Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook: Band 4 2003 9783486833423


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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Schwerpunktthema: Diktaturbewältigung, Erinnerungspolitik und Geschichtskultur in Polen und Spanien
„Diktaturerinnerungsvergleich“. Zur Einführung
„Europäische Peripherie“ - „Europäische Identität“
Zeitgeschichte in Polen nach 1989
Politische Rituale und Symbole in Polen 1944–2001
Die Franco-Ära in der medialen Geschichtskultur Spaniens
Die spanische Zeitgeschichtsforschung zur Franco-Ära seit 1975
Andere Beiträge
Die Europäizität Ostmitteleuropas
Paneuropäische Bemühungen um eine deutsch-französische Aussöhnung
Karl der Große - Franke? Deutscher? oder Europäer?
Die Sitzungen des Europäischen Rates - Information und Analyse als zeithistorische Quelle
Forschungsbericht
Politischer Katholizismus und christlich-demokratische Parteien in Europa im 19. und 20. Jahrhundert
Europa-Institute und Europa-Projekte
Das Berliner Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas
Auswahlbibliographie
Europa-Schrifttum 2002 (mit Nachträgen)
Autorenverzeichnis
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Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook: Band 4 2003
 9783486833423

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Jahrbuch für Europäische Geschichte

Jahrbuch für Europäische Geschichte Herausgegeben am Institut fiir Europäische Geschichte von Heinz Duchhardt in Verbindung mit Wlodzimierz Borodziej, Peter Burke, Ferenc Glatz, Georg Kreis, Pierangelo Schiera, Winfried Schulze

Band 4 2003

R.Oldenbourg Verlag München 2003

Redaktion: Matthias Schnettger, Jan Gudian

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2003 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: WB-Druck, Rieden am Forggensee ISBN 3-486-56660-1

Inhaltsverzeichnis

Schwerpunktthema: Diktaturbewältigung, Erinnerungspolitik und Geschichtskultur in Polen und Spanien Stefan Troebst, Leipzig: „Diktaturerinnerungsvergleich". Zur Einfuhrung

1

Claudia Kraft, Warszawa: „Europäische Peripherie" - „Europäische Identität". Über den Umgang mit der Vergangenheit im zusammenwachsenden Europa am Beispiel Polens und Spaniens Krzysztof Ruchniewicz, Wroclaw: Zeitgeschichte in Polen nach 1989. Forschungsschwerpunkte, „weiße Flecken" und historische Kontroversen

39

Izabella Main, Krakow: Politische Rituale und Symbole in Polen 1944-2001. Eine analytische Bibliographie

71

11

David Rey, Leipzig: Die Franco-Ära in der medialen Geschichtskultur Spaniens. Bürgerkrieg und Diktatur in Kino und Fernsehen seit 1975

113

Carsten Humlebaek, Firenze: Die spanische Zeitgeschichtsforschung zur Franco-Ära seit 1975

161

Andere Beiträge Wolfgang Schmale, Wien: Die Europäizität Ostmitteleuropas

189

VI

Jahrbuch fiir Europäische Geschichte 4 (2003)

Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Graz: Paneuropäische Bemühungen um eine deutsch-französische Aussöhnung. Eine Rundfrage unter deutschen und französischen Parlamentariern anlässlich der Parlaments wählen 1928

215

Matthias Pape, Bonn: Karl der Große - Franke? Deutscher? oder Europäer? Karlsbild und Karlskult in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland

243

Peter Krüger, Marburg: Die Sitzungen des Europäischen Rates - Information und Analyse als zeithistorische Quelle

255

Forschungsbericht Wolfram Kaiser, Portsmouth: Politischer Katholizismus und christlich-demokratische Parteien in Europa im 19. und 20. Jahrhundert

259

Europa-Institute und Europa-Projekte Arnd Bauerkämper, Berlin: Das Berliner Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas. Ein Ort komparativer Forschung und wissenschaftlicher Kommunikation

277

Auswahlbibliographie Matthias Schnettger, Mainz: Europa-Schrifttum 2002 (mit Nachträgen)

285

Autoren verzeichni s

313

SCHWERPUNKTTHEMA Diktaturbewältigung, Erinnerungspolitik und Geschichtskultur in Polen und Spanien

,Diktaturerinnerungsvergleich". Zur Einführung Von

Stefan Troebst I.

Der Aufstieg und die Überwindung moderner Diktaturen werden als „Signum des 20. Jahrhunderts" in Europa schlechthin gewertet1, und als zentrale Lehre aus der Geschichte von Bundesrepublik und wiedervereinigtem Deutschland für die erfolgreiche Bewältigung diktatorischer Vergangenheiten gilt, neben tätiger Reue und transitional justice, aktive Erinnerungsarbeit samt historischer Aufarbeitung aller Aspekte eines Gewaltregimes2. Mitunter wird dieser Lektion vorbildhafter „Geschichtsbesessenheit" (Aleida Assman/Ute Frevert3) seitens der Politik hierzulande sogar Exportfähigkeit zuerkannt4. Daher nimmt es nicht wunder, wenn Timothy Garton Ash der bundesdeutschen Variante der Vergangenheitsbewältigung attestiert, sie habe „eine neue Norm der 1

Detlef S C H M I E C H E N - A C K . E R M A N N , Diktaturen im Vergleich, Darmstadt 2 0 0 2 , S . 1. Siehe umfassend: Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, hrsg. von Petra Bock und Edgar Wolfrum, Göttingen 1999; und Norbert FREI, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. 3 Aleida A S S M A N / U t e F R E V E R T , Geschichtsvergessenheit, Geschichtsbesessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999. 4 So unlängst Comelie S O N N T A G - W O L G A S T , Die historische Auseinandersetzung mit den kommunistischen Diktaturen in Europa, in: Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs". Geschichte und Öffentlichkeit im europäischen Vergleich, hrsg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Leipzig 2002, S. 15-30; und Marianne B I R T H L E R , Instrumentarien der Auseinandersetzung mit der Diktatur - ein internationaler Vergleich, in: Ebd., S. 73-84. 2

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Vollständigkeit gesetzt"5, gar von „DIN-Standards - die .Deutschen IndustrieNormen' - im Bereich der Geschichtsschreibung" spricht6. Diesem west-ost-deutschen Bewältigungsmodus stehen andernorts in Europa andere, in der Regel weniger rigide Formen des Umgangs mit dem Diktaturerbe entgegen. Diese Formen, die retrospektive Relativierung, gar „Geschichtsvergessenheit" einschließen, mögen sich, gemessen an der strengen deutschen Elle, als weniger gründlich ausnehmen, sind deswegen aber nicht notwendigerweise weniger erfolgreich. Was in Deutschland als „Schlussstrichmentalität" verpönt ist, wird in anderen Gesellschaften häufig als das „Verheilenlassen alter Wunden" und „Blick nach vorn", „Geschichtsbesessenheit" hingegen als Störpotential gewertet. Am Beispiel der Nationsbildung hat Ernest Renan dieses Spannungsverhältnis zwischen dem kollektiven Ausblenden traumatischer Gewaltperioden einerseits und ihrer investigativen Analyse andererseits in die folgenden Worte gefasst: „Das Vergessen - ich möchte fast sagen: der historische Irrtum - spielt bei der Erschaffung einer Nation eine wesentliche Rolle, und daher ist der Fortschritt der historischen Studien oft eine Gefahr für die Nation. Die historische Forschung zieht in der Tat die gewaltsamen Vorgänge ans Licht, die sich am Ursprung aller politischen Gebilde, selbst jener mit den wohltätigsten Folgen, ereignet haben" 7 .

Und in Renans Fußtapfen hat Henry Rousso gegen die verbreitete Abwertung von Vergessen und Verdrängen ins Feld geführt, eben dieser Gegensatz zwischen der „positiven Wertschätzung, die heutzutage der Erinnerung beigemessen wird", und der „negativen Wertschätzung des Vergessens" stelle „einen wichtigen Aspekt der heutigen Vorstellungswelt dar, den es zu erklären gilt"8. Für postdiktatorische Gesellschaften gilt dieser Erklärungsbedarf in besonderem Maße. Denn vor allem dort, wo Protagonisten einer autochthonen, also 5

Timothy GARTON ASH, Strafgerichte, Säuberungen und Geschichtsstunden, in: DERS., Zeit der Freiheit. Aus den Zentren des neuen Europa, München 1999, S. 308-333, hier: S. 309. 6 DERS., Mesomnesie, in: Transit, Heft 22, Winter 2001/2002, S. 32-48, hier: S. 33. 7 Ernest RENAN, Qu'est-ce qu'une nation? Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Henning Ritter: Was ist eine Nation?, in: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, hrsg. von Michael Jeismann und Henning Ritter, Leipzig 1993, S. 290-311, hier: S. 294 f. Bereits Friedrich Nietzsche hat bei der Abwägung des Einflusses von „Unhistorischem" und „Historischem" auf die „Gesundheit eines einzelnen, eines Volkes und einer Kultur" konstatiert, „durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Übermaße von Historie hört der Mensch wieder a u f ' . So Friedrich NIETZSCHE, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, hrsg. von Michael Landmann, Zürich 1984, S. 12 f. (Erstveröffentlichung Basel 1874). Vgl. auch grundlegend Heinz Dieter KlTTSTEINER, Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte, in: Vom Nutzen des Vergessens, hrsg. von Gary Smith und Hinderk M. Emrich, Berlin 1996, S. 133-174. 8 Henry ROUSSO, La hantise du pass£, Paris 1998, S. 12. Hier zitiert nach Etienne FRANCOLS/Hagen SCHULZE, Einleitung, in: Deutsche Erinnerungsorte, hrsg. von Etienne Franc i s und Hagen Schulze, Bd. 1, München 2001, S. 9-24, hier: S. 14.

Troebst, „Diktaturerinnerungsvergleich "

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nicht im Zuge militärischer Okkupation errichteten und/oder „von unten", nicht von außen, beendeten Diktatur die Auflösung ihres eigenen Gewaltregimes gewaltarm mitgestaltet haben, ist die Bereitschaft zu milden Urteilen groß. In seinem Essay „Die Helden des Rückzugs" vom Dezember 1989 hat Hans Magnus Enzensberger als Prototypen hierfür nicht zufallig neben dem polnischen Präsidenten der Wendejahre 1989 und 1990, General Wojciech Jaruzelski, auch den Spanier Adolfo Suärez, unter Franco Generalsekretär der Einheitspartei und nach dem Tode des Diktators von 1976 bis 1981 Ministerpräsident, genannt: Nur weil beide zum innersten Zirkel der Macht gehörten und um die arcana Imperii wussten, waren sie zum Bewerkstelligen einer unblutigen Machtübergabe in der Lage. Dennoch hat beiden Protagonisten der Selbstentmachtung ihr Handeln - so Enzensberger - den „Undank des Vaterlandes" eingetragen; in den Augen ihrer ehemaligen Mitstreiter und Anhänger waren sie Verräter, für ihre Gegner blieben sie Dunkelmänner9. Aber noch ein anderer Faktor erleichterte in den genannten Fällen den Regimewechsel: Was Adam Michnik für das Osteuropa der Wendezeit konstatiert hat, dass nämlich Nationalismus hier „das letzte Wort der abziehenden Kommunisten, aber zugleich ein Ausdruck des Widerspruchs gegen dieses antinationale System" sei 10 , gilt, ersetzt man „Kommunisten" durch „Obristen" oder „Junta", auch für ideologisch anders gelagerte Fälle - etwa für Griechenland oder Portugal 1974. Dabei nimmt die Funktion der Nation mit dem zeitlichem Abstand zum Ende von Diktaturen nicht ab, sondern zu: Eine nationalgeschichtliche Meistererzählung erfordert das Einpassen diktatorischer Phasen. Handelsübliche Erklärungsmuster dafür sind die außengesteuerte Aberration, die temporäre Hypertrophierung oder der folgenarme Hiatus, während Sonderwegerklärungen die Ausnahme sind.

II. Als 2001 am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig, einem international, interdisziplinär und 9

Hans Magnus ENZENSBERGER, Die Helden des Rückzugs. Brouillon zu einer politischen Moral der Entmachtung, in: DERS., Zickzack. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1997, S. 55-63, hier: S. 59 f. (Erstveröffentlichung in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Dezember 1989). Ebenfalls auf die Ähnlichkeiten zwischen spanischer und polnischer „Transition zur Demokratie" verweist Eric HOBSBAWM, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995, S. 603. 10 Zitiert bei Gerhard GNAUCK, Der Bär ist noch nicht tot, da streitet man um sein Fell, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 209 vom 8. September 1990, S. 27. Zum Versuch der polnischen Kommunisten, ihren Machtanspruch mit Elementen einer polnischen nationalen Ideologie zu begründen, vgl. jetzt Marcin ZAREMBA, Komunizm, legitymizacja, nacjonalizm. Nacjonalistyczna legitymizacja wtadzy komunistycznej w Polsce, Warszawa 2001.

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komparatistisch ausgerichteten außeruniversitären Forschungsinstitut mit dem Fokus auf der Region zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Adria, die Idee entstand, die politische Funktion des Invozierens nationalgeschichtlicher Tradition im Prozess der Ablösung von diktatorischen Regimen vergleichend zu untersuchen, wurde bald klar, dass innerregional-ostmitteleuropäische Vergleiche - etwa des slowakischen Falles mit dem ukrainischen oder des makedonischen mit dem moldauischen - aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeiten auf einer Vielzahl von Ebenen zwar nahe liegend, aber gerade deshalb wohl nur wenig erkenntnisträchtig, gar selbstreferentiell sein würden. Wie die Geschichtswissenschaft insgesamt, nimmt auch das GWZO - in den Worten des ihm verbundenen Ostmitteleuropahistorikers Michael G. Müller - „allmählich Abschied von der Idee, [seine] Gegenstände in typologische Gebäude von Formationen und Großregionen einordnen zu m ü s s e n " 1 u n d gliedert zunehmend nach Kategorien von Zentrum und Peripherie statt nach Himmelsrichtungen. Der demgemäß vielversprechendere interregional-europaweite Vergleich erschien allerdings aufgrund der Spezifika der Förderung des GWZO durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft zunächst ausgeschlossen: Die Nennung der geschichtsregionalen Konzeption „Ostmitteleuropa" im Institutsnamen erwies sich hier als Korsett. Den Weg aus dem genannten förderungspolitischen Dilemma wies die VolkswagenStiftung durch die Einrichtung der neuen Förderinitiative „Einheit in der Vielfalt? Grundlagen und Voraussetzungen eines erweiterten Europas", welche gesamteuropäische Vergleiche explizit anregte. Ein maßgeblich von Claudia Kraft (damals GWZO, derzeit Deutsches Historisches Institut Warschau) konzipierter Antrag auf Förderung eines Projekts zum Thema „Diktaturbewältigung und nationale Selbstvergewisserung an der Semi-Peripherie Europas: Geschichtskulturen in Polen und Spanien im Vergleich" wurde im Rahmen der neuen Förderinitiative 2001 bewilligt. Die ersten Ergebnisse des 2002 begonnenen Unternehmens werden im Themenschwerpunkt dieses Bandes vorgestellt. Warum nun aber gerade die Fallbeispiele Polen und Spanien? Weil beide „großen Völker" - „groß" im Sinne adliger, imperialer und hochkultureller Traditionen - zum einen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Teilregionen Europas und ihrer gänzlich anders gearteten politischen Geschichte auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeiten aufzuweisen scheinen, sie also in mehrfacher Hinsicht genügend weit voneinander entfernt sind, um den Vergleichswert beeinträchtigende Interferenzen auszuschließen; und weil sie zum anderen dennoch das für sinnvolles Vergleichen erforderliche Mindestmaß an strukturellen Ähnlichkeiten aufweisen. Der Verlust der zumindest zeitweiligen Großmachtrolle ist hier ebenso zu nennen wie die Abkopplung vom gesellschaftlichen und politischen Modernisierungsprozess, der in großen Tei11 Michael G. MÜLLER, In cerca dell'Europa: realtä e rappresentazioni di un continente, in: Contemporanea 2 (1999), Η. 1, S. 81-87, hier: S. 81.

Troebst,

„Diktaturerinnerungsvergleich"

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len Westeuropas seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Ausbildung moderner Nationalstaaten geführt hat. Aber auch die konstitutive Bedeutung des Katholizismus fur die Ausformung des nationalen Selbstverständnisses, die Dominanz einer mächtigen Agraroligarchie in einer primär ruralen Gesellschaft, auch die Rivalität mehrerer Metropolen, die Multiethnizität, sprachliche Diversifikation sowie das Charakteristikum der Massenauswanderung gehören in diese Kategorie. Die in beiden Gesellschaften wahrgenommene Rückständigkeit einerseits sowie das Bewusstsein einstiger imperialer Größe andererseits bilden den Hintergrund grundlegender Debatten über die Gründe des Niedergangs und die unterschiedlichen Modernisierungsstrategien. Gerade das Gefühl, von einer ehemals machtvollen Position an die europäische Peripherie gedrängt worden zu sein, hat immer wieder die Diskurse um die jeweilige Stellung der beiden großen Kulturnationen in Europa angefacht. Dabei ist wiederum in beiden Fällen ein Widerstreit zwischen einheimischen und universal begründeten Kulturmodellen zu konstatieren, mit denen krisenhaften Entwicklungen Einhalt geboten werden und eine Konsolidierung des jeweiligen nationalen Selbstverständnisses erfolgen sollte. Das 20. Jahrhundert zeitigte für beide Staaten eine tiefgreifende Krise der parlamentarischen Demokratie sowie die Erfahrung sukzessiver autoritärer Regime - in Spanien beginnend mit der 1923 errichteten Diktatur General Miguel Primo de Riveras, in Polen mit dem Militärputsch des ehemaligen Staatschefs Marschall Jozef Pilsudski von 1926 samt diktatorischem „Sanierungsregime" (sanacja). Während im spanischen Fall aus dem Bürgerkrieg der Jahre 1936-1939 die Franco-Diktatur in direktem Anschluss hervorging, endete die autoritäre Phase der Zweiten Polnischen Republik 1939 durch den Einmarsch von Wehrmacht und Roter Armee. Der Zweiteilung folgte 1941 die völlige Beherrschung durch das Dritte Reich, 1944 die Eingliederung in den sowjetischen Herrschaftsbereich bei westverschobener Staatswiedergründung unter kommunistischem Vorzeichen 12 . Im Zuge der Demokratisierungsprozesse der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts spielte in Spanien wie in Polen die Suche nach den Gründen für das Scheitern der Demokratie sowie die Charakterisierung der darauf folgenden autokratischen Systeme eine zentrale Rolle für die nationale Selbstvergewisserung. Dabei sind erneut die Kriterien von autochthonen Traditionen bzw. externen Einflüssen von Interesse. Bei der Aufarbeitung der Geschichte der Diktaturen, die in beiden Fällen auch auf eine explizit „nationale" Aussöhnung zwischen Tätern, Opfern und Mitläufern zielt, stehen sich in beiden Gesellschaften rivalisierende Konzepte der Nationalgeschichte gegenüber. Die seit dem 19. Jahrhundert so genannten „beiden Spanien" („las 12 Eine der ambitioniertesten und fundiertesten Synthesen zur Geschichte Polens im „kurzen" 20. Jahrhundert fasst die beiden nationalsozialistisch und kommunistisch geprägten Diktaturphasen zusammen: Andrzej Paczkowski, Ρόΐ wieku dziejöw Polski 1939-1989, Warszawa 1995.

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dos Espanas") wären hier zu nennen, in Polen der historisch tiefe Graben zwischen „uns" („my") und „denen (da oben)" („oni") bzw. zwischen „Gesellschaft" und „Staat", auch die im Zuge des bevorstehenden EU-Beitritts erneut diskutierten divergierenden Staatskonzeptionen von .jagiellonischer Idee" (imperial, föderativ, plurikonfessionell, multiethnisch) und „plastischer Tradition" (national, zentralistisch, katholisch, homogen). Einen deutlichen Unterschied zwischen dem spanischen Blick auf das Franco-Regime und dem polnischen auf die kommunistische Periode markiert indes die Frage nach den Urhebern der Diktatur: Während die Herrschaft Francos nach Herkunft und Inhalt unstreitig eine spanische ist, ist die kommunistische Herrschaft über Polen ebenso eindeutig Ergebnis sowjetischer Einflussnahme, also einer Intervention von außen. Allerdings wurde die Sowjetisierung Polens, die nicht mit einer militärischen Besatzung einherging, maßgeblich von polnischen Kommunisten betrieben sowie von Teilen der Gesellschaft mitgetragen - insofern relativiert sich die Bedeutung des genannten Unterschieds13. Der polnische Historiker Aleksander Smolar, dem „das Beispiel Spaniens den Erfahrungen Mitteleuropas am nächsten zu kommen" scheint, hat auf einen weiteren Unterschied zwischen beiden Fällen hingewiesen, nämlich auf die unter Franco vonstatten gehende soziale und wirtschaftliche Modernisierung Spaniens, „zu deren natürlicher Fortsetzung die Demokratie wurde"14 - für Polen vermag er eine solche Teleologie nicht zu erkennen. Die Analyse der rivalisierenden Konzeptionen von Nationalgeschichte wird in beiden Fällen dadurch erschwert, dass die autokratischen Regime den Umgang mit der jeweiligen Geschichte für ihre eigenen Zwecke instrumentalisierten und damit den nationalen Historiographien eine zusätzliche Brechung gaben. Somit werden in den aktuellen Debatten über geschichtspolitisch brisante Themen immer auch Elemente nationaler Identitätssuche reflektiert15. Diese Selbstbespiegelung findet dabei ein auffälliges Gegenstück 13 Zur polnischen Diskussion vgl. Andrzej FWSZKE, War die Volksrepublik Polen ein besetztes Land? Ein „Historikerstreit", in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 1 (1997), Η. 1, S. 231-250, hier besonders S. 248-250. 14 Aleksander SMOLAR, Vergangenheitspolitik nach 1989. Eine vergleichende Zwischenbilanz, in: Transit, Heft 18, Winter 1999/2000, S. 81-101, hier: S. 100. 15 Zum spanischen Fall siehe jetzt das Themenheft Spanish Memories: Images of a Contested Past, hrsg. von Raanan Rein, der Zeitschrift History and Memory 14 (2002), H. 1-2; Paloma AGUILAR FERNANDEZ, Memory and Amnesia. TTie Role of the Spanish Civil War in the Transition to Democracy, Oxford/New York 2002; DIES., Justicia, politica y memoria: Los legades del franquismo en la transiciön espafiola, Madrid 2001; und Julia MACHER, Verdrängung um der Versöhnung willen? Die geschichtspolitische Auseinandersetzung mit Bürgerkrieg und Franco-Diktatur in den ersten Jahren des friedlichen Übergangs von der Diktatur zur Demokratie in Spanien (1975-1978), Bonn 2002. Zu Polen vgl. Wlodzimierz BORODZIEJ, Das kurze 20. Jahrhundert Polens: Bilanz eines europäischen Sonderwegs?, Leipzig 2002; Andrzej PACZKOWSKI, Was tun mit der kommunistischen Vergangenheit? Polen, in: Transit, Heft 22, Winter 2001/2002, S. 87-107; Zdzistaw KRASNOD^BSKI, Generationswandel und kollektives Gedächtnis in Polen, in: Erinnern, vergessen, verdrängen. Polnische

Troebst,

„Diktaturerinnerungsvergleich"

7

in der Wahrnehmung Spaniens in Polen. Hier dient das spanische Beispiel seit fast zwei Jahrhunderten als Referenzrahmen und Vergleichsfolie, wie Jan Kieniewicz in seinem 2001 veröffentlichten Buch Spanien im polnischen Spiegel eingehend beschreibt16. Dieses traditionelle polnische Spanien-Interesse findet indes keine Entsprechung im reziproken Fall: Von Madrid aus gesehen, sind die polnische Nation und ihre Staatsgründungen der klassische Fall eines im Osten Europas gelegenen „far-away country" bzw. „people of whom we know nothing", von denen Neville Chamberlain seinerzeit sprach. Im weiterhin imperial beschlagenen spanischen Spiegel, so Jose Alvarez Junco, sind ausschließlich Großmächte wie Großbritannien, Frankreich oder Deutschland erkennbar17 - Polen hingegen nicht.

III. Beträchtliches Interesse besteht zumindest in der Geschichtswissenschaft Spaniens an historischen Vergleichen mit anderen Gesellschaften und Staaten Europas, wie ein erster Projektworkshop zum Thema „Remembering Dictatorship: Poland and Spain Compared" 2002 an der Universidade de Santiago de Compostela gezeigt hat, der aus einer engen Projektkooperation mit dem Departamento de Historia Contemporänea e de America der galicischen Universität resultierte. In Polen wurden mit dem Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien an der Universität Breslau (Centrum Studiow Niemieckich i Europejskich im. Willy Brandta na Uniwersytetcie Wroclawskim) und dem Historischen Institut an der Universität Warschau ebenfalls engagierte Projektpartner gefunden. Und auf gesamteuropäischer Ebene entwikkelte sich eine enge Zusammenarbeit mit der Abteilung Geschichte des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz. Xose M. Nunez Seixas, Krzysztof Ruchniewicz, Wtodzimierz Borodziej und Bo Sträth sind dabei als Promotoren dieser spanisch-polnisch-„europäisch"-deutschen Kooperation zu nennen. und deutsche Erfahrungen, hrsg. von Ewa Kobylmska und Andreas Lawaty, Wiesbaden 1998, S. 145-163; und Kazimierz W0YCICKI, Opfer und Täter - Die polnische Abrechnung mit der Geschichte nach 1989, in: Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, hrsg. von Helmut König [u. a.], Wiesbaden 1998, S. 291-308. Übergreifend und grundlegend: Beate BINDER/Wolfgang KASCHUBA/Peter NIEDERMÜLLER, „Geschichtspolitik": Zur Aktualität nationaler Identitätsdiskurse in europäischen Gesellschaften, in: Gesellschaften im Vergleich. Forschungen aus Sozial- und Geschichtswissenschaft, hrsg. von Hartmut Kaelble und Jürgen Schreiner, Frankfurt a. M. 1998, S. 465-508. 16 Jan KIENIEWICZ, Hiszpania w zwierciadle polskim, Gdansk 2001. Siehe auch DERS., Espafla y relaciones polaco-espaflolas en la historiografia polaca del siglo XX, in: La science historique polonaise dans l'historiographie mondiale, hrsg. von Marian Leczyk, Wrocl a w [u. a.] 1990, S. 3 1 5 - 3 3 6 . 17 Jos6 ALVAREZ JUNCO, Mater Dolorosa. El proceso de construcciön de la identidad espafiola a lo largo del siglo XIX, Madrid 2001.

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Die nachstehend unter dem Titel „Diktaturbewältigung, Erinnerungspolitik und Geschichtskultur in Polen und Spanien" versammelten Forschungs- und Literaturberichte wurden zum einen Teil im Zuge von Gastwissenschaftleraufenthalten am GWZO, zum anderen als Beiträge zu dem genannten Projektworkshop in Santiago de Compostela erstellt. Es handelt sich dabei um vier umfassende Bestandsaufnahmen, welche die Grundlage zu vergleichenden Untersuchungen legen: (1) Krzysztof Ruchniewicz, Historiker an der Universität Breslau, bilanziert ein Jahrzehnt polnischer postdiktatorischer Geschichtschreibung zur volksdemokratischen Periode der Jahre 1944-1989; (2) Izabella Main, Historikerin aus Krakau, analysiert in einem bibliographischen Essay die Forschungsliteratur zu politischen Ritualen und Symbolen sowohl in Volkspolen als auch in der Dritten Polnischen Republik - von 1944 über 1989 bis 2001 18 ; (3) David Rey, in Leipzig tätiger Historiker aus dem galicischen Teil Spaniens, zeichnet das sich wandelnde spanische Geschichtsbild bezüglich der Franco-Ära anhand der diesbezüglich besonders prägenden Medien Film und Fernsehen nach; und (4) Carsten Humlebaek, dänischer Historiker am Europäischen Hochschulinstitut Florenz, gibt einen state-of-theari-Bericht zur spanischen Zeitgeschichtsforschung über die Franco-Diktatur. Einleitend vorangestellt ist diesen Bilanzierungsversuchen ein eindringlicher Polen-Spanien-Vergleich von Claudia Kraft, bei dem ihr sowohl der Umgang mit den autoritären Vergangenheiten als auch der neu-alte Diskurs über die jeweils eigene Europäizität als tertia comparationis dienen. Die Konzeptionsphase des Projektes fiel zeitlich zusammen mit einer lawinenartigen Zunahme des öffentlichen Interesses in Polen und Spanien an den diktatorischen Perioden der eigenen Nationalgeschichte: Die mit dem Ortsnamen Jedwabne verknüpfte Debatte in Polen, ausgelöst von Jan T. Gross' im Mai 2000 im polnischen Original erschienenem Buch Sqsiedzi („Nachbarn"), hat schlaglichtartig gezeigt, dass sich das Thema Diktatur, Anpassung und Entgrenzung nicht auf die Zeit der Volksrepublik beschränken, gar auf seinen sowjetischen Aspekt reduzieren lässt 19 . Dies wirkte sich umgehend auf das im selben Jahr gegründete „Institut des Nationalen Gedenkens" (Instytut Pamiqci Narodowej) aus: Eingerichtet primär zur Aufarbeitung der volksdemokratischen Periode, wurde diese neue Institution bereits zu Beginn ihrer Tätigkeit mit der Untersuchung des Pogroms vom 10. Juli 1941 in

18 Eine stark erweiterte englischsprachige Fassung dieses Beitrags ist in monographischer Form erschienen: Izabella MAIN, Political Rituals and Symbols in Poland, 1944-2002. A Research Report, Leipzig 2002. 19 Jan Tomasz GROSS, Sqsiedzi. Historia zaglady fydowskiego miasteczka, Sejny 2000 (deutsche Ausgabe: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001). Zur polnischen wie zur internationalen Diskussion siehe exemplarisch: Die „Jedwabne-Debatte" in polnischen Zeitungen und Zeitschriften. Dokumentation, hrsg. von Ruth Henning, Potsdam 2001; und Forum on Jan Gross's Neighbors, in: Slavic Review 61 (2002), S. 453-489.

Troebst, „Diktaturerinnerungsvergleich "

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Jedwabne beauftragt 20 . Und in Spanien hat die ebenfalls im Jahr 2000 hervorgetretene Asociaciön para la recuperacion de la memoria histörica mit ihrer öffentlich erhobenen Forderung nach Exhumierung und Identifizierung von Zehntausenden in Massengräbern Verscharrter den ein Vierteljahrhundert lang haltenden Schweigekonsens endgültig gebrochen. Seitdem werden bis dahin tabuisierte Themen wie die weit über das Ende des Bürgerkrieges hinaus betriebenen Konzentrationslager oder die Flucht Hunderttausender Spanier vor Franco ins Ausland in viel besuchten Ausstellungen dargestellt. Selbst die von den Epigonen des Caudillo verwaltete und mit Steuergeldern geforderte Fundacion Nacional Francisco Franco, die das Archiv des Diktators bislang der historischen Forschung weitgehend vorenthalten hat, ist Gegenstand öffentlicher Kritik geworden 21 . Der „Preis der transicion", als den Gregorio Moran das staatlich verordnete Vergessen bezeichnet hat 22 , scheint inzwischen entrichtet zu sein. Entsprechend haben sämtliche in den spanischen Cortes vertretene Parteien am 20. November 2002, also exakt 27 Jahre nach dem Tod Francos, erstmals Unterdrückung und Verfolgung in der Diktatur verurteilt und die Suche sowie gegebenenfalls die Exhumierung von mehr als 30 000 Vermissten des Bürgerkriegs angeordnet23. Gezogene Schlussstriche, so also sowohl die polnische als auch die spanische Erfahrung, haben eine höchstens mittlere Halbwertzeit. Öffentliche Diskurse, gesellschaftliche Prozesse oder generationelle Wechsel können sie erodieren, ja aufheben. Auch wird mitunter übersehen, dass Striche der genannten Art zum Zeitpunkt ihres Ziehens in der Regel eine aktuell-politische Funktion haben. So hat Kazimierz Woycicki unlängst daran erinnert, dass die Forderung nach dem „dicken Strich" („gruba linia") unter die volkspolnische Vergangenheit am 24. August 1989 in einer Situation erfolgte, in der die Machtfrage im Lande mitnichten beantwortet war: „Tadeusz Mazowiecki forderte diesen Schlussstrich in Polen in seiner ersten Rede [als erster nicht-kommunistischer Ministerpräsident vor dem Sejm, S. T.], als alle entscheidenden Ministerien in Polen noch in kommunistischer Hand waren, als die Sowjetunion und die DDR noch existierten. Zu diesem Zeitpunkt war es nur vernünftig, nicht auf einer Abrechnung mit den Kommunisten zu bestehen. Etwas anderes wäre Selbstmord gewesen" 24 .

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Mittlerweile liegt der Jedwabne-Bericht des Instituts vor: Woköt Jedwabnego, hrsg. von Pawel Machcewicz und Krzysztof Persak, 2 Bde., Warszawa 2002. 21 S. dazu Remembering the days of Franco: Spain's history, in: Economist vom 26. Oktober 2002, S. 31; und Paul INGENDAAY, Universum der Rache. Konzentrationslager, Massengräber: Franco bestürzt Spanien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 256 vom 4. November 2002, S. 39. 22 Gregorio MORÄN, El precio de la transiciön, Barcelona 1999. 23 Spanisches Parlament verurteilt Franco-Diktatur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 271 vom 21. November 2002, S. 1. 24 Vgl. seinen Diskussionsbeitrag in: Nach dem Fall (Anm. 4), S. 88 f., hier: S. 88. Zum

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Auch hier liegt eine Parallele zur transition in Spanien und ihrem anfanglich mitnichten garantierten Erfolg auf der Hand. Der in der Franco-Ära geschaffene Repressionsapparat ragte weit in die Demokratie hinein, und noch 1981 haben Teile der franquistisch geprägten Guardia Civil mit einem Putschversuch das Rad der Entwicklung von der Diktatur zur Demokratie zurückdrehen wollen. Auch das ist also ein Umstand, welcher der erfolgreichen Ausfuhr von am deutschen Beispiel gewonnenen Erkenntnissen entgegensteht: Die Bewältigung von Diktaturen, die gleichsam noch röcheln, birgt deutlich höhere Risiken, als dies bei solchen der Fall ist, die nachweislich klinisch tot sind und denen sicherheitshalber - Beispiel Drittes Reich sowie DDR - eine externe Totenwache beigeordnet wurde. Dennoch ist es nicht „der Fortschritt der historischen Studien", der gemäß Renans eingangs zitierter Befürchtung „oft eine Gefahr fur die Nation" darstellt, wie auch „Vergessen" und „historischer Irrtum" diese mitnichten bannen. Vielmehr sind Zeittakt, Mischung und Funktion von „Geschichtsbesessenheit" wie von „Geschichtsvergessenheit" in jedem Einzelfall zu untersuchen. In einem zweiten Schritt können dann die nationalspezifischen postdiktatorischen Erinnerungskulturen Europas miteinander verglichen werden - in der Hoffnung, sie dadurch besser zu verstehen.

Summary Remembering and forgetting periods of dictatorship in the history of a nation depends fundamentally on the character of the dictatorial regime - whether it was autochthonous or imposed from the outside, and whether it was overcome by revolution, "refolution" or evolution. The case studies of Poland and Spain display many similarities: historical background, dictatorial experiences as well as the forms of transition from authoritarian rule to democracy. At the same time, they are sufficiently different to make a comparison worthwhile. Above all, they demonstrate that Europe's historical macro-regions are made up of cores and peripheries, not of "East" and "West".

Wortlaut der Mazowieckischen Regierungserklärung siehe Sabine GRABOWSKI, Vergangenheitsbewältigung in Polen. Dossier und Analyse, in: Vergangenheitsbewältigung (Anm. 15), S. 261-290, hier: S. 261 f., 279. Die innerpolnische Debatte darüber, was genau der Ministerpräsident mit seinem Satz „Unter die Vergangenheit ziehen wir einen dicken Strich" gemeint hat, hält derzeit noch an.

„Europäische Peripherie" - „Europäische Identität" Über den Umgang mit der Vergangenheit im zusammenwachsenden Europa am Beispiel Polens und Spaniens Von

Claudia Kraft Als im Herbst 2002 die Forderungen der Türkei nach konkreten Perspektiven für eine künftige Mitgliedschaft in der Europäischen Union lauter wurden, war es für Teile der deutschen Publizistik wieder einmal an der Zeit, an die gemeinsamen Grundlagen des Projekts EU zu erinnern, um der Türkei ihren Platz außerhalb desselben zuzuweisen: „Solange in Brüssel nur Erzeuropäer wie Spanier oder Polen an die Tür klopften, hat sich die EU nicht der Selbstverständlichkeit erinnern müssen, daß eine staatliche Integration nur gelingen kann, wenn es eine gemeinsame Identität und ein gesellschaftliches Zusammengehörigkeitsgefühl gibt; beides läßt sich nicht in der Retorte erzeugen"1. Die Funktion, die dem Osmanischen Reich seit dem 16. Jahrhundert zufiel, aufgrund essentiell verstandener kultureller Differenzen zu einer Identitätsbildung in Europa ex negative beizutragen, kann also auch im 21. Jahrhundert - wohl erst recht seit dem 11. September 2001 - beliebig aktualisiert werden. Wie stark ein solcher kultureller Grundkonsens wirken kann, zeigt die Tatsache, dass, obwohl das Osmanische Reich zwar nach 1856 de iure in das Konzert der europäischen Mächte aufgenommen wurde und die Türkei seit 1952 als Nato-Mitglied „westliche Werte" verteidigt, das Land de facto weiterhin ein Außenseiter blieb, der sich nicht in das in der europäischen Gemeinschaft institutionalisierte Normen- und Wertegeflecht integrieren konnte2. An dieser Stelle soll es jedoch weniger um die exklusiven Tendenzen einer einheitlich gedachten und für das Projekt der europäischen Einigung erwünschten „europäischen Identität" gehen. Auf die Gefahr eines Eurozentrismus, der den Ethnozentrismus der im 19. Jahrhundert entstandenen Nationalstaaten lediglich auf eine höhere Ebene transformiert, ist gerade in den letzten Jahren wie-

1 Berthold KOHLER, Auf schiefer Bahn, in: Frankfurter Allgemeine vom 26. Oktober 2002. Bereits im September 2002 hatte Hans-Ulrich WEHLER mit seinem polemischen Artikel Das Türkenproblem, in: Die Zeit vom 12. September 2002 eine kontrovers geführte Diskussion über die Euopazugehörigkeit der Türkei angestoßen. 2 Iver B. NEUMANN/Jennifer M. WELSH, The Other in European Self-Definition: an Addendum to the Literature on International Society, in: Review of International Studies 17 (1991), S. 327-348.

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derholt hingewiesen worden3. Vor dem Hintergrund des sich vollziehenden Erweiterungsprozesses der Europäischen Union scheint es interessant, nach der Bedeutung der Relationalität einer europäischen Identität für einzelne Mitgliedsstaaten bzw. künftige Mitglieder zu fragen. Wie definieren sich diese gegenüber einem zwar normativ verstandenen Europabegriff, dessen Inhalt sich selbst jedoch ebenfalls in einem ständigen Aushandlungsprozess befindet? Welche Rolle spielt diese Norm für die Selbst- wie Fremdwahrnehmung einzelner europäischer Staaten - vor allem wenn man deren Geschichte vor dem Spiegel einer namentlich in den letzten zweihundert Jahren als Erfolgsmodell gekennzeichneten „europäischen Geschichte" betrachtet4? Wie wird die eigene Geschichte, die mehr oder weniger eklatant von der europäischen „Norm" abweicht, betrachtet und integrationskompatibel gemacht? Im Folgenden soll mittels eines Vergleichs der Staaten Polen und Spanien versucht werden, Antworten auf die formulierten Fragen zu finden. Dabei wird es weniger um eine umfassende historische Analyse gehen als vielmehr um den Versuch, anhand der Entwicklung von Fragestellungen und Problemfeldern ein Untersuchungsraster für eine vergleichende europäische Geschichte zu entwickeln, die mehr sein will als die Addition von Nationalgeschichten. Die Erhebung der beiden Nationen in den Adelsstand der „Erzeuropäer" hat sicher tiefere Ursachen als die Tatsache, dass in einer künftigen Europäischen Union beiden Ländern die identische Anzahl von Stimmen im Ministerrat (27) und Sitzen im Europäischen Parlament (54) zugestanden werden. Sie etablieren sich damit als veritable „Mittelmächte" hinter den „Großen" Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien mit weitem Abstand vor Ländern wie den Niederlanden, Griechenland oder der Tschechischen Republik5. Die Rede von den „Erzeuropäern" überrascht aus zweifachem Grund: Das Mitgliedsland Spanien hat in der Regel nicht unbedingt den Ruf des EU-Musterknaben. Im Gegenteil: Aufgrund der oft wenig kompromissbereiten spanischen EU-Beamten in Brüssel bekommt das Land gelegentlich das Etikett des „häßlichen

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S. etwa Remi BRAGUE, Europa - eine exzentrische Identität, Frankfurt a. M./New York 1993. Der Autor untersucht nicht die Inhalte europäischer Kultur, sondern Formen der kulturellen Praxis in Europa und kommt zu dem Schluss, dass sich Europa in seiner Geschichte zumeist durch das definiert habe, was „die anderen" nicht seien; Michael MLTTERAUER, Die Entwicklung Europas - ein Sonderweg?, Wien 1999, S. 12-26; Klaus EDER, Integration durch Kultur? Das Paradox der Suche nach einer europäischen Identität, in: Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion, hrsg. von Reinhold Viehoff und Rien T. Segers, Frankfurt a. M. 1999, S. 147-179. 4 Eine kritische Bilanz dieser angeblich linearen und sich durch Abgrenzungsdiskurse konstituierenden Erfolgsgeschichte bei Josep FONTANA, Europa im Spiegel. Eine kritische Revision der europäischen Geschichte, München 1995. 5 S. dazu die Graphik: Die EU nach der Erweiterung, in: Frankfurter Allgemeine vom 26. Oktober 2002.

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Europäers" verliehen6. Im polnischen Fall sind sich die etablierten EU-Länder ohnehin nicht so ganz sicher, ob sie das Land mit seinem kostenintensiven Agrarsektor, seiner veralteten Schwerindustrie und seiner zum Teil an altpolnisch-sarmatische Vorbilder gemahnenden politischen Kultur (zum Beispiel die Besetzung der Rednertribüne im polnischen Parlament im Oktober 2002 durch Abgeordnete der Opposition, die die Arbeit der Legislative zeitweilig zum Erliegen brachte)7 wirklich dabei haben wollen. Hinsichtlich der argumentativen Konfrontation gegenüber den nicht erwünschten Türken scheint es vor allem die relativ homogene Katholizität der beiden Länder sowie ihre geographische Lage zu sein, die sie zitabel gemacht haben. Den Türken wurde damit ein doppeltes Stoppschild vorgehalten: Wir in Europa sind ein mehr oder weniger einheitlich christlicher Klub; geographisch decken wir das riesige Territorium vom Atlantik bis zum Bug ab, jegliche weitere geographische Ausdehnung ist daher zumindest im Moment nicht erwünscht. Nun sind auch in Polen und Spanien selbst über Jahrhunderte hinweg Diskurse über die jeweilige Rolle eines antemurale christianitatis gefuhrt worden, in denen man sich der Rolle der Verteidiger eines christlich gedachten Abendlandes rühmte8. Sie im Jahr 2002 an die Adresse der Türkei zu richten, zeugt eher von einer irrationalen Beschwörung von Geschichte als einer rationalen Analyse der Gründe für Europazugehörigkeit bzw. Ausgrenzung9. Daher erscheint es sinnvoll, jenseits solcher historiographischen Beschwörungen die Geschichte Polens und Spaniens vor dem Hintergrund eines spezifischen Europaideals zueinander in Beziehung zu setzen, um zu zeigen, wie in den beiden Ländern mit dem jeweiligen problematischen historischen Erbe vor dem Hintergrund normativ verstandener Integrationsanforderungen umgegangen wurde und wird. Das tertium comparationis der Untersuchung soll dabei der Übergang von einer autoritär regierten in eine pluralistische demokratische Gesellschaft sein - mit einem besonderen Focus auf den Umgang mit den autoritären bzw. totalitären Erfahrungen im 20. Jahrhundert, da diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für die gesellschaftliche und politische Herausbildung von Werten, Verhaltensweisen und Institutionen während des Transformationsprozesses eine wichtige Rolle spielte und spielt. 6

Christian WERNICKE, Der häßliche Europäer. Spanien - Psychogramm eines schwierigen Partners, in: Die Zeit vom 14. September 2000. 7 Auch in Polen sind in diesem Zusammenhang rasch Assoziationen zu den angeblich chaotischen politischen Verhältnissen in der alten Adelsrepublik wach geworden. S. zum Beispiel Jerzy BESELA, Warchot polski, in: Polityka vom 2. November 2002, S. 68-70. 8 Jan KIENIEWICZ, Hiszpania w zwierciadle polskim, Gdansk 2001, S. 116 f.; für Polen s. zuletzt: Malgorzata MORAWIEC, Antemurale christianitatis. Polen als Vormauer des christlichen Europa, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 2 (2001), S. 249-260; für Spanien s. Norbert REHRMANN, Ist Spanien noch anders? Historisch-kulturelle Überlegungen zur Genealogie eines Mythos, in: Spanien heute. Politik - Wirtschaft - Kultur, hrsg. von Walther L. Bernecker und Josef Oehrlein, Frankfurt a. M. 1993, S. 347-386, hier: S. 354. 9 MITTERAUER, Entwicklung Europas (Anm. 3), S. 15.

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Der geschichtsregionenübergreifende Vergleich zwischen Polen und Spanien Werden in Polen die beiden Länder in historischer Perspektive in einem Atemzug genannt, so liegt der Verweis auf die im Jahr 1820 verfasste und 1831 erstmals publizierte Abhandlung Joachim Lelewels (1786-1861), des Begründers einer modernen Geschichtsschreibung in Polen, unter dem Titel „Die historische Parallele Spaniens mit Polen im 16., 17., 18. Jahrhundert" nahe10. Lelewel ging es darum, die Gründe für den Niedergang der beiden ehemaligen europäischen Großmächte in dem von ihm untersuchten Zeitraum herauszuarbeiten. Dabei interessierten ihn weniger Gemeinsamkeiten dieser beiden Länder, sondern vielmehr die jeweils spezifischen Ursachen des Machtverfalls, allerdings vor dem Hintergrund einer gesamteuropäisch verstandenen Entwicklung. Methodisch mutet Lelewels Vorgehen sehr modern an, will er doch durch diesen typisierenden Vergleich nicht nationale Besonderheiten in romantisch-historistischer Sicht verabsolutieren11, sondern zu Kategorisierungen europäischer Staats- und Herrschaftsformen gelangen, deren Beschreibung nicht durch geschichtsregionale Zuschreibungen vorbestimmt ist. Weder die polnische Ständeherrschaft noch der spanische Absolutismus werden somit als genuin verantwortlich für den jeweiligen Niedergang dargestellt. Vor dem Hintergrund des gesamteuropäischen Entwicklungsprozesses soll Polen gerade nicht als Ausnahme bzw. Einzelfall betrachtet, sondern zu einem übergeordneten Allgemeinen in Beziehung gesetzt werden. Des stereotypisierenden Einflusses geschichtsregionaler Zuschreibungen war sich der Autor wohl bewusst. Nicht zuletzt im Wissen um einen bereits zu jener Zeit prägenden Ost-West-Dualismus der europäischen Geschichte wählte er das entlegene Spanien als Vergleichsobjekt, um damit die Frage nach den Einflüssen westlicher Kulturmuster zu minimieren12. Wenn Lelewel schreibt, dass die geographische Lage „Spanien rettete und Polen zerstörte"13, so bedeutet das für ihn nicht den Primat geopolitischer Vorstellungen, sondern zeigt die Kontingenz historischer Entwicklungen im Wechselspiel innerer und äußerer Einflüsse14. 10 Joachim LELEWEL, Historyczna paralela Hiszpanii Ζ Polsk^ XVI, XVII, XVIII wieku, in: DERS., Dzieta, t. VIII: Historia Polski Nowoiytnej, hrsg. von Marian Henryk Serejski, Warszawa 1961, S. 215-256. 11 S. dazu Fikret ADANIR [U. a.], Traditionen und Perspektiven vergleichender Forschung über die historischen Regionen Osteuropas, in: Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht. Festschrift für Klaus Zernack zum 65. Geburtstag, hrsg. von Michael G. Müller [u. a.], Berlin 1996, S. 1 1 ^ 3 , hier: S. 12 f. 12 Marian Henryk SEREJSKI, Paralela Hiszpanii Ζ Polsk^, in: DERS., Koncepcja historii powszechnej Joachima Lelewela, Warszawa 1958, S. 369-395, hier: S. 379 f. 13 Zit. nach SEREJSKI, Paralela (Anm. 12), S. 393. 14 Ganz anders etwa eine Bewertung vom Ende des 20. Jahrhunderts: Für Hagen SCHULZE sind die Teilungen Polens „ein faszinierender Beweis ex negative für die Segnungen des Absolutismus". S. ders., Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994, S. 81.

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Das 20. Jahrhundert schien durch zwei Weltkriege, zwei Totalitarismen und die daran anschließende Blockkonfrontation eine Trennlinie zwischen Ost und West in Europa mit dem „Eisernen Vorhang" endgültig festgeschrieben zu haben. Nicht nur im traditionellen Rückständigkeitsdiskurs, sondern auch realhistorisch war „Osteuropa" zu einer isolierten Geschichtsregion geworden. Auf der mental mapxs einer dagegen normativ abgegrenzten westlichen „Europäizität" werden Polen heute zum Teil gerade aufgrund seiner im Zuge des Zweiten Weltkriegs erfolgten Westverschiebung aussichtsreiche Transformationschancen eingeräumt. Dass die Westverschiebung nach außen Souveränitätsverlust und nach innen eine repressive Bevölkerungspolitik (nicht nur gegen nicht-polnische Staatsangehörige) zur Folge hatte, scheint vor dem geopolitischen Paradigma der „Verwestlichung" an Bedeutung zu verlieren16. Auf der anderen Seite war es nicht zuletzt die geographische Lage Spaniens, die es trotz der unter Franco ausgegebenen Parole „Spanien ist anders" immer ein Teil des „richtigen" Europas bleiben ließ 17 . Aufgrund der im Kalten Krieg wichtigen strategischen Lage Spaniens sowie seines strammen Antikommunismus beurteilten europäische Beobachter das Regime Francos als „glanzloses braves Normalmaß", das dem „explosiven Temperament des Spaniers" entgegengesetzt war und somit mit dem Land nach dem Bürgerkrieg, in dem vor allem „der rote Weltbolschewismus" bekämpft wurde, die dringend benötigte „Ruhe" brachte 18 . Aus der kritischen Rückschau verliert das System Franco aber selbst den zweifelhaften Bonus einer wirtschaftlichen „Entwicklungsdiktatur", da es auch in der Phase seiner technokratisch gelenkten Modernisierung seit den sechziger Jahren allenfalls Prozesse einer ökonomischen Belebung angestoßen hat, die zuvor durch seinen repressiven Charakter unterbrochen wor-

15 Zur Wirkungsmächtigkeit von Raumvorstelhingen gerade für ostmittel- und osteuropäische Kontexte s. zuletzt das Sonderheft der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft 28 (2002) Nr. 3, Mental Maps, hrsg. von Christoph Conrad. 16 So etwa Carsten GOEHRKE, Transformationschancen und historisches Erbe: Versuch einer vergleichenden Erklärung auf dem Hintergrund europäischer Geschichtslandschaften, in: Transformation und historisches Erbe in den Staaten des europäischen Ostens, hrsg. von Carsten Goehrke und Seraina Gilly, Bern 2000, S. 653-741, hier: S. 739. 17 Eine Rolle hierbei spielt sicher auch ein spezifisch „völkischer" Europadiskurs, der die germanischen und romanischen Völker als zivilisatorisch höher stehend benannte. Nach der Diskreditierung der Verabsolutierung deutscher „Rasse und Kultur" durch die Nationalsozialisten knüpfte dieser Diskurs nach 1945 an die moralische Überlegenheit der westlichen Zivilisation an. S. dazu Peter BUGGE, „Land und Volk*' — oder wo liegt Böhmen?, in; Geschiehte und Gesellschaft 28 (2002), S. 404-434, hier: S. 405 und S. 425, Anm. 84. Es ist sicher kein Zufall, dass konservative Kreise in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auffällig engen Kontakt zum franquistischen Spanien hielten und eine spezifische Konzeption des „Abendlandes" als außenpolitisches Handlungskonzept propagierten, s. dazu Birgit ASCHMANN, „Treue Freunde"? Westdeutschland und Spanien 1945-1963, Stuttgart 2000. 18 So die Bewertung in der Hochphase des Kalten Krieges, s. den Artikel: Franco. Muster an Besonnenheit, in: Der Spiegel vom 15. Oktober 1952.

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den waren 19 . Geschichtsregionen werden also nicht allein durch historischstrukturelle Raumkategorien bestimmt, sondern in noch stärkerem Maße durch Diskurse, die sie jenseits der historischen Analyse als in ihrem Wesenskern unveränderliche Einheiten betrachten. Lelewels „Historische Parallele" fiel trotz ihres methodologischen Innovationspotentials im 20. Jahrhundert dem Vergessen anheim. Eine Übersetzung ins Spanische erfolgte erst im Jahr 199120. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts scheint eine Zusammenschau der unterschiedlichen historischen Erfahrungen in Ost- und Westeuropa möglich geworden zu sein. Ausgehend von der politik- und sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung wurde für die Länder Osteuropas jedoch erneut eine höhere historische Hypothek konstatiert, mussten sie doch in dem „Dilemma der Gleichzeitigkeit" vor dem Hintergrund einer oft verzögerten inneren Nationsbildung nicht nur demokratische Institutionen, sondern auch ein marktorientiertes Wirtschaftssystem etablieren 21 . Allerdings werden in den letzten Jahren die Stimmen lauter, die vor einer Überbetonung der osteuropäischen Exzeptionalität warnen und darauf hinweisen, dass durch die Ausarbeitung eines inter-regionalen Vergleichsdesigns die Osteuropaforschung aus ihrer Nischenexistenz gefuhrt und die angenommene innere Homogenität von Geschichtsregionen hinterfragt werden könnte 22 . Spanien ist nicht einfach nur ein Vorbild für einen geglückten Systemwechsel, auch wenn dies sowohl inner- wie auch außerhalb der ostmitteleuropäischen Reformstaaten gern behauptet wird. Eine nicht nur auf die politischen und ökonomischen, sondern stärker auf längerfristige sozial- und kulturhistorische Entwicklungen ausgerichtete Perspektive zeigt, dass es etliche Ansatzpunkte für einen solchen inter-regionalen Vergleich gibt. Sie macht zudem die Defizite der häufig vorbehaltlos positiv bewerteten spanischen transition deutlich23.

19 Ismael SAZ CAMPOS, Franquismus, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, hrsg. von Fritz Haug, Bd. 4, Hamburg 1999, S. 784-803, hier: S. 798-801. 20 KlENlEWicz, Hiszpania (Anm. 8), S. 111 f. 21 Claus OFFE, Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten, Frankfurt a. M./New York 1994, S. 64 ff.; eine differenzierte Stellungnahme dazu bei Stefan LESSENICH, Spanischer Wein in osteuropäischen Schläuchen? Das Alte und das Neue am transformationspolitischen „Dilemma der Gleichzeitigkeit", in: Gesellschaften im Umbruch. Verhandlungen des 27. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Halle an der Saale 1995, hrsg. von Lars Clausen, Frankfurt a. M. 1996, S. 214-228. 22 Petra STYKOW, Äpfel, Birnen, Känguruhs: Über Sinn und Nutzen der vergleichenden Analyse rapiden und radikalen sozialen Wandels, in: Berliner Debatte Initial. Zeitschrift für Sozialwissenschaftlichen Diskurs 10 (1999), Nr. 1, S. 42-61. 23 Susanne DlTTBERNER, Konsens und Desillusion. Demonstrationseffekte der spanischen Transition, in: Postsozialistische Krisen. Theoretische Ansätze und empirische Befunde, hrsg. von Klaus Müller, Opladen 1998, S. 132-176.

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Selbst- und Fremdwahrnehmung in Europa Bedeutet in der gerade nicht nur marktorientierten und akteursbezogenen Transformationsforschung die „Rückkehr nach Europa" die „kulturelle Codierung der institutionellen Rekonstruktion"24, so wird deutlich, wie wichtig der jeweilige Europabezug ist, in den sich die untersuchten Länder setzen. Gerade die jeweilige Spezifik der polnischen bzw. spanischen Relationalität zu Europa zeigt, dass „Vergleichen" nicht „Gleichsetzen" bedeutet, denn in dem jeweiligen Verständnis sind hier eklatante Unterschiede auszumachen, die den Vergleich aber nicht verhindern, sondern zu einer stärkeren Profilierung der Vergleichsobjekte vor einem normativ verstandenen Europabegriff beitragen. Generell ist eine in Spanien bereits im 17., in Polen verstärkt im 18. Jahrhundert einsetzende Diskussion zur „Europäizität" und zur jeweiligen Stellung in Europa zu vermerken, die bis in die jüngste Zeit andauert25. Dabei spielt eine gegenüber den Staaten Nord- und Westeuropas konstatierte abweichende Entwicklung eine ausschlaggebende Rolle. Die Annahme einer europäischen „Norm" schwingt in diesen Diskursen bewusst oder unbewusst immer mit. Die jeweilige Bezugnahme auf diese „Norm" fällt jedoch sehr heterogen aus und wird nicht nur durch die Selbst-, sondern auch durch die Außenwahrnehmung der beiden Länder bestimmt. Generell wird man feststellen können, dass die relationale Komponente in Polen stärker ausgeprägt ist. Im Gegensatz zu Russland hat Polen als Teil Ostmitteleuropas dem Referenzrahmen Europa kein machtvolles Sonderbewusstsein entgegenzusetzen, sondern definiert sich in erster Linie über Rückständigkeits- bzw. Äquivalenzdiskurse26. Selbst zur Hochzeit des polnischen 24

Klaus M Ü L L E R , Institutionalisierung und Transformation. Zur Relevanz der soziologischen Institutionentheorie filr die Analyse des osteuropäischen Wandels, in: Berliner Debatte Initial. Zeitschrift für Sozialwissenschaftlichen Diskurs 10 (1999), Nr. 1, S. 4-13, hier: S. 9-12. 25 Zu Spanien: Bernhard SCHMIDT, Spanien im Urteil spanischer Autoren. Kritische Untersuchungen zum sogenannten Spanienproblem 1609-1936, Berlin 1975; Spanien und Europa. Texte zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hrsg. von Hans Hinterhäuser, München 1979; Walther L. BERNECKER, Zwischen Isolation und Integration. Das spanisch-europäische Verhältnis im 20. Jahrhundert, in: Nationale Identität und Europäische Einigung, hrsg. von Michael Salewski, Göttingen 1991, S. 125-168; Peter FREY, Spanien und Europa: die spanischen Intellektuellen und die Europäische Integration, Bonn 1988; s. auch REHRMANN, Ist Spanien noch anders (Anm. 8), S. 249 ff. Zu Polen: Jerzy JEDLICKI, Jakiej cywilizacji Polacy potrzebuj^. Studia Ζ dziejöw idei i wyobraini XIX wieku, Warszawa 1988 (englisch: A Suburb of Europe: Nineteenth-Century Polish Approaches to Western Civilization, Budapest 1999); Andrzej AJNENKIEL, Europa - aus polnischer Perspektive, in: Der lange Weg nach Europa. Historische Betrachtungen aus gegenwärtiger Sicht, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen, Berlin 1992, S. 231-265; Jerzy HOLZER, Polen in Europa: Zentrum oder Peripherie?, in: Europabilder in Mittel- und Osteuropa. Neue Herausforderungen für die politische Bildung, Bonn 1996, S. 87-104; Marcin KR0L, Am Rande Europas, in: Transit: Europäische Revue 2000/2001, Nr. 20, S. 44-54. 26 A D A N I R [U. a.], Traditionen (Anm. 11), S. 28 f.

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Sarmatismus als einer genuin polnischen Erscheinung blieb Europa ein wichtiger Bezugspunkt. Polen sah sich der Welt des lateinischen Christentums zugehörig: Durch seine Bollwerkfunktion gegenüber nichtchristlichen Völkern ermöglichte es die Vervollkommnung von Wissenschaften und Künsten im so geschützten Europa 27 . Zugleich darf nicht vergessen werden, dass die Bezeichnung „Osteuropa" in einem sehr breiten, auch Russland einschließenden Verständnis eine in Westeuropa geprägte Bezeichnung ist, die Differenz ausdrückt, um die eigene Identität stärker zu konturieren. Die „Idee einer Kulturmission", die der europäischen Selbstwahrnehmung inhärent ist, schaffte sich zum Zweck der Selbstlegitimation ein passendes Gegenüber 28 . Hinsichtlich seines zumindest phasenweise stark ausgeprägten Sonderbewusstseins, das Europa in Spanien zu einem „Antispanien" werden ließ 29 , erscheint das Land mit Russland vergleichbar, wo ebenfalls Diskurse zu verzeichnen sind, die die Relationalität zu Europa aufgrund wesensmäßiger Differenzen von vornherein ablehnen. Doch selbst in einer solchen Betrachtungsweise schwingt der imaginierte Referenzrahmen eines europäischen „Allgemeinen", das der jeweiligen Landesspezifik entgegengesetzt ist, immer mit 30 . Zu einer Dynamisierung dieser Diskurse der Selbst- und Fremdwahrnehmung kam es unzweifelhaft im Zuge der Aufklärung und der Französischen Revolution. In diesem Kontext wird deutlich, dass es sinnvoller ist, diese Perzeptionen in einer Perspektive von Europa und seinen unterschiedlichen Peripherien zu verorten, anstatt das Bild von einem west-östlichen Kulturgefälle als das einzige qualitative Gliederungsschema anzunehmen. Aufgeklärte Wirtschaftsspezialisten schrieben gegen Ende des 18. Jahrhunderts den katholischen Ländern, ganz gleich in welchem Teil Europas gelegen, mangelnden Unternehmergeist und zivilisatorische Zurückgebliebenheit zu. Spanien und Portugal wurden hier ebenso kritisiert wie Polen oder katholische Territorien im Reich 31 . Auch der spanische Schriftsteller Antonio Munoz Molina hebt auf dieses Wahmehmungsmuster ab, wenn er schreibt: „Zur europäischen Vorstellungswelt gehört das Bild vom dunklen, finsteren Spanien, über dem der Schatten einer grausamen Vergangenheit liegt. Das moderne protestantisch-liberale Europa hat sich auch über den Gegensatz zum imperialen 27

Jerzy JEDLICKI, Swiat zwyrodniaty: l?ki i wyroki krytyköw nowoczesnoSci, Warszawa 2000, S. 63. 28 Dieter LANGEWIESCHE, Historische Wege nach Europa, in: Ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 217-230, hier: S. 219221; s. dazu auch: Larry WOLFF, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994. 29 REHRMANN, Ist Spanien noch anders? (Anm. 8), S. 354. 30

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ADANIR [U. a.], T r a d i t i o n e n ( A n m . 11), S. 2 1 .

Hans-Jürgen BÖMELBURG, „Polnische Wirtschaft". Zur internationalen Genese und zur Realitätshaltigkeit der Stereotypie der Aufklärung, in: „Der Fremde im Dorf'. Überlegungen zum Eigenen und zum Fremden in der Geschichte, hrsg. von Hans-Jürgen Bömelburg und Beate Eschment, Lüneburg 1998, S. 231-248, hier: S. 240-242.

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Spanien des 16./17. Jahrhunderts definiert, und wo die Geschichte nicht hinreicht, da setzt die Legende ein" 32 . Allerdings trat nach den napoleonischen Kriegen neben dieses negative Stereotyp ein zum Teil romantisierendes Spanienbild, das das Land in den Augen ausländischer Reisender zu einem idealen Gegenbild zum postrevolutionären europäischen Alltag stilisierte33. Diese positive Stereotypisierung ist sicher mit der Polenbegeisterung des deutschen Vormärz zu vergleichen, die realpolitisch aber recht rasch in der Frankfurter Paulskirche 1848 ihr Ende fand 34 . Prägender als diese kurzzeitigen positiven Abhebungen hinsichtlich einer europäischen Norm war jedoch die beobachtete Deviation gegenüber politischen und sozioökonomischen Entwicklungen in Nord- und Westeuropa, die die beiden Länder im 19. Jahrhundert an den Rand des Kontinents rücken ließ. Nicht nur in zeitgenössischer Perspektive, sondern auch in der geschichtswissenschaftlichen Rückschau wurde Normalität - im spanischen Fall besonders gern von angelsächsischen und französischen Autoren - an der „Elle von 1789" gemessen35. Dass unmittelbare Nachbarschaft die Zuweisungen von Stereotypen gerade auch in Verbindung mit der Schaffung positiv besetzter Heterostereotypen begünstigt, zeigt das deutsch-polnische Beispiel36. Die Reaktionen auf die Zuschreibungen von „Rückständigkeit" ähneln sich zum Teil, wobei die Gewichtung zwischen Selbstkritik und Selbstrechtfertigung unterschiedlich ausfallt. Polnische Aufklärer agitierten heftig gegen die sarmatische Selbstgefälligkeit ihrer Landsleute und trugen durch diesen Diskurs nicht unwesentlich zur Verfestigung eines negativ dominierten Bildes der späten Adelsrepublik bei, das bis heute in den Köpfen weiterwirkt37. In der Blütezeit der polnischen Romantik, in den Jahren nach der Niederschlagung des Novemberaufstandes 1830/31, gewann in Teilen der meinungsfuhrenden Kreise ein Negativbild des „Westens" die Überhand: Dieser Westen 32

Antonio MuflOZ MOLINA, Im Schatten des Terrors, in: Der Tagesspiegel vom 3. April 2001. 33 Jose ALVAREZ JUNCO, The Nation-Building Process in Nineteenth-Century Spain, in: Nationalism and the Nation in the Iberian Peninsula. Competing and Conflicting Identities, hrsg. von Clare Mar-Molinero und Angel Smith, Oxford 1996, S. 89-106, hier: S. 94 f. 34 S. dazu Gerd KOENEN, „Vormärz" und „Völkerfrühling" - ein deutsch-polnischer Honigmond, in: Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe, hrsg. von Ewa Kobylmska [u. a.], München 1992, S. 79-84; Maria WAWRYKOWA, „Für eure und unsere Freiheit": Studentenschaft und junge Intelligenz in Ost- und Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1985; Michael G. MÜLLER/Bernd SCHÖNEMANN, Die „Polen-Debatte" in der Frankfurter Paulskirche. Darstellung, Lernziele, Materialien, Frankfurt a. M. 1991. 35 REHRMANN, Ist Spanien noch anders? (Anm. 8), S. 350. 36 BÖMELBURG, „Polnische Wirtschaft" (Anm. 31), S. 242; allgemeiner dazu s. auch Hubert ORLOWSKI, „Polnische Wirtschaft": zum deutschen Polendiskurs in der Neuzeit, Wiesbaden 1996; Angela KOCH, DruckBilder: Stereotype und Geschlechtercodes in den antipolnischen Diskursen der „Gartenlaube" (1870-1930), Köln/Weimar/Wien 2002. 37 S. dazu Mieczystaw POR^BSKI, My, sarmaci, in: DERS., Polskoic jako sytuacji, Krakow 2 0 0 2 , S . 7 0 - 9 1 , h i e r : S. 7 2 .

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sei materialistisch, an geistigen Werten nicht interessiert und von einer ungesunden großstädtischen Zivilisation dominiert38. Noch stärker ausgeprägt war dieser Diskurs in Spanien. Dieses sah sich als „spirituelle Reserve" Europas. Letzteres stelle materielle über geistige Werte. Auch wenn Spanien dem Niedergang geweiht sei, bedeute doch das Festhalten an wahren, geistigen Werten die Überlegenheit der spanischen gegenüber einer allgemeineuropäischen Kultur 39 . Die Europabegeisterung einer liberalen Minderheit fand im 19. Jahrhundert in der Gesellschaft kaum Rückhalt. Die Krisenhaftigkeit des Spannungsverhältnisses zwischen Spanien und Europa formulierten am ausdrücklichsten Intellektuelle, die als „Generation der 98er" bezeichnet wurden. Der Verlust der letzten Kolonien im Jahr 1898 regte zu Reflexionen über die Gründe für den Niedergang des spanischen Staates und über mögliche Reformkonzepte an. Die Ergebnisse dieser Reflexionen waren durchaus ambivalent. Eine Rückbesinnung auf „Spaniens wahre Werte" sollte eine Öffnung hin zu Europa begleiten40. Dabei verstand man unter letzterer wohl eher eine „Hispanisierung Europas", machte man doch fiir den Niedergang des Landes in erster Linie das Eindringen von aufklärerischen Ideen in das spanische Denken verantwortlich41.

Ähnlichkeiten und Differenzen in der longue duree Die polnischen und spanischen Diskurse zur Abgrenzung von bzw. Einschreibung in Europa erhielten ihre Dynamik nicht zuletzt dadurch, dass seit dem späten 18. Jahrhundert ein immer klarer ausgeprägter Referenzrahmen sichtbar wurde, an dem „Europäizität" messbar zu werden schien. Es waren jedoch gerade die politischen und ökonomischen Umwandlungsprozesse, die zur Ausbildung bürgerlicher, mehr oder weniger stark industriell geprägter Gesellschaften führten, die in den beiden betrachteten Ländern mit Verspätung oder in deutlich abgewandelter Form abliefen. Diese „als normativ verstandene Entwicklung des europäischen Nordwestens"42 wird nun zum dominierenden Re38

JEDLICKI, Swiat zwyrodniaty (Anm. 27), S. 68 ff. Walther L. BERNECKER, Die spanische „Dekadenz" im Urteil der Historiker der FrancoÄra, in: Siglo de Oro - Decadencia. Spaniens Kultur und Politik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, hrsg. von Heinz Duchhardt und Christoph Strosetzki, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 151-166; REHRMANN, Ist Spanien noch anders? (Anm. 8), S. 354. 40 Walther L. BERNECKER/Horst PLETSCHMANN, Geschichte Spaniens, Stuttgart 1993, S. 259. 41 Tilman Tobias KLINGE, Katholizismus und konservative Politik in Spanien bis zum Bürgerkrieg 1812-1936. Die geistigen Wurzeln der CEDA und ihre Ausrichtung angesichts der Herausforderungen der dreißiger Jahre, Hildesheim/Zilrich/New York 1996, S. 51; Ludger MEES, Der spanische „Sonderweg". Staat und Nation(en) im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 40 (2000), S. 29-66, hier: S. 43-45. 42 ADANIR [U. a.], Traditionen (Anm. 11), S. 30. 39

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ferenzrahmen in Europa, befördert „Rückständigkeitsdiskurse" und verhindert eine Betrachtung der historischen Prozesse, die über ein bloßes Konstatieren von Andersartigkeit hinausgeht43. Die Auflösung der mittelalterlichen christlichen Einheit Europas, die Nationalisierung der religiösen Kulturen sowie die zunehmende Bedeutung eines sich globalisierenden und in internationale Interaktion tretenden Wirtschaftssystems waren Faktoren, die zur Ausbildung der „nordwesteuropäischen Norm" beitrugen44. Zugleich waren in Polen und Spanien eine modernisierungsfeindliche Agraroligarchie sowie die Dominanz der katholischen Konfession, deren gesellschaftliche Prägekraft weit über rein innerreligiöse Belange hinausging, Faktoren, die das Bild der beiden Länder nachdrücklich bestimmten und sie deutlich als „Abweichler" kennzeichneten. Auf das 19. Jahrhundert bezogen, hat Jonas Scherner die strukturellen Ähnlichkeiten der polnischen und spanischen Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassungen untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass die teilweise Entmachtung der polnischen agrarischen Eliten durch die für das von ihm betrachtete Teilungsgebiet maßgeblichen russischen Behörden den Weg zur ökonomischen Modernisierung des Landes freigemacht habe 45 . Dieser Befund stellt in einem nicht unwesentlichen Punkt ein traditionelles polnisches Geschichtsbild in Frage, das in der Regel alle als defizitär verstandenen Entwicklungen des Landes dem negativen Einfluss der Teilungsmächte zuzuschreiben pflegt. Es ist nicht zuletzt die durch die Teilungen Polens verfestigte Dichotomie von polnischer Nation und fremdnationalem Staat, die zu einer tief gehenden Differenz in der polnischen und spanischen Binnensicht der jeweiligen Geschichte im für die Konstruktion von Nationsbildern so wichtigen 19. Jahrhundert beiträgt. Diese Binnensicht sollte auch den Umgang mit der Vergangenheit in den postautoritären Gesellschaften gegen Ende des 20. Jahrhunderts mitbestimmen. Die Parallelität des Verlustes der Eigenstaatlichkeit Polens und der Entwicklung staatsbürgerlicher Reformpläne gegen Ende des 18. Jahrhunderts 43

S. dazu auch Jürgen SCHRIEWER [u. a.], Konstruktion von Internationalist: Referenzhorizonte pädagogischen Wissens im Wandel gesellschaftlicher Systeme (Spanien, Sowjetunion/Rußland, China), in: Gesellschaften im Vergleich. Forschungen aus Sozial- und Geschichtswissenschaften, hrsg. von Hartmut Kaelble und Jürgen Schriewer, Frankfurt a. M. 2 1999, S. 151-258, hier: S. 172 ff. 44 SEREJSKi, Paralela (Anm. 12), S. 381 f.; Jordi CATALAN, The Development of Two European Peripheral Economies in the Long Term: Poland and Spain, 1450-1990, Mannheim 1995; ADANIR [U. a.], Traditionen (Anm. 11), S. 27 f. 45 Jonas SCHERNER, Eliten und wirtschaftliche Entwicklung. Kongresspolen und Spanien im 19. Jahrhundert, Münster 2001. Schemer geht bei seiner Untersuchung von der These aus, dass „politisch einflussreiche und ökonomisch dominante Eliten" die Entwicklung eines Landes hemmen können (S. 8); er schließt damit an die Beobachtungen von Catalan an, der eine Korrelation zwischen der ökonomischen Machtkonzentration bei einer zahlenmäßig kleinen Elite und der Peripherielage der untersuchten Länder festgestellt hat, s. CATALAN, D e v e l o p m e n t ( A n m . 4 4 ) , S. 7 0 .

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hatte zur Folge, dass Unabhängigkeitsbestrebungen und politische Modernisierungskonzepte, die eine Ausweitung des Staatsbürgerstatus auf weite Teile der Bevölkerung anstrebten, seitdem immer in einem engen Konnex gesehen wurden46. Die polnische Nation wurde - in Frontstellung zum fremdnationalen Staat - zum unumstrittenen historischen Akteur. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass Lelewel in seiner „Historischen Parallele" in Polen das „schlechte Betragen des Volkes" („zle prowadzenie si? narodu"), in Spanien hingegen die „schlechte Staatsführung" („zle prowadzenie panstwa") für den jeweiligen Niedergang verantwortlich gemacht hat 47 . Eine reiche nationale Symbolkultur entstand im 19. Jahrhundert trotz bzw. gerade wegen des nicht vorhandenen polnischen Staates. Sie konnte jederzeit aktiviert und politisch instrumentalisiert werden, wie etwa die kulturelle Hegemonie eindrucksvoll beweist, die die polnische Oppositionsbewegung gegenüber der kommunistischen Staatsmacht spätestens seit den ausgehenden siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erreicht hatte48. Die Dichotomie polnisches Volk und fremder Staat erwies sich seit den Teilungen als unerlässliches Gestaltungsmittel der polnischen Geschichtsdeutung49. Ganz anders stellte sich das „nationale Projekt" im Spanien des 19. Jahrhunderts dar. Durch die frühe staatsnationale Konsolidierung konnte der Nationalismus als gesellschaftliche Mobilisierungsstrategie niemals übermäßige Strahlkraft gewinnen. Oberstes Ziel des zentralstaatlichen Nationalismus war die Aufrechterhaltung der politischen Ordnung und die Wahrung der ökonomischen Interessen der Eliten - der Agraroligarchie, des hohen Klerus und einer schmalen Schicht von wohlhabenden Bürgerlichen. Durch die enge Verbindung von katholischer Kirche und spanischer Staatsnation war die Symbolkultur des Nationalen klerikal dominiert50. Die bürgerlichliberale Bewegung blieb schwach und konnte keinen Massenanhang mobilisieren. Auch stand ihr dazu keine nationale Symbolsprache zur Verfugung. Gegen die Regierungskreise grenzte sie sich vor allem durch einen dezidierten Antiklerikalismus ab 51 . Erst in den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts 46

S. dazu Klaus ZERNACK, Polen und Rußland: zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994, S. 327 f. und S. 534 ff. 47 Zit. nach SEREJSKI, Paralela (Anm. 12), S. 387. 48 Jan K.UBIK, The Power of Symbols against the Symbols of Power. The Rise of Solidarity and the Fall of State Socialism in Poland, University Park, PA 1994. 49 Hans Henning HAHN, Die Gesellschaft im Verteidigungszustand. Zur Genese eines Grundmusters der politischen Mentalität in Polen, in: Gesellschaft und Staat in Polen. Historische Aspekte der polnischen Krise, hrsg. von Hans Henning Hahn und Michael G. Müller, Berlin 1988, S. 15-48. 50 MEES, Der „spanische Sonderweg" (Anm. 41); JUNCO, The Nation-Building Process (Anm. 33). Selbst der „Dos de Mayo" (gemeint ist der 2. Mai 1808 als Beginn des Aufstands gegen die napoleonische Besatzungsherrschaft), der als Schlüsselereignis für den politischen Liberalismus und einen modernen Nationalgedanken gilt, wurde ebenso von klerikaler und

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zunehmend erstarkenden Regionalbewegungen wurde der Nationalismus zu einem Konzept zur Mobilisierung breiterer Bevölkerungsschichten52. Es ist bezeichnend, dass auf gesamtstaatlicher Ebene dezidiert nationalistische Parteien im 20. Jahrhundert immer zugleich faschistisch waren 53 .

Krisenhaft empfundene Geschichte und nationale Meistererzählungen Im 19. Jahrhundert als dem „großen Jahrhundert der Geschichtsschreibung"54 entstanden in beiden Ländern spezifische Geschichtsdeutungen, die sich auch im 20. Jahrhundert als prägend für die Interpretation historischer Abläufe erweisen sollten. Es liegt nahe, diese Deutungen und Erzählweisen der Vergangenheit als historische Meistererzählungen zu bezeichnen: „Historische Meistererzählungen unterscheiden sich erstens von anderen historischen Erzählungen dadurch, dass sie beanspruchen, die zentrale Entwicklungslinie der sozialen Gemeinschaft, auf die sie sich beziehen, befriedigend zu erklären und eine Orientierungsfunktion für die Zukunft zu erfüllen, und zweitens durch die verbreitete Akzeptanz, die darin begründet liegt, dass sie wichtige Bedürfnisse der Bevölkerung erfüllen" 55 . Ähnlich der polnischen Perspektive, die seit den Teilungen des Landes im späten 18. Jahrhundert dazu tendierte, das Geschichtsbild in die Kategorien polnische Nation vs. fremde Mächte aufzuteilen, wird auch die spanische Geschichtsbetrachtung von einer dichotomischen Wahrnehmung dominiert. Hier ist die Rede von den „Zwei Spanien" (dem städtischen, liberalen und säkularen Spanien gegenüber dem von katholischer Kirche und Militarismus konservativer Seite beansprucht, indem im Krieg gegen das revolutionäre Frankreich weniger ein Unabhängigkeits- denn ein Glaubenskrieg gesehen wurde. S. dazu Sören BRINKMANN, Spanien. Für Freiheit, Gott und König, in: Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, hrsg. von Monika Flacke, München/Berlin 1998, S. 476-501, hier: S. 494-501; JUNCO, The Nation-Building Process (Anm. 33), S. 92. Auch Franco nahe stehende Historiker werteten den Aufstand als einen solchen Glaubenskrieg. S. BERNECKER, Die spanische „Dekadenz" (Anm. 39), S. 152. 52 BERNECKER/PIETSCHMANN, Geschichte Spaniens (Anm. 40), S. 254 ff.; Gerhard BRUNN, Regionalismus und sozialer Wandel: Das Beispiel Katalonien, in: Nationalismus und sozialer Wandel, hrsg. von Otto Dann, Köln 1978, S. 157-185. 53 Xos€ Manoel NUNEZ SEIXAS, Historiographical Approaches to Nationalism in Spain, Saarbrücken 1993. 54 Gotthold RHODE, Die Situation im polnischen Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein, in: Geschichtsbewußtsein in Ostmitteleuropa. Ergebnisse einer wissenschaftlichen Tagung des J. G. Herder-Forschungsrates über die geistige Lage der ostmitteleuropäischen Völker, hrsg. von Ernst Birke und Eugen Lemberg, Marburg 1961, S. 46-61, hier: S. 54. 55 Matthias MLDDELL/Monika GLBAS/Frank HADLER, Sinnstiftung und Systemlegitimation durch historisches Erzählen. Überlegungen zu Funktionsmechanismen von Repräsentationen des Vergangenen, in: Zugänge zu historischen Meistererzählungen, Leipzig 2000, S. 7-35, hier: S. 26.

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geprägten Spanien des Großgrundbesitzes), die sich unversöhnlich gegenüber gestanden und in letzter Konsequenz den Bürgerkrieg unausweichlich gemacht hätten. Durch solche dichotomischen Bilder wird der Blick auf die sehr viel komplexeren realen Entwicklungswege der beiden Gesellschaften verstellt. In beiden Fällen wird ein statisches Geschichtsbild gezeichnet, das die Multikausalität und Ambivalenzen der historischen Entwicklungen negiert. Die „Zwei Spanien" und der Bürgerkrieg Die dichotomische Wahrnehmung der „Zwei Spanien" verfestigte sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend56. Die Darstellung gesellschaftlicher Konfliktlinien erfolgte mit großer Regelmäßigkeit nach dem Muster der Gegenüberstellung zweier unversöhnlich erscheinender Gegensätze. Auseinandersetzungen zwischen den baskischen, galizischen oder katalanischen Peripherien und dem kastilischen Zentrum, zwischen der traditionellen Agraroligarchie und einem modernen städtischen Bürgertum, zwischen antiklerikalen Liberalen und dem staatstragenden Katholizismus wurden als Glaubenskriege inszeniert, deren friedliche Beilegung auf dem Wege gesellschaftlicher und politischer Aushandlungs- und Reformprozesse unmöglich erschien. Tatsächlich wurde aufgrund der nur teilweise erfolgten gesellschaftlichen Modernisierung sowie der Beibehaltung vormodemer Herrschaftspraktiken im Spanien des 19. Jahrhunderts die Ausdifferenzierung der politischen Landschaft verhindert. Die politisch dominanten Schichten unterschieden sich weit mehr durch weltanschauliche Scheingefechte als durch die Vertretung differenzierter gesellschaftlicher und politischer Interessen. Die Repräsentation sozialer und regionaler Interessengruppen unterblieb, was zu deren Radikalisierung beitrug und sie in Frontstellung zum existierenden System brachte, anstatt sie in dieses zu integrieren. Die Gegensätze „unitaristisch - föderal" bzw. „monarchistisch liberal", die zur Kennzeichnung der politischen Landschaft herangezogen wurden, trafen zumeist nicht die realpolitischen Konfliktherde. Als solche wären etwa die auch durch die Agrarreform des 19. Jahrhunderts („desamortizacion") nicht grundsätzlich veränderten Besitzverhältnisse auf dem Lande zu benennen 57 . Dazu kam die funktionale Schwäche des Staates auf den Gebieten Verwaltung, Rechtsprechung und Bildung. Die mangelnde staatliche Leistungsfähigkeit auf lokaler Ebene untergrub die staatliche Autorität und stärkte das System der im „caciquismo" institutionalisierten Herrschaft ländlicher Honoratioren. Schließlich dominierte während des gesamten 19. Jahrhunderts ein künstlicher Parteiendualismus von Konservativen („partido conservador") und Liberalen („partido liberal") das politische System: In ihrer 56

Walther L. BERNECKER, Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, München 3 1997, S. 13 f. 57 Walther L. BERNECKER, Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert. Vom Ancien Rigime zur Parlamentarischen Monarchie, Frankfurt a. M. 1990, S. 71-87.

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politischen und sozioökonomischen Programmatik waren diese beiden Gruppierungen kaum zu unterscheiden; ihre Wortführer gehörten in der Regel der gleichen kleinen wirtschaftlichen und politischen Elite an 58 . Angesichts dieser Konstellation, die vor allem das Restaurationsregime seit 1875 kennzeichnete, wird die Charakterisierung des „Spanienproblems" als Spaltung des Landes „in einen nationalistisch-konservativen und einen fortschrittlich-liberalen Block" fragwürdig. Bei der Analyse von Stellungnahmen spanischer Autoren zum so genannten Spanienproblem kam Bernhard Schmidt zu dem Ergebnis, dass diese Dichotomisierung für die Gruppe der Intellektuellen und Schriftsteller nicht zutreffend sei. Hier standen sich nicht zwei unversöhnliche extremistische Blöcke gegenüber, schon allein aus dem Grund, weil die Vertreter eines „homogenen fortschrittlich-liberalen" Spaniens nicht eindeutig auszumachen waren59. Dennoch wurde beharrlich am Bild der „Zwei Spanien" festgehalten. Dieses Bild implizierte eine Vision von „Einheit" als absolutem Wert, den es (wieder-)herzustellen galt. Als eine solche Wiederherstellung von Einheit wurde Francos Sieg im Bürgerkrieg über die Republikaner betrachtet. Ebenso wie die Katholischen Könige im 15. Jahrhundert habe Franco nach einer Zeit des Chaos die katholische Einheit des Landes wiederhergestellt60. Tatsächlich hat es weder die „Zwei Spanien" noch die postulierte „Einheit" des Landes jemals gegeben. Unter der dualistischen Parteienherrschaft der Restaurationszeit gärten bis ins 20. Jahrhundert hinein gesellschaftliche Konflikte, die keine politische Repräsentation fanden. Unter dem zentralistischen und zu durchgreifenden sozialen Reformen nicht fähigen Restaurationsregime entstanden in den sozialistischen, anarchistischen und regionalistischen Bewegungen „außersystemische" Kräfte, deren Virulenz nach dem Zusammenbruch des Restaurationsregimes spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts in immer heftigeren sozialen und regionalen Konflikten deutlich wurde61. Vor dem Hintergrund des Regionalismusproblems, der Agrarfrage sowie der Stellung von Militär und Kirche im Staat nahmen die gesellschaftlichen Interessenkonflikte an Schärfe zu. Die Diktatur unter Miguel Primo de Rivera (1923-1930) zeigte sich zu einer Lösung dieser Konflikte unfähig. Die zweite spanische Republik, die 1931 ausgerufen wurde, ging an die Lösung der genannten Probleme vor allem in den ersten beiden Jahren ihres Bestehens aktiv 58

BERNECKER/PIETSCHMANN, Geschichte Spaniens (Anm. 40), S. 237 ff.; Irene DEL VALLE DEISSLER, Spanien und die europäischen Staaten 1885-1898. Inhaltsanalytische Studien zu ausgewählten politischen Konstellationen, Frankfurt a. M. 1995, S. 68; KILNGE, Katholizismus (Anm. 41), S. 61 ff. 59 SCHMIDT, Spanien (Anm. 25), S. 305 f. 60 BERNECKER, Die spanische „Dekadenz" (Anm. 39), S. 153 und S. 164. 61 BERNECKER/PIETSCHMANN, Geschichte Spaniens (Anm. 40), S. 263 ff; Francisco J. ROMERO SALVADO, The Failure of the Liberal Project of the Spanish Nation-State, 19091923, in: Nationalism and the Nation (Anm. 33), S. 119-132, hier: S. 122.

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heran. Sie trug damit zur gesellschaftlichen Politisierung und Mobilisierung bei. Erstmals bestand auf realpolitischer Ebene die Chance, das sterile dualistische Bild spanischer Geschichte zu revidieren62. Der Militärputsch unter Francisco Franco (1892-1975) beendete diesen schwierigen Prozess der gesellschaftlichen Interessenaushandlung. Zur Legitimierung seiner Position stellte Franco sein militärisches Vorgehen als „Kreuzzug" bzw. als „nationalen Befreiungskrieg" dar, der den Niedergang des Landes stoppen sollte63. Er erneuerte damit das statische Bild der „Zwei Spanien" und machte aus dem Bürgerkrieg einen weltanschaulichen Glaubenskrieg, vor dem die politischen und gesellschaftlichen Interessenkonflikte, die die Zweite Republik de facto belastet hatten, in den Hintergrund traten. Die Langlebigkeit dieser Propaganda und ihre Strahlkraft auf bestimmte gesellschaftliche Interessengruppen machte etwa die im Jahr 2001 vollzogene Seligsprechung von ca. 10 000 katholischen Spaniern (darunter viele Geistliche) deutlich, die im Bürgerkrieg Opfer republikanischer Gewalttaten geworden waren. Die katholische Kirche bekräftigte damit die Betrachtung des Bürgerkriegs als eines Kreuzzuges für ein christliches Spanien. Dass die katholische Amtskirche ganz deutlich auf Seiten Francos Partei bezogen hatte und dass auch unter den republikanischen Opfern katholische Geistliche waren, wird damit bewusst ausgeblendet64. Der polnische Opfermythos und die Dichotomie von „Staat" und „Gesellschaft" Auch für die polnische Geschichte erwies sich das 19. Jahrhundert als besonders fruchtbar für die Entstehung einer spezifischen historischen Meistererzählung, die ihre Erklärungskraft auch im 20. Jahrhundert nicht einbüßte. Infolge der Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik am Ende des 18. Jahrhunderts entstand die Vorstellung von einer polnischen Gesellschaft, die in ständiger Konfrontation zu den fremdnationalen und im Falle Preußens und Russlands vor allem auch fremdkonfessionellen Staaten stand. Der Widerstandswille der Nation fand seinen Fluchtpunkt in den zahlreichen bewaffneten Aufständen des späten 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts. Deren 62

Walther L. BERNECKER, Von der Differenz zur Indifferenz. Die spanische Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg 1936-1939, in: „Ohne Erinnerung keine Zukunft!" Zur Aufarbeitung von Vergangenheit in einigen europäischen Gesellschaften unserer Tage, hrsg. von Clemens Burrichter und Günter Schödl, Köln 1992, S. 169-186, hier: S. 181. 63 Ebd., S. 170; s. auch den Beitrag von Carsten HUMLEBAEK in diesem Band; SAΖ CAMPOS, Franquismus (Anm. 19), S. 785. 64 Paul INGENDAAY, Massenhafte Erhebung in den Stand der Seligkeit. Das erwählte Volk und sein Katalog der Märtyrer: Zehntausend spanische Bürgerkriegsopfer werden in diesem Jahr beatifiziert, in: Frankfurter Allgemeine vom 29. Februar 2000; in seiner die Seligsprechung begleitenden Predigt bezeichnete Johannes Paul II. den Bürgerkrieg als Spaniens „große Tragödie des 20. Jahrhunderts" und befestigte damit die ahistorische und entkontextualisierende Interpretation dieses Ereignisses, zit. nach Berliner Zeitung vom 13. März 2001.

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Scheitern befestigte das Bild Polens als des „Christus der Völker". Die Erinnerung an die Aufstände schuf ein Pantheon romantisch verklärter Nationalhelden. Die erneute Auslöschung polnischer Staatlichkeit durch die beiden totalitären Mächte Deutsches Reich und Sowjetunion im 20. Jahrhundert, die nationalsozialistische Okkupations- und Vernichtungspolitik sowie die gewaltsame Implementierung des kommunistischen Systems nach dem Zweiten Weltkrieg hatten zur Folge, dass in Polen in den letzten 200 Jahren historisches Erinnern immer als Gegenposition zu einem fremden, als repressiv empfundenen Regime stattfand65. Diese spezifische Form des Erinnerns ließ die als krisenhaft wahrgenommenen gesellschaftlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich als Folge der Existenz der Polen als Nation ohne Staat erscheinen. Ahnlich wie im spanischen Fall, verdeckte diese Betrachtungsweise tatsächlich vorhandene gesellschaftliche und ökonomische Interessenkonflikte, die einer sozioökonomischen Modernisierung und politischen Pluralisierung entgegenstanden und somit die Abweichung von einer „europäischen Norm" begründeten. Die statische Gegenüberstellung von polnischer Gesellschaft und fremdnationaler Teilungsmacht entsprach nicht den historischen Abläufen im 19. Jahrhundert. So war das politische Handeln polnischer Eliten keineswegs immer nur durch den altruistischen Impetus bestimmt, die politischen und ökonomischen Interessen der polnischen Nation gegen die Teilungsmächte zu verteidigen. Je nach der Politik der einzelnen Teilungsmächte konsolidierten die Eliten ihre eigenen materiellen Bedürfnisse und ihr Sozialprestige mit unterschiedlichen Strategien, die nur teilweise - wie etwa im Fall des preußischen Teilungsgebietes - die Entstehung einer funktional ausdifferenzierten polnischen Gesellschaft beförderten66. Andernorts stärkten Adlige ihre überkommene Position in der postfeudalen Gesellschaft durch Elitenkompromisse mit der Teilungsmacht und stellten damit ihr Eigeninteresse deutlich in den Vordergrund67. Die um die gesellschaftliche Modernisierung besonders bemühten polnischen Liberalen sahen dementsprechend auch weniger in den Staaten der Teilungsmächte, sondern vielmehr in der starren Struktur der postfeudalen Gesellschaft den größten Hemmschuh für eine prosperierende Entwicklung68. 65

Rudolf Jaworski, Kollektives Erinnern und nationale Identität. Deutsche und polnische Gedächtniskulturen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Erinnern, verdrängen, vergessen. Polnische und deutsche Erfahrungen, hrsg. von Ewa Kobylinska und Andreas Lawaty, Wiesbaden 1998, S. 33-52, hier: S. 38 f.; dazu auch Janusz Majcherek, W poszukiwaniu nowej to2samo£ci, Warszawa 2000, S. 7-15. 66 Dazu etwa Witold MouK, Entwicklungsbedingungen und -mechanismen der polnischen Nationalbewegung im Großherzogtum Posen, in: Elitenwandel und Modernisierung in Osteuropa, hrsg. von Michael G. Müller, Berlin 1995, S. 17-34. 67 Zu diesen unterschiedlichen Strategien s. Michael G. M ü l l e r , Adel und Elitenwande! in Ostmitteleuropa. Fragen an die polnische Adelsgeschichte im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2002) Nr.4, S. 497-513. 68 Maciej J A N O W S K I , Polska mySl liberalna do 1 9 1 8 roku, Kraköw 1 9 9 8 , S . 2 6 9 .

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Der im polnischen Messianismus kultivierte Opfermythos führte gerade im Hinblick auf den Beitrag nicht-ethnischer Polen zur historischen Entwicklung des Landes oft zu verzerrenden Darstellungen. Das Leid dieser Menschen wurde minimiert, die polnische Opferrolle überbetont und die Tatsache ausgeblendet, dass im Verlauf der Geschichte auch die Polen auf Kosten anderer Ethnien profitiert hatten69. Im Laufe der Teilungszeit entwickelte sich der Nationalismus als Befreiungs- und Selbstbestimmungsideologie zu einem auf Ausgrenzung aller „Nichtpolen" bedachten Konzept 70 . Dabei forcierte die geforderte Kongruenz zwischen polnischer Nationalität und katholischer Konfession („polak" - „katolik") die Ethnisierung des Nationsbegriffs. Im spanischen Fall sah man seit der Reconquista durch die katholischen Könige einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen politischer und religiöser Einheit71. In Polen wurde die Kongruenz zwischen Ethnos und Konfession aufgrund der spezifischen Entwicklungsbedingungen der polnischen Nation im 19. Jahrhundert begünstigt72. Auch wenn hier einerseits der Staat und andererseits die Nation konfessionelle Homogenität repräsentieren sollten, wurde doch in beiden Ländern damit die grundlegende Bedeutung des konfessionellen Faktors im politischen Diskurs dauerhaft befestigt73.

Der ausgehandelte Systemübergang: Ein Gründungsmythos? Vor dem Hintergrund strukturgeschichtlicher Ähnlichkeiten in der longue duree und der Entstehung von Meistererzählungen in Reaktion auf die jeweils als krisenhaft empfundene Geschichte stellt sich die Frage, ob in den beiden Ländern ähnliche Strategien zu beobachten sind, die den ausgehandelten Systemübergang von einem autoritären hin zu einem pluralistischen Regime 69

Marek ZI0LKOWSKI, Pami?6 i zapominanie: trupy w szafie polskiej zbiorowej pami?ci, in: Kultura i Spoteczehstwo 45 (2001), Nr. 3-4, S. 3-22, hier: S.12 f. 70 Brian PORTER, When Nationalism Began to Hate: Imagining Modern Politics in Nineteenth Century Poland, New York 2000. 71 BERNECKER, Spaniens Geschichte (Anm. 56), S. 24. 72 Jerzy TOPOLSKI, Die generellen Linien der Entwicklung der polnischen neuzeitlichen Nation (16.-19. Jahrhundert), in: Mittelalterliche nationes - neuzeitliche Nationen. Probleme der Nationsbildung in Europa, hrsg. von Almut Bues und Rex Rexheuser, Wiesbaden 1995, S. 145-159. Topolski sah die Kongruenz „polak" - „katolik" allerdings bereits im 17. Jahrhundert angelegt. Schon damals hätten sich die Angehörigen der Adelsnation weniger durch ein gemeinsames Staatsbewusstsein als durch die gemeinsame Konfession definiert. Begründet sah der Autor dies in der Konfessionalisierung des Bildungswesens durch die Jesuiten sowie in der äußeren Bedrohung des Staates durch nichtkatholische Mächte. 73 Das Interesse der polnischen katholischen und nationaldemokratischen Presse am spanischen Bürgerkrieg und die Bezeichnung als „Religionskrieg um Zivilisation und Kultur" bzw. „Kreuzzug" zeigt diese vergleichbare Bedeutung, s. Marek MACIEJEWSKI, Hiszpanski faszyzm i frankizm w polskiej literatury politycznej i naukowej (1936-1997), in: Acta Universitatis Wratislaviensis Nr. 2077, 21/1998, S. 267-323, hier: S. 279-281.

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als einen demokratischen Gründungsmythos beschreiben bzw. ob aus einer bestimmten Interpretation der Geschichte Legitimität für aktuelles politisches Handeln abgeleitet werden soll. Der Systemwechsel erfolgte in beiden Ländern auf dem Wege einer zwischen den alten und neuen Eliten ausgehandelten Verständigung. Während allerdings der im Rahmen der spanischen „reforma pactada" - „ruptura pactada" geschlossene Kompromiss, die durch den Bürgerkrieg aufgerissenen und unter Franco weiter bestehenden Gräben durch generelle Amnestie und Amnesie zu beschweigen, weitgehend eingehalten wurde, kam es in Polen trotz des Kompromisses zwischen der Opposition und der ehemaligen Staatsmacht am Runden Tisch („okr^gly stöl") rasch zu lebhaften Auseinandersetzungen über die Einordnung der Phase des sozialistischen Polen in die gesamtpolnische Geschichte sowie zu Debatten über den Umgang mit Tätern bzw. die Grade der Anpassung an das Regime innerhalb der Bevölkerung. Während die Spanier den unter Franco ausgegebenen Slogan „Spanien ist anders" vergessen machen wollten, enthusiastisch die materiellen Segnungen der Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft begrüßten und sich an den zu Beginn der transition ausgehandelten Schweigekonsens hielten, kam es in Polen in der noch andauernden und durch ökonomische Härten sowie politische Formierungsprozesse gekennzeichneten Übergangsphase zu einer Bedeutungszunahme geschichtsorientierter Debatten. In einem akteursorientierten Elitenvergleich wird die Ähnlichkeit der ausgehandelten Systemübergänge in Polen und Spanien deutlich74. Bei einer weiter gefassten Analyse scheinen aber auch auf der Ebene unterhalb der politischen Eliten Ähnlichkeiten auf. So hatten in beiden Ländern bereits lange vor dem schließlich ausgehandelten Übergang politische Reformprozesse eingesetzt. Das Vorhandensein einer politisch aktiven Bürgergesellschaft, die sich in der liberaleren Endphase der beiden Regime gebildet hatte, wurde etwa in den breiten Streikbewegungen sichtbar, die dann die sozialen und ökonomischen Neuerungen und Härten im Transformationsprozess sowohl in Spanien als auch in Polen kritisch kommentierten75. Dennoch war in beiden Ländern eine Tendenz festzustellen, gerade das punktuelle Ereignis des Elitenkompromisses in den Jahren 1975 bzw. 1989 als Erfolg versprechenden Ausgangspunkt für die gesamtgesellschaftliche Demokratisierung zu 74 Bogustawa DOBEK-OSTROWSKA, Hiszpania i Polska: elity polityczne w okresie przejäcia do demokracji, Wroclaw 1996; Problems of Democratic Transition and Consolidation: Southern Europe, South America, and Postcommunist Europe, hrsg. von Juan J. Linz und Alfred Stepan, Baltimore 1996. 75 Volker STIEHL/Wolfgang MERKEL, Zivilgesellschaft und Demokratie in Portugal und Spanien, in: Zivilgesellschaft im Transformationsprozeß. Länderstudien zu Mittelost- und Sildosteuropa, Asien, Afrika, Lateinamerika und Nahost, hrsg. von Hans-Joachim Lauth und Wolfgang Merkel, Mainz 1997, S. 92-113; Grzegorz EKIERT/Jan KUBIK, Rebellious Civil Society. Popular Protest and Democratic Consolidation in Poland, 1989-1993, Ann Arbor 2000; s. dazu auch LESSENICH, Spanischer Wein (Anm. 21).

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betonen. Der Mythos vom alles entscheidenden friedlichen Aushandlungsprozess hielt jeweils unterschiedlich lange und wurde dann Gegenstand von Kritik76, was nicht zuletzt auch mit der gesellschaftlichen Prägekraft der zuvor dargestellten Meistererzählungen zu tun hat. In Spanien zeichnete die Erzählung von den „Zwei Spanien", deren destruktives Potential in die „Tragödie" des Bürgerkrieges gefuhrt habe, dafür verantwortlich, dass der Schweigekonsens, der über die im Bürgerkrieg und daran anschließend in der franquistischen Diktatur begangenen Verbrechen verhängt wurde, lange Jahre weitgehend eingehalten wurde. Der Mythos von der „Unregierbarkeit" der Spanier wurde von allen politischen Lagern der Post-Franco-Zeit als gültige Interpretation der Geschichte gesehen77. Das Fortwirken dieses Mythos und seine Instrumentalisierung durch die Politik zeigten sich darin, dass auch ehemalige Franco-Gegner wie die Sozialisten die Politik des Beschweigens über die Aufarbeitung der Verbrechen stellten: „Mit ihrer Geschichtslosigkeit setzt die spanische Sozialdemokratie den in der Franco-Zeit erzwungenen Gedächtnisverlust des Volkes fort. In beiden Fällen diente die Marginalisierung und Verdrängung von Geschichte der Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse"78. Das Schreckbild des Bürgerkrieges wurde immer dann bemüht, wenn der politische Reformprozess in Gefahr schien: Der Hinweis auf 1936 sollte die Notwendigkeit zur friedlichen Verständigung, zudem aber auch das Ruhenlassen alter Konflikte begründen. Aus der Strategie, den Reformprozess aus der rein negativen Bezugnahme auf die spanische Geschichte zu legitimieren, erwuchs der Mangel an positiven Bezugspunkten79. Daraus ergab sich, dass der friedliche Übergang als Wert an sich zu einem positiven Bezugspunkt und damit mit Einschluss des Schweigekonsenses quasi sakrosankt wurde80. In Polen gab es sowohl bei den Reformern in der ehemaligen kommunistischen Staatspartei als auch bei Teilen der am Runden Tisch beteiligten Opposition den Versuch, den dort ausgehandelten Systemübergang zu einer gesamtgesellschaftlichen Versöhnungsstrategie umzudeuten, um den Transformationsprozess nicht zu gefährden. Der „dicke Strich" („gruba kreska"), den 76

Elias DIAZ, Ideologies in the Making of the Spanish Transition, in: West European Politics 21 (1998), Nr. 4, S. 26-40; Zdzislaw KRASNODIJBSKI, Generationswandel und kollektives Gedächtnis in Polen, in: Erinnern, verdrängen, vergessen (Anm. 65), S. 145-163, hier: S. 158. 77 Carsten HUMLEBAEK, Remembering the Dictatorship. Commemorative Activity in the Spanish Press on the Anniversaries of the Civil War and the Death of Franco, in: Authoritarianism and Totalitarianism in Europe - The Short- and the Long-Term Perspective, hrsg. von Jerzy Borejsza und Klaus Ziemer, Oxford/New York (erscheint 2004). 78 Walther L. BERNECKER, Der Bürgerkrieg und die spanische Gesellschaft - 50 Jahre danach, in: Ders., Krieg in Spanien 1936-1939, Darmstadt 1991, S. 216-226, hier: S. 219. 79 Javier TUSELL, Die spanischen Historiker und der Übergang zur Demokratie, in: Die Mauern der Geschichte. Historiographie in Europa zwischen Demokratie und Diktatur, hrsg. von Gustavo Corni und Martin Sabrow, Leipzig 1996, S. 221-232. 80 HUMLEBAEK, Remembering the Dictatorship (Anm. 77).

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der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki unter die Vergangenheit ziehen wollte, gehörte in den Augen der Gegner dieser politischen Strategie ebenso dazu wie die wiederholten Appelle Adam Michniks als eines der exponiertesten ehemaligen Oppositionellen, eine Versöhnung zwischen dem Lager der Opposition und den Postkommunisten zu betreiben 81 . Aber in dem Maße, in dem in Spanien der Mythos von den „Zwei Spanien" dafür sorgte, den ausgehandelten Kompromiss als (zunächst einzig möglichen) Bezugspunkt für die neue demokratische Ordnung zu betrachten, verhinderte die polnische Meistererzählung, dass die Verständigung am Runden Tisch als Gründungsmythos des neuen Systems allseits akzeptiert werden konnte. Die neue Unabhängigkeit schien vielen nicht als heroisch erkämpft, und das Konsenshandeln zwischen alten und neuen Eliten widersprach dem Bild der althergebrachten Dichotomie von der polnischen Gesellschaft und dem als fremd empfundenen Staat82. Die schwache Aufmerksamkeit, die dem zehnten Jahrestag des erfolgreichen Abschlusses der Verhandlungen am Runden Tisch zuteil wurde, bestätigte diesen Befund 83 .

Die Rolle der Geschichte beim Systemwandel Gerade wenn man sich aus deutscher Sicht mit Fragen des Umgangs mit der Vergangenheit beschäftigt, sollte man sich hinsichtlich eines Vergleiches die Frage stellen, ob die eigene Fragestellung auf die intellektuelle Landschaft des jeweiligen Vergleichsobjekts passt 84 . Eine sehr deutsche Perspektive gibt das folgende Zitat von Wolfgang Schieder im Zusammenhang mit dem „Beschweigen" der Vergangenheit in Deutschland und anderen europäischen Ländern wieder: „Es gibt die bekannte These des Philosophen Hermann Lübbe, daß ohne eine, ich glaube, er benutzt das Wort .Schweigespirale', der moralische Wiederaufstieg der Deutschen nach 1945 gar nicht möglich gewesen wäre. Wenn man das heute vergleichend sieht, finden wir ähnliche Probleme etwa in Polen oder in Spanien, wo die Gesellschaft und die Politik sich nach der 81

S. dazu zum Beispiel: Wlodzimierz CLMOSZEWICZ/Adam MICHNIK, Ο prawd? i pojednanie, in: Gazeta Wyborcza vom 9./10. September 1995; Po2egnanie ζ broni^. Ζ gen. Czeslawem Kiszczakiem i Adamem Michnikiem rozmawiaj^ Agnieszka Kublik i Monika Olejnik, in: Gazeta Wyborcza vom 3./4. Februar 2001. In beiden Fällen folgten intensive und kontroverse Diskussionen, in denen der Versöhnungskurs Michniks gegenüber den Postkommunisten scharf kritisiert wurde. 82 MAJCHEREK, W poszukiwaniu (Anm. 65), S. 35. 83 Katarzyna MONTGOMERY/Konrad NIKLEWICZ, Du2a rocznica, male obchody. Zapomniane iwi?to upadku komunizmu, in: Gazeta Wyborcza vom 19. Januar 1999; s. dazu auch den Beitrag von Izabela MAIN in diesem Band, besonders den Abschnitt „Die Jahrestage des Falls des Kommunismus und des Anfangs der Demokratie". 84 Dazu Hartmut KAELBLE, Der historische Vergleich. Eine Einfuhrung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 134.

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Abkehr von Diktaturen mehrheitlich darin einig waren, zunächst einmal alles auf sich beruhen zu lassen. In diesen Ländern gibt es fast keine Diskussionen über die Vergangenheit. Auf die Dauer kann das aber niemals gutgehen"85. Abgesehen davon, dass bereits dargelegt wurde, wie stark die jeweiligen Meistererzählungen dazu beitrugen bzw. verhinderten, tatsächlich „zunächst einmal alles auf sich beruhen zu lassen", ist die „Schweigespirale" nirgends absolut. Interessanter scheint, was entgegen bestimmten offiziellen Tabus trotzdem erinnert wird und wie sich pluralistische Interessen in diesen Erinnerungen artikulieren. Im spanischen Fall wurde das Axiom, dass sich im Bürgerkrieg alle gleich schuldig gemacht hätten und daher nur ein völliger Neuanfang unter Ausblendung der tatsächlichen Täterschaften und Verantwortlichkeiten zur gesellschaftlichen Versöhnung beitragen könne, zuerst in den Regionen in Frage gestellt. Die angestrebte Homogenisierung des Gedächtnisses und damit die Gleichsetzung von Opfern und Tätern trug dazu bei, dass sich das Gedächtnis regionalisierte86. Für die Basken etwa war der Krieg der Jahre 1936-1939 kein Bürgerkrieg, in dem Spanier gegen Spanier kämpften, sondern ein Krieg des Zentralstaats gegen die Basken87. Dass hier nicht nur das demokratische Bedürfnis nach der Pluralisierung des historischen Gedächtnisses eine Rolle spielt, sondern auch politische Interessen des militanten baskischen Regionalismus, steht dabei außer Frage88. In Polen, wo sich der Diskurs der „Versöhnung" und des „dicken Strichs" nie so umfassend durchsetzen konnte wie zunächst in Spanien, artikulierten sich in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vielfältige gesellschaftliche Interessen. Die Geschichtspolitik der Postkommunisten, die die Entstehung eines sozialistischen Staates 1945 nicht zuletzt als geo- und mächtepolitische Notwendigkeit rechtfertigte, war und ist darum bemüht, die Grenzen zwischen Opfern und Tätern mit dem Slogan zu verwischen, dass ja aufgrund der lebensweltlichen Kontinuitäten nach 1989 im Grunde genommen alle Polen „Postkommunisten" seien89. Interessant ist, dass sich sowohl 85 Wolfgang SCHIEDER, Wir konnten keine Kommentare erzwingen, denn schließlich waren wir nicht das Hohe Gericht, in: Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, hrsg. von Konrad H. Jarausch und Rüdiger Hohls, Stuttgart 2000, S. 281-299, hier: S. 295. 86 Ignacio SOTELO, Vergangenheitsbewältigung: Spanien - ein unpassendes Beispiel, in: Vergangenheitsbewältigung 1945 und 1989: ein unmöglicher Vergleich?, hrsg. von Klaus Sühl, Berlin 1994, S. 44-57, hier: S. 54-57; s. dazu auch David REY, Ist das ganze Spanien in Babia? Die Region im Umgang mit der Franco-Diktatur, Ms. eines Vortrags auf der Internationalen Tagung „Regionen, Regionalkulturen und Regionalisierungen in Diktatur und Demokratie", Universität Leipzig, 14.-16. November 2002. 87 Paloma AGUILAR, The Memory of the Civil War in the Transition to Democracy: the Pecularity of the Basque Case, in: West European Politics 21 (1998), Nr. 4, S. 5-26. 88

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MUNOZ MOLINA, Im Schatten des Terrors ( A n m . 32).

KRASNODIJBSKI, Generationswandel und kollektives Gedächtnis in Polen, in: Erinnern, verdrängen, vergessen (Anm. 65), S. 145-163, hier: S. 156 f.; Nina KRAÄKO, Sojusz Lewicy Demokratycznej - legitymacja przeszloäci, in: Ο czasie, politykach i czasie poli-

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Angehörige der alten kommunistischen als auch der oppositionellen Eliten im Hinblick auf eine gesellschaftliche Aussöhnung auf das spanische Beispiel beriefen. General Wojciech Jaruzelski beschwor im Jahr 1992 das Vorbild der spanischen transicion, das geholfen habe, nach bitteren historischen Erfahrungen die Wunden zu schließen90. Auch Adam Michnik rekurrierte häufig auf das spanische Beispiel, wobei er implizit den Diskurs der „Unregierbarkeit" der Spanier mit der angeblichen ewigen Zerstrittenheit der Polen parallelisierte91. Gegner dieser Versöhnungsstrategie wandten sich gegen solche Parallelisierungen und kritisierten Michniks Bemühungen, die Geschichte der Volksrepublik Polen als griechische Tragödie zu erzählen, in der die politischen Gegner in der Rolle moralisch untadliger Helden auftraten, die der Ratio des historischen Kontexts unterworfen waren 92 . Die Kritik an einer solchen narrativen Deutung der Geschichte der Volksrepublik war im Hinblick auf die Offenlegung von Täterschaft und Verantwortlichkeiten, die erst Grundlage von „Versöhnung" sein kann, berechtigt. Allerdings schrieb sich der Diskurs der radikalen Aufarbeitung kommunistischer Verbrechen oft in die Meistererzählung von der polnischen Gesellschaft als ewigem Opfer ein. Die von der politischen Rechten vorgenommene Dichotomisierung von „Volk" und „System" erschwerte eine ergebnisoffene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ebenso sehr wie der Versuch von linker Seite, die Legitimität des „Systems" nicht grundsätzlich in Frage stellen zu wollen93. Die aus der Zeit vor 1989 überkommene Symbolpolitik der Oppositionsbewegung, mittels derer sie ihr Engagement in die historische Kontinuität von über 200 Jahren Kampf gegen staatliche Fremdherrschaft sei sie nationaler oder politischer Natur - stellte, war in der durch ökonomische und soziale Härten gekennzeichneten Transformationszeit für viele sicher eine emotionale Stütze94. Dennoch ist auch nicht zu übersehen, dass der antityköw, hrsg. von Eläbieta Tarkowska, Warszawa 1996, S. 115-129. 90 Walther L. BERNECKER/Carlos COLLADO SEIDEL, Spanien nach Franco. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie 1975-1982, München 1993, S. 14. 91 Adam MICHNIK, Zwei Gesichter Polens - zwei Gesichter Europas, in: Transit: europäische Revue 1990/1, S. 185-189; ders., NiepodlegloSö wskrzeszona i biesy aksamitnej rewolucji, in: Gazeta Wyborcza vom 8./9. Mai 1999 (Beilage zum zehnjährigen Bestehen der Gazeta Wyborcza). 92 Agnieszka MAGDZIAK-MISZEWSKA, Adam Michnik w roli Antygony, in: Wi?£ 44 (2001), Nr. 3, S. 12 f.; Juan Carlos Kiszczak? Ζ Andrzejem Wielowieyskim rozmawiaj^ Zbigniew Nossowski i Tomasz Wiicicki, in: Ebd., S. 14-24. 93 Kazimierz W0YCICKI, Opfer und Täter - Die polnische Abrechnung mit der Geschichte nach 1989, in: Vergangenheitsbewältigung am Ende des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Helmut König [u. a.], Opladen 1998, S. 291-308, hier: S. 293. 94 Winfried THAA, Interesse und Identität in den Transformationsprozessen Ostmitteleuropas. Zum Stellenwert symbolischer Ressourcen der politischen Demokratie, in: Berliner Debatte Initial. Zeitschrift filr Sozialwissenschaftlichen Diskurs 10 (1999) Nr. 1, S. 14-29; Reinhard VESER, Zivilgesellschaft im Transformationsprozeß: Die Rolle der Solidamoi0, in: Zivilgesellschaft im Transformationsprozeß (Anm. 75), S. 248-271.

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kommunistische Kollektivismus, der aus dieser Symbolpolitik resultierte, in seinem moralischen Fundamentalismus die Entstehung pluralistischer politischer Strukturen erschwerte95. In einer parteipolitisch wenig ausdifferenzierten Öffentlichkeit erhielt die jeweilige Haltung zur Vergangenheit Stellvertretercharakter. Dieser konjunkturelle Umgang mit dem Thema ließ den Glauben an eine ernsthafte Aufarbeitung in weiten Kreisen der Bevölkerung schwinden96. In Spanien erfolgte die Hinwendung zur Vergangenheit erst nach einer Zeit umfassender Enthistorisierung und Entpolitisierung. Während aufgrund der polnischen Meistererzählung Geschichte in den ersten Transformationsjahren eine wichtige gesellschaftliche Funktion besaß, hatte ihr spanisches Pendant zur Folge, dass man nun jegliche historischen Bezüge ausblendete und den Blick nur nach vorn richtete: „Hintergrund der Fortschrittsgläubigkeit, des extrovertierten Konsumrausches und der ungezügelten Europa-Euphorie ist ein tiefsitzender Minderwertigkeitskomplex gerade in bezug auf diesen Fortschritt und dieses Europa, von dem das Franco-Regime sich zuerst bewußt abgekoppelt hatte (.Spanien ist anders') und von dem es zuletzt aus politischen und ökonomischen Gründen ferngehalten worden war" 97 . Erst seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wird die Tragfähigkeit des „Schweigekonsenses" als Grundlage einer pluralistischen spanischen Gesellschaft in Frage gestellt. Dabei gingen wissenschaftliche Reflexionen 98 über die Bedeutung des historischen Gedächtnisses Initiativen „von unten" (bzw. im zentralistischen Spanien besser „von den Regionen")99 voraus in dem Bemühen, dem ökonomischen und politischen Erfolgsmodell der transition nun auch ein Fundament zu geben, das die unterschiedlichen historische Erfahrungen zu Wort kommen lässt.

Europäische Identität und historisches Gedächtnis In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts übte Spanien mit seiner Geschichtsvergessenheit eine gewisse Faszination auf das übrige Europa 95

Marcin KR0L, Romantyzm. Piekto i niebo Polaköw, Warszawa 1998, S. 58 f. und S. 175; KUBIK, The Power of Symbols (Anm. 48), S. 239 ff. Barbara MISZTAL, HOW to Deal Not With the Past: Lustration in Poland, in: Archives Europiennes de Sociologie 40 (1999), Nr. 1, S. 31-55. 97 BERNECKER, Von der Differenz zur Indifferenz (Anm. 62), S. 178. 98 S. dazu zum Beispiel zuletzt das Themenheft: Spanish Memories: Images of a Contested Past, in: History and Memory 14 (2002), Nr. 1/2; s. auch Paloma AGUILAR, Memoria and Amnesia. The Role of the Spanish Civil War in the Transition to Democracy, Oxford/New York 2002 (zuerst spanisch: Memoria y olvido de la guerra civil espafiola, Madrid 1996). 99 Seit kurzem bemüht sich etwa die Asociaciön para la recuperation de la memoria histörica um die Exhumierung und Identifizierung von Opfern des franquistischen Terrors, der auch Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs anhielt. S. dazu REY, Ist das ganze Spanien in Babia? (Anm. 86). 96

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aus 100 . „Das Spanien der glücklichen achtziger Jahre" 101 entsprach damals dem in erster Linie auf ökonomische Prosperität ausgerichteten Projekt der europäischen Einigung. Seit dem Epochenjahr 1989 hat sich hier jedoch ein tief greifender Wandel vollzogen. Das Ende der Blockkonfrontation und die Auflösung der Nachkriegsordnung von Jalta, die als europäische Wiedervereinigung verstanden wurde, trugen dazu bei, dass nun die Suche nach europäischen Gemeinsamkeiten begann, die der Ost-West-Konflikt überlagert hatte. Die Wiederherstellung des historischen Gedächtnisses wurde in den Staaten Ostmitteleuropas als eine der vordringlichen Aufgaben angesehen, wenn es um gesellschaftliche Demokratisierung und die Überwindung der alten Ordnung ging. Eine aktive Auseinandersetzung nicht nur mit der jüngsten Vergangenheit, sondern generell mit historischen Mythen wurde zumindest in intellektuellen Kreisen als Voraussetzung für die Kompatibilität mit einer „übernationalen demokratischen Ordnung" 102 gesehen. Die in Ostmitteleuropa viel beschworene „Rückkehr nach Europa" 103 verknüpfte so das Zusammenwachsen Europas mit einem verstärkten Interesse an den historischen Grundlagen für die angestrebte Demokratisierung und der Wiederherstellung eines pluralistischen historischen Gedächtnisses. In Kontrast zu dieser neuen Dimension des europäischen Einigungsgedankens stand die Tatsache, dass mit den Institutionen der Europäischen Union bislang in erster Linie Zweckmäßigkeitsurteile, aber keine wertebezogenen Identifikationen verbunden waren. Was fehlte, waren emotionale Konventionen zur Schaffung einer gemeinsamen europäischen Identität. Die Frage ist, inwieweit der „Mythos des friedlichen Verständigungshandelns" der ostmitteleuropäischen Revolutionen zu einer solchen emotionalen Konvention werden kann 104 . Auf jeden Fall reicht ökonomische Prosperität nicht mehr aus, um „Europäizität" zu demonstrieren. Die spanische Hinwendung zur jüngsten Vergangenheit des Landes ist sicher auch durch die ostmitteleuropäischen Debatten inspiriert. Wie virulent generell die Beschäftigimg mit der Wiederherstellung des historischen Gedächtnisses ist, zeigt auch das rege Interesse, das die deutsche Publizistik an den spanischen Aufarbeitungsbemühungen der letzten Monate nimmt. In Spanien selbst ist die Hinwendung nicht nur zur jüngsten, sondern generell zur Geschichte stark durch einen normativen Europabegriff geprägt. So wird etwa das multikulturelle Erbe des Landes betont und der lange Zeit gering geachtete kulturelle Beitrag von Moslems oder Ju100 DITTBERNER, Konsens und Desillusion (ANM. 23), S. 157. Eduardo SUBIRATS, Die postmoderne Moderne. Das Spanien der glücklichen achtziger Jahre, in: Ästhetik und Kommunikation 28 (1997), Nr. 97, S. 89-97. 102 W0YCICK1, Opfer und Täter (Anm. 94), S. 304. 103 S. zum Beispiel Jerzy JEDLICKI, Die unerträgliche Last der Geschichte, in: Transit: europäische Revue 1991/2, S. 16-26; MÜLLER, Institutionalisierung (Anm. 24), S. 5. 104 Rien T. SEGERS/Reinhold VIEHOFF, Die Konstruktion Europas. Überlegungen zum Problem der Kultur Europas, in: Kultur, Identität, Europa (Anm. 3), S. 46 f. 101

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den zur Geschichte Spaniens hervorgehoben, um zu beweisen, dass ein zusammenwachsendes, in ethnischer und religiöser Hinsicht fragmentiertes Europa von diesen Traditionen lernen könne 105 . Die normative Aufladung, die der Europabegriff seit 1989 erfahren hat, birgt aber auch Gefahren. Die zumindest geographisch an der Peripherie der Europäischen Union gelegenen Länder haben bereits in vergangenen Jahrhunderten als Kontaktzonen zu anderen Kulturen funktioniert: nicht selten erwuchs daraus ein gewisser Hang zur Kulturträgermission106. Da man sich als Vorposten Europas verstand, waren antemurale-Oiskuist ausgeprägt. In politischen und ökonomischen Krisenzeiten konnten diese Diskurse aber auch in Formen des xenophoben Nationalismus umschlagen107. Die Dialektik von nationaler und europäischer Identität wird besonders in Abgrenzungsdiskursen deutlich. Während der Appell an eine universalistisch verstandene europäische Identität zunächst emanzipatorischen Charakter haben kann, ist ein Umschlagen in einen Essentialismus, der Europäizität vor allem als das Überlegenheitsgefuhl gegenüber politisch und kulturell Unerwünschten verkörpert, nicht ausgeschlossen. Wenn sich europäische Identität gegen das „Außereuropäische" abgrenzt, wird sie ebenso partikular wie einstmals die nationale Identität 108 . In Polen lässt sich das heute manchmal gegenüber Russland 109 , in Spanien gegenüber den muslimisch geprägten Anrainerstaaten des südlichen Mittelmeers beobachten 110 .

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REHRMANN, Ist Spanien noch anders (Anm. 8), S. 383 f. S. zu dem Konzept der zivilisatorischen Mission in kulturellen Kontaktzonen KIENIEWICZ, Hiszpania (Anm. 8), S. 15-19. 107 Robert J. W. EVANS, Europa als Peripherie in der Frühen Neuzeit, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 3 (2002), S. 59-79. 108 Gerard DELANTY, Die Transformation nationaler Identität und die kulturelle Ambivalenz europäischer Identität. Demokratische Identifikation in einem postnationalen Europa, in: Kultur, Identität, Europa (Anm. 3), S. 267-288, hier: S. 273 f.; allgemeiner zur Ideologisierung des EuropabegrifFs: Frithjof Benjamin SCHENK, Literaturbericht Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 493-514, hier: S. 505. 109 Kritisch dazu zum Beispiel: Aleksy MILLER, Russia Out? in: Gazeta Wyborcza vom 19. Dezember 2002. 110 Paul INGENDAAY, Tagelöhner im Plastikland. Das Einwanderungsproblem spaltet Spaniens Gesellschaft, in: Frankfurter Allgemeine vom 3. März 2001; DERS., Kolumbus ohne Papiere. Garcia Marquez und die Kirche gegen Aznars Einwanderungspolitik, in: Frankfurter Allgemeine vom 19. März 2001. 106

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Summary This article outlines the major aspects of an international research project on the meanings of historical experiences of totalitarianism and the accommodation of the past in the transition to democracy. Poland and Spain both constitute examples of countries with a crisis-ridden history which reaches far back before the 20th century. These two countries have long been sceptical about their affiliations to a Europe which was conceptualized as a normative pattern, especially in the aftermath of the French Revolution. Although the two countries are located in different historical regions, one can observe similar arguments in the discourse about their "Europeanness". An examination of similarities and differences of the two historical experiences in a longue durie perspective exposes the artificiality of the European norm, which was constructed with the self-serving purpose of reassuring the centre by stereotyping its peripheries with terms such as "backwardness". As a reaction to their precarious relationship with the European centre, both countries developed master narratives to explain and legitimize historical developments. In the transition process from totalitarian or authoritarian rule to democracy, these master narratives played an important role for the specific coming to terms with the past in both countries. At the end of the 20th century it has become clear that the construction of a European identity as a normative project is closely linked to the politics of memory - the ability to deal with the past and the viability of newly constructed democratic structures are perceived to be closely correlated with each other. For this reason, coming to terms with the past in both countries is of special interest in evaluating the process of democratization.

Zeitgeschichte in Polen nach 1989 Forschungsschwerpunkte, „weiße Flecken" und historische Kontroversen Von

Krzysztof

Ruchniewicz

Wendemarke 1989 Der politische Umbruch in Polen 1989 hatte unmittelbare Auswirkungen auf die zeitgeschichtliche Forschung. Zwar war diese bisher an allen Universitäten und an zahlreichen außeruniversitären Forschungsinstituten betrieben worden, doch unterlag sie beträchtlichen Einschränkungen. Die schwerwiegendsten ideologischen Auflagen waren, wie in der Wissenschaft insgesamt, in der stalinistischen Phase zu verzeichnen1. Mit der Zeit war eine Gruppe so genannter Parteihistoriker entstanden. Sie hatten die Möglichkeit, für andere Wissenschaftler nicht zugängliche Archivbestände zu nutzen und zu Konferenzen, Stipendienaufenthalten u. a. ins Ausland zu reisen. Sie betrieben historische Forschung gemäß den Richtlinien der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP). Diese Situation begann sich in den siebziger Jahren allmählich zu ändern. Die Öffnung nach Westen in der Ära Gierek bewirkte eine Liberalisierung der Politik gegenüber Wissenschaftlern, die nicht der Partei angehörten. In dieser Zeit begann man, auch dieser Gruppe von Historikern Auslandsreisen und die Inanspruchnahme von Stipendien zu ermöglichen. Es ist jedoch daran zu erinnern, dass viele Archivalien zur Außen- und Innenpolitik der Volksrepublik Polen bis zum Ende des Kommunismus nicht zugänglich waren. Ein Symptom für die Öffnung zum Westen war die Einrichtung der gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchkommission der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen im Jahr 1972. Die Existenz dieser Kommission spielte eine bedeutende Rolle im deutsch-polnischen historischen Diskurs. Sie wurde zu einem Vorbild für die Arbeit anderer Kommissionen, wie die polnisch-ukrainische oder die polnisch-israelische. An der Arbeit dieser Kommission beteiligten sich die bekanntesten polnischen Historiker. Es wurde auch über Themen der neuesten Geschichte diskutiert, obwohl der Verlauf dieser Gespräche nicht veröffentlicht werden konnte. Denn in der Zeit der Volksrepublik war die Tätigkeit der Zensur ein ständiges Hin1 Ausführlicher dazu: Rafai STOBIECKJ, Historia pod nadzorem. Spory ο nowy model historii w Polsce (II polowa lat 40. - pocz^tek lat 50.), Lödi 1993, S. 147.

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derais für die Durchführung unabhängiger Forschungen; auch die Arbeit von Parteihistorikern war davon betroffen. Habilitationsschriften mussten veröffentlicht werden, bevor sie angenommen werden konnten, und die Zensurbeamten erzwangen mehrfach die Entfernung solcher Bücher aus Bibliotheken oder eine drastische Senkung der Auflage. Der Zugang zu diesen Arbeiten wurde praktisch unmöglich. Vor einigen Jahren erschien eine interessante Publikation, in der sich polnische Historiker zu Wort meldeten, die verschiedene „Schulen" und politische Richtungen vertraten. Sie erinnerten sich darin an ihre Auseinandersetzungen mit der Zensur, die nicht immer nur negative Folgen hatten - etwa das Streichen bestimmter Textabschnitte. Die Autoren betonten, dass die Zensur oft auch zur Sorgfalt bei den Formulierungen zwang, was einen positiven Einfluss auf die Arbeit hatte2. Die vor 1989 durchgeführten Forschungen zur Zeitgeschichte zeichneten sich durch eine beträchtliche Heterogenität aus. Dies war das Ergebnis der Bedingungen in Nachkriegspolen und der langjährigen Existenz unabhängiger Oppositionskreise im Inland und in der Emigration. In der Emigration wurden jedoch vor allem Probleme der Geschichte der Zweiten Republik und der Kriegszeit thematisiert. Die Geschichte der Volksrepublik wurde lediglich in den Publikationen der von Jerzy Giedroyö geleiteten Pariser Kultura behandelt. Die offizielle Historiographie behandelte trotz der ständig wachsenden Zahl von Publikationen zur Zeitgeschichte nicht die Probleme, die für die Gesellschaft wirklich wesentlich waren, etwa die Ursachen der sich wiederholenden gesellschaftlichen Krisen. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre entstanden illegale Verlage in Polen. Die Arbeit unabhängiger Historiker machte sich besonders nach der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc 1980 bemerkbar, sowie nachdem der so genannte „Zweite Uml a u f (Samizdat) sich in größerem Umfang etabliert hatte. Zwischen 1980 und 1987 erschienen außerhalb des Zugriffs der Zensur fast 550 Bücher und Broschüren mit einer historischen Thematik 3 . Im Samizdat erschienen entweder Nachdrucke von Veröffentlichungen polnischer Exilhistoriker zu Fragen der neuesten Geschichte, oder aber es wurde unabhängigen Historikern aus dem Inland die Drucklegung ermöglicht, oft unter einem Pseudonym. Sie interessierten sich vor allem für die polnisch-sowjetischen Beziehungen, sie diskutierten über die Machtübernahme durch die Kommunisten, den Prozess der 16 Führer des polnischen Untergrunds, die vom NKWD verhaftet worden waren, die Fälschung der Wahlen 1947 und die Liquidierung der antikommunistischen Opposition. Sie interessierten sich auch für die stalinistischen Verbrechen. Einzelne Studien widmeten sich den Krisen der Volksrepublik Polen. Man stritt auch mit der offiziellen Geschichtsschreibung. 2

Cenzura w PRL. Relacje historyköw, hrsg. von Zbigniew Romek, Warszawa 2000. Nach Daten in: Krzysztof Lab^DZ, Wydawnictwa historyczne drugiego obiegu w Polsce. Materiaty do bibliografii adnotowanej za lata 1980-1987, Warszawa 1989. 3

Ruchniewicz, Zeitgeschichte in Polen nach 1989

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In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre begann man auch eine gewisse Lockerung der Zensur zu beobachten, was mit der langsamen Zerstörung des kommunistischen Systems in Polen und Versuchen seitens des Regimes, das Vertrauen der Gesellschaft zu gewinnen, zusammenhing. In der offiziellen Presse und im Fernsehen erschienen Artikel bzw. Sendungen zu einer historischen Thematik, die bisher nicht behandelt worden war (die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Unabhängigkeit Polens 19884). Das Ende der achtziger Jahre stand bereits im Zeichen des demokratischen Wandels im gesamten Ostblock. Im Unterschied zu anderen von der UdSSR beherrschten Ländern wurde in Polen keine Lustration der akademischen Kreise durchgeführt, da diese in den achtziger Jahren durchweg Zentren oppositionellen Denkens gewesen waren. Dagegen wurden die von der PZPR verwalteten Historischen Institute aufgelöst und deren Mitarbeiter entlassen. Die Diskussionen in Polen standen Anfang der neunziger Jahre weiterhin unter dem Stichwort der Beseitigung so genannter weißer Flecken. Mit diesem Begriff bezeichnete man Probleme der polnischen Geschichte, insbesondere der neuesten Geschichte, die die regierenden Kommunisten nicht behandelten oder verfälscht darstellten. Ihre Aufdeckung führte unvermeidlich zur Konfrontation mit der offiziellen Geschichte. In den ersten Monaten der „Wende" konnte man in den Buchhandlungen zum ersten Mal legal und ohne Beschränkungen Nachdrucke der Exilliteratur kaufen, einige Veröffentlichungen waren nur aus dem Samizdat bekannt. Auch Zeitschriften wie die Pariser Kultura oder die Zeszyty Historyczne („Historische Hefte") hatten viele Leser. Einer beträchtlichen Popularität erfreute sich die Warschauer KARTA („Das Blatt"), die ebenfalls bis heute erscheint. Diese 1982 von Oppositionskreisen gegründete Zeitschrift nahm sich schwieriger Themen der neuesten Geschichte an, wie ζ. B. der sowjetischen Repressionen gegen polnische Staatsbürger, und popularisierte sie in leicht verständlicher Form. Ein Impuls zur Überprüfung bereits vorliegender Forschungsergebnisse und zur Aufnahme neuer Forschungen war die etappenweise Öffnung der Archive. Das größte Problem war der Zugang zu den Akten des Ministeriums für öffentliche Sicherheit. Sie sind bis heute noch nicht vollständig zugänglich, obwohl sich diese ungünstige Situation nach der Gründung des „Instituts des Nationalen Gedenkens" (Instytut Pamiqci Narodowej) ändern soll. In der Zwischenzeit erschienen einige Serien von Quelleneditionen mit den interessantesten Materialien aus Partei- und Regierungsarchiven5. Das Ergebnis der Be4

Einer der Propagandaslogans zu den Feierlichkeiten sollte lauten: „Volkspolen, unsere Partei - Erben der gesamten Geschichte der Nation". Vgl. Andrzej Paczkowski, Czarnobiate biaio-czarne, czyli ο historii najnowszej, in: DERS., Od sfalszowanego zwyci?stwa do prawdziwej kl?ski. Szkice do portretu PRL, Kraköw 1999, S. 192. 5 U. a. die mehrbändige Reihen Tajne dokumenty Biura Politycznego, und Dokumenty do dziejöw PRL.

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seitigung politischer Hindernisse, der Abschaffung der Zensur und der Öffnung der Archive für die Forschung ist eine beträchtliche Anzahl neuer Arbeiten zu Einzelfragen sowie Gesamtdarstellungen6. Die Systemtransformation hat der polnischen Historiographie somit enorme neue Entwicklungsmöglichkeiten verschafft, vor allem die Möglichkeit, Probleme der Zeit vor 1989 „unzensiert" zu erforschen, die in demokratischen Gesellschaften selbstverständlich ist. Der bekannte Historiographie-Historiker Andrzej F. Grabski hat jedoch noch zwei weitere Umstände stark unterstrichen. Erstens weist er auf die Möglichkeit hin, den Forschungshorizont der polnischen Historiographie zu erweitern, d. h. Fragenkomplexe der allgemeinen Geschichte im größerem Umfang als bisher zu erforschen. Dies kann polnischen Historikern eine breitere Teilnahme am internationalen wissenschaftlichen Diskurs ermöglichen. Zweitens sieht er Chancen zur Modernisierung der „Werkstätten" polnischer Historiker, zur Einfuhrung moderner Forschungsmethoden, zur Übernahme neuer methodologischer Konzepte. In Polen besteht weiterhin ein absoluter Primat der politischen Geschichte mit einem faktografischen Ansatz. Es ist jedoch daran zu erinnern, dass Grabski und einige andere Historiker auch die Gefahr einer neuerlichen Entprofessionalisierung infolge einer Politisierung der Zeitgeschichte sehen, indem sie zum Austragungsort scharfer politischer Auseinandersetzungen wird, wie sie sich in Polen derzeit postkommunistische und Ex-So/Warrtoic-Gruppierungen (sowie die Rechten und Liberalen innerhalb Letzterer) liefern. Die Aufgabe polnischer Historiker im 21. Jahrhundert wird also vor allem die Ausarbeitung eines „neuen, ganzheitlichen Bilds der polnischen Geschichte [sein], gereinigt von den Mythen, die es bisher zuwuchern" (Grabski). Die zahlreichen Diskussionen unter Historikern und breitere Debatten unter Beteiligung von Vertretern der Sozialwissenschaften, Publizisten usw., die seit 1989 stattfanden, bereiten das Feld fiir dieses Ziel vor.

Der Streit um die Volksrepublik: Zur Bilanz des Kommunismus Zweifellos ist dies die wichtigste zeitgenössische historische Debatte in Polen, außerdem die längste und diejenige, die am meisten Interesse weckt und Kontroversen anregt. Man kann feststellen, dass die gesamte zeitgenössische polnische Historiographie über die Geschichte Polens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Stand dieser Diskussionen beeinflußt. Dabei ist es in gewissem Sinn paradox, dass weder der Fortschritt der Forschung noch die zunehmende zeitliche Distanz zur kommunistischen Zeit diesen Streit haben erlöschen lassen. Seine Lebhaftigkeit und Hitzigkeit sind ein weiterer Beweis für den starken Zusammenhang von Zeitgeschichte und Politik. 1993 bezeichne6

Vgl. die Bände 1989-1999 der Bibliograf» historii Polski.

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te Paczkowski diesen Kampf gar als „Bürgerkrieg um die Tradition"7. Dieser „Krieg" hat jedoch nicht erst nach dem Fall des Kommunismus in Polen begonnen. Seine Anfänge reichen zurück in die zweite Hälfte der siebziger Jahre. Nach Entstehen der Untergrundverlage wurde die Vermittlung der „wahren" Geschichte bald breiter rezipiert. Die Samizdat-V etiagc druckten vor allem Werke zur Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es wurden auch Arbeiten zu den „weißen Flecken" veröffentlicht, ζ. B. über den polnisch-bolschewistischen Krieg 1920, die Aggression der UdSSR am 17. September 1939, die Morde von Katyn 8 . Anfangs stützte man sich auf die Werke der Exilhistoriographie. In den achtziger Jahren begannen auch inländische Historiker für den Untergrund zu schreiben, da sie so ohne Eingriffe der Zensur ihre Forschungsergebnisse veröffentlichen konnten. Im Samizdat erschien ζ. B. die sehr wichtige Arbeit von Krystyna Kersten über die Grundlegung der kommunistischen Herrschaft 9 . Die Entwicklung der illegalen Verlage, die die Regierung auch mit Repressionen nicht aufzulösen vermochte, setzte diese nunmehr stark unter Druck. Das Monopol der Partei auf Informationen und damit auch auf das Bild der Vergangenheit war unmöglich wiederherzustellen. Zudem hätte das Fortschreiten von Perestroika und Glasnost in der UdSSR jegliche Versuche der polnischen Partei, das offizielle Geschichtsbild unverändert aufrechtzuerhalten, gestört. Daher tauchten in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre auch in der polnischen Presse und sonstigen Publikationen Themen auf, die bis dahin tabu gewesen waren. So setzte sich die von der Opposition vertretene Version der polnischen Geschichte durch. Es schien, als würden der Zusammenbruch des kommunistischen Systems 1989 und die gewaltige Wirtschaftskrise als sein Erbe jegliche positive Einschätzung der Volksrepublik unter sich begraben und als würde so auch der „Krieg um das Gedächtnis" von den Gegnern der vierzig Jahre lang regierenden PZPR gewonnen. Meinungsumfragen aus Anlass diverser Jahrestage, meist des Beginns des Kriegsrechts oder wichtiger Ereignisse aus der Zeit der Volksrepublik (so wie jüngst der Tod des Parteichefs der Jahre 1970-1980, Edward Gierek), zeigen jedoch, dass das Wissen und die Überzeugungen eines beträchtlichen Teils der Polen keineswegs deckungsgleich sind mit den Einschätzungen von Historikern oder Politikern aus der ehemaligen Opposition. Auch die langwierigen Prozesse wegen des Schusswaffengebrauchs gegen Arbeiter 1970 oder der Einfuhrung des Kriegsrechts, die nicht mit rechtskräftigen Verurteilungen endeten, überzeugen die durchschnittlichen Polen davon, dass die in den Medien präsentierten Beur7 Andrzej PACZKOWSKJ, Czy historycy dokonali „obrachunku" ζ PRL?, in: Ofiary czy wspöhvinni. Nazizm i sowietyzm w 3wiadomo£ci historycznej, Warszawa 1997, S. 17. 8 Ausführlicher dazu Magdalena MDCOLAJCZYK, Jak si? pisato ο historii ... Problemy polityczne powojennej Polski w publikacjach drugiego obiegu lat siedemdziesiqtych i osiemdziesi^tych, Kraköw 1998. 9 Krystyna KERSTEN, Narodziny systemu wtadzy. Polska 1943-1948, Warszawa 1984.

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teilungen der Vergangenheit offensichtlich subjektiv sein müssen, wenn es für so tragische Ereignisse keine Schuldigen gibt. Natürlich hängt die mehr oder weniger vollständige Idealisierung der Volksrepublik zurzeit auch stark mit der schwierigen wirtschaftlichen Situation und der unsicheren Zukunft vieler polnischer Familien zusammen. Die Erinnerung an die Solidarnosc-Bewegung ist diesen Menschen entweder bereits fern oder hat sich nie in ihnen verfestigt; oder aber sie erscheint in der Konfrontation mit der Wirklichkeit der „Dritten Republik" kompromittiert. Diese Situation macht es möglich, dass eine postkommunistische Gruppierung wie die SdRP/SLD trotz der Appelle politischer Kräfte aus der ehemaligen Opposition und einiger weniger Stimmen aus den eigenen Reihen keinerlei Absicht hat, über ihre „Leichen im Keller" zu reden, geschweige denn sie öffentlich hervorzuholen. Manchmal hingegen tauchen Äußerungen über die Vergangenheit auf, die für Historiker, die sich mit der Volksrepublik befassen, erstaunlich sind; sie zeigen, dass die Überzeugung, historisch „im Recht" zu sein, im postkommunistischen Milieu immer stärker ist. Auf der anderen Seite tauchen auch extreme Beurteilungen sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart des demokratischen Polen auf, die von rechten bis rechtsextremen Kreisen artikuliert werden. Sie berufen sich auf alte Stereotypen und Meinungen über die Rolle der Juden in Polen, über die Gefahren, die durch ausländisches Kapital entstehen, die deutsche Gefahr usw. Diese Situation mag belegen, dass der Einfluss professioneller Historiker auf das gesellschaftliche Bewusstsein klein ist, obwohl die Zeitgeschichte und ihre Erforscher häufig in den Medien in Erscheinung treten. Trotz zahlreicher Forschungsprojekte, Hunderter wissenschaftlicher Veröffentlichungen 10 , mehrerer professioneller Debatten und der Einrichtung des Instituts des Nationalen Gedenkens mag es daher scheinen, dass die „selige Volksrepublik" diese Etappe des „Bürgerkriegs um die Tradition" gewinnt. Wie also sah die Debatte über die Geschichte Polens und der Polen aus, die in der,.Dritten Republik" gefuhrt wurde? Dies ist ein so interessantes Thema, dass es selbst schon zum Objekt des Interesses von Historiographie-Historikem geworden ist und Überblicksdarstellungen längst überfallig waren 11 . Dieser Streit, der in Historikerkreisen eigentlich pausenlos geführt wird, hat schon mehrere Male die Form breiterer Debatten angenommen, die in den Feuilletons und der politischen Presse gefuhrt werden. Es begann 1990 mit „Der Bilanz von vierzig Jahren" in der Wochenzeitschrift Polityka. Ähnliche Diskussionen wurden auch in Nowa Respublica (1993) und Tygodnik Pow10

Veröffentlichungen aus der ersten Hälfte der neunziger Jahre bespricht Anna MAGIERSKA, Dylematy historii PRL, Warszawa 1996. 11 Für die Thematik dieses Textes besonders wertvoll sind folgende Publikationen: Rafai STOBIECKI, Spör ο interpretacje PRL w publicystyce i historiografii polskiej po 1989 r., in: Historia. Przekaz i poznanie. Ksi?ga ku czci J. Matemickiego, hrsg. von B. Jakobowska, Rzeszöw 2000, S. 169-182; Andrzej FRISZKE, Spör ο PRL W Trzeciej Rzeczypospolitej. Stopniowanie zniewolenia, in: Tygodnik Powszechny Nr. 16/2000.

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szechny (1994/95) geführt 12 . Diese Debatten hatten interdisziplinären und Generationen übergreifenden Charakter. Außer Historikern nahmen auch Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler und Publizisten an ihnen teil. Protokolle von Diskussionen geladener Historiker druckten 1995 und 1996 auch Odra und Wiqz ab. Einzelne Äußerungen können wir in vielen anderen Periodika finden (z.B. Tygodnik „Solidarnosc", Gazeta Wyborcza). Die wichtigsten Fragen, die bei diesen Diskussionen gestellt werden - so Andrzej Friszke, ein aktiver Teilnehmer daran - lauten: „Erfüllte die Volksrepublik das Kriterium der Souveränität, sodass man sie als eine der Formen polnischer Staatlichkeit anerkennen kann? Kann man sie mit der II. und III. Republik der Franzosen vergleichen oder eher mit dem Vichy-Regime? War die Volksrepublik ein totalitärer Staat, oder hatte sie nur in der stalinistischen Phase totalitäre Züge? Vollzog sich in der Zeit der Volksrepublik ein sozio-ökonomischer Fortschritt, oder bremste das System im Gegenteil die Modernisierung" 13 ?

Zu diesem Fragenkatalog muss noch ein weiteres Problem hinzugefügt werden, auf das andere Wissenschaftler hingewiesen haben: Welches Verhältnis bestand in den 45 Jahren der Volksrepublik zwischen der Regierung und der Gesellschaft? Bevor wir eine Analyse der Antworten präsentieren, die die Teilnehmer des Streits auf diese Fragen gegeben haben, lohnt es sich, im Anschluss an den bereits zitierten Andrzej Friszke drei Hauptorientierungen zu benennen, die unter den Teilnehmern auftreten. Die erste, die für der Rechten nahestehende Historiker charakteristisch ist, hat Friszke als „radikale Negation" bezeichnet. Die zweite - und es muss betont werden: verbreitetste - ist der kritisch-analytische Ansatz. Die letzte Einstellung schließlich ist, so Friszke, die gemäßigte Affirmation, die Kreise von Historikern und Publizisten repräsentieren, die dem System der Volksrepublik nahe standen. Bei der Beurteilung der Souveränität der Volksrepublik vertreten die Teilnehmer zwei verschiedene Standpunkte. Der erste Standpunkt wird durch einen dezidierten und gegenüber der Volksrepublik ausnahmslos negativen Ansatz charakterisiert. Ihn vertreten Wissenschaftler, die Post-So/idarnoscKreisen nahe stehen. Der wichtigste Repräsentant dieser Gruppe ist Tomasz Strzembosz, der 1992 feststellte: „Von 1944 bis 1990 existierte eine spezifische Besatzungsherrschaft, sowohl von Innen als auch von Außen"; diese sei mehr oder weniger getarnt gewesen 14 . Aus dieser Sicht stellt die Volksrepublik einen Bruch in der Geschichte der polnischen Staatlichkeit dar, und die Evolution des Systems im Laufe von 40 Jahren hatte keine Bedeutung. Diese 12 Die Beiträge zu letzterer Debatte, die in diesem katholischen Wochenblatt ein halbes Jahr geführt wurde, wurden in einem separaten Band veröffentlicht: Spör ο PRL, Kraköw 1996. 13 Andrzej FRISZKE, Jakim panstwem byla Polska po 1956 r.? Spör historyköw, in: Wi?Z

N r . 2 / 1 9 9 6 , S. 132. 14

Ähnliche Ansichten äußerten die Publizisten Μ. K. Kaminski, Jacek Trzynadel, B. Urbanowski u. a.

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Ansicht impliziert auch eine bestimmte These über das Verhältnis Gesellschaft - Regierung. Die Polen mussten in der Zeit der Volksrepublik unter einer Besatzungsherrschaft leben, daher muss der Maßstab für ihr Verhalten die Einstellung von Menschen in besetzten Ländern sein. Die Mehrheit der Teilnehmer an der Diskussion über die Volksrepublik teilt derart radikale Ansichten jedoch nicht. Sie spricht sich vielmehr dafür aus, die Volksrepublik als eine Form polnischer Staatlichkeit mit einer begrenzten Form von Souveränität zu behandeln, wobei die Reichweite der Souveränitätsbeschränkungen variabel war. Eine wichtige Zäsur ist hier im Jahr 1956 auszumachen. Polen sei demnach ein „Satellitenstaat", ein „autonomer Teil eines Imperiums", gewesen. Wichtig ist es, hier zwischen zwei Begriffen zu differenzieren: Unabhängigkeit und Souveränität. Dabei geht es um die faktische und rechtliche Situation eines gegebenen Staates. Wie Krystyna Kersten es formulierte, war Polen in jener Zeit nicht unabhängig, war aber aus der Perspektive des Völkerrechts eine souveräne Entität15. Kersten wie auch der Ideenhistoriker Andrzej Walicki machten auch auf das Verhältnis von Gesellschaft und Kirche zur Volksrepublik aufmerksam 16 . Für diese Kräfte war die Volksrepublik, trotz all ihrer Defekte, ein polnisches Staatswesen. Einige Historiker verglichen die Volksrepublik mit den Satellitenstaaten des Dritten Reiches, wie Rumänien oder Ungarn (Holzer), oder dem Königreich Polen der Jahre 1815-1830 (Friszke). Beim Nachdenken über das Ausmaß der Souveränität konzentrieren sich die Wissenschaftler vor allem auf die Ereignisse des Jahres 1956, sowohl in Polen wie im gesamten Ostblock. Die Historiker, die die Existenz einer sowjetischen Besatzung in Polen unterstellen, betonen dagegen, dass dieser Wandel nur zu einer besseren Tarnung der Besatzungsherrschaft gefuhrt habe (Strzembosz). Die anderen verweisen auf die evolutionäre Entwicklung des Systems. Natürlich lassen sich die Ursachen der „Evolution" der Souveränität der Volksrepublik ohne Zugang zu sowjetischen Akten nicht vertieft aufzeigen. Die Diskussionen über den Grad der Abhängigkeit der Volksrepublik haben unmittelbaren Einfluss auf die Bewertung der polnischen Kommunisten. Friszke fasst diese Kontroversen wie folgt zusammen: „War die Zusammenarbeit der polnischen Kommunisten mit Stalin beim Bau der Grundlagen des kommunistischen Polens ein Verrat an der Nation, oder nutzten sie die damals einzigen Möglichkeiten zur Schaffung Polens aus, das eben nur im Schatten der UdSSR entstehen konnte? Kann man die Kommunisten als einen Teil des polnischen politischen Spektrums betrachten, oder muss man in ihnen sowjetische Agenten sehen? Fand in den ersten Nachkriegsjahren ein Bürgerkrieg statt, oder wurde das patriotische Element einseitig terrorisiert und vernichtet"^?

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Krystyna KERSTEN, Bilans zamkni?cia, in: Spör ο PRL (Anm. 12), S. 20. Andrzej WALICKI, Demony Peerelu, in: Res Publica Nowa Nr. 3/1993. FRISZKE, Spör ο PRL (Anm. 11).

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Ebenso scharfe Streitigkeiten provoziert das Problem des totalitären Charakters von Nachkriegspolen. Wie Friszke bemerkt, tauchte das Attribut „totalitär" in Bezug auf die Volksrepublik zuerst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in Oppositionskreisen auf und verbreitete sich nach der Einfuhrung des Kriegszustands 1981. Nach 1989 begann eine Zeit der wissenschaftlichen Reflexion dieses Problems. Relativ rasch, bereits 1990, wurde in Frage gestellt, ob es berechtigt sei, den Begriff auf die ganze Geschichte der Volksrepublik anzuwenden. Walicki wies darauf hin, dass die bisherige Verwendung des Begriffs Ergebnis der Notwendigkeit des Kampfes gegen das System gewesen sei, das man als „System des totalen Bösen" habe entlegitimieren müssen. Tatsächlich jedoch lasse sich die klassische Definition des Totalitarismus nur in Bezug auf die Zeit 1948-1956 verwenden. Die folgenden Jahrzehnte nennt Walicki „Realsozialismus". Er ist auch der Meinung, dass man das damals in Polen herrschende System nicht kommunistisch nennen könne18. Die Benutzung des Begriff Totalitarismus für den gesamten Zeitraum hinterfragt auch Jerzy Eisler. Wie Stobiecki bemerkte, entstand diese Auffassung vor allem aufgrund der vorrangigen Rolle, die man der Ideologie unter den anderen Komponenten des Totalitarismus zuschrieb. Die Mehrheit der Wissenschaftler teilt den Standpunkt, diesen Begriff abzulehnen oder ihn auf die stalinistische Phase einzuschränken, jedoch nicht. Für die Befürworter der Okkupationsthese besteht kein Zweifel daran, dass in der gesamten Nachkriegszeit ein Totalitarismus existierte. Sie nehmen dessen evolutionäre Entwicklung nicht wahr, womit sie Vorwürfe auf sich lenken, sie dächten ahistorisch und würden die Vergangenheit rein statisch betrachten. Die übrigen verweisen auf die Ein-Parteien-Diktatur und die Konzentration politischer, wirtschaftlicher und informationeller Macht in ihrer Hand19. Sie sehen darin die Grundlagen eines totalitären Systems, das erst in den achtziger Jahren eine gewisse Schwächung erfahren habe. Die hier beschriebenen Ansichten zur Frage der Souveränität der Volksrepublik und ihres Systemcharakters implizieren jeweils auch einen Standpunkt in der Frage der Beziehungen zwischen Regierung und Gesellschaft. Die Forschungen zur Gesellschaftsgeschichte der Volksrepublik beginnen sich erst zu entwickeln, und derzeit sind noch keine Zusammenfassungen zu diesem Komplex zu erwarten. Es scheint jedoch, als sei die Sichtweise von rechts orientierten Historikern - hier die böse totalitäre Regierung, dort die gute, geknechtete Gesellschaft - eine gewaltige Vereinfachung, die zu einer Vergröberung des Bilds dieser Beziehungen führt. Auch wenn dieser Gegensatz 18 Ausführlicher siehe: WALICKI, Demony Peerelu (Anm. 16); DERS., Zniewolony umysl po latach, Warszawa 1993; DERS., Polskie zmaganiaz wolnoäciq, Kraköw 2000. Laut Paczkowski existierte in Polen eine Variante des Totalitarismus, die „moderne Despotie", die im Wesentlichen Stalinismus ohne Massenterror ist. Andrzej PACZKOWSKI, Stalinizacja Europy Srodkowo-Wschodniej i casus Polski, in: Oböz Nr. 28/1993, S. 61, 91.

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im gesellschaftlichen Bewusstsein existierte - Teilung zwischen „denen", d. h. der Regierung, und „uns", dem Volk - , schöpft er doch nicht die ganze Vielfältigkeit der Interaktion zwischen den Regierenden (auf verschiedenen Ebenen) und Regierten aus. Kersten sieht die Ursache dieser Einstellung in einer konservativen Sicht auf die Geschichte der eigenen Nation - Polen als Opfer der Geschichte - , die bis auf die Zeit der Teilungen zurückgeht. Das wichtigste daran ist die Verehrung heldenhafter Tugenden, die Arbeit an der „Erquickung der Herzen" und die Vermeidung kontroverser Fragen in der Bewertung der Beziehung zwischen der Gesellschaft und der aufoktroyierten Regierung bzw. das Maß der Beteiligung20. Charakteristisch ist auch eine Antipathie gegen Kreise, die auf irgendeine Weise mit der Regierung zusammengearbeitet haben: sowohl Katholiken, die 1957 Sejm-Mandate erhielten, als auch die Revisionisten, aus deren Reihen sich ein wichtiger Teil der demokratischen Opposition der späteren Jahre rekrutierte. Andrzej Paczkowski hat vier verschiedene Einstellungstypen gegenüber dem System unterschieden: Widerstand, Anpassung, Akzeptanz, Affirmation. Nach 1956 dominierten seiner Meinung nach die beiden letzten Verhaltensmuster. Neue Forschungen über die Gesellschaft lassen viele interessante Ergebnisse erwarten21. Eine wichtige Rolle kann dabei die Zugänglichmachung der Akten des Sicherheitsdiensts spielen, womit sich das Institut des Nationalen Gedenkens befassen soll. Ein wichtiges Element der Legitimation des Systems und zugleich Propagandainstrument war die von der Regierung behauptete Fähigkeit zur Modernisierung der rückständigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Polens. Die Mehrheit der Historiker ist der Meinung, dass die Folgen der Wirtschaftspolitik der PZPR nur negativ beurteilt werden können. Positives sehen sie allenfalls in den ersten beiden Jahrzehnten der Volksrepublik, als man das zerstörte Land wieder aufbaute und der Grundstein fur eine intensive Entwicklung der Industrie gelegt wurde. Der Streit der Historiker - und mehr noch der Publizisten - über die Volksrepublik ist nicht beendet und wird auch nicht rasch beendet werden. Dies erlauben weder der Forschungsstand noch der demografische Faktor: Die politisch aktiven Generationen wurden alle noch in der Volksrepublik geboren, 20

Krystyna KERSTEN, Ofiary czy wspöhvinni, in: Ofiary czy wspöhvinni. Nazizm i sowietyzm w äwiadmoici historycznej, Warszawa 1996, S. 84-86. 21 Ein Vorbote könnten folgende Veröffentlichungen sein: Dariusz JAROSZ, Polacy a stalinizm 1948-1956, Warszawa 2000; 2ycie codzienne w Polsce 1945-1955. Studia i materiaty, Warszawa 2001 (Polska 1944/45-1989 5). Es lohnt sich auch, auf die Reihe W PRL aufmerksam zu machen, in der Arbeiten junger Historiker (v. a. Magisterarbeiten) gedruckt werden, die sich mit allgemeinen Problemen der Beziehung Regierung - Gesellschaft, des Alltagslebens usw. beschäftigen. Vgl. ζ. B. Marta BRODALA/Anna LiSiECKA/Tadeusz RuziKOWSKJ, Przebudowad cztowieka. Komunistyczne wysilki zmiany mentalnoSci, Warszawa 2001. Die Mehrzahl der durchgeführten Forschungen konzentriert sich eindeutig auf die Phase vor 1956.

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was der historischen Diskussion auch einen politischen Charakter verleiht. Sicher ist jedoch, dass einfache Urteile auf der Grundlage der Gegensätze Regime - Nation, Verrat - Widerstand nicht geeignet sind, das historische Phänomen der Volksrepublik zu beschreiben.

Die Frage der deutsch-polnischen Beziehungen: Das Thema Vertreibung nach 1945 Die deutsch-polnischen Beziehungen gehörten in der Vergangenheit zu den schwierigsten. Die Erfahrungen von Deutschen und Polen im Zweiten Weltkrieg und den ersten Nachkriegsmonaten 1945 (die genozidale Politik der Nationalsozialisten gegenüber Polen, die Aussiedlung und Vertreibung der Deutschen aus Polen) standen ihrer einvernehmlichen Regelung lange Jahre entgegen. Die internationale Lage (Teilung der Welt in zwei gegensätzliche politische Blöcke) sowie die Teilung Deutschlands in die Bundesrepublik und die DDR verkomplizierten die Situation zusätzlich. Zwar gelang es Polen relativ schnell, mit der DDR gegenseitige Beziehungen aufzunehmen, doch die Normalisierung des Verhältnisses zur Bundesrepublik begann erst nach 1970. Die Annexion der ehemaligen deutschen Ostgebiete durch Polen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde als gewaltiger Erfolg der polnischen Politik betrachtet. Nicht ohne Bedeutung war das Verhalten der kommunistischen Regierung in Polen, die die polnische Gesellschaft viele Jahre lang von der Rückkehr in die „alten Piastengebiete" zu überzeugen versuchte. Dies war ein Propagandaelement, das die polnischen Verluste im Osten - über die offiziell nicht gesprochen wurde - gewissermaßen kompensieren und der aus diesen Gebieten ausgesiedelten polnischen Bevölkerung eine schnelle Integration ermöglichen sollte. Für Deutsche war im neuen polnischen Staat kein Platz mehr. Eine wesentliche Rolle spielte auch der Aspekt der Wiedergutmachung für die gewaltigen Verluste, die Polen während des Krieges erlitten hatte. Vor dem Hintergrund der großen Probleme mit nationalen Minderheiten vor 1939 begannen die Kommunisten umso konsequenter, das Prinzip des homogenen Nationalstaats zu realisieren. Die Aussiedlung der Deutschen wurde als Folge des Krieges und der Potsdamer Vereinbarungen dargestellt: Es waren die Alliierten, die über die endgültige Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen entschieden hatten, die - gemäß den Wünschen der Alliierten - auf „geordnete" und „humanitäre" Weise stattfand. Dies war ein Standpunkt, der sich viele Jahre lang in der polnischen Historiographie und Publizistik gehalten hat22. 22

Im Archiv des Außenministeriums in Warschau befindet sich eine Akte, die speziell vorbereitetes Propagandamaterial enthält, das sich ausschließlich aus positiven Beispielen für die Behandlung der Deutschen durch Polen zusammensetzt. Die beigefügten Bilder (über 60) zeigen den Verlauf der Aussiedlungsaktion und auch die angebliche Zufrieden-

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In der polnischen Propaganda sowie in wissenschaftlichen Arbeiten wurde die Aussiedlung der Deutschen nicht mit dem Begriff Vertreibung bezeichnet. Dies war eine logische Konsequenz der erwähnten Prinzipien. In polnischen Veröffentlichungen seit Ende der vierziger Jahre waren stattdessen vielfach Bezeichnungen wie „Repatriierung", .Migration", „Rückkehr", „Exodus", „Abwanderung", „Emigration", „Umsiedlung", „Aussiedlung", „Zwangsaussiedlung" und schließlich „Transfer" zu finden23. Diese Begriffsvielfalt zeugt von einem Mangel wissenschaftlicher Reflexion und Austausch zwischen den Wissenschaftlern selbst, obwohl man auch auf Ausnahmen verweisen kann. Eine von ihnen war sicherlich ein Artikel Krystyna Kerstens von 1963, in dem sich die Autorin für die Verwendung des Begriffs „Transfer" aussprach und ihre Meinung entsprechend begründete24. In den sechziger Jahren erschienen die ersten seriöseren Arbeiten über die Aussiedlung. In den folgenden beiden Jahrzehnten verringerte sich das Interesse polnischer Wissenschaftler; mit dem Thema Aussiedlung beschäftigten sich seitdem vor allem Militärhistoriker. Das Bild der Aussiedlungen war nicht vollständig, oft verfälschte es deren Verlauf. Diese Mängel waren sicher durch die Tätigkeit der Zensur verursacht, aber auch durch die Selbstzensur der Autoren und der universitären Kreise. Ein Beispiel dafür ist die Arbeit von Banasiak, die nicht im Druck erscheinen konnte25. Ein weiteres Manko der polnischen Arbeiten war, dass deutsche Quellen nicht benutzt und deutsche Feststellungen, ζ. B. über die Verluste bei der Aussiedlung, nicht mit polnischen Materialien konfrontiert wurden. Oft wurden sie dagegen im Kampf gegen westdeutsche Publikationen über die „Vertreibung" instrumentalisiert. In polnischen Arbeiten finden wir keine Reflexion über den Grad der Verantwortung dieser Bevölkerung für den Nationalsozialismus oder ihre Wehrlosigkeit, nachdem die Front über heit und Freude der deutschen Bevölkerung darüber. Dieses Material wurde in der Publizistik und in Dokumentationen über die Aussiedlung der Deutschen aus Polen genutzt. Ζ. B. Listy od Niemcöw, hrsg. von Marian Turski, in: Polityka 1979, Nr. 24, S. 15; Piotr LLPPÖCZY/Tadeusz W A L I C H N O W S K I , Przesiedlenie ludnoSci niemieckiej ζ Polski po drugiej wojnie Swiatowej w gwietle dokumentöw, Warszawa/Lödi 1982. 23 Zit. nach Wlodzimierz B O R O D Z I E J , Historiografia polska ο „wyp?dzeniu" Niemcöw, in: Polska 1944/45-1989. Studia i Materiaty, Bd. 2, Warszawa 1996, S. 251. 24 „Transfer" definierte Kersten als „freiwillige oder erzwungene, aber definitive und organisierte Verschiebung [przerzucenie] in das Territorium eines anderen Staates, die auf Grundlage internationaler Übereinkünfte durchgeführt wird. Ziel ist hier das Streben nach Schaffung von national homogenen Organismen, woraus sich konsequent der Austausch der Bevölkerungen aus Gebieten, die von mehreren Nationalitäten werden, ergibt". Krystyna K E R S T E N , Migracje powojenne w Polsce (Pröba klasyfikacji i ogölna charakterystyka zewn?trznych ruchöw ludnoäci), in: Polska Ludowa, Bd. 2, Warszawa 1963, S. 8. 25 Aus Banasiaks Text ging hervor, dass die polnische Verwaltung, insbesondere auf unterer Ebene, die Bestimmungen internationaler Abkommen und übergeordneter Stellen oft missachtete und viele missbräuchliche Handlungen zuließ. Vgl. B O R O D Z I E J , Historiografia (Anm. 23), S. 258.

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sie hinweggezogen war. Ganz im Gegenteil - es wurde erklärt, dass diese Deutschen weiter gegen die Polen kämpfen wollten und somit eine Gefahr für Polen waren. Die Polen wurden in diesen Publikationen dagegen höchst positiv gesehen. Oft wurde die Aussiedlung mit der Notwendigkeit erklärt, eine Ordnung durchzusetzen. Selbst wenn man bestimmte „Unzulänglichkeiten" im Verlauf der Aussiedlungsaktion aufdeckte, wurden diese mit Ursachen erklärt, die sich aus der schwierigen wirtschaftlichen Situation ergaben, in der sich Polen nach 1945 befand. Todesfälle sollten eine Folge der Umstände sein (Alter, Lebensmittel- und Medikamentenmangel). Man betonte, dass die Sterblichkeitsrate unter den Deutschen niedriger gewesen sei als bei repatriierten/umgesiedelten Polen. Das Thema Vergewaltigungen, Raubüberfälle und Morde tauchte in der polnischen Literatur nicht auf. Man beschäftigte sich auch nicht mit der so genannten menschlichen Dimension dieses Phänomens. Es fehlten Reflexionen über die Folgen des plötzlichen Herausgerissenwerdens aus der bekannten Umgebung, das subjektive Unrechtsempfinden usw. Gegen Ende der achtziger Jahre ließ sich in Polen in dem Maß, wie die Zensur schwächer wurde, ein Anwachsen des Interesses an der Aussiedlung der Deutschen aus Polen beobachten. Ein Besuch des westdeutschen Schriftstellers Horst Bienek veranlasste die Redaktion der Polityka zu einem Interview, in dem der Schriftsteller über seine Heimatstadt Gleiwitz/Gliwice und die Aussiedlung sprach. Einen Monat darauf erschien ein Interview mit dem Soziologen, Publizisten und ehemaligen Soldaten der Heimatarmee Andrzej Ziemilski unter dem provokativen Titel „Ich habe Horst Bienek ausgesiedelt". Wie sich herausstellte, war Ziemilski im Auftrag der polnischen Verwaltung in Gleiwitz für die Aussiedlung der Deutschen verantwortlich gewesen. Zum ersten Mal konnten Leser in Polen erfahren, was ein Vertreter der Verwaltung bei der Entfernung der Deutschen empfand und wie seine heutige Einstellung dazu ist. „Ich schäme mich nicht dessen, was ich getan habe", sagte Ziemilski, „nur dessen, wie ich es getan habe" 26 . Erst die Veränderungen im Ostblock 1989, die schließlich zum Zerfall des gesamten kommunistischen Staatensystems führten, ermöglichten eine kritische Reflexion der Geschichte nach 1945. Ein Thema war dabei auch die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen und die Einstellung der kommunistischen Regierung gegenüber der deutschen Minderheit. In der Presse erschienen hierzu kritische Artikel. Ein beträchtliches Echo löste in Polen 1995 eine Publikation von Maria Podlasek aus. Sie basierte auf einer in Polen bis dahin wenig bekannten Sammlung von Erinnerungen Vertriebener27. 26

Wysiedlatem Horsta Bienka. Ζ socjologiem Andrzejem Ziemilskim rozmawia Adam Krzemmski, in: Polityka vom 16. April 1988. 27 Maria PODLASEK, Wyp^dzenie Niemcöw ζ terenöw na wschod od Odry i Nysy Luiyckiej. Relacje Swiadköw, Warszawa 1995. Siehe auch DIES., Wyp^dzenie w äwiadomoici Polaköw, in: Polska w Europie. Zeszyt specjalny, Warszawa 1995, S. 79-98.

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Diese Veröffentlichung gab den Anstoß zu einer recht breiten Diskussion in der Presse, die Mitte der neunziger Jahre hauptsächlich in den Wochenzeitungen Polityka und Tygodnik Powszechny geführt wurde. An ihr nahmen nicht nur Wissenschaftler und Politiker teil, sondern auch gewöhnliche Bürger, häufig Zeitzeugen der Jahrzehnte zurückliegenden Ereignisse. Die interessantesten Stimmen in dieser Diskussion wurden in einem Buch zusammengefasst, das auch in deutscher Sprache vorliegt28. Es kam zu ersten Begegnungen und Diskussionen über das Thema Aussiedlung mit deutschen Historikern, wobei man sich häufig bemühte, jene Ereignisse in den breiteren Kontext der Nachkriegsereignisse zu integrieren, zu denen auch eine große Migrationswelle verschiedener Nationen gehörte. Erwähnenswert ist ein internationales Seminar, das 1993 im Posener Instytut Zachodni (West-Institut) veranstaltet wurde. Es trug den Titel „Verlorene Heimat. Zwangsaussiedlungen, Deportationen und Umsiedlungen als gemeinsame Erfahrung". Daran nahmen Historiker, Literaturhistoriker und Soziologen aus Polen, Deutschland, Russland und der Ukraine teil. Zwei Probleme beherrschten die Sitzungen: 1. 2.

Terminologische Fragen und Streitigkeiten um die Größenordnung der Umsiedlungen; die emotionale Dimension von Zwangsmigration und die Beziehung zwischen dieser und den Anforderungen wissenschaftlicher Forschungen 29 .

Diese Suche nach gemeinsamen Elementen der Erfahrungen war auch bei anderen Projekten sichtbar, und nicht unbedingt nur solchen rein wissenschaftlichen Charakters, wie ζ. B. dem 1996 ausgeschriebenen Wettbewerb „Vertreibung aus dem Osten (1939-1959) - in den Erinnerungen von Polen, Deutschen und anderen Enterbten" 30 oder der Initiative der Pariser Kultura zum Thema

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Przeprosid za wyp^dzenie? Ο wysiedleniu Niemcöw po II wojnie iwiatowej, hrsg. von Klaus Bachmann und Jerzy Kranz, Kraköw 1997. Die deutsche Ausgabe erschien 1998 im renommierten Verlag Bouvier u. d. T. Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen, hrsg. von Klaus Bachmann und Jerzy Kranz, Bonn 1998. 29 Die Materialien dieser Konferenz erschienen 1996 im Druck. Siehe Utracona ojczyzna. Przymusowe wysiedlenia, deportacje i przesiedlenia jako wspölne doSwiadczenie, hrsg. von Hubert Ortowski und Andrzej Sakson, Poznan 1996. 30 Wyp?dzeni ze Wschodu (1939-59) - we wspomnieniach Polaköw, Niemcöw i innych wydziedziczonych, in: Karta, Nr. 19/1996, S. 153. Zum Wettbewerb wurden 214 Arbeiten eingereicht, darunter 98 von Deutschen, 115 von Polen und eine eines Ukrainers. Die Mehrheit der Arbeiten befasste sich mit Erinnerungen an eigene Erlebnisse, wenige waren Aufzeichnungen von Erzählungen, die Verwandte weitergegeben hatte. Zu den Ergebnissen des Wettbewerbs siehe Rozmowa wyp^dzonych, in: Karta, Nr. 21/1997, S. 146 f. Die interessantesten Berichte wurden vor kurzem in einem separaten Buch veröffentlicht: Wyp?dzeni ze Wschodu. Wspomnienia Polaköw i Niemcöw, hrsg. von Hans-Jürgen Bömelburg [u. a.], Olsztyn 2001. Es liegt auch eine deutsche Version vor: Vertreibung aus dem Osten. Deutsche und Polen erinnern sich, hrsg. von Hans-Jürgen Bömelburg [u. a.], Olsztyn 2000.

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der Erfahrungen zwischen den Vertriebenen beider Nationen 31 . Der erste wissenschaftliche Versuch, das Schicksal aus ihrer jeweiligen „kleinen Heimat" vertriebener Polen und Deutscher zu vergleichen, ist die Arbeit des jungen deutschen Historikers Philipp Ther32. Hier ist jedoch anzumerken, dass die Mehrheit der polnischen Historiker die Verwendung des deutschen Begriffs „Vertreibung" ablehnt und eine klare Differenzierung der verschiedenen Phasen der Abwanderung der deutschen Bevölkerung aus dem Osten befürwortet33. Die Öffnung der Archive und die Möglichkeit zu ungehinderter Forschungsarbeit haben schnell zu zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen unterschiedlichen Umfangs und Charakters gefuhrt. Darunter sind Arbeiten zu Einzelfällen wie auch Überblicksdarstellungen des Problems 34 . Es gibt auch nicht wenige Quelleneditionen35. Erste Publikationen über die Lager für Deutsche und Personen, die als Deutsche betrachtet wurden, ζ. B. in Lambsdorf/Lambinowice 36 , begannen zu erscheinen. In diesen Arbeiten begann man immer mehr, Streitigkeiten und Kontroversen zwischen den Kommandanturen der Roten Armee und der polnischen Verwaltung zu berücksichtigen. Es wurden auch die Diskrepanzen zwischen den neuen polnischen Machthabern und der polnischen Gesellschaft in den West- und Nordgebieten aufgearbeitet. Ein Versuch, die bisherigen Forschungsergebnisse zu sammeln und zu neuen Forschungen anzuregen, war das Forschungsprojekt „Vertreibungskomplex", das 1995-1996 durchgeführt wurde. Im Rahmen dieses Pro31

Siehe Polska, Niemcy: co dalej?, in: Kultura (ParyZ), September 1998, S. 72-78. Phillipp THER, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertreibungspolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen 1998. Den Wert seiner Ergebnisse mindern allerdings Mängel in der Quellenbasis, besonders in Bezug auf die DDR. Auch die Schlusszäsur der Arbeit ist unzureichend begründet. Es stellt sich auch die allgemeinere Frage, ob und auf welcher Grundlage man diese beiden Probleme vergleichen kann. Ther umgeht die Frage nach der Einstellung der politischen Parteien und der Gesellschaft gegenüber den Vertriebenen sowie nach dem Versuch, die Vertriebenen für die DDR-Politik zu gewinnen, u. a. in der Grenzfrage. 33 Siehe ζ. B. die Artikel in: Kompleks wyp?dzenia, hrsg. von Wlodzimierz Borodziej und Artur Hajnicz, Kraköw 1998. Die polnischen Autoren dieser Artikel verwenden nicht den Begriff „Vertreibung", sondern „Aussiedlung" bzw. „Zwangsaussiedlung". Siehe auch Bernadetta NlTSCHKE, Wysiedlenie ludnoSci niemieckiej ζ Polski w latach 1945-1949, Zielona G6ra 1999. 34 Siehe Zbigniew ROMANOW, Ludnoäd niemiecka na ziemiach zachodnich w latach 19451947, Stupsk 1992; Beata OciEPKA, Niemcy na Dolnym Slqsku w latach 1945-1970, Wroclaw 1994; Piotr MADAJCZYK, Przyt^czenie Slqska opolskiego do Polski 1945-1948, Warszawa 1996; Bernard LINEK, „Odniemczanie" wojewödztwa ilqskiego w latach 1945-1950 w Swietle materialöw wojewödzkich, Opole 1997; NlTSCHKE, Wysiedlenie ludnoici (Anm. 33). 35 Stettin-Szczecin 1945-1946. Dokumente - Erinnerungen/Dokumenty - wspomnienia, Ostsee-Akademie Lübeck-Travemünde/Akademia Baltycka Lubecka-Travemünde, Instytut Historii Uniwersytetu Szczecinskiego/Institut für Geschichte der Universität Stettin, Rostock 1994; Wysiedlenia Niemcöw i osadnictwo ludnoici polskiej na obszarze Krzyzowa-Swidnica (Kreisau-Schweidnitz) w latach 1945-1948. Wybör dokumentöw, hrsg. von Karol Jonca, Wroclaw 1997. 36 Edmund NOWAK, Cien Lambinowic, Opole 1991. 32

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jekts wurden in Polen und Deutschland mehrere Seminare veranstaltet, die sich mit der Darstellung verschiedener Aspekte der Aussiedlung der Deutschen beschäftigten. Es wurden auch interessante Umfragen über die Einstellung der Polen zur Aussiedlung der deutschen Bevölkerung durchgeführt. Die wichtigsten Ergebnisse des Projekts erschienen in Buchform 37 . Ein wissenschaftliches Unternehmen von großer Bedeutung für die polnische und deutsche Historiographie in den letzten Jahren war zweifellos ein Projekt, das von Wtodzimierz Borodziej (Universität Warschau) und Hans Lemberg (Universität Marburg) geleitet wurde. Sein Ziel war die Zusammenstellung der wichtigsten polnischen Archivalien zum Thema Vertreibung, die in vier Bänden jeweils in polnischer und deutscher Version publiziert werden sollen38. Dadurch gelangten, besonders in Deutschland, bis dahin nicht bekannte bzw. nicht genutzte Dokumente in den wissenschaftlichen Diskurs. In Polen wurde auch entschieden darauf hingearbeitet, das Wissen über die Erlebnisse von Deutschen in Polen nach Kriegsende breiteren Teilen der Gesellschaft bekannt zu machen. Viel ist hier zu tun, denn wie Umfragen gezeigt haben, bekannte 1996 die Hälfte der Befragten, nichts über die Aussiedlung der Deutschen zu wissen 39 . Oft geschah dies im Rahmen von Versuchen, der Bevölkerung der West- und Nordgebiete Polens die deutsche Vergangenheit ihrer Wohnorte „zurückzugegeben", die bis dahin allgemein nur marginal bekannt war. Eine große Rolle spielten hierbei lokale Zeitungen und Zeitschriften, die manchmal mit ehemaligen Bewohnern zusammenarbeiteten und deren Erinnerungen veröffentlichten, auch über die Aussiedlung (ζ. B. Ziemia Klodzka in Glatz/Klodzko). 1995 veranstalteten das Stadtteilmuseum Kreuzberg in Berlin und das Instytut Sl^ski in Opole/Oppeln eine interessante Ausstellung mit dem Titel „Wach auf, mein Herz, und denke", die in mehreren Städten Polens und Deutschlands gezeigt wurde und sich eines beträchtlichen Interesses erfreute. Ihr Thema waren die Kulturbeziehungen Schlesiens 37

Kompleks wyp^dzenia (Anm. 33); siehe auch: Flucht und Vertreibung der Ostdeutschen und ihre Integration, in: Deutsche Studien 32 (1995), Heft 126/127. 38 Bisher erschienen vier Bände in polnisch und nur ein Band in deutsch. Siehe Niemcy w Polsce 1945-1950. Wybör dokumentow, hrsg. von Wtodzimierz Borodziej und Hans Lemberg, Bd. 1: Wladze i instytucje centralne. Wojewödztwo olsztynskie, ausgew. und bearb. von Wtodzimierz Borodziej und Claudia Kraft, Warszawa 2000; Bd. 2: Polska centralna. Wojewödztwo il^skie, ausgewählt und bearb. von Ingo Eser und Jerzy Kochanowski, Warszawa 2000; Bd. 3: Wojewödztwa poznanskie i szczecinskie, ausgew. und bearb. von Stanislaw Jankowiak und Katrin Steffen, Warszawa 2001; Bd. 4: Pomorze Gdanskie i Dolny Sl^sk, ausgew. und bearb. von Ingo Eser [u. a.], Warszawa 2001; sowie „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden...". Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven, hrsg. von Wtodzimierz Borodziej und Hans Lemberg, Bd. 1: Zentrale Behörden. Woiwodschaft Allenstein, bearb. von Wtodzimierz Borodziej und Claudia Kraft, Marburg 2000. Der zweite Band der Dokumentation erscheint demnächst in deutscher Ausgabe. 39 Ausführlicher siehe die Ergebnisse einer CBOS-Umfrage vom Mai 1996 u. d. T. Problem „wyp?dzenia" w äwiadomoici spolecznej Polaköw, in: Kompleks wyp?dzenia (Anm. 33), S. 439-452.

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und Brandenburgs in den vergangenen zweihundert Jahren. Der Ausstellungskatalog enthielt interessante Texte über das Zusammenleben der polnischen und deutschen Bevölkerung in den ersten Nachkriegsmonaten und die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung40. Eine Gelegenheit zur kritischen Betrachtung der deutsch-polnischen Beziehungen, einschließlich des Themas Vertreibung, bot eine weitere Ausstellung mit dem Titel ,»Annäherungen Deutsche und Polen 1945-1995", die von einem Katalog mit Texten polnischer und deutscher Autoren begleitet wurde 41 . Derzeit haben die Forschungen zur Regionalgeschichte der West- und Nordgebiete Polens, die an den Hochschulen, aber auch im Rahmen lokaler Vereine von passionierten Heimathistorikern durchgeführt werden, bereits einen fortgeschrittenen Stand erreicht. Eine vollständige Aufführung des Forschungsstands dieses geschichtswissenschaftlichen Teilbereichs würde eine eigene Bibliographie erfordern. Ich beschränke mich daher auf die Erwähnung der wichtigsten Publikationen zur Geschichte Schlesiens. Allein zu Wroctaw/Breslau erschienen in den letzten zehn Jahren drei Bände von Mitarbeitern des Historischen Instituts der Universität Wroclaw 42 . Vor kurzem erschien auch eine fast 600seitige Gesamtdarstellung der Geschichte Schlesiens, die erste Arbeit dieser Art in fast dreißig Jahren, die den jeweils neuesten Stand polnischer und deutscher Forschungen zur Vergangenheit dieser Region zusammenführt 43 . Zusammenfassend kann man feststellen, dass nach dem Sturz des Kommunismus eine Blütezeit der Historiographie zur Vergangenheit der Gebiete, die 1945 an den polnischen Staat angeschlossen wurden, begann. Zu beobachten ist ein Prozess der „Adoptierung" der deutschen Vergangenheit durch die heutigen Bewohner und die Geburt einer neuen regionalen Identität. Dies ist einer der größten Erfolge der heutigen Historiographie im Bereich der Breitenwirksamkeit. Eine gewisse Rolle spielte dabei auch die Rezeption der deutschen Belletristik, die das Thema Vertreibungen und Geschichte vor 1945 thematisiert. In Polen erschienen Übersetzungen der Tetralogie Horst Bieneks und des Buches Die Stunde der Frauen von Christian Graf von Krockow. In den ver40

Przebudz si?, serce moje i pomySl. Przyczynek do historii stosunköw mi^dzy Sl^skiem a Berlinem-Brandenburgi^ Berlin/Opole 1995. Siehe auch: Wspaniaty krajobraz. ArtySci i kolonie artystyczne w Karkonoszach w XX w. Die imposante Landschaft. Künstler und Künstlerkolonien im Riesengebirge im 20. Jahrhundert, hrsg. von der Gesellschaft für interregionalen Kulturaustausch e. V. Berlin und dem Muzeum Okr^gowe w Jeleniej Görze, Berlin/Jelenia G6ra 1999. 41 Zblteenia- Annäherungen. Niemcy i Polacy 1945-1995, Warszawa 1996. 42 Teresa KULAK, Wroclaw. Przewodnik historyczny, Wroclaw 1997; Micha! KACZMAREK/Mateusz GOLINSKI/Teresa KULAK/Wlodzimierz SULEJA, Wroclaw. Dziedzictwo wieköw, Wroclaw 1997. Den Nachkriegsteil der Stadtgeschichte verfasste darin Wlodzimierz Suleja. Siehe auch Wlodzimierz SULEJA, Historia Wroctawia. W Polsce Ludowej, PRL i III Rzeczypospolitej,Bd. 3, Wroclaw 2001. 43 Marek CZAPLINSKI/Elibieta KASZUBA/Gabriela WAS/Roicislaw ZERELIK, Historia Slitska, Wroclaw 2002.

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gangenen Wochen besprachen nahezu alle führenden Tageszeitungen und Zeitschriften in Polen das neueste Buch von Günter Grass, Im Krebsgang. Spuren der deutschen Vergangenheit heute polnischer Städte und deutscher Schicksale tauchten in den letzten zehn bis zwanzig Jahren auch im Schaffen polnischer Schriftsteller auf. Das beste Beispiel hierfür ist der auch ins Deutsche übersetzte Roman Hanemann von Stefan Chwin (dt. u. d. T. Tod in Danzig), der in beiden Ländern sehr erfolgreich war. Ein weiterer Fragenkomplex sind Änderungen in den Schulbüchern, in denen man begann, ausführlicher über den Verlauf der Nachkriegsmigration zu berichten, obwohl hier noch viele Änderungen erforderlich sind 44 . Intensiv arbeitet daran die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission, die u. a. 2000 eine Auswahl von Richtlinien und Materialien für die Behandlung der deutschpolnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert im Unterricht herausgab 45 . Sie stellt eine wertvolle Hilfe für den Lehrer bei der richtigen Darstellung dieses Problems im Unterricht dar. Dieses Bemühen um die Überwindung der Hindernisse, die in der Geschichte stecken, wurde wiederholt von Politikern beider Staaten unterstützt. Das Schüren von gegenseitigem Misstrauen oder Feindseligkeit, das für die Phase des Kalten Kriegs charakteristisch war, wurde durch das Streben nach Dialog und deutsch-polnischer Versöhnung ersetzt. Auf der polnischen Seite erwähnenswert ist hier der Auftritt von Außenminister Wladyslaw Bartoszewski auf der gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat zum 50. Jahrestag des Kriegsendes46.

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Ausführlicher siehe Krzysztof RUCHNIEWICZ, Deutschland und die deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg in polnischen GeschichtsschulbUchern. Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Die Oder überqueren. Deutsch-polnische Begegnungen in Geschichte, Kultur und Lebensalltag, hrsg. von Norbert H. Weber, Frankfurt a. Μ. 1999, S. 230241. Dieser Artikel analysiert die Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungen nach 1945 in Schulbüchern des Fachs Geschichte für polnische Mittelschulen. Am ausführlichsten hat Andrzej Garlicki das Thema Migration der deutschen Bevölkerung aus Polen nach 1945 beschrieben. Er weist auch auf die menschliche Dimension dieses Phänomens hin (schwierige Bedingungen, Vergewaltigungen, Raub von Eigentum, Übergangslager usw.). Jerzy Kochanowski vertiefte dieses Problem in einer Quellenauswahl für Mittelschulen. Ausfuhrlicher siehe Andrzej GARLICKI, Historia 1939-1996/97. Polska i äwiat. Podr?cznik dla szk