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German Pages 237 [240] Year 2015
Jahrbuch fur Europäische Geschichte
Jahrbuch für Europäische Geschichte Herausgegeben am Institut für Europäische Geschichte von Heinz Duchhardt in Verbindung mit Wlodzimierz Borodziej, Peter Burke, Ferenc Glatz, Georg Kreis, Pierangelo Schiera, Winfried Schulze
Band 6 2005
R. Oldenbourg Verlag München 2005
Redaktion: Matthias Schnettger, Jan Gudian
Bibliografische
Information der Deutschen
Bibliothek
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Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza ISBN 3-486-57740-9
Inhaltsverzeichnis
S chwerpunktthema: Akademische Migrationen und Austauschprozesse seit dem Spätmittelalter
Matthias Asche, Tübingen: Peregrinatio academica in Europa im Konfessionellen Zeitalter. Bestandsaufnahme eines unübersichtlichen Forschungsfeldes und Versuch einer Interpretation unter migrationsgeschichtlichen Aspekten Jana Fietz, Rampe: Migrationen nordischer Studenten an die Universität Greifswald zwischen Wiener Kongress und Nationalsozialismus Ljubinka Trgovöeviö, Beograd: Nördliche oder südliche Universitäten? Serbische Studenten an deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert Francesco Marin, Köln: Die Ausbildung italienischer Nachwuchswissenschaftler in Deutschland 1861-1915 Natalia Tikhonov, Geneve: Das weibliche Gesicht einer „wissenschaftlichen und friedlichen Invasion". Die ausländischen Professorinnen an den Schweizer Universitäten vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1939
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Andere Beiträge Michael Borgolte, Berlin: Europa im Bann des Mittelalters. Wie Geschichte und Gegenwart unserer Lebenswelt die Perspektiven der Mediävistik verändern
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Barbara Stambolis, Siegen: „Shared memory": Erinnerung an deutsch-französische Annäherungen am Beispiel symbolischer Orte der Grenzüberschreitung und ihrer Nachwirkungen
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Forschungsberichte Stefan Berger, Manchester: Die europäische Arbeiterbewegung und ihre Historiker: Wandlungen und Ausblicke
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Ina Ulrike Paul, Berlin: A Man and a Movement - Neuerscheinungen zu Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi. Eine Sammelrezension
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Europa-Institute und Europa-Projekte Quancheng Song, Jinan: Entwicklung, führende Institutionen und Charakteristika der Europa-Studien in China
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Auswahlbibliographie Matthias Schnettger, Mainz: Europa-Schrifttum 2004 (mit Nachträgen)
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Autorenverzeichnis
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SCHWERPUNKTTHEMA Akademische Migrationen und Austauschprozesse seit dem Spätmittelalter Unter den Faktoren, die „Europa" in der Vormoderne und in der Moderne lange vor allen (politischen) Europäisierungsprozessen als eine kulturelle und Erfahrungs-Einheit erscheinen ließen, nehmen die (der Qualifikation dienenden oder berufsbedingten) Migrationen bestimmter sozialer Gruppen einen besonderen Rang ein. Aus diesem Spektrum, das u. a. noch die Handwerker, Künstler, Kaufleute und Bankiers sowie Ordensangehörige umfasst, kommt den angehenden (oder bereits arrivierten) Akademikern, also Studenten und Professoren, noch einmal eine Sonderrolle zu. Im vollen Bewusstsein, dass Themen wie grenzüberschreitende Studentenwanderungen und internationaler Professorenaustausch im deutschen Sprachraum in einer Spezialzeitschrift ständig behandelt werden, greift das Jahrbuch für Europäische Geschichte in dem vorliegenden Band die Peregrinatio academica einmal auf, weil sich die Forschungen in letzter Zeit gehäuft haben und weil diese Thematik in besonders eindrücklicher Weise einem seiner Arbeitsziele entspricht, europäischen Austauschprozessen auch in einer sozial- und wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive nachzugehen. Dass dies auch hier nur durch Fallbeispiele geschehen kann, die aber immerhin etliche Bausteine zu einer künftigen Strukturgeschichte der Peregrinatio academica europaea liefern, versteht sich von selbst.
Peregrinatio academica in Europa im Konfessionellen Zeitalter Bestandsaufnahme eines unübersichtlichen Forschungsfeldes und Versuch einer Interpretation unter migrationsgeschichtlichen Aspekten Von
Matthias Asche D i e F o r s c h u n g e n zur G e s c h i c h t e der studentischen Migration, der natio
academica,
Peregri-
konzentrierten sich lange Zeit auf d i e b l o ß e Erschließung
v o n unendlichen N a m e n s l i s t e n aus den Hochschulmatrikeln. D a b e i stand i m m e r d i e Frage nach d e m N a c h w e i s von einzelnen regionalen Studentengruppen an einer b e s t i m m t e n Universität im Mittelpunkt des Interesses 1 . Vora u s s e t z u n g solcher - oft v o n Landeshistorikern und Heimatkundlern betrieb e n e n - Studien w a r d i e seit d e m Ende des 19. Jahrhunderts b e g o n n e n e Edition v o n Hochschulmatrikeln. D o c h weder v o n d i e s e n Detailstudien n o c h v o n den Arbeiten über d i e Besucherfrequenzen v o n Universitäten 2 g i n g e n nenn e n s w e r t e I m p u l s e für w e i t e r g e h e n d e Forschungen aus. D i e m e i s t k o m m e n tarlosen Aneinanderreihungen v o n N a m e n - und Datenmaterial, w e l c h e s aus den edierten Matrikeln h e r a u s g e z o g e n wurde, füllten g a n z e B ü c h e r und tru1 Eine Bibliographie, welche die zahllose Klein- und Kleinstliteratur zu diesem Forschungsfeld auflistet, liegt bislang noch nicht vor. Deshalb muss noch immer - zumindest für die deutschen Hochschulen - auf die älteren Bibliographien zur Universitätsgeschichte zurückgegriffen werden; vgl. Wilhelm ERMAN/Ewald HORN, Bibliographie der deutschen Universitäten, 3 Bde., Leipzig/Berlin 1904, ND Hildesheim 1965; Edwin STARK/Erich HASSINGER, Bibliographie zur Universitätsgeschichte. Verzeichnis der im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland 1945-1971 veröffentlichten Literatur, Freiburg/München 1974; und Thomas PESTER, Geschichte der Universitäten und Hochschulen im deutschsprachigen Raum von den Anfängen bis 1945. Auswahlbibliographie der Literatur der Jahre 1945— 1986, Jena 1990. Daneben ist auf die migrationshistorische Auswahlbibliographie von Ingrid MATSCHINEGG/Albert MÜLLER, Migration - Wanderung - Mobilität in Spätmittelalter und Frühneuzeit. Eine Auswahlbibliographie, Krems 1990, darin Abschnitt 3.5: „Wissensdistribution: Studium, Studenten, Universitäten", S. 55-67, hinzuweisen. 2 Für die deutschen Universitäten liegt die Studie von Franz EULENBURG, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Leipzig 1904, ND Berlin 1994, vor, deren Zahlenwerk zwar vielfach kritisiert, aber nach wie vor unüberholt ist; vgl. Willem FRIJHOFF, Grandeur des nombres et misferes des rialitis. La courbe de Franz Eulenburg et le ddbat sur le nombre d'intellectuels en Allemagne, 1576-1815, in: Les Universitis Europiennes du XVIe au XVIIIe siÄcle. Histoire sociale des populations itudiantes, hrsg. von Dominique Julia [u. a.], Bd. 1, Paris 1986, S. 23-63.
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gen letztlich - w e n n überhaupt - nur den Charakter von Nachschlagewerken. Je mehr Universitätsmatrikeln ediert vorlagen, umso mehr häuften sich solche Studien 3 . Stimulierend für die weitere Forschung sollten sich hingegen moderne sozialwissenschaftliche Fragestellungen erweisen, die zunächst für die Geschichte der mittelalterlichen Universitäten formuliert wurden 4 . Seither wurde der Wert von Universitätsmatrikeln als wichtigste serielle Quelle für prosopographische und sozialhistorische Personengeschichte der Hochschulen erkannt. Nur w e n i g später ermöglichte der Einsatz moderner E D V die B e wältigung und Systematisierung großer Datenmengen, w i e es quantitative Studien erfordern 5 . Ausgestattet mit diesen Methoden, konnte ein neues Feld der Universitätsgeschichtsschreibung erschlossen werden. D i e maßgeblich von der mediävistischen Forschung angeregte Sozialgeschichte der Universität 6 brachte auch neue Impulse für die frühneuzeitliche Universitätsge-
3 Eine kursorische Durchsicht derartiger Arbeiten zeigt, dass diese insgesamt in mittel-, ostmittel- und nordeuropäischen Ländern entstanden sind, mithin in Regionen, deren vormoderne Studenten eine hohe Mobilitätsrate aufwiesen, wie noch zu zeigen sein wird; vgl. etwa die mit jahrzehntelangem Fleiß und beachtlicher Berücksichtigung von Matrikeln erstellten Exzerpte von Thomas Otto ACHELIS, Matrikel der schleswigschen Studenten 1517-1864, 3 Bde., Kebenhavn 1967 [Nachträge und Berichtigungen von Vello HENK, Kiel 1991], oder Horst KENKEL, Studenten aus Ost- und Westpreußen an außerpreußischen Universitäten vor 1815, Hamburg 1981. 4 Peter MORAW, Zur Sozialgeschichte der deutschen Universität im Mittelalter, in: Gießener Universitätsblätter 8 ( 1 9 7 5 ) , S. 4 4 - 6 0 ; DERS., Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte, in: Academia Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte, hrsg. von dems. und Volker Press, Marburg 1982, S. 1-43; Roger CHARTIER/Jacques REVEL, Universiti et sociöti dans l'Europe moderne. Positions des problfemes, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 2 5 ( 1 9 7 8 ) , S . 3 5 3 - 3 7 4 ; Hilde de RIDDER-SYMOENS, Universiteitsgeschiedenis als bron voor sociale geschiedenis, in: Tijdschrift voor sociale Geschiedenis 1 0 ( 1 9 7 8 ) , S. 8 7 - 1 1 5 ; und Jacques VERGER, Prosopographie et cursus universitaire, in: Medieval Lives and the Historian. Studies in medieval Prosopography, hrsg. von Neithard Bulst und Jean-Philippe Genet, Kalamazoo 1986, S. 313-332. 5 Beispielsweise Jacques VERGER, Les universitös m6di6vales. Interet et limites d'une histoire quantitative, in: Les universitis europdennes (Anm. 2), Bd. 2, 1989, S. 9-24, oder Computing Techniques and the History of Universities, hrsg. von Peter Denley, St. Katharinen 1996. Methodisch sehr ausgereift ist die quantifizierende sozialgeschichtliche Bildungsforschung des 19. und 2 0 . Jahrhunderts in Deutschland; vgl. etwa Peter LUNDGREEN, Quantifizierung in der Sozialgeschichte der Bildung, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 6 3 ( 1 9 7 6 ) , S. 4 3 3 ^ 1 5 3 , oder Hartmut TLTZE, Der Akademikerzyklus. Historische Untersuchungen zur Wiederkehr von Überfüllung und Mangel in akademischen Karrieren, Göttingen 1990. 6 Wegweisend für die deutsche Forschung war die Studie von Rainer Christoph SCHWINGES, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches, Stuttgart 1986. Vgl. für die außerdeutsche Forschung etwa Jacques PAQUET, L'universitaire „pauvre" au moyen age. Problümes, documentations, questions de mdthode, in: The Universities in the Late Middle Ages, hrsg. von Jozef Ijsewijn und Jacques Paquet, Louvain 1 9 7 8 , S. 3 9 9 - 4 2 5 ; Elisabeth MORNET, Pauperes scolares. Essai sur la condition matirielle des itudiants scandinaves dans les universitös aux
Asche,
Peregrinatio A c a d e m i c a in
Europa
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s c h i c h t s f o r s c h u n g j e n s e i t s der traditionell betriebenen Institutionen-, Gelehrten- u n d I d e e n g e s c h i c h t e . D i e vormodernen Universitäten w e r d e n dabei nicht nur als Bildungsanstalten, sondern als Knotenpunkte sozialer B e z i e h u n g e n und P e r s o n e n g e m e i n s c h a f t e n , mithin als „social communities", b e g r i f f e n , in d e n e n s o w o h l unter den Studenten als auch unter den Professoren die altständ i s c h e n R e g e l n v o n Patronage und K l i e n t e l w e s e n wirksam waren 7 . S c h w e r punkte
dieser vor allem anglo-amerikanischen,
belgisch-niederländischen
und d e u t s c h e n Forschung sind neben der A n a l y s e der s o z i a l e n Herkunft und späteren Karriere der Studenten auch Fragestellungen nach den Z u g a n g s m ö g l i c h k e i t e n zur H o c h s c h u l e , d e m Selbstverständnis und Sozialverhalten s o w i e d e n Interaktionen der einzelnen s o z i a l e n B e s u c h e r g r u p p e n 8 .
XlVe et XVe sifecles, in: Le Moyen Age 84 (1978), S. 53-102; Hilde de RJDDER-SYMOENS, L'aristocratisation des university au XVe si£cle, in: Les grandes reformes des universitös europdennes du XVIe au XXe sifccles. III6me session scientifique internationale, Cracovie 15-17 mai 1980, hrsg. von Mariusz Kulczykowski, Warszawa/Kraköw 1985, S. 37-47; und DIES., Possibilitös de carri£re et de mobiliti sociale des intellectuels universitaires au moyen age, in: Medieval Lives (Anm. 4), S. 343-357. Vgl. auch die ersten Versuche einer Gesamtdarstellung der Sozialgeschichte der höheren Bildung aus der Feder deutscher Forscher von Hans-Werner PRAHL, Sozialgeschichte des Hochschulwesens, München 1978; und DERS./Ingrid SCHMIDT-HARTZBACH, Die Universität. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, München 1981. 7 Obwohl dieses Phänomen noch nicht vergleichend untersucht wurde, dürfte zumindest im protestantischen Bildungsraum zwischen Skandinavien, den Niederlanden, dem Reich und der Schweiz der Typus der „Familienuniversität" mit quasi-erblichen Lehrstühlen weiter verbreitet gewesen sein als bislang angenommen; vgl. Matthias ASCHE, Über den Nutzen von Landesuniversitäten in der Frühen Neuzeit - Leistung und Grenzen der protestantischen „Familienuniversität", in: Universität Würzburg und Wissenschaft in der Neuzeit. Beiträge zur Bildungsgeschichte. Gewidmet Peter Baumgart anläßlicn seines 65. Geburtstages, hrsg. von Peter Herde und Anton Schindling, Würzburg 1998, S. 133-149. Solche für die Praxis von Lehrstuhlvergaben wirksamen genealogischen Beziehungsgeflechte unter Gelehrtenfamilien waren bis weit ins 19. Jahrhundert nachweisbar und wurden nur langsam durch allgemeingültige leistungsbezogene Prinzipien verdrängt; vgl. die Studie zur Universität Tübingen von Sylvia PALETSCHEK, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001. 8 Wichtige frühe Arbeiten aus der anglo-amerikanischen Forschung sind Hugh KEARNEY, Scholars and Gentlemen. Universities and Society in pre-industrial Britain 1500-1700, London 1970; The University in Society, hrsg. von Lawrence Stone, 2 Bde., Princeton 1974; James H. OVERFIELD, Nobles and Paupers at German Universities to 1600, in: Societas 4 (1974), S. 175-210; und Charles E. MCCLELLAND, State, Society and University 1700-1914, Cambridge 1980. Vorreiter der Sozialgeschichte der frühneuzeitlichen Universität in der deutschen Forschung ist Rainer A. MÜLLER, Universität und Adel. Eine soziokulturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 1472-1648, Berlin 1974; DERS., Sozialstatus und Studienchance in Bayern im Zeitalter des Absolutismus, in: Historisches Jahrbuch 95 (1975), S. 120-141; und DERS., Aristokratisierung des
Studiums? Bemerkungen zur Adelsfrequenz an süddeutschen Universitäten im 17. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 31-46. Wegweisende Arbeiten entstanden zudem insbesondere aus der Feder niederländischer und belgischer Forscher, neben den bereits genannten Studien von Hilde de Ridder-Symoens vgl. etwa Hans BOTS [u. a.], Noordbrabantse Studenten 1550-1750, Tilburg 1979; O. CHAPEAU, La formation
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U m die Ausstrahlung einer Universität voll zu erfassen, reicht e s nicht aus, nur die absoluten Immatrikulationszahlen, mithin lediglich die Frequenzentwicklung, einer Hochschule zu betrachten. Vielmehr muss daneben immer auch deren regionaler Einzugsbereich mit in den Blick g e n o m m e n werden, w e l c h e r k e i n e s w e g s statisch, sondern in aller Regel zahlreichen Wandlungen unterworfen war. D i e Ermittlung des Einzugsbereichs einer Universität erfordert die mühsame Auszählung der Matrikel. Für das Spätmittelalter sind sämtliche Universitäten des Heiligen Römischen Reiches einer solchen spezifischen A n a l y s e unterzogen worden 9 . D i e s e im eigentlichen Sinn historische „Grundlagenforschung" 1 0 ist j e d o c h - anders als man vielleicht annehmen könnte - bislang noch nicht flächendeckend für die europäische Universitätslandschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit unternommen word e n 1 1 . Selbst Untersuchungen zu regionalen Einzugsbereichen frühneuzeitlicher Hochschulen im Reich sind bis heute die Ausnahme 1 2 , w a s nicht zuletzt
universitaire des chanoines gradu6s du chapitre cathödral de Saint-Lambert ä Lifege, in: Annuaire d'histoire liögeoise 20 (1979), S. 79-114; und Willem FRIJHOFF, La socidt6 nierlandaise et ses gradu6s 1575-1814. Une recherche sörielle sur le Statut des intellectuels ä partir des registres universitäres, Amsterdam 1981. 9 Aufgrund der Datenmenge, freilich nur in Zehn-Jahres-Schritten, vgl. SCHWINGES, Universitätsbesucher (Anm. 6). 10 So ebd., S. 11. 11 Auf eine Gesamtübersicht über die bislang publizierten Matrikelanalysen europäischer Universitäten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit soll an dieser Stelle verzichtet werden. Eine Vielzahl solcher Einzelstudien vereinigen die wichtigen Sammelbände Les universes europöennes (Anm. 2), 2 Bde., 1986-1989; und Pdrigrinations acad6miques. IVfeme Session scientifique internationale, Cracovie 19-21 mai 1983, hrsg. von Mariusz Kulczykowski, Warszawa/Kraköw 1989. Auf weitere Matrikelanalysen wird im folgenden Text hingewiesen. 12 Dem neuen sozialgeschichtlichen Forschungsansatz, wie ihn etwa Rainer Christoph Schwinges vertritt, fühlen sich verpflichtet die Arbeiten von Karl Heinz WOLF, Die Heidelberger Universitätsangehörigen im 18. Jahrhundert. Studien zu Herkunft, Werdegang und sozialem Beziehungsgeflecht, Heidelberg 1991; Christoph FUCHS, „Dives, pauper, nobilis, magister, frater, clericus". Sozialgeschichtliche Untersuchungen über Heidelberger Universitätsbesucher des Spätmittelalters (1386-1450), Leiden/New York/Köln 1995; Uwe ALSCHNER, Universitätsbesuch in Helmstedt 1576-1810. Modell einer Matrikelanalyse am Beispiel einer norddeutschen Universität, Braunschweig 1998; Matthias ASCHE, Von der reichen hansischen Bürgeruniversität zur armen mecklenburgischen Landeshochschule. Das regionale und soziale Besucherprofil der Universitäten Rostock und Bützow in der Frühen Neuzeit (1500-1800), Stuttgart 2000; Achim LINK, Auf dem Weg zur Landesuniversität. Studien zur Herkunft spätmittelalterlicher Studenten am Beispiel Greifswald (1456-1524), Stuttgart 2000; und Stephanie IRRGANG, Peregrinatio academia. Wanderungen und Karrieren von Gelehrten der Universitäten Rostock, Greifswald, Trier und Mainz im 15. Jahrhundert, Stuttgart 2002. Ältere Matrikelanalysen begnügten sich in der Regel mit der Auszählung der Matrikel und sind von sehr unterschiedlicher Qualität; vgl. etwa Georg CRAMER, Die örtliche und soziale Herkunft der ältesten Tübinger Studenten 1477-1600, Leipzig 1921; Arthur SCHULZE, Die örtliche und soziale Herkunft der Straßburger Studenten 1621-1793, Frankfurt a. M. 1926; Johannes LEHMANN, Die örtliche und soziale Herkunft der Königsberger Studenten 1544-1649, Phil. Diss. Leipzig 1929;
Asche, Peregrinatio Academica in Europa
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auch dem Stand der Matrikeleditionen geschuldet ist, wie noch zu zeigen sein wird. Nicht nur fllr die Rekonstruktion studentischer Wanderungssysteme, sondern auch für ideengeschichtliche Rezeptionswege, etwa für die Diffusion von Humanismus und Aufklärung oder für die Ausbreitung von Reformation und Katholischer Reform durch Studenten und Professoren als Kulturträger und -vermittler, sind solche Studien zu regionalen Einzugsbereichen von Hochschulen von zentraler Bedeutung. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sollten folglich immer auch in die größeren historischen Fragehorizonte von Kommunikation und wissenschaftlichem Austausch, Migration und Mobilität eingeordnet werden. So wurde zu Recht daraufhingewiesen, dass der traditionelle Begriff des regionalen Einzugsbereiches von Hochschulen durch den eines „Kommunikationsraumes" ersetzt werden kann 13 , wobei erst die Interaktionen der verschiedenen regionalen und sozialen Gruppen - die landsmannschaftlichen Verbände, Gruppen und Individuen ebenso wie die Studenten und Professoren - die Voraussetzungen und den Rahmen für den Ausstrahlungs- und Wirkungsbereich einer Hochschule schufen. Studien zur Verankerung einer Hochschule in Stadt, Territorium und Region sind somit ein unbedingtes Postulat für die moderne Universitätsgeschichtsforschung. Traditionell bedient sich die Forschung zweier methodischer Zugangsweisen. Neben der bereits genannten Analyse regionaler Einzugsbereiche von Universitäten fragt der zweite Typus von Matrikelanalysen ausgehend von geographisch klar zugeschnittenen Regionen nach der Wahl Ernst-Emil KLOTZ, Über die Herkunft der Jenaer Studenten im ersten Jahrhundert ihres Bestehens, in: Geschichtliche Landeskunde und Universalgeschichte. Festgabe ftlr Hermann Aubin zum 23. Dezember 1950, Hamburg 1951, S. 97-111; oder Christof RÖMER, Herkunft der Studenten in Frankfurt an der Oder 1506-1810, Berlin/New York 1979. Problematisch bei solchen Fragestellungen ist jedoch die Wahl des Zuschnitts der regionalen Rekrutierungsräume. Hier muss genau definiert werden, was die Autoren geographisch - und historisch korrekt - etwa unter den Begriffen „Franken", „Mitteldeutschland", „Niederlande" oder „Osteuropa" verstehen. Gänzlich unhistorisch wird es, wenn heutige Staatsgrenzen als Grundlagen für die Zuordnung der regionalen Studentengruppen genommen werden; vgl. etwa Ladislaus BUZAS, Die Herkunft der Studenten der Universität Ingolstadt von der Gründung der Universität bis zur Gründung des Jesuitenkollegs (1472 bis 1556), in: Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt 72 (1963), S. 5-68. 13 Albert MOLLER, Mobilität - Interaktion - Kommunikation. Sozial- und alltagsgeschichtliche Bemerkungen anhand von Beispielen aus dem spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Österreich, in: Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Internationaler Kongreß Krems an der Donau 9. bis 12. Oktober 1990, hrsg. von Helmut Hundsbichler, Wien 1992, S. 219-249, hier: S. 230. Ein Versuch, Formen akademischer Kommunikation auch über die Epochengrenze von Mittelalter und Neuzeit darzustellen, bei Harald DICKERHOF, Europäische Traditionen und „deutscher Universitätsraum". Formen und Phasen akademischer Kommunikation, in: Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft. Referate der 12. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozialund Wirtschaftsgeschichte vom 22.-25. 4.1987 in Siegen, hrsg. von Hans Pohl, Wiesbaden 1989, S. 173-198.
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des Hochschulortes. Dabei stehen kleinräumige Mikrostudien14 neben großräumigen Überblicksdarstellungen15. Jüngste Studien versuchen auf originelle 14 Aus neuerer Zeit beispielsweise Gerhard JARITZ, Kleinstadt und Universitätsstudium. Untersuchungen am Beispiel Krems an der Donau (von den Anfängen bis in das 17. Jahrhundert), in: Mitteilungen des Kremser Stadtarchivs 17/18 (1978), S. 105-161; 19 (1979),
S. 1 - 2 6 ; 2 3 / 2 5 ( 1 9 8 6 ) , S. 1 5 3 - 1 7 8 ; H a n s B O T S / W i l l e m FRIJHOFF, A c a d e m i e r e i s o f e d u c a -
tiereis? Noordbrabantse Studenten in het buitenland, 1550-1750, in: Batavia academica 1 (1983), S. 19-25; Rolf HÄFELE, Die Studenten der Städte Nördlingen, Kitzingen, Mindelheim und Wunsiedel bis 1580. Studium, Berufe und soziale Herkunft, 2 Bde., Trier 1988; Kazimierz KUBIK, Habitants de GdaAsk en voyage d'itudes universitaires ä l'itranger au XVIIe sifecle, in: P6rigrinations acadimiques (Anm. 11), S. 55-69; Sändor TONK, Siebenbürgische Studenten an den ausländischen Universitäten, in: Beiträge zur siebenbürgischen Schulgeschichte, hrsg. von Walter König, Köln 1996, S. 113-124 (Zusammenfassung der ungarischsprachigen Monographie von Miklös SZABÖ/Sändor TONK, Erdölyiek egyetemjärasa a korai lijkorban 1521-1700, Szeged 1992 [mit deutschsprachiger Zusammenfassung]); Thomas WÜNSCH, „Bildungsweg" und Konfession. Oberschlesier auf den Universitäten Europas zwischen ausgehendem Mittelalter und dem Abschluß der Gegenreformation, in: Reformation und Gegenreformation in Oberschlesien. Die Auswirkungen auf Politik, Kunst und Kultur im ostmitteleuropäischen Kontext, hrsg. von dems., Berlin 1994, S. 69-97; oder Franz HEILER, Bildung im Hochstift Eichstätt zwischen Spätmittelalter und katholischer Konfessionalisierung. Die Städte Beilngries, Berching und Greding im Oberamt Hirschberg, Wiesbaden 1998. 15 Aus neuerer Zeit etwa Ur nordisk kulturhistoria. Universitetsbesöken i utlandet före 1660. XVIII. nordiska historikermötet Jyväskylä 1981. Mötesrapport, hrsg. von Mauno Jokipii und Ilkka Nummela, Bd. 1, Jyväskylä 1981 (zusammengefasst bei Sverre BAGGE, Nordic Students at foreign Universities until 1660, in: Scandinavian Journal of History 9 [1984], S. 1-29); Lars NILEHN, Peregrinatio academica. Det svenska samhället och de utrikes studieresoma under 1600-talet, Lund 1983; Jifi PEäEK/David SAMAN, Les itudiants de Boheme dans les universitis et les acadömies d'Europe centrale et occidentale entre 1596 et 1620, in: Les Universitis europiennes (Anm. 2), Bd. 1, S. 89-111; Velio HELK, Dansk-Norske studierejser fra reformationen til enevaelden 1536-1660. Med en matrikel over studerende i udlandet, Odense 1987 (eine Fortsetzung von DERS., Dansk-Norske Studierejser 1661-1813, 2 Bde., Odense 1991); Hilde de RLDDER-SYMOENS, L'ivolution quantitative de la pirögrination acadimique des itudiants nderlandais m6ridionaux de la Renaissance ä l'öpoque des Lumiires, in: P6r6grinations acadimiques (Anm. 11), S. 8 7 97; Pär ELIASSON, Frän Peregrinatio Academica til Peregrinatio Erudita. Svenska akademikers studieresor och universitetsvistelser i utlandet intill är 1800, Umeä 1990; Dorota £OLAD2-STRZELCZYK, Peregrinatio academia. Studia mtodzieiy polskiej Ζ Korony i Litwy na akademiach i uniwersytetach niemieckich w XVI i pierwszej polowie XVII wieku, Poznan 1996 (mit deutschsprachiger Zusammenfassung); zahlreiche Aufsätze zur ungarländischen Peregrination in den Sammelbänden Universitas Budensis 1395-1995. International Conference for the History of Universities on the Occasion of the 600th Anniversary of the Foundation of the University of Buda, hrsg. von Läszlö Szögi und Julia Varga, Budapest 1997; und Die ungarische Universitätsbildung und Europa, hrsg. von Märta Font und Läszlö Szögi, Pics 2001; Arvo TERING, Die est-, liv- und kurländischen Studenten auf den europäischen Universitäten im 17. und frühen 18. Jahrhundert, in: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit, hrsg. von Klaus Garber, Tübingen 1998, S. 842-872; DERS., Est-, Liv- und Kurländer an auswärtigen Gymnasien und Pädagogien im 17. und 18. Jahrhundert, in: Europa in der frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, hrsg. von Erich Donnert, Bd. 5, Weimar/Köln/Wien 1999, S. 473—494; Matthias ASCHE, Bildungsbeziehungen zwischen Ungarn, Siebenbürgen und den deutschen Universitäten im 16. und 17. Jahrhundert, in: Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und
Asche, Peregrinatio Academica in
Europa
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Weise, prosopographische Matrikelforschungen mit allgemeinen kulturhistorischen Fragestellungen zu verbinden 1 6 . Abschließend sei noch daraufhingewiesen, dass neben der regionalen und landsmannschaftlichen auch die familiäre Bindung an bestimmte Hochschulen eine Konstante in der vormodernen Universitätsgeschichte gewesen ist, die in der Summe sicherlich ganz maßgeblich zu den hohen Frequenzzahlen einzelner Anstalten beigetragen hat 1 7 . Grundlage fiir alle solche Studien sind aufwändige Arbeiten an den Universitätsmatrikeln 18 . Bevor jedoch allgemeine Beobachtungen zur Studentenmigration im Konfessionellen Zeitalter vorgestellt werden, sollen zunächst kurz die Probleme von Matrikeleditionen europäischer Hochschulen erörtert werden. Auch nach nunmehr weit über hundert Jahren Editionsarbeit muss der generelle Befund noch immer lauten, dass die Zugänglichmachung dieser wichtigen seriellen Quellengruppe in ihrem bisherigen Stand nicht als befrie-
Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance, hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Anton Schindling, Stuttgart 2004, S. 27-52; oder DERS., Reformation und lutherische Konfessionalisierung im Baltikum - Wege und Formen des kulturellen Austausches zwischen den Ländern im Ostseeraum, in: Konfessionalisierung in West- und Osteuropa in der frühen Neuzeit, hrsg. von Andrei J. Prokopjev, St. Petersburg 2004, S. 93-104. 16 Als sehr gelungenes Beispiel hierfür darf die noch ungedruckte Dissertation von Simone GlESE, Die Peregrinatio Academica des schwedischen Adels. Adlige Bildungsreisen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts an die Universitäten und Hohen Schulen des Heiligen Römischen Reichs als ein Impuls im Integrationsprozeß Schwedens in die Gruppe der fuhrenden Mächte Europas, Phil. Diss. Tübingen 2004 (erscheint Stuttgart 2005), gelten, welche das Phänomen der Peregrinatio academica in den Kontext von Adelsforschung und schwedischeuropäischen Kulturkontakten einordnet. Grundlage ihrer Studie sind ausgiebige Analysen mitteleuropäischer Hochschulmatrikeln; vgl. bislang die Vorabveröffentlichung, DIES., Peregrinatio academica oder Kavalierstour - Bildungsreisen des schwedischen Adels zu Beginn der Frühen Neuzeit, in: Gemeinsame Bekannte. Schweden und Deutschland in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Ivo Asmus [u. a.], Münster 2003, S. 83-105. 17 Forschungen zu Generationen übergreifendem Studienverhalten einzelner Familien sind jedoch noch ein Desiderat. Ausnahmen bilden etwa die Arbeiten von J. WIARDA, Wiarda's, Studenten aan universiteiten, hogescholen, en aan doorluchtige Scholen sinds de zestiende eeuw tot de twintigste eeuw, in: Wiarda 1369-1969. Uit de 600-jarige geschiedenis van de Friese familie Wiarda, hrsg. von Siegfried Wiarda, Bolsward 1970, S. 145-184; und Martin Η. H. ENGELS, Peregrinatio academica in Germaniam. Friesische Jurastudenten in den deutschen Landen. Johann Saeckma und seine drei Vettern, in: Grenzgänge. Literatur und Kultur im Kontext, hrsg. von Guillaume van Gemert und Hans Ester, Amsterdam 1990, S. 379-397; vgl. auch die gelegentlichen Hinweise bei MÜLLER, Universität (Anm. 8), passim; ASCHE, Bürgeruniversität (Anm. 12), passim; und GlESE, Peregrinatio Academica (Anm. 16). 18 Zum Quellentypus der Universitätsmatrikeln vgl. etwa Jacques PAQUET/Anne-Marie BULTOT-VERLEYSEN, Les matricules universitaires, 2 Bde., Turnhout 1992/2003; Astrik L. GABRIEL, Matriculation Book at medieval Universities, in: The Catholic Historical Review 82 (1996), S. 459-468; und UlrichRASCHE, Über die deutschen, insbesondere über die Jenaer Universitätsmatrikeln, in: Genealogie 25 (2001), S. 29-46, 84-109. Zu den methodischen Problemen bei der Benutzung von Universitätsmatrikeln vgl. Thomas Otto ACHELIS, Universitätsmatrikeln und ihre Benutzung, Neustadt an der Aisch 1963; und Matthias ASCHE, Universitäts- und Hochschulmatrikeln als genealogische Quelle, in: Zeitschrift für Niederdeutsche Familienkunde 74 (1999), S. 183-187.
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d i g e n d b e z e i c h n e t werden kann. W e i l für die mittel-, nord- und ostmitteleurop ä i s c h e n Universitäten vielfach die Erschließung der älteren Matrikeln abrupt a b g e b r o c h e n wurde, gibt es bis heute nur einzelne Editionswerke, die in das 18. und gar das 19. Jahrhundert hineinreichen 1 9 . D i e Fortführung dieser müh e v o l l e n Editionstätigkeit geht insgesamt nur sehr schleppend v o r a n 2 0 . Bei einer V i e l z a h l dieser Erschließungsarbeiten handelt e s sich j e d o c h keinesw e g s u m echte Editionen gemäß d e m Wortlaut der Matrikel, sondern vielm e h r u m e i n e b l o ß e tabellarische Darstellung des N a m e n - und Datenmaterials aus der Primärquelle 2 1 , so dass zum Teil wesentliche Informationen des Originaleintrags, etwa H i n w e i s e zu vorher besuchten H o c h s c h u l e n oder Immatrikulationsgebühren - diese sind gerade für die A n a l y s e der sozialen Herkunft v o n Universitätsbesuchern sehr w i c h t i g - , unterschlagen wurden. B e s o n d e r s problematisch ist auch der Verlust vieler Matrikeln. D i e s e r ist nicht nur für die H o c h s c h u l e n im Reich empfindlich zu spüren. Gerade auch für zahlreiche w e s t - und südeuropäische Universitäten scheinen d i e s e Quellen g ä n z l i c h verloren zu s e i n 2 2 - sicherlich ein wesentlicher Grund dafür, dass die F o r s c h u n g e n zu Studentenmigrationen auf der iberischen Halbinsel, in Frankreich und in Italien insgesamt schwächer ausgeprägt sind als in anderen europäischen Ländern. Generell sind Matrikelrekonstruktionen anhand v o n
19 Die beste - allerdings dennoch leider unvollständige - Übersicht über die vorhandenen Editionen deutscher und mitteleuropäischer Hochschulmatrikeln bei Eva GlESSLERWlRSlG/Johanna BÖHM-KLEIN, Universitäts- und Hochschulmatrikeln, in: Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, hrsg. von Wolfgang Ribbe und Eckart Henning, Neustadt an der Aisch "1995, S. 235-269. 20 Das wohl jüngste Beispiel ist die anlässlich des bevorstehenden 550jährigen Jubiläums der Universität Greifswald herausgegebene Edition Die Studenten der kgl. Universität Greifswald 1821-1848. Kommentiertes Verzeichnis nach der Matrikel und den Akten des Universitätsarchivs, hrsg. von Dirk Alvermann und Barbara Peters, Greifswald 2003. 21 Dieses gilt etwa für die Matrikeln der deutschen Universitäten Frankfurt an der Oder und Helmstedt. Auch für die drei ältesten britischen Universitäten Oxford, Cambridge und Dublin liegen nur Editionswerke mit komprimierten Angaben vor; vgl. Joseph FOSTER, Alumni Oxonienses. The Members of the Place of the University of Oxford 1500-1714. Their Parentage, Birthplace, and Years of Birth, with a Record of their Degrees. Being the Matriculation Register of the University, 4 Bde., Oxford 1891/92, ND Nendeln 1968; John VENN/John Archibald VENN, Alumni Cantabrigenses, Bd. 1: From the earliest Times to 1751, Cambridge 1922; und George Dames BURTCHAELL/Thomas Ulick SADLEIR, Alumni Dublinensis. A Register of the Students, Graduates, Professors, and Provosts of Trinity College in the University of Dublin (1593-1860), London 1924. 22 So der Befund für viele mittel- und süditalienische, französische, englische und iberische Universitäten. Die Matrikeln der zahlreichen spanischen Universitäten - darunter die drei wichtigsten, frequenzstarken Hochschulen in Salamanca, Valladolid und Alcalä de Henares - sind erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, mehrheitlich sogar lediglich seit dem 17. und 18. Jahrhundert überliefert; vgl. die knappe Übersicht bei Richard L. KAGAN, Students and Society in Early Modern Spain, Baltimore/London 1974, S. 260 f. Auf das studentische Wanderungsgeschehen im Konfessionellen Zeitalter können somit nur zeitlich begrenzte Rückschlüsse gezogen werden.
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Sekundärquellen selten, zumal sie aufwändig und eben doch nur sehr unvollständig sind 2 3 . Insgesamt dürfte jedoch der Umstand, dass - wie noch zu zeigen sein wird - Spanier, Italiener und Franzosen nur quantitativ marginale Randgruppen an auswärtigen Universitäten darstellten, zu diesem allgemeinen Forschungsdesiderat geführt haben. Nur durch die Editionstätigkeit der letzten fünfzig Jahre konnte immerhin eine große Zahl italienischer und französischer Universitätsmatrikeln editorisch erschlossen werden. Bezeichnend für das geringe Interesse an den Matrikeln westeuropäischer Universitäten ist jedoch die Tatsache, dass diese Editionsprojekte nicht etwa von einheimischen, sondern von deutschen, niederländischen, belgischen und englischen Historikern durchgeführt wurden. Sie umfassen fast ausschließlich die Matrikeln der Deutschen Nationen an den Universitäten in Italien und Frankreich 24 , denen sich die im Übrigen auch anders als die westeuropäischen Studenten insgesamt deutlich mobileren - mittel-, ostmittel- und nordeuropäischen Studenten anschlie-
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Für die deutsche Hochschullandschaft ist hinzuweisen etwa auf die Rekonstruktionsversuche von Wilhelm Martin BECKER, Stärke und Zusammensetzung der Studentenschaft in der Frühzeit der Universität Gießen (1607-1624), in: Beiträge zur hessischen Schul- und Universitätsgeschichte 1 (1908), S. 55-76; August WORINGER, Die Studenten der Universität zu Rinteln (Academia Ernestina), Leipzig 1939, ND Nendeln 1980; Gerhard SCHORMANN, Rintelner Studenten des 17. und 18. Jahrhunderts, Rinteln 1981; und Gerhard MEYER, ZU den Anfängen der Straßburger Universität. Neue Forschungsergebnisse zur Herkunft der Studentenschaft und zur verlorenen Matrikel, Hildesheim/Zürich/New York 1989. Die Matrikel der einzigen dänischen Universität in Kopenhagen beginnt erst mit dem Jahre 1611. Einen gewissen Ersatz für die ältere Zeit bietet die Matrikel der staatlichen Stipendienanstalt {Kommunität), in welche auch nichtdänische Untertanen aufgenommen wurden; vgl. Holger Frederik R0RDAM, Historiske Samlinger og Studier, Bd. 3, Kebenhavn 1896, S. 334-383. Auf weitere Beispiele für Matrikelrekonstruktionen soll hier verzichtet werden. 24 Hier ist vor allem auf das ältere Projekt einer Gesamtmatrikel der deutschen Studenten an italienischen Universitäten hinzuweisen; vgl. aus den umfänglichen Editionsarbeiten etwa Die Matrikel der Deutschen Nation in Perugia (1579-1727). Ergänzt nach den Promotionsakten, den Consiliarwahllisten und der Matrikel der Universität Perugia im Zeitraum von 1489-1791, hrsg. von Fritz Weigle, Tübingen 1956; und Die Matrikel der Deutschen Nation in Siena (1573-1738), hrsg. von dems., 2 Bde., Tübingen 1962; außerdem die nach wie vor unverzichtbare ältere Edition von Gustav C. K.NOD, Deutsche Studenten in Bologna (1289— 1562). Biographischer Index zu den Acta Nationis Germanicae Bononensis, Berlin 1889, ND Aalen 1970, welche immerhin vor kurzem eine Fortsetzung gefunden hat; vgl. Natio germanica Bononiae. La matricola 1573-1602, 1707-1727, hrsg. von M. Luisa Accorsi, Bologna 1999. Ein vergleichbar systematisches Vorgehen ist für die französischen Universitäten bislang noch nicht zu beobachten; vgl. etwa Gray C. BOYCE, Liber receptorum nationis anglicanae (alamanniae) in universitate parisiensi, Paris 1964; Winfried DOTZAUER, Deutsche Studenten an der Universität Βourges. Album et liber amicorum, Meisenheim 1971; Willem FRIJHOFF, L'Album Inclytae Nationis Belgicae de l'Universiti de Döle en Franche-Comti, 1651-1674, in: Lias. Sources and Documents to the Early Modern History of Ideas 5 (1978), S. 87-151; und DERS., Matricule de la Nation Germano-N6erlandaise de Bourges. Le second Registre (1642-1671) retrouv6 et de nouveau transcript, in: Ebd. 11 (1984), S. 83-116.
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ßen mussten 2 5 . N a c h w i e vor sind Matrikeleditionen von westeuropäischen Universitäten mit vornehmlich einheimischer Besucherschaft selten 2 6 . Im Folgenden soll versucht werden, die wesentlichen Konturen, Tendenzen und Rahmenbedingungen einer studentischen Migrationsgeschichte an den europäischen Universitäten im Konfessionellen Zeitalter typologisch aufzuz e i g e n 2 7 . Berücksichtigt werden soll vorrangig die Fragestellung nach den regionalen E i n z u g s - und Ausstrahlungsbereichen von europäischen H o c h schulen s o w i e nach den Migrationswegen und der geographischen Mobilität von Studenten 2 8 . Dabei wird der Begriff Peregrinatio academica - zeitge25
Zu den Funktionen der Nationes an mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universitäten vgl. die knappe Übersicht von Hilde de RlDDER-SYMOENS, Eigenheid in den Vreemde. De studentennaties aan de Europese universiteiten, in: Eigen en Vreemd. Identiteit en ontlening in taal, literatuur en beeidende kunst. Handelingen van het 39ste Nederlands filologen congres, Vrije Universiteit, Amsterdam, 18 en 19december 1986, Amsterdam 1987, S. 137-146. Speziell zu den italienischen Universitäten vgl. Albano SORBELLI, La „Nazione" nelle antiche Universitä italiane e straniere, in: Atti del Convegno per la storia delle Universitä italiane tenutosi in Bologna il 5-7 aprile 1940 e memorie in esso presentate, Bd. 1, Bologna 1943, S. 93-232; und Fritz WEIGLE, Die „Deutschen Nationen" an den italienischen Universitäten des Mittelalters und bis 1800, in: Einst und Jetzt. Jahrbuch für corpsstudentische Geschichtsforschung 2 (1957), S. 12-22; vgl. außerdem die noch immer wichtige Monographie von Pearl KlBRE, The Nations in the medieval Universities, Cambridge, Mass. 1948. 26 Aus jüngerer Zeit immerhin etwa I maestri della sapienza di Roma dal 1514 al 1787. I rotuli e altre fonti, hrsg. von Emanuele Conti, 2 Bde., Roma 1991, oder Studenti e laureati nel Seicento a Messina. I libri matricularum del Messanense Studium generale del decennio 1634-1643, hrsg. von Daniela Novaresi, Milano 1996. 27 Zur Einordnung der Peregrinatio academica in den größeren migrationshistorischen Kontext der ausbildungsbedingten „Arbeitsmigrationen" vgl. die Typologie bei Matthias ASCHE, Migrationen im Europa der Frühen Neuzeit - Versuch einer Typologie, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik. Beiträge und Nachrichten für die Unterrichtspraxis. Zeitschrift filr historisch-politische Bildung 32 (2004), S. 74-89. Bislang wurde das Thema nur selten aus dezidiert migrationsgeschichtlicher Sicht behandelt; vgl. Wegenetz europäischen Geistes, Bd. 1: Wissenschaftszentren und geistige Bedeutung studentischer Migration in Mittel- und Südosteuropa vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, München 1983; Bd. 2: Universitäten und Studenten. Die Bedeutung studentischer Migrationen in Mittel- und Südosteuropa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. von Richard Georg Plaschka und Karlheinz Mack, München 1987; Albert MÜLLER, Wanderungen in Spätmittelalter und Frühneuzeit im Kontext des Zentrum-Peripherie-Rahmens. Das Beispiel der Wiener Universitätsbesucher, in: Bericht über den 19. Österreichischen Historikertag in Graz, veranstaltet vom Verband Österreichischer Geschichtsvereine in der Zeit vom 18. bis 23. Mai 1992, Wien 1994, S. 471-480; und Universitäten als Brücken in Europa. Studien zur Geschichte der studentischen Migration, hrsg. von Hartmut Rüdiger Peter und Natalia Tikhonov, Frankfurt a. M. [u. a.] 2003, behandelt. Zum Typus des wandernden Scholaren im Mittelalter vgl. etwa Helen WADELL, The wandering Scholars, London 1952; oder Ernst SCHUBERT, Fahrende Schüler im Spätmittelalter, in: Bildungsund schulgeschichtliche Studien zu Spätmittelalter, Reformation und konfessionellem Zeitalter, hrsg. von Harald Dickerhof, Wiesbaden 1994, S. 9-34. 28
Zu diesem Thema sind bereits erste überblicksartige Vorarbeiten vorhanden von Hilde de RlDDER-SYMOENS, Peregrinatio academica doorheen Europa. 13e-18e eeuw in vogelvlucht, in: Batavia Academica 1 (1983), S. 3-11; DIES., La migration acadimique des hommes et des id