz und das Vorbild der Kommunisten angespornt, entstanden erste Widerstandsgruppen, die den Kampf in verschiedenen Formen (Sabotage, bewaffnete Aktionen) aufnahmen und im Verlaufe des Krieges zu mächtigen antifaschistischen nationalen Befreiungsfronten anwuchsen. Die kommunistischen Parteien strebten nach einem Zusammenschluß aller antifaschistischen Kräfte, um breite Kampfbündnisse gegen die faschistischen Okkupanten bzw. die 80 Manuilski. Bericht der Delegation der KPdSU(B), in: Ebenda, 1939, Sonderheft, S. 67. 81 Vgl. Der imperialistische Krieg. Militärische Siege und politische Krisen, in: Die Welt, Nr. 23 v. 6.6.1941, S. 712. 82 Im Zusammenhang mit dem Überfall des faschistischen Deutschlands auf Jugoslawien und Griechenland im Frühjahr 1941 zog das EKKI erste Schlußfolgerungen für die Haltung der kommunistischen Parteien (vgl. dazu Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv Cim folgenden: IML, ZPA], Sign. 243/1658, Bl. 2 f f . ) .
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von den Eroberern eingesetzten Quislingregime zu schaffen. Die Französische Kommunistische Partei erklärte sich bereit, "die Vereinigung des Volkes zum Kampf um die Uberaus 83 heilige Sache der nationalen Unabhängigkeit zu verwirklichen" . "Die große Hoffnung auf die nationale und soziale Befreiung liegt beim Volk", hieß es in der Erklärung der FKP. "Und die feurige und hochherzige Arbeiterklasse, die voller Vertrauen und voller Mut ist, bildet den Kern, um den sich die84Front der Freiheit, der Unabhängigkeit und Wiedergeburt Frankreichs gruppieren kann." In Polen führten die Kommunisten den antifaschistischen Kampf nach der Okkupation des Landes entschlossen weiter. Ausgehend von der Einschätzung des EKKI über den Verlauf des Krieges und seinen Charakter, betrachteten die polnischen Kommunisten den Widerstand des Volkes gegen die faschistischen Eroberer als entscheidende Aufgabe. Sie organisierten die ersten Sabotageakte in den Betrieben und den Widerstand gegen die faschistische Besatzungsmacht und entzündeten die Flamme, aus der sich der Massenwiderstand des polnischen Volkes entwickelte. In ihrem programmatischen Aufruf formulierte die Polnische Arbeiterpartei im Januar 1942 ein klares Programm für den Kampf gegen die faschistischen Okkupanten, das zugleich die Vorstellungen für ein künftiges volksdemokratisches Polen enthielt. 85 Auch die unterjochten Völker Südeuropas setzten sich gegen die 86
Aggressoren entschlossen zur Wehr. Als die faschistischen deutschen Armeen in den Jahren 1940/1941 nacheinander in die nord- und westeuropäischen sowie in die südosteuropäischen Länder einfielen, bewiesen die Komintern und ihre Sektionen den unterdrückten Völkern ihre tiefste Verbundenheit. Ihre unverbrüchliche Treue zu den Prinzipien der antifaschistischen Volksfront dokumentierte auch die KPD, als sie auf den Zusammenhang zwischen dem Kampf der deutschen Arbeiterklasse und des deutschen Volkes mit dem Ringen der von den Faschisten unterjochten Völker hinwies. "Der Freiheitskampf des deutschen Volkes", hieß es in der Entschließung der Berner Konferenz, "ist untrennbar verbunden mit dem Kampf der von Hitler und der Kriegsachse unterjochten und bedrohten Völker. Nur eine solche Politik liegt im nationalen
83 Thorez. Maurice. Ein Sohn des Volkes, Berlin 1952, S. 155. 84 Ebenda, S. 150. 85 Vgl. Pol'skoe raboEee dvizenie v godv vojny i gitlerovskoj okkupacii, Moskau 1968, S. 70 ff. ; siehe auch Seeber. Eva. Zur Veränderung des Kräfteverhältnisses der Klassen im antifaschistischen Befreiungskampf in Polen bis zum Beginn der volksdemokratischen Revolution (1939 bis Juli 1944), in: Jahrbuch für Geschichte, Bd 3, Berlin 1969, S. 255 ff. 86 Vgl. Kalbe. Ernstgert. Der Übergang zur volksdemokratischen Revolution in den Ländern Südosteuropas, in: Studien Uber die Revolution, Berlin 1969, S. 425.
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Interesse Deutschlands und ist eine Gewähr dafür, daß das deutsche Volk in diesen Völkern 87 nicht Feinde, sondern Bundesgenossen findet." Das Zentralkomitee der KPD verurteilte öffentlich die faschistischen Aggressionen und erklärte u . a . zum Überfall auf Jugoslawien und Griechenland: "Das jugoslawische Volk führt einen gerechten K r i e g . . . Die jugoslawischen Arbeiter und Bauern handeln zugleich im Interesse des arbeitenden Volkes aller europäischen Länder. Das Beispiel des jugoslawischen Volkes wird alle Völker zum Widerstand gegen den deutschen Imperialismus 88 ermuntern. In den okkupierten Ländern wird die nationale Freiheitsbewegung wachsen." So wurde der antifaschistische Kampf der deutschen Arbeiterklasse und der aufrechten Patrioten des deutschen Volkes zu einem wichtigen Bestandteil des weltweiten Ringens der Völker gegen die faschistische Barbarei. "In Treue zum proletarischen Internationalismus und im revolutionären Geiste der Interbrigaden des spanischen Freiheitskrieges", heißt es in den Thesen zum 25. Jahrestag der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus, "kämpften deutsche Kommunisten in den Reihen der Sowjetarmee, standen deutsche Antifaschisten Schulter an Schulter mit sowjetischen, polnischen, tschechoslowakischen, 89 französischen und jugoslawischen P a r t i s a n e n . . . " Der wortbrüchige Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 prägte den Charakter des zweiten Weltkrieges als antifaschistischen nationalen Befreiungskrieg endgültig und bestimmte seinen weiteren Verlauf. Der Kriegseintritt der UdSSR und der aufopferungsvolle Große Vaterländische Krieg der Sowjetvölker leiteten für den Befreiungskampf der unterjochten Völker eine neue Etappe ein. Noch im Jahre 1941 entstand unter dem Druck der kampfbereiten Volksmassen auf die imperialistischen Regierungen in den Überfallenen und in den bedrohten kapitalistischen Ländern die Antihitlerkoalition. Ihr Zustandekommen bedeutete nicht, daß die imperialistischen Mächte ihre Ziele, die Sowjetunion zu schwächen, aufgegeben hätten. Allerdings konnten sie diese nicht offen vertreten, da ihre Völker eine enge militärische und politische Zusammenarbeit mit den Sowjetvölkern forderten und sie auch der Unterstützung des sozialistischen Staates zur Niederwerfung der imperialistischen Konkurrenten bedurften. Der Zusammenschluß aller patriotischen und antifaschistischen Kräfte in breiten nationalen Kampffronten gegen die faschistischen Eroberer sowie die Kollaborateure und nationalen Verräter wurde das Gebot der Stunde. Das Sekretariat des EKKI beriet die neuen Aufgaben noch am 22. Juni. In seiner Rede führte Georgi Dimitroff aus: "Die Stellung 87 Zur Geschichte der Kommunistischen Partei Deutschlands, Berlin 1954, S. 384. 88 Die deutschen und die österreichischen Kommunisten zum Krieg gegen Jugoslawien und Griechenland, in: KI, 1941, H. 5, S. 493. 89 Neues Deutschland (Ausg. B) v. 31.3.1970, S. 3.
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der Kommunisten zum gegenwärtigen Weltkrieg ändert sich. Bis jetzt wurde der Krieg mit dem Ziel geführt, die Welt neu aufzuteilen. Das war ein imperialistischer Krieg. Die Kommunisten kämpften gegen den von beiden Seiten geführten Krieg und waren auf der Seite der Völker, die unter dem Krieg litten. Jetzt hat sich die Lage prinzipiell geändert. Der Charakter des Krieges änderte sich, denn es kam ein neues entscheidendes Moment hinzu: der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion... Man muß alle Völker zum aktiven Widerstand gegen die faschistischen Okkupanten organisieren und eine neue nationale Befreiungsbewegung durch solche Aktionen wie Massenstreiks, Sabotage usw. entwickeln... Alle Schläge sind gegen den Faschismus zu richten. Alles, was zur Niederlage des F a schismus beiträgt, ist taktisch richtig und nützlich. Die Gewährleistung des Sieges der 90 Sowjetunion - das ist die Voraussetzung für die Freiheit aller Völker." Im November 1941 präzisierte der Generalsekretär der Kommunistischen Internationale in einer Analyse die Aufgabenstellung für den antifaschistischen Widerstandskampf sowohl für die Satellitenstaaten der faschistischen Achsenmächte als auch für die okkupierten Länder. Er forderte, "alle Formen des Massenprotestes gegen die Okkupanten zu entwickeln, alle Mittel zur Desorganisierung der Hitlerschen Kriegsmaschine einzusetzen, Volksdemonstrationen, ökonomische und politische Streiks sowie den Partisanenkampf zu organisieren, wobei sie sich (die Kommunisten und alle aufrechten Patrioten - E . L . ) auf die schnellstmögliche Umwandlung dieses Kampfes in neue Fronten eines nationalen Krieges orientie„91 ren müssen"
.
Die kommunistischen Parteien setzten die von der Komintern gegebene Orientierung in die Tat um und trugen entscheidend dazu bei, daß die antifaschistischen Aktionen ihrer Völker mit dem Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion zu einem einheitlichen, die Welt umspannenden gerechten Befreiungskrieg verschmolzen. Der aufopferungsvolle Wider- ' stand der Sowjetvölker und der Roten Armee erfüllte die Patrioten aller Länder mit Siegeszuversicht, denn sie kämpften an der Seite eines Bündnispartners, dessen erklärtes Ziel darin bestand, nicht nur das eigene Land, sondern alle vom Faschismus unterdrückten 92 Völker zu befreien. Der Eintritt der UdSSR in den Krieg eröffnete auch dem deutschen Volk eine reale P e r spektive, die faschistische Diktatur zu beseitigen. "Unsere eigene Sache ist es, die von der Roten Armee siegreich verteidigt wird", erklärte die KPD in ihrem Aufruf vom 24. Juni 1941. 90 IML, ZPA, Sign. 243/1658, Bl. 26 ff. 91 Ebenda, Bl. 30/31. 92 Rundfunkrede J . W . Stalins vom 3. Juli 1941. in: Die Welt, Nr. 28, v. 11.7.1941, S. 859.
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"Der gemeinsame Sieg der Boten Armee und der um ihre nationale Freiheit kämpfenden 93 unterdrückten Völker wird auch der Sieg unseres deutschen Volkes s e i n . . . " Nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion wuchs die Widerstandsbewegung sprunghaft an. In Europa und außerhalb des Kontinents, in den okkupierten und in den Satellitenstaaten - Uberall intensivierten die kommunistischen Parteien gemeinsam mit allen antifaschistischen Kräften ihre Anstrengungen gegen die verhaßten faschistischen Eindringlinge. In den westeuropäischen Ländern Belgien, Holland, Frankreich, in Norwegen, in der Tschechoslowakei, in Polen und in den öüdosteuropäischen Ländern wuchs der anti94 faschistische Kampf in eine neue Phase hinüber. In den meisten Ländern entstanden breite antifaschistische Volksfrontorganisationen und Kampfbündnisse, die unter Führung der Arbeiterklasse alle antifaschistisch-demokratischen und patriotischen Kräfte vereinigten. In Jugoslawien und Griechenland entwickelten sich die Volksbefreiungsfronten im Jahre 1941. Die Nationale Befreiungsfront Albaniens und die Vaterländische Front Bulgariens wurden 1942 gegründet. In Frankreich entstand der Nationalrat der Widerstandsbewegung, durch den die Einheit aller patriotischen Kräfte gefestigt wurde, im Frühjahr 1943. Im Jahre 1943 formierte sich das Nationalkomitee "Freies Deutschland" als politisches und organisatorisches Zentrum der deutschen Antifaschisten. Die Entwicklung in diesen und vielen anderen Ländern war ein klarer Beweis 95 für die Lebenskraft der von der Komintern entwickelten Konzeption. Die Vaterländische Front Bulgariens vereinigte unter der Führung der Bulgarischen Arbeiterpartei (BAP) alle antifaschistischen und patriotisch gesinnten Kräfte des Landes. In ihrem Programm berücksichtigte die Vaterländische Front die spezifischen Interessen der verschiedenen Klassen und Schichten, die sich in der antifaschistischen Volksfront zusammenschlössen. Zu den wichtigsten Forderungen des Programms gehörten: Kampf gegen die Beteiligung Bulgariens am Raubkrieg gegen die Sowjetunion, Auflösung des Bündnisses mit Hitlerdeutschland sowie Einstellung der Lebensmittel- und Rohstofflieferungen an Deutschland, Herstellung freundschaftlicher Beziehungen zur Sowjetunion und zu den Nachbarvölkern, Abzug der bulgarischen Besatzungstruppen aus Makedonien und Thrakien, Auflösung der faschistischen Organisationen und Bestrafung der Kriegsverbrecher, Gewähr93 Ebenda, S. 896. 94 Vgl. Der Kampf der Massen gegen faschistische Aggression und Unterdrückung, in: Ebenda, Nr. 27-30, S. 585 , 885 , 916 , 949 ff. 95 Zur konkreten Entwicklung und zu den Ergebnissen der antifaschistischen Volksfrontpolitik während des zweiten Weltkrieges vgl. Der deutsche Imperialismus und der zweite Weltkrieg. Bd 4, Berlin 1961; Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion. Bd4, Berlin 1965; Kühnrich. Heinz. Der Partisanenkrieg in Europa 1939-1945, Berlin 1968.
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leistung einer vom ausländischen Imperialismus unabhängigen wirtschaftlichen Entwicklung 96 des Landes u.a.
Das von der BAP ausgearbeitete Programm widerspiegelte - ungeachtet
seiner Spezifika - die Alternativvorstellungen der kommunistischen Parteien zur Durchsetzung einer antifaschistischen und antiimperialistischen Demokratie. Die kommunistischen Parteien verwirklichten mit der Bildung mächtiger antifaschistischer Befreiungsfronten die Bündnispolitik der Kommunistischen Internationale unter den konkreten Bedingungen des nationalen antifaschistischen Befreiungskrieges in umfassender Weise. Das EKKI analysierte die mit dem Fortgang des Krieges sich ständig ändernden Kampfbedingungen und gab den kommunistischen Parteien bei der Ausarbeitung der Programme zur Vereinigung der antifaschistischen Kräfte und zur Verstärkung des Kampfes gegen die faschistischen Aggressoren ständige Hilfe. Die Komintern befähigte damit die nationalen Sektionen, als führende Kraft ihrer Völker aufzutreten und zu handeln. Unter ihrer Leitung waren in allen Teilen der Welt erfahrene marxistisch-leninistische Kampfparteien mit einem erprobten Führungsstab herangewachsen. Angesichts des Aufschwungs der von den Kommunisten geführten antifaschistischen Widerstandsbewegung und der damit verbundenen mannigfaltigeren Aufgaben in jedem Land faßten die 97 leitenden Organe im Jahre 1943 den Beschluß über die Auflösung der Komintern. Diese Entscheidung bedeutete keine Schwächung der kommunistischen Weltbewegung und ihrer politisch-ideologischen Einheit. Sie war durch die erfolgreiche Tätigkeit der Komintern selbst vorbereitet worden und bildete den Beginn einer neuen Entwicklungsetappe der revolutionären Arbeiterbewegung. Die antifaschistischen Volksfrontbewegungen unter Führung der Kommunisten wurden zum Kraftquell des Widerstandskampfes, der in seiner höchsten Form in den bewaffneten Aufstand umschlug und der - beflügelt von den entscheidenden Siegen der Boten Armee bei der Zerschlagung der faschistischen Armeen - wesentlich zur Niederlage des faschistischen deutschen Imperialismus beigetragen hat. Gleichzeitig entstanden mit der Durchsetzung der programmatischen Forderungen der antifaschistischen Volksfrontorganisationen und mit den revolutionären Umgestaltungen in direkter Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Reaktion nach der Befreiung grundlegende innere Voraussetzungen für den Übergang zur 98 volksdemokratischen Revolution in einer Reihe europäischer Länder. Mit der von der Kommunistischen Internationale ausgearbeiteten Konzeption der antifaschistischen Einheits- und Volksfrontpolitik, die durch die Praxis glänzend bestätigt wurde, Vgl. Programm der Vaterländischen Front Bulgariens, in: Bulgariens Volk im Widerstand 1941-1944, Berlin 1962, Dok. Nr. 22, S. 95 ff. 97 Vgl. Die Kommunistische Internationale. S. 629. 98 Vgl. Grisina. R . P . . K Probleme narodnogo fronta v stranach central'noj i jugovostocnoj Evropy (1944-1945 gg.), in: Sovetskoe Slavjanovedenie, 1969, Nr. 2, S. 13 ff. 96
342
Erwin Lewin
erwies sich die kommunistische Weltbewegung als einzige Kraft, die der gesamten Menschheit ein klares P r o g r a m m des Kampfes gegen Faschismus und Krieg, f ü r eine friedliche 99 und demokratische Zukunft zu geben vermochte. Die Beschlüsse des VII. Kongresses und die von ihm vorgezeichnete Volksfrontpolitik wurden zwar im Kampf gegen den Faschismus entwickelt und waren die Grundlage f ü r die erfolgreiche Politik der kommunistischen Parteien in jener ganzen Entwicklungsetappe, aber sie reichten in i h r e r Bedeutung weit Uber die gegebenen Verhältnisse hinaus und besitzen noch heute - schöpferisch angewandt - in der Auseinandersetzung mit dem staatsmonopolistischen Herrschaftssystem ihre Gültigkeit.
99
Ulbricht. Walter, Die Kommunistische Internationale im Kampf gegen imperialistischen Krieg und Faschismus, in: Die Kommunistische Internationale und ihre revolutionären Traditionen, Berlin 1970, S. 64.
GOTTFRIED DITTRICH
Die S E D und die Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung in den Jahren 1948 bis 1950*
Von der bahnbrechenden Tat Adolf Henneckes, der 1948 den Teufelskreis " E r s t mehr essen, dann besser arbeiten" durchstieß, spannt sich ein weiter Bogen bis zu den Wettbewerben unserer Jahre, in denen z . B . die Silbitzer Stahlgießer und die Magdeburger Schwermaschinenbauer um sozialistische Rationalisierung und Automatisierung ringen mit dem Ziel, ihre Arbeitsproduktivität zu steigern und Spitzenleistungen zu vollbringen. Er macht sichtbar, wie die Arbeiterklasse in der DDR im revolutionären Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ihre Kräfte und Energien vervielfachte, wie sie als herrschende Klasse wuchs und sich als gesellschaftsbildende Kraft bewährte. Die Erben eines kleinen Vortrupps von Bahnbrechern - das waren im 20. Jahr der DDR 2, 2 Millionen Werktätige, die in 125 000 sozialistischen Kollektiven arbeiteten, und mehr als 600 000 Neuerer, deren Vorschläge über 2 Milliarden Mark Nutzen brachten. Auf dem schweren Weg der Klassenschlachten hat die Arbeiterklasse Not und Hunger in den Nachkriegsjahren überwunden und ist vorgestoßen zur Gegenwartsaufgabe, unter sozialistischen Bedingungen die wissenschaftlich-technische Revolution zu meistern. Sosehr sich in nahezu einem Vierteljahrhundert die konkreten Ziele und Formen, die äußeren Umstände der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung verändert haben - ein Blick in ihre frühen Entwicklungsstadien bringt auch heute Gewinn, vermittelt er doch u.a. die geschichtlich begründete Gewißheit, daß die Werktätigen unseres Landes auch die unvergleichlich höher gesteckten Aufgaben bei der Vollendung des Sozialismus meistern werden. Freilich reicht es dazu nicht aus, lediglich auf den Verlauf jener Bewegung in weit zurückliegenden Jahren zu schauen. "Freunde wie Feinde unseres Staates haben oft davon gesprochen, daß die Wandlung der Menschen eine der bedeutendsten Leistungen der DDR ist.
x
Dieser Beitrag und die folgenden Studien von Helmut Griebenow/Kurt Meyer und Manfred Bensing/Elly Heilhecker sind aus der Forschungsgruppe "Entwicklung der Klassenverhältnisse in der DDR unter besonderer Berücksichtigung der Wandlungen in der Arbeiterklasse" an der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig hervorgegangen.
344
Gottfried Dittrich
Ja, wir begannen unseren Weg mit Menschen, deren Mehrheit den faschistischen Machthabers gefolgt war, für sie Waffen produziert und andere Länder okkupiert hatte. Die Befreiung der Menschen vom Gift der imperialistischen und faschistischen Ideologie, die Aneignung einer humanistischen Lebensauffassung, die Erziehung und Selbsterziehung im Prozeß der Arbeit für die gesellschaftliche Umgestaltung war für unsere Partei und unseren Staat von Anfang an eine der wichtigsten Aufgaben." 1 Dieser auf das gesellschaftsbegründende Schöpfertum der Arbeiterklasse und auf die Funktion ihrer Partei zielende Gesichtspunkt muß heute einer historischen Untersuchung zugrunde liegen, die die Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung zum Gegenstand hat. Aktuelle und für die Zukunft höchst bedeutsame Fragen - das gesetzmäßige Wachsen der Führungsrolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei, die zunehmende Bedeutung des Überbaus in der sozialistischen Gesellschaft, die Rolle der Werktätigen und ihrer Initiative in der unter sozialistischen Bedingungen zu bewältigenden wissenschaftlich-technischen Revolution - drängen danach, die Wechselbeziehungen zwischen Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung und historischer Rolle der SED zu untersuchen. Wie orientierte und organisierte die Partei diese Bewegung während der Jahre, da sich die antifaschistisch-demokratische Ordnung ihrem Abschluß näherte und allmählich in die sozialistische Revolution hinüberzuwachsen begann? Welche Politik betrieb sie, um mit Hilfe und im Verlauf der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung ein neues Verhältnis der Werktätigen zu ihrer Arbeit herbeizuführen und so auch auf diese Weise zur entscheidenden Wende in der Geschichte unseres Volkes beizutragen? Welche neuen historischen Ausgangspositionen setzten Fortschritt und Höherentwicklung jener Bewegung selbst für die Weiterführung der Politik der SED? Unsere Gegenwart fordert
m . E . dazu auf, gerade solche
Fragen an die Vergangenheit zu stellen. Die mit dem Namen Henneckes verbundene Höherentwicklung der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung, in deren Verlauf sie Massencharakter erlangte, und ebenso ihre seit Mitte 1950 datierende Entfaltung als sozialistische
Bewegung sind der historischen Analyse
nur zugänglich, wenn sie im Zusammenhang mit der gesamten Politik der SED während dieser Jahre gesehen werden. Im Frühjahr und Sommer 1948 hatte sich eine neue Situation 2 herausgebildet , und die SED stand vor der Aufgabe, aus ihr die Folgerungen für ihre Generallinie zu ziehen. In der Zeit von der 10. Tagung ihres Parteivorstandes im Mai 1948
1
2
Festrede des Ersten Sekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Walter Ulbricht . . . anläßlich des 20. Jahrestages der DDR. Berlin 1969, S. 17. vgl. Geschichte der deutschenArbeiterbewegung, Bd 6, Berlin 1966, S. 244 f f . , 253 f f .
SED und Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung
345
bis zur 1. Parteikonferenz im Januar 1949 entwickelte sie in schöpferischer Arbeit die Konzeption, die in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands errichtete antifaschistisch3 demokratische Ordnung allseitig zu festigen.
Je stabiler diese Ordnung, desto stärker
waren die demokratischen Kräfte im Kampf gegen den Imperialismus auf deutschem Boden. Den Werktätigen auf dem jetzigen Gebiet der DDR erwuchs die Pflicht, durch ihr Aufbauwerk die Alternative zur verhängnisvollen Entwicklung in den Westzonen zu gestalten. "Allseitige Festigung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung - das erforderte in erster Linie, die führende Rolle der Arbeiterklasse zu erhöhen und die neue Ordnung ökonomisch zu stärken. Die SED entwickelte das Programm der konsequenten Weiterfiihrung der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung. Aus dem engen Zusammenhang des Kampfes um Demokratie und um Sozialismus ergab sich, daß auf diesem Wege alle Elemente des 4 Sozialismus gefördert wurden." Die Beratungen und Beschlüsse des Parteivorstandes vom Frühjahr bis zum Herbst 1948 zeigen, daß die SED die Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung als einen der wichtigsten Faktoren im Ringen um die allseitige Festigung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung und bei der Gestaltung der nationalen Perspektive ansah. Als Walter Ulbricht Ende Juni auf der 11. Tagung die Entwürfe des Halb- und des Zweijahrplanes unterbreitete, konstatierte er einen gewissen Umschwung in der Lage, den Initiativen von Betriebsbelegschaften eingeleitet hatten, "die unter der Losung ' Mehr produzieren, besser leben' die Arbeitsproduktivität steigerten" . Das gestattete es der Parteiführung, Rolle und Platz dieser Initiativen in ihrer weiteren Politik zu bestimmen: "Der bedeutendste Schritt zur Steigerung der Arbeitsproduktivität" gist, so sagte Walter Ulbricht, "die Organisierung und Entfaltung der Aktivistenbewegung".
Worin bestand dieser Umschwung, und über welche
Erfahrungen verfügte die Führung der SED, als sie Mitte 1948 neben anderen entscheidenden Aufgaben auch die Förderung der Aktivistenbewegung in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückte ? Im September 1947 hatte die SED auf ihrem II. Parteitag, ausgehend von dem Beschluß, einen deutschen Plan des demokratischen Neuaufbaus aus eigener Kraft auszuarbeiten, die zentrale Losung "Mehr produzieren, gerechter verteilen, besser leben" formuliert. Nur wenige Wochen später, am 9. Oktober, erließ die Sowjetische Militäradministration In 3 4 5
6
Vgl. ebenda, S. 251 f f . Ebenda, S. 252. Ulbricht. Walter, Der Zweijahrplan zur Wiederherstellung und Entwicklung der Friedenswirtschaft, in: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, Berlin 1963, S. 212. Ebenda, S. 221.
346
Gottfried Dittrich
Deutschland (SMAD) auf Vorschlag des Parteivorstandes und nach Beratung mit Gewerkschaftsfunktionären den für die Herausbildung der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung entscheidenden Befehl Nr. 234 über die Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten. Der damit eingeleitete Übergang zur Anwendung des Leistungsprinzips in volkseigenen und SAG-Betrieben schuf ein stabiles Fundament für den Aufschwung aktivistischer Leistungen und betrieblicher Wettbewerbe 7 sowie für ihre Formierung zu einer Bewegung. In einem orientierenden Artikel des Zentralorgans der SED vom 11. Oktober zu diesem Befehl formulierte Walter Ulbricht die Grundfrage: Die Arbeiter, Angestellten und Ingenieure der volkseigenen Betriebe müssen es als ihre höchste Ehre betrachten, nachzuweisen, "daß die Volksinitiative der g'privaten Initiative' in den großkapitalistischen Betrieben Westdeutschlands überlegen ist" . Die Zeit für neue Methoden in der Arbeit, insbesondere für den Wettbewerb zwischen den Volkseigenen Betrieben, war gekommen; die Antwort der Arbeiter auf den SMAD-Befehl mußte in erster Linie lauten: "Stellungnahme in allen Betrieben und Gewerkschaften und Annahme von Beschlüssen, in denen genau gesagt wird, wie im Betrieb die Arbeitsproduktivität gesteigert, die Qualität der Arbeit verbessert, die Arbeitsversäumnisse herabgesetzt und die Lage der Arbeiter, Angestellten und Ingenieure 9 verbessert werden soll." Als unmittelbares Resultat des II. Parteitages und des Befehls 234 wandten sich viele Parteiorganisationen den ökonomischen Aufgaben und der Aktivistenarbeit zu. In mehreren volkseigenen Betrieben entstanden Aktivgruppen der SED mit dem Ziel, eine kontinuierliche Produktion zu sichern und das Bummelantentum zu bekämpfen. Seit Ende 1947 fanden auf Vorschlag der SED örtliche Aktivistenkonferenzen statt. Die Anzahl der zwischen- wie auch innerbetrieblichen Wettbewerbe vergrößerte sich. ^ Der FDGB löste die Bewegung "Aktivisten für 234" a u s . 1 1 So entstand im Kampf um die Steigerung der Arbeitsproduktivität 7
Zu den Anfängen und Vorläufern der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung seit 1945 vgl. Dittrich. Gottfried/Neuhaus. F./Wolff. S.. Ansätze in der Veränderung des Charakters der Arbeiterklasse in den ersten Etappen der antifaschistisch-demokratischen Revolution, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität. Leipzig, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe (im folgenden: WZ Leipzig), 1969, H. 4, S. 545 - 555. 8 Ulbricht. Walter. Die große Aufgabe, in: Zur sozialistischen Entwicklung der Volkswirtschaft seit 1945, Berlin 1959, S. 90. 9 Ebenda, S. 93. 10 Vgl. Lipski, Horst. Die beginnende Verlagerung des Schwergewichts der Parteiarbeit auf die Betriebsgruppen (Herbst 1947 bis Frühjahr 1948), in: 20 Jahre SED. Beiträge, Berlin 1966, S. 80 ff. 11 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 6, S. 229.
SED und Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung
347
und die Hebung der Arbeitsmoral Ende des Jahres 1947/Anfang 1948 die Aktivisten- und Wettbewe rbsbewegung. Ihre Anfangsperiode ist durch den großen Anteil der FDJ, besonders der Arbeiterjugend gekennzeichnet, die als Bahnbrecher des Neuen wirkte. Dafür steht als eines der beredtesten Zeugnisse der Kongreß von etwa 400 Jungarbeitern und -aktivisten aus volkseigenen Betrieben, der am 10. und 11. April 1948 in Zeitz als erste zentrale Aktivistenberatung statt12
fand.
Die hohe Bedeutung, die die Führung der SED bereits in dieser Zeit den Aktivisten-
leistungen und Wettbewerbsinitiativen beimaß, widerspiegelte sich in der Teilnahme Walter Ulbrichts und Otto Grotewohls am Kongreß. Einen Tag vor seinem Beginn zog Walter Ulbricht im "Neuen Deutschland" die Bilanz des bisherigen Aufschwungs und kam zu dem 13 Schluß,. daß "sich ein neues Verhältnis des Arbeiters zur Arbeit herausgebildet" hat. Er analysierte, wie es gelungen war, die Produktion zu steigern, und arbeitete einige neue Aufgaben der Gewerkschaften bei der Entfaltung der Arbeitsinitiative heraus. Otto Grotewohl schlug in seiner Rede vor den Jungaktivisten den Bogen von den Tagesproblemen zu den Zukunftsaufgaben, auf die sich die SED in der anbrechenden Etappe vorbereiten mußte. Die Leistungen der Aktivisten im Neuaufbau aus eigener Kraft und bei der Verbesserung der Lebenslage, im antiimperialistischen und Friedenskampf würdigend, verwies er zugleich auf dep Zusammenhang zwischen neuem Verhältnis zur Arbeit und endgültiger Befreiung der Arbeiterklasse, zwischen Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung zur Konsolidierung der antifaschistisch14 demokratischen Ordnung und dem Kampf um den Sozialismus. An der objektiven Funktion dieser jungen, sich formierenden Bewegung deutete sich an, daß sich unter den neuen Bedingungen das Wechselverhältnis von Demokratie und Sozialismus zu verändern begann. Die notwendige Festigung der antifaschistischen Demokratie mußte mit Maßnahmen erfolgen, die teilweise bereits über die antifaschistisch-demokratische Ordnung 15hinauswiesen und die in ihrem Schoß entstandenen Elemente des Sozialismus stärkten. Von diesen Grundlagen aus vermochte der Parteivorstand der SED auf seiner 11. Tagung die richtungweisende Feststellung zu treffen, daß der wichtigste Schritt zur Produktivitätssteigerung darin bestand, die Aktivistenbewegung zu entfalten. Um einen allgemeinen Produktionsaufschwung auszulösen, war es in erster Linie erforderlich, diese Bewegung zu erweitern. Deshalb orientierte Walter Ulbricht darauf, in Betrieben und Gewerkschaften 12 Vgl. ebenda, S. 281. 13 Ulbricht, Walter, Wir bauen auf im Osten - aus eigener Kraft, in: Zur sozialistischen Entwicklung der Volkswirtschaft, S. 95. 14 Vgl. Grotewohl, Otto, Ihr seid das Bauvolk der neuen Welt, in: Im Kampf um die einige deutsche demokratische Republik, Bd 1, Berlin 1954, S. 175 - 185. 15 Vgl. Heitzer. Heinz. Grundprobleme des Übergangs von der antifaschistisch-demokratischen Ordnung zur sozialistischen Revolution in der DDR 1949/50, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (im folgenden: ZfG), 1968, H. 6, S. 718.
348
Gottfried Dittrich
den Erfahrungsaustausch der Aktivisten zu organisieren, ihnen bei i h r e r fachlich-politischen 16 Qualifizierung zu helfen und ihnen gegenüber verstärkt das Leistungsprinzip anzuwenden. Der Parteivorstand sah in der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung den bedeutsamsten Faktor zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Außerdem war e s notwendig, andere Aufgaben zu lösen, die in gleicher Sichtung wirkten, wie z . B . die Gleichmacherei durch Einführung des Leistungslohnes zu Uberwinden, 17 die volkseigenen Betriebe s t ä r k e r zu entwickeln und soziale Maßnahmen durchzuführen.
Die SED förderte die Aktivisten- und Wettbewerbs-
bewegung von Anbeginn ni9ht einseitig, lediglich auf Grund i h r e r ökonomischen Funktion, sondern allseitig, als Weg zur Stärkung der Hegemonie der Arbeiterklasse im Dienste der Festigung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung. Dieser Gesichtspunkt 18 durchdrang das gesamte Referat Walter Ulbrichts auf der 1 1 . Parteivorstands-Tagung.
Der Zweijahr-
plan wurde als ein die Werktätigen organisierender und 19 mobilisierender Faktor gewürdigt, und gerade hierin läge die große Bedeutung des Planes. Vor der P a r t e i stünde die Aufgabe, " m i t Hilfe der Massenorganisationen die ganze Initiative der Arbeiterklasse und der 20
Bevölkerung zu entfalten"
.
Mit der 11. Tagung ihres Parteivorstandes gab die SED der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung einen entscheidenden Impuls und leitete einen neuen Abschnitt i h r e r Geschichte e i n . Regionale Aktivistenkonferenzen in 21Dresden, Leipzig, Chemnitz, Halle, Potsdam, Erfurt, Schwerin und anderen Orten
halfen, die Bewegung s t ä r k e r in den B l i c k -
punkt der Öffentlichkeit zu rücken, den Erfahrungsaustausch zu organisieren und ihr Wesen umfassend zu propagieren. Der Verlauf der Aktivistenbewegung in dem halben J a h r nach der 11. ParteivorstandsTagung, ihr Umschlagen in die neue Qualität der Hennecke-Bewegung und ihr Übergreifen auf den bewußten T e i l der ganzen Arbeiterklasse sind nur verständlich, wenn s i e im Rahmen des Systems politischer, ökonomischer und sozialer Maßnahmen erfaßt werden, das 1948 den Übergang zur Festigung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung m a r k i e r t e . An d i e s e r Stelle ist e s nicht möglich, diesen Übergang in seiner ganzen B r e i t e und Vielgestalt i g e n darzustellen; lediglich die für den Aufschwung der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung bestimmenden Zusammenhänge können angedeutet werden. Die zentrale Aufgabe, von der die Lösung a l l e r anderen Probleme der inneren Entwicklung auf dem heutigen Gebiet der DDR sowie des Kampfes gegen die imperialistische Restau16 17 18 19
Vgl. Ulbricht. Der Zweijahrplan, in: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, S . 221. Vgl. ebenda, S . 220ff. Vgl. ebenda,S. 201, 210, 212 f . , 228 f . Vgl. ebenda, S . 2 1 8 .
SED und Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung
349
ration in den Westzonen abhing, war die Entwicklung der SED zu einer Partei neuen Typus. Nur eine marxistisch-leninistische Kampfpartei war imstande, die antiimperialistische Revolution in der sowjetischen Besatzungszone zu Ende zu führen und in allen Besatzungszonen Deutschlands das Kräfteverhältnis weiter zuungunsten des Imperialismus zu verändern. Bereits im März 1948 hatte Walter Ulbricht hervorgehoben: "Etwas Neues entwickelt sich in der Partei. Früher machten die Fragen der Agitation und Werbung, der Organisierung von Versammlungen und der politischen Schulung den Hauptinhalt der Parteiarbeit aus. Jetzt stehen im Vordergrund: Die Durchführung der Frühjahrsaussaat, die Rentabilität der volkseigenen Betriebe, die Erhöhung der Qualität der Produktion, die gerechte Verteilung von Waren in den Betrieben oder die Weiterführung der Schulreform."
22
Die Parteiarbeit 23
mußte sich jetzt auf die Durchsetzung des neuen Inhalts der Arbeiterbewegung
konzen-
trieren. Für den Fortschritt der Aktivistenarbeit und der Wettbewerbe spielten in der Parteigeschichte jener Jahre zumindest drei Prozesse eine wichtige Rolle: die Durchsetzung des Leninismus in der SED und insgesamt die Vermittlung des Marxismus-Leninismus als Grundlage sozialistischer Bewußtseinsbildung in der Arbeiterklasse, die Ausarbeitung der Wirtschaftspolitik zur Stärkung des volkseigenen Sektors als der wichtigsten ökonomischen Basis der neuen Ordnung und die Entwicklung der Betriebsgruppen zu den wichtigsten Grundorganisationen der SED. Von ihnen hing es ab, in welchem Maße Bedingungen oder Stimuli für den Aufschwung der Bewegung geschaffen wurden - so z . B . die Propagierung geschichtlicher Vorbilder wie der Subbotniki, der Wettbewerbe sowjetischer Arbeiter oder der Stachanow-Bewegung; die Anwendung des Prinzips der materiellen Interessiertheit (vom Leistungslohn bis zur Gründung der volkseigenen Handelsorganisation), um die Entwicklung der neuen Arbeitseinstellung zu fördern; nicht zuletzt auch die Schaffung aktionsfähiger Orientierungs- und Leitungszentren für die Durchsetzung des neuen Inhalts der Arbeiterbewegung in den volkseigenen Betrieben. Damit erhellt bereits, daß die Entwicklung der SED zur Partei neuen Typus den maßgeblichen, keineswegs aber den einzigen Faktor bei der Entfaltung der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung darstellte. Es bedurfte vielmehr - um nur auf einige weitere Erfordernisse zu verweisen - auch eines neuen Inhalts der Gewerkschaftsbewegung, einer veränderten
20 21 22 23
Ebenda, S. 231. Vgl. Aus der Arbeit des FDGB 1947 bis 1949. hg. vom Bundesvorstand des FDGB, Berlin 1950, S. 122. Ulbricht, Walter, Der Umschwung in der Partei, in: Zu Fragen der Parteiarbeit, Berlin i960, S. 150. Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 6, S. 259.
350
Gottfried Dittrich
Arbeitsweise und Struktur der Gewerkschaften, um diese Massenorganisation der Arbeiterklasse zu befähigen, zum Organisator der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung zu werden. Die politisch-ideologische Überwindung des "Nur-Gewerkschaftertums", auf der Kollektivität beruhende Gewerkschaftsleitungen (Betriebsgewerkschaftsleitungen anstelle der Betriebsräte) wurden nötig, und so erwiesen sich die Beschlüsse der Bitterfelder Konferenz des FDGB 24 vom November 1948
als Bedingung für den Fortgang dieser Bewegung. Die antifaschistisch-
demokratische Staatlichkeit mußte sich voll auf ihre25ökonomisch-politischen Aufgaben wie die vorrangige Förderung des volkseigenen Sektors und der Arbeitsinitiativen einstellen. Die Ausrüstung der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) mit gesetzgeberischen Befugnissen sowie ihre Erweiterung im März bzw. November 1948, die Organisierung eines einheitlichen, der Deutschen Wirtschaftskommission unterstellten volkseigenen Sektors seit April 1948 und die langfristige Wirtschaftsplanung, die "auf ökonomischem Gebiet den Weg 26 zur Arbeiter-und-Bauern-Macht" eröffnete
, stellten die wichtigsten Maßnahmen beim
Ausbau der wirtschaftlich-organisatorischen Funktion der revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiter, werktätigen Bauern und ihrer Verbündeten dar. Nur von dieser Grundlage aus, der 1948/1949 erarbeiteten Gesamtkonzeption der SED und ihrer komplexen Realisierung, lassen sich ihre Politik zur Entfaltung der Aktivistenbewegung und deren unmittelbares Ergebnis, die Hennecke-Bewegung, verstehen. Bereits wenige Monate nach dem Beginn der neuen Etappe gelang es, eine wahrhaft geschichtliche Wende in dieser Bewegung zu vollziehen: die Leistung des Bergmanns und Mitgliedes der SED Adolf Hennecke hob sie auf eine neue Stufe und erzielte auf breiterer 27 Front den Durchbruch zu einem neuen Verhältnis zur Arbeit. Als Adolf Hennecke am 13. Oktober in einer Sonderschicht, die er sorgfältig vorbereitet hatte, seine Tagesnorm zu 387 Prozent erfüllte, reagierte die Führung der SED sofort und umfassend auf diese revolutionäre Leistung. Sie räumte ihr einen eigenen Punkt auf der 14. Tagung des Parteivorstandes, der am 20. und 21. Oktober 1948 tagte, ein und unterstrich damit ihre große Bedeutung. Die bis dahin einmalige Normübererfüllung wurde sofort durch Presse und Funk propagiert. Ihre Bedeutung und das neue Element, das sie in der Aktivistenbewegung verkörperte, würdigten die beiden Parteivorsitzenden Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl am 17. Oktober namens des Zentralsekretariats in einem Brief an
24 Vgl. ebenda, S. 284 ff. 25 Vgl. ebenda, S. 262 f. 26 Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR, Berlin 1969, S. 78. 27 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 6, S. 280 f.
SED und Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung Adolf Hennecke.
28
351
Sie bezeichneten sie als eine "wegweisende Tat", als eine "revolutionäre
Leistung zur Erfüllung des Wirtschaftsplans und eine schlagende Antwort auf die Marshallplan-Politik im Westen". Den tiefen politischen Sinn der Hennecke-Leistung hervorhebend, kennzeichneten sie diese als Ergebnis der "lebendig gewordenen revolutionären
Traditionen
der deutschen Arbeiterklasse", des "sozialen Verantwortungs- und höchsten Pflichtbewußtseins" gegenüber der Partei, der Klasse und dem deutschen Volke. Auch diese Wertung zeigt die Orientierung des Parteivorstandes auf die Entfaltung aller Wirkungskräfte der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung. Hennecke nannte seine Leistung "eine sozialistische, 29 aus dem Klassenbewußtsein geborene Tat" . Die von ihm initiierte Bewegung half, das Klassenbewußtsein der Arbeiter zu entfalten und besondersdie Erkenntnis, daß die Arbeiterklasse in der antifaschistisch-demokratischen Ordnung eine neue gesellschaftliche Stellung erkämpft hatte, zu vertiefen. Der Brief der Parteivorsitzenden stellte die Aufgaben für die am 13. Oktober 1948 erreichte neue Stufe der Bewegung. In wissenschaftlicher Voraussicht das Zukunftsträchtige der Tat Adolf Henneckes erfassend, schrieben Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl: "Du bist damit zum Vorbild unserer jungen Aktivistenbewegung geworden" und erhoben so diese Leistung zum Beispiel für die gesamte Bewegung. Diese mußte jetzt durch inner- und überbetriebliche Wettbewerbe erweitert werden: "Wenn die Bewegung dazu führt, daß alle Kumpel ihre Leistungen um einen hohen Prozentsatz steigern, wird Deine Tat ihre wahre Bedeutung erreichen. Darum geht es jetzt, neben Spitzenleistungen die Durchschnittsproduktion pro Kopf zu steigern, damit eine weitgehende Übererfüllung des Plansolls im deutschen Bergbau erreicht w i r d . . . Ihr werdet damit das führende Beispiel für andere Wirtschaftszweige geben." Die Grundorientierung bestand also darin, bei der Steigerung der Arbeitsproduktivität im Massenumfang ein neues Verhältnis zur Arbeit durchzusetzen. Über die politisch-ideologische Orientierung hinaus legte die Parteiführung eine Anzahl organisatorischer Maßnahmen zur Verallgemeinerung der Tat Henneckes fest. Die Belegschaften vieler Betriebe hatten unmittelbar nach dem 13. Oktober Hennecke-Schichten, 30 -Wachten und -Wochen durchgeführt. Im November 1948 wurde eine zentrale HenneckeWoche angesetzt. 31 Am 17. und 18. November fand eine Arbeitstagung der DWK mit
28 Adolf Hennecke - Vorbild eines Aktivisten. Brief des Zentralsekretariats der SED vom 17. Oktober 1948, in: Dokumente der SED, Bd 2, Berlin 1951, S. 138 f. Die folgenden Zitate sind diesem Brief entnommen. 29 Volksstimme v. 6.12.1948. 30 Vgl. Hennecke, Adolf, Aktivisten zeigen den Weg, Berlin 1948, S. 22 f . ; Die HenneckeBewegung. Aus eigener Kraft zum besseren Leben, Berlin o . J . , S. 22, 57, 60. 31 Vgl. Dokumente der SED. Bd 2, S. 163.
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Gottfried Dittrich
Hennecke-Aktivisten statt, die Uber die Ausdehnung der Bewegung beriet.
32
Schließlich
wurde der Dezember 1948 zum Hennecke-Monat erklärt. In seinem Verlauf traten neben die Einzelleistungen von Hennecke-Aktivisten Produktionssteigerungen ganzer Betriebsbe33 legschaften, die den Übergang zu kollektiven Formen der Hennecke-Bewegung andeuteten. Eine Vorbedingung dieser Erfolge war die Existenz arbeitsfähiger, den neuen Inhalt der Parteiarbeit realisierender SED-Grundorganisationen in den Betrieben, deren Entwicklung zu den wichtigsten Grundeinheiten der Partei gemäß den Beschlüssen der 14. Tagung im 34 Herbst 1948 forciert wurde. 35 Die schnelle Ausbreitung der Hennecke-Bewegung im Bergbau , aber auch in anderen Industriezweigen 36 bewirkte, daß ein Jahr nach der Tat Henneckes bereits Uber 36 000 37 Werktätige als Aktivisten und Jungaktivisten ausgezeichnet waren. Diese Tatsache bestätigte die richtige Einschätzung der SED, daß die objektiven und subjektiven Bedingungen für eine Höherentwicklung der AJktivisten- und Wettbewerbsbewegung im Sommer/Herbst 1948 herangereift waren. Vom politisch-ideologischen Klärungsprozeß innerhalb der SED und von ihrer Organisationsstruktur, von der damit einhergehenden Bewußtseinsentwicklung in den fortgeschrittenen Teilen der Arbeiterklasse, von der Wirtschafts- und Sozialpolitik und insgesamt vom Reifegrad der Hegemonie der Arbeiterklasse in der antifaschistisch-demokratischen Ordnung her gesehen hatte die gesellschaftliche Entwicklung auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone einen Stand erreicht, der den Durchbruch zu einer neuen Qualität in der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung ermöglichte. Dieser Umschwung vollzog sich in langwierigen und heftigen, in vielerlei Gestalt geführten Klassenauseinandersetzungen. Er stellte eine der wichtigsten Fronten im Kampf
32 33 34 35
36
37
Ein Kurzprotokoll dieser Tagung ist enthalten in: Die Hennecke-Bewegung, a . a . O . Vgl. Lipski. Horst. Zur Herausbildung der Aktivistenbewegung im Jahre 1948, in: Unsere Zeit. Beiträge zur Geschichte nach 1945, 1961, H. 3, S. 269;.Hennecke. S. 28 f . Vgl. Uebel. G./Woitinas,E., Zur Entwicklung des Parteiaufbaus und der Organisationsstruktur der SED bis zu ihrem III. Parteitag 1950, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (im folgenden: BzG), 1970, H. 4, S. 616 f . Anfang 1949 gab es im Bergbau etwa 5000 Aktivisten (vgl. Hundert Tage HenneckeBewegung im Bergbau, Berlin 1949, S. 20). Für den 3.12.1948 als Stichtag wurden hier 153 Hennecke-Aktivisten gezählt und im November 1948 wurden insgesamt 174 GruppenLeistungsschichten verfahren (vgl. ebenda, S. 49; ferner Lucas.Werner/Witzel. Harri. Die Bergarbeiter im Kampf für die sozialistische DDE, Berlin 1965, S. 105-115). Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 6, S. 280 , 282 f . ; Engelsmann. Kurt. Die Entwicklung der Aktivistenbewegung in den Chemiewerken des mitteldeutschen Industriegebiets (1947-1950), in: Beiträge zur Geschichte der SED, Berlin 1961, S. 308 f . ; Lipski. Zur Herausbildung der Aktivistenbewegung, S. 266 f . ; Befreites Leuna (1945-1950). Berlin 1959, S. 230-236. Errechnet nach: Aus der Arbeit des FDGB 1947 bis 1949, S. 133.
SED und Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung
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der SED zur Überwindung rückständiger Auffassungen bei den Werktätigen, um die Festigung und Vertiefung der Hegemonie der Arbeiterklasse gegen den wachsenden Widerstand der um Restauration ihrer verlorenen Positionen ringenden Klassenkräfte dar. Die imperialistischen und reaktionäre bürgerliche Kräfte versuchten, ihm durch massive politische Vorstöße und durch gezielten ideologischen Druck zu begegnen. Die Spezifik des Klassenkampfes hatte sich in der sowjetischen Besatzungszone nach dem Entstehen der antifaschistisch-demokratischen Ordnung verändert. Der Gegner war nicht mehr in der bekannten Gestalt von Monopolen oder kapitalistischen Organisationen sichtbar, sondern er entwickelte eine neue, raffinierte "Taktik der Verbindung legaler Arbeit mit Hilfe reaktionärer Gruppierungen in den beiden bürgerlichen Parteien und wirtschaftlichen Organisationen . . . und der illegalen Arbeit kapitalistischer ' Freundeskreise' 38 und feindlicher Agenturen" . Das erschwerte es Teilen der Arbeiterklasse, die Erscheinungsformen des Klassenkampfes zu erkennen und wirkungsvoll zu bekämpfen. Seit Sommer 1948 strebten reaktionäre bürgerliche Kräfte im Rahmen ihrer Absicht, den Charakter 39 des Zweijahrplans zu verändern , danach, Möglichkeiten für einen "Wettbewerb" auch im kapitalistischen Sektor zu schaffen. Manche Unternehmer verlangten z.B. von den bei 40 ihnen Beschäftigten, ebenfalls Aktivistenleistungen zu vollbringen. Sie zeigten sich 41 auch sehr bereitwillig, dafür einen materiellen Anreiz einzusetzen. Eine Aktivistenund Wettbewerbsbewegung im kapitalistischen Sektor war jedoch ein Widerspruch in sich; sie hätte'verstärkte Ausbeutung bzw. Korrumpierung der Werktätigen bedeutet. Zumal in einer Zeit, da die Arbeiterklasse um die Überlegenheit der volkseigenen Wirtschaft gegenüber der privaten kämpfte, standen solche Forderungen den Interessen der Arbeiterklasse wie auch denen der antifaschistisch-demokratischen Ordnung direkt entgegen. Deshalb wandten sich SED und FDGB mit aller Entschiedenheit gegen solche Absichten. Zu gleicher Zeit setzten sich z.B. auch in der CDU die progressiven Kräfte, vor allem 42 Otto Nuschke, Josef Wujciak, für die Förderung dieser Bewegung in den volkseigenen Betrieben ein. erster Hennecke-Aktivist im Mansfelder Kupferbergbau und einer der ersten National-
38 39 40 41 42
Ulbricht. Walter, Die SED vor der Parteikonferenz, in: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, S. 314. Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 6, S. 261 f. Vgl. Ulbricht. Walter. Über Gewerkschaften, Bd 2, Berlin 1953, S. 294. Vgl. derselbe, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, S. 314 f. Vgl. Dokumente der CDU. Bd 1, Berlin 1956, S. 35. - Die Verdienste Otto Nuschkes um die Förderung der Aktivistenbewegung würdigt Wilhelm Pieck ausdrücklich in seiner Einleitung zu: Otto Nuschke. Mensch - Politiker - Journalist, Berlin 1953, S. 14.
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Preisträger der DDR, war Funktionär der CDU.
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Das Ringen um ein neues Verhältnis
zur Arbeit, um die Hennecke-Bewegung half so in gewissem Maße, die Differenzierung in den bürgerlichen Parteien voranzubringen, und förderte ihren politisch-ideologischen Klärungsprozeß. Die Hennecke-Bewegung revolutionierte die Einstellung zur Arbeit; das war der Natur der Sache nach ein komplizierter und konfliktreicher Prozeß, der auf den "Sieg über die eigene Trägheit, über die eigene Undiszipliniertheit, über den kleinbürgerlichen Egoismus, über diese Gewohnheiten, die der fluchbeladene Kapitalismus den Arbeitern . . . hinter44 lassen hat" , abzielte. Adolf Henneckes Leistungen und die seiner Nacheiferer standen kraft ihres ungewöhnlichen Ausmaßes und ihrer breiten Publizierung bald im Mittelpunkt der Diskussionen vieler Betriebsbelegschaften. Sie betrafen unmittelbare Tagesinteressen der Werktätigen und forderten zu einer Stellungnahme heraus, die in der Regel im heftigen Streit über das Wesen und das Neue dieser Bewegung sowie über ihre moralisch-politische Wertung erfolgte. Diese Auseinandersetzungen waren schwer und hart, widerspiegelten sie doch den Kampf zweier Ideologien in der Arbeiterklasse und sehr häufig auch im Kopfe des einzelnen. Sie wurden auch innerhalb der SED geführt, die 45 bei der Ausbreitung der Hennecke-Bewegung oft wider den Strom schwimmen mußte. An die Elemente bürgerlicher Ideologie im Bewußtsein eines großen Teils der Arbeiter und demagogisch an die Traditionen ihres Kampfes gegen Lohndrückerei im Kapitalismus anknüpfend, verbreiteten die Gegner der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung persönliche Anfeindungen und Gerüchte gegen "die Henneckes", die sie lächerlich machen oder dis46 kreditieren seilten und bis zur offenen Mordhetze reichten. Daneben wurde scheinbar sachlich argumentiert, daß die Hennecke-Bewegung zwar im Bergbau, nicht aber außerhalb dieses Industriezweiges, nicht in der Arbeit mit Maschinen, chemischen Anlagen usw. .. .. . .. 47 möglich wäre. Die Auseinandersetzungen um die Hennecke-Bewegung beschränkten sich aber nicht nur auf das Zurückweisen und Zerschlagen der gezielten imperialistischen Hetze, bürgerlich-kapitalistischer Angriffe und Einflüsse. Sie räumten auch bei klassenverbundenen, 43 44 45 46
47
Vgl. Wirth, Günter. Zur Entwicklung der CDU von 1945 bis 1950, in: ZfG, 1959, H. 7, S. 1598. Lenin, W . I . . Werke, Bd 29, Berlin 1961, S. 399. Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd6, S. 282. So wurde das Gerücht verbreitet, daß Adolf Hennecke (in einer anderen Version: seine Frau) geisteskrank geworden sei bzw. daß man ihm die Fensterscheiben eingeworfen habe. Josef Wujciak berichtete: "In der vorigen Woche hat man zu meiner Frau gesagt, ihr Mann wäre tödlich verunglückt"; man habe bei ihm Galgen angemalt mit der Unterschrift: "Ihr folgt!" (Vgl. Die Hennecke-Bewegung. S. 32 f.) Vgl. ebenda, S. 48; Engelsmann. S. 312.
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politisch bewußten Arbeitern Unklarheiten aus und halfen, echte Entwicklungsprobleme zu lösen. Anfänglich hielten z . B . einige Wirtschafts- und Gewerkschaftsfunktionäre die Hennecke-Bewegung für "verfrüht". Diese Meinung wurde nicht nur mit dem unzulänglichen Stand der Normenarbeit und des Übergangs zum Leistungslohn begründet, sondern sie ging teilweise von der Vorstellung aus, eine solche Bewegung könne ihren Platz erst wie die Stachanow-Bewegung auf einer fortgeschrittenen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, 48 im planmäßigen sozialistischen Aufbau haben. Dabei deutete sich auch an, daß das Verständnis für die neuen Elemente im Wechselverhältnis von Demokratie und Sozialismus, die mit der allseitigen Festigung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung wirksam wurden, noch wenig entwickelt war. Die SED ging bei diesem politisch-ideologischen Kampf davon aus, zwischen denjenigen Werktätigen, die das Wesen der Hennecke-Bewegung noch nicht begriffen hatten, und deren bewußten, aktiven Gegnern zu unterscheiden, um die letztgenannten zu isoliefen. Eine ihrer wichtigsten Methoden bestand darin, Uberzeugende praktische Beispiele zu schaffen für den Nachweis, daß Hennecke-Leistungen auch außerhalb des Bergbaus möglich 49 wären und daß sie keinesfalls auf "Knochenarbeit" beruhten - wie überhaupt der politischideologische Klassenkampf am diese Bewegung in der Praxis, durch den Beweis der Produktionssteigerung und eines verbesserten Lebensstandards entschieden wurde. Die Verallgemeinerung der Tat Henneckes, die Entwicklung einer breiten HenneckeBewegung erfolgte also in einem komplizierten und vielseitigen Prozeß des Klassenkampfes, und sie bewirkte einen qualitativen Fortschritt der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung. Höhepunkt dieser Bewegung in der Periode der antifaschistisch-demokratischen Revolution, erwies sie sich als so entwicklungsfähig und zukunftsträchtig, daß sie für längere Zeit das Bild der gesamten Bewegung bestimmte. "Die Leistung Adolf Henneckes vereinte in sich alle Elemente der Aktivistenbewegung, wie sie sich zur Erfüllung des Zweijahrplanes entwickeln mußte: hohes politisches Bewußtsein, eine neue Einstellung zur Arbeit, Verständnis für die Ziele des Zweijahrplanes, Senkung der Produktionskosten und Steigerung der 48 49
Vgl. Die Hennecke-Bewegung, S. 17 ff. Die Hennecke-Bewegung griff mit einer 385prozentigen Normerfüllung bei einer Lokomotiv-Reparatur durch die Kolonne Estel im RAW Zwickau auf die Reichsbahn über. Da große Teile der Belegschaft diese Leistung für unglaubwürdig hielten, wiederholte sie die Kolonne unter Kontrolle der Werkleitung, der BGL und der SED-Betriebsgruppe und erreichte dabei sogar 393 Prozent der Norm. - Der Maurerpolier und BGL-Vorsitzende der Bau-Union Stralsund, Paul Sack, erzielte im Bauwesen den Durchbruch der Hennecke-Bewegung. In einer Schicht vermauerte e r unter den Augen seiner Kollegen 2600 Ziegel anstelle der in der Norm vorgesehenen 600. Seine Kollegen mußten bestätigen, "daß nicht die rohe Kraft ausschlaggebend war, sondern vor allen Dingen die Einrichtung des Arbeitsplatzes und das Denken" (Hennecke. S. 37).
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Arbeitsproduktivität durch sinnvolle Nutzung der Technik und moderne Arbeitsmethoden."
50
Die geschichtliche Leistung Adolf Henneckes blieb auch in der Folgezeit von prinzipieller 51 Bedeutung für die politische Konzeption der Parteiführung (so auf der 1. Parteikonferenz 52 und dem m . Parteitag
) sowie fUr die weitere Orientierung der Aktivisten- und Wettbe-
werbsbewegung. Die 1. Parteikonferenz der SED im Januar 1949 bestimmte den Platz der Aktivistenund Wettbewerbsbewegung bei der allseitigen Festigung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung genauer und entwickelte, ausgehend vom Stand der Hennecke-Bewegung, ihre Aufgaben und Ziele weiter. Bereits während ihrer Vorbereitung war das neue Wechselverhältnis zwischen der Parteiarbeit und dieser Bewegung zutage getreten: Erstmals bereiteten Werktätige Ende 1948/Anfang 1949 einen derartigen Höhepunkt im Leben der SED durch 53 Produktionstaten vor.
In seiner Rede Uber die Wirtschaftspolitik der Partei begründete
Walter Ulbricht die Notwendigkeit, daß sich die Arbeiterklasse tagtäglich ihre führende Rolle neu erwerben müsse, indem sie sich an die Spitze des Kampfes um den Wirtschaftsplan stellt, indem sie lernt, in Wirtschafts- und Staatsapparat vorbildlich für dessen E r füllung zu arbeiten, indem sie die Wissenschaft meistert und unter Führung der SED eine breite Bewegung aller Werktätigen und ihrer Verbündeten für den demokratischen Aufbau entfaltet. Dabei unterstrich e r die zentrale Stellung der Aktivistenbewegung als einer Schlüsselposition in diesem Ringen: "Das Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft findet in der gegenwärtigen Periode seinen Ausdruck vor allem im Wachsen der Aktivistenbewegung und der Hennecke-Bewegung. In der vorbildlichen Arbeit der Aktivisten kommt zum Ausdruck, daß in der Arbeiterklasse das Bewußtsein 54 wächst, daß die Arbeit dem eigenen Volk, einer neuen, fortschrittlichen Ordnung dient."
Den von der Hennecke-Bewegung angetre-
tenen Beweis, daß nur die Steigerung der Arbeitsproduktivität zu einem besseren Leben führt, wertete Walter Ulbricht als bedeutendstes Resultat der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung im J a h r e 1948 und als Niederlage des Klassengegners. Von dieser Funktion der Bewegung im Kampf um die allseitige Festigung der neuen Ordnung ausgehend, verwies Walter Ulbricht auf die Rolle, die ihr in der Arbeit der SED, der staatlichen und Wirtschaftsorgane zukam: Als wichtigste neue Erscheinung im gesellschaftlichen Leben hatten die P a r t e i - und Staatsfunktionäre sie mit aller Kraft zu fördern, 50 51 52 53 54
Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 6, S. 281. Vgl. Ulbricht, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, S . 327, 333'f. Vgl. ebenda, S. 599 f . , 606, 613. Vgl, derselbe, Zu Fragen der Parteiarbeit, Berlin 1960, S . 188. Protokoll der Ersten Parteikonferenz der SED, 25. bis 28. Januar 1949, Berlin 1950, S . 185.
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um sie zu einer Massenbewegung zu entwickeln, mit deren Hilfe es gelingen würde, den Zweijahrplan vorzeitig zu erfüllen. Als die Richtpunkte ihrer weiteren Entfaltung wurden das Überschreiten der technisch begründeten Normen durch bessere Arbeitsorganisation, das Rechnen mit der Minute, bessere Qualität der Produkte, Sparsamkeit im Materialeinsatz sowie Senkung der Selbstkosten festgesetzt. "Es kommt jetzt darauf an, die HenneckeBewegung durch die Organisierung des Wettbewerbs zu einer breiten Bewegung für die Leistungssteigerung zu entwickeln. Deshalb ist es die vordringlichste Aufgabe, den Wettbewerb innerhalb der Betriebsabteilungen, zwischen den Betriebsabteilungen sowie zwischen den 55 Betrieben der einzelnen Industrien zu organisieren." Mit dieser Hervorhebung des innerbetrieblichen Wettbewerbs bzw. der Wettbewerbe zwischen Werken gleicher oder ähnlicher Produktion wandte sich Walter Ulbricht zugleich gegen Tendenzen des Schematismus und der formalen Wettbewerbsführung, die sich mit dem Anwachsen der Bewegung zeigten. In der Vielfalt von Formen und Möglichkeiten zur Erreichung des Hauptzieles, der Produktivitätssteigerung, in der betont differenzierten, auf die Bentabilität bezogenen Aufgabenstellung zeichnete sich der Fortschritt ab, den es während der sieben Monate seit der 11. Parteivorstands-Tagung zu erzielen gelang. Auch hier standen bereits die Ergebnisse der Hennecke-Bewegung zu Buche. Ebenso wird an dieser Orientierung sichtbar, wie die SED mit Hilfe der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung daranging, bewußt neue ökonomische Gesetze im volkseigenen Sektor als der Keimzelle sozialistischer Ökonomik zu realisieren.^ 6 Das Wachstum der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung in die Breite, das für die Festigung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung unbedingt notwendig war, aber auch die Verschärfung und die veränderten Formen des Klassenkampfes erforderten, stärker als bisher die politisch-ideologische Funktion der Bewegung zu betonen. Auf der vom FDGB einberufenen ersten zentralen Konferenz der Hennecke-Aktivisten, die am 4. und 5. Februar 1949 in Berlin tagte und an der bereits über 1 200 Aktivisten teilnahmen, unterstrich Walter Ulbricht besonders diese Seite in ihrer Bedeutung für die Zukunft. Einer Reduzierung der Bewegung auf ihre ökonomische Funktion entgegentretend, betonte e r : "Es genügt nicht, hohe Produktionsleistungen zu vollbringen, sondern die Menschen, die solche Beispiele einer höheren Arbeitsproduktivität geben, müssen in e r s t e r Linie wissen, wie die Garantie geschaffen wird, daß diese Arbeit dem Volke und der Festigung der demokratischen Ordnung dient. Es genügt nicht, mehr zu leisten; es ist notwendig,
55 Ebenda, S. 201. 56 Vgl. Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR. S. 73 - 80.
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daß alle Aktivisten und möglichst alle Werktätigen bewußte Kämpfer für den Fortschritt sind, 57 daß sie wissen: Wohin wollen wir, welches Ziel wollen wir erreichen?" Auf die Frage nach dem Weiterschreiten zur sozialistischen Revolution eingehend, erklärte Walter Ulbricht zur Rolle der Aktivisten bei der Entwicklung des subjektiven Faktors: Die große Aufgabe, die Mehrheit der Arbeiter und Werktätigen als bewußte Erbauer der neuen Ordnung zu gewinnen, stehe noch vor der SED, und sie mlisse gemeinsam mit den HenneckeAktivisten gelöst werden. "Ihr . . . kämpft in den vorderen Reihen ftlr die neue Ordnung. Jetzt kommt es darauf an, daß ihr jede Möglichkeit ausnutzt, um euch das Wissen anzueignen, die fortschrittlichsten Erfahrungen zu erwerben, damit ihr nicht nur Initiatoren einer höheren Arbeltsproduktivität seid, sondern die Vorkämpfer unserer demokratischen 58 Politik Uberhaupt." Die Klärung der politisch-ideologischen Funktion der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung bei der konsequenten WeiterfUhrung der demokratischen Umwälzung, besonders ihre Bedeutung fllr die Entfaltung des Klassenbewußtseins, half zugleich, die Arbeiterklasse an die sozialistische Revolution heranzuführen. Den Hennecke-Aktivisten als einem fortgeschrittenen, bewußten Teil der Arbeiterklasse fiel dabei die Aufgabe zu, die ganze Klasse auf diesem Wege voranzubringen. Detaillierter als auf der 1. Parteikonferenz legte Walter Ulbricht die Aufgaben zur weiteren Organisierung der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung dar: die Verbreitung der vorbildlichen Hennecke-Leistungen mittels Produktionsberatungen, Wandzeitungen, fachlicher Schulung u . a . , besonders aber durch Wettbewerbe, deren Ziel nicht die Leistungssteigerung schlechthin sein sollte, sondern in die auch Kostensenkung und neue Erfindungen, Einsparungen, Übernahme fortschrittlicher Arbeitsmethoden und die Qualitätsarbeit mit einbezogen waren. Eine der Kernfragen bei der Führung der Bewegung griff Walter Ulbricht auf, indem er die Verantwortung der Gewerkschaften hervorhob, die bis dahin noch nicht eindeutig festgelegt war. " . . . für die Hennecke-Bewegung, für die Leitung der Aktivistenbewegung sind in erster 59 Linie die Industriegewerkschaften und die Gewerkschaftsleitungen verantwortlich." Ihnen kam die Aufgabe zu, Produktionsberatungen und den Erfahrungsaustausch zu organisieren, Wettbewerbsschwerpunkte festzulegen und die Wettbewerbe operativ zu leiten. Die Übernahme dieser Verantwortung bedeutete einen Schritt voran bei der Durchsetzung des neuen Inhalts der Gewerkschaftsarbeit und erschloß der Massenorganisation der Arbeiterklasse ein neues Feld für die Lenkung gesellschaftlicher Prozesse. 57 Ulbricht. Walter, Das neue Verhältnis zur Arbeit, in: Über Gewerkschaften, Bd 2, S. 291 f. 58 Ebenda, S. 296. 59 Ebenda, S. 305.
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Ein Jahr nach dem Zeitzer Kongreß verglich Walter Ulbricht auf dem Erfurter 2. Jungaktivistenkongreß am 2. und 3. April 1949 das erreichte Niveau der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung mit der Lage im April 1948. E r vermittelte den Jungaktivisten den historischen Optimismus, zu dem das in kurzer Zeit Erreichte Anlaß gab. "Jetzt ist der Weg sichtbar, der zu einer neuen Gesellschaftsordnung führt."
60
Entgegen Tendenzen, den
Übergang zur sozialistischen Revolution zu beschleunigen, kennzeichnete er als die "radi61 kalste Aufgabe, die gegenwärtig zu lösen ist" , die Erhöhung der Arbeitsproduktivität zur Stärkung der ökonomischen Basis der Hegemonie der Arbeiterklasse und damit der antifaschistischen Demokratie. Es käme nicht darauf an, radikale Losungen zu "entdecken", sondern zu lernen, täglich die führende Rolle der Arbeiterklasse zu verwirklichen, und dies auch mit Hilfe und in den Reihen der Aktivistenbewegung. Überaus deutlich trat am Beispiel dieser Frage die Dialektik von konsequenter Wetterführung der antifaschistischdemokratischen Revolution durch allseitige Konsolidierung der aus ihr hervorgegangenen neuen politischen und sozialökonomischen Ordnung auf der einen und der schrittweisen, friedlichen und demokratischen Hinüberleitung in die sozialistische Revolution auf der anderen Seite zutage. Sie zeigt, daß die Führung der SED auch im Hinblick auf die Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung strikten Kurs auf die volle Ausschöpfung aller derjenigen 62
Möglichkeiten nahm, die die antifaschistisch-demokratische Ordnung in sich barg. Wenn es der SED seit Anfang 1949 möglich wurde, die Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung auf differenzierte Ziele und Methoden zu orientieren, so gründete sich das wesentlich auf deren schnellem Aufschwung. Jetzt erfaßte sie immer mehr Werktätige. Die Anzahl der in Jugendaktivs arbeitenden Jungaktivisten und -arbeiter stieg z . B . von 20 000 (in 2300 Aktivs) Ende März 6 3 auf 60 000 (in 9700 Aktivs) im Mai 1949 6 4 an. Im Juli 65 1949 standen 2 695 Betriebe mit 580 000 Arbeitern und Angestellten im Wettbewerb. 60
Derselbe. Jeder ein Meister seines Faches, in: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, S. 401. 61 Ebenda, S. 404. - In gleichem Sinne hatte Wilhelm Pieck im März 1949 geschrieben: "Wir geben selbstverständlich unser Endziel, die Verwirklichung des Sozialismus . . . , nicht auf. Aber diesem Ziele kommen wir um so näher, j e mehr wir den allgemeinen Kampf des deutschen Volkes um Frieden und Einheit, um die nationalen Interessen . . . mit dem Kampf des Proletariats für den Sozialismus in einem gemeinsamen Strom des Kampfes gegen den Imperialismus vereinen" (Pieck. Wilhelm. Reden und Aufsätze, Bd 2, Berlin 1951, S. 225). 62 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 6, S. 309 ff.; Heitzer, in: ZfG, 1968, H. 6, S. 718 f . , und Dittrich. Gottfried/Griebenow. Helmut. Die Funktion der antifaschistisch-demokratischen Revolution in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus in der DDR, in: WZ Leipzig, 1969, H. 4, S. 533-543. 63 Vgl. Dokumente zur Geschichte der FDJ. Bd 1, Berlin 1960, S. 219. 64 Vgl. Wir sind der Pulsschlag der Wirtschaft. Die Aktivistenbewegung bei der Erfüllung des Zweijahrplanes, hg. vom Bundesvorstand des FDGB, o.O. und o . J . , S. 84. 65 Vgl. ebenda, S. 75.
360
Gottfried Dittrich Neben ihrem zahlenmäßigen Anwachsen fand ihre Entfaltung vor allem in der Berei-
cherung ihres Inhalts auf Grund der komplizierter gewordenen Anforderungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung sowie dank der ständigen Aufmerksamkeit und konstruktiven Politik der SED sichtbaren Ausdruck. Am 1. Juli 1949 gründete Luise Ermisch in den Halleschen Kleiderwerken die erste Qualitätsbrigade ' 6 und legte so den Grundstein für eine sich besonders im folgenden Jahr ausbreitende Bewegung. Im Verlaufe des Jahres 1949 gewann das Neuererwesen an Gewicht. Dem Ende 1948 eingerichteten Patentbüro in den Leunawerken gingen z.B. im gesamten ersten Quartal 1949 nur 77 Verbesserungsvorschläge zu, während allein im April ihre Zahl um 94 und im Mai um weitere 105 wuchs und bis Jahresende auf 1037 anstieg. In der DDR wurden 1949 insgesamt 19 650 Verbes67 serungsVorschläge eingereicht. Im Sommer 1949 gelang es Bruno Kiesler, der HenneckeBewegung in der Landwirtschaft zum Durchbruch zu verhelfen.
68
Die Orientierung, die
der Parteivorstand der SED auf seiner 21. Tagung im August für die Aktivisten- und Wett69 bewerbsbewegung gab und die eine solche differenzierte Zielstellung enthielt , beruhte also auf dem erreichten Niveau der Bewegung selbst. Die gewaltige theoretische und politische Leistung, die die Parteiführung der SED während des Sommers und Herbstes 1949 bei der Analyse der neuen Lage, die im Zusammenhang mit der Abspaltung der Westzonen entstanden war, sowie bei der Konzipierung ihrer Strategie für den weiteren Kampf zu vollbringen hatte, lenkte ihre Aufmerksamkeit nicht von den Problemen der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung ab. Gerade in dieser Zeit hob sie ihre Bedeutung für die Sicherung und Stärkung der Positionen aller demokratischen Kräfte im Ringen gegen die imperialistische Restauration in den Westzonen hervor. Sie ging davon aus, daß die antifaschistisch-demokratische Ordnung Basis und Bollwerk dieses Kampfes um die demokratische Einheit Deutschlands war; daß "die sichtbaren E r folge der Ostzone im wirtschaftlichen Aufbau und in der Verbesserung der materiellen L a g e . . . das beste Argument zur Gewinnung des ganzen deutschen Volkes für den nationalen 70 Kampf'
darstellten.
Diese Position zeigte sich vor allem bei der Gründung der DDR, in der Stellungnahme der obersten Staatsorgane zu den Aktivisten und zu ihrem Werk. Die erste Regierungs66
Vgl. Falk. Waltraud, unter Mitarbeit von Bartel. Horst. Kleine Geschichte einer großen Bewegung, Zur Geschichte der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung in der Industrie der DDR, Berlin 1966, S. 68 f. 67 Vgl. Keller. Dietmar. Die Herausbildung der sozialistischen Demokratie in der volkseigenen Industrie der DDR (1948-1952), phil. Diss., Leipzig 1969, S. 88 f. (Ms.). 68 Vgl. Kiesler. Bruno. Aktivisten in der Landwirtschaft, in: BzG, 1969, H. 1, S. 130 ff. 69 Vgl. Dokumente der SED. Bd 2, S. 295, 299, 302 f . 70 Ebenda, S. 322.
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erklärung Otto Grotewohls vom 12. Oktober, von der Provisorischen Volkskammer bestätigt, enthielt eine programmatische Würdigung der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung. Es war von geschichtlichem Symbolwert, wenn sie mit dem Bekenntnis schloß: "Diese Regierung hat ihre Legitimation vom Volke erhalten und wird sich in allen ihren Handlungen dem Volke verantwortlich fUhlen. Daher halten es die Mitglieder der deutschen Regierung fUr ihre erste Verpflichtung, zu den Aktivisten zu gehen, die den Aufbau der Wirtschaft und des Staates tragen, ohne den unsere Arbeit sinnlos sein müßte. Wir werden am morgigen Tage der Aktivisten vor den Arbeitern in den Betrieben unser Programm entwickeln und die Be71 stätigung des arbeitenden Volkes einholen." Die Bildung der DDR ist mit der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung nicht nur durch dieses Bekenntnis des ersten Ministerpräsidenten verbunden oder dadurch, daß wenige Tage später die Werktätigen zum ersten Male den "Tag des Aktivisten" feierlich begingen. Diese Bewegung war, wie Walter Ulbricht zum 20. Jahrestag der Leistung Henneckes sagte, "die bewußte Teilnahme breiter Teile der Arbeiterklasse an der 72 Leitung der volkseigenen Wirtschaft und am Aufbau der Arbeiter-und-Bauern-Macht". In ihr "fand die historische Rolle der Arbeiterklasse als Schöpfer einer neuen Gesellschaftsordnung ihren 73 sichtbaren Ausdruck"
. Mit ihr leistete die Arbeiterklasse der DDR einen spezifischen
Beitrag, um den entscheidenden Umschwung in der deutschen Geschichte herbeizuführen. Und das Bekenntnis der Provisorischen Regierung zur Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung gab Auskunft Uber die Klassenpositionen der neuen Macht. Am ersten Jahrestag der Tat Henneckes zeichnete der FDGB 25 000 Aktivisten aus, und am Jahresende hatte e r insgesamt 53 217 Aktivisten registriert. Die Bewegung, die im Laufe des Jahres 1949 den bewußtenTeilder Arbeiterklasse erfaßt hatte 74 , begann 75 gegen Ende dieses Jahres breite Schichten des Volkes zu erfassen . Ihr weiterer Aufschwung wurde durch die im November ausgearbeiteten Richtlinien zur langfristigen Ent76 Wicklung der volkseigenen Industrie stimuliert. Ein erhöhtes Gewicht bei der ökonomischen Festigung der DDR erhielt sie an der Jahreswende 1949/1950 in der zugespitzten Auseinandersetzung mit dem in der Bundesrepublik wiedererstehenden Imperialismus. Zu dieser 71 Vgl. Grotewohl. Otto, Im Kampf um die einige deutsche demokratische Republik, Bd 1, S. 532. 72 Neues Deutschland (Ausg.A) v. 15.10.1968, S. 2. 73 Hager. Kurt, Der Kampf des werktätigen Volkes unter Führung der SED für den Sieg der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung und der sozialistischen Revolution in der DDR, in: BzG, 1969, Sonderheft 2, S. 11. 74 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 6, S. 312. 75 Vgl. ebenda, Bd 7, Berlin 1966, S. 37. 76 Vgl. ebenda, S. 37 f . ; ferner Ulbricht. Walter. Neue Verhältnisse - neue Aufgaben neue Methoden, in: Zur sozialistischen Entwicklung der Volkswirtschaft, S. 254-267.
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Zeit gewannen die Vorstöße von imperialistischen sowie reaktionären bürgerlichen Kräften 77 an Schärfe
, insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet. Wenn im Herbst 1949 eine west-
deutsche Zeitung geschrieben hatte, die wirtschaftliche Existenz der DDR beruhe "nur auf Ruinenfledderei" und sie werde "das Jahr 1950 kaum er-, geschweige denn Uberleben" 78 so traf sie nicht nur eine absolute Fehleinschätzung, sondern verlieh damit zugleich einer höchst aktiven imperialistischen Politik der ökonomischen Aggression gegen die DDR 79 Ausdruck. Durch diese aggressive Politik traten Anfang 1950 ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten besonders in der Metallurgie auf. Es gelang der SED, unterstützt durch Gewerkschaften und FDJ, in kurzer Frist Zehntausende von Werktätigen für ihre Behebung zu mobilisieren. Sie bauten das Stahl- und Walzwerk Brandenburg wieder auf und erweiterten die Maxhütte Unterwellenbora sowie die Stahlwerke Gröditz, Hennigsdorf und 80
Riesa. Um den jungen Staat auf schnellstem Wege wirtschaftlich zu festigen, rief der Parteivorstand am 11. Januar 1950 von seiner 24. Tagung aus die Arbeiter auf, den Zweijahrplan vorfristig bis zum m . Parteitag der SED im Juli 1950 zu erfüllen. Die 24. Tagung, die Übrigens zum ersten Male in der Parteigeschichte einen Jahresvolkswirtschaftsplan beriet, hielt es unter Berufung auf die hervorragenden Leistungen der Aktivisten für möglich, den Zweijahrplan in anderthalb Jahren zu realisieren. Aus der Verschärfung des Klassenkampfes und den bisherigen Ergebnissen der ökonomischen Masseninitiative schlußfolgernd, betonte sie: "Vor allem ist es notwendig, 81 die werktätigen Menschen ideologisch zu gewinnen und für den Plan zu mobilisieren." Die Richtung für den weiteren Verlauf der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung wies der Parteivorstand, indem er alle Organe der Partei, insbesondere aber die Parteimitglieder in den Gewerkschaften, auf die vorrangige Förderung der innerbetrieblichen Wettbewerbe, die Konkretisierung ihrer ökonomischen, technischen und technologischen Ziele, auf den Zusammenschluß zu Arbeitsbrigaden und -kollektiven orientierte. Er empfahl, in diesem Sinne Vorbilder zu schaffen und Beispiele zu organisieren. Als Maßstab für die politische Arbeit der Betriebsgruppen nannte er die Planerfüllung der Betriebe und erhöhte damit deren Verantwortlichkeit für die Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung. 77 Vgl. derselbe. Zu Fragen der Parteiarbeit, S. 246 f. 78 Zit. nach: Heitzer. Heinz. Andere Uber uns. Das "DDR-Bild" des westdeutschen Imperialismus und seine bürgerlichen Kritiker, Berlin 1969, S. 66. 79 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 7, S. 29, 39 f. 80 Vgl. ebenda, S. 40. 81 Vgl. Zum Volkswirtschaftsplan 1950. Entschließung des Parteivorstandes vom 11. Januar 1950, in: Dokumente der SED, Bd 2, S. 425 f.
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In diesem Zusammenhang förderte der Parteivorstand zugleich zielstrebig die Entfaltung der politischen und der sozialen Funktion der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung. Ihre politisch-erzieherische Wirksamkeit bei der Ausbildung eines neuen Staatsbewußtseins der Werktätigen in d e r DDR wuchs, indem sie sich immer enger mit der entstehenden sozialistischen Demokratie in der materiellen Produktion
82
verflocht. Einen Höhepunkt 83
fand dies im Gesetz der Arbeit, das die Volkskammer am 19. April 1950 verabschiedete. Das Gesetz ging von der führenden Rolle der Arbeiterklasse in Staat und Wirtschaft der DDR aus, begründete die Verwirklichung des Mitbestimmungsrechts der Arbeiter und Angestellten durch die Wirtschaftsführung der staatlichen Organe, charakterisierte die Aktivistenbewegung als "die wichtigste gesellschaftliche Kraft bei der Erfüllung der Wirtschaftspläne zur Festigung der demokratischen Ordnung" und erhob ihre Förderung zum Gesetz. Die von der 24. Tagung gegebene Orientierung auf Qualitätsbrigaden ging von den durch Luise Ermisch und andere Aktivisten geschaffenen Anfängen aus und bewirkte, unterstützt von der Berliner Arbeitstagung des FDGB-Bundesvorstandes vom März 1950, eine geradezu explosionsartige Ausbreitung der Brigadebewegung: Von etwa 1 000 im Januar stieg ihre Zahl auf über 24 000 Brigaden Mitte Juli 1950 an.
Das zeigte ebenso
wie die stärkere Betonung der technischen und technologischen Aspekte, daß die Parteiführung dazu Uberging, die Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung über längere Sicht auf die objektiv mit der Inangriffnahme der sozialistischen Industrialisierung in den fünfziger Jahren entstehenden Aufgaben vorzubereiten. Die Monate vor dem n i . Parteitag standen im Zeichen erhöhter Anstrengungen um die vorfristige Erfüllung des Zweijahrplanes. Als das Gesetz der Arbeit am 1. Mai 1950 in Kraft trat, liefen in fast allen Industriezweigen Wettbewerbe um den Titel "Brigade der ausgezeichneten Qualität". "Der Wettbewerb . . . wird zeigen", schrieb Walter Ulbricht vor dem Parteitag, "in welchem Maße das demokratische Staatsbewußtsein und der Arbeitsenthusiasmus der Arbeiterund Angestellten und zugleich ein neues Verhältnis zur technischen 85 Intelligenz entwickelt wurden." Den vorbereitenden Mitgliederversammlungen und Delegiertenkonferenzen empfahl er, die besten Erfahrungen der Mitglieder bei der Produktivi82 Vgl. Keller. S. 151 - 232. 83 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 7, S. 44. 84 Vgl. Dittrich. Gottfried. Die Wettbewerbsbewegung in der DDR beim Übergang zur sozialistischen Revolution. Der Kampf der SED in den Jahren 194B - 1950 um die Schaffung der wichtigsten Voraussetzungen für das volle Ausreifen des sozialistischen Charakters des Wettbewerbs, phil. Diss., Leipzig 1966, S. 195 ff. (Ms.). 85 Ulbricht, Walter. Zum in. Parteitag der SED, in: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd3, S. 584.
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tätssteigerung, aus den Qualitätsbrigaden und bei der Einführung neuer Arbeitsmethoden zu beraten. Die Parteivorsitzenden, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, gingen gleichfalls in der Parteitagsvorbereitung auf Probleme der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung und 86
ihrer künftigen Gestaltung ein.
So gelang es, in einer Phase gesteigerter gegnerischer
Angriffe und zugespitzten inneren Klassenkampfes in der DDR einen sichtbaren Aufschwung der Bewegung zu organisieren und von dieser Grundlage aus den zweiten entscheidenden Schritt im Übergang zur sozialistischen Revolution nach der Gründung der DDR zu tun, nämlich bis zum Parteitag den Zweijahrplan und seine grundlegende Aufgabe zu erfüllen: mit dem Vorkriegsstand in der Industrieproduktion 87 zugleich das Übergewicht des volkseigenen Sektors in der Wirtschaft zu erreichen. Bereits die Zusammensetzung der Delegierten des m . Parteitages und die aktive Mitwirkung hervorragender Aktivisten an der Tätigkeit des höchsten Organs der SED drückten die bedeutsame gesellschaftliche Rolle der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung sowie die Aufmerksamkeit aus, die ihr die Partei der Arbeiterklasse zuteil werden ließ. 424 Dele88
gierte, d . h . knapp 20 Prozent, waren ausgezeichnete Aktivisten
, von denen eine ganze
Anzahl in der Diskussion zu Worte kam - so Erich Wirth, der deutsche Initiator der Schnelldrehmethode, und Franz Striemann, einer der Begründer der Qualitätsbewegung. Ihnen allen galten die anerkennenden Worte Wilhelm Piecks in seiner Schlußansprache, daß sie, wie in der Produktion, so "auch bei der Ausarbeitung der richtigen Politik der Partei ihren Mann stehen"; daß sie für alle Mitglieder der SED die Verpflichtung verkörpern, selbst Aktivisten der Produktion zu werden und "an die Spitze des großen Arbeitsauf89 schwungs zu treten, den wir brauchen, um unseren Fünfjahrplan zu erfüllen" . Der III. Parteitag analysierte, ausgehend vom vorzeitigen Abschluß des Zweijahrplans, den Stand und die Resultate der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung. Unter dem Beifall der Delegierten hob Wilhelm Pieck im Rechenschaftsbericht hervor, daß die Aktivistenbewegung in ein neues Stadium eingetreten sei, das nicht nur durch das Ringen um Übererfüllung der Pläne, sondern auch durch den beharrlichen Kampf um die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die Senkung der Selbstkosten und die Verbesserung der Qualität 86 Vgl. Pieck. Bd 2, S. 408: Grotewohl. Bd 2, Berlin 1954, S. 96. 87 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 7, S. 41. - Zur Bedeutung dieser Verschiebung des ökonomischen Kräfteverhältnisses für die Herausbildung der Arbeiter-und-Bauern-Macht sowie sozialistischer Produktionsverhältnisse in der DDR vgl. Heitzer, in: ZfG, 1968, H. 6, S. 729-735. 88 Vgl. Protokoll der Verhandlungen des III. Parteitages der SED. 20. bis 24. Juli 1950, Berlin 1950, S. 140. 89 Ebenda, S. 217 f.
SED und Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung charakterisiert ist.
90
365
Ausführlich würdigte Walter Ulbricht in seiner Rede zum Tages-
ordnungspunkt "Der Fünfjahrplan und die Perspektive der Volkswirtschaft der DDR" die Fortschritte seit Mitte 1948, die Erfolge der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung bei der Veränderung der Menschen und der gesellschaftlichen Verhältnisse: "Etwas Neues, Großes ist in der DDR Wirklichkeit geworden. Werktätige, die vor einigen Jahren noch verzagt ihres Weges gingen, die keine Möglichkeit sahen, wie man die Folgen des Hitlerkrieges überwinden und zu einem neuen Leben kommen kann, stehen jetzt stolz an ihren Maschinen und vollbringen Leistungen, wie sie im alten Deutschland nicht möglich waren", 91 Leistungen, die "zeigen, daß eine tiefe Wandlung in unserem Volke vor sich geht". Damit wies Walter Ulbricht auf die große politisch-ideologische Bedeutung der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung hin, die in der sozialistischen Revolution eine wichtige Seite jenes Wandlungsprozesses darstellt, in dessen Verlauf die Arbeiterklasse zu einer körperlich-geistig produktiv-tätigen und machtausübenden Klasse der sozialistischen Ge92 sellschaft wird. Walter Ulbricht wertete diese Bewegung als "eine große nationale Tat. Erst die Leistungen der Hennecke-Aktivisten sicherten die Durchführung unseres Plans: des Neu 93 auf baus aus eigener Kraft unter Ausschaltung jeder imperialistischen Einmischung." Mit ihren Erfolgen an der Hauptfront des Kampfes gegen den Imperialismus, beim wirtschaftlichen Neuaufbau, leistete sie ihren Beitrag dazu, daß in der DDR die Arbeiterklasse ihre historische Mission antreten konnte. Der HI. Parteitag fixierte als Hauptaufgaben der SED und aller demokratischen Kräfte den Kampf um den Frieden, um die Herstellung der demokratischen Einheit Deutschlands, den Abschluß eines Friedensvertrages sowie um die Festigung und weitere Stärkung der DDR als staatlicher Basis des nationalen antiimperialistischen und Friedenskampfes. Im Rahmen dieser Generallinie legte er die Orientierung für die Aktivisten- und Wettbe90
91 92 93
Vgl. ebenda, Bd 1, S. 72. - Es stimmt m . E . weder mit dieser Einschätzung noch mit dem Verlaufe der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung überein, wenn Günter Lang (Der Kampf der Arbeiterklasse unter Führung der SED für die Entfaltung der sozialistischen Masseninitiative in den Betrieben- des Schwermaschinenbaus der DDR in den Jahren 1950/51, in: Theorie und Praxis, 1965, H. 2, S. 43) meint, bis Mitte oder Herbst 1950 sei "die Zielstellung auf die quantitative Leistungssteigerung gerichtet gewesen. Im Herbst 1950 wurde in Anfängen sichtbar, daß sich der Inhalt der Wettbewerbe verändert." Diese "Anfänge" sind seit dem zweiten Halbjahr 1949 zu verzeichnen (vgl. S. 360 dieser Arbeit). Ulbricht, Walter. Der Fünfjahrplan und die Perspektive der Volkswirtschaft, in: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, S. 599. Vgl. Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR. S. 94 f. Ulbricht. Der Fünfjahrplan, in: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, S. 606.
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werbsbewegung in der kommenden Periode fest. Sie war unmittelbar verbunden mit der Konzipierung des 1. Fünfjahrplans als des wichtigsten Dokuments des Parteitags. In der Generallinie der Partei stellte dieser Plan das Kernstück, das wichtigste Kettenglied für 94 die Lösung der genannten Hauptaufgaben dar. In einer Situation, da im gesellschaftlichen Leben der DDR die Elemente des Sozialismus das Übergewicht erlangten, mehr und mehr bestimmend wurden und die Entwicklung objektiv zur Schaffung der materiell-technischen Basis des Sozialismus drängten, mußte die Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung als Hauptmethode zur Steigerung der Arbeitsdurch produktivität verstärkt den Kampf um die Beherrschung der Produktionsprozesse 95 die Werktätigen und damit deren fachliche Qualifizierung zum Inhalt haben. Der Parteitag forderte, die Massenbasis des Wettbewerbs durch die Weitergabe der Erfahrungen der Besten und die Brigadebildung, durch stärkere materielle Interessiertheit und f r e i 96 willige Normerhöhung auszudehnen. Vorrangige Beachtung verlangte zu dieser Zeit die Qualitätsbewegung, mußte doch der Parteitag feststellen, daß durch hohe Ausschußquoten 97 und mangelnde Güte vieler Produkte der Volkswirtschaft ein großer Schaden erwuchs. Demgemäß legte er fest, daß die Qualitätsfrage zusammen mit der Erhöhung der Produktivität und des Lebensstandards 98 der Arbeiter "im Vordergrund der Parteiarbeit" stehen und daß in allen Industriezweigen und wichtigen Betrieben der Zusammenschluß der Werktätigen zu Kollektiven eingeleitet werden müßte, die am Wettbewerb um den Titel "Brigade der höchsten Qualität" teilnahmen. Zunehmendes Gewicht in der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung erlangten 99 100 auch die Materialwirtschaft sowie die Sparsamkeitsbewegung . Schließlich galt es, die Bewegung durch einen intensiveren Erfahrungsaustausch mit Stachanow-Arbeitern und Neuerern aus der Sowjetunion sowie aus den volksdemokratischen Staaten zu beflügeln 101 und inhaltlich zu bereichern.
94
95
96 97 98 99 100 101
Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 7, S. 76; Horn. Werner, Die Errichtung der Grundlagen des Sozialismus in der Industrie der DDR (1951-1955), Berlin 1963, S. 49 f . Vgl. Ulbricht, Der Fünfjahrplan, in: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, S. 641 f . ; Protokoll der Verhandlungen des III. Parteitages der SED. Bd 2, S. 6, 10, 88, 96 f . , 108 f . , 117 f . Vgl. Ulbricht. Der Fünfjahrplan, in; Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, S. 642 f f . Vgl. Protokoll der Verhandlungen des m . Parteitages der SED. Bd 2, S. 8, 19, 107. Dokumente der SED. Bd 3, Berlin 1952, S. 109. Vgl. ebenda, S. 158. Vgl. Protokoll der Verhandlungen des III. Parteitages der SED. Bd 2, S. 48. Vgl. ebenda, S. 19, 33, 42, 107; Ulbricht. Der Fünfjahrplan, in: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 3, S. 642, 645.
SED und Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung
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Mit diesen konkreten Orientierungspunkten für die ökonomisch-technische Seite der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung nahm die SED Kurs auf die bewußte Herausbildung wichtiger Züge sozialistischen Verhaltens und Bewußtseins wie Kollektivgeist, Bildungsstreben, Achtung vor dem sozialistischen Eigentum und sozialistischer Internationalismus. Die Mitte 1950 eröffnete neue Phase der Aktivisten- und Wettbewerbsbewe102 103 gung verdeutlichte das. In ihr kam die Arbeit mit den Aktivistenplänen zum Durchbruch, die - aufbauend auf der Brigadebewegung - nicht nur zu kollektiven Aktivistenleistungen hinUberftihrte, sondern zugleich Zeugnis zunehmender Qualifizierung der Werktätigen und ihrer beginnenden Einstellung auf die Errichtung der materiell-technischen Basis des Sozialismus war. In der Neuererbewegung, die sich in dieser Phase stärker entfaltete - die Zahl der Verbesserungsvorschläge wuchs 1950 mit über 58 000 auf fast 104 das Zweieinhalbfache des Standes von 1949 an - , drückte sich gleichfalls das verstärkte Bingen um die Beherrschung der Technik aus; darüber hinaus zeugte sie vom Fortschritt des sozialistischen Internationalismus, besonders der deutsch-sowjetischen Freundschaft, im Bewußtsein der Arbeiterklasse. Ende 1950/Anfang 1951 wurde dank der Initiative Erich Wirths ein schneller Durchbruch 105 bei der Übernahme sowjetischer Neuerermethoden in der Industrie der DDR erzielt. Vom ideologischen Reifeprozeß zeugte auch gerade der Aufschwung, den die Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung angesichts der USA-Aggression 106
in Korea und der Notwendigkeit des verstärkten Friedenskampfes nahm. Der weitere verlauf der Bewegung hing entscheidend gerade von den Fortschritten in der Bewußtheit und Organisiertheit der Arbeiterklasse ab. Indem aer in. Parteitag Maßnahmen zur ideologischen und politisch-organisatorischen Festigung der Partei beschloß, sicherte er zugleich wichtige Bedingungen für die Höherentwicklung der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung. Auch seine unmittelbare Auswertung entsprechend der Festlegung, Berichterstattung und Formulierung der politischen Aufgaben in den einzelnen Parteiorganisationen mit konkreten Maßnahmen für den erfolgreichen Abschluß des Planes 107 1950 sowie für den Ubergang zum Fünfjahrplan zu verbinden , half in der SED den Arbeitsstil einer regierenden marxistisch-leninistischen Kampfpartei durchzusetzen und die Aufmerksamkeit aller Leitungen und Organisationen intensiver auf die Probleme der 102 Vgl. Dittrich. Gottfried. Über Wesen und Entwicklung des sozialistischen Wettbewerbs in der DDR, in: WZ Leipzig, 1966, H. 1, S. 111 f. 103 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 7, S. 102. 104 Vgl. Keller, S. 89. 105 Vgl. Falk, S. 114. 106 Vgl. Protokoll der Verhandlungen des Hl. Parteitages der SED, Bd 1, S. 173 f . ; Bd 2, S. 42, 95. 107 Vgl. ebenda, S. 219.
368
Gottfried Dittrich
Wirtschaft und der Masseninitiative zu richten. Verbunden mit der - besonders an seinem 3. Kongreß
108
sichtbaren - wachsenden Rolle des FDGB als Schule des Sozialismus flir
die gesamte Arbeiterklasse sowie mit der Reorganisation in Verwaltung und Leitung des 109 volkseigenen Sektors seit Dezember 1950 entstanden so auf der Grundlage der Arbeiterund-Bauern-Macht in der DDR die Bedingungen fUr die Entwicklung der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung zu einer sozialistischen Bewegung. Ende 1950, an der Schwelle zum 1. Fünfjahrplan, gab es in der DDR 121 526 Aktivisten und 25 146 von der FDJ ausgezeichnete Jungaktivisten 1 mehr als 1,6 Millionen Werktätige aus Uber 8 100 Betrieben beteiligten sich am Massenwettbewerb im letzten Quartal dieses J a h r e s 1 1 1 . Ihre Leistungen hatten nicht nur die Wirtschaft vorangebracht und den Lebensstandard sichtbar ansteigen lassen, sondern die Träger der ökonomischen Masseninitiative selbst hatten den Weg zum neuen Menschen, zum Menschen der sozialistischen Epoche angetreten. Indem sie - zuweilen auf fast unmerkliche Art - ihre gesellschaftliche Umwelt veränderten, begannen sie sich selbst allmählich zu wandeln. Das war kein spontaner Vorgang, sondern ein in hohem Maße bewußt gestalteter, organisierter Prozeß. Die Ausdeuter unserer sozialistischen Wirklichkeit und unseres Werdens jenseits von Elbe und Werra konstruieren in ihr imperialistisches "DDR-Bild" einen Widerspruch hinein zwischen 112 politischem System und sozialer Struktur , zwischen "SED-Regime" und den "Erfolgen der Men113 sehen drüben" , einen Gegensatz zwischen der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninist sehen Partei. Dieser Linie folgend, definiert z.B. das regierungsamtliche Machwerk "A bis Z. Ein Taschen- und Nachschlagebuch über den anderen Teil Deutschlands" die Aktivistenbewegung als die "angeblich freiwilligen, in Wahrheit von SED und FDGB gelenkten, gemeinsamen Bemühungen von Aktivisten zur Erzielung bestimmter wirtschaft114 licher Erfolge".
Die Gleichsetzung von Spontaneität und "Freiheit" durch die "DDRologen"
tritt hier als eine Form des Ableugnens historischer Entwicklungsgesetze der Gesellschaft auf. Ihr strategisches Ziel besteht zum ersten darin, den sozialistischen deutschen Staat 108 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 7, S. 87 f. 109 Vgl. Müller. Hans/Reißig. Karl. Wirtschaftswunder DDR, Berlin 1968, S. 186 f. 110 Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR 1956. Berlin 1956, S. 191. 111 Vgl. Horn. S. 120. 112 Vgl. die Analysen zum westdeutschen DDR-Bild von Graf. R./Müller. H.G. .Westdeutsche DDR-Forschung - Instrument psychologischer Kriegführung, in: Dokumentation der Zeit, 1969, H. 24, S. 7; Benser. Günter/Theresiak. Manfred. Neue Tendenzen in der westdeutschen Geschichtsschreibung Uber die DDR, in: ZfG, 1969, H. 8, S. 1040 f. 113 Vgl. Graf/Müller. S. 8; Benser/Theresiak. S. 1051, 1054 ff. 114 A - Z. Ein Taschen- und Nachschlagebuch über den anderen Teil Deutschlands, hg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1969, S. 21.
SED und Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung
369
und seine Gesellschaft als Alternative zum staatsmonopolistischen Herrschaftssystem zu negieren, die geschichtliche Gesetzmäßigkeit seines Hervorgehens aus der antifaschistischdemokratischen Ordnung und seines Wachsens in der sozialistischen Revolution zu bestreiten. Die Konstruktion solcher Widersprüche und die Negierung der Bewußtheit und Planmäßigkeit unserer geschichtlichen Entwicklung laufen zweitens darauf hinaus, unsere Gesellschaft im Sinne der Konvergenztheorie als die niedere Phase einer "modernen Industriegesellschaft" hinzustellen, die in Westdeutschland bereits eine höhere, überlegene Stufe erreicht habe. Damit wird ein weiteres strategisches Ziel der ideologischen Diversion angesteuert: die quasiwissenschaftliche Legitimierung des Alleinvertretungs- und Führungsanspruchs der imperialistischen Bonner Bundesrepublik. Der Verlauf der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung in der DDR während der Jahre 1948 bis 1950 macht sichtbar, wie große Teile der Arbeiterklasse in dem von ihrer Partei geleiteten und organisierten, bewußt gestalteten Prozeß der Weiterführung der demokratischen Umwälzung und im Übergang zur sozialistischen Revolution zu einem neuen Verhältnis zur Arbeit und zu den Produktionsmitteln gelangten, wie sie lernten, an der Wirtschaftsleitung mitzuwirken, und wie sie schließlich Akteure der Geschichte und deren Herren wurden. Diese historischen Vorgänge erhellen das dialektische Verhältnis zwischen Charakter und Struktur der Arbeiterklasse auf der einen und ihrer gesellschaftlichen Funktion auf der anderen Seite, das, wie Erich Honecker formulierte, "kein Automatismus (ist). Die Partei, in der die fortgeschrittensten Kader der Klasse vereinigt sind, ist in ihrer erzieherischen und organisierenden Tätigkeit die entscheidende Kraft, um 115 diesen Entwicklungsprozeß praktisch zu gestalten." Ausgehend von einer nüchternen wissenschaftlichen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse und zugleich getragen von revolutionärer Energie, vermochte die SED stets diejenigen Ansatzpunkte aufzufinden, nächsten Ziele abzustecken und Maßnahmen einzuleiten, die schrittweise über den fortgeschrittenen Teil der Arbeiterklasse die Klasse insgesamt veränderten, ihre Position in der antifaschistisch-demokratischen Ordnung ausbauten und sie an ihre Aufgaben als machtausübende und produzierende Klasse in der sozialistischen Revolution und Gesellschaft heranführten.
115 Honecker. Erich. Die Verwirklichung der Leninschen Lehre von der führenden Rolle der Partei durch die SED in der DDR, in: Die wachsende Rolle der kommunistischen und Arbeiterparteien im revolutionären Prozeß des Aufbaus des Sozialismus und Kommunismus. Internationale wissenschaftliche Konferenz, Berlin 1970, S. 53.
HELMUT GRIEBENOW/KURT MEYER
Die Einbeziehung der Großbauern in die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft in der DDR
"Es ist eine der bedeutendsten theoretischen und praktischen Leistungen der SED, die Gesamtheit der Lebensweise vieler Menschen aus dem Bürgertum, anknüpfend an deren eigenen materiellen und anderen Interessen, in Übereinstimmung mit den Interessen der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in Richtung auf den Sozialismus umgestaltet zu haben." 1 Davon zeugen in der Deutschen Demokratischen Republik Zehntausende von Großbauern mit ihren Familien, die, geleitet durch die prinzipienfeste und elastische Agrarpolitik der SED und unserer sozialistischen Staatsmacht, den Übergang in die Genossenschaften vollzogen. In der Politik der SED realisierte sich eine bereits von Friedrich Engels erkannte Möglichkeit, auch die Großbauern, die unter kapitalistischen Agrarverhältnissen durch die Konkurrenz des Großgrundbesitzes unaufhaltsam dem Ruin entgegentreiben, in die gesellschaftliche Umwälzung einzubeziehen. "Sehen diese Bauern", so folgerte er, "die Unvermeidlichkeit des Untergangs ihrer jetzigen Produktionsweise ein, ziehen sie die notwendigen Konsequenzen daraus, so kommen sie zu uns, und es wird unseres Amtes sein, auch ihnen den Übergang in die veränderte Produktionsweise nach 2
Kräften zu erleichtern." Die Agrarverhältnisse in der DDR sind ein Beweis, daß die gesamte Bauernschaft, einschließlich ihres großbäuerlichen Teiles, unter den Bedingungen der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse in sozialistischen genossenschaftlichen Großbetrieben zu einem kulturvollen menschenwürdigen Leben gelangen kann, ohne ihr Bauerndasein aufgeben zu müssen. Die Einbeziehung der Großbauern in den sozialistischen Aufbau bis zu ihrer Integration in die neue Klasse der Genossenschaftsbauern hatte in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre einen ihrer entscheidungsreichsten Abschnitte. Schon nach der Gründung der DDR, 1 2
Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR. Berlin 1969, S. 96. Engels. Friedrich. Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, in: Marx/Engels, Werke, Bd 22, Berlin 1963, S. 503.
372
Helmut Griebenow/Kurt Meyer
mit dem Übergang von der antifaschistisch-demokratischen Ordnung zur sozialistischen Revolution, dessen wichtigstes Merkmal die Ausprägung der Diktatur des Proletariats in Gestalt unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht war, waren wichtige Fragen über die politische und ökonomische Stellung der Großbauern im Prozeß der weiteren gesellschaftlichen Umwälzungen herangereift. Ihre Beantwortung durch die SED und die Machtorgane unseres Staates hatte wesentlichen Einfluß auf die politische Stellung der Großbauern, auf ihr Verhältnis zur neuen sozialistischen Staatsmacht. Die Politik der SED gegenüber den Großbauern beim Übergang zur sozialistischen Revolution in der DDR Die Zerstörung des Systems imperialistischer Macht- und Klassenverhältnisse in der antifaschistisch-demokratischen Revolution und die Errichtung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung bedingten ein breites Bündnis aller antiimperialistischen Kräfte, das von der politisch geeinten Arbeiterklasse geführt wurde. Dieses Bündnis wurde im Kampf um die politische und ökonomische Entmachtung des Monopolkapitals und des Junkertums in der antifaschistisch-demokratischen Revolution geschmiedet. In ihm fand die objektive Übereinstimmung der Grundinteressen der Arbeiterklasse, die sich zur führenden Klasse der Gesellschaft entwickelte, und der werktätigen Bauern und anderer werktätiger Schichten bis zu Teilen der mittleren Bourgeoisie ihren politischen Ausdruck. Nach der Zerschlagung des Großgrundbesitzes waren die Großbauernwirtschaften die größten privaten Landwirtschaftsbetriebe auf dem heutigen Gebiet der DDR. Die Großbauern 3 verkörperten nun als soziale Gruppe die kapitalistische Klasse auf dem Lande , die nach politischer und ökonomischer Klassenorganisation strebte. Solchen Formierungsversuchen 4 der Bourgeoisie in Staat und Gesellschaft setzte die antifaschistisch-demokratische Ordnung im Osten Deutschlands, dank der Hegemonie der Arbeiterklasse, enge Grenzen, so daß die Großbauern weniger im gesamtgesellschaftlichen Rahmen als vielmehr in ihrer politischen und ökonomischen Wirkungssphäre, im Dorf, Führungsansprüche erhoben. Die entschiedene Zurückweisung dieser Angriffe auf die antifaschistisch-demokratische Ordnung stärkte die demokratischen Kräfte auf dem Lande. Zugleich vollzog sich, bewirkt durch den Gesamtprozeß der revolutionären Umwälzung beim Übergang zur sozialistischen Revolution,- eine politische Differenzierung unter den Großbauern: "Der eine Teil lief zum Gegner Uber. Ein anderer verhielt sich abwartend zur politischen Entwicklung oder loyal zur Arbeiter-und-Bauern-Macht. Und wieder ein anderer Teil stellte sich bewußt auf die Positionen des historischen Fortschritts, nicht ohne Schwankungen und ohne Zurückweichen, 3 4
Gemeinsam zum Sozialismus. Zur Geschichte der Bündnispolitik der SED, Berlin 1969, S. 152. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 6, Berlin 1966, S. 261 ff.
Großbauern und sozialistische Umgestaltung
373
wenn der Klassenkampf besonders harte Formen annahm, aber bestrebt, den Weg zu neuen Existenzgrundlagen der menschlichen Gesellschaft zu suchen." Auf den friedlichen, demokratischen Übergang zur sozialistischen Revolution Kurs nehmend und allen von den imperialistischen Propagandazentralen ausgestreuten Gerüchten 6
Uber eine zweite Bodenreform , die eine Enteignung der Großbauern bedeuten sollte, entgegenwirkend, verfolgte die SED in ihrer Agrarpolitik jene politische Linie, die Lenin in seinen "Thesen zur Agrarfrage" auf dem II. Kongreß der Kommunistischen Internationale entwickelt hatte, als er erklärte: "In der Hegel aber soll die proletarische Staatsmacht den Großbauern ihr Land lassen und es nur im Falle des Widerstandes gegen die Macht der Werktätigen und Ausgebeuteten beschlagnahmen." Aus den Erfahrungen der proletarischen Revolution in Rußland folgerte Lenin weiter, "daß diese Schicht, wenn sie bei den geringsten Versuchen eines Widerstandes eine gehörige Lehre bekommt, fähig ist, die Aufgaben, die ihr der proletarische Staat stellt, loyal auszuführen, und daß sie sogar - wenn auch außerordentlich langsam - anfängt, vor der Macht, die jeden Arbeitenden schützt und dem 7 reichen Müßiggänger gegenüber schonungslos ist, Achtung zu empfinden" . In der Sowjetunion ließ sich ein solcher Kurs gegenüber den Kulaken in den Jahren der durchgängigen Kollektivierung nicht durchsetzen, weil diese zahlenmäßig bedeutende und ökonomisch starke letzte Ausbeuterklasse - auf die internationale Konterrevolution setzend - das Klassenkräfteverhältnis im Lande völlig mißdeutete und zum konterrevolutionären Angriff auf die Sowjetmacht überging. Unter diesen Bedingungen war die Enteignung der Kulaken die einzige Möglichkeit, um die revolutionären Errungenschaften zu sichern und die weitere sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft zu gewährleisten. Gegenüber der Mehrheit der Großbauern in der DDR konnten die taktischen Hinweise Lenins befolgt bzw. schöpferisch, entsprechend den konkreten Bedingungen, angewandt werden. Bei dem bestehenden Kräfteverhältnis der Klassen hatten restaurative Bestrebungen keinerlei Aussicht auf Erfolg. Vor dem Hintergrund und auf der Basis eines neuen internationalen Kräfteverhältnisses bürgten dafür die Entwicklung der SED zur Partei neuen Typus wie die wachsende Stärke und Stabilität der Arbeiter-und-Bauem-Macht, durch die die Arbeiterklasse befähigt wurde, ihre Führungsrolle im System der Klassenbeziehungen beim Übergang zur sozialistischen Revolution vollständig wahrzunehmen. Will man die Bedeutung der Großbauernfrage für die Agrarpolitik der SED nach der Gründung der DDR
5 6 7
Gemeinsam Z U m Sozialismus. S. 153. Vgl. Protokoll der 1. Parteikonferenz der SED. Berlin 1950, S. 215; Hoernle. Edwin, Ein Leben für die Bauernbefreiung, Berlin 1965, S. 600. Lenin. W.I., Werke, Bd 31, Berlin 1959, S. 146.
374
Helmut Griebenow/Kurt Meyer
überblicken, ist es notwendig, zumindest In knappen Strichen den politischen und ökonomischen Einfluß der Großbauern in den Jahren 1949/1950 zu umreißen. Im Jahre 1950 bewirtschafteten 47 557 Großbauern - etwas mehr als 5 Prozent aller landwirtschaftlichen Eigentümer g liehen Nutzfläche der DDR.
1,59 Mill. Hektar oder ein Viertel der landwirtschaft-
Der großbäuerliche Besitz verteilte sich nicht gleichmäßig
auf die Länder und Kreise, sondern war in Landschaften mit guten und besten Böden viel stärker konzentriert als etwa auf Sandböden oder In Berglagen. Das Land Sachsen kann dafür als Beispiel gelten. Prozentualer Anteil der großbäuerlichen Betriebe an der Gesamtzahl der Betriebe und der landwirtschaftlichen Nutzfläche nach ausgewählten Kreisen** Ausgewählte Kreise im Land Sachsen
Anzahl der Betriebe
Landwirtschaftliche Nutzfläche
Kreisdurchschnitt des Einheitswertes
23
1 372,00
Land Sachsen insgesamt
6,2
Annaberg
1,2
4,5
Aue
824,00
1,4
6,7
879,00
Auerbach
1,7
8,7
876,00
Hoyerswerda
0,2
0,6
632,00
Niesky
2,1
9,6
1 051,00
Döbeln
10,2
32,1
1 967,00
Flöha
11,9
32,8
1 322,00
Leipzig
10, 8
38,0
1 983,00
Meißen
10,9
48,2
2 019,00
Oschatz
9,9
38,6
1 819,00
13,3
40,4
1 487,00
Zittau
Während in den Kreisen Annaberg, Aue, Auerbach, Hoyerswerda und Niesky von 100 Landwirtschaftsbetrieben nur ein bis zwei eine Nutzfläche von mehr als 20 Hektar hatten und der Anteil dieser Betriebsgröße an der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Kreise kaum ins Gewicht fiel, war in den Kreisen Döbeln, Flöha, Leipzig, Meißen, Oschatz und Zittau jeder achte bis zehnte Betrieb ein großbäuerlicher. Der Anteil dieser
8 9
Statistisches Jahrbuch der DDR 1957. Berlin 1958, S. 354 f . , Archiv des Bezirksvorstandes Leipzig der VdgB (BHG), Bericht Uber die Entwicklung der VdgB (BHG), Landesverband Sachsen 1946-1952, S. 20, 24.
Großbauern und sozialistische Umgestaltung
375
Betriebe betrug ein Drittel bis fast die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche der letztgenannten Kreise. Die hier sichtbare Struktur bewirkte, daß solche ertragreichen, für die Versorgung der Bevölkerung bedeutsamen Kulturen wie Weizen, Zuckerrüben sowie Öl- und Faserpflanzen in den großbäuerlichen Betrieben in höherer Konzentration angebaut werden konnten als in den kleinen Wirtschaften. In der DDR entfielen 1950 27 Prozent der Weizen- und 34 Prozent der RUbenanbauflächen sowie 33 Prozent der An10 bauflächen von Ol- und Faserpflanzen auf die Betriebe über 20 Hektar. Auf den Großbauernhöfen befanden sich 20 bis 25 Prozent der Nutz Viehbestände, an denen wertvolle Herdbuchtiere einen bedeutenden Anteil hatten. 1 1 Die klassenmäßige, die größeren Betriebe stärker zur Pflichtablieferung heranziehende Erfassung landwirtschaftlicher Produkte bewirkte, daß etwa ein Drittel der pflanzlichen und ein Viertel der tierischen Marktproduktion aus großbäuerlichen Betrieben kam. Sie repräsentierten 1950 ein Bruttoprodukt von 1, 7 Md. 12
und ein Nettoprodukt von über 1 Md. Mark,
Die SED hat beim Ubergang zur sozialistischen
Revolution keinen Augenblick unterschätzt, daß die Großbauernwirtschaften schon infolge ihres Anteils an der Agrarproduktion wichtige ökonomische und politische Faktoren waren, auf die von den imperialistischen Kräften Westdeutschlands ständig eingewirkt wurde mit dem Ziel, durch schwere Störungen in der Lebensmittelversorgung unserer Bevölkerung politische Schwankungen zu verursachen und Teile der Großbauern zu konterrevolutionären Aktionen zu verleiten. In den Klassenkämpfen jener Jahre entwickelte die SED in ihrer Bündnispolitik eine langfristige strategische Konzeption, deren Kern das antiimperialistische Bündnis gegen den westdeutschen Imperialismus und seine Helfer in der DDR blieb. Im Rahmen dieses Bündnisses hob sie als ihre Klassenpflicht hervor, "die Willkürakte und Ausbeutungsmaßnahmen der Spekulanten gegenüber den Neubauern, 13 Klein- und Mittelbauern zu bekämpfen" . Alle jene Großbauern, die am Aufbau mithalfen 14 und ihre gesetzliche Pflicht erfüllten, genossen jedoch den vollen Schutz der Gesetze. Während die SED die wirtschaftliche Betätigung der Großbauern im Rahmen der Gesetzlichkeit förderte, wandte sie sich gegen alle spekulativen Machenschaften und Versuche, wirtschaftlich schwächere Bauern ökonomisch auszunutzen und die Landarbeiter weiterhin schamlos auszuplündern. Den ökonomischen Einfluß der Großbauern im Dorf zu begrenzen und ihren politischen Einfluß zurückzudrängen verlangte unter den Bedingungen des ökonomischen Wettbewerbs der Wirtschaftssektoren den schnellen Wirtschaftsaufschwung der 10 11 12 13 14
Statistisches Jahrbuch der DDR 1957. S. 384 f. Ebenda, S. 422. Statistisches Jahrbuch der DDR 1955. Berlin 1956, S. 91. Protokoll der 1. Parteikonferenz der SED. S. 215. Ebenda.
376
Helmut Griebenow/Kurt Meyer
klein- und mittelbäuerlichen Betriebe, der nicht ohne umfassende ökonomische Hilfe und wirkungsvolle staatliche Maßnahmen möglich w a r . Die entscheidenden Schritte' dazu waren der Aufbau eines Netzes von staatlichen Maschinen-Ausleih-Stationen (MAS), das im wesentlichen in den Jahren 1949 bis 1952 entstand und dessen Maschinenpark durch die Schaffung einer eigenen Landmaschinen- und Traktorenindustrie in der DDR ständig erweitert 15 wurde
, sowie die Bildung eines umfassenden Systems volkseigener E r f a s s u n g s - und
Aufkaufbetriebe, das die Übervorteilung der werktätigen Bauern durch die kapitalistischen Großhändler ausschloß. Wie entscheidend diese Maßnahmen f ü r die Herausbildung des Produktionsbündnisses zwischen Arbeiterklasse und werktätiger Bauernschaft und f ü r die Zurückdrängung der herrschenden Stellung von Großbauern in vielen Landgemeinden waren, wird deutlich, wenn man deren Maschinenpark im J a h r e 1949 betrachtet. Von den in den landwirtschaftlichen Betrieben vorhandenen Maschinen besaßen die Großbauern 16 : Traktoren
57,2 Prozent
Mähbinder
36,5 Prozent
Düngerstreuer
51,9
"
Rübenroder
42,3
"
Vielfachgeräte
43,3
"
Strohpressen
29,3
"
Der Traktorenbestand der Großbauern übertraf den der MAS im J a h r e 1949 noch um 30 Prozent. Zehntausende klein- und mittelbäuerlicher Betriebe liehen bei den Großbauern 17 Traktoren und Landmaschinen aus , f ü r die sie die Leihgebühr häufig in Naturalien (Getreide und Futtermitteln)und durch Abarbeit in den Zeiten günstiger agrotechnischer 18
T e r m i n e zu erbringen hatten. In den Wahlen zu den Vorständen der Bauernorganisationen 1948/1949 wurde spürbar, daß die Großbauern entschieden danach drängten, ihren politischen Einfluß im Dorf zu erhöhen oder i h r e r ökonomischen Stellung im Dorf politisch Geltung zu verschaffen. Die Betriebe über 20 Hektar waren 1949 zu 91, 6 Prozent in der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) organisiert, während von der Größengruppe von 5 bis 10 Hektar, zu der die Mehrzahl der Neubauern gehörte, nur 79,5 Prozent der Betriebe erfaßt waren. Die Mitgliedschaft der Großbauern in der VdgB verband sich mit dem Streben, in die Vorstände und Revisionskommissionen einzudringen. Es gelang ihnen, 1949 in den Vorständen der Ortsvereinigungen 9, 7 Prozent und der Kreisvereinigungen 6,5 Prozent d e r Mandate zu erhalten. Im gleichen J a h r waren sogar 10, 6 Prozent der Vorsitzenden in den O r t s v e r 15 16 17 18
Statistisches Jahrbuch der DDR 1957, S. 199. Ebenda (nach den statistischen Angaben errechnet). Gemeinsam zum Sozialismus. S. 137. Protokoll der 1. Parteikonferenz der SED. S. 212 f f .
Großbauern und sozialistische Umgestaltung
377
19 einigungen und 3 Prozent der Vorsitzenden in den Kreisvereinigungen Großbauern.
Der
gesamtbäuerliche Charakter derVdgB, durch den die kapitalistischen Kräfte Mitglied in dieser demokratischen Bauernorganisation werden konnten, wurde von ihnen ausgenutzt, um die Führung in den Orts- und sogar in Kreisvereinigungen in die Hand zu bekommen und sie zur Verfolgung eigener, sich20gegen die Mehrheit der Mitglieder richtender klassenegoistischer Ziele zu mißbrauchen. Sehr starke Positionen hatten die Großbauern 1949 in den landwirtschaftlichen Genossenschaften. Dir Mitgliederanteil insgesamt betrug 9,3 Prozent, Ausgeprägten Einfluß besaßen sie in den Saatzuchtgenossenschaften (50,3 Prozent der Mitglieder) und in den Herdbuchgenossenschaften (29, 8 Prozent der Mitglieder) sowie in einigen anderen Genossenschaf21 ten.
In den leitenden Organen des unteren Genossenschaftsnetzes stellten sie 16,4 Prozent
der Leitungsmitglieder. Dieser Einfluß wurde in einigen Spezialgenossenschaften noch bedeutend übertroffen, wie die folgende Aufstellung zeigt: Prozentualer Anteil der Großbauern an den Vorstandsmitgliedern in Sozialgenossenschaften im Jahre 1949 2 2 Eier- und Geflügelgenossenschaften
33,3
Molkereigenossenschaften
36,5
Tierzuchtgenossenschaften
38,1
Saatzuchtgenossenschaften
40,0
Herdbuchgenossenschaften
61,7
Bei der Durchsetzung der Agrarpolitik der SED waren die Vereinigungen der gegenseitigen Bauernhilfe und die ländlichen Genossenschaften wichtige Stützpunkte der Demokratisierung und der solidarischen Hilfe im Dorf. Um die Rolle der demokratischen Bauernorganisationen weiter zu erhöhen, vielfältige Formen der gemeinsamen Arbeit und der gegenseitigen Hilfe zu entwickeln und um allmählich das Denken der Bauern zu verändern, sie für sozialistische Ideen aufgeschlossener zu machen, war es notwendig, die Großbauern als Kapitalisten und andere reaktionäre Elemente aus den Leitungen dieser Organisationen auszuschließen und ihren politischen Einfluß einzuschränken. In langwierigen, häufig e r bitterten Auseinandersetzungen, die sich bis in das Jahr 1952 hinzogen, entstand eine ein-
19 20 21 22
Alle Zahlen siehe: Kotow, G . G . . Agrarverhältnisse und Bodenreform in Deutschland, Bd 2, Berlin 1959, S. 47 ff. Ebenda, S. 48. Ebenda, S. 61. Ebenda, S. 62.
378
Helmut Griebenow/Kurt Meyer
einheitliche, starke demokratische Bauernorganisation, die VdgB (BHG)
23
, aus deren
Leitungen der kapitalistische Einfluß verdrängt war. Obwohl die Großbauern weiterhin Mitglied der VdgB (BHG) bleiben und an der demokratischen Gestaltung des Dorflebens mitwirken konnten, mußten sie nun die Hoffnung aufgeben, die Verhältnisse in den Landgemeinden durch ihre Klasseninteressen bestimmen zu können. Mit den MAS und dem Ausbau der sozialistischen Staatsmacht auf dem Lande wurde die Stellung der Arbeiterklasse in den Dörfern gestärkt. Im Klassenbündnis wuchs ein "werktätiger Bauer neuen Typus" heran, "dessen individueller Betrieb durch eine wachsende Anzahl auf demokratischer Grundlage gebildeter gesellschaftlicher Einrichtungen ergänzt und gestärkt" wurde. Während der alte Bauer oft ein starrer Individualist war, erkannte der neue Bauer immer besser den gewaltigen Vorteil gegenseitiger Hilfe, gemein24 wirtschaftlicher Arbeitsteilung und Arbeitsdisziplin. "Bei den fortgeschrittensten Bauern wurde die Ideologie des Kleineigentümers allmählich von sozialistischen Ideen verdrängt. Ebenso wie bei den fortgeschrittensten Landarbeitern begann bei ihnen der Entschluß zu reifen, zu einer höheren Form der Arbeit, zur genossenschaftlichen Großproduktion 25 überzugehen."
Der soziale Aufstieg der Klein- und Mittelbauern und vor allem der Neu-
bauern in der Mehrzahl der Landgemeinden, der demokratische Wandel des Dorfes hatte auf die Stellung der Großbauern zur Arbeiter-und-Bauem-Macht bestimmenden Einfluß, nicht zuletzt deshalb, weil sich in der großen Gruppe der von ihnen beschäftigten Landarbeiter ein grundlegender Wandel vollzog. Für die Großbauern war die Ausbeutung der Landarbeiter die soziale Basis ihrer kapitalistischen Produktionsweise. Sie konnten auf Grund der in ihren Händen konzentrierten Produktionsmittel, vor allem des Bodens, nicht ohne fremde Arbeitskräfte produzieren. Diesen Umstand den Landarbeitern - die durch die Jahrhunderte die Parias der Bauerndörfer waren - bewußt zu machen und ihren Kampf um ein menschenwürdiges Dasein zu unterstützen, war das Ziel der Landarbeiterschutzgesetzgebung. Das Gesetz vom 12. Dezember 1949, einer der ersten Legislativakte der Provisorischen Volkskammer, brachte 26 die vollständige rechtliche Gleichstellung der Landarbeiter mit den Industriearbeitern. Das Gesetz, das die rechtlichen Grundlagen für entscheidende Verbesserungen der Arbeitsund Lebensbedingungen der Landarbeiter auch auf den Großbauernhöfen bot, mußte in langen, zähen Kämpfen, die bis in die Mitte der fünfziger Jahre reichten, von den Organen 23 24 25 26
Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 7, Berlin 1966, S. 130. Vgl. Hoernle, S. 661. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 7, S. 131. Vgl. Gesetz zum Schutz der Arbeitskraft der in der Landwirtschaft Beschäftigten (12. Dezember 1949), in: Zur ökonomischen Politik der SED und der Regierung der DDR, Bd 1, Berlin 1955, S. 321-328.
Großbauern und sozialistische Umgestaltung
379
der Arbeiterpartei und des Staates in den Kreisen und Landgemeinden sowie von den Gewerkschaften gegen den Widerstand zahlreicher Großbauern durchgesetzt werden. Die örtliche Parteiorganisation der SED in Klitschmar, Kreis Delitzsch, deckte 1951 auf, daß 27 ein Großbauer dieses Dorfes seinen Landarbeitern 13 000 Mark Lohngelder schuldete. Noch 1954 erwirkten Brigaden des FDGB-Bezirksvorstandes Rostock, die von der SEDBezirksleitung unterstützt wurden, während eines Aufklärungseinsatzes für 156 Landarbeiter, deren Arbeitsverhältnis bis dahin nicht rechtlich geregelt war, den Abschluß von Arbeitsverträgen und die Auszahlung von 10 665 Mark rückständiger Lohngelder an Landarbeiter. In 33 Fällen mußte ein Antrag auf Verwarnung der schuldigen Großbauern gestellt 28 ^ werden. Die geduldige, Uber Jahre hinweg reichende Aufklärungsarbeit der Parteiorganisationen,
der staatlichen Organe, der Gewerkschaften wie der Organe der Nationalen Front überwand viele Vorurteile und alte Gewohnheiten bei den Landarbeitern, weckte ihr Klassenbewußtsein und setzte ihrer Ausbeutung durch die kapitalistischen Elemente auf dem Dorf enge 29 Grenzen. In den Jahren des Übergangs zur sozialistischen Revolution bis 1952 trat für die Großbauern jene Lage ein, die von Lenin auf dem II. Kongreß der Kommunistischen Internationale charakterisiert worden war. Die gesamtgesellschaftliche Umwälzung hatte die Demokratisierung des Dorfes bewirkt und auch ihren Hof, ihre Familie erreicht. Die Arbeiter-undBauern-Macht forderte von ihnen Loyalität, die Verwendung ihrer Produktionsmittel im gesamtgesellschaftlichen Interesse, eine stabile Betriebsführung, um mit hoher Bruttound Marktproduktion die staatlichen Pläne erfüllen zu können. Mit der Verschärfung des Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Imperialismus auf deutschem Boden, die ihre Ursache in der Restauration des westdeutschen Imperialismus und in der beginnenden Remilitarisierung Westdeutschlands hatte, verstärkten sich auch die feindlichen Angriffe gegen den ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat in der Geschichte des deutschen Volkes. Dies wiederum führte zu einer Zuspitzung der Klassenauseinandersetzungen im Inneren der DDR. Die Großbauernschaft der DDR war jetzt in gewisser Beziehung an einem Scheideweg ihrer Entwicklung angekommen.
27 Vgl. Neues Deutschland v. 12.12.1951. 28 Vgl, ebenda v. 9.2.1954. 29 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 7, S. 128.
380
Helmut Griebenow/Kurt Meyer Die bündnispolitische Konzeption der SED nach der 2. Parteikonferenz 1952 and die Lösung der Großbauemfrage in der DDR
Die 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 beschloß den planmäßigen Aufbau der Grundlagen des Sozialismus, der sich aus den in der DDR objektiv herangereiften Aufgaben der sozialistischen Umwälzung ergab und auch den veränderten Bedingungen des Kampfes gegen den westdeutschen Imperialismus Rechnung trug. Der Beschluß wurde von den anderen Blockparteien und von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung der DDR begeistert begrüßt, und seine Verwirklichung wurde in den Mittelpunkt der weiteren Tätigkeit der SED, der Regierung und aller Werktätigen gestellt. Auf dieser Parteikonferenz klärte die SED Fragen, die für die Festigung und Erweiterung des Bündnisses und die in den folgenden Jahren gemeinsam mit den Blockparteien und anderen demokratischen Kräften erarbeiteten konkreten Formen der Einbeziehung der nichtproletarischen Klassen und Schichten in den sozialistischen Aufbau von grundsätzlicher Bedeutung waren. Zu ihnen gehörten die Weiterführung der Blockpolitik, der Aufbau des Sozialismus ohne wesentliche Umgruppierung der Klassenkräfte, der Übergang der werktätigen Bauern zu sozialistischen Produktionsformen bei gleichzeitiger Festigung des Bündnisses mit allen werktätigen Bauern sowie die weitere wirtschaftliche Entwicklung ohne die Enteignung der kapitalistischen Waren30 Produzenten. Die konkreten Wege zur Integration aller sozialen Klassen und Schichten in die sozialistische Gesellschaft mußten erst noch praktisch erprobt, allmählich beschritten 31 und weiter präzisiert werden. Für die Großbauern waren solche konkreten Wege 1952 noch nicht zu bestimmen, aber die Festlegung, keine weiteren Enteignungen vorzunehmen, ließ auch die Frage nach dem zukünftigen Weg der Großbauern akut werden. Die notwendige Entscheidung, sie zunächst von der Aufnahme in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) auszuschließen 32 , verband die SED mit klaren Hinweisen darauf, daß "der Schutz des Privatei33 gentums entsprechend den Bestimmungen der Verfassung bestehen" bliebe und daß "jene Großbauern, die den Anbauplan einhalten und ihre staatlichen Verpflichtungen erfüllen, ungehindert ihre Arbeit weiterführen können""^. Mit dieser letztgenannten Äußerung unterstrich das ZK der SED, als sich bereits deutliche Anzeichen einer Verschärfung des Klassenkampfes auf dem Lande durch reaktionäre Elemente, zu denen ein beträchtlicher Teil 30 Gemeinsam zum Sozialismus. S. 179. 31 Ebenda, S. 180. 32 Vgl. Musterstatuten der LPG, in: Zur ökonomischen Politik der SED und der Regierung der DDR, Bd 1, S. 394. 33 Protokoll der 2. Parteikonferenz der SED. Berlin 1952, S. 65. 34 Neues Deutschland v. 25.11.1952, S. 5.
Großbauern und sozialistische Umgestaltung
381
der Großbauern gehörte, feststellen ließen, seine prinzipielle Position in der Großbauernfrage. Der reaktionäre Teil der Großbauern, der zumindest seit 1948/1949 auf vielfältige Weise dem Ausbau der antifaschistisch-demokratischen Ordnung und der weiteren Demokratisierung des Dorfes beim Übergang zur sozialistischen Revolution entgegengewirkt hatte, demaskierte sich plötzlich in den Wintermonaten 1952/1953, in denen der restaurative deutsche Imperialismus den Versuch eines konterrevolutionären Umsturzes unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht systematisch anbahnte. Er unterstützte das ideologische Trommelfeuer westlicher Rundfunksender durch vielfältige feindliche Handlungen, die von der Ruinierung der eigenen Wirtschaften bis zu physischem T e r r o r gegen Partei- und Staatsfunktionäre und die Pioniere der Genossenschaftsbewegung reichten. Häufig ferngesteuert von Westberliner Geheimdienstzentralen, bildeten frühere Angehörige faschistischer und militaristischer Organisationen und reaktionäre großbäuerliche Elemente Terroristen35 gruppen , die Mitglieder von Produktionsgenossenschaften schwer mißhandelten und fort36 schrittliche Werktätige ermordeten. Ihr Ziel, unter den Werktätigen auf dem Lande Zweifel an der Stärke der Arbeiterund-Bauern-Macht zu säen, erreichten sie indessen nicht. Die Genossenschaftsbauern unternahmen große Anstrengungen, um die genossenschaftliche Arbeit in Gang zu setzen, upd die werktätigen Einzelbauern erfüllten weiter ihre Verpflichtungen gegenüber dem Staat. Zur Sicherung der landwirtschaftlichen Produktion und Versorgung der Bevölkerung war es allerdings notwendig, alle Versuche eines systematischen Ruins zahlreicher großbäuerlicher Höfe durch ihre Besitzer, die in der Regel mit der organisierten Republikflucht endeten, zu unterbinden und eine weitere Steigerung der Marktproduktion planmäßig zu gewährleisten. Diesem Ziel diente die "Verordnung zur Sicherung der landwirtschaft37 liehen Produktion und der Versorgung der Bevölkerung" vom 19. Februar 1953 , die die 38 "Verordnung über devastierte landwirtschaftliche Betriebe" ergänzte. Ihre Anwendung im Zusammenhang mit einer verstärkten Agitation gegen reaktonäre großbäuerliche Elemente half in vielen Landgemeinden, die Klassenfronten in den politischen Auseinandersetzungen zu klären. Die Einsetzung von Treuhändern fing in zahlreichen großbäuerlichen Betrieben den Produktionsrückgang auf und gewährleistete ihre Bewirtschaftung. Allerdings wurden auch großbäuerliche Höfe für devastiert erklärt, deren Besitzer nicht aus bewußt 35 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 7, S. 102; Der freie Bauer v. 7.12.1952, S. 8. 36 Vgl. Neues Deutschland v. 25.11.1952, S. 5. 37 Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1953, Nr 25. 38 Ebenda, 1952, Nr 38.
382
Helmut Griebenow/Kurt Meyer
nachlässiger Wirtschaftsführung, sondern aus anderen, häufig nicht durch sie verschul39 deten Gründen ihren Verpflichtungen gegenüber dem Staat nicht nachgekommen waren. Hier politisch richtig zu differenzieren war für die Funktionäre der Partei- und Staatsorgane, die sich gerade anschickten, erste praktische Erfahrungen bei der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft unter den Bedingungen der offenen Grenzen zum imperialistischen Westdeutschland und des verschärften Klassenkampfes zu sammeln, nicht einfach. Solche Überspitzungen wurden nach den Beschlüssen des Politbüros der SED vom 40 41 9. Juni 1953 und des Ministerrats vom 11. Juni 1953 schnell korrigiert. Die Bückgabe devastierter Betriebe, die auch für jene Großbauern, die die DDB illegal verlassen hatten, nach ihrer Bückkehr möglich war, die neuen Kreditrichtlinien der Bauernbank, steuerliche Regelungen wie Erleichterungen in der Pflichtablieferung, die auch für die Großbauern galten, festigten die Beziehungen zwischen dem loyalen Großbauern und der sozialistischen Staatsmacht. Zahl der großbäuerlichen Betriebe in der DDR 42 (von 20 bis 100 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche) 1950
47 557
1953
28 846
1951
46 559
1954
29 627
1952
44 395
1955
27 551
Während die Gesamtzahl der großbäuerlichen Betriebe von 1950 bis 1952 allmählich sank, fiel sie im Jahre 1953 plötzlich um 15 549 oder etwa um ein Drittel, um dann wieder etwas anzusteigen und 1955 erneut abzusinken. Der gravierende Rückgang im Jahre 1953 war das Ergebnis der entscheidenden Niederlage, die die reaktionären Teile der Großbauernschaft bei ihren konterrevolutionären Umtrieben erlitten. Diese Feinde der Arbeiter-und-Bauern-Macht kehrten zum großen Teil der DDR den Rücken, ihre Absichten zerschellten an der Stärke der neuen gesellschaftlichen Ordnung, die den konterrevolutionären Putschversuch vom 17. Juni 1953 hinwegfegte. Über 600 000 Hektar vernachlässigter landwirtschaftlicher Nutzfläche waren das schwere Erbe, das die junge Genossenschaftsbewegung in der DDR in wenigen Jahren übernahm. Bei dem Anstieg des Jahres 1954 um 781 Betriebe handelte es sich vor allem um solche, die 1953 ihren Eigentümern zurückgegeben worden waren. Wer die sozialistische Staatsmacht nicht zu fürchten hatte,
39 Vgl. Staatsarchiv Leipzig, Akte Nr 1226, 1233, 10 330. 40 Dokumente der SED, Bd 4, Berlin 1954, S. 428 ff. 41 Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1953, S. 805 ff.
Großbauern und sozialistische Umgestaltung
383
kehrte in die DDK zurück und konnte seinen Hof weiter bewirtschaften. So befanden sich unter fünfzehn Ende Juni 1953 in den Bezirk Karl-Marx-Stadt zurückgekehrten Bauern 43 zwölf Großbauern.
Der Rückgang der Zahl großbäuerlicher Betriebe im Jahre 1955 r e -
sultierte bereits vor allem aus dem beginnenden Übergang in LPG. Eine repräsentative Erhebung derVerkaufserlöse in 17 000 landwirtschaftlichen Betrieben aller Größenklassen von 1 bis 100 Hektar fUr die Jahre 1952-1956 beweist, daß die Großbauern an dem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung in den letzten Jahren des ersten Fünfjahrplanes ihren Anteil hatten. Index der Entwicklung der Verkaufserlöse je Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche von 1952 bis 1956 (1952 = 100) 44 Betriebsgrößengruppe
Insgesamt
Pflanzliche Produktion
Tierische Produktion
Alle Betriebe
137
104
152
5 Hektar
134
111
133
"
137
109
146
20
"
138
106
154
20 - 100
"
135
97
169
1 5 - 1 0 10 -
Während die Verkaufserlöse fast gleichmäßig um wenig über ein Drittel stiegen, war - bei geringen Abweichungen der Erlöse aus der pflanzlichen Produktion - der Aufschwung in der tierischen Produktion, an der die Großbauern besonderen Anteil hatten, unverkennbar. Das Bruttoprodukt der großbäuerlichen Betriebe erreichte 1954 wieder 45 fast 1,6 Md. Mark, während sich das Nettoprodukt auf 883 Mill. Mark belief. Dieser allgemeine Wirtschaftsaufschwung, der vom wachsenden Vertrauen der noch einzeln wirtschaftenden Bauern in die Agrarpolitik der SED und unserer Staatsmacht zeugte, entwickelte sich auf der Basis des allgemeinen Aufschwungs der Volkswirtschaft bei der Erfüllung des ersten Fünfjahrplans in der DDR. In der Industrie war ein starker sozialistischer Sektor entstanden, und der genossenschaftliche Sektor in der Landwirtschaft hatte sich gefestigt. Die vollständige Herausbildung der sozialistischen Staatsmacht in der DDR sowie die uneingeschränkte Anerkennung der Arbeiterklasse und ihrer Partei
42 43 44 45
Statistisches Jahrbuch der DDR 1955. S. 196. Vgl. Neues Deutschland v. 28.6.1953. Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR 1957. S. 454. Vgl. ebenda 1955, S. 91 f .
384
Helmut Griebenow/Kurt Meyer
als der auf allen Gebieten der gesellschaftlichen Umwälzung führenden Kraft, verbunden mit der Entwicklung eines neuen internationalen Kräfteverhältnisses in der Mitte der fünfziger Jahre, das in dem immer festeren Zusammenschluß der sozialistischen Staatengemeinschaft seinen Ausdruck fand, entschieden die Grundfrage der Revolution, die Frage der Macht, endgültig zugunsten der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten. Diese Prozesse hatten den politischen Differenzierungsprozeß unter den Großbauern weiter gefördert und neue Möglichkeiten reifen lassen, auch die Frage ihrer Perspektive im Sozialismus zu beantworten. Hinzu kam, daß sich die Auseinandersetzung mit dem Imperialismus in der westdeutschen Bundesrepublik im Laufe des Jahres 1954 erneut zuspitzte, Während sich die DDR im Kampf gegen die Wiederbewaffnung des westdeutschen Imperialismus als der deutsche Friedensstaat bewährte, vollendete die Adenauer-Regierung und die reaktionäre Mehrheit des Bundestages mit der Unterzeichnung der Pariser Verträge und ihrer Ratifizierung den nationalen Verrat. Im Kampf gegen die Pariser Verträge schlössen sich die verschiedenen sozialen Klassen und Schichten in der DDR noch enger um die Arbeiterklasse zusammen. Davon zeugten besonders die Vorbereitung und Durchführung der Volkswahlen 1954. Auf einer Bauernversammlung in Kyhna, Kreis Delitzsch, die zur Vorbereitung der Volkswahl stattfand, erklärte Walter Ulbricht, daß viele Großbauern ihre Wirtschaften gut geführt und ihre Verpflichtungen gegenüber dem Staat erfüllt hätten. Befriedigt konnte e r feststellen, daß in den Wahlversammlungen viele Großbauern der Friedenspolitik unserer Regierung zustimmten. In dieser Versammlung nahm auch ein Großbauer das Wort, um im Namen seiner Kollegen zu versichern, daß sie am 17. Oktober 46 1954 ihre Stimme den Kandidaten der Nationalen Front geben werden. Das Bekenntnis vieler Großbauern zur Friedenspolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik am 17. Oktober 1954 bestätigte u . a . der Vizepräsident der Volkskammer, Ernst Goldenbaum, der berichtete: "Ich habe erlebt, daß auch die Großbauern für die Kandidaten der Nationalen Front des 47 demokratischen Deutschland Stellung genommen und daß sie auch offen gestimmt haben." 1954 zeichnete sich bereits durch den Ausbau der sozialistischen Positionen und die Vertiefung des politischen Bündnisses ein Annäherungsprozeß der fortgeschrittensten Großbauern an sozialistische Überzeugungen ab, der u . a . in zahlreichen Anträgen zur Aufnahme in LPG seinen Ausdruck fand. Dieser Entwicklung Rechnung tragend und auf die Fragen der Großbauern antwortend, erklärte Walter Ulbricht auf der III. LPG-Konferenz im Dezember 1954: "Nach sorgfältiger PrUfung der Lage schlagen wir vor, daß der 46 47
Vgl. Neues Deutschland v. 29.9.1954, S. 3. Vgl. ebenda v. 22.10.1954, S. 3.
Großbauern und sozialistische Umgestaltung Beschluß der I. Konferenz der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften,
385
in dem
die Aufnahme von Großbauern untersagt wird, aufgehoben wird. Wir halten es für zulässig", fuhr e r fort, "daß die Mitgliederversammlung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft beschließen kann, Großbauern, die sich loyal zur Deutschen Demokratischen
48
Republik verhalten, in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft aufzunehmen." Diese
Entscheidung war von prinzipieller Bedeutung für die Weiterführung einer breiten
Bündnispolitik der Arbeiterklasse. Zugleich wurden die Bedingungen für die Aufnahme der Großbauern durch die Bemessung der Bodenrente und des zu erbringenden Inventarbeitrages so fixiert, daß die soziale Gleichheit aller Genossenschaftsmitglieder in ihrer Stellung zum genossenschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln gewährleistet blieb und eine privilegierte Stellung der Großbauern in den LPG ausgeschlossen wurde. B i s Ende 1955 wählten bereits 1193 Großbauern, mit denen zugleich 1154 Familienan49 gehörige Mitglied der LPG wurden, diesen Weg.
"Die Mehrzahl von ihnen arbeitete bald
ehrlich und gleichberechtigt in den Genossenschaften mit. Die SED bewies damit, daß es möglich ist, das im Kampf gegen den Imperialismus geschaffene breite Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und Teilen der Bourgeoisie auch unter den Bedingungen eines hochentwickelten, ehemals imperialistischen Landes, beim Aufbau des Sozialismus fortzuführen 50 und diesen Schichten im Sozialismus eine Perspektive zu geben." Die Politik der SED zur aktiven Einbeziehung der Großbauern in die Genossenschaftsbewegung Die Entscheidung der III. LPG-Konferenz, die Aufnahme von loyal gesinnten Großbauern in die LPG zu gestatten, nutzten zunächst die fortschrittlichen Kräfte unter den Großbauern. Eine Massenerscheinung wurde der Eintritt von Großbauern in die LPG in den Jahren von 1955 bis 1957 noch nicht. Während 1955/1956 3250 Großbauern mit Familienangehörigen aufgenommen wurden, traten 1957 nur 767 Großbauern mit Familienangehörigen den LPG 51 bei.
Dafür gab es verschiedene Gründe. Zunächst darf die Entscheidung der III. LPG-
Konferenz nicht so aufgefaßt werden, als sei die Politik der SED seit 1954 darauf gerichtet gewesen, in möglichst kurzer F r i s t alle Großbauern für die Genossenschaften zu gewinnen. Im Mittelpunkt der Tätigkeit der SED standen vielmehr weiterhin die Festigung der LPG und die Gewinnung werktätiger Einzelbauern für die Genossenschaften. "In den Jahren von 1954 bis Mitte 1957 wurde die Entwicklung der LPG durch revisionistische Auffassungen 48 49 50 51
Die in« Konferenz der Vorsitzenden und Aktivisten der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften am 12. und 13. Dezember 1954 in Leipzig, Berlin 1955, S . 72. Statistisches Jahrbuch der DDR 1960/61. Berlin 1961, S . 428. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 7, S . 212. v g l . Statistisches Jahrbuch der DDR 1960/61, S . 4 2 8 .
386
Helmut Griebenow/Kurt Meyer
gehemmt. In dieser Zeit stagnierte die Gewinnung der Bauern für den Eintritt in bestehende 52 und zur Bildung neuer LPG." Diese Einschätzung des V. Parteitages der SED war wohlbegründet. Die Stagnationserscheinungen bei der Gewinnung der Bauern fiir den Genossenschaftsweg waren unübersehbar und stellten ein ernsthaftes Hindernis für den Aufschwung der LPG dar. Mitgliederzuwachs der LPG Jahre
Neubauern
Familienangehörige
1954/1955 1 552
2 073
1956/1957 5 900
524
Altbauern
Familienangehörige
3 275
1 538
Bezogen auf die Betriebsgruppen von 5 bis 20 Hektar traten 1954/1955 0,6 und 53 1956/1957 3,25 Prozent der werktätigen Bauern den LPG bei. Die Erweiterung des genossenschaftlichen Sektors in der Landwirtschaft vollzog sich (ÖLB) in hauptsächlich Uber die Umwandlungen von Örtlichen Landwirtschaftsbetrieben 54 LPG oder durch ihren Anschluß an schon bestehende Genossenschaften. Die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft - ohnehin eine der kompliziertesten Aufgaben der Übergangsperiode - wurde in der DDR unter den Bedingungen der Spaltung Deutschlands, an der Grenze zum imperialistischen Lager vollzogen. "Der Druck der Bourgeoisie war besonders nach den Ereignissen in Ungarn und Polen groß und hat viele falsche Auffassungen unter Teilen der Bauern und landwirtschaftlichen Intelligenz,- aber auch unter Funktionären des Partei- und Staatsapparates und besonders der VdgB genährt. Das führte dazu, daß in vielen Kreisen die Erweiterung des sozialistischen Sektors dem Selbstlauf überlassen 55 wurde."
Bereits auf der 25. Tagung des ZK der SED im Oktober 1955 hatte Otto Grote-
wohl das ungenügend entwickelte sozialistische Bewußtsein eines Teils der Funktionäre kritisiert und am Beispiel eines MTS-Direktors, der die Traktoren und Mähdrescher seiner Station vor allem bei Großbauern arbeiten ließ, statt sie in den LPG einzusetzen, einprägsam verdeutlicht. Er wies nach, daß die privatbäuerlichen Betriebe, unter ihnen viele Großbauern, in zunehmendem Maße ihren Traktorenbestand erweiterten und erneuerten. 1954 52
Protokoll des V. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Bd 2, Berlin 1959, S. 1525. 53 Alle Zahlen siehe: Statistisches Jahrbuch der DDR 1957, S. 354 f . , 368 f . 54 Protokoll des V. Parteitages der SED, Bd 2, S. 1527. 55 Ebenda, S. 1525.
Großbauern und sozialistische Umgestaltung
387
wuchs der Traktorenpark in den MTS um 5 088 Stück, während die privaten Landwirtschafts56 betriebe ihren Bestand um 3 428 Stück erhöhten. Solche Anzeichen deuteten darauf hin, daß die materiell-technische Basis der genossenschaftlichen Großbetriebe nicht den möglichen Ausbau erfuhr. Die langsame Entwicklung der LPG und die revisionistischen Einflüsse hemmten die Bewußtseinsentwicklung jener Großbauern, die noch nicht von der Überlegenheit der genossenschaftlichen Produktion gegenüber der einzelbäuerlichen Wirtschaftsweise überzeugt waren. Dabei übersahen sie häufig, daß zahlreiche Schwierigkeiten der LPG auf die Auswirkungen der bäuerlichen Wirtschaftsweise zurückgingen und daß die heruntergewirtschafteten Großbauernbetriebe, die die LPG 1955/1956 aus dem ÖLB übernahmen, für die jungen Genossenschaften eine schwere Belastung darstellten. Im allgemeinen warteten die Großbauern zunächst ab, wie sich die weitere sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft vollziehen würde. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß die Großbauernfrage, obwohl sie eine allgemeine Frage in der Agrarpolitik der SED war, in den einzelnen Gebieten der DDR unterschiedliches Gewicht hatte. Während 1956 im Durchschnitt der DDR 25 000 Großbauern knapp 12 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche bewirtschafteten, entfielen auf 715 000 Privatbetriebe der Größenordnung von 1 bis 20 Hektar etwa 60 Prozent der landwirtschaft57 liehen Nutzfläche.
So betrachtet scheinen die Großbauern unter den Bedingungen der Fe-
stigung der sozialistischen Staatsmacht in der Mitte der fünfziger Jahre kaum noch ein politischer Faktor gewesen zu sein, von dem wesentliche Störungen auf das Weiterführen der sozialistischen Umgestaltung ausgehen konnten. Ein ganz anderes Bild begegnet uns aber, wenn wir den Blick auf ein solches Konzentrationsgebiet großbäuerlichen Besitzes wie den Bezirk Leipzig lenken. Hier war die Aufgabenstellung für die Partei- und staatlichen Leitungen in einigen Kreisen eher schwieriger geworden. In den Kreisen Borna, Grimma, Geithain und Döbeln übertraf 1956 der großbäuerliche Besitz den der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Die generelle Orientierung im Jahre 1957,' vorwiegend die Mittelbauern für den genossenschaftlichen Zusammenschluß zu gewinnen, war in der Arbeit der SED-Parteiorganisationen der genannten Kreise mit der spezifischen Aufgabe verknüpft, den möglichen negativen Einfluß des großbäuerlichen Sektors auf die Entscheidung der werktätigen Bauern für die LPG abzuwehren, höchste Klassenwachsamkeit gegen die Angriffe reaktionärer Elemente zu wahren und mit den Mitteln staatlicher Gewalt die sozialistische Umgestaltung 56 Grotewohl. Otto, Im Kampf um die einige deutsche demokratische Republik, Bd 4, Berlin 1959, S. 621. 57 Statistisches Jahrbuch der DDR 1957, S. 354 f .
388
Helmut Griebenow/Kurt Meyer Landwirtschaftliche Nutzfläche der LPG und der Großbauern nach ausgewählten Kreisen des Bezirks Leipzig ,58 58 in Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche Kreise
Landwirtschaftliche Nutzfläche der LPG
20-100 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche
Borna
4 000
4 700
Grimma
6 600
6 700
Geithain
2 300
4 720
Döbeln
8 000
8 500
in den Landgemeinden zu gewährleisten. Auf der 30. Tagung des ZK der SED im Januar 1957 wandte sich Walter Ulbricht erneut den Klassenauseinandersetzungen in der DDR zu und unterstrich die marxistisch-leninistische Einschätzung der 3. Parteikonferenz der SED, "daß sich der Klassenkampf nunmehr gegen Agenten, Spione und Saboteure richtet. Iii bezug auf die kleinbürgerlichen Schichten und bürgerlichen Vertreter wurde die Aufgabe gestellt, sie unter Anwendung friedlicher Methoden des sozialistischen Aufbaus, durch 59 Überzeugung und Umerziehung auf die Seite der Arbeiterklasse zu ziehen." Diese prinzipielle Position der Partei, die sich auf die grundlegende Verschiebung des Klassenkräfteverhältnisses in der internationalen Arena und in der DDE stützte, war darauf gerichtet, alle sozialen Klassen und Schichten mit den Mitteln der Überzeugung und der Umerziehung für den Sozialismus zu gewinnen. Auf die Großbauern angewendet, kam darin eine neue Position zum Ausdruck, die Uber die Beschlüsse der III. LPG-Konferenz erheblich hinauswies. Nicht Loyalität gegenüber der Arbeiter-und-Bauern-Macht verlangte nunmehr die herrschende Arbeiterklasse von den Großbauern, sie setzte sich vielmehr das Ziel, in einem länger währenden Prozeß der Umerziehung und systematischen Überzeugung, in dem Arbeiterpartei und Staatsorgane Seite an Seite mit den kleinbürgerlichen Parteien und der Nationalen Front zusammenarbeiteten, das Denken und Handeln der Großbauern so zu beeinflussen, daß sie freiwillig und überzeugt die alte Ausbeuterordnung aufgaben und den Weg zu freier, gleichberechtigter Arbeit in den Genossenschaften fanden. Diese Zielstellung der SED übersah keineswegs die kapitalistische Klassennatur der Großbauern und bedeutete keine Unterschätzung des sozialen Antagonismus und des aus ihm resultierenden Klassenkampfes.
58 59
Statistischer Jahresbericht 1956. Berlin 1957, S. 16. Ulbricht. Walter. Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 6, Berlin 1962, S. 334.
Großbauern und sozialistische Umgestaltung
389
Walter Ulbricht zog die Lehren aus den Klassenkämpfen des Jahres 1956, als e r folgerte, daß es in der DDR ein großer Fehler wäre, unter den Bedingungen der offenen Grenzen nach dem Westen und der verstärkten Militarisierung Westdeutschlands die Kräfte des Klassenfeindes zu unterschätzen, und daß es darauf ankäme, stets auf der Hut zu sein 60 und die politische Wachsamkeit ständig zu verstärken. Diese politische Konzeption verlangte die entschiedene Zurückweisung aller revisionistischen Angriffe auf die Agrarpolitik der SED und forderte eine langfristige konstruktive Arbeit zur Festigung und Entwicklung der LPG. An der Spitze stand dabei die Auseinandersetzung mit den Auffassungen Viewegs, der eine Revision des Agrarprogramms der SED propagierte und sich damit gegen die Arbeiter-und-Bauern-Macht wandte. Er wollte die planmäßige Entwicklung der Landwirtschaft und die systematische Förderung der sozialistischen Landwirtschaftsbetriebe aufgeben und die MTS beseitigen; die Entwicklung der Landwirtschaft sollte lediglich tiber die Agrarpreise, die Steuern und das Kreditsystem reguliert werden. E r trat für die Bildung von 30 bis 40 Hektar großen Betrieben ein, die mit Hilfe starker Mechanisierung von familieneigenen Arbeitskräften bewirtschaftet werden sollten. Diese Empfehlungen Viewegs stimmten vollständig mit der Agrarkonzeption der rechten sozialdemokratischen Führer Uberein und stellten eine nur schlecht verhüllte Kopie der Agrarkonzeption der westdeutschen Monopole und besonders ihres Rationalisierungsprogramms für die fünfziger und die erste Hälfte der sechziger Jahre dar. Die Träger dieses Programms, die mittel- und großbäuerlichen Betriebe, wurden dabei schonungslos der staatsmonopolistischen Regulierung der westdeutschen Landwirtschaft geopfert. Vieweg propagierte die Rückkehr zur kapitalistischen Wirtschaft in der Landwirtschaft der DDR, in der zunächst die Großbauern 61 die ökonomische Hauptkraft bilden sollten. Die Viewegschen Auffassungen förderten Illusionen bei Teilen der Großbauern. Ihre Zerschlagung, die entschiedene und umfassende Förderung der LPG im Laufe des Jahres 1957 sowie die Entfaltung der sozialistischen Demokratie in der Arbeit der kommunalen und zentralen Staatsorgane waren wesentliche Voraussetzungen dafür, daß auch die Großbauern 1957/1958 ihren Platz in der sozialistischen Zukunft ihrer Dörfer genauer zu bestimmen versuchten. Der große ideologische Aufschwung und die Produktionstaten der Werktätigen, vor allem der Arbeiterklasse in der sozialistischen Industrie bei der Vorbereitung des V. Parteitages der SED, brachten deutlich den Wandel in den Klassenverhältnissen und 60 61
Ebenda, S. 335. Ebenda, S. 338; vgl. Rechtziegler. Emil. Die westdeutsche Landwirtschaft im Spätkapitalismus. Die agrarpolitische Konzeption des Finanzkapitals und die Beherrschung der westdeutschen Landwirtschaft durch Staat und Monopole, Berlin 1969 = DWI-Forschungshefte, 1969, H. 4 .
390
Helmut Griebenow/Kurt Meyer
die Überzeugung der werktätigen Massen von der Lebenskraft des Sozialismus in der DDR zum Ausdruck. Die Großbauern blieben davon nicht unberührt. Im Juni 1957 diskutierte Walter Ulbricht während einer Informationsfahrt durch das Oderbruch in der MTS Podelzig mit Traktoristen, Genossenschaftsbauern und Einzelbauern, unter denen sich auch Großbauern befanden. Auf die Frage eines Großbauern nach der Perspektive der Landwirtschaft entwickelte Walter Ulbricht das Bild der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die als moderne Großbetriebe den Großbauernhöfen um ein Vielfaches überlegen sind, um zu folgern, daß es besonders dann der Fall sein wird, "wenn sich die Einzelbauern, die in ihrer Wirtschaft bereits hohe Produktionserfahrungen gesammelt haben, zur genossenschaftlichen Produktion vereinen". Walter Ulbricht wies auf das wichtigste an diesem Gespräch hin, als e r erklärte: "Es war interessant, daß es keine nennenswerten Meinungsverschiedenheiten über die Richtigkeit des sozialistischen Weges gab, sondern daß fUr verschiedene Bau62
ern lediglich die Frage des Zeitpunktes noch nicht klar w a r . " Die mit der Klärung der sozialistischen Perspektive verknüpfte ökonomische Argumentation gegenüber den Bauern verfehlte ihre Wirkung auch auf die Großbauern nicht. Die 63 Aufhebung der Rationierung von Lebensmitteln im Mai 1958 bewirkte einen steilen Anstieg im Verbrauch tierischer Erzeugnisse. Die Importe an tierischenProdukten stiegen 1959 64 auf das Dreifache und erreichten einen Wert von 700 Mill. Valutamark. Ein solcher Aufwand war, solange noch bedeutende Reserven in der eigenen Landwirtschaft auf Grund der alten Agrarstruktur ungenutzt blieben, nicht zu rechtfertigen. Auch deshalb war das Ringen um die Entscheidung aller Bauern Für die LPG bis in das Frühjahr 1960 hinein damit verknüpft, die vielfältigen Möglichkeiten zur Produktionssteigerung in den genossenschaftlichen Großbetrieben nachzuweisen. Eine andere Seite des genossenschaftlichen Zusammenschlusses, die im Rahmen eines Dorfes nur seine logische Konsequenz war, das Entstehen vollgenossenschaftlicher Dörfer, hatte erhebliche Auswirkungen auf die Einstellung der Großbauern zu den Genossenschaften. Im Juni 1958 gab es bereits 240 vollgenossenschaftliche Dörfer; Ende 1959 waren es schon
62 Ulbricht. Walter, Die Bauernbefreiung in der Deutschen Demokratischen Republik, Bd 1, Berlin 1961, S. 619. 63 Gesetz zur Abschaffung der Lebensmittelkarten v. 28.5.1958, Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1958, Nr. 33. 64 Die Fleischimporte stiegen von 63 100 Tonnen auf 193 100 Tonnen; die Einfuhr von Butter entwickelte sich von 22 000 Tonnen auf 69 400 Tonnen f Statistisches Jahrbuch der DDR 1960/61, S. 580; Der historische Sieg des Sozialismus auf dem Lande, Berlin 1960, S. 166).
Großbauern und sozialistische Umgestaltung 389.
65
391
Der Eintritt der letzten Bauern wurde oft wie ein Volksfest gefeiert, an dem Hun-
derte Menschen aus umliegenden Dörfern teilnahmen. Mit diesen Dörfern verband sich bereits in Umrissen das Bild von der Perspektive der sozialistischen Landwirtschaft. Durch die Unterstellung der Traktorenbrigaden der MTS unter die Einsatzleitung der LPGVorsitzenden kamen hier zuerst Boden und moderne Technik in eine Hand, was zu einer rationelleren Nutzung der Maschinen und Aggregate führte. In den vollgenossenschaftlichen Dörfern entstanden neuartige Ansätze langfristiger Dorfplanung flir die Entwicklung der Produktion und des ganzen gesellschaftlichen Lebens. Die schnelle Ausrüstung der MTS mit moderner Landtechnik beeindruckte die Großbauern in besonderem Maße. Vor sieben, acht Jahren hatten sie den werktätigen Bauern noch die Leihbedingungen für ihre vergleichweise einfache Technik diktiert. Jetzt wendete sich das Blatt grundlegend. Auf den Feldern der großen LPG begannen Maschinenkomplexe, die von Traktoristen, ehemaligen Landarbeitern und werktätigen Bauern beherrscht wurden, bei den Bestell-, Pflege- und Erntekampagnen bestimmend zu werden. Mähdrescher, neuartige Mählader und Mähhäcksler, moderne Räum- und Sammelpressen sowie Kartof66
fei- und Rübenvollerntemaschinen wurden seit 1958 in großen Stückzahlen hergestellt. Diese bedeutenden Fortschritte bei der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft Ende der fünfziger Jahre festigten auch bei den Großbauern die Überzeugung, daß selbst ihre starken, aber kapitalistisch bewirtschafteten Betriebe dem Wettbewerb mit den LPG nicht mehr gewachsen waren und es in Zukunft noch weniger sein würden. Der Agrarmarkt zog der Marktproduktion ihrer Wirtschaften keine Grenzen, und die Nachfrage nach hochwertigen, preisgünstigen AgrarProdukten stieg unaufhörlich. Mit den in der kapitalistischen Landwirtschaft üblichen Methoden der verschärften Ausbeutung der Lohnarbeitskräfte, etwa durch die Ausdehnung des Arbeitstages und verstärkte Arbeitshetze, war eine Erhöhung der Produktion nicht mehr möglich, weil die Landarbeiter realen arbeitsrechtlichen Schutz genossen, den die Arbeiter-und-Bauern-Macht garantierte. Verstärkte eigene Arbeit und dazu erhöhte Anforderungen an die Familienarbeitskräfte förderten in den Großbauernfamilien ganz erheblich die Erkenntnis, daß ihr größerer Hof dem sozialistischen Großbetrieb hoffnungslos unterlegen war. Die 1955/1956 noch vielfach von ihnen belächelten LPG hatten bis 1959 einen Wirtschaftsaufschwung vollzogen, der in der Produktion tierischer Erzeugnisse gravierend war und der es der Regierung der DDR ermöglichte, in schnellem Tempo die Versorgung der Bevölkerung mit Agrarprodukten zu verbessern. 65 Gemeinsam zum Sozialismus, S. 238. 66 Statistisches Jahrbuch der DDR 1960/61. S. 436 f.
392
Helmut Griebenow/Kurt Meyer Bruttoproduktion tierischer Erzeugnisse 67 je 1000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche in MUI. DM Jahr
LPG
Privatbetriebe
1955
0,58
1,21
1959
1,16
1,27
Solche und andere Vergleiche, die bewiesen, daß der bäuerliche Betrieb, und davon war der Großbauernhof nicht ausgenommen, selbst bei Anspannung der letzten physischen Kräfte keine nennenswerte Produktionssteigerung mehr zuließ, beeinflußten den angebahnten Bewußtseinswandel. Die Veränderungen im Denken der Großbauern wurden in nicht geringem Maße von der Haltung der bei ihnen beschäftigten Lohnarbeiter bestimmt. In den Jahren der sozialistischen Revolution waren die Landarbeiter auch in den Privatbetrieben selbstbewußter geworden und forderten, unterstützt durch die staatlichen Organe und Gewerkschaftsleitungen, ihre Rechte. Häufig klagten die Großbauern über Arbeitskräftemangel, weil die Landarbeiter ihre Höfe verließen. Die Landarbeiter aber hatten das gleiche verfassungsmäßige Recht, ihren Arbeltsplatz frei zu wählen, und die Skala ihrer Möglichkeiten war durch die sozialistische Industrialisierung und die Agrarumwälzung breit gefächert. So bröckelten bereits die Fundamente der kapitalistischen Betriebsweise in den Großbauernwirtschaften erheblich. Arbeiter und Angestellte der privaten Betriebe in der Land- und Forstwirtschaft und ihr Übergang zu den LPG Jahr
Arbeiter und Angestellte in Privatbetrieben
LPG-Mitglieder
1950
410 138
1952
221 012
1955
169 141
-
51 871
96 146
+ 91 687
1957
145 419
-
23 722
97 341
+ 1 195
1959
91 945
-
54 574
129 752
+ 32 411
1960
20 750
-
71 195
157 821
+ 28 069
-
- 189 126
4 459
67 Ebenda, S. 182 f . , 419 (errechnet nach den statistischen Angaben). 68 Ebenda, 1956, S. 171; ebenda, 1957, S. 183; ebenda, 1960/61, S. 187.
Großbauern und sozialistische Umgestaltung
393
Die vorstehende Tabelle veranschaulicht, daß sich die Landarbeiter massenhaft von der Arbeit in den Privatbetrieben, zu denen hier auch die Höfe einer großen Gruppe starker Mittelbauern zu zählen sind, abwandten. Über 150 000 Landarbeiter wählten den Weg in die Genossenschaften. Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß diese Haltung der Landarbeiter bis zum vollgenossenschaftlichen Zusammenschluß besonders aus den anachronistischen Arbeits- und Lebensverhältnissen in den Großbauernwirtschaften resultierte. Der Ausweg, der sich auch den Großbauern bot, war gegeben, wenn sie sich mit den Landarbeitern und werktätigen Bauern ihres Dorfes zu einer Produktionsgenossenschaft zusammenschlössen, wie es im Sommer 1958 die Bauern der Gemeinde Groß Kienitz taten. Diese hielten bei ihrer LPG-Gründung eine Ordnung fUr die Einbringung des Inventars und bei der Regelung anderer Fragen ein, die entsprechend den Weisungen des Statutes und der LPG-Konferenzen ausschloß, daß die Landarbeiter und Kleinbauern irgendwie 69 benachteiligt wurden.
Das verstärkte Bestreben der Großbauern, den Genossenschaften
beizutreten, beurteilte Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 mit den Worten: "Wenn Großbauern auf Grund ihrer eigenen besseren Einsicht die zutiefst unmoralische, menschenunwürdige Ausbeuterfunktion freiwillig aufgeben und sich auf sozialistischem 70 Wege mit am Aufbau eines glücklichen Lebens beteiligen, sind wir absolut einverstanden." Die neuen Faktoren, die hier nur angedeutet werden konnten und auf die Überzeugung und Umerziehung der Großbauern unmittelbar Einfluß nahmen, wurden durch die politische Agitation und die Agrarpropaganda der SED ständig vertieft und unterstützten den allmählichen Übergang weiterer Großbauernfamilien in die Genossenschaften. Im Jahre 1958 traten 3600 Großbauern und etwa die gleiche Zahl an Familienangehörigen in71 die LPG ein; 1959 waren es 2700 Betriebsinhaber und ungefähr 3000 Familienangehörige. Bemerkenswert bleibt dabei, daß dieser verstärkte Übergang der Großbauern in die LPG. dem allgemeinen Aufschwung der Genossenschaftsbewegung folgte. Die Bewegung der Jahre 1958/1959, die in den vollgenossenschaftlichen Zusammenschluß im Frühjahr 1960 einmündete, hatte damit, über die Mittelbauern hinausgreifend, auch die- Großbauernschaft erfaßt. Mögen die Motive, die den einzelnen Großbauern veranlaßten, Mitglied der 72 LPG zu werden, auch äußerst vielgestaltig gewesen sein , so gab es doch für jeden von
69 Protokoll des V. Parteitages der SED, Bd 1, Berlin 1959, S. 129. 70 Ebenda. 71 Statistisches Jahrbuch der DDR 1960/61, S. 428. 72 Vgl. Lungwitz. Kurt, Die Notwendigkeit und die Möglichkeit der Erfassung der Bevölkerung der DDR nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Zwischenschicht im Rahmen einer Volks- und Berufszählung, Diss., 1959, S. 153 (Ms.).
394
Helmut Griebenow/Kurt Meyer
ihnen allgemeine, im Bereich ihrer freien Entscheidung liegende, langfristig durch die Agrarpolitik der SED angebahnte politische Gründe, diesen für sie schwerwiegenden Schritt zu tun. Die Überzeugung, daß der Sozialismus in der DDR unwiderruflich ist, fest und dauerhaft begründet an der Seite der Sowjetunion und in der sozialistischen Staatengemeinschaft, brach sich auch in den Köpfen der Großbauern Bahn. Mit dem Plangespräch des Jahres 1959, das die VI. LPG-Konferenz im Februar 73 1959 eröffnete und in dem es um die sozialistische Entwicklung der Landwirtschaft bis zum Jahre 1965 ging, wurde die Entscheidung der Bauern im sozialistischen Frühling des Jahres 1960 unmittelbar vorbereitet. Bei der Begründung des Gesetzes über den Siebenjahrplan am 30. September 1959 vor der Volkskammer wurde erneut sichtbar, daß die Partei- und Staatsführung sich, beeindruckt von dem allgemeinen Aufschwung, nicht dazu verleiten ließ, in der Klassenwachsamkeit nachzulassen und die heranreifenden Auseinandersetzungen zu unterschätzen. Walter Ulbricht analysierte die sich in einem Teil der Dörfer vollziehende Klassendifferenzierung und beurteilte ihre Auswirkungen auf die Entscheidung der werktätigen Bauern für die LPG. Bedeutsam war, daß die kleine kapitalistische Schicht nicht nur mehr jene Großbauern umfaßte, die eine landwirtschaftliche Nutzfläche von mehr als 20 Hektar mittlerer Bodengüte bewirtschafteten, sondern auch frühere Mittelbauern, die zu kapitalistisch wirtschaftenden Großbauern geworden waren. Teilweise verfügten diese Betriebe über verhältnismäßig kleine Bodenflächen mit hohem Viehbestand oder hochentwickelter 74 SpezialWirtschaft.
Die politischen und ökonomischen Wirkungen dieser klassenmäßigen
Umgruppierung gingen erheblich über die Gruppe der betreffenden Betriebe hinaus. Es gab in der vorhandenen kapitalistischen Schicht Kräfte, die ihre ökonomische Stärke zur Ausbeutung, zur Spekulation und zur politischen Beeinflussung abhängiger werktätiger Bauern ausnutzten. Der Versuch dieser Elemente, die Masse der Bauern von ihrer Entscheidung für den Genossenschaftsweg abzuhalten, verband sich mit dem Bestreben, "Bauern, die ihrer ökonomischen Lage nach werktätige Bauern sind, aber unter dem Einfluß ihres früheren Lebens, kapitalistischer Bestrebungen oder auch ideologischer Beeinflussung durch Westpropaganda oder reaktionäre Kirchenkreise eine feindselige Haltung gegenüber der sozialistischen Entwicklung einnahmen" 75 , um sich zu gruppieren.
73 Vgl. Die VI. Konferenz der Vorsitzenden und Aktivisten der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, Berlin 1959. 74 Ulbricht. Walter. Die Bauernbefreiung in der DDR, Bd 2, Berlin 1962, S. 879. 75 Ebenda.
Großbauern und sozialistische Umgestaltung
395
Die SED ging also davon aus, daß die Feinde der sozialistischen Umwälzung ihre Kräfte zusammenzuschließen bemüht waren, daß sie es aber auf Grund der Bewußtseinsentwicklung der Bauernmassen - sich vor Isolierung fürchtend - nicht wagten, offen aufzutreten, sondern, im Untergrund wühlend, Einfluß zu erlangen suchten. Walter Ulbricht zog daraus die Lehre, "daß die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft nur erfolgreich fortschreiten kann, wenn die Partei- und Staatsorgane die Klassenlage in jedem Dorf richtig ein76 schätzen und ihre Politik auf die Bewegung der verschiedenen Kräfte einstellen" . Er unterstrich, daß die Gegner der Umgestaltung nicht durch eine bestimmte Größe des Bodenbesitzes erkennbar seien und unter den Bauern mit mehr als 20 Hektar landwirtschaftli77 eher Nutzfläche "eine ganze Menge fortschrittlicher und loyaler Kräfte" wären. Eine richtige, auf die Arbeiterklasse und die fortschrittlichen Teile der Bauernschaft gestützte aktive politische Kleinarbeit zur Überzeugung der Bauern, die von der sorgfältigen Analyse der Lage im Dorf ausging, isolierte die geringen gegnerischen Kräfte, die in keinem Abschnitt des vollgenossenschaftlichen Zusammenschlusses gegen die in der Nationalen Front vereinigten, von der SED geführten politischen Kräfte wesentlichen Einfluß erlangten. Der Sieg der Genossenschaftsbewegung im Frühjahr 1960 war das unmittelbare Resultat der größten revolutionären Massenaktion seit den revolutionären Umgestaltungen in der antifaschistisch-demokratischen Revolution. Er vollendete die mit der Bodenreform begonnene Bauernbefreiung. Weil sich um die Jahreswende 1959/1960 unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei ein umfassender, immer schneller in die Breite wachsender revolutionärer Aufschwung vollzog, blieb dem Klassengegner keine Chance, die Entscheidung unserer Bauern aufzuhalten. Hunderttausende von Arbeitern, Genossenschaftsbauern und andere Werktätige haben in ungezählten Diskussionen den Einzelbauern geholfen, sich in diesen historischen Tagen und Wochen richtig zu entscheiden. Und diese richtige Entscheidung wurde auch von der Mehrheit der Großbauern gefunden, die sich der Führung der Arbeiterklasse anvertrauten und dank der Führungskunst der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands den Weg in die Genossenschaften fanden. Ihr Aufstieg zu f r e i e r , gleichberechtigter Arbeit im Kollektiv der Genossenschaftsbauern war langwierig und kompliziert. Im Ringen um die gute genossenschaftliche Arbeit wurden auch die ehemaligen Großbauern mit ihren Familien als Genossenschaftsbauern Teil einer neuen
76 Ebenda, S. 880. 77 Ebenda.
396
Helmut Griebenow/Kurt Meyer
sozialistischen Grundklasse unseres Staates, die an der Seite der Arbeiterklasse und geführt von ihr, ihren Beitrag für die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesell78 schaft leistet.
78 Grüneberg, Gerhard. 25 Jahre marxistisch-leninistische Agarpolitik, in: Einheit, 1970, H. 9, S. 1126.
MANFRED BENSING/ELLY
HEILHECKER
Die Arbeiterklasse der D D R an der Schwelle der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Probleme ihres Wachstums in den Jahren 1961/1962
Das Wachstum der Arbeiterklasse ist untrennbar mit dem gesellschaftlichen Fortschritt verbunden. Jede Höherentwicklung der sozialistischen Gesellschaft bedarf der zunehmenden Keife und der wachsenden politisch-ideologischen Einheit, Bewußtheit und Organisiertheit der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse ist es, die den Charakter unserer Ordnung prägt, ihr politisches und moralisches Antlitz bestimmt.* Gleichzeitig erwachsen die Anforderungen an sie aus den gesellschaftlichen Aufgaben, und im Maße ihrer Erfüllung verändern sich Charakter, Profil und Struktur der Arbeiterklasse. Für die Dialestik von Klassen- und Gesellschaftsentwicklung ist charakteristisch, daß die Arbeiterklasse stets das, was die Gesellschaft braucht, auch hervorzubringen vermag, wobei diese Befähigung untrennbar mit der politischen Führung der Gesellschaft durch die Partei der Arbeiterklasse verknüpft ist. Sie erarbeitet auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus die perspektivischen und Gegenwartsaufgaben der Arbeiterklasse, organisiert die Klasse, rüstet sie mit der revolutionären Ideologie aus und führt sie in den Kampf. Auf diese Weise wälzt die Arbeiterklasse die materiellen Grundlagen ihrer Entwicklung um. Veränderung der Gesellschaft und Selbstveränderung der Arbeiterklasse fallen zusammen. In der Geschichte des Verhältnisses zwischen Gesellschaftsentwicklung und Entwicklung der Arbeiterklasse in der DDR nach 1945 sind mehrere Zäsuren erkennbar. Die erste wird durch die Herstellung der Einheit der Arbeiterklasse auf marxistischer Grundlage und durch die Verwirklichung ihrer Hegemonie in der demokratischen Etappe der Revolution gekennzeichnet. Das waren die entscheidenden Voraussetzungen für die vollständige Entmachtung des Imperialismus und Militarismus sowie für die Errichtung einer demokratischen Ordnung. Die zweite Zäsur ist durch die Errichtung der ungeteilten politischen Herrschaft der Arbeiterklasse, der Diktatur des Proletariats bestimmt, mit der die sozialistische
1
Lamberz, Werner. Ideologische Probleme der Auswertung des VIII. Parteitags der SED. h r s g . von der Parteihochschule "Karl Marx" beim ZK der SED, Berlin 1971, S. 36.
398
Manfred Bensing/Elly Heilhecker
Umwälzung in der DDR eingeleitet wurde. Mit ihr wurde endgültig darüber entschieden, daß die DDR in den Übergangsprozeß vom Kapitalismus zum Kommunismus eingetreten war. Es ist offensichtlich, daß beide Prozesse nicht nur mit entscheidenden Etappen des Weltsozialismus zusammenfielen, sondern auch selbst Bestandteil des gesetzmäßigen Wachstums der Kräfte des sozialistischen ^eltsystems waren. Die Arbeiterklasse konnte ihre geschichtlichen Aufgaben lösen, weil durch den Sieg der Sowjetarmee über den Hitlerfaschismus, durch die Hilfe der UdSSR und der volksdemokratischen Staaten beim demokratischen und sozialistischen Aufbau dafür entscheidende Voraussetzungen geschaffen worden waren, so wie ihr Wachstum und die durch sie geleitete revolutionäre Veränderung der Gesellschaft dem sozialistischen Weltsystem neue Kräfte zuführen half. Der dritte Entwicklungseinschnitt ist nach unserer Auffassung durch den Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse gekennzeichnet, mit dem die grundlegenden Aufgaben der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus verwirklicht wurden. Mit dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse war der praktische Beweis erbracht, daß die Arbeiterklasse der DDR unter Führung der Sozialistischen Einheitspartei fähig war, den Kapitalismus zu überwinden, die Masse des werktätigen Volkes aktiv für den sozialistischen Aufbau zu gewinnen und die nichtproletarischen Schichten auf den Weg sozialistischen Wirtschaftens, Lebens und Denkens zu führen, die sozialistischen Errungenschaften zu verteidigen und im Bündnis mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern günstige äußere Bedingungen für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft zu schaffen. Sicher wäre es müßig, die verschiedenen Einschnitte in der Geschichte der Arbeiterklasse einander wertend gegenüberzustellen. Jede höhere Stufe der Klassenentwicklung setzt die vorangehende voraus. In ihrer Aufeinanderfolge im Verlauf von fast zwei Jahrzehnten findet die Tatsache Ausdruck, daß sich die Befähigung der Arbeiterklasse zur Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft nur in einem längeren Prozeß herausbildet. Dennoch setzt sich in der internationalen, insbesondere in der sowjetischen marxistisch-leninistischen Forschung immer mehr die Auffassung durch, daß der Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse - in der UdSSR die zweite Hälfte der 30er Jahre, in der DDR und in den meisten europäischen sozialistischen Ländern die beginnenden 60er Jahre - für die Gesellschafts- wie für die Klassenentwicklung der Arbeiterklasse von 2 S . L . Senjawski und W . B . Tel'puchowski werten in ihrer
besonderer Wichtigkeit ist.
2
Vgl. insbesondere SenjawskLS. L . /Tel' puchowski. W . B . . Rabi 6ij tclass SSSR (19381965 gg.), Mcskva 1971, S. 16 ff.
Probleme der sozialistischen Klassenentwicklung
399
Geschichte der sowjetischen Arbeiterklasse die Oktoberrevolution als jenes Ereignis, mit dem, vor allem durch die Errichtung der politischen Macht der Arbeiterklasse, die entscheidenden Voraussetzungen flir die Entwicklung der Arbeiterklasse, ihren Wandel zur sozialistischen Klasse geschaffen wurden. Aber ungeachtet dessen, daß die Arbeiterklasse bereits in der Übergangsperiode die Kommandohöhen in der Wirtschaft besetzt, das sozialistische Eigentum schafft und mehrt, messen die Verfasser dem vollständigen ökonomischen Sieg über die Bourgeoisie die entscheidende Bedeutung für die Wandlung der Arbeiterklasse zur sozialistischen Klasse bei. Erst jetzt basiere ihre Arbeit vollständig auf dem sozialistischen Eigentum und könnten sich in der gesamten Klasse die neuen 3 Charaktermerkmale herausbilden. Auch in der DDB war es erst möglich, das gesellschaftliche Lieben "voll und ganz sozialistisch zu gestalten", nachdem sich das sozialistische Eigentum und die sozialisti4 sehen Produktionsverhältnisse allgemein durchgesetzt hatten. Das betraf auch die A r beiterklasse selbst, wobei wir nicht übersehen, daß auch nach diesem Zeitpunkt ein größerer Teil der Arbeiterklasse an nichtsozialistische Eigentumsformen gebunden blieb. Natürlich hatten sich sozialistische Charakterzüge der Arbeiterklasse bei deren fortgeschrittenem, an die sozialistische Großproduktion gebundenem Teil bereits im Verlauf des Kampfes um den Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse herausgebildet. Sie zeigten sich in der wachsenden Organisiertheit und Bewußtheit, in der wachsenden Befähigung, Staat und Wirtschaft zu leiten und die kulturell-geistigen Prozesse zu beherrschen, in der Art und Weise, wie die Arbeiterklasse die Verbündeten in die Lösung der Aufgaben des sozialistischen Aufbaus einbezog und dabei allmählich in sozialistische Werktätige zu wandeln verstand. Sozialistische Wesenszüge fanden in den Wahrnehmungen der internationalen Verpflichtungen, bei der Stärkung des sozialistischen Weltsystems und im Kampf gegen den Imperialismus Ausdruck. Die Arbeiterklasse bewährte sich im entscheidenden Bereich des gesellschaftlichen Lebens, beim Aufbau einer arbeitsteiligen, durch einen hohen Stand der Produktivkräfteentwicklung gekennzeichneten Volkswirtschaft. Im Ringen um höhere Arbeitsproduktivität, bei der Überwindung von Disproportionen und beim Ausgleich von Verlusten, wie sie im Ergebnis des imperialistischen Wirtschaftskrieges entstanden waren, stellte sie unter Beweis, daß sie nicht nur die alte kapitalistische Ordnung zu überwinden, sondern eine neue, die ausbeutungsfreie Gesellschaft zu gestalten fähig ist. Zahlreiche Arbeiter, die als Aktivisten, Neurerer, Arbeiterforscher, Mitglieder sozialistischer Brigaden 3 4
Ebenda, S. 18. Lamberz, Werner. Ideologische Probleme, S. 11.
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Manfred Bensing/Elly Heilhecker
und Gemeinschaften wirkten, im sozialistischen Wettbewerb höchste Ergebnisse zur Stärkung der DDH erzielten, verkörperten zum Zeitpunkt des Sieges der sozialistischen Produktionsverhältnisse am ausgeprägtesten die werdende sozialistische Klasse. Ihr Kollektivgeist, ihre Auffassung von Klassenehre, ihre schöpferische Aktivität und hohe A r beitsmoral wirkten als Vorbild und bestimmten mehr und mehr auch das Verhalten der anderen Klassenangehörigen, ja sogar der anderen Schichten der Bevölkerung. Nicht zufällig waren sie in der Mehrzahl Angehörige der SED. Alle diese Zilge der Arbeiterklasse finden sich auch in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, und es könnte scheinen, als habe es sich um ihre einfache Weiterentwicklung gehandelt. Nach unserer Auffassung konnte es in den Perioden bis zum Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse noch nicht um ihre volle Ausprägung gehen, ist eine solche mit der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft verknüpft, die wir nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse umfassend und allseitig in Angriff 5 nahmen. Erst sie erfordert und gestattet die allseitige Entwicklung des sozialistischen Charakters der Arbeiterklasse. Die entwickelte sozialistische Gesellschaft ist nicht zu errichten, wenn lediglich der fortgeschrittene Teil der Arbeiterklasse Uber die hohen politischen und moralischen Eigenschaften verfUgt. Aber die Gewinnung der ganzen Klasse flir die bewufite Wahrnehmung ihrer Führungsrolle, und darum geht es, ist nicht nur eine Frage quantitativer Ausweitung sozialistischen Denkens und Handelns. Zugleich wachsen nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse die Fiihrungsaufgaben qualitativ an. Die strategische Hauptaufgabe in der DDB wie in den meisten sozialistischen Ländern Europas bestand in der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Jetzt reichte es nicht einmal mehr aus, die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit zum gesellschaftsgestaltenden Wirken zu befähigen. Die Entwicklung des gesellschaftlichen Schöpfertums der Mehrheit der Werktätigen wurde selbst zum Gegenstand der Ftihrungsrolle der Arbeiterklasse. Das hing vor allem damit zusammen, daß sich nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse die Klassenbeziehungen grundlegend veränderten. Es existierten nach Überwindung des Klassenantagonismus nur noch miteinander befreundete Klassen und Schichten. Die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung nahm zu. Qualitativ neue Anforderungen an die Arbeiterklasse der DDB erwuchsen aus den veränderten internationalen Klassenkampfbedingungen. Schärfe und Dimension der Klassen5
Vgl. Bericht des ZK der SED an den VIII. Parteitag: "Seitdem in unserem Lande die sozialistischen ProduKtionsverhältnisse gesiegt haben, arbeiten wir daran, umfassend und allseitig die entwickelte sozialistische Gesellschaft zu gestalten." In: Protokoll der Verhandlungen des v m . Parteitags der SED. Bd 1, Berlin 1971, S. 57.
Probleme der sozialistischen Klassenentwicklung
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Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus ließen es nicht mehr zu, daß die sozialistischen Länder allein, fdr sich den Kampf um den Frieden, den gesellschaftlichen Fortschritt und die soziale Sicherheit führten. Mit zwingender Notwendigkeit traten die Aufgaben der Integration der DDR in das sozialistische Weltsystem in den Vordergrund. Die Verantwortung der Arbeiterklasse eines jeden sozialistischen Landes für die gemeinsame Sache der sozialistischen Staatengemeinschaft wuchs qualitativ. Es begann eine Entwicklungsperiode, in der die Rolle der Arbeiterklasse als herrschende und führende Klasse der sozialistischen Gesellschaft in wachsendem Maße von Kenntnissen und Fähigkeiten bei der Meisterung ökonomischer und technischer Prozesse g sowie von ihrer geistig-kulturellen Bildung abhängt. Aus den genannten Gründen liegt es nahe, jenem kurzen Zeitraum, in dem die sozialistischen Produktionsverhältnisse in der DDR zum Siege geführt wurden und jener Prozeß seinen Ausgang nahm, der im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des V I . , VII. und Vin. Parteitags der SED stand, also den Jahren 1961/1962 besondere Aufmerksamkeit zu schenken, zudem dieser Einschnitt mit den Maßnahmen der sozialistischen Staatengemeinschaft zur Gewährleistung eines zuverlässigen Schutzes an ihrer Westgrenze zeitlich zusammenfiel und durch den beginnenden Aufbau der materiell-technischen Basis des Kommunismus in 7 der UdSSR gekennzeichnet war. In den Jahren 1961/1962 war in der Entwicklung der Arbeiterklasse der DDR ein neuer Ausgangspunkt gegeben, waren qualitativ neue Möglichkeiten ihres Wachstums geschaffen, aber auch völlig neue Anforderungen gestellt. Das veranschaulichen deutlich die Massenbewegungen und Volksaussprachen, die in dieser Zeit stattfanden, unter denen uns namentlich das Produktionsaufgebot ein guter Indikator der Klassenentwicklung der Arbeiterklasse zu sein scheint. Die Lage in der DDR nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse und der Sicherung der Staatsgrenze im August 1961 war durch zwei Komplexe von Erscheinungen gekennzeichnet. "Der Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse - verbunden mit dem zuverlässigen Schutz der Grenzen - hatte zu einer grundlegenden Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Sozialismus und Imperialismus in Deutschland geführt. Die Versuche des westdeutschen Imperialismus, in der DDR eine Restauration des Kapitalismus herbei-
6 7
Vgl. Hager. Kurt. Die entwickelte sozialistische Gesellschaft. Aufgaben der Gesellschaftswissenschaften nach dem Vin. Parteitag der SED, Berlin 1971, S. 17. Vgl. Reißig. Karl. Die historische Bedeutung des Sieges der sozialistischen Produktionsverhältnisse in der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1971, H. 4, S. 469 f f .
402
Manfred Bensing/Elly Heilhecker o
zuführen, waren Für immer gescheitert."
Nachdem in der sozialistischen Volkswirtschaft
einheitliche sozialistische Verhältnisse geschaffen worden waren, bildete die Beseitigung der äußeren Störfaktoren, der Quelle großer ökonomischer Verluste, die grundlegende Bedingung dafür, daß die ökonomischen Gesetze des Sozialismus voll zur Wirksamkeit gebracht und die sozialistiochen Produktionsverhältnisse im Interesse der Gesellschaft voll genutzt werden konnten. Das heißt, für die Entfaltung des Sozialismus, seiner Triebkräfte und Vorzüge bestanden günstige Bedingungen. Aber der Start in die neue Periode gesellschaftlicher Entwicklung konnte nicht von einer glatten Straße aus vollzogen werden. In der gesellschaftlichen Praxis und in den Köpfen vieler Menschen zeigten sich die Folgen des jahrelangen psychologischen und ökonomischen Krieges des Imperialismus. Materielle Verluste, die in ihrer Höhe den volkswirtschaftlichen Investitionen der Jahre 1950 bis 1961 entsprachen, hatten im wirtschaftlichen Leben der DDR deutliche Spuren hinterlassen. Das Wachstum der Industrieproduktion hatte in g den Jahren 1959 bis 1961 eine rückläufige Tendenz gezeigt.
Zusätzliche Mittel, die zur
Minderung der Störanfälligkeit hatten aufgebracht werden müssen, verlangsamten das Tempo der Akkumulation und der Produktivitätssteigerung. Disproportionen zwischen Produktivitätssteigerung und schnell anziehenden Durchschnittslöhnen hatten zu einer Umverteilung des Nationaleinkommens auf Kosten der Akkumulation geführt und den Aufbau wichtiger Industriezweige behindert, was der Notwendigkeit, die modernen Produktivkräfte zügig zu entwickeln, widersprach. Die Folgen zeigten sich u . a . darin, daß die Grundlagen für die langfristige, stetige Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung ungenügend entwickelt werden konnten und Disproportionen zwischen Kaufkraft und Warenangebot auftraten. Behinderung und Verletzung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus hatten negative Auswirkungen auf das Bewußtsein der Werktätigen. Unter dem Einfluß der psychologischen Kriegführung des westdeutschen Imperialismus konnten sich Erscheinungen der Unsicherheit, mangelnder Parteilichkeit, des Zurückweichens vor Schwierigkeiten, schlechte Arbeitsmoral und kleinbürgerliche Auffassungen ausbreiten. Der 13. August 1961 hatte die Grundfragen der Zeit sichtbar gemacht. Aber damit waren noch nicht die Folgen der imperialistischen Schädlingsarbeit ausgeräumt. Jeder Schritt vorwärts beim sozialistischen Aufbau mußte mit der Stabilisierung der Grundlagen des Sozialismus, insbesondere der Volkswirtschaft in enger Verbindung mit der politisch-ideologischen Erziehung der Arbeiterklasse und aller Werktätigen beginnen. Erneut stellte die 8 9
Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR. Berlin 1969, S. 117. Zu den Einschätzungen vgl. Bericht des Zentralkomitees an den VI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. o.O. (1963), S. 36 f.
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SED an die Arbeiterklasse höchste Anforderungen. Aber man darf die Wachstumsprobleme und ihre Lösung nicht mit äußerlich ähnlichen Erscheinungen Ende der vierziger und der fünfziger Jahre vergleichen wollen. Die objektiven Voraussetzungen für die Lösung der Probleme waren günstiger als zuvor. Das Vorwärtsschreiten, der Vorstoß aus den Schwierigkeiten in Neuland der sozialistischen Gesellschaft hing wesentlich von der Reife der Arbeiterklasse und ihrer Partei, von der Wirksamkeit des subjektiven Faktors ab. Der Komplex von Aufgaben, der über die weitere Entwicklung des Sozialismus in der DDE entschied und somit von strategischer Bedeutung war, wurde zu einem wesentlichen Teil durch das Produktionsaufgebot der Jahre 1961/1962 gelöst. Die erste Etappe im Produktionsaufgebot wurde von den Elektrodendrehern des VEB Elektrokohle Berlin-Lichtenberg eingeleitet. Ihre Losung " J e stärker die DDR, desto stärker der Friede in Deutschland" charakterisierte einen hohen Stand des Verantwortungsbewußtseins. Sie brachte zum Ausdruck, daß das Produktionsaufgebot nicht eine ausschließlich ökonomische Angelegenheit, sondern das wichtigste Mittel war, die politischen Ziele der Arbeiterklasse durchzusetzen, die DDR zu stärken und so der Erhaltung des Friedens den größten Dienst zu erweisen. Die Elektrodendreher verstanden, daß ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Arbeit jedes einzelnen, seiner Einstellung zur Arbeit, seinem Klassenbewußtsein und der Durchsetzung der Klassenziele bestand. Sie formulierten als Schlußfolgerung aus ihrer Losung die entscheidende Verpflichtung, "in der gleichen Zeit für das gleiche Geld mehr zu produzieren". Damit legten sie den Finger auf eine Reihe in der Wirtschaft existierender Widersprüche und Disproportionen, besonders auf den Widerspruch zwischen Arbeitsproduktivität und Lohn. Die Verfasser des Aufrufs waren sich der Tatsache bewußt, daß hier die persönlichen materiellen Interessen der Werktätigen berührt wurden und die ideologische Auseinandersetzung unumgänglich war. Sie forderten auf, mit der alten Ideologie aufzuräumen, mehr von der Gesellschaft zu fordern, als 10 ihr mit der eigenen Arbeit zu geben. Sie appellierten an die Ehre eines jeden Arbeiters, mit Arbeitsbummelei, Ausschußproduktion und Normenschaukelei Schluß zu machen, eine exakte Rechnungslegung und Kontrolle einzuführen. Der Aufruf fand in vielen Betrieben der DDE Widerhall und leitete eine erste Verpflichtungsbewegung ein. In dieser Zeit blieb das Produktionsaugebot jedoch auf den fortgeschrittenen Teil der Arbeiterklasse beschränkt.
Die Führung der SED konzentrierte sich darauf,
durch verstärkte ideologische Tätigkeit der Partei die gesamte Arbeiterklasse auf die Höhe 10 Aufruf der Werktätigen der Abteilung Elektrodendreherei des VEB Elektrokohle Berlin vom 6. September 1961. in: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 8, Berlin 1966, S. 627. 11 Ebenda, S. 294.
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der Aufgabe zu heben. Sie propagierte den Aufruf der Elektrodendreher und schuf die Formen für die Entfaltung einer Masseninitiative der Arbeiter und anderer Werktätiger. In dieser Situation erhöhte sich die Verantwortung des FDGB als der größten Klassenorganisation der Arbeiterklasse. Im September 1961 nahm der FDGB die Leitung des Produktionsaufgebots in die Hand. Entscheidend blieb die ideologische Offensive. Im Brief des ZK der SED an alle Grundorganisationen in den Schwerpunktbetrieben der Volkswirtschaft hieß es: "Überall dort, wo das Produktionsaufgebot richtig mit der Klärung der politischen Grundfragen begonnen wurde, entwickelte sich ein intensives Nachdenken, Rechnen, Forschen, und in kurzer 12
Zeit zeigten sich meßbare Ergebnisse." Die Bedeutung, welche die SED dem Produktionsaufgebot beimaß, zeigte sich in der Forderung, es zum Kampfprogramm der gesamten 13 Partei zu machen
, jedes Parteimitglied zu befähigen, sich an die Spitze der Massenbewe-
gung zu stellen, die Fragen der Werktätigen zu beantworten und die Politik der Partei offensiv zu vertreten. Wie stets zuvor in der Geschichte der DDR galt es auch am Beginn dieses neuen Abschnitts, alle Mitglieder der Partei der Arbeiterklasse zur Führung der neuen, komplizierteren gesellschaftlichen Prozesse zu befähigen. Bereits die Anfänge des Produktionsaufgebots machten sichtbar, daß die Arbeiterklasse eine höhere 'Qualität der Planung und Leitung des Produktions- und Reproduktionsprozesses durchsetzen und sich dafür höhere Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen mußte. Diese Gesetzmäßigkeit erwuchs sowohl aus den neuen Aufgaben als auch aus der zunehmenden Breite und Tiefe der Bewegung, die neue Forderungen an das gesellschaftliche und Klassenbewußtsein stellte. Die ideologische Offensive der SED fand in der Auswertung des XXII. Parteitags der KPdSU einen ersten Höhepunkt. Das begeisternde Beispiel der Sowjetunion erhellte den Weg in die Zukunft und festigte bei vielen Arbeitern die Überzeugung von der Gesetzmäßigkeit des Sieges des Sozialismus auch in der DDR. In ihrem Brief an den XXII. Parteitag verbanden die Mitglieder der Jugendbrigade "Nikolai Mamai" des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld die perspektivische Entwicklung des Sozialismus mit den Gegenwartsforderungen: herrliche Perspektiven auch für uns, "wenn wir beharrlich weiter die Technik und unsere Arbeit vervollkommnen..., alle Angriffe der Feinde zurückschlagen und das
12 Brief des ZK an alle Grundorganisationen der SED in der Industrie, im Verkehrsund Verbindungswesen, in den Konstruktions- und Projektierungsbüros sowie in den wissenschaftlichen Instituten zum Produktionsaufgebot, in: Dokumente der SED, Bd 8, Berlin 1962, 'S. 478 f . 13 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 8, S. 478.
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tun, was sie am meisten fürchten: allseitig den Plan erfüllen und die Arbeitsproduktivität 14 steigern". Dieser Brief enthielt einen wichtigen Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Produktionsäufgebot und Verteidigungsbereitschaft der Arbeiterklasse, auf die Notwendigkeit, die Produktionsleistungen mit der Stärkung der bewaffneten Organe und der Kampfgruppen der Arbeiterklasse zu verbinden. In zahlreichen Diskussionen erkannten immer mehr Arbeiter, daß es nicht Arbeiterart ist, den Klassenbrüdern in der Sowjetunion und in den15 anderen sozialistischen Ländern zuzumuten, allein für den Frieden Opfer zu bringen. Wachsende Klarheit Uber die Verteidigungsaufgaben der DDR war schließlich die Voraussetzung dafUr, daß im Januar 1962 das Gesetz Uber die allgemeine Wehrpflicht angenommen werden und Maßnahmen zur weiteren militärischen Stärkung der DDR erlassen werden konnten, die durch die verschärfte Aggressionspolitik des Imperialismus und die Erfordernisse der Revolution im Militärwesen notwendig wurden. Richtungweisende Impulse fttr das Produktionsaufgebot gingen von der 14. Tagung des ZK der SED im November 1961 aus. Es mußte die Frage beantwortet werden, wodurch die neue Etappe des sozialistischen Aufbaus und der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse in der DDR gekennzeichnet war. Es entsprach völlig den 1960 in Moskau auf der Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien erarbeiteten Erkenntnis, daß der Periode, in der die Fundamente des Sozialismus gelegt werden, eine solche des Aufbaus der entwickelten sozialistischen Gesell16
Schaft folgt
, wenn das ZK der SED darauf orientierte, in der DDR den Sozialismus um-
fassend aufzubauen. Zu diesem Zweck mußte die ganze Kraft auf die Lösung der ökonomischen Aufgaben konzentriert werden, d.h. auf die Vervollkommnung der Planung und Leitung der Produktion, auf die exakte Planerfüllung, die Forschungsarbeit zur Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, die Erhöhung der Arbeitsproduictivität, die Veränderung des Produktionsprofils ganzer Betriebe und Industriezweige und die Herstellung einer engen Wirtschaftsgemeinschaft mit der UdSSR. Die Tagung des Zentralkomitees und die sich anschließende Tagung des Nationalrats der Nationalen Front, die die klare Perspektive auch für die Verbündeten der Arbeiterklasse hervorhob, gaben dem Produktionsaufgebot entscheidende Impulse und förderten seine Ausdehnung zu einer Massenbewegung, die bald weit Uber die Industrie hinausgriff. Für die Weiterführung der Diskussion über die Grundfragen der Zeit war auch der Brief 14 Ebenda, S. 312. 15 Zur komplexen ideologischen Erziehungsarbeit im Produktionsaufgebot vgl. Beau, Alfred/Schulze. Karl-Heinz. Klassenbewußtsein und Produktionsaufgebot, in: Einheit, 1961, H. 11/12, S. 1697 ff. 16 Erklärung der Beratung von Vertretern der kommunistischen und Arbeiterpartelen, November i960, Berlin (1961), S. 19.
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der Brigade Porstmann aus Karl-Marx-Stadt von Bedeutung. In Ihm wurde die Einführung von Bestwerten gefordert, um den Lohn an die Leistung heranzuführen, und vorgeschlagen, den Leistungsvergleich zwischen Betrieben einzuführen. Die Ergebnisse des Jahres 1961 zeigen anschaulich, daß das Produktionsaufgebot in kurzer Zeit zu einer alle Teilaktionen des sozialistischen Wettbewerbs auf höherer Stufe verbindenden Massenbewegung angewachsen war. Es bewahrheitete sich erneut, daß die Arbeiterklasse zu großen Taten und zu Opfern bereit ist, wenn die Schwierigkeit offen dargelegt, der Ausweg gezeigt und das zündende Beispiel geschaffen wird. In der volkseigenen Industrie standen im IV. Quartal des Jahres 1961 mehr als 2,9 Mill. Werktätige, d.h. mehr als 70 Prozent aller Arbeiter und Angestellten im innerbetrieblichen Wettbe17 werb. Zum gleichen Zeitpunkt kämpften 521 215 Produktionskollektive um den Titel 18 "Kollektiv der sozialistischen Arbeit". Vom praktischen ökonomischen Nutzen abgesehen, der sich in einem bedeutenden Anstieg der Bruttoproduktion und der Arbeitsproduktivität ausdrückte, bildeten sich in der kollektiven sozialistischen Arbeit neue Beziehungen zwischen den Werktätigen heraus und deuteten sich die großen Möglichkeiten an, die in den sozialistischen Produktionsverhältnissen liegen. Ein Beispiel für die revolutionierende Wirkung, die das Produktionsaufgebot bereits im Jahre 1961 ausübte, bot das volkseigene Schlepperwerk Nordhausen. Zu Beginn des ProduKtionsaufgebots war das Werk mit 6 Mill. Mark Planschulden belastet, das waren rund 450 Traktoren, auf die unsere Landwirtschaft und die ausländischen Vertragspartner warteten. Durch die Initiative im Produktionsaufgebot, die Aufdeckung der Reserven im Ergebnis der politisch-ideologischen Erziehungsarbeit durch die Parteiorganisation konnten bis Jahresende 1961 folgende Ergebnisse abgerechnet werden: 1 546 Normen wurden verändert; die Normzeiteinsparung betrug 17 700 Stunden; 408 000 Mark konnten zusätzlich an Selbstkosten eingespart werden; der Finanzplan des Betriebes wurde mit 114 Prozent erfüllt. Durch die Produktion von 5 800 Traktoren konnte der Planrückstand um 250 Traktoren verringert werden. Das Verhältnis zwischen Arbeitsproduktivität und Durchschnittslohn, das am 30. Juni 1961 98,4 zu 102,9 Prozent betrug, hatte sich entscheidend verbessert, so daß die Werktätigen die Verpflichtung für 1962 übernehmen konnten, die Arbeitsproduktivität auf 111,3 Prozent bei einem durchschnittlichen Verhältnis zum Durchschnittslohn von 100, 8 Prozent zu . . 19 steigern.
17 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Chronik. Bd 3, Berlin 1967, S. 776. 18 Diese und weitere Zahlenangaben ebenda. 19 Vgl. Heilhecker. Ellv. Der Kampf um die Durchsetzung des Prinzips der Einheit von Politik und Ökonomie, dargestellt am Produktionsaufgebot 1961/62 im VEB Schlepperwerk Nordhausen, Jahresarbeit 1963, Franz-Mehring-Institut Leipzig.
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Bereits 1961 wuchs die durch das Produktionsaufgebot initiierte Gemeinschaftsarbeit über den Rahmen der Arbeiterklasse hinaus. Davon zeugt der Zusammenschluß von 1 116 203 Werktätigen in 141 943 Arbeits- und Forschungsgemeinschaften, in denen die Zusammenarbeit besonders mit der Intelligenz auf höherer Stufe fortgesetzt wurde und sich eine engere Verflechtung von körperlicher und geistiger Arbeit in der Tätigkeit der Arbeiter vollzog. Auch Produktionsgenossenschaften in der Landwirtschaft schlössen sich dem Produktionsaufgebot an. Der Übergang zu Sozialistischen Arbeitsmethoden trug zur Festigung der sozialistischen Produktionsverhältnisse auf dem Lande bei und half das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Klasse der Genossenschaftsbauern weiter stabilisieren. Schließlich wurde das Produktionsaufgebot in der ersten Phase dadurch geprägt, daß Hunderttausende der 2 , 3 Mill. Werktätigen, die nach Neuerermethoden arbeiteten, sowjetische Methoden in die Produktion einführten. Mit der ersten Etappe des Produktionsaufgebots war der Anfang zur allseitigen Stabilisierung der Grundlagen des Sozialismus gemacht. Der schnelle und bedeutende Fortschritt in der materiellen Produktion warf zwangsläufig in allen anderen Bereichen der Gesellschaft neue Entwicklungsprobleme auf, vor allem Fragen, die mit der Strategie und Taktik zur Schaffung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, mit der Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution und nicht zuletzt mit der Stellung und Rolle der Arbeiterklasse in der neuen Entwicklungsperiode in Zusammenhang standen. Aus der Erkenntnis der ungeheuren Potenzen des Produktionsaufgebots f ü r die weitere Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Selbstveränderung der A r b e i t e r klasse legte das Sekretariat des ZK der SED fest, das Produktionsaufgebot auch im J a h r e 1962 weiterzuführen, und faßte die bisherigen Erfahrungen in einer Konzeption zusammen. In den Mittelpunkt t r a t nun der Kampf um den wissenschaftlich-technischen Fortschritt zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur Senkung der Selbstkosten. Deshalb wurde vor allem auf die Erfüllung des Plans "Neue Technik" orientiert, der als Teil des Volkswirtschaftsplans 1962 vorsah, rund 2 600 neue Erzeugnisse und etwa 1 400 neue Verfahren in die Produktion einzuführen. Außerdem galt es, die gesamte Arbeiterklasse, alle Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz und die Genossenschaftsbauern f ü r die große Bewegung zu gewinnen. Der Ministerrat der DDR verabschiedete am 18. Januar 1962 den Beschluß über die Ordnung der zentralen Planung und Organisation der wissenschaftlich-technischen Arbeit, mit dem eine höhere Qualität der staatlichen Führungstätigkeit erreicht wurde. P a r t e i , Gewerkschaften und staatliche Leitungen schufen im VEB Großdrehmaschinenbau "8. Mai" in Karl-Marx-Stadt ein Beispiel dafür, wie die Masseninitiative der Werk-
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tätigen Im Dienste der neuen, komplizierteren Aufgaben erfolgreich weitergeführt werden konnte. Mit dem Aufruf der Werktätigen dieses Betriebes wurde die zweite Etappe im Produktionsaufgebot eingeleitet. Sie stand unter der Losung der SED "Gründlich denken - wirtschaftlich rechnen - technisch verbessern - ehrlich arbeiten t" Das Neue der beginnenden zweiten Etappe im Produktionsaufgebot erblickten die Karl-Marx-Städter Werkzeugmaschinenbauer darin, alle Verpflichtungen der Arbeiter sowie der Angehörigen der Intelligenz einem einheitlichen Kampfprogramm des Betriebes für höchste Rentabilität unterzuordnen.
20
Diese Initiative griff schnell auf Tausende von Betrieben in der DDR Uber, darunter auch 21
auf staatsbeteiligte Betriebe.
Die Anzahl der in sozialistischen Kollektiven iim den
Staatstitel kämpfenden Werktätigen nahm weiter zu. In den Arbeits- und Forschungsgemeinschaften wandten sie sich verstärkt den Fragen der neuen Technik und ihrer Einführung zu. Überall dort, wo die Partei- und Gewerkschaftsorganisationen Klarheit über die ideologischen Grundfragen schufen, insbesondere Uber den Zusammenhang zwischen den individuellen und kollektiven Leistungen, der Stärkung der DDR und der Sicherung des Friedens, stellten sich bald Erfolge ein. Die Gewerkschaften wurden darauf orientiert, " . . . alle Werktätigen zu einem hohen sozialistischen Bewußtsein, zur Arbeitsliebe und Arbeitsdisziplin, zur Wahrung der gesellschaftlichen Interessen zu erziehen und aus dem Kapitalis22
mus überkommene Anschauungen und Moralbegriffe zu überwinden..." Die 15. Tagung des ZK der SED im März 1962 faßte die verschiedenen Initiativen zusammen und verdichtete zahlreiche auf der vorangegangenen Plenartagung behandelte Grundfragen zu einem Aktionsprogramm, das unter die Losung gestellt wurde "Alles für die Stärkung der ökonomischen Grundlagen der DDR, damit sie ihre geschichtliche Aufgabe im Kampf um die Sicherung des Friedens, für den Sieg des Sozialismus in der DDR und 23 für die Zukunft Deutschlands erfüllen kann" . Mit ihren Produktionsleistungen entschieden sich die Werktätigen praktisch für die sozialistische Zukunft. Das Produktionsaufgebot machte die unerschöpflichen Potenzen des von Ausbeutung befreiten Volkes und die P e r spektivlosigkeit des Imperialismus sichtbar. Aber der SED ging es auch um die sozialistische
20 Aufruf der Parteiaktivisten des VEB Großdrehmaschinenbau " 8. Mai" Karl-Marx-Stadt. in: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 8, S. 664 ff. 21 Vgl. Naumann. Harald, Die Mitarbeit der Christlich-Demokratischen Union bei der Schaffung und Entwicklung halbstaatlicher Betriebe in der Deutschen Demokratischen Republik, (Berlin) 1967, S. 48 f. = Beiträge zur Geschichte, hg. vom Sekretariat des Hauptvorstandes der CDU. 22 Neues Deutschland (Ausg.B) v. 10.3.1962. 23 Ulbricht. Walter. Einige Grundfragen der Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik, in: Ebenda v. 24.3.1962.
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Motivation der Produktionsleistungen, um Klarheit über die Grundfragen der Zeit und die Folgen des eigenen Handelns bei allen Werktätigen. Deshalb beriet und verabschiedete die 15. Tagung des ZK der SED den Entwurf des Dokuments "Die geschichtlichen Aufgaben der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands", das wenige Tage später von der 11. Tagung des Nationalrats der Nationalen Front angenommen und der Bevölkerung zur Diskussion übergeben wurde. Es galt zu klären, daß die Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus in eine neue Etappe eingetreten war, in der wahrhaft nationale Politik nur darin bestehen konnte, die sozialistische deutsche Nation in der DDß zu konstituieren, in ihr den Sozialismus zum Siege zu fUhren sowie die westdeutsche Monopolbourgeoisie zur Anerkennung der Realitäten und zu einem friedlichen Zusammenleben der beiden deutschen Staaten zu veranlassen. Die überzeugende Charakteristik der DDR als "das junge, vorwärtsstrebende 24 Element", von dem "das Gesicht der Zukunft ganz Deutschlands geform wird" , wurde aus einer Fülle von geschichtlichen und aktuellen Tatsachen abgeleitet; sie beeinflußte das Denken der Werktätigen und stärkte ihr Verhältnis zu unserem sozialistischen Staat. Das Dokument sprach in besonderem Maße die Arbeiterklasse an, indem es in Erinnerung rief, daß seit dem 19. Jh. der gesellschaftliche Fortschritt untrennbar mit ihrem revolutionären Kampf verbunden ist. Auch in der Gegenwart ruhten die Hoffnungen des Volkes auf der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei, die Führer des sozialistischen Aufbaus und des antiimperialistischen Kampfes ist. Die Bestimmung des Standorts und der neuen Aufgaben der Arbeiterklasse vertiefte sich weiter durch die 16. Tagung des ZK der SED, die einen unter Leitung von Walter Ulbricht erarbeiteten Entwurf des "Grundrisses der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" verabschiedete und ebenfalls zur Diskussion stellte. Darin wurde der wissenschaftliche Beweis geführt, daß sich seit 120 Jahren die Welt mit historischer Gesetzmäßig25 keit auf den Kommunismus zu bewegt und sich in der DDR der Kampf nicht nur der revolutionären Arbeiterklasse, sondern aller demokratischen und fortschrittlichen Kräfte erfüllt. In den Volksaussprachen zu beiden Dokumenten wurde ein großer Schritt zur Entwicklung des Geschichts- und Perspektivbewußtseins der Werktätigen getan, der Stolz auf die Erfolge in der DDR entwickelt und die politisch-moralische Einheit des Volkes gefestigt. 24 Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands. Berlin o . J . (1962), S. 25. 25 Ulbricht. Walter. Referat zum "Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung", in: Einheit, 1962, Sonderheft, S. 5.
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Das Wissen um die reale Perspektive des Sozialismus in der DDR wirkte stimulierend auf die Produktionstaten, wie die Abrechnung im Produktionsaufgebot zu Ehren des 13. Jahrestages der DDR zeigte. Im Produktionsaufgebot ging es schon nicht mehr um die Überwindung von akuten Schwierigkeiten. Mit dem Blick nach vorn, auf den umfassenden Aufbau des Sozialismus gerichtet, wurden diese Schwierigkeiten mit gelöst.
Und gerade das
ließ die alten Losungen unwirksam werden. Der Aufruf von 60 Werktätigen des VEB Büromaschinenbau Sömmerda, mit dem im Oktober 1962 das Produktionsaufgebot in den großen Wettbewerb zu Ehren des VI. Parteitags der SED hinübergeleitet wurde, popularisierte die vorwärtsweisende Orientierung der SED: "Gründlich denken, ehrlich arbeiten, wirtschaftlich rechnen, wissenschaftlich forschen, froh und kulturvoll leben!" Wissenschaftlich forschen wollte gelernt sein. Der Plan "Neue Technik", der die Hauptpositionen zur Organisierung der wissenschaftlich-technischen Arbeit enthielt, war zunächst nicht aus dem Rahmen einer Neuererbewegung hinausgetreten. Entscheidend war jedoch die Verwirklichung der "Einheit von Neuererbewegung und Wissenschaft" in 26
den Plänen "Neue Technik"
. Das war eine Frage, die vor allem die Wissenschaft anging,
die sich auf die unmittelbaren Bedürfnisse der sozialistischen Volkswirtschaft einstellen mußte. Das Auftreten Walter Ulbrichts auf der 2. Plenartagung des Forschungsrates der DDR im November 1962 unterstrich die Bedeutung, die Partei und Regierung der Verwandlung der Wissenschaft in eine unmittelbare Produktivkraft beimaßen und die sich in der Feststellung ausdrückte, daß höchste Leistungen in der Wissenschaft eine politische Auf27 gäbe höchsten Ranges seien. Den staatlichen Organen stellte man die Aufgabe, die komplexe Leitung des Kampfes um den wissenschaftlich-technischen Höchststand zu organisieren. Die Aus- und Weiterbildungseinrichtungen wurden darauf orientiert, Produktions-
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ingenieure, Wissenschaftler-Organisatoren und Wissenschaftler-Forscher heranzubilden. Im Brief des ZK der SED an alle Grundorganisationen zur Vorbereitung des Volkswirtschaftsplans 1963 erging die Aufforderung, die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten konsequent auf die Belange des Plans zu konzentrieren, die Ergebnisse unverzüglich in die Produktion zu überführen und dabei die Erfahrungen 29 des Produktionsaufgebots, die große Kraft der sozialistischen Kollektive zu nutzen. Diese hohen Aufgaben konnten gestellt werden, weil durch das Produktionsaufgebot der
26 Derselbe, Zum ökonomischen System des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik, Bd 1, Berlin 1968, S. 82. 27 Neues Deutschland (Ausg. B) v. 4.12.1962. 28 Ulbricht, Walter. Zum ökonomischen System, S. 80 f. 29 Ebenda, S. 91, 97.
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Boden bereitet worden war, weil das Erlebnis des Klassenkampfes und das Ringen um ideologische Klarheit auch die subjektiven Voraussetzungen für einen mächtigen Aufschwung im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben sowie in der wissenschaftlichen Tätigkeit bereitet hatte. Die Büromaschinenbauer von Sömmerda hatten mit ihrem Aufruf den Rahmen noch weiter gesteckt und auf die Gestaltung eines kulturvollen Lebens orientiert. Bereits ini Juni 1962 gaben die Arbeiter während der 4. Arbeiterfestspiele in Erfurt ein Beispiel dafür, daß die künstlerische Selbstbetätigung zum festen Bestandteil des Lebens vieler Kollektive geworden war. Die Darbietungen der Laienkünstler wollten als Beitrag, als künstlerische Hilfe bei der Lösung herangereifter politischer und ideologischer sowie ökonomischer Fragen verstanden sein. Die SED orientierte die Künstler auf das Grunderlebnis der Zeit, das Werden der sozialistischen Menschen in der sozialistischen Gemeinschaft, auf die Herausbildung der neuen Persönlichkeit in der Arbeit und im Prozeß der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Eine große Hilfe bei der Diskussion über die künstlerische Bewältigung der Probleme des sozialistischen Aufbaus spielte der Roman der sowjetischen Schriftstellerin G. J . Nikolajewa "Schlacht unterwegs", dessen Aktualität gerade darin bestand, daß die Arbeiter der DDR ihre "Schlacht unterwegs" schlugen. So verknüpftensichKunst, Literatur und kulturelle Massenarbeit immer "inniger mit der Arbeit und dem Kampf der Millionen Werktätigen unserer Republik für die Lösung 30 der politischen und ökonomischen Hauptaufgaben..." Das Bild rundet sich ab, wenn in den großen Zusammenhang zwischen dem Produktionsaufgebot und den gesamtgesellschaftlichen Wandlungen der Wandlungsprozeß im Leben 31 32 der werktätigen Frauen , die Fortschritte bei der Erziehung der Schuljugend und die Organisierung der guten genossenschaftlichen Arbeit in der Landwirtschaft einbezogen 33 werden. Das Produktionsaufgebot, ausgelöst, um die der DDR durch den westdeutschen Imperialismus unter den Bedingungen der offenen Grenze zugefügten ökonomischen und ideologischen Schäden zu überwinden, leitete Veränderungen von gesamtgesellschaftlicher Dimension
30 Bericht des Zentralkomitees an den VI. Parteitag der SED. S. 76 ff. 31 Vgl. Kommunique des Politbüros des ZK der SED "Die Frauen - der Frieden und der Sozialismus" v. 23.12.1961. 32 Vgl. die Konferenz "Schule und Nation" am 22./23.9.1962 in Erfurt. 33 Vgl. VII. Deutscher Bauernkongreß vom 9. bis 11.3.1962 in Magdeburg.
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ein und führte im Verlauf nur eines Jahres zu großen Fortschritten bei der Stabilisierung der Grundlagen des Sozialismus. Auf dieser festen Basis wurden Gedanken von historischer Tragweite geboren, die sich, theoretisch verdichtet, im Entwurf des P r o gramms der SED niederschlugen. Die Programmdiskussion, die dritte große Aussprache im Jahre 1962, und die durch sie aktivierte Wettbewerbsbewegung machten offensichtlich, daß die Werktätigen der Deutschen Demokratischen Bepublik darauf vorbereitet waren, die im Programm der SED formulierten hohen Ziele des umfassenden sozialistischen Aufbaus zu verwirklichen. Der Versuch einer Verallgemeinerung der sich zwischen dem 13. August 1961 und dem VI. Parteitag der SED vollziehenden gescüschaftlichen Entwicklungsprozesse und des Wachstumsprozesses der Arbeiterklasse führt zu der Erkenntnis, daß wir es mit zwei miteinander verflochtenen Prozessen zu tun haben. Erstens wurden die in den vorausgegangenen zehn Jahren geschaffenen Grundlagen des Sozialismus stabilisiert. Im Vordergrund stand das Ziel, die schwersten Auswirkungen des imperialistischen Wirtschaftskrieges zu Uberwinden und dabei im Vorwärtsschreiten die rasche Entwicklung der Produktivkräfte zu sichern. Zu diesem Zweck mußte mit höchstmöglichem Tempo die neue Technik der Produktion nutzbar gemacht, die Wissenschaft auf die Bedürfnisse der Volkswirtschaft orientiert und das Niveau der Planung und Leitung der ökonomischen sowie wissenschaftlich-technischen Entwicklung gehoben werden. Zweitens mußte nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse die Strategie und Taktik des umfassenden sozialistischen Aufbaus erarbeitet werden. Die Führung der SED bestimmte den historischen Platz des Sieges der sozialistischen Produktionsverhältnisse im Übergangsprozeß vom Kapitalismus zum Sozialismus und orientierte auf den umfassenden Aufbau der sozialistischen Gesellschaft als den Weg zum Sieg des Sozialismus in der DDB. Die Definition des Sozialismus im Programm des VI. Parteitags der SED vermittelte der Arbeiterklasse und allen Werktätigen eine klare Vorstellung vom Sozialismus und von seinen Erfordernissen. In ihr fanden "das theoretische Denken und die wissenschaftliche Politik der Partei ihren bis dahin höchsten Ausdruck" 3 4 . Zwischen beiden Prozessen bestand ein enger Zusammenhang. Die Werktätigen hatten durch ihre Produktionsleistungen die DDR gestärkt und damit das sichere Fundament für den weiteren gesellschaftlichen Fortschritt geschaffen. Aber sie konnten das nur tun, weil die SED ihrem Handeln Ziel und Bichtung gab, weil die Lösung der Tagesaufgaben zunächst beim fortgeschrittenen Teil der Arbeiterklasse und dann bei immer größeren Teilen der
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Werktätigen mit einer klaren Vorstellung von den neuen Erfordernissen der Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus sowie von der nächsten Periode des sozialistischen Aufbaus in der DDR verbunden war. Die enge Verflechtung beider Prozesse und ihre Lösung unter Führung der SED kennzeichneten den Übergang vom Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse zum umfassenden Aufbau des Sozialismus in der DDH. Das integrierende Element in diesem einheitlichen Prozeß - von dem Walter Ulbricht auf der 14. Tagung des ZK der SED im November 1961 gesagt hatte, daß es im Zusammenhang mit der Perspektive und der Ausarbeitung des sozialistischen Weges das Neue sei - war die enge Verbindung der gesamten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Tätigkeit der Menschen mit ihrer sozialistischen Erziehung 35 und Entwicklung.
Die Strategie und Taktik des umfassenden sozialistischen Aufbaus,
eine stabile materiell-technische Basis' des Sozialismus und ein hoher Bewußtseins.stand der Arbeiterklasse - das waren die entscheidenden Bedingungen für das Fortschreiten zur entwickelten sozialistischen Gesellschaft und für die erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem Imperialismus. Diese Bedingungen sind in ihrer Gesamtheit engstens mit der Entwicklung der führenden Arbeiterklasse zwischen dem 13. August 1961 und dem VI. Parteitag der SED 1963 verknüpft. Der VI. Parteitag der SED konnte einschätzen, daß die Arbeiterklasse ihre historische Mission als Schöpfer der sozialistischen Gesellschaftsordnung erfolgreich verwirklicht und ihr Klassenbewußtsein, ihre politische Beife und Organisiertheit einen hohen Grad erreicht hatten. 3 6 Der feste Zusammenschluß zunächst des fortgeschrittenen Teils der Arbeiterklasse, dann immer größerer Teile um die SED, ihre organisatorische Einheit und Geschlossenheit in den Klassenorganisationen und Kollektiven, war die Gewähr für die Entwicklung der Masseninitiativen. Die hohe Organisiertheit der Arbeiterklasse gab den noch Schwankenden Halt, stärkte das Vertrauen der Verbündeten in die Politik der SED und trug während der gemeinsamen Aktionen das Element der höheren Organisiertheit auch in die Reihen der Intelligenz und der Genossenschaftsbauern. Verhältnismäßig schnell wuchs unter den Bedingungen des Produktionsaufgebots die Anzahl der Arbeiter, die das Klassenwesen ihres ökonomischen Kampfes erkannten und als Vertreter der gesamten Klasse auftraten. Zu ihnen zählten vor allem die 35 000 Werktätigen - vorwiegend junge Arbeiterinnen und Ar-
35 Ulbricht, Walter. Der XXII. Parteitag der KPdSU und die Aufgaben in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1961, S. 58 f. 36 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd 8, S. 397.
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M a n f r e d B e n s i n g / E l l y Heilbecker
b e i t e r - , die von August 1961 b i s zum VI. P a r t e i t a g in die P a r t e i d e r A r b e i t e r k l a s s e aufgenommen w u r d e n . " " Das Produktionsaufgebot w a r 1961/1962 die wichtigste F o r m des K l a s s e n k a m p f e s d e r A r b e i t e r in d e r DDR. Im Ringen um s e i n e Verwirklichung zeigten s i c h deshalb auch a m k l a r s t e n die P r o b l e m e und E r g e b n i s s e d e r Bewußtseinsentwicklung. Die A r b e i t e r e r l e b t e n die K r a f t i h r e r K l a s s e . Schon d e r 13. August 1961 hatte ihnen d e m o n s t r i e r t , wie s t a r k die A r b e i t e r k l a s s e im Bündnis m i t d e r Sowjetunion und den a n d e r e n s o z i a l i s t i s c h e n L ä n d e r n i s t , daß s i e i h r e Macht zu gebrauchen weiß, um die I n t e r e s s e n des F r i e d e n s gegen den i m p e r i a l i s t i s c h e n A g g r e s s o r , die I n t e r e s s e n d e s g e s e l l s c h a f t l i c h e n F o r t s c h r i t t s gegen alle S t ö r v e r s u c h e d u r c h z u s e t z e n . Das Produktionsaufgebot half entscheidend, d a s Machtbew u ß t s e m d e r A r b e i t e r zu entwickeln, das Lenin in die Worte gefaßt h a t t e : "Die S t a a t s m a c h t - d a s sind w i r . W i r sind d e r H e r r d e r I n d u s t r i e , H e r r d e s G e t r e i d e s , H e r r a l l e r 38 Produkte im L a n d e . " Im Ringen um die Verwirklichung des Produktionsaufgebots w u r d e das s o z i a l i s t i s c h e Klassenbewußtsein d e r A r b e i t e r auf eine h ö h e r e Stufe gehoben. Das ä u ß e r t e s i c h im Streben nach höchsten P r o d u k t i o n s e r g e b n i s s e n , Steigerung d e r A r b e i t s p r o d u k t i v i t ä t und Senkung d e r Selbstkosten, und zwar in zunehmendem Maß m o t i v i e r t durch das V e r a n t w o r tungsgefühl d e r A r b e i t e r a l s B e s i t z e r d e r P r o d u k t i o n s m i t t e l f ü r d e r e n m a x i m a l e Nutzung und M e h r u n g . D i e s e s Bewußtsein entwickelte sich u n t e r O p f e r n und Entbehrungen, die die A r b e i t e r f r e i w i l l i g auf s i c h n a h m e n . Die enge Verbindung zwischen d e r V e r ä n d e r u n g d e s Bewußtseins und p o l i t i s c h e r und ökonomischer Entwicklung in d i e s e r Zeit e r g a b s i c h aus d e r T a t s a c h e , daß die Losungen des Produktionsaufgebots, in denen die g e s e l l s c h a f t l i c h e n E r f o r d e r n i s s e a m k l a r s t e n w i d e r g e s p i e g e l t w u r d e n , nicht auf a d m i n i s t r a t i v e m Wege zu v e r w i r k l i c h e n w a r e n . Dazu w a r e n eine neue Einstellung z u r A r b e i t , die Überwindung a l t e r Gewohnheiten und A r b e i t s m e t h o d e n , eine neue M o r a l notwendig. So e r w i e s s i c h das P r o duktionsaufgebot a l s eine g r o ß e Schule d e r m o r a l i s c h e n E r z i e h u n g d e r W e r k t ä t i g e n . M o r a l i s c h e W e s e n s z ü g e , wie s i e die s o z i a l i s t i s c h e A r b e i t e r k l a s s e auszeichnen - die T r e u e zum M a r x i s m u s - L e n i n i s m u s , d e r E i n s a t z d e r P e r s o n f ü r die I n t e r e s s e n d e r K l a s s e , die bewußte Disziplin und k a m e r a d s c h a f t l i c h e Hilfe, d e r Haß gegen die Feinde d e s S o z i a l i s m u s und d e r p r o l e t a r i s c h e I n t e r n a t i o n a l i s m u s - , v e r l i e h e n ü b e r a l l d o r t , wo s i e s i c h u n t e r dem Einfluß d e r SED d u r c h s e t z t e n , den Massenbewegungen einen ä u ß e r s t dynamischen C h a r a k t e r , f ü r den j e d e r E r f o l g Ausgangspunkt f ü r neue, h ö h e r e Leistungen sein konnte. 37 38
B e r i c h t d e s Z e n t r a l k o m i t e e s an den VI. P a r t e i t a g d e r SED, S. 97. L e n i n . W . I . . Schlußwort zum B e r i c h t ü b e r d i e gegenwärtige Lage, in: W e r k e , Bd 27, B e r l i n 1960, S. 489.
Probleme der sozialistischen Klassenentwicklung
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Die volkswirtschaftlichen und politischen Aufgaben mußten auch nach dem 13. August 1961 unter den Bedingungen des verschärften Klassenkampfes gegen den westdeutschen Imperialismus und Militarismus gelöst werden. Das schloß die Organisation des zuverlässigen Schutzes der DDR ein. Es war nicht möglich,, die DDR zuerst ökonomisch und dann militärisch zu stärken. Beide Aufgaben Mußten zu gleicher Zeit angepackt werden. Deshalb war die Diskussion über politisch-ideologische Grundfragen in den Parteiorganisationen der Produktionsbetriebe und in den Arbeitskollektiven zunehmend mit solchen über die wachsende Wehrbereitschaft der Arbeiterklasse verbunden. Viele junge Arbeiter stärkten freiwillig, aus der E r kenntnis ihrer Klassenpflicht, die bewaffneten Organe der DDR. Aber was noch wesentlicher war: Die sozialistische Wehrerziehung der Arbeiterklasse bildete eine wichtige Voraussetzung dafür, daß 1962 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt werden konnte. Die Gesellschaft für Sport und Technik übernahm eine hohe Verantwortung bei der militärischen Vorbereitung der Arbeiterjugend auf den Eintritt in die Nationale Volksarmee. Mit der Einstellung der Arbeiterklasse auf die Verteidigung der DDR wurde zugleich ein entscheidender Aspekt ihrer Entwicklung als internationalistische Klasse berührt. Nach dem 14. Plenum stellte das ZK der SED in den Mittelpunkt seiner ideologischen Tätigkeit die intensive Nutzung sowjetischer Erfahrungen für die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die beschleunigte wissenschaftlich-technische Entwicklung und die wissenschaftliche Durchdringung des Produktionsprozesses. Eine höhere Stufe der internationalistischen Haltung der Arbeiterklasse war aber nicht nur zur Erfüllung der Gegenwartsaufgaben unerläßlich. Sie wurde durch die internationalen Entwicklungstendenzen des Sozialismus, die sozialistische wirtschaftliche Integration und Arbeitsteilung und die neuen Erfordernisse der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus gebieterisch auf die Tagesordnung gesetzt. Im Produktionsaufgebot wurde ein höherer Grad der Verbindung von persönlichen, kollektiven und gesellschaftlichen Interessen erreicht. Die Arbeiterklasse und die anderen Werktätigen hatten im Produktionsaufgebot Opfer und Entbehrungen auf sich genommen, um die Lebensinteressen der gesamten Gesellschaft zu befriedigen. Mit dem Wettbewerb zu Ehren des VI. Parteitags begann die SED den Grundsatz zu verwirklichen: "Was der Gesellschaft nützt, muß auch für den Betrieb und den einzelnen von Vorteil sein." Die Entwicklung der Arbeiterklasse war 1961/1962 durch eine neue Qualität in der Verbindung von körperlicher und geistiger Arbeit charakterisiert. Schon vor dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse war das Wirken der fortgeschrittenen Teile der Arbeiterklasse dadurch gekennzeichnet, daß sie auf vielfältige Weise am politischen Leben teilnahmen, in politische und ökonomische Entscheidungsprozesse einbezogen wurden, sich
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Manfred Bensing/Elly Heilhecker
qualifizierten und schöpferische geistige Arbeit im Dienste der ständigen Verbesserung der Produktion leisteten. Der Stand der Produkt!vkrä fteentwicklung, die Erfordernisse des wissenschaftlich-technischen Fortschritts übten nun dahingehend einen Zwang aus, daß sich die Arbeiter immer stärker mit den wissenschaftlichen Prozessen am Arbeitsplatz auseinandersetzen mußten. Die Losung, die Arbeitsproduktivität durch den wissenschaftlichtechnischen Fortschritt zu steigern und den Plan "Neue Technik" zu erfüllen, bewirkte eine neue Qualität in der Verbindung von körperlicher und geistiger Arbeit. Erstens verlangte die neue Technik am Arbeitsplatz höhere Fähigkeiten und Kenntnisse, wenn sie rationell genutzt werden sollte. Die Arbeiter mußten sich wissenschaftliche Grundlagenkenntnisse aneignen und ihre praktische Anwendung erlernen. Zweitens war der Aufruf des ZK der SED zur bewußten Durchsetzung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus nicht ohne Einsicht in volkswirtschaftliche Zusammenhänge, ohne Aneignung politischökonomischer Kenntnisse zu verwirklichen. Die Konzeptionen besonders der zweiten Etappe des Produktionsaufgebots zeigen deutlich das Bewußtwerden dieser neuen Aufgaben. Unsere Betrachtung führt zu der Erkenntnis, daß die Politik der SED auf die Entwicklung aller Seiten des Wachstumsprozesses der Arbeiterklasse, auf die komplexe Weiterentwicklung aller jener Eigenschaften, die die sozialistische Arbeiterklasse charakterisieren, gerichtet war. Deutlich zeichneten sich die Konturen der führenden Klasse der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ab. Die Arbeiterklasse stellte sich bis zum VI. Parteitag der SEQ,nicht nur politisch-ideologisch auf die kommenden Aufgaben ein, sondern war auch auf deren Verwirklichung vorbereitet. Die großen produktiven Potenzen des Sozialismus, die seine historische Überlegen39 heit als fortgeschrittenste Gesellschaftsordnung begründen , waren deutlich sichtbar geworden. Sie uneingeschränkt wirksam zu machen bezeichnete der VI. Parteitag der SED als die Grundfrage des Übergangs zur entwickelten sozialistischen Gesellschaft.
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Ulbricht. Walter, Zum ökonomischen System des Sozialismus in der DDR, Bd 2, Berlin 1968, S. 241.
HORST RAKOWSKI
Die Entwicklung der wirtschaftlichen sozialistischen Integration zwischen der D D R und der U d S S R (Juni 1964 bis Dezember 1968)
Mit dem Abschluß des Vertrages über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Demokratischen Repbulik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 12. Juni 1964 wurde eine qualitativ neue Entwicklungsetappe im Prozeß der wirtschaftlichen sozialistischen Integration eingeleitet. In den folgenden Jahren wurde der Integrationsprozeß zielstrebig und planmäßig von den marxistisch-leninistischen P a r teien und den Regierungen beider Staaten organisiert und gefördert. Das Wesen dieses geschichtlichen Prozesses wird im Unterschied zu den vorhergehenden Entwicklungsetappen der ökonomischen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern durch folgende Merkmale charakterisiert: durch die langfristige Abstimmung und Koordinierung der Entwicklungsrichtungen der Volkswirtschaften, insbesondere in den führenden Zweigen; durch die Bildung der Paritätischen Regierungskommission als lenkendes, organisierendes und kontrollierendes Organ beider sozialistischer Staaten zur Gestaltung des wirtschaftlichen Integrationsprozesses; durch die direkte Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft zur planmäßigen Forschung; durch die direkte Zusammenarbeit der Industrieministerien, der ihnen unterstellten Wirtschaftseinheiten und anderer zentraler staatlicher Organe; durch die stärkere Vereinigung der geistigen und materiellen Potenzen beider Länder im Interesse der Errichtung der sozialistischen und der kommunistischen Gesellschaftsord- • nung, f ü r die Festigung und Stärkung der sozialistischen Staatengemeinschaft.''' Diese neuen Merkmale der wirtschaftlichen Integration zwischen der DDR und der UdSSR bildeten sich nach dem Abschluß des Freundschaftsvertrages in folgenden Etappen 2 heraus : Die erste Etappe beginnt mit dem Abschluß des Freundschaftsvertrages im Juni 1964
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Vgl. Ulbricht. Walter. Schlußfolgerungen aus den Beratungen der Partei- und Regierungsdelegationen der DDR und der UdSSR, Dietz Verlag, Berlin 1969, S. 5. Anmerkung. Es handelt sich hier um einen ersten Versuch der Periodisierung der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR nach dem Abschluß des Freundschaftsvertrages, der als Diskussionsvorschlag zu betrachten ist.
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Horst Rakowski
und endet mit den Verhandlungen der Partei- und Reglerungsdelegationen beider Länder vom September 1965 sowie mit der Unterzeichnung des langfristigen Handelsabkommens am 3. Dezember 1965. Der Beginn der neuen Entwicklungsetappe wird in den Grundsätzen des Freundschaftsvertrages deutlich. Mit der Festlegung im Artikel 1, daß sich beide Staaten in ihren gegenseitigen Beziehungen von den hohen Prinzipien des sozialistischen Internationalismus leiten 3 lassen, betonen beide Seiten ausdrücklich den Klassencharakter dieser Beziehungen. Das Prinzip der Annäherung und Abstimmung der nationalen Volkswirtschaften, im Artikel 8 4 des Vertragswerkes festgelegt , fußt auf Lenins These von der notwendigen Annäherung g der sozialistischen Nationen.
Die wirtschaftliche Verflechtung ist als materielle Basis
zugleich das Kernstück der sozialistischen Integration. Sie wurde in dem Maße verwirklicht, wie dafür in der DDR und der UdSSR die objektiven und subjektiven Bedingungen herangereift waren. Mit der erstmaligen völkerrechtlichen Fixierung dieses Grundsatzes in einem Vertrag zwischen zwei sozialistischen Staaten entwickelten die Regierungen der DDR und der g UdSSR die Prinzipien für die Gestaltung ihrer gegenseitigen Beziehungen weiter.
Ein qua-
litativer Umschlag in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit beider Länder fand in der Etappe der Ausarbeitung und des Abschlusses des bis dahin größten zweiseitigen Handelsabkommens in der Geschicte des Welthandels seine markanteste Verkörperung. Bei der Vorbereitung dieses Abkommens wurden von beiden Seiten völlig neue Formen der Zusammenarbeit angewandt. Es ging nicht mehr nur um eine Abstimmung der gegenseitigen Warenlieferungen, sondern um deren langfristige Koordinierung vor der Ausarbeitung und Bestätigung der jeweiligen Perspektivpläne, die gleichzeitig eine Vertiefung der sozialistischen Arbeitsteilung zwischen beiden Ländern ermöglichte. Darum waren auch erstmalig neben den Planungs- und Außenhandelsorganen Spezialisten der verschiedenen Industriezweige an der Ausarbeitung des langfristigen Handelsabkommens beteiligt. Gemeinsam wurde von den Experten der zukünftige Weg jeder einzelnen Erzeugnisart, 3
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Vgl. Vertrag über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR, in: Schriftenreihe des Staatsrates der DDR, 1964, Nr. 2, S. 7 ff. Vgl. grundsätzlich hierzu Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR, Dietz Verlag, Berlin 1969, S. 468 ff. Vgl. Zelt. Johannes/ Reißig, Karl. Die Einheit von Nationalen und Internationalen in den Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR, Deutsche Außenpolitik, Sonderheft 50 Jahre DeutschSowjetische Beziehungen 1917-1967, 1967, S. 70 ff. Vgl. Vertrag über Freundschaft . . . , a . a . O . , S. 9-10. Vgl. Lenin, W . I . . Über die Losung der vereinigten Staaten von Europa, in: Derselbe, Werke, Bd 21, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 345. Vgl. Freundschaft, Zusammenarbeit, Beistand, Grundsatzverträge zwischen den sozialistischen Staaten, Dietz Verlag, Berlin 1968.
Wirtschaftliche sozialistische Integration
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angefangen von der Forschung, (Iber die Spezialisierung und Kooperation der Produktion, bis zum jeweiligen Käufer skizziert. Diese Form der Zusammenarbeit ermöglichte es, flir beide Partner die vom volkswirtschaftlichen Standpunkt vorteilhafteste Lösung zu finden. Darum war das langfristige Handelsabkommen fUr beide sozialistische Staaten das konkrete Programm für die Gestaltung der direkten Zusammenarbeit in Wissenschaft und Produktion 7 in den Jahren 1966 bis 1970. Es half der DDR, ihre Volkswirtschaft kontinuierlich zu entwickeln, und stärkte die Stellung des sozialistischen deutschen Staates in der politischen und ökonomischen Auseinandersetzung mit dem westdeutschen Imperialismus. Das langfristige Handelsabkommen ermöglichte es, in Verbindung mit den Handelsabkommen mit anderen sozialistischen Ländern, die Hallstein-Doktrin auf wirtschaftlichem Gebiet in breit e r Front zu durchbrechen. Die zweite Etappe des wirtschaftlichen Integrationsprozesses zwischen beiden Ländern in dieser Zeit reicht von September/Dezember 1965 bis zur Bildung der Paritätischen Regierungskommission am 16. März 1966. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß mit dem Abschluß des Regierungsabkommens Uber die Erweiterung und Vertiefung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit auf einigen wichtigen Gebieten von Wissenschaft und Technik vom 24. September 1965 die gemeinsame planmäßige Forschung in Wissenschaft und Technik durch die Bildung gemeinsamer Forschungsgruppen begann. Mit den Vereinbarungen zur Vertiefung der sozialistischen Arbeitsteilung in der materiellen Produktion wurde der Prozeß eingeleitet, aus dem sich in der Folgezeit die direkten Beziehungen zwischen den Industrieministerien, den ihnen unterstellten Wirtschaftseinheiten und anderen zentralen Staats- und Wirtschaftsorganen entwickelten. Mit der Vereinbarung Uber die Bildung eines gemeinsamen Wirtschaftsausschusses für ökonomische und wissenschaftlichtechnische Zusammenarbeit und der Unterzeichnung des Abkommens über die Gründung der Paritätischen Regierungskommission wurde das Organ geschaffen, das im Auftrage der beiden Regierungen den Prozeß der wirtschaftlichen sozialistischen Integration zwischen beiden Ländern lenkt, organisiert und kontrolliert. Die dritte Etappe des wirtschaftlichen Integrationsprozesses beginnt mit der Aufnahme der Tätigkeit der Paritätischen Regierungskommission im März 1966 und endet mit ihrer 5. Tagung im Dezember 1968. Sie wird vor allem durch die in den Jahren 1966 bis 1968 getroffenen Vereinbarungen der Partei- und Regierungsdelegationen zur Vertiefung der Zusammenarbeit in Wissenschaft und Produktion charakterisiert. Gestützt auf diese
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Vgl. Abrassimow. P . A . . Die Sowjetmenschen freuen sich aufrichtig über die Erfolge der Werktätigen der brüderlichen DDR, Horizont, Berlin 1969, H. 23, S. 3.
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Vereinbarungen, wurden von der Paritätischen Regierungskommission, beginnend mit der 1. Tagung im Juni 1966, die Grundsatzregelungen für die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit nach ökonomischen Kriterien, für die Zielstellung, den Inhalt und die Organisation der direkten Beziehungen zwischen den Industrieministerien und anderen zentralen Staats- und Wirtschaftsorganen, fUr die Koordinierung des Perspektivplanes 1971 bis 1975, für die Gestaltung der Kooperation und Spezialisierung der Produktion und andere Probleme bis zur 5. Tagung im Dezember 1968 im wesentlichen ausgearbeitet und in Kraft gesetzt.
Diese Etappe wird weiterhin gekennzeichnet durch die Perspektivplankoordinie-
rung sowie durch die Vorbereitung des langfristigen Handelsabkommens für die Jahre g 1971 bis 1975 , durch den Abschluß strategischer Regierungsabkommen für die Jahre 1971 bis 1975 und Uber diese Jahre hinaus, die in dem kommenden Perspektivplanzeitraum für beide Länder entscheidende Eckpunkte in der weiteren Entwicklung der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Beziehungen gesetzt haben. Die vierte Etappe in der wirtschaftlichen Integration zwischen beiden Ländern beginnt mit der Vorbereitung und der Durchführung des Besuches der Partei- und Regierungsdelegation der DDR in der UdSSR sowie mit der 6. Tagung der Paritätischen Regierungskommission im Juli 1969. In dieser Zeit wurde begonnen, komplexe Prozesse zur'Gestaltung der ökonomischen Systeme, vor allem der Planungssysteme, und neue Methoden der sozialistischen Wirtschaftsführung in die Zusammenarbeit einzubeziehen. Das fand auch darin seinen Ausdruck, daß Lösungen zur Weiterentwicklung von Wissenschaft und Produktion gemeinsam erarbeitet werden, um auf ausgewählten Gebieten Pionier- und Spitzenleistungen in Form von hochproduktiven Technologien und Verfahren, in der Entwicklung und Anwendung von neuen Werkstoffen sowie kompletten Maschinensystemen zu erzielen. Der Freundschaftsvertrag - die völkerrechtliche Grundlage für die Gestaltung der wirtschaftlichen sozialistischen Integration zwischen der DDR und der UdSSR Die Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft traten zu Beginn der sechziger Jahre in eine neue Etappe ihrer Entwicklung ein. Die Werktätigen der UdSSR gingen unter Führung der KPdSU dazu über, die materielle-technische Basis des Kommunismus zu
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Vgl. Kommuniques über die Besuche von Partei- und Regierungsdelegationen der DDR in der UdSSR, in: Schriftenreihe des Staatsrates der DDR, 1964, H. 2; in: Keine Kraft kann unser BUndnis erschüttern, Dietz Verlag, Berlin 1965; in: Neues Deutschland, Berlin, 12. Sept. 1966, 25. März 1967, 13. Dezember 1967, 1.-2. Juni 1968. Vgl. Bedeutsame Regierungsabkommen DDR - UdSSR abgeschlossen, Neues Deutschland, Berlin, 14. August 1970. Kommunique Uber den Abschluß des Abkommens über den Warenaustausch und Zahlungen zwischen der DDR und der UdSSR für die Jahre 1971 bis 1975, Neues Deutschland, 13. November 1970.
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schaffen. In den meisten anderen europäischen sozialistischen Ländern waren wesentliche Aufgaben des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus erfüllt worden. Die sozialistischen Produktionsverhältnisse hatten gesiegt. Die Werktätigen dieser Länder gingen unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Parteien zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Qesellschaft Uber. Die gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR und der UdSSR, die Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution und die sich verschärfende Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus in dieser Zeit machten den Abschluß eines neuen Vertrages zwischen beiden Ländern notwendig.**' Ausgehend von diesen objektiven Erfordernissen, wurde von den Partei- und Staatsführungen beider Länder am 12. Juni 1964 in Moskau der "Vertrag über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" unterzeichnet. In den Jahren, die seit der Unterzeichnung des Staatsvertrages vom 20. September 1955 zwischen der DDR und der UdSSR vergangen waren, hatten sich in beiden Ländern und in ihren zwischenstaatlichen Beziehungen bedeutsame gesellschaftliche Veränderungen vollzogen. Der Staatsvertrag hatte der DDR auf dem Gebiet der Außenwirtschaft geholfen, die volkswirtschaftlichen Aufgaben zu lösen; e r hatte dazu beigetragen, die wirtschaftlichen Störmaßnahmen des westdeutschen Imperialismus zu durchkreuzen und die internationale Autorität des Arbeiter-und-Bauern-Staates bedeutend zu stärken. Er hatte die ihm gestellte historische Aufgabe, zur Vertiefung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Werktätigen der DDR und der UdSSR, zur Erweiterung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und zum Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse in der DDR beizutragen, erfüllt. Der Freundschaftsvertrag, auf den Prinzipien des sozialistischen Internationalismus beruhend, dient in seiner außenpolitischen Zielsetzung der Sicherung des Friedens in Europa, insbesondere der Zügelung der aggressiven, revanchistischen und reaktionären
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Vgl. Breshnew. I . L . . Unsere Zeit im Zeichen des wachsenden Einflusses des Sozialismus, Dietz Verlag, Berlin 1966; Kossygin, A . N . , Über den Entwurf der Direktiven zum Fünfjahrplan 1966-1970, Dietz Verlag, Berlin 1966; Ulbricht,Walter, Die gesellschaftliche Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik bis zur Vollendung des Sozialismus, Dietz Verlag, Berlin 1967; Autorenkollektiv, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd 8, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 303 f f . : Müller. Hans/Reißig, Karl, Wirtschaftswunder DDR. Ein Beitrag zur Geschichte der ökonomischen Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Dietz Verlag, Berlin 1968, S. 365 ff.
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Kräfte des westdeutschen Imperialismus und Militarismus. Die in den Artikeln 4 und 5 formulierten Vereinbarungen über die Unantastbarkeit der Staatsgrenzen der DDR und die gegenseitige Gewährung des militärischen Beistandes stellen Grundfaktoren der europäischen Sicherheit dar. Damit wurden alle Spekulationen der reaktionären Kräfte Westdeutschlands von einer möglichen Eroberung, vom Abkaufen und von einer politischen und wirtschaftlichen Isolierung der DDR eindeutig zurückgewiesen.''''1' Der Freundschaftsvertrag leitete zwischen den Völkern der UdSSR und dem Volk der DDR eine qualitativ neue Etappe in den gegenseitigen zwischenstaatlichen Beziehungen ein. Sie ist auf wirtschaftlichem und wissenschaftlich-technischem Gebiet gekennzeichnet durch eine enge Zusammenarbeit in den verschiedenen Bereichen der Wissenschaft zur gemeinsamen Lösung der herangereiften Aufgaben der gesellschaftlichen Entwicklung, durch die Koordinierung und Abstimmung der Perspektiv- und Volkswirtschaftspläne beider Länder zur Entwicklung ihrer Volkswirtschaften und für die Gestaltung der internationalen wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit. Sie ist gekennzeichnet durch den Abschluß langfristiger Vereinbarungen zur Vertiefung der Kooperation und Spezialisierung der Produktion nach ökonomischen Kriterien und durch die perspektivische Abstimmung der Entwicklungsrichtungen entscheidender Zweige der Industrie. Dabei bildet die sich ständig vertiefende Zusammenarbeit zwischen beiden marxistisch-leninistischen Parteien in Theorie und Praxis das Hauptkettenglied. Der Freundschaftsvertrag ist ein Programm für die Gestaltung der planmäßigen, langfristigen, direkten Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Er "gibt der Freundschaft zwischen unseren Staaten Richtung und Inhalt und zugleich eine langfristige sichere P e r spektive. Diese Perspektive reicht weit hinein bis in das letzte Jahrzehnt unseres Jahrhunderts und . . . auch über das Jahr 2000 hinaus."
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Die historische Bedeutung der Vereinbarungen der Partei- und Regierungsdelegationen zur wirtschaftlichen und wissenschaftlichtechnischen Zusammenarbeit vom September 1965 "Die große Aufgabe besteht unter anderem darin", erklärte Walter Ulbricht auf der Freundschaftskundgebung im September 1965 in Moskau, "durch die entschlossene und kühne Weiterentwicklung der sozialistischen Ökonomie, Demokratie und Kultur die sozialistischen Staaten anziehender zu machen, damit sie als Hauptkraft des Friedens und des
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Vgl. Winzer, Otto. Eine neue Etappe der Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR, Einheit 1964, H. 7, S. 3 - 4 . Ulbricht. Walter, Die Sicherung des Friedens ist für unser Volk eine Frage von Sein oder Nichtsein, in: Schriftenreihe des Staatsrates der DDR, 1964, Nr. 2, S. 45.
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13 Fortschritts noch stärker in der ganzen Welt wirksam werden." Die wirtschaftliche and wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern mußte einen wesentlich größeren Beitrag zur Herausbildung hocheffektiver Strukturen der Volkswirtschaft in beiden Ländern leisten. "Die Perspektive der weiteren Entwicklung unserer Beziehungen ist klar", erklärte A . J . Mikojan. "Es kommt darauf an, die Beziehungen zu verstärken, neue Formen der Zusammenarbeit zu suchen, zu finden und anzuwenden." 14 Bei den Konsultationen und Beratungen der Partei-% und Begierungsdelegationen zur Gestaltung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit standen drei Hauptprobleme im Vordergrund: erstens die Einleitung von Maßnahmen zur Vervollkommnung der Formen und Methoden der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, zweitens die Einleitung von Maßnahmen zur Vertiefung der bilateralen Spezialisierung und Kooperation der Produktion sowie die Behandlung von Problemen, die fUr den Abschluß des langfristigen Handelsabkommens fttr den Zeitraum von 1966 bis 1970 noch zu lösen waren, und drittens Probleme, die sich aus der Bildung der Paritätischen Begierungskommission ergaben. Das Regierungsabkommen vom 24. September 1965 Die Wissenschaft entwickelte sich Anfang der sechziger Jahre in beiden Ländern zu einer unmittelbaren Produktivkraft. Von ihr gingen entscheidende Impulse für die rasche Entwicklung der Produktivkräfte aus. Die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse und ihre Verwertbarkeit bei der Herausbildung hocheffektiver Strukturen der Volkswirtschaften beeinflußten den gesellschaftlichen Fortschritt beider Länder. . Die sich aus dieser Entwicklung ergebenden hohen geistigen, materiellen und finanziellen Anforderungen waren von keinem sozialistischen Land völlig allein zu bewältigen. 1 5 Die begrenzten Forschungs- und Entwicklungskapazitäten der DDR erforderten eine starke Konzentration der Kräfte und Mittel sowie eine bedeutende Vertiefung der internationalen Wissenschaftskooperation mit den sozialistischen Ländern, insbesondere mit der UdSSR, um das erforderliche Entwicklungstempo der Produktivkräfte entsprechend den Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution zu gewährleisten. Deshalb war im Programm der
13 Derselbe. Kühne Weiterentwicklung unserer Gesellschaft stärkt Rolle der sozialistischen Staaten, in: Keine Kraft kann unser Bündnis erschüttern, Berlin 1965, S. 19. 14 Mikojan. A . J . . Rede auf dem Frühstück im Kreml, in: Pravda v. 19.9.1965. 15 Vgl. Ulbricht. Walter. Die Deutsche Demokratische Republik, die europäische Sicherheit und die Entspannung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 17/18, und Festigen wir die Einheit der internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung, stärken wir den Internationalismus, Dietz Verlag, Berlin 1969, S. 7 ; Alampiev, P . M . . Sozialistisches Weltwirtschaftssystem, Bd 3, Kap. 1, Staatsverlag der DDR, Berlin 1968, S. 13.
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SED vom Januar 1963 festgelegt worden: "Die Deutsche Demokratische Republik strebt die engste Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung, vor allem für die führenden Zweige der Volkswirtschaft und nach Schwerpunkten an, um auf diesem We^e in kürzester Frist den wissen16 schaftlich-technischen Höchststand zu erreichen und mitzubestimmen." Dementsprechend betonten die Partei- und Staatsführungen der DDR und der UdSSR zum Abschluß ihrer Verhandlungen im September 1965, "daß im Interesse der konsequenten Entwicklung der Wissenschaft als Produktivkraft und der maximalen Steigerung der Arbeitsproduktivität neue Formen der Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern in Wissenschaft und Produktion, insbesondere in wichtigen Bereichen der Wissenschaft und Technik, erfor17 derlich sind"
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Diesen Erfordernissen entsprachen beide Partei- und Regierungsdelegationen durch den Abschluß des "Abkommens zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die E r weiterung und Vertiefung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR auf einigen wichtigen Gebieten von Wissenschaft und Technik" vom 24. September 1965. Die direkte Zusammenarbeit der wissenschaftlichen Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen beider Länder auf wichtigen Gebieten der Chemie, Metallurgie, Elektronik, Rechentechnik, Steuerung und Regelung der Produktionsprozesse und auf anderen Gebieten sollte dazu beitragen, beide Länder zu befähigen, durch gemeinsame Anstrengungen den wissenschaftlich-technischen Höchststand in der Welt zu bestimmen bzw. mitzubestimmen. Gleichzeitig sollte die direkte Zusammenarbeit der Forschungsund Entwicklungsinstitute zur Beseitigung ungerechtfertigter Parallelforschungen bzw. vorhandener Überschneidungen sowie zu einer rationelleren sozialistischen Arbeitsteilung in Wissenschaft und Technik führen. 18 Für die Koordinierung und Organisation der wissenschaftlich-technischen Zusammen-
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Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Protokoll des VI. Parteitages der SED, Bd 4, Berlin 1963, S. 341. Kommunique über den Aufenthalt der Partei- und Regierungsdelegation der DDR in der UdSSR, in: Keine Kraft kann unser Bündnis erschüttern, Berlin 1965, S. 50. Vgl. Kommunique über den Aufenthalt der Partei- und Regierungsdelegation der Deutschen Demokratischen Republik in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, in:. Keine Kraft kann unser Bündnis erschüttern, Dietz Verlag, Berlin 1965, S. 49-50; Honecker. Erich. Bericht des Politbüros an die 11. Tagung des Zentralkomitees der SED 15.-18. Dezember 1965, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 12 ff.; Rakowski. Horst. Die Entwicklung der wirtschaftlichen sozialistischen Integration zwischen der DDR und der UdSSR (Juni 1964 bis Dezember 1968), Diss., Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED, 1970 (Ms.), S. 55 ff.
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arbeit zwischen den Ministerien, deren wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen und Betrieben wurde die jetzige Unterkommission für wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit verantwortlich gemacht. Ihr wurden folgende Aufgaben übertragen: 1. Grundsatzregelungen für die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zu erarbeiten. Diese umfassen die allgemeinen Bedingungen für die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, die Grundsätze für die Erteilung von Forschungsaufträgen, die Übergabe von Lizenzen und Mustern, Festlegungen für gemeinsame Patentierungen und die Regelung der sich daraus ergebenden Eigentums- und anderen rechtlichen Fragen; 2. Maßnahmen zur Sicherung des wissenschaftlichen Vorlaufs auf den Gebieten einzuleiten, die für die Meisterung der wissenschaftlich-technischen Bevolution ausschlaggebend sind. Dazu gehören u. a. die Organisation der Zusammenarbeit bei der Ausarbeitung von Prognosen auf strukturbestimmenden Gebieten und die Koordinierung der Pläne der Grundlagenforschung bis zum Abschluß entsprechender Abkommen; 3. Querverbindungen zwischen den Industrieministerien, ihren Forschungseinrichtungen und Betrieben sowie anderen zentralen staatlichen Organen bzw. Forschungseinrichtungen zur Verwirklichung vereinbarter Forschungsvorhaben herzustellen; 4. die Arbeiten zur Realisierung der getroffenen Vereinbarungen von der Forschung bis zur Aufnahme der Produktion zu kontrollieren. Damit sicherte das Abkommen "die direkte und enge Zusammenarbeit wichtiger Institute beider Länder bei der Lösung von Schwerpunkten der Forschung in führenden Industriezweigen nach einem konkret festgelegten Themenplan und vereinbarten Arbeitsverfahren"^. Im Zusammenhang mit dem Abschluß des Abkommens wurde auf dessen Grundlage auch ein Protokoll über die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit der Forschungsinstitutionen unterzeichnet, zu dessen Realisierung die Bildung gemeinsamer Forschungsgruppen vereinbart wurde. Mit dem genannten Abkommen und dem Protokoll, der Verwirklichung der in diesen Dokumenten vorgesehenen direkten Zusammenarbeit zwischen den Forschungseinrichtungen und der Bildung gemeinsamer Forschungskollektive auf entscheidenden Gebieten von Wissenschaft und Technik wie der Chemie, der NE-Metallurgie, der Radioelektronik, der Datenverarbeitung, der BMSR-Technik u. a . wurde eine neue Etappe in der wissenschaftlichtechnischen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern eingeleitet. Es ging nicht mehr nur um den Austausch schon vorhandener Erkenntnisse, sondern um die gemeinsame planmäßige und koordinierte Erarbeitung neuer Erkenntnisse in Wissenschaft und Technik,
19
Honecker. Erich, Bericht des Politbüros an die 11. Tagung des ZK der SED, Berlin 1966, S. 15.
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Horst Rakowski Die Vereinbarungen zur Vertiefung der zwischenstaatlichen Arbeitsteilung in der materiellen Produktion
Die direkte wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit wurde von den Partei- und Regierungsdelegationen der DDR und der UdSSR von vornherein unmittelbar auf die materielle Produktion ausgerichtet. Nur mit Hilfe einer sich ständig vertiefenden zwischenstaatlichen Arbeitsteilung in der materiellen Produktion ist es möglich, den Widerspruch zwischen der raschen Ausdehnung des Weltsortiments an Erzeugnissen und der objektiven Notwendigkeit zur Einschränkung des nationalen Produktionssortiments zu lösen. Erst dadurch können die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft wirklich umfassend genutzt, kann eine den Bedingungen der DDR entsprechende Strukturpolitik auf der Grundlage der planmäßigen und proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft durchgeführt sowie die Produktion der Erzeugnisse rationell und kostengünstig gestaltet werden. Die Vertiefung der Arbeitsteilung ist zwischen zwei oder mehreren sozialistischen Ländern nur möglich, wenn die Entwicklung der einzelnen Volkswirtschafts- und Industriezweige ständig aufeinander abgestimmt wird und langfristige vertragliche Abkommen der vorgesehenen Entwicklungsrichtung entsprechen. Mit den abschließenden Konsultationen, die vor der Unterzeichnung des langfristigen Handelsabkommens geführt wurden, entsprachen beide Partei- und Regierungsdelegationen diesem Erfordernis. In das Handelsabkommen wurden langfristige Spezialisierungsvereinbarungen besonders hinsichtlich der Erzeugnisse aufgenommen, bei denen sich durch die historisch gewachsene Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern schon eine gegenseitige Arbeitsteilung herausgebildet hatte. Das traf für die DDR u . a . für den Bau von Schiffen, die Produktion ausgewählter Chemieanlagen und Aggregate, spezialisierter Werkzeug-, Nahrungs-, Genußmittel-, Textil-und polygrafischer Maschinen sowie für 20 Schienenfahrzeuge zu.
Neben diesen traditionellen Spezialisierungsvereinbarungen, die
in das langfristige Handelsabkommen aufgenommen wurden, unterbreitete die Partei- und Regierungsdelegation der DDR der Partei- und Regierungsdelegation der UdSSR zusätzliche Vorschläge zur Vertiefung der Produktionskooperation auf dem Gebiet der Elektrotechnik und Elektronik. Sie sahen im einzelnen eine Vertiefung der Arbeitsteilung in der Produktion von elektronischen Bauelementen, Insbesondere von Halbleiterbauelementen, von elektronischen Meßgeräten, technologischen Ausrüstungen für die Produktion der Halbleitertechnik und Mikroelektronik, von Datenverarbeitungsanlagen, peripheren 20
Vgl. Abkommen Uber die gegenseitigen Warenlieferungen zwischen der DDR und der UdSSR in den Jahren 1966 bis 1970 vom 3. Dezember 1965, Ministerium fUr Außenwirtschaft der DDR - Bereich UdSSR.
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Geräten u.a. vor. Die Vorschläge waren darauf gerichtet, die Kräfte beider Länder auf diese strukturbestimmenden Zweige der Volkswirtschaft zu konzentrieren. Im Ergebnis der Verhandlungen wurden zwischen dem Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik der DDR und den Ministerien für Elektronische, Elektrotechnische und Radioindustrie der UdSSR Vereinbarungen über die Zusammenarbeit auf den Gebieten der elektronischen Bau • elemente, der Nachrichtentechnik, der Meßtechnik, der Medizintechnik und der technologischen Ausrüstungen für die elektronische Industrie unterzeichnet. Die getroffenen Vereinbarungen legten Maßnahmen zur gegenseitigen Abstimmung der Forschung und Entwicklung sowie zur Kooperation und Spezialisierung der Produktion in den jeweiligen Industriezweigen fest. Sie schufen wirksame Formen der direkten Zusammenarbeit zwischen diesen Industriezweigen der DDR und der UdSSR. Die Vereinbarung zur Bildung einer Paritätischen Regierungskommission fUr wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit Die Realisierung der von den Partei- und Regierungsdelegationen vereinbarten ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Kooperation zwischen beiden Ländern und des langfristigen Handelsabkommens machte eine neue Form der Zusammenarbeit in der zwischenstaatlichen Leitung dieser Vorhaben erforderlich. Die neuen Formen der Zusammenarbeit waren nicht mehr Uber die bestehende Kommission für wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit oder die ständigen Vertretungen der Planungsorgane im Partnerland, die jeweils nur für einzelne Teilgebiete der zwischenstaatlichen Beziehungen verantwortlich waren,
zu leiten. Es mußte ein Organ auf Regierungsebene geschaffen werden, dessen
rechtliche Grundlagen und Befugnisse die komplexe Leitung der ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit gewährleisteten. "Im Interesse der weiteren Ausdehnung der wirtschaftlichen Beziehungen und der Beschleunigung des technischen Fortschritts in beiden Ländern", heißt es in dem gemeinsamen Kommunique Uber die September-Beratungen, "vereinbarten beide Seiten die Bildung eines Paritätischen Regierungsausschusses für ökonomische und wissenschaftlich-techni21
sehe Zusammenarbeit."
Die Paritätische Regierungskommission sollte als Instrument
der Regierungen beider Staaten das leitende und organisierende Gremium für die Gestaltung der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit werden. Sie hat, ausgehend von den ökonomischen Gesetzen des Sozialismus und den Vereinbarungen des Freundschaftsvertrages, die Strategie der SED und der KPdSU zur Gestaltung der wirtschaftlichen sozialistischen Integration zwischen beiden Ländern planmäßig zu verwirklichen. 21
Kommunique über den Aufenthalt der Partei- und Regierungsdelegation der DDR in der UdSSR, in: Keine Kraft kann unser Bündnis erschüttern, S. 50.
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Die in den gegenseitigen Konsultationen getroffenen Festlegungen über den Aufgabenbereich der zu bildenden Paritätischen Begierungskommission trugen komplexen Charakter. Sie umfaßten Maßnahmen zur Leitung der ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, deren Organisation .sowie die Kontrolle über die Verwirklichung der ge22
troffenen Regierungsabkommen, Protokolle und Vereinbarungen. Mit den Beschlüssen und Vereinbarungen der Partei- und Regierungsdelegationen vom September 1965 wurde, ausgehend von dem Freundschaftsvertrag vom Juni 1964, eine neue Etappe in der Gestaltung der wirtschaftlichen sozialistischen Integration zwischen beiden Ländern eingeleitet. In ihr wurde der Grundstein für das gemeinsame Wirken von Arbeitern, Technikern und Wissenschaftlern beider Länder bei der Entwicklung und Produktion von weltstandsbestimmenden Erzeugnissen und technologischen Verfahren gelegt. Sie wird charakterisiert durch die straffe Leitung, Koordinierung und Kontrolle der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, die mit dem Beschluß über die Bildung der Paritätischen Regierungskommission beginnt. Diese neue Etappe im Prozeß der wirtschaftlichen sozialistischen Integration wird weiterhin charakterisiert durch die ständig konkretere Abstimmimg der Entwicklungsrichtungen auf Schwerpunktgebieten der Volkswirtschaften und Industriezweige beider Länder auf der Grtmdlage von Prognosen und Konzeptionen sowie durch die Veränderungen in der Struktur des Außenhandels zugunsten der Erhöhung der gegenseitigen Lieferung von hochproduktiven Maschinen und Ausrüstungen. Der Abschluß dieser weitgehenden Vereinbarungen zwischen beiden sozialistischen Staaten wurde ermöglicht, weil beide Partei- und Regierungsdelegationen, ausgehend von den neuen gesellschaftlichen Anforderungen an die Gestaltung der internationalen ökonomischen Zusammenarbeit unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution, in allen wesentlichen Fragen der Theorie und Praxis des sozialistischen und kommunisti23 sehen Aufbaus völlig übereinstimmen. Durch das Ausarbeiten und praktische Verwirklichen der neuen ökonomischen Systeme der Planung und Leitung der Volkswirtschaft in beiden Ländern waren die objektiven Bedingungen für die weitere den ökonomischen Gesetzen des Sozialismus entsprechende Vertiefung der internationalen ökonomischen Zusammenarbeit in Wissenschaft und Produktion herangereift. Die zwischen den Partei- und Regierungsdelegationen getroffenen Vereinbarungen entsprachen sowohl den Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution als auch 22 23
Vgl. Honecker, S. 13 f. Vgl. Kommunique vom 24. Sept. 1965, in: Keine Kraft kann unser Bündnis erschüttern, S. 52.
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den Bedingungen, die sich aus der Verschärfung des internationalen Klassenkampfes gegen den Imperialismus ergaben. Deshalb waren die Beschlüsse der Partei- und Regierungsdelegationen der DDR und der UdSSR nicht nur bedeutsam für die ökonomische Entwicklung der beiden Länder. Ihre internationale Bedeutung besteht auch darin, daß sie zeigten, wie der Prozeß der sozialistischen wirtschaftlichen Integration zwischen den sozialistischen Ländern unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution in der Praxis verwirklicht werden kann. Die neuen Formen der ökonomischen Zusammenarbeit sind ein Ausdruck für die "Festigung der Freundschaft und die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen den sozialistischen Ländern", schrieb die "Prawda" über den Besuch der Parteiund Regierungsdelegation der DDR. Sie stellte fest, daß diese Beschlüsse internationale 24 Bedeutung haben, weil sie die Positionen des Sozialismus im Weltmaßstab stärken. Die Herausbildung der ökonomischen Systeme der Leitung und Planung der Volkswirtschaft - eine Voraussetzung für die Gestaltung des wirtschaftlichen sozialistischen Integrationsprozesses 2 5 Die zu Beginn der sechziger Jahre einsetzende neue Entwicklungsetappe in der DDR und der UdSSR machte neue Formen der staatlichen Planung und Leitung der Volkswirtschaft erforderlich, um eine maximale Weiterentwicklung der sozialistischen Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte in beiden Ländern zu sichern. Sie mußten es ermöglichen, die Haupttriebkraft der sozialistischen Gesellschaft auf der Grundlage der ökonomischen Gesetze des Sozialismus zu entfalten. In beiden Ländern waren solche wissenschaftlichen und materiell-technischen Voraussetzungen entstanden, die es gestatteten, den sozialistischen Reproduktionsprozeß durch die Ausnutzung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus effektiver zu gestalten. In der UdSSR und in der DDR wurde in den sechziger Jahren mit der Ausarbeitung 26
der neuen ökonomischen Systeme der Leitung und Planung der Volkswirtschaft begonnen. Bei der Fixierung der Grundsätze für die ökonomischen Systeme ließen sich beide Parteien und Staatsführungen von den Leninschen Prinzipien der sozialistischen Wirtschaftsführung
24 Druzba - sotrudnicestvo - edinstvo, in: Pravda v. 29.9.1965. 25 Rakowski. Horst, Die Entwicklung der wirtschaftlichen sozialistischen Integration S. 73 ff. 26 Vgl. Kossygin. A.N., Die Verbesserung der Leitung in der Industrie, die Vervollkommnung der Planung und die Verstärkung der wirtschaftlichen Stimulierung der Industrieproduktion, Rede auf dem Septemberplenum des Zentralkomitees der KPdSU, in: Presse der Sowjetunion, 1965, Nr. 113: Beyer. Heinz/Kanzig, Helga, Die Genesis des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Studie, Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED - Lehrstuhl Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (Ms.), Berlin Juli 1969.
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leiten und wandten sie schöpferisch auf die in ihren Ländern bestehenden Bedingungen 27 an.
Ausgehend von dieser gemeinsamen theoretischen Grundlage, zeichnete sich eine
prinzipielle Ubereinstimmung zwischen beiden ökonomischen Systemen ab. Sie findet ihre Verkörperung im Ziel der sozialistischen Produktion und in den Hauptformen und Methoden zur Vervollkommnung der staatlichen Planung und Leitung der Volkswirtschaft auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus. In beiden Ländern erfolgten eine Vervollkommnung der staatlichen Planung, eine Erhöhung der Eigenverantwortung der Betriebe für den Reproduktionsprozeß auf der Grundlage des zentralen staatlichen Planes sowie die Bildung von Industriezweigleitungen und andere Übereinstimmende Maßnahmen. Diese Gemeinsamkeiten bildeten die Basis, auf der sich der bilaterale wirtschaftliche sozialistische Integrationsprozeß zwischen beiden Ländern entwickeln konnte. Diese Gemeinsamkeiten in den Formen und Methoden der nationalen Planung schufen die Voraussetzungen, um eine neue Qualität'der internationalen Koordinierung, Abstimmung und Verflechtung der P e r spektiv- und Volkswirtschaftspläne zu erreichen. Mit der Bildung von Industriezweigleitungen und der Erhöhung der Eigen Verantwortung der Betriebe war die Herstellung von direkten Beziehungen zwischen den Industrieministerlen und den ihnen unterstellten Wirtschaftseinheiten und Forschungsinstituten In Wissenschaft und Produktion möglich geworden. Damit entstanden durch die neuen ökonomischen Systeme Voraussetzungen für die stärkere Anwendung ökonomischer Kriterien in den zwischenstaatlichen Wirtschaftsbeziehungen. Die Übereinstimmung der beiden ökonomischen Systeme zeigt, daß der Prozeß der Annäherung beider Volkswirtschaften voranschreitet. Damit wurde die im Artikel 8 des Freundschaftsvertrages fixierte Tendenz der Annäherung der Volkswirtschaften in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre durch die aktive Politik der Partei- und Staatsfiihrungen beider Länder verwirklicht. Einige Aspekte der außenpolitischen Wirkungen des langfristigen Handelsabkommens in den Jahren 1966 bis 1968 Nach dem Abschluß des Freundschaftsvertrages begann im Auftrag des Zentralkomitees der SED und des Ministerrates der DDR sowie des Zentralkomitees der KPdSU und des Ministerrates der UdSSR zwischen den Planungs-, den Außenhandels- und anderen staatlichen Organen beider Länder eine Periode intensiver gemeinsamer Arbeit. Sie diente der Verwirklichung der in den Artikeln 1 und 8 des Freundschaftsvertrages formulierten Grund-
27
Vgl. Dokumente des Septemberplenums des Zentralkomitees der KPdSU, in: Presse der Sowjetunion, 1965, N r . 113/114; Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR, Dietz Verlag, Berlin 1969.
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sätze iiber die engere Zusammenarbeit auf ökonomischem Gebiet. Das fand u . a . seine Bestätigung in der Unterzeichnung des langfristigen Handelsabkommens am 3. Dezember 1965. Das Handelsabkommen war fUr die weitere politische und ökonomische Festigung der DDB und für die erfolgreiche Gestaltung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus von grundlegender Bedeutung. Im Bericht des Politbüros an die 11. Tagung des Zentralkomitees der SED sagte Erich Honecker Uber das langfristige Handelsabkommen: "Es kann deshalb mit Recht als eine entscheidende Grundlage des Perspektivplanes und zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Bepublik in den Jahren 1966 bis 1970 gelten . . . Das langfristige Handelsabkommen unterstreicht, daß die Entwicklung der DDR nicht aufzuhalten ist, und führt den westdeutschen Revanchisten die Realitäten vor Augen. Das langfristige Abkommen stabilisiert die politische und ökonomische Position 28
der Deutschen Demokratischen Republik und dient der Sicherung des Friedens." Wie berechtigt diese Einschätzung des Politbüros war, zeigten die Maßnahmen der westdeutschen Regierung, die auf die Störung des Handels zwischen der DDR und der Bundesrepublik und zwischen der DDR und kapitalistischen Staaten gerichtet waren. Mit den Sicherungsmaßnahmen vom 13. August 1961 war den Aktionen der westdeutschen Regierung zur Störung des Außenhandels der DDR ein entscheidender Riegel vorgeschoben worden. Dessenungeachtet hatte sie ihre Versuche, den Abschluß von gleichberechtigten Handelsabkommen zwischen der DDR und kapitalistischen Staaten zu verhindern, nicht aufgegeben. So forderte die westdeutsche Regierung in einem FUnf-Punkte-Programm Januar 1965 von ihren Verbündeten in der NATO und EWG ein sogenanntes Wohlverhalten, damit "nicht durch besondere Bedingungen der westlichen Länder" dem Handel zwischen der DDR und der Bundesrepublik "seine politische Wirkung genommen" würde. Des weiteren verlangte sie von ihren Verbündeten, sie sollten in ihren Handelsbeziehungen mit der DDR bestimmte "Formalien" beachten und auf keinen Fall Regierungsabkommen, sondern nur "Kammerabkommen" abschließen. Solche Abkommen sollten die Laufzeit von einem Jahr nicht überschreiten. Zum anderen betonte die westdeutsche Regierung, daß sie eine großzügigere Kreditgewährung seitens kapitalistischer Staaten an die DDR als störend empfände. Auch sollte eine sprunghafte Steigerung des gegenseitigen Außenhandelsvolumens zwischen der DDR und kapitalistischen Ländern nicht zugelassen werden. Vor allem aber wäre es notwendig, darauf zu achten, daß die Tätigkeit der Handelsvertretungen der DDR nur auf die geschäftliche Abwicklung des gegenseitigen Warenaustausches beschränkt bliebe. 28
Honecker. Bericht des Politbüros an die 11. Tagung, S. 17 f .
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Mit diesem Programm, das die Hallstein-Doktrin unter den neuen Bedingungen in der Mitte der sechziger Jahre auf den Bereich der außenwirtschaftlichen Beziehungen der DDR ausdehnen sollte, versuchte die westdeutsche Regierung ein weiteres Mal, die DDR in den nichtsozialistischen Ländern zu diskriminieren und auf ihre Verbündeten zu diesem Zweck 29 politischen und ökonomischen Druck auszuüben. Die Versuche zur Störung des Außenhandels der DDR fanden weiterhin ihren Ausdruck 30 in der Kontingentierung des Handels zwischen der DDR und der Bundesrepublik , in der 31 32 Einführung des Saldenausgleiches sowie der Widerrufsklausel seitens der westdeutschen Regierung. Mit diesen einseitig eingeführten Maßnahmen versuchte sie, Disproportionen in verschiedenen Industriezweigen der DDR und bestehende Wirtschaftsbeziehungen zu westdeutschen Firmen für politische Erpressungen zu mißbrauchen. Die Bonner Regierung unternahm auch weiterhin umfangreiche Bemühungen, um andere kapitalistische Staaten 33 zur handelspolitischen Diskriminierung der DDR zu veranlassen. Das zeigte sich in der Behinderung der DDR bei der Erschließung neuer und der Ausdehnung traditioneller Märkte, 29 Vgl. Müller, Roland. Bonn erwägt günstigere Ostkredite, in: Frankfurter Rundschau v. 20.1.1965, S. 2. 30 In dem bestehenden Handelsabkommen vom 16.8.1960 gibt es drei Konten, über die die strukturbestimmenden gegenseitigen Lieferungen erfolgen: das Unterkonto" I, das in erster Linie die gegenseitigen Lieferungen von Eisen- und Stahlerzeugnissen limitiert; das Unterkonto II, das die Limitationen für die Lieferungen von technischen Konsumgütern und Nahrungsmitteln enthält; das Unterkonto in, über das die gegenseitigen Dienstleistungen verrechnet werden (vgl. Abkommen über den Handel zwischen den Währungseinheiten der Deutschen Mark /DM-West/ und den Währungsgebieten der Deutschen Mark der Deutschen Notenbank /DM-Ost/ /Berliner Abkommen/ in der Fassung der Vereinbarung vom 16. August 1960, in: Sonderdruck aus dem Bundesanzeiger, Nr. 32, v. 15.11.1961, S. 3 f f . ) . - Alle in den Jahren 1960 bis 1965 von der Regierung der DDR gemachten Vorschläge z u r Zusammenlegung dieser drei Warenkonten wurden damals von der Bonner Regierung abgelehnt. 31 Durch die Einführung des Saldenausgleichs im Abkommen vom 20.9.1961 mußte die DDR zum Stichtag (30. Juni jeden Jahres) bestehende Schulden in frei konvertierbarer Währung bezahlen. Dadurch War die DDR gezwungen, die Importe aus Westdeutschland so zu lenken bzw. im ersten Halbjahr jeden Jahres so zu reduzieren, daß am 30. Juni ein Saldenausgleichstand erreicht wurde. Der Absatz über den Saldenausgleich hatte folgenden Wortlaut: "Artikel IX, Ziffer' 3: Am 30. Juni jeden Jahres - erstmals im Jahre 1962 - wird ein auf alle Unterkonten zusammengenommen von der Deutschen Bundesbank der Deutschen Notenbank geschuldeter Betrag innerhalb von 30 Tagen durch Übertrag auf das Konto 'S* oder ein auf allen Unterkonten zusammengenommen von der Deutschen Notenbank der Deutschen Bundesbank geschuldeter Betrag innerhalb von 30 Tagen durch Übertrag zu Lasten eines Guthabens auf das Konto 'S' ausgeglichen werden" (ebenda, S. 2). 32 Mit der am 24.1.1961 von Westdeutschland verfügten Widerrufsklausel maßte sich die Bonner Regierung einseitig das Recht an, jede Ausschreibung bzw. jeden Vertrag für null und nichtig zu erklären, wenn sie es für erforderlich hielt (vgl. Bundesanzeiger, Nr. 18, v. 26.1.1961, S. 2). 33 Vgl. Erhard fordert von den Alliierten solidarische Haltung gegenüber Bonn, in: Der Kurier v. 14.9.1965.
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in der Verweigerung von Kundendienststützpunkten, Ingenieurbüros und anderen notwendigen Dienststellen, in der Ablehnung des Abschlusses von Begierungsabkommen zur Aufnahme langfristiger Wirtschaftsvereinbarungen, in der Einstufung der Exportwaren der DDR in die höchsten Zolltarife seitens verschiedener kapitalistischer Länder, in der Erschwerung der Ausreise von Kaufleuten und Spezialisten der DDR durch das widerrechtliche aliierte Reiseamt in Westberlin und in vielen anderen Störmaßnahmen. Diese Maßnahmen konnten jedoch keine empfindlichen Störungen in der Volkswirtschaft 34 der DDR mehr hervorrufen
, da durch den Abschluß der langfristigen Handelsabkommen
mit den sozialistischen Ländern, besonders mit der UdSSR, die Exporterzeugnisse der DDR für den Planzeitraum von 35 1966 bis 1970 mit einem Volumen von etwa 60 Milliarden Valuta-Mark gebunden waren
und die Rohstoffversorgung der Industrie der DDR im
wesentlichen gesichert w a r . Damit stärkten die langfristigen Handelsabkommen, insbesondere das Abkommen mit der Sowjetunion, die Stellung der DDR in der politischen und ökonomischen Auseinandersetzung mit dem Imperialismus und gaben ihr die Möglichkeit, in den
Handelsbeziehungen
mit den kapitalistischen Staaten 36 die Prinzipien der Gleichberechtigung und des gegenseitigen Vorteils durchzusetzen.
In den Jahren 1965 und 1966 gelang es der DDR, die Hall-
stein-Doktrtn auf dem Gebiete des Handels in breiter Front zu durchbrechen. Die von Westdeutschland inspirierten Boykottmaßnahmen gegen den Außenhandel der DDR mit anderen kapitalistischen Ländern scheiterten im wesentlichen. Das imperialistische E m bargosystem, das durch die Abkommen mit den sozialistischen Ländern gegenüber der DDR seine Bedeutung verloren hatte, brach bis auf einige Überreste zusammen. Die Außenhandelsorgane 4 e r DDR konnten in fast allen Ländern die für die Entwicklung der Republik
34
Diese Feststellung wird durch die Tatsache bestätigt, daß sich die Bonner Regierung angesichts der ständig wachsenden Wirtschaftskraft der DDR und deren gesicherten Handelsbeziehungen mit den sozialistischen Ländern gezwungen sah, von den durch sie eingeleiteten Störmaßnahmen Abstand zu nehmen. So wurde die Widerrufsklausel im August 1967 aufgehoben (vgl. Bundesanzeiger. N r . 155, v . 19.8.1967, S. 3) und die Aufhebung des Saldenausgleiches sowie die wertmäßige Zusammenlegung der drei Unterkonten am 6.12.1968 verfügt. Gleichzeitig erklärte die Bonner Regierung ihre Bereitschaft, den Zwingbetrag für Erzeugnisse der maschinenverarbeitenden sowie der elektronischen Industrie von ursprünglich 300 Millionen Verrechnungseinheiten für das Jahr 1970 auf 400 Millionen Verrechnungseinheiten zu erhöhen bei einer gleichzeitigen Steigerung des Zwingbetrages um jährlich 25 Prozent (vgl. Materialien des Ministeriums für Außenwirtschaft, Bereich Westdeutschland).
35
Vgl. Jarowinski. Werner. Grundprobleme der Außenwirtschaftsbeziehungen in der zweiten Etappe des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung, hg. von der Abt. Propagandades Zentralkomitees der SED, Berlin 1966, S. 10. V g l . Ulbricht. Walter. Probleme des Perspektivplanes bis 1970. Referat auf der 11. Tagung des ZK der SED, Berlin 1966, S. 62.
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erforderlichen Waren kaufen bzw. verkaufen. Das System der Kreditrestriktionen und andere gegen die DDR gerichtete Maßnahmen mußten aufgehoben werden. Der Versuch der westdeutschen Imperialisten, den Handel mit der DDR als "ihr Monopol" zu sichern und dabei den Warenaustausch mit den anderen kapitalistischen Ländern zu kontrollieren, war 37 gescheitert.
Somit trug die kontinuierliche Entwicklung der Außenwirtschaftsbeziehungen
zwischen der DDR und der UdSSR wesentlich zur Stärkung der Position der DDR in Europa bei. "Die Tatsache, daß in der ganzen Welt kein zweites Abkommen von diesem Ausmaß existiert", erklärte Walter Ulbricht, "unterstreicht den außerordentlich hohen Grad
38
der Zusammenarbeit und Arbeitsteilung der Volkswirtschaften der DDR und der UdSSR." Das Handelsabkommen war zugleich das langfristige Programm für die Vertiefung der direkten Zusammenarbeit in Wissenschaft und Produktion. Es charakterisierte die erreichte neue Qualität in der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit und war für die DDR - durch sein großes Volumen und die damit verbundene langfristige Sicherheit für die metallverarbeitende Industrie - die Grundlage für den Außenhandel mit weiteren Ländern. Gründung und Aufgabenbereich der Paritätischen Regierungskommision In den Beratungen der Partei- und Regierungsdelegationen der DDR und der UdSSR im September 1965 war die Übereinkunft erzielt worden, daß die zu bildende Paritätische Regierungskommission Rechte zur Organisierung der wirtschaftlichen und wissenschaftlichtechnischen Zusammenarbeit erhält, die weit über den Rahmen der bisherigen Arbeitsweise der Kommission für wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit hinausgehen. Der Hauptinhalt ihrer Tätigkeit sollte in der Organisierung der direkten Zusammenarbeit der Industrieministerien, in der Organisierung der Wissenschafts- und Produktionskooperation, der gemeinsamen Ausarbeitung von Prognosen über die Entwicklungsrichtungen der Volkswirtschaft und der ständigen Erweiterung der Außenwirtschaftsbeziehungen bestehen. Damit war der Rahmen für die zukünftige Tätigkeit der Paritätischen Regierungskommission von den Partei- und Regierungsdelegationen beider Länder weitgehend abgesteckt worden. Die Unterzeichnung des Abkommens über die "Bildung einer Paritätischen Regierungskommission für ökonomische und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR" und der "Satzung der Paritätischen Regierungskommission für öko-
37 Rakowski. Horst. Die Entwicklung der wirtschaftlichen sozialistischen Integration S. 54. 38 Ulbricht. Walter, Kraftbewußt, siegessicher und stolz, in: Zum ökonomischen System des Sozialismus in der DDR, Bd 2, Berlin 1968, S. 54.
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nomische und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR" erfolgte am 16. März 1966. Ausgehend von dem beiderseitigen Bestreben, die bestehenden ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Beziehungen maximal zu entwickeln und zu vertiefen, wurde der Paritätischen Regierungskommission auf der Grundlage des Artikels 8 des Freundschaftsvertrages sowie der getroffenen Vereinbarungen der Partei- und Regierungsdelegationen vom September 1965 als Hauptaufgabe gestellt, alle notwendigen Maßnahmen einzuleiten, die geeignet sind, die bestehenden Beziehungen der Freundschaft, der gegenseitigen brüderlichen Hilfe und Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern weiter zu entwickeln und zu festigen. Dabei müssen die getroffenen Vereinbarungen, wie ausdrücklich festgelegt wurde, zugleich den Gesamtinteressen des sozialistischen Weltsystems dienen und zur 39 allseitigen Stärkung der sozialistischen Gemeinschaft beitragen. Die hierzu erforderliche Vertiefung der Zusammenarbeit in Wissenschaft und Produktion sollte sie durch die Anwendung neuer Formen in den gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen gewährleisten, wie die Aufnahme direkter Beziehungen zwischen den Industrieministerien und anderen zentralen Staats- und Wirtschaftsorganen, die direkte Zusammenarbeit der Forschungsinstitute beider Länder zur gemeinsamen planmäßigen Erarbeitung neuer Erkenntnisse u.a. Um die internationale sozialistische Arbeitsteilung zwischen beiden Staaten weiter zu entwickeln, wurde die Paritätische Regierungskommission beauftragt, geeignete Maßnahmen zur Vertiefung der Kooperation und Spezialisierung in Forschung und Produktion, darunter besonders in den volkswirtschaftlich entscheidenden Zweigen, einzuleiten. Die hierzu zu treffenden Entscheidungen sollten zu einer engeren Zusammenarbeit der jeweiligen Industriezweige führen und eine maximale Ausnutzung des Gesetzes der Ökonomie der Zeit bewirken. Die praktische Realisierung dieser komplexen Aufgaben mußte ihren Niederschlag in der Erhöhung der Lieferungen, vor allem bei wichtigen Rohstoffen an die DDR, und dem gegenseitigen Austausch hochwertiger Fertigungserzeugnisse finden. Zur Lösung dieser komplizierten Aufgaben, die von leitenden Angehörigen der Staats- und Wirtschaftsorgane beider Länder zu bewältigen waren, wurden 40 der Paritätisehen Regierungskommission die entsprechenden Vollmachten erteilt. Sie erhielt das Recht, den Regierungen beider Länder entsprechend den gesellschaftlichen Anforderungen, 39 Vgl. Freundschafts vertrag zwischen der DDR und der UdSSR - Dokument des Friedens und der unzerstörbaren Freundschaft, in: Schriftenreihe des Staatsrates der DDR, 1964, Nr. 2, S. 9 f. 40 Rakowski. Horst. Die Entwicklung der wirtschaftlichen sozialistischen Integration . . . , S. 93 ff.
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die sich aus dem Aufbau des Sozialismus bzw. Kommunismus ergeben, Empfehlungen zur allseitigen Vervollkommnung der ökonomischen Beziehungen zwischen beiden Staaten zu unterbreiten. Die Paritätische Regierungskommission erhielt das Recht, die Hauptrichtungen für die Entwicklung der ökonomischen Zusammenarbeit festzulegen, entsprechende Maßnahmen durch den Abschluß von Regierungsabkommen, Protokollen und Vereinbarungen einzuleiten und, ausgehend von den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die Zusammenarbeit bei der Koordinierung der Perspektiv- und Volkswirtschaftspläne beider Länder zu fördern und zu vervollkommnen. Sie war befugt, entsprechende Maßnahmen zur Aufnahme der Direktbeziehungen in Wissenschaft und Produktion zwischen den Planungsorganen sowie den Industrieministerien und anderen zentralen staatlichen Organen beider Länder einzuleiten und die Grundsätze zur Herstellung und Vertiefung der direkten Zusammenarbeit auszuarbeiten und rechtlich zu fixieren. Des weiteren erhielt sie Vollmacht, Maßnahmen zu treffen, die eine direkte produktionstechnische Zusammenarbeit zwischen einzelnen Betrieben beider Länder ermöglichen. Die Paritätische Regierungskommission sollte bei der Gestaltung der direkten Zusammenarbeit davon ausgehen, daß die Industrieminister, die Leiter von Industrievereinigungen und -kombinaten sowie wissenschaftlichen Institutionen ' beider Länder das Recht erhalten, im Auftrage der Paritätischen Regierungskommission Maßnahmen zur Verwirklichung der direkten Zusammenarbeit vorzubereiten und durchzuführen. Sie sollten durch ihre gemeinsame Arbeit dazu beitragen, die direkte Zusammenarbeit und Forschung, Entwicklung und Projektierung zu fördern sowie die Kooperation und Spezialisierung zwischen den sozialistischen Produktionsbetrieben beider Länder zu * .• organisieren
Die gemeinsame wissenschaftliche und produktionstechnische direkte Zu-
sammenarbeit muß ihren Niederschlag in der Erhöhung des gegenseitigen Volumens der Warenlieferungen sowie in der Gestaltung des gemeinsamen Absatzes der produzierten Erzeugnisse auf dritten Märkten finden. Ausgehend von der Bedeutung der Wissenschaft für die Entwicklung der Produktivkräfte und damit ftir die Erhöhung der Effektivität der Volkswirtschaften, erhielt die Paritätische Regierungskommission das Recht zur Einleitung von Maßnahmen - zur Koordinierung und Kooperation der Tätigkeit der Forschungseinrichtungen beider Länder, einschließlich der Projektierungs- und Konstruktionsbüros, - zur Organisierung des gegenseitigen Austausches von Dokumentationen, Lizenzen und Patenten, - zur Verbesserung des gegenseitigen Informationsaustausches auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik sowie - zur Gestaltung der gegenseitigen technischen Hilfeleistung und der produktionstechnischen Ausbildung von Kadern.
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Dabei soll durch die Paritätische Regierungskommission bei der Realisierung der Wissenschaftskooperation gewährleistet werden, daß im Unterschied zu der bisherigen Verfahrensweise die gemeinsamen Forschungsthemen im Komplex behandelt werden. Neben der Behandlung von Fragen der Wissenschaft und Technik soll gleichzeitig die Lösung der sich daraus ergebenden Probleme für die Vertiefung der Spezialisierung und Kooperation der Produktion sowie der sich daraus ergebenden gegenseitigen Warenlieferungen entschieden werden. Die Paritätische Regierungskommission örhielt die Vollmacht zur Ausübung der Kontrolle über die zwischen beiden Ländern abgeschlossenen Regierungsabkommen, Protokolle und Vereinbarungen zur wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit sowie zur Einleitung entsprechender Maßnahmen, um die getroffenen Vereinbarungen zu verwirklichen. Mit der im Abkommen getroffenen Festlegung, daß "die von der Paritätischen Regierungskommission gefaßten Beschlüsse unmittelbar nach ihrer Unterzeichnung in Kraft treten, falls in den Beschlüssen selbst nichts anderes vorgesehen ist", wurde eine wichtige Seite des völkerrechtlichen Status der Kommission für beide Länder festgelegt. Damit wurde die Paritätische Regierungskommission zu einem Organ, das durch die staatliche und vertragliche Fixierung von Regierungsabkommen, Protokollen und Vereinbarungen Maßnahmen einleitet, für deren Verwirklichung die Staats- und Wirtschaftsorgane beider Länder voll verantwortlich sind. Um die ihr übertragenen umfangreichen Aufgaben zu lösen, erhielt sie die Befugnis, auf strukturbestimmenden Gebieten der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit ständige und zeitweilige Arbeitsgruppen zu bilden, ihnen ihre Aufgaben zuzuweisen sowie ihre Vollmachten und ihre Arbeitsweise zu bestimmen. Im Zusammenhang mit dem Abkommen über die Bildung der Paritätischen Regierungskommission wurde als dessen Bestandteil auch die Satzung beschlossen, die die Regelung für die Arbeitsweise des gemeinsamen Regierungsausschusses festlegt. Sie sieht u . a . vor, daß die Paritätische Regierungskommission ihre Tätigkeit nach einem gemeinsamen Arbeitsplan gestaltet, daß ihre Tagungen mindestens zweimal im Jahr stattfinden. Es ist festgelegt, daß an den Tagungen des Regierungsausschusses die erforderlichen Berater und Spezialisten beider Länder teilnehmen können und daß die Sekretäre des Regierungsausschusses die Arbeitsorganisation in ihrem Bereich sichern sowie die Tätigkeit ihrer ständigen und zeitweiligen Arbeitsorgane koordinieren. Die Paritätische Regierungskommission, die ihre Tätigkeit auf der Grundlage der Vereinbarungen zwischen den Partei- und Regierungsdelegationen ausübt, wurde mit
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dieser komplexen Aufgabenstellung zum leitenden und organisierenden Gremium fUr die Gestaltung der ökonomischen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Die im Abkommen fixierten Aufgaben für die Paritätische Regierungskommission wiesen auch den staatlichen Planungsorganen als koordinierende Zentren im gemeinsamen Begierungsausschuß einen neuen Inhalt ihrer Tätigkeit zu. Damit entsprachen die in dem Abkommen und der Satzung festgelegten Begelungen zur Gestaltung der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern den Ergebnissen der Verhandlungen der Partei- und Regierungsdelegationen 41 vom September 1964
sowie der Strategie des Zentralkomitees der SED für die Entwick-
lung der ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Beziehungen mit der UdSSB, die 42 von der 11. Tagung (Dezember 1965) beschlossen worden war. Das Abkommen über die Bildung der Paritätischen Regierungskommission brachte am deutlichsten die neue historische Qualität der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR zum Ausdruck. Zum ersten Male in der Geschichte der internationalen Wirtschaftsbeziehungen wurde ein solches zwischenstaatliches Organ geschaffen. Es ist auf Grund seiner Zusammensetzung, seiner Vollmachten, Arbeitsweise und Zielsetzung in der Lage, wichtige Aufgaben, die sich aus dem Prozeß der sozialistischen Wirtschaftsintegration und aus der wissenschaftlich-technischen Revolution ergeben, durch die Vereinigung der geistigen und materiellen Potenzen beider Länder zu meistern. Während die vorher bestehende Kommission für wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, die ein Teilgebiet der wirtschaftlichen Zusammenarbeit bearbeitete, nur periodisch zusammenkam und zwischen den Tagungen entstandene Probleme löste, besteht durch die Paritätische Regierungskommission ein ständiges Funktionsorgan, das die komplexe Zusammenarbeit in Wissenschaft und Produktion leitet, organisiert und kontrolliert. Damit wurde die Paritätische Regierungskommission zu einem Organ, das durch die staatliche und vertragliche Fixierung von Regierungsabkommen, Protokollen und Vereinbarungen Maßnahmen einleitet, für deren Verwirklichung die Staats- und Wirtschaftsorgane beider Länder gleichermaßen inhaltlich voll verantwortlich sind. In der Tätigkeit der Paritätischen Regierungskommission verkörpern sich die Erfahrungen beider sozialistischer Staaten.
41 Vgl. Kommunique Uber den Aufenthalt der Partei- und Regierungsdelegation der DDR in der UdSSR, in: Keine Kraft kann unser Bündnis erschüttern, Dietz Verlag, Berlin 1965, S. 50. 42 Vgl. Honecker. Erich, Bericht des Politbüros an die 11. Tagung des ZK der SED, S. 12 ff.
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Sie werden angewandt bei der Vorbereitung, Durchführung und Kontrolle ökonomischer Maßnahmen, Beschlüsse und Prozesse unter Berücksichtigung des zwischenstaatlichen Charakters der Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern. Der Abschluß des Abkommens eröffnete besonders der DDR die Möglichkeit, durch die gemeinsame, direkte, langfristige und planmäßige Zusammenarbeit der Forschungseinrichtungen beider Länder jenen geistigen Vorlauf zu erreichen und zu behaupten, von dem unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution die ökonomische Stärke des Staates und das Lebensniveau der Werktätigen immer stärker bestimmt werden. Das Abkommen gestattet es beiden Ländern, durch die Aufnahme der direkten Beziehungen in Wissenschaft und Produktion, durch die Herausbildung der komplexen Zusammenarbeit (in Form der Kette Forschung - Entwicklung - Projektierung - Spezialisierung bzw. Kooperation der Produktion - der ständigen gemeinsamen Weiterentwicklung der Erzeugnisse - gemeinsamer Absatz der Erzeugnisse) für die Gestaltung einer hocheffektiven Struktur ihrer Volkswirtschaften auf der Grundlage des Gesetzes der planmäßigen proportionalen Entwicklung auszunutzen. Die direkte Zusammenarbeit in Wissenschaft und Produktion ermöglicht es beiden Partnern, sichbessere Kenntnisse über die gegenseitigen Bedürfnisse und Lieferungsmöglichkeiten des anderen zu verschaffen, sich schneller den echten Bedarfsanforderungen des Partners anzupassen, die Kooperationsbeziehungen in Wissenschaft und Produktion durch die Konzentrierung der Kräfte und Mittel auf die entscheidenden Schwerpunkte der Wissenschaft und Technik zum beiderseitigen Vorteil wirksamer zu gestalten, vorhandene Reserven in den Produktionskapazitäten beider Länder noch schneller aufzudecken sowie die Volkswirtschaften beider Länder beschleunigt zu entwickeln und damit den gegenseitigen Warenaustausch bedeutend zu erhöhen. Alle diese Möglichkeiten, die der Abschluß des Abkommens für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR eröffnete, allseitig zu nutzen muß eine Hauptaufgabe der Staatsund Wirtschaftsorgane sein. Die Paritätische Regierungskommission als leitendes, organisierendes und kontrollierendes Gremium der ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit hat von Beginn ihrer Tätigkeit dazu beigetragen, den von beiden marxistisch-leninistischen Parteien und Regierungen beschrittenen Weg der wirtschaftlichen Integration zu vertiefen. "Das Abkommen", so schrieb der DDR-Sekretär der Paritätischen Regierungskommission, Karl-Heinz Richter, "hat gute Grundlagen geschaffen, um die höhere Stufe in der ökonomischen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zielstrebig zu verwirklichen." 43 Richter, Karl-Heinz , Neue Stufe ökonomischer Zusammenarbeit DDR - UdSSR. Argumente, Ziffern, Fakten, herausgegeben vom Zentralvorstand der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Nr. 9, 1966, S. 2.
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H o r s t Rakowski Die A u s a r b e i t u n g d e r G r u n d s a t z r e g e l u n g e n fiir die Gestaltung d e s wirtschaftlichen sozialistischen Integrationsprozesses (von d e r 1. Tagung d e r P a r i t ä t i s c h e n B e g i e r u n g s k o m m i s s i o n im Juni 1966 b i s zu i h r e r 5 . Tagung im D e z e m b e r 1968) 4 4
Die d r e i j ä h r i g e A r b e i t d e r P a r i t ä t i s c h e n R e g i e r u n g s k o m m i s s i o n von 1966 b i s 1968 w a r dadurch gekennzeichnet, d a ß . s i e wesentlich z u r Vertiefung d e r w i r t s c h a f t l i c h e n und w i s s e n s c h a f t l i c h - t e c h n i s c h e n Z u s a m m e n a r b e i t zwischen beiden L ä n d e r n sowie z u r Gewinnung n e u e r E r k e n n t n i s s e bei d e r Gestaltung des w i r t s c h a f t l i c h e n s o z i a l i s t i s c h e n I n t e g r a t i o n s p r o z e s s e s b e i t r u g . Diese M e r k m a l e fanden v o r a l l e m in den e r a r b e i t e t e n G r u n d s a t z r e g e lungen f ü r die Gestaltung d e r Z u s a m m e n a r b e i t in Planung, Leitung, W i s s e n s c h a f t und Produktion ihren N i e d e r s c h l a g . Die G r u n d s a t z r e g e l u n g e n fiir die d i r e k t e Z u s a m m e n a r b e i t d e r I n d u s t r i e m i n i s t e r i e n , Vereinigungen und Kombinate In dem Abkommen z u r Gründung d e r P a r i t ä t i s c h e n - R e g i e r u n g s k o m m i s s i o n w u r d e i h r die Aufgabe g e s t e l l t , " V o r s c h l ä g e ü b e r die Z u s a m m e n a r b e i t zwischen den P l a n u n g s o r g a n e n , M i n i s t e r i e n und Institutionen b e i d e r L ä n d e r [ v o r z u b e r e i t e n ] und g e m e i n s a m m i t ihnen V o r s c h l ä g e ü b e r die Durchführung d i r e k t e r p r o d u k t i o n s t e c h n i s c h e r Beziehungen zwischen e i n zelnen B e t r i e b e n d e r DDR und d e r UdSSR" a u s z u a r b e i t e n . Eine d e r e r s t e n und grundlegenden Aufgaben d e r P a r i t ä t i s c h e n R e g i e r u n g s k o m m i s s i o n b e s t a n d d a r i n , mit d e r Ausarbeitung von G r u n d s a t z r e g e l u n g e n z u r H e r s t e l l u n g d e r d i r e k t e n Beziehungen zwischen den I n d u s t r i e m i n i s t e r i e n und a n d e r e n z e n t r a l e n S t a a t s - und W i r t s c h a f t s o r g a n e n zu beginnen. Dabei wurde davon ausgegangen, "daß die Direktbeziehungen b e s s e r e Möglichkeiten z u r Ausnutzung d e r ökonomischen G e s e t z e des S o z i a l i s m u s e r ö f f n e n , z u r b e s s e r e n Kenntnis d e r gegenseitigen B e d ü r f n i s s e und L i e f e r m ö g l i c h k e i t e n f ü h r e n und damit die V o r a u s s e t z u n gen f ü r die s c h n e l l e r e Anpassung an den echten Bedarf des P a r t n e r s s c h a f f e n . Die Lösung d i e s e s P r o b l e m s w a r eine wichtige V o r a u s s e t z u n g , u m b e s o n d e r s den gegenwärtigen A u s t a u s c h von Maschinen und A u s r ü s t u n g e n im I n t e r e s s e d e r Weiterentwicklung d e s W a r e n a u s t a u s c h e s ü b e r den damaligen Umfang hinaus zu e r h ö h e n . Die d i r e k t e Z u s a m m e n a r b e i t ist in folgenden Richtungen zu g e s t a l t e n : Die M i n i s t e r d e r jeweiligen P a r t n e r m i n i s t e r i e n w e r d e n d u r c h die P a r i t ä t i s c h e R e g i e r u n g s k o m m i s s i o n b e a u f t r a g t , V o r s c h l ä g e z u r p e r s p e k t i v i s c h e n Entwicklung i h r e r Industriezweige sowie zum Inhalt d e r d i r e k t e n Beziehungen zwischen den einzelnen M i n i s t e r i e n g e m e i n s a m v o r z u b e r e i t e n . In d i e s e n Vereinbarungen f ü r die d i r e k t e Z u s a m m e n a r b e i t zwischen den
44
Rakowski. H o r s t , Die Entwicklung d e r w i r t s c h a f t l i c h e n s o z i a l i s t i s c h e n Integration . . . , S . 104 f f .
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Ministerien sind die Erzeugnisse aufzuführen, bei denen eine Kooperation bzw. eine Spezialisierung der Produktion zwischen den Ministerien erfolgt. In ihnen müssen die technischen Parameter für die Erzeugnisse, die flir den gegenseitigen Warenaustausch produziert werden, abgestimmt sein. Die sich hieraus ergebenden Maßnahmen zur Unifizierung und Standardisierung der Erzeugnisse sind einzuleiten. In gemeinsamen Arbeitsplänen der Partnerministerien sind die Aufgaben festzuhalten, wie durch die Zusammenarbeit in Forschung und Produktion bei den von ihnen für den Export zu produzierenden Erzeugnissen das Weltniveau erreicht und weiter bestimmt werden kann. Die jeweiligen Partnerministerien erhielten durch die Paritätische Begierungskommission den Auftrag, einen Informationsaustausch Uber die Aufnahme der Produktion von Erzeugnissen zu organisieren, deren Export in das andere Land sowohl für den Exporteur als auch für den Importeur von Interesse ist. Die Experten und Spezialisten der Ministerien werden bei neuen Erzeugnissen, die von einem Industriezweig entwickelt und projektiert worden sind, Konsultationen der Erprobung und Anwendung der gelieferten Erzeugnisse und ihrer Nutzbarkeiteinschließlich des Kundendienstes durchführen und entsprechende Vereinbarungen abschließen. Um den wissenschaftlich-technischen Fortschritt in den Industriezweigen zu gewährleisten, wurden die Partnerministerien durch die Paritätische Begierungskommission beauftragt, gemeinsam langfristige technisch-ökonomische Prognosen über die Entwicklungsrichtungen ihrer Industriezweige zu erarbeiten. Mit der Festlegung dieser Bichtungen für die Gestaltung der Direktbeziehungen zwischen den Ministerien und anderen zentralen staatlichen Organen beider Länder wurde eine konkrete rechtliche Grundlage für die direkte Zusammenarbeit zwischen Parallelministerien der beiden Staaten geschaffen. Durch die direkten Beziehungen der Ministerien wurden die Produzenten und die Abnehmer der Erzeugnisse, die die Probleme der Zusammenarbeit und des Austausches der Produkte am sachkundigsten beurteilen und operativ wie auch am effektivsten entscheiden können, direkt zusammengeführt. Die direkten Beziehungen ermöglichen es, die Probleme der Zusammenarbeit zwischen den jeweiligen Partnerorganen in Forschung, Entwicklung, Projektierung, Konstruktion sowie in der Kooperation und Spezialisierung der Produktion und beim Absatz der Erzeugnisse im Komplex zu lösen. Die komplexe Arbeitsweise der Staats- und Wirtschaftsorgane gestattet es, zwischen beiden Ländern eine den gesellschaftlichen Erfordernissen entsprechende, ökonomisch wirksame, stabile wissenschaftliche Zusammenarbeit zu organisieren, die auch die produktionstechnische Zusammenarbeit fördert und ihre Auswirkung in der ständigen Arbeitsteilung und Kooperation
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Horst Rakowski
in Wissenschaft, Technik und Ökonomie findet. Ermöglicht wurde die Ausarbeitung der Grundsatzdokumente für die direkte Zusammenarbeit der Industrieministerien durch die ökonomischen Systeme, durch das Vorhandensein von Industriezweigleitungen sowie durch die wachsenden Erfahrungen der leitenden Kader für die Gestaltung der Außenwirtschaftsbeziehungen in beiden Ländern. Die Grundsatzregelungen für die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit Die Partei- und Regierungsdelegationen widmeten der ständigen Vertiefung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, die als Kernstück der ökonomischen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern einen immer stärkeren Einfluß auf die Gesamtgestaltung 45 der ökonomischen Beziehungen ausübt, große Aufmerksamkeit. Von der ständigen Unterkommission für wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit wurden die "Zeitweiligen allgemeinen Bedingungen für die Durchführung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR" vorbereitet und von der Paritätischen Regierungskommission bestätigt. Ihr Ziel ist die allseitige Entwicklung der Formen und die Vervollkommnung der Methoden der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, die Vereinigung der Anstrengungen beider Länder zur Durchsetzung des technischen Fortschritts und die rationelle Ausnutzung der in beiden Ländern vorhandenen Wissenschafts- und Produktionskapazitäten, das Sichern des wissenschaftlichen Vorlaufes für die Entwicklung der führenden Zweige der Industrie und die schnelle Überführung der Ergebnisse der wissenschaftlichen und technischen Forschung in die Volkswirtschaft beider Länder sowie die ständige Erhöhung des volkswirtschaftlichen Nutzeffektes der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit und ihre Gestaltung zu einem 46wirksamen Faktor der Entwicklung von Wissenschaft und Technik in beiden Ländern. Um dieses Ziel zu verwirklichen, wurden folgende Formen der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit durch die Paritätische Regierungskommission festgelegt: - die Durchführung von Konsultationen zur gemeinsamen Erarbeitung von Analysen des Standes zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik und die Ausarbeitung von Prognosen für die Erarbeitung der Perspektivpläne von Wissenschaft und Technik, 45
Vgl. Kommunique über die Beratungen der Partei- und Regierungsdelegationen in den Jahren 1966 bis 1968, a . a . O . 46 Vgl. Zeitweilige allgemeine Bedingungen für die Durchführung der wissenschaftlichtechnischen Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR, Einleitung, angenommen auf der 2. Tagung der Unterkommission für wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit der Paritätischen Regierungskommission am 25. November 1966.
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- die Koordinierung der wissenschaftlichen und technischen Forschungen in den einzelnen Zweigen der Wissenschaft und der Volkswirtschaft, - die Anwendung der Kooperation bei wissenschaftlichen Forschungs-, Projektierungs-, Konstruktions- und experimentellen Arbeiten zwischen wissenschaftlichen Forschungsinstituten, - die Durchführung gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeiten in zweiseitigen wissenschaftlich-technischen Kollektiven und Zentren, - die Durchführung von wissenschaftlich-technischen Arbeiten im Auftrage von Einrichtungen des Partnerlandes, - die Entsendung von Spezialisten zum Studium wissenschaftlich-technischer Errungenschaften und Produktionserfahrungen, - die Übergabe von vorhandenen Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeiten in Form von Dokumentationen und Mustern, - die Gewährung von technischer Hilfe durch Spezialisten, 47 - die Ausarbeitung von Gutachten und die produktionstechnische Ausbildung von Kadern. Für die Direktbeziehung zwischen den Ministerien und anderen staatlichen Organen bei der Gestaltung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit wurden im A rtikel 14 folgende Aufgaben fixiert: Die Direktbeziehungen der Ministerien und Ämter können alle in den "Zeitweiligen allgemeinen Bedingungen" enthaltenen Formen der wissenschaftlichtechnischen Zusammenarbeit umfassen. Die Ministerien haben in der wissenschaftlichtechnischen Zusammenarbeit entsprechende Protokolle Uber den Inhalt der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit zu fertigen, die auf der Grundlage von Jahresarbeitsplänen realisiert werden. In diesen Jahresarbeitsplänen sind die Thematik, die Formen und die Ziele der Zusammenarbeit, die Bezeichnung der ausführenden Organisationen, die Erfüllungstermine und andere Fragen, deren Aufnahme beide Seiten für notwendig e r achten, festzulegen. Ihre Realisierung hat durch die auszuführenden Organisationen beider Länder auf der Grundlage der Festlegungen der " Zeitweiligen allgemeinen Bedingungen" zu - . 48 erfolgen. Des weiteren müssen in den Arbeitsplänen die Pflichten der Seiten zum Gewährleisten der Funktionstüchtigkeit der Erzeugnisse, die Finanzierung der Arbeiten, die Fechte zur Nutzung der Arbeitsergebnisse, die Verpflichtungen zum Sichern der Geheimhaltung und der Urheber- und Erfindungsrechte sowie die Maßnahmen zur Sicherung der Erfüllung der
47 48
Vgl. ebenda, Artikel 1. Vgl. Artikel 14 der "Zeitweiligen allgemeinen Bedingungen fiir die Durchführung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit zwischen der DDB und der UdSSB".
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von den Seiten übernommenen Pflichten und die Verantwortlichkeit im Falle der nicht qualitätsgerechten Erfüllung und der Nichteinhaltung der technisch-ökonomischen Kenn49 Ziffern aufgeführt sein. Mit dem Festlegen der anteiligen Finanzierung der vertraglich gebundenen wissenschaftlichen Arbeiten (Artikel 3) und der Möglichkeit des Abschlusses von Verträgen zur Bezahlung von Dokumentationen und Mustern, die bei der Übergabe den neuesten Erkenntnissen von Wissenschaft und Technik entsprechen (Artikel 13 - inhaltlich als Lizenzverträge zu verstehen), wurden weitere organisatorische Schritte zur Anwendung ökonomischer Kriterien in der Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR eingeleitet. Das Recht der Anwendung dieser Formen der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit wurde den Ministerien und anderen staatlichen Organen, den Forschungs-, Projektierungs- und Konstruktionseinrichtungen, den Betrieben und anderen Wirtschaftsorganisationen beider Länder Ubertragen. Die höhere Qualität der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern in der neuen Periode der sozialistischen wirtschaftlichen Integration wird dadurch charakterisiert, daß mit der Ausarbeitung der Grundsatzdokumente für die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit die Möglichkeit fUr die Aufnahme der direkten Beziehungen zwischen beiden Ländern auf vertraglicher Grundlage geschaffen wurde. Das gilt sowohl für die Zusammenarbeit der Industrieministerien als auch für die einzelnen Forschungsvorhaben. Die Grundsatzdokumente zur wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit gestatten es, die vorhandenen geistigen Potenzen beider Länder konzentriert und planmäßig für die Lösung strukturbestimmender Aufgaben der Perspektivpläne der DDR und der UdSSR einzusetzen. Die Grundsatzregelungen für die Kooperation und Spezialisierung der Produktion Entsprechend Artikel 8 des Freundschaftsvertrages, der die Spezialisierung und Kooperation der Produktion festlegte, sowie gemäß den Vereinbarungen zwischen den Partei- und Regierungsdelegationen vom September 1965 waren Inhalt und Organisation der zwischenstaatlichen Kooperation und Spezialisierung der Produktion ein ständiger Schwerpunkt der Arbeit der Paritätischen Regierungskommission. Dabei ließen sich beide
Seiten von der
Erkenntnis leiten, daß die internationale sozialistische Kooperation und Spezialisierung der Produktion eines der Mittel ist, das beide Länder durch die Konzentration der Kräfte und Mittel auf den entscheidenden Gebieten der Produktion befähigt, wissenschaftlich-tech-
49
Vgl. ebenda, Artikel 2.
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nische Höchstleistungen zu vollbringen. Durch die Kooperation und Spezialisierung der Produktion ist es möglich, mit solchen Serien- und Losgrößen zu arbeiten, die den Einsatz kompletter Fertigungslinien und Maschinensysteme sowie den Aufbau automatisierter Prozesse gestatten. Auf diese Weise kann der ökonomische Nutzeffekt der Produktion wesentlich erhöht werden. Der DDR und der UdSSB ging es dabei keineswegs um die völlige Einstellung der Produktion einzelner Industriezweige. Außerdem besitzen die Industriezweige der DDR auf keinem wesentlichen Gebiet die Voraussetzung, den gesamten Bedarf des sowjetischen Marktes auch nur annähernd vollständig zu decken. Das Ziel der DDR bei der Gestaltung der Kooperationsbeziehungen mit der UdSSR bestand und besteht darin, ausgehend von den vorhandenen Prognosen, die Kooperation der Produktion auf die perspektivisch zu entwickelnde Produktion zu konzentrieren, ohne dabei die Spezialisierung bei den vorhandenen Sortimenten zu vernachlässigen. Die Konzentration auf die strukturbestimmenden Haupterzeugnisse, insbesondere bei Maschinensystemen, die untereinander koppelbar sind, sowie auf die Produktion von bestimmten Baugruppen und Zulieferteilen war nach der Auffassung der Vertreter der DDR der Hauptweg zur Vertiefung der Industriekooperation mit der UdSSR. Dieser Weg gestattet es am besten, die Industriezweige beider Länder eng zu verflechten. Das war für die Vertreter der DDR in der Paritätischen Regierungskommission der Ausgangspunkt, um die Grundsätze und Ziele der Kooperation und Spezialisierung der Produktion zwischen beiden Staaten auszuarbeiten. Auch zwischen der DDR und der UdSSR war es bis zur Bildung der Paritätischen Regierungskommission üblich gewesen, bei den Fragen der gegenseitigen Spezialisierung und Kooperation das Verfahren des RGW anzuwenden. Nach diesem Verfahren legte man die Sortimentslisten den Vertretern der beteiligten Länder vor, und es wurde eingetragen, wer sich auf welche Produktion spezialisieren will. Dem betreffenden Land ging dann eine entsprechende Empfehlung zu. Die Kooperations- und Spezialisierungsvereinbarungen waren auch zwischen der DDR und der UdSSR bis zur Ausarbeitung der Grundsatzregelungen durch die Paritätische Regierungskommission nicht vertraglich gebunden. Dieses Verfahren wurde den Anforderungen zur maximalen Entwicklung der Produktivkräfte in beiden Ländern nicht mehr gerecht^ Es mußte durch ein System vertraglicher Regelungen ergänzt werden. Entsprechend dem Abkommen zur Bildung der Paritätischen Regierungskommission wurden erstmalig zeitweilige Arbeitsgruppen gebildet, die Vorschläge für die Spezialisierung und Kooperation bei wichtigen Erzeugnissen vorzubereiten hatten. Diese zeitweiligen Arbeitsgruppen waren von vornherein komplex zusammengesetzt. Neben den Experten der jeweiligen Industrieministerien und ihren Forschungsinstitutionen wurden auch
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der jeweiligen Industrieministerien und ihren Forschungsinstitutionen wurden auch Experten der Planungs- und Außenhandelsorgane hinzugezogen. So waren sie in der Lage, die Kooperation und Spezialisierung der Produktion zwischen den jeweiligen Industrieministerien mit Vorschlägen zu den Planungs- und Preisfragen und zum Volumen der gegenseitigen Lieferungen zu verbinden. Ihre Vorschläge wurden durch die Minister der Partnerministerien behandelt und der Paritätischen Regierungskommission zur Bestätigung vorgelegt. Sie sollten vor allem die gemeinsame Produktion von Erzeugnissen der elektronischen Bodentechnik, des Chemieanlagenbaus, des Werkzeugmaschinenbaus, des Schwermaschinenbaus, des Energie- und Transportmaschinenbaus, des Bau- und Wegemaschinenbaus sowie die Produktion von Ausrüstungen für die Leicht- und Lebensmittelindustrie erfassen. Diese Vorschläge, die von den Regierungen beider Länder zu bestätigen waren, sollten dann die Grundlage für den Abschluß langfristiger Verträge zwischen den entsprechenden Organisationen beider Seiten für die gegenseitigen Lieferungen spezialisierter Erzeugnisse bilden. Die von der Paritätischen Regierungskommission getroffenen Festlegungen sehen vor, daß die Vorschläge zur Kooperation und Spezialisierung der Produktion im Rahmen der direkten Zusammenarbeit zwischen den Industrieministerien auszuarbeiten sind. Die Vorschläge der Ministerien haben komplexen Charakter zu tragen; sie enthalten sowohl die gemeinsamen wissenschaftlichen Forschungs-, Projektierungs- und Konstruktionsarbeiten als auch die Fragen der Produktion bis zum Absatz der Erzeugnisse. In ihnen sind Maßnahmen festzulegen, die gewährleisten, daß die Qualität des spezialisierten Erzeugnisses ständig erhöht wird. Die Festlegung dieser und anderer Forderungen an die Ausarbeitung der Vorschläge für die Kooperations- und Spezialisierungsvereinbarungen bildete die Grundlage, auf der in der Folgezeit die Industrieministerien Vereinbarungen zur Kooperation und Spezialisierung der Produktion trafen. Die gemeinsamen Festlegungen für die Gestaltung der Direktbeziehungen zwischen den Industrieministerien und anderen zentralen staatlichen Organen, der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, der Kooperation und Spezialisierung der Produktion, der Ausarbeitung der Ordnung für die Koordinierung der Perspektivpläne und der Bildung von komplexen Arbeitsgruppen zur Ausarbeitung von Systemlösungen für beide Länder auf volkswirtschaftlich strukturentscheidenden Gebieten erfaßten wesentliche Seiten der ökonomischen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Damit wurden entscheidende Schritte zur engeren Zusammenarbeit in der grundlegenden Sphäre der gesellschaftlichen Beziehungen, der Sphäre der materiellen Produktion, gegangen. Durch die Staatsorgane der DDR und der
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UdSSR wurden wesentliche Grundlagen geschaffen, die ökonomischen Gesetze des Sozialismus auch in dem Prozeß der bilateralen wirtschaftlichen Integration besser beherrschen zu können. Das ist um so wichtiger, als die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten keinen statischen, sondern einen planmäßigen und dynamischen Charakter tragen. Mit der sich immer mehr vertiefenden Arbeitsteilung, der zunehmenden Verflechtung und Annäherung der Volkswirtschaft beider Staaten wird - entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen - eine ständige Vervollkommnung dieser Grundprinzipien einhergehen. Die Grundsätze mit ihren zwischenstaatlichen rechtlichen Begelungen bilden die Grundlage, auf der sich die ökonrmischen Beziehungen zwischen beiden Ländern, insbesondere seit dem Jahre 1968, vollziehen. Die Paritätische Regierungskommission schuf mit der Ausarbeitung der Grundsätze jene Vorbedingungen, die es beiden sozialistischen Staaten gestatten, die Vorzüge der sozialistischen Gesellschaftsordnung für die Stärkung nicht nur der eigenen Volkswirtschaften, sondern darüber hinaus der sozialistischen Staatengemeinschaft zu nutzen. Mit der Ausarbeitung dieser Grundprinzipien leistete die Paritätische Regierungskommission unter der Führung der SED und der KPdSU eine bedeutsame Arbeit. Diese Vereinbarungen zwischen der DDR und der UdSSR demonstrieren, wie durch die Anwendung der Leninschen Hinweise der Weg der sozialistischen Wirtschaftsintegration beschritten werden kann. Die sozialistische Wirtschaftsintegration ist niemals nur ein rein ökonomischer Prozeß. Sie ist vor allem ein Ausdruck der Übereinstimmung der Klasseninteressen. Diese Übereinstimmung wird durch die herrschende Arbeiterklasse unter Führung ihrer marxistischleninistischen Partei zur Bewältigung der Anforderungen des sozialistischen bzw. kommunistischen Aufbaus im Interesse einer schnellen Entwicklung der sozialistischen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse ausgenutzt. Bilaterale wirtschaftliche sozialistische Integration - die planmäßige, langfristige, direkte Zusammenarbeit zweier sozialistischer Staaten im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß, insbesondere in der Sphäre der materiellen und geistigen Produktion - erfolgt auf der Grundlage der Gemeinsamkeit der politischen und ökonomischen Verhältnisse, der Ausnutzung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus sowie der Übereinstimmung in den politischen, ökonomischen und ideologischen Grundfragen. Die bilaterale wirtschaftliche sozialistische Integration dient dem Ziel der Vereinigung der materiellen und geistigen Potenzen zur ökonomischen Stärkung der nationalen Volkswirtschaften und der sozialistischen Staatengemeinschaft sowie der Erhöhung des Lebensniveaus der Werktätigen.
ILSE HEYMANN/PETER
WICK
Moderne Informationsverarbeitung in der Geschichtswissenschaft
Die bewußte und planmäßige Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR, die Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution und die ständige Systemauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus stellen auch die Geschichtswissenschaft als eine der wichtigsten Gesellschaftswissenschaften vor neue, große Aufgaben. Außerdem fordert die gesellschaftliche Praxis von den Historikern in weit stärkerem Maße als bisher das Mitwirken an der Lösung von Aufgaben, die für die Prognose, für Planung und Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung unerläßlich sind. Das bedeutet für die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft, in Forschung und Lehre mit modernen Methoden zu arbeiten. Die geschichtswissenschaftliche Information, als Teil des Forschungsprozesses, will mit den der Information'1 eigenen Wesensmerkmalen diesen Prozeß effektiver gestalten und bedient sich beim Ermitteln, Erschließen und Verarbeiten der relevanten Materialien in zunehmendem Maße mathematischer Methoden und der elektronischen Datenverarbeitung. Die geschichtswissenschaftliche Information (als Nachricht) ist identisch mit den historischen (gegenständlichen, literarischen, akustischen und optischen) Quellen und Darstellungen, mit den darin enthaltenen Einschätzungen und Interpretationen zu dem in Zeit und Raum ablaufenden konkreten Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung. Die geschichtswissenschaftliche Information und Dokumentation (als Teil des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses) umfaßt die (bisher meistens individuell betriebene) systematische Ermittlung und zweckbestimmte Erschließung, die Speicherung und Vermittlung von Informationen und Informationsquellen sowie die Neuerarbeitung von Informationen, deren Speicherung und Verbreitung mit den modernen Methoden der Informationswissenschaft.
1 2
Zur Diskussion über den Informationsbegriff und den Gegenstand der Informationswissenschaft vgl. Wiek. Peter, Informationsprobleme der Geschichtswissenschaft, in: Trobleme der Geschichtsmethodologie, hg. von Ernst Engelberg, Berlin 1972. ebenda.
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Ilse Heymann/Peter Wick Das Ziel der Informationsarbeit besteht darin, auf der Grundlage einer systematischen
Erfassung der gesamten Literatur zur Geschichte (in qualitativer Auswahl) eine inhaltliche Aufbereitung flir die Schwerpunktvorhaben der Geschichtswissenschaft, wie sie in den A r beitsplänen vorgesehen sind, vorzunehmen. Auch die Schaffung des wissenschaftlichen Vorlaufs ftir einen späteren potentiellen Bedarf, wie e r sich aus der Perspektive und Prognose ergibt, ist von ihr zu realisieren. Erste Voraussetzung flir das Bewältigen dieser Aufgabe ist eine möglichst exakte Ermittlung des Informationsbedarfs und die Festlegung, wie weit der ermittelte Bedarf befriedigt werden kann. Bisher war eine systematische Mitarbeit von Informationsfachleuten an den einzelnen Forschungsprojekten der Geschichtswissenschaft
nur in sehr beschränktem Maße möglich,
weil sich die Bedarfsermittlung zu sehr auf die allgemeine Thematik "deutsche Geschichte" oder aber auf bestimmte Zeitabschnitte beschränkte, die speziellen Planvorhaben nicht ausreichend beachtet wurden und die ständige Verbindung mit den einzelnen Forschungskollektiven ungenügend gepflegt wurde. Darüber hinaus fehlte auch bei den einzelnen Historikern eine genaue Vorstellung Uber die zur Bearbeitung notwendigen Informationsmaterialien. Es bestand und besteht noch zu sehr der Wunsch, möglichst alle anfallenden Quellen und Darstellungen selbst zu sehen, um dann eine qualitative Auswahl und die für das Arbeitsthema notwendige Auswertung treffen zu können. Das ist zwar bei eng begrenzten Themen einiger Spezialisten möglich, weil diese häufig wesentliche Informationen durch direkten Kontakt mit Spezialisten fUr die gleiche Thematik erhalten. Eine solche Informationsvermittlung ist jedoch für große Komplexthemen kein gangbarer Weg. Es gibt eine Anzahl von Methoden zur Ermittlung des Informationsbedarfs. Da wir es mit Historikern zu tun haben, die die Informationsmaterialien erhalten, wird sich die Befriedigung des Bedarfs hauptsächlich auf die geschichtswissenschaftliche Forschung konzentrieren müssen, was nicht ausschließt, daß auch Informationen für die Lehre und Propagierung historischer Erkenntnisse gegeben werden. In der Mehrzahl der Fälle benötigt der Historiker heute weniger einzelne Fakten oder Sachverhalte. Er braucht vor allem Informationen, um Ursachen und Hintergründe zu e r forschen, den Systemzusammenhang zu erkennen und andere Interpretationen auswerten zu können. Bisher besteht noch häufig der Wunsch, über alle neu erschienenen Arbeiten zu einem bestimmten Thema oder einer Periode unterrichtet zu werden. Diesem Wunsche wird man mit zahlreichen Schnellinformationen, Bibliographien und Referatekarteien gerecht. Aber damit wird die wissenschaftliche Arbeit nicht wesentlich erleichtert, denn die Kenntnis der gesamten Literatur verlangt von jedem einzelnen den Entschluß, wieviel e r davon lesen oder durcharbeiten möchte, einen von vornherein unsicheren Entschluß, weil
Moderne Informationsverarbeitung 451 jeder weiß, daß in den meisten Fällen von mehr oder weniger formalen Kriterien wie Titel, Seitenzahl, Verlag, herausgebende Institution nur unzureichende Rückschlüsse auf den Inhalt einer Arbeit gezogen werden können. Notwendig erscheint vielmehr die wissenschaftliche Aufbereitung aller anfallenden Monographien und Aufsätze durch spezialisierte Historiker, die zugleich die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Informationsaufbereitung besitzen. Diese Wissenschaftler, und nur diese, können eine Auswahl treffen und entscheiden, welche Literatur weitervermittelt werden muß, welche unbedeutend ist und welche lediglich bibliographisch festgehalten wird, weil sie die einzelnen Arbeiten sehen und auf Grund ihrer Qualifikation und ihrer ständigen Mitarbeit in den einzelnen Wissenschaftskollektiven die notwendigen Voraussetzungen für eine Erschließung und fachlich einwandfreie Speicherung der anfallenden Literatur besitzen. Nur auf diese Weise wird es in Zukunft möglich sein, aus der Masse der Literatur die neuen Erkenntnisse und besonders die neuen Interpretationen des historischen Geschehens sowie alle wesentlichen Polemiken ohne unnötigen Zeitverlust zu erfassen und für den allgemeinen und speziellen wissenschaftlichen Informationsbedarf bereitzustellen. Der Informationsbedarf ergibt sich aus der Prognose, der Perspektive und den J a h r e s plänen der Geschichtswissenschaft. Eine Spezifizierung, die unbedingt erforderlich ist, kann nur durch die oben geschilderte enge Mitarbeit von Informationseinrichtungen am wissenschaftlichen Arbeitsprozeß und darüber hinaus an der wissenschaftlichen Planungsarbeit sowie einem engen Kontakt zu den jeweiligen Leitungsebenen erreicht werden. Nur so kann der unmittelbare spezifische Bedarf befriedigt und ein entsprechender wissenschaftlicher Vorlauf für die in der Perspektive und Prognose vorgesehenen Schwerpunktvorhaben gewährleistet werden. Neben diesem "unmittelbaren" Informationsbedarf, der die Forschungsschwerpunktvorhaben der Geschichtswissenschaft betrifft, gibt es einen Informationsbedarf, der aus Verpflichtungen erwächst, die von den Informationseinrichtungen übernommen wurden. Dazu gehören Informationen für die ständige Aktualisierung der Lehre an den Hochschulen und des Geschichtsunterrichts in den Schulen, ferner die Zusammenstellung von allgemeinen g Bibliographien und anderen Informationsmitteln im In- und Ausland, das Sammeln und Aufbereiten von entsprechenden Materialien für Gesamtdarstellungen und Nachschlagewerke und endlich der umfangreiche Informationsbedarf von Kooperationspartnern des Inlandes und des sozialistischen Auslands, der im allgemeinen vertraglich fixiert ist.
3
Vgl. dazu Brückner. Rolf-Robert, Laufende Bibliographien zur deutschen Geschichte und ihre Stellung im einheitlichen System der Information, in: Jahrbuch für Geschichte, Bd 2, Berlin 1967, S. 378-419.
452
Ilse Heymann/Peter Wick Eine wesentliche Aufgabe jeder größeren Informationseinrichtung ist weiterhin die
regelmäßige Herausgabe einer Information für übergeordnete Leitungen. Eine solche Information enthält im allgemeinen von Spezialisten erarbeitete Synthesen und Analysen zu historischen Schwerpunktthemen und neuen erkennbaren Trends in der Geschichtsschreibung, Berichte über Tagungen, wesentliche Rezensionen, bestimmte charakteristische Auszüge aus Monographien, Aufsätzen und Zeitungsartikeln sowie Hinweise Uber moderne Formen der Leitungswissenschaft und der wissenschaftlichen Arbeltsorganisation. Schließlich gibt es noch einen speziellen Informationsbedarf jeder Informationseinrichtung, insbesondere der Zentralstellen, zu dem man die neuesten Ergebnisse der Informationswissenschaft, der Möglichkeiten zur Nutzung von elektronischen Maschinen im Informationsprozeß und der rationellsten und wissenschaftlich besten Informationsaufbereitung rechnen muß. Der ermittelte Informationsbedarf der jeweiligen Informationsnutzer bildet die Grundlage für den jährlich aufzustellenden Infprmationsplan. Dieser Plan hat die Aufgabe, die Informationsanforderungen der Nutzer mit den personellen und technischen Möglichkeiten der Informationseinrichtung in Übereinstimmung zu bringen. Bei dem derzeitigen Stand des Aufbaus von Informationseinrichtungen ist eine umfassende Befriedigung des gesamten Informationsbedarfs nicht möglich und vom Aufwand her nicht zu vertreten. Das gilt besonders für die Form der nachgewiesenen Informationen, die Art ihrer Darbietung und die 4 Intensität ihrer Aufbereitung. Eine sinnvolle Informationstätigkeit ist nur dann gewährleistet, wenn die erforderlichen Informationsmaterialien möglichst vollständig und schnell ermittelt, beschafft und für eine aktuelle Auswertung zur Verfügung gestellt werden. Zu diesen Materialien gehören vor allem Literatur- und Quellennachweise, z.B. Monographien, Zeitschriftenaufsätze, Sammelschriftenbeiträge, Zeitungsartikel, Berichte über Tagungen und ihre Protokolle, Dissertationen und Habilitationsschriften, Rezensionen, Informationsmittel anderer Informationseinrichtungen (Referatekarteien usw.), unveröffentlichte Manuskripte, nichtliterarische Informationsträger und gegenständliche Informationsquellen. Relative Vollständigkeit bedeutet, daß alle Informationsquellen, soweit sie ermittelt und beschafft werden können, ausgewertet werden. Daraus ergibt sich folgende Arbeitsteilung für die Information: 1.
Die Ermittlung, die titelmäßige Erfassung (auch der nicht für die Anschaffung vorge-
4
Engelbert. Heinz, Probleme des Aufbaus effektiver Informationsrecherchesysteme in der Wissenschaft, phil. Habil., Berlin 1969, S. 14 (Ms.).
Moderne Informationsverarbeitung
453
sehenen Arbeiten) und Bereitstellung der literarischen Informationsquellen durch die 5 Bibliotheken. 2.
Die Auswahl, Auswertung und aktuelle Ausnutzung dieser Informationsquellen für die
Wissenschaft und die Vorbereitung für die Speicherung durch Historiker (bzw. Archivare) mit informationswissenschaftlicher Ausbildung. 3.
Die Speicherung, die Zusammenstellung und Auslieferung von Informationen zu bestimm
ten Themen, Zeitabschnitten usw. sowie verschiedene Recherchen. Diese Arbeiten können weitgehend von Maschinen übernommen werden und bilden gleichzeitig die Grundlage für verdichtete Berichte zu bestimmten Schwerpunktarbeiten der Geschichtswissenschaft. Neben der unmittelbaren Mitwirkung am Wissenschaftsprozeß, der unseres Erachtens wichtigsten und effektivsten Informationsvermittlung, gibt es die Möglichkeit, verschiedene in ihrem Aufbereitungsgrad unterschiedliche Informationsmittel zu bearbeiten und herauszugeben. Auf diese Weise wird erreicht, daß neue wissenschaftliche Ergebnisse schnell und fachgerecht einem größeren Nutzerkreis, vor allem Hochschullehrern und Lehrern, zugänglich gemacht werden können. Beim Erarbeiten und Zusammenstellen muß dabei von den speziellen Bedürfnissen der einzelnen Nutzerkategorien ausgegangen werden, um einen höchstmöglichen Nutzen zu erzielen. So werden in einigen Fällen aktuelle Titelnachweise (Schnellinformationen) ausreichen, in anderen Fällen sind bestimmte Analysen oder Inhaltsangaben der einzelnen Monographien und Aufsätze erforderlich (Referatekarteien), und oft erfüllen verdichtete Berichte (Fortschrittsberichte) zu einer bestimmten Periode oder einer Thematik am besten die gestellten Anforderungen. So müssen die Informationseinrichtungen auf jeden Fall ihre Informationsmittel auf den Bedarf und die speziellen Nutzerprofile abstimmen. Da die Literaturflut - wie überall in der Wissenschaft - auch in der Geschichtswissenschaft ständig zunimmt und schon heute kaum noch von einem Historiker auf seinem Spezialgebiet übersehen werden kann, müssen geeignete Methoden zum Aufbereiten dieses Materials gefunden werden. Die modernste Art für die Bewältigung der anfallenden Informationen ist die Anwendung der Elektronik. Während für die Verarbeitung von technischen und naturwissenschaftlichen Daten mit Hilfe von elektronischen Maschinen bereits seit längerer Zeit Erfahrungen vorliegen, begann die elektronische Datenverarbeitung in der Geschichtswissenschaft erst Anfang und
5
Verordnung über die Aufgaben des Bibliothekssystems bei der Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik v. 31.5.1968, Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1968, Teil II. Nr. 78, v. 19.7.1968.
454
Ilse Heymann/Peter Wick
besonders Mitte der sechziger Jahre. Der Einsatz des Computers als Hilfsmittel für die Geschichtswissenschaft wurde auf dem Internationalen Historikerkongreß im August 1970 in Moskau im Rahmen des ersten Hauptthemas (Der Historiker und die Sozialwissenschaften) behandelt. Die dazu vorgelegten Berichte und zahlreichen Diskussionsbeiträge zeigten, wie bedeutend die mathematischen Methoden sind, wiesen aber auch auf die ihrer Verwendung gesetzten Grenzen hin, da sie nur eine Verarbeitung quantifizierbarer Prozesse als g methodisches Hilfsmittel der Geschichtswissenschaft erlauben. Bei der Entwicklung von Voraussetzungen fUr den Einsatz mathematischer Methoden und elektronischer Rechenmaschinen in der Geschichtswissenschaft und ihrer Anwendung in der geschichtswissenschaftlichen Forschung haben besonders die sowjetischen Wissenschaftler, aber auch Historiker anderer sozialistischer Länder beachtliche Erfolge aufzuweisen. In den USA, in Frankreich, Schweden und anderen kapitalistischen Ländern wurden ebenfalls wertvolle Erfahrungen bei der maschinenmäßigen Bearbeitung historischer Themen gesammelt. Die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft bedient sich in zunehmendem Maße der quantitativen Analyse historischer Teilprozesse. Dabei kommt es darauf an, die Methoden des historischen Materialismus, die Lehre der gesetzmäßigen Entwicklung der Gesellschaft in ihrem Systemzusammenhang bei der qualitativen Einschätzung der mit moderner Rechentechnik gewonnenen quantitativen Daten anzuwenden. Eine Zusammenfassung der bisherigen Erfahrungen der elektronischen Datenverarbeitung zeigt sehr deutlich, daß die Elektronik auch langsam in der Geschichtswissenschaft an Boden gewinnt. So finden wir die Einspeicherung bibliographischer Angaben und die automatische Herstellung von Bibliographien und Literaturzusammenstellungen oder von Registern verschiedener Art nach einer Bibliographie oder Textvorlage. Es werden Statistiken zusammengestellt und bestimmte Entwicklungsvorgänge in der Wirtschaftsgeschichte, der Bevölkerungsgeschichte, der Geschichte der Klassen und des Klassenkampfes und anderen quantifizierbaren Bereichen berechnet. Die Datenverarbeitung hilft bei der Analyse von Quellentexten, die Autoren zu ermitteln oder Fälschungen nachzuweisen. Es ist ebenfalls möglich, Sachverhalte und historische Fakten in einem elektronischen Speicher zu erfassen, in gewisser, wenn auch begrenzter Weise miteinander zu kombinieren mit dem Ziel, die entsprechenden Informationsquellen möglichst vollständig und exakt ohne Redundanz nachgewiesen zu erhalten. Außerdem wird die Elektronik mehr und mehr bei der Erfassung und Auswertung gegenständlicher historischer Quellen, z.B. in der Archäologie, angewandt.
6
Vgl. dazu Wiek, in: Probleme der Geschichtsmethodologie.
Moderne Informationsverarbeitung
455
In allen Anwendungsbereichen der Datenverarbeitung geht es darum, große Materialmengen, in formalisierter Form vorbereitet und in einen Computer eingespeichert, nach bestimmten, vom Historiker festzusetzenden Gesichtspunkten zu bearbeiten. Die erzielten Bechenergebnisse werden dann vom Historiker in den richtigen Zusammenhang der geschichtswissenschaftlichen Forschung gestellt. Diese Verarbeitung von Daten durch den Computer entlastet den Historiker weitgehend von Such- und Recherchearbeiten, so daß es ihm möglich ist, einen größeren Teil seiner Arbeitszeit als bisher schwerpunktmäßig auf den eigenschöpferischen Prozeß zu konzentrieren. Die Spezialkenntnisse der einzelnen Historiker werden rationeller eingesetzt und führen schneller zu qualitativ höheren Arbeitsergebnissen. Der Maschineneinsatz fUr die gesellschaftswissenschaftliche Arbeit löst in zunehmendem Maße manuelle Hilfsmittel zur Rationalisierung der Arbeiten ab. In den letzten J a h r zehnten haben verschiedene Karteiformen Verwendung gefunden. Neben der alten traditio7 8 nellen Steilkartei der Bibliotheken werden Kerblochkarten und Sichtlochkarten benutzt, die für eine Ubersichtliche Quantität von Daten bereits bestimmte Prinzipien der maschinellen Datenverarbeitung anwenden. Es ist deshalb auch nicht zu empfehlen, alle vorhandenen Karteien aufzulösen und in einem Computer einzuspeichern. So wird z.B. die Autoren- und Titelkartei zur deutschen Geschichte im Zentralinstitut fUr Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin als Steilkartei weitergeführt. Die KerblochZeitschriftenkartei, in der alle auszuwertenden Zeitschriften aufgenommen sind, wird ebenfalls fortgesetzt. Zu begrenzten Informationskomplexen werden sogar Sichtlochkarteien aufgebaut, die ein Einspeichern und Abfragen nach sachlichen Gesichtspunkten verhältnismäßig schnell und einfach gestatten. Die wesentlichen Vorteile einer elektronischen Datenverarbeitung sind für große Materialmengen unbestritten. Allerdings muß man sich darüber klar sein, daß der Computer nicht alle Arbeltsvorgänge der Forschung ersetzen kann.
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8
Kerblochkarten sind nach einem bestimmten System vorgelochte Karteikarten, deren Löcher zur Speicherung von Aussagen, in unserem Falle von Zeitschriftentiteln, nach einem bestimmten, vorher festgelegten Schlüssel eingekerbt und mit Hilfe eines NadelVerfahrens manuell abgefragt werden können. Der Klartext ist auf den Karten angegeben und kann direkt ermittelt werden. Sichtlochkarten sind nicht vorgelochte Lochkarten für jeweils ein Sachwort oder eine Aussage, alphabetisch geordnet, in welche die Nachweise für dieses Sachwort oder die Aussage eingelocht und wo dann im Durchblick gegebenenfalls zwischen zwei oder mehreren Karten das Sachwort und eine beschränkte Anzahl Kombinationen der Sachwörter ermittelt werden können. Sie erleichtern die sachliche Speicherung und Verarbeitung, wenn auch zusätzlich eine Autorenkartei geführt werden muß*
456
Ilse Heymann/Peter Wick Der Rechenautomat oder Computer ist ein "technisches System, das nach einem durch
den Menschen direkt oder indirekt vorgegebenen Algorithmus, das ist eine vorgegebne endliche Vorschrift, die Aufgabe realisiert, vorhandene Informationen selbständig zu verg arbeiten" . Das bedeutet, daß bestimmte routinemäßige Sortier- und Vergleichsprozesse der Informationsverarbeitung zuverlässiger und schneller durchgeführt werden können als bei manueller Ausführung. 1 0 Ein Computer arbeitet weitgehend nach mathematisch-logischem Prinzip und t r a n s formiert die in ihm enthaltene Menge von Informationen. Der schöpferische menschliche Geist ist also sowohl bei der Eingabevorbereitimg der einzelnen Informationseinheiten als auch beim Algorithmus unentbehrlich. Neue Erkenntnisse, die ihm nicht eingegeben sind, kann der Computer nicht erbringen, zumindest nicht nach dem heutigen Stand der Technik. Das Zusammenwirken von Mensch und Maschine erleichtert die Forschungsarbeit wesentlich; denn alle von Menschen erarbeiteten neuen Ergebnisse werden in entsprechender Form der Maschine eingegeben, so daß man sie allen Interessierten zur Verfügung stellen kann, genau so wie die sonst in ihm enthaltenen Informationen. Durch die Transformierung der im Speicher vorhandenen Informationseinheiten werden ebenfalls die verschiedenen Möglichkeiten einer Neubearbeitung durch den Forscher geschaffen. Daraus folgt, daß der Maschine mit dem jeweiligen Programm und den in ihr vorhandenen Daten alle routinemäßig ablaufenden Prozesse und die wesentlichen notwendigen Kombinationen vom Menschen vorgegeben werden müssen. In der DDR sind verschiedene Typen von Computern im Einsatz, die auch für die wissenschaftliche Arbeit verwandt werden. Man ist bemüht, die Programme für die verschiedenen Tsrpen ohne großen Zeit- und Kostenaufwand kompatibel zu machen. Auf eine Computerbenutzung ist auch die geschichtswissenschaftliche Information und Dokumentation ausgerichtet, und die Programmierung dafür ist eingeleitet. Mit dem Einsatz dieses Programms werden der Forschung die für die jeweilige Thematik notwendige Literatur oder entsprechende Auszüge in qualifizierter Auswahl zur Verfügung gestellt. Dazu ist auch ein geschichtswissenschaftlicher Thesaurus eine unumgängliche Voraussetzung, der sowohl als computergerechte Recherchesprache als auch als Grundlage für die Literaturerschließung in Bibliotheken und die Aufbereitung von Archiv-
9
Tschirwitz. Reiner. Mensch, Impuls, Maschine. Was ist, was soll ein Computer?, in: Urania, 1969, H. 7, S. 29. 10 Vgl. dazu Rosenbaum. Hans-Dieter. Probleme der Thesaurusarbeit und die nächsten Aufgaben zu ihrer Lösung in der DDR, in: Thesauri für mechanisierte Informationsrecherchesysteme. Nationales Symposion in Berlin am 5. und 6. April 1967, Berlin 1967. S. 36 = ZHD-Schriftenreihe 16.
Moderne Informationsverarbeitung
457
material dienen kann, damit Ermittlungsarbeiten bei allen Einrichtungen nach gleichen Prinzipien vorgenommen werden können. Darüber hinaus sichert ein Thesaurus, der mit anderen gesellschaftswissenschaftlichen Thesauri kompatibel ist, auch die Bereitstellung von Informationsquellen für interdisziplinäre Forschungen. Die Vorarbeiten eines Thesaurus für den gesamten Bereich der Geschichtswissenschaft in der DDR sind in vollem Gange. Im folgenden werden Erfahrungen wiedergegeben, die im Zentralinstitut für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften gesammelt wurden. Mit dem Thesaurus wird für die Eingabe und die Bearbeitung durch den Computer eine "Recherchesprache" 1 * entwickelt. Die Recherchesprache ist ein formalisiertes semantisches System, das dazu bestimmt ist, den Sachinhalt eines Dokuments oder einer Informationsanfrage auszudrücken. Sie gestattet also durch eine Standardisierung oder Normierung der Inhaltsbeschreibung, daß dieselben Sachverhalte durch ein und dasselbe Suchwort (Deskriptor) formuliert werden und die maschinelle Selektion durch einen einfachen Codevergleich erfolgen kann. Ferner erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß bei Anfragen aus dem Speicher alle zutreffenden und möglichst nur die zutreffenden Dokumente herausgegeben werden. Die Suchwörter flir die geschichtswissenschaftliche Information sind also Wörter, die in ihrer Gesamtheit den gesellschaftlichen Ablauf, wie er sich in den Dokumenten widerspiegelt, "normiert" erfassen und wiedergeben. Diese normierten Wörter (Deskiptoren) werden in einem Thesaurus zusammengefaßt. In der Information ist ein Thesaurus "eine meist alphabetisch und systematisch geordnete Sammlung von normierten Schlagwörtern (Deskriptoren) mit den zugeordneten Sachwörtern des entsprechenden Fachgebietes, mit Angabe der zwischen ihnen bestehenden Begriffsbeziehungen" 13 Der Thesaurus besteht meist aus drei Teilen : 1.
12
.
einer alphabetischen Liste, in der alle Deskriptoren und Schlagwörter verzeichnet
sind, wobei von den Schlagwörtern auf die jeweiligen Deskriptoren verwiesen wird, da nur diese zur Erschließung des Sachinhalts eines Dokuments zu verwenden sind (siehe Anlage 1). Dem alphabetischen Teil sind auch die sogenannten Modifikatoren beigegeben: Das sind Sachwörter, die nicht fachspezifisch, aber fUr die Erschließung des Inhalts notwendig sind. 2.
einem systematischen Teil, der sich meist wiederum aus zwei Teilen zusammensetzt:
aus Sachgebietstafeln und Tafeln der einzelnen thematischen Gruppen. Die Sachgebietstafeln 11 Vgl. dazu ebenda, S. 30 ff. 12 Vgl. dazu ebenda, S. 32. 13 Vgl. dazu Michajlöv. A.I./Öernyj, A.I./Giliarevskij. R . S . , Osnovy naucnoj informacii, Moskau 1965, S. 324 f . : Richtlinie und methodische Anleitung zur Entwicklung von Thesauri im System der gesellschaftswissenschaftlichen Information und Dokumentation" (vorrätige Fassung vom August 1969), hg. von der Zentralen Leitung für gesellschaftswissenschaftliche Information und Dokumentation, Berlin 1969.
458
Ilse Heymann/Peter Wick
fassen die einzelnen thematischen Gruppen nach ihren großen Komplexen zusammen. Den thematischen Gruppen, die von der Systematik des entsprechenden Fachgebiets ausgehen (allerdings, da sie "thesaurusgerecht" sein müssen, nicht unbedingt völlig mit ihr Ubereinstimmen), werden die im alphabetischen Teil aufgeführten Deskriptoren nach sachlich-thematischen Gesichtspunkten zugeordnet, um den Zugang zur Inhaltlichen Erschließung des Materials zu vereinfachen. Dieser systematische Teil kann noch in graphischer Form dargestellt werden. Hier werden die Beziehungen der einzelnen Deskriptoren und die der einzelnen thematischen Gruppen zueinander deutlich. 3.
dem einleitenden Teil, der die Benutzungsanleitung enthält. Um die Verbindung zwischen
dem systematischen und alphabetischen Teil herzustellen, wird hinter jedem Deskriptor im alphabetischen Teil die Nummer der thematischen Gruppe angegeben, der er zugeordnet ist. Ferner gehören als Ergänzung zum Thesaurus die Hilfslisten, die die Einspeicherung der formalen bibliographischen Daten angeben, die Aufnahmerichtlinien für die Namen und Begionalbezeichnungen, die Bewertungsmerkmale sowie die syntaktischen Beziehungen zwischen den einzelnen Deskriptoren, die bei der Erschließung des Inhalts und der Aufbe14 reitung für die Speicherung und maschinelle Verarbeitung beachtet werden müssen. FUr die Geschichtswissenschaft als allgemeinste nicht systematische Gesellschaftswissenschaft gestaltet sich der Aufbau eines Thesaurus sehr kompliziert. Da jedes Wort, jede Wortverbindung die Benennung eines Begriffes ist, war die Untersuchung über die Spezifik des historischen Begriffs Ausgangspunkt der Sammlung und Auswahl der historischen Fakten und Sachverhalte.
15
Jede historische Tatsache, unter der wir jedes Ereignis und sein Resultat verstehen
,
ist zwar unwiederholbar, enthält aber gleichzeitig Elemente des Allgemeinen, Wesentlichen und Notwendigen. Historische Begriffe stellen Relationen verschiedener Art dar; die Spezifik des historischen Begriffs liegt in seiner empirischen Entstehung und Determinierung in Zeit und Raum jeweils im konkreten gesetzmäßigen Entwicklungsprozeß. Der historische 16 Begriff ist mehr als Begriffe anderer Disziplinen der Veränderung unterworfen.
14 15
Ebenda, S. 48 f. Vgl. dazu Bollhagen. Peter. Soziologie und Geschichte, Berlin 1966, und Kon, I . S . , Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts, 2 Bde, Berlin 1964. 16 Heymann, Ilse, Parteilichkeit im geschichtswissenschaftlichen Thesaurus, in: Parteilichkeit in der gesellschaftswissenschaftlichen Information und Dokumentation. Wissenschaftliches Seminar. Arbeitsmaterialien, Berlin 1969, S. 1 f . , 15 (Ms.).
Moderne I n f o r m a t i o n s v e r a r b e i t u n g
459
J e nach s e i n e m U r s p r u n g und s e i n e r Verwendung in d e r G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g hat e r einen b e s t i m m t e n Inhalt. D i e s e r Inhalt kann s i c h im Laufe d e s g e s e l l s c h a f t l i c h e n Entwicklungsp r o z e s s e s v e r ä n d e r n , kann u n t e r s c h i e d l i c h i n t e r p r e t i e r t w e r d e n . H i s t o r i s c h e F a k t e n und h i s t o r i s c h e Sachverhalte drücken v e r s c h i e d e n e Relationen a u s , und j e nach i h r e r Bewertung e r h a l t e n s i e einen u n t e r s c h i e d l i c h e n Sinn. Die d i e s e n B e g r i f f e n e n t s p r e c h e n d e n W ö r t e r , die sowohl
Einzelheiten d e r h i s t o r i s c h e n
Entwicklung a l s auch Sachverhalte a u s d r ü c k e n , m ü s s e n f ü r die e l e k t r o n i s c h e D a t e n v e r a r beitung f o r m a l i s i e r t w e r d e n . Das bedeutet n a t ü r l i c h nicht, daß s i e i h r e s Inhalts b e r a u b t w e r d e n . Die im g e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e n I n f o r m a t i o n s s y s t e m anzuwendenden Daten o d e r Datengruppen r e p r ä s e n t i e r e n B e g r i f f e , die h i s t o r i s c h entstanden sind und d i e , wenn s i e f ü r s i c h allein s t e h e n , nicht i m m e r den Klasseninhalt eindeutig w i d e r s p i e g e l n . So w i r d e s im T h e s a u r u s S a c h w ö r t e r geben, die sowohl in d e r b ü r g e r l i c h e n wie in d e r m a r x i s t i s c h e n G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g Verwendung finden und e r s t d u r c h i h r e Verknüpfung und im P r o z e ß d e r A u s w e r t u n g ihren eindeutig p a r t e i l i c h e n Inhalt gewinnen. H e r m a n n Ley w e i s t darauf hin, daß "Daten und Datengruppen e i n e s S p e i c h e r s S a c h v e r halte r e p r ä s e n t i e r e n , die f ü r die A r b e i t e r k l a s s e o d e r die K l a s s e d e r K a p i t a l i s t e n e n t s p r e chend i h r e r d i a m e t r a l entgegengesetzten Zielgebung völlig v e r s c h i e d e n s i n d . Sind die Grunddaten identisch, dann e r h a l t e n s i e i h r e n Sinn in einem Z u s a m m e n h a n g , d e r von K l a s 17 s e n i n t e r e s s e n vorgegeben w i r d . " D a r a u s e r g i b t s i c h , daß jede S c h e m a t i s i e r u n g g e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e r B e g r i f f e 18 u n t e r e i n e m k l a r e n , w e r t e n d e n Aspekt e r f o l g e n m u ß . Dem S y s t e m c h a r a k t e r d e r Geschichte e n t s p r e c h e n d w e r d e n im T h e s a u r u s S a c h w ö r t e r v e r s c h i e d e n e r B e r e i c h e e r f a ß t , g e s e l l s c h a f t l i c h e und n a t ü r l i c 19 h e Vorgänge, auch Bewußts e i n s p r o z e s s e , die sich e b e n f a l l s in Daten d a r s t e l l e n l a s s e n .
Die Einordnung d i e s e r
Daten in ihren System Zusammenhang ist u n e r l ä ß l i c h . Alle im T h e s a u r u s enthaltenen D e s k r i p t o r e n dienen dazu, die in den v e r s c h i e d e n e n Dokumenten vorhandenen S a c h v e r h a l t e zu e r f a s s e n . F ü r die V e r a r b e i t u n g d e r Vielzahl d e r anfallenden Daten m i t i h r e n K o m b i n a t i o n s m ö g l i c h -
17 18
19
Lev. H e r m a n n . Einige G r u n d s ä t z e d e r P a r t e i l i c h k e i t in d e r g e s e l l s c h a f t s w i s s e n s c h a f t lichen F o r s c h u n g , L e h r e und Anwendung, in: Ebenda, S . 1, 5 . Die von C a r l August L ü c k e r a t h in s e i n e m Aufsatz " P r o l e g o m e n a e i n e r e l e k t r o n i s c h e n D a t e n v e r a r b e i t u n g f ü r die G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t " , in: H i s t o r i s c h e Z e i t s c h r i f t , Bd 207, 1968, H. 2, S. 282, a u f g e s t e l l t e methodische G r u n d f o r d e r u n g " e i n e r k r i t i s c h e n w e r t f r e i e n S c h e m a t i s i e r u n g " w i d e r s p r i c h t deshalb g r u n d s ä t z l i c h u n s e r e r Konzeption. L e v . H e r m a n n , Zu einigen P r o b l e m e n i n h a l t l i c h e r I n f o r m a t i o n s v e r a r b e i t u n g , in: Deutsche Z e i t s c h r i f t f ü r Philosophie, 1970, H . 4 , S. 426.
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keiten ist der Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung eine wesentliche Hilfe. Denn die Maschine kann diese Daten, die ihr codiert eingegeben werden, jeweils nach Bedarf dem vorgegebenen Programm entsprechend nach mathematisch-logischen Prinzipien selbständig verarbeiten. Da sie aber die menschlichen Assoziationsvorgänge nicht selbst vornehmen kann, bedeutet dies, ihr die wichtigsten notwendigen "Gedankenverbindungen" einzugeben. Nicht alle "möglichen" Gedankenverbindungen können erfaßt werden. Die Kombinationen leiten sich im wesentlichen von der Basis-Überbau-Beziehung und den im Perspektiv- und Prognoseplan vorgegebenen Forschungsthemen der Leitung und der einzelnen Wissenschaftskollektive ab. Da die Informationstätigkeit als Teil der Forschung gleiche Wesensmerkmale wie die Forschung aufweist, werden für den Thesaurus diejenigen historischen Sachwörter ausgewählt, die auf der Grundlage des dialektischen und historischen Materialismus die gesellschaftliche Entwicklung sowohl in ihren Einzelheiten als auch in ihren Zusammenhängen und in ihrer gesetzmäßigen historischen Entwicklung widerspiegeln. Auf diese Weise werden Voraussetzungen geschaffen, "die historischen Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung historisch-konkret zu erfassen und ihr Wirken 20
objektiv darzustellen"
. Da die Auswahl und Erschließung der Informationsquellen in
direktem Zusammenhang mit der Darstellung stehen, ist es klar, daß die Parteilichkeit und Klassenbezogenheit bereits bei der Erarbeitung, aber besonders bei der Anwendung der Deskriptorenliste zum Ausdruck kommen muß. Die Gesamtheit der im Thesaurus aufgenommenen Deskriptoren und Schlagwörter, die historischen Fakten und Sachverhalte, spiegelt die Struktur der Gesellschaft, ihren Systemcharakter und ihren dialektischen Entwicklungsprozeß wider. Die Abfolge und der innere Zusammenhang der ökonomischen Gesellschaftsformationen als Grundkategorien der gesetzmäßigen gesellschaftlichen Entwicklung müssen durch Deskriptoren erkennbar 21
sein.
Besonderes Schwergewicht liegt auf der Rolle und dem Kampf der Volksmassen
und vor allem der Arbeiterklasse und ihrer Parteien bei der Durchsetzung des historischen Fortschritts in den antagonistischen Gesellschaftsformationen und auf der Bolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei sowie der Staatsmacht in der sozialistischen Gesellschaftsfor-
20
Unbewältigte Vergangenheit. Handbuch zur Auseinandersetzung mit der westdeutschen bürgerlichen Geschichtsschreibung, hg. von Gerhard Lozek, Helmut Meier u . a . , Berlin 1970, S. 19. 21 Lozek. Gerhard/Küttler. Wolfgang. Die historische Gesetzmäßigkeit der Gesellschaftsformationen als Dialektik von Ereignis, Struktur und Entwicklung, in: Zeitschr. f. Gesch.wiss. 18, 1970, H. 9, S. 1139 f.
Moderne Informationsverarbeitung
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mation. Die Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse, das Wechselverhältnis von Basis und Überbau bei der gesellschaftlichen Entwicklung muß ebenfalls deutlich werden. Die Vielfalt der gesellschaftlichen Erscheinungen mit ihren Schwerpunkten kommt in dem nach marxistisch-leninistischen Prinzipien gegliederten systematischen Teil zum Ausdruck (siehe Anlage 2). Die thematischen Gruppen spiegeln den historischen Zusammenhang in sachlich gegliederten Stammbäumen, denen die einzelnen Deskriptoren zugeordnet werden, wider. In großen Sachgebietstafeln werden die einzelnen thematischen Gruppen wiederum nach dem Prinzip des historischen Materialismus zusammengefaßt. Verweise im graphischen Teil ermöglichen die Kombinierung mit Deskriptoren anderer thematischer Gruppen (siehe Anlage 3). Diese Gliederung nach sachlich-logischen Aspekten kommt der Aufbereitung durch den Computer wesentlich entgegen; die Deskriptoren werden auf ein übersichtliches Maß beschränkt, aber durch die Kombinationsmöglichkeiten aussagekräftiger, als wenn man eine getrennte Gliederung nach den ökonomischen Gesellschaftsformationen vornähme. Hierbei würden sich viele Sachwörter wiederholen, was der Eindeutigkeit der Deskriptoren und dem System der EDV widerspricht. Neben den rein sachlich gegliederten thematischen Gruppen wird es beispielsweise eine Gruppe für methodologische Aspekte geben, die neben den Modifikatoren eine wichtige Ergänzung für die geschichtswissenschaftlichen Forschungsmethoden darstellt. Die besonders für die Geschichtswissenschaft wichtige Einordnung aller historischen Tatsachen in ihren gesellschaftlichen Zusammenhang und ihre territoriale Umwelt wird durch besondere, Zeit und Raum kennzeichnende Listen vorgenommen. Diese Hilfslisten sind die Periodisierung der Geschichte, die entsprechend den Haupt- und Unterabschnitten, entweder nach Ziffern oder auch Bezeichnungen wie Feudalismus u. ä . unterteilt, die zeitlich konkrete Einordnung ermöglicht. Auch eine Liste der Regionalbezeichnungen wird erarbeitet, in die jede vorkommende Orts- oder Landesbezeichnung einzugliedern ist. Selbstverständlich gewährleistet dieser Aufbau des Thesaurus, daß die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Historiographie, die ja eine der Hauptaufgaben der marxistischleninistischen Historiker ist, geführt werden kann. So werden beispielsweise Deskriptoren, die eine bürgerliche Auffassung ausdrücken, aufgenommen. Außerdem erhält jede Arbeit eine "Wertung", d . h . , es werden der Maschine Symbole eingegeben, die eine Wertung nach bestimmten Richtlinien ermöglichen. Die Bewertung ist ein nicht leicht zu lösendes Problem.
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Ilse Heymann/Peter Wick
Es bereitet große Schwierigkeiten, die verschiedenen Tendenzen der bürgerlichen und der revisionistischen Historiographie einzuspeichern. Nicht immer ist gleich beim Auftreten einer neuen Auffassung ersichtlich, um welche Richtung es sich handelt bzw. ob sich daraus überhaupt eine XUchtung entwickelt oder ob es sich um eine Einzelauffassung handelt. Da diese Bewertung aber fUr die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung eine entscheidende Rolle spielt, muß sie erfaßt werden. Von diesen theoretischen Untersuchungen ausgehend, wurden rund 30 000 Sachwörter zur Geschichte gesammelt. Sie wurden Standardwerken der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung - wie der "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung", der "Deutschen Geschichte in Daten" u . a . - , wesentlichen Artikeln aus marxistisch-leninistischen historischen Zeitschriften und Protokollen von Tagungen des Zentralkomitees der SED entnommen, ergänzt durch vorliegende Schlagwortverzeichnisse, SachwörterbUcher u . a . Da die Fakten und Sachverhalte nicht im freien Raum schweben, sondern stets in einem historischen Zusammenhang stehen, wurden auch Sachwörter gesammelt, die keinen speziellen geschichtswissenschaftlichen Inhalt haben, sondern den dialektischen Entwicklungsprozeß ausdrucken (Modifikatoren). Beim Prozeß des Sammeins wurden folgende Arten von Sachwörtern aufgenommen: Historische Fakten und Sachverhalte wie Antihitlerkoalition, Antikriegsbewegung, Agrargeschichte, Große Sozialistische Oktoberrevolution, Großer Deutscher Bauernkrieg, Industrialisierung, Internationale Solidarität, Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Reichstagsbrand, Wahlen, Warschauer Vertrag; Begriffe der theoretisch-systematischen Gesellschaftswissenschaften wie Revolution, Feudalismus; Begriffe, die von der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung geprägt wurden - wie Systemauseinandersetzung - , sowie Kategorien der marxistischen Dialektik wie Widerspruch. Ferner wurden Sachwörter der Nachbardisziplinen der Geschichte aufgenommen, z . B . der Literaturgeschichte wie Roman sowie der historischen Hilfswissenschaften wie Urkundenformen, Mtinzordnungen und Sachwörter der Naturwissenschaft und Technik wie Kernphysik, Maschinenbau. Als Vorbereitung fUr die systematische Ordnung wurde jedes Sachwort einem oder mehreren Schlagwörtern zugeordnet, die diesem als Gattungsbegriff zugehörig sind. Beispiel:
Sachwort
Schlagwort
Reichstagsbrandprozeß
Faschistischer T e r r o r Prozesse KPD
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463
Die Schlagwörter wiederum wurden jeweils einer oder mehreren der 33 thematischen Gruppen zugeordnet. Diese Gruppen wurden entsprechend der marxistisch-leninistischen Systematisierung der Geschichte und nach den Erfahrungen der bisherigen Informationsarbeit ausgewählt. Beispiel:
Schlagwort
thematische Gruppe
Faschistischer T e r r o r
Innenpolitik
Prozesse
Recht und Justiz
KPD
Arbeiterparteien
Die gesammelten Sach- und Schlagwörter mit thematischen Gruppen wurden auf Karteikarten DIN A 6 geschrieben. Zur weiteren Bearbeitung nahmen wir die Hilfe einer Bechenanlage in Anspruch. Alle Sach- und Schlagwörter wurden auf Maschinenlochkarten geschrieben und letztere thematischen Gruppen zugeordnet. Mit Hilfe eines Rechners wurden diese Karten alphabetisiert und auf zwei Listen, eine der Sachwörter und eine der Schlagwörter, ausgedruckt. Aus diesen beiden Listen wurde eine vorläufige Deskriptorenliste von etwa 2 500 Deskriptoren zusammengestellt, die als Grundlage für die weitere Bearbeitung dient. Von den 30 000 Sach- und Schlagwörtern werden nur etwa 25 000 in den Thesaurus aufgenommen, davon 3 000 als Deskriptoren. Die übrigen erscheinen als Schlagwörter, von denen auf einen Deskriptor verwiesen wird, oder sie werden ausgesondert, wenn es sich um Doubletten handelt und um Wörter, die für die Geschichtswissenschaft keine Aussagekraft besitzen oder zu spezielle Begriffe der Nachbardisziplinen sind. Von den Synonymen wird auf den Deskriptor verwiesen. Die Forderungen, die die Informationswissenschaft an die Aussagekraft eines Deskriptors stellt, sind folgende: Er muß den Begriffsinhalt möglichst vollständig wiedergeben, unter den Synonymen der wissenschaftlich exakteste, ein von der Wissenschaft allgemein anerkannter Terminus sein; ferner muß e r sprachlich korrekt und eindeutig sein, d.h. nur eine Interpretation zulassen. Für die Geschichtswissenschaft folgt daraus, daß vorwiegend solche Sachwörter zu Deskriptoren werden, die in der marxistisch-leninistischen Historiographie verwendet werden. Dies können sowohl bürgerliche als auch marxistische Begriffe sein. Um zu dem wissenschaftlich exaktesten und eindeutigsten Wort zu kommen, bedarf es einer sehr umfangreichen Prüfung, denn selbst in der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft werden Begriffe häufig nicht mit demselben Inhalt gebraucht und für einen Begriff verschiedene Synonyme verwendet. In Zusammenarbeit mit den Spezialisten werden aus der Fülle der gesammelten Sachwörter die geeigneten ausgewählt, die Deskriptoren und dazugehört-
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geil Schlagwörter festgelegt, die Synonyme auf einen Deskriptor zurückgeführt. Unter Synonymen versteht man in der Thesaurusarbeit nicht nur echte Synonyme - wie Kommunistische Partei Deutschlands = KPD; United Nations, UNO, Vereinte Nationen = UN - , sondern auch Sachwörter, die Ähnliches ausdrücken. So wurden beispielsweise die Sachwörter Bauernaufstände, Bauernempörungen, Bauernerhebungen, Bauernrevclten und Bauernunruhen gesammelt. Die Aufnahme aller dieser Sachwörter würde das Material unnötig aufschwemmen und zu Informationsverlusten bei der Recherche führen, daher muß man sich auf das prägnanteste einigen. Synonyme sind auch Sachwörter, die in der bürgerlichen Historiographie verwendet werden, für die aber ein adäquater marxistischer Begriff vorhanden ist. So wird beispielsweise das Sachwort Arbeitnehmer nicht aufgenommen, dafür nur das Sachwort Arbeiter bzw. Werktätiger. Um jedes Mißverständnis soweit wie möglich auszuschließen, wird das Synonym entweder als Schlagwort in den Thesaurus aufgenommen und von ihm auf den entsprechenden Deskriptor verwiesen, oder es wird in der Kartei der gesammelten Sachwörter von dem entsprechenden Sachwort auf den Deskriptor verwiesen. Entscheidend für die Aufnahme ist der heutige Gebrauch in der marxistisch-leninistischen Historiographie. Die Eindeutigkeit der Deskriptoren verlangt einen hohen Arbeitsaufwand. Der Bedeutungswandel eines Begriffs im Laufe der historischen Entwicklung bereitet einige Schwierigkeiten, auch gibt es unterschiedliche Auffassungen Uber den Inhalt eines Begriffs in der marxistisch-leninistischen Historiographie. Ferner sind Sachwörter vorhanden, die auch in bürgerlichem Sinne verwendet werden, da ja die Literatur der bürgerlichen Historiographie ausgewertet wird. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Deskriptor eindeutig zu machen. Dazu tragen erstens die Hilfslisten des Thesaurus bei, die die Stellung des Deskriptors in Zeit und Raum ermöglichen, d . h . , sein Inhalt kann zeitlich und regional genau fixiert werden. Zweitens kann man ihn durch Modifikatoren oder durch Anwendung von Wertungssymbolen ergänzen. Ferner gibt es die Möglichkeit, dem Deskriptor im alphabetischen Teil Definitionen hinzuzufügen. Um diese Definierung zu erleichtern, wurden aus Sachwörterbüchern und Enzyklopädien Definitionen gesammelt. Definitionen werden ebenfalls verwandt, wenn das Sachwort als Deskriptor im Thesaurus einen anderen, beschränkteren Inhalt hat als im allgemeinen Sprachgebrauch der Historiker. Beispielsweise Klassenkampf: Da die meisten historischen Ereignisse Ausdruck des Klassenkampfes sind, ist es für die Auswertung nicht zweckmäßig, jedem Deskriptor den Deskriptor Klassenkampf hinzuzufügen. Das würde die im Speicher gesammelten Infor-
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mationseinheiten unnötig erweitern. So steht beim Deskriptor Klassenkampf als Erläuterung der Begriffsinhalt, wie e r beim Auswerten anzuwenden ist. Die mit Hilfe des Thesaurus eingespeicherten Materialien dienen im wesentlichen der historischen Forschung der DDR, d . h . , die im Thesaurus enthaltenen Deskriptoren müssen in erster Linie diesen Aufgaben gerecht werden. Das bedeutet, daß zu Forschungsschwerpunkten Deskriptoren enthalten sein werden, die spezieller auf diese Themen eingehen. Selbstverständlich werden, wie bereits erwähnt, der Rolle der Volksmassen, der Arbeiterbewegung und dem Aufbau des Sozialismus erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet, d . h . , die Deskriptoren zu diesen Forschungskomplexen werden spezieller sein. Dagegen werden die Deskriptoren, die Sachwörter der Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft betreffen, allgemeinerer Art sein; ebenso verhält es sich bei der Entwicklung der Technik und der Naturwissenschaften. Zur schnelleren Information über Schwerpunktthemen der Forschung kann man sogenannte Deskriptorengruppen oder -ketten schaffen, die unter einem feststehenden Symbol oder Code gemeinsam eingespeichert werden, um die Zusammenhänge mit einem Recherchevorgang erfassen zu können und unnötigen Zeitverlust bei der Recherche zu vermeiden. Die feststehenden Deskriptorengruppen, aus im Thesaurus vorhandenen Deskriptoren und Modifikatoren gebildet, können aufgelöst werden, wenn sie nicht mehr benötigt werden. Bisher wurden für den Thesaurus im wesentlichen Sachwörter zur deutschen Geschichte gesammelt. Die Erweiterung auf die allgemeine Geschichte ist vorgesehen. Die Anknüpfungsmöglichkeiten sind gegeben, und neue spezielle Deskriptoren können ohne große Schwierigkeiten eingearbeitet werden. Genau so können Begriffe, die sich im Verlauf der Anwendung des Thesaurus bilden und für die Auswertung notwendig sind, ergänzt und solche Deskriptoren, die sich beim Auswerten Uber einen längeren Zeitraum als nicht geeignet erweisen, ausgesondert werden. Die Deskriptoren sind in ihrem Inhalt und Umfang nicht gleichwertig, sondern sie stehen in bestimmten hierarchischen Beziehungen zueinander, wobei es gleichgeordnete, unter- und übergeordnete Deskriptoren geben wird. Diese Zusammenhänge sind aus dem thematischen Teil des Thesaurus zu erkennen. Aber es gibt im Thesaurus nicht nur hierarchische, sondern auch sogenannte assoziative Beziehungen. Wenn wir beispielsweise im thematischen Teil "Weltwirtschaftskrise" unter Wirtschaft eingliedern, so macht es sich notwendig, zu den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise etwa auf die soziale Lage der Werktätigen, auf die Entstehung des Faschismus u . a . hinzuweisen. Unsere Untersuchungen Uber die notwendigen Beziehungen sind noch nicht abgeschlossen. Nur soviel kann gesagt werden, daß die flir den gesetzmäßigen historischen Prozeß wesentlichen Beziehun-
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gen hergestellt werden müssen. Alle möglichen Beziehungen sind nicht zu erfassen, wie es aus der Spezifik des historischen Begriffs herzuleiten ist. Um aber die wesentlichen zu finden, die fflr die im Perspektiv- und Prognosezeitraum laufenden Forschungsvorhaben notwendig sind, bedarf es einer sorgfältigen Prüfung und einer systematischen Denkweise aller Mitarbeiter am Thesaurus. Unter den gesammelten Sachwörtem befinden sich keine Personennamen. Sie können nicht in den Thesaurus aufgenommen werden, denn ihre Anzahl geht in die Millionen. Die Personennamen werden deshalb - nach festgelegten Vorschriften - gesondert erfaßt und beim Auswerten mit angegeben, so daß alle Arbeiten, die sich mit der Tätigkeit einer Person beschäftigen, bei Anfrage aus dem Speicher zusammen mit den Sachinhalten ausgegeben werden können. Mit Sachverhalten oder Fakten zusammengesetzte Personennamen erscheinen im Thesaurus, etwa Marx-Engels-Forschung. Namen bedeutender Parteien, Organisationen u . ä . werden als Deskriptor aufgenommen wie KPD, SPD, Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Andere Eigennamen werden in Sammelbegriffen wie bürgerliche Parteien u . ä . zusammengefaßt. Sie werden zusätzlich, falls der Name auftaucht, beim Auswerten angegeben und in einen Hilfsspeicher aufgenommen. Noch ein Wort zu den Modifikatoren, die in der geschichtswissenschaftlichen Information eine wesentliche Bolle spielen. Es wurden etwa 500 Sachwörter, die als Modifikatoren in Frage kommen, gesammelt, von denen noch die Synonyme auszuschalten sind. Nach unseren bisherigen Untersuchungen, die aber noch nicht abgeschlossen sind, werden wir fünf verschiedene Arten von Modifikatoren haben: 1.
Modifikatoren, die die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in ihrem konkret-historischen
Zusammenhang deutlich werden lassen, wie Höhepunkt, Niedergang; 2.
Modifikatoren, die methodologische Aspekte der Geschichtsschreibung wiedergeben,
wie Methode, Analyse; 3.
Modifikatoren, die den Begriffsinhalt eines Deskriptors einengen bzw. genauer be-
stimmen, wie sozialistisch, wirtschaftlich u . a . ; 4.
Formalia wie Gesetz, Urkunde, Hede;
5.
Modifikatoren, die den wissenschaftlichen Gehalt kennzeichnen, wie populärwissen-
schaftlich, Verfälschung, Manipulierung. Der endgültige Aufbau des Thesaurus erfolgt, wenn die gesammelten Sach- und Schlagwörter mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung nach thematischen Gruppen geordnet und von den jeweiligen Speziallsten bearbeitet sind, d . h . , wenn aus den gesammelten
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Wörtern die ausgewählt sein werden, die als Deskriptoren in Frage kommen, nicht vorhandene Sachwörter ergänzt, alle Synonyme beseitigt, die notwendigen Schlagwörter ausgewählt, der Wortbestand lexikalisch bearbeitet und die Verknüpfungen vorgenommen sein werden. Der Thesaurus wird etwa 3000 Deskriptoren enthalten, 22 000 Schlagwörter und Modifikatoren. Er ist das Arbeitsmittel, um die Sachinhalte der einzelnen Dokumente für die maschinelle Speicherung und Bearbeitung zu erfassen. Beim Auswerten einer Arbeit können neben den notwendigen bibliographischen Angaben pro Arbeit etwa 10 bis 12 Deskriptoren angegeben werden. Zusätzlich sind die Orts- und Zeitbezeichnungen anzugeben sowie die Modifikatoren, die den Deskriptor bestimmen. Falls notwendig, sind auch die Orts- und Personennamen anzugeben sowie die Bewertungssymbole (siehe Anlage 4). Ferner können Kurzannotationen eingespeichert werden. Die Auswertung wird nicht allein von den Historikern der Informationseinrichtungen vorgenommen, sondern auch von Mitarbeitern der einzelnen Wissenschaftskollektive. Die Informationsverarbeitung mit Hilfe des Thesaurus als Bestandteil der historischen Forschung ändert damit die Arbeitsmethoden der einzelnen Historiker wesentlich. So trägt auch die Arbeit am Thesaurus dazu bei, die wissenschaftliche Arbeit auf eine höhere Stufe zu heben. Bereits bei der Ausarbeitung des Thesaurus werden die Spezialisten der einzelnen Wissenschaftskollektive wertvolle Hilfe bei der Auswahl der Begriffe leisten. Die E r a r beitung des Thesaurus trägt also auch dazu bei, die Terminologie der marxistischen Geschichtswissenschaft zu präzisieren und einen großen Kreis von Historikern in die methodologische Arbeit einzubeziehen. Der erste Entwurf des Thesaurus soll in absehbarer Zeit fertiggestellt und erprobt werden. Dann wird der Thesaurus, fußend auf den.gewonnenen Erfahrungen und nach Abstimmung mit anderen gesellschaftswissenschaftlichen Thesauri, u.a. mit den Nachbarund Spezlaldlszlplinen der Geschichte sowie mit der gesellschaftswissenschaftlichen Leitungsinformation flir die Geschichtswissenschaft genutzt werden können. Diese Abstimmung Ist aus mehreren Gründen notwendig. Die im Thesaurus aufgenommenen Deskriptoren werden auch als Ordnungssystem im Netz der geschichtswissenschaftlichen Bibliotheken angewandt werden. Desgleichen können die Archive ihr Material nach diesen Deskriptoren aufschlüsseln. Spezialdisziplinen. und die Nachbardisziplinen der Geschichte, die ihre Materialien und Forschungsergebnisse ebenfalls mittels Deskriptoren speichern, ergänzen mit ihren mehr ins Detail gehenden Deskriptoren die geschichtswissenschaftliche Thematik. Im ge-
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schichtswissenschaftlichen Thesaurus werden diese Disziplinen nur mit allgemeineren Begriffen erfaßt. Viele Informationseinrichtungen arbeiten auf dem Gebiet der neuesten Geschichte seit 1945 und der aktuellen politischen Information, so daß hier Deskriptoren auftauchen, die im geschichtswissenschaftlichen Thesaurus, der ja zeitlich den Gesamtbereich der Geschichte erfaßt, so speziell nicht vorhanden sind. Andererseits werden diese Spezialthesauri durch Deskriptoren ihres Arbeitsgebietes, die sich auf die historische Entwicklung beziehen, vom geschichtswissenschaftlichen Thesaurus ergänzt. Aber nicht nur fUr den zentralen geschichtswissenschaftlichen Speicher, sondern auch für einen u . E . zu schaffenden zentralen gesellschaftswissenschaftlichen Speicher ist die Abstimmung von wesentlicher Bedeutung. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit würde bei dem sich immer stärker herausbildenden Systemcharakter der Gesellschaft entscheidend verbessert werden können, wenn die nach einheitlichen Richtlinien ausgewerteten Materialien zentral gespeichert und allen Interessenten der einzelnen gesellschaftswissenschaftlichen Bereiche zur Verfügung gestellt wUrden. Die für Spezialbe lange einzelner Wissenschaftskollektive von Historikern ausgewerteten Materialien könnten so eine breite Verwendung finden. Auch zur notwendigen Leitungsinformation für die Gesellschaftswissenschaften wird der geschichtswissenschaftliche Thesaurus, in dem auch methodologische Gesichtspunkte erfaßt sind, beitragen. Selbst zu Naturwissenschaft und Technik kann, soweit es die Geschichte dieser Disziplin anbelangt, eine Verbindung hergestellt werden. Sicher ist die Integration der Wissenschaften noch im Stadium der Entwicklung, aber die Geschichtswissenschaft kann sich diesem Trend nicht entgegenstellen. Unsere Überlegungen zur Erarbeitung eines Thesaurus gingen davon aus, mit Hilfe eines Deskriptorensystems alle anfallenden Informationsquellen verschiedener Art inhaltlich nach zahlreichen für den marxistisch-leninistischen Historiker wichtigen Gesichtspunkten zu erschließen und für eine spätere Nutzung zu speichern. Das heißt, es wurden vorwiegend theoretisch-methodologische Probleme, wie sie fUr die Informationsverarbeitung in der Geschichtswissenschaft gelöst werden müssen, behandelt. Wie schon oben ausgeführt, ist eine Weiterverarbeitung der gewonnenen Daten am rationellsten mit Hilfe eines Computers möglich. Die Verarbeitung des auf Lochbändern oder Magnetbändern gespeicherten Materials durch den Computer geschieht nach bestimmten Programmen, die auf mathematisch-logischen Operationen beruhen. Solche Bechenoperationen eines Computers sind bis zu einem gewissen Grade klassenindifferent, aber ihre Ausnutzung erfolgt immer im Interesse einer bestimmten Klasse. So kann trotz der grundsätzlichen
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methodologischen und ideologischen Unterschiede der marxistischen und bürgerlichen Geschichtswissenschaft ein Austausch internationaler Ergebnisse vorgenommen werden. Eine Voraussetzung für die Kompatibilität und dafür, daß ein Computer die wesentlichen Materialien der verschiedenen Disziplinen aufnimmt und verarbeitet, ist eine einheitliche Codierung der normierten Daten aller Art. Diese Codierung stimmt nicht mit eventuell vorhandenen Notationen in den einzelnen Thesauri, die eine bessere Übersichtlichkeit bewirken, (iberein. Die natürliche Sprache bzw. die Notationen werden mittels dieser Codierung in eine maschinengerechte Sprache umgesetzt. Die Lochbänder oder Magnetbänder, auf denen die Speicherung erfolgt, können unter bestimmten Umständen an verschiedenen Orten in den Computern gleichen Systems verarbeitet werden. Die Verarbeitung des codiert eingegebenen Materials geschieht nach einem bestimmten vorgegebenen Programm. Für die Programme liegen bereits Erfahrungen aus einzelnen gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen der DDR vor. Für Teilgebiete der Geschichtswissenschaft gibt es in anderen Ländern, besonders in der Sowjetunion, ebenfalls wertvolle Erfahrungen. Weiterhin laufen seit einiger Zelt in der BRD im Rechenzentrum Darmstadt Versuche, die sich besonders mit der nichtnumerischen Datenverarbeitung in den historischen Wissen22
Schäften
von der maschinellen Erfassung und Erschließung historischer Sekundärlitera-
tur bis zu altägyptischen Texten beschäftigen. Diese und die Vorhaben anderer Länder (z.B. der USA und Schwedens) vermitteln wichtige Erkenntnisse für die technische Aufbereitung historischen Materials für den Computer und die Erarbeitung von Programmen, d.h. die technischen Abläufe von Prozessen, ihre Eingabe, Speicherung und Ausgabe. Zum Speicher gehört auch das ausgewertete Material. Die Speicherung kann auf verschiedene Weise erfolgen, als Original oder auf Filmträgern verschiedener Art. Filmträger haben den Vorteil, daß sie platzsparend sind und daß außerdem Material gespeichert werden kann, das im Original nicht in den Bibliotheken vorhanden ist. Ferner bieten sie den Vorteil, mittels bestimmter Zusatzgeräte sofort mit der Angabe der Deskriptoren auch den dazugehörigen Originaltext auf einen Fernsehschirm oder als Fotokopie auswerfen zu können. Geräte dieser Art sind bereits entwickelt, jedoch ist ihr Einsatz noch nicht genügend erprobt. 23 22
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Gundlach. Rolf/Lückerath. Carl August. Nichtnumerische Datenverarbeitung in den historischen Wissenschaften. Methoden und Anwendung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1969, H. 7, S. 385-3 9 8; Gundlach. Rolf. HISDOC/HDS. Ein Dokumentationssystem zur inhaltlichen Erfassung und maschinellen Erschließung historischer Sekundärliteratur, München 1965. Vgl. dazu Kundorf. Woldemar/Kneitschel. Franz. Mlkroformenspeicher im System der elektronischen Informationsverarbeitimg und Dokumentenbereitstellung, in: Informatik, 1969, H. 4, S. 38-45.
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Ilse Heymann/Peter Wiek Einmal eingespeicherte Daten können also vielfach kombiniert und zum Ausdruck von
Registern, Bibliographien, Becherchen zu Spezialfragen und Querschnittsfragen u. a. genutzt werden. Recherchen können von Sachbeabeitern der Inforinationseinrichtung angefertigt werden, ohne die Wissenschaftler mit dieser Sucharbeit zu belasten. Im großen Zusammenhang der Rationalisierung geistiger Arbeit nimmt der Thesaurus eine zentrale Stellung ein. Er bildet den Schlüssel für die Anwendung der elektronischen Datenverarbeitung bei der Auswertung und Speicherung geschichtswissenschaftlicher Informationsträger. Je mehr die hier zusammengestellten und systematisch geordneten Begriffe von den Historikern und Archivaren benutzt werden und schon in Überschriften oder zur Kennzeichnung von einzelnen Abschnitten enthalten sind, um so leichter wird eine inhaltliche Erschließung und Speicherung der verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Materialien möglich sein. Ein geschichtswissenschaftlicher Thesaurus ist somit eine wesentliche Voraussetzung für eine moderne Informationsverarbeitung, die In der Geschichtswissenschaft die Arbeltsmethoden rationalisiert, die Interdisziplinäre Zusammenarbeit fördert und zur besseren Lösung der geschichtswissenschaftlichen Aufgaben beiträgt.
Moderne Informationsverarbeitung Anlage 1
Thesaurus-Auszug, alphabetischer Teil (ohne Angabe der Nummern des thematischen Teils)
WAFFEN WAFFENTECHNIK WAHLEN (Definition) siehe auch ABGEORDNETE
VOLKSABSTIMMUNGEN
KAISERWAHLEN
VOLKSENTSCHEIDE
KÖNIGSWAHLEN
VOLKSKAMMER
KOMMUNALWAHLEN
VOLKSVERTRETUNGEN
LANDTAGSWAHLEN
WAHLRECHT
PAK LAME NT AB ISMUS
WAHLRECHTSKÄMPFE
PARLAMENTE
WAHLSYSTEME
PARTEIEN REICHSTAGSWAHLEN SOZIALISTISCHE DEMOKRATIE Wahlgesetze siehe WAHLRECHT Wahlkampf siehe WAHLEN oder WAHLRECHTSKÄMPFE Wahlpropaganda siehe WAHLEN und
PROPAGANDA
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WAHLRECHT siehe auch DREIKLASSENWAHLRECHT Wahlrechtsbewegung siehe
WAHLRECHTSKÄMPFE
WAHLRECHT SKÄMPFE Wahlreformen siehe
WAHLEN
und
REFORMEN
WAHLSYSTEME Wahrer Sozialismus siehe WALDENSER
SOZIALISMUS
Moderne Informationsverarbeitung Anlage 2
Thesaurus-Auszug, systematischer Teil
Thematische Gruppe: Verfassung Teil: WAHLEN
WAHLEN DHE KLASSE NWAH LR E CHT KAISERWAHL KÖNIGSWAHL KOMMUNALWAHLEN LANDTAGSWAHL REICHST AGSWAHL VOLKSABSTIMMUNG VOLKSENTSCHEID WAHLRECHT WAHLRECHTSKÄMPFE WAHLSYSTEME
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