Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook: Band 2 2001 9783486832600

Das Jahrbuch für Europäische Geschichte ist · Forum für Experten aus den europäischen Ländern zu Themen, Problemen und G

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German Pages 301 [304] Year 2017

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
SCHWERPUNKTTHEMA Europäisches Recht in Übersee
Einleitung
Der Transfer niederländischen Rechts nach Ost- und Westindien
Der Einfluss des europäischen Rechts in Südafrika
Europäisches Recht in Japan
Rechtstransfer als Erfolgsgeschichte?
Detrimentum Rei Publicae
ANDERE BEITRÄGE
Der Europa-Begriff im Hoch- und Spätmittelalter
Gutenberg bewältigen
Antemurale christianitatis
EUROPA-INSTITUTE UND EUROPA-PROJEKTE
Leibniz und die Europaidee
AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE
Europa-Schrifttum 2000 (mit Nachträgen)
Autorenverzeichnis
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Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook: Band 2 2001
 9783486832600

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Jahrbuch für Europäische Geschichte

Jahrbuch für Europäische Geschichte Herausgegeben am Institut für Europäische Geschichte von Heinz Duchhardt in Verbindung mit Wlodzimierz Borodziej, Peter Burke, Ferenc Glatz, Georg Kreis, Pierangelo Schiera, Winfried Schulze

Band 2

2001

R. Oldenbourg Verlag München 2001

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung der Landesbank Rheinland-Pfalz.

Redaktion: Matthias Schnettger, Marina Meurer

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jahrbuch für Europäische Geschichte / hrsg. am Institut für Europäische Geschichte. - Bd. 1. 2000-. - München : Oldenbourg, 2000

© 2001 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: WB-Druck, Rieden am Forggensee ISBN 3-486-56571-0

Inhaltsverzeichnis

Schwerpunktthema: Europäisches Recht in Übersee J. Th. de Smidt, Haarlem: Der Transfer niederländischen Rechts nach Ost- und Westindien François du Bois/Daniel Visser, Cape Town: Der Einfluss des europäischen Rechts in Südafrika

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Yoichi Nishikawa, Tokyo: Europäisches Recht in Japan. Das Beispiel der Strafgesetzgebungen in der frühen Afeyï-Zeit

109

Gerhard Schuck, Sapporo: Rechtstransfer als Erfolgsgeschichte? Zur Zivilrechtskodifikation in Japan in der Meiji-Zeit

131

Carlos Petit, Huelva: Detrimentum Rei Publicae. Die spanische „Verfassung" in Guinea

147

Andere Beiträge Klaus Oschema, Dresden: Der Europa-Begriff im Hoch- und Spätmittelalter. Zwischen geographischem Weltbild und kultureller Konnotation

191

Peter Burke, Cambridge: Gutenberg bewältigen. Die Informationsexplosion im friihneuzeitlichen Europa

237

Malgorzata Morawiec, Mainz: Antemurale christianitatis. Polen als Vormauer des christlichen Europa

249

VI

Jahrbuch fiir Europäische Geschichte 2 (2001)

Europa-Institute und Europa-Projekte Concha Roldän, Madrid: Leibniz und die Europaidee

Auswahlbibliographie Matthias Schnettger/Martin Vogt, Mainz: Europa-Schrifttum 2000 (mit Nachträgen)

Autorenverzeichnis

SCHWERPUNKTTHEMA Europäisches Recht in Übersee

Hatte sich das Schwerpunktthema des Pilotbandes des neuen Periodikums im Moment des Übergangs vom einen zum anderen Jahrhundert im Sinn eines kritischen und bilanzierenden Rückblicks gewissermaßen von selbst aufgedrängt, so bedarf das Schwerpunktthema des zweiten Bandes eines Wortes der Erläuterung. Noch vor zwanzig Jahren hatte in einem einschlägigen Band der „Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit" („Europäisierung der Erde?") das Moment des Transfers europäischen Rechts nach Übersee überhaupt keine Rolle gespielt. Seitdem ist jedoch in der historischen und dogmatischen Rechtswissenschaft das Interesse an diesen Rezeptionsprozessen sprunghaft gewachsen. Und Fragestellungen dieser Art - des Rechtsvergleichs, des „Exports", der Adaption und Modifizierung von Recht - gewinnen auch für den an Prozessen der Interkulturalität interessierten Historiker an Bedeutung; nicht zufällig haben sich sowohl auf dem letzten Deutschen Historikertag in Aachen (Sektion Wienfort/Haupt) als auch auf dem Internationalen Historikertag in Oslo (Sektionen Herbaut bzw. Emsley/Levy/Rousseaux) Historiker mit einschlägigen Themen beschäftigt. Das Jahrbuch für Europäische Geschichte, ohnehin interdisziplinären Ansätzen verpflichtet, greift somit ein Thema auf, das zwar vielleicht noch nicht im main stream der Forschung, aber auch nicht gar so weit von ihm entfernt ist. Der methodische Ansatz, der dem Schwerpunktthema dieses Bandes zugrunde gelegt wurde - je einen Autor europäischer und nichteuropäischer Provenienz über einen und denselben Gegenstand nachdenken zu lassen - , hat sich in einem erfreulichen Maß umsetzen lassen. Für Japan und das niederländische Kolonialimperium konnte das Prinzip der unterschiedlichen Perspektivierung voll zum Tragen gebracht werden. Zusammen mit dem Spanien-Beitrag wird damit ein großer geographischer Raum und eine weite Zeitspanne beleuchtet. Bei einem im Umfang beschränkten Jahrbuch konnte es ohnehin nicht um eine flächendeckende Aufarbeitung der Thematik gehen, sondern nur um einzelne Fallbeispiele, die einerseits etwas von der langen und tiefen Wirkkraft des Europäischen, andererseits etwas von der Spannung zwischen Erbe und wachsender Distanz jenseits der Meere gegenüber europäischen geistigen Importen spiegeln.

Der Transfer niederländischen Rechts nach Ost- und Westindien Von

J. Th. de Smidt Einleitung I. Nicht allein die Untersuchungen über die hohe Gerichtsbarkeit in Übersee und diejenigen über die Rechtsprechung der kolonialen Richter - soweit sie sich erhalten hat - stecken noch in den Anfängen1, sondern auch die Hauptfrage, welche rechtlichen Einrichtungen und Rechtssysteme in die Kolonien übertragen wurden und wie sie sich dort in einem ganz anderen Klima im 17. und 18. Jahrhundert entwickelt haben, ist allenfalls beiläufig gestellt und behandelt worden. Der Transfer von Recht geschieht über Gesetze, juristische Bücher, vor allem aber durch Menschen, Juristen und Nichtjuristen, die die Rechtsregeln und die Rechtspraxis lebendig werden lassen und ihr Wissen auf andere übertragen. Über das Notariat in dem Oktroi-Gebiet der Westindischen Kompanie (WIC) wurde bereits 1964 von J. A. Schiltkamp ein Standardwerk geschrieben, aber es fehlt eine entsprechende Studie für das Gebiet der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC)2. Vergleichende Studien über Advokaten, Fiskale und Waisenkammern in den Oktroi-Gebieten der VOC und WIC sind noch nicht vorgelegt worden. Eine seltene, gleichwohl hochkarätige Ausnahme ist ein Artikel über die Entwicklung des niederländischen Intestaterbrechts in den Kolonien, der 1930 in der Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis erschien3. Die Gesetze, Bekanntmachungen und Verordnungen, die in den Gebieten der VOC und WIC Gültigkeit hatten, müssen in den Sammlungen des 20. Jahrhunderts benutzt werden4. Sammlungen der Bekanntmachungen 1 J. Th. DE SMIDT, Die Hohe Gerichtsbarkeit in Übersee. Ein Forschungsprojekt, in: Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp, Weimar [u. a.] 1994, S. 221-236, hier: S. 236. 2 Jacob A. SCHILTKAMP, De geschiedenis van het notariaat in het octrooigebied van de West-Indische Compagnie, 's-Gravenhage 1964. 3 M. H. VAN DER VALK, Nederlandsch intestaaterfrecht buiten Europa, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 10 (1930), S. 412-464. 4 Nederlandsch-Indisch Plakaatboek. 1602-1811, hrsg. von Jacobus Anne van der Chijs, 17 Teile, Batavia 1885-1900 (zitiert: NIP); Ceylon: Ceylonees Plakkaatboek. Plakkaten en andere wetten uitgevaardigd door het Nederlandse bestuur op Ceylon, 1638-1796, hrsg. von L. Hovy, 2 Teile, Hilversum 1991 (zitiert: HOVY, Ceylon); Kaapse Plakaatboek 1652-

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 2 (2001)

mit den Gesetzen, die an der Küste von Guinea, in Brasilien, Berbice, Demarary und Essequibo in Neu-Niederlande galten, sind in Vorbereitung. Die alte Rechtspraxis ist noch großenteils terra incognita und kaum systematisch aufgearbeitet5. Der Transfer von Rechtskultur erfolgte auch durch Bücher und Ausbildung. Die Direktoren der VOC und der WIC schickten juristische Literatur für den Bedarf der kolonialen Verwaltung und der Rechtspflege nach Übersee; die Raden van Justitie in den Kolonien bauten juristische Bibliotheken auf, aber es entstanden dort auch überraschend schnell umfangreiche Privatbibliotheken, in denen juristische Werke nicht fehlten. J. van Kan, Schiltkamp und G. Visagie waren auf diesem Forschungsgebiet Vorreiter6. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen vom Kap der Guten Hoffnung ungefähr 25 Südafrikaner zum Rechtsstudium nach Leiden7. Aber als sich 1787 ein Rechtsberater am Kap auf die Rechtspraxis berief, wie sie am Gerichtshof der Provinz Holland üblich sei, antwortete sein Kollege ironisch, „dass er das zu schnell sage, da er nie in Holland gearbeitet habe"8. Aber von wem und wie wurden all die Rechtsberater geschult, die nicht in den Niederlanden gewesen waren? Der folgende Überblick geht von ausgewählten Kapiteln aus und ist insofern auch unvollständig und kaleidoskopisch; das heißt, er gibt den Stand der Forschung gut wieder. II. Das 17. Jahrhundert, das Goldene Zeitalter der Republik der Vereinigten Niederlande, war auch ein Jahrhundert der Expansion und Kolonisation. Der 1568 begonnene Freiheitskampf gegen Spanien sollte erst mit dem Frieden 1806 (Kaapse Argiefstukke), hrsg. von M. K. Jeffreys (Bde. 1-2) und S. D. Naudé (Bde. 3 6), Pretoria 1944-1951; Resolusies van die Politieke Raad 1651-1743, hrsg. von A. J. Böeseken und G. C. de Wet, 10 Teile, Pretoria 1957-1984 (zitiert: BÖESEKEN, Resolusies); West Indisch Plakaatboek, hrsg. von Jacobus T. de Smidt, 2 Bde., Amsterdam 1973-1978 (zitiert: WIP Suriname); Plakaten, ordonnantiën en andere wetten, uitgevaardigd in Suriname 1667-1816, hrsg. von dems., 2 Teile, Amsterdam 1973; Publikaties en andere wetten alsmede de oudste resoluties betrekking hebbende op Curaçao, Aruba, Bonaire 1638-1816, 2 Teile, Amsterdam 1978 (WIP Curaçao); Publikaties en andere wetten betrekking hebbende op St. Maarten, St. Eustatius, Saba 1648/81-1816, hrsg. von dems., Amsterdam 1979. 5 Curaçao Papers 1640-1665 (New Netherland Documents XVII), hrsg. von Charles T. Gehring und Jacob A. Schiltkamp, New York 1987; Council Minutes, 1638-1649, übers, von Arnold J. F. van Laer, Baltimore 1974. Viele Übersetzungen früherer Dokumente (Urteile, Gesetze und Verordnungen) haben im 19. und frühen 20. Jahrhundert vorgelegt E. B. O'Callaghan, H. B. Dawson, B. Femow, A. J. F. van Laer u. a. Vgl. die Bibliographie in: Isaak Newton Phelps STOKES, The Iconography of Manhattan Island, New York 19151928, in: SCHILTKAMP, De geschiedenis (Anm. 2). A. J. BÖESEKEN, Uit die Raad van Justisie, 1652-1672, Pretoria 1986; G. G. VISAGIE [u. a.], Die Kaapse regspraak-projek [...]. Hofstukke en uitsprake wat betrekking het op siviele sake, 1806-1827, [Kaapstad] 1992. 6 Old Law Books from the libraries of the ,Raad van Justitie' (High Court) and J. N. van Dessin (South African Library), hrsg. von J. Th. de Smidt, Leiden 1994, S. 7-13. 7 G. G. VISAGIE, Regspleging en reg aan die Kaap van 1652 tot 1806, Kaapstad [u. a.] 1969, S. 70. 8 Kaapstad, Staatsargief, CJ 1148 (1787).

De Srnidt, Der Transfer niederländischen Rechts

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von Münster 1648 beendet werden. Beinahe achtzig Jahre lang war Spanien der Feind. Nachdem Portugal 1581 Spanien eingegliedert worden war, machten auch die Portugiesen einen Teil des feindlichen Lagers aus. Nach der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus waren 1493 durch den Papst die spanischen und portugiesischen Einfluss-Sphären voneinander abgegrenzt worden: alles Land und Meer westlich des 45. Längengrads sollte durch Spanien christianisiert werden, während Portugal diese Aufgabe östlich der genannten Linie zufiel. Die Holländer erkannten weder die Autorität des Papstes an noch die päpstliche Aufteilung der Meere. Nach ihrer Auffassung war das Meer frei, was sich auch ganz gut mit ihren Interessen deckte. Als die Holländer 1603 in der Straße von Malakka ein reich beladenes portugiesisches Schiff in ihre Gewalt brachten, schrieb Hugo Grotius auf Ersuchen der VOC eine Verteidigungsschrift, die einmündete in sein berühmtes Mare liberum sive de iure quod Batavis competit ad indicana commercia dissertatio von 1609. Die Holländer folgten den durch die Portugiesen erkundeten Wegen um Afrika herum nach Osten. Im 16. Jahrhundert hatten die Portugiesen die Molukken entdeckt, wo schon seit Jahrhunderten die Gewürznelke und Muskatnuss angebaut und exportiert wurden. Ziel der Holländer war es, diese Inseln zu erobern und den Gewürzhandel zu monopolisieren. Man konzentrierte seine Kräfte in der VOC, der ersten Aktiengesellschaft, einer Monopolgesellschaft, die sich zu einem Staat innerhalb der Republik auswachsen sollte, einer multinationalen Gesellschaft avant la lettre. Die VOC begann schon früh im 17. Jahrhundert mit der Gründung von Handelsposten und je einer einzelnen Niederlassung auf Java, Ambon und Ceylon und 1652 am Kap der Guten Hoffnung. Der spanische König zahlte den teuren Krieg unter anderem mit dem Silber, das in Südamerika gefördert wurde. Es war eine militärische Taktik der Holländer, den Silberfluss zu stören und womöglich eine Silberflotte aufzubringen. Auch die Neue Welt glich einem noch nicht urbar gemachten Gebiet mit ungeahnten Möglichkeiten zum Entdecken und Kolonisieren. Die WIC sollte die Zielvorstellungen realisieren. Anders als die Spanier und Portugiesen, die meinten, eine christliche Sendung verfolgen zu müssen, waren die VOC und die WIC kapitalistische Unternehmen, die so viel Geld wie möglich für ihre Anteilseigner verdienen mussten. Da war nicht die Rede davon, ein großes Reich in Übersee, ein Imperium gründen zu wollen - das würde schließlich nur Geld kosten. Die WIC ließ sich an der Küste von Afrika, Brasilien, der Nordküste von Südamerika, in der Karibik und in Neu-Niederlande9 nieder. Die Republik der Vereinigten Niederlande war ein Staatenbund: sieben Provinzen, von denen jede eine eigene Regierung, eigene Rechte und eigene 9

Jurrien VAN GOOR, De Nederlandse Kolonien. Geschiedenis van de Nederlandse expansie. 1600-1975, 's-Gravenhage 1994, S. 367-380: Bibliographie!

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Rechtsprechung hatte. Der Höge Raad war lediglich in den Provinzen Holland und Seeland das höchste Spruchkollegium. Welches der sieben Rechtssysteme galt in Übersee? Wenn ein holländischer Schiffskapitän, ein seeländischer Steuermann und ein Geldernscher Kaufmann auf der Reise in den fernen Osten während ihres Aufenthalts in Batavia starben, dann fiel ihr Nachlass unter holländisches, seeländisches oder Geldemsches Erbrecht. Wenn aber der Holländer, der Seeländer oder der Mann aus Geldern emigrierte, seinen Wohnort verließ und in Neu-Niederlande heiratete, Kinder bekam und starb, dann galt das Territorialprinzip, und es kam das dortige Erbrecht zur Anwendung. Solange die Kolonie ein Handelsposten, eine Faktorei war, galt für jeden das Personalitätsprinzip. War die Kolonie eine Niederlassung, ein „settlement", dann galt für die „Passanten" das Personalitätsprinzip und für die Siedler das Territorialprinzip. Aber wann ist der animus revertendi wirklich verschwunden, wann hat man sein Domizil in Übersee wirklich gegründet? Erst ab diesem Moment ist es angebracht, vom Transfer niederländischen Rechts nach Ost- und Westindien zu sprechen. III. Beim Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert wurden die Karten neu gemischt. Napoleon brachte Europa nicht nur Krieg, sondern auch die Kodifikation des Rechts. Die Republik der Vereinigten Niederlande wurde zum Königreich der Niederlande mit einer Regierung, einem einheitlichen Recht und einem höchsten Gerichtshof für den ganzen Staat. Wurde die Kodifikation auch in den Kolonien implantiert, die nach den napoleonischen Kriegen noch zum Königreich gehörten? Und was geschah in den Kolonien, die englisch geworden waren, in Ceylon, der Kapprovinz, Berbice, Demarary und Essequibo? Entschieden sich die selbständig gewordenen vormaligen Kolonien für den definitiven Bruch mit dem Recht des Mutterlands und suchten sie ihr Heil bei der anglo-amerikanischen Rechtsfamilie? Diese drei Perioden - Expansion und Kolonisation (17. Jahrhundert bis ca. 1800), Kodifikation (ca. 1800 bis 1945) und Dekolonisation (1945 bis heute) - bilden die drei Abschnitte des folgenden Beitrags über die Rolle des niederländischen Rechts in Übersee.

I. Expansion und Kolonisation VOC und WIC. Im 15. Jahrhundert gab es einen lebhaften Kontakt zwischen den Niederlanden und den Hansestädten; wenn da wieder einmal Schwierigkeiten mit dem Sund entstanden, scheuten die Holländer sich nicht, militärischen Beistand zu leisten. Nur vereinzelt wagte sich ein Holländer im 16. Jahrhundert aus den europäischen Gewässern heraus. Am Ende des Jahrhunderts aber gab es dann eine wahre Explosion der Schiff-Fahrt. Nicht allein

De Smidt, Der Transfer niederländischen Rechts

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der Handel auf der Ostsee verdoppelte sich, auch die Seewege nach Afrika, Indien, Asien und Amerika wurden im Laufe einer einzigen Generation bekannt und vertraut. Die Eroberung der Metropole Antwerpen durch die Spanien 1585 hatte einen Exodus von Kapital und Know-how zur Folge. Viele zogen nach Norden, nach Holland und Seeland; Männer wie Willem Usselinx und Balthazar de Moucheron waren Motoren dieser raschen Expansion. Die erfolgreichsten Fahrten, die durch selbständige Handelsleute durchgeführt wurden, mündeten 1602, vielleicht auf den Spuren der englischen Ostindienkompanie, in die Errichtung der VOC, einer Fusion von sechs kleinen Handelsgesellschaften. Es waren die Generalstaaten der Republik, die für 21 Jahre die Konzession verliehen, unter Ausschluss eines jeden anderen nach Afrika und Asien zu fahren. Diese Konzession wurde regelmäßig verlängert bis 1796, als die Besitzungen und Verpflichtungen der VOC durch den Staat - den 1795 unter dem Einfluss Frankreichs gebildeten Einheitsstaat der Batavischen Republik - übernommen wurden. Das erste Oktroi von 1602 zählt 46 Artikel, von denen die meisten sich darauf bezogen, auf welche Weise fünf holländische Städte und die Provinz Seeland den Vorstand, die Heren XVII, wählen sollten. Art. 34 ist der Monopol-Artikel, der bestimmt, dass nur Schiffe der VOC östlich des Kap der Guten Hoffnung fahren dürfen. Art. 35 besagt, dass die VOC im Namen der Generalstaaten Verträge mit fremden Fürsten schließen, militärische Operationen zu Land und zu Wasser ausführen, Forts und Niederlassungen gründen darf, um dort für gute Polizei und Justiz zu sorgen, dies alles zur Beförderung des Handels. Erst durch das Oktroi vom 3. Juli 1621 wurden die Aktivitäten hinsichtlich Nord- und Südamerikas sowie der Westküste von Afrika in der WIC gebündelt. Die WIC besaß dieselben Befugnisse wie die VOC; ihr Vorstand wurde durch die Heren XIX gebildet. Unter den Auspizien der WIC wurde 1628 eine spanische Silberflotte aufgebracht und 1635 das portugiesische Brasilien durch eine enorme Flotte und Kriegsmacht erobert. Nach dem Friedensschluss mit Spanien 1648 war aber Schluss mit solch spektakulären Militäroperationen. 1674 wurden die Heren XIX durch die Heren X ersetzt. Fortan muss man von der alten und der neuen WIC sprechen. Die neue WIC blieb bis Ende 1791 bestehen. Die finanziellen Möglichkeiten waren dann aber erschöpft, und eine Verlängerung des Oktroi erfolgte dementsprechend auch nicht mehr. Die Generalstaaten bestimmten, dass vorläufig alle Funktionäre im Amt und alle Regelungen bestehen bleiben sollten. 1795 gingen auch alle westindischen Besitzungen an die Batavische Republik über. Expansion. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ließen sich die Holländer auf den Gewürzinseln der Molukken, auf Java (1609), in Thailand (1613), Formosa (1630), Deshima und Ceylon/Sri Lanka (1638), an der Küste von Indien, der Koromandelküste, und in Malakka (1641) nieder. Das Jahr 1652 wird als Jahr der Ansiedlung am Kap der Guten Hoffnung angese-

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hen. Genau genommen lag das Kap außerhalb des Territoriums der VOC; 1657 hat die VOC „t'Landt van de Caep" annektiert. Im Oktroi-Gebiet der WIC waren es Seeländer, die sich in Berbice (Guyana) und auf Tobago (1629) niederließen. Holländer gründeten Neu-Amsterdam auf der Insel Manhattan (1625) und siedelten sich auf Curaçao (1634), an der Küste von Afrika, der Goldküste (1624/41) und in Brasilien (1635) an. Surinam wurde während des 2. Seekriegs mit England 1667 durch Seeländer von den Engländern erobert. Im Friedensvertrag blieb Surinam niederländisch, während Neu-Niederlande englisch wurde10. Portugiesische Forts auf den Molukken, an der Küste Afrikas und Südamerikas wurden erobert. Vornehmlich jedoch verhandelten die Holländer friedlich mit den lokalen Fürsten. Die Holländer wollten Geld verdienen. Die örtlichen Potentaten hatten nicht allein ein finanzielles Interesse an der Vergabe von Konzessionen an die Holländer zum Faktorieren und zum Bauen von Unterkünften und Forts. Vielmehr versuchten sie auch, die Holländer und deren Kanonen für ihre interne Politik und für ihre eigenen militärischen Ambitionen zu benutzen. Wenn das Handelsinteresse dies forderte, zögerten die Holländer nicht, Verträge abzuschließen, durch die Kompanie und Fürst einander Hilfe und Beistand versprachen. Sie taten dies in Indien und Asien und auch in Afrika. So wurden an der Küste von Guinea an die 200 Verträge mit Fürsten oder Kriegsherren geschlossen, durch die sowohl die Politik als auch der Gold-, Sklaven- und Elfenbeinhandel im beiderseitigen Interesse geregelt wurde. Die Konkurrenz zwischen Niederländern, Portugiesen, Engländern, Franzosen, Schweden und Brandenburgern war dort groß - eine Situation, von der Stammeshäuptlinge dankbar Gebrauch machten". Beim Handel auf Japan waren es die Japaner, die die Bedingungen festlegten, unter denen über die isolierte Insel Deshima bei Nagasaki Handel getrieben werden konnte. Die Insel Manhattan, auf der sich die Stadt Neu-Amsterdam entwickelte, wurde von den Indianern gekauft. Die Holländer wollten auf eine in ihren Augen korrekte Weise das Grundeigentum erwerben. Dass die Verkäufer nicht begriffen haben, was diese juridischen Eigentumsübertragungen beinhalteten, ändert nichts an den friedlichen Absichten der Kolonisten. Nicht immer blieben die Verhältnisse aber gut. Racheaktionen und Strafexpeditionen kamen zu allen Zeiten und in allen Kolonien vor. Auf kurz oder lang haben die Holländer gewisse Niederlassungen wie Formosa und

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A. J. M. KUNST, Recht, commercie en kolonialisme in West-Indië vanaf de 16e tot in de 19e eeuw, Zutphen 1981. 11 Corpus Diplomaticum Neerlando-Indicum. Verzameling van politieke contracten en verdere verdragen door de Nederlanders in het Oosten gesloten, van privilegebrieven, aan hen ver leend enz, hrsg. von I. E. Heeres und F. W. Stapel (1596-1799, 1198 nrs), 6 Bde., 's-Gravenhage 1907-1955. Die Herausgabe von ca. 200 Verträgen usw., die Goldküste (Guinea) betreffend, befindet sich in Vorbereitung.

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Brasilien wieder abtreten müssen, was nicht immer hieß, dass auch der Handel abstarb. Aber die Ereignisse sowie die Entwicklung des Handels mit Gewürzen, Textilien, Porzellan, Zucker, Kaffee, Tee, Tabak, Biber- und Hirschfellen, Gold, Elfenbein und Sklaven zählten gemeinsam zur ökonomischen, militärischen und politischen Kolonialgeschichte, über die schon sehr viel geschrieben wurde. Übrigens spricht man heute nicht mehr von Kolonialgeschichte, sondern von der Geschichte der niederländischen Expansion. Kolonisation. Die Republik zählte kaum zwei Millionen Einwohner. Von einem Bevölkerungsüberschuss, einem demographischen Grund zum Auswandern, konnte keine Rede sein. Der schnell wachsende Wohlstand und vor allem die Seefahrt bedurften vieler Kräfte. Besonders in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zogen sehr viele junge Männer aus deutschen Territorien nach Amsterdam, um im Dienst der VOC oder der WIC ihr Glück zu machen. Wie gesagt, wollten die Kompanien Handelsposten gründen, kein Imperium aufbauen. Von den Portugiesen hatte man jedoch sehr wohl gelernt, dass Niederlassungen ein Hinterland benötigten, aus dem in vieler Hinsicht Profit gezogen werden konnte. Wie die römischen Legionäre nach Ablauf ihrer Dienstzeit als colonus auf dem ihnen zur Nutzung überlassenen Land Wurzeln schlugen, so konnten die Kompaniebeamten nach Ende ihres Dienstes als vrije burger mit ihrer Familie auf dem ihnen überlassenen Grund und Boden bleiben. Auch kam es vor, dass einzelne Emigranten bei der Kompanie anfragten mit der Absicht, als vrije lujden Grund und Boden zu nutzen. Und dann gab es noch den risikobereiten Geschäftsmann, der viel Kraft und Geld in die neue Kolonie investieren wollte. Die WIC schloss einen Vertrag mit dem Unternehmer, dem Patron, womit die „Patronschaft" geboren wurde. Patronschaften und kolonialer Besitz. Soweit bekannt, kamen die Patronschaften nur im Oktroi-Gebiet der WIC vor. Es ist nicht auszuschließen, dass der letter of patent für die Kolonisation North Virginias, 1620 vom englischen König Jakob I. verliehen, als Vorbild gedient hat. „The tenure [...] [was] propounded to be held of the Crown by the sword". 1627 belehnte König Karl I. den Earl of Carlisle mit den Inseln über den Winden in der Karibik. Zur Nutzung des Dominiums (dominium utile) musste der Earl als lord proprietor eine jährliche Rente von £ 100 bezahlen „and a white horse when the King [...] comes into those parts"12. Das älteste niederländische Beispiel einer niederländischen Patronschaft stammt aus dem Jahr 1627. Der seeländische Handelsmann Abraham van Pere schloss einen Vertrag mit der seeländischen Kammer der WIC, um mit 60 Kolonisten Land urbar zu ma-

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G. J. VAN GROL, De grondpolitiek in het West-Indisch domein der Generaliteit, 3 Bde., 's-Gravenhage 1934-1947, hier: Bd. 2, S. 257.

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chen, Plantagen anzulegen und Bodenschätze zu suchen. In der sog. Seeländischen Charta von 1628 für Brasilien wurde festgelegt (Art. 6), dass Land, Küsten und Bodenschätze an den Patron vergeben wurden als ein ewiges Erblehen mit mittlerer und niederer Gerichtsbarkeit. In den folgenden Artikeln wurde den Patronen zugestanden, über die „Lehngiiter" testamentarisch verfügen zu können. Die Amsterdamer Charta von 1629 für die Kolonisation von Neu-Niederlande kannte dieselbe lehnsrechtliche Bestimmung, während in den Conditien von 1648 für Brasilien festgelegt wurde, dass die Lehnsinhaber nach dem Ablegen des Treueids „als Vasallen angesehen und angenommen werden" 13 . Wiewohl man 1581 dem König abgeschworen hatte, war das Lehnsrecht in der Republik nicht gänzlich abgeschafft. Die Staaten der Provinzen traten als Lehnsherren auf und setzten die Lehnsrechtspflege, das Lehnserbrecht und die Lehnskammern für die Registratur der Lehenserneuerungen fort. Bezüglich der Kolonien fungierten die Generalstaaten als Souverän und die W I C als Lehnsmann, die ihrerseits als Lehnsherr gegenüber dem Patron auftrat, der als ein Unterlehnsmann anzusehen ist. Die Patrone hatten, genau wie die Amtmänner im Mutterland, wohl die Befugnis, Funktionsträger zu ernennen und Rechtspflege auszuüben, aber sie konnten keine eigenen Verordnungen erlassen. Auch sie waren gebunden an die „Freiheiten und Exemtien", die im Mutterland erlassen worden waren, und an die Regelungen des Direktors oder Gouverneurs und des Rates in den Kolonien. Die Formulierungen in den Kolonisations-Chartas bezüglich der Ausgabe von Boden unterschieden sich. In allen Fällen musste gelegentlich oder regelmäßig eine recognitie an die W I C bezahlt werden als Anerkennung des dominium eminens. Das dominium utile wurde einmal als Besitz verstanden, einmal als Eigentum, sogar als Allodial-Eigentum. Die Autoren, die über das Grundeigentum in Westindien gearbeitet haben, van Groll und Quintus Bosz, sprechen von kolonialem oder „westindischem" Eigentum. Charakteristiken dieses Eigentums sui generis sind die Verpflichtung, den Boden zu bebauen und recognitien in bar (Steuern usw.) oder in Naturalien (Zehnt, Frondienst) zu bezahlen14. Nach 1674 wurden durch die Neue W I C keine neuen Patronschaften mehr ins Leben gerufen, während die Kompanie ihren Zugriff auf die Pflanzer verstärkte, indem sie direkt eingriff, wenn der Pflanzer seinen Verbindlichkeiten nicht nachkam. Sobald die Patronschaft endete, fiel das „Eigentum" wieder zurück an die W I C bzw. die Generalstaaten. Übrigens sind die sog. „surinamische Erbpacht" sowie das „allodiale Eigentum und der erbliche Besitz" bis heute in Surinam bestehende Rechtsfiguren, die im Bürgerlichen Gesetzbuch dieses Staates nicht zu finden sind.

Ebd., S. 276. Aksel Johann Albrecht QUINTUS Bosz, Drie eeuwen grondpolitiek in Suriname. Een historische Studie van de achtergrond en de ontwikkeling van de Surinaamse rechten op de grond, Assen 1954. 13

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De Smidt, Der Transfer niederländischen Rechts

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Es ist merkwürdig, dass in den juristischen Werken des 17. und 18. Jahrhunderts nirgends - auch nicht in dem Standardwerk Uber das holländische Lehnsrecht von Pieter Bort (t 1674) - über diese Patronschaften gesprochen wird. Lediglich van Zurck erwähnt sie beiläufig in seinem Codex Batavus (1738) unter dem Stichwort „Leenen". Am Kap kannte man das sogenannte Lehnseigentum. Boden wurde ausgegeben mit der Verpflichtung, ihn zu bestellen gegen Entrichtung von recognitien. Der Inhaber konnte testamentarisch darüber verfügen oder den Boden zu Lebzeiten verkaufen und übertragen. Aber was bedeutet hier der Terminus „Lehen"? Lehen bezeichnet nicht allein beneficium, eine erbliche Nutznießung als Teil des ius feudi, sondern auch ein commodatum, d. h. ein Darlehen, und ein mutuum, d. h. etwas Geliehenes. Grotius nennt in seiner Inleidinge (III.9.2) „Leen" ein facettenreiches Wort: ein Wort mit vielfacher rechtlicher Bedeutung. Von einer direkten Anwendung des holländischen Lehnsrechts in Südafrika ist laut Visagie, der diese Möglichkeit untersucht hat, nicht die Rede gewesen. Vielleicht war das „Lehnseigentum" ein Zwitter, eine Form der römisch-rechtlichen emphyteusis mit einer Prise Lehnsrecht, während auch an ein aus der Art geschlagenes commodatum gedacht werden kann. Aus den Prozessakten in einer Eigentumsangelegenheit geht hervor, dass 1789 noch große Unsicherheit über die rechtliche Bedeutung von „Lehnsgut" bestand. 1797 wurde in einem Prozess über ein „Lehnsgut" festgestellt, dass es nicht möglich sei, die Sache zu entscheiden „gemäß den Rechten und Gewohnheiten dieser Lande". 1798 folgte in diesem Fall ein Ortstermin, aber eine definitive Entscheidung habe ich nicht gefunden 15 . Neben dem Lehnseigentum und der Erbpacht für einen Zeitraum von fünfzehn Jahren, die 1732 eingeführt wurde, hatte man 1657 neun freien Bürgern Landparzellen am Kap der Guten Hoffnung als „ewig und erblich" zuerkannt, und zwar aufgrund von Urkunden, die jedem Einzelnen „nach indischer Manier" ausgehändigt wurden. Das betraf zwei Agrarbetriebe, in denen vornehmlich Getreide, aber auch Tabak angebaut wurde. Unter anderem wurde bestimmt, dass die Begünstigten als freie Leute den „ordentlichen bürgerlichen Gesetzen und Rechten unterworfen seien, wie sie nach vaterländischer und indischer Art in Gebrauch" waren16. Es ist gut möglich, dass hierbei an die Batavischen Statuten von 1642 gedacht worden ist, die van Riebeck kannte aus der Zeit, als er dort tätig war. In der Rechtspraxis am Kap wurden von Anfang an die Batavischen Statuten von 1642 und später die von 1766 angewandt. Auch in Niederländisch-Indien wollte man schon im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts Boden in der Umgebung von Batavia urbar machen. Unter dem

15 Kaapstad, Staatsargief C J 883, 2175; G . G . Visagie, Die leenreg in Holland, Kaapstad [u. a.] 1974, S. 165; DERS., Regspleging (Anm. 7), S. 81. 16 BÖESEKEN, Resolusies (Anm. 4), Bd. 1, S. 93 zum Beschluss vom 21. Februar 1657.

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„Rechtstitel und der Form von Lehen" war Boden unter der Bedingung der Zahlung entsprechender Abgaben an Bürger ausgegeben worden. Bereits 1627 hatte sich erwiesen, dass dieser „grünen Politik" der Erfolg versagt blieb, woraufhin bestimmt wurde, dass der ausgegebene Grund und Boden fortan „frei eigenes patrimoniales und Allodial-Land" sein solle17. Die Statuten von 1642 legten fest, dass die Übertragung dieses Grundes und Bodens vor Gericht - in Batavia vor Schöffen - unter Entrichtung einer Steuer von 10 Prozent des Wertes, die 1645 auf den 20. Pfennig (= 5 Prozent) gestellt wurde, geschehen musste18. Im Jahr 1706 jedoch schlugen die Deichschöffen vor, leenbrieven einzeln zu registrieren, um zu verhindern, dass nach dem Tod des Nutznießers jemand das Land „zu eigen bekomme". Die Einzelregistrierung sei nicht notwendig, meinte dagegen die Regierung, denn nach dem Tod fielen die Lande an die Kompanie zurück. Übrigens war in Batavia noch 1752 die Rede von „erblichen Lehen"19. Das Kap wurde somit von Batavia beeinflusst, aber es ist eine noch unbeantwortete Frage, wie dieser Transfer des römisch-holländisch-batavischen Rechts zum Kap genau vor sich ging. Politie ende Justitie. „Politie" bezeichnet die Berechtigung, zu regieren und Verordnungen zu erlassen. .Justitie" ist die Befugnis, Recht zu sprechen. In den Oktrois für die VOC und die WIC wurde nicht angegeben, wie Regierung und Rechtsprechung in den zu erobernden neuen Niederlassungen eingerichtet werden sollten. Aber es lag auf der Hand, dass die Holländer und Seeländer die vertrauten heimischen Einrichtungen - Magistrate, Amtmann, Schulze, Schöffen, Waisenkammer und Deichschöffen - auch in den Kolonien einführten. Kraft seiner Instruktion von 1609 setzte der erste Generalgouverneur in Ostindien, Pieter Both, den Raad van Indie ein, der aus fünf Personen bestand, die auf verschiedenen Inseln siedelten. Der Generalgouverneur reiste von Insel zu Insel, so dass von einer Rundreise-Regierung gesprochen werden kann. J. P. Coen, der als Generalgouverneur im März 1619 die Regierung übernahm, eroberte Jakarta vom Sultan von Bantam. Dieser Hafenplatz wurde unbenannt in Batavia und wurde Sitz der Zentralregierung, der Hooge Regering, die sich aus dem Generalgouverneur und dem Raad van Indie mit seinen nunmehr neun Personen zusammensetzte. Ihre Aufgabe war es, den Gouverneur „in allen Angelegenheiten, sowohl hinsichtlich Handel, Krieg und Regierung, als auch hinsichtlich der Justiz in allen zivilen und Kriminalfällen mit Rat und Tat zu unterstützen"20. Die Räte wurden durch den Gouverneur aus dem Kreis der wichtigsten Beamten ernannt: ein (Ober-)Kauf17

NIP NIP NIP 20 NIP 18

19

(Anm. (Anm. (Anm. (Anm.

4), 4), 4), 4),

1.216. II. 205; III. 385. III. 574; VI. 177. I. 28: Instructie 1617, ait. 3.

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mann, ein Vize-Admiral, ein hoher Militär und jemand, der erfahren war in Verwaltungs- und Rechtsangelegenheiten; dieser vierte Ratsherr trat auch als Fiskal auf. Die übrigen fünf Räte waren die Oberverwalter der „Außenprovinzen". Defacto bestand der geschäftsführende Vorstand in Batavia also aus dem Generalgouverneur und vier Räten. Vor allem anfangs hatte man mit einem Mangel an Fachkräften zu kämpfen und mit der Tatsache, dass ein guter Kaufmann oder Militär nicht eo ipso eine gute Verwaltungskraft sein musste. Darüber hinaus mangelte es auch oft an der Zeit und der Lust, Verwaltungsarbeit leisten zu wollen. Seiner Instruktion von 1617 zufolge sollte der Generalgouverneur von Indien, J. P. Coen, die Vorschriften des Artikelbriefs, der Instruktion und anderer Anordnungen beachten. Weitere Regelungen wurden hinzugefügt in den Instruktionen für den Gouverneur, den Direktor oder Kommandeur, die mit der Leitung größerer oder kleinerer Niederlassungen oder Posten betraut wurden, und für die vielen Beamten vom Buchhalter bis zum Magazinmeister, dem Fiskal, Sekretär oder Notar. Neben diesen in der Republik erstellten Vorschriften gab es dann noch die vielen tausend Bekanntmachungen, Anordnungen und Verordnungen, die sowohl durch die Hooge Regering in Batavia als auch durch die spezialisierten Gremien in Ost und West im 17. und 18. Jahrhundert erlassen werden sollten. Für Westindien wurde 1629 hinsichtlich Handel sowie Politie ende Justitie in 69 Artikeln eine allgemeine Regelung für alle mit Gottes Hilfe zu erobernden Gebiete verfügt21. Ein Rat von neun Personen sollte in Verwaltung, Gesetzgebung, Finanzen und Rechtsprechung die höchste Autorität bilden. Neben dieser für alle westindischen Gebiete geltenden „Regierungsorder" gab es Instruktionen für bestimmte Regionen, so für Brasilien (1636), die Küste von Afrika (1642) und für Surinam (1682). Man könnte vermuten, dass die Uniformität von Verwaltung und Rechtsprechung im Westen größer war als im Osten, wo ein solches allgemeines Gesetz niemals in Kraft war. Die Entwicklung verlief aber anders. Batavia wurde die Spitze einer Verwaltungs- und Rechtspyramide, die sich von Kapstadt in Südafrika bis Deshima in Japan erstreckte. Alle Kontakte und Korrespondenzen der Kolonien mit den Heren XVII im Mutterland liefen über Batavia, wiewohl das Kap der Guten Hoffnung und auch Ceylon ihre eigenen Verbindungen zu den Beamten in der heimischen Republik hatten. Die Kolonien im Westen haben niemals einen Generaldirektor oder einen zentralen Raad van Justitie gekannt. Jede Kolonie besaß ihre eigene Verwaltung und Rechtsprechung und führte ihre eigene Korrespondenz mit den Heren XIX (X). Einer der Gründe für

21 Jacob A. SCHILTKAMP, Bestuur en rechtspraak in de Nederlandse Antillen ten tijde van de West-Indische Compagnie, in: 100 jaar codificatie in de Nederlandse Antillen, Amhem 1969, S. 117-183.

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diese unterschiedliche Entwicklung war ein ganz praktischer: Der erste Hafen auf der Route nach Ostindien war Kapstadt, der zweite war Batavia. Von Batavia fuhr man weiter zu den Molukken, nach Indien, China oder Japan. Jede Rückfahrt ins Mutterland lief ebenfalls über Batavia und Kapstadt. Die Schiffe, die zu den westindischen Kolonien fuhren, folgten alle einer unterschiedlichen Route: Die ersten Häfen, die man erreichte, waren Elmina, Recife, Paramaribo, Willemstad oder Neu-Amsterdam, bzw. die Hauptplätze der Küste von Guinea, von Brasilien, Surinam, Curaçao und der zugehörigen Inseln und von Neu-Niederlande. Justiz. Für's erste genügten die „Artikelbriefe", in denen die Befugnisse des Schiffsrats geregelt wurden. Unter dem Vorsitz des Höchstrangigen (des Kapitäns oder - im Brede Raad - des Admirais) war der Schiffsrat die oberste Autorität, die auch in criminalibus Recht sprach. Anfangs hatte jede Flotte ihren eigenen Artikelbrief, aber 1634 kam es dann zu einem General-Artikelbrief, einem Standardreglement. Die neuere Version von 1658 zählte nicht weniger als 118 Artikel22. In den ersten Niederlassungen und in den Kontoren verfuhr man ihnen entsprechend, so als ob man auf einem Schiff lebte. Es war das Schiffsrecht der Artikelbriefe, das zum „Landrecht" wurde. Als die Kolonie an Umfang zunahm, wurde eine Arbeitsteilung wünschenswert: Art. 80 der Instruktion von 1617 für J. P. Coen hat festgesetzt, „dass die hohe Regierung entsprechende rechtliche Anordungen und Instruktionen erlassen solle, in dem Umfang, wie man es für notwendig erachtete". So wurde 1620 eine Instruktion erlassen „für die Leute des Gerichts im Kastell [...], das alle einfachen Fälle, seien sie kriminaler oder ziviler Natur, behandeln musste". Dieses Gericht, das, um sein Ansehen zu vermehren, Justizrat genannt wurde, war ein forum privilegatum für die Kompaniebeamten. Für die Einwohner von Batavia, Bürger ebenso wie Fremde, wurde 1620 eine Schöffenbank eingerichtet. Um Ruhe und Ordnung in der Stadt und außerhalb zu handhaben, wurde anders als im Mutterland kein Schulze, sondern ein Amtmann angestellt. Der Amtmann ermittelte, lud vor und klagte an. Bei dem Raad van Justifie war das die Aufgabe des (Advokat-)Fiskals, worauf noch zurückzukommen ist. Die Schöffen waren genau wie im Mutterland auch zuständig für die freiwillige Gerichtsbarkeit und die Übertragung und Belastung von Liegenschaften. Eine Waisenkammer, die die finanziellen Belange minderjähriger Kinder vertrat, wurde 1624 errichtet. Als Vorbild für die Instruktion von 1625 für die batavische Waisenkammer hatte offensichtlich die Amsterdamer Waisenordnung von 1563 gedient. Heirats22

NIP (Anm. 4), I. 309: Artikelbrief 1634; Groot Placaet-Boeck vervattende de Placaten, Ordonnantien ende Edicten van de doorluchtige, hoogh mog. Heeren Staten General der Oreenighde Nederlanden, 10 Bde., 's-Gravenhage 1658-1797, hier: Bd. 2, S. 1278; Bd. 3, S. 1311; Bd. 7, S. 1539: Artikelbrieven 1658, 1672 und 1742.

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angelegenheiten kamen vor die Kommissare für Ehesachen (1641), derweil 1664 ein Kolleg von Deichschöffen angestellt wurde mit der Aufgabe, Grund und Boden zuzuweisen, und mit der Aufsicht Uber Grenzlinien, Land- und Wasserwege sowie die Sicherheit außerhalb der Stadt. Die Kollegien sollten „nach der im Vaterland üblichen Art und Weise" eingerichtet werden23. Batavia wurde das Vorbild für die „Außenprovinzen" Ambon, Banda, Ceylon, Makassar, Malakka und das Kap der Guten Hoffnung: ein Vorbild, das aber nur teilweise beachtet wurde. So finden sich überall wohl die politischen Räte, aber lediglich in Ceylon und am Kap der Guten Hoffnung entstanden Raden van Justifie, wurden Kommissare für Ehesachen (am Kap: „der Methode von Indien folgend") und Waisenkammern eingesetzt (Ceylon: zu regeln „nach batavischer Ordnung"). Nirgends Schöffenbänke, Schulzen oder Amtmänner, wohl aber Landdrost und Deichschöffen (am Kap), während in Ceylon der Anschluss an bestehende Einteilungen und Einrichtungen gesucht wurde wie „Dessave" und Landräte. Die verwaltungsmäßigen und rechtlichen Einrichtungen glichen wie Kinder und Enkel denen im Mutterland. Manchmal war die Ähnlichkeit sehr groß, aber häufig entwickelten sich Kinder auch auf absolut eigene Art und Weise. In Westindien stellen wir die gleiche Entwicklung fest. Neu-Amsterdam ähnelte noch am ehesten Amsterdam. Dorthin kamen 1653 zwei Bürgermeister, ein Schulze und fünf Schöffen, während der Direktor der Kolonie zusammen mit einem Rat von vorläufig neun gewählten Personen die Oberverwaltung ausübte. Die Instruktion für Brasilien von 1693 spricht (Art. 48) von fünf Schöffen oder Verwaltern der zivilen und Kriminaljustiz, die in Städten und Dörfern angestellt werden sollten. Es ist unbekannt, ob jemals eine Schöffenbank in Brasilien in Funktion trat. In Surinam wurde 1691 ein Kolleg von fünf Kommissaren für kleine Delikte eingerichtet; der Begriff „Schöffenbank" war davor niemals in Gebrauch. Dagegen war der Schulze als Spitze der Polizei in Surinam eine bekannte Figur. 1754 wurde eigens eine Instruktion für einen Savane-schout erstellt. Seine Aufgabe war es, darauf zu achten, dass in der Savanne ohne Genehmigung nicht gejagt wurde. Mit der Aufsicht über den sauberen und fahrbaren Zustand der Wasserwege wurden einige Räte betraut, die man 1759 „Deichschöffen" (heemraden) nannte. Waisenkammern wurden in Paramaribo (1717), Essequibo, Demerary, Curaçao und den Inseln über den Winden eingerichtet. Sobald die Niederlassungen an Umfang und Wohlstand zunahmen, scheint auch das juristische Niveau der Rechtspflege gestiegen zu sein. In Batavia begann die Professionalisierung bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahr-

23

Jacobus LA BREE, De rechterlijke organisatie en rechtsbedeling te Batavia in de XVIIe eeuw, Rotterdam/'s-Gravenhage 1951, und Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 20 (1952), S. 371.

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hunderts, in Kapstadt zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Der Raad van Justitie in Batavia war das höchste Spruchkolleg des gesamten VOC-Gebiets. 1717 begegnet uns der erste Berufungsfall aus der Kapkolonie in Batavia; es sollten noch sehr viele folgen. Rechtsanwälte in Batavia haben häufig versucht, wegen eines Urteils in Berufung oder Revision zu gehen beim Souverän, den Generalstaaten der Republik, oder beim Hooge Raad in Den Haag. Im Mutterland war man aber allgemein der Auffassung, dass die Herren in Batavia in der Lage sein sollten, ihre Fälle selbst zu verhandeln. Der Raad van Justitie blieb das Gremium, das in höchster Instanz Entscheidungen fällte, wie es schon in den Batavischen Statuten von 1642 festgelegt war24. Im Oktroi-Gebiet der WIC lief die Entwicklung anders. Auch dort fällten die Raden van Justitie das Urteil in letzter Instanz, aber zu Beginn des 18. Jahrhunderts erwuchs aus der Revisionsmöglichkeit eine Form von Appellation an den Souverän, die Generalstaaten. De facto leiteten die Generalstaaten das angefochtene Urteil samt dem ganzen Aktenfaszikel zum Begutachten an den Hooge Raad von Holland und Seeland. Das Gutachten dieses Kollegiums wurde durch die Generalstaaten als Ganzes übernommen und als Endurteil an die Parteien zurückgeleitet. Von dieser „Quasi-Appellation" wurde vielfach Gebrauch gemacht25. Justizräte, Fiskale, Rechtsanwälte und Rechtsberater arbeiteten in den verschiedenen Niederlassungen auf unterschiedlichem intellektuellem Niveau, aber alle waren der Auffassung, dass sie das Recht in Übereinstimmung mit dem des Mutterlandes anwandten. Das Studium der Rechtsprechung kann lehren, in welcher Weise das römisch-holländische Recht in der Praxis angewandt wurde, und darüber hinaus, wie sich diese „holländische Tulpe" unter dem Einfluss eines anderen Klimas in Farbe und Form veränderte. Von Neu-Niederlande sind die Beschlüsse des Rates aus den Jahren 1638— 1649 in englischer Übersetzung publiziert. Politische Angelegenheiten und Rechtsstreitigkeiten wurden ohne Unterschied behandelt. Die letztgenannten betrafen Strafsachen (Schlägereien, Diebstahl, Körperverletzung), nicht bezahlte Rechnungen, nicht zurückgezahltes ausgeliehenes Geld oder Beleidigungen (injuria). Unter dem Generaldirektor Pieter Stuyvesant spielte 1647 eine Fiskalsache gegen zwei Personen, die den früheren Direktor Willem Kieft beleidigt haben sollten. Der Fall endete (25. Juli) mit ihrer Verbannung und 300 Gulden Strafe - eine sicher sehr harte Strafe, aber zur Last gelegt war ihnen ja schließlich das crimen laesae majestatis, und es war Stuyvesant, der in dieser Sache deutlich seine Meinung den anderen gegenüber zu vertreten wusste. Er verblüffte den Rat mit einer aus dem Zusammenhang gerissenen Berufung auf Damhouder und das Tractaet Crimineel, Abschnitt „Kaey-

24 25

NIP (Anm. 4), 1.512. DESMIDT, Gerichtsbarkeit (Anm. 1), S. 224: Ostindien und S. 229: Westindien.

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serlycke statuyten", und imponierte dadurch, dass er mit den Namen von Albricus, Macrobius, Ludovicus und Muscatellus argumentierte und focht. Übrigens sind dies die einzigen (Quasi-)Quellen, die in den genannten elf Jahren zitiert werden26. Von der Rechtsprechung des Raad van Justitie am Kap der Guten Hoffnung sind bisher die ersten zwanzig Jahre (1652-1672) und die letzten (1807-1827) zugänglich gemacht worden. Die überwiegende Mehrzahl der 463 Fälle, von denen aus den ersten zwanzig Jahren berichtet wird, betrifft dieselben Angelegenheiten wie in Neu-Niederlande, aber beinhaltet auch den ersten Wasser-Prozess und 1672 die erste erbrechtliche Auseinandersetzung über die Rechtsgültigkeit eines Kodizills27. Beinahe alle Fälle wurden einstimmig ohne den geringsten Aufwand an Gelehrsamkeit verhandelt, so wie man es auch auf den Schiffen tat. Aber wenn es ein juristisches Problem zu geben schien, musste man es in Batavia lösen. War Folter gestattet - ein Fall aus dem Jahr 1658 wenn ein Geständnis in Abrede gestellt wurde? Als ein Jahr später ein Sergeant aus Notwehr jemanden niederstach, schickte man den Täter zur Aburteilung nach Batavia, „weil man hier [am Kap] über keine rechtsgelehrte Person verfügt, um in einem solch dubiosen Unglücksfall dem Rat bzw. dem Angeklagten [...] zu assistieren"28. Erst 1671 findet sich in den Akten des Raad van Justitie der Kapkolonie ein allererster Hinweis auf das gelehrte Recht: Damhouder, Hugo Grotius, Gudelinus und Ph. Decius, De regulis iuris. Es war der aus Bremen stammende Hendrik Crudop, der in diesem Fall für den Fiskus auftrat und sich fachkundig auf juristische Autoritäten berief29. Ein Fiskal und ein Buchhalter waren in jeder Kolonie vorhanden. Für die Rechtsentwicklung in der Kolonie muss die Rolle des Fiskals äußerst wichtig gewesen sein. Fiskal. Als Vertreter der Obrigkeit trat am holländischen Gerichtshof ein Generalprokurator, ein Fiskal oder Advokat-Fiskal auf. Seine Aufgabe bestand darin, all das zu vertreten, was die Interessen der Obrigkeit in dem Prozess ausmachte. Auch bei der Flotte gab es einen Fiskal, der Strafsachen im Schiffsrat oder im Brede Raad vortrug und eine bestimmte Strafe beantragte. Der Fiskal wurde durch die Direktoren der VOC und der WIC angestellt, die ihm auch eine Instruktion vorgaben. Die erste Instruktion für den „Fiskal der ostindischen Schiffe" datiert aus dem Jahr 160730. Insubordina26

Council Minutes (Anm. 5), S. 405-417, 447v. BÖESEKEN, Uit die Raad (Anm. 5), Casus Nr. 137,461. 28 BÖESEKEN, Resolusies (Anm. 4), I, S. 219v. 29 BÖESEKEN, Uit die Raad (Anm. 5), Casus Nr. 89. 30 Pieter VAN DAM, Beschrijvinge van de Oostindische Compagnie, hrsg. von F. W. Stapel und C. W. Th. van Boetzelaer, 7 Teile, 's-Gravenhage 1927-1954 [1976], hier: Teil 1, S. 568v„ und Jan PLETERSZ COEN, Bescheiden omtrent zijn bedrijf in Indie, hrsg. von H. T. Colenbrander und W. Ph. Coolhaas, 7 Teile, 's-Gravenhage 1919-1953, hier: Teil 4,

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tion, Desertion, Trunkenheit, Schlägereien und Diebstahl gehörten zu den Angelegenheiten, die durch den Fiskal angezeigt wurden, und zwar sowohl zu See als zu Land, aber auch Schmuggel und Schleichhandel. Die Kompanien besaßen ein Handelsmonopol, was bedeutete, dass aller Einzelhandel verboten war. In beschränktem Maß durften Beamte der VOC zwar Einzelhandel treiben, aber dies alles war strikt reglementiert. Die Versuchung war natürlich sehr groß, und in der Praxis bereicherten sich die meisten, indem sie ihre Stellung ausnutzten oder missbrauchten. Es war Sache des Fiskals, Korruption und Schwarzhandel - für letzteres wurde 1666 in Batavia ein „Wasserfiskal" angestellt - in Grenzen zu halten und Auswüchsen zuvorzukommen. Ein Drittel der entrichteten Geldstrafen und Konfiszierungen waren für den Fiskal bestimmt, das Übrige für die „Armen" und die Kompanie. Der Fiskal musste über juristische Kenntnisse, vorzugsweise den Grad eines Dr. jur. utr., und Erfahrung verfügen. Denn jemand, der in Recht und Gesetzgebung „top" war, war im obersten Verwaltungsorgan unverzichtbar. Entsprechend der Instruktion für J. P. Coen von 1617 war er dann auch das vierte Mitglied des Raad van Indie. Seine Position konnte sehr schwierig werden, wenn er als Mitglied des Rats mit einer schlecht geführten Verwaltung konfrontiert wurde. Die Herren im Mutterland wollten einen unabhängigen Fiskal, aber wegen der tatsächlich gegebenen Situation und infolge unglücklicher Ernennungen war das fast nie der Fall. Am Kap der Guten Hoffnung wurde seit 1697 der Fiskal als der „fiscaal independent" bezeichnet, dem Namen nach unabhängig, aber in Wirklichkeit musste auch er wohl Abstriche machen. Über Rangordnung und Befugnisse - jüngstes Mitglied oder kein Glied des Raad van Politie oder des Raad van Indie, stimmberechtigt oder beratend, Vorrang vor den Mitgliedern des Raad van Justitie und auch vor dem Präsidenten? - gab es immer Diskussionen und Auseinandersetzungen. Wo Amtmänner, Landdrosten oder Schulzen tätig waren, entstanden fast immer Kompetenzstreitigkeiten mit dem Fiskal. Wenn er nicht ratione officii Partei war, erhielt der Fiskal einen Sitz im Raad van Justitie. Für einen ambitionierten jungen Juristen mit guten Verbindungen zu den Kreisen der Direktoren der Kompanie war das Fiskalamt attraktiv. Der junge Mann musste allerdings standfest sein, um sich behaupten zu können. So erging es dem jungen Juristen Pieter de Neyen, der 1671 als erster jurist-fiscaal am Kap ernannt wurde, nicht gut. Er wechselte 1674 nach Batavia, wo der erfahrene Jurist Joan Maetsuycker damals Generalgouverneur war. Nach zwei Jahren wurde de Neyen zurück ins Mutterland geschickt, weil er nicht verwendbar war. Bei Indisposition des Fiskals bat der Gouverneur oder Di-

S. 107: „Sententien" 1613-1622. Femme S. GAASTRA, The independent fiscaals of the VOC, 1689-1719, in: Itinerario [Bulletin of the Leiden Centre for the History of European Expansion] 9 (1985,2), S. 92-107.

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rektor einen Handelsmann, einen Sekretär oder einen Assistenten, provisorisch pro fisco zu fungieren. So nahm der Sekretär des Raad van Politie, Hendrik Crudop, vor und nach Pieter de Neyen das Fiskalamt am Kap wahr. Er und andere nicht juristisch gebildete Fiskale erfüllten ihre Aufgabe mit großem Engagement. Ihr Bestreben, nicht hinter den an einer Universität ausgebildeten Juristen zurückstehen zu wollen, spiegelt sich in der Tüchtigkeit, die sie an den Tag legten31. Faktisch bestimmten die Fiskale, welche Rechtsregel Anwendung fand und wie diese zu interpretieren war. Ihr Einfluss auf die Art und Weise, wie sich das rezipierte römisch-holländische Straf-, Privat- und Prozessrecht zu einer römisch-holländisch-kolonialen Variante entwickelte, muss groß gewesen sein. „Nach der im Vaterland üblichen Art und Weise". In der Republik waren es die Regentenfamilien, die Stadt und Land verwalteten. Sie waren vertraut mit den öffentlich-rechtlichen Organen wie Schöffen, Deichschöffen und Waisenkammern, die sie dann auch ohne Bedenken in die überseeischen Kolonien übertrugen. Das bedeutete jedoch nicht, dass die „Transplantate" auch so funktionierten oder in Funktion blieben wie in den Niederlanden. Dazu war das „Klima" in jeder Hinsicht zu verschieden. Da jederzeit die Belange des Handels Priorität besaßen, wurde in dieser Hinsicht sowohl in Übersee als auch im Mutterland nie dogmatisch, sondern immer pragmatisch gedacht und gehandelt. Mit dem Strafrecht waren - wir sagten es bereits - Schiffskapitäne, aber auch die Regenten mehr oder minder vertraut. Außerdem war das Strafrecht ein ius commune: die Carolina Kaiser Karls V., das Handbuch von Joost de Damhouder und die Verordnungen König Philipps II. - das strafrechtliche Terrain war für viele vernünftig, zugänglich und übersichtlich. Das Privatrecht dagegen war in sieben verschiedene Bezirke der Provinzen parzelliert und dadurch schwieriger zugänglich. Als J. P. Coen 1620, in dem Jahr, in dem Batavia seine Rechtsstruktur erhielt, bei den Heren XVII anfragte, welche Rechte, Gesetze und Zölle in Batavia beachtet werden sollten, antworteten diese im März 1621 ganz allgemein, dass die „Rechten ende Wetten" befolgt werden sollten, die in Holland beobachtet wurden, nämlich die Politicque ordonnantie vom 1. April 1580 sowie die Verklaringe über die Erbfolge ab intestato vom 13. Mai 1594 und die Bekanntmachung der Erbfolge ab intestato vom 18. Dezember 1599. Und wenn die holländischen Gesetze schwiegen, „dann sollt ihr die allgemeinen Zivilrechte, so wie sie hierzulande praktiziert werden, anwenden, wonach sich die Richter genauestens richten müssen". Subsidiär galt also das Römische Recht. Möglicherweise fragte Coen überhaupt nicht nach dem Privatrecht, sondern wollte lediglich wissen, mit welchen Belastungen, Abgaben 31 J. Th. DE SMIDT, Geleerd recht aan de Kaap, in: Nihil Obstat. Feesbundel vir W. J. Hosten, Durban 1996, S. 43-51.

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und Zöllen er in Batavia zu rechnen hatte32. Wie dem auch sei, in seiner Antwort vom November 1621 schrieb Coen dann auch, „um goede politie, wetten ende ordonnantie na de maniéré van onse landen" vor Ort zu pflegen, müsse er wissen, wie die Regeln lauteten. Ein Jahr später schrieben die Heren XVII, dass sie Bücher und Instruktionen zum Zivilrecht und zur Prozessordnung übersenden wollten zum Nutzen der Stadt Batavia. Was schließlich an Büchern geschickt wurde, ist nicht bekannt, aber 1625 beschloss der Raad van Indie, dass die Gesetze von 1580, 1594 und 1599, die übersandt worden waren, um durch die Schöffen und den Raad van Justifie in Batavia befolgt zu werden, in Anwendung kommen sollten. Das Oktroi für die WIC datiert vom 3. Juni 1621 und sagt ebensowenig etwas über das zu beachtende Recht aus. In der Ordre van regieringe über Polizei und Justiz in den eroberten und noch zu erobernden Plätzen in Westindien von 1629 wurde hinsichtlich des Ehe- und Erbrechts gleichfalls auf die Politicque ordonnantie von 1580 verwiesen und auf „den allgemeinen Gebrauch in Süd-Holland und Seeland, weil derselbe am meisten bekannt" sei (Art. 59). Bei anderen privatrechtlichen Angelegenheiten sollte man „de gemeene beschreven rechten" folgen (Art. 61). Für das Strafrecht sollte man „den üblichen Gebrauch der Vereinigten Provinzen und weiteres allgemein verbrieftes Recht befolgen" (Art. 55). In der Instruktion für den Direktor von Curaçao, J. P. Tolck, aus der Zeit um 1640 ist festgelegt, dass er mit seinem Rat Recht sprechen solle gemäß Vorschriften, Artikelbriefen und femer nach verbrieften Rechten, Kriegsordnungen, Bekanntmachungen und Gewohnheiten dieses Landes, soweit er es nach seinem besten Wissen und Gewissen als angemessen befindet33. 1667 wurde Surinam durch eine seeländische Flotte von den Engländern erobert, die ausgerüstet worden war durch die Kammer der WIC in Middelburg. In den Kapitulationsbedingungen wurde festgelegt, dass die Engländer „shall be governed by the Netherland law"34. Zufällig war der erste Gouverneur ein Jurist, der in Utrecht die Rechte studiert hatte. Nach seiner Ankunft 1669 fertigte er eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen aus, die das Erbrecht, die Vogtei, die öffentlichen Rechtsakte im Zusammenhang mit Übertragungen von Immobilien sowie Strafgesetzgebung und noch einige weitere Verwaltungsgesetze betrafen. Als die Herren aus Middelburg den Gouverneur aufforderten, dass er das seeländische Recht - Landrecht Seelands von 1495 und die seeländischen politischen Verordnungen von 1583 (Eherecht) - einführen solle, antwortete der Gouverneur Lichtenberg, dass er dies und jenes bereits provisorisch geregelt habe. „C'est le provisoire qui 32

J. C. DE WET, Die ou skrywers in perspektief, Durban 1988, S. 6; Wouter DE V o s , Regsgeskiedenis, Kaapstad [u. a.] 1992, S. 229. 33 Curaçao Papers (Anm. 5), S. 238. 34 WIP Suriname (Anm. 4), Nr. la, Art. 9.

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dure", und seine Regelungen blieben dann auch bis 1816 in Kraft, wenn auch die Regelung des Erbrechts noch Fragen aufwerfen sollte. In dem Eid, der von einem Mitglied des Raad van Justitie der Kolonie Berbice bei seinem Amtsantritt abgelegt werden musste, erklärt dieses, dass es die „Landesgesetze und Gerechtsame, die in diese Kolonie eingeführt sind", anwenden wolle, die Gewohnheiten, Usancen und Gesetze, die im Vaterland ihren Platz haben und auch im Gebrauch sind, nach dem verbrieften Römischen Recht, soviel mir davon bekannt ist"35. Bezeichnend für das Niveau der Rechtskenntnisse in den kleineren Kolonien ist ein Brief des Kommandeurs und der Räte von Demarary an die Heren X vom 20. April 177436. Sie schrieben, dass sie nicht ein einziges juristisches Werk zu ihrer Verfügung hätten, dass sie nicht wüssten, ob sie Recht gesprochen hätten in Übereinstimmung mit den römischen und holländischen Gesetzen, an die sich manche von ihnen erinnern könnten. Sie fragten dann auch noch deutlicher und präziser nach Informationen über die Art der Prozessführung und über andere Gesetze. In der Resolution vom 4. Oktober 1774 wurde durch die Heren X wiederholt, was in der Ordre von 1629 in den Artikel 59 und 61 festgelegt worden war in dem Sinn, dass für das Erbrecht auf die Verordnung von 1599 verwiesen wurde. Zugleich wurde eine umfassende Prozessordnung übersandt, die von den Heren X an eben diesem Tag verfasst worden war. In Amsterdam und Middelburg hielt man es für selbstverständlich, dass im Osten und im Westen das an den Sitzen der Kompanie gebräuchliche Recht, d. h. das von Amsterdam (Holland) bzw. von Middelburg (Seeland), in Anwendung kommen sollte, falls die für die und in den Kolonien ausgefertigten Regelungen - leges speciales - sich in Schweigen hüllten. Daher gibt es auch so wenige Bestimmungen zum anzuwendenden Recht. Es ist zu verstehen, dass der Amateurjurist in Übersee, der nach seinem besten Wissen und Gewissen Recht sprechen musste, Interesse hatte an Büchern, an gedruckten Verordnungen und Bekanntmachungen über das Prozessverfahren und das Privatrecht, vor allem aber über das Personen-, Ehe-, Vogtei- und Erbrecht. Gerade auf dem Gebiet des Erbrechts ab intestato bestand eine grundsätzliche Verschiedenheit zwischen dem holländischen und dem seeländischen System, eine Differenz, die im Mutterland zu Auseinandersetzungen führte und auch in Übersee manch chaotische Situation entstehen ließ. Deshalb ein besonderes Augenmerk auf dieses Thema. Die Bekanntmachungen von 1580, 1594 und 1599: Hollands und Seelands Erbrecht ab intestato. Wir sahen, dass die Anfragen zuallererst das Erbrecht, die Vogtei und die Eheschließung betrafen. Sowohl die VOC als die WIC verwiesen auf die möglicherweise wohl wichtigste holländische Privatrechtsre35 36

London, Public Record Office, COl 16,70 f76. 's-Gravenhage, Algemeen Rijksarchief, WIC 219.

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gelung, die im Verlauf der zweihundertjährigen Geschichte der Republik angefertigt wurde, die Politieke Ordonnantie von 1580, in der das Eherecht, die Errichtung und Übertragung von dinglichen Rechten und das Erbrecht geregelt waren. Die Reformation und die Abkehr von der kirchlichen Autorität Roms hatten hinsichtlich des Eherechts Unsicherheit nach sich gezogen. Unregistrierte und nicht tragbare Beziehungen zwischen den Geschlechtern waren an der Tagesordnung. Daher legten die holländischen Stände 1580 fest, dass nach öffentlichem Aufgebot die Ehe entweder kirchlich in der protestantischen Kirche in Gegenwart eines Pfarrers oder weltlich im Rathaus vor dem Magistrat geschlossen werden musste. Über die Übertragung von liegendem Gut vor dem Gericht des Ortes, wo die Liegenschaft sich befand (Bekanntmachung von 1526), und über die Rangordnung von Hypotheken gab es 1578 noch ein Urteil des Grote Raad von Mechelen37. Auch diese Frage wurde nun durch die holländischen Stände geregelt. Aber erst das Erbrecht! Holland war geteilt in ein nördliches Gebiet mit Aasdomsrecht und ein südliches Gebiet mit Schependomsrecht, das auch in Seeland galt. Die holländischen Stände waren 1580 der Ansicht, dass die Zeit gekommen sei, ein einheitliches, für ganz Holland geltendes Rechtssystem einzuführen. Man entschied sich für ein neues Schependomsrecht: ein Parentelsystem mit Repräsentationen nach Stämmen (per stirpes). Die Rangfolge wurde bestimmt von der Maxime „het goed klimt niet geerne" („Hab und Gut steigen nicht gern"). Gemäß der Regel „er komt niets van een die leeft" („es kommt nichts von einem, der lebt"), erbt der überlebende Vater oder die überlebende Mutter nichts. Dieses System musste das Aasdomsrecht mit der Regel „het naaste bloed erft het goed" („das nächste Blut erbt das Gut") ersetzen. Der Unterschied zwischen beiden Systemen erhellt aus einem damals häufig vorkommenden Fall: Eine Frau stirbt im Wochenbett, und ihr lebend geborenes Kind stirbt einige Zeit später. Nach beiden Systemen beerbt das Kind seine Mutter. Aber wenn nun das Baby den mütterlichen Familienbesitz geerbt hat und danach stirbt, wer erbt dann von dem Kind die maternalial Der untröstliche Vater oder ein entfernter Neffe oder eine Nichte mütterlicherseits? Nach dem Aasdomsrecht erbt der Vater als nächster Blutsverwandter des Kindes. Nach dem Schependomsrecht gehen die maternalia auf die Seite zurück, woher sie gekommen sind: das ist die Mutterseite, also an den Neffen und die Nichte mütterlicherseits kraft der Maxime „materna maternis, paterna paternis". Wenn unser Baby ein Brüderchen oder Schwesterchen hätte, dann würde dieses nach dem Schependomsrecht alles und nach dem Aasdomsrecht nichts erben. Während die Regelungen bezüglich Ehe und Liegenschaften bis in die 37

Sententie Grote Raad 17 Oktober 1578, in: Chronologische lijsten van de geextendeerde sententiün, Brüssel 1988, VI Nr. 4607.

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Franzosenzeit voll in Kraft blieben, wurde die Vereinheitlichung des Erbrechts ein völliges Fiasko. 1594 wurde eine Elucidatie-Verklaringe ausgefertigt, aber man blieb im Norden von Holland (z. B. in Amsterdam) beim alten, vertrauten Gewohnheitsrecht, dem Aasdomsiecht. Letztlich wurde 1599 für Holland nördlich der Linie Den Haag - Utrecht durch Bekanntmachung ein Neues Aasdomsrecht verfügt. Fortan sollte der Überlebende der Eltem die Hälfte, die Brüder und Schwestern des Erblassers aber die andere Hälfte erben, und es sollte eine beschränkte Repräsentation eingeführt werden. Das Ergebnis war schließlich, dass in Holland zwei Systeme (1580/94 Neues Schependomsiecht und 1599 Neues AasdomsKcbt) galten, während in der Provinz Seeland (z. B. in Middelburg) das alte Schependomsiecht Gültigkeit behielt, bis die erste Kodifikation des bürgerlichen Rechts 1809 diese Rechtsvielfalt beendete. Die holländischen Stände hatten in ihrem jugendlichen Übermut die Macht der Tradition auf dem Gebiet des Erbrechts unterschätzt. R. W. Lee, der zum Nutzen der Juristen in Südafrika und Ceylon An Introduction to Roman-Dutch Law schrieb, stellte fest: „the law of intestacy in the United Provinces presented a bewildering picture"38. Folge dieser Verschiedenheit war, dass in Seeland gelegene Liegenschaften nach seeländischem Recht, ein Haus in Delft nach dem Neuen Schependomsrecht von 1580/94 und ein Haus in Amsterdam nach dem Neuen Aasdomsrecht von 1599 vererbt wurden. Um solchen Schwierigkeiten zu begegnen, wurde in der holländischen Praxis vielfach Gebrauch gemacht von der Möglichkeit festzulegen, nach welchem Erbrecht die Verlassenschaft vererbt werden sollte, der sogenannten „Landrechtswahl". Auch in Übersee wird man in der Praxis von dieser Möglichkeit wohl Gebrauch gemacht haben, wenn auch darüber, soweit mir bekannt, keine Spezialuntersuchung vorliegt39. Einzig in dem Oktroi von 1732 für das westindische Berbice ist die Rede von dieser Wahlmöglichkeit40. Doch zunächst zur Entwicklung in Ostindien. Wir sahen, dass der Raad van Indie 1625 verfügte, dass die Bekanntmachungen von 1580/94 (Neues Schependomsrecht) und 1599 (Neues Aasdomsrecht) in Indien zur Anwendung kommen sollten, ohne dass eine deutliche Präferenz vorgegeben wurde. Der Fall Cornelius machte die Unübersichtlichkeit noch größer. 1632 verstarb der Seeländer Georgius Cornelius auf einem Schiff in Persien und hinterließ in Indien seine Frau Neeltje sowie zwei kleine Kinder, die wenig später ebenfalls starben41. Die Witwe Neeltje verheiratete sich in Bata38

Robert Warden LEE, An introduction to Roman-Dutch law, Oxford s 1953, S. 395. H. F. W. D. FISCHER, Keuze van erfrecht, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 19 (1951), S. 220-262. 40 H. VAN DER VORM, Verhandeling van het Hollandsch, Zeelandsch ende Westvrieslandsch versterfrecht, Amsteldam 7 1774, S. 637, 631. 41 VAN DER VALK, Nederlandsch intestaaterfrecht (Anm. 3), S. 416. 39

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via wieder mit dem Holländer Abraham Welsingh, der davon ausging, dass seine Frau kraft Aasdomsrecht die Güter ihrer verstorbenen Kinder geerbt habe. Die seeländische Familie des Cornelius klagte bei den Generalstaaten gegen Welsingh, der sich geweigert hatte, die fraglichen Güter auf die seeländische Familie zu übertragen. Denn, so war ihre Argumentation, der Seeländer Cornelius und seine Kinder seien in Indien forenses gewesen, die ihr domicilium in Seeland hatten und deshalb dem seeländischen Erbrecht unterworfen blieben. Die Generalstaaten entschieden im Dezember 1634 zugunsten der seeländischen Familie. Inzwischen waren die Heren XVII zu der Überzeugung gelangt, dass man einen tüchtigen Juristen als Rechtsberater nach Batavia schicken müsse. Jan Maetsuycker, der in Leuven studiert hatte, zog 1636 für fünf Jahre nach Indien, wo er dann aber bis zu seinem Tod 1678 bleiben sollte. Der junge Mann - er war noch keine 30 Jahre alt - glänzte und war erfolgreich. Gemäß seiner Instruktion musste er nicht nur hinsichtlich des in den Niederlanden üblichen Prozessverfahrens mit Rat zur Seite stehen, sondern auch Ordnung schaffen in dem schnell wuchernden Dschungel von Instruktionen, Verordnungen und Bekanntmachungen und, soweit möglich, sie ergänzen durch Vorschriften, die dem allgemeinen heimischen Recht als verbrieftem kaiserlichem Recht entlehnt waren. Er übertraf seinen Auftrag: Er kodifizierte das in Batavia geltende Recht, er schuf einen Kodex (1642), der als Batavische Statuten im gesamten VOC-Gebiet großen Einfluss gewinnen sollte. Die Heren XVII, denen die Statuten zugesandt worden waren, zögerten, den Kodex den Generalstaaten als dem Souverän zur Bestätigung vorzulegen. Vielleicht spielte dabei gerade die Regelung des Erbrechts eine Rolle. Die Statuten legten nämlich fest, dass dem Erbrecht der nordholländischen Städte (1599) gefolgt werden solle. Die Heren XVII brauchten in wichtigeren Angelegenheiten die Unterstützung der anderen Provinzen in den Generalstaaten, so dass sie jedes politische Risiko - der Fall Cornelius war noch in der Schwebe - vermeiden wollten. Erst 1661 fällten die Generalstaaten eine Art salomonisches Urteil. Bestimmt wurde, dass ein Längerlebender Universalerbe sein solle, wenn der Erblasser keine Nachkommen oder Brüder bzw. Schwestern hatte - der Fall des untröstlichen Vaters. Hatte der Erblasser jedoch Brüder oder Schwestern, dann ging die Hälfte an den überlebenden Elternteil und die andere Hälfte an die Brüder und Schwestern über. Soweit war das die Regelung von 1599 und die der Statuten von 1642; aber hinzugefügt war jetzt, dass die im Mutterland gelegenen Immobilien nach dem Erbrecht des Ortes vererbt wurden, wo sie lagen. Diese Regelung von 1661 wurde - nicht gerade elegant - zusammen mit der alten Regelung von 1642 in die Nieuwe Bataviase Statuten von 1766 aufgenommen. Am Kap der Guten Hoffnung fragten 1714 die „Waisenmeister" bei dem Raad van Politie an, ob nach dem Tod eines Kindes der überlebende Elternteil alles erbe (Altes Aasdomsreeht) oder ob er mit den Brüdern und Schwes-

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tern des verstorbenen Kindes teilen müsse (Neues Aasdomsrecht von 1599). Die Antwort lautete nicht, dass der Überlebende teilen müsse, vielmehr begnügten die Mitglieder des Rats sich mit dem Hinweis auf den Wortlaut der Regelung von 1580/94 und den des salomonischen Urteils von 1661. Ein paar Tage später sandten sie der Waisenkammer eine ausführliche Instruktion zu, die auf der von Batavia basierte, welche wiederum auf die von Amsterdam zurückging. Mit der erfragten Instruktion waren die „Waisenmeister" zufrieden, ob sie das auch mit den zugesandten Regelungen waren, scheint fraglich. Einige Jahre danach wurde der Raad van Justitie der Kapkolonie vor die Frage gestellt, ob ein Vater zusammen mit einer Tochter aus einer ersten Ehe von seinem verstorbenen Sohn aus dieser Ehe erbte oder auch Bruder und Schwester aus der zweiten Ehe des Vaters teilhätten an der Erbschaft des Halbbruders. Dankbar nutzte man die Tatsache, dass W. V. Helvetius, Mitglied des Raad van Justitie in Batavia, auf dem Weg nach Indien einige Tage am Kap Station machte. Sein Gutachten besagte, dass nach der Politieke Ordonnantie von 1580 und unter Berufung auf die Inieidinge (11.28.18) von Hugo Grotius die Kinder aus der zweiten Ehe allerdings mit „halber Hand" erben sollten, aber dass die Regelung von 1661 festlegte, dass die Kinder aus der zweiten Ehe mit dem Verstorbenen verwandt sein mussten von der Seite, von der er geerbt hatte. Da das hier nicht der Fall war, hatten sie folglich keinen Anteil an dem Nachlass ihres Halbbruders: „lex enim posterior abro„42

gat pnorem In Ceylon wurde die Regelung von 1661 im Jahr 1758 publiziert43. Wir kennen den Anlass nicht, aber auch dort wird man wohl mit einem schwierigen Fall gerungen haben. Doch was bedeutete die Mitteilung von 1790 an die Direktoren von Jaffna, dass sie diese Regelung nur anwenden sollten, soweit sie nicht in Widerspruch stehe zu „den Landesgesetzen und Gewohnheiten"? Ist mit Land das Mutterland gemeint, oder ist an Nord-Ceylon gedacht, das Gebiet rund um Jaffna? 1707 war durch Claas Isaaksz, der als Direktor (Dessave) von Jaffna große Kenntnis der dortigen Gewohnheiten erlangt hatte, eine Aufzeichnung des Rechts, die thesawalamai, angefertigt worden44. Diese Aufzeichnung wurde durch den Gouverneur und Raad van Ceylon mit Billigung Batavias im Gebiet von Jaffna eingeführt. In der Instruktion von 1758 für den Dessave von Jaffna wurde ausdrücklich wiederholt, dass die Gerichte bezüglich der Inländer diese Regelungen „als Landesgesetze und Gewohnheiten" anwenden sollten45. Im Hinblick auf das eheliche Güterrecht und das Erbrecht wurden diese besonderen Gewohnheiten durch die Holländer, aber später auch durch die Engländer noch bis ins 20. Jahrhundert res42 43

44 45

Kaapstad, Staatsargief, MOOC 3/1/1. HOVY, Ceylon (Anm. 4), Nr. 435.

Ebd., Nr. 215a. Ebd., Nr. 573 (art. 13).

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pektiert. Aber als 1783 ein inländischer Christ einem buddhistischen Tempel etwas vermachte, wurde diese Verfügung aufgrund der Bekanntmachung der Generalstaaten vom 14. Oktober 1655, nach der Legate und Schenkungen zugunsten von römisch-katholischen Einrichtungen verboten waren, annulliert46. Man ging nun einmal pragmatisch zu Werk. Wiewohl in der Ordre van regieringe von 1629 für Westindien ausdrücklich auf das Neue Schependomsiecht der Politieke Ordonnantie von 1580 verwiesen wird, kann das für Neu-Niederlande kaum gegolten haben. Der Einfluss der Stadt Amsterdam auf das 1625 gegründete Neu-Amsterdam war doch sehr groß. Man findet in dem Stadtwappen nicht nur die drei Andreaskreuze der Mutterstadt wieder, vielmehr sandte man auch an den Direktor der Niederlassung, Pieter Stuyvesant, 1629 ein Dutzend Exemplare der in diesem Jahr publizierten Ordonnantien ende moniere van procederen voor den gerechte der stat Amsterdam sowie später den Recueil van verscheyde keuren en costumen midtsgaders moniere van procederen binnen der Stadt Amsterdam von Rooseboom. Der Recueil besagt in cap. XLV, dass in Amsterdam das Neue Aasdomsrechl der Bekanntmachung von 1599 befolgt wird. Als die Engländer 1664 Neu-Niederlande eroberten, wurde in Art. 11 des Kapitulationsvertrags bestimmt: „die duytschen [the Dutch] sollen, was ihre Erbschaften angeht, ihre eigenen Gewohnheiten behalten", und in Art. 17, dass zu allen Kontrakten „die duytsche Art und Weise erforderlich sein soll". Übrigens haben die Engländer bereits 1674 ihre Sprache, das trial by jury, das duke law und den neuen Namen New York eingeführt. Die surinamische Regelung des Erbrechts, 1669 durch Lichtenberg entworfen, gleicht der des nordholländischen Rechts, ist aber nicht so detailliert. Die seeländische Beteiligung an Surinam und die seeländische Vorliebe für das Schependomsrtcht waren eine Quelle der Unsicherheit. 1742 wurde der Knoten gelöst und von den Generalstaaten bestimmt, dass in Surinam das Aasdomsrecht der Fassung von 1599 gelten sollte47. Und so blieb es bis 1869. Auf den Inseln unter und über den Winden galt förmlich laut Ordre von 1629 das Neue Schependomsrecht der Politieke Ordonnantie von 1580, bis 1752 bei den Generalstaaten eine Bittschrift beunruhigter Bewohner der Insel Curaçao eintraf mit dem Ersuchen, das Aasdomsxtcht von 1599 doch nachträglich einführen zu wollen. Offensichtlich hatte man in der Praxis aber schon viel früher das Aasdomsrechi angewandt, da man gleichzeitig darum bat, die Entscheidungen, die konform mit dem alten Rechtsbrauch getroffen worden waren, fortschreiben zu wollen. Mit Glockengeläut und Trommelschlag wurde am 18. Januar 1753 in Curaçao der positive Bescheid der Generalstaaten öffentlich verkündet.

46 47

Ebd., S. cxiii und Groot Placaet-Boeck (Anm. 22), Bd. 2, S. 2420. WIP Suriname (Anm. 4), Nr. 411; WIP Curaçao (Anm. 4), Nr. 230.

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In Berbice galt 1732, dass in dem Fall, dass jemand keinem Erbrecht den Vorzug gegeben hatte - „keine Wahl getroffen hatte" - , das Neue Aasdomsrecht von 1661 für Ostindien in Anwendung kommen sollte. Noch 1890 hat diese Bestimmung eine Rolle gespielt in dem Fall Administrator-General v estate of Alexander. Damals wurde durch den Hohen Gerichtshof von Britisch-Guyana beschlossen, dass der Nachlass ab intestato zur Hälfte der länger lebenden Mutter, zur anderen Hälfte dem Bruder und der Schwester als Erbe zufiel unter Hinweis auf die Bestimmungen von 1732 und 165148. In Demarary sollte die Regelung von 1580/94 sogar bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Geltung bleiben. Noch 1908 publizierte ein „sollicitor in the Supreme Court of British Guyana", B. E. J. C. Belmonte, nicht weniger als „96 Examples of cases under the South and North Holland laws of inhabitants ab intestato [...] for the help and guidance of the legal profession and the general public here and of all other places, in which either or both of those Laws prevail [...]". In den neuen Welten haben neue Familien Wurzeln geschlagen und sich dort ein Vermögen verdient. Die alte vaterländische Unterscheidung zwischen paternalia und maternalia - vornehmlich liegendes Gut - schien ihren Sinn zu verlieren. Vielleicht waren auch die scharfen Kanten in der Heimat inzwischen etwas abgerundet geworden. Wie dem auch sei, es ist auffallend, dass 1774 die Generalstaaten auf Ansuchen der Heren XVII ohne große Diskussion beschlossen, dass das Aasdomsrecht von 1599 für alle diejenigen Geltung haben sollte, die ihr domicilium in einem der Länder im Machtbereich der WIC hatten und dort oder auf der Reise ins Mutterland verstarben49. Während im Mutterland die erbrechtliche Vielfalt bis zur Unifizierung von 1809 bestehen blieb, kam in dieser Hinsicht in den westindischen Kolonien eine verlässliche Einheit des Erbrechts zustande, wiewohl das Bild eines „bewildering picture" blieb. Die Ordonnantien von 1570 und 1580: Strafrecht, Prozessrecht. Neben der für das Privatrecht einschlägigen Politieke Ordonnantie von 1580 war ebenfalls am 1. April 1580 eine Ordonnantie op de Justitie in den Städten und auf dem flachen Land in Holland erlassen worden, die die Art der Prozessführung in civilibus regelte, d. h. die Vorladung (citatio), die Kontumaz, die Zeugen, das Urteil, die Berufung und die Vollstreckung des Urteils. Neben diesen durch die holländischen Stände erlassenen Verordnungen waren 1570 durch Philipp II. Kriminal-Verordnungen ausgefertigt worden: ein Triptychon, bestehend aus einer Kriminal-Ordnung, die sich mit dem materiellen Strafrecht befasste, der Ordonnantie op de cypiers, die das Gefängniswesen regelte, und der Ordonnantie op de Stijl, die sich mit dem formalen Strafrecht 48 49

M. SHAHABUDDEEN, The legal system of Guyana, Georgetown 1973, S. 187. WIP Curaçao (Anm. 4), Nr. 314.

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oder Prozessrecht befasste - eine wirkliche Kodifikation avant la lettre. Nicht nur das ganze Strafrecht hatte der König in diese drei Einheiten zusammenfassen wollen, er beabsichtigte auch, das Strafrecht in den Niederlanden dadurch zu vereinheitlichen. Während die Carolina von 1532 noch einen Kompromiss zwischen dem allgemeinen Strafrecht und dem Partikularismus der Länder und Städte darstellte, war es um den Partikularismus in den Niederlanden 1570 geschehen. Auch die Kriminal-Ordnung verwies genau wie die Carolina auf das Römische Recht als ergänzendes Recht. Eins der populärsten Werke, das in allen juristischen Bibliotheken im Osten und im Westen vorhanden war, war die Manier van precedeeren in civile en crimineele saaken von Simon van Leeuwen. Es enthält Kommentare zu den 32 Artikeln der Ordonnantie op de Justifie von 1580, zu den 81 Artikeln der Crimineele ordonnantie und den 75 Artikeln der Ordonnantie op de Stijl von 1570. Von diesem für die Rechtspraxis geschriebenen Kommentar erschienen zwischen 1666 und 1733 mindestens zehn Auflagen. Daneben benutzte man in Übersee für den Prozessweg an den Raad van justitie die Inleyding tot de practick van de Hove van Holland von Willem de Groot. Auch das war ein populäres kleines Werk. Ein echtes Handbuch, professioneller, aber auch kostspieliger, war die Manier van procedeeren [...] civile zaken von Paulus Merula, in der der Prozess verlauf an allen Spruchkörpern beschrieben wurde. Joannes van der Linden besorgte davon 1781 eine neue Ausgabe. Van der Linden war auch der Verfasser der Verhandeling over de judicieele practijcq of form van procedeeren voor de Hoven van justitie in Holland gebruikelijk, die in zwei Bänden 1794/98 erschien und noch 1829 neu aufgelegt wurde. Darüber hinaus publizierte van der Linden 1806 sein Regtsgeleerd practicaal en koopmans handboek, in dem nicht nur das Privatrecht, sondern auch das Straf- und Prozessrecht in civilibus et criminalibus klar dargelegt wurde. Sklavenrecht. 1532 fragte der Landvogt Marias von Ungarn um Rat nach bei dem Grote Raad, was mit einem entlaufenen Sklaven der portugiesischen Botschaft zu geschehen habe. Musste in die Forderung des Botschafters nach Rückgabe des Sklaven eingewilligt werden? Nein, gutachtete der Grote Raad, denn in den Niederlanden sei die Sklaverei unbekannt50. Ein gutes Jahrhundert später brachten niederländische Schiffe Tausende von Sklaven von der Küste Guineas nach Brasilien zur Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen. Die WIC besaß ein Monopol für allen Handel an der Elfenbein-, Goldund Sklavenküste Afrikas. Afrikanische Kriegsherren verkauften schon im 16. Jahrhundert ihre menschliche Kriegsbeute an die Portugiesen und später an die Niederländer, Engländer, Franzosen, Schweden und Deutschen. Skla50

Arthur GAILLARD, Inventaire des mémoriaux du Grand Conseil de Malines, Bruxelles 1900, Nr. 161.

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ven wurden von den Niederlanden nach Brasilien, Surinam und Curaçao gebracht, wo sie durch die WIC verkauft wurden. Holländer waren Sklavenhändler, aber auch Besitzer von Sklaven, die als Arbeitskräfte auf den Plantagen in Brasilien und Surinam oder in der Landwirtschaft, in den Gärten und Häusern der weißen Besitzer tätig waren51. Aber Sklaven trieben auch Handel für ihre Herren; Sklavinnen bekamen Kinder von Weißen; Sklaven wurden freigelassen oder freigekauft; Sklaven machten Zeugenaussagen usw. Das Corpus iuris civilis (Inst I 3) stellte bereits fest, dass der Besiegte durch den Sieger getötet werden dürfe oder „als Sklave, als Sache zum Eigentum seines Herrn wird". Haben die Holländer das römische Sklavenrecht angewandt? In der Instruktion von 1636 für Brasilien handeln die Artikel 85 und 86 „von den Negern oder Sklaven". Art. 86 bestimmte, dass auf die Sklaven „alle Rechte und Bestimmungen, die durch das gemeine Recht wegen der Sklaven und Unfreien statuiert worden sind, sowie die Regelungen, die durch die Heren XIX gemacht wurden", in Anwendung kommen sollten. Auch Ostindien kannte die Sklaverei. Die Batavischen Statuten von 1642 zählten schon 31 Artikel über die Sklaven. Über Sklavenhandel und Sklaverei wurde viel geforscht und noch mehr geschrieben, aber die Frage, wie die „gemeenen rechten" in der Praxis in den niederländischen Kolonien gehandhabt wurden, wurde bisher kaum gestellt. Ich begnüge mich mit einigen Umriss-Skizzen über die manumissio und den Sklaven als testes. 1998 wurden die Freibriefe Curaçaos, die in den Jahren 1722 bis 1863 verliehen wurden, in Regestenform publiziert52. Nicht nur die manumissio testamento, sondern auch die manumissio fideicommissaria erweist sich als eine im 18. Jahrhundert häufig vorkommende Form. Aber auch zu seinen Lebzeiten ließ der patronus, der Besitzer, Sklaven frei. Es kam vor, dass Freibriefe an alte oder kranke Sklaven ausgestellt wurden, wodurch der Besitzer sich der Sorge für den Sklaven nach seinem Tod enthob. Diesem Missstand wurde streng entgegengetreten. Freilassungen aufgrund treuer Dienste oder Zuneigung sollten nicht immer, aber doch in der Regel auf gutem Verhalten gründen. Die älteste bekannte Freilassung auf Curaçao datiert aus dem Jahr 1722, aber schon 1711 war dort die Rede von „freien Sklaven", die wie die Weißen Kopfgeldsteuer zahlen mussten. Das älteste bekannte Reglement der Freilassung kommt 1741 aus Surinam53. Es enthält einige für uns interessante Bestimmungen wie die Verpflichtung des patronus (Art. 4), die Freigelassenen „in der christlichen Religion unterweisen zu lassen", und die Pflicht des Freigelassenen (Art. 5), seinen in Armut geratenen Patron oder dessen 51

PietC. EMMER, De Nederlandse slavenhandel 1500-1580, Amsterdam/Antwerpen 2000; Arend H. HUUSSEN Jr., The Dutch constitution of 1798 and the problem of slavery, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 67 (1999), S. 99-114. 52 T. VAN DER LEE, Curaçaose vrijbrieven 1722-1863, Den Haag 1998. 53 WIP Suriname (Anm. 4), Nr. 394.

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Kinder „nach Einschätzung" durch den Richter zu unterhalten. Wenn der Freigelassene ein Testament machte und kinderlos starb (Art. 9), sollte ein angemessener vierter Teil, eine portio légitima, an den Patron oder dessen Kinder gehen. Starb der Freigelassene ohne Testament und mit (Klein-)Kindern, dann erbten diese „gemäß dem in Amsterdam gebräuchlichen Erbrecht" (Art. 7). 1764 wurde näher festgelegt - vielleicht aus Anlass eines konkreten Falles - , dass, wenn der Freigelassene ohne Testament verstarb, aber mit Hinterlassung von (Klein-)Kindern, dann diese erbten, „gemäß dem hier [in Surinam] gebräuchlichen Erbrecht". Starb er ohne Testament und ohne (Klein-)Kinder, dann sollte der Patron oder dessen Erben „in den Besitz des Freigelassenen folgen" 54 . Im Übrigen galt in Amsterdam und in Surinam, wie gesagt, das Erbrecht von 1599. Die Summe für das Freikaufen wurden oft durch den Freigelassenen selbst oder durch ein freies Familienmitglied bezahlt. Der Sklave musste insofern doch wohl über beträchtliche Ersparnisse (peculium) verfügt haben können. Am 4. Januar 1741 wurde auf Curaçao eine Bekanntmachung ausgefertigt, in der festgelegt wurde, dass „freie Neger oder Mulatten", die auf Schiffen anheuern wollten, für zwei Reale einen Ausweis erwerben mussten, in dem bestätigt wurde, „dass sie frei geboren oder frei geworden sind"55. Sklaven benötigten eine „pro forma manumissio", um zu verhindern, dass man Sklaven als solche verkaufte, falls das Schiff gekapert wurde. Eine merkwürdige Form von zeitweiser Freilassung von Sklaven, die auf See zwischen Curaçao und der Küste Südamerikas als Schiffsmannschaft für ihren Patron arbeiteten: freier Mann auf See, aber Sklave auf Curaçao. Aus den Jahren 1741 bis 1776 sind Dutzende solcher Freilassungsbriefe registriert; anscheinend hatte dieses System einige Zeit Erfolg. Eine systematische Untersuchung des „Sklavenrechts" unter diesen Aspekten und über die Rolle des römischen Sklavenrechts in der Rechtspraxis wäre lohnend. Ich beschränke mich auf zwei Fälle. 1798 gewährte die Witwe Minos auf Curaçao einer Sklavin und ihren Kindern die Freiheit. Im Zusammenhang mit neuen formalen Vorschriften beantragte die Witwe dreißig Jahre später eine offizielle Bestätigung dieses Vorgangs. Während der Bearbeitung ihres Antrags verstarb die Witwe, woraufhin Gläubiger der Witwe reklamierten, dass die Freilassung „in fraudem creditorum" geschehen sei. Der für diese Beschwerden zuständige Justizbeamte, der als patronus servorum fungierte, stellte fest, dass die Frau nicht allein während der ganzen dreißig Jahre den Status einer freien Person besessen habe, sondern dass laut Digesten 40.9 eine Freilassung nur dann „in fraudem creditorum" geschehen könne, wenn „qui vel jam eo tempore quo ma54 55

Ebd., Nr. 663. WIP Curaçao (Anm. 4), Nr. 162: 7. Mai 1742.

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numittit solvendo non est, vel qui datis libertatibus desiturus est solvendo esse". Die Witwe war sowohl 1789 als auch 1828 vermögend, so dass keine Rede von einem „consilium fraudanti" oder vom „fraus creditorum" sein konnte56. Übrigens konstatierten die Kommissare 1828 in Guyana, dass in den Kolonien oft die Klage zu hören sei, dass die durch Testament Freigelassenen von den Erben und Testamentsvollstreckern als Sklaven angesehen würden und dass die Freigelassenen vollkommen zu Unrecht mit dem „onus probandi" (Beweislast) für ihre Freiheit belastet würden57. Am 30. Oktober 1819 hatte eine Witwe am Kap ein gerade geborenes Sklavenmädchen, Mardtje, durch Privaturkunde freigelassen. Die Witwe verheiratete sich wieder, und ihr Mann ließ mala fide Mardtje bei dem Slave Registry Office als Sklavin registrieren. Die Sache kam 1823 ans Licht, und der Ehemann, inzwischen selbst Witwer, wurde wegen plagium gerichtlich verfolgt und schließlich durch den Raad van Justitie unter dem Vorsitz von Sir Johannes Truter zu den Kosten des Verfahrens und einem Jahr Gefängnis auf Robben Island verurteilt58. Und dann der Sklave als Zeuge. Eine Frau in Berbice bat um eine Entscheidung aufgrund eines durch ihren Mann begangenen Ehebruchs, welcher durch das Zeugnis eines Sklaven bewiesen wurde. An Jonas Daniel Meijer, einen bekannten Amsterdamer Juristen, wurde 1829 die Frage gerichtet, ob in der Kolonie das Zeugnis eines Sklaven Gültigkeit im Sinn von Beweiskraft besitze. Sein Gutachten lautete, dass, obschon die Aussage eines Bediensteten „reprochabel" sei, sie in Einzelfällen, so beim adulterium, zugelassen werden könne, und zwar unter Berufung auf den Kommentar von Voet, Dig. de testibus, num. 12. 1824/25 hatten die Kommissare dieselbe Frage gestellt. Die Antwort war bejahend, obwohl der Sklave nicht unter Eid vernommen wurde. Wenn der Sklave getauft war, dann konnte er auch vereidigt und unter Eid vernommen werden59. Dass das Zeugnis eines Nicht-Christen in der Kolonie ein Problem darstellen konnte, ergibt sich nicht nur aus einem Brief des Direktors von Demarary an die Heren X aus dem Jahr 1756, dass es „geprescribeerde costuyme" sei, dass ein Indianer nicht gegen einen Christen aussagen könne, sondern auch aus der Leidener Dissertation De testimoniis Aethiopium, Chinensium aliorumque paganorum in India orientali, die 1770 durch den der 56

VAN DER LEE, Vrijbrieven (Anm. 52), S. 8 f. Second Report of the Commissioners of Enquiry into the Administration of Criminal and Civil Justice in the West Indies and South American Colonies. United Colony of Demerara and Essequebo, and Colony of Berbice. Dated 14 April 1828. Ordered, by The House of Commons, to be printed, 25 July 1828, S. 32. 58 A. C. G. LLOYD, Celebrated Cape trials No 5. Rex v. Chr. Ph. Zinn for falsification and plagium, in: South African Law Journal 38 (1921), S. 398-404. J. D. MEUER, Consultation, Amsterdam 1842, Cons IX (1829). Second Report (Anm. 5 7 ) , S. 150. 57

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Kapkolonie entstammenden G. Hemmy verteidigt wurde. In der Rechtspraxis am Kap der Guten Hoffnung war es eine aktuelle Frage, ob dem Zeugnis eines Hottentotten, des ursprünglichen Bewohners des Kaps, Beachtung geschenkt werden müsse. Hemmys Antwort war ,ja", und zwar auch aufgrund der Batavischen Statuten, die Chinesen als Zeugen zuließen60.

II. Napoleon und die Kodifikation Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ist der Übergang vom Ancien Régime in eine neue Epoche. Die Französische Revolution, die Kriege Frankreichs mit England und Napoleons gesetzgeberisches Wirken haben auch die niederländischen Kolonien in Übersee berührt. Seit 1793 befand sich England im Krieg mit Frankreich. 1795 wurde die Republik der Vereinigten Niederlande unter dem Namen Batavische Republik ein Satellit Frankreichs. 1802 wurde der Friede von Amiens geschlossen, durch den die durch die Engländer in Schutz genommenen batavischen Kolonien mit Ausnahme von Ceylon an die Batavische Republik zurückgegeben wurden. 1803 begann ein neuer Krieg zwischen England und Frankreich, der erst mit dem Fall Napoleons 1814 enden sollte. 1806 trat an die Stelle der Batavischen Republik das Königreich Holland mit Napoleons Bruder Louis-Napoleon als König. 1810/11 bis 1813 wurde das Königreich dem Französischen Kaiserreich einverleibt. Der Wiener Kongress vereinte die nördlichen und südlichen Niederlande unter König Wilhelm I. aus dem Haus Oranien. Nach 1830 bildeten die südlichen Niederlande unter einem eigenen Fürsten aus dem Haus Sachsen-Coburg das Königreich Belgien. Die Engländer besetzten im August 1799 Surinam, das im November 1802 an die Batavische Republik rückübertragen wurden. Im Mai 1804 kapitulierte man erneut vor den Engländern. Nach einem Versuch der Franzosen, von Französisch-Guadeloupe aus die niederländischen Inseln zu besetzen, stellten sich die Inseln unter den Winden 1800 unter die Protektion der Engländer, bis im Januar 1803 die Kolonie wieder batavisch wurde. Von 1807 bis 1816 standen die drei Inseln abermals unter englischer Verwaltung61. Von den drei Inseln über den Winden bestand die Insel St. Martin seit 1648 aus einem französischen und einem niederländischen Teil. Der niederländische Teil von St. Martin unterstand mit St. Eustatius und Saba 1795-1801 französischer, 1801-1802/03 englischer, 1802-1810 niederländischer und 181060

John Abraham Jacob DE VLLLLERS, Storm van 'sGravesande. Zijn werk en zijn leven uit zijne brieven opgebouwd, 's-Gravenhage 1920, S. 178. Gijsbert HEMMY, De testimoniis ..., hrsg. und übers, von Margarett Hewett, Cape Town 1988. 61 WIP Suriname (Anm. 4), Nr. 936, 958, 969; WIP Curaçao (Anm. 4), Nr. 499, 521, 580 und 719.

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1816 mitsamt dem französischen Teil englischer Hoheit. 1816 wurden der niederländische und der französische Machtbereich wiederhergestellt. Berbice, Demarary und Essequibo waren 1797-1802 englisch, dann, nach dem Frieden von Amiens, wieder niederländisch, aber seit 1803 erneut englisch. Durch die Londoner Konvention wurde 1814/15 festgelegt, dass diese drei Gebiete (Guyana) englisch bleiben sollten, ebenso wie die Kapprovinz, die 1795-1803 britisch, ab März 1803 bis 1806 batavisch und danach wieder englisch wurde. Erst 1811 kapitulierte Ostindien vor den Engländern; 1816 kehrten die Niederländer dorthin zurück. Am 15. Februar 1796 wurden die niederländischen Besitzungen auf Ceylon an die Engländer übergeben, die seitdem dort verblieben sind. Die Geschichte des römisch-holländischen Rechts in denjenigen Kolonien, die englisch wurden (Guyana, Ceylon und Südafrika), ist eine ganz andere als in denen, die bei den Niederlanden verblieben (Küste von Guinea, Niederländisch-Ostindien, Surinam und die niederländischen Antillen). 1. Die an Großbritannien übergehenden Kolonien Wenn die Engländer eine Kolonie übernahmen oder eroberten, blieben die bestehenden Einrichtungen und das geltende Recht in Kraft, solange sie nicht widerrufen wurden. In der Instruktion, die der Gouverneur von Ceylon 1798 aus London mitbekam, stand, dass er „the Laws and Institutions that subsisted under the Dutch Government" weitmöglichst zu respektieren habe. Ans Kap wurde 1795 geschrieben und 1806 noch einmal wiederholt, dass „the burghers and inhabitants shall preserve all their rights and privileges which they have enjoyed hitherto". Bei der Kapitulation von Demarary, Essequibo und Berbice 1803 wurde in Art. 1 bestimmt, dass „the laws and usages of the Colony shall remain in force and be respected". Wie lauteten die „laws and usages", und wie funktionierten die „institutions"? Wilmot Horton schlug im englischen Parlament vor, „to inquire into the state of settlements of the Cape of Good Hope, Mauritius and Ceylon and also into the Administration of Criminal Justice in the Leeward Islands". Die Mitglieder einer „Commission of Inquiry into the Administration of Justice in the West Indian and South American Colonies" wurden vom Staatssekretär Bathurst ernannt. Die Kommissare Jabez Henry und Coneys trafen Ende 1824 in Demarary ein; 1828 legte Henry - Coney war inzwischen verstorben - den Bericht vor62. Die Commissioners of Eastern Inquiry, J. T. Bigge und W. M. G. Coolebrooke, denen 1825 noch W. Blair zur Seite gestellt wurde, legten ihren Bericht über das Kap 1826 vor. Über Ceylon erstatteten die

62

Second Report (Anm. 57).

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Kommissare Coolebrooke und Cameron Rapport63. Das Ergebnis all dieser Bemühungen war beeindruckend. Man wollte nicht nur eine Bestandsaufnahme machen, sondern es war auch notwendig zu modernisieren und anzupassen. So musste es auf jeden Fall zu einer Trennung von exekutiver und richterlicher Gewalt kommen, musste eine Appellationsmöglichkeit eingerichtet werden mit dem Privy Council in London als letzter Instanz, und musste eine Charter of Justice die neuen Richtlinien beinhalten. Überdies wurden nicht nur in den Berichten die Bekanntmachungen von 1580, 1594 und 1599 über das Erbrecht ins Englische Ubersetzt, sondern auch das Handboek von 1806 von J. van der Linden unter dem Titel Institutes of the Laws of Holland durch J. Henry übertragen und 1828 in London herausgegeben. Die Inleidinge von Hugo Grotius wurden von C. H. Herbert, Advokat am Supreme Court of Civil Justice of British Guyana, übersetzt und 1845 in London veröffentlicht. Danach folgten noch die Ausgaben von 1878, 1888 und 1903 in Kapstadt und die von 1926 in Oxford. Der Advokat J. van der Linden hatte 1827 eine lateinische Übersetzung der Inleidinge begonnen zum Nutzen der englischen Juristen, die in Übersee oder in Appellationsfällen vor dem Londoner Privy Council das römisch-holländische Recht anwenden mussten. Bei seinem Tod 1835 war die Übersetzung fertig, doch sie erschien erst 1962 im Druck. Angesichts der Möglichkeit einer Berufung an den Privy Council in London hatten auch „our Lordships" Interesse an holländischen Werken64. British Guyana". Die Commissioners legten ihrem Bericht 469 Fragen zugrunde, die in den Jahren 1824/25 dem Präsidenten des Raad van Justitie, dem Fiskal und dem Sekretär der Kolonien Demarary und Berbice vorgelegt wurden, sowie noch einmal 28 Beilagen. Einschneidende Eingriffe in das Zivilprozessrecht wurden nicht für nötig gefunden. 1831 wurden Berbice, Demerary und Essequibo unter eine einzige Verwaltung und unter einen Supreme Court gebracht. 1834 wurden die niederländischen Bezeichnungen „schout, cipier, dienaars" durch „first officer of police, keeper of the jail, policeman" ersetzt. Der letzte Fiskal schied 1833 aus dem Amt, ein günstiger Moment, um Funktion und Bezeichnung zu verändern; an seine Stelle traten ein Attorney General und ein High Sheriff. Die Anglisierung des Prozessrechts fand in den folgenden dreißig Jahren statt65.

63

G. G. VISAGIE, The law applied at the Cape from 1652 to 1828, in: Miscellanea forensia histórica, Amsterdam 1988, S. 325-343, hier: S. 330. Tambyah NADARAJA, The legal system of Ceylon in its historical setting, Leiden 1972, S. 96. 64 J. Th. DE SMIDT, The expansion of Dutch private law outside Europe in the seventeenth and eighteenth centuries, in: The world of Grotius (1583-1645), Amsterdam 1984, S. 179— 193, hier: S. 191. 65 SHAHABUDDEEN, The legal system (Anm. 48), S. 381.

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Nachdem 1821 die Folter abgeschafft worden war, wurde 1829 das aus dem Jahr 1570 stammende Strafprozessrecht dem englischen angeglichen. Die Kriminalordnung von 1570 verlor 1846 ihre alte Bezeichnung, blieb aber offiziell noch bis 1893 in Kraft. Aus den Jahren 1818 bis 1831 sind acht gedruckte Gutachten des berühmten Amsterdamer Advokaten J. D. Meijer bekannt, die sich alle auf Fälle in Berbice, Demarary und Essequibo bezogen. Einzelne von ihnen haben in einem Prozess vor dem Privy Council als Gutachten gedient. In allen diesen Fällen basierten die Gutachten auf dem geltenden Recht in diesen Kolonien, dem römisch-holländischen Recht, wie dies bei Voet, Grotius und den anderen angeführten Autoritäten zu finden war66. Das römisch-holländische Privatrecht hatte einen langen Atem. 1914 erschien der Bericht der 1912 eingesetzten „Roman-Dutch Law Commission"67. Ihr Auftrag war zu ermitteln, ob „changes in the Common Law of the Colony are desirable" und welche englischen Gesetze nötig seien „to enable the law to be altered from Roman-Dutch to English". Mit dem Common Law war das römisch-holländische Recht gemeint, das in den Kolonien galt. Der Vorschlag der Kommission hatte zum Ergebnis „An Ordinance to codify a certain portion of Roman-Dutch law of the colony and to substitute the English Common Law and principles of equity for the Roman-Dutch Common Law". Eine Kodifizierung kam zwar nicht zustande, wohl aber ein erweitertes fundamental law, The Civil Law of British Guiana Ordinance 1916, das am 1. Januar 1917 in Kraft trat. Das „annus luctus" und die „laesio enormis" verschwanden, die Legitimierung durch „subsequens matrimonium" blieb bestehen, desgleichen die Regeln „moeder maakt geen bastaard" („eine Mutter macht keinen Bastard"); zudem blieb auch die holländische Art und Weise der Übertragung von Liegenschaften vor dem Richter in Geltung. Auch das Erbrecht ab intestato wurde auf eine eigene Art geregelt. Alle namentlich aufgeführten Bekanntmachungen von 1580/94, 1599, 1629, 1661, 1732 und 1774 sowie alle anderen Regelungen, die im Widerspruch zur Ordinance standen, verloren ihre Geltung. 1919 konnte dann auch ein Artikel unter dem Titel The Passing of Roman-Dutch Law in British Guiana veröffentlicht werden68. Sein Autor war M. C. Dalton, dem 1913 als Registrar von Britisch-Guyana 168 Fragen vorgelegt worden waren. Insgesamt wurden 940 „questions" an zehn in der Rechtspraxis erfahrene, in England geschulte Juristen - ein einziger mit südafrikanischer Erfahrung - herangetragen. Es ist bemerkenswert, dass bei aller Kritik, die man der „hotch-potch condition" 66

MEUER, Consultation (Anm. 59), Nr. VII, IX, X, XIII, XXVI-XXVIII und XXXI. British Guiana. Report of the Common Law Commission (Chairman: J. J. Nunan) (Roman-Dutch Law Commission, appointed 4th June 1912), Georgetown 1914. ®8 M. C. DALTON, The passing of Roman-Dutch Law in British Guiana, in: South African Law Journal 36 (1919), S. 4-17. 67

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(Frage 766) des Rechtssystems gegenüber hatte, es an Anerkennung für das römisch-holländische Recht nicht fehlte. Bezeichnend ist das, was Abraham, ein Mann mit vierzigjähriger Erfahrung im Registrars'-Office als clerk of the Court und als sollicitor, Uber einen neuen Richter berichtete, der mit dem römisch-holländischen Recht konfrontiert wurde. Er soll gesagt haben „,they should take all the books on Roman-Dutch law in the law library and throw them out of the windows'. In six months he was so enamoured of it that he bought a lot of them [...]" (Frage 572). Ceylon. Bereits 1799 legte H. Cleghorn ein Bericht über „The Administration of Justice and Revenue [...] under the Dutch Government" vor, der auf dem Bericht des Schweizers J. Burnand fußte, der zwanzig Jahre im Dienst der VOC auf Ceylon tätig gewesen war. Die Charter of Justice von 1832 brachte Veränderungen in der richterlichen Organisation Ceylons und machte die Berufung an den Privy Council in London verbindlich. 1815 wurde das zentrale Gebiet Ceylons, das Königreich Kandy, unter britische Verwaltung gestellt. Hinsichtlich des Privatrechts hatte das zur Folge, dass in dem Gebiet, in dem während der VOC-Zeit niemals römisch-holländisches Recht gegolten hatte, nun eben dieses wirksam wurde als Ergänzung zum Recht von Kandy. Mit der „Introduction of Law of England Ordinance of 1852" erhielt das römischholländische Recht die Qualität von „subsidiary law"69. Noch 1933 wurde im Fall Sultan v Peiris gesagt, dass „the Roman-Dutch law can be considered as the applicable law in the whole of the country". „Roman-Dutch law fills the gaps", wenn Gesetze und altes Herkommen aufhörten, deutlich zu sein70. 1948 erhielt Ceylon seine Unabhängigkeit und änderte 1972 seinen Namen in Sri Lanka. Kap der Guten Hoffnung. Die Commissioners in British Guyana erkundigten sich 1912 in Südafrika, ob dort vielleicht Anläufe gemacht worden seien, das römisch-holländische Recht als „the Common Law of Cape Colonie" durch das englische Recht zu ersetzen. Die Antwort lautete, dass 1864 vergebens versucht worden war, das englische Intestat-Erbrecht an die Stelle des örtlichen Rechts der Kapprovinz zu setzen. Das Wechselrecht war englisch, während für die See-, Brand- und Lebensversicherung der englische „Act 8 of 1879" galt. Dieses Gesetz aber basierte auf dem niederländisch-englischen Gewohnheitsrecht, „therefore the English is practically the same as RomanDutch Law". Der Brief endete mit der Feststellung, „that the necessity for a substitution of English law has never been seriously entertained"71. Der Text 69 70

HOVY, Ceylon (Anm. 4), S. cxxix-cxlii: De Nederlandse wetgeving in de Engelse tijd. M. H. J. VAN DEN HORST, The Roman Dutch law in Sri Lanka, Amsterdam 1985,

S. 120; NADARAJA, C e y l o n ( A n m . 6 3 ) , S . 1 9 0 , 1 9 1 , 2 3 9 .

71

Report (Anm. 67), Appendix III. Correspondence with various Colonies as to any proposed changes in their Common Law. Letter d. d. 24 October 1912.

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dieses Briefes ist einem Schreiben C. H. van Zyls entnommen, „one of the highest living authorities in regard of the law in the Cape Province". War das Klima im 19. Jahrhundert tatsächlich dem römisch-holländischen Recht gegenüber freundlich? 1806 war das Kap britisch, 1822 Englisch die offizielle Sprache geworden. Mit der Charter of Justice von 1827 wurde seit dem 1. Januar 1828 das Englische auch als Rechtssprache verbindlich, mussten Richter und Advokaten in England ausgebildet sein und wurde eine Berufung an den Privy Council in London möglich. Der Raad van Justitie wurde zum High Court. In dieser Periode wurde J. A. Truter, der in Leiden die Rechte studiert hatte, Fiskal (1809) und 1812 Präsident des Raad van Justitie sowie der erste Chief Justice. Laut Charter musste Recht gesprochen werden gemäß „the laws now in force". Nach Truter waren das die Verordnungen, die durch die Obrigkeit am Kap publiziert worden waren, die aus dem Mutterland oder aus Batavia kamen, sowie das Recht der Provinz Holland, ebenso das Römische Recht, soweit es einen Teil des holländischen darstellte, oder, wie die Kommissare schrieben: „Roman Law, explained by the commentaries and annotations of the Dutch jurists, amongst the most celebrated of whom esteemed Voet, Grotius, and in later times van Leeuwen and van der Linden"72. Für die Periode 1806 bis 1827 ist vor einigen Jahren eine Untersuchung über den Einfluss des englischen Rechts auf die Rechtssprache am Kap vorgelegt worden. Allgemein blieb man bei der alten Übung, das römisch-holländische Recht anzuwenden, aber auf dem Gebiet des Strafrechts und Strafprozessrechts, des Beweis-, Handels- und Wechselrechts wurden von den Advokaten und Rechtsberatern neben W. Blackstone auch andere englische Autoren zitiert. Die Anwendung des „Stare decisis"-Prinzips machte die Publikation der Urteile sinnvoll. Die Supreme Court Reports fangen 1828 an mit Menzies' Berichten und umfassen die Urteile der ersten zwanzig Jahre des Gerichtshofs am Kap. Die Erwartung des Kommissars Brigge lief 1826 noch darauf hinaus, dass allein durch Gesetzgebung und Rechtsprechung das englische Recht das Common Law am Kap werden würde. In Britisch-Guyana und auf Ceylon kam es, wie Brigge es erwartet hatte. Am Kap sollte die Sache, wohl aus verschiedenen Gründen, einen anderen Verlauf nehmen73. In der ersten, aber auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag die Rechtspflege in den Händen von herausragenden Juristen, die pragmatisch zu Werk gingen, beide Rechtssysteme kannten und das Bessere in jedem System zu würdigen wussten: J. A. Truter, die dritte Generation eines deutschen Einwanderers, 72

VISAGIE, The law (Anm. 63), S. 333. Reinhard ZIMMERMANN, Das römisch-holländische Recht in Südafrika, Darmstadt 1983. Vorwort: „[...] daß, vermittelt durch Autoritäten wie Grotius und Voet, römisches Recht im Gewände des römisch-holländischen Rechts und damit die Tradition des auf dem Corpus Juris aufbauenden ius commune noch Gegenwartsbedeutung hat". 73

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der 1820 als erster Südafrikaner Sir wurde, Sir William Burton, der Schotte William Menzies, Hendrik Cloete und natürlich Lord Johann Hendrik de Villiers am Ende des 19. Jahrhunderts. Dazu kam eine spezielle Ausbildung für Juristen am Kap, die das Spezifische des örtlichen Rechts allein schon verstärkt haben muss. Schon im 18. Jahrhundert, aber auch im 19. bis praktisch zum Ende des 20. Jahrhunderts kamen südafrikanische Juristen nach Leiden, um auf dem Gebiet des Römischen oder römisch-holländischen Rechts zu promovieren. Überdies haben Burentreck und Burenkrieg das Interesse für Recht und Sprache des Landes der „Statenbijbel" vor allem bei den Afrikaanssprechenden geweckt. 1845 wurde in Natal das römisch-holländisch-kapsche Recht rezipiert, „body of law commonly called the Roman-Dutch law as accepted and administered by the legal tribunals of the colony of the Cape of Good Hope [...]"; darauf folgten 1884 Basutoland (Lesotho), 1898 Rhodesien, 1907 Swaziland, 1909 Botswana, 1919 Südwest-Afrika und 1948/62 die Prince Edward-Inseln. Bei der Unabhängigkeit des Oranje-Freistaats 1854 wurde als Grundlage das „alte römisch-holländische Recht von 1827 festgelegt, wie es in den Werken von Voet, van Leeuwen, Grotius, van Alphen, Merula, Lybrecht, van der Linden, van der Keessel und den von ihnen zitierten Autoritäten ausgelegt ist". Das römisch-holländische Privatrecht von vor 1827 war noch frei von englischen Einsprengseln! Transvaal setzte 1858 fest, „dass das Gesetzbuch van der Lindens [...] das Gesetzbuch dieses Staates bleibt", ergänzt durch die Werke Simon van Leeuwens und die Inieidinge Hugo Grotius'. Mit dem „Gesetzbuch" van der Lindens war sein Regtsgeleerd practicaal en Koopmans handboek von 1806 gemeint. 1910 wurden die vier Gebiete zur Südafrikanischen Union vereinigt, und es kam zur Einrichtung eines Hoogeregtshof, der als Appellationsgericht unifizierend wirkte74. Die Union wurde 1961 zur Republik von Südafrika. Die gesellschaftlichen Veränderungen in Südafrika sind groß. Auch das Recht muss überprüft werden. Was das für das römisch-holländische Recht bedeutet, wird die Zukunft lehren75. 2. Die Küste von Guinea In St. George d'Elmina, dem Hauptort der Kolonie, blieb die niederländische Flagge ununterbrochen gehisst. Die großen Ereignisse in Europa gingen im gewissen Sinn an der Küste Guineas vorbei. Nach dem Frieden von Amiens gab es offenbar Kontakt zum Mutterland und wurden einige neue Regelungen durchgeführt, aber als der Krieg zwischen Frankreich und England wieder 74

DE WET. Die ou skrywers (Anm. 32), S. 4 ( M 2 . Deon Hurter VAN ZYL, Roman-Dutch Law: A South African Perspective, in: Roman Law at the Crossroads, hrsg. von Johannes E. Spruit [u. a.], Kenwyn 2000, S. 169-182. 75

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ausbrach, schlössen der holländische und englische Direktor der Guineaküste am 3. Juni 1805 einen Friedens- und Freundschaftsvertrag. 1808 rief der Generalkommandant der Nord- und Südküste von Holländisch-Afrika, der 1807 ernannte A. de Veer, dazu auf, einen Treueid auf Louis-Napoleon, den Bruder des Kaisers, abzulegen, der 1806 zum König von Holland ausgerufen worden war. Durch Publikation vom 24. März 1810, dem Jahr, in dem der König zurücktrat, wurden das Crimineel Wetboek (für das Königreich Holland) und das Wetboek Napoleon (eingerichtet für das Königreich Holland) eingeführt, mit der strengen Empfehlung, dass ein jeder, wer es auch sei, sich genauestens danach zu verhalten habe und die zuwider Handelnden der Strafe dieser Gesetze unterworfen würden; demzufolge sollten die genannten Gesetzbücher für jeden Beamten, Freibürger und Untertan zur Lektüre ausliegen. Vierzehn Tage lang sollte ein jeder zwischen 9 und 12 Uhr, außer sonntags, die Gesetzbücher in den Amtsräumen des Gouvernements einsehen können76. Dies betraf die durch Louis-Napoleon 1809 erlassenen beiden Gesetzbücher, die im Mutterland nur zwei Jahre in Kraft waren und 1810/11 durch die französischen Code Civil und Code Pénal ersetzt wurden. Ob diese Gesetzbücher an der Küste Guineas jemals Anwendung fanden und ob sie jemals abgelöst wurden, ist mir vorläufig nicht bekannt. Bei allen Diskussionen, die im 19. Jahrhundert in Den Haag und in Übersee bezüglich der Kodifikation im Interesse der ost- und westindischen Kolonien geführt wurden, schien man die Küste von Guinea vergessen zu haben. 1871 wurde die Kolonie an England übergeben. 3. Die ost- und westindischen niederländischen Kolonien Niederländisch-Indien. Im Mutterland blieben nach dem Sturz Napoleons die französische Rechtsorganisation und die französischen Gesetzbücher, die 1810/11 eingeführt worden waren, in Kraft. Kein Niederländer hatte damals aber daran gedacht, die französische Gesetzgebung auf die ost- und westindischen Kolonien zu übertragen, die 1816 wieder niederländisch geworden waren. Im Gegenteil war man in den Niederlanden selbst lebhaft damit beschäftigt, die französische Gesetzgebung wieder durch niederländische Gesetze zu ersetzen. So wurde der französische Code Civil 1838 ausgetauscht gegen ein auf dem französischen Code basierendes Nederlands burgerlijk wetboek und der Code Pénal 1881/86 gegen das Wetboek van strafrecht. Konnten die Gesetzbücher ohne Angleichung in den tropischen Kolonien eingeführt werden, und sollten sie für alle Bevölkerungsgruppen mit Einschluss der Sklaven Geltung haben? In Erwartung der Einführung der neuen Gesetzgebung wurde vorläufig in Surinam, auf Curaçao und in Niederländisch-Indien durch die niederländischen Richter das dort geltende, also auch 76

's-Gravenhage, Algemeen Rijksarchief, NBKG 245, S. 3, 4.

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das römisch-holländische Recht angewandt. Wie in den englisch gewordenen Kolonien durch in England geschulte Juristen nach römisch-niederländischem Recht verfahren wurde, so musste auch durch die niederländischen Richter, die nach Ost und West gesandt worden waren, jenes Recht angewandt werden, das 1809 im Mutterland abgeschafft worden war. Niederländisch-(Ost-)Indien war für die Niederlande in jeder Hinsicht wichtiger als Surinam und Curaçao sowie die zugehörigen Inseln (Aruba, Bonaire, St. Martin, St. Eustatius und Saba). Eine Sonderkommission unter Leitung von C. J. Schölten van Oud Haarlem und H. L. Wichers wurde 1839 beauftragt, „die neue niederländische Gesetzgebung [von 1838] für Niederländisch-Indien anwendbar zu machen". 1848 wurde das neue Bürgerliche Gesetzbuch eingeführt zusammen mit einem Handelsgesetzbuch sowie einer neuen Gerichtsorganisation. Es sollte für die Europäer und die mit ihnen Gleichgestellten gelten. Darunter wurden alle diejenigen verstanden, die durch ihre Stellung an Handel und Wandel der Europäer Anteil hatten. Der einheimischen Bevölkerung blieb, nach eigenem Gewohnheitsrecht (Adatrecht) zu leben und Handel zu treiben77. Obgleich auf dem Gebiet des Strafrechts in Indien 1848 einige in den Niederlanden geltende Strafbestimmungen für Europäer in Kraft traten, blieben weiterhin die einschlägigen Bestimmungen der indischen Statuten von 1642/1776 bis 1867 bestehen. Dann trat eine indische Version des niederländischen Strafgesetzbuchs (= Code Pénal) für Europäer in Kraft. Obwohl man sich in den 40er Jahren Gedanken über ein allgemeines Strafgesetzbuch für Europäer und Eingeborene gemacht hatte, wurde 1872 ein besonderes Strafgesetzbuch für Eingeborene angekündigt, das übrigens dem Gesetzbuch für Europäer wie ein Zwilling dem anderen glich. Dem christlichen Europa fiel eine zivilisierende Aufgabe zu, es musste Barbarismen wie das Abhauen von Händen unterbinden. Inzwischen war 1886 der Code Pénal durch ein eigenes niederländisches Strafgesetzbuch ersetzt worden. Das Dogma der Konkordanz verlangte, dass im niederländisch-indischen Strafgesetzbuch für Europäer „die in den Niederlanden geltenden Gesetze befolgt wurden", während für die anderen das europäische Recht soweit als möglich Anwendung finden sollte und ansonsten „die unter ihnen geltenden, mit ihren religiösen Ritualen und Gewohnheiten in Zusammenhang stehenden Rechtsregeln befolgt werden sollten" (Regierungsverordnung 1906, Art. 75). Seit dem 1. Januar 1918 ersetzte das für jeden geltende Strafrecht die zwei Gesetzbücher von 1867 und 1872. 1920 wurde ein Entwurf eines „auf alle Bevölkerungsgruppen passenden bürgerlichen Gesetzbuches für Niederländisch-Indien" vorgelegt. Es war der Leidener Professor Cornelis van Vollenhoven, der dagegen - mit Erfolg 77

Joseph VAN KAN, Uit de geschiedenis onzer codificatie. Batavia 1927.

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Einspruch erhob. Nach seiner Meinung mussten autochthone Rechtskulturen respektiert werden und war das europäische Recht nicht per definitionem besser als das einheimische Recht. Planmäßig ließ er das Ada/recht der Bevölkerungsgruppen in Niederländisch-Indien durch niederländische Beamte sammeln und aufzeichnen. In der Praxis wurde auch durch die Landraden unter Leitung eines niederländischen Beamten gemäß dem Adafrecht Recht gesprochen - eine Form von „Apartheid" avant la lettre mit dem einen entscheidenden Unterschied, dass aufrichtiger Respekt vor der anderen Kultur und keine divide-et-impera-?o\iûk ihre treibende Kraft war78. Surinam, Curaçao und die zugehörigen Inseln. Im Regierungsreglement von 1865 für Surinam und die Antilleninseln wurde festgelegt, dass das Bürgerliche Recht, das Handels-, Straf- und Prozessrecht, das Militär-, Urheberund Patentrecht, das Notariat und die Steuerrechtsprechung „soweit als möglich in Übereinstimmung mit den in den Niederlanden bestehenden Gesetzen" geregelt werden sollten. 1848 dachte man noch daran, die ostindische Kodifikation entsprechend den Bedürfnissen der westindischen Kolonien zu bearbeiten. 1852 wurde dann aber eine Staatskommission eingesetzt, „um die neue niederländische Gesetzgebung des Reiches für die niederländischen Besitzungen in Westindien einzurichten". 1860 wurden die Entwürfe für eine westindische Kodifikation des Bürgerlichen Rechts, des Handelsrechts und des Prozessrechts publiziert, die durch L. Mettmann in Surinam und auf Curaçao diskutiert und eingeführt werden sollte. Durch unglückliche Umstände dauerte dies länger als erwartet. Von 1828 bis 1845 hatten Surinam, die drei Inseln unter den Winden sowie die drei Inseln über den Winden ein einziges Generalgouvernement gebildet unter dem Generalgouverneur in Paramaribo (Surinam). Wegen der großen kulturellen Unterschiede war das keine dauerhafte Lösung. Es blieben zwei verschiedene Welten, die am Ende ihre eigenen Kodifikationen bekommen sollten. So wurden am 1. Mai 1869, wohl zur selben Zeit, in Surinam und auf Curaçao die neue Gerichtsorganisation und die Gesetzbücher eingeführt79. Inzwischen war 1863 die Sklaverei abgeschafft worden, so dass das Gesetzbuch nach damaliger Auffassung für jeden Geltung besaß. Die Aufhebung der Sklaverei hatte zur Folge, dass ein Großteil der Plantagensklaven die Plantagen verließ. Um diesem Defizit an Arbeitskräften zu begegnen, wurden Tausende Hindu-Arbeiter aus Indien sowie 78

Cornelis FASSEUR, Colonial Dilemma: Van Vollenhoven and the struggle between Adat Law and Western Law in Indonesia, in: European Expansion and Law. The Encounter of European and Indigenous Law in 19th- and 20th-Century Africa and Asia, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und J. A. de Moor, Oxford 1992, S. 237-257. 79 Aksel Johann Albrecht QUINTUS BOSZ, De weg tot de invoering van de nieuwe wetgeving in 1869 en de overgang van het oude naar het nieuwe burgerlijk recht, in: Een eeuw Surinaamse codificatie. Gedenkboek (1869 - 1 mei - 1969), Paramaribo 1969, S. 7 25.

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Chinesen und Javaner aus Niederländisch-Indien nach Surinam verbracht. Sehr viele blieben und machten Surinam zu dem multiethnischen Land, das es heute noch ist. Da das Bürgerliche Gesetzbuch auch für alle diese Neubürger galt, gab es Spannungen im Bereich des Personenrechts. 1933 wurde ein Beamter aus Niederländisch-Indien, J. C. Kielstra, zum Gouverneur von Surinam bestellt. In Indien gab es besondere Regelungen bezüglich des Eherechts für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Diese Differenzierung war es, die Kielstra 1940 in Surinam für die Hindus und Moslems einführte, die ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. Nach dem Krieg wurde ihm vorgeworfen, eine divide-et-impera- oder gar Apartheid-Politik betrieben zu haben. Im Übrigen zeitigten die Regelungen Erfolg. 1973 wurden sie durch eine Ordnung ersetzt, die die verschiedenen Formen der Eheschließung verwaltungstechnisch vereinfachte. Mit der Einführung des Strafgesetzbuchs von 1868 kam zum 1. Mai 1869 das Ende für die Kriminalverordnungen von 1570 und für die Carolina von 1532 in den hier behandelten Landstrichen. Anders als in Ostindien, galt dieses Strafgesetzbuch für alle Bevölkerungsgruppen. Das neue Strafgesetzbuch trat am 1. Januar 1916 in Kraft. Konkordanz: vom Prinzip zum Dogma. Im 17. und 18. Jahrhundert handelte man pragmatisch. Im Prinzip befolgte man das Recht, mit dem man in Holland und in Seeland vertraut war. Das ist der Gedanke, der in der Ordnung von 1629 und in den wenigen Vorschriften bezüglich des zu beachtenden Rechts niedergelegt ist. Man war auf Gesetzestexte, verständliche Werke von Damhouder bis J. van der Linden und ... auf seinen gesunden Menschenverstand angewiesen. Man kann von der Rezeption des römisch-holländischen Rechts in Übersee oder von der Filiation vom Recht des Mutterlandes sprechen80. Das Recht in Übersee wird nicht immer dem in Holland aufs Haar geglichen haben, das sich im Übrigen ja auch entwickelt hat. Mit der Einführung der Kodifikation in den Kolonien schien der Gedanke der Reichseinheit sich auszuweiten zu dem der Rechtseinheit. Das Recht in Übersee musste gleich, musste übereinstimmend sein mit dem in den Niederlanden. In der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat das Anlass zu ziemlich viel Diskussion gegeben. Musste denn wirklich jede Änderung, die im niederländischen Arbeitsrecht vorgenommen wurde, auch nach Übersee übertragen werden? Nicht der Bedarf an Regelungen, sondern das Dogma von der Konkordanz bestimmte, was zu geschehen hatte. Die Rechtseinheit wurde mitbefördert durch ein einziges Richterkollegium. In Niederländisch-Indien wurde die alte Tradition fortgesetzt, und der Hoog Gerechtshof in Batavia blieb das höchste Spruchkollegium in Indien. In bestimmten Fällen war eine Berufung an den Hooge Raad in den Niederlanden 80

Antonie J. M. KUNST, Receptie en corcordantie van recht, Willemstad NA 1973.

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möglich, aber davon wurde nur selten Gebrauch gemacht. Aus dem Westen legte man nach wie vor erst bei dem Nationaal Gerechtshof in Den Haag Berufung ein, dann am Hoog Gerechtshof und seit 1838 beim Hooge Raad. Bis 1869, dem Jahr, in dem im Westen das alt-niederländische Recht aufgehoben wurde, wurden durch den Hooge Raad 275 Kolonialangelegenheiten behandelt. Wie der Londoner Privy Council in den westindischen Angelegenheiten römisch-holländisches Recht anwenden musste, so wurde auch der Hooge Raad in diesen Fällen mit dem alten Recht konfrontiert, das 1809 in den Niederlanden bereits abgeschafft worden war.

III. Dekolonisation Nach dem 2. Weltkrieg wurde Indonesien unabhängig. Die Hauptstadt Niederländisch-Indiens, Batavia, erhielt ihren ursprünglichen Namen Jakarta zurück. Alle niederländischen Namen wurden durch eigene ersetzt, doch die niederländischen Verwaltungsstrukturen und Rechtssysteme wurden bis auf Weiteres beibehalten. Viele niederländische Juristen wurden in den vergangenen Jahrzehnten zu Rate gezogen, um Veränderungen auf dem Gebiet des Straf-, Handels-, See- und Verwaltungsrechts einführen zu helfen. Das Bürgerliche Gesetzbuch wurde - soweit es nicht in Widerspruch zur Verfassung stand - beibehalten, seine Exklusivität bzw. Apartheid aber wurde beseitigt. Auf dem Papier galt das Gesetzbuch nun für jeden Indonesier, in der Praxis freilich sollte nicht jeder sich dessen bewusst sein. Für Surinam und die niederländischen Antillen wurde 1954 das Statuut errichtet, durch das innerhalb des Reichsverbandes den Reichsteilen in Übersee weitgehende Autonomie zuerkannt wurde. In Art. 39 wurde außerdem festgelegt, dass das Recht in den Niederlanden, in Surinam und den niederländischen Antillen „soweit als möglich in übereinstimmender Weise" geregelt werden sollte. In der Praxis bedeutet diese Konkordanz-Bestimmung indes schon lange kein Dogma mehr. So ist in den Niederlanden nach dem Krieg eine neue Kodifikation des Bürgerlichen Rechts (NBW 1992) zustande gekommen. Am 1. Mai 1969 feierte man in Surinam und auf den niederländischen Antillen den 100. Jahrestag der Kodifikation, die dort an die Stelle des alten Rechts getreten war. Die Bürgerlichen Gesetzbücher von 1869 sind dort noch immer in Kraft, auch wenn es Juristen auf den Antillen gibt, die dies bedauern. In Art. 23 des Statuut ist festgelegt, dass das Verhältnis des Hooge Raad zu Surinam und den Antillen gesetzlich geregelt werden soll. Während Surinam von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen wollte und 1975 eine selbständige Republik wurde, erhalten die niederländischen Antillen die Bande zu den Niederlanden bis auf Weiteres aufrecht, wenn auch die Insel Aruba

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innerhalb des Verbandes einen merkwürdigen Sonderstatus bekommen hat. So trat 1965 eine „Cassatie Regeling" für die niederländischen Antillen (und Aruba) in Kraft. In den darauf folgenden 25 Jahren wurden mehr als 100 Antillen-Fälle im Hooge Raad verhandelt, und die Tendenz ist steigend81. Es gibt eine doppelte Erklärung für diesen Vorgang. Ein günstiges Steuerklima und eine gute, unabhängige, nicht korrupte Rechtsprechung scheinen für ein kleines Land von großer Bedeutung zu sein. Große internationale Firmen haben ihren Sitz auf den Antillen und unterwerfen sich der antillanisch-niederländischen Rechtsprechung. Die Rechtsprechung liegt in den Händen von in den Niederlanden ausgebildeten Richtern antillanischer, surinamischer und niederländischer Herkunft. Der Hooge Raad der Niederlande muss in antillanischen Fällen das antillanische bürgerliche Recht von 1869 anwenden, das nicht mehr identisch ist mit dem Nederlands Nieuw Burgerlijk Wetboek von 1992. (Übersetzt von Sigrid Duchhardt-Bösken)

Summary The two "multinationals" avant la lettre, the United East India Company (VOC 1602) and the Dutch West India Company (WIC 1621), were authorized on behalf of the States General of the Republic of the United Provinces to make alliances with princes and potentates to establish trading posts, to capture fortresses from the Portuguese and the Spaniards, to name governors and officers and to provide them with proper instructions. The Dutch established these trading posts and settlements from the Cape of Good Hope to Deshima in Japan, and in the western hemisphere in North America (New Netherlands), the Caribbean (the Antillean Isles), South America (Guyana, Surinam and Brasil) and the Gold Coast. Rules of civil law became necessary in the settlements when family law became a necessity. The main seats of the boards of the VOC and the WIC were situated in the cities of Amsterdam (Holland) and Middleburg (Zeeland). Consequently the law of Holland and Zeeland was the law of the Company and also the law in the settlements overseas. Only in the Ordre of 1629 can a formal reference to Roman and Roman Dutch law be found. The law in the East and West Indies

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Hans E. RAS, De Burgerlijke kamer (inclusief de Antilliaanse cassatieregeling), in: De Höge Raad der Nederlanden 1838-1988: een portret, Zwolle 1988, S. 81 f.

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developed in its own way, based on Roman Dutch Law, the regulations made by the governments overseas and the decisions given by the Courts of Justice. The greater part of the judges in the Courts were merchants and officers. Only the fiscal judge was a lawyer by profession. His influence on the decision making must have been enormous. It is a pity that only a small number of these court records is accessible. The Napoleonic Wars brought the Cape of Good Hope, Ceylon (Sri Lanka) and Guyana under the British flag. In the 20th century the influence of Roman Dutch Law was still recognizable in Guyana and Ceylon. In South Africa, Roman Dutch Law is still a part of common law in that country. Napoleon created Codes and Kingdoms. In the Kingdom of the Netherlands, Roman Dutch Law was abolished as early as 1809. In the Dutch EastIndies in 1846 and in the West-Indies in 1869 (Dutch) civil code (1838) replaced Roman Dutch Law. After World War II, Indonesia and Surinam became independent republics. The Antillean Isles are still members of the Dutch Kingdom. In 1992 a new codification replaced the old civil code of 1838 in the old home country. In Indonesia, Surinam and in the Antillean Isles however, the old Dutch codes are still in force. Since 1965 the Dutch Supreme Court has also been the court of cassation for the Antillean Court of Justice.

Der Einfluss des europäischen Rechts in Südafrika Von

François du Bois und Daniel Visser 1. Einführung „To say that there is not a book of law in the whole civilised world which may not possibly be an authority in the [South African] Courts, is not to go beyond the truth", schrieb Victor Sampson 1887 und bemerkte, dass „we shall find references in the [...] Law Reports to Roman, Dutch, English, American, Scotch, French, German and other authorities [...]"'. Bemerkenswerterweise ist dies auch noch über ein Jahrhundert später der Fall, vielleicht sogar noch in einem höheren Maß, seit die Annahme der ersten demokratischen Verfassung Südafrikas 1994 eine neue, postkoloniale Rechtsordnung nach sich zog. Südafrikas Kolonialgeschichte steht zu Recht im Ruf eines Importeurs fremder Rechtssysteme. Die niederländische und dann britische Administration hat als Erbe ein selbständiges Gemeines Recht hinterlassen, das sich im Wesentlichen aus römisch-holländischen und englischen Elementen zusammensetzt, die sich mit der Zeit zu einem singulären System vermischten, das weder reines ius commune noch Common Law war2. Zum größten Teil gründen das südafrikanische Gerichtssystem und das darauf bezogene Prozessrecht in den Charters of Justice von 1827 und 1832, die für das englische Common Law charakteristische Institutionen und Urteilsmethoden auf ein substantielles Recht mit tiefen Wurzeln im europäischen Zivilrecht aufpfropften3. Dieses gemischte Rechtssystem, das seinen Ursprung am Kap der Guten Hoffnung hatte, ging eine innige Verbindung mit dem einheimischen Recht 1 V. SAMPSON, Sources of Cape Law, in: The Cape Law Journal 4 (1887), S. 109-119, hier: S. 109. 2 Vgl. allgemein: Southern Cross. Civil law and common law in South Africa, hrsg. von Reinhard Zimmermann und Daniel P. Visser, Oxford 1996, S. 1-30; Herman R. HAHLO/ Ellison KAHN, The Union of South Africa: The Development of its Laws and Constitution, Cape Town 1960, S. 10-41; Ben BEINART, The English legal contribution in South Africa: The interaction of civil law and common law, in: Acta Jurídica 1981, S. 7-63; Daniel P. VLSSER, Daedalus in the Supreme Court: The common law today, in: Tydskrif vir Hedendaagse Romeins-Hollandse Reg (künftig: T. H. R. H. R.) 49 (1986), S. 127-138; Reinhard ZIMMERMANN, Synthesis in South African private law: Civil law, common law and usus hodiernus pandectarum, in: South African Law Journal (künftig: S. A. L. J.) 103 (1986), S. 259-289; H. J. ERASMUS, Thoughts on private law in a future South Africa, in: Stellenbosch Law Review 5 (1994), S. 105-132. 3 Vgl. H. J. ERASMUS, The interaction of substantive and procedural law. The Southern African experience in perspective, in: Stellenbosch Law Review 1 (1990), S. 348-371.

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ein und verbreitete sich im Kielwasser der Siedlungsbewegungen und kolonialen Eroberung über das Gebiet, das 1910 zu jener politischen Einheit wurde, die es noch heute ist: Südafrika. Ironischerweise war Südafrikas endgültiger Bruch mit seiner kolonialen Vergangenheit dennoch von einer bemerkenswerten Übernahme von Prinzipien und Modellen aus den beiden großen westlichen Rechtssystemen begleitet. Südafrikas neue Verfassung beinhaltet eine Bill of Rights und stellt ihr Zwangsmittel zur Seite, die durch europäische und nordamerikanische Präzedenzfälle beeinflusst sind4. Allerdings unterscheidet sich dieser Prozess des ausgehenden 20. Jahrhunderts signifikant von dem früheren: Erstens ist er von innen angestoßen worden und stellt somit einen wirklichen Importprozess im Gegensatz zu einer von außen auferlegten Verpflanzung dar5. Zweitens sind seine Quellen nicht nur durch die Verhältnisse der Kolonialherrschaft bestimmt, sondern durch eine anerkannte moralische Führung: Die hohe Wertschätzung, die die kanadische und deutsche Jurisprudenz im Bereich der Menschenrechte genießen, bewirkte, dass ihr Beispiel einen bemerkenswerten Einfluss sowohl auf die Formulierung als auch auf die folgende Interpretation der ersten demokratischen Verfassung Südafrikas ausübte, und der Einfluss der internationalen Menschenrechtsnormen kann nicht von der Rolle getrennt werden, die die Staatengemeinschaft bei der Schaffung der Bedingungen spielte, die eine demokratische Verfassung erst ermöglichten6. Diese postkoloniale Rezeption von Verfassungs- und Menschenrechtsnormen bildet den Rahmen, in dem das Erbe der kolonialen Verpflanzung von europäischem Recht in ein Gebiet mit eigenen autochthonen Rechtstraditionen immer noch umstritten ist. Kann Gerichtshöfen traditioneller Häuptlinge gestattet werden, nach Maßgabe von einheimischem Recht Funktionen wahrzunehmen, die dem trias politica-Prinzip widersprechen, das für Gerichte europäischer Herkunft gilt? Sollen einheimische Erbfolgeregeln Anwendung finden, die im Gegensatz zur in europäischen Traditionen wurzelnden Gesetzgebung eher dem Vater eines Verstorbenen als seiner illegitimen Tochter das Erbe zusprechen? Solche und ähnliche Fragen haben Südafrika nach 1994 beschäftigt 7 . 4

Siehe unten Abschnitt 4. François VENTER, Milestones in the évolution of the new South African Constitution and some of its salient features, in: South African Public Law (künftig: S. A. P. L.) 9 (1994), S. 211-221, hier: S. 221. 6 Lourens Marthinus Du PLESSIS/Hugh CORDER, Undeistanding South Africa's Transitional Bill of Rights, Cape Town 1994, S. 47 f. (Die Verfasser waren Mitglieder des Technical Committee, das für die Formulierung des Abschnitts über die Grundrechte in der Übergangsverfassung von 1993 verantwortlich zeichnete.) Für Einzelbeispiele siehe unten: Neville BOTHA, International law and the South African intérim Constitution, in: S. A. P. L. 9 (1994), S. 245-256. 7 Siehe Mthembu v Letsela and others 1998 (2) SA 675 (T) sowie Bangindawo and others v Head of the Nyanda Regional Authority and others; Hlantlalala v Head of the Westem 5

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Die koloniale Verpflanzung von Recht nach Südafrika hat aber auch ein anderes Erbe hinterlassen: die Umformung europäischer Rechtstraditionen. Am Kap und nachfolgend in den übrigen Gebieten, die 1910 ein einziger Staat wurden, wurde das Recht des kolonialen Mutterlandes den lokalen Erfordernissen angepasst, aufgefrischt durch die Gesetze und Interessen Großbritanniens, als dieses den Niederländern als Kolonialherr folgte, und erlebte wechselnde Schicksale in den folgenden rechtspolitischen Debatten und sozioökonomischen Entwicklungen innerhalb des Gemeinwesens, das sich von den europäischen Siedlern herleitete. Diese Umformung europäischer Rechtstraditionen in einer Gesellschaft, die nacheinander Phasen der Kolonisation durch verschiedene europäische Mächte erlebte, prägt auch noch die gegenwärtige rechtliche Realität. Immer noch beruft man sich auf die niederländische Gesetzgebung des 17. Jahrhunderts bei der Entscheidung von Konflikten, die außerhalb von deren Gesichtskreis zu liegen scheinen8, immer noch treten Fälle des Abwägens ein, ob eine Norm angewendet werden soll, die ihren Ursprung in römischen Herr-Sklave-Verhältnissen hat9, und ob der historische Stammbaum von Normen immer noch ihr Schicksal bestimmen kann10. So geht das Gefüge des südafrikanischen Rechtssystems aus zwei sich überkreuzenden Entwicklungssträngen hervor: der Begegnung von europäischem und einheimischem Recht und der Wechselwirkung zwischen Normen, die in verschiedenen europäischen Traditionen wurzeln. In der gegenwärtigen historischen Phase dient die Nach-Apartheid-Verfassung als Webstuhl, auf dem sich dieser Prozess fortsetzt in dem Bemühen, dass der entstehende Stoff den Dimensionen einer multikulturellen demokratischen Gesellschaft entspricht.

2. Die Verpflanzung europäischen Rechts Im Januar 1672, nahezu zwanzig Jahre, nachdem die niederländische Vereenigde Oost-Indiesche Compagnie (VOC) am Kap der Guten Hoffnung einen Außenposten ihrer batavischen Kolonie eingerichtet hatte, um Schiffen auf dem Weg von oder nach Holland auf halber Strecke frische Vorräte zu liefern, gab es einen Rechtsstreit in einem Fall, dessen Bedeutung schon damals offenkundig war. Die Fakten, über die die lokale gerichtliche Körperschaft, der Raad van Justitie, zu befinden hatte, waren einfach: Angehörige der einheimischen Bevölkerung wurden angeklagt, europäische Angestellte der VOC überfallen und ausgeraubt zu haben. Die vor dem Rat verhandelte juristische Tembuland Regional Authority and others 1998 (3) SA 262 (TK). 8 Siehe Palabora Mining Co Ltd v Coetzer 1993 (3) SA 306 (T). 9 Siehe Pike v Minister of Defence 1996 (3) SA 127 (CkS). 10 Siehe Du Plessis, NO v Strauss 1988 (2) SA 105 (A).

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Frage war aber dennoch verzwickt. Hatte er überhaupt eine Jurisdiktion Uber die Angeklagten, und konnte er auf sie dasselbe Recht anwenden, das angewandt worden wäre, wenn die Rollen von Täter und Opfer vertauscht gewesen wären? Der Fiscaal, der als Ankläger auftrat, drängte auf eine bejahende Antwort. Indem er das Corpus Iuris Civilis zitierte, argumentierte er: „Weil das Naturrecht allen vernunftbegabten Kreaturen eingepflanzt ist, können die Hottentotten davon nicht ausgeschlossen werden. Daher sind sie dem Naturrecht und damit auch dem Völkerrecht unterworfen [...]. Obwohl wir sicherlich nicht daraus schließen könnten, dass alle seine Aspekte von dieser Nation eingehalten werden, ist es dennoch gewiss, dass es teilweise beachtet wird - Eltern wird auf eine eigene Art Gehorsam geleistet, sie schützen ihre Körper, erhalten ihre Freiheit [...] und treffen miteinander Vereinbarungen über Tauschhandel oder von anderer Art [...]" .

So kam es zur Anwendung europäischen Rechts auf Afrikaner. Man betrachtete sie als dem ius naturale und dem ius gentium unterworfen und damit auch den Gesetzen, die in der Gemeinschaft der europäischen Siedler zur Anwendung kamen und die als eine umfassendere und weiter entwickelte Form dieser universellen Prinzipien betrachtet wurden, als es ihre eigenen Gesetze waren12. Die Gesetzbücher, die von den Niederlanden mitgebracht worden waren, waren eine Art ratio scripta geworden, die nicht nur für diejenigen galt, die unter der Flagge der Vereinigten Niederlande gereist waren und gelebt hatten, sondern auch für all die, die in dem Gebiet lebten, das die VOC am Kap kontrollierte. Europäisches Recht war wirklich zum Recht der Südspitze Afrikas geworden: ein koloniales Rechtssystem war geboren. Es ist ein auffälliges Kennzeichen südafrikanischer Rechtsgeschichtsschreibung, dass die ursprüngliche Rechtfertigung für die Anwendung europäischen Rechts auf die eingeborene Bevölkerung durch einen Mythos verdunkelt wurde, der in direktem Widerspruch zu der Grundlage steht, mit der die Gerichtshoheit 1672 behauptet wurde. J. C. De Wet, der Doyen der südafrikanischen Rechtshistoriker, vertrat 1958 die Auffassung, dass das Kap gemäß zeitgenössischem Rechtsverständnis Niemandsland (res nullius) gewesen und durch Besetzung (occupatio) niederländisches Territorium geworden sei13. Obwohl dies seitdem für viele südafrikanische Rechtshistoriker zur 11

Argumentation des Fiscaals Crudop vor dem Council of Justice, Januar 1672 (freie Übersetzung aus dem Niederländischen), zitiert bei A. J. BofiSEKEN, Uit die Raad van Justitie, 1652-1672, Cape Town 1986, S. 378. Zur Geschichte der Khoisan - früher „Hottentotten" oder „Buschmänner" genannt - siehe Emile BOONZAAIER [U. a.], The Cape Herders, Cape Town 1996. 12 In dem Fall, auf den Anmerkung 11 Bezug nimmt, stützte Fiscaal Crudop seine Argumentation ausdrücklich auf zwei holländische Publikationen, DAMHOUDERS Practyk Crimineel (1555) und GROENEWEGENS De Legibus Abrogatis (1649). 13 J. C. DE WET, Nederlandse Reg in Suid-Afrika tot 1806, in: T. H. R. H. R 21 (1958), S. 162-175.

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verbindlichen Lehre geworden ist, ist es schwer, diese Auffassung mit den Fakten in Übereinstimmung zu bringen. Grotius, der führende Völkerrechtler jener Zeit, auf dessen De Jure Belli ac Pacis De Wet sich beruft, um seine These zu stützen, erkannte natürlich die Okkupation von Land, das niemandem gehörte, als eine Quelle für einen Rechtstitel und für die Souveränität über ein Gebiet an. Sorgfältig unterschied er jedoch diese beiden Konzepte voneinander und wies darauf hin, dass die Erwerbung eines Rechtstitels nicht notwendigerweise die Jurisdiktion über das fragliche Gebiet mit sich bringe14. Überdies nannte Grotius es „schamlos", für sich selbst durch das Recht der Entdeckung ein Gebiet zu beanspruchen, das ein anderer in Besitz hielt, „selbst wenn der Inhaber sündhaft ist, falsche Vorstellungen von Gott oder einen trägen Verstand hat, denn Entdeckung bezieht sich auf Dinge, die niemandem gehören"15. An anderer Stelle erklärte er es für einen „Irrglauben zu meinen, dass Ungläubige nicht Herren ihres Eigentums seien", wies .jenen wohlbekannten Vorwand, Völker gegen ihren Willen auf eine höhere Zivilisationsstufe zu zwingen", als „ungerecht und unheilig" zurück, und bestritt, dass Portugal einseitig die Souveränität über ostindische Gebiete erworben haben könne, da die gesellschaftliche Organisation der ursprünglichen Bewohner ausschließe, dass die Gegend res nullius gewesen sei16. Wendet man Grotius' Schriften auf das Kap an, dessen Bewohner von den Niederländern als Völkerrechtssubjekte anerkannt wurden, bieten sie wenig Halt für De Wets Anschauungen. Die von De Wet vertretene Anschauung sollte statt dessen als eine anachronistische Rückprojizierung des Ergebnisses von Entwicklungen innerhalb der südafrikanischen Kolonialgesellschaft und im Völkerrecht vor allem im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf das 17. Jahrhundert betrachtet werden17. In Südafrika wurden die Grenzen der europäischen Besiedlung ständig nach Norden und Osten ausgeweitet18. Es verwundert nicht, dass dieser Vorgang von Konflikten mit der eingeborenen Bevölkerung begleitet war, zum Teil vielleicht deswegen, weil diese Expansion immer weniger Land übrig ließ, in das man sich zurückziehen konnte, ohne sich selbst zum Tod durch Verdursten oder Hunger zu verurteilen, und zum Teil, weil diese Expansion die Kolonisten in Kontakt mit Menschen brachte, die ein sesshafteres bäuerliches Leben führten als die Jäger und Hirten aus dem Volk der Khoisan. Was auch 14

Hugo GROTIUS De Iure Belli ac Pacis 2, 3, 4. Ebenda 2, 22, 9. 16 Hugo GROTIUS, De Mare Liberum, englische Übersetzung von Ralph van Deman Magoffin, London 1916, S. 11, 13,19. 17 Die Geschichte der Entwicklung des Völkerrechts in dieser Beziehung wurde im Fall der Westsahara nachgeprüft und verworfen durch den Internationalen Gerichtshof, in: International Court of Justice Reports 59 (1980), S. 13-193. 18 Siehe The Shaping of South African Society, 1652-1840, hrsg. von Richard Elphick und Hermann Giliomee, Cape Town 1989, S. 1-230. 15

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immer der Grund war: ein Nebenergebnis scheint gewesen zu sein, dass sich die europäischen Siedler der Schwäche ihrer Rechtsposition bewusster wurden und daher nach Rechtfertigungen suchten, die ihre Herrschaft über die indigene Bevölkerung legitimieren konnten. Dies wird besonders offensichtlich aus den Dokumenten, die von den Voortrekkers stammen, Gruppen holländischer Kolonisten, die in den 1830er Jahren die Grenzen der Kolonie überschritten und rudimentäre politische Institutionen in Gebieten einrichteten, die sie schließlich zu unabhängigen Republiken erklärten. So schrieb zum Beispiel der Volksraad von Natal 1842 an Gouverneur Napier, dass „we [...] took possession of uninhabited tracts of country which we acquired by friendly treaties as well as [...] with our blood and treasure [...]. May we not ask where there is a colony or conquered possession of Great Britain, or any other Power, to which a stronger claim or right can be asserted? We are convinced that there is not [...]"19. In ähnlicher Weise erklärte der Volksraad von Ohrigstad in einem Memorial von 1845, dass „[...] there is a law recognized by all nations, that when a certain group of people leave its government and this group of people settle in a region which is independent of any government, then they have the right to live under and make their own laws [...]"2°. Eine ähnliche Selbstbetrachtung fand auch in der Kapkolonie selbst statt, wo sie, wie es scheint, von dem Wunsch inspiriert war, die britischen Herrscher, die endgültig entschieden, auf Dauer am Kap zu bleiben, nachdem sie es während der napoleonischen Kriege besetzt hatten, von dem gerechten Anspruch des römisch-holländischen Rechts zu überzeugen. Unter britischer Herrschaft schienen die territorialen Ansprüche der niederländischen Siedler nicht länger sicher. Missionare und Regierungsbeamte lenkten die Aufmerksamkeit auf die Brutalität, mit der die einheimische Bevölkerung behandelt und ihres Landes beraubt worden war, und das British Parliamentary Select Committee on Aborigenes ließ sich Beweise vorlegen. Um solche Anklagen zu entkräften, berief man sich auf die Konstruktion, dass das Kap eine terra nullius gewesen sei: „[...] we maintain that the Dutch had every right to do this, because [...] no real property rights to the land existed among its original inhabitants", stellte ein Advokat De Wet in einem öffentlichen Vortrag fest, „and thus [...] the accusation that our forefathers violated those rights is without any grounds. They did no more than dispose of barren, uninhabited and uncultivated land and make this their property [...]"21. Damit übernahm er ein Argument, mit dem John Truter, der letzte Präsident des Council of Justice 19 André DU TOIT/Hermann GiLiOMEE, Afrikaner political thought: Analysis and Documents, Berkeley 1983, S. 220. 20 Ebd., S. 222. 21 Advokat De Wet, Something about the so-called earlier right of ownership to this country of the Hottentots, a Lecture reported in Het Nederduitsch Zuid-Afrikaansch Tijdschrift 1838 (Übersetzung aus dem Niederländischen), zitiert ebd., S. 212.

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und erste Chief Justice of the High Court, der damals von den britischen Autoritäten neu eingerichtet worden war, De Wet's Anschauungen um etwa 120 Jahre vorweggenommen hatte, als er in einem öffentlichen Vortrag feststellte: „The Hottentots [...] possessed no other land than that on which they had established their kraals and allowed their cattle to graze [...] and left the unoccupied land to the first claimant [...]. We read nowhere in any authentic documents that Jan van Riebeeck intended, or was obliged, to enter into negotiations, about the land with its previous occupiers. Still less was he required to make himself master of the land by force [...]. Thus ownership by right of occupation was vested in Jan van Riebeeck, on behalf of his principals [...]. The first possession of the colony, considered from this point of view, excluded all notion of the laws of the colony accommodating any institutions or customary practices of the natives [...]" .

In der Folge wurden die Debatten mehr auf pragmatischer, strategischer Ebene als auf der von Prinzipien geführt, wobei beide Seiten in dieser innerkolonialen Diskussion die Überlegenheit von europäischer Kultur und europäischem Recht als selbstverständlich annahmen. Die eine Seite förderte die Anwendung europäischen Rechts auf die einheimische Bevölkerung mit der Begründung, dass sie dazu dienen würde, die indigene Bevölkerung den europäischen Werten anzupassen, und dass sie die Kontrolle über sie verstärken würde23. Die andere Seite drängte auf den Schutz und auf die offizielle Anerkennung einheimischer Gesetze und Autoritäten mit der Begründung, dass es unmöglich sei, Afrikaner zu „zivilisieren", und dass „every measure tending to lower the importance of the Chiefs is calculated to weaken the hold we have on the people" und weiteren Widerstand hervorrufen werde24. Die Kolonialbehörden am Kap folgten dem erstgenannten Ansatz, als sie sich der Aufgabe gegenüber sahen, in der Region, die dann der östliche Teil der Kolonie wurde, eine ziemlich große, weitgehend fest ansässige einheimische Bevölkerung zu verwalten. Hier war angesichts der fehlenden eigenen Gesetzgebung das römisch-holländische Recht das einzige anwendbare Rechtssystem25. Der zweite Ansatz setzte sich jedoch in der Folge in Natal durch, wo ein System indirekter Herrschaft eingeführt wurde, das einheimische Führer als Juniorpartner in die Kolonialverwaltung eingliederte und 22

The Origins and Development of the Laws of the Colony, Report on a Public Lecture probably given by Sir John Truter, Chief Justice of the Cape 1812-1828, Het Nederduitsch Zuid-Afrikaansch Tijdschrift 1836 (Übersetzung aus dem Niederländischen), zitiert ebd., S. 210 f. 23 Vgl. Edgar Harry BROOKES, The History of Native Policy in South Africa from 1830 to the Present Day, Cape Town 1924, S. 90-93. 24 A. STOCKENSTROM, Letter to Lord Glenelg 7/1/1836, zitiert in Du TOIT/GILIOMEE, Afrikaner (Anm. 19), S. 174. 25 Dies wurde durch den Cape Supreme Court bestätigt im Fall Tabata v Tabata 1887 SC 328.

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ihnen gestattete, Streitfälle nach eigenem Recht zu entscheiden. Der Architekt dieser Strategie, Sir Theophilus Shepstone, erklärte, dass dies nötig sei, „to ensure control of the natives. You cannot control savages by civilized law [...]. Native Law gives Government greater power of introducing civilized ideas"26. Dieser Ansatz war äußerst erfolgreich, und die ihm zugrunde liegenden Gedankengänge - dass die Afrikaner „failed to participate in human historical progress", so dass sie „confined to an historical nursery" werden müssten, indem man sie mit verschiedenen Gesetzen versorge27 - waren so kongenial zur kolonialen Mentalität, dass sich ein kompliziertes System besonderer „Native Courts" entwickelte, das mit dem allgemeinen Rechtssystem nur durch die oberste Spitze der Hierarchie von Gerichtshöfen verbunden war und in der Folge in alle künftigen britischen Kolonien in Südafrika exportiert wurde. 1927 übertrug der Native Administration Act das System indirekter Herrschaft in einer einheitlichen Form auf das ganze Gebiet, das zu diesem Zeitpunkt zur Südafrikanischen Union geworden war. Ein zentrales Kennzeichen dieser Entwicklung war, dass der Grad der offiziellen Anerkennung von einheimischem Recht zweckgerichtet war: Nur jene Teile des Rechts, die nicht dem kolonialen Interesse und der kolonialen Kontrolle widersprachen, erfuhren offizielle Unterstützung. Das praktische Ergebnis war, dass, während einheimischen Normen in den Bereichen Heirat, Familienrecht und Erbfolge meist das Überleben gestattet wurde, das System des Grundbesitzes lediglich der Form nach einheimisch blieb und die letzte Kontrolle über das Land ebenso wie alle Gerichtsbarkeit in Kriminalfällen in die Hand kolonialer Amtsträger überging28. Weder die europäischen noch die einheimischen Gesetze blieben in ihrem ursprünglichen Zustand. Beide wurden von der kolonialen Begegnung beeinflusst, die ihre parallele Anwendung innerhalb einer einzigen Jurisdiktion mit sich brachte, und bis zu einem gewissen Grade standen beide Sphären untereinander im Austausch. Wie in anderen kolonialen Rechtssystemen, wurde die Rechtsordnung des Mutterlandes in einer reduzierten Form übertragen, wobei viele der Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen der Kolonie und des Mutterlandes aus der hierarchischen Ordnung der Beziehungen zwischen Kolonisten und Eingeborenen und insbesondere der kolonialen ökonomischen und politischen Praxis resultierten29. Auch die einheimische Rechtsordnung wurde in dieser Periode umgeformt. Eben der Umstand, der 26

Zeugnis gegenüber der Cape Commission on Native Laws and Customs 1883. Martin CHANOCK, Race and Nation in South African Common Law, in: Nationalism, Racism and the Rule of Law, hrsg. von Peter Fitzpatrick, London 1995, S. 195-211, hier: S. 199. 28 Eine allgemeine Darstellung bei T. W. BENNETT, Application of Customary Law in Southern Africa, Cape Town 1985. 29 Vgl. allgemein Sally Engle MERRY, Law and Colonialism, in: Law and Society Review 25 (1991), S. 889-922. 27

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ihr Überleben gestattete - ihre Anerkennung als „Gewohnheitsrecht" - , bezog sie in politische und bürokratische Prozesse ein, die die Reichweite, den Inhalt und den Charakter einheimischer Rechtspraktiken grundsätzlich veränderten. Zunächst zur Anpassung des römisch-holländischen Rechts an die Erfordernisse des kolonialen Lebens. 2.1. Die Übernahme des römisch-holländischen Rechts Zur Zeit der Ankunft der Niederländer am Kap verfügte Holland über eine Rechtsordnung, die im Übergang von einem System, das der Aufrechterhaltung der ständischen Gesellschaftsordnung diente, zu einem, das gesellschaftliche Mobilität begünstigte, schon ziemlich fortgeschritten war und diesen Weg auch weiter verfolgte. Obwohl Van Leeuwen schrieb, dass der Holländische Gerichtshof noch 1532 die alte Gliederung der Menschen in Adlige, Gemeine und Leibeigene anerkannte, und Grotius immer noch die Unterscheidung zwischen Adel und Gemeinen erwähnte, ebenso wie manche Überreste der alten Leibeigenschaft (hoorigheid), verschwammen die Standesunterschiede allmählich30. Die verbleibenden Privilegien und Beschränkungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand waren mehr formal als substantiell. Zudem war die Unterscheidung zwischen Einheimischen und Ausländem im Privatrecht nicht länger von Bedeutung31. Obwohl Freiheit und Gleichheit erst durch die Batavische Republik 1795 in vollem Umfang hergestellt wurden, war das niederländische Recht schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts auf dem Weg, seine hierarchische Vergangenheit hinter sich zu lassen. Von Anfang an ging dem Recht am Kap dieser emanzipatorische Trend ab. Wie in den ostasiatischen Besitzungen der VOC, war Sklaverei eine anerkannte Rechtsfigur32. Ein Gesetzbuch zur Sklaverei übertrug Normen aus dem Römischen Recht in ein Rechtssystem, das eine solche Einrichtung nicht kannte, und versetzte so die kleine Zahl europäischer Einwohner in die Lage, die ursprüngliche Aufgabe dieser Siedlung zu erfüllen, Agrarerzeugnisse zur Versorgung vorbeifahrender Schiffe zu produzieren. Noch wichtiger war jedoch, dass die Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung und deren Inkorporation in das koloniale Rechtssystem neue Rechtspraktiken hervor30

Vgl. Johannes Wilhelmus WESSELS, History of the Roman-Dutch Law, Grahamstown 1908, S. 405-416; Herman R. HAHLO/Ellison KAHN, The South African Legal System and its Background, Cape Town 1968, S. 526 f. 31 Ebd., S. 527. 32 Vgl. Daniel P. VISSER, The Role of Roman Law in the punishment of slaves at the Cape of Good Hope under Dutch Rule, in: Mélanges Felix Wubbe, hrsg. von Johan A. Ankum [u. a.], Freiburg 1993, S. 525-539. Zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dimensionen der Sklaverei am Kap vgl. Breaking the Chains: Slavery and its Legacy in the Nineteenth-Century Cape Colony, hrsg. von Nigel Worden und Clifton Crais, Johannesburg 1994.

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brachten, die die emanzipatorische Richtung, die die Entwicklung des Römischen Rechts in den Niederlanden charakterisierte, in einer Weise umkehrten, dass sie sogar die schließliche Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1834 überlebten. Die erste dieser Rechtspraktiken war das System der inboekselinge, unter dem zunächst Angehörige der einheimischen Bevölkerung am Kap und später auch befreite Sklaven auf einen quasi-leibeigenen Status als vertragsgebundene Arbeiter reduziert wurden33. Unter diesem System konnten Kinder, die auf einer Farm geboren worden waren, legal dazu gezwungen werden, für den Farmer zu arbeiten, bis sie das Erwachsenenalter erreichten, angeblich als Entschädigung dafür, dass dieser dem Kind in dessen früher Jugend den Lebensunterhalt gewährt hatte. Die Vertragsbindung der Kinder hatte den Effekt, dass auch ihre Eltern am Abzug gehindert wurden, noch wichtiger aber war, dass sie der Unterwerfung einer wachsenden Zahl Eingeborener zur Zwangsarbeit Tür und Tor öffnete. Die Gesetzgebung dehnte die Zwangsbindung der Kinder auf alle eingeborenen Waisen aus und eröffnete in Verbindung mit Waisen produzierenden Konflikten zwischen Kolonisten und Khoisan - Möglichkeiten für Sklavenjagden unter dem Vorwand militärischer Operationen, die kindliche Kriegsgefangene einbrachten. Um etwa dieselbe Zeit und im Großen und Ganzen aus demselben Grund - dem Arbeitskräftebedarf der Kolonisten - wurde die Freizügigkeit der einheimischen Bevölkerung beschnitten. Um Arbeiter an der Flucht zu hindern und Kolonisten daran, die Arbeiter ihrer Nachbarn einzufangen, wurden die Khoisan gegen Ende des 18. Jahrhunderts dazu verpflichtet, Pässe zu tragen wie Sklaven34. Zusätzlich beteiligte sich auch die Kolonialverwaltung selbst daran, die Khoisan zur Arbeit für öffentliche Aufgaben und militärische Expeditionen zu zwingen, an denen sie kein Interesse hatten. Obwohl die Entwicklung nicht immer nur in eine Richtung verlief und es emanzipatorische Phasen gab, in denen die Verwaltung die Kontrolle der Kolonisten über die einheimische Bevölkerung beschnitt, schaffte sie es nicht, eine wirkliche Verbesserung der Position der Khoisan zu erreichen, deren gesellschaftliche Stellung schließlich „resembled that of the imported slaves, apart from the fact that they, unlike the slaves could not be bought and sold"35. Während das „echte" römisch-holländische Recht seinen Weg vom Stände- zum Vertragsprinzip fortgesetzt hatte, wie er in verschiedenen Abstufungen in allen westeuropäischen Rechtsordnungen der Zeit zu beobachten war, hatte sich die südafrikanische Variante in die entgegengesetzte Richtung bewegt, vom Vertrags* zum Ständeprinzip. 33

Vgl., auch für den Rest dieses Abschnitts, Slavery in South Africa - Captive Labour on the Dutch Frontier, hrsg. von Elizabeth A. Eldridge und Fred Morton, Boulder 1994. 34 Richard ELPHICK/Vertrees Canby MALHERBE, The Khoisan to 1828, in: The Shaping of South African Society (Anm. 18), S. 3-53. 35 Ebd., S. 12.

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Eine Folge davon war, dass die Abschaffung der Sklaverei das südafrikanische römisch-holländische Recht nicht wieder auf eine Linie mit seiner Ursprungsform im Mutterland brachte. Es war zu dieser Zeit bereits zu tiefgreifend verändert worden, wie die Tatsache bezeugt, dass das inboek-System einen gebrauchsfertigen Mechanismus zur Verfügung stellte, um Exsklaven in den Status von Quasi-Hörigen zu überführen. Eine längerfristige Folge war, dass sich ein symbiotisches Verhältnis entwickelte zwischen der lokalen Variante des römisch-holländischen Rechts einerseits und einer hierarchischen Gesellschaftsordnung, in der sich Rassenunterschiede und die Scheidung zwischen Kolonisten und Kolonisierten wechselseitig verstärkten, sowie einer typisch kolonialen, ausbeuterischen Wirtschaft andererseits. Als frühere Siedler der Kap-Kolonie in den 1830er und 1840er Jahren im Zuge des Großen Trecks in andere Teile Südafrikas zogen, nahmen sie dieses transformierte römisch-holländische Recht mit sich, und zumal die Verbindung, die es mit der weißen Kolonialherrschaft eingegangen war, wie der folgende Abschnitt aus dem Brief eines Amtsträgers der ersten der verschiedenen Republiken, die durch den Treck entstanden, belegt: Ein „general law should be enacted prohibiting all Hottentots and other free blacks from moving about without fixed employment, but obliging them according to the Dutch practice, to bind themselves by contract to a master and to get passes from their masters [.. ,]"36. Somit hatte die Begegnung zwischen kolonialen Siedlern und der einheimischen Bevölkerung am Kap das römisch-holländische Recht verändert, unter anderem durch die Entwicklung gesetzlicher Bestimmungen, die die Bereitstellung von Arbeitskräften regelten und erzwangen und die Freizügigkeit einschränkten. Da solche Begegnungen sich in ganz Südafrika wiederholten, wurde dieses modifizierte Recht weiter ins Binnenland und in die Zukunft getragen: ,,[a]s a form of indigenous slavery that originated in the Cape and was transferred inland in the nineteenth century, inboekstelsel appears to serve [...] as a transitional form of coerced labor the history of which begins with the plantations of Stellenbosch and ends with the mining compounds of Witwatersrand"37. Tatsächlich: Ebenso schnell wie die Geschichte, die mit der niederländischen Siedlung am Kap begonnen hatte, sich fortsetzte, setzte sich auch die Transformation des übernommenen Rechtssystems fort, wobei sich der Zwang der einheimischen Bevölkerung schließlich im System der Apartheid verhärtete. Beizeiten führte dies zur praktischen Eliminierung der 36

Text eines Briefes eines Landdrost von Natalia an den Volksraad, zitiert in Du TOIT/ GILIOMEE, Afrikaner (Anm. 19), S. 75 f. (Hervorhebung von den Verfassern). 37 Slavery in South Africa (Anm. 33), S. 266. Zur Verbreitung von Zwangsarbeit in ganz Südafrika und zu ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Bedeutung vgl. D. VAN DER MERWE, „Not slavery but a gentle stimulus": labour-inducing legislation in the South African Republic, in: Tydskrif vir Suid-Afrikaanse Reg (künftig: T. S. A. R.) 1989, S. 353369.

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freiheitlichen Ansätze, die dem römisch-holländischen Recht in den Arbeiten seiner führenden Begründer, Hugo de Groot (Grotius) und Johannes Voet, an die Hand gegeben worden waren, und zwar in genau jenen Gebieten, in denen sie am wichtigsten waren: die Freiheit aller Individuen, Eigentum zu besitzen und dort zu leben, wo sie wollten, zu heiraten, wen sie wollten, zu arbeiten, für wen sie wollten, am Warenaustausch teilzunehmen und nicht in Sorge zu leben, dieser Freiheiten willkürlich beraubt zu werden. In einer Hinsicht waren diese Modifikationen nebensächlich. Die koloniale Begegnung beeinflusste den Inhalt des römisch-holländischen Rechts in keiner nennenswerten Weise; solche Veränderungen, die die Rechtsprinzipien betrafen, waren das Ergebnis einer unterschiedlichen Dynamik, namentlich von Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft der Kolonie, die, wie unten zu zeigen sein wird, römisch-holländisches in Kontakt mit englischem Recht brachten. Es war kaum ihr Anwendungsgebiet, ihre allgemeine Form, die durch die in den vorangehenden Abschnitten beschriebenen Entwicklungen verändert wurde. Das macht jedoch diese Entwicklungen in keiner Weise weniger wichtig. Im Gegenteil: Der Vorgang lässt das Wesen der sich vollziehenden Veränderungen in den Vordergrund treten. In Südafrika mutierte es zu einem Recht, das primär die Sorgen und Interessen nur desjenigen Teils der Gesellschaft widerspiegelte, dessen historische und kulturelle Wurzeln in Europa lagen, obwohl es für alle galt. Auf diese Weise wurde das verpflanzte römisch-holländische Recht, losgelöst von seinen gesellschaftlichen und ethischen Verankerungen, ein verstümmeltes römisch-holländisches Recht, eingeengt durch seinen kolonialen Kontext. Das praktische Ergebnis dieses Vorgangs wurde durch den ersten Constitutional Court President der NachApartheid-Ära zusammengefasst: „Law provided the foundations on which a racially discriminatory society was built [...]. In all this there was, of course, a conflict between the common law which denies all forms of discrimination and recognizes and seeks to protect fundamental rights and freedoms, and the bureaucratic state which increasingly claimed the right to decide for people how they should lead their lives and how privilege should be distributed. This attempt to create an apartheid superstructure upon an infrastructure of Roman Dutch common law called for a schizophrenic approach by courts to problem solving. They were at one and the same time being asked to articulate and give effect to equitable common law principles, and to uphold and enforce discriminatory laws: at one time to be an instrument of justice and at another to be an instrument of oppression" .

Es kann deswegen nicht überraschen, dass manche Kommentatoren das römisch-holländische Element des südafrikanischen Gemeinen Rechts mit Ras38

Arthur CHASKALSON, Law in a Changing Society, in: South African Journal on Human Rights (künftig: S. A. J. H. R.) 5 (1989), S. 293-300, hier: S. 294.

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senunterdrückung und kolonialer Ausbeutung assoziiert haben39, dass andere es als „a caricature, an idiosyncratic and decrepit old man" beschrieben haben, der „the crucial legitimating support of a substantive idea of justice - the true foundation of common-law authority"40 entbehre, und warnen, dass „even if a rule is, objectively speaking, a good one [...], the fact that its resurrection is justified solely (or mainly) by its having been adopted in seventeenth- and eighteenth-century Holland", seine Legitimität beeinträchtigen wird41. Wie zu erwarten war, haben einige der umstrittensten und wichtigsten Rechtsentwicklungen nach 1994 sich um das Verhältnis zwischen dem Gemeinen Recht und den in der neuen Verfassungsordnung zu bewahrenden Werten gedreht, wie noch zu zeigen sein wird. Die Genauigkeit der folgenden Voraussage, die 1992, gegen Ende der Ära der Apartheid, gemacht wurde, wird immer offensichtlicher: „Südafrika wird, eher früher als später, ein anderes politisches System erhalten [...]. [Dann] wird die gegenwärtige [...] Einstellung gegenüber den europäischen Ursprüngen des Gemeinen Rechts einfach anachronistisch sein. Weil dann das südafrikanische ,Volk' verfassungsmäßig anders definiert sein wird, wird römisch-holländisches Recht (und englisches Recht) nicht länger die Ikone des eurozentrischen Volksgeistes der weißen Herren sein [...]. [Dieser] Bruch wird sich in einem Einsteilungswechsel manifestieren, [im Zuge dessen] der Richter das Gemeine Recht benutzen wird, um seine Gedanken mit der gesetzgeberischen Weisheit von Jahrhunderten von [...] romanistischer Rechtspraxis zu erweitern und zu bereichern, und nicht in einem Geist, sich durch gegebene Regeln gebunden zu fühlen" .

2.2. Die Umformung des einheimischen Rechts Das System der indirekten Herrschaft über die indigene Bevölkerung Südafrikas, das sich nach seiner Einführung in der britischen Kolonie Natal im 19. Jahrhundert über das ganze Land verbreitete, erlaubte den Fortbestand bedeutender Teile der Rechtstraditionen jener, die den Kontakt mit und die Eroberung durch die Europäer und ihre Nachfahren vor Ort überlebten. Das hatte jedoch seinen Preis - wie das römisch-holländische Recht, wurden die einheimischen Gesetze durch die koloniale Begegnung zurechtgestutzt und somit verändert. „Gewohnheitsrecht", wie es im Wortschatz der Kolonisten 39

Penuell MADUNA, Stare Decisis and Fundamental Change in South Africa, paper delivered at a conference on The Role of Law in a Society in Transition, Harare, 1989. Der Verfasser ist der gegenwärtige südafrikanische Justizminister. 40 D. VAN DER MERWE, ES läßt sich nicht lesen - Reflections on the status and continued relevance of the South African common law, in: T. S. A. R. 1994, S. 660-681, hier: S. 662 f. 41 Daniel P. VlSSER/D. HUTCHISON, Legislation form the Elysian Fields, in: S. A. L. J. 105 (1988), S. 619-636, hier: S. 635. 42 D. VAN DER MERWE, Van ,Internalistiese* na .Eksternalistiese' Gemeneregvinding, in: T. S. A. R. 1992, S. 730-739, hier: S. 733, 736,737 (Übersetzung).

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geläufig wurde, hatte seine Wurzeln in authentischen einheimischen Normen, entwickelte sich aber als etwas, das „an invented tradition" genannt worden ist43. Die koloniale Umformung des einheimischen Rechts geschah auf verschiedenen sich ergänzenden und gegenseitig verstärkenden Wegen. Der offensichtlichste war die direkte Veränderung von Gewohnheitsrecht durch Gesetzgebung und Gerichtsentscheidungen. Ein bemerkenswertes Beispiel, das deutlich zeigt, wie europäische Werte auf diese Weise einheimische Praktiken beeinflussten, liefert die Einführung der Regel, dass die Braut selbst einer Ehe zustimmen müsse. Diese Neuerung, eingeführt in Natal durch den Code of Zulu Law (der die allgemeine Zielsetzung hatte, innerhalb des kolonialen Rechtssystems einheimischem Recht Gesetzeskraft zu verleihen), in der Kapkolonie durch Proklamation und in anderen Gegenden durch die Gerichte mittels der Anwendung des Prinzips der public policy, wurde von den traditionellen Führern missbilligt, die einwandten, sie untergrabe die elterliche Autorität, verletze Eigentumsrechte und begünstige unmoralisches Verhalten44. Dieses Beispiel weist auch auf einige andere Wege hin, wie die koloniale Begegnung afrikanisches Gewohnheitsrecht veränderte. Einer von ihnen wird durch das Verständnis der traditionellen Führer vom Zusammenbruch der elterlichen Autorität und der Moral angedeutet: Die Kolonisation führte neue wirtschaftliche und politische Realitäten ein, die das tägliche Leben beeinflussten und zu Veränderungen in den Mustern des Familienlebens, in den Formen wirtschaftlicher Aktivitäten und des Besitzes sowie in den Eigentumsvorstellungen führten. Wie einer der führenden europäischen Experten des afrikanischen Rechts bemerkt hat, war es „of the very nature of customary law that these changes could be made without formal legislation, by the people themselves who were subject to the law - the people as lawmakers. It was similarly of the essence of customary adjudication that the customary courts should reflect these changes in popular practice and attitude through their decisions, which they duly did"45. Dieser Prozess der Akkulturation des einheimischen Rechts beschleunigte sich mit der Zeit, als der Austausch zwischen der kolonialen und der kolonisierten Bevölkerung Südafrikas sich verstärkte, zumal in den urbanisierten Gegenden, wodurch eine Situation geschaffen wurde, in der heute „actual current customary-law practices do not necessarily accord with the law manuals, and on occasion appear to have 43

Peter FlTZPATRICK, Traditionalism and Traditional Law, in: Journal of African Law 28 (1984), S. 2 1 - 2 7 , hier: S. 23. 44 H. J. SIMONS, Customary Law in a Changing Society, in: Acta Juridica 1958, S. 3 2 0 341, hier: S. 328 f. 45 ANTONY ALLOTT, What is to be done with African Customary Law?, in: Journal of African Law 28 (1984), S. 56-71, hier: S. 59-61.

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changed so greatly as to have become almost unrecognizable, possibly because civil-law ideas have also been incorporated into township practice"46. Die sozioökonomischen Veränderungen, die die einheimische Bevölkerung als ein Ergebnis der Kolonisation erlebte, wurden allerdings nicht immer ohne Probleme einem sich wandelnden Gewohnheitsrecht integriert. Häufig wurde solchen Veränderungen durch die ältere Generation Widerstand entgegengesetzt, zumal von den Männern und den traditionellen Führern, deren Positionen dadurch bedroht wurden. In Kombination mit der Abhängigkeit des Kolonialstaats von der Kooperation der maßgeblichen Gruppen der einheimischen Bevölkerung, ein konstituierendes und wesentliches Kennzeichen indirekter Herrschaft, brachte dies eine weitere Umwandlung des Gewohnheitsrechts mit sich. Die koloniale Epoche wurde gekennzeichnet durch „the privileging of a single institution - chiefship - as customary. Conferrred the power to enforce their notion of custom as law, chiefs were assured of backup suppport from colonial institutions - and direct force, if need be - in the event they encountered opposition or defiance. Customary law thus consolidated the non-customary power of colonial chiefs" 47 . In einer Situation, in der eine gesteigerte geographische und soziale Mobilität und neue Formen von gesellschaftlicher Schichtenbildung einander widersprüchliche Verfahrensweisen und Ansprüche hervorbrachten, stellte die koloniale Annahme, „that there was a single and undisputed notion of the customary, unchanging and implicit, one that people knew as they did their mother tongue", sicher, dass diejenigen, die sich des besten Zugangs zur Kolonialverwaltung erfreuten, ihrer Version dessen, was gewohnheitlich sei, eine beherrschende Stellung verschaffen konnten48. Ohne diese Gewalt, die die koloniale Ordnung den Häuptlingen und Familienoberhäuptern verlieh, „the practices of young men and women, of divorcées and widows, all of whom struggled against aspects of the maintained patriarchy, would be clearly visible as custom"49. So verschaffte die gesteigerte Macht traditioneller Führer, von denen einige tatsächlich von der Kolonialverwaltung ausgewählt und eingesetzt worden waren, weil man sie gegenüber Konkurrenten mit begründeteren Ansprüchen auf traditionelle Autorität bevorzugte, solchen Nonnen und Regeln gewohnheitliche Geltung, die kaum wirklich genuines Gewohnheitsrecht waren. Obwohl „substantive customary law was neither a kind of historial and cultural residue carried like excess baggage by groups resistant to .modernization' nor a pure colonial .invention' or .fabrication', arbitrarily manufac46

Sandra BURMAN, Illegitimacy and the African Family in a Changing South Africa, in: Acta Juridica 1991, S. 36-51, hier: S. 49 f. 47 Mahmood MAMDANI, Citizen and Subject, Princeton 1996, S. 122. 48 Ebd., S. 118. 49 Martin CHANOCK, Law, State and Culture: Thinking About .Customary Law' After Apartheid, in: Acta Juridica 1991, S. 52-70, hier: S. 55.

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tured without regard to any historical backdrop or contemporary realities"50, war es also dennoch ein System von Prinzipien, die ohne die koloniale Begegnung durchaus anders ausgesehen haben würden. Die politischen Veränderungen, die in den einheimischen Gesellschaften durch die Einführung indirekter Herrschaft hervorgerufen wurden, ermöglichten die Nutzung des Gewohnheitsrechts „[to] resist the developing customary practices which were overwhelming customary law"51. Das Interesse, das der Kolonialstaat mit dem System der indirekten Herrschaft verfolgte - vernünftige, kontinuierliche und effiziente Verwaltung veränderte auch den eigentlichen Charakter einheimischen Rechts. Bis zu einem beträchtlichen Grad wurden gewohnheitsrechtliche Streitfälle direkt der Rechtsprechung durch Kolonialbeamte unterstellt, die in den nach Rassen aufgespaltenen niederen Gerichten, die der Hierarchie der „allgemeinen" Gerichte eingegliedert waren, den Vorsitz hatten. Wo dies nicht der Fall war, verlangte eine kohärente und fürsorgliche Rechtsadministration, dass die Ausübung der „gewöhnlichen" Streitschlichtungs- und Rechtsprechungsgewalt durch traditionelle Führer der Überwachung durch Kolonialbeamte und -richter mittels Appellations- und Revisionsmechanismen unterliegen sollte. Dies hatte einen tiefreichenden Einfluss auf den Charakter des Gewohnheitsrechts. Zum Teil als ein Ergebnis der Doktrin des Präzedenzfalls, die die höheren südafrikanischen Gerichte aus dem englischen Recht übernommen hatten, was bedeutete, dass frühere Entscheidungen dieser Gerichte über gewohnheitsrechtliche Fragen allmählich eine eigene Autorität gewannen; unabhängig davon, ob sie eigentliche Gewohnheiten berücksichtigten oder nicht, entwickelte sich das, was Tony Allott .judicial customary law" genannt hat, das Recht, das von den höheren Gerichten anerkannt wurde und das sich möglicherweise substantiell von dem Gewohnheitsrecht unterschied, nach dem sich die Menschen, deren Recht es eigentlich war, richteten52. Ein Nebenprodukt dieser Entwicklung war, dass sie den reaktionären Charakter des offiziell anerkannten Gewohnheitsrechts verstärkte: „[...] imbued with a concept of .legal segregation' [...] judges of the Native Appeal Courts [...] [came] down heavily on the side of the traditional law, and convey[ed] a desire to preserve it against a corrosive modernity"53. Noch wichtiger war das, was Bennett erläutert: „Once incorporated into the formal system, customary law was forced to comply with the requirements of the dominant legal culture. The work of the courts and administration would have been impossible without systematic accounts of the rules. These were compiled from ethnographies, government commissions of inquiry, the opinions of assessors and the

50

MAMDAMI, Citizen (Anm. 47), S. 118.

51

CHANOCK, L a w ( A n m . 4 9 ) .

52

ALLOTT, What is to be done (Anm. 45). SIMONS, Customary Law (Anm. 44), S. 322.

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judgments of the courts. As it was translated into written form, customary law was transformed into a fixed code, more or less conforming to the preconceptions and biases of its translators" .

Wie oben ausgeführt, wurde das einheimische Recht vom Kolonialstaat niemals in seinem vollen Umfang anerkannt, wobei der wichtigste Eingriff die Strafgerichtsbarkeit traditioneller Führer betraf. Die vorangehenden Abschnitte zeigen, wie jene Bereiche einheimischer Rechtssysteme, die kraft ihrer Inkorporation in das offizielle Rechtssystem überlebten, neu gestaltet wurden, um den durch die koloniale Expansion in Südafrika verursachten Veränderungen Rechnung zu tragen. Die Ergebnisse dieses Prozesses - eine häufig reaktionäre Substanz und eine strenge Form, die die Bezeichnung „Gewohnheitsrecht" ebenso Lügen straften, wie sie die wachsende Kluft zwischen dem juristischen und dem Volks-Gewohnheitsrecht entlarvten wirkten zusammen, es „increasingly less .customary' in the face of economic and social transformation" zu machen55. Zur selben Zeit enthüllte die empirische Forschung über soziale Verhaltensweisen die Entstehung von „amalgams of law [...] with numerous variations, even in one city like Cape Town with a relatively homogenous African population"56. Beschnitten und transformiert, wie es der kolonialen Begegnung entsprach, bildete das Gewohnheitsrecht wie das römisch-holländische Recht ein Segment des nach Rassen aufgespaltenen Rechtssystems, das schließlich in die Apartheid mündete. Sowohl sein substantieller Inhalt als auch seine institutionelle Form wurden zweifelsohne beeinträchtigt durch die Rollen, die sie in der Sozialstruktur spielten, die sich in Südafrika aus dieser Begegnung zwischen Europäern und Afrikanern ausbildete. Anders als das römisch-holländische Recht war es jedoch ein nachgeordnetes Rechtssystem, eines, das vieles von dem Recht bereitstellte, das das Privatleben der Unterdrückten regelte und, wenn auch deformiert, eine Brücke zu Afrikas vorkolonialer Vergangenheit darstellte. Dementsprechend war die Erosion des Apartheidregimes in den 1980er Jahren von Entwicklungen in Richtung auf eine Aufwertung des Gewohnheitsrechts zu einer gleichberechtigten Position mit dem römisch-holländischen Recht begleitet: Nicht-traditionelle, nach Rassen getrennte Gerichte wurden aufgehoben, und alle Gerichte wurden per Gesetz bevollmächtigt, die Normen des Gewohnheitsrechts bei ihren Entscheidungen ebenso zu berücksichtigen, wie sie es hinsichtlich des römisch-holländischen Rechts immer getan hatten. Es ist kaum überraschend, dass diese ambivalente Vergangenheit einander widersprechende Anschauungen über die Zukunft des afrikanischen Gewohn54

T. W. BENNETT, The Compatibility of African Customary Law and Human Rights, in: Acta Juridica 1991, S. 18-35, hier: S. 18 f. 55 CHANOCK, Law (Anm. 49), S. 55. 56 BURMAN, Illegitimacy (Anm. 46).

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heitsrechts im Südafrika der Nach-Apartheid-Ära hervorgebracht hat. Skepsis und Ablehnung gegenüber der fortgesetzten Anerkennung von Gewohnheitsrecht artikulierten diejenigen, die die patriarchalen und autoritären Züge des Gewohnheitsrechts ebenso betonten wie die Rolle, die die traditionellen Führer und ihre Gerichte im System der indirekten Herrschaft und seines Nachfolgers, der Apartheid, gespielt hatten. Ihre Gegner betonten demgegenüber die spezifisch afrikanischen Wurzeln des Gewohnheitsrechts und die Rolle, die es bei der Schaffung einer wahrhaft postkolonialen Rechtsordnung spielen konnte. Mit den Worten des derzeit prominentesten afrikanischen Rechtsgelehrten in Südafrika, Charles Diamini: „South African law is often said to face a legitimacy crisis. One of the reasons for this is that black people feel that they have played no part in the making of the legal system to which they are subject. A legal system consists of more than rules. It also entails an outlook on life. The synthesis of certain principles of customary and common law could contribute towards remedying this situation. The approach of customary law has something to offer to a new legal order. This is no doubt a difficult process because of a difference in the system of values. But it is worth it to make black people feel that South African law is their law too" .

Schließlich trug die zweite Auffassung den Sieg davon, und in der Verfassungsordnung nach 1994 wurde dem Gewohnheitsrecht ein Ehrenplatz eingeräumt58. Und seitdem ist eine Gesetzgebung in Vorschlag gekommen, die seinen Rang an allen südafrikanischen Gerichten sichern soll. Es gibt keine entsprechende Verordnung hinsichtlich des römisch-holländischen Gemeinen Rechts. Wie das letztere, ist aber auch das Gewohnheitsrecht den durch die Verfassung verbürgten Grundrechten unterworfen. Diese Rechte, zumal das Gleichheitsrecht und die Rechte der Kinder, enthalten den Keim für eine weitere Transformation des Gewohnheitsrechts. Sie hat bereits begonnen: Eine neue Gesetzgebung hat patriarchalische Aspekte des GewohnheitsFamilienrechts beseitigt, um die Interessen der Frauen und Kinder zu schützen59, weitere Vorschläge für Gesetzesreformen liegen vor, und Bestimmungen des Gewohnheitsrechts sind auch vor Gericht angefochten worden, und zwar zuweilen erfolgreich60. Das Bemühen, das diese Nach-Apartheid-Re57 Charles R. M. DLAMINI, The Role of Customary Law in Meeting Social Needs, in: Acta Juridica 1991, S. 71-85, hier: S. 85. 58 Artikel 211(3) der Verfassung der Republik Südafrika, Act 108 von 1996, fordert, dass „the courts must apply customary law when that law is applicable, subject to the Constitution and any legislation that specifically deals with customary law". Zu den Folgen siehe Chuma N. HIMONGA/C. BOSCH, The Application of African Customary Law under the Constitution of South Africa: Problems Solved or Just Beginning?, in: S. A. L. J. 117 (2000), S. 306-341. 59 Recognition of Customary Marriages Act 120 von 1998. 60 Siehe Mthembu v Letsela and others 1998 (2) SA 675 (T); Bangindawo and others v Head of the Nyanda Regional Authority and others; Hlantlalala v Head of the Western

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formen zeigen, die einheimische Rechtstradition als der europäischen Tradition des Gemeinen Rechts gleichwertig zu behandeln, indem sie die Unterschiede zwischen ihnen respektieren, unterscheidet diesen neuen Anpassungsprozess deutlich von den oben geschilderten kolonialen Veränderungen. Nichtsdestoweniger ist es wichtig, nicht aus dem Blick zu verlieren, dass dies keine Rückkehr zu dem Recht ist, das vor der kolonialen Begegnung angewandt wurde, sondern faktisch darauf hinausläuft, sich weiter denn je von den Prinzipien und Institutionen zu entfernen, die in der vorkolonialen Zeit in Geltung waren, und zwar in eine Richtung, die geprägt ist von den sozioökonomischen, politischen und ideologischen Veränderungen, die durch die europäische Kolonisation in Gang gesetzt wurden.

3. Die Wechselwirkung europäischer Traditionen Die niederländischen Besitzungen am Kap der Guten Hoffnungen gingen zweimal in britische Hände über, zuerst von 1795 bis 1803 und erneut 1806 für eine Phase, die mehr als hundert Jahre dauerte und sich bis über die Schaffung der Südafrikanischen Union 1910 hinaus erstreckte. Obwohl, wie unten gezeigt wird, diese lange Phase britischer Herrschaft das von den Holländern hinterlassene Rechtssystem grundlegend veränderte, half sie zugleich das Überleben des römisch-holländischen Rechts zu sichern. Dies geschah auf zweierlei Weise. Zunächst, weil sie das Kap von den Rechtsentwicklungen in den Niederlanden isolierte, wo das römisch-holländische Recht 1809 durch ein napoleonisches Gesetzbuch ersetzt wurde. Zweitens, weil sie ein modernes Rechtssystem am Kap etablierte, das eine unabhängigere, offenere und effizientere Verwaltung sicherstellte, als dies während der niederländischen Herrschaft der Fall gewesen war, und das von der Entwicklung eines qualifizierteren Juristenstands begleitet war61. Die folgende Ausdehnung der britischen Herrschaft auf den Rest Südafrikas führte nicht nur zum Export des Rechts, das am Kap angewandt wurde, in das vergleichsweise rückständige Hinterland, sondern auch zur Übertragung des am Kap entwickelten Gerichtsmodells und, was vielleicht am wichtigsten war, indem die neuen Gerichte mit professionellen Juristen, einschließlich Richtern, versehen wurden, die Sachkenntnis und Erfahrung in römisch-holländischem Recht in der Kapkolonie erworben hatten. Auf diese Weise lieferte die britische Herrschaft die institutionellen Voraussetzungen für das Überleben des römischholländischen Rechts in einer neuen Ära, als das Rechtssystem HerausfordeTembuland Regional Authority and others 1998 (3) SA 262 (TK) und Prior v Battie and others 1999 (2) SA 850 (TK). 61 Siehe allgemein Hermann R. HAHLO/Ellison KAHN, The Union of South Africa: The Development of its Laws and Constitution, Cape Town 1960, S. 10-41.

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rangen zu begegnen hatte, die die Entstehung kapitalistischer Wirtschaftsbeziehungen und ein modernes Ethos an es herantrugen. Diese spezifische Art und Weise, in der die britische Herrschaft das Überleben eines Zweiges des römisch-europäischen Rechts in Südafrika ermöglichte, formte auch die einzigartigen Charakteristika des südafrikanischen Rechts, das heißt: jene Kennzeichen, die es zugleich von den zeitgenössischen europäischen Rechtssystemen unterscheiden und seine Verwandtschaft mit diesen enthüllen. Im Gegensatz zu modernen römisch-rechtlichen Systemen ist das südafrikanische Recht nicht kodifiziert. Hier, so wie in Großbritannien und anderen Gegenden, wo das Common Law gilt, findet sich die Grundstruktur der Rechtsprinzipien heutzutage in einer Kombination juristischer Präzedenzfälle, die durch Urteile der höheren Gerichte begründet worden sind, und Gesetzgebung in einem relativ geringen Umfang, wobei die letztere oft lediglich Einzelheiten und genauere Ausführungsbestimmungen den erstgenannten hinzufügt. Dieser Unterschied zur Entwicklung, die andere römisch-rechtliche Systeme genommen haben, ist bedingt durch den rechtlichen und politischen Bruch mit den Niederlanden, der das Ergebnis der britischen Herrschaft war, ebenso wie die daraus folgende Einführung von Gerichten und Gerichtsverfahren nach dem Vorbild des englischen Common Law und die Anglisierung der Struktur und Praxis des Richter- und Anwaltsberufs. „Like a jewel in a brooch", so schrieben Hahlo und Kahn, „the Roman Dutch law in South Africa today glitters in a setting that was made in England" 62 . Die Übernahme eines auf Präzedenzfällen basierenden Systems erzeugte eine gerichtliche, berufliche und akademische Neigung zur Suche nach ausländischen Präzedenzfällen, wenn in Südafrika selbst keine verfügbar waren - etwas, was ziemlich häufig passierte in einem Land mit einer kleinen, vergleichsweise unentwickelten Bevölkerung. Der verbreitete Gebrauch der englischen Sprache, verbunden mit dem Import eines großen Teils des englischen Rechts durch gesetzliche Verordnung bewirkte häufige Bezugnahmen auf die Entscheidungen der höheren Gerichte in anderen englischsprachigen Ländern. Heute hat Südafrika im Unterschied zu wirklichen Common Law-Systemen auch eine Schicht maßgeblicher Rechtsquellen, die Präzedenzfällen zugrunde liegen und manchmal ausgegraben werden, um sich über sie hinwegzusetzen. Dies sind „tiefere" Rechtsquellen, die Südafrika mit modernen römischrechtlichen Systemen teilt, denn sie stellen die Konzepte und Prinzipien dar, die in Europa aus dem Römischen Recht übernommen wurden und in den Werken von Autoren reflektiert werden, die das ius commune mitgeprägt haben, unter diesen auch niederländische Autoren wie De Groot, Voet und 62

HAHLO/KAHN, South African Legal System (Anm. 30), S. 585.

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viele andere, auf die südafrikanische Gerichte bei Gelegenheit immer noch Bezug nehmen.63 Obwohl das Fehlen eines Gesetzbuchs bedeutet, dass das ius commune in Südafrika nicht, wie im modernen Europa, lediglich eine historische Quelle ist, sondern ein integraler, lebendiger Bestandteil des gegenwärtigen Rechtssystems, hat diese historische Verbindung zu Systemen des Gemeinen Rechts als eine Brücke gedient, die die Übernahme moderner Rechtseinstellungen vom europäischen Kontinent erleichtert hat. Häufig haben südafrikanische Juristen die römisch-holländischen Autoren als einen Aufhänger genommen, um Terminologie, Taxonomie und Lösungen des modernen deutschen, niederländischen und bisweilen auch französischen Rechts in das südafrikanische Recht einzubringen, indem sie gegenwärtige kontinentale Ansätze als die logische Fortsetzung der Lehren der römisch-holländischen Autoren darstellten64. Als diese Autoren Berühmtheit erlangten, drangen die Konzepte und Prinzipien moderner zivilrechtlicher Systeme in das case law ein und dienten so dazu, die südafrikanische Version des römischholländischen Rechts zu modernisieren und ihr Überleben zu gewährleisten65. Auf diese Weise förderte die Ablösung einer Kolonialmacht durch eine andere die Entstehung des bemerkenswert kosmopolitischen Charakters des modernen südafrikanischen Rechts, seine reiche Mischung von Common Law- und Civil Law-Prinzipien, von Bezugnahme auf in- und ausländische juristische Präzedenzfälle ebenso wie auf alte und neue Lehrbücher aus vielen Rechtssystemen66. Zusätzlich zu dieser grundlegenden allgemeinen Auswirkung auf die südafrikanische Rechtskultur brachte der Beginn der britischen Herrschaft auch weitreichende Veränderungen in den Einzelheiten des Rechts, indem es Bestimmungen des römisch-holländischen Rechts ergänzte und bisweilen auch ersetzte67. Die unmittelbarste sichtbare Weise, wie dies geschah, war die gesetzliche Übernahme großer Teile des englischen Rechts. Die damalige beherrschende Stellung Großbritanniens im Welthandel, seine Politik, Handelsaktivitäten am Kap (die von den niederländischen Autoritäten beschränkt und behindert worden waren) freizustellen, die Ankunft unternehmerischer britischer Siedler und britischen Kapitals sowie die Tatsache, dass das englische Recht selbst nach utilitaristischen Freihandelsprinzipien reformiert wurde, wirkten dahingehend zusammen, sicherzustellen, dass das Handelsrecht am Kap durch Gesetzesreformen weitgehend anglisiert wurde. 63

Vgl. die in Anm. 2 zitierte Literatur. Daniel P. VLSSER, Placing the Civilian Influence in Scotland: A Roman-Dutch Perspective, in: The Civilian Tradition in Scots Law, hrsg. von David L. Carey Miller und Reinhard Zimmermann, Berlin 1997, S. 239-258, hier: S. 249. 65 Ebd. 66 „This approach is, at least in its intensity, unique to South Africa in the modern world [...]". Alan WATSON, The Making of the Civil Law, Cambridge 1981, S. 41. 67 Siehe allgemein Ben BEINART, The English Legal Contribution in South Africa: the Interaction of Civil and Common Law, in: Acta Juridica 1981, S. 7-63. 54

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Der Einfluss der britischen Siedler und der Aufstieg englischer Kultur und englischer Werte bewirkten, dass manche gesetzliche Neuerungen auch in private Lebenssphären hineinreichten: Das Gesetz über Heirat und Scheidung wurde gemäß englischen Anschauungen reformiert, und ein zentrales Kennzeichen des römisch-rechtlichen Erbrechts - die Beschränkung testamentarischer Freiheit im Interesse von Ehefrauen und Kindern - wurde beseitigt. Diese Neuerungen wurden in der Folge auf andere britische Kolonien in Südafrika übertragen. Die Reformen strahlten weit aus, so dass der Einfluss des englischen Rechts, zumal in Handelsfragen, sich weit über die Grenzen solcher Texte hinaus verbreitete. Dies war das Ergebnis des zweiten Weges, auf dem römisch-holländisches Recht durch englische Rechtseinflüsse verändert wurde, nämlich die Aktivitäten von Rechtsanwälten und Richtern68. Mehrere Faktoren wirkten hier zusammen. Der offensichtlichste ist die Anglisierung des Richter- und des Anwaltsberufs69. Die Einführung von Gerichten und ergänzendem Recht nach englischem Vorbild wurde von der Beschränkung des Zugangs zum Richteramt und zum Anwaltsberuf auf diejenigen begleitet, die in Großbritannien ausgebildet worden und dort zum Anwaltsberuf zugelassen waren, sowie von der Aufnahme britischer Richter. Dies hatte wichtige langfristige Auswirkungen, obwohl diese britischen Richter - zumal die Schotten unter ihnen - oft eine größere Affinität zum römisch-holländischen als zum englischen Recht an den Tag legten, die Zugangsbeschränkungen nur kurzfristig bestanden und Südafrikaner auch weiterhin das Anwaltswesen beherrschten und rasch an Bedeutung in der Richterschaft zurückgewannen, vor allem seitdem vor Ort eine juristische Ausbildung geleistet wurde. Obwohl sie die Ziele, die ihre Initiatoren angestrebt hatten, verfehlten, führten diese Anglisierungsbestrebungen, die durch die weiteren gesellschaftlichen Auswirkungen englischer Sitten und Werte verstärkt wurden, Südafrika in die Sphäre der englischen Rechtskultur und schufen ein Milieu, in dem die Vertrautheit mit englischen Rechtskonzepten und -prinzipien ebenso wie Universitätsstudium und praktische Erfahrung in England unter den führenden südafrikanischen Rechtsanwälten und Juristen Gemeingut wurde und dies bis zu einem gewissen Grad bis heute geblieben ist. Das Ergebnis war, dass englische Gesetzesmaterialien eine leicht zugängliche Rechtsquelle wurden, tatsächlich eine, die oft leichter zugänglich und zeitgemäßer war als römischholländische Quellen, als das südafrikanische Recht in seiner Formierungsphase die Herausforderungen der wachsenden Kommerzialisierung der Landwirtschaft, des im großen Stil betriebenen Bergbaus, der Urbanisierung, der 68

Vgl. allgemein Southern Cross (Anm. 2), besonders S. GIRVIN, The Architects of the Mixed Legal System, S. 95-139. 69 Vgl. allgemein J. STURGIS, Anglicisation at the Cape of Good Hope in the early nineteenth Century, in: Journal of Imperial and Commonweath History 11 (1982), S. 5-32.

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Industrialisierung und Kapitalanhäufung, der wachsenden Einbindung Südafrikas in das internationale Handelssystem und der Entstehung moderner Staatsinstitutionen zu bestehen hatte. Es ist daher kaum überraschend, dass Rechtsdoktrinen aus dem Common Law in die südafrikanische Rechtspraxis eingedrungen sind. Ein bemerkenswertes Beispiel dieser Rezeption des englischen Rechts bildet die Einverleibung der Institution des trust (Treuhand), vielleicht die typischste Schöpfung des englischen Rechts. Obwohl der Trust in der Unterscheidung zwischen zwei Rechtskörpern - Gesetz und Billigkeit - wurzelt, die sich aus spezifisch englischen historischen Umständen ergab, und eine entsprechende Dichotomie aufweist zwischen zwei Gruppen von nebeneinander stehenden Eigentumsrechten in derselben Angelegenheit, wobei diese beiden Eigenschaften der Ziviltradition und ihrem Eigentumsbegriff fremd sind, wurde er Teil des südafrikanischen Rechts, als die südafrikanischen Gerichte Dokumente in Kraft setzten, deren Anliegen es war, Trusts zu bilden, insbesondere Testamente, die für oder von englischen Siedlern entworfen wurden. Zwei Aspekte dieses Prozesses verdienen hervorgehoben zu werden, weil sie Elemente zum Vorschein bringen, die praktisch in allen Instanzen der gerichtlichen Rezeption des englischen Rechts vorhanden waren. Das erste ist, daß der Trust durch seine Rezeption umgewandelt wurde. Da es die englische Unterscheidung zwischen Gesetz und Billigkeit im südafrikanischen Recht nicht gab, konnte der englischen Dichotomie zwischen gesetzmäßigem Eigentum und gerechtem Eigentum - dem Kennzeichen des Trusts im Common Law - in Südafrika nicht Rechnung getragen werden - sie wurde verworfen. Die südafrikanischen Gerichte entwickelten stattdessen eine eigene Version des Trusts, die sie in Verbindung mit aus dem römischen und dem kanonischen Recht entnommenen Prinzipien anwenden70. Diese Zusammenfügung von Prinzipien aus dem Zivilrecht und dem Common Law wurde durch das zweite Hauptkennzeichen dieses Rezeptionsprozesses begünstigt, nämlich die Art und Weise, wie solche „Importe" rechtlich begründet wurden. Der entscheidende Gerichtsbeschluss, der den Platz des Trusts im südafrikanischen Recht festlegte, tat dies, indem er den Trust mit dem Fideikommiss des Römischen Rechts gleichsetzte und den trustee mit dem fiduciarius identifizierte71. Dies war sowohl historisch als auch rechtswissenschaftlich falsch, aber es war ein echter Fall eines „produktiven Missverständnisses", der gleichzeitig der Erneuerung des südafrikanischen Rechts Tür und Tor öffnete und die „Domestizierung" des englischen Trusts ermöglichte. Auf diese Weise dienten die römisch-holländischen Rechtsbegriffe als Fassade für die Vermischung der englischen Rechtsdoktrinen mit dem südafrikanischen Recht, nicht un-

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Braun v Blann 1984 (2) SA 850 (A). Estate Kemp and others v McDonald's Trustee 1915 AD 491.

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ähnlich der Art und Weise, wie sich das moderne Zivilrecht in Südafrika Bahn brach. Dieses Muster wiederholte sich auf vielen Gebieten des südafrikanischen Privatrechts während des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die rechtliche Rezeption des Common Law war ebenso umfangreich wie bedeutsam, und das sowohl von einem rechtlichen als auch von einem sozialökonomischen Standpunkt aus. Agrarland war in diesem ziemlich trockenen Land leichter zu vermarkten, wenn das römisch-holländische öffentliche Eigentum der Flüsse durch private Wasserrechte in den Händen der Landbesitzer ersetzt wurde72. Das englische Ärgernis-Gesetz (law of nuisance), insbesondere die Pflicht von benachbarten Landbesitzern, sich gegenseitig an den Grenzen ihrer Länder zu unterstützen, und die neu entwickelte strikte Haftbarkeit derjenigen, die durch einen „unnatürlichen" Gebrauch ihres Landes neue Gefahren verursachten, wurden genutzt, um Konflikte in den neuen Diamanten- und Goldminen zu lösen, was die agrarische Gesellschaft der holländischen Periode, die nur für den Eigenbedarf angebaut hatte, rasch in eine dynamische, urbanisierte, kapitalistische Gesellschaft überführte 73 . Englische Fälle wurden als Präzedenzfalle von den Gerichten genutzt, die dem Problem gegenüberstanden, bei Entschädigungsansprüchen für einen im Zusammenhang von Mechanisierung, Urbanisierung und Handelstransaktionen entstandenen Schaden zu urteilen - was von den Umständen, die zur Zeit Voets und De Groots in Holland herrschten, weit entfernt war74. Das Ergebnis war, dass das südafrikanische Strafrecht seiner Struktur und seinem Anschein nach römisch-holländisch war, aber seinem Inhalt nach oft englisch. Während das Vertragsrecht viele Prinzipien des englischen Rechts übernahm75, war im öffentlichen Recht die Rezeption englischer Lehren noch intensiver, zum großen Teil aufgrund der Tatsache, dass es Großbritannien war, das letztendlich repräsentative Gesetzgebung, Gemeindestrukturen und eine rationale Regierungsverwaltung nach Südafrika einführte und bis ins 20. Jahrhundert hinein die Aufsichtskontrolle übte. In diesen Bereichen wurde das römisch-holländische Recht fast zur Gänze ersetzt, und englische Be72

Vgl. De Wet v Cloete (1830) 1 Menz 403 at 410 [der die römisch-holländische Position vertritt] mit Silberbauer v Van Breda and the Cape Town Municipality (1866) 5 Searle 231 und Retief v Louw (1856)—(1874) Buch 165 [die beide private Wasserrechte anerkannten], 73 Austen Bros v Standard Diamond Mining Co. Ltd. (1883) 1 HCG 363; Murtha v Von Beek (1882) 1 Buch AC 121; European Diamond Mining Co. v Mylchrest (1884) 2 HCGW 465 und Burnett & Taylor v De Beers Consolidated Diamond Mines Ltd. (1895) 8 HCGW 5. 74 A. VAN ASWEGEN, Aquilian Liability I (Nineteenth Century), in: Southern Cross (Anm. 2), S. 559 ff., hier: S. 591. 75 Zum Strafrecht vgl. die Bemerkung von A. M. HONORÉ, Buchbesprechung von McKerron, The Law of Delict, in: S. A. L. J. 78 (1959), S. 341, dass „Like the South African bench, the book virtually treats the South African law of Delict and the English law of tort as a single system [...]". Zum Vertragsrecht siehe G. LÜBBE, Voidable Contracts, und A. COCKRELL, Breach of Contract, in: Southern Cross (Anm. 2), S. 261 ff.

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griffe wie parlamentarische Souveränität und Rule of Law wurden dermaßen als südafrikanisch betrachtet, dass englische Gerichtsbeschlüsse von den lokalen Gerichten stets als maßgebende Präzedenzfälle behandelt wurden.76 Diese Entwicklungen - die Rezeption modernen Zivilrechts und der Prinzipien des Common Law - verwandelte das Rechtssystem in ein echtes „gemischtes" System, das sich von beiden unterschied und das „can better be described as South African than Roman Dutch".77 Diese Mischung ist südafrikanisch, nicht nur in dem oberflächlichen Sinn, dass sie in diesem Land geschah, sondern auch in dem tieferen Sinn, dass die Natur dieser Mischung, die Proportion und die Art und Weise, wie diese zwei aus Europa verpflanzten Rechtstraditionen miteinander verflochten wurden, von den Eigentümlichkeiten Südafrikas bestimmt wurde. Von diesen sind am wichtigsten das problematische Verhältnis, das lange Zeit zwischen den englischund den afrikaanssprachigen weißen Südafrikanern bestand, und die Weise, wie die Angst der Siedler und die weiße Vormachtstellung sich mit dem afrikanischen Nationalismus kreuzten, um eine politische Umwelt zu schaffen, die letztendlich Juristen begünstigte, deren Vorbehalte gegenüber den englischen Rechtseinflüssen die Ziviltradition davor bewahrte, von den in den vorigen Abschnitten diskutierten Entwicklungen weggeschwemmt zu werden. Südafrikas europäisches Rechtserbe wurde von der gesellschaftlichen Dynamik innerhalb seiner Siedlergemeinschaft genauso tief beeinflusst wie das hat der vorige Abschnitt gezeigt - von der Beziehung zwischen Kolonisator und Kolonisierten. Obwohl es von Europa abgeleitet wurde, ist das südafrikanische Gemeine Recht daher in hohem Maß das Produkt der spezifischen südafrikanischen Demographie, seines Ethos und der Struktur seiner Bevölkerung sowie der Konflikte, die daraus entstehen. Das wird von der Tatsache erhellt, dass das Ausmaß und die Resistenz des englischen Einflusses in Südafrika nicht nur durch das, was das englische Recht zu bieten hatte, bestimmt wurde, sondern auch durch eine ius commune„Gegenrevolution", die von Rechtsgelehrten an afrikaanssprachigen Universitäten und deren Studenten angeführt wurde, die später einflussreiche Anwälte und Richter wurden78. Es waren diese Juristen, die in ihrem Bestreben, es nicht zu einer Gewohnheit werden zu lassen, das Instrumentarium für die Modernisierung des Rechts im Common Law zu suchen, römisch-holländische Autoren nutzten, um eine Brücke zwischen dem südafrikanischen Recht 76

Siehe allgemein Laurence J. BOULLE/Bede HARRIS/Cora HOEXTER, Constitutional and Administrative Law, Cape Town 1989. Gerichtsbeschlüsse, die dies demonstrieren, sind: Administrator, Transvaal, and others v Traub and others 1989 (4) SA 731 (A) und Du Preez and another v Truth and Reconciliation Commission 1997 (3) SA 204 (A). 77 Ex Parte De Winnaar 1959 (1) SA 837 (N) 837 at 839. 78 Siehe insbesondere Christopher F. FORSYTH, In Danger for their Talents: A Study of the Appellate Division of the Supreme Court of South Africa 1950-1980, Cape Town 1985, hier: S. 182 ff., sowie die in Anm. 2 zitierte Literatur.

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und modernen Zivilrechtssystemen zu schlagen, und die somit die Kontinuität der Ziviltradition gewährleisteten. Den Appellen der ersten Generation von afrikaanssprachigen Juristen Rechnung tragend, „to study law as a science, and not as a mere tool"79 und „a special study [...] of the old Dutch law"80 zu machen, so dass man sehen konnte, dass „there are such things as fundamental principles and that these are not to be ignored"81, begannen ihre Studenten die Prophezeiung zu erfüllen, dass ,,[w]ith law scientifically taught [...] English law would only be applied where fundamentally the basis of that system of law is the same as our own"82. Der von den afrikaanssprachigen Universitäten vertretene Ansatz erhellt aus den folgenden Sätzen von I. Van Zyl Steyn, einem der „Jungtürken" der Universität Stellenbosch: „As regards the study of another legal system with a view to helping us to understand our own, it is clear that only those systems which have their origin in common with, or resemble our own, can come into consideration [...] much has been taken from the English law that is in disharmony with our own. If the comparative method is resorted to, our students will soon know to what legal system they are to turn for the better understanding of their own [...] the Dutch, French, Austrian, German and Swiss Civil Codes [...]. Thus far the Courts in South Africa have resorted to this method only where it concerned English law. Much that has been borrowed from the English law has helped to adapt Roman-Dutch law to a new age. In many respects, however, the results have been disastrous to Roman-Dutch legal thought [...]. The requirements of the modern age have [...] made changes and adaptations necessary [...]. Unfortunately they nearly always borrowed from the English law - .unfortunately', we say, because the source from which they borrowed is in many respects even more unenlightened than the old Roman-Dutch criminal law [...]. Our criminal law is sufficiently elastic to allow of its development along the lines of modem scientific thought as represented by works such as Van Hamel [...], Von Liszt-Schmidt, Allfeld, Kohler, Frank, Beling, Binding, Wachenfeldt, etc. [...]" 83 .

Auf diese Weise entwickelte sich ein bellum juridicum um die Seele des südafrikanischen Common Law, in dem sich die afrikaanssprachigen Akademiker, die eine sprachliche Affinität zu mindestens zwei der einflussreichsten europäischen Jurisdiktionen, Deutschland und Holland, hatten, und die Akademiker der englischsprachigen Universitäten einander gegenüberstanden.84 In ihrer Lehre und ihren Schriften - insbesondere in ihren Handbüchern über 79

WESSELS, History (Anm. 30), hier: S. 4. H. D. J. BODENSTEIN, English Influences on the Common Law of South Africa, in: S. A. L. J. 32 (1915), S. 337-358, hier: S. 339. 81 M. DEVILLIERS, Legal Education in South Africa, in: S. A. L. J. 35 (1918), S. 155-160, hier: S. 156. 82 Ebd., S. 156 ff. 83 I. VAN ZYL STEYN, The Comparative Method, in: S. A. L. J. 48 (1931), S. 203-206, hier: S. 204 f. 84 PROCULUS, Bellum Juridicum - Two approaches to South African law, in: S. A. L. J. 68 (1951), S. 306-313. 80

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Vertrags- und Strafrecht, die aufgrund des damaligen Mangels an südafrikanischer Rechtsliteratur einen großen Einfluss hatten - kritisierten die afrikaanssprachigen Juristen vehement das Vertrauen der Richter auf englische Präzedenzfälle und legten den verhältnismäßig unterentwickelten römischholländischen Rechtsmaterialien eine moderne - in der Tradition des ius commune - systematisierte und kohärente Struktur auf. Die Bedeutung des deutschen Rechts wird in den Darstellungen zur Entwicklung des südafrikanischen Rechts oft vernachlässigt. Dieser Einfluss, obwohl weniger offensichtlich als der des englischen und des niederländischen Rechts, war bedeutsam und erstreckte sich sowohl über das 19. als auch über das 20. Jahrhundert. Die Gründe, warum das deutsche Recht im 19. Jahrhundert eine Rolle für die Gestaltung des Rechts in diesem Teil der Welt spielte, unterscheiden sich erheblich von den Gründen für seinen Einfluss auf das bellum juridicum des 20. Jahrhunderts, obschon diese frühere Phase des deutschen Einflusses zweifellos seine spätere Rolle erleichterte. Im 19. Jahrhundert wandten sich die Richter, die für die Interpretation des ius commune Hilfe suchten, natürlich den Werken der Pandektenschule zu. Da die Niederlande zeitgleich mit den meisten anderen Ländern des Kontinents ihr Recht am Anfang des 19. Jahrhunderts kodifiziert hatten, stellten die Pandektisten die einzige bedeutende Tradition des ius commune dar. Ihre Zeitgenossen in Südafrika machten dankbaren Gebrauch von ihrer subtilen Interpretation des Zivilrechts. Im 20. Jahrhundert inspirierte die rechtspolitische Landschaft (die sah, wie aufstrebende afrikaanssprechende Wissenschaftler ihre eigene Identität zu behaupten und sich zugunsten eines kohärenteren Systems von einem übertriebenen Vertrauen auf Präzedenzfälle zu distanzieren suchten) die Übernahme der deutschen Lehre auch nach der Kodifizierung85. Die Entwicklung des Rechtsprinzips, demzufolge ein Rechtsirrtum die erfolgreiche Berufung auf die condictio indebiti verhindert, um eine irrtümlich 85 Vgl. allgemein Daniel P. VISSER, The Legal Historian as Subversive; or: Killing the Capitoline Geese, in: Essays on the History of Law, hrsg. von dems., Cape Town 1989, S. 20; Reinhard ZIMMERMANN, Roman-Dutch Law in South Africa: Aspects of the Reception Process, in: Lesotho Law Journal 1 (1985), S. 97-120, hier: S. 99 ff.; D. H. VAN ZYL, Die Geskiedenis van die Romeins-Hollandse Reg, Durban 1979, S. 478 ff.; vgl. auch FORSYTH, In Danger (Anm. 78), S. 223. Über den Rechtsprofessor in Stellenbosch J. C. de Wet bemerken Reinhard ZIMMERMAN/Charl F. HUGO, Fortschritte der südafrikanischen Rechtswissenschaft im 20. Jahrhundert: Der Beitrag von J. C. de Wet (1912-1990), in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 60 (1992), S. 157 ff., hier: S. 165 f.: „Für ihn war selbstverständlich, daß sich das an das Kap transplantierte römisch-holländische Recht nicht in der beinahe klinischen Isoliertheit betrachten läßt, die bei der heutigen Privatrechtspflege leider vielfach unseren Blickwinkel prägt. Das römisch-holländische Recht war vielmehr nur Ausprägung einer viel weitergreifenden Tradition, die ihrerseits im 17. Jahrhundert keineswegs endete, sondern - in Deutschland - über Historische Rechtsschule und Pandektenrecht (vorläufig) in das BGB mündete". Die Autoren fügen hinzu (S. 167), dass Savigny, Windscheid und Flume zu den von De Wet am häufigsten zitierten Autoren gehören.

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erfolgte Zahlung zurückzufordern, bildet ein aufschlussreiches Beispiel für den Einfluss deutschen Denkens des 19. Jahrhunderts auf das südafrikanische Recht. 1888 wurde das Oberste Gericht der damaligen Zuid-Afrikaansche Republiek aufgefordert, diese Angelegenheit zu entscheiden. Es ging um den Fall Rooth v The State86 - ein Fall, der die Gesetze über ungerechtfertigte Bereicherung in diesem Land stark beeinflusst hat und dies in einer wichtigen Hinsicht immer noch tut. Obwohl es Autoren gab, die anders dachten, waren die meisten Vertreter der Historischen Schule und ihrer Pandektenabteilung der Meinung, dass - in den Worten Vangerows87 - „only excusable error, but then every excusable error, without distinction as to whether it is an error of law or an error of fact", genüge, um die condictio indebiti zu begründen. Bis zum 19. Jahrhundert gründete die Debatte um diese Frage fast ausschließlich darauf, ob das Corpus Iuris die condictio indebiti im Fall eines Rechtsirrtums erlaube oder nicht.88 In dieser Kontroverse trat die Entschuldbarkeit als separate Voraussetzung in Verbindung mit dem Faktenirrtum auf. Aber die Pandektenjuristen durchbrachen diese Form und interpretierten die Quellen neu, indem sie in Bezug auf die Rückerstattung ungerechtfertigter Zahlungen die Entschuldbarkeit des Irrtums - eher als die Unterscheidung zwischen Rechts- und Faktenirrtum - zum zentralen Punkt erhoben. Im Fall Rooth v The State89 beschränkte sich der Gerichtshof nicht auf die römisch-holländischen Gewährsleute, sondern erforschte auch die Ansichten der Vertreter des deutschen usus modernus pandectarum, der französischen Humanisten und der Pandektisten. In Bezug auf die Argumente deijenigen, die in allen Fällen eines Rechtsirrtums die condictio indebiti erlaubten, erklärte der Richter: „These arguments appear to me sufficiently refuted by Voet, Glück and Savigny, who observe that where the leges are clear and specially lay down as a well-recognized rule (or, as Windsheid puts it, axiom) of law, that in the case of error juris the condictio indebiti does not lie (vid. cod. 1, 18, 10; Dig. 22, 6. 9, pr.), there can be no question of natural equity"90. Zu einem späteren Zeitpunkt des Gerichtsverfahrens fügte er hinzu: „It appears to me [...] that the jurists of our own time [er meinte, natürlich, die Pandektisten] [...] are more or less inclined to adopt the middle view, and (as Glück expresses it) discard the distinction between mistake of law and

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(1888) 2 SAR 259. Karl Adolph VON VANGEROW, Lehrbuch der Pandekten, Bd. 3, Marburg 7 1876, S. 397. 88 Daniel P. VlSSER, Das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung, in: Das römischholländische Recht: Fortschritte des Zivilrechts im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von Robert Feenstra und Reinhard Zimmermann, Berlin 1992, S. 308-428, hier: S. 3 8 8 - 4 0 8 . 89 (1888) 2 SAR 259. 90 S. 263. 87

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mistake of fact, and simply consider if the error, whether juris or facti be excusable (verzeihlich, entschuldbar) or not"91. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass, da im vorliegenden Fall kein Element der Entschuldbarkeit vorhanden sei, es nicht nötig sei zu entscheiden, „whether, according to the strict interpretation of the Roman law, we are justified in adopting this view of the modern school as correct"92. Aber selbst wenn das Gericht die Lehre als Teil der ratio decidendi nicht akzeptierte, sollte seine wohlwollende Behandlung des Pandekten-Ansatzes bis zum heutigen Tag einen beträchtlichen Einfluss auf das Recht in Bezug auf diese Frage haben93. Das deutlichste Beispiel des Einflusses deutschen Denkens auf das südafrikanische Recht im Lauf des 20. Jahrhunderts kann wahrscheinlich in der Entwicklung des Strafrechts gefunden werden. Hier finden wir die dominante Figur von J. C. De Wet, wahrscheinlich der bei weitem einflussreichste südafrikanische Rechtsprofessor der Nachkriegszeit94, der nach anderthalb Jahrhunderten der Anglisierung das Strafrecht dieses Landes in eine zivilistische Version umformte. Der Prozess der graduellen Annäherung des südafrikanischen Strafrechts an das englische Recht war seit der Annexion des Kaps durch Großbritannien 1806 ausschließlich von den Gerichten betrieben worden, bis er 1917 in Folge der Veröffentlichung des South African Criminal Law von Frederick C. Gardiner und Charles W. H. Landsdown weitere Impulse erhielt. Ihr Buch stand unter starkem Einfluss des englischen Rechts und dominierte das Strafrechtsdenken während der Zeit seiner sechs Auflagen, von denen die letzte 1957 erschien. Diese Tradition wurde in Frage gestellt, als 1949 J. C. De Wets und H. L. Swanepoels Strafreg erschien95. Dieses Buch war gegliedert in einen Teil über die allgemeinen Prinzipien und einen Teil über spezifische Verbrechen. De Wet war für den ersten Teil zuständig, und seine Darstellung sollte im Laufe der Zeit die maßgebliche Interpretation des südafrikanischen Strafrechts werden, wobei es sowohl eine zivile Struktur als auch viele wichtige zivile Wesenszüge wiederbekam. Um nur ein Beispiel anzuführen: seine

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S. 265. Ebd. Siehe Willis Faber Enthoven (Pty) Ltd v Receiver of Revenue 1992 (4) SA 202 (A). Für eine vollständigere Wiedergabe dieses Beispiels deutschen Einflusses auf das südafrikanische Recht siehe Daniel P. VlSSER, Unjustified Enrichment, in: Southern Cross (Anm. 2), S. 523-555, hier: S. 523 und insbes. S. 528 ff. Zum Einfluss der Pandektenjuristen auf das südafrikanische Recht vgl. auch allgemein: DERS., The „Absoluteness" of Ownership: The South African Common Law in Perspective, in: Acta Juridica 1985, S. 39-52, hier: S. 39 und insbes. S. 46-47. 94 Siehe allgemein ZiMMERMANN/HUGO, Fortschritte (Anm. 85), S. 157 ff. 95 Siehe jetzt die 4. Auflage, Durban 1985. 92 93

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Kritik der Doktrin des versari in re illicita trug Früchte, als die Appellationsinstanz sie in den Fällen S. v Van der Mescht96 und S. v Bemardus91 verwarf. Zimmermann und Hugo98 weisen darauf hin, dass De Wet von einer ganzen Reihe deutscher Werke zum Strafrecht beeinflusst wurde, wie denen von Liszt/Schmidt, R. von Hippe, Beling und Meyer/Allfeld. In jüngerer Zeit erreichten die neueren Debatten zur deutschen Straftheorie, mit denen De Wet nicht immer Schritt hielt99 - man denke hier zum Beispiel an Begriffe wie die finale Handlungslehre - , das südafrikanische Rechtsbewusstsein über C. R. Snymans Strafreg100. All dies bedeutet natürlich nicht, dass das südafrikanische Recht Entwicklungen im englischen Recht nicht mehr berücksichtigte; es bedeutet nur, dass De Wet das Strafrecht wieder zu einem im Wesentlichen auf dem Zivilrecht gründenden System machte. Die Verbindung zwischen diesem juristischen Gegenschlag gegen den englischen Einfluss und dem Aufstieg des weißen südafrikanischen Nationalismus, der zur gleichen Zeit in der politischen Arena stattfand, war komplex. Einige von denen, die der Infiltration des englischen Rechts Widerstand entgegensetzten, scheinen das aus einem nationalistischen Gefühl getan zu haben; sie betrachteten das römisch-holländische Recht als den Träger des weißen südafrikanischen Volksgeistes und lehnten das englische Recht aus dem einfachen Grund ab, dass es fremd war. Der als „antiquarisch" bekannt gewordene Ansatz erscheint deutlich in dem Einwand von Daniel Pont von der Universität Pretoria, dass der Gebrauch englischer Rechtsterminologie „an example of how our judicial decisions, through following an alien example, have deviated from the legal sentiment that lives in the people, of which the judiciary ought to be the supreme interpreter" darstelle, und dass ,,[i]f a judge who professes to know English law is permitted [...] to refer in our Courts to English law, to compare our own law, the Roman-Dutch law, with it and finally to apply the English rule here, then there isn't the least reason why the judge who professes to know Russian, Japanese, Brazilian, Turkish or German or whatever law, should not also be permitted to [do the same]"101. Andere dagegen, die später als „Puristen" bezeichnet wurden, waren weniger offensichtlich nationalistisch und scheinen vor allem durch die Überzeugung motiviert gewesen zu sein, dass das moderne kontinentale Recht kohärenter und ausgereifter war als das 96 97

1962(1) SA 521(A). 1965 (3) SA 287 (A). Weitere Beispiele in ZIMMERMANN/HUGO, Fortschritte (Anm. 85),

S.

172.

98

Ebd. 99 Siehe zum Beispiel die Besprechung der vierten Auflage des Strafreg, Durban 1985, von F. F. W. VAN OOSTEN, in: Tydskrif vir Hedendaagse Romeins-Hollandse Reg 51 (1988), S. 261-269. 100 Erste Auflage, Durban 1986; siehe jetzt die dritte Auflage, 1992, und die dritte Auflage der englischen Übersetung, 1995. 101 D. PONT, in: T. H. R. H. R. 3 (1940), S. 270-283, bes. S. 271 f. und 282 [Übersetzung],

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englische Recht. Dies kann mit Sicherheit über den führenden „Puristen" J. C. De Wet gesagt werden, auf den schon hingewiesen wurde. Indem er das englische Recht als „unsystematic and scientifically undeveloped" beschrieb, aber betonte, dass er „[did] not condemn every borrowing from English law", formulierte De Wet sein Credo mit dem folgenden Wortlaut: ,,[W]hat is actually needed, is the scientific treatment of the Roman-Dutch law, reform and adaptation. Our old writers show the way. They were not slavish followers of Roman law, but adapted and developed it in accordance with the needs of their time [...]. What is to be done? [...] Let us cooperate with all vigour in the construction of the law of which our old authors laid the foundations. The material is there; we have at our disposal the Roman law, the wisdom that has gathered around it over the ages, the Anglo-Saxon law with its rich casuistry, and the modern related Continental European legal science" .

Nichtsdestoweniger war es der politische Erfolg der weißen südafrikanischen Nationalisten, der den Sieg der Bemühungen um eine Säuberung des Rechts sicherte. Die Agenda der afrikaansschen nationalistischen Bewegung, die 1948 an die politische Macht kam, schloss die Ernennung einer wachsenden Zahl von afrikaanssprachigen Richtern am Obersten Gericht ein. Viele von ihnen teilten die nationalistischen Ideale der damaligen Regierung und betrachteten den Gerichtshof als eine zusätzliche Arena für den Kampf gegen das, was sie als englische politische und kulturelle Hegemonie erachteten103, und die an den afrikaanssprachigen Universitäten geleistete Arbeit stellte ihnen das nötige Werkzeug zur Verfügung. Als wichtig muss erwähnt werden, dass sie, ebenso wie mehrere der nach diesem Datum ernannten englischsprachigen Richter, in der puristischen Tradition erzogen worden waren. Das Ergebnis war, dass der puristisch-antiquarische Ansatz allmählich in den höchsten Sphären der Gerichtsbehörden Fuß fasste, so dass moderne zivile Begriffe und Prinzipien ununterbrochen in die südafrikanische Rechtspraxis einflössen, oft indirekt über die Schriften von südafrikanischen Rechtsgelehrten. Der Einfluss des englischen Rechts wurde damit nicht nur geringer, sondern wurde in vielen Fällen ausgemerzt. R. W. Lees Beobachtung von 1930, dass das südafrikanische Recht „has broken from its moorings in Europe [...] scientific doctrine[s] have left it untouched [and it] has learnt from English law to despise professors and to live from hand to mouth [...]"104, erwies sich als vollkommen falsch. Diese komplexe, sich gegenseitig verstärkende Beziehung zwischen der akademischen Gegenbewegung gegen den englischen Einfluss und dem politischen Aufstieg des weißen südafrikanischen Nationalismus kristallisierte 102

J. C. DE WET, in: T. H. R. H. R. 5 (1942), S. 306-318, bes. S. 316 u. 318 [Übersetzung], VISSER, Placing (Anm. 64), S. 251. 104 LEE, in: S. A. L. J. 47 (1930), S. 282. 103

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sich paradigmatisch in der Karriere und im Werk von Lucas Steyn, Oberrichter (Chief Justice) von 1959 bis 1971, heraus105. Ausgebildet an der Universität Stellenbosch, wo er eine Doktorarbeit schrieb, die versuchte, in einem zur Gänze anglisierten Bereich die römisch-holländische Terminologie wieder zum Leben zu erwecken, und wo er auch kurz einen Lehrauftrag bekam, wurde Steyn von der Regierung der Zeit nach 1948 zum Chief State Law Advisor ernannt und danach - im Widerspruch zu dem herrschenden Brauch, dass Richter aus den Reihen der privat praktizierenden Anwälte berufen werden sollten - zum Richter am Obersten Gericht. Von dort wurde er anschließend über die Köpfe dienstälterer und weit mehr respektierter Kollegen hinweg und unter sehr kontroversen und politisch aufgeladenen Umständen rasch zum Appellationsrichter und zum Oberrichter befördert. Als Oberrichter wurde er einer der entschlossensten und einflussreichsten Gegner des Einflusses des englischen Rechts, wie der folgende Auszug aus einer seiner berüchtigsten Entscheidungen illustriert: „It is true that this Court, in a series of cases [...], adopted the view that our law of estoppel is the same as English law and that in practice guidance is sought more from English decisions that our own authorities. I am however not at all convinced that the application of the principles that can be found in our law, lead in all respects to the same results as are found in English law [...]. The view that our own authorities have legally or for all practical purposes been replaced by these and similar decisions, with the accompanying implication that our Courts, and also this Court, are bound by English decisions, I would reject as obviously completely unfounded. No Court, including this Court, has the authority to replace our Common law with the law of any other country. Only the legislature can do that. I also cannot accept that it was the intention to bring something like that about. If it had indeed been the intention, then I would not consider myself bound, because it would be diametrically in conflict with the elementary obligation of each court to apply no law other than its own law" .

Die Karriere des Oberrichters Steyn erhellt auch eine andere Art und Weise, wie die puristisch-antiquarische Bewegung mit den politischen Entwicklungen nach 1948 gut harmonierte. Die neue Regierung setzte an, die Politik der Rassensegregation und des Indirect Rule, die im Verlauf des Kolonisierungsprozesses entstanden waren, in die rigide und systematische Form der unter dem Namen Apartheid bekannten Rassenherrschaft umzuwandeln; dies rief starken Widerstand hervor und nahm manchmal die Form des Rechtsstreits an. Steyn wurde zum höchsten Gericht dieser Zeit, der Appellate Division des Obersten Gerichts berufen. Das erfolgte mitten in einer solchen Kontroverse, als die Regierung in einem leicht durchschaubaren Manöver des „Vollpak105 Ygj £ CAMERON, Legal chauvinism, executive-mindedness and justice - LC Steyns's impact on South African Law, in: S. A. L. J. 99 (1982), S. 38-75, hier: S. 38. ' Trust Bank van Afrika Bpk v Eksteen 1964 (3) SA 402 (A) [Übersetzung].

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kens der Gerichte" das Gericht erweiterte, in der Hoffnung, dadurch die Niederlagen umzukehren, die sie vorher bei ihren Versuchen, eine ausschließlich weiße Wählerschaft zu schaffen107, erlitten hatte. Er schrieb einen kraftvollen Richterspruch, der die verfassungsmäßige Gültigkeit der Versuche der Regierung bestätigte, und argumentierte, es sei unangebracht, dass das Gericht über die Frage entscheide, indem es den stichhaltigen Zweck hinter dem Gesetzesvorhaben der Regierung untersuche108. Viele haben in der anschließenden Berufung Steyns zum Oberrichter über den Kopf des dienstältesten und kompetentesten Mitglieds der Appellate Division, Oliver Schreiner, hinweg den Lohn für solche Loyalität und die Anerkennung dafür, dass die Regierung auf ihn zählen konnte, gesehen, insbesondere weil Schreiners Minderheitsvotum in diesem Fall gegen die Regierung ausfiel. Was aber für das südafrikanische Recht wirklich wichtig war, war, dass Schreiners Ansatz zur Behandlung der Frage bei Gericht die hinter der umstrittenen Gesetzgebung stehende Absicht in Erwägung zog und daher eine weniger formalistische Philosophie des Rechtsdenkens widerspiegelte als die von Steyn vertretene109. Steyns Sieg war daher auch ein Sieg des Rechtsformalismus und demonstrierte, wie formalistisches Rechtsdenken der Apartheid helfen konnte, deren Erfolg zunehmend von der autoritären Beseitigung der wachsenden Opposition abhing. Dies wurde während Steyns Amtszeit als Oberrichter offensichtlich, die mit der rapiden Erosion der bürgerlichen Freiheiten und der Zunahme der brutalen Beseitigung des Widerstandes gegen die Apartheid zusammenfiel. In einem Fall nach dem anderen trafen Steyn und seine Kollegen Entscheidungen, die den Apartheid-Staat begünstigten. Der Beitrag, der ihre formalistische Rechtsphilosophie zu der Gestaltung und zum Schutz der Apartheid leistete, ist oft analysiert worden und ist in den Worten, mit denen Steyn seinen Kritikern antwortete, klar zu erkennen: „I would remind our critics of the factual circumstances in relation to which the 90 days provision [allowing arrest and detention without trial] had been passed and had to be interpreted [...]. The question whether this measure provided the most effective, the most suitable or the most desirable instrument for dealing with this situation, raises political issues which I prefer to leave aside. Whatever the answers may be, whatever its merits or demerits [...], this was a provision which Parliament in fact adopted as a measure directed towards coping with this situation [...]. The task of our Courts - 1 would emphasise their only task - was to ascertain the intention of Parliament as expressed in this enactment. It would be an evil day for the administration of justice if our Courts should deviate from the well recognised tradition of giving politics as wide a berth as their work permits [...]. It is [...] in my view [...] very improper for a judge to risk enter107

Vgl. dazu BOULLE/HARRIS/HOEXTER, Constitutional and Administrative Law (Anm. 76), S. 132-143. 108 Siehe Collins v Minister of the Interior 1957 (1) SA 552 (A). 109 Collins v Minister of the Interior 1957 (1) SA 552 (A) at 574 & 581.

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Jahrbuch fiir Europäische Geschichte 2 (2001) ing into a political storm [...] in a strongly contested matter in which Parliament has [...] laid down what is to be done"

Die Kombination von Purismus in Angelegenheiten des Privatrechts und Formalismus in Sachen des Öffentlichen Rechts, die Steyns Urteile in diesen zwei Bereichen widerspiegelten, war weder idiosynkratisch noch zufällig. Purismus und Antiquarismus waren an sich formalistische Ansätze, um an die Rechtsentwicklung heranzugehen. Obwohl „the Purist Movement [...] was in fact a revolutionary enterprise to remake South African law"111, teilte er in bemerkenswertem Maß den von Jhering schon erhellten irrtümlichen Glauben der Pandekten, „that legal concepts are fixed or closed in the sense that it is possible to define them exhaustively in terms of a set of necessary and sufficient conditions", und vergaß so, dass „men who make laws are men, not gods"112. Es war kein Zufall, dass Steyn im selben Vortrag puristische Akademiker als lobenswert hinstellte, als er sagte: „I see our law faculties as the indispensable partners of the bench and the bar. Apart from their extremely important work as teachers, the quickening pace of legal activity and legal administration has meant that we have become increasingly dependent on the academics for the basic elaboration of our law. Scientific research into our sources belongs with them in particular. It is essential for us to have a legal science that enjoys recognition in practice. Without healthy interaction between science and practice we will definitely not be able to achieve the best"113.

Es wäre dennoch falsch, die Komplizenschaft des Juristenstandes bei der Einführung der Apartheid allein der puristisch-antiquarischen Bewegung und den afrikaanssprachigen Anwälten, die ihre Avantgarde und das Gros ihrer Truppen bildeten, zur Last zu legen. Obwohl die Prominenz und Macht des puristisch-antiquarischen Ansatzes bedeutete, dass er in der Praxis zum Hauptvertreter des Rechtsformalismus wurde, spielten das englische Rechtserbe und seine Verteidiger im Richteramt und in den englischsprachigen Juristischen Fakultäten oft eine unterstützende Rolle. Ein Grund dafür war die englische Doktrin der parlamentarischen Souveränität, die zum Hauptprinzip des südafrikanischen öffentlichen Rechts geworden war. Ein anderer Grund lag im Verständnis vom Recht und von der Rolle der Rechtsgelehrten, das die Grundlage für die Klagen dieser Anwälte bildete, dass die Anhänger der puristisch-antiquarischen Schulen „tend to ignore the fact that for over a hundred years our Courts have been shaping and developing [...] law [... and

110 Lucas C. STEYN, Regbank en Regsfakulteit, in: T. H. R. H. R. 30 (1967), S. 101-107, insbes. S. 106 f. 111 VlSSER, The Legal Historian (Anm. 85). 112 Herbert Lionel Adolphus Hart, Jhering's Heaven of Concepts and Modern Analytical Jurisprudence, in: DERS., Essays in Jurisprudence and Philosophy, Oxford 1983, S. 269-271. 113 STEYN, Regbank (Anm. 110), S. 103.

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produce] statements of what the authors [...] conceive the law should be rather than a statement of the law as it actually is applied by our Courts"114 und eine „condescending, contemptuous attitude towards judges [when] the views of our most eminent judges are brushed aside as being contrary to the fundamental principles of Roman-Dutch law" zeigten115. So führte sie die dem Widerstand gegen den Purismus/Antiquarismus zugrunde liegende Philosophie, nach der „the chief task of the law schools [is] to re-state the theory of the law so as to bring it more into accord with the practice of the law"116 und „[to] fulfil the need to know what the law actually is, not what it might be if certain points of view were adopted"117, dazu, „[to] refrain from venturing upon criticism of the accuracy of the decisions of the superior courts"118. Das Ergebnis war, dass die beiden Ansätze, die um die Zukunft des südafrikanischen Rechts miteinander wetteiferten, einander gerade in dem Punkt ergänzten und verstärkten, wo es für diejenigen, die von diesem Streit ausgeschlossen und dennoch vom Triumph des Formalismus am meisten betroffen waren - die einheimische Bevölkerung - , am wichtigsten war. Corder und Davis meinen: „With some notable exceptions [...] South African legal writing in both Afrikaans and English refused to recognize the inevitable overlapping between law and political forces in society until the late 1970s at the earliest. By then a whole generation of lawyers had been schooled in a tradition which, while doubtless bringing great learning and intellectual brilliance to bear on the development of a European model for South African [...] law, refused to acknowledge the critical nexus between law as it should be .scientifically' and law as it should be in the light of the needs and structures of the society in which it operated"

Die in diesem Zitat angeführten Ausnahmen waren am Anfang vereinzelt, aber sie wurden in den 1980er Jahren immer zahlreicher, als der Konflikt zwischen dem Apartheid-Staat und seinen Gegnern eskalierte. Die Gerichtshöfe bildeten eine wichtige Arena für diesen Konflikt, da beide Seiten Rechtsstrategien nutzten, um ihre Ziele zu fördern120. Obwohl diese rechtli114 E. M. BURCHELL, Book Review of: Strafreg by J. C. De Wet and H. L. Swanepoel, in: S. A. L. J. 67 (1950), S. 303. 115 PROCULUS, Bellum Juridicum (Anm. 84). 116 R. G. MCKERRON, Correspondence, in: S. A. L. J. 48 (1931), S. 457 117 Frederik G. GARDINER/Charles W. H. LANSDOWN, South African Criminal Law and Procedure, Durban 1957, Preface. 118 Ebd. 119 Hugh M. CORDER/Dennis M. DAVIS, Law and Social Practice: An Introduction, in: Essays on Law and Social Practice, hrsg. von Hugh M. Corder, Cape Town 1988, S. 1-30, hier: S. 18. 120 Siehe insbesondere Stephen J. ELLMAN, In a Time of Trouble: Law and Liberty in South Africa's State of Emergency, Oxford 1992, und Richard L. ABEL, Politics by Other Means: Law in the Struggle Against Apartheid, 1980-1994, New York 1995.

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chen Auseinandersetzungen überwiegend von Rechtsanwälten ausgefochten wurden, entwickelte sich daraus eine Hitze, deren Glut das öffentliche Recht und die Verknüpfung zwischen Gesetz und Gerechtigkeit ausleuchtete. Dies führte zu einer doppelten Bewegung unter den Rechtsgelehrten: Während das bellum juridicum der Puristen sich auf das Privat- und das Strafrecht konzentriert hatte, verschob sich nun der Blick auf das Öffentliche Recht, und der Formalismus verlor an Boden gegenüber der Rechtsphilosophie, die sowohl im Privat- als auch im öffentlichen Recht die Notwendigkeit hervorhob, die Substanz des Rechts moralischer Kritik zu unterziehen121. Es ist kein Wunder, dass die deutsche Gelehrsamkeit sich hier wieder bemerkbar machte: Die von Gustav Radbruch während eines ähnlichen Konflikts zwischen Gesetz und Gerechtigkeit formulierte moderne Version des Naturrechts wurde von einigen, die nach einem theoretischen Gerüst suchten, um ihren neuen antiformalistischen Ansatz verfolgen zu können122, zusammen mit der Rechtsstaats-Idee gern übernommen. Dennoch garantierte - für einen Staat, der entschlossen war, die Volksopposition außer Kraft zu setzen - die durch die Doktrin der parlamentarischen Souveränität geleistete Unterstützung geradezu, dass amerikanische Ideen den englischen Einfluss in dieser neuen Phase der Rechtsgelehrsamkeit schwächten123. Aus dieser Erfahrung und diesen Rechtsvisionen erwuchs unter den Rechtsanwälten, Gelehrten und Richtern eine fast einstimmige Unterstützung für den Erlass einer gerichtlich durchsetzbaren Charta der Grundrechte, die die Gerichtshöfe in die Lage versetzen würde und von ihnen verlange sollte, dass sie über den Rechtsformalismus hinaus gingen und eine substanzielle Justiz anstrebten124. Diese Entwicklungen stellten den letzten Schnittpunkt der beiden miteinander verflochtenen Stränge der südafrikanischen Rechtsgeschichte dar: die Begegnung zwischen Europäern und Afrikanern und ihren jeweiligen Rechtssystemen einerseits und die Interaktion zwischen den zwei großen europäischen Rechtstraditionen, dem Common Law und dem Zivilrecht, andererseits. Zu diesem Zeitpunkt wurde die neue nachkoloniale Rechtsordnung ausgearbeitet - eine Rechtsordnung, in der, wie nachfolgend zu zeigen ist, das Aufzwingen des europäischen Rechts durch seine freiwillige Rezeption ersetzt wurde, in einem noch fortdauernden Bemühen, diese Stränge in ein einziges Rechtsgewebe zusammenzuführen.

121

Siehe zum Beispiel CORDER/DAVIS, Social Practice (Anm. 119). Siehe B. VAN NIEKERK, The Warning Voice from Heidelberg - The Life and Thought of Gustav Radbruch, in: S. A. L. J. 90 (1973), S. 234-261. 123 Siehe zum Beispiel John DUGARD, Human Rights and the South African Legal Order, Princeton 1978, und D. DYZENHAUS, Hard Cases in Wicked Legal Systems: South African Law in the Perspective of Legal Philosophy, Oxford 1991. 124 Siehe die im nächsten Abschnitt zitierte Literatur. 122

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4. Der Einfluss des europäischen Rechts auf das Verfassungsrecht Südafrikas Wenn man die Natur und das Ausmaß des Einflusses des europäischen Rechts in diesem Zusammenhang betrachtet, ist es hilfreich, zwischen a) dem Prozess, durch den der Einfluss entstand, und b) den wesentlichen Inhalten, die übernommen wurden, zu unterscheiden. 4.1. Der Prozess der Entstehung der neuen Verfassung Der Prozess, der zur Geburt der südafrikanischen Verfassung führte, war langwierig125. Inoffiziell hat er sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt - das Fehlen der Legitimität bei der vergangenen Rechtsprechung sorgte dafür, dass die Debatten über einen Verfassungswechsel Präsident de Klerks Ankündigung vom 2. Februar 1990, dass die Regierung beabsichtige, mit den bisher verbotenen Befreiungsorganisationen in Verhandlungen zu treten, weit vorauseilten126. Die eigentlichen Verhandlungen durchliefen zwei Phasen. Die erste mündete in eine Übergangsverfassung, die in Kempton Park von einem repräsentativen, aber nicht gewählten Mehrparteienorgan verhandelt wurde. Es konstituierte u. a. eine gewählte verfassungsgebende Versammlung, die während der zweiten Phase eine „endgültige" - Südafrikas aktuelle Verfassung erarbeitete127. Obwohl sie eine nur begrenzte Lebensdauer hatte, bestimmte die Übergangsverfassung die Form dessen, was jetzt Südafrikas Verfassungsrecht ist128. Sie enthielt eine Liste von 34 Verfassungsprinzipien, die die verfassungsgebende Versammlung verpflichteten und somit sicher stellten, dass der Kern des durch die Übergangsverfassung verkörperten Konsenses in der endgültigen Version erhalten werden würde129. 125 Zu diesem Prozess siehe Hugh CORDER, Towards a South African Constitution, in: Modern Law Review 57 (1994), S. 491-533; David VAN WYK, Introduction to the South African Constitution, in: Rights and Constitutionalism, hrsg. von D. Van Wyk [u. a.], Cape Town 1994, S. 131-170; Birth of a Constitution, hrsg. von Bertus De Villiers, Cape Town

1994. 126

Einer der ersten öffentlichen Appelle wurde schon zwei Jahre vor der Gründung eines vereinigten Staates in Südafrika gemacht, auf der Gründungskonferenz des African National Congress (der gegenwärtig regierenden Partei) 1912. Oppositionsgruppen, die die Mehrheit, der die Bürgerrechte aberkannt worden waren, vertraten, erhielten diese Seite der Debatte am Leben, während die Regierung mit periodischen Verfassungsamendments antwortete, die ausnahmslos darauf zielten, die Minderheitsherrschaft festzuschreiben. Die Rechts- und akademische Literatur spiegelte die Hauptthemen der Debatte während dieser Zeit wider. Siehe die unten Anm. 167 zitierten Dokumente und Literatur. 127 Act 200 von 1993. 128 Act 108 von 1996. 129 Schedule 4 von Act 200 von 1993. Dieser verfügte u. a., dass „everyone shall enjoy all universally accepted fundamental rights, freedoms and civil liberties, which shall be provided for and protected by entrenched and justiciable provisions in the Constitution, which shall be drafted after having given due consideration to inter alia the fundamental rights contained in [...] this Constitution" (Prinzip 2) und dass „The Constitution shall be the

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Der ausländische Einfluss auf diesen Vorgang vollzog sich unter verschiedenen Formen, von denen einige darin mündeten, dass Konzepte und Prinzipien des europäischen Rechts und anderer Rechtssysteme Teil der südafrikanischen Verfassung wurden. So wurden die verschiedenen an diesem Vorgang beteiligten politischen Parteien formell und informell von Beratern unterstützt, von denen einige Ausländer waren130, und sie unternahmen Informationsreisen ins Ausland131, aber es ist unmöglich, die Natur und das Ausmaß dieses Einflusses abzuschätzen. Die internen Debatten der politischen Parteien und die Entwicklung ihrer Verhandlungspositionen sind leider nicht Teil des öffentlichen Berichts, und einige entscheidende Angelegenheiten wurden in geheimen bilateralen oder multilateralen Sitzungen beschlossen132. Ein gewisser Einfluss ist erkennbar, z. B. scheint die Entscheidung, einen National Council der Provinzen zu gründen, auf die Darstellung des Funktionierens des deutschen Bundesrats durch einflussreiche Politiker zurückzugehen133. Aber es scheint angemessen anzunehmen, dass der fremde Einfluss in diesem Zusammenhang sich weitgehend auf das Wecken eines Bewusstseins der verschiedenen Optionen beschränkte und dass die Politiker hauptsächlich von ihrer Wahrnehmung der örtlichen politischen Bedingungen und Bedürfnisse geleitet wurden. Die Aufmerksamkeit der politischen Unterhändler galt breiten, strukturellen Aspekten der Verfassung, die das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den verschiedenen Gruppierungen betrafen. Entscheidungen über Fragen wie die Machtverteilung in der Interimsverfassung, darüber, ob eine Bill of Rights überhaupt wünschenswert oder wie die Macht zwischen den verschiedenen Regierungsebenen zu verteilen sei, scheinen das Produkt

supreme law of the land. It shall be binding on all organs of state at all levels of government" (Prinzip 4.) Diese Prinzipien hatten bindenden Charakter und wurden dadurch verstärkt, dass dem Constitutional Court die alleinige Befugnis zukam, die „endgültige" Verfassung abstrakt zu prüfen. Der Constitutional Court zögerte nicht, den ersten Entwurf der Constitutional Assembly abzulehnen und auf einer Änderung des Textes zu bestehen, bevor er die notwendige Einverständniserklärung erteilte; siehe Ex parte Chairperson of the Constitutional Assembly, In re: Certification of the Constitution of the Republic of South Africa, 1996 1996 (4) SA 744 (CC); und Ex parte Chairperson of the Constitutional Assembly, In re: Certification of the Amended Text of the Constitution of the Republic of South Africa, 1996 1997 (2) SA 97 (CC). 130 Z. B. Dr. Mario Ambrosini, ein Italiener, der die Inkatha Freedom Party beriet. Der Constitutional Assembly Annual Report von 1994-1995 gibt die Unterstützung der Regierungen von Australien, Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich, Deutschland und den USA an, durch die Förderung von Workshops und die Bereitstellung von Experten. 131 Z. B. ein Besuch der deutschen Verfassungsorgane durch führende Mitglieder und Funktionäre der Constitutional Assembly - C. MURRAY, Interview 25. März 1998. 132 Siehe D. ATKINSON, Principle born of pragmatism? Central government in the constitution, in: South African Review 7 - The Small Miracle: South Africa's negotiated settlement, hrsg. von S. Friedman und D. Atkinson, Johannesburg 1994, S. 92; siehe auch von demselben Autor im selben Band, S. 121 ff.: Insuring the future? The Bill of Rights. 133 C. MURRAY, Interview 25. März 1998.

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der Verhandlungsprioritäten und der relativen Stärken und Schwächen der verschiedenen politischen Parteien gewesen zu sein134. Aber Politiker waren nicht die einzigen Teilnehmer an diesem Verfassungsgebungsprozess. Auch Rechtsanwälte waren beteiligt, nicht nur als Politiker und Aktivisten, die zufällig Rechtsanwälte waren, sondern auch aufgrund ihres Fachwissens und ihrer beruflichen Fertigkeiten. Ihre Rolle war komplex, vielfältig und wechselhaft135, aber im Großen und Ganzen wichtig in Bezug auf die „technischeren" Aspekte der Verfassung. So wurde die Einführung einer Bestimmung, die im Einklang mit der kanadischen Charter of Rights and Freedoms (aber im Gegensatz zur amerikanischen Bill of Rights) die Einschränkung der Rechte durch das Gesetz ausdrücklich regelt, zuerst in einem Bericht der südafrikanischen Law Commission136 und einer inoffiziellen, von einer Gruppe praktizierender Rechtsanwälte sowie Universitätsjuristen formulierten Charter of Rights137 aufgeworfen; und die Gründung eines speziellen Verfassungsgerichts verdankt viel der entsprechenden akademischen Argumentation138. Hier kann man mit mehr Erfolg den fremden Einfluss verfolgen. Dies beruht zum Teil auf der Tatsache, dass dieser Einfluss offener geübt und anerkannt wurde139, und zum Teil darauf, dass seine Ergebnisse deutlich erkennbar waren. Ausländische Juristen wurden während der unterschiedlichen Phasen der Verhandlungen auf verschiedenen Ebenen in dieses Verfahren einbezogen, und manchmal war das Verfahren offen genug und machte es möglich, dass eine ansehnliche Zahl interessierter ausländischer Juristen sich aus eigener Initiative oder auf Einladung der Universitäten und anderer Forschungs- und Nicht-Regierungs-Organisationen daran beteiligten140. Dennoch war die ausländische Beteiligung während des Verfahrens nicht gleichmäßig. Bevor die 134

Siehe CORDER/DU PLESSIS, Understanding (Anm. 6), passim. Zum Beispiel gab Kader Asmal, der nach einer akademischen Karriere am Trinity College, Dublin, nach Südafrika zurückkam, um einen Lehrstuhl an der University of the Western Cape zu Ubernehmen, durch seine rechtswissenschaftlichen Zeitschriftenartikel (siehe Anm. 41) Anstöße für die universitäre Forschung, aber er spielte auch eine führende Rolle bei der Entwicklung der ANC-Vorschläge und als prominentes Mitglied der Constitutional Assembly. Gerhard Erasmus, Professor für Menschenrechte, regte die wissenschaftliche Forschung in ähnlicher Weise an und war während der Verhandlungen über die Übergangsverfassung als Berater für die Demokratische Partei tätig: er wurde später Mitglied des unabhängigen Gremiums von Verfassungsexperten, das während der Geltung der Übergangsverfassung ernannt wurde, um die Constitutional Assembly zu beraten. 136 South African Law Commission, Working Paper 25: Project 58: Group and Human Rights, Pretoria, Government Printer 1991. 13 ' A Charter for Social Justice: A Contribution to the Bill of Rights Debate, hrsg. von Hugh Corder [u. a.], Cape Town 1992. 138 Siehe oben Anm. 77-86 und den dazu gehörenden Text. 139 So enthalten die oben Anm. 17 und 18 aufgeführten Dokumente Diskussionen über die Position in fremden Verfassungen. 140 Siehe oben Anm. 22 und 23 sowie den dazu gehörenden Text. 135

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Verhandlungen in Kempton Park offiziell begannen, wurde eine Reihe von Konferenzen unter Beteiligung ausländischer Juristen und finanziert durch ausländische Quellen durchgeführt 141 . Bezeichnenderweise beschränkte sich die ausländische Beteiligung niemals auf Experten aus den Ländern, die finanzielle Zuschüsse gewährten. Zu den einflussreichsten dieser Veranstaltungen gehörten Konferenzen und Workshops, die von der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung finanziert wurden. 1993 wurde z u m Beispiel eine dieser Tagungen von der Universität Kapstadt und der University of the Western Cape organiseit, u m die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit i m Kontext einer neuen Verfassung zu umreißen 1 4 2 ; ein wichtiges Ergebnis scheint eine R e v i s i o n der Verhandlungsposition des Afrikanischen Nationalkongresses, eines der beiden wichtigsten politischen Akteure in Kempton Park, g e w e s e n zu sein, indem dieser sich seitdem gegenüber der Einbeziehung der Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgeschlossener zeigte 1 4 3 .

141

Ein Beispiel ist die Konferenz über „A Constitutional Court for South Africa", die im Februar 1991 von den wichtigsten politischen Parteien und dem Afrikanischen Nationalkongress in Zusammenarbeit mit dem Centre of Applied Legal Studies der Johannesburger Universität Witwatersrand und dem in den USA beheimateten Committee for Civil Rights under the Law organisiert wurde. Ein weiteres Beispiel ist die Konferenz über „A Bill of Rights for a Democratic South Africa", die der Afrikanische Nationalkongress im November 1991 in Zusammenarbeit mit der University of the Western Cape, der Universität Natal und dem US-amerikanischen Committee for Civil Rights under the Law einberief. Finanzielle Zuschüsse gewährten die Swedish International Development Authority, die Friedrich-Ebert-Stiftung und die kanadische Regierung. Die Liste ausländischer Redner auf letztgenannter Konferenz schloss Hans-Peter Schneider von der Universität Hannover, Vezera Kandetu und Bience Gawanas aus Namibia, D. J. Ravindran aus Indien, Bojosi Othlogile von der Universität von Botswana und Florence Lengalenga aus Sambia ein vgl. den publizierten Tagungsbericht: Centre for Development, Studies, A Bill of Rights for a Democratic South Africa, Cape Town 1992. 142 „Administrative Law for a future South Africa", veranstaltet vom Department of Public Law der Universität Kapstadt und dem Community Law Centre der University of the Western Cape vom 10. bis 13. Februar 1993 auf dem Breakwater Campus der Universität Kapstadt. Zu den ausländischen Rednern gehörten Christopher Forsyth aus Cambridge, Cheryl Saunders, Laurence Boulle und Peter Blayne aus Australien, Jeffrey Jowell aus London, Ann Seidman von der Clark University, Massachusetts, sowie Bob Seidman von der Universität Boston. Der Workshop schloss mit der Annahme der Breakwater Declaration, einem Dokument, das die Agenda für eine Reform im Bereich des Verwaltungsrechts aufstellte und in Regierungskreisen und bei verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen eine weite Verbreitung fand. Siehe Administrative Law Reform, hrsg. von Hugh Corder, Cape Town 1993. Eine weitere derartige Konferenz Uber „Interpreting a Bill of Rights" wurde vom 9. bis 11. April 1992 von Lawyers for Human Rights und der Potchefstroom University veranstaltet, mit Beiträgen von Michael O'Boyle von der Europäischen Menschenrechtskommission, Hans-Peter Schneider von der Universität Hannover, Nadine Strossen aus NYU und Leon Trakman aus Dalhousie. Die Tagungsakten wurden in der Folge mit finanzieller Unterstützung der USAID publiziert unter dem Titel: Interpreting a Bill of Rights, hrsg. von J. Krüger und B. Currin, Cape Town 1994. 143

Hugh M. CORDER, Interview 3. März 1998.

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Nichtsdestoweniger scheint die ausländische Beteiligung während des eigentlichen Prozesses der Formulierung der Übergangsverfassung abgenommen zu haben. Ein Grund hierfür mag bei den politischen Parteien und den südafrikanischen Experten, die den Fachkommissionen zur Mitarbeit an dem Entwurf angehörten, zum Teil der Wunsch gewesen sein, sicherzustellen, dass ein „südafrikanisches Erzeugnis" herauskam; wichtig war aber auch die Natur des Prozesses selbst - er vollzog sich in einem hohen Tempo, unter großem Druck und mit zeitweiligen Unterbrechungen, entsprechend den politischen Pannen bei den Verhandlungen144. Es war auch kein besonders offener Prozess, da an ihm nicht gewählte, obschon weithin repräsentative politische Parteien beteiligt waren - ein Versuch, mit der Unterstützung von zumeist einer bestimmten Partei mehr oder weniger eng verbundenen Fachexperten einen Übergangskompromiss zu finden. Diese Experten waren in Technical Committees gruppiert, die in mancher Hinsicht einen bemerkenswerten Einfluss auf die Einzelheiten der Verfassungsreform ausübten. Das Committee on the Bill of Rights ergriff zum Beispiel die Initiative, die einzuschließenden Rechte und den anzuwendenden Ansatz aufzuführen, schlug Formulierungen von Rechten vor, behandelte diese bei fehlender politischer Kontroverse als angenommen und argumentierte im Fall politischen Widerspruchs bisweilen energisch für seine eigene Position145. Es war kein Prozess, der zur Beteiligung von Außenseitern tendierte, und er ließ nur geringen Spielraum für sachliche Reflexion und einen breiten Input146. Die Ausarbeitung der „endgültigen" Verfassung unterschied sich von diesem Verfahren in wichtigen Aspekten. Es war ein längerer Prozess, der von einer gewählten Körperschaft geregelt wurde und dadurch sowohl offener und stärker beratend war als auch strikter von Politikern kontrolliert wurde, die sich nun auf ein demokratisches Mandat stützen konnten147. Außerdem 144 CORDER/DU PLESSIS, Understanding (Anm. 6), bemerken auf S. 210, dass der Entwurf der Übergangs-ßill of Rights lediglich eine sechsmonatige Teilzeitaktivität beanspruchte. 145 Vgl. ebd., S. 39-59. Das Technical Committee determinierte jedoch nicht die Reichweite und den Inhalt der Bill of Rights. Beispielsweise unterscheidet sich die Behandlung der „horizontal application" von Rechten (Erörterung oben im Text der Anmerkungen 51 bis 71) als ein Ergebnis des heftigen Widerstands mancher Verhandlungsparteien signifikant vom anfänglichen eigenen Vorschlag des Committee und spiegelt einen Kompromiss zwischen Politikern wider. Die eigentliche Formulierung jedoch ist das Werk des Committee - vgl. CORDER/DU PLESSIS, Understanding (Anm. 6), S. 110-114. 146 Dies sind die Schlussfolgerungen zweier Mitarbeiter an dem Entwurf der Übergangsverfassung - vgl. ebd., S. 50, 208-210. 147 Der endgültige Text wurde von der Constitutional Assembly verabschiedet, die nichts anderes als das im April 1994 nach den Bestimmungen der Interims-Verfassung gewählte Parlament unter einem anderen Etikett war. Die Arbeitsmethode der Assembly bestand in der Verteilung ihrer Mitglieder auf verschiedene Theme Committees, die jeweils damit beauftragt waren, Übereinstimmung Uber Textentwürfe zu erzielen, die einen spezifischen Aspekt der Verfassung behandelten. Sie wurden von ihren eigens ernannten Fachexperten unterstützt, die Vorschläge für Entwürfe entwickelten und Fragen beantworteten. Ange-

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fand er innerhalb der Strukturen bindender Verfassungsprinzipien statt und unter d e m Einfluss, den die Übergangsverfassung als ein Dokument, das bereits die wichtigsten Kompromisse beinhaltete, mit denen alle Parteien leben konnten, unvermeidlich ausübte. Eine Folge war, dass die Wirkung einer ausgewählten Gruppe förmlich ernannter Experten im A l l g e m e i n e n deutlich geringer war als während der vorangegangenen Phase 1 4 8 , w a s die Möglichkeit der Einwirkung ausländischer Experten ebenso begrenzte w i e die lokalen Einflüsse. D a s Ergebnis war, dass der ausländische Einfluss erneut indirekt wirksam wurde. Er konnte nichtsdestoweniger immer noch

legenheiten, die auf diese Weise nicht gelöst werden konnten, wurden durch die gesamte Assembly beigelegt, die ihrerseits von einem ernannten Panel von Verfassungsexperten und Rechtsberatern unterstützt wurde. Die Assembly erörterte zahlreiche Entwürfe für die verschiedenen Kapitel der Verfassung und nahm einen Text an, den ein Technical Refinement Team produziert hatte, das sich aus einigen der Fachexperten, Mitgliedern des Panel und Rechtsberatern zusammensetzte. Die Beratung bestand aus Einladungen an die Öffentlichkeit, Vorschläge vorzulegen (von denen viele von einer großen Bandbreite an Einzelpersonen und Organisationen eingingen), öffentlichen Anhörungen, Beratungs-„Tourneen" besonders in ländlichen Gegenden und formelleren Veranstaltungen, bei denen einzelne Interessengruppen befragt wurden (z. B. wurden die Meinungsäußerungen der Richter des Verfassungsgerichts über die Zukunft dieses Gerichts förmlich erbeten, der Rest der Gerichtsbehörden, die Association of Law Societies, der General Council of the Bar, die National Democratic Lawyers Association, die Black Lawyers Association und die Lawyersfor Human Rights wurden gesondert eingeladen, um ihre Meinungen darzulegen, und am 3. April 1996 wurde eine Beratung mit Repräsentanten der Anwaltschaft gehalten). Nach dem Jahresbericht der Constitutional Assembly 1995-1996 wurden mehr als 2 Mio. Eingaben angenommen und mehr als 60 Workshops, Treffen und Beratungen mit verschiedenen „outside"-Interessenvertretern gehalten. Diese Information ist den Dokumenten der Constitutional Assembly Database an der Juristischen Fakultät der Universität Kapstadt entnommen, die unter http://www.constitution.org.za zugänglich ist. Im Folgenden werden alle unveröffentlichten Dokumente, die in dieser Datenbank zugänglich sind, entweder als Interim Constitution Documents/Submissions oder Constitutional Assembly Documents/ Submissions zitiert. 148

Die bei weitem geringere Rolle, die Fachleute in der zweiten, „End"-Phase der Ausarbeitung der Verfassung spielten, geht aus den Explanatory Memoranda zum Entwurf der Bill of Rights vom 9. Oktober 1995 hervor, Constitutional Assembly Document, die die Entwicklung des Entwurfs der Fachberater zu einem der Sachausschüsse der Constitutional Assembly dokumentierten. Die Explanatory Memoranda legen dar, wie jeder ihrer Formulierungsvorschläge den zwischen den politischen Mitgliedern des Ausschusses erreichten Konsens widerspiegelt, behandeln die in der Übergangs-/};'// of Rights gewährleisteten Rechte als den Ausgangspunkt, nach dem man sich angesichts fehlender anders lautender politischer Vorgaben zu richten habe, und tun im Fall eines Zwiespalts unter den Politikern nicht mehr, als alternative Formulierungen vorzuschlagen, die die verschiedenen politischen Positionen zum Ausdruck bringen. Dies steht im Gegensatz zum Verfahren in dem Fachausschuss, der sich mit der Übergangs-ßi'// of Rights beschäftigte (wie es oben in Anm. 27 und dem zugehörigen Text diskutiert worden ist), als die Fachexperten die erste Liste und die Formulierung der Rechte vorschlugen, diese bei fehlender politischer Kontroverse als akzeptiert behandelten und bei Meinungsverschiedenheiten mit den politischen Verhandlungsparteien hartnäckig für ihre eigenen Ansätze und Formulierungen argumentierten - vgl. allgemein CORDER/Du PLESSIS, Understanding (Anm. 6), Kapitel 2 , 4 und 5.

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beachtlich sein - die Anwesenheit des amerikanischen Verwaltungsjuristen Michael Asimow an der Universität Witwatersrand 1995 scheint den Entwurf des Verwaltungsrechtsstatuts durch Haiton Cheadle stark beeinflusst zu haben, der damals Professor an dieser Universität und dann Mitglied des Fachkomittes war, das das mit dem Entwurf der Bill of Rights betraute Constitutional Assembly Committee beriet149. Die Finanzierung der ausländischen Teilnehmer war so verschiedengestaltig wie deren Identität und Herkunft. Die bedeutendsten Sponsoren sowohl für ausländische Experten wie für Südafrikaner, die relevante ausländische Sachkenntnis einzuwerben wünschten, waren kanadische und deutsche Einrichtungen. Deutsche Beteiligung wurde ermöglicht durch Unterstützung sowohl durch private Stiftungen mit einer politischen Bindung, wie der Friedrich-Ebert-Stiftung, durch Körperschaften zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Alexander-von-Humboldt-Stiftung, Deutscher Akademischer Austauschdienst) wie auch der deutschen Regierung. Von kanadischer Seite wurden Konferenzen und Besuche kanadischer Verfassungsexperten in Südafrika durch die kanadische Regierung finanziert. Eine Reihe anderer Organisationen ermöglichte Besuche von amerikanischen, skandinavischen und britischen Verfassungsrechtlern150. Dieser Verkehr in Sachen internationaler juristischer Sachkenntnis diente dazu, den größtmöglichen Input wertvoller vergleichender Arbeiten für den Prozess des Entwurfs der Verfassung zur Verfügung zu stellen, jedoch ausnahmslos in einer Weise, die Südafrikaner als Vermittler zwischen die ausländischen Experten und diesen Prozess stellte. Auch wenn es unmöglich ist, dies zweifelsfrei zu beweisen, liegt es nahe zu schließen, dass die Verfügbarkeit finanzieller Mittel einen wichtigen Einfluss auf die Quelle dieses Verkehrs hatte - die Herkunft der meisten ausländischen Experten und der Präzedenzfälle, die während des Prozesses des Verfassungsentwurfs am intensivsten erörtert wurden151, entspricht der Herkunft der Mittel ganz weitgehend. Deutschland und Kanada ragten in jeder Hinsicht heraus. Südafrikanische Juristen, die von der Kenntnis der Rechtssysteme sowohl des Common Law wie des Zivilrechts durchdrungen waren, nahmen aktiv an der Regelung technischer Details der Verfassung teil und waren die wichtigsten Kanäle für Einwirkungen des ausländischen Rechts152. Häufig ging diese 149 Ebd. ASIMOWS Ansichten werden dargelegt in: Administrative Law under South Africa's Proposed Final Constitution: The Need for an Administrative Justice Act, in: S. A. L. J. 113 (1996), S. 613-630, und Administrative Law under South Afirica's Interim Constitution, in: American Journal of Comparative Law 44 (1996), S. 393-420. 150 Z. B. das US-amerikanische Committee for Civil Rights under the Law und das schwedische International Development Authority and Raoul Wallenberg Institute. 151 Siehe unten. 152 Bekannte, im ANC politisch aktive Anwälte wie Albie Sachs, Kader Asmal und Zola Skweyiya hatten mehrere Jahre im Exil verbracht und ihre Studien in Großbritannien und

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Kenntnis dem Prozess der Ausarbeitung der Verfassung um Jahre oder gar Jahrzehnte voraus, weil Südafrikaner über längere Zeiräume hinweg ihre Studien in Europa, Großbritannien und Nordamerika vervollständigt haben; dies war bisweilen angeregt von der wachsenden Bedeutung politischer Reformen153. Zu diesem Zweck stellten ausländische Sponsoren auch während des Prozesses der Ausarbeitung der Verfassung eigene Mittel zur Verfügung. Insbesondere kanadische und deutsche Geldgeber finanzierten Studienreisen 154 und gewährten Unterstützung für die Organisation von Konferenzen und die Einladung ausländischer Experten an südafrikanische Universitäten155. Wie im Fall der direkten ausländischen Partizipation, gibt es keine einfache, direkte Verbindung zwischen Finanzierung und Einfluss - das Beispiel des deutschen Bundesverfassungsgerichts wurde etwa sowohl von den

der ehemaligen DDR fortgesetzt. Zum Fachausschuss, der für den Entwurf der 1993er Übergangsverfassung verantwortlich war, gehörten beispielsweise Hugh Corder mit einem Cambridger LLB und einem Oxforder D Phil sowie einem Forschungshintergrund, der auch Kanada, die Vereinigten Staaten und Australien umfasste, und Lourens Du Plessis mit Forschungserfahrung in Deutschland und den Niederlanden. Sie stützten sich auf Arbeiten von Leuten wie Kate O'Regan, die australische und Londoner Abschlüsse besitzt, John Dugard, der auch in Cambridge studierte, Marinus Wiechers, der ein Pariser Absolvent ist, und Johann Van Der Vyer, der viel Zeit mit Forschungen in Deutschland, den Niederlanden und den USA verbracht hat. Zu den Fachexperten, die bei der Konzipierung der endgültigen Verfassung mitwirkten, gehörten Inhaber akademischer juristischer Abschlüsse aus den USA (Christina Murray und Gerhard Erasmus), den Niederlanden (Erasmus), Oxford (Jeremy Gauntlett), Cambridge (John Dugard), und andere mit Forschungserfahrung in Deutschland und den Vereinigten Staaten (Ig Rautenbach und Haiton Cheadle). Dazu müssen die Hintergründe deijenigen akademisch und praktisch tätigen Juristen hinzugefügt werden, die den genannten Information und Rat zur Verfügung stellten oder den verhandelnden Gremien förmlich Memoranden vorlegten, ebenso auch deijenigen, die vor dem Beginn der Verhandlungen Uber den Schutz der Grundrechte Eingaben zur Untersuchung durch die South African Law Commission vorlegten. All diese anzuführen wäre unmöglich; der obige Überblick ist unserer Meinung nach repräsentativ. 153 Im Hinblick auf die unten erörterten Gegenstände sind die Forschungen Johann van der Westhuizens, damals Juraprofessor an der Universität Pretoria, über die deutsche Erfahrung eines gesonderten Verfassungsgerichts am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht zwischen Dezember 1990 und Januar 1991 besonders wichtig. Deren Ergebnisse, die auf der Constitutional Court-Konferenz von 1991 (siehe oben, Anm. 22) und in einem Aufsatz in einer juristischen Zeitschrift (The protection of human rights and a constitutional court for South Africa: some questions and ideas, with reference to the German experience, in: De Jure 23 [1991], S. 1-22) verbreitet wurden, erwiesen sich als äußerst einflussreich. Die Forschungen wurden von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung finanziert. Dieselbe Institution finanzierte Forschungen Uber dieses Thema durch einen anderen Südafrikaner, veröffentlicht als: Willem Hendrik OLIVIER, Die Duitse Konstitusionele Hof: 'n Riglyn vir 'n nuwe Suid-Afrikaanse bestel, in: T. S. A. R (1992), S. 667676. Siehe auch oben, Anm. 41. 154 Ein Beispiel ist ein Besuch von Verfassungsrechtlern in Deutschland und Ungarn im Jahr 1993, um das Funktionieren der dortigen Verfassungsgerichte zu untersuchen: Hugh M. CORDER, Interview 3. März 1998. 155 Siehe oben Anm. 22 und 23.

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Personen mit deutscher Forschungserfahrung156 und Finanzierung als auch von denen ohne157 enthusiastisch angenommen - , doch die großen Linien stimmen weithin überein, insofern als Kanada und Deutschland in beiderlei Hinsicht herausragen. Die Art und Weise, wie ausländische Einflüsse in den Prozess der Ausarbeitung der Verfassung eingingen, zeigt also, dass sie in einem hohen Grade mit Hilfe von südafrikanischen Juristen vermittelt und damit durch deren Kenntnis und Wahrnehmungen der örtlichen Umstände und des örtlichen Rechts gefiltert wurden. Die Fakten bestätigen dies. Beispielsweise vermischte der Fachausschuss, der die Übergangs-ßi/i of Rights konzipierte, deutsche und kanadische Vorbilder zur Kontrolle der Beschränkung von Rechten zu einem Produkt mit einem südafrikanischen „Beigeschmack" und ergänzte die US-amerikanische Vorstellung von verschiedenen Graden juristischer Untersuchung, die mit Blick auf die lokale historische Erfahrung mit dem Niedertrampeln von Rechten in Notfällen dem südafrikanischen Ziel eines strengeren Schutzes der persönlichen und politischen Freiheitsrechte angepasst wurde158. Mit Blick auf die „endgültige" Verfassung mag die Verfügung der Bill of Rights über Arbeitsbeziehungen als Beispiel dafür dienen, wie ausländische Rechtsvorbilder benutzt wurden. Eine Gruppe von Fachexperten, die die Constitutional Assembly beriet, stellte fest, dass viele, aber nicht alle Verfassungen die kollektiven Rechte der Arbeiter zur Bildung von und zum Eintritt in Vereinigungen und zum Streik schützten, und analysierte dann US-amerikanische, kanadische, europäische Menschenrechte sowie indische, japani156

Siehe oben Anm. 37. Vgl. Kader ASMAL, Constitutional Courts: a Comparative Survey, in: C. I. L. S. A. 24 (1991), S. 315-340, und Ziyad MOTALA, Independence of the Judiciary, Prospects and Limitations of Judicial Review in Terms of the U. S. Model in a New South African Order: Towards an Alternative Judicial Structure, in: Ebd., S. 285-314. 158 CORDER/DU PLESSIS, Understanding (Anm. 6), S. 47, 123-128. Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidung, ein unabhängiges allgemeines Recht des Zugangs zu den Gerichten festzuschreiben, anstatt dies als einen Teilaspekt des allgemeineren Rechts auf einen fairen Prozess zu behandeln, was dadurch beeinflusst wurde, dass ,,[t]hose who looked to the past would have remembered the former Government's attempts to exclude the jurisdiction of the courts, while those who anticipated a future in opposition to government might have feared such attempts [...]" (ebd., S. 163). Der Einschluss einer Reihe von Rechten hinsichtlich der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der einen Abschied von vielen Verfassungsvorbildern markiert, auf die man sich während der Konzeptionsphase gestutzt hatte, „must be read in the context of a judicial approach to review which had displayed strong traces of executivemindedness, especially during the states of emergency of the late 1980s, leading to bitter disappointment among proponents of civil rights" (ebd., S. 167). Der sorgfaltig konzipierte Schutz von „rights of property" wiederum anstatt eines Rechts auf eigenes Eigentum war auf den Wunsch zurückzuführen, sicherzustellen, dass kommunaler Landbesitz nach (afrikanischem) Gewohnheitsrecht denselben Schutz erhielt wie Landbesitz unter „westlichen" persönlichen Rechtstiteln; ebd., S. 187. 157

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sehe und deutsche Fälle, um zu dem Schluss zu kommen, dass „the comparative international jurisprudence thus indicates that unless the collective rights of workers are entrenched in the Constitution and unless the principles of collectivity are asserted, the Constitution may be interpreted in a manner that individual rights will trump labour rights". Angesichts der zweifelsohne auf die führende Rolle der Gewerkschaften im Widerstand gegen das Apartheidsregime und ihren andauernden Einfluss zurückgehenden Übereinstimmung aller Parteien in der Constitutional Assembly, dass Rechte dieser Art des Schutzes bedurften, schlugen die Experten vor, dass diese Rechte gesondert aufgeführt werden sollten und nicht davon ausgegangen werden sollte, sie seien von dem allgemeinen Recht der Vereinigungsfreiheit abgedeckt. Ein anderes Beispiel liefert das Recht auf angemessene Wohnung, das, wie die Experten, nachdem sie entsprechende Verfügungen in 17 ausländischen Verfassungen zitiert hatten, schlössen, ausdrücklich gegen Räumungsbefehle ohne „an order from a court made after considering whether suitable alternative housing is available" schützen sollte, denn die gesetzliche Ermächtigung zu Räumungsbefehlen ohne Gerichtsbeschlüsse gehörte zu „the key weapons wielded under the apartheid era to control the settlement of Black persons in urban areas, and caused widespread suffering"159. 4.2. Der Einfluss europäischen Rechts auf den Text der Verfassung Es ist nahezu unmöglich, einen Teil der Verfassung auszumachen, der frei vom Einfluss dieses Einfuhrprozesses ist. Wie auch immer, die wichtigsten Verfügungen, die darauf abzielten, die Rolle des Rechts zu stärken und die Mehrparteiendemokratie zu unterstützen, waren wohl diejenigen, die die Bill of Rights enthielten und für deren gerichtliche Stärkung sorgten. Bezeichnenderweise wurde deren Konzeption in hohem Maße von andernorts, zumal in Deutschland und Kanada gemachten Erfahrungen beeinflusst. Die Kernelemente der Bill of Rights und des Gerichtssystems wurden in den Verhandlungen grundgelegt, die die Übergangsverfassung hervorbrachten160. Diese wurden im Wesentlichen in die „endgültige" Verfassung übernommen, obgleich einige wichtige Anpassungen vorgenommen wurden161. Im Vordergrund der Überlegungen sowohl der Verhandelnden als auch der Konzipieren159 Diese Expertengruppe erstellte ein 173 Seiten langes Dokument (Explanatory Memoranda on the Draft Bill of Rights of 9 October 1995, Constitutional Assembly Document), das die vorgeschlagene Formulierung der verschiedenen Rechte erklärte und rechtfertigte, indem es internationales öffentliches Recht und Formulierungen ausländischer Verfassungen vor dem Hintergrund des aktuellen südafrikanischen Rechts analysierte. Die Beispiele und Zitate im Text sind diesem Dokument entnommen. An anderer Stelle in diesem Schriftstück zitieren und berufen sich die Experten auf vergleichende Analysen und Vorschläge südafrikanischer akademischer Juristen. 160 Vgl. diesbezüglich die oben in Anm. 129 zitierten beiden Verfassungsprinzipien. 161 Vgl. die oben Anm. 148 zitierten Explanatory Memoranda sowie den Text unten für einige Einzelbeispiele.

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den stand eine Frage: Bis zu welchem Grad sollten die Bill of Rigths und die sie stärkenden Institutionen darauf ausgerichtet sein, einen Bruch mit dem Rechtssystem der Vergangenheit zu bewirken, und bis zu welchem Grade sollten sie die Kontinuität wahren? Die Uneinigkeit über die Antwort auf diese Frage bildete den Kern der Debatten zwischen den beiden größten politischen Verhandlungspartnern, der ehemals regierenden Nationalpartei und dem auf Befreiung eingestellten Afrikanischen Nationalkongress. Die Rufe Albie Sachs' (heute Richter am Constitutional Court), des führenden ANC-BefÜrworters einer Bill of Rights, nach „an instrument [...] harmonising the social programmes necessary for the restoration of the land, wealth, dignity and general social rights of the dispossessed with the legitimate personal needs [...] of all [...] the SA people"162 und „to turn the Bill of Rights concept from one of a negative, blocking instrument, which would have the effect of perpetuating the divisions and inequalities of Apartheid society, into one of a positive, creative mechanism that would encourage [...] rapid change in the direction of real equality"163, ließen die Regierung darauf beharren, dass der Zweck einer Bill of Rights „is to protect the rights of the citizen against the arbitrary and discriminatory use of Parliamentary and political power", dass ,,[i]n the new system the Law must reign supreme" und dass es müsse „apply to the State in a prohibitive rather than in a mandatory sense"164. Zusätzlich zu den daraus hervorgehenden Disputen Uber den Schutz des Eigentums, sozio-ökonomische Rechte und freie wirtschaftliche Aktivität165 stellte die Natur dieser Meinungsverschiedenheit zwei allgemeine Probleme von besonderer Wichtigkeit zur Debatte. Was zunächst den Inhalt der Bill of Rights betrifft, warf es die Frage auf, ob die neuen Fundamentalrechte auch „horizontal", gegen Privatleute, anwendbar sein und so zur Reform des Gewohnheitsrechts dienen sollten. Und was zum Zweiten die Durchsetzung der Bill angeht, warf es das Problem auf, ob sie den bestehenden Gerichten anvertraut werden könne oder den Händen neuer Institutionen übergeben werden müsse. 4.2.1. Der Inhalt der Bill of Rights Die erste dieser Fragen kam in den ersten Rufen nach Erlass einer Bill of Rights nicht vor166. Sie konzentrierten sich - im Licht des politischen Kontexts, in dem 162 Albie SACHS, Towards the reconstruction of South Africa, in: Journal of Southern African Studies 10 (1985), S. 49 ff. 163 DERS., Towards a Bill of Rights in a Democratic South Africa, in: S. A. J. H. R. 6 (1990), S. 1-24, hier: S. 1 und 13. 164 Government of the Republic of South Africa, South African Government's Proposals on a Charter of Fundamental Rights, Pretoria, SA Government Printer, 2 February 1993. 165 Zu dieser und anderen Kontroversen über den Einschluss und die Formulierung besonderer Rechte vgl. CORDER/DU PLESSIS, Understanding (Anm. 6), S. 22-59 und 138-190. 166 Vgl. diesbezüglich die ANC Bill of Rights von 1923, die African Claims in South Africa von 1943 und die Freedom Charter von 1956, alle wieder abgedruckt in: From Protest to Challenge: A Documentary History of African Politics in South Africa 1882-1964, hrsg.

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sie entstanden, verständlicherweise - auf ein Instrument als Mechanismus, um den Machtmissbrauch seitens des Staates zu begrenzen. Sie fand sich jedoch implizit in den Forderungen nach einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft, wie sie in der liberationistischen Freedom Charter von 1955 enthalten waren, und sie fand Eingang in die Verfassungsphilosophie des Afrikanischen Nationalkongresses in den 1980er Jahren167. Sie gewann besondere Beliebtheit, als die südafrikanische Law Commission (auf Aufforderung des damaligen Justizministers) über „Group and Human Rights" berichtete und sich dabei zu einer Vielzahl von Sichtweisen und Eingaben äußerte168. Wie in ihrer sonstigen Arbeit, hatte diese Körperschaft eine ausführliche Studie über den Gegenstand angefertigt169. Sie erkannte Drittwirkung als ein ertragreiches Thema in Hinsicht auf die Anwendung von Grundrechten und favorisierte zunächst den deutschen Ansatz, keine direkte horizontale Anwendung der Bill of Rights zu erlauben170. Ihre Schlussworte über diesen Gegenstand jedoch vergegenwärtigten, dass die Rechte eines Individuums durch die eines anderen beeinträchtigt werden könnten171. Obwohl dies weder Eingang in die Übergangs- noch in die „endgültige" Verfassung fand, war die Arbeit der Kommission in dieser Hinsicht ungeheuer einflussreich: Sie stellte das Vokabular zur Verfügung, mit dem seitdem diese Frage immer diskutiert und in Begriffe gefasst worden ist. Für südafrikanische Juristen stellte sich nicht primär die Frage, ob die Bill of Rights sich allein auf „Staatshandeln" beziehen oder wie dieser Terminus interpretiert werden sollte; die wichtigste Frage wurde vielmehr die, ob die Bill of Rights nur eine „vertikale" Anwendung finden sollte oder auch eine „direkte" oder „indirekte" horizontale Drittwirkung172. Dies war natürlich mehr die deutsche als die amerikanivon Thomas Karis und Gwendolen M. Carter, 2 Bde., Stanford 1987. Vgl. auch: Human Rights: The Cape Town Conference, hrsg. von J. E. Schiller und C. Forsyth, Cape Town 1979; A Bill of Rights for South Africa, hrsg. von Henning P. Viljoen und Johann Van Der Westhuizen, Durban 1988; John DUGARD, The Quest for a Liberal Democracy in South Africa, in: Acta Jurídica 1987, S. 237-258. 167 Vgl. The Freedom Charter and Beyond, hrsg. von Nico Steytler, Cape Town 1991, das auch Anhänge mit den relevanten ANC-Dokumenten enthält. Diese und weitere Ausarbeitungen der Position des ANC in dieser Hinsicht finden sich auch in zwei Büchern, die von einem bekannten Mitglied des ANC-Verfassungsausschusses und nunmehrigen Richters am Verfassungsgericht veröffentlicht wurden: Albie SACHS, Protecting Human Rights in South Africa, Cape Town 1990; Advancing Human Rights in South Africa, Cape Town 1992. 168 South African Law Commission, Working Paper 25, Project 58: Group and Human Rights, Pretoria, Government Printer 1991, und South African Law Commission, Interim Report on Group and Human Rights, Pretoria, Government Printer, 1991. 169 Dem Kapitel über den Schutz der Menschenrechte im internationalen Recht, in Großbritannien, in den USA und in Deutschland folgte eines, das einer vergleichenden Studie über Bills of Rights gewidmet war und in dem 124 solcher Dokumente untersucht wurden. 170 Working Paper 25 (Anm. 168), S. 466 f. 171 Interim Report (Anm. 168), S. 4 8 9 ^ 9 4 , 662, 686 und 701. 172 Vgl. z. B. A. VAN ASWEGEN, The implications of a bill of rights for the law of contract and delict, in: S. A. J. H. R. 11 (1995), S. 50-69; L. WOLHUTER, Horizontally in the inter-

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des europäischen

Rechts

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sehe Art, diese Frage zu stellen, und zog, w i e zu erwarten war, e i n wachsendes Interesse an deutschem Recht in diesem Bereich nach sich 1 7 3 . D i e deutsche Position w u r d e j e d o c h nicht direkt ins südafrikanische Recht verpflanzt. Dafür war der G e g e n s t a n d politisch bei w e i t e m zu kontrovers und bedurfte e i n e s „Fondanten". Während der a n f ä n g l i c h e n V e r h a n d l u n g e n war d i e d a m a l i g e R e g i e r u n g strikt g e g e n e i n e s o l c h e u m f a s s e n d e R e f o r m der b e s t e h e n d e n G e s e t z e eingestellt 1 7 4 ; und ihr wichtigster G e g e n s p i e l e r ,

der

A N C , verlor e b e n f a l l s allmählich seinen a n f ä n g l i c h e n Enthusiasmus für e i n e horizontale A n w e n d u n g der Bill

of Rights115.

A b e r andere b l i e b e n darauf

festgelegt 1 7 6 . E i n w i c h t i g e r Faktor hierbei m a g d i e s y m b o l i s c h e B e d e u t u n g einer R e - L e g i t i m a t i o n v o n afrikanischem G e w o h n h e i t s r e c h t in der n e u e n V e r f a s s u n g g e w e s e n sein, w e i l an verschiedenen Stellen d i e S o r g e z u m A u s druck gebracht wurde, dass die unbeschränkte horizontale A n w e n d u n g der Bill of Rights

zur Eliminierung weiter B e r e i c h e d e s G e w o h n h e i t s r e c h t s f ü h -

ren könnte 1 7 7 . D i e Funktion der Verfassung als e i n e s S y m b o l s der B e f r e i u n g im and final Constitution, in: S. A. P. L. 11 (1996), S. 512 ff.; A. COCKRELL, Private Law and the Bill of Rights: A Treshold Issue of Horizontally, in: Bill of Rights Compendium, Durban 1996 (looseleaf), S. 3A1-3A19; ebenso auch die in der folgenden Anmerkung zitierte Literatur und die Fälle, auf die in diesem Abschnitt Bezug genommen wird. 173 Z. B. CORDER/DU PLESSIS, Understanding (Anm. 6), S. 109-116; T. W. BENNETT, The Equality Clause and Customary Law, in: S. A. J. H. R. 10 (1994), S. 122-130; H. A. STRYDOM, Freedom of contract and constitutional rights: a noteworthy decision by the German constitutional court, in: T. H. R. H. R. 58 (1995), S. 696-702; Ignatius M. RAUTENBACH, General provisions of the South African bill of rights, Durban 1995, S. 6 8 80. Vgl. auch die in Anm. 178 zitierte Literatur. 174 Siehe den oben in Anm. 164 zitierten Text der Vorschläge der südafrikanischen Regierung für eine Grundrechtscharta. In ihrer Eingabe an das Technical Committee on Fundamental Rights during the Transition, Interim Constitution Submissions, 12 July 1993, bestand die südafrikanische Regierung darauf, dass „the horizontal application of a bill of rights cannot be supported from a legal point of view for [...] if adopted it will cause havoc in our private law [...]". 175 Gestützt auf die Vision einer Bill of Rights als Werkzeug des Wandels, wie dies oben in den Zitaten im Text zu den Anmerkungen 163 und 164 deutlich wird, trug der ANC in seinen früheren Vorschlägen Sorge, dass in der Bill of Rights auch nichtstaatlichen Akteuren Verpflichtungen auferlegt wurden. Vgl. die als Anhang in den beiden oben in Anm. 167 zitierten Büchern von Sachs abgedruckten Dokumente. Seine Eingabe an das Technical Committee on Fundamental Rights during the Transition, Interim Constitution Submissions, stimmte mit der südafrikanischen Regierung überein, dass „the rights for the transition ought to apply to state action only", angesichts der Ungewissheit „as to the legal implications that a more expansive application might have on existing law" und der Macht, die eine solche Anwendung den Gerichten geben würde. Wie die Regierung war er zu der Ansicht gekommen, dass eher die Gesetzgebung als die Rechtsprechung private verfassungsmäßige Verpflichtungen festlegen sollte. 176 Die Demokratische Partei z. B. hielt dagegen, dass „if horizontality should be excluded, the DP would be obliged to oppose the Bill as fatally flawed" - Memorandum on the Sixth Progress Report of the Technical Committee on Fundamental Rights During the Transition, Interim Constitution Submissions, 26 July 1993. 177 Vgl. ATKINSON, Insuring (Anm. 132), S. 131 f.

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von kolonialen Fesseln wie auch des Erreichens von Demokratie und Menschenrechten begrenzte deswegen wahrscheinlich auch den Grad des Einflusses von ausländischem Recht. Das Ergebnis war ein Entwurf, der so vorsichtig formuliert war, dass er mit all diesen widersprüchlichen Optionen vereinbar war. Wie vorhersehbar, führte dies zu heftigen juristischen Kontroversen über die diesbezügliche Bedeutung des Textes. Sie fanden zwangsläufig ihren Weg von den Seiten der juristischen Fachzeitschriften178 auf diejenigen der Fallsammlungen, als Prozesse angestrengt wurden, die sich um diese Frage drehten179. Das Problem wurde schließlich durch den Constitutional Court gelöst, eine Institution, die zunächst von der Übergangsverfassung als Südafrikas höchstes Verfassungsgericht gegründet worden war. Das Gericht entschied zugunsten einer indirekten horizontalen Anwendung, indem es sich im Fall Du Plessis v De Klerk180 dafür aussprach, dass ein Prozessgegner ein Vorgehen gegen ein anderes Individuum nicht mit einer angenommenen Verletzung der Bill of Rights begründen könne. Das Ergebnis war, dass jemand, der sich in einem Rechtsstreit mit privaten Parteien auf eine ihrer Verfügungen stützen wollte, stattdessen seine Forderung damit begründen sollte, dass sie eine bestehende Bestimmung des Gemeinen Rechts betreffe, und dann versuchen sollte, das Gericht davon zu überzeugen, dass das Gemeine Recht in einer Weise entwickelt werden müsse, dass es diesem Recht Wirkung verlieh. Die Begründung des Gerichts gibt einen Eindruck von dem Grad, in welchem südafrikanisches Verfassungsrecht von der Konsultation ausländischen Verfassungsrechts während der Konzipierung der Verfassung eine vergleichende Methode der Interpretation erbte. Die Jurisprudenz des kanadischen Supreme Courtm ebenso wie die des deutschen Bundesverfassungsgerichts182 spielten eine zentrale Rolle bei dieser Entscheidung. Der Amtierende 178

Vgl. z. B. J. D. VAN DER VYVER, The private sphere in constitutional litigation, in: T. H. R. H. R. 57 (1994), S. 378 ff.; DERS., Constitutional free speech and the law of defamation, in: S. A. L. J. 112 (1995), S. 572-602; A. VAN ASWEGEN, The implication of the Bill of Rights for the law of contract and delict, in: S. A. J. H. R. 11 (1995), S. 50-69; J. DE WAAL, A comparative analysis of provisions of German origin in the Bill of Rights, in: Ebd., S. 1-29; Stuart WOOLMAN, Application, in: Constitutional Law of South Africa, hrsg. von Arthur Chaskalson [u. a.], Cape Town 1996, Kap. 10; G. MARCUS, Freedom of expression under the Constitution, in: S. A. J. H. R. 10 (1994), S. 140-148. 17 ® Vgl. z. B. Gardener v Whitaker 1995 (2) SA 672 (E), Mandela v Falati 1995 (1) SA 251 (W), De Klerk v Du Plessis 1995 (2) SA 40 (T). 180 1996 (3) SA 850 (CC). 181 Das vorbildhafte Urteil von Kentridge stützte sich wesentlich auf Retail, Wholesale & Department Store Union, Local 850 and others v Dolphin Delivery Ltd. (1987) 33 DLR (4th) 174. 182 Vermittelt, nach dem Urteil von Kentridge, durch das (unpublizierte) Werk von Mr. Justice A. Barak vom Obersten Gericht Israels und durch Peter E. QUINT, Free speech and private law in German constitutional theory, in: Maryland Law Review 48 (1989), S. 247-346.

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Richter Kentridge untersuchte das Recht dieser Jurisdiktionen ebenso wie das der Vereinigten Staaten. Er befand, dass die besondere Formulierung der Bill of Rights die Übernahme der State Action Doctrine, wie sie in Shelley v Kraemerm entwickelt worden war, verhindere.184 Wichtig für das Gericht waren auch die Parameter seiner Macht, wie sie die Verfassung festlegte. Kentridge betonte, dass sich die Zuständigkeit des Gerichts nur auf Verfassungsfragen erstrecke und dass es daher im Unterschied zu den anderen obersten Gerichten in Südafrika nicht befugt sei, die Reform des südafrikanischen Gemeinen Rechts anzuführen. Er war der Meinung, dass es auf die Rolle eines Verfassungshüters beschränkt und nicht legitimiert sei, zwischen konkurrierenden Versionen des Gewohnheitsrechts zu entscheiden, die möglicherweise alle in Einklang mit der Verfassung stünden. Letzteres sei die Aufgabe der ordentlichen Gerichte185. Diese Position ist im Großen und Ganzen in den Text der „endgültigen" Verfassung von 1996 übernommen worden186. 4.2.2. Institutionen zur Durchsetzung Der Verweis im Fall Du Plessis v De Klerifc187 auf die Wichtigkeit des Verhältnisses des Constitutional Court zu anderen höheren Gerichten in der Frage, wie weit er zulassen sollte, als Streitforum privater Parteien genutzt zu werden, erinnert stark daran, wie das deutsche Bundesverfassungsgericht an dasselbe Problem herangeht188. In Deutschland ist eine solche Beschränkung der Rolle der höchsten verfassungsrechtlichen Autorität gegenüber anderen Gerichten natürlich nichts Ungewöhnliches; sie spiegelt die typische kontinentale Einteilung des Gerichtssystems in spezielle Zuständigkeitsbereiche wider, die der Schaffung eines besonderen Verfassungsgerichts voranging189. Aber sie ist der Welt des Common Law fremd, wo Verfassungsgerichtsbarkeit in der Regel den weiteren Funktionen eines einzigen obersten Gerichts eingeliedert ist190. Wichtige Unterschiede zwischen kontinentalen - zivilrechtlichen - Systemen und der Welt des Common Law sind eben an den

183

334 US 1 (1948). Du Plessis v De Klerk, wie oben, 875 E-F. 185 883-886 (paras. 58-60). 186 Siehe s. 8 (3) (a)-(b). 187 1996 (3) SA 850 (CC). 188 Vgl. die Enscheidung im Fall Lüth - 7 BVerfGE, 198, und Peter KRAUSE, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Privatrecht, in: Juristenzeitung 39 (1984), S. 656-663,711-719. 189 Eine allgemeine Diskussion der grundsätzlichen Unterscheidung von juristischen Zuständigkeitsbereichen - die zwischen Privat- und öffentlichem Recht - ist zu finden in: C. SZLADITS, The Civil Law System, in: International Encyclopaedia of Comparative Law, Bd. 2,1974, Kap. 2, S. 15-76 190 Die Vereinigten Staaten, Kanada und Indien sind die prägnantesten Beispiele; für manche Länder spiegelt dies auch der Justizausschuss des Privy Council wider. 184

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Unterschieden in der Organisation ihrer Rechtsprechungsinstitutionen festzumachen, insbesondere am Fehlen eines einzigen obersten Gerichts mit einer allgemeinen Rechtsprechungskompetenz in den kontinentalen Systemen. Nach dem Inhalt dieser Beschreibung würde Südafrika seit der Schaffung des Cape Supreme Court im Jahr 1828 auf der Common Law-Seite der Wasserscheide stehen. Diese Beurteilung kann in der Folge als Ausdruck des Grades gesehen werden, in welchem die Schaffung eines Verfassungsgerichts dem südafrikanischen Verfassungsrecht einen typisch zivilrechtlichen Beigeschmack verliehen hat und durch die Wechselwirkung von Prozess- und substantiellem Recht einen Prozess der Hybridisierung in eben dem Bereich des südafrikanischen Rechts auslöste, der dafür in der Vergangenheit am wenigsten zugänglich gewesen war191. Die Bedeutung davon liegt teilweise in dem Faktum, dass die Erneuerung des substantiellen Rechts eben eines der wichtigsten Ziele der von der Verfassung bewirkten organisatorischen Veränderungen für die Gerichte war192. Tiefe Unzufriedenheit mit der Leistung der bestehenden Gerichte für die Aufrechterhaltung der Herrschaft des Rechts führte zu einer Untersuchung des deutschen Bundesverfassungsgerichts als eines möglichen Modells für Südafrika. Die ineffektive Reaktion des Gerichtswesens auf die Apartheid193 und der daraus folgende Mangel an allgemeiner Legitimität bewog die nicht parlamentarisch repräsentierte politische Opposition zunächst, eine gerichtliche Durchsetzung der Bill of Rights ganz zu vermeiden194, und insbesondere die wissenschaftlich tätigen Juristen, nach einem Mechanismus zu suchen, der für eine radikale Erneuerung sowohl des Gerichtswesens als auch des Rechts geeignet war. Das Beispiel einer Jurisdiktion, die das zum größten Teil durch die Schaffung eines neuen Verfassungsgerichts und ohne die totale Auflösung der bestehenden Gerichtsbehörden erreicht hatte, erwies sich als zu verführerisch, um übergangen zu werden, und so wurde das Vorbild des 191

Das Verfassungsrecht Südafrikas zeigte in der Vergangenheit praktisch keine Anzeichen einer Vermischung von Common Law und römisch-holländischem Recht, die für sein Privatrecht so charakteristisch ist. Die lange britische Herrschaft stellte sicher, dass es zu Beginn nahezu rein englisch war - vgl. allgemein: Southern Cross (Anm. 2); HAHLO/ KAHN, The Union of South Africa (Anm. 61), S. 10-41. 192 Vgl. ATKINSON, Principle (Anm. 132), S. 1 1 1 - 1 1 4 ; CORDER/DU PLESSIS, U n d e r s t a n d ing ( A n m . 6), S . 1 9 2 - 1 9 9 .

Die Literatur ist umfangreich. Einflussreiche Analysen sind: DUGARD, Human Rights (Anm. 123); Hugh M. CORDER, Judges at Work, Cape Town 1984; FORSYTH, In Danger (Anm. 78); ELLMAN, In a Time of Trouble (Anm. 120). 194 Vgl. den Bericht eines Treffens mit dem ANC Constitutional Committee noch im Exil, bei: Johann VAN DER WESTHUIZEN, Some Notes on the ANC, Dakar and Human Rights, in: S. A. J. H. R. 4 (1988), S. 86-94, und die Ablehnung eines „mountain-top" Gerichtswesens zugunsten einer repräsentativen Körperschaft „under overall supervision of the peoples' representative in Parliament" durch Sachs, damals ein Mitglied jenes Ausschusses (Albie SACHS, Towards a Bill of Rights in a Democratic South Africa, in: Ebd. 6 [1990], S. 1 ff., hier: S. 15.)

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Bundesverfassungsgerichts seit Beginn der frühen 1980er Jahre in akademischen Schriften diskutiert195 und vom ANC, dem wichtigsten politischen Repräsentanten der über kein Stimmrecht verfügenden Mehrheit, übernommen.196 Die South African Law Commission jedoch übernahm die Anschauung eines bekannten „liberalen" Richters197, dass dies jurisdiktionelle Komplikationen verursachen würde, die mit Nachteilen verbunden wären, welche die Vorteile überwögen, und die Bill of Rights den Wechselfällen eines Durchsetzungsmechanismus ohne historische Legitimität unterwerfen würden. Höchstens, so riet sie, sollte eine neue Kammer innerhalb der Appellate Division des Supreme Court geschaffen werden, der damit eine einheitliche Gerichtsbarkeit behalten würde198. Diese beiden Anschauungen überdauerten den gesamten Prozess des Verfassungswandels einschließlich der Erarbeitung der „endgültigen" Verfassung199. Der stärkste Widerstand gegen die Schaffung eines neuen Gerichts kam vom Richterstand und der organisierten Anwaltschaft. Die ganze Zeit über warnten sie vor dem langwierigen und teuren Rechtsstreit, den die Schaffung einer neuen Gerichtsbarkeit verursachen könnte, und argumentierten, dass das kaum den Zugang zur Justiz verbessern werde200. Das Miss195 John DUGARD, The judiciary and constitutional change, in: D. J. VAN VUUREN/D. J. KRIEK, Political Alternatives for South Africa. Principles and Perspectives, Durban 1983; R. N. LEON, A Bill of Rights for South Africa, in: S. A. J. H. R. 2 (1986), S. 60-67; John DUGARD, The Quest for a Liberal Democracy in South Africa, in: Acta Jurídica 1987, S. 237-258. Allgemein auch ASMAL, Constitutional Courts (Anm. 157) und MOTALA, Independence (Anm. 157). 196 Ygj Anhänge der beiden Bücher von SACHS sowie Kapitel 2 von dessen Protecting (Anm. 167). 197 J. M. DlDCOTT, Practical Workings of a Bill of Rights, in: A Bill of Rights (Anm. 166), S. 52-62. 198 Working Paper 25 (Anm. 168), S. 4 4 5 ^ 5 0 ; Interim Report (Anm. 168), S. 669; South African Law Commission, Report on Constitutional Models, Pretoria 1991, Bd. 3, S. 1188-

1220. 199

Zur Ergänzung der in den vorangehenden drei Anmerkungen zitierten Literatur vgl. General Council of the Bar of South Africa, Submissions on Seventh Progress Report, Interim Constitution Submission, 29 July 1993; M. M. CORBETT [the Chief Justice], Memorandum Submitted on Behalf of the Judiciary of South Africa on the 12th Report of the Technical Committee on Constitutional Issues, Interim Constitution Submission, 13 September 1993; General Council of the Bar of South Africa, Comment on the Twelfth Report of the Technical Committee on Constitutional Issues, Interim Constitution Submission, 4 October 1993; Presentation by the Human Rights and Constitutional Committee of the General Council of the Bar concerning the new constitution, and more particularly the provisions of Chapter 3 thereof. Constitutional Assembly Submission 16 February 1995; Submissions by the Association of Law Societies to Theme Committee Five, Constitutional Assembly Submission, 16 February 1995; Technical Committee Five, The Judiciary and Legal Systems Under the Proposed New Constitution, Constitutional Assembly Document, 27 March 1995 (enthält einen Überblick über die Meinungen, die diesbezüglich der Constitutional Assembly vorgelegt wurden). 200 y g j jjg j n je,- vorangeganenen Anmerkung zitierten Dokumente.

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trauen gegenüber dem bestehenden Gerichtswesen und der Wunsch, neue Institutionen zu schaffen, um den neuen Inhalt des südafrikanischen Verfassungsrechts widerzuspiegeln, erwiesen sich jedoch als stärker, und sowohl die Übergangs- als auch die „endgültige" Verfassung verkörperten die Anschauungen derer, die sich für die Schaffung eines Verfassungsgerichts ausgesprochen hatten, das mit Richtern besetzt sein würde, die aus einem neuen und weiteren Kreis als dem bestehenden genommen werden sollten und von denen erwartet wurde, dass sie eine Grundeinstellung an den Tag legen würden, die mehr in Übereinstimmung mit der Beförderung der Menschenrechte stünde, als es die der bestehenden Gerichtsbehörden bislang getan hatte201. Das Ergebnis war, dass die Übergangsverfassung ein System höherer und niederer Gerichte schuf, die Verfassungs- und Nicht-Verfassungsgerichtsbarkeit auf sich vereinigten, denen zum Ersten eine Appellate Division übergeordnet war, deren Zuständigkeit sich in den Grenzen hielt, die sie in den Tagen der Parlamentssouveränität genossen hatte, und die damit in ein „besonderes" allgemeines, nicht für Verfassungsfragen zuständiges Gericht umgewandelt wurde, und zum Zweiten ein besonderes Verfassungsgericht. Während der Unterbau des Gerichtswesens weithin dem Common Law entsprach, wurde dessen Spitze durch den zivilrechtlichen Grundzug spezialisierter Gerichte mit besonderen Zuständigkeiten und gleichem Rang geprägt202. Diese Debatte ist typisch dafür, wie europäische Rechtspraxis ihren Weg in das südafrikanische Verfassungsrecht gefunden hat. Das deutsche Beispiel eines eigenständigen, speziellen Verfassungsgerichts wurde nicht wegen des Einflusses deutscher Juristen, Geldgeber oder der deutschen Regierung als Vorbild behandelt, sondern weil seine historische Rolle sowohl die südafrikanischen Juristen ansprach, die die nötigen Fähigkeiten besaßen, vergleichende juristische Forschung mit der Absicht zu betreiben, Lösungen für vor Ort wahrgenommene und definierte Probleme zu untersuchen, als auch den Bedürfnissen der Politiker entsprach. Informationen über Common Law-Jurisdiktionen waren zumindest genauso leicht verfügbar und in vieler Hinsicht leichter verdaulich für Juristen, die in einem System mit Common Law-Institutionen und -Verfahren geschult waren. Ausländische Beteiligung und 201

Vgl. allgemein ASMAL, Constitutional Courts (Anm. 157) und MOTALA, Independence (Anm. 157); Lawyers for Human Rights Law Reform Project, Revised Second Submission to the Technical Committee on Fundamental Rights During the Transition, Interim Constitution Submission, 25 August 1993; P. N. LANGA, Memorandum submitted on behalf of the National Association of Democratic Lawyers on the twelfth report of the Technical Committee on Constitutional Issues, Interim Constitution Submission, 15 October 1993. Die relevanten Anschauungen hinsichtlich der „endgültigen" Verfassung sind zusammengefasst in: Technical Committee Five, The Judiciary and Legal Systems Under the Proposed New Constitution, Constitutional Assembly Document, 27. März 1995. * 02 Dies wurde in der „endgültigen" Verfassung geändert. Vgl. unten den Text zu Anm. 210.

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Hilfe spielten mehr eine stützende als eine prägende Rolle. Vor allem öffneten sie einen Weg zu Möglichkeiten, die ansonsten undeutlicher wahrgenommen worden wären. Lokale Anliegen bestimmten nicht nur die Richtung jener Forschung, sondern auch ihren Endzweck - die Mitglieder des südafrikanischen Verfassungsgerichts werden in einem Verfahren ernannt, das dem bei der „ordentlichen Justiz" angewandten sehr ähnelt und sich damit sehr von dem offener politischen Ernennungsverfahren in Deutschland unterscheidet, und zu ihnen müssen mindestens vier ordentliche Richter zählen203. Wie dies mittlerweile in den meisten anderen Commonwealth-Staaten geschehen ist, wurde eine repräsentative und unabhängige Judicial Service Commission geschaffen, um ein nicht-politisches Ernennungsverfahren zu gewährleisten. Und natürlich koexistiert das Verfassungsgericht mit einem System allgemein zuständiger ordentlicher Gerichte, die jedem Common Law-Juristen vertraut sind. Das Ergebnis wird daher genauer als „Mischung von Systemen" beschrieben denn als „Systemübertragung". Ein wichtiger Aspekt dieser „Mischung" ist, dass man einer Fachinstitution eine exklusive Verfassungsgerichtsbarkeit übertragen hat (zumindest in letzter Instanz), die auch eine begrenzte Zuständigkeit ist. Das bedeutet, oder kann jedenfalls so interpretiert werden, dass die Kompetenz des Verfassungsgerichts auf reine Verfassungskonflikte beschränkt ist und dass die anderen Gerichte deswegen die Führung bei der Bestimmung des Einflusses der Verfassung auf andere Rechtsgebiete haben müssen. Wie oben zu zeigen war, ist es das, was schließlich passiert ist: Im Fall Du Plessis v De Klerk?04 beschränkte das Verfassungsgericht seine eigene Rolle darauf, die verfassungsmäßige Korrektheit bei der Übertragung von Verfassungswerten in andere Rechtsfelder durch die „ordentlichen Gerichte" zu überwachen. Es ist unwahrscheinlich, dass dies geschehen wäre, wenn man den Beispielen Kanadas und Indiens gefolgt wäre, indem man lediglich die Zuständigkeit des an der Spitze eines einheitlichen Gerichtssystems stehenden bestehenden Gerichts ausgedehnt hätte. Ironischerweise hat der Wunsch, eine neue Institution zu schaffen, anstatt die Zuständigkeit der bestehenden Appellate Division auszuweiten, zu einer Situation geführt, in der die „ordentlichen" Gerichte bei der Reform des Gemeinen Rechts weniger direkt durch den obersten Hüter der Verfassung geleitet werden, als dies möglicherweise andernfalls geschehen wäre. 4.2.3. Bewertung Der Umgang der südafrikanischen Juristen mit dem ausländischen Recht hat sich als ein wichtiger Aktivposten erwiesen. Einerseits hat er sie befähigt, aus einer ziemlich großen Auswahl von Rechtssystemen dasjenige auszuwählen, 203 204

Abschnitt 99 der Übergangsverfassung; Abschnitt 174 der „endgültigen" Verfassung. 1996(3) SA 850 (CC).

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was sie am besten fanden - sowohl die Übergangs- als auch die „endgültige" Verfassung spiegeln Elemente des Common Law wie auch der Familien des Zivilrechts, insbesondere in ihren deutschen und kanadischen Ausprägungen, wider. Zumal die „endgültige" Verfassung zeigt auch den Einfluss von Entwicklungen in anderen Entwicklungsländern - das Beispiel der Stärkung sozioökonomischer Rechte in Indien war ein wichtiger Faktor für ihre Aufnahme in die endgültige Bill of Rights205. Andererseits hat er die südafrikanischen Juristen in die Lage versetzt, den Import ausländischen Rechts zu vermitteln, indem sie herausfilterten, was offensichtlich unpassend erschien, und neu formten, was nützlich sein konnte. In beiderlei Hinsicht bedeutete das, dass eine der Hauptgefahren des Exports und Imports von Recht - Kulturimperialismus - vermieden wurde. Keine einzelne ausländische Jurisdiktion oder Rechtstradition kann beanspruchen, Mutter der südafrikanischen Verfassung zu sein. Dies mag durchaus einer der Gründe dafür sein, dass der bedeutende ausländische Einfluss auf die Form der ersten demokratischen Verfassungen Südafrikas keine xenophoben Reaktionen hervorgerufen hat, die dazu angetan gewesen wären, die Legitimität des Vorgehens zu unterminieren, dass gerade im Moment der Demokratisierung dem Streben der Regierungspolitik die Einschränkungen der Herrschaft des Rechts auferlegt wurden. Die südafrikanische Erfahrung zeigt jedoch auch, dass sogar eine hochentwickelte, kenntnisreiche und vergleichende Juristenschaft nicht dafür garantieren kann, dass die Schwierigkeiten bei der Übertragung von Recht zur Gänze wahrgenommen werden und dass man sich im Voraus darauf einstellt. Obwohl z. B. in Südafrika eine beachtliche Diskussion darüber geführt wurde, ob die horizontale Anwendung der Grundrechte ratsam sei206, wurden die Kompliziertheiten eines solchen Vorgehens in einem System mit spezialisierten Gerichten gleichen Rangs und gleicher Zuständigkeit kaum bedacht. Die Diskussionen tendierten dazu, sich um das Prinzip zu drehen, statt um dessen praktische Realisierung in der komplexen neuen Justizordnung207. Obwohl also die Debatten darüber, ob es ratsam sei, ein Verfassungsgericht zu schaffen, oft auf die komplexen Zuständigkeitsprobleme hinwiesen, die daraus folgen würden, zeigten die Debatten über die horizontale Anwendbarkeit trotz der regelmäßigen Bezugnahme auf die deutschen Erfahrungen nur ein geringes Bewusstsein von der Bedeutung dieses Faktums. Wie oben erläutert, war es dennoch das praktische Problem, einen modus vivendi mit den anderen Gerichten herzustellen, das die Annäherung des Verfassungsgerichts an dieses Problem entscheidend prägte.

205 Yg| jjg ¡ n Anm. 148 erwähnten Explanatory Memoranda zum Entwurf der Bill of Rights. Vgl. Anm. 169,171-177 und 179, sowie CORDER/DU PLESSIS, Understanding (Anm. 6), S. 110-113, und die in Anm. 168 zitierten Berichte der South African Law Commission. 207 Dies ist in der gesamten in Anmerkung 206 zitierten Literatur offensichtlich. 206

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Diese Schwäche des Diskurses um die Schaffung der südafrikanischen Verfassung war eigentlich nur ein besonders auffälliges Symptom eines größeren Problems: ein Versäumnis, die jurisdiktionellen Komplexitäten, die aus dem Aufpfropfen des durch und durch zivilrechtlichen Verfassungsgerichts auf die weithin vom Common Law bestimmte Struktur der südafrikanischen Gerichte resultieren würden, vorherzusehen und sich angemessen darauf einzustellen. Ein erheblicher Anteil des frühen Lebens des Verfassungsgerichts - und zweifelsohne der Ressourcen der vor ihm erscheinenden Parteien wurde von der Entscheidung über Zuständigkeits- und andere Verfahrensfragen mit Konzentration auf sein Verhältnis zu den anderen Gerichten in Anspruch genommen208. Die Übergangsverfassung spiegelte ein geringes Bewusstsein der Bedeutung und Schwierigkeit solcher Probleme wider. Letztlich war es mehr die Erfahrung als eine Forderung vergleichenden Rechts, die zu Verbesserungen in der „endgültigen" Verfassung führte. Der Präsident des Verfassungsgerichts selbst gab ebenso wie andere Richter und praktizierende Rechtsanwälte der Constitutional Assembly detaillierte Empfehlungen mit Blick auf die Zuständigkeiten der verschiedenen Gerichte, und diese wurden nahezu unverändert in die „endgültige" Verfassung übernommen209. Besonders auffallend unter diesen Veränderungen war die Entscheidung, den „separate but equal" Status von Verfassungsgericht und Appellationsabteilung gemäß der Übergangsverfassung aufzugeben, indem man den Zuständigkeitsbereich letzterer (die nun in Supreme Court of Appeal umbenannt wurde) auf verfassungsrechtliche Gegenstände ausweitete, wodurch man ihre Rolle als allgemeines Gericht mit einem vereinheitlichten Zuständigkeitsbereich wieder herstellte, wenngleich sie in Verfassungsfragen der Appellation an das Verfassungsgericht unterworfen war. Es bleibt abzuwarten, ob das andere Erbe des Experiments der Übergangsverfassung mit der Beimischung eines Gerichts zivilrechtlichen Typs - des Verfassungsgerichts selbst - in ein Common Law-Gerichtssystem auf Dauer überleben wird. Die Anzeichen für den Erfolg dieser Verpflanzung sind gemischt: Einerseits gibt es verschiedene Beispiele von Fällen, in denen der Supreme Court of Appeal ohne Rücksicht auf die Verfassung über Individualrechte betreffende Angelegenheiten geurteilt210 und damit seine historische Position als oberstes Gericht geschützt

208

Von den 49 Urteilen, über die in den Butterworths Constitutional Law Reports bis Ende Oktober 1997 berichtet wird, beschäftigten sich 24 mit solchen Problemen. 209 So bestimmt der dritte Entwurf (The Courts and the Administration of Justice, Constitutional Assembly Document, 20. September 1995), dass die Vorschläge der Fachexperten (ein Richter und ein ranghoher Anwalt) an den entsprechenden Sachausschuss sowie die Änderungsvorschläge von Richtern des Verfassungsgerichts in einem Memorandum vom 29. August 1995 übernommen wurden. Vgl. femer die oben in Anm. 201 zitierten Dokumente. 210 National Media Ltd. v Bogoshi 1998 (4) SA 1196 (SCA), S v Jackson 1998 (1) SACR 470 (SCA), Amod v Multilateral Motor Vehicle Accident Fund 1998 (1) BCLR 1027;

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hat, während andererseits das Verfassungsgericht selbst darauf bestanden hat, dass ,,[t]here is only one system of law [...] shaped by the Constitution which is the supreme law, and all law, including the common law, derives its force from the Constitution and is subject to constitutional control"211. 4.2.4. Die Anwendung europäischen Rechts in der Verfassungsrechtswissenschaft Der Einfluss ausländischen Rechts auf Südafrikas Verfassung war, wie wir bereits gesehen haben, nicht nur auf den Prozess ihrer Schaffung beschränkt, sondern setzte sich - und zwar sehr stark - bei der Interpretation des Textes durch die Gerichte fort. Der erste Grund hierfür ist die Tatsache, dass Abschnitt 39 (1) der Verfassung ausländisches Recht als eine Quelle betrachtet, die die Gerichte bei der Interpretation der Bill of Rights heranziehen können. Gerichte in diesem Land haben eine lange Tradition, sich mit vergleichender Forschung zu beschäftigen und diese Gelehrsamkeit in ihren veröffentlichten Urteilen zu zeigen. Zumeist jedoch sind die Gegenstände solcher Forschung entweder solche Jurisdiktionen gewesen, von denen Südafrika große Quantitäten Satzungsrecht empfangen hat, hauptsächlich England, oder jene auf dem europäischen Kontinent, mit denen es einen Teil seiner Rechtsgeschichte teilt212. Diese Praxis hat daher eher ein breites Verständnis dessen, was als südafrikanische Rechtsquellen gilt, als einen wirklich komparatistischen Geist widergespiegelt. Und außerhalb des exklusiven Kreises der kleinen Zahl von Fällen, die den Supreme Court of Appeal (zuvor: Appellate Division) erreichen, hat der schrittweise Aufbau eines lokalen case-law nach der Einrichtung des Cape Supreme Court 1828 zum Ergebnis gehabt, dass die Gerichte Lösungen in anderen Ländern eher ausnahmsweise denn als eine allgemeine Praxis zur Kenntnis nehmen. Wenn daher die Verfassungsväter eine offenere Herangehensweise an Verfassungsgerichtsbarkeit fördern wollten - und in einem Land, wo in der Vergangenheit Präzedenzfälle so ernst genommen worden sind wie die Wünsche eines undemokratischen Gesetzgebers, ist es nicht unvernünftig anzunehmen, dass die Verfassungsväter es für nötig gehalten haben, auch in dieser Hinsicht einen Bruch mit der Vergangenheit zu fördern - , ist eine Möglichkeiten eröffnende Bestimmung, wie sie in Abschnitt 39 (1) zu finden ist, keineswegs unangebracht; wäre sie nicht in die Verfassung eingeschlossen worden, ist es durchaus denkbar, dass ein introspektiverer Ansatz übernom-

Commissioner of Customs and Excise v Container Logistics (Pty) Ltd; Commissioner of Customs and Excise v Rennie Group Ltd 199 (3) SA 771 (SCA). 211 The Pharmaceutical Manufacturers Association of SA and another in re: the ex parte application of the President of the Republic of South Africa and others 2000 (3) BCLR 241 (CC), at para. 44. 212 Vgl. allgemein die oben in Anm. 2 zitierte Literatur.

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men worden wäre. Kurz: die Gerichte ziehen in Verfassungsfragen ausländisches Recht heran, weil sie ausdrücklich dazu ermutigt worden sind213. Aber natürlich erklärt die bloße Existenz der Kann-Bestimmung in Abschnitt 39 (1) nicht den Enthusiasmus, mit dem sich die Gerichte bei der Interpellation der neuen Verfassung auf ausländisches Recht bezogen haben. Man betrachte für einen Augenblick die Zahlen für Fälle, die sich mit Verfassungsfragen beschäftigen214: 1994 gab es 134 Erwähnungen von Fällen aus ausländischen Jurisdiktionen, 1995 gab es 183 solche Erwähnungen, mit einem Anstieg auf 447 1996 und einem geringen Rückgang auf 316 Erwähnungen 1997. Zählt man zu diesen Summen die Erwähnungen der Verfassungen anderer Länder hinzu, steigt die absolute Zahl von Bezugnahmen auf ausländisches Recht in den vier Jahren von 1994 bis September 1997 auf 1201 (in ungefähr 300 Fällen). In der Zeit von September 1997 bis September 2000 sind in Fällen, die sich mit Verfassungsfragen beschäftigen, über 350 ausländische Fälle zitiert worden. Dies überschreitet bei weitem die Rate von Bezugnahmen auf ausländisches Recht, die normalerweise von nichtverfassungsrechtlichen Fällen hervorgebracht wird, und es ist deutlich, dass die Gerichte einen direkteren komparatistischen Ansatz für die Formulierung des neuen Verfassungsrechts des Landes übernommen haben, als dies je zuvor in irgendeinem anderen Gebiet der Rechtsentwicklung geschehen ist. Warum ist dies geschehen? Der erste Grund, der einem einfällt, ist pure Notwendigkeit. Der Präsident des Verfassungsgerichts verlieh im Fall S v Makwanyane215 der Anschauung Ausdruck, dass der Mangel an indigener Verfassungsrechtswissenschaft zumindest in den ersten Jahren zu einer wachsenden Bedeutung ausländischen Rechts führen wird. Mit anderen Worten: Man muss irgendwo beginnen, um nicht das Rad neu zu erfinden, und das macht einen komparatistischen Ansatz beinahe unvermeidlich. In dieser Hinsicht ist es ebenso offensichtlich, dass die Jurisprudenz jener Länder, deren Institutionen die Konzipierung der südafrikanischen Verfassung beeinflusst haben, bei den ausländischen Bezugnahmen am auffälligsten sein würden. Trotz Kanadas relativ kurzer Geschichte von Verfassungsentscheidungen sind kanadische Verweise bemerkenswert wichtig beim case-law216, wie an213

Vgl. allgemein P. W. HOGG, Canadian Law in the Constitutional Court of South Africa (Vortrag bei einer Tagung an der Rand Afrikaans University, Johannesburg, am 4. September 1997). 214 Diese Angaben stützen sich ebenso wie die Bemerkungen im folgenden Abschnitt auf den Überblick Uber alle Fälle, die bis Ende September 2000 in den Butterworths Constitutional Law Reports berichtet worden sind. Der größere Teil dieser Forschung wurde von unserer tüchtigen Forschungsassistentin Zelna Jansen durchgeführt. Die Zahlen decken alle Verfassungsuiteile ab, nicht nur die des Verfassungsgerichts. 215 1995 (3) SA 391 (CC) at 414E-415A (para 37). 216 Es gab 301 Bezugnahmen auf kanadisches case-law während unserer Untersuchungsphase. Vgl. allgemein HOGG, Canadian law (Anm. 213).

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gesichts dessen, was die südafrikanische Bill of Rights ihrem kanadischen Gegenstück verdankt, auch zu erwarten war217. Dasselbe kann über deutsche Erwähnungen gesagt werden: Obwohl diese bei weitem weniger sind als die kanadischen - völlig natürlich angesichts der relativen Unzugänglichkeit der deutschen Sprache für Südafrikaner - , übertrifft die Häufigkeit der Zitate deutschen Rechts in Verfassungsfällen alles, was jemals zuvor in irgendeinem anderen Rechtsbereich geschehen ist. Wiederum macht die Tatsache, dass wichtige Facetten der südafrikanischen Verfassung vom deutschen Grundgesetz beeinflusst worden sind, das Zitieren sinnvoll218. Diese Verwendung von ausländischem case-law passt zu dem wohletablierten südafrikanischen Muster, juristische Entscheidungen aus Ländern, mit denen es einige Aspekte seiner Rechtsgeschichte teilt, als Teil seiner Rechtsquellen zu behandeln, und ist daher für südafrikanische Juristen ein völlig natürliches Phänomen. Die jüngere Verfassungsgeschichte hat lediglich die Reichweite solcher Verbindungen ausgedehnt. Von größerer Bedeutung sind daher die sehr häufigen Zitate von Urteilen aus den Vereinigten Staaten219. In diesem Fall kann es nur der über die Jahre gestiegene Wert überzeugender allgemeiner Argumentation sein, der so viele Erwähnungen veranlasst hat, weil der Einfluss der Verfassung der Vereinigten Staaten auf ihr südafrikanisches Gegenstück minimal gewesen ist220. Ebenso vielsagend in dieser Hinsicht sind die Bezugnahmen auf Jurisdiktionen, die in den südafrikanischen law reports in der Vergangenheit ganz gefehlt haben221. In dieser Hinsicht kündet die Verfassungsrechtsprechung eine neue Ära für vergleichendes

217

Siehe den Text zu Anm. 158. Vgl. z. B. die folgenden, zwischen 1994 und 2000 entschiedenen Fälle, in denen Bezug auf deutsches Recht genommen wurde: S v Sefadi 1944 (2) BCLR 23 (D); S v Tcoeib 1996 (7) BCLR 996 (Nm5); Du Plessis v De Klerk 1996 (3) BCLR 658 (CC); Fose v Minister of Safety and Security 1997 (7) BCLR 851 (CC); Christian Lawyers Association of South Africa v Minister of Health 1998 (11) BCLR 1434 (T); Ferreira v Levin NO & Vryenhoek v Powsell N O 1996 (1) BCLR 1 (CC); S v Makwanyana 1995 (6) BCLR 665 (CC); Khala v Minister of Safety and Security 1994 (2) BCLR 89 (W); Bernstein v Bester NO 1996 (4) BCLR 447 (CC); Potgieter v Kilian 1995 (11) BCLR 1498 (N); Gardner v Whitaker 1994 (5) BCLR 19 (E); Law Society of the Transvaal v Tloubatla 1999 (11) BCLR 1275 (N); Zantsi v Chairman of the Council of State 1994 (6) BCLR 136 (Ck); National Coalition for Gay and Lesbian Equality v Minister of Justice 1998 (12) BCLR 1517 (CC); Baloro v University of Bophuthatswana 1995 (8) BCLR 1018 (B); In re Certification of the Constitution of the Republic of South Africa 1996 (10) BCLR 1253 (CC); Ryland v Edros 1997 (1) BCLR 77 (C); President of the Republic of South Africa v Hugo 1997 (6) BCLR 708 (CC); De Lange v Smuts NO 1998 (7) BCLR 779 (CC); City of Cape Town v Ad Outpost (Pty) Ltd 2000 (2) BCLR 130 (C).

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219

419 bis September 1997. Vgl. CORDER/DU PLESSIS, Understanding (Anm. 6), passim, besonders die oben in Anm. 158 zitierten Passagen. 221 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, Irland, Neuseeland, Indien, Mauritius, Ungarn, Tansania, Papua-Neuguinea, Trinidad und Tobago. 220

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Recht an den südafrikanischen Gerichten an, eine, in der eher analytische Stärke als historische Verbundenheit den Sieg davontragen wird.

5. Schluss Die lange Geschichte von Südafrikas Verhältnis zu fremdem Recht hat eine intellektuelle Kultur geschaffen, die vergleichende juristische Forschung quasi zu einem Glaubensartikel für südafrikanische Juristen macht, die an den Frontlinien juristischer Forschung arbeiten. Kaum ein Aufsatz oder Lehrbuch wird veröffentlicht, kaum ein innovatives Urteil geschrieben, in welchem nicht Bezug auf fremde Rechtsmaterialien genommen wird - und in dieser Hinsicht haben die Rechtssysteme Europas, und ganz besonders diejenigen Englands, der Niederlande und Deutschlands eine Schlüsselrolle gespielt. Eine Empfänglichkeit für die Idee, dass universelle Wahrheiten und Werte in unterschiedlichen lokalen Formen Ausdruck finden können, scheint ein bleibendes Erbe der doppelten kolonialen Vergangenheit Südafrikas zu sein. Dies erklärt die Offenheit südafrikanischer Juristen für die Beschäftigung mit fremdem Recht. Ein bemerkenswertes Kennzeichen des Verfassungsrechts jedoch sind die größere Breite dieser Inanspruchnahme und die ausgeklügelte Vorsicht gewesen, mit der sie unternommen wurde. Die traditionelle Suche nach Präzedenzfällen in Jurisdiktionen, die zumindest einen Teil von Südafrikas Rechtsgeschichte teilen, ist durch das ergänzt worden, was als die „analytische" Anwendung vergleichenden Rechts bezeichnet werden kann. Neue Einflusswege haben sich für Rechtssysteme außerhalb Europas geöffnet. Da der Einfluss der Verfassung sich auf das gesamte Rechtssystem erstreckt, werden diese Tendenzen in allen Gebieten des Rechts, einschließlich derer, die durch die Vergangenheit der Kolonialherrschaft und der Apartheid geformt worden sind, immer offensichtlicher werden. In dieser Hinsicht ist die Konsultation fremden Rechts in Südafrikas Prozess der Stärkung der Herrschaft des Rechts und Unterstützung einer Mehrparteiendemokratie symbolisch für seine endgültige Befreiung von einer durch das Aufzwingen fremden Rechts geprägten Vergangenheit. Der Einfluss des europäischen Rechts in Südafrika ist so in ein neues Zeitalter eingetreten. (Übersetzt von Matthias Schnettger/Christine Weil)

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Summary European law was introduced to South Africa as part of a process of European colonisation and settlement. Because South Africa was ruled successively by two colonial powers - first the Dutch and then the British - it experienced the influence of different European legal traditions. The arrival and application of European law transformed the law of the indigenous colonised people, but the encounter between the colonisers and the colonised also transformed the law that the colonisers had brought with them. That law was also re-shaped as a result of another interaction that took place during the colonial period, namely one between the Dutch and the British legal traditions. During the period of British colonial rule, a mixed legal system of European origin developed in South Africa as a result of the replacement and augmentation of principles of Roman-Dutch law by principles drawn from the English Common Law. In time, these two dimensions of South African legal history - the relationship between European and indigenous legal traditions and the mixing of different European legal traditions - interacted with each other as nationalism within the ruling class of white descendants of European settlers gave rise both to apartheid and to efforts to "purify" South African law of English legal influences. A new era was introduced in 1994 when democratic elections were held for the first time and a new constitutional dispensation came into being. This heralded the beginning of a re-assessment of the place of indigenous customary law in the legal order and a reassessment of the legacy of past European legal influence. It did not, however, mean the end of such influence, since German law and the European Convention on Human Rights influenced the drafting of the new Constitution as well as its interpretation by the Constitutional Court. Influences from outside Europe, especially from Canada, the United States and India are nevertheless becoming more prominent as a result of this Constitutional reform. Most importantly, the manner in which European law influences South Africa has changed: the imposition of European law has been replaced by a voluntary reception thereof.

Europäisches Recht in Japan Das Beispiel der Strafgesetzgebungen in der frühen Meiji-Zeit Von

Yoichi

Nishikawa

1. Das Thema Das Recht eines anderen Kulturkreises einzuführen und zu rezipieren - das setzt stets komplizierte Wechselwirkungen zwischen der einführenden Gesellschaft und dem eingeführten Recht voraus, die je nach den kulturellen, gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Bedingungen sowie nach den betroffenen Rechtsgebieten unterschiedliche Formen annehmen. Vor allem gibt der konkrete politische und gesellschaftliche Umstand, in dem die Einführung erfolgt, dem Prozess eine tiefe Prägung. Der „Transfer des Rechts" ist somit immer ein überaus komplexer Vorgang. Am Beispiel Japans in der frühen Meiji-Äia lassen sich die vielseitigen Aspekte dieses Transferprozesses besonders gut erhellen. Historisch kann das „Recht" Japans nur als Ergebnis einer Symbiose zwischen den verschiedenen fremden Rechtskulturen und dem auch seinerseits vielschichtigen einheimischen Rechtsdenken erfasst werden. Die ganze Geschichte des Rechts Japans dient in diesem Sinne sozusagen als ein Laboratorium des Rechtstransfers. Zunächst soll die Vorgeschichte kurz resümiert werden, um die Bedeutung des Einführungsprozesses des europäischen Rechts würdigen zu können. Den entscheidenden Anstoß zur Verselbständigung des gesellschaftlichen und gedanklichen Systems „Recht" in der japanischen Geschichte gab erst die Einführung der Grundprinzipien der chinesischen Staatsverfassung und des Rechts seit dem 7. Jahrhundert. Nicht nur die Ritsuryo, d. h. die Kodizes des Strafrechtes (Ritsu) und des Staats- und Verwaltungsrechts (Ryo) des chinesischen Imperiums, wurden übernommen. Der Gedanke der zentralisierten Staatsverfassung mit der Hauptstadt als Sitz des Tenno-Hofes und dem ausgebildeten Beamtenwesen in der Zentral- und Regionalverwaltung, die Verwaltungspraxis einschließlich des Steuerwesens mit der entwickelten Schriftlichkeit, die Annahme der buddhistischen Religion und ihrer Weltanschauung zusammen mit dem Aufbau der großen Tempelorganisationen, der Errichtung der Hohen Schulen sowie des staatlich organisierten Auslandsstudiums: diese eingeführten Kulturgüter sollten die archaische „Staatlichkeit" Japans von Grund auf erneuern. Es war ein grundlegender Wandel der gesamten geistigen und materiellen Welt, dessen Bedeutung für die Geschichte

HO

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Japans nicht hoch genug veranschlagt werden kann, auch wenn über den Grad der Realisierung und die Tiefe der Verinnerlichung dieser neuen geistigen Welt noch viele ungelöste Fragen zu beantworten sind. Während der Heian-2£\\. (794 - Ende 12. Jahrhunderts) lassen sich nicht nur eine tiefere Verwurzelung des eingeführten chinesischen Rechtssystems, sondern auch dessen Symbiose mit einheimischen Rechtsauffassungen sowie dessen partielle Veränderung durch gesellschaftlichen Wandel beobachten. Im Mittelalter1 entstand ein gesonderter Rechtskreis der Kriegerschichten (Bushi oder Buke). Dieses Krieger-Recht (Bukeho) stand zwar immer noch unter dem Einfluss des Rechts des Tenno-Hofes, wies aber eine verhältnismäßig selbständige Entwicklung auf. Infolge solcher Tendenzen verringerte sich die praktische Rolle der chinesischen Ritsuryo-Gesetze. Dennoch spielten die Ritsuryo eine markante Rolle als die Grundlage des Rechts des Tenno-Hofes sowie der rechtlichen Legitimität des Bakufu (d. h. der militärischen Regierung) bis in die Neuzeit. Noch mehr: sie prägten tief die Auffassung der Japaner von „Recht". Machen wir einen großen Sprung. Die fortdauernde Bedeutung des RitiwO'o-Rechts wurde erneut deutlich, als das Bakufu endgültig im Jahre 1867 gestürzt wurde und es zur sog. Afey'i'-Restauration kam2. Für die Gestaltung der neuen Regierungs- und Verwaltungsorganisation galt die alte Staatsorganisation auf der Grundlage des Äyo-Rechts als Muster. Das erste umfassende Gesetzgebungsvorhaben der neuen Tenno-Regierung hatte das Strafrecht, also die iiifsw-Gesetze, zum Gegenstand, und zwar ganz nach dem Muster der chinesischen Ritsu. Aber das Land konnte sich natürlich nicht mit einem alten chinesischen Strafrechtssystem begnügen, um sich vor der internationalen, d. h. westlichen, Gesellschaft als ein moderner Staat zu präsentieren und besonders die Revision der vom Bakufu abgeschlossenen „ungleichen" Handelsverträge mit den europäischen Staaten zu erreichen. Rasch wurde mit Hilfe eines Franzosen ein völlig neues Strafgesetzbuch entsprechend der damaligen europäischen Strafrechtswissenschaft entworfen und 1882 in Kraft gesetzt. Nach gut einem Vierteljahrhundert wurde 1907 dieses Strafgesetzbuch völlig revidiert. Dieser neue Strafrechtskodex überlebte die Niederlage des Zweiten Weltkriegs und ist immer noch in Geltung3. 1 Der Epochenbegriff „Mittelalter" entstand in Japan unter dem Einfluss der europäischen Geschichtswissenschaft und dem Wachsen des Nationalismus in der späten Meiji-2e.il. Er bezeichnet normalerweise das Zeitalter zwischen der Errichtung des Kamakura-Bakufu (Ende 12. Jahrhundert) bis zur Vereinheitlichung des Landes durch Toyotomi Hideyoshi (1590). Auch die Edo-Ztit (1590-1867) ist geprägt von der Kriegerherrschaft, aber die weit stärkere Zentralisierung unterscheidet sie vom „Mittelalter" im obigen Sinne. 2 Über diesen politischen Vorgang vgl. Marius B. JANSEN, The Meiji Restoration, in: The Cambridge History of Japan, Bd. 5: The Nineteenth Century, Cambridge 1989, S. 308366. 3 Das neue Strafgesetzbuch von 1907 wurde, anders als das Strafprozessrecht, nach dem

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Dieser Verlauf deutet darauf hin, dass die Entwicklung des Strafrechts, eines der zwei wichtigsten Rechtsbereiche nach chinesisch-japanischem Rechtsverständnis, am Anfang der Meiji-Ze.it die komplizierten Verschränkungen der Rechtsschichten und die Bedeutung des europäischen Rechts in diesem Land besonders deutlich hervortreten lässt. Angesichts des besonderen Stellenwerts des Strafrechts im traditionellen Rechtsdenken ist es mit Sicherheit eine lohnende Aufgabe, den Prozess seiner Veränderung durch den Transfer des europäischen Rechts nicht nur auf der Ebene des Gesetzestextes, sondern auch in seiner praktischen Funktion umfassend zu analysieren. Leider erlaubt jedoch die Forschungslage einen einigermaßen gleichmäßigen Überblick der praktischen Durchsetzung des Strafrechts noch nicht. Auf der anderen Seite ist es den japanischen Rechtshistorikern gelungen, die Entstehungsgeschichte der ersten Strafgesetzgebung minuziös zu rekonstruieren. Eine mikroskopische Betrachtung des Einführungsvorgangs, und zwar von einem allgemeinen kulturgeschichtlichen Blickwinkel aus, könnte einige markante Züge des Prozesses der Einführung des europäischen Rechts in Japan hervortreten lassen. Auf die strafrechtsdogmatischen Fragen, die in einer strafrechtsgeschichtlichen Fachuntersuchung wichtig wären, kann hier nicht eingegangen werden4.

2. A/eyz-Restauration Die Voraussetzung für die Übernahme des europäischen Rechts in Japan war das plötzlich gesteigerte Bewusstsein der Bedrohung von außen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die dringende Notwendigkeit, durch eine Reform der Staatsverfassung eine stärkere Zentralisierung der Staatsmacht zu erreichen, stand allen vor Augen. Aber zur Realisierung der notwendigen Zentralisierung boten sich schließlich zwei Alternativen an5. Die eine war die rasche Einführung des westlichen politischen und gesellschaftlichen Systems. Die andere war der Rückgriff auf die Staatsform der Antike, wie sie in den /taiw-Gesetzen überliefert war. Die sogenannte Meyi-Restauration (1868) 2. Weltkrieg nicht vollständig revidiert. Lediglich in sprachlicher Hinsicht erfolgte 1995 eine gewisse Modernisierung. Eine inhaltliche Veränderung war damit nicht verbunden. 4 Die folgenden Ausführungen sind lediglich eine skizzenhafte Zusammenfassung von Forschungsergebnissen der japanischen Fachkollegen. Über die Gesetzgebungsgeschichte des Strafrechts in der Aieyi-Zeit ist dank der unermüdlichen Bemühungen der (Rechts-) historiker, besonders unter der Leitung des verstorbenen Yutaka Tezukas, eine gewaltige Akkumulation der Materialien erfolgt. Diese Materialien harren noch einer eingehenden geschichtlichen Würdigung. ' Die dritte Alternative, der Plan nämlich, eine Art Fürstenrat unter dem Vorsitz des Shoguns ins Leben zu rufen, wurde vor dem Sturz des Bakufu erwogen, erwies sich aber als unrealisierbar.

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wurde von diesen beiden - im Grunde entgegengesetzten - Bestrebungen geprägt. Noch am Anfang der Meyï-Zeit lässt sich das Nebeneinander der beiden Richtungen beobachten. 2.1. Die Öffnung gegenüber der europäischen Rechtswelt Bereits seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts, unter dem Sakoku (Abschließung des Landes gegenüber den westlichen Ländern mit Ausnahme der Niederlande), fanden sich Intellektuelle, die sich um die Kenntnisse der modernen europäischen Naturwissenschaften bemühten und dabei oft von dem Bakufu unterdrückt wurden. Nach der Ankunft der amerikanischen Hotte unter der Leitung von Commodore Perry im Jahre 1853 war jedoch auch dem Bakufu die Notwendigkeit der Einführung westlichen Wissens, besonders der militärischen Technik, klar geworden. 1853 wurde mit Bansho Shirabesho eine Forschungsstelle für europäische Wissenschaft errichtet. Allmählich hat man sich dann auch der Rechtswissenschaft zugewandt. Bereits vor der A/ei/ï-Restauration, im Jahre 1862, wurden zwei Lehrer des Bansho Shirabesho, Shin'ichiro (Mamichi) Tsuda (1829-1903) und Shusuke (Amane) Nishi (1829-97), vom Bakufu nach Holland geschickt, um dort Rechts- und Politikwissenschaft sowie Nationalökonomie zu studieren. Tsuda veröffentlichte 1868 die erste Systematik der europäischen Rechtswissenschaft in japanischer Sprache, Taisei Kokuho Ron („Das europäische Staatsrecht"). Bei diesem Werk handelte es sich um die Übersetzung einer Vorlesung, die der Leidener Professor Simon Vissering (1818-88) für die beiden japanischen Studenten hielt. Was das Strafrecht anbelangt, findet man in diesem Buch die ersten Erklärungen des Prinzips der Gesetzesbindung der Strafe in der japanischen Geschichte. Cap. 11: Niemand darf ohne die Grundlage eines Artikels des Gesetzes bestraft werden. Cap. 12: Die strafbaren Verbrechen müssen im Gesetz klar angegeben werden. Taten, die nicht im Gesetz als mit Strafen zu ahndende Verbrechen angegeben sind, sollen nie als Verbrechen betrachtet werden. Cap. 13: Dass ein gewisses Verbrechen mit einer bestimmten Strafe belegt wird, muss im Gesetz klar ausgedrückt werden. Niemand darf mit einer Strafe, die sich von der im Gesetz bestimmten unterscheidet, belegt werden6. Im folgenden Jahr ließ die Mei/i-Regierung Rinsho Mitsukuri (1846-97), der in Frankreich studiert hatte und über breite Kenntnisse des französischen Rechts verfügte, den französischen Code Pénal ins Japanische übertragen7. 6

Vgl. Shozo HORIUCHI, Keiho [Strafrecht], in: Nihon Kindai Hoshi Kogi [Vorlesungen über die moderne japanische Rechtsgeschichte], hrsg. von Shiro Ishii, Tokyo 1972, S. 113136, hier: S. 115 f. 7 Tamotsu Murata, Ritsuryo-Gelehrter und einer der Herausgeber der Shinritsu-Koryo, erin-

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Die Kenntnisse des europäischen Rechts, auch des Strafrechts, nahmen auf diese Weise ständig zu. Die Regierung handelte rasch. Im Jahre 1871 wurden das Justizministerium und die staatliche Rechtsschule (Meihoryou) begründet. Es war der Politiker Shinpei Eto (1834-74), der durch die Gründung des Justizministeriums die Rechtsprechung und zentrale Justizverwaltung zusammenführte und selber zum ersten Justizminister ernannt wurde. Er hatte, obwohl er nie im Ausland geweilt hatte, gewisse Kenntnisse des europäischen Rechts; das von ihm geführte Justizministerium wurde der wichtigste Förderer der Rechtsund Justizreform nach europäischem Muster. Er hat einmal gesagt: „Die z. Z. dringendste Aufgabe des Kaiserreichs ist die, durch die Grundlegung einer unabhängigen Justiz, die ein Element der Unabhängigkeit des Staates darstellt, die Organisation des Rechtsstaats aufzubauen. Der alleinige Zweck für die Grundlegung der selbständigen Justiz und des Aufbaus der Organisation des Rechtsstaats besteht darin, die Revision der ungleichen Handelsverträge zu verwirklichen. Wenn wir dieses Ziel der Revision der Verträge durchsetzen wollen, sind es die dringendsten und notwendigsten Aufgaben, dass wir nur schnell die Gesetzbücher herausgeben, auch wenn sie unvollständig sein mögen; die Gerichtsorganisation einrichten; die Menschenrechte achten; und dadurch uns vom Ausland als ein g unabhängiges und selbständiges Land akzeptieren lassen."

In diesem Wort von Eto erkennt man eine Kombination von einem ziemlich genauen Verständnis der rechtlichen Bauprinzipien des europäischen Staates und einer höchst pragmatischen Haltung gegenüber der Reform des Rechts, die das Reformwerk der M