Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 24. Band (1983) [1 ed.] 9783428454365, 9783428054367

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

137 16 74MB

German Pages 444 [450] Year 1983

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 24. Band (1983) [1 ed.]
 9783428454365, 9783428054367

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH THEODOR BERCHEM UND FRANZ LINK

NEUE FOLGE / VIERUNDZWANZIGSTER BAND

1983

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N

KUNISCH,

PROF. D R . T H E O D O R B E R C H E M U N D PROF. D R . F R A N Z

N E U E FOLGE / V I E R U N D Z W A N Z I G S T E R

LINK

BAND

1983

Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch wird im Auftrage der Görres-Gesellsdiaft

herausgegeben von Prof.

Hermann Kunisch, Nürnberger

Dr.

Straße 63,

8000

München 19, Professor D r . Theodor Berchem, Frühlingstr. 35, 8700 WürzburgLengfeld, und Professor D r . Franz Link, Eichrodtstr. 1, 7800 Freiburg. Redaktion: D r . Kurt Müller, Steinbuckstr. 2, 7830 Emmendingen 16. Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im U m -

fang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind an die Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Besprechung kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot, Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH VIERUNDZWANZIGSTER

BAND

Albrecht D ü r e r , „ H l H i e r o n y m u s i m Gehäus" (1514).

A b b i l d u n g aus Albrecht

Dürer 1471 - 1528: Das gesamte graphische (München, 1970), S. 1877.

Werk,

Bd. 1

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE D E R G Ö R R E S G E S E L L S C H A F T HERAUSGEGEBEN

VON

H E R M A N N Κ UNI S CH THEODOR BERCHEM

NEUE

UND

FRANZ

LINK

FOLGE / VIERUNDZWANZIGSTER

BAND

1983

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Redaktion: Kurt Müller

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Printed in Germany Gedruckt 1983 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 I S B N 3 428 05436 9

I N H A L T

AUFSÄTZE Herbert Pilch (Freiburg i. Br.), D y f a l u — ein frühes Gegenstück zum conceit : D a f y d d ap Gwilyms Gedicht vom Heuhaufen

9

Hubertus Schulte Herbrüggen (Düsseldorf), Briefe der Freundschaft: Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus

27

Wilhelm Kühlmann (Freiburg i. Br.), Staatsgefährdende Allegorese: D i e V o r rede vom Adler in Sebastian Francks Gescbicbtsbibel (1531)

51

Rüdiger Görner (London), Charakter und Grazie: Einflüsse Christian Gottfried Körners auf Kleists »Marionettentheater«

77

Ernst Josef Krzywon (Augsburg), Das »Heilige aus dem sinnlich faßlichen Schönen«: Religion und Theologie in Goethes theaterästhetischen Schriften

89

John Hennig (Basel), Goethes Portugallektüre Jens Haustein

105

(Göttingen), »Otahiti«: V o m Wandel eines literarischen Motivs 115

Uwe Böker (Regensburg), Künstler und Künstlerfiktion: Thackeray s Pendennis i m Kontext des Statuswandels von Schriftsteller und M a n of Letters 131 Kurt Reichenberger (Kassel), M a d i t und Ohnmacht der Poeten: Baudelaires »Les Chats« als inkarnierte Metapher dichterischer Existenz 149 Philip Mann (Norwich), H u g o Ball's Expressionist Theatre

175

Richard W. Sheppard (Norwich), The Early Reception of the Expressionist Anthology Der Kondor: A Documentation and Analysis 209 Walter

Berschin (Heidelberg), Konrad Weiß über Hrotsvit von Gandersheim 235

Joseph Jurt (Freiburg i. Br.), Celine — eine faschistische Literatur von Rang? 245 Meinhard Winkgens (Freiburg i. Br.), Das Problem der >zwei Kulturen< und der >Geist der Zivilisation : F. R . Leavis* Auseinandersetzung mit C. P. Snow 263 Alfred Barthofer (Newcastle/Australien), Theater — Theater? Das österreichische D r a m a zwischen 1970 und 1980 285 Wilhelm Deinert (München), >Ist das noch ein Vers?< Tractatus cus: Über den freien Vers und seine Abkömmlinge

metrico-poeti317

6

Inhalt DOKUMENTATION

Franz Link (Freiburg i. Br.), Robert Penn Warren on H i s Poetry: Recordings from a Seminar w i t h the Poet 335

BERICHT Hermann Kunisch (München), D e r Briefschreiber Theodor Storm: Aus Anlaß der Briefausgaben des Eridi Schmidt-Verlags, Berlin 1969 ff 361

BUCHBESPRECHUNGEN Walter Berschin, Griechisch-lateinisches laus von Kues (Von Peter Stotz)

Mittelalter,

zu

Niko393

Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft, Ulrich Müller, Bd. 1 ( V o n Walter Blank) Rudolf Pfeiffer, Die Klassische Philologie Wilhelm Kühlmann)

von Hieronymus

hg. Hans-Dieter Mück und 396

von Petrarca

bis Mommsen

(Von 397

Karl Hengst, Jesuiten an Universitäten und Jesuitenuniversitäten: Zur Geschichte der Universitäten in der Oberdeutschen und Rheinischen Provinz der Gesellschaft Jesu im Zeitalter der konfessionellen Auseinandersetzung ( V o n Fidel Rädle) 399 Elida Maria Szarota, Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet: Eine Periochen-Edition. Texte und Kommentare. Zweiter Band: Tugend- und Sündensystem, Teil 1 und 2 ( V o n Fidel Rädle) 404 Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat: Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters (Von Volker K a p p ) 408 Gerhard Dünnhaupt, Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur: Hundert Personalbibliographien deutscher Autoren des siebzehnten Jahrhunderts, 3 Bde.; Bibliographie zur deutschen Literaturgeschichte des Baro Witzigkeit < hinzu: »Es ist eine möglichst abnorme Pointe, ein frappierendes Sinn- oder Gedankenspiel, vielsagend, stechend, ausgefallen, eine gewagte, um Wahrheit unbekümmerte witzige Kombination, eine erzwungene Identität des Verschiedenen, ein Widersinn — je paradoxer, desto willkommener — ein Verdrängen der Sache und Sachrichtigkeit durch unstimmige . . . Metaphern . . . eine penetrante, jedoch verrätselnde Anspielung.« Ein kymrischer englyn (das ist eine bestimmte Strophenform) von Ellis Jones18 vergleicht die Dachrinne (»y bargod«) mit der Kuh. Wir meinen, dieser Vergleich (dyfalu) erfüllt Friedrichs Bestimmung des concetto: Rhy'n ddi-daw tra bo'n glawio — seiniau mwyn, Fei swn mil y n godro; Pan geir rhew y n dew ar do, D a w hynod dethau dano. — 9

Ruthven, op. cit. S. 5 - 16.

10

Weinridi, H a r a l d , »Semantik der kühnen Metapher«, DVLG Bd. 37 (1963), S. 3 2 6 - 3 4 4 ; dazu Vf., »Theorie der Metapher«, Miscellanea anglo-americana: Festschrifl Helmut Viebrock, hg. Kuno Sdiuhmann et al. (München, 1974), S. 431 448, bes. 439 f. 11 Elisabethan 330, Zitat S. 264.

and Metaphysical

Imagery

(Chicago, 1947), S. 284 - 299, 3 0 9 -

12

op. cit. S. 636 - 647, Zitate S. 636 f., 640, A n m . 2.

13

Parry, Thomas hg., The Oxford

Book of Welsh Verse (London, 1962), S. 536.

Herbert Pil

12

Ohne Unterlaß, wenn es regnet, bringt sie weiche Laute hervor, Wie der Laut einer K u h beim Melken. Wenn aber der Frost dick auf dem Dach liegt, D a n n kommen wundersame Zitzen dran.

Die Bildspanne zwischen Kuh und Dachrinne ist gewiß » longe ductum«. Die »mehrfache Vergleichsbasis« ist ebenfalls gegeben, tropfende Flüssigkeit (Milch bzw. Regenwasser) einerseits, herunterhängende längliche Gegenstände (Zitzen, Eiszapfen) andererseits. Ebensowenig fehlt es an der »verrätselnden Anspielung« (der Leser muß erraten, daß die »Zitzen« die Eiszapfen abbilden) und der »frappierenden Pointe« (die letzte Zeile wird vom einheimischen Publikum stets als solche verstanden). Mit den Kategorien der linguistischen Semantik läßt sich die weite Bildspanne in dem Sinne verstehen, daß die »disparaten Objekte« nicht dem gleichen Wortfeld angehören (wie es bei der kühnen Metapher der Fall ist), sondern ganz verschiedenen Wortfeldern. Die Wortfelder sind »ganz verschieden« insofern, als sie keiner gemeinsamen lexikalischen Oberklasse angehören (außer der in diesem Zusammenhang trivialen Oberklasse aller Lexeme der betreffenden Sprache). Daraus folgt, daß ihnen gemeinsame semantische Merkmale fehlen 14. Das tertium comparationis ist daher nicht von der Struktur des Lexikons gegeben, sondern muß aus der außersprachlichen Welt herbeigeschafft werden. Solche tenia comparationis brauchen nicht unsachlich zu sein (sachlich stimmt es, daß sowohl Dachrinnen als auch Euter tropfen); »ausgefallen« oder »far-fet« wirken sie wegen ihrer fehlenden semantischen Grundlage, nicht weil es ihnen an Realismus fehlte. Den so definierten Unterschied zwischen kühner Metapher und conceit möchten wir verallgemeinern: Die Metapher sei an die Wortfelder bestimmter Sprachen gebunden, das conceit greife dagegen über lexikologische Strukturen hinaus. Damit rücken wir das conceit von der Metapher weg zu ihrem Oberbegriff Bild (image). Das ist materialiter adäquat insofern, als (nach allgemeinem Sprachgebrauch) jede Metapher ein Bild ist, aber nicht jedes Bild auch eine Metapher. Es bleibt materialiter adäquat auch insofern, als das conceit erfahrungsgemäß nicht an die semantischen Strukturen bestimmter Sprachen gebunden und daher (im Gegensatz zur Metapher) übersetzbar ist. Davon auszunehmen sind lediglich die sprachlichen Figuren, besonders jene »Einzelvergleiche«, die das conceit für seine eigenen Zwecke mit verwendet (s. Beispiele weiter unten in »Morfudd wie die Sonne« und dem »Heuhaufen«). Das conceit selbst ist jedoch stets mehr als die genannten Figuren. 14

Hervey, Sandor, Axiomatic

Semantics (Edinburgh, 1980), S. 33 - 47.

Dyfalu — Ein frühes Gegenstück zum conceit

13

IL Analogie als Selbstzweck Nachdem wir das conceit nidit der Metapher, sondern allgemeiner dem Bild zugeordnet haben, müssen wir noch den Unterschied zwischen conceit und Bild bestimmen. Diesen Unterschied verlagern wir aus der Essenz des Objekts (wo man sie traditionell sucht) hinweg in die Sichtweise (focus) des Betrachters. Das conceit ist, wie wir meinen, nicht eine Sonderform des Bildes (erst recht keine Sonderform der Metapher), sondern es kommt für die Unterscheidbarkeit von Bild und conceit darauf an, unter welcher Voraussetzung wir das fragliche Objekt betrachten. I m Bild sagt der Bildspender etwas über den Bildempfänger aus, z. B. (in geläufigen Klischees unserer Umgangssprache) »die Perlenreihe« über die jeweiligen Zähne, das »volllaufende Weinfaß« über die Trinkgewohnheiten des betr. Individuums, das sich »vollaufen läßt«. Im conceit dagegen ist die Analogie (zwischen Bildspender und Bildempfänger) Selbstzweck. Sie zielt nicht auf den Bildempfänger, sondern auf die Kunst des Vergleichs. Eben darin liegt (wie wir meinen) das von Friedrich vermerkte »Verdrängen der Sache«. Der Autor erweist sein Können an den »arguti e ingegnosi concetti«15, d. h. daran, wie geschickt er eine (realistische) Analogie auffinden und ausformulieren kann. Das führt zwangsläufig dazu, daß Vergleichsobjekte aus »ganz verschiedenen« Wortfeldern (im Sinne unserer obigen Definition) bevorzugt werden; denn »je paradoxer, desto willkommener«. Es führt weiter zur Ausschlachtung von Homonymien (wie engl, son : sun); denn Homonyme gehören per definitionem »ganz verschiedenen Wortfeldern« an 18 . Es führt weiter zu einer dem conceit eigenen Kasuistik. Man entdeckt nicht nur überraschende Analogien, sondern man gewinnt aus der Analogie Argumente zu einer persuasio oder Motive zu einer narratio (vgl. Beispiele weiter unten), »urbane Trugschlüsse — argomenti urbanamente fallaci« 17 , und der Blickpunkt verlagert sich dann von der Analogie als solcher auf die Kasuistik. Diesen besonderen Blickwinkel, der das conceit ausmacht, stellt Richard I I . bei Shakespeare (V, 5) als prœfatio dem (nicht unbedingt neuen) Vergleich zwischen der Welt und seinem Gefängnis voran: »I have been studying bow I may compare this prison where I live unto the world« (von mir kursiv). Es geht ihm expressis verbis um das Wie des Vergleichs, nicht um eine Aussage über sein Verließ. Die Vergleichsobjekte sind so disparat, daß es nicht 15 Der Terminus steht im Untertitel der Poetik des Emmanuele Tesauro (1655), zitiert nach Friedrich, op. cit. S. 637. 16 Sonst wären es nämlich per definitionem Polyseme, vgl. Vf., Empirical Linguistics (München, 1976), S. 95 - 97, sowie die Liste der homonymen Wortspiele bei Kökeritz, Helge, Shakespeare's Pronunciation ( N e w Haven, 1953), S. 86 - 157. 17

Tesauro, zitiert von Friedrich, op. cit. S. 643.

Herbert Pilch

14

zu gehen scheint, aber er erweist sein Geschick darin, daß er den Vergleich dennoch erzwingt: »Yet I ' l l hammer it out«. Am Ende leitet er aus der Kasuistik seines Vergleichs induktiv eine verallgemeinernde conclusio ab: Ich bin mit keiner Rolle zufrieden, ebenso wie mir geht es allen Menschen: N o r I , nor any man that but man is, W i t h nothing shall be pleased, till he be eased W i t h being nothing (ib. 39 - 41).

Aus unserer Begriffsbestimmung folgt, daß die gleichen Objekte bald in Form des Bildes, bald in Form des conceits miteinander in Beziehung treten können, je nach focus. Nehmen wir den geläufigen Vergleich der angebeteten Dame mit der Sonne: »Ase sonnebem hire bleo ys briht« 18 . Romeo macht daraus eine Metapher. Er steht unten; ein Lichtschein fällt aus Juliets Zimmer; sie tritt auf den Balkon 19 . Das ist für ihn der Sonnenaufgang: W h a t light through yonder window breaks? I t is the east, and Juliet is the sun ( I I , 2, 2 f.).

Er sieht sich selbst als die Erde, die sich (kopernikanisch?) zur Sonne als ihrem Zentrum wendet: »Turn back, dull earth, and find thy centre out« (II, 1, 2). Romeo (so verstehen wir die Stelle) sagt damit etwas über den Bildempfänger Juliet aus, besonders über sein Verhältnis zu ihr. Das ist ein Bild im Sinn unserer Begriffsbestimmung, aber kein conceit. Dafydd ap Gwilym vergleicht seine Angebetete namens Morfudd ebenfalls mit der Sonne. »Morfudd wie die Sonne« betitelt er sein Gedicht20. Er macht den Vergleich und seine Kasuistik jedoch zum Selbstzweck und damit zum conceit (im Sinne unserer Begriffsbestimmung). Die Sonne (Morfudd) geht auf (tritt heraus): »Haul a ddaw mal hoyliw ddyn« (die Sonne tritt heraus wie ein farbenprächtiges Mädchen, 28). Als sie den amant sieht, zieht ihr eine Wolke vor das Gesicht bzw. ihre Miene verfinstert sich. Sie weist ihn ab: Gwedy del, prif ryfel praff Dros ei phen wybren obraff — D a n n zieht über ihren K o p f eine dichte Wolke, Es tobt heftiger Krieg (31 f.).

Die zeitgenössische Homographie der Verben machlud(d) >untergehen< (von der Sonne) und >sich verbergen< liefert Wortspiele. Die Sonne geht unter (macblud), d.h. Morfudd verbirgt sich (machludd) im ehelichen 18

Harley

Lyrics , hg. G. L. Brook (Manchester, 1948), N r . 7, Z . 7.

19

A u f diese Stelle macht midi im vorliegenden Zusammenhang H e r r Werner Habicht (Würzburg) aufmerksam. 20

»Morfudd fei yr H a u l « , ed. cit. S. 114 - 116.

Dyfalu — Ein frühes Gegenstück zum conceit

15

Schlafzimmer, und beides sind lediglich zwei verschiedene Aspekte des gleichen Phänomens: Ymachludd Morfudd â m i . . . Y r ymachludd teg ei gwg D a n orddrws y dyn oerddrwg — Morfudd geht für mich unter . . . Sie geht unter mit schöner Zornesmiene I n den Gewahrsam des kalten, bösen Mannes (46 - 50).

Nachts kann nur Gott die Sonne anrühren (bzw. der Ehemann seine Frau), aber nicht der amanti »Ni chaiff llaw yrthiaw wrthi« (keine Hand darf sie anrühren, 41). Daraus gewinnt Dafydd ein Argument für seine persuasio: Warum müssen beide. Sonnen (Morfudd und sol) am Tage zu sehen sein und nachts verschwinden? Besser wäre es, die eine (sol) schiene tags, die andere (Morfudd) ließ^ sich nachts anrühren. Dann gäbe es für den amant keine Nacht mehr, solange Morfudd lebt: »Yn oes bun ddyfod nos byth« (zu Lebzeiten des Mä ens käme nie die Nacht, 70). Dieser »urbane Trugschluß« bildet die Pointe des Gedichtes. Es geht dem amant nicht darum, Morfudd als »edel wie die Sonne« darzustellen, im Gegenteil, sie ist »voller Trug und Tücke« — »mawr yw ei thwyll a'i hystryw« (15), sondern er setzt den konventionellen Vergleich in alle möglichen Details fort als metaphora continuata 21 und gewinnt daraus eine argumentatio. In das conceit selbst sind ihrerseits »Einzelvergleiche« eingestreut, in denen der Bildspender durchaus etwas über den Bildempfänger aussagt. Zum Beispiel ist die Sonne »Gott zum Ball« gegeben (40), sie ist eine »lichtspendende Maitrödlerin« (24) und »die Schafhirtin des Himmels« (30). Ja, es fehlt nicht der konventionelle Überbietungsvergleich 22: »Wenn eine der beiden Sonnen in diesem Jahr am schönsten ist, so ist es unsere Sonne« — »os tecaf un eleni, tecaf . . . ein hael ni« (61 f.). Damit kommt kein Bruch in das conceit ; es entsteht keine hybride Metapher. Das conceit bleibt von den eingestreuten Einzelvergleichen geschieden und in sich konsequent. III.

Der gehäufte Vergleich

Ebenfalls als dyfalu kategorisiert werden von der einheimisch-kymrischen Literaturwissenschaft zwei Typen des gehäuften Vergleichs. Einmal wird der Bildempfänger nicht nur als ganzes, sondern in vielen Einzelteilen 21

Terminus bei Friedrich, op. cit. S. 642, 660.

22

Ähnlich ist der M o n d eifersüchtig auf Juliet, weil sie ihn an Schönheit über. . . the envious moon,

16

Herbert Pil

jeweils separat mit verschiedenen Bildspendern verglichen. Dieser Typ des Vergleichs taucht im Englischen schon in den Harley Lyrics auf 23 — ihre Zähne sind weiß wie Walknochen, ihr Hals länger als ein Schwanenhals, ihre Brustwarzen sind wie zwei Äpfel aus dem Paradies: here teht aren white ase bon of whal . . . swannes swyre swyfe wel ysette . . . hyre tyttes aren anvnder bis as apples tuo of Paraeys.

In der Petrarcanachahmung vergleicht man geläufig die Augen mit Sternen, die Wangen mit Rosen, die Lippen mit Korallen 24 . Zum conceit (in unserem Sinne) wird ein solcher Vergleich, wenn Romeo daraus Motive zu einer narratio gewinnt. Zwei Sterne bitten Juliets Augen, sie vorübergehend zu vertreten: Two of the fairest stars in all the heaven H a v i n g some business, do entreat her eyes T o twinkle in their spheres till they return ( I I , 2 , 1 5 - 17).

Im zweiten Typ des gehäuften Vergleichs werden »inkongruente Metaphern« 25 gehäuft, d. h. der Bildempfänger wird (als ganzes) mit immer neuen, andersartigen Bildspendern gleichgesetzt. Auch dieser Typ taucht bereits in der englischen Lyrik des 14. Jahrhunderts auf, wenn die angebetete Dame Strophe für Strophe mit immer neuen Edelsteinen, Blumen, Vögeln, Kräutern und Heldinnen bzw. Helden der Vorzeit verglichen wird: »ase beryl so bryght, ase saphyr in seluer . . . ase iaspe« usw. Die Inkongruenz der verschiedenen Bildspender stört dabei nicht. Zum Beispiel setzt Constanze in King John die Kindertränen ihres Sohnes (für den sie Thronansprüche stellt) nacheinander mit Perlen und Kristallen gleich und konstruiert aus dem Vergleich eine narratio. Mit seinen Perlen und Kristallen werde der Thronprätendent die himmlischen Mächte »bestechen« und zur Hilfeleistung bewegen : . . . those heaven-moving pearls from his poor eyes Which heaven shall take in nature of a fee : A y , w i t h these crystal beads heaven shall be bribed T o do him justice and revenge on you ( I I , 1 , 1 6 9 - 172, Schrägdruck von mir). 23 Die zitierten Gedichte sind »Annot and John« ( N r . 3) und »The Fair M a i d of Ribblesdale« ( N r . 7). Die Harley Lyrics sind audi sonst der zeitgenössischen kymrischen Dichtung überraschend ähnlich, vgl. dazu R. Bromwich, D a f y d d ap G w i l y m : Y traddodiad islenyddol, in: D a f y d d ap G w i l y m a chanu serch yr oesoedd canol, ed. John Rowlands, Cardiff 1975, S. 43 - 57, bes. S. 52 f. 24 Bei Petrarca selbst wird im canzone 325 Laura zur Kerkermauer mit Golddach (Haar), Elfenbeintor (Zähnen), Saphirfenstern (Augen) usw., nach Friedrich, op. cit. S. 233. 25 Friedrich, op. cit. S. 660.

Dyfalu — Ein frühes Gegenstück zum conceit

17

Die beiden Typen des gehäuften Vergleichs werden in der kymrischen Literaturwissenschaft nicht unterschieden. Zum Beispiel definiert Morgan D. Jones in seinem rhetorischen Lexikon 26 das dyfalu als gehäuften Vergleich des zweiten Typs: »disgrifio unrhyw wrthrych... trwy ei gymhari a llu ο bethau« (ein Objekt beschreiben, indem man es mit vielen [verschiedenen] Dingen vergleicht). Als Beleg zitiert er jedoch aus einem Tudur Aled zugeschriebenen Bittgedicht aus dem 15. Jahrhundert »Dyfalu march« (Analoga eines Pferdes) 27 einen gehäuften Vergleich des ersten Typs, in dem erst die Augen, dann die Ohren des Pferdes separat verglichen werden. Hier tritt der Bildempfänger Pferd in vielen Einzelaspekten jeweils separat mit immer neuen Bildspendern in Beziehung. Die Augen (des erbetenen Pferdes) sind wie zwei Birnen, seine Ohren wie Salbeiblätter, seine Füße weben durch wildes Feuer, aber ohne Hände webt es und macht Seide: Llygaid fai d w y ellygen Llymion byw'n llamu'n ei ben. Dwyglust feinion aflonydd, D a i l saets w r t h ei dal y sydd. A i l y carw, olwg gorwyllt, A ' i draed y n gwau drwy dan gwyllt. D y l i f o heb ddwylo'dd oedd, N e u wau sidan, nés ydoedd. — Augen wie zwei Birnen, Scharf, lebendig, springen sie in seinem Kopf. Z w e i feinfühlige, unruhige Ohren, Salbeiblätter sind es auf seiner Stirn. Ein zweiter Hirsch, so w i l d sein Antlitz, U n d seine Füße weben durch wildes Feuer. Das war ein Fluten ohne Hände Oder ein Weben von Seide, immer näher kam es.

Inkongruente Metaphern häuft auch ein moderner englyn 28, indem er das Erröten (»gwrid« als Bildempfänger) nacheinander gleichsetzt mit der Farbe des Rotweins, dem wallenden Blut, der finsteren Miene, der Jungfräulichkeit, dem Rausch des Lebens und — als Antiklimax — mit der Rose auf dem Grabe: Goch y gwin, w y d degwch gwedd, — ton y gwaed, Ystaen gwg a chamwedd, M o r w y n o l fflam rhianedd, Swyn y byw, rhosyn y bedd. 29

Termau laitb a Lien (Llandysul, 1972), s. v.

27

hg. Jones, T . Gwynn, Gwaitb Tudur Aled, 2 Bdd. (Cardiff, 1926), N r . 106.

28

Eifion W y n , »Gwrid«, hg. Parry, Thomas, The Oxford

S. 534. 2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

Book of Welsh Verse,

Herbert Pilch

18

O h Rot des Weins, du bist Schönheit — Welle des Blutes, Flecken des Schmollens und der bösen T a t , Der Mädchen jungfräuliche Flamme, Zauber der Lebenden, Rose des Grabes.

Zum gehäuften Vergleich unter dem Stichwort dyfalu zählt man gemeinhin auch die Verrätselung, besonders die Verrätselung durch gehäufte »wegnehmende Metaphern« 29, d.h. die negative Teilparaphrase 80. Als Prototyp gilt das Windrätsel aus dem Buch des Taliesin: Ac ef ny anet. Ac ef ny welet. E f ar vor ef ar tir ni w y l ni welir. U n d er ist nicht geboren, U n d er w i r d nicht gesehen. Er ist auf dem Meer, er ist auf dem Land, Er sieht nicht, er ist nicht sichtbar ( B T 37, 7 - 8 ) 3 1 .

Mit solchen negativen Teilparaphrasen arbeitet gern auch die spätere kymrische Dichtung, z. B. wieder das Windgedicht des Dafydd ap Gwilym 3 2 : N i ' t h dditia neb, ni'th etail N a llu rhugl, na llaw rhaglaw . . . Niemand rechtet mit D i r , niemand hält Dich an, Weder eine ausgebildete Armee noch die H a n d der Polizei (14 f.).

Ob man darin den literarhistorischen Ursprung nicht nur dieses besonderen Typs von Verrätselung sehen soll, sondern des dyfalu als Gesamtphänomens33? Diese Lehrmeinung beruht, wie wir glauben möchten, auf ungenügender Differenzierung der verschiedenen Typen des dyfalu, insbesondere wohl auch darauf, daß manche einheimischen Literarhistoriker den Terminus als >riddling< ins Englische übersetzen34. kywydd y m w d w l 3 5 A i liai v y rhann ο annvn no lies a büdd gyr llys bvn nyd hawdd godech na llechv a glewed y w y glaw dv 29

Friedrich, op. cit. S. 657.

80

Die vollständige Paraphrase kennzeichnet das gemeinte Objekt eindeutig, z . B . der erste Mensch: Adam. Die Teilparaphrase kennzeichnet nur die Klasse, zu der das gemeinte Objekt gehört, ζ. B. Pferd: vierbeiniges Tier, vgl. dazu Vf., »Theorie der Metapher«, S. 441. 81

ed. Evans, Gwenogvryn, Llyvyr

82

ed. cit. S. 3 0 9 - 3 1 2 .

88

Parry, Thomas, Hanes, S. 28, 91.

84

Thomas, G w y n , op. cit. S. 31.

Taliessin (Llanbedrog, 1910).

Dyfalu — Ein frühes Gegenstück zum conceit 5

10

15

20

25

30

19

bai rhann ir ddor agori y nos nys llevâswn i na gwahardd bun ar vngair ai gwaeth yny m w d w l gwair dawn y m dy vod y n v w d w l di gryfwas penn grychlas p w l da by r gribin ewinir doe ach gynvllawdd ar dir mi ath wisgais maith wasgawd m w y n gochl gwyrddlas ywch gwas gwawd kaisais gennyd gael kysellt kolomendy gweckry gwellt glüd yth volaf am tavawd gny gwaun da le i gnoi gwawd i vyrr hvn da yth l v n w y d v n vath llydan dwmpath l l w y d v n dramgwydd ath arglwyddi teg ag v n artaith w y d ti ef ath las ar dir glas glew bwrdais ar wairglawdd berdew y vory sydd y ty sir oth lasgae wair y t h lysgir drennydd ywch llanw manwair dy grogi a gwae v i vair kymynnaf dy gorph adref ir nenn ath enaid ir nef ar lvn angel y m gwely ddydd brawd ywch y tavawd hy y n dyvod i gnoko r drws y m w d w l gwair ai madws D a v y d d ap gwilim ai kant 216

35 Text der Hs. Lianstephan 47, pp. 506 - 508, einige Lesarten verbessert nach Hss. Lianstephan 134, f. 308; M o s t y n 212, S. 48 f.; Ν 560 E. Sämtliche Hss. werden um 1600 datiert und bieten somit den ältesten Stand der Überlieferung (vgl. unten vorletzten Abschnitt). Sie liegen in der Kymrischen Nationalbibliothek, Aberystwyth. Der kritische Text von Thomas Parry (vgl. Anm. 4) weicht von unserem vor allem durch modernisierte Orthographie und Zeichensetzung ab, nur an wenigen Stellen auch im Wortlaut. Für das Textverständnis wichtig sind davon nur die Zeilen 1 9 - 2 2 . Sie ergeben, für sich genommen, einen etwas anderen Sinn als bei Parry, und wir müssen uns damit abfinden, daß das sonst feminine Substantiv hun >Schlaf< Z . 19 in maskuliner Kongruenz steht. Der Gesamtzusammenhang ändert sich jedoch dadurch nicht. Verbessert sind gegenüber der Hs. Lianstephan 47 in unserem Text folgende Stellen: 6 : i (Lianstephan 134) statt ni 10: grychlas (Mostyn 212) statt grychwas 11 : gribin in Hs. Llanst. 47 verbessert aus groebin 13: wasgawd (Mostyn 212) statt wisgawd 16: gweckry (Mostyn 212) statt gwely 26: lysgir (Llanst. 134) statt losgir 27: a steht Llanst. 47 zwischen llanw und manwair, fehlt in Llanst. 134 33: gnoko r (Llanst. 134) statt gnocio.

ι*

20

5

10

15

20

25

Herbert Pilch Ist j nein Quantum Schlaflosigkeit nicht größer Als mein Erfolg und Gewinn vor dem Hause der Dame? Nicht leicht Unterstand oder Schutz zu finden, So kräftig ist der schwarze Regen. Selbst wenn die T ü r aufspränge Des nachts, würde ich es nicht darauf ankommen lassen, D a ß die Dame es mir mit einem einzigen W o r t verbietet. Wäre es nicht besser in jenem Heuhaufen? Meine Diditergabe mache Dich zum Heuhaufen, M i t meinem grau zerfurchten K o p f sorge ich für Unterhaltung. D e r Rechen war wohl mit Zapfen ausgestattet, Gestern schüttelte er Dich. Ich zog Dich mir als Kleidung über (machte Dich auf Häufle), D u bist ein riesengroßer enger Unterschlupf, Ein weicher, grüner Mantel, der den Diener der Dichtkunst bedeckt. Ich wollte Dich richtig bündeln, Wackliger Taubenschlag aus Gras. Beredt preise ich Dich mit meiner Zunge, D u Schafspelz des Hochmoors — hier ist zum Dichten der richtige Ort. Z u kurzem Schlaf bist D u gut aufgebaut, D u bist von der gleichen Sorte, D u großer grauer Heuhaufen, ebenso ein Ärgernis bist D u wie Deine schönen Herren, die gleiche Qual. Er hat Dich gemäht (getötet) auf dem brachliegenden, guten Land, D e r kleine, dicke Bauer auf der Wiese am Graben, A u f der D u es D i r wohl sein läßt. Morgen W i r d man Dich von Deinem grünen Feld, H e u , heimbringen. Ubermorgen wirst D u — eine Fülle von kleinen Heuteilchen fällt dabei Getreten (gekreuzigt), und weh mir, Marien!

30

z u

®oc^en

Deinen Leichnam vertraue ich seinem H e i m I m Heustock an, und Deine Seele dem Himmel. I n Engelsgestalt siehst D u midi — A m Tage des Gerichts schwebe ich über dem Siegesklang der Posaune — W i e ich komme und an die Tür klopfe: » O Heuhaufen, darf ich?« · τλ r j j r> ·ι χτ u z ' cecinit D a f y d d ap G w i l y m N r . 216

Das Heuhaufengedicht des Dafydd ap Gwilym benutzt den Rahmen der Serenade36. Der schlaflose amant steht draußen vor der Tür. Gleichzeitig parodiert es diesen Rahmen. Statt des konventionellen Ständchens bringt 36 Zur Rezeption französischer bzw. provençalischer lyrischer Konventionen in Wales vgl. umfassend Chotzen, Th. M . , Äec&ercfoi sur la poésie de Dafydd ap Gwilym (Amsterdam, 1927). Dagegen denkt Williams, J. E. Caerwyn, »Cerddi'r Gogynfeirdd i wragedd a merched a'u cefnder yng N g h y m r u a'r cyfandir«, Lien Cymru Bd. 13 (1976), S. 3 - 1 1 2 , eher daran, daß schon vor dem 14. Jahrhundert in Wales teilweise gleichartige Konventionen der Liebesdichtung entstanden waren wie auf dem Festland und D a f y d d ap G w i l y m sie nicht aus Frankreich übernahm, sondern von seinen Vorgängern, den gogynfeirdd. Diese Auffassung w i r d gestützt durch die gleichartigen Formen des gehäuften Vergleichs, wie w i r sie schon i m 14. Jahrhundert in Wales und in den Harley Lyrics finden (s. oben Anm. 23).

Dyfalu — Ein frühes Gegenstück zum conceit

21

der amant dem Leser bzw. Hörer (nicht der Dame) einen inneren Monolog dar, in dem er sich selbst als ältlichen Liebhaber darstellt (»pengrychlas — grau zerfurchte Stirn«, 10), der vergebens den Mädchen nachläuft. So verschüchtert sei er, daß er sich nicht hineintraute, selbst wenn die Tür offen wäre. Ein einziges Wort würde genügen, ihn wieder hinauszukomplimentieren: »na wahardd bun ar ungair — damit das Mädchen es mir nicht mit einem Wort verbietet« (7). Nicht in lauer Maienluft ergötzt sich der amant, sondern in finsterer Regennacht (wir verstehen y glaw du >den schwarzen Regen< als Metonymie für die Regennacht, eine »absolute Metapher« im Sinne Friedrichs 87) steht er im Freien. Nirgends kann er unterstehen (»nid hawdd godech na llechu«, 3). Er leidet nicht nur an Schlaflosigkeit (wie es sich für den amant gehört), sondern er quantifiziert sie: »Was ist wohl größer, mein Erfolg bei der Dame oder mein Quantum Schlaflosigkeit«, so fragt er selbstironisch (1 f., im Original liai >kleiner< als Litotes). Offensichtlich ist seine Schlaflosigkeit groß, sein Erfolg gering. Diese quantifizierende Reflexion verstärkt die (schon mit der Parodie gegebene) intellektuelle Distanz des amant zu seiner Liebschaft. Er schmachtet nicht nur, sondern er reflektiert über sein Schmachten und sucht es in Form des »frappierenden Sinn- und Gedankenspiels« darzustellen und damit sein Publikum zu unterhalten (digrifwas — »Diener der Unterhaltung«, 10). Er klügelt ein conceit aus und entwickelt es zu einer argumentatio, die Dame müsse ihn doch einlassen. Das ist das Hauptthema des Gedichtes: »The conceit itself is the idea . . . when you grasp the conceit you have the idea of the poem«38. Zum conceit leitet der amant mit »jenem Heuhaufen« (»y mwdwl gwair«, 8) über, den er offenbar (wie der bestimmte Artikel y des Originals es voraussetzt) in der Nähe sieht und der ihm doch Schutz vor dem Unwetter bietet. Schlimmer kann es dort auch nicht sein, meint er. Von hier an sinnt der amant (analog zu Richard I I . im Verließ), wie er am kunstvollsten den Heuhaufen, in dem er sitzt, mit der Angebeteten vergleichen kann: »Dawn ym dy fod yn fwdwl — meine Dichtergabe zeigt Dich mir als Heuhaufen« (9). Wir fassen die Anrede in der zweiten Person Singular dabei so auf, daß sie gleichzeitig an den Heuhaufen und die Dame gerichtet ist. Wäre sie nur an den Heuhaufen allein gerichtet, so lohnte es sich kaum, darüber Worte zu verlieren, daß Du (»o Heuhaufen) ein Heuhaufen bist« {dy fod y η fwdwl, 9). Die Gleichsetzung wird (wie bei Richard II.) expressis verbis zum rhetorischen Selbstzweck: »Dawn ym — meine Dichtergabe zeigt mir ...«. Der Heuhaufen ist genau der richtige Ort, 87 88

op. cit. S. 667.

Bonamy Dobrée (zitiert von Tuve 326 Anm. 47) sagt dies zwar von Andrew Marvell, aber es stimmt audi von D a f y d d ap G w i l y m .

Herbert Pilch

22

so meint der sich selbst als »Diener der Dichtkunst« (gwas gwawd, 14) titulierende Sprecher, »um an der Kunst zu beißen«, d. h. sich an der Dichtkunst zu versuchen (da le i gnoi gwawd, 18). Er gründet seinen Vergleich auf die Polysemie dreier landwirtschaftlicher termini technici: lladd >tötenGras mähenankleidendas Heu tretenzwängenmähen< und >tötenciceronianischen< Latein als Voraussetzung des eigenen Schaffens, des gegenseitigen Verstehens wie des Wirkenwollens 25 , so daß als Zeitcharakteristikum der ErasmusMorus-Korrespondenz der Geist des Renaissance-Humanismus gelten muß, wie er seit dem 15. Jahrhundert durch italienische Gäste in England und durch englische Italienfahrer auf der Insel Einzug gehalten26 und noch vor Ende des 15. Jahrhunderts so reiche bodenständige Früchte getragen hatte, daß Erasmus bei seinem ersten Englandaufenthalt 1499 voller Bewunderung an Robert Fisher schreiben konnte : . . . Wie mir England gefällt, fragst Du? . . . H i e r habe ich . . . soviel Geistesadel (humanitas) und Bildung (eruditio) getroffen, nicht die abgedroschene und banale, sondern die gewissenhaft gepflegte, klassische, lateinische wie griechische, so daß ich mich kaum nach Italien sehne . . Ρ

Nicht zuletzt aber hat das 16. Jahrhundert auch als Zeitalter der Reformation einem gehörigen Teil der Erasmus-Morus-Korrespondenz seinen Stempel aufgedrückt, indem die aktuell gewordenen Fragen biblischer Textgrundlagen des Glaubens hier den Gegenstand brieflicher Erörterung bilden, zwischen More und Erasmus freilich nicht in der literarisch-rhetorischen Form der Kontroverse, wohl hingegen in der für die Reformationszeit ebenfalls charakteristischen Form der Apologie in Verteidigung der geistigen Position des Freundes gegen Angriffe Dritter. Das ungleiche Zwillingspaar Erasmus war 67, als er, ein alter, ausgezehrter, von allen hochgeachteter Mann, auf dem Krankenlager starb, ehrenvoll bestattet im Basler Münster, nach einem rastlosen Leben, ständig unterwegs zwischen den Niederlanden, Paris, Italien, England, Freiburg und Basel, überall und nirgends zu Hause, stets in Sorge, sich zwischen den politischen, geistigen und religiösen Fronten der Zeit nicht zu binden, nicht festgelegt zu werden, besser noch: eine eigene, dritte Kraft zwischen den Parteiungen zu sein. Mit 33 Jahren war 25 Cf. etwa Sr. M . Rosenda Sullivan, A Study of the >Cursus< in the Works of St Thomas More , phil. Diss. Catholic University of America, Washington D . C . 1943, oder zur Epistolographie Hubertus Schulte Herbrüggen in Sir Thomas More : Neue Briefe, Münster 1966, S. x i i - x l v , und neuerlich U w e Baumann, Die Antike in den Epigrammen und Briefen Sir Thomas Mores, phil. Diss, (maschschr.), Düsseldorf 1982, S. 2 3 1 - 6 . 26 Cp. Walter F. Schirmer, Der englische Frühhumanismus, Leipzig 1931 u. ö.; Roberto Weiss, Humanism in England during the Fifteenth Century, Oxford 2 195 7. 27

Allen N r . 118.

3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

Hubertus Schulte Herbrüggen

34

Erasmus bereits berühmt, als er 1499 zum ersten Male nach England kam und zuerst mit More zusammentraf, wie John Colets Brief zeigt: . . . D u bist mir bereits durch Deinen R u f und durch das Zeugnis einiger Deiner Schriften empfohlen. Als ich in Paris war, wirkte der N a m e Erasmus im Munde der Gelehrten Wunder. Dein Brief, den D u in Bewunderung seiner Fähigkeiten an Gaguin geschrieben hast, bot mir, als ich ihn las, das beste Muster und Beispiel menschlicher Vollendung, bewundernswerter Neigung zu Gelehrsamkeit und umfassender Erkenntnis auf vielen Gebieten . . . 2 8

More hingegen war 58, als er nach fünfzehnmonatiger Kerkerhaft durch eine Exekution als »Hochverräter« brutal aus dem Leben und aus seinem harmonischen Familienkreis gerissen wurde, an unbekannter Stelle an der Towerkirche St Peter ad Vincula verscharrt, nach fast zwanzig Jahren gewissenhafter Pflichterfüllung für seinen König, in dessen Dienst er sich freiwillig und bewußt gestellt hatte, um seinem Land zu dienen. Kein Weltbürger wie Erasmus, sondern jeder Zoll ein Engländer, ein Londoner, wenngleich weltoffenen Geistes. Nicht: eigene, dritte Kraft zwischen den Fronten, sondern ein Mann mit klaren, eindeutigen Positionen: »Nie habe ich daran gedacht, einer Sache zuzustimmen, die gegen mein Gewissen gewesen wäre« 29 . Für seine Gewissensentscheidung legte More 1535 mutig seinen Kopf auf den Richtblock. Als er 1499 Erasmus erstmals begegnete, war More etwa 22 Jahre alt, soeben Anwalt geworden, ein unbeschriebenes Blatt, »young More« hieß er in aller Munde. Der erste uns erhaltene Brief seiner Korrespondenz stammt von Erasmus — in dessen Briefwechsel ist es der 114! Ein gewichtiger Unterschied. Bereits bei dieser ersten Begegnung wird deutlich, daß »young More« im Leben des Erasmus eine andere Stellung einnimmt, als der um fast ein Jahrzehnt ältere, bereits in ganz Europa angesehene Erasmus im Leben Mores. Erasmus war ein Ordensmann, den es im Kloster nicht hielt, ein Priester, der sich von Habit, Seelsorge und Feier der Liturgie hatte suspendieren lassen, um sich ganz den freien Wissenschaften zu widmen. — Thomas More entschied sich, nachdem er vier Jahre ohne Gelübde in der Londoner Kartause gelebt hatte, nach reiflichem Prüfen für ein Leben in der Welt, hatte eine Familie gegründet, für die er als liebevoller Vater sorgte. Nach vielversprechenden Ansätzen hatte er die Wissenschaften an den Nagel gehängt und diente mit seiner ganzen Arbeitskraft dem König. Dennoch blieb er den mönchischen Idealen der Kartäuser treu: unter der Robe des Staatsmanns trug er weiterhin das härene Hemd, Nachtwachen und monastisches 28

Allen N r . 106.

29

Cp. More an seine Tochter Margaret Roper, Rogers N r . 211.

Briefe der Freundschaft

35

Gebet begleiteten noch den Lordkanzler, noch den Häftling in der Towerzelle. Beispiele der Freundschaft

aus den Briefen

1. Werben um Freundschaft Der erste uns erhaltene Brief des Erasmus an More datiert vom 28. Oktober 1499 aus Oxford. Der Rotterdamer weilte damals auf Einladung seines Schülers und Mäzens, Lord Mountjoy, zum ersten Male in England. Eine erste Begegnung mit More (damals 22 Jahre alt) war bereits voraufgegangen, ebenso ihr gemeinsamer, doch für Erasmus völlig überraschender Besuch im Palast von Eltham, wo Erasmus sich plötzlich dem neunjährigen Prinzen Heinrich (dem späteren Heinrich V I I I . ) gegenübersah30, ohne als gefeierter Dichter ein Gastgeschenk präsentieren zu können 31 . Es ist bemerkenswert, daß es der um fast ein Jahrzehnt ältere Erasmus ist, der — trotz seines Ärgers wegen jenes Überraschungsstreichs Mores — um die Freundschaft des Jüngeren wirbt, nun freilich nicht mehr mit jener schmachtenden Überschwenglichkeit des Jünglings, wie zwölf Jahre zuvor im Kloster Steijn bei seinem Werben um Servatius Rotger 32 . E R A S M U S an More

Oxford, 28. O k t . 1499

Es ist kaum möglich, die schrecklichen Flüche schriftlich wiederzugeben, die ich dem Briefboten an den K o p f geworfen habe, dessen Achtlosigkeit oder Niedertracht wohl der Grund ist, der mich um einen lange überfälligen Brief meines Freundes More gebracht hat. D e n n weder darf noch w i l l ich annehmen, daß D u Deine Pflichten etwa vernachlässigt hättest, wenn auch die Schelte in meinem letzten Brief etwas hart ausgefallen war. Dennoch befürchte ich nicht, daß mein Freimut Dich verstimmt hat, ist D i r doch die alte spartanische Sitte, den Feind unablässig neu anzugreifen, wohlvertraut. Scherz beiseite, mein lieber More, bitte mache — mit Zinsen — alle Schäden wieder gut, die ich infolge meiner Trennung von D i r und meines überlangen Wartens, von D i r zu hören, erleide. Ich erwarte daher nicht nur einen einzelnen Brief, sondern gleich ein ganzes Paket davon, groß genug, selbst einen ägyptischen Lastenschlepper in die Knie zu zwingen. Falls es dort bei Euch den guten Wissenschaften Verschworene gibt, so mußt D u sie ermutigen mir zu schreiben, so daß ich den Kreis meiner Freunde vollends abrunden kann; ich würde nicht wagen, ihnen zuerst zu schreiben und sie zur Antwort zu zwingen. D u hingegen hast nichts einzuwenden, wenn ich

30 Erasmus, Catalogus omnium lucubrationum, fatium.

Basel (Froben) 1523, C i , Prae-

31 Erasmus übersandte dem Prinzen dann kurz darauf das in drei Tagen komponierte Prosopopeia Britanniae maioris. Allen N r . 104; Cornells Reedijk, ed., Poems of Desiderius Erasmus, Leiden 1956, S. 248 - 53. 32

3*

C f . Allen N r . 4 - 9, 13, 15; cp. Reedijk, S. 143 - 52.

36

Hubertus Schulte Herbrüggen dem schreibe, der höchst leutselig ist und, davon bin ich überzeugt, audi mich sehr gern mag. Leb wohl, liebenswertester More. Oxford, Anno 1499, am Feste der hll. Simon und Judas 33 .

Erasmus hatte nicht vergeblich geworben. Zusammen mit More gewann er bei seinem ersten Englandaufenthalt auch dessen Freundeskreis, den ganzen Kreis der Londoner Humanisten der Jahrhundertwende, wie, gleichsam als ein erstes Echo, sein bereits zitierter Brief an Robert Fisher aus London vom 5. Dezember 1499 zeigt: H i e r habe ich . . . soviel Geistesadel und Bildung getroffen . . . , daß ich kaum mich nach Italien sehne. Wenn ich meinen Colet höre, so meine ich, Piaton selbst zu lauschen. Wer wunderte sich nicht über Grocyns Universalwissen? Gäbe es etwas Klügeres, Profunderes oder Schärferes als Linacres Urteilskraft? H ä t t e die N a t u r je etwas Freundlicheres, Liebenswerteres, Harmonischeres gebildet als das Genie des Thomas Morus? Aber was soll ich die übrige Liste weiter aufzählen? Es ist wunderbar zu sehen, wie voll und reich die Ernte hier allenthalben aus der Saat der Antike heranwächst.. , 3 4

2. Lob des Freundes Bevor Erasmus Ende Januar 1500 England wieder verließ, war die Freundschaft mit More und seinem Londoner Humanistenkreis fest geknüpft. Wohl unter dem Einfluß dieses Kreises, Colets zumal, wandten sich beide, Erasmus und More, nun ernsthaft dem Griechischstudium zu, das sie, auf Vorschlag Mores, beim zweiten England-Aufenthalt des Erasmus (Herbst 1505 bis Herbst 1506), dem »gräzistischen Zwischenspiel«, mit diebischer Freude an der geschliffenen Ironie zu gemeinsamen Übersetzungen der Dialoge Lukians aus dem Griechischen ins Lateinische nutzten 35 . More wählte den Cynicus, Menippus seu Necromantia, Philopseudes und die Tyrannicida, zu der Erasmus und More als Antwort je eine eigene Declamatio verf aß ten. More widmete seine Übersetzung dem Sekretär Heinrich V I I . , Thomas Ruthall3®, Erasmus widmete sie Richard Whitford, dem Sekretär des Bischofs von Winchester. Er nutzte diese Gelegenheit zu einem Lob seines Freundes More 37 : 33

Rogers N r . 1 ; Allen N r . 114.

34

Allen N r . 118.

35 Luciani viri ... complura opuscula, Paris (Badius) 1506; zu Lebzeiten Mores erfuhr das Werk noch 8 weitere Ausgaben. 36

Widmungsbrief Rogers N r . 5, »eine A r t Apologie für Lukian« (Joseph D e l -

court). 37

Allen N r . 191.

Briefe der Freundschaft E R A S M U S an Richard Whitford

37 A u f dem Lande, l . M a i 1506

Nachdem ich seit einigen Jahren ganz in der griechischen Literatur aufgegangen war, mein lieber Richard, habe idi kürzlich begonnen, lateinische Deklamationen zu schreiben, allein zu dem Zweck, die Ausdrücke jener Sprache mir wieder geläufig zu machen. Ich tat dies auf Empfehlung Mores, der, wie D u weißt, so voller Eloquenz steckt, daß er in der Auseinandersetzung unfehlbar jeden Gegner zu überzeugen vermag; ihm bin ich in Liebe so zugetan, daß ich ihm selbst dann gehorchen würde, wenn er mir befähle, Artist zu werden und auf dem Hochseil zu tanzen. M o r e behandelt das gleiche Thema [wie ich] m i t solcher Gründlichkeit, daß es nicht einen Punkt gibt, den er nicht untersucht und Rechenschaft über ihn ablegt. Ich glaube (wenn das M a ß meiner Liebe zu ihm mich nicht täuscht), daß die N a t u r nie einen lebendigeren Geist erschaffen hat, einen flinkeren, scharfsichtigeren oder klareren — kurz, einen mit vollkommeneren Talenten ausgestatteten, als ihn. U n d seiner Verstandesschärfe ebenbürtig ist die Kraft seines Ausdrucks. Darüber hinaus verfügt er über ein außergewöhnliches Wesen und über viel W i t z , doch ist sein W i t z gutmütig. D u findest so, daß es ihm nicht an einer Eigenschaft mangelt, die ein guter Advokat braucht. Es war daher, als ich dies zu schreiben begann, nicht meine Absicht, m i t einem so befähigten A n w a l t in Konkurrenz zu treten oder gar, ihn auszustechen, sondern lediglich mit ihm gleichsam in einen Ideenwettstreit einzutreten, mit diesem geistesverwandtesten meiner Freunde, in dessen Gesellschaft es mir Spaß macht, Scherz mit Ernst zu verbinden. Ich habe dies um so bereitwilliger getan, weil ich größten Wert darauf lege, daß diese, nach meinem Dafürhalten erfolgversprechendste A r t des Übens eines Tages in unseren Schulen wieder zu neuem Leben erwacht. Der Mangel hieran, glaube ich, ist der einzige Grund, weshalb in unserer Zeit, trotz der Myriaden, welche die Seiten der sprachgewandtesten Autoren lesen, es dennoch so wenige sind, die nicht völlig unartikuliert dastehen, wenn die Gelegenheit einen Redner erfordert. Wenn wir jedoch den Lehren Ciceros und Quintillians folgen wie auch den allgemeinen Regeln der A n t i k e , und von Jugend auf uns in Übungen dieser A r t trainieren, dann, glaube ich, würden wir weniger von jener A r m u t des Ausdrucks, jenem jammervollen M a n gel an Stil und jenem schändlichen Gestammel sehen, das wir selbst unter öffentlichen Professoren der Redekunst heutzutage antreffen . . .

3. Verteidigung

des Freundes

Bei seinem dritten England-Aufenthalt (Ende Juni 1509 bis Frühjahr 1511) schrieb Erasmus im Hause Mores sein Encomium Moriae nieder, zu dem ihn der Name seines Freundes beim Ritt über die Alpen inspiriert hatte. Ihm widmet er auch dieses geistsprühende Meisterwerk humanistischer Ironie und beschließt seine Zueignung mit den Worten: Vale, disertissime More, et Moriam tuam gnaviter defende™. »Lebwohl, höchstberedter More, und verteidige Deine Moria mit Eifer!« Hierzu sollte sich noch hinreichend Gelegenheit bieten. 38

Widmungsschreiben Erasmus' an More, Rogers N r . 7 / Allen N r . 222.

Hubertus Schulte Herbrüggen

38

1511 erschien das Lob der Torheit dann bei Gilles de Gourmont in Paris 39 und wurde sogleich zum Bestseller. Erasmus selbst erlebte noch fünfzig weitere Ausgaben. Traditionalisten unter den Löwener Theologen witterten Unorthodoxie und einen getarnten Angriff auf ihren Lehrbetrieb. Sie steckten sich hinter ihren jungen und noch etwas ahnungslosen Kollegen, Martin van Dorp, und drängten ihn zu einer Kontroverse gegen das Lob der Torheit und gegen Erasmus' Plan für ein gedrucktes Neues Testament in griechischer Sprache40. Erasmus 41 sowohl wie More 42 verfaßten lange, detaillierte Erwiderungen, unterdrückten jedoch deren Veröffentlichung 43. Erasmus' gekürztes Antwortschreiben an Dorp ist uns nicht erhalten 44, wohl hingegen Mores »Epistola ad Dorpium«, die zuerst 1563, also fast vier Jahrzehnte nach Dorps Tod, unter Mores lateinischen Werken im Druck erschien45. Nach einer sehr versöhnlichen Einleitung schreibt More: . . . Wie ich seiner [Erasmus*] Antwort entnehme, hat er diesen Brief [Dorps] nie erhalten, wohl jedoch eine Abschrift davon gelesen, die ihm, so wie mir, jemand gegeben hatte. I n diesem Brief erhebst D u einige Vorwürfe gegen sein Lob der Torheit und forderst ihn auf, ein »Lob der Weisheit« zu schreiben; und was seinen Plan, den Text des Neuen Testaments mit H i l f e griechischer H a n d schriften zu verbessern, betrifft, so stimmst D u so wenig zu und setzt ihm darin so enge Grenzen, daß D u Dich praktisch gegen das Gesamtvorhaben stellst . . . Aber — wenn die Torheit jemandem ein solches Ärgernis ist, daß es notwendig erschien, Erasmus aufzufordern, einen Widerruf zu verfassen, Dorp aber nach seinem eigenen Zeugnis und völlig freiwillig aufgefordert war, Erasmus' Partei zu ergreifen, warum nur schrieb er dann diesen Brief? Wenn er glaubte mahnen zu müssen, warum mahnte er nicht persönlich und in Gegenwart des Erasmus? . . .

Und weiter: Was Deinen zweiten Brief betrifft, der mit unglücklichen Folgen nun weite Verbreitung gefunden hat, so möchte ich meinen, daß hierin keine Absicht von D i r gelegen haben kann und er die Öffentlichkeit nur durch Zufall erreicht hat . . . weil es in jenem Brief ein paar Dinge gibt, die, wenn D u ihn hättest veröffentlichen wollen, doch lieber abgeändert hättest, da sie nicht ganz das sind, was man über ihn sagen oder D u selbst schreiben würdest. D u schriebest nämlich sonst nicht in so harten Worten über einen so bedeutenden Freund oder über einen Mann, der so gelehrt ist wie er, derart kurzab . . . U n d was die Späße und Sticheleien betrifft, von denen Dein ganzer Brief übervoll ist, so zweifle ich nicht, daß D u sie sehr viel sparsamer oder, mein lieber Dorp, doch wenigstens klüger verwandt hättest . . . Sehr beunruhigt bin ich hingegen darüber, daß D u in Deiner Schrift den Eindruck erweckst, Erasmus in einer Weise anzugreifen, die 39

Moriae encomium. Er asmi Roterodami

40

D o r p an Erasmus, c. Sept. 1514; Allen N r . 304.

41

C. Ende M a i 1515; Allen N r . 337.

42

21. O k t . 1515; Rogers N r . 15.

declamatio.

43

Cp. Rogers N r . 1 6 , 1 . 1 5 7 ; Rogers N r . 75,1. 51.

44

C f . Allen, Einführung zu N r . 317.

45

LucubrationeSy

365 - 428.

Briefe der Freundschaft

39

weder i h m noch D i r zuträglich ist. D u behandelst ihn bisweilen, als ob D u ihn verachtetest, bisweilen, als ob D u ihm nicht einen R a t erteiltest, sondern ihn ausschiltst wie einen unnachgiebigen Tadler oder harten Zensor, als brächtest D u alle Theologen und selbst die Universitäten gegen ihn auf . . . 4 e

More zieht ferner in seinem Brief einen Unterschied zwischen wahrhaft gelehrten Theologen und rückständigen Opponenten gegen die humanistische Devise ad fontes! Von der Vernunft und der Textkritik her argumentierend, stellt er heraus, daß viele Revisionen und Emendationen des Bibeltextes durch befähigte Gelehrte erforderlich sind, bevor ein vollkommen authentischer lateinischer Text erstellt werden kann. Er betont gegenüber Dorp, Aberglaube und Unwissenheit, nicht die Wissenschaft sei der Feind der Religion. More gelangte mit seiner freundlich ermahnenden Zurechtweisung an das nur selten erreichte Ziel einer erfolgreichen »Bekehrung« seines Kontrahenten Dorp, der in einer öffentlichen Vorlesung im Löwener Collegium Trilingue seinen Irrtum eingestand — später jedoch erneut zurückfiel. In ähnlicher Weise verteidigte More Erasmus noch mehrfach, so gegen die Angriffe Edward Lees, wie More zugleich auch versuchte, Erasmus von seinem Gegenangriff gegen Lee abzuhalten47. Ein weiteres Mal stellte er sich schützend vor seinen Freund durch seinen »Letter to a Monk« 48 . 4. Bildnisse als Freundesgabe Neben persönlichen Briefen, neben Widmungen und eigenen Büchern dient das Bild des Freundes, dem Freunde geschenkt als stete eigene Gegenwart wenigstens im Bilde, seit je als ein besonderes Zeichen naher Verbundenheit: siehe, ich bin immer bei dir, wir gehören auf immer zusammen. Wir sind in der glücklichen Lage zu wissen, daß beide Freunde sich in ihrem Bildnis dem andern geschenkt haben. Erasmus-und-Aegidius-Diptychon

von Quentin Metsys 49

I m Frühjahr 1517 bestellten die beiden niederländischen Freunde Erasmus und Petrus Aegidius (Pieter Gilles) bei Quentin Metsys, dem führen46

Rogers N r . 15.

47

Rogers N r . 48, 75, 84, 85.

48

Rogers N r . 83.

49

Das Original des Erasmus-Portraits befindet sich in H a m p t o n Court im Besitz der Königin von England, eine Kopie in der Galleria Nazionale d'Arte Antiqua in Rom; das Bildnis des Aegidius i m Besitze des Earl of Radnor hängt auf Longford Castle. Über die spannende Identifizierung berichten: L o m e Campbell, M a r -

Hubertus Schulte Herbrüggen

40

den Maler Antwerpens, ihre Bildnisse in Form eines Diptychons als Freundesgabe für den Dritten im Bunde, für Thomas More (Abbildung l ) 5 0 . Erasmus ist dargestellt in der Pose des Gelehrten am Schreibtisch inmitten seiner Bücher, ein Pendant zugleich zu Aegidius' Position zur rechten wie auch zum ikonographischen Typus des »Hieronymus im Ghäus«. Erasmus schreibt an seiner Paraphrase des paulinischen Römerbriefs, womit er damals tatsächlich beschäftigt war 51 , wobei der Künstler die Handschrift des Erasmus täuschend echt nachahmt. Auf der Versoseite erkennt man das Schlüsselwort gratia. Eine Reihe von Büchern liegt auf dem Regal, so daß man ihre Titel lesen kann: die (in Mores Haus entstandene) Moria, der griechische Lukian (den er einst gemeinsam mit More übersetzt hatte), das Neue Testament und der Hieronymus (mit dem More in seinen Verteidigungsbriefen Erasmus gern verglich): Erasmus als Bildnis, Erasmus bei der Arbeit, Erasmus in seinen Werken. Petrus Aegidius, der gebildete Stadtschreiber von Antwerpen, dem More 1515 auf seiner Gesandtschaftsreise dort begegnet war und in dessen Garten die Szene mit Raphael Hythlodaeus' Bericht von der »neuen Insel Utopia« gespielt hatte, war More seither in Freundschaft verbunden, wie die erhaltene Korrespondenz zeigt 52 . Metsys malt den Aegidius mit den Attributen seines bürgerlichen Wohlstands, seines politischen Amtes und seiner humanistischen Bildung: in pelzbesetzter Robe am Schreibtisch seines Büros mit Briefen, Sandstreuer und Büchern, unter denen man Plutarch, Seneca, Sueton, Curtius Rufus, Archontopaideia und die Antibarbari erkennt, alles Bücher, die ihn mit Erasmus (als Autor oder Herausgeber) verbinden. Seine Linke hält einen von More — in ebenfalls täuschender Nachahmung der Handschrift — an ihn gerichteten Brief 53 . Die Überreichung der Bildnisse im Herbst 1517 begleiteten mehrere uns erhaltene Briefe 54, darunter das Begleitschreiben Erasmus' an More, das er dem überbringenden Pieter Meghen, »dem Einäugigen«, mitgab: garet M a n n Phillips, Hubertus Schulte Herbrüggen, J. B. Trapp, »Quentin Metsys, Desiderius Erasmus, Pieter Gillis and Thomas More«, Burlington Magazine, C X X , N r . 908 (Nov. 1978), S. 716 - 24. 50

Nach S. 40. Cf. Allen N r . 584.

51

Erschienen im N o v . 1517 bei D i r k Martens (dem Drucker der Utopia) Löwen. 52

zu

Rogers N r . 25, 41 a, 47.

53

Alfred Woltmann entzifferte vor hundert Jahren die heute weitgehend unleserlich gewordenen Worte als Viro Illustrissimo Petro Egidio Amico charissimo Antwerpiae, in Holbein und seine Zeit, Leipzig 2 1876, S. 12. 54 Rogers N r . 4 4 / A l l e n N r . 654; Rogers N r . 4 5 / A l l e n N r . 669; Rogers N r . 4 6 / Allen N r . 683 an Aegidius mit zwei Epigrammen zum D a n k ; Rogers N r . 4 7 / A l l e n N r . 684.

Briefe der Freundschaft

41

Ich habe mich D i r durch den einäugigen Petrus geschickt, der z u diesem Zweck einen U m w e g über Calais macht. Es gibt keinen G r u n d , i h m etwas z u schenken, es sei denn 10 oder 12 Groschen f ü r seine Wegzehrung; f ü r alles andere haben w i r gesorgt. W e n n D u doch einfach hierher fliegen könntest! W i r beide w ü r d e n Wiederaufleben; denn als ich versuchte, Pieter G i l l i s wieder auf die Beine z u helfen, bekam ich eine schreckliche Grippe, die mich so plagt, daß i d i fast gestorben wäre . . . 5 5

More empfing das Doppelbildnis seiner Freunde während seiner Gesandtschaftsreise i n Calais. Er muß v o n der Freundesgabe sehr bewegt gewesen sein, denn er bedankt sich bei Erasmus m i t folgenden W o r t e n : Endlich, mein lieber Erasmus, hat Petrus der Einäugige D e i n u n d unseres A e g i dius* lang ersehnte Bildnisse überbracht. Eine w i e große Freude sie m i r bereitet haben, ist f ü r jeden leichter aus seinen eigenen Empfindungen z u ermessen, als f ü r mich zu sagen. D e n n wer vermöchte i n W o r t e z u kleiden oder empfände nicht i n Gedanken, w i e hingerissen ich v o m A n b l i c k meiner Freunde b i n — deren Bildnisse, m i t K r e i d e oder K o h l e skizziert, schon jeden erfreuen müßten, der n i d i t f ü r jedes G e f ü h l der Gelehrsamkeit u n d der Tugend abgestumpft ist — , die n u n i n so k u n s t v o l l gezeichneten u n d ausdrucksvollen B i l d e r n v o r m i r stehen, daß sie alle M a l e r der A n t i k e herausfordern. W e r immer sie betrachtet, dem erscheinen sie fast eher als W e r k e der Gußkunst oder der Bildhauerei denn als ein Gemälde, so plastisch treten die wirklichkeitsgetreuen menschlichen Züge hervor. D u magst nicht glauben, mein lieber Erasmus, w i e sehr meine Liebe zu D i r — v o n der ich überzeugt w a r , daß ich nichts mehr i h r hinzufügen könne — durch D e i n Bemühen, uns noch enger z u verbinden, gesteigert w u r d e oder w i e ich über die E h r e t r i u m p h i e r e , i n D e i n e m Ansehen so hoch oben z u stehen, daß es niemanden gibt, dessen Liebe D u meiner vorziehst. D e n n , so interpretiere ich f ü r w a h r — stolz zwar, aber dennoch ! — was D u m i r übersandt hast, soll nicht n u r Tag u m Tag, sondern jede Stunde meine E r i n n e r u n g an D i c h wachhalten. Ich weiß, ich b i n meinerseits f ü r D i c h so durchschaubar, daß ich m i r keine große M ü h e zu geben brauche D i r z u beweisen, daß ich — o b w o h l nicht frei v o n v i e len anderen Torheiten — wenigstens v o n den Schwächen des Thraso frei bin. A b e r dennoch, u m die W a h r h e i t z u sagen, k a n n ich nicht tatsächlich jene Lust am R u h m ablegen, die mich d a n n so hübsch k i t z e l t , w e n n m i r einfällt, daß ich der fernen N a c h w e l t durch meine Freundschaft m i t Erasmus i n E r i n n e r u n g bleiben werde, bezeugt durch Briefe, Bücher u n d Bildnisse — k u r z , i n jeder n u r möglichen Weise. Ich w o l l t e , es stünde i n meiner M a d i t , durch irgendein sichtbares Zeichen z u beweisen, daß ich der Liebe eines solchen Mannes nicht u n w ü r d i g bin, die i n seiner eigenen u n d i n k ü n f t i g e n Zeiten nicht seinesgleichen h a t ! D a solch ein Beweis, der die W e l t überzeugte, meine bescheidenen Fähigkeiten jedoch bei w e i t e m überstiege, so w i l l ich jedenfalls versuchen, allein durch D e i n Zeugnis wenigstens z u beweisen, daß ich nicht u n d a n k b a r b i n . . . Ich habe Deinen Schreiber nach E n g l a n d geschickt u n d i h m 10 Groschen Wegzehrung gegeben, Peter jedoch einen Goldnobel, f ü r das Überbringen der P o r traits sehr w e n i g z w a r , doch er hielt das f ü r angemessen . . . 5 e 55

Rogers N r . 45 / A l l e n N r . 669, 11.1 - 6.

5e

Rogers N r . 4 6 / A l l e n N r . 683, 11.1 - 32; 46 - 48.

42

Hubertus Schulte Herbrüggen

Zeichnung der Familie Mores von Hans

Holbein

Seit Erasmus m i t dem Verleger Johann Froben in Basel in Verbindung gekommen war (1514), hatte der junge Hans H o l b e i n wiederholt Titelbordüren für seine Werke gestaltet (so für die Utopia und die Epigrammata von 1518), Initialen entworfen und seine Moria m i t köstlichen Randzeichnungen illustriert (1515) 5 7 . Als i n Basel die Reformation Oberhand gewann, wurde der Kirchen- und Altarbildmaler H o l b e i n brotlos. Erasmus bemühte sich, ihm durch Empfehlungen an seine Freunde in den Niederlanden und in England neue Arbeit zu verschaffen. So schrieb er Ende August 1526 aus Basel an seinen Freund Aegidius i n A n t w e r p e n : . . . der dies überbringt, ist der, der mich gemalt hat. Ich w i l l D i d i m i t seiner E m p fehlung nicht belasten, wenngleich er ein ausgezeidineter M a l e r ist. Falls er Q u e n t i n Metsys zu sehen wünscht, brauchst D u i h n nicht selbst hinzuführen, D u kannst i h m durch einen Dienstboten das Haus zeigen lassen. H i e r frieren die Künste; er geht daher nach England, u m ein paar Engelstaler zu verdienen. Durch i h n kannst D u , w e n n D u w i l l s t , schreiben. . . . 5 8

Auch seinem Freunde More empfahl er Holbein, doch ist uns dieser Erasmusbrief nicht erhalten 5 9 , w o h l hingegen Mores A n t w o r t an Erasmus v o m 18. Dezember 1526: D e i n Maler, mein lieber Erasmus, ist ein wunderbarer Künstler, doch fürchte i d i , er w i r d England nicht so ergiebig u n d fruchtbar finden, w i e er hoffte. Dennoch w i l l i d i alles t u n , d a m i t er es nicht ganz u n d gar unfruchtbar finde . . . e 0

More hielt großartig W o r t . Bevor er H o l b e i n an seine wohlhabenden Freunde und an den königlichen H o f vermittelte, wurde er selbst erster Auftraggeber Holbeins i n England. E i n monumentales Familienbildnis 0 1 — das erste Gruppenportrait nördlich der A l p e n — , ein prächtiges Einzelbildnis Sir Thomas 6 2 und L a d y Alice Mores 6 3 , eine Reihe v o n Einzelzeichnungen der Familienmitglieder als Kopfstudien 6 4 sowie M i n i a t u r e n 6 5 präsentieren 57 Offenbar auf Veranlassung ihres gemeinsamen Freundes O s w a l d Geisshübler (Myconius) i n einem Exemplar der Froben-Ausgabe der Moria (1515) entstanden, heute i m Kunstmuseum Basel b e w a h r t ; cf. A l l e n , E i n f ü h r u n g zu N r . 394. 58

A l l e n N r . 1740, 1 1 . 2 0 - 2 5 .

59

C f . Allens A n m e r k u n g 1 zu N r . 1770.

00

Rogers N r . 148 / A l l e n N r . 1770, 11. 71 - 74.

61 Wahrscheinlich i n O l m ü t z verbrannt. C f . Stanley M o r i s o n u n d Barker, The Likeness of Thomas More , L o n d o n 1963, N r . 401. 62 63

Nicolaus

N e w Y o r k , Frick Collection. Morison/Barker, N r . 3.

Corsham C o u r t , L o r d Methuen. C p . P a u l Ganz, The Paintings bein y First Complete Edition , L o n d o n 1950, N r . 42, T a f e l 76.

of Hans

Hoi -

64 Windsor Castle, Η . M . The Queen. Morison/Barker, N r . 1, 2 ; Κ . T . Parker, The Drawings of Holbein at Windsor Castle , O x f o r d / L o n d o n 1947, N r . 1 - 8 . 05 Morison/Barker, N r . 1 0 1 - 1 0 6 ; Trapp/Schulte Herbrüggen, The King's Servant y N r . 174.

Good

Briefe der Freundsdiaft

43

die breite Palette der Fähigkeiten des auf der Insel noch unbekannten Malers u n d zählen zu den reifsten Früchten seiner Kunst während seines ersten England-Aufenthalts (1526—28). Ist uns das große Familiengemälde Mores heute nur noch i n Kopien erhalten 6 6 , so besitzen w i r doch das O r i ginal Holbeins der Gruppenstudie als Federzeichnung ( A b b i l d u n g 2 ) 6 7 . M i t Angaben v o n N a m e n u n d A l t e r der Familienangehörigen aus der H a n d des Nürnberger Astronomen N i k o l a u s Kratzer (als T u t o r i m Hause Mores tätig) versehen 68 , übersandte More dieses Bildnis seiner ganzen Familie als Freundesgabe für Erasmus, als H o l b e i n i n die Schweiz zurückreiste. A m 5. September 1529 schreibt Erasmus bestätigend aus Freiburg an M o r e : Ach, wäre es mir dodi einmal in meinem Leben noch vergönnt, die mir allerliebsten Freunde von Angesicht zu sehen, welche ich indes in dem Bilde, das Holbein überbracht hat, mit größt-denkbarer Freude betrachte. . . . 6 9

U n d am gleichen Tag bedankt er sich ebenfalls bei Mores Tochter Margaret Roper: Worte vermögen kaum auszudrücken, Margaret Roper, D u Zierde Deines Britanniens, welch große Freude mich zutiefst befiel, als der Maler Holbein mir Eure ganze Familie vorstellte, so erfolgreich wiedergegeben, daß, wenn ich selbst dabei gewesen wäre, idi nicht viel mehr gesehen hätte. Häufig wünsche ich bei mir, daß mir vor meiner Sterbestunde noch einmal vergönnt sei, jene Gemeinschaft wiederzusehen, die mir die liebste ist. I h r verdanke idi ein gut' Teil — was immer es sei — meines Glücks und meines Ansehens und keinem Sterblichen schulde ich etwas mit größerer Freude. Die geniale H a n d des Künstlers hat mir einen nicht geringen Teil meiner Bitte erfüllt. Ich habe jeden erkannt, niemanden aber besser als Dich. M i r schien, idi sah durch ein wundervolles H e i m einen noch wunderbareren Geist strahlen. Fürwahr, ich beglückwünsdie Euch alle zu diesem Glück, vor allem aber Deinen besten Vater . . . 7 0

Briefportrait

Mores von Erasmus für

Hutten

H a t t e n Erasmus u n d Aegidius i m eigenen Portrait sich dem Freunde More geschenkt, hatte More — ein D u t z e n d Jahre später — sich durch Übersenden des Bildes seiner selbst i m Kreise seiner großen Familie bei Erasmus revanchiert, w a r somit der wechselseitige Austausch des Ichs dem alter ego, des Freundes dem Freunde, vollzogen, so verstand es Erasmus, diesem Freundschaftgeflecht noch einen neuen Faden einzuweben, indem er das 66

Morison/Barker, N r . 403, 404; cp. Trapp/Schulte Herbrüggen, zu N r . 1.

67

Nach S. 42. Kunstmuseum Basel. Morison/Barker N r . 402; Trapp/Schulte Herbrüggen, N r . 169. 68 Otto Pacht, »Holbein and Kratzer as Collaborators«, Burlington L X X X I V (1944), S. 134 - 139. 69

Rogers N r . 175 / Allen N r . 2211,11. 76 - 79.

70

Rogers N r . 1 7 6 / A l l e n N r . 2212,11.1 - 13.

Magazine,

Hubertus Schulte Herbrüggen

44

B i l d seines Freundes More für einen anderen Freund i n der Ferne »malte« 7 1 . Entsprechend seiner Begabung nahm Erasmus dazu statt des Pinsels des Malers die Feder des Literaten: er malte ein Briefportrait Mores, das er am 23. J u l i 1519 an den fränkischen Reichsritter u n d poeta laureatus U l r i c h v o n H u t t e n sandte 72 . Dieser lateinische Brief ist zugleich die erste Kurzbiographie Mores (der weitere Skizzen der Familie Mores aus Erasmus' Feder, so 1521 an Guillaume Budé/Budaeus 73 oder 1533 an Bischof Johann Faber v o n W i e n 7 4 folgen sollten). I h r verdanken w i r wichtige, sonst nicht überlieferte Einzelheiten zur Person Mores 7 5 . A m 13. November 1518 hatte Johann Froben More bedauert 7 8 , w e i l er durch seinen E i n t r i t t i n den Hofdienst Heinrichs V I I I . den schönen Künsten verlorengehe. Als Trost übersandte er Huttens Aula 77, gratulierte i h m aber gleichzeitig dazu, daß er zu den höchstangesehenen Dienern eines so glänzenden Herrschers zähle. Seine Utopia (die er i m Begriffe sei, ein zweites M a l i n diesem Jahre zu drucken) werde nicht allein England, sondern der ganzen W e l t ein Beispiel geben. H i e r i n sind bereits die beiden Stichwörter gefallen, die nicht nur Erasmus' Verleger Froben, sondern auch Erasmus selbst damals zutiefst berührten, Kunst und Wissenschaft auf der einen, praktische P o l i t i k auf der anderen Seite, contemplatio und actio. Sie bestimmen auch Erasmus' Briefportrait Mores für H u t t e n . I n seinem 11 Druckseiten langen Brief beginnt Erasmus bei der Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes Mores, geht alsdann über zu seinem durch Freundschaft, Heiterkeit u n d Bildung bestimmten Wesen u n d k o m m t schließlich zu Mores gestae , die durch seine Studien u n d seine Werke z u m einen, zum anderen durch sein praktisches H a n d e l n i n der Welt, in Familie, Juristenberuf u n d Staatsdienst bestimmt sind, gekrönt v o n seiner schlichten, 71 »Caeterum quod a me flagitas, ut tibi totum M o r u m velut in tabula deping a m . . . « und, zum Schluß, »Habes imaginem ad optimum exemplar a pessimo artifice non optime delineatam . . . « , Allen N r . 999,11.17 - 19; 296 f. 72

Allen N r . 999; zuerst gedruckt in Farrago

nova epistolarum,

Basel (Froben)

1519. 73

Allen N r . 1233.

74

Allen N r . 2750.

75

Cf. K a r l Büchner, Die Freundschaft zwischen Hutten und Erasmus , München 1948; Germain Marc'hadour, Thomas More vu par Erasme , Angers 1969; Yvonne Remy-Dumolin, Le portrait de Thomas More par Érasme«, in Hommages à Marie Delcourt (Collection Latomus, 114), Bruxelles 1970, S. 3 0 7 - 3 1 6 ; Randolph K l a witer, »More, Erasmus and Hutten«, Moreana , 67 (1980), S. 17 - 30. 76

Rogers N r . 67.

77

Aula. DialoguSy Ausgburg (Grimm und Wirsing) /Basel (Froben) 1518.

Briefe der F r e u n d s a f t

45

d u r c h G l a u b e n u n d feste H o f f n u n g b e s t i m m t e n F r ö m m i g k e i t . D i e s e n M o r e , diese a u s g e w o g e n e

Harmonie

z w i s c h e n actio

und

contemplatio

stellt

er

H u t t e n als leuchtendes V o r b i l d d e r F r e u n d s c h a f t v o r A u g e n , d a b e i a n H u t tens g e ä u ß e r t e B e w u n d e r u n g f ü r d e n A u t o r d e r Utopia ,

ü b e r d e n er m e h r z u

wissen begehrte, a n k n ü p f e n d : . . . Deine Vorliebe, ja Dein Vernarrtsein in das Genie Mores, von seinen Schriften entflammt, dem Gelehrtesten und Elegantesten, wie D u richtig schreibst, das man sich denken kann, werden von Vielen geteilt; bei More jedoch beruhen sie auf Gegenseitigkeit, denn er findet seinerseits ein solches Vergnügen am Geist Deiner Schriften, daß ich Dich fast beneide . . . 7 8 D a s W e s e n t l i c h e h i e r i s t n i c h t so sehr d e r f a s z i n i e r e n d e P e r s ö n l i c h k e i t e n z w i s c h e n d e m stets u m B a l a n c e b e m ü h t e n

Kontrast

der

Intellektuellen

Erasmus u n d dem humanistisch gebildeten H a u d e g e n i m R i t t e r k l e i d e

Hut-

t e n ; e i g e n t l i c h e r S i n n dieses B r i e f p o r t r a i t s i s t n e b e n d e m B e k u n d e n p e r s ö n l i c h e n W o h l w o l l e n s v o r a l l e m E r a s m u s ' W e r b e n u m d e n i n seiner O r i e n t i e r u n g n o c h s c h w a n k e n d e n H u t t e n , u m d u r c h dessen E i n b i n d e n i n d i e

ge-

f e s t i g t e H u m a n i s t e n f r e u n d s c h a f t m i t d e m — w i e er a m S c h l u ß seines B r i e f e s i n e i n e r g e z o g e n e n P a r a l l e l e a u s f ü h r t — i h m als V o r b i l d h i e r d a r g e s t e l l t e n , gleichfalls i n der a k t i v e n P o l i t i k engagierten T h o m a s M o r u s die k r a f t v o l l e virtù

H u t t e n s i n d e n D i e n s t d e r r e c h t e n Sache z u s t e l l e n : w e l c h e i n R a t -

geber f ü r w e l c h e i n e n K ö n i g ! V o n solcher A r t sind die Männer, die ein höchst verständiger König zu seinem Gefolge und in seine Gemächer Zutritt gewährt, nicht nur zuläßt, sondern einlädt, er zieht sie vielmehr mit aller Kraft an sich. Solche hat er als seine Kritiker und ständigen Zeugen seines Lebens um sich, als seine Ratgeber, als seine Reisegefährten. V o n ihnen umgeben zu sein erfreut ihn mehr, als von durch Luxus verdorbenen jungen Männern oder Weibsleuten, von kettengeschmückten Großen oder von heuchelnden Würdenträgern, von denen der eine ihn zu törichtem Genuß verlockt, der nächste zur Tyrannei anstachelt, der dritte ihm einen neuen Plan zur Ausbeutung des eigenen Volkes einflüstert. Hättest D u an diesem H o f gelebt, Hutten, so weiß ich, dann schriebst D u eine andere Aula und hörtest auf, ein Misaulos, ein Hasser des Hoflebens, zu sein; doch lebst auch D u bei einem Fürsten solcher A r t , daß D u D i r keinen besseren wünschen kannst 7 9 , noch mangelt es dort an Männern, die das Beste wollen, wie Stromer und Kopp. Was aber sind diese wenigen im Vergleich mit einem so großen Schwärm ausgezeichneter Männer wie Mountjoy, Linacre, Pace, Colet, Stokesley, Latimer, Morus, T u n stall, Clerk und anderer ähnlicher? Ein jeder dieser N a m e n bezeichnet sogleich eine ganze Welt an Tugenden und Begabungen. I d i habe die außerordentliche Hoffnung, daß Albrecht, heutzutage eine einzigartige Zierde unseres Deutschland, weiterhin viele ihm ähnliche in sein Gefolge aufnimmt und so den anderen Fürsten ein deutliches Zeichen gibt, damit sie, jeder für sich, ein gleiches tun . . . 8 0 78

Allen N r . 999,11.1 - 6.

79

Kurfürst Albrecht von Brandenburg, Kardinal-Erzbischof Magdeburg, Administrator des Bistums Halberstadt. 80

Allen N r . 999,11. 277 - 95.

von M a i n z

und

46

Hubertus Schulte Herbrüggen

E i n gutes halbes Jahr später, i m J u l i 1520, zählten Erasmus u n d H u t t e n als Kaiserliche Räte z u m Gefolge Karls V . bei dessen Besuch i n Brügge, w o zur gleichen Zeit More z u Verhandlungen m i t der Deutschen Hanse weilte. D a More bei dieser Gelegenheit m i t Erasmus zusammentraf, spricht vieles dafür, daß er damals auch H u t t e n begegnet ist 8 1 . Es entbehrt nicht der Ironie der Geschichte, daß Erasmus H u t t e n hier ausgerechnet Albrecht v o n Brandenburg als Dienstherren preist, w a r es d o d i gerade jener Albrecht, der die Gebühren für seine Pfründenhäufung, für deren Begleichung er bei den Fuggern Geld aufgenommen hatte, durch Ablässe decken wollte, die Tetzel vertrieb u n d gegen die Luther seine Thesen richtete. Sicher aber lag es nicht an dem hier vorgestellten Bildnisse Mores, wenn H u t t e n wenige Jahre darauf z u m Inbegriff eben jener gesetzlosen Gewalt i m Reiche werden sollte, die Erasmus wie More i n gleicher Weise verabscheuten. 5. Letzte Briefe A m 16. M a i 1532 — am Tage nach der >Unterwerfung des Klerus< unter den Suprematsanspruch Heinrichs V I I I . — w a r More aus Krankheitsgründen v o m Kanzleramt zurückgetreten. Vier Wochen später gibt er Erasmus davon Kenntnis: V o n Kindheit an fast habe ich mir immer gewünscht, mein lieber Erasmus, daß auch ich midi eines Tages dessen erfreuen möchte, was D i r ständig beschieden war, nämlich von allen öffentlichen Ämtern frei zu sein und endlich einige Zeit nur Gott und mir selbst leben zu können. N u n endlich ist dieser Wunsch wahr geworden dank der Güte des allmächtigen Gottes und der Gunst eines allergnädigsten Herrschers. Dennoch habe ich nicht ganz das, was ich wollte, erlangt. Meine Bitte war, diesen letzten Höhepunkt meines Lebens, gleich in welchem Alter, gesund und rüstig, oder doch ohne Krankheit und Leiden — soweit man das in diesem Alter erwarten darf — zu erreichen. Vielleicht war das etwas zu kühn; jedenfalls steht die A n t w o r t auf diese Bitte in Gottes H a n d . Denn inzwischen ist meine Brust von einer, ich weiß nicht, ob tödlichen Krankheit befallen. Nicht deren Schmerz und Pein kümmern mich so sehr wie die Sorge und Furcht vor deren Ausgang. Nachdem diese Krankheit midi fortgesetzt mehrere Monate lang geplagt hatte, befragte idi die Ärzte, die erklärten, eine soldie schleppende Krankheit könne gefährlich sein. Nach ihrer Meinung gebe es keine mögliche Schnellkur; die Heilung sei ein langwieriger und langsamer Prozeß, der geeignete D i ä t , Medikamente und Ruhe verlange. Sie sagten weder etwas über die Dauer der Krankheit, noch konnten sie etwa vollständige Genesung garantieren. Als ich diese Gedanken bei mir bewegte, wurde mir klar, daß ich entweder mein A m t aufgeben müsse oder es nicht recht mehr versehen könne, weil es mir un81 Hubertus Schulte Herbrüggen, Sir Thomas More: Neue Briefe, Münster 1966, S. 28 f.

Briefe der Freundsaft

47

möglich sein werde, die Verantwortung auszuüben, die das A m t erfordert, es sei denn, ich riskierte den Tod. I n diesem Falle müßte ich dann sowohl A m t wie Leben aufgeben. Deshalb entschied ich, lieber auf eines, als auf beides zu verzichten. Aus Sorge um die Staatsangelegenheiten wie um meine eigene Gesundheit, erbat ich die Güte unseres alleredelsten und ausgezeichnetsten Souverains, sich gnädigst meiner zu erbarmen und mir die überwältigende Bürde jenes höchsten Staatsamtes abzunehmen, mit dem er mich, wie D u weißt, begünstigt und in einer Weise ausgezeichnet hat, die mein Verdienst oder gar meine Wünsche bei weitem überstieg. So bitte ich denn alle Heiligen des Himmels, daß Gott, der allein die Macht dazu hat, in angemessener Weise diese Erweise freundlicher Gunst meines alleredelsten Königs vergelten möge und, um zu verhindern, daß ich jedwede Zeit, die Er meinem Leben noch hinzufügen mag, nidit in Nichtstun und Untätigsein vertue, Er mir sowohl den Geist schenke, diese guten Stunden recht zu nutzen wie auch dem Körper die Kraft verleihe, dies zu vollbringen . . , 8 2

E t w a ein Jahr darauf, 1533, datiert der letzte uns erhaltene Brief Mores an Erasmus 83 , i n dem More seinem Freunde den langen lateinischen Text seiner Grabinschrift m i t t e i l t , denn er hatte für sich i n seiner Pfarrkirche zu Chelsea ein Renaissance-Epitaphium errichten lassen 84 . Es ist dies vorweggenommene — oder vorausgeschaute — Todesanzeige u n d — i m kurzen Lebensabriß des Epitaphiums — Selbstportrait zugleich. E i n letztes M a l schenkt er sidi selbst, u n d sich selbst ganz, dem Freunde. More schließt m i t den vielsagenden Worten: Tu, mi Erasme , feliciter diu vale , felicissime semper. U n d D u , mein Erasmus, lebe lange und glücklich, am allerglüddichsten auf immer 8 5 .

I n seiner Steigerung v o m Positiv z u m »auf immer« geltenden Superlativ w i r d es — Mores letztes W o r t an seinen Freund — zu einem Wunsdi für die Ewigkeit. W a n n genau die Nachricht v o n der Hinrichtung Mores Erasmus tatsächlich erreicht hat, können w i r nur erschließen. A m 18. August spricht er i n einem Brief aus Basel an D a m i a n a Goes v o n Gerüchten über die Exekution, die Reisende aus Brabant mitgebracht hätten: » . . . Ich wünschte, ihre Gerüchte seien falsch . . .« 8 e . A m 24. August schreibt er ähnlich an Bartholomaeus Latomus: » . . . aber ich habe nichts Sicheres . . . « u n d fügt m i t leichtem Tadel hinzu: »Ach, wenn er sich doch nie i n das gefährliche Geschäft ein82

Rogers N r . 188 / Allen N r . 2659,11.1 - 36.

83

Rogers N r . 191 / Allen N r . 2831.

84

Das Epitaphium Mores überstand die Kriegszerstörungen der Chelsea Church nahezu unbeschädigt. 85

Rogers N r . 191 / Allen N r . 2831, 11. 70 f.

86

Allen N r . 3043.

Old

Hubertus S u l t e Herbrüggen

48

gemischt u n d theologische Fälle den Theologen überlassen hätte« 8 7 . Der nächste erhaltene Brief jedoch, v o m 31. August an Bischof Peter T o m i c z k i i n K r a k a u , zeigt i h n i m Besitz der ganzen Wahrheit: . . . Was sich in England mit Bischof Fisher und Thomas Morus ereignet hat, ein Paar, von dem England kein heiligeres oder besseres besitzt, ersiehst D u aus dem Brieffragment 8 8 , das ich D i r schicke. M i t Morus erscheine ich selbst erloschen, war doch nach Pythagoras meine Seele zweigeteilt . . . In Moro mihi videor extinctus, adeo μία ψυχή iuxta Pythagoram

duobus erat...

.89

Die Bedeutung der Freundschaft bei Erasmus und More Aus der historischen Einordnung der Freundschaft zwischen Erasmus u n d More i n die sich überschneidenden Lebenskurven der Freunde wurde ersichtlich, einen wie großen A n t e i l diese freundschaftliche Verbindung über dreieinhalb Jahrzehnte ihres Lebens hinweg beanspruchen k a n n : bei More deckt sie praktisch sein ganzes Erwachsenenleben, bei dem älteren Erasmus immerhin etwa Z w e i d r i t t e l seines Lebens. Alsdann boten die zwischen ihnen gewechselten Briefe vielfältige Zeugnisse und Beweise ihrer Freundschaft, angefangen v o m ersten Werben u m die Freundschaft des anderen, über die Freude an persönlichen Begegnungen, über ihre Geistesverwandtschaft, über gemeinsame Ideale u n d die Verteidigung des Freundes gegen Angriffe D r i t t e r , bis h i n schließlich zur Trauer über den vorzeitigen und gewaltsamen T o d des alter ego. Das Thema läßt sich aber nicht beenden, ohne nach der Bedeutung der Freundschaft für Erasmus und More u n d ihren Humanistenkreis zu fragen. H i e r i n deutet sich bereits an, daß das W o r t humanitas allein zur Kennzeichnung unseres »Zwillingspaars« nicht hinreicht u n d der Ergänzung durch das Präfix christlich bedarf, legten doch beide, der eine als Apologet u n d M ä r tyrer, der andere als T e x t k r i t i k e r , Exeget u n d Fundamentalist, Zeugnis ab für die philosophia Christi. Ohne den christlichen Glauben wäre ihrer beider Freundschaft, ihr Wesen, W e r k u n d Sterben nicht zu verstehen. A n t i k e und Christentum bilden für jeden v o n ihnen u n d für beide gemeinsam den W u r zelbereich ihrer geistigen Existenz. 87 Trotz aller Freundschaft zu More sdieint Erasmus letztlich das Verständnis für die Bereitschaft zum Bekenntnis zu fehlen. Allen N r . 3048; für freundlichen Hinweis danke ich H e r r n Kollegen Iserloh, Münster. 88 Offenbar jener Teil des Briefes von Goclenius' vom 15. August, der 1536 von Johannes Cochlaeus in Antiqua et insignis epistola Nicolai Pape / , Leipzig (Lotter) 1536, Cc iiii ν - D d , gedruckt wurde, Allen N r . 3037, 11. 92 - 113. 89

Allen N r . 3 0 4 9 , 1 1 . 1 6 0 - 6 4 .

Briefe der Freundsaft

49

M i t den Autoren der hellenischen u n d der römischen A n t i k e haben beide sich Zeit ihres Lebens befaßt, sich deren Gedankengut angeeignet, deren Werke durch Übersetzungen, Kommentare u n d eigene Schriften ihrer Zeit vermittelt. Wie die Briefe des Erasmus zeigen, sah er seine Freundschaften gern unter dem Bilde antiker Freundespaare, als Orest u n d Pylades, D a m o n u n d Pinthias, Theseus u n d Pirithous, D a v i d u n d Jonathan 9 0 . V o n Pythagoras mochten sie die Zielsetzung der auf gegenseitige Hilfeleistung bis z u m Einsatz der eigenen Person verpflichtender Gemeinschaft kennen, v o n den Pythagoreern den Zusammenschluß Gleichgesinnter zur Gemeinsamkeit des Lernens, Forschens und der fortschreitenden Erkenntnis. D i e v o m Sittlichkeitsbegriff des Sokrates beeinflußte Ideenlehre Piatons und seine athenische Akademie als Genossenschaft Gleichgesinnter, seine Lehre, daß die Macht der Idee des Guten die Ρ bilia als Freundschaft der Guten i n gemeinsamem Streben nach dem Guten, bei dem die Freude i m Tun, i n der V e r w i r k lichung der Gemeinsamkeit besteht, ist bei unseren beiden Freunden ebenso erkennbar wie des Aristoteles' Lehre, daß Freundschaft einen sittlich veredelnden Wert darstellt, der zur Betätigung drängt, der sich am Liebenswerten des Freundes erfreut u n d i n i h m die verlorene eigene »Hälfte« wiedererkennt. Auch die verklärende Überhöhung der Freundschaft d u r d i Cicero u n d Vergil trug zur Formung ihres Freundschaftsbildes bei. Philia als gemeinsamer Weg zum Guten, als Weg z u m Menschen, als gemeinschaftsstiftendes Band. Doch auch die Nährstoffe aus christlichem Wurzelgrund sind erkennbar u n d lassen sich benennen. V o n der urchristlichen Brüdergemeinde bis zum monastischen Ideal der i m Glauben geeinten und durch die Regel geordneten Bruderschaft der Orden — Erasmus w a r Augustiner, More hatte sich lange m i t dem Gedanken getragen, Kartäuser oder Franziskaner zu werden. Dieses monastische Ideal erreichte i n Christianisierung, Kolonisierung u n d K u l t i v i e r u n g der >Barbarenstämme< eine friedlichen, i n den Ritterorden eine militärischen Zielen dienende, den Kultbruderschaften der A n t i k e fehlende unerhörte D y n a m i k , Innovations- u n d Integrationsfähigkeit. Der H i n w e i s auf antike Freundschaftsideale u n d auf mittelalterlichchristlidie Bruderschaften reicht indessen allein nicht hin, sondern bedarf der Ergänzung durch das für Erasmus und More kennzeidinende Spezifikum des Renaissance-Humanismus, das die Epoche des Umbruchs bezeichnet. Bei der Übertragung des christlichen Bruderschaftsethos auf die nach ständischen Gildenbruderschaften gegliederten Bürgerschaften der Städte ergaben sich Probleme, beispielsweise i n dem theoretisch unbedingt geforderten, i n der 90

Allen N r . 17, 41, 83, 126.

4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

50

Hubertus Schulte Herbrüggen

Praxis aber keineswegs immer befolgten u n d d u r d i verschiedenartige Rechtskonstruktionen (wie Rentenkauf, Staatsanleihen, »contractus trinus«, t i t u lus legis civilis) 9 1 umgehbaren Zinsverbot für Christen (gemäß Lukas 6, 34 f.) — was bekanntlich zur Finanzmacht der Juden beitrug. Das Problem deutet die Krise an und damit den erkannten Bedarf für einen Ersatzbegriff und eine Ersatzkorporation für den i n Glaubensspaltungen u n d Auflösung der Klöster sich spiegelnden Abstieg der diristlich-mittelalterlichen Bruderschaft. Ersatz bot •— i m Zeitalter der Renaissance — die A n t i k e m i t ihrer Idee der Philia, der Freundschaft unabhängiger Gleichgesinnter — das setzt I n d i v i dualisierung voraus — , zu der die Humanisten der verschiedensten Länder sich zusammenfinden. Vergleichbares hatte es i m Mittelalter nicht gegeben. Soziologisch läßt sich die Humanistenfreundschaft sehen als eine auf klassischer Bildung basierende bürgerliche Kleingruppe Einzelner als lockerer u n d integrationsfähiger Gesinnungsverbund zu gemeinsamem Handeln, z u m Studium u n d zur Erschließung klassischer Sprachen, zur Verbreitung antiken Geisteserbes u n d zur >humanistischen< Erziehung der Jugend (und der Fürsten!) zu Menschenfreundlichkeit, Friedfertigkeit, Frömmigkeit und Tauglichkeit für die bürgerliche u n d für die staatliche Gemeinschaft. Brieftausch gilt dabei als eine der typischen Erscheinungsformen u n d Betätigungen der Humanistenfreundschaft. More und Erasmus verwirklichen i n ihrem Kreis zugleich diese Verbindung v o n christlicher Brüderlichkeit u n d Freundschaft; »Brüderlichkeit als religiöse Bedingung der eigenen Existenz und humanistische Freundschaft als besonders eindringliche Form der personalen Zuwendung z u m Freund« 9 2 . I n der Folgezeit sinken die Freundeskreise mehr u n d mehr zu bloßen Zweckverbänden rein bürgerlicher, wirtschaftlicher oder politischer Zielsetzung ab. Der dabei entstehende offensichtliche u n d audi selbst oft empfundene Mangel an einer nur v o m summum bonum her möglichen u n d auch ethisch tragfähigen Fundierung gemeinsamer Gesinnung w i r d bemerkenswerterweise dabei gern durch einen nurmehr verbalen Rückgriff i n eine sonst als »finstere Vergangenheit« verspottete Zeit verschleiert, indem der als >fortschrittlich< deklarierte politische Wortschatz sich selbst dann noch des Wortes fraternité z u bedienen pflegt, wenn sein Herrschaftsinstrument die Guillotine ist oder wenn ein Genösse den Archipel G U L A G bewacht.

91 Für Hinweise und freundlichen Rat danke ich H e r r n Kollegen Konrad Repgen, Bonn. 92 Cp. hierzu Walter Rüegg, »Christliche Bruderschaft und Humanistische Freundschaft«, Ethik im Humanismus, hgg. von Walter Rüegg und Dieter Wuttke ( D . F. G., Beiträge zur Humanismusforschung, V ) , Boppard 1979, 30.

STAATSGEFÄHRDENDE

ALLEGORESE

D i e V o r r e d e v o m A d l e r i n S e b a s t i a n F r a n c k s Geschichtsbibel

V o n Wilhelm

Die

reformationsgeschichtliche

(1531)*

Kühlmann

F o r s c h u n g bis h i n

zu

den

marxistischen

R e k o n s t r u k t i o n e n d e r sog. f r ü h b ü r g e r l i c h e n R e v o l u t i o n i s t d a r u m die theologische

Position

Francks

zwischen

den Lutheranern,

bemüht,

den

Tauf-

g e s i n n t e n u n d d e n S t r ö m u n g e n eines h u m a n i s t i s c h e n R a t i o n a l i s m u s z u b e stimmen1.

Seit

der

Würdigung

Francks

durch

Wilhelm

Dilthey,

Ernst

T r o e l t s c h u n d R u d o l f S t a d e l m a n n s o w i e d e r ersten D a r s t e l l u n g d e r F r a n c k schen T h e o l o g i e d u r c h A l f r e d H e g l e r i s t d e r epochale R a n g dieses m y s t i s c h e n Spiritualisten a n e r k a n n t u n d die tiefe K l u f t

vermessen, d i e i h n v o n

V e r t r e t e r n d e r sich d o g m a t i s c h v e r f e s t i g e n d e n A m t s k i r c h e t r e n n t e 2 .

den

Zumin-

dest i n d e r K o n s e q u e n z u n d K o m p r o m i ß l o s i g k e i t seines D e n k e n s , n i c h t z u l e t z t auch i n d e r entschlossenen H a n d h a b u n g d e r M u t t e r s p r a c h e d a r f

man

* Die nachstehenden Ausführungen stellen die erweiterte Fassung eines Vortrags dar, den ich in Göttingen sowie im Februar 1981 als Antrittsvorlesung in Freiburg/ Brg. gehalten habe. 1 Eine umfassende Zusammenstellung der Franck-Forschung liegt jetzt vor von Klaus Kaczerowsky, Sebastian Franck. Bibliographie. Verzeichnisse von Francks Werken, der von ihm gedruckten Bücher sowie der Sekundärliteratur. Mit einem Anhang: Nachweise von Francks Briefwechsel und der Archivalien zu seinem Leben, Wiesbaden 1976; vgl. ferner Forschungsübersicht und Bibliographie von Doris Rieber »Sebastian Franck ( 1 4 9 9 - 1 5 4 2 ) « , in: B H R X X I (1959), S. 1 9 0 - 2 0 4 ; hilfreich zugleidi für den epochalen Kontext: H . J. Hillerbrand, Bibliographie des Täuferturns 1520- 1630, Gütersloh 1962 ( = Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte Bd. 30); Barbara Könneker, Die deutsche Literatur der Reformationszeit. Kommentar zu einer Epoche, München 1975; für die grundlegenden Kontroversen einer historischen Bewertung der Reformation vgl. Rainer Wohlfeil ( H g . ) »Reformation oder frühbürgerliche Revolution«, München 1972. 2 W . Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Stuttgart—Göttingen 8. Aufl. 1957 ( = Gesammelte Schriften IL Bd.), spez. S. 8 0 - 8 9 ; E. Troeltsch, Die Soziallehren der christl. Kirchen und Gruppen (1922). Nachdruck: Aalen 1965 ( = Ges. Sauf den Adler< ist eine böse politische Auslassung Francks.«); Kuno Räber, Studien zur Geschichtsbibel Sebastian Francks, Basel 1952, S. 12 f. 8 Zur Einordnung in die Geschichte der Historiographie vgl. neben den älteren Werken (Fueter, Joachimsen, Mencke-Glückert, Wegele) die zusammenfassende D a r stellung von Peter Meinhold, Geschichte der kirchlichen Historiographie, 2 Bände, Freiburg—München 1967 ( = Orbis Academicus, Bd. I I I / 5 ) , spez. Bd. 2, S. 301 ff.; zu den Grundkonzeptionen der protestantischen Geschichtsschreibung s. audi A d a l bert Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen 1960 ( = Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 31). 9 Über Francks Quellen informiert immer noch am besten H e r m a n n Bischof, Sebastian Franck und die deutsche Geschichtsschreibung. Beitrag zur Culturgeschichte vorzüglich des XVI. Jahrhunderts, Tübingen 1857; zur Gattungstradition der W e l t chronik s. Herbert Grundmann, Geschichtsschreibung im Mittelalter. Gattungen — Epochen — Eigenart, Göttingen 1965 ( = K l . Vandenhoek-Reihe, Bd. 209/210), mit bibliographischen Hinweisen (S. 76 ff.).

54

Wilhelm Kühlmann

Schluß des Werkes. D i e vorsichtigen Bemerkungen zur eschatologischen H o f f n u n g auf eine neue W e l t stehen freilich i m Gegensatz zum Enthusiasmus vieler Wiedertäufer 1 0 . D e m Historiker Franck reichte sein Wissen nur bis zur eigenen, pessimistisch beurteilten Gegenwart. Konsequenterweise distanzierte er sich v o m Separatismus u n d Aktivismus mancher Taufgesinnten ebenso wie v o n der H o f f n u n g der Reformatoren, die Kirche i n den apostolischen Urzustand, also i n die Zeiten v o r dem V e r f a l l zurückführen zu können. I n der berühmten Ketzerchronik i m dritten Werkteil, der Geschichte der »Bäpst und geistlichen Händel«, w i r d nicht nur Front gemacht gegen die katholische Kirche. Francks subtile K r i t i k an Luther, die den Reformator an seinen eigenen Ursprüngen mißt, sieht auch die reformatorisdie Bewegung pervertiert durch die offenkundigen Tendenzen zu einer selbst Ketzer produzierenden Institutionalisierung 1 1 . Francks Geschichtsbegriff unterscheidet sich grundsätzlich v o m Ansatz der lutherischen Historiographie, die ein Jahr später m i t der Chronica Carionis einsetzt 12 . Z w a r gilt hier wie dort Geschichte als Werk Gottes, »Gottes faßnachtspiel«; für Franck aber ist die Historie wie die N a t u r eine primäre Quelle der Offenbarung, dem »todten Buchstaben« der Sdirift überlegen. Diese w i r d erst durch die Erfahrung des lebendigen Gottes erschlossen, der i n der Geschichte wie i m Leben des einzelnen Menschen an der Praxis v o n Glauben u n d Unglauben erkennbar ist. Glaube nach dem Verständnis Francks ist die Realisierung des »verbum internum«, des »inneren Christus«. I m K a m p f zwischen »Geist u n d Fleisch« praefiguriert die Weltgeschichte das innere D r a m a eines jeden Menschen 13 . Dieser zwar mystisch beeinflußte, 10 Über die Entwicklung des politischen Denkens bei den Wiedertäufern s. jetzt zusammenfassend Hans-Jürgen Goertz, Die Täufer. Geschichte und Deutung y M ü n chen 1980, bes. K a p . 4 und 5. 11 Über Francks K r i t i k an der lutherischen Reformation s. H . Weigelt (s. o. Anm. 2). 12 Z u Carion hier nur der Verweis auf den Artikel von J. Schultze in: Ν DB 3 (1957), S. 138 f. Für den Vergleich mit der lutherisch-orthodoxen Geschichtsschreibung s. S. L. Verheus, Kroniek en Kerugma. Een theologische Studie over de Ge5ώ'ιώώώεΙ van Sebastian Franck en den Magdeburger Centurien, Arnhem 1958; zu Francks Gesdiiditskonzeption, die er vor allem im Vorwort der Geschichtsbibel entwickelt — hieran orientiert sich meine Darstellung — vgl. neben der bereits genannten Literatur Hermann Oncken, »Sebastian Franck als Historiker« in: Hist. 2s. N . F. 46 (1899), S. 385 - 4 3 5 ; mehr referierend als analytisch Arnold Reimann, Sebastian Franck als Gescbichtsphilosoph, Berlin 1921 ( = Comenius-Schriften zur Geistesgeschichte, Beih. 1). 13 Aus der Vorrede Francks (hier zitiert nach der 2. Auflage 1536 — s.o. Anm. 4), unpag. fol. A iiij ν. : »Wer aber nur alle creatur / wort und werck Gottes allein angafft / hört list / und verwundert / und sich nit selbs darinn findet / und so gar sein eigen macht / dz er sich selbs in allen creaturen / Worten und wercken gottes find / sihet und ergreifft / der list / sieht unnd höret alle ding vergebens.« — Fol. A V r / v : »Darumb bleibt beide die heilige schrifÄ und historien / ja alle wort

Staatsgefährdende Allegorese

55

aber doch sehr leicht anthropologisch-rationalistisch zu entfaltende Gedanke läßt die universalgesdiichtlidie teleologische Spekulation i m Anschluß an Augustinus, wie sie für Luther n o d i so bedeutsam war, i n den H i n t e r g r u n d treten 1 4 . Die individuelle, moralisch-praktische Nachfolge Christi w i r d z u m Bewertungsmaßstab weltlichen Handelns. I n dieser A r t v o n »Gottseligkeit« finden sich nach Franck die verstreuten Mitglieder einer über alle Zeiten, Religionen und Konfessionen reichenden Kirche des Geistes, Zeugen des »füncklin Gottes« i n der Geschichte. A n diese Geistesverwandten richtet sich die Geschichtsbibel 1δ. Als Franck 1531 i n Straßburg dies Werk veröffentlichte, w a r er kein »Sucher« mehr, wie i h n die ältere Forschung n i d i t ohne Verlegenheit zu apostrophieren pflegte 16 . Aus dem katholischen Priester u n d dem abtrünnigen evangelischen Prädikanten w a r ein Schriftsteller geworden, dessen wesentliche Ideen feststanden. Sie werden i n den späteren Werken nur noch nuanciert, vertieft und m i t einem sich verstärkenden Pessimismus grundiert. Es sind die Ideen, welche — so W i l h e l m D i l t h e y — »durch hundert Rinnsale der modernen Zeit entgegenfließen« 17 : die K r i t i k an der lutherischen Rechtfertigungslehre, die Ablehnung jeder orthodoxen Intoleranz als Folge einer Symbiose v o n T h r o n und A l t a r , der W i d e r w i l l e gegen die Verabsolutierung und werck gottes den unreinen gotlosen / darumm also verschlossen / finster fleisch und blut verdeckt / das ers on erfarung nit w i l l verstanden haben. [ . . . ] Also lebt die Histori andere schrifft aber leer stuck und gesatz bûcher leren allein und seind seelos und todt gegen den lebendigen Historien / und darinn Got gesehen / dort allein gehört wirdt. [ . . . ] Aber die lebendigen Historien und erfarungen / sonderlich die Gott mit eim yeden menschen selbs in das werck bringt / und in der erfarung von eim zum andern fürt / die leeren alles / wer nun auff sein leben wie es hergieng / was Gott mit j m handelt / wie er jn auß und in allen sachen fürt von jugent auff acht het / der wurd v i l gewar / und het ein eigen Chronick von j m selber zuschreiben [ . . . ] dann der lebendig glaub muß also in der erfarung eingegossen und geleert werden / dann wie der eüsser mensch nicht glaubt / dann das er gehört und gesehen hat / also glaubt auch der inner mensch / allein was er nach seiner art innerlich von Got gelert / gehört / gesehen / und erfaren hat / und alles was der ausser mensch eüsserlich hat als brot / wort red / kleid / gesicht / oren / erfarung / reich / leerer / schwert etc. das hat der innerlich mensch nit weniger seiner art nach / innerlich unsichtpar / geistlich / und warhafftiger / dann der ausser / und wie es mit dem eüssern eüsserlich zugeet / also mit dem innern innerlich.« 14 Z u diesem Komplex vgl. den Sammelband von Heinz-Horst Sdirey (Hg.), Reich Gottes und der Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen, Darmstadt 1969 ( = Wege der Forschung Bd. C V I I ) . 15 Vorrede (Schluß), zit. nach Ausgabe 1536 (s.o. Anm. 4): »Darumb sorg ich der weit sey nur für hin mit schreiben / schreien / predigen / etc. weder zu rhaten noch zu helffen / sie ist schellig in lauff kommen / und laßt jr nimmer sagen / biß sie an den Eckstein anlaufft und zu trimmern geet. Ist noch etwas lebendigs und ein füncklins Gottes Hechts in eim der wirdt sich ab diser meiner arbeit hoff ich / wie an allen dingen w o l bessern / und seins hertzens v i l zeügnus finden . . . « 18

So vor allem W . E. Peuckert (s. o. Anm. 7).

17

W . Dilthey (s. ο. Anm. 2), S. 85.

Wilhelm Kühlmann

56

des r e f o r m a t o r i s c h e n S c h r i f t p r i n z i p s . O b w o h l sich F r a n c k t r o t z menschlicher Sympathie grundsätzlich v o m

Täufertum

distanzierte,

m u ß t e n seine

An-

schauungen, sein » v i e r t e r G l a u b e « , w i e er i h n n a n n t e 1 8 , r e l i g i ö s w i e p o l i t i s c h A n s t o ß erregen. Z u d e u t l i c h h a t t e sich b e r e i t s i n d e r Geschichtsbibel geistige W e n d u n g niedergeschlagen, i n d e r F r a n c k n e b e n d e r

eine

Erasmischen

K r i t i k a n K i r c h e u n d D o g m a a u c h häretische P o s i t i o n e n eines H a n s D e n c k , eines J o h a n n B ü n d e r l i n u n d d e r N ü r n b e r g e r sog. g o t t l o s e n M a l e r

rezipiert

hatte19. U m des D r u c k s d e r Geschichtsbibel vor

der N ü r n b e r g e r

waren

freilich

allem M a r t i n

w i l l e n w a r der dreißigjährige

Zensur nach Straßburg

d i e städtische O b r i g k e i t Butzer, hellhörig

und

ausgewichen. H i e r die bestellten

geworden. D i e

Franck

wie

Prediger,

Erfahrungen

des

dort vor

Bauern-

k r i e g e s w i r k t e n n a c h , E d i k t e gegen d i e W i e d e r t ä u f e r w a r e n Reichssache gew o r d e n . I n s e i n e m a n g e s t r e n g t e n R i n g e n u m d i e E i n h e i t des P r o t e s t a n t i s mus w o l l t e B u t z e r S t r a ß b u r g v o n d e m — durchaus begründeten —

Verdacht

befreien, ein H o r t u n d Schutzort der »Schwärmer« z u sein20. Franck k o n n t e z w a r sein B u c h d r u c k e n lassen, d o c h d a m i t b e g a n n eine W e l l e v o n A n g r i f fen

und

administrativen

Maßnahmen,

die

ihn

zunächst

aus

Straßburg,

18 So schon in der Türkenchronik von 1530: vgl. Eberhard Teufel, »Landräumig« Sebastian Franck, ein Wanderer an Donau, Rhein und Neckar, Neustadt a. d. Aisdi 1954, hier S. 34; s. auch ibid. S. 122 Francks Lied »Von den vier zweiträchtigen Kirchen«. W o h l nicht von direkter Einwirkung, wohl aber von einer Übereinstimmung i m gemeinsamen Unbehagen zeugt ein Epigramm Friedrichs von Logau mit dem Titel »Glauben«: »Luthrisch, Päbstisch und Calvinisch, diese Glauben alle d r e y / S i n d vorhanden; doch ist Zweiffei, wo das Christenthum dann sey.«; zitiert nach G. Neumann (Hg.), Deutsche Epigramme, Stuttgart 1969 ( = Reclams U B 8340 - 43), S. 26. — Aus Francks Position ergibt sich zwangsläufig seine bekannte und vielfach diskutierte H a l t u n g in der Frage der interkonfessionellen Toleranz; dazu u. a. Goldammer (s. o. Anm. 7) sowie J. Lecler / M . - F . Valkhoff, Les premiers défenseurs de la liberté religieuse , 2 Bde, Paris 1969; ferner Heinrich Bornkamm, »Das Problem der Toleranz i m 16. Jahrhundert«, in: ders., Das Jahrhundert der Reformation. Gestalten und Kräfte, 2. Aufl., Göttingen 1961, S. 262 - 290. 19 Z u Francks Nürnberger Kontakten mit Denck und den »gottlosen Malern« Sebald und Barthel Behaim sowie Georg Pencz s. Peuckert (s. o. Anm. 7) sowie die biographisch grundlegende Schrift von Teufel (hier Anm. 18); über den Nürnberger Prozeß gegen die Häretiker auch: Andreas Oslander d. Ä . Gesamtausgabe Bd. 1. Schriften und Briefe bis März 1525, hgg. von Gerhard Müller, Gütersloh 1975, spez. S. 418 ff. M i t Bünderlin und Schwenkfeld kam Franck in Straßburg zusammen. 20 Z u den Straßburger Vorgängen ausführlich: Teufel (s. A n m . 18), S. 34 ff.; vgl. ferner Weigelt (s. Anm. 2), S. 38 ff.; neben der dort genannten Literatur auch heranzuziehen J. W . Baum, Capito und Butzer. Strasburgs Reformatoren, Elberfeld 1860 ( = Leben und ausgewählte Schriften der Väter und Begründer der reformierten Kirche. I I I . Theil), bes. S. 371 ff., 488 ff. Bereits am 17. Juni 1527 ergeht ein Ratsmandat gegen die »Schwärmer«. Besonders Luther sparte in dieser Hinsicht nicht mit Vorwürfen (vgl. S. 478). Über die Reichsabschiede gegen die Wiedertäufer (bes. wichtig das Mandat von Speyer 1529) i m Zusammenhang vgl. Goertz (s. Anm. 10), S. 126 ff. sowie bes. 135 (über die relativ milde Anwendung in Straßburg).

Staatsgefährdende Allegorese

57

schließlich (1539) auch aus U l m vertrieben 2 1 . Was man Franck i n Straßburg v o r w a r f , w a r formal ein Hintergehen der Zensur 2 2 . Doch wie bei der gleichzeitigen Beschlagnahme v o n Werken Servets u n d Bünderlins provozierten die Grundthesen des »vast schädlichen und bösen Buchs« 23 . Franck konnte von Glück sagen, daß er — v o n der Konfiskation der Drucke abgesehen — nur i n den T u r m geworfen u n d anschließend der Stadt verwiesen wurde. Der V o r w u r f des Majestätsverbrechens lag nahe, eines Deliktes, dessen sich jeder schuldig machte, der gegen Kaiser u n d K ö n i g »dolo malo ausus quid fuerit« 2 4 . Der Straßburger Stättmeister Jacob Sturm sah jedenfalls i n Francks Werk »das hl. römische Reich samt Fürsten und A d e l verhöhnt« 2 5 . Das w a r besonders i n einer Reichsstadt ein schwerwiegender V o r w u r f 2 8 . Überdies drohten Francks wegen außenpolitische Verwicklungen. Selbst Kaiser K a r l V . wurde brieflich v o n seinem Bruder Ferdinand I . alarmiert, und der Herzog Georg v o n Sachsen ließ das »Pestbuch« auf Betreiben des Cochläus i n seinen Landen verbieten. Landgraf P h i l i p p v o n Hessen, hinter dem v o r allem Melanchthon stand, beschuldigte 1534 i n einem Brief an den Rat v o n U l m Franck kurzerhand des Wiedertäufertums u n d forderte seine Ausweisung: D i e Stadt solle sich nicht außer den »Papisten« auch noch andere Reichsstände u n d den Kaiser zu Feinden machen 27 . Dies v o n einem Vorkämpfer der protestantischen U n i o n und i m Blick auf die Machtergreifung der Täufer i m fernen Münster: Franck w a r alsbald auch v o n seinen Freunden nicht mehr zu schützen.

21 Z u Francks Aufenthalt in U l m vgl. neben der Darstellung bei Peuckert und Teufel (hier Anm. 7 bzw. 18) die Dokumente bei A . Hegler, Beiträge zur Geschichte der Mystik in der Reformationszeit, hgg. v. W . Köhler, Berlin 1906 ( = Archiv f. Reformationsgeschichte, Erg. Bd. I ) . 22 23

Vgl. Teufel (hier Anm. 18), S. 35 f.

So in einem Brief des Kardinal-Erzbischofs Teufel (hier Anm. 18), S. 36.

Albrecht von Mainz, zit. bei

24 Das Verbrechen war in der peinlichen Gerichtsordnung Karls V . im Anschluß an das römische Recht geregelt. Noch nach der Constitutio Criminalis Theresiana von 1768 wurde der Täter gevierteilt, bei milderen Umständen mit dem Schwerte bestraft. 25 Z u diesen und den im weiteren erwähnten Reaktionen vgl. Peuckert (s. Anm. 7), S. 182 f. sowie Teufel (s. hier Anm. 18), S. 39 f. 26 Z u m Reichsbewußtsein in den Städten vgl. Heinrich Schmidt, Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses im Spätmittelalter, Göttingen 1958 ( = Schriftenreihe bei der Bayer. Akademie der Wissenschaften, Schrift 3), bes. 42 f. und passim; ebenso wie Conrad Celtis in seiner Norimberga preist z. B. auch Hans Sachs den Nürnbergischen Doppeladler als Signum von Stadt und Reich. 27

D e r Brief ist abgedruckt bei A . Hegler, Beiträge (s. o. Anm. 21), S. 114.

Wilhelm Kühlmann

58

II

W o r i n lag denn nun eigentlich die Herausforderung der Franckschen Vorrede, die bei allen erwähnten Angriffen eine zentrale Rolle spielte? Eigentlich nur i n einem ungewöhnlichen Verfahren der allegorischen A r g u mentation, die freilich eben dadurch an den ideellen Grundlagen der staatlich-ständischen O r d n u n g rüttelte. Die politische Exegese des Adlers als der i m M i t t e l p u n k t stehenden res significans vollzieht sich nämlich i n einer doppelten Perspektive. Diese ergibt sich aus der zweifachen Klassifizierung des zum Bedeutungsträger gemachten Tieres. Verschiedene Deutungstraditionen überlagern sich dabei u n d werden i n ihrer kontrastierenden Verweismächtigkeit intentional verknüpft. Dadurch entsteht ein dissonantes Prädizierungsverhältnis. A u f der primären Ebene handelt es sich — i n der Terminologie der augustinischen Zeichentheorie — u m die allegorische Interpretation eines signum translatum y d. h. einer Sache, die »zunächst für sich sinnvoll ist und erst darüber hinaus einen zweiten Sinn bekommen kann« 2 8 . W e y l die Keyser ein Adler füren / und wir yetz von den keysern zu sagen vor hand haben / w i l idi des Adlers natur und eigenschafft / darbey der Keyser / Fürsten unnd herren leben / höff / hoffgesind / regiment etc. abconterfeit und anzeigt württ / erzölen 2 9 .

Der hier gemeinte »Adler« ist das empirisch bekannte Tier, dessen Proprietäten in der zoologischen Literatur beschrieben waren 3 0 . Indem Franck die i n der N a t u r k u n d e gesammelten Merkmale über Verhalten, Lebensweise u n d Gestalt des Vogels zusammenstellt, w i r d die naturhaft gedachte Realität zum Spiegel der P o l i t i k , das Unzivilisiert-Bestialische — v o n Franck stets i m Begriff »Fleisch« assoziiert — fungiert als Analogon sozialer Wirklichkeit. Dadurch entwickeln sich i m allegorischen Verfahren Kategorien einer historischen Hermeneutik. Erst durch die Projektion dieser Naturdeutung auf eine zweite Ebene des Diskurses, die des signum proprium oder institutum, gewinnt Francks V o r gehen eine konkrete politische Zielrichtung u n d eine brisante polemische Wendung. 28 Chr. Meier, Überlegungen (s.o. Anm. 6), S. 44; hier auch das Nähere zu Augustins Zeichentheorie, die er in De doctrina Christiana entwickelt hat (vgl. hier bes. I I , I I 2 sowie I I , X , 15). 29 30

Gb, f o l . C X I X .

Einen Überblick über dieses Schrifttum bietet J. Victor Carus, Geschichte der Zoologie his auf Joh. Müller und Charles Darwin, München 1872 ( = Geschichte der Wissenschaft in Deutschland. Neuere Zeit. Zwölfter Bd.).

Staatsgefährdende Allegorese

59

N u n der Adler soll uns hieher dienen zu unserm institut darmit die Keyser doch yr wappen versteen / oder lernen versteen / warum oder mit was eeren sye es füren / warumb es j n sey zugeeygnet von den weißen / wer jns geben hab / und was yr leben / ampt und regiment sey / das sich in yhrem wappen / als in einem Spiegel ersehen und erkennen lernen 3 1 .

Franck greift hier zurück auf die Möglichkeiten der deiktisch-didaktischen Wappenallegorese. Adressat ist — k ü h n genug — der Kaiser selbst. A n hand des Wappens, des genuinen »monumentum virtutis« (Erasmus), soll, wie es scheint, ein m i t Regimentslehren angereicherter Fürstenspiegel geschrieben werden. Angekündigt w i r d nicht eine abstrakt-moralisierende Deutung des Herrschaftszeichens, sondern eine historische D e d u k t i o n seiner signifikativen Rolle. Franck mußte sich darüber i m klaren sein, daß er sich m i t dieser Auslegung eines konventionellen Zeichens auf dem Boden einer geistlich wie politisch hochbesetzten exegetischen T r a d i t i o n bewegte. D e n n wie sah der Erwartungshorizont seiner Leserschaft aus? Er w a r geprägt durch literarisch vorformulierte Assoziationen, v o r allem durch ein Interpretationsrepertoire, das sich i n der Physiologus-Überlieferung und i m Schrifttum der Bibelallegorese herausgebildet hatte. H i e r gab es zahlreiche Anknüpfungspunkte. Der A d l e r als »regina avium«, als Signum des Evangelisten Johannes, der wie der A d l e r m i t seinen Sinnen i m H i m m e l lebe, aber auch die tropologische Deutung auf die »renovatio-resurrectio« der Seele und die Verachtung des Irdischen, u m nur wenige Übertragungsmuster zu nennen, waren i n der patristischen Literatur vielfach behandelt. Diese hatte sich dabei nicht selten Deutungsschemata der antiken H i e r o g l y p h i k zunutze gemacht 32 . Allegorische Kompendien, wie z. B. Freys ßiblisdo Vogel31 Gb, f o l . C X I X . I n der zweiten Auflage 1536 (s.o. Anm. 4), fol. C L V I hat Franck diesen provokativen Passus wesentlich gemildert. Es fällt die Bezugnahme auf den Kaiser; hervorgehoben wird der Unterschied zwischen heidnischen und christlichen Zuständen, der mahnende Appell wird auf »viele« eingeschränkt: » . . .dz wir hie haben angemaßt / und zu unserm institut wirt dienen / das doch die weltlichen herren / und fürsten der Heyden / jr wapen lernen versten / w a / und wie sy jn her kumment / von jren Heidnischen urältern. was sy bedeütten / und warumb jn zugeschriben / Item wer jns geben hab / und w z jr Heydnisch ampt / leben und regiment etwa gewesen / und nodi bei vilen sei / damit sy sich in jrem wapen / als in einem Spiegel ersehen und erkennen lernen / damit sy jr gesehen schwertz abwischen und die erkante Heydenschafft ab legen / das gut anmassen / und inn summa lernen thun gericht und gerechtigkeyt / damit sy jren heydnischen adel des fleischs / in ein Christlichen adel des geysts und tugent / mitt einem newen leben und adel / so auß Gott ist / verwechßlen und abtauschen.« 32 Zur patristischen Adler-Allegorese (mit einer Fülle von Nachweisen und Zitaten) vgl. Hans-Jürgen Schings, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen, K ö l n — G r a z 1966, S. 2 2 - 5 4 ; Theorie und Praxis der spirituellen Bibeldeutung sind gründlich behandelt: s. u. a. Chr. Meier (hier Anm. 6); dies., »Das Problem der Qualitätenallegorese«, in: Frühmittelalterliche Studien V I I I (1974), S. 385 ff.; Hans-Jörg Spitz, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. [ . . . ] München

Wilhelm Kühlmann

60 buch

(1595)33 oder —

a u f k a t h o l i s c h e r Seite —

das Speculum

Imaginum

des J e s u i t e n J a c o b M a s e n ( 1 6 5 0 ) 3 4 h a b e n s p ä t e r d i e A u s l e g u n g s m o d i

kata-

l o g i s i e r t u n d v e r m i t t e l n eine g u t e Ü b e r s i c h t ü b e r Q u e l l e n b e r e i c h u n d B a n d b r e i t e d e r s p i r i t u e l l e n D e u t u n g . D i e s e ist t r o t z d a u e r n d e r Q u e r b e z ü g e unterscheiden v o m politisch-historischen V e r w e i s u n g s r a u m derartiger

zu

Tier-

allegorese. I n d e n d i e s b e z ü g l i c h e n T e x t t r a d i t i o n e n h a t t e n sich tionen u n d Verwendungsnormen Das Adlerszepter

Zuordnungskonven-

des v o r l i t e r a r i s c h e n G e b r a u c h s

der römisch-deutschen Kaiser

verfestigt.

(im Hochmittelalter

b y z a n t i n i s c h e m V o r b i l d ) , d i e A b b i l d u n g des A d l e r s a u f M ü n z e n , W a p p e n u n d den kaiserlichen A d l e r f a h n e n

nach

Siegeln,

(spätestens seit d e m 13. J a h r -

hundert) repräsentierten den imperialen u n d ordnungspolitischen

Anspruch

d e r cäsarischen G e w a l t , d a m i t a b e r auch d i e v e r f a s s u n g s m ä ß i g e

Konstitu-

t i o n des R e i c h e s 3 5 . F r a n c k s e t z t h i e r m i t seiner h i s t o r i s c h e n K r i t i k

an.

Er

sieht i n d e r Ü b e r n a h m e des A d l e r s aus d e n r ö m i s c h e n F o r m e n d e r K a i s e r a p o t h e o s e 3 6 d i e K o n t i n u i t ä t e i n e r » t h o r e c h t A n t i q u i t e t « 3 7 . O b w o h l h i e r das 1972 ( = Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 12); H e n r i de Lubac, Exégèse médiévale. Les Quatre Sens de Récriture, 2 Bde. Paris 1959 und 1961 ( = Théologie 41 bzw. 42). 33 Hermann Heinrich Frey, Therobiblion. Biblisch Thierbuch. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1595. Neues Vorwort und Register von Heimo Reinitzer, Graz 1978 ( = Naturalis historia bibliae, Bd. 1); vgl. dazu H . Reinitzer, »Zur Herkunft und zum Gebrauch der Allegorie im Biblisch Thierbuch des Hermann Heinrich Frey«, in: Formen und Funktionen der Allegorie, hgg. v. W . H a u g (s. Anm. 6), S. 370 ff. — Ein lateinisches Pendant auf protestantischer Seite liegt vor in Wolfgangus Franzius, Historia Animalium Sacra. In qua plerorumque Animalium Praecipuae Proprietates in Gratiam Studiosorum Theologie & Ministrorum Verbi ad usum »ikonologikon« (im Original griechisch — W . K . ) breviter accomodantur. [ . . . ] Ed. Quinta, W i t tenberg 1648; hier zum Adler S. 3 2 0 - 3 3 5 ; in Bezugnahme auf die Polyvalenz des Zeichens wird ausdrücklich vermerkt (S. 334 f.), daß der Adler sowohl »pii« wie »impii principes« bedeuten könne. 34 Jacob Masen S. J., Speculum imaginum veritatis occultae [ . . . ] , K ö l n 1681 (zuerst 1650): hier zum Adler S. 8 5 6 - 8 5 9 ; in den einleitenden Gedichten auf den päpstlichen Legaten Fabio Chigi (»Aquila Symbolica Cisiorum«, S. 1 6 - 2 0 ) hat Masen selbst die panegyrische Verwendung bibelhermeneutischer Lemmata in zwanzig Gedichten durchgespielt. Masen konnte sich natürlich bereits auf eine Reihe von allegorischen Lexica stützen, wie z. B. des Hieronymus Lauretus Sylva Allegoriarum Totius Sacrae Scripturae (Venedig 1625): zum Adler hier S. 110 v. - 111 v. 35 D a z u mit reichen Literaturnachweisen (Schramm, Deer, Erdmann u. a.) vgl. Erich Kleinschmidt, Herrscherdarstellung. Zur Disposition mittelalterlichen Aussageverhaltens an Texten über Rudolf I. von Habsburg, Bern—München 1974 ( = Bibliotheca Germanica, Bd. 17), S. 114 ff., 142 ff., 156 f., 215 ff.; ferner Erich Gritzner, Symbole und Wappen des alten deutschen Reiches, Leipzig 1902 ( = Leipziger Studien auf dem Gebiete der Geschichte, V I I I . Bd., 3. Heft). 36 Gb, fol. C X X I I v . ; vgl. E. Bickermann, »Die römische Kaiserapotheose«, in: Archiv f. Religionswissenschaft 27 (1929), S. 1 - 3 4 ; H . Jucker, »Auf den Schwingen des Göttervogels«, in: Jb. des Berner Hist. Museums 1959/60, S. 266 - 287. 37

Gb, fol. C X X I I v.

Staatsgefährdende Allegorese politische Legitimationsmuster

d e r translatio

imperii

61 berührt w i r d ,

zögert

F r a n c k n i c h t , d e n h i s t o r i s c h e n U r s p r u n g des Herrschaftszeichens u n d seinen w e i t e r e n G e b r a u c h i n d e r K o n s e q u e n z des e i g e n e n

theologisch-moralischen

D e n k e n s z u d i s k r e d i t i e r e n . W ä h r e n d b e i L u t h e r u n d erst recht b e i M e l a n c h t h o n d i e E i g e n g e s e t z l i c h k e i t des regimen

corporale

i n der

Vorläufigkeit

irdischer O r d n u n g unangetastet bleibt, v e r t r i t t Franck ein radikales christliches E t h o s , das p o l i t i s c h e u n d historische R ü c k s i c h t n a h m e v e r w e i g e r t : [ . . . ] darbey man w o l mag abnemen dz die wappen (dero all tempel yetzt vol hangen) ein überbliben heydnisdi stuck seind / von unsern heidnischen älteren auff uns geerbt / der w i r uns so fast rumen / und doch bilich Schemen solten / weil w i r Christen (die v i l ein ander wappen haben) wollen gesehen sein / und wissen wie der weit und des fleischs weißheit / also auch des selben Adel vor Gott stinckt. Derhalb die weisen solchs mit tieffen äugen haben angesehen / und des fleischs Adel wie er vor Gott sey / mit disen wappen fein abgemalet / welche das fleisch jhm zu grossen ehren hatt auß erwölet oder lassen zuschreiben / und nit verstanden das die weißen damit yr spotten / Oder das sy damit yr schand vor Gott so redlich auff decken / weil sye eben das seind / das sye in yhren wappen unwissend tragen / figuriert. Also muß sich der gottloß selb abmalen / und sich selbs in seinem ring und wappen conterfeyt umbhertragen 38 . H i e r w e r d e n panegyrische T r a d i t i o n e n der L i t e r a t u r w i d e r r u f e n . Das g i l t f ü r d i e Ehrenreden

d e r W a p p e n - u n d H e r o l d s d i c h t u n g 3 0 , a b e r auch f ü r

heroisch-moralische T i e r m e t o n y m i e

(das W a p p e n t i e r s t e h t f ü r

seinen

die

Trä-

ger) i n H e l d e n e p o s 4 0 , C h r o n i k s c h r i f t t u m , K a i s e r p r o p h e t i e u n d E m b l e m a t i k 4 1 . G a n z z u schweigen v o n einer n a r r a t i v

entfalteten

allegorischen

l i c h u n g des K a i s e r g e d a n k e n s , w i e w i r sie i m A d l e r b i l d v o n D a n t e s finden 42.

VerherrParadiso

F r a n c k g e h t so w e i t , seinen G e g n e r n g e r a d e z u das j u r i s t i s c h e S t i c h -

w o r t z u i h r e n A n k l a g e n z u geben: N u n halt unser tirannen dargegen / unnd urtheil / warumb die alten weisen dem gewalt ein Adler für ein wappen haben zu gesteh / das sy freilich on wissende angenummen [ . . . ] haben. [ . . . ] Also haben v i l Keiser die gut Adlerisch wie der mererteil herrschaften yhe und yhe gewesen seind, jren eygen sdiandtvogel mit 38

Gb, fol. C X X I I r/v.

39

Vgl. Hellmut Rosenfeld, »Nordische Schilddichtung und mittelalterliche W a p pendichtung«, in: ZfdPh 61 (1936), S. 2 3 2 - 2 6 9 ; Stephanie Cain V a n d'Elden, Peter Suchenwirth and Heraldic Poetry , Wien 1976 ( = Wiener Arbeiten zur germ. Altertumskunde und Philologie, Bd. 9) ; in Zusammenhang mit didaktischer Literatur und spätmittelalterlicher Spruchdichtung vgl. auch (mit zahlreichen Belegen) Dietrich Schmidtke, Ge/ii/ic&e Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters ( 1 1 0 0 - 1 5 0 0 ) . 2 Teile, Diss. Berlin 1968 (masch.), hier Teil 1 S. 176 ff. 40 Vgl. die Hinweise bei Kleinschmidt (hier Anm. 35) sowie Christoph Gerhard, Wolframs Adlerbild Willehalm 189, 2 - 24, in: ZfdA 99 (1970), S. 213 - 222. 41

XVII. 42

Vgl. A . Henkel / A . Schöne (Hg.), Handbuch der Sinnbildkunst Jahrhunderts, Stuttgart 1967, Sp. 757 ff. Dante Alighieri: La Divina

des XVI.

und

Commedia , Paradiso V I , 1 - 10; 82 ff.; X V I I I - X X .

Wilhelm Kühlmann

62

jn hingefürt / darmit man bey jren wappen / vogel / Aug / feder / unnd gesang erkenn / was für ein leben und regiment sy füren / wolle Gott / das unsere Keyser yr wappen nicht auch anmassen / und den Adler ein figur jrs scepter nit sein lassen. Das aber der Adler der Keiser eigen sey / zeigt an / das sy also darob eyffern / das / wer den Adler uneert / den Keiser ungeert haben / und deß Lasters verletzter Maiestat wirt schuldig geacht 48 . Es g e h t F r a n c k also d a r u m , z u b e w e i s e n , d a ß K a i s e r u n d H e r r s c h a f t e n i h r Wappen zu Redit

führen.

Die

natürlichen

Eigenschaften

des V o g e l s

be-

s t ä t i g e n i n erschreckender S c h l ü s s i g k e i t d i e v o m h a b i t u e l l e n Z e i c h e n g e b r a u c h n i c h t abgedeckte W i r k l i c h k e i t . D a n n ettlich andere vögel seind von N a t u r zam und sitsam. Etìliche seind w i l d und ongezogen / werden doch mit kunst und Übung gewönt und heimlich / allein der Adler ist zu einidier zucht nicht tüchtig [ . . . ] also das man auch auß yrer gestalt und proportz des leibs / abnemen mag / das der fleisch fressend vogel / des frids hessig und feindtselig / gleichsam zu rauben / morden / streitten geborn ist / und gleich als sey es dem blutgirigen vogel zu wenig / das er von der andern vögel blut und fleisch lebt. Seind auch etlich die da sagen / das er auch die bein zerschrot / und mit dem schnabel auffhauwe 44 . F r a n c k » n a t u r a l i s i e r t « das i m W a p p e n a l l e g o r i s i e r t e N a t u r w e s e n u n d m a c h t so Geschichte z u r geistlosen N a t u r ; das B i l d des » r e x i u s t u s et p a c i f i c u s « w i r d z e r s t ö r t . D e r G l a n z ( » s p l e n d o r « ) des H e r r s c h e r s w i e auch d e r K a n o n v o n H e r r s c h e r t u g e n d e n w a n d e l n sich z u A t t r i b u t e n e i n e r v e r k e h r t e n jestät,

der

Nimbus

des

Herrschaftszeidiens

wird

zum

Index

Ma-

politischer

Rechtlosigkeit: N u n syhe an die art und gestalt des Adlers / die träischen äugen / den trotzigen schnabel / sein greülich saursehenden anplick / sein finstere traurige färb / würt er nit finden ein herschend bild voller maiestet / billidi ein lang zu vergleichen? Item die erschrecklich troend stimm / davor sich kein thier nit entsetzt / die grausam geperd der künig zu bedeuten. D a n n zu diß Adlers pfeiffen erschrickt alles volck / der rath zeüdit sich ein / der adel ist gehorsam / die richter folgen / das redit schweigt / die prediger heüchlen / 43 44

Gb, f o l . C X X .

Gb, fol. C X I X ; dieses und die vier folgenden Zitate stehen zugleich exemplarisch für die aus Erasmus Adagien übernommenen Passagen. Zugrunde liegt das Adagion »Scarabaeus aquilam quaerit«, hier wiedergegeben nach der Ausgabe: Adagiorum Opus exquisitiore quam antehac unquam cura recognitum [...] accesserunt ferme quinque Centuriae, Basel (Froben) 1533; Chiliadis Tertiae Centuria V I I , S. 711 - 7 8 6 . Vgl. zur Stelle S. 772: »Quaedam aves natura placidae sunt ac mites, tum quae ferae sunt, tarnen arte cultuque cicurantur, ac mansuescunt. Sola aquila, nec est habilis ad ullam disciplinam, nec ullo studio potest mansuescere.« D e r zweite Teil von Francks Zitat folgt bei Erasmus nach einem Einschub von 16 Zeilen, in denen H o r a z , carm. I V 4, zitiert wird. Es geht weiter: »tarnen illud inter omnes convenit, quod rostro sunt vehementer adunco, nec minus aduncis unguibus, ut vel ex ipso corporis habitu possis anteiligere, carnivoram esse avem, quietis ac pacis inimicam, pugnis, rapinis, ac praedationibus natam. E t quasi parum sit carnivoras esse, sunt & quae ossifragae dicantur, & sint.«

Staatsgefährdende Allegorese

63

die rechtgelehrten hoffieren / die gesatz weichen dem Adler / da gilt nicht weder redit / bilichkeit noch gotseligkeit / auch kein freüntlichkeit / wie w o l nit wenig höflich vögel ungestimpt zu singen / der art seind / das auch die stein möchten bewegen. Doch gilt weit mer der unartig trotzig vogel / der mit gewalt alles zu y m zeucht und under sich wirfft 4 5 . F r a n c k s V e r f a h r e n u n t e r s c h e i d e t sich, w i e w i r sehen, v o n d e r g e l ä u f i g e n T e c h n i k satirischer T i e r a l l e g o r e s e . M o r a l i s c h e Q u a l i t ä t e n w e r d e n n i c h t d u r c h Z u w e i s u n g eines e d l e n b z w . v e r ä c h t l i c h e n T i e r e s d e m o n s t r i e r t . Es

kommt

n i c h t d a r a u f a n , d i e D i s k r e p a n z z w i s c h e n d e n » T u g e n d e n « eines W a p p e n seines T r ä g e r s z u z e i g e n . D i e s w a r e n

geläufige

M ö g l i c h k e i t e n d e r d i d a k t i s c h e n Fürstenschelte, w o b e i gerade d i e

tiers u n d d e m V e r h a l t e n

positiven

D e n o t a t i o n e n u n d s o m i t d i e G e l t u n g des Zeichens u n b e s t r i t t e n

blieben48.

F ü r F r a n c k decken sich d i e V e r w e i s u n g s p o t e n z e n des S i n n t r ä g e r s erst

mit

d e r R e a l i t ä t , i n d e m das Z e i c h e n aus seinem g e w o h n t e n V e r w e n d u n g s s c h e m a gelöst w i r d . G e n u t z t w i r d h i e r b e i d i e M ö g l i c h k e i t d e r

Proprietätenallego-

rese, b e d e u t u n g s t r a g e n d e M e r k m a l e » i n b o n a m « o d e r » i n m a l a m

partem«

z u i n t e r p r e t i e r e n 4 7 . D i e s w i r d sich C y r i a c u s S p a n g e n b e r g i n seiner P o l e m i k gegen F r a n c k z u n u t z e m a c h e n ( d a z u u n t e n A b s a t z

IV).

45 Gb, fol. C X I X v. D a z u Erasmus (s. Anm. 44), S. 773: »Age si quis mihi iam physionomos non omnino malus, vultum ipsum & os aquilae diligentius contempletur, oculos avidos atque improbos, rictum minacem, genas truculentas, frontem torvam (eine Anspielung auf Cyrus wird weggelassen — W . K . ) , nonne plane regium quoddam simulacrum agnoscet, magnificum ac maiestatis plenum. (Die folgenden 9 Zeilen nicht bei Franck — W . K . ) A d hunc inquam aquilae stridorem ilico pavitat omne vulgus, contrahit sese senatus, observit nobilitas, obsecundant iudices, silent theologi, assentantur iureconsulti, cedunt leges, cedunt instituta: nihil valet, nec fas, nec pietas, nec aequitas, nec humanitas. Cumque tarn multae sint aves non ineloquentes, tarn multae canorae, tamque variae sint voces ac modulatus, qui vel saxa possint flectere, plus tarnen omnibus valet insuavis ille et minime musicus unius aquilae stridor.« 4C Zur Fürstenschelte s. Dietrich Sdimidtke (hier Anm. 39), Teil 1, S. 177; zur satirischen Tierallegorese denke man beispielsweise an Hans Sachsens »wittenbergisch nachtigall«: dazu Bernd Balzer, Bürgerliche Reformationspropaganda. Die Flugschriften des Hans Sachs in den Jahren 1523 - 1525, Stuttgart 1973, bes. S. 38 ff.; Winfried Theiss, Exemplarische Allegorik. Untersuchungen 2u einem literarischen Phänomen bei Hans Sachs, München 1968, bes. S. 122 ff. Z u m gesamten Umkreis des reformatorischen Propagandaschrifttums s. Konrad Hoffmann, »Typologie, Exemplarik und reformatorisdie Bildsatire«, in: J. N o l t e / H . Trompert / C. W i n d t horst (Hgg.), Kontinuität und Umbruch. Theologie und Frömmigkeit in Flugschriften und Kleinliteratur an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Beiträge zum Tübinger Kolloquium des Sonderf or schungsber eidos 8, Spätmittelalter und Reformation (31. M a i - 2. Juni 1975), Stuttgart 1978 ( = Spätmittelalter und Frühe N e u zeit. Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 2), S. 189 - 210. 47 So schon der Grundsatz im Hoheliedkommentar des Honorius Augustodunensis (PL 172,469): »Significatio namque rerum mutatur secundum diversitatem sensuum«. Für die Bibelallegorese lag in dieser Ausrichtung auf die jeweilige »voluntas auctoris« eine Gefahr: vgl. C. Meier, Überlegungen (s. o. Anm. 6), S. 17. Es ist der Punkt, wo sich der grundsätzlich instrumental-rhetorische Charakter des allegorischen Verfahrens zeigt.

64

Wilhelm Kühlmann D i e Durchschlagskraft v o n Francks A r g u m e n t a t i o n w i r d dadurch erhöht,

d a ß er n i c h t n u r i n l i n e a r e n A n a l o g i e n a r g u m e n t i e r t . A u s seiner

Vorlage

( E r a s m u s ) ü b e r n i m m t er r h e t o r i s c h e F i g u r e n w i e ζ . B . d i e d e r sarkastischen Ironie: Yedoch under so v i l übel damit der Adler behafft ist / ist doch das zu loben das er kein sauffer ist / und gar nicht geil noch unkeüsch / wie raubgirig er sunst ymmer ist. I n dem übertreffen unsere Adler weit yr wappen [ . . . ] 4 8 . I m m e r w i e d e r w i r d die gemeinsame E r f a h r u n g

v o n A u t o r u n d Leser

gesprochen u n d das eigene U r t e i l des P u b l i k u m s g e f o r d e r t . K e i n

d a ß F r a n c k a u f das E r l e b n i s d e r B a u e r n k r i e g e u n d T ä u f e r v e r f o l g u n g e n z i e l t . Es s i n d f r e i l i c h k e i n e u n e r h ö r t e n V o r g ä n g e , s o n d e r n

an-

Zweifel, ab-

Wiederholungen

e i n e r i n d e r m e n s c h l i c h e n Geschichte g e l ä u f i g e n G r a u s a m k e i t . D a s Q u e l l e n m a t e r i a l , A n n a l e n u n d C h r o n i k e n , b e s t ä t i g t i n d e r O p t i k des Verfassers d i e eigene, pessimistisch b e t r a c h t e t e L e b e n s w i r k l i c h k e i t 4 9 . E r s t d a d u r c h w i r k t d i e A d l e r - A l l e g o r e s e als e m b l e m a t i s c h e r Schlüssel d e r e r z ä h l t e n H i s t o r i e .

Darin

l i e g t i h r e F u n k t i o n als P r o l o g . Was

Franck

Unparteilichkeit

nennt,

korrigiert

die

idealistischen

Vor-

u r t e i l e d e r F ü r s t e n s p i e g e l . G e n a u w i e E r a s m u s w a r sich a u c h F r a n c k dieser desillusionierenden W i r k u n g b e w u ß t : Sprichstu hie heymlich / mein leser / was soll diß bildnüß oder vogel zum künig / des eygen lob sein soll gütigkeit / senfftmut / das er niemandt wolle / wie fast er müge / schaden / und allein on angel sey / ja sich gantz i n des volcks nutz verzören / und in der summa mer der beste / dann der gröst sey. D i ß muster eins Fürsten von Philosophen entworffen / ist gleich w o l lobs werdt / weiß aber nicht ob solch fürsten den gemeinen nutz in der statt Piatonis handthaben / und administrieren / yhe in den Chronidken findt man kaum ein oder zwen / den du zü disem exemplar dürffest halten 5 0 . 48 Gb, fol. C X X I I . Vgl. Erasmus (s. Anm. 44), S. 777: »Et tarnen in tarn multis vitijs est, quod laudare possis. Minime bibaces, minimeque salaces, quae maxime sunt rapaces.« D e r letzte Satz des Zitats stammt, wie man sieht, von Franck. 49 Vgl. Gb, fol. C X X I I v f f . : »Aber was such ich wasser in dem M ö r / weil alle Chronick (wiewohl sye mit heüchlerey durchspickt seind / und yr thorheit allenthalb auff das glümpffigst so sye umb gehen mögen darthon ist) von yrer schedlichen thorheit und Adlerisdier art redlich bezeügen . . . « I n den angezogenen Beispielen sowie in der Einführung des Begriffs »Torheit« deutet sich an, daß Franck sich im zweiten Teil der Vorrede auf Erasmus* Adagion »Aut regem aut fatuum nasci oportet« stützt; in der Ausgabe 1533 (s.o. Anm. 44) Chiliadis Primae Centuria Tertia, S. 94 ff. 50 Gb, fol. C X I X ; nach Erasmus, Scarabaeus (s. Anm. 44), S. 772/73: »Sed hic protinus tacite mihi dicis optime lector, quid haec imago ad regem, cuius propria laus est dementia, cumque plurimum possit, nulli tarnen velie nocere, ac solum aculeo carere, seseque to tum in populi sui commoditates impendere, adeo ut N i l o x e nus ille sapiens rogatus, quid esset utilissimum, respondent rex, I d esse proprium veri principis indicans, ut quantum an ipso sit, nemini noceat, prosit omnibus, sitque magis optimus quam maximus. Quanquam non alia ratione potest maximus, nisi

Staatsgefährdende Allegorese

65

I n diesem Sinne entwirft Franck eine hier nicht i m einzelnen zu referierende Phänomenologie bedrückender Erfahrungen der Z e i t : dynastischer Ehrgeiz, Raublust, W i l l k ü r , Unterdrückung, Grausamkeit, Kriegslust, Machtanmaßung, Elend des höfischen Daseins. Politische Alternativen liegen, wie kaum anders zu erwarten, außerhalb des Horizonts, wenn auch an einer Stelle die Feindschaft des Adlers zu den Kranichen vermerkt w i r d : villeicht darumb / das disen gefeit Democratia / das ist gleiche herrschaft viler in einem Reich / dem die fürsten besunder aberhold seind 51 .

Franck wollte Idole entlarven, die seiner Meinung nach auch den Herrscher daran hinderten, der Stimme des christlichen Gewissens zu folgen. D i e Hoffnungen auf ein irdisches Gottesreich vermochte er nicht zu teilen. N i c h t nur Amtskirche u n d Obrigkeit, sondern auch der »Herr Omnes« schienen Franck grundsätzlich dem Ungeist u n d der Faszination weltlichen Machtstrebens verfallen. Wer v o n Francks »Volksverbundenheit« spricht, kann auf seine ungewöhnliche Sensibilität u n d humane Solidarität verweisen, verschleiert aber allzu leicht die illusionslosen, ja i n vieler Hinsicht elitären Grundzüge seines Denkens 5 2 . III Wie mehrfach angemerkt, hält sich Franck i n Teilen seiner Vorrede an einen Text des Erasmus v o n Rotterdam. Diese Anlehnung ist nicht überraschend. W i r wissen, daß die Schriften des Erasmus i m Gesamtwerk Francks eine bedeutende Rolle spielen 53 . Rationalistische Bibel- u n d D o g m e n k r i t i k sowie die moralistische Zentrierung der Theologie waren Erbe des H u m a nismus. Auch i n der Frage der Willensfreiheit schlug sich Franck trotz einiger Skrupel auf die Seite des Erasmus. D i e Synthese sokratischer Intellektualität m i t einer weltüberhobenen Frömmigkeit, die sich i n der Figur des Toren i n Christo verkörperte, mag Franck zur Übersetzung des Lobs der Torheit ut sit quisque optimus, hoc est, beneficentissimus in omnes. Equidem exemplar laudo non inscite depictum a philosophis, et haud scio, an eiusmodi principes administrent rempublicam in urbe Platonica. Verum in annalibus vix unum aut alterum reperias, quem ausis cum hac imagine componere.« 51

Gb, fol. C X X I nach Erasmus, Scarabaeus (s. Anm. 44), S. 776.

52

Francks Skepsis dem »Volk« gegenüber: vgl. Peuckert (s. Anm. 7), S. 145 ff.; Hegler, Geist und Schrift (s. Anm. 2), S. 254 f. Zur marxistischen Inanspruchnahme Francks vgl. das Vorwort zur Neuausgabe seiner Paradoxa, hgg. und eingeleitet von Siegfried Wollgast, Berlin 1966. 53 Nach wie vor grundlegend: Rudolf Kommoß, Sebastian Tranck und Erasmus von Rotterdam, Berlin 1934 ( = Germanische Studien 153); Nachdruck: Nendeln/ Liechtenstein 1967; zu der Vorrede hier nur eine kurze Bemerkung S. 31; vgl. ferner Peuckert (s. o. Anm. 7), S. 449 ff. sowie Jean Lebeau, »Erasme, Sébastien Franck et la tolerance«, in: Erasme , l'Alsace et son temps, Strasbourg 1971, S. 117 - 140.

5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

66

Wilhelm Kühlmann

bewogen haben. Auch daß Francks Sammlung v o n Sprichwörtern misdies entlehnt, ist nachgewiesen.

Eras-

Eine detaillierte quellenkritische Synopse v o n Francks Vorrede m i t des Erasmus Adagien-Kommentaren würde den gebotenen Rahmen dieser Ausführungen sprengen. Beantwortet werden muß aber jedenfalls die Frage, inwieweit Francks allegorisches Verfahren bereits i n der Vorlage ausgeprägt war. Heranzuziehen ist v o r allem Erasmus* Erläuterung des Wortes »Scarabaeus A q u i l a m querit«: »Der Roßkäfer sucht den Adler«, zuerst erschienen i n der Ausgabe v o n 1515, anschließend v o n Froben u n d anderen mehrfach separat nachgedruckt 54 . Zugrunde liegt eine Fabel des Ä s o p 5 5 . Erasmus hält sich an das Erzählmuster dieser Fabel u n d übernimmt auch das angehängte E p i m y t h i o n , die N u t z w e n d u n g i n der Analogisierung auf die Menschenwelt. Es ist die Warnung v o r der Feindschaft der kleinen Leute (»homunculi«). D i e narrative Vorlage dient freilich nur als weitgespannter u n d vielfach durchbrochener Rahmen eines ausgreifenden Essays. D i e Porträts beider Tiergattungen verselbständigen sich, werden i n Exkursen philologisch, anekdotisch u n d enzyklopädisch erläutert. Franck läßt die den Käfer betreffende zweite H ä l f t e des Erasmus-Textes fast ganz außer A c h t 5 6 . E r w ä h l t die fürstenkritischen Passagen aus u n d verzichtet auf die polyhistorischen Abschweifungen. Weggelassen werden auch abschwächende oder verallgemeinernde Leseanweisungen. Das Übernommene w i r d größtenteils wörtlich übersetzt. I m Grundsätzlichen verschiebt sich der Schwerpunkt der Argumentation. Während bei Erasmus der Diskurstyp eines pädagogischen Fürstenspiegels erhalten bleibt, freilich durchaus konzentriert auf die paradigmatische Analyse tyrannischer Herrschaft, k o m m t es Franck auf die K r i t i k eines fehlgeleiteten herrschaftlichen Selbstverständnisses an, das sich i n negativer Praxis folgerichtig bestätigt. Deshalb w i r d hier auch die bei Erasmus nur rudimentär angedeutete zweite Sinnebene, die der Wappenallegorese, akzentuiert u n d w i r d so z u m Instrument einer radikal-christlichen Ideologiekritik. N i c h t bei Erasmus zu finden w a r auch die explizite Deutung des Adlersignums auf Kaiser u n d Reich. 54 Zur Druck- und Entstehungsgeschichte s. Margaret M a n n Philipps, The »Adages « of Erasmus. Α. Study with Translations , Cambridge 1964, S. 229 ff. (mit englischer Übersetzung des Adagions). 55 Antike Fabeln, eingel. und neu übertragen von Ludwig Mader, München 1973 ( = D T V - T b 6024), S. 101 f. 58 Bei Franck w i r d aus dem Schluß der Fabel eine Aufforderung zur »humilitas« (Gb, fol. C X X I V ) : »Ich wünsdi das nitt ewig der arm roßkeffer seines elends eingedenck zu seim grossen verderben ein Adler suche / sunder sein glück unnd eygentschafft betracht und sich zu dem nidrigen ding halt wie Paulus lert / Roma. X I . und X I I . «

Staatsgefährdende Allegorese

67

Daß Franck v o n einer anderen Ebene aus als Erasmus argumentiert, zeigt sich i n der bei dem Humanisten weitgehend ausgesparten Kontrastierun g weltlichen Herrschaftsverhaltens m i t dem Anspruch der biblischen Botschaft. D i e K r i t i k des Erasmus ist pädagogisch, moralisch-affekttheoretisch m o t i viert, bleibt bezogen auf den K a n o n v o n Herrschertugenden 57 . Francks Schärfe dagegen resultiert aus dem Anspruch des Christen, aus dem strikten Pochen auf eine durch die Erlösungstat Christi beglaubigte menschliche W ü r d e 5 8 . Deshalb finden w i r zitatweise Bündelungen biblischer, v o r allem von den Propheten vorgetragener K r i t i k an Reichtum u n d Macht: Aber sag an weither hat sein adlerische art gelassen / unnd zu disem fürbild (Bezugnahme auf Deuteronomion K a p . X V I I — W . K . ) sidi gehalten? Ich weiß nitt ob es D a v i d unnd Ezechias an gemasset haben / so gar reiß das glück den man dahin [ . . . ] . Also so einer gleich sehend unnd der gütlin ins regiment k u m p t / steet er doch gemeinklich wie ein Tyrann und adler darvon / und laßt es andern Greifen hinder ym. So gar kan die menschlich blödigkeit das glück und gut tag nit ertragen noch meister sein / dz v i l für ein ewig Evang. haben / blintheit und thorheit muß dem glüdt und reichthummern folgen. D a n n da w i r t der mensch in disem übel gar von Gott und dem unsichtparen abkert / auff das siditpar / zeitlich unnd creaturisch wesen / das nicht vergebens Christus die reichthumb dorn heißt / mit den man kleißpar muß umbgehen / als an den man sich bald kretzet. D e r halb ist j n fast allenthalb we we zugesagt. Esa V . Luc. V I . V i l i . Amos I U I . V . V I . unnd die reichen ein solch wilpreth inn dem reich gottes [ . . . ] Christus selbs nentt M a t h . X I X . 5 0

Nicht nur wegen dieser evangelischen Grundposition muß — aller Quellenbezüge ungeachtet — die Vorrede Francks als eigenständige Leistung gelten. Bei Erasmus handelte es sich u m die Auslegung eines antiken Textes, bei dem z w a r deutlich, aber doch nur i n der Distanz historisch-philologischer Adnotationen zeitgenössische Erfahrungen vorgetragen werden. Bei Franck w i r d aus dem Essay das programmatische Scharnier eines Geschichtswerkes m i t betontem Wahrheitsanspruch. Vorrede u n d Fakten sollen sich gegenseitig beglaubigen. Aus der ins Satirische reichenden Polemik des H u m a nisten schält sidi der W i l l e z u einer Revision grundlegender Geschichtsbegriffe heraus. 57 D i e Adagien waren von Erasmus als säkulares, ganz auf die Antike bezogenes Werk geplant, verschlossen sich jedoch in späteren Zusätzen nicht mehr grundsätzlich biblisdien Referenzen; vgl. zum Gesamtproblem des christlichen Gehalts M . M . Phillips (s. o. Anm. 54), S. 25 ff. 58 Vgl. Gb, fol. C X I X v ; Franck hat hier (1. Absatz) in eine aus Erasmus übersetzte Passage den Hinweis auf Christi Erlösungstat eingeflochten: »also/so man es bey dem liecht besieht / und nahend erwigt / das man wohl mag sprechen / sye (die Könige — W . K . ) haben ein roß umb ein pfeiffen geben / das ist / so v i l köstlidis blut durch Christum erkaufft so v i l witwen und weisen gmacht / umb ein wenig erdtridis / ja etwa allein umm ein öden titel und lären namen.« 59

5*

Gb, fol. C X I I I v.

Wilhelm Kühlmann

68

D a z u k o m m t der Unterschied der Publikationsformen. Erasmus* Adagion steht i m Erstdruck abgedeckt u n d quasi verborgen inmitten eines v o l u m i nösen Werks i n lateinischer Sprache. Auch i m F a l l der Separatdrucke fingen sich die kritischen Vorstöße doch i n der Rezeption eines beschränkten Leserkreises, i n einer durch das Latein genau umzirkelten, restringierten Öffentlichkeit. Bekanntlich w a r dies i m Sinne des Erasmus, legte er doch Wert darauf, heikle theologische und politische Fragen i m Kreis der Gebildeten zu diskutieren. Erst durch Francks Übersetzung ist dieser Bannkreis gebrochen. Erst i n der Vorrede w i r d aus dem Text des Erasmus — samt allen Veränderungen — eine unverwechselbare Stellungnahme i m publizistischen K a m p f der Zeit, eine Stimme innerhalb der sich eben entfaltenden literarischen Öffentlichkeit 8 0 . Freilich mag gerade diese Tatsache das tragische F a k t u m erklären, daß Erasmus selbst m i t seiner Anzeige an den Straßburger Rat z u m Vorgehen gegen Franck maßgeblich beigetragen h a t 8 1 . Erasmus sah sich zu Unrecht i n die »Ketzerchronik« aufgenommen — dies i n einer für i h n sehr schwierigen Zeit des Lavierens zwischen den sich verhärtenden konfessionellen Fronten. N i c h t auszuschließen ist, daß er sich durch Francks Vorrede auch als I n augurator umstürzlerischer politischer Anschauungen mißbraucht fühlte.

IV Daß neben den anderen Werken Francks auch seine Geschichtsbibel weit verbreitet w a r und viel gelesen wurde ergibt sich aus der Druckgeschichte sowie aus verstreuten Zeugnissen 82 . Versuche, die Vorrede zu widerlegen, sind freilich i n der Franck-Forschung bisher nicht notiert. Der bösartige Angriff Luthers 8 3 setzt sich m i t Francks Argumenten nicht auseinander, äußert nicht viel mehr als den W i d e r w i l l e n gegen eine als destruktiv verstandene theologische und politische Position. Diese Abwehrgeste ist insofern 00 Medium dieser Öffentlichkeit waren natürlich vor allem die Flugschriften, die auf Breitenresonanz abzielten und alle Stände ansprechen wollten. D i e Ausbildung einer deutschen »Gemeinsprache« hängt mit diesen Vorgängen unmittelbar zusammen. D a ß auch Francks Geschichtsbibel »gemein« wurde und entsprechende polemische Resonanz herausforderte, ergibt sich aus der im folgenden (Abschnitt I V ) dargestellten Widerlegung durch Spangenberg. 61

Vgl. Teufel (s. o. Anm. 18), S. 35; Weigelt (s. o. Anm. 2), S. 38.

62

Zur Verbreitung der Geschichtsbibel s. Oncken (hier A n m . 12), S. 432 f.; vgl. die Darstellungen zur Franck-Rezeption in Kreisen protestantischen Sekten einschließlich der holländischen Arminianer (Cornheert), Teufel (s.o. Anm. 18), S. 109 ff.; Weigelt (hier Anm. 2), S. 63 ff. Die Drucke der Geschià>tsbibel (nach 1536 nodi deutsche Editionen in den Jahren 1543, 1550/51, 1555, 1565, 1585) sind aufgeführt bei Kaczerowsky (s. o. Anm. 1), S. 57 ff. 63

S.o. Anm. 3.

Staatsgefährdende Allegorese

69

zu verstehen, als sich aus Francks Spiritualismus i n der T a t für die Stabilisierung und Legitimierung äußerer Ordnungen i n Kirche u n d Staat keine Anhaltspunkte entnehmen ließen. Luther u n d m i t i h m Melanchthon 6 4 sahen i n Francks Geist-Theologie einen ins Ungreifbare verschwimmenden, dogmatisch desinteressierten Subjektivismus, durch den die Glaubensbotschaft der W i l l k ü r und die Gläubigen der Hilflosigkeit preisgegeben waren. U m so größere Aufmerksamkeit verdient die A r t u n d Weise, wie der orthodox-lutherische Geistliche Cyriacus Spangenberg (1528 - 1604) auf Francks Vorrede nicht nur polemisch, sondern m i t dem Versuch eines allegorischen Gegenbeweises reagiert. Spangenberg gehörte zu einer bekannten Theologenfamilie des Jahrhunderts 6 5 . Sein Vater, Johann Spangenberg, zählte zu den Schülern Luthers und w i r k t e als Superintendent i n der Grafschaft Mansfeld. Der Sohn wurde dort 1559 Hofprediger, mußte jedoch später wegen seiner Stellungnahme i n den orthodoxen Richtungskämpfen der Zeit ins E x i l gehen. Seinen Adelsspiegel veröffentlichte er 1591 als Pfarrer v o n Vacha a. d. Werra (Hessen). Später ging er nadi Straßburg, w o sein Sohn W o l f h a r t Spangenberg sich als Verfasser deutschsprachiger Literatur einen bedeutenden N a m e n machte 68 . Wie bereits der U n t e r t i t e l und das V o r w o r t ausweisen, w i l l Spangenberg sein W e r k »dem gantzen Deutschen A d e l zu besonderen Ehren« geschrieben haben. Das Handbuch, entstanden als Zusammenfassung aller Informationen z u m Topos de nobilitate* 1, ist v o n großem u n d noch unerschlossenem k u l turgeschichtlichen Wert. Es verschließt die Augen nicht v o r der Krise der N o b i l i t ä t infolge konkurrierender Ansprüche des Brief- u n d Geldadels, realisiert auch den mannigfachen Machtmißbrauch der Feudalherren besonders auf dem Lande, versudit dem jedoch durch eine konservative Reaktua64 Unter Melanchthons Einfluß wurde Franck offiziell 1540 bei dem Konvent protestantischer Theologen in Schmalkalden verurteilt. H i e r stand jedoch nicht die Geschichtsbibel im Mittelpunkt, sondern Francks Paradoxa (1534). 65 Vgl. die Artikel in: A D B 55, S. 37 ff.; R G G V I , 3. Aufl. 1962, S . 2 2 3 ; Fritz Behrend, »Die Spangenbergs« [ . . . ] , in: 2s. f. Kirchengeschichte, Dritte Folge VII, Bd. L V I (1937), S. 114 ff.; zu Cyriacus Sp. speziell: Wilhelm H o t z , Cyriacus Spangenbergs Leben und Schicksale als Pfarrer in Schlitz von 1580-1590, in: Beiträge zur hessischen Kirchengeschichte, Bd. I I I (1906), S. 205 ff., 265 ff.; A . E. Berger (Hg.), Kunstprosa der Lutherzeit, Leipzig 1942 ( = D L E . Reihe Reformation, Bd. 7), S. 83 ff. ββ Z u Leben und Werk s. Hans Müller, »Wolfhart Spangenberg (gegen 1570 1636)«, in: ZfdPh 81 (1962), S. 129 - 168; 385 - 401 ; ibid. 82 (1963), S. 454 - 471. 67 So im Vorwort des 1. Teils (s. o. Anm. 5), unpag., fol. )iiij; zum Verständnis und zur arbeitstechnischen Handhabung des »locus communis« s. Joachim Dyck, Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. 2. Aufl., Bad H o m burg v. d . H . usw. 1969 ( = Ars Poetica, Bd. 1), S. 59 ff.; August Buck, »Der Wissenschaftsbegriff des Renaissance-Humanismus«, in: Wolfenbütteler Beiträge 2 (1973), S. 45 - 6 3 .

Wilhelm Kühlmann

70 lisierung überkommener pflichtung

Tugendforderung

auch des A d e l s

auf

in Verbindung

humanistische

mit

einer

Leistungsbegriffe

Ver-

entgegen-

z u t r e t e n . D i e Ü b e r l a g e r u n g verschiedener P r o b l e m k r e i s e i n d e n R e a k t i o n e n a u f zeitgeschichtliche K r i s e n e r s c h e i n u n g e n d e r t r a d i t i o n e l l e n

Ständeordnung

k a n n hier nicht b e h a n d e l t w e r d e n . F ü r unser T h e m a ist bedeutsam, d a ß nach d e m B e r i c h t S p a n g e n b e r g s d i e Geschichtsbibel V o r g e s c h i c h t e des Adelsspiegels

Francks u n m i t t e l b a r m i t

der

i n Z u s a m m e n h a n g gebracht w i r d :

Demnach dann nu umbs 1540. J a h r / a l s unlängst zuvor die grosse deutsche Chronica Sebastian Francken in Druck gangen / und gemein worden war / wie man denn zu derselben zeit / ohne des Carions Chronica / nichts sonderliche von rechtschaffen ordentlich gefasten Historien aller Geschichten von der Welt anfang in deutscher Sprache gehabt (denn des H a r t t m a n Schedels grosse Nürnberger Chronica nicht jedermanns kauff gewesen / so war die alte Sächsische Chronica nicht so gemeine) unnd gleidiwol verstendige Leute mit des Francken newen Chronica nicht aller dinge zufrieden sein k o n d t e n / u n d derentwegen mein lieber Vatter (seliger) M . Johann Spangenberg / damals Pfarrherr und Prediger des göttlichen Worts in der Keyserlichen freyen Reichsstadt Northausen / von etlichen fürnemen Herren und guten Leuten / sonderlich aber von dem Durchlauchtigen Hochgebornen Fürsten und H e r r n / H e r r n Philippen dem altern / Hertzogen zu Brunschwig und Grubenhagen / auch von dem Hochwirdigen Fürsten und H e r r n / H e r r n Frantzen / Bischoff zu Münster [ . . . ] (Es folgen weitere Namen. W . K.) mehr denn einmal angelanget ward [ . . . ] eine gemeine deutsche Chronica zu verfertigen / die zum ersten mit etwas besserm und verstendlidierm deutsch / darnach audi ordentlicher und richtiger / denn des Francken confusum Chaos möchte geschrieben sein / darein auch nicht so viel unnötiges und ungereimtes geschwätze / wie in derselben/möchte eingemenget werden: H a t mein lieber Vater endlichen in solches gewilliget / und das Werck disponirt 6 8 . W e g e n z u g r o ß e r A r b e i t s b e l a s t u n g ü b e r g i b t d e r a l t e S p a n g e n b e r g 1 5 4 7 das P r o j e k t seinem Sohn, der v o n A n f a n g a n bei d e n V o r a r b e i t e n h a t t e . N a c h M e l a n c h t h o n s A u s g a b e d e r Chronica

Carionis

69

mitgewirkt

verliert

Cyria-

cus d i e L u s t a n d e m W e r k u n d w e n d e t sich a n d e r e n h i s t o r i s c h e n A r b e i t e n z u 7 0 . Es ist b e m e r k e n s w e r t , d a ß sich das a l t e M o t i v , d i e Calumnien

Francks

z u w i d e r l e g e n , s c h l i e ß l i c h m i t d e m n e u e r l i c h e n A n t r a g ü b e r s c h n e i d e t , gegen eine e b e n erschienene a d e l s k r i t i s c h e Schrift

vorzugehen:

68 Adelsspiegel (s. Anm. 5), 1. Teil, Vorwort (unpag.), fol. )ij; daß gerade der Bischof von Münster zu den Anregern einer Schrift gegen Franck gehört, paßt zu der These, daß Franck unter den Münsteraner Wiedertäufern Anhänger wie Bernt Rothmann hatte: vgl. H . v. Schubert, »Der Kommunismus der Wiedertäufer in Münster und seine Quellen«, in: SBB d. Heidelb. A k . der Wissenschaften, Phil.Hist. Klasse, 1919, 11. Abh., S. 46 ff. 69 Melanchthon hatte die Weltchronik des Johann Carion ins Lateinische übersetzt und erweitert. Das Werk erschien 1558/60; vgl. zu Carion oben A n m . 12 sowie: Philipp Melanchthon. Humanist, Reformator, Praeceptor Germaniae, Berlin 1963, S. 153 ff. 70 Adelsspiegel — wie Anm. 68 — , fol. )iij; Spangenberg wandte sich daraufhin seinem bedeutendsten historiographischen Werk, der M ansfeldischen Chronik, zu.

Staatsgefährdende Allegorese

71

Als mir nu Anno 1581, von etlichen stadtlidien Junckern ein extract aus einer Oration Nicodemi Frischlini ubergeben / und ich gebeten worden / etwas darwider zu stellen/habe ich die gantze O r a t i o n / w i e dieselbige in Druck gegeben worden / begeret zu sehen / damit ich intentionem Autoris gewis haben köndte / denn aus solchen nur ausgezwackten puncten nicht leichtlich von des Autoris meinung zu richten/viel weniger publice darwider zu schreiben: D a ich als dann befinden würde / das der Autor den gantzen löblichen Adel dergestalt (wie aus dem extract geschlossen werden wolte) zun Unehren angegrieffen / geschmehet / verurteilt und verdampt / wolte ich j h m der gebür und mit solchem gründe begegnen / das sein unbefugtes fürnemen menniglichen bekant / und einem ehrliebenden Adel sein gebürlicher rhum zur billigkeit gnugsam und notdürfftiglich wider alle calumnien / schmach und lesterung solte gerettet werden 7 1 .

Es handelt sich bei Frischlins Schrift u m seine berühmt-berüchtigte Rede de vita rustica , deretwegen er als ein zweiter Thomas Münzer verschrien wurde u n d die letztlich den A n l a ß zu seiner fortdauernden Verfolgung gab 7 2 . Spangenberg verzichtet jedoch auf eine Streitschrift gegen Frischlin, angeblich w e i l i h m die »die vollstendige O r a t i o n N i c o d e m i n i d i t w o r d e n / n o d i zukomen«, u n d macht sich statt dessen an seine collectanea , u m die Adelsdiskussion i n einer umfassenden Darstellung abzuklären u n d abzufangen. Was sich i m Blick auf diese Informationen zeigt, ist mehr als die akute Interessenlage, die hinter der Abfassung des Adelsspiegels steht. Es ist vielmehr die sich an Frischlins Rede v o n neuem bildende Frontstellung zwischen Orthodoxie einerseits u n d der gesellschaftskritischen A l l i a n z z w i schen l i n k e m Protestantismus u n d Teilen der humanistischen Bewegung andererseits. Deshalb w i r d die (vielleicht für das alte Chronikprojekt schon verfaßte) Widerlegung Francks i n das neue W e r k übernommen u n d versteht sidi somit auch als Gegenentwurf zur Adelskritik bei Frischlin. Spangenbergs Adelsspiegel beschäftigt sich i m ersten Buch des zweiten Teils m i t dem Thema »Woher der Name A d e l komme / was für ehre und rhum / auch manche notwendige gute erinnerung solcher name gebe. I t e m / v o m A d l e r : Beneben einem Regentenspiegel / was die Obrigkeit am A d l e r für lehre / darnach sie sich zu richten / u n d für warnung / w o f ü r sie sich zu hüten / nemen sollen«. Neben der etymologischen Spekulationen über die semantisdie Kohärenz v o n »adel« u n d »edel« (Kap. 1) akzeptiert der Verfasser, wenn auch nicht ohne Bedenken, die sinnvolle allegorische Bezie71 72

Adelsspiegel — wie Anm. 68 — , fol. )iiij.

N . Frischlin, Oratio de vita rustica [...] recitata Tubingae anno 1578, Tübingen 1580; abgedruckt in: Ν . F. Orationes insigniores aliquot: in publicis publicarum Germaniae Academiarum consessibus habitae, olimque seorsim excusae: Nunc vero [...] coniunctim editae. Opera et studio M . Georgii Pfluegeri, Straßburg 1598, S. 253 - 333; zu den damit zusammenhängenden Angriffen vgl. D . F. Strauß, Leben und Schriften des Dichters und Philologen Nicodemus Frischlin. [ . . . ] , Frankfurt/M. 1856, bes. S. 173 ff.; 253 ff. Eine neuere Untersuchung dieser Rede i m historischen Zusammenhang ist ein dringendes Bedürfnis.

Wilhelm Kühlmann

72

hung v o n »Adel« u n d »Adler«, also den Ansatz Francks 73 . Unter diesen Auspicien verstehen sich die folgenden K a p i t e l 4 - 1 2 (S. 2 v . ff.) als eine Franck genau gegenläufige Proprietätenallegorese, die i n der Reihenfolge der interpretierten A t t r i b u t e ziemlich exakt der Argumentation der Geschichtsbibel folgt. Spangenberg beherrscht das gesamte Arsenal der allegorischen Tradition. Sprichwörter, antike Naturexegese, moderne Emblemat i k , vor allem aber die patristische Bibelexegese werden herangezogen ( H i e ronymus, Augustinus, Chrysostomus u. a.). D i e genaueren Filiationen des Quellenbezugs, der jeweils notiert w i r d , sollen hier nicht referiert werden, obwohl die gesamte Passage für die Geschichte wie auch für die pragmatische A p p l i k a t i o n der bibelorientierten Naturdeutung hervorragende Aufschlüsse bietet. I n der zweiten Auflage der Geschichtsbibel (1536) hatte Franck selbst sich m i t dem H i n w e i s entlastet, auch ein Christ wie etwa der biblische Johannes könne m i t dem A d l e r verglichen werden 7 4 . Spangenbergs Verfahren entfaltet diesen bibelhermeneutischen Ansatz i n extenso. Entsprechend der Aussageintention differieren jedoch selbst bei weitgehend identischen A t t r i b u t e n des Bedeutungsträgers die jeweiligen Interpretationen. Während bei Franck ζ. Β. die sagenhafte Sehschärfe des Adlers auf die Raubgier der Obrigkeit verweist, die durch die »tausend äugen u n d hend« des Hofstaates u n d der Bürokratie noch verstärkt werde 7 5 , heißt es zu diesem P u n k t bei Spangenberg: Es hat der Adler schöne / blawe /liebliche / helle / doch wunder scharffe / unnd zum teil ernsthaffte / unnd solche Augen / das man gleich ein entsetzen daran haben m u s / u n d sehen seine Augen ferne/saget Job am neun und dreissigsten Capittel: Also sol auch eines Regenten gesichte freundlich / und dodi auch ernst-

73 Adelsspiegel (s. o. Anm. 5), 2. Teil, fol. 1 ν (ff.), spez. fol. 2 r : »So lasse ich doch jener meinung mit passieren / unnd stelle es dahin / das es w o l sein möge / das der hohe Politische / W e l t und Amptadel in Regimenten / auch der gemeine Reutterische Adel / vom Adler möge genandt werden / das sie Edelleute / Adelleute / oder Adlersleute heissen / die zum Adler gehören / das sie dem Keyser / so den Adler füret / helffen / und j n mit dem Schwerdt wider die Feinde des Reichs vertheidigen und handhaben s o l l e n / D e n n der Keyser ist dem Volck von Gott zum H e u p t gesetzt / und dem Volck ist befohlen / dem Keyser zu dienen und zu gehorsamen.« 74 75

Gb 1536 (s. o. Anm. 4), fol. C X L I I .

Gb 1531 (s.o. Anm. 4), fol. C X X v : »Hie erzöl die tausent äugen und hend der künig / damit sie weit über den Adler seind / und im gesicht und raub übertreffen/der allein ein schnabel / zwey ä u g e n / w e n i g klaen (sie!) hat / und ein bauch. Aber unsere Adler / wie v i l haben sye auffmercker / äugen / hend / oren / wievil nägel und pflaten der Officiäl / und pfleger / wie v i l äugen der schützen / der kuntschaffter / wie v i l beüdi der richter / und advocaten / mit bodenlosem hunger besessen...«; vgl. auch zu den »drohenden Augen« des Adlers das obige Zitat Anm. 45.

Staatsgefährdende Allegorese

73

hafftig mit sein / und weit sehen können / das ist / allenthalben in der Regirung selbst mit zusehen 76 . D i e A u t o r i t ä t der spirituellen D e u t u n g w i r d hier der

politisch-didaktischen

Z w e c k s e t z u n g des D i s k u r s e s z u n u t z e g e m a c h t . D i e s g i l t a u d i f ü r d e n a l l e g o rischen T o p o s d e r A d l e r p r o b e , d e n F r a n c k v e r s c h w e i g t , S p a n g e n b e r g j e d o c h i m S i n n e einer t h e o l o g i s c h e n R e g i m e n t s l e h r e v e r w e n d e t . D i e F ä h i g k e i t des A d l e r s , i n d i e S o n n e z u schauen, e n t s p r i c h t d e r g e i s t i g e n O r i e n t i e r u n g

der

O b r i g k e i t a n C h r i s t u s 7 7 . D e r H ö h e n f l u g des A d l e r s s o l l d i e » h o h e n « G e d a n ken u n d auf G o t t gerichteten Absichten der Fürsten praefigurieren 78.

Wäh-

r e n d F r a n c k Tatsächliches aufschlüsseln w i l l , b e n u t z t S p a n g e n b e r g d i e N a t u r allegorese z u r c h r i s t l i c h - m o r a l i s c h e n K a t e c h e s e : E i n S o l l - Z u s t a n d w i r d 76

ins

Adelsspiegel (wie Anm. 73), fol. 2 ν.

77

Ibid. fol. 2 ν (mit Bezugnahme auf ein Emblem des Johannes Sambucus) : »Also sol auch ein Oberherr ein gut auffsehen haben in seinem Regiment / fürsichtiger / bedachtsamer / fleissiger unnd verstendiger sein denn andere Leut / unnd sich daran nichts jrren lassen. Doch das sein Gesicht gegen die ware und rechte ewige Sonne CHristum Jhesum gerichtet sey / nur auff denselben ohne schewe zu sehen / unnd alle Sachen nach desselben Hechte und verliehener gnade / verstand und Weisheit also zu verrichten / das sie mit gutem Gewissen / unerschrocken und unverzagt jhn ansehen mögen / und sidi nicht für seinem liecht noch glantz verstecken noch verbergen dürffen / wie die Eulen.« Z u demselben Punkt auch fol. 4 r. Zur Überlieferung der Beziehung Adler—Sonne s. Schings (hier Anm. 32), S. 34 ff. 78 Adelsspiegel (wie Anm. 73), fol. 4 r: »Die Oberkeit aber sol aus dieser eigenschafft des Adlers lernen / stets übersieh zu gedencken / und zu betrachten / von wem sie jhr A m p t und ehre haben / und derentwegen mit ernstlichem Gebet und anruffung übersieh / nicht umbschweiffender weise zur Mutter Gottes oder den H e i ligen / sondern stracks zu Gott fliegen / und den umb erhaltung / gnad und segen zu jrem A m p t anruffen / auch in gottseligkeit und allerley tugenden sich befleissigen / allen jren Unterthanen und menniglichen w o l vor zu fliegen / Nicht nur mit jrrdischen gedancken umbgehen / viel weniger in zeitlichen Wollüsten (wie ein Maulwurff in der Erden) ligen / sondern übersieh an himlische Sachen gedencken / nach dem was droben ist / trachten / im glauben / hoffnung / sehnen unnd verlangen der himlischen Güter / gleich zu übersieh fliegen / und nicht mit zweiffei und wanckelmut von einer Seiten zur andern / gleich als in der lufft hin und wider schwancken / sondern in gewieser Zuversicht göttlicher erhörung und regirung zu Gott nahen.« — M a n vergleiche hierzu eine berühmte Applizierung der Analogie von Adel-AdlerTugend im Vorbericht zu Lohensteins Arminias, Leipzig 2. Aufl. 173l·, S. L X - L X I , wo die epochalen Akzentverlagerungen sich vor allem im Wegfall der christozentrischen Perspektive und lutherischen Amts Vorstellung bemerkbar machen: dazu (mit Zitat) Wolfram Mauser, Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. [ . . . ] , München 1976, S . 2 4 8 ; hier auch S. 240 ff. eine umfassende, materialreiche sozialgeschichtliche Analyse der Adelsproblematik in der frühen Neuzeit. — V o m Typus her nähert sich Spangenbergs Katechese den Formen der emblematischen Predigt, wie sie vor allem im 17. Jahrhundert weite Verbreitung fand: dazu (exemplarisch) Dietmar Pfeil, Zur »angewandten Emblematik« in protestantischen Erbauungsbüchern. (Dilherr—Arndt—Francisci— Scriver ), Heidelberg 1978 ( = Beihefte zum Euphorion. 11. H e f t ) ; im 16. Jahrhundert erfreute sich, was naturbezogene Didaxe angeht, besonders die Tierfabel — in der Nachfolge Luthers — großer Beliebtheit: dazu jetzt Adalbert Eischenbroich, »Die Fabelpredigt des Johannes Mathesius. Z u m Problem der Analogie und Allegorie in der Geschichte der Fabel«, in: Formen und Funktionen der Allegorie, hgg. v. W . H a u g (s. o. Anm. 6), S. 452 - 477.

74

Wilhelm Kühlmann

Auge

gefaßt.

Dementsprechend

bzw. uminterpretiert,

werden

Francks

Deutungen

teils

ergänzt

teils, w o es k a u m a n d e r s g e h t (so i m H i n b l i c k

»des A d l e r s R a u b « , K a p . 11, u n d » V o n des A d l e r s F e i n d e n « , K a p . 10) das I d e a l b i l d h e r r s c h e r l i c h e n V e r h a l t e n s e i n m o n t i e r t . So b e z i e h t

auf in

Spangen-

b e r g d i e F e i n d s c h a f t des A d l e r s m i t d e n K r ä h e n a u f d e n K a m p f d e r F ü r s t e n gegen d i e a u f r ü h r e r i s c h e n B a u e r n , f o r d e r t

jedoch:

Doch verachtet der Adler solches reitzen der Krähen grosmütiglich / thut gleich als sehe er die nidit / fleugt übersieh seinen Weg auffhin / und lest sie sich unter j m mit jrer hoff art w o l verlustiren 79 . Im

Sinne einer

historisch

Warnung

konkretisiert

wird

und

an

verschiedentlich dem

Fehlverhalten

allegorischen

Beispiel

des

Adels

festgemacht 80.

S p a n g e n b e r g i s t d e n Z u s t ä n d e n seiner Z e i t g e g e n ü b e r n i c h t b l i n d , h ä l t d i e gesellschaftliche O r d n u n g j e d o c h f ü r s a k r o s a n k t u n d h o f f t a u f d i e W i r k u n g ethischer V o r h a l t u n g e n . F r a n c k k o n n t e diesen O p t i m i s m u s n i c h t t e i l e n ; d a r i n liegen die g r u n d l e g e n d verschiedenen M o t i v e der Allegorese 81. Das

13. K a p i t e l

(S. 8 v . - l l r . )

s e t z t sich e n d l i c h m i t

Francks

Vorrede

e x p l i z i t a u s e i n a n d e r 8 2 . S p a n g e n b e r g besteht a u s d r ü c k l i c h a u f d e m a u f s c h l i e ß e n d e n S i n n des a l l e g o r i s c h e n D i s k u r s e s , d e r i n d e r s i g n i f i k a t i v e n K r a f t des göttlichen Schöpfungsgedankens

d o g m a t i s c h abgesichert ist. A n d e r

Würde

79 Adelsspiegel (s. o. Anm. 5), 2. Teil, fol. 6 ν mit Bezugnahme auf Claudius Aelianus Liber de animalibus, Buch 15, Kap. 22. Gemeint ist natürlich die in der stoischen Überlieferung definierte Vorstellung der »magnitudo animi«. Spangenberg zitiert im folgenden die Scarabaeus-Fabel nach Äsop mit einem diesbezüglichen Emblem Alciatis. Auffällig, daß nirgendwo Erasmus erwähnt wird, den doch Franck als seinen Gewährsmann anführte. K a u m denkbar, daß Erasmus* Adagion von Spangenberg nicht gelesen worden ist. Doch die Strategie dieser Gegenschrift legte es Spangenberg aus begreiflichen Gründen nahe, den N a m e n des großen Humanisten aus dem Spiel zu lassen. 80 So etwa ibid. fol. 7 r (unter dem Titel »Von des Adlers Raub und Nahrung«) : » M a n redets grossen H e r r n und stadtlichen Junckern vom A d e l treflich ubel nach / wenn sie umb kleines gewinsts willen solche schlimmen Kramereyen anrichten/ Brandtenwein / Bier und Kouent (sie!) schencken / Kräntze und Blumen verkeuffen/ Ochsen und Sewtreiber werden / und also andern Leuten / jren Unterthanen / die geringe Narung / davon sie j m jr gebüre geben müssen / für dem M a u l hinweg schneiden.« 81 Für Spangenbergs Verteidigung der Ständeordnung bestimmend der Gedanke an den Sündenfall sowie der Verweis auf Römer 13: s. hierzu (u.a.) Teil 2, Buch X I I I , K a p . 95, fol. 484 r (ff.): »Von thätlidier auffrhürerischer widersetzung / wider den A d e l und Oberkeit.« — D a ß der Verfasser sich hier ausführlich mit Thomas Münzer und den Münsteraner Wiedertäuffern auseinandersetzt, weist auf die oben erwähnte Entstehungsgeschichte des Buches. 82 »Was H e r r n und Adel am Adler zur warnung brauchen / und in jrem Stande meiden sollen: Beneben einem Gegenbericht auff Sebastian Francken zumal hefftiger und geschwinden Vorrede seiner Chronica / zur Verkleinerung des Adlers geschrieben.« D a z u kommt ibid. Buch 13, K a p . 93, fol. 480 r (ff.). — D a ß Spangenberg sich durchgehend auf die zweite Auflage von Francks Geschichtsbibel bezieht, beweist das Fehlen von Angriffen auf die Analogie von Adler und Kaiserwappen.

Staatsgefährdende Allegorese

75

des Geschaffenen hat seiner Meinung nach jedes Naturwesen A n t e i l , so daß eine einseitig negative Ausdeutung wie bei Franck theologisch unhaltbar erscheint 88 . Wenn i m folgenden einzelne der gegnerischen Behauptungen wie etwa die der Unzähmbarkeit des Adlers durch wissenschaftliche A u t o r i t ä t e n oder durch anekdotisch überlieferte »Historien« entkräftet werden, begibt sich Spangenberg auf ein gedankliches Terrain, auf dem die Absicherung des allegorischen Diskurses, bisher für beide Kontrahenten verbindlich, nicht mehr gelingt. Welchen signifikativen, die Wirklichkeit entschlüsselnden W e r t haben beliebige Erzählungen v o n guten, frommen u n d zahmen Adlern, also empirische Daten? Es zeigt sich, daß die allegorische Kontroverse endgültig nur gelingen kann, w o die O r d n u n g der signifikativen Momente feststeht und nur die Zuordnung des Bedeuteten variabel ist. Dies entspräche der bekannten Kasuistik der Bildlichkeit. D i e hier angezeigte Krise der allegorischen Redeordnung ergibt sich zwingend aus der Sprengung des einheitlichen Modells des Bedeutungsträgers. A n die Stelle einer durchgehend indirekten Beweisführung anhand einer vorgängig präzisierten »res significans« t r i t t die Argumentation mittels diverser Exempel aus der Historie als direkter oder literarisch vermittelter Erfahrung. Spangenberg geht schließlich — i n einiger Beweisnot — so weit, die Legit i m a t i o n allegorischer Deutung überhaupt aufzuheben, d. h. die grundlegende Analogie zwischen Schöpfungswelt u n d Menschenwelt zu relativieren. E i n tierisches Verhalten, das einer eigenen inneren L o g i k gehorcht, ist auf die humane Lebensordnung nicht z u übertragen: Das der Adler auch die gebeine anderer Thier zerschrotet / und mit seinem Schnabel auffhewet / ist jhm so wenig verboten / und weniger unrecht / als uns eine N u ß auffzubeißen. U n d was gibt Francken solches zu schaffen? Es ist dieses vielleicht des Adlers natur / und ist j m ja kein Gesetz gegeben / darinnen j m fleisch zu essen / und blut zu trincken / oder auch nur darnach zu dürsten verboten worden 8 4 .

Jeder Versuch, aus der N a t u r o r d n u n g die Vernunft oder Unvernunft sozialen Handelns abzulesen, muß somit i n Aporien verlaufen. Deshalb bleibt der 83 Ibid. fol. 8 v : » D A r a n ist gar kein zweiffei/das Gott der H e r r uns vernünfftigen Menschen in allen / sonderlich aber in den lebendigen Creaturen / zugleich beyderley fürgebildet und für die Augen gestellet hat / Nemlich / was wir uns gutes befleissigen / und für was argen w i r uns hüten sollen / den löblichen und ehrlichen tugenden nachzustreben / und die schendlichen laster mügliches fleisses zu meiden / Darumb uns auch gebüren w i l / solcher Exempel fürbilde und figuren in den Creaturen Gottes / entweder zur vermanung und erinnerung / oder zur Warnung zu gebrauchen / und nicht die Creaturen Gottes selbst umb etwas willen / das an jhnen nicht zu loben / gentzlich zu verdammen / zu versprechen / und auffs eusserte zu vernichten / und alles an jnen zu verwerten. Denn das hiesse ja nit allein das geschöpft gar verachten / sondern auch den Schöpffer / als hette ers nicht redit noch gut gnug gemacht / tadlen und straffen [ . . . ] « 84

Ibid. fol. 9 v.

76

Wilhelm Kühlmann

allegorische Deutungsspielraum begrenzt durch den Rekurs auf Vernunft u n d Offenbarung. Was sich sozial als untunlich erweist, verfällt auch hier dem theologischen V e r d i k t 8 5 . Spangenberg allegorisiert — jedenfalls weitgehend — die i n moralischer Absicht vorpräparierte N a t u r , Franck wollte gerade die ungezähmte z u m Spiegel historischer Wirklichkeit machen. Es wäre zu überprüfen, ob Francks Geschidotsbibel i n der politischen T r a k tatliteratur nach Spangenberg Resonanz gefunden hat. Eine Erwähnung der Adler-Vorrede bei Fischart 86 jedenfalls zeigt, daß die kritisch-polemisch formulierte Analogie von A d l e r und A d e l abrufbar blieb. Freilich i n der auf den Pietismus vorweisenden u n d schließlich i n Gottfried Arnolds Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie einmündenden Franck-Rezeption spielte die Vorrede zur Kaiserchronik, soweit ich sehe, k a u m eine Rolle. Eine sich auf die eigene Frömmigkeit konzentrierende Spiritualität w a r wenig berührt v o n den durch Franck radikal aufgeworfenen Fragen nach der Praxis und Legitimation v o n Herrschaft. W o der Mythos und die Verfassung des Reiches angegriffen wurden, w a r kaum m i t den Sympathien des städtischen Bürgertums zu rechnen. Was Spangenberg letztlich m i t Franck verband, w a r eine unserer Epoche geläufigere Erkenntnis. D i e Beobachtung nämlich, daß sich soziale und politische Kontroversen auf der kulturellen Ebene als ein Ringen u m die Geltung jener Worte u n d Zeichen manifestieren, i n denen die Anerkennung überkommener Ordnungen impliziert ist.

85 Ibid. fol. 10 r: »Es sey nun umb des Adlers art oder unart gethan wie es wolle / so hat gewis Gott den Adler nicht darumb den vernünfftigen Menschen fürgestellet / das sie von demselben rauben / Blut sauffen / und dergleichen lernen / und jhm darinnen folgen sollen: So begert es auch der Adler n i c h t / j m hierinnen gleich zu werden. Thut es aber darüber ein Mensch/ und gerhett (sie!) in eine solche unmensdiligkeit / das er der unvernünftigen Creatur / in dem das er selbst erkennet / das es nicht recht ist / mehr folget / denn Gottes klarem ausdrücklichen gebot / verbot / oder befehl / der w i r d es für Gott schwer gnug in seinem ernsten Gerichte / wenn er von einem jeden rechenschafft seines lebens und wandels fordern wird / zu verantworten haben. U n d im falle / das jemands je so einen reubischen Adlersschnabel hette I wird jhn Gott auch noch w o l hie zu finden / und jm den zu verquellen wissen.« 86 Vgl. J. Fischart, Geschichtklitterung (Gargantua). Text der Ausgabe letzter H a n d von 1590, hgg. von Ute Nyssen. Darmstadt 1967, S. 279: »Ja diesen D i e bischen grempel (gemeint ist die Münzfälscherei — W . K . ) wissen audi wol die, so Sperber auff der H a n d tragen, damit sie nur des Sebastians Francken Adler war machen, das krumbschnäbel müssen geraubt haben.«

CHARAKTER UND

GRAZIE

Einflüsse Christian Gottfried Körners auf Kleists »Marionettentheater? V o n Rüdiger

Görner

— Für Heinrich Burkert z u m sechzigsten Geburtstag — I

Der eigenständige Beitrag Christian G o t t f r i e d Körners ( 1 7 5 6 - 1 8 3 1 ) zur Ästhetik der Klassik sowie sein Einfluß auf die frühromantische Kunsttheorie sind i n der Forschung unbestritten 1 . Seine wichtige Abhandlung »Uber Charakterdarstellung i n der Musik« (1795) verhalf nicht nur der reinen Instrumentalmusik (der sogenannten absoluten Musik) auch musikästhetisch m i t zum Durchbruch, indem Körner als den »Gegenstand der Musik« den Charakter und nicht die Leidenschaft erkannte; denn damit verlor das Nachahmungsprinzip als ästhetische Q u a l i t ä t seine Grundlage 2 . Darüber hinaus bestimmte er den Charakter i n Verbindung m i t einem wesentlichen ästhetischen Prinzip der Klassik, der Einheit i n der Mannigfaltigkeit, wenn er schreibt: »Der Begriff des Charakters setzt ein moralisches Leben voraus, ein Mannichfaltiges i m Gebrauche der Freiheit, und i n diesem Mannichfaltigen eine Einheit, eine Regel i n dieser W i l l k ü h r « 3 . 1 Vgl. insbes. die grundlegende Arbeit von Marie Braeker, Christian Gottfried Körners ästhetische Anschauungen, Hagen 1928 sowie W o l f gang Seifert, Christian Gottfried Körner. Ein Musikästhetiker der Deutschen Klassik, Regensburg 1960; Joseph P. Bauke, Christian Gottfried Körner, Portrait of a Literary Man, Diss. Columbia University 1963; Albert James Camigliano, Christian Gottfried Körner, Schiller's Critic from 1784 to 1805 as documented in their Correspondance, Diss. Wisconsin Madison 1974; Heinrich Besseler, »Mozart und die Deutsche Klassik«, in: Aufsätze zur Musikästhetik und Musikgeschichte, Leipzig 1978. D a r i n wird die Einheitsgestaltung bei Mozart unter ausführlicher Berücksichtigung der Musikästhetik Körners untersucht. Die Beziehungen Körners zur Frühromantik vor allem in: Joseph P. Bauke, »Christian Gottfried Körner und Friedrich Schlegel. Ein unbekannter Kommentar Körners zu Schlegels Frühschriften«, in: Jahrbuch der Deutschen Sdoillergesellschaft 7, 1963, S. 1 5 - 4 3 ; auch: Franz Norbert Mennemeier, Friedrich Schlegels Poe siebe griff, München 1971, bes. S. 21, 62 u. 73. 2 5

Besseler, a.a.O., S. 447.

Christian Gottfried Körner, »Uber Charakterdarstellung in der Musik«, in: Körners ästhetisdoe Ansichten (Textsammlung), hrsg. von Joseph P. Bauke, Marbach 1964, S. 42.

Rüdiger Görner

78

Charakter bedeutet nach der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste v o n Johann Georg Sulzer »das Eigenthümliche oder Unterscheidende i n einer Sache, wodurch sie sich v o m anderen ihrer A r t auszeichnet« 4 . Bei K ö r ner rückt jedoch der Charakter z u m erstenmal i m deutschen Sprachraum i n den M i t t e l p u n k t einer ästhetischen Erörterung 5 . Als eine A r t Fortsetzung des Aufsatzes »Über Charakterdarstellung i n der Musik« erscheint 1808 i n der v o n Heinrich v o n Kleist u n d A d a m M ü l l e r herausgegebenen Zeitschrift Phöhus Körners Aufsatz »Über die Bedeutung des Tanzes«. D i e These, die Körner darin verfolgt, lautet: »Der Tanz muß also doch i n sich selbst eine Bedeutung haben, u n d scheint sich zur M i m i k zu verhalten, wie der Gesang zur Rede« 6 . A u f die enge Verwandtschaft beider Aufsätze hat H e l m u t Sembdner hingewiesen 7 . I n dieser knappen Abhandlung k o m m t dem Begriff »Charakter« gleichfalls besonderes Gewicht zu: » I n einer Reihe v o n Bewegungen soll das Leben nicht erstarren, damit der Charakter herrsche, aber einzelne Momente, i n denen er über die Leidenschaft siegt, werden durch die Stellung versinnlicht« 8 . I n Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste lautet der entsprechende Abschnitt: » W i r haben also bey jedem Tanz auf zwey Dinge zu sehen, auf den Rhythmus, u n d auf den Charakter, oder den Ausdruck, i n so fern er v o n dem Rhythmus unabhängig ist« 9 . Für Körner ist Charakter jedoch mehr als ein bloßes Ausdrucksprinzip i m Tanz, wie zu zeigen sein wird.

4 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schonen Künste , Leipzig 1792 (Nachdruck Hildesheim 1967), Bd. I., S. 453. Systematisch w i r d der Charakterbegriff in der Musik zu dieser Zeit in der Encyclopédie Méthodique erörtert (d. Verf. verdankt diesen freundlichen Hinweis H e r r n D r . Albert Palm, Schramberg): »Pour qu'une musique ait du caractère, il ne suffit pas qu'elle exprime les paroles auxquelles elle est appliquée, ni même la situation dramatique ; car une symphonie exécutée dans un concert et dénuée de paroles peut avoir aussi cette qualité. I l faut que son expression ait quelque chose de particulier qui saisisse Poreille et l'âme de l'auditeur, et lui fasse croire que le sentiment qu'on a voulu peindre ne pouvoit être rendu d'aucune autre façon.« I n : Encyclopédie Méthodique , Tome 1, Paris 1791, S. 210, A r t . Caractère von M . M . Framery (Mitherausgeber der Encyclopédie). 5

Besseler, a.a.O., S. 445.

6

Körner, »Uber die Bedeutung des Tanzes«, in: Ästhetische Ansidoten, a.a.O.,

S. 49. 7 H e l m u t Sembdner, Darmstadt 1961, S. 623. 8

»Anmerkungen zur

Ausgabe des Phöhus«,

Nachdruck

Körner, »Tanz«, a.a.O., S. 52.

• Sulzer, a.a.O., Bd. I V . , S. 503 (2. SP). D e r Artikel stammt von Johann Abraham Schulz ( 1 7 4 7 - 1800), wie alle Beiträge vom Buchstaben S an.

Charakter und Grazie

79

Körner hat nicht nur i n Kleists damaliger Zeitschrift veröffentlicht; das Haus des hochgebildeten Dresdner Appellationsgerichtsrates stand Kleist wie anderen Literaten, Musikern u n d bildenden Künstlern offen. A n zwei Briefstellen erwähnt Kleist seine Verbindung zu Körners Gesellschaften 10 , u n d Körner selbst äußerte sich i n den wenigen greifbaren Zeugnissen stets anerkennend über Kleist. Beispielsweise empfahl er dem Verleger Göschen den Amphitryon 11, freute sidi an der »poetischen Kunst der Penthesilea« (wenn auch manches an dem Stück auf i h n einen »widrigen Eindruck« gemacht hat wie auf viele seiner Zeitgenossen) 12 , übt milde K r i t i k an Hermann und Varus {Die Hermannsschlacht; die K r i t i k richtet sich gegen Kleists Bezug auf aktuelle Zeitereignisse, die Besetzung Deutschlands durch N a p o leon) 1 8 , und wiederholt fragt er i n Briefen an seinen Sohn, Theodor, nach dem Befinden Kleists 1 4 ; wiederum i n einem Schreiben an seinen Sohn findet er unter dem Eindruck der Nachricht v o n Kleists Selbstmord anerkennende Worte über dessen Persönlichkeit wie nur wenige aus seiner Umgebung: »Unmöglich scheint es (gemeint ist der Selbstmord, d. Verf.) nicht, da er zu den modernen starken Geistern gehörte, die jede Leidenschaft für unüberwindlich halten, u n d die Achtung für Pflicht u n d Tugend als eine altväterische Pedanterei verachten. Sonst schien er ein edler Mensch zu sein, u n d sein T o d ist w i r k l i c h ein Verlust für die deutsche Literatur« 1 5 . Wochen später schreibt er z w a r einschränkend: » U n d selbst w o die Stimme der Religion nicht gehört w i r d , bleiben doch Gründe genug übrig, u m i n dem freiwilligen Tode nur einen Befehl des Trotzes, der Schwäche u n d der Trägheit zu finden« 16, doch gibt es i m Ganzen keinen begründeten Zweifel an der wohlwollenden Anteilnahme Körners an Kleists Arbeit. Es ist gleichfalls unwahrscheinlich anzunehmen, daß Kleist i n seiner Dresdner Zeit i m Austausch m i t Körner keine Kenntnis des Aufsatzes »Über Charakterdarstellung i n der Musik« oder zumindest seiner Thematik gehabt haben soll. So verwundert es nicht, i n Kleists D i a l o g »Über das Marionettentheater«, den er i m Dezember 1810 i n den Berliner Abendblättern veröffentlichte, Gedanken aufgenommen u n d verarbeitet zu finden, die i n den beiden genannten Aufsätzen Körners ihren Ursprung haben. 10 Heinrich v. Kleist, Werke und Briefe, Bd. I V . , hrsg. von Peter Goldammer, Berlin und Weimar 1978, Brief an Ulrike vom 17. I X . 1807 (S. 379) und im Brief an Georg Joachim Göschen vom 7. V . 1808 (S. 405). 11 Heinrich von Kleists Lebensspuren, hrsg. von Helmut Sembdner, München 1969, S. 122 ( N r . 169). 12

Ebd., S. 209 ( N r . 280 a).

13

Ebd., S. 229 ( N r . 304 a).

14

Ebd., S. 256 ( N r . 341) u. S. 328 ( N r . 469 d).

15

Heinrich v. Kleists Nachruhm, hrsg. v. H e l m u t Sembdner, München 1977, S. 10 ( N r . 12). 1β

Ebd., S. 12 ( N r . 14).

Rüdiger Görner

80

Joseph P. Bauke hat w o h l als erster diese Vermutung ausgesprochen, ohne sich jedoch i m D e t a i l näher auf sie einzulassen: »He (Kleist) was himself t h i n k i n g about the dance, and we may assume that he realized the merits of Körner's theory. A connection w i t h , or an influence on, Kleist's >Über das Marionettentheater cannot be proved, though there are some superficial resemblances« 17 . Körner stellt i n seiner Arbeit »Über die Bedeutung des Tanzes« die noch zur Einleitung der Abhandlung gehörende Frage: »Sollte es vielleicht Töne u n d Bewegungen geben, die eben deswegen nichts Bestimmtes bezeichnen, w e i l sie etwas Unendliches andeuten?« 18 Kleist verwendet den Ausdruck Unendliches dreimal am Schluß seines Dialogs. H i e r ist unendlich weniger auf die »Vielzahl der Gegenstände, Gestalten u n d Vorgänge« bezogen, »die das Bewußtsein des Erzählers durchläuft, u n d die beliebig vermehrt werden könnte« 1 9 . Auch erfaßt man das Unendliche nicht ganz, wenn »man den Abstand v o n Sache und Ich als ein Unendliches begreift« u n d das durch ein solches hindurchgehendes Bewußtsein i n seiner Rückbindung auf eine Sache als Kreisbewegung sieht, »die wiederum ein i n sich Unendliches darstellt« 2 0 . Vielmehr bestimmt Kleist das W o r t Unendlich als einen Modus, als eine conditio sine qua non für die Wiedererlangung der Grazie. Der Abstand v o n Sache u n d Ich kann schon deshalb nicht unendlich an sich sein, w e i l er i m (wiederzuerlangenden) Zustand der Grazie unerheblich w i r d . Sache und Ich fallen wieder zusammen. Anscheinend besteht der Erkenntnisgang i m »Marionettentheater« i n einem Regreß auf einen Urzustand. D i e Bewegungen und Töne, der Tanz, deuten das Unendliche nicht nur an, wie Körner meinte, sie kommen i n der Grazie zu sich selbst. Bei jedem weiteren Vergleich zwischen Körner und Kleist muß jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, daß für Kleist die Puppe dem M e n schen i n ihrem Unbewußtsein überlegen ist, während Körner gerade i m Menschen, i m Künstler, denjenigen sieht, der »den Glauben an die Freiheit voraussetzt«; dabei verbreitet sich nach seiner Auffassung »selbständige Lebenskraft über die Bestandteile seines Werks, u n d an die Stelle eines Puppenspiels, das v o n einer unbekannten Macht durch unsichtbare Fäden bewegt w i r d , treten handelnde Personen« 21 . Diese traditionsgebundene Stel17 Bauke, a.a.O., S. 263 f. Vage Ansätze bei Anton Lütteken, Die Romantik und Heinrich von Kleist, Diss. Münster 1917. 18

Dresdner

Körner, »Tanz«, a.a.O., S. 49.

19

Anton Kathan, »Der Vorgang des Erkennens und die Formen des Bewußtseins in Kleists Gespräch Über das Marionettentheater«, in: Vergleichen und Verändern — Festschrift für Helmut Motekat, hrsg. v. Albrecht Goetze und Günther Pflaum, München 1970, S. 131. 20

Ebd.

21

Körner, »Charakterdarstellung«, a.a.O., S. 35.

Charakter und Grazie

81

lungnahme Körners z u m Puppenmotiv w a r auch Kleist zu eigen, als er sich i n den späten neunziger Jahren m i t dem Gedanken eines Lebensplans befaßte, u m damit gegen das Spiel des Zufalls, gegen den unwürdigen Z u stand >eine Puppe am Drahte des Schicksals< zu sein, anzugehen, wie er i n seinem vielzitierten ausführlichen Brief an U l r i k e v o m M a i 1799 schreibt 22 . Für Körner muß der Dichter den Begriff v o m Schönen m i t Leben erfüllen, u m aus Puppen handelnde Personen werden zu lassen. Der Vorteil, der nach Kleist die Puppen über das menschliche Unvermögen erhebt, besteht i n ihrer antigraven Eigenschaft. M i t dieser Wortschöpfung — einem zentralen Terminus i m »Marionettentheater« — bringt Kleist einen Gedanken Körners auf den Begriff, der sich i n seinen beiden genannten Aufsätzen findet: Das freie Spiel des lebenden Wesens in seiner W e l t wird durch den Sieg der Form über die Masse in der Bewegung bezeichnet. Die Gestalt schwebt im Räume ohne Anstrengung und Widerstand. Sie w i r d nicht durch Schwere an den Boden gefesselt; sie haftet an ihm aus Neigung. Jeder Muskel behält seine eigene Reizbarkeit und Elasticität, aber alle stehen unter der milden Herrschaft einer inneren Kraft, der sie freiwillig zu gehorchen scheinen. Je größer die Bestimmtheit ohne Spur eines äußeren Zwanges, desto vollständiger erscheint die Freiheit. Das Unbestimmte in der Erscheinung deutet auf Unvermögen in der bestimmenden K r a f t 2 3 .

U n d i n der Abhandlung »Über Charakterdarstellung heißt es:

i n der

Musik«

Was den Menschen am nächsten liegt, ist sein Körper und die Luft, welche er einathmet und aushauchet. I n beidem fand der Trieb nach unabhängiger Thätigkeit seinen ersten Wirkungskreis. I n dem freien Schweben des Körpers, ohne vom Druck der Schwere beschränkt zu werden, fühlt auch der Geist sich gleichsam seiner Bande entledigt. D i e irdische Masse, die ihn stets an die Abhängigkeit von der Außenwelt erinnert, scheint sich zu veredeln, und es erweitern sich die Gränzen seines Daseins 24 .

H i e r sind die Berührungspunkte u n d die Unterschiede zwischen Körners und Kleists Ansatz greifbar. D i e M o t i v i k des »freien Schwebens«, der Befreiung v o n der irdischen Masse bilden die auffälligsten u n d wichtigsten Übereinstimmungen zwischen beiden. Die Sprache Körners i m T a n z - A u f satz w i r d gerade i n diesem zitierten Abschnitt v o n der Terminologie Schillers geprägt: Neigung, Freiwilligkeit, Freiheit; auch M o t i v e aus Schillers Gedicht »Der Tanz« (1795) kehren bei Körner wieder: »Seh i d i flüchtige Schatten, befreit v o n der Schwere des Leibes?« ( V . 3); »Es ist des Wohllauts mächtige Gottheit, / D i e z u m geselligen Tanz ordnet den tobenden Sprung« 22

Kleist, Werke und Briefe, Bd. I V . , a.a.O., S. 38.

25

Körner, »Tanz«, a.a.O., S. 50.

24

Körner, »Charakterdarstellung«, a.a.O., S. 29.

6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

Rüdiger Görner

82

( V . 23/24). (Bei Körner heißt die entsprechende Stelle: » . . . , u n d der tobende Sprung bildete sich allmählig z u m Tanz, so wie das Jauchzen des frohen Taumels z u m Gesang« 25 .) Körner bringt diese Überlegungen i n Einklang m i t der zentralen Frage nach Einheit und Charakter v o n Bewegung u n d Melodie. D a m i t ist die Harmonie als ästhetisches Lebensprinzip der Klassik angesprodien, eine Harmonie, die auch Kleist noch meint, wenn er das Verhältnis v o n Seele z u m Schwerpunkt der Bewegung beschreibt. Der Schwerpunkt jeder Bewegung muß audi der O r t der Seele sein. D e r »höhere G r a d v o n Ebenmaß, Beweglichkeit u n d Leichtigkeit« wie die naturgemäße A n o r d n u n g der Schwerpunkte, die H e r r C v o n einem Künstler fordert, der Marionetten fertigt, ist gleichsam Kleists »ideales M a ß des Schönen«. Wesentlich ist die Nähe z u Körners Gedanken deshalb, w e i l sich dadurch einfacher begründen läßt, »que la beauté ne se confondait pas pour Kleist avec une immobilité calme et sereine car l'impression agréable se dégage du mouvement. L ' h a r monie que suscite la grâce est à michemin entre la vision et la musique« 2 6 . D i e Frage des Erzählers, ob der Masdiinist, der die Puppen regiert, selbst ein Tänzer sein oder wenigstens einen Begriff v o m Schönen i m Tanz haben müsse 27 , ruft bei H e r r n C den H i n w e i s auf die dafür notwendige Empfindung hervor. Wer sich i n den ästhetischen Gegenstand einfühlt, geht v o m Eigenwert der N a t u r u n d Kunst aus, den empfindungslose Nachahmung nach Kleist (und Körner!) zerstören müßte. D i e antigrave Puppe ist »den objektiven Gesetzen der W e l t des Wirklichen entrückt; ihre Bewegung erhält sie nur aus ihrer Seele, der sie als vis m o t r i x verbunden ist. Der Tanz der Marionette geht über das kausal Gebundene hinweg, indem er das Gesetz der Schwerkraft aufhebt« 2 8 . Wie sich der Maschinist als Künstler der Marionette gegenüber verhalten solle, ergibt sich aus dem Kunstwerk Marionette selbst. Er müsse — nach der Forderung des H e r r n C — die Linie, »die der Schwerpunkt zu beschreiben hat«, dadurch auffinden, daß er sich i n den Schwerpunkt der Marionette versetzt, »d. h. m i t anderen Worten, tanzt« 2 9 . D e n n diese Linie »wäre nichts anderes, als der Weg der Seele des Tänzers« 3 0 . Der sich bewußte Maschinist muß also zunächst die Marionette als V o r b i l d erkennen u n d annehmen. 25

Körner, »Tanz«, a.a.O., S. 50.

2e

Jacques Brun, L'Univers

27

Kleist, Werke und Briefe, a.a.O., Bd. I I I . , S. 474.

Tragique de Kleist, Paris 1966, S. 330.

28 Hermann Reske, Traum und Wirklichkeit Stuttgart—Berlin—Köln—Mainz 1969, S. 51.

im Werk

29

Kleist, Werke und Briefe Bd. I I I . , a.a.O., S. 474.

30

Ebd.

Heinrich

von Kleists,

Charakter und Grazie

83

D a r a u f versetzt er sich i n ihren Schwerpunkt, ahmt sein V o r b i l d demnach nicht nach. D i e Kategorien Bewußtsein/Unbewußtsein, die Kleist nicht als bloße Zustandsbeschreibung, sondern wertend einsetzt, fehlen Körner, d. h. er versteht das unvollständige, w e i l menschliche Bewußtsein als Voraussetzung künstlerischen Schaffens u n d des ästhetischen Durchdringens der Welt. Kleist interpretierte Körners Absage an die Nachahmungsästhetik des 18. Jahrhunderts u n d seine Forderung nach dem Prinzip der Einheit i n der Mannigfaltigkeit offenbar als den Beginn einer Ästhetik des Unbewußten. Ungeachtet dessen, ob Kleist m i t seinem D i a l o g seine Dramen der Form u n d ihrem I n h a l t nach reflektiert oder n i d i t 3 1 , postuliert er i m »Marionettentheater« zumindest eine Ästhetik der Trennung v o n K u n s t u n d Leben. D i e Autonomie der Kunst äußert sich i m Sinnbild der Marionette als einer Form der reinen Künstlichkeit u n d i n der Verschmelzung der Produktionsu n d Rezeptionsebene. I n den Forderungen, die sich an den Hersteller der Marionetten, den Maschinisten, richten, sind auch die M a x i m e n enthalten, die den Rezipienten des Kunstwerks »Marionette« als deren Bediener verpflichten. N u r i m Tanz, i n der Bewegung haben die Marionetten ihren Sinn; aber der Anstoß dazu muß v o n außen kommen, wobei ihre reine Bewegung nur i n der Identität der Bewegungen des Maschinisten u n d der Marionetten möglich ist. D i e Autonomie des Tanzes als Ausdruck autonomer Kunst erfüllt sich dann — wie problematisch auch immer — i n der Kunstwirklichkeit des l ' a r t pour l'art. Während der Künstler stets der erste Rezipient seines Kunstwerks ist und diesen Zusammenhang gegenüber dem Dilettanten, i m »Marionettentheater« der Erzähler, v e r t r i t t , sieht sich dieser gezwungen, durch erkenntnisfördernde Fragen sich die — autonome — K u n s t zunutze zu machen. Kunsterkenntnis jedoch, das Wissen u m das innere u n d äußere Wesen der Marionette — u m ihre Struktur — , gewährt nach Kleist keine Hilfestellung für eine praktische Wirklichkeitsbewältigung. II Körners Absidit nun, den Einheit stiftenden Begriff Charakter als ästhetischen Maßstab der künstlerischen (musikalischen) Gestaltung einzuführen, entspricht i n ihrer zentralen Aussage dem Kleistschen Verständnis v o n Grazie. Beide, Charakter und Grazie, sind über den Weg des Bewußtseins zu erreichen. D a ß Grazie bei Kleist i n bestimmtem U m f a n g ihr V o r b i l d i m Charakterbegriff Körners hat, zeigt sich, wenn man den »Vorgang des Erkennens u n d die Formen des Bewußtseins i n Kleists Gespräch >Über das Marionetten31 Vgl. Rolf-Peter Janz, »Die Marionette als Zeugin der Anklage«, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 31 - 51.

Rüdiger Görner

84

theater< « als die beiden Komponenten des Gesprächs auffaßt. Kathans textimmanente Deutung des »Marionettentheater«-Gesprächs macht den Blick frei für seinen eigentlichen Ablauf, und er verdeutlicht am Beispiel des Jünglings, daß er Stufe u m Stufe seine Grazie verliert, indem er wiederholt versucht, die Stellung des Dornausziehers nachzuahmen 82 . Indem sidi der Jüngling »der Identität seines Spiegelbildes m i t der Statue bewußt w i r d « , folgt daraus für i h n noch nicht der Verlust der Grazie 3 3 . Erst die Nachahmung zerstört sie i n rascher Abfolge; die Szene hat »ein so komisches Element, daß i d i Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten«, kommentiert bei Kleist der Erzähler 3 4 . So wie die Grazie i n bewußter Nachahmung verloren geht, schwindet die Nachahmung durch das Bewußtsein, indem es sie entlarvt, u n d sie damit lächerlich w i r k t . Hingegen befindet sich der fechtende Bär »im weitgehenden Besitz der Grazie, und reagiert unmittelbar aus seinem Schwerpunkt heraus« 35 . Das komische Element der Wiederholung bezieht sich hier allenfalls auf die verzweifelten Anstrengungen des H e r r n C, den Bären m i t dem Rapier zu treffen und i m Gegensatz dazu die gelassenen Paraden des Bären. K a t h a n k o m m t abschließend zu folgendem Ergebnis: »Fixiert sich das Bewußtsein nicht auf Einzelnes, sondern sieht das Einzelne i n größerem Zusammenhang — u n d dies ist nur möglich, wenn sich das Bewußtsein auf das die V i e l f a l t der Erscheinungen hervorbringende Gesetz, den M i t t e l p u n k t , den Schwerpunkt, richtet — , so w i r d die Grazie, die vollkommene H a r m o nie aller Bewegungen wieder möglich« 3 6 . Ebenso wie der Tanz der Marionetten bei Kleist i n jeder Bewegung ursprüngliche, nachahmungsfreie (Kunst-)Wirklichkeit besitzt, verfügt bei Körner der Tanz über eine eigenständige inhaltliche Bedeutung, die seine Wirklichkeit ausmacht. V o r i h m hatte Sulzer an konkreten Beispielen diese These bereits vorbereitet 3 7 . Insofern nach Körner der Tanz durch den Cha32 Kathan, a.a.O., S. 126. A u f das Vorbild der Dialoge Piatons für die sprachliche Gestaltung des Marionettentheaters hat Manfred D u r z a k hingewiesen, in: » >Ober das Marionettentheater von Heinrich von Kleist. Bemerkungen zur literarischen Form«, in: Jahrbuch des freien Deutschen Hochstifts 1969, S. 308 - 329. 83

Kathan, a.a.O., S. 126.

34

Kleist, Werke und Briefe, Bd. I I I . , a.a.O., S. 478.

35

Kathan, a.a.O., S. 127.

39

Ebd., S. 128.

37

Sulzer, a.a.O., S. 505 f. Sulzer (Schulz) unterteilt die Tänze in »zwey H a u p t classen« ein: in die gemeinen oder gesellschaftlichen Tänze (la belle danse) und in die theatralischen Tänze. D i e theatralischen Tänze gliedern sich in die Groteske, in comische Tänze, in halbe Tänze (demi Caractères). — D i e Tänze erfordern schon Zierlichkeit, angenehme Manieren und feinen Geschmack — und in die Tänze von ernsthaftem hohen Charakter, wie die tragische Schaubühne ihn erfordert.

Charakter und Grazie

85

rakter Einheit erhält 3 8 , ein Charakter, der sich i n Rhythmus u n d Melodie aussprechen kann, erfüllt sich auch bei Kleist die »vollkommene Harmonie aller Bewegungen«. Auch wenn Körner behauptet: »der Begriff des Charakters setzt ein moralisches Leben voraus« 8 9 , ergibt sich daraus keine andere Bewertung als diejenige Kleists über die Grazie; denn die bereits zitierte Fortführung dieses Zitats (vgl. A n m . 3) macht verständlich, was Körner m i t »moralisch« meint: wiederum die Einheit i n der Mannigfaltigkeit. Der auffallendste Unterschied zwischen Charakter und Grazie liegt jedoch darin, daß der Charakter aus der Überwindung der Nachahmung hervorgeht, währenddessen die Grazie der Nachahmung ständig ausgesetzt ist. Dennoch ermöglicht bei Kleist allein das die Nachahmung hervorbringende Bewußtsein zur Grazie zu gelangen. D i e Frage nach der Nachahmung stellt sich nicht gleichermaßen für den Charakter, da sich Körner nicht darüber ausläßt, ob der Charakter, d. h. die Einheit u n d Harmonie der Teile eines Kunstwerks, i n ähnlicher Form wie die Grazie verloren gehen kann. D i e Gefährdung des Harmonischen als Paradigma der Existenzgefährdung überhaupt u n d seine Wiedergewinnung weisen i n Kleists Gespräch über Körners Ansatz hinaus. Kleist faßt i m Gespräch über das »Marionettentheater« den Erkenntnisvorgang als einen Weg auf, an dessen E n d p u n k t sich die Grazie wieder einfindet 40 (der angesprochene Regreß ist folglich ein »unechter« Regreß, da der Urzustand i m »letzten K a p i t e l v o n der Geschichte der Welt« auf einem anderen N i v e a u liegen w i r d als auf demjenigen der Schöpfung), wohingegen Körner die Frage nach der Erkenntnis an den Anfang seiner Betrachtung »Über Charakterdarstellung i n der Musik« stellt; u n d damit n i m m t er den Erkenntnisprozeß als bereits vollzogen an. Auch i m D i a l o g »Über das M a rionettentheater« beziehen der Erzähler und H e r r C verschiedene Reflexionsebenen 41 . D i e auf die Fragen des Erzählers bezogenen Bilder (Marionetten, Dornauszieher/Jüngling, fechtender Bär) bringen das Gespräch i n Fluß. Kleist macht damit zwei Ebenen sichtbar: zum einen das Gespräch, das dazu dient, unterschiedliche Ausgangspositionen zusammenzuführen u n d z u m anderen die Stufe des »Unbewußten«. Der Künstler, H e r r C, reflektiert über ein »natürliches Kunstelement«, die Grazie, die er i n bestimmtem U m fang selbst besitzt 4 2 , u n d vermittelt dem Erzähler den Eindruck v o n der Konvergenz des Bewußtseins u n d eben dieser Grazie i m »Unendlichen«. 38

Körner, »Tanz«, a.a.O., S. 51.

99

Körner, »Charakterdarstellung«, a.a.O., S. 42.

40

Kleist, Werke und Briefe, Bd. I I I . , a.a.O., S. 480.

41

Kathan, a.a.O., S. 118.

42

Ebd., S. 133.

Rüdiger Görner

86

Körners genannte Aufsätze kennzeichnet, daß sie am Sdiluß jeweils einen Zustand schildern: » I n diesem Umfange u n d Grade giebt es vielleicht keine andere Darstellung i n der Musik für das Erhabene des Charakters« 4 3 ; u n d »die Neigung z u m Tanz ist ein liebenswürdiger Charakterzug der Jugend, der sich bei egoistischen Seelen nicht findet. Dieser Genuß darf ihr nicht erschwert werden. D i e Kunst hebt ihre Freude auf eine höhere Stufe, u n d zu einer Zeit, da die festliche Stimmung so selten geworden ist, erzeugt sie dadurch ein Fest für jeden Freund der schönen menschlichen N a t u r « 4 4 . Nach Körner verhilft die Kunst nicht zu einer höheren Erkenntnis; die Tanzkunst beispielsweise veredelt die Freude, verleiht ihr Charakter. Ohneh i n ist auch bei Kleist fraglich, ob die Kunst, das Spiel, der Tanz der M a r i o netten die Stufenfolge unbewußt— bewußt — unbewußt bedingt oder begleitet. Vielmehr läßt sich m i t i h m am Phänomen der Kunst die N o t w e n d i g keit am sinnfälligsten verständlich machen, daß die Formen des Bewußtseins sich auflösen müssen, da sie einen Wahrheitswert des Erkannten postulieren, den es nicht gibt. Bei Kleist f ä l l t dem Tanz die »Aufgabe eines Reservats für Freiheit und Schönheit zu, für das, was der materielle Lebensprozeß nicht mehr zuläßt« 4 5 . Es läge nahe, den Erzähler u n d H e r r n C, bzw. den geschilderten Maschinisten m i t den Rollenbezeichnungen Rezipient u n d Produzent zu versehen, u m damit das »Marionettentheater« i n den Bezugsrahmen der zeitgenössischen Ästhetik-Diskussion zu stellen. Aber es braucht keine terminologische Überhöhung. D i e Linien des Wahren und des Schönen, die i m »Marionettentheater« aufeinander zulaufen, u m dann letztlich doch ihre Parallelität zu beweisen, sprechen auch terminologisch ihre eigene bleibend gültige Sprache. Kleist bediente sich des Gesprächs als einem Weg zur ästhetischen Erkenntnis und nahm damit scheinbar das »Gespräch als O r t der Wahrheit an« 4 e . U n d doch legen Kleists sprachliche Darstellung und der A u f b a u des Dialogs nahe, diesen Erkenntnisweg i n seiner Gültigkeit zu relativieren. D a z u vermerkt Janz i n seiner jüngsten Studie z u m »Marionettentheater«: »Bereits die zahlreichen Regieanweisungen, die das Streitgespräch begleiten, deuten über den rationalen Diskurs hinaus auf dessen Verweigerung. So sehr sie unterstreichen, daß die Szene z u m T r i b u n a l geworden ist, so nachdrücklich tauchen sie die rationale Verhandlung i n theatralisches Licht. Sie verraten die emotionale Beteiligung der Kontrahenten, ihr Erstaunen und Lachen, 48

Körner, »Charakterdarstellung«, a.a.O., S. 47.

44

Körner, »Tanz«, a.a.O., S. 57.

45

Janz, a.a.O., S. 41.

40 Vgl. dazu: O t t o Friedrich Bollnow, »Das Gespräch als O r t der Wahrheit«, in: Universitas 2/1980.

Charakter und Grazie

87

ihre Betroffenheit u n d die Rede des andern. D a m i t laufen sie dem Absolutheitsanspruch der Vernunft auf ungeteilte Aufmerksamkeit zuwider« 4 7 . D a m i t ist nicht gemeint, daß das Gespräch selbst zur Farce w i r d , sondern nur, daß der rein rationale Diskurs über Kunst an i h r vorbeigehen muß. Eine spezifisch »ästhetische Wahrheit« gibt Kleist allenfalls verschleiert zu erkennen. Sie bestünde i m Auffinden der Grazie, d. h. i n der idealen natürlichen Bewegung. Wahrheit und Wirklichkeit wären identisch, wenn die Wahrheit w i r k l i c h eine Kategorie der Realität sein könnte. Gerade das aber stand für Kleist aus bekannten Gründen i n Frage. Aus dem Gespräch »Über das Marionettentheater« k a n n demnach keinesfalls abgeleitet werden, daß Kleist vorrangig u n d zielgerichtet auf eine ästhetische Wahrheit zugehen wollte, die i h m als eine A r t Ersatz Wahrheit für die verlorene »empirische Wahrheit« hätte gelten können. Somit ist die Grazie nicht M a ß oder Ausdruck des absoluten Wahren, sondern bestenfalls seine Projektion. Wenig anders Körner. Wer den eigenständigen Charakter des Tanzes oder der M u s i k i n der Einheit der Mannigfaltigkeit gestaltet, der w i r d i n den »Gesängen und Tänzen . . . Wahrheit u n d Stärke des Ausdrucks nicht vermissen« 48 . Unzutreffend wäre es, v o n dieser Stelle (übrigens die einzige, an der Körner i n den beiden Aufsätzen den Begriff Wahrheit gebraucht) nun wiederum auf seinen allgemeinen Wahrheitbegriff zu schließen. Bei anderer Gelegenheit, anläßlich der Auseinandersetzung m i t der K r i t i k Stolbergs an Schillers Gedicht »Die Götter Griechenlands« (1788/89), hatte er sein Verständnis v o n Wahrheit formuliert, das — unausgesprochen — auch die beiden Aufsätze prägte. Sein Brief an Schiller v o m 18. Februar 1789 zeigt, daß die Wahrheit, wie Schiller sie faßte u n d wie Körner selbst sie sah, ein ästhetisches G u t ist, »daß Wahrheit und Schönheit sich ineinander auflösen mußten« 4 ®. D e n Zusammenhang zwischen der Erkenntnis als der Vorstufe zur Wahrheit u n d der Schönheit verstand Körner anthropologisch, wie Marie Braeker unterstrichen hat: » I n der Erkenntnis sind dem Menschen ewig enge Grenzen gesetzt, und doch drängt es i h n zur Totalität. Z u r vollen Entfaltung seines Wesens k a n n er nur gelangen, wenn Schönheit die chaotischen Bruchstücke der Erkenntnis harmonisch ordnet. Der Mensch ist angelegt auf Schönheit, w e i l er angelegt ist auf harmonische T o t a l i t ä t . Das ästhetische Ideal ist das höchste, w e i l es dem reinen Begriff des Menschen entspricht« 50 . 47

Janz, a.a.O., S. 40.

48

Körner, »Tanz«, a.a.O., S. 48.

49

Braeker, a.a.O., S. 33.

50

Ebd.

88

Rüdiger Görner

Der Charakter als harmonisches Prinzip ist für Körner Ausdruck des Menschseins selbst. Er betont deshalb die vorausgesetzte beschränkte Erkenntnis i n den Aufsätzen nicht mehr, w e i l der Charakter der Erkenntnis übergeordnet ist. Kleist verlagert dagegen das ästhetische Menschsein i n Grazie i n die Zukunft, i n eine ästhetische Utopie, ohne das Gefüge der harmonischen Einheit Körners i m »Marionettentheater« zu zerstören. D e r Weg zum »Marionettentheater« führt über Christian Gottfried K ö r ner, denn Charakter u n d Grazie, das »freie Schweben des Körpers« u n d das »Antigrave« ergeben eine dynamische Einheit. Indem Kleist dem Charakter i n Körners Verständnis sein statisches Moment nahm u n d die Wiedergewinnung der Grazie als Prozeß entwickelte, den es für i h n am konkreten ästhetischen Gegenstand (Marionetten) vorzuführen galt, verwirklichte er als E n t w u r f , was für eine neu zu erarbeitende »philosophische Ästhetik« gefordert w i r d : »Erst auf dieser Basis eines intimen Kontaktes der Analyse m i t der ästhetischen Erfahrung (hier: das analytische Erleben des Marionettenspiels, d. Verf.), w o die Gefahr struktureller Entstellung jener Erfahrung ausgeschlossen ist, k a n n eine philosophische Ästhetik gedeihen« 51 .

51 Rüdiger Bubner, »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Neue Hefte für Philosophie 5, 1973, S. 72.

Ästhetik«, in :

DAS »HEILIGE AUS D E M S I N N L I C H FASSLICHEN

SCHÖNEN

Religion und Theologie i n Goethes theaterästhetischen Schriften — Eugen Biser zum 65. Geburtstag — V o n Ernst Josef Krzywon Akzeptiert man die i n der Berliner Ausgabe 1 gesammelten »Aufsätze zu Schauspielkunst u n d Musik« ( 1 7 , 5 - 1 8 2 ) , die zu anderer O r d n u n g i m 40. Band der Weimarer Ausgabe und i n der Jubiläumsausgabe gedruckt sind, als geschlossenes Korpus von Goethes theaterästhetischen Schriften, die eine Zeitspranne v o n 1792 bis 1832 umfassen, so ist für die hier versuchte Bestimmung des Stellenwerts v o n Theologie u n d Religion i n Goethes Theaterästhetik frühestens das Jahr 1797 v o n Bedeutung. Unter dem Eindruck der Frankfurter A u f f ü h r u n g von A n t o n i o Salieris Oper Palmira am 13. August 1797 und einem darauf folgenden Gespräch m i t dem Mailänder Theatermaler Giorgio Fuentes entsteht am 18. u n d 19. August Goethes D i a l o g »Über Wahrheit u n d Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke« ( 1 7 , 1 0 - 1 7 ) , den er am 24. M a i 1798 an Schiller sendet, u m in den folgenden Tagen i n Jena die Problematik naturalistischer und realistischer Kunstprinzipien gemeinsam zu erörtern. Es ist bedauerlich, daß eine Fortsetzung dieses Gesprächs nicht mehr zustande kam, w e i l sich möglicherweise schon hieraus Erhellendes für die Bestimmung des Stellenwerts von Religion und Theologie zumindest i n Goethes — wenn nicht auch Schillers — Literaturtheorie hätte ableiten lassen. D e n n schon hier f ä l l t i m Z u sammenhang der Unterscheidung zwischen Kunstwahrem und Naturwahrem das Stichwort v o n der »innere(n) Wahrheit, die aus der Konsequenz eines Kunstwerks entspringt« (17, 14). A u f g r u n d dieser inneren Wahrheit vermag »ein vollkommenes Kunstwerk als ein N a t u r w e r k « (17,16) erscheinen, w e i l es m i t der »bessern N a t u r « (ebd.) des Rezipienten übereinstimmt und »weil es übernatürlich, aber nicht außernatürlich ist« (ebd.): 1 D i e theaterästhetischen Schriften Goethes werden zitiert nach: Goethe. Berliner Ausgabe. Berlin und Weimar 1970, Bd. 17 (BA). Seine Briefe hingegen werden zitiert nach: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden. Hamburg 1965 - 6 7 ( I - I V ) ( H A ) . Die Zitate werden nach der B A mit arabischen, nach der H A mit römischen Band-Angaben vermerkt.

90

Ernst Josef Krzywon Ein vollkommenes Kunstwerk ist ein Werk des menschlichen Geistes und in diesem Sinne auch ein Werk der N a t u r . Aber indem die zerstreuten Gegenstände in eins gefaßt und selbts die gemeinsten in ihrer Bedeutung und Würde aufgenommen werden, so ist es über die N a t u r . Es w i l l durch einen Geist, der harmonisch entsprungen und gebildet ist, aufgefaßt sein, und dieser findet das Vortreffliche, das in sidi Vollendete, auch seiner N a t u r gemäß (ebd.).

Allerdings vermag nur »der wahre Liebhaber« — nicht »der gemeine Liebhaber« — »das Uberirdische der kleinen Kunstwelt« (ebd.) zu begreifen. Die postulierte Ubereinstimmung zwischen dem Übernatürlichen und Überirdischen des Kunstwerks einerseits u n d dem wahren »Liebhaber« andererseits fordert v o n diesem, »daß er sich z u m Künstler erheben müsse, u m das Werk zu genießen«, »daß er sidi aus seinem zerstreuten Leben sammeln, m i t dem Kunstwerk wohnen, es wiederholt anschauen u n d sich selbst dadurch eine höhere Existenz geben müsse« (ebd.), wobei eine solche Sensibilität gleicherweise »bei Gemälden, i m Theater, bei andern Dichtungsarten w o h l ähnliche Empfindungen« (ebd.), zu gelten haben. Eine solche Übereinstimmung scheint beispielsweise i n Wallensteins Lager (»Weimarischer neudekorierter Theatersaal. Dramatische Bearbeitung der Wallensteinisdien Gedichte durch Schiller« 1798), das »man unter der R u b r i k eines Lust- u n d Lärmspiels ankündigen« (17,19) könne, noch nicht gegeben zu sein, denn hier spiegele sich lediglich »das Verhältnis des M i l i tärs [ . . . ] zu einer rohen Religion« (ebd.), obgleich es v o n Gustav A d o l f , dem »Leuteplager«, heißt: »Der machte eine K i r c h aus seinem Lager« (17, 27). Gerade am Beispiel v o n Wallensteins tapfrem »Betragen i n der Affäre bei Lützen« w i r d diese Nichtübereinstimmung ausdrücklich bestätigt: »der eine nimmt's natürlich, der andere übernatürlich« (17,29). So zeigen sich des Kapuziners Zweifel als durchaus berechtigt: »Ist das eine Armee von Christen?« (17, 30). Goethe selbst stuft die Redekunst des Kapuziners, »diese barbarischgeistliche Erscheinung« (17,35), i n die große T r a d i t i o n des »Pater A b r a ham« (ebd.) a Santa Clara ein, u n d dies m i t Recht, denn er selbst w a r es ja, der am 5. Oktober 1798 die gesammelten Schriften Hans U l r i c h Megelers unter dem T i t e l Judas der Erzschelm aus der Weimarer Bibliothek entliehen u n d »sie Schiller für die Predigt des Kapuziners«, »in die charakteristische Wendungen Abrahams wörtlich übernommen wurden« (17, 731), zur Verfügung gestellt hatte. Doch solche Nichtübereinstimmung vermag das gebildete P u b l i k u m Weimars, »dieses neuen theatralischen Jerusalems« (17,727), wie es Goethes Zeitgenosse Joseph Rückert charakterisiert, sehr w o h l zu begreifen, denn es schaut m i t dem Kennerblick eines wahren Liebhabers sowie »eines ästhe-

Das »Heilige aus dem sinnlich faßlichen Sönen«

91

tischen Beobachters« (17,44) und vermag so die innere Wahrheit eines Kunstwerks zu erfassen, die kraft des menschlichen Geistes, der ja N a t u r ist, das Kunstwerk als Naturwerk erscheinen läßt. D i e fundamentale Unterscheidung zwischen Kunstwahrem u n d Naturwahrem 3 zwischen Kunstwerk u n d Naturwerk beschäftigt Goethe so intensiv, daß sie bis i n die Rezensionen der Uraufführung v o n Wallensteins Lager (am 12. Oktober 1798, »Eröffnung des Weimarischen Theaters« 1798) u n d der Piccolomini (am 30. Januar 1799, »Die Piccolomini«. »Wallensteins« Erster Teil« 1799) h i n e i n w i r k t , die er übrigens gemeinsam m i t Schiller verfaßt u n d w o r i n der Widerstreit zwischen dem phantastischen Geist u n d dem gemeinen wirklichen Leben, den ja der Dichter darzustellen habe, ausdrücklich thematisiert w i r d : den p h a n t a s t i s c h e n G e i s t , der von der einen Seite an das Große und Idealische, v o n der andern an den Wahnsinn und das Verbrechen grenzt, und das g e m e i n e w i r k l i c h e L e b e n , welches von der einen Seite sich an das Sittliche und Verständige anschließt, von der andern dem Kleinen, dem Niedrigen und Verächtlichen sich nähert. I n die M i t t e zwischen beiden als eine ideale, phantastische und zugleich sittliche Erscheinung stellt er uns die Liebe, und so hat er in seinem Gemälde einen gewissen Kreis der Menschheit vollendet (17, 65).

Was letztlich i n diesem Widerstreit — durch die Liebe ausgeglichen — sichtbar w i r d , ist wiederum »das Oberirdische der kleinen Kunstwelt« (17,16), das Ubernatürliche, aber nicht Außernatürliche. Solche m i t Schiller gemeinsam erwogenen Gedankengänge veranlassen Goethe, Voltaires Mahomet , den er 1828 als hypochondrisches Stück (17, 171) bezeichnen w i r d , u n d Tancrède ins Deutsche zu übersetzen, u m dem deutschen Theater neue Impulse zu geben 2 . I n seinem Gedicht » A n Goethe, als er den v o n Voltaire auf die Bühne brachte«, nennt Schiller selbst die Beweggründe Goethes: »von falschem Regelzwange / Z u Wahrheit und N a t u r « (17, 736) zurückzuführen. D i e Übereinstimmung v o n Wahrheit und N a t u r bedeutet so ein Korrelat zur Übereinstimmung v o n Kunstwerk und N a t u r w e r k , deren innere Wahrheit nur der wahre Liebhaber und ästhetische Beobachter wahrzunehmen vermag, der wiederum i n Übereinstimmung z u m Dichter stehen müsse, »den die Kunst, die göttliche, schon lange / M i t ihrer reinen Priesterbinde ziert« (17, 736). Dieser Dichter w i r d v o n Goethe selbst u n d »dem Franken« (ebd.) repräsentiert, bei denen »noch die Kunst zu finden« (ebd.) u n d die Szene selbst ein »heiliger Bezirk« (ebd.) sei. 2 I m 14. Buch von Dichtung und Wahrheit befaßt sich Goethe »mit dem religiösen Problem, wie Göttliches und Irdisches sich vereinigen, und mit dem Versuch, es dramatisch in >Mahomet< darzustellen« ( H A X , 570), was »Mahomets Gesang« bezeugt.

92

Ernst Josef Krzy won

M i t solchen Formulierungen erhebt Schiller bereits Goethes Theaterästhet i k , markiert durch die Begriffe des Übernatürlichen u n d Überirdischen, ins Theologische und Religiöse, kleidet sie i n eine — wenn auch antik-sakrale — Aura, die Goethe selbst sprachlich noch nicht mitzuvollziehen scheint. O b gleich er schon zwei Jahre später i n seinem Aufsatz »Weimarisches H o f theater« (1802) davon berichtet, Lessing würde »in sittlich-religiöser H i n sicht« (17,74) diejenige Stadt glücklich preisen, i n welcher sein »Nathan« zuerst gegeben werde, so setzt Goethe dennoch eine klare Trennlinie z w i schen seine und Lessings Auffassung m i t der Ergänzung: » w i r aber können in dramatischer Rücksicht sagen, daß w i r unserm Theater Glück wünschen, wenn ein solches Stück darauf bleiben u n d öfters wiederholt werden kann« (ebd.). Goethe ordnet auf diese Weise das Religiöse dem Sittlichen zu, u n d dieses wiederum dem Verstandesmäßigen. Deshalb spreche ja aus Lessings Stück »der Verstand fast allein« (ebd.) u n d nicht die N a t u r , wie zu ergänzen wäre, denn Natur i m Sinne v o n menschlichen Leidenschaften bedeutet für Goethe i m K o n t e x t seiner theaterästhetischen Schriften u m 1800 eine unbewegliche »Base«, und sie ist »folglich weit beständiger [ . . . ] als die S i t t e n , die jedes L a n d u n d jeder Zeitmoment verändert« (17, 69). A u f g r u n d dieser »dramatischen Rücksicht«, die Goethe i n Opposition zu Lessings »sittlichreligiöser Hinsicht« stellt, sind i h m gerade die »sinnlichen Teile« des Jon v o n August W i l h e l m Schlegel höchst w i l l k o m m e n , w e i l »hier eine Annäherung an das griechische Trauerspiel der Zweck« (17, 74) sei und weil »in den sechs Personen [ . . . ] die größte Mannigfaltigkeit dargestellt« werde: Ein blühender Knabe, ein Gott als Jüngling, ein stattlicher König, ein würdiger Greis, eine Königin in ihren besten Jahren und eine heilige bejahrte Priesterin (17, 74 f.).

Obgleich v o n Lessings Vernunft sich absetzend und sich allein auf die unbewegliche »Base« der menschlichen N a t u r stützend, gelangt Goethe u m 1802 i n den Bereich des Religiösen und Theologischen, wie es schon Schiller i n seinem »Mahomet«-Gedicht auf Goethe gleichsam antizipiert hat. Dieser antik-sakrale Gleichklang zwischen beiden erklärt möglicherweise auch die ein wenig befremdliche Formulierung Goethes i n einer M i t t e i l u n g an Schiller v o m 19. Januar 1802, es handele sich bei diesem Aufsatz (Weimarisches Hoftheater) lediglich um eine »Schnurre über das Weimarsche Theater« (17, 739), die jedoch nach K a r l August Söttiger wie ein »Theateredikt« (ebd.) aufgenommen wurde. Wie sehr es Goethe jedoch u m die Fortführung der schon seit dem Gespräch »Uber Wahrheit u n d Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke« (1797) wirksamen Überlegungen geht, nämlich u m die Übereinstimmung v o n Kunstwerk u n d N a t u r w e r k einerseits u n d v o n Künstler und wahrem Liebhaber bzw. ästhetischem Beobachter andererseits, zeigt

Das »Heilige aus dem sinnli

f a ß l i e n Schönen«

93

die hier unmißverständlich formulierte Rezeptionsperspektive, die bewußt ans Übernatürliche u n d Überirdische des Kunstwerks anknüpft: Übrigens ist das Stück für gebildete Zuschauer, denen mythologische Verhältnisse nicht fremd sind, völlig klar, und gegen den übrigen, weniger gebildeten Teil erwirbt es sich das pädagogische Verdienst, daß es ihn veranlaßt, zu Hause wieder einmal ein mythologisches Lexikon zur H a n d zu nehmen und sich über den Erichthonius und Erechteus aufzuklären (17, 75).

D e m erwählten I n h a l t entspricht somit »ein erwähltes Publikum« (17, 76). Es sei nunmehr Aufgabe des Kunstrichters, am A . W . Schlegelschen Jon u n d an dem des Euripides »das A n t i k e m i t dem Modernen i m ganzen zu vergleichen« (ebd.), bzw. klarzumachen, »inwiefern w i r den A l t e n nachfolgen können u n d sollen« (ebd.). Wie Goethe am Turandot Gozzis darzulegen versucht, müsse der erwählte u n d ästhetische Zuschauer begreifen, »daß das ganze theatralische Wesen nur ein Spiel sei, über das er, wenn es i h m ästhetisch, ja moralisch nutzen soll, erhoben stehen muß, ohne deshalb weniger Genuß daran zu finden« (17, 79). D i e Zusammenführung des Moralischen u n d Ästhetischen i m Spiel deutet somit eine bei Goethe bereits vollzogene Synthese der Schillerschen und Lessingschen Position m i t der seinigen an, wie sie bereits m i t der Unterscheidung zwischen »sittlich-religiöser Hinsicht« und »dramatischer Rücksicht« angedeutet worden ist. Letztlich gründet diese Einheit i n einer ursprünglichen A n m u t der vier Charaktermasken der Commedia deWarte (vgl. 17, 80). Goethes rezeptionsästhetische Unterscheidung zwischen dem wahren, ästhetischen, gebildeten P u b l i k u m u n d dessen Übereinstimmung m i t dem Gehalt des Kunstwerks findet sogar i n den 1803 niedergeschriebenen »Regeln für Schauspieler«, z. B. i n § 27, ihren Niederschlag, denn dem Gebildeten, wenn er die N a m e n Ceres oder Pan hört, w i r d wohl einfallen, daß solche aus der Mythologie der Alten stammen, aber die wirkliche Bedeutung davon kann ihm entfallen sein; durch den darauf gelegten T o n des Deklamierenden aber w i r d ihm der Sinn deutlich. Ebenso dem Weniggebildeten, wenn er auch der eigentlichen Beschaffenheit nicht kundig ist, wird der stärker artikulierte T o n die Einbildungskraft aufregen und er sich unter diesen N a m e n etwas Analoges mit jenem vorstellen, welches sie wirklich bedeuten (17,91).

Schließlich müsse der Schauspieler — auch durch »Stellung u n d Bewegung des Körpers auf der Bühne« (17, 93) — »nicht allein die N a t u r nachahmen, sondern sie auch idealisch vorstellen«, ja »in seiner Darstellung das Wahre m i t dem Schönen zu vereinigen« (ebd.) trachten. Deshalb gebe es »zu vermeidende böse Gewohnheiten« — so die Überschrift für die § § 7 3 und 74 — ,

94

Ernst Josef Krzywon

die »innerhalb eines Kunstprodukts« (17, 101) als Versündigung »nicht nur gegen das Schöne, sondern noch v i e l mehr gegen den Wohlstand« (ebd.) bedeuten: »Es ist schrecklich, innerhalb eines Kunstprodukts an diese N a t ü r lichkeiten erinnert zu werden« (ebd.). U n d da »man auf der Bühne nicht nur alles wahr, sondern auch schön dargestellt haben w i l l « (17,103), so müsse »der Schauspieler auch außer der Bühne trachten, selbe zu erhalten« (ebd.), »eine gewisse erhabene A r t beizubehalten« (17,102) suchen. Selbst beim Agieren auf dem Theaterboden müsse der Schauspieler wie »die Auguren m i t ihrem Stab den H i m m e l i n verschiedene Felder« (17,104) teilen, damit sich auch noch i m leidenschaftlichen H i n - u n d Herstürmen »das Schöne z u m Bedeutenden gesellet« (ebd.). Dies gelte v o r allem, »wenn man edle, würdige Charaktere vorzustellen hat« (17,105), u n d selbst »die bäurischen, tölpischen« (ebd.) müsse der Schauspieler »mit Kunst u n d Bewußtsein« (ebd.) darstellen, eingedenk dessen, »daß es eine nachahmende Erscheinung u n d keine platte Wirklichkeit sein soll« (ebd.). So lebt auch i n diesen für den jungen K a r l Unzelmann entworfenen Regeln v o n Goethes »Theaterpädagogik« (17, 744) — auch »Grammatik« (17, 745) bzw. »Katechismus«, »euklidische Elemente« oder »Theaterkatechismus« (17, 746) genannt — die Problematik v o n K u n s t w e r k u n d N a t u r werk, v o m Ubernatürlichen u n d Uberirdischen i m Kunstwerk fort u n d verlängert sich gleichsam v o n der Bühne i n die Welt, v o n der Kunst ins Leben des Schauspielers. D i e schon 1797 geforderte Ubereinstimmung v o n Übernatürlichem bzw. Uberirdischem und Natürlichem w i r d so z u m tragenden Element der v o n Goethe ins Auge gefaßten, jedoch letztlich nicht realisierten Theaterschule« (17, 746), deren unerreichbares Ideal Shakespeare ist: D i e N a t u r und Wahrheit, die Einfachheit und Tiefe in seinen Dichtungen läßt vermuten, daß er als Darsteller ein gleiches Streben hatte und daß seine Zeitgenossen ihn wahrscheinlich seiner Vollkommenheiten wegen tadelten (17,110).

Z u dieser Grundeinsicht w i r d immer wieder zurückkehren, so »jene rohe Großheit« (17,112) findet, »daß die Charaktere i m

Goethe auch i n der Zeit nach Schillers T o d wenn er — Friedrich N i c o l a i gegenüber — i n Schillers Räubern nur dadurch erträglich Gleichgewicht stehen« (ebd.).

E i n kurzer Blick i n Goethes Briefwechsel zeigt, daß sein etwa u m 1802 sich ankündigender Gleichklang m i t der Lessingschen u n d Schillerschen Posit i o n eine gewisse Fortsetzung u n d Vertiefung erfährt. So bejaht Goethe i n einem Brief an Zelter v o m 13. J u l i 1804 ausdrücklich den Zusammenhang v o n Kunst und Religion, indem er bemerkt, Kunst — hier als Kirchengesang und Musik gemeint — sei die Quelle der Religion, »die dem Gebildeten wie Ungebildeten gleichmäßig ist« ( I I , 469).

Das »Heilige aus dem sinnlich faßlichen Schönen«

95

Dieser Zusammenhang gewinnt noch schärfere K o n t u r e n i n Goethes Rechtfertigung des Dramatikers Zacharias Werner, m i t dem er sich nach Schillers T o d auseinandersetzt, gegenüber Jacobi, dem er am 11. Januar 1808 m i t t e i l t : Es kommt mir, einem alten Heiden, ganz wunderlich vor, das Kreuz auf meinem eigenen Grund und Boden aufgepflanzt zu sehen, und Christi Blut und Wunden poetisch predigen zu hören, ohne daß es mir gerade zuwider ist. W i r sind dieses doch dem höheren Standpunkt schuldig, auf den uns die Philosophie gehoben hat. W i r haben das Ideelle schätzen gelernt, es mag sich auch in den wunderlichsten Formen darstellen ( I I I , 62).

U n d wenige Wochen später w i r d er Jacobi gegenüber noch deutlicher, wenn er i h m am 7. M ä r z 1808 schreibt: D a ß er [Zacharias] dem modernen Christenwesen anhängt, ist seinem Geburtsorte, seinem Bildungskreise und seiner Zeit gemäß. D a ß die deutsche Dichtkunst diese Richtung nahm, war unaufhaltsam; und wenn etwas daran zu tadeln ist, so tragen die Philosophen auch ein Teil der Schuld. D i e gemeinen Stoffe, die das Talent gewöhnlich ergreift, um sie zu behandeln, waren erschöpft, und verächtlich gemacht. Schiller hatte sich noch an das Edle gehalten; um ihn zu überbieten mußte man nach dem Heiligen greifen, das in der ideellen Philosophie gleich bei der H a n d lag. Bei den Alten, in ihrer besten Zeit, entsprang das Heilige aus dem sinnlich faßlichen Schönen. Zeus wurde erst durch das olympische Bild vollendet. Das Moderne ruht auf dem sittlich Schönen, dem, wenn man will, das sinnliche entgegensteht; und ich verarge Dir's gar nicht wenn D u das Verkoppeln und Verkuppeln des Heiligen mit dem Schönen oder vielmehr Angenehmen und Reizenden nicht vertragen magst: denn es entsteht daraus, wie uns selbst die Wernerschen Sachen den Beweis geben, eine lüsterne Redouten- und Halb-Bordellwirtschaft, die nach und nach noch schlimmer werden w i r d ( I I I , 66).

Goethe rechtfertigt sogar Werners Verstiegenheit »zu einer A r t v o n Lehrer u n d Propheten« ( I I I , 67), indem er i h n m i t Brahmanen u n d Brahma gleichsetzt und zu dem Fazit über Werner gelangt: Seine Tendenz möchte ich, wenn ich auch könnte, nicht ändern. Er ist ein Sohn der Zeit und muß mit ihr leben und untergehen; und was von ihm übrigbleibt, ist allenfalls auch nicht schlecht ( I I , 68).

Betrachtet man Goethes »Aufsätze zu Schauspielkunst u n d Musik« (17, 182) als ein gleichsam geschlossenes Korpus, das zusammen m i t den »Aufsätzen zur deutschen Literatur« (17,183 ff.) Goethes »Schriften zur Literatur« insgesamt bildet, so bedeutet der Aufsatz »Deutsches Theater« von 1813 einen ersten H ö h e p u n k t und locus classicus für den Versuch einer Rekonstruktion des Stellenwerts v o n Religion u n d Theologie i m K o n t e x t der Goetheschen Theater- u n d i m weiteren Sinne auch seiner Literaturästhetik. Der als Schema am 17. M a i 1813 entworfene und als Vorarbeit für das 13. Buch v o n Dichtung und Wahrheit konzipierte, 1833 erstmals i n der Ausgabe letzter H a n d , Band 49 aus dem Nachlaß publizierte Aufsatz beginnt

96

Ernst Josef Krzywon

m i t der axiomatischen Setzung u n d These, das sich zu allen Zeiten emanzipierende Theater habe »drei Hauptgegner, die es immer einzuschränken suchen: die Polizei, die Religion u n d einen durch höhere sittliche Ansichten gereinigten Geschmack« (17,121). Insofern sei das Theater »in dem modernen bürgerlichen Leben, w o durch Religion, Gesetze, Sittlichkeit, Sitte, Gewohnheit, Verschämtheit u n d so fort der Mensch i n sehr enge Grenzen eingeschränkt ist, eine merkwürdige u n d gewissermaßen sonderbare Anstalt« (ebd.). U n t e r dem Aspekt der Religion, der hier vor allem interessiert, zeigt ein synoptischer Vergleich der drei Theaterländer England, Frankreich und Deutschland folgendes Ergebnis: D i e Puritaner in England schlossen es auf mehrere Jahre ganz. I n Frankreich wurde es durch die Pedanterie des Kardinal Richelieu gezähmt und in seine gegenwärtige Form gedrängt, und die Deutschen haben, ohne es zu wollen, nach den Anforderungen der Geistlichkeit ihre Bühne gebildet ( 1 7 , 1 2 1 f.).

D i e v o n Goethe monierte Verschlimmbesserung des Theaters sei, so ist seine Meinung, vor allem ein Werk des nördlichen Deutschland u n d insbesondere Gottscheds. So »fingen die noch nördlichem hamburgischen Pfarrer und Superintendenten einen Krieg gegen das Theater« (17,122) an, der v o n der zentralen Frage geprägt w a r : »ob überall ein Christ das Theater besuchen dürfe« (ebd.). Gemeint ist m i t solchen Andeutungen vor allem der Theaterstreit zwischen Pastor Johann L u d w i g Schlosser und Hauptpastor Johann Melchior Goeze — einem Gegner Lessings — , der i n seiner 1770 erschienenen Schrift Theologische Untersuchung der Sittlichkeit der heutigen teutschen Schaubühne überhaupt das Theater — i n guter patristischer T r a d i t i o n — m i t Etikettierungen belegt, wie z. B. »Bordell«, »verpestetes Haus«, »Löffel vergifteten Wassers« und »Samen des Unkrauts« (vgl. 17,756). Solche Theaterdiskriminierungen haben eine lange christliche Tradition. Schon Tatians »Rede an die Hellenen« aus dem 2. Jahrhundert nennt das Theater eine »Brutstätte des Lasters« 3 . Dieser Topos w i r d v o n Tertullians Schrift Über die Schauspiele (2. Jh.) wieder aufgenommen u n d erweitert, indem Theater und Zirkus insgesamt als Brutstätten der Unsittlichkeit u n d Grausamkeit bezeichnet werden. I n einer gleichbetitelten Schrift untersagt C y p r i a n (2./3. Jh.) den Schauspielern die Unterweisung der Kinder. Über Origenes (3. Jh). u n d die »Katholischen Didaskalien« (vermutlich aus der ersten H ä l f t e des 3. Jahrhunderts) w i r d diese T r a d i t i o n bis zu Johannes Chrysostomos (4./5. Jh.) fortgeführt u n d weitertradiert bis i n Goethes, ja 3 Vgl. Joseph Barbel, Geschichte der frühchristlichen schen Literatur. Aschaffenburg 1969, Bd. 1, S. 67.

griechischen und lateini-

Das »Heilige aus dem sinnlich faßlichen Schönen«

97

bis i n unsere Gegenwart, obgleich gerade i n unseren Tagen »der Heilige Geist einen A u t o r u n d Schauspieler auf den Stuhl Petri gesetzt hat« 4 . Denn i n dieser langen T r a d i t i o n waren ebenso konträre Strömungen zu verzeichnen, so daß Goethes Feststellung keineswegs überrascht: und die Frommen waren selbst untereinander nicht einig, ob man die Bühne unter die gleichgültigen (adiaphoren) oder völlig zu verwerfenden Dinge rechnen solle. I n Hamburg brach aber der Streit hauptsächlich darüber los, inwiefern ein Geistlicher selbst das Theater besuchen dürfe; woraus denn gar bald die Folge gezogen werden konnte, daß dasjenige, was dem H i r t e n nicht zieme, der Herde nicht ganz ersprießlich sein könne (17,122 f.).

Goethe, der sich zweifelsohne zu den Freunden der Bühne zählt, scheint jedoch nicht deren Ansicht zu teilen u n d die Bühne als eine der höhern Sinnlichkeit eigentlich nur gewidmete Anstalt für eine sittliche auszugeben. Sie behaupten, das Theater könne lehren und bessern und also dem Staat und der Gesellschaft unmittelbar nutzen. Die Schriftsteller selbst, gute wackere Männer aus dem bürgerlichen Stande, ließen sich's gefallen und arbeiteten mit deutscher Biederkeit und gradem Verstände auf diesen Zweck los, ohne zu bemerken, daß sie die Gottschedische Mittelmäßigkeit durchaus fortsetzten und sie, ohne es selbst zu wollen und zu wissen, perpetuierten (17,123).

Schon 1802 hatte sich Goethe v o n Lessings »sittlich-religiöser Hinsicht« abgesetzt und m i t dem H i n w e i s darauf, i m Nathan spreche »der Verstand fast allein« (17, 74), zu »dramatischer Rücksicht« bekannt. Diese Position w i r d nun, 1813, wieder aufgenommen u n d expressis verbis erstmals i m Zusammenhang m i t Religion ausgedrückt, wobei aber zu bedenken ist, daß Goethe diesen Text selbst nie veröffentlicht hat, i h n also doch w o h l nicht für endgültig gehalten hat. Aus der Sicht dieser Textstelle scheint für Goethe der qualitative Unterschied zwischen Gottsched u n d Lessing kaum wichtig zu sein, ebensowenig derjenige zwischen den Schauspielern Eckhofen, Schröder und Iffland, die »mehr oder weniger die dramatische Kunst nach dem Sittlichen, Anständigen, Gebilligten u n d wenigstens scheinbar Guten hinzogen« (17, 123). Ihnen »kam hierin sogar die allgemeine Tendenz der Zeit zur H ü l f e , die eine allgemeine A n - u n d Ausgleichung aller Stände u n d Beschäftigungen zu einem allgemeinen Menschenwerte durchaus i m Herzen u n d i m Auge hatten« (ebd.). Die Konsequenz dessen w a r : Die Sentimentalität, die Würde des Alters und des Menschenverstandes, das Vermitteln durch vortreffliche Väter und weise Männer nahm auf dem Theater überhand (ebd.). 4 So August Everding bei der Begrüßung von Papst Paul Johannes I I . im M ü n chener Herkulessaal der Residenz am 19. November 1980 (zit. nach zur debatte , 10. Jg., N r . 6, N o v . / D e z . 1980, S. 13).

7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

98

Ernst Josef Krzywon

V o n einem solchen Theater distanziert sich Goethe entschieden, ebenso v o n der allgemein vertretenen These, »daß es kein deutsches Theater gebe« (17,124), w o m i t er indirekt auf die Präsenz u n d qualitative Andersartigkeit seines Weimarer Theaters aufmerksam macht, das »als eine der schönsten Nationaltätigkeiten aus trauriger Beschränkung u n d Verkümmerung wieder zu Freiheit und Leben hervorwächst« (ebd.). D i e Beseitigung der napoleonischen Fremdherrschaft gestattet z w a r audi eine politische Interpretation dieses ersten Satzes aus Goethes 1815 niedergeschriebenem u n d publiziertem Aufsatz »Über das deutsche Theater«, doch näherliegend ist eine theaterästhetische Deutung des Textes, der j a ausdrücklich auf Schillers sowie Goethes W e r k eingeht u n d für die Gründung einer »Nationalbühne« bzw. eines »Deutschen Theaters« plädiert, das — v o n Schiller als Plan entworfen — folgendes Z i e l hatte: »der einnehmende Stoff, der anerkannte Gehalt solcher Werke« — nämlich aus Vergangenheit wie Gegenwart — »sollte einer Form angenähert werden, die teils der Bühne überhaupt, teils dem Sinn u n d Gesetz der Gegenwart gemäß wäre« (17,126). Es ist bezeichnend für den bereits vollzogenen Positionswandel Goethes, dessen Altersuniversalismus seit 1812 sich u m eine V e r m i t t l u n g der »notwendigen Doppelingredienzien des Universums« sowie der »Antinomien der Überzeugung« b z w . der »Antinomie der Vorstellungs-Art« ( I I I , 589) bemüht, daß er jetzt, 1815, nachdem er sich »als Dichter u n d Künstler« ( I I I , 220 u n d X I I , 372) z u m Polytheismus bekannt hatte, Lessings Nathan trotz der didaktischen Tendenz — »um z u hören u n d zu vernehmen« (17,127) — dem deutschen P u b l i k u m »auf ewige Zeiten« (ebd.) i n dessen Erinnerung zu erhalten wünscht, u n d z w a r nunmehr auch i n »sittlich-religiöser Hinsicht« (17, 74) u n d nicht nur i n »dramatischer Rücksicht« (ebd.): Möge zugleich das darin ausgesprochene göttliche Duldungs- und Schonungsgefühl der N a t i o n heilig und wert bleiben (17,127).

D i e Zusammenschau v o n »dramatischer Rücksicht« u n d »sittlich-religiöser Hinsicht« findet eine deutliche Bestätigung i n Goethes zeitgleich entstandenem Aufsatz » Z u m Jahre 1815«, w o r i n er dem Theater eine doppelte Seite zuschreibt: eine ideelle, insofern es seiner inneren N a t u r gemäß gesetzlich fortwirkt; eine empirische, welche uns in der mannigfaltigsten Abwechslung als ungeregelt erscheint, und so müssen w i r dasselbe von beiden Seiten betrachten, wenn w i r davon richtige Begriffe fassen wollen (17, 138).

D i e i m selben Jahr erfolgte Neuinszenierung des »nun bald vierzigjährigein)« (17,139) Monodramas Proserpina bedeutet deshalb für Goethe eine theaterpraktische Verwirklichung seiner theatertheoretischen Reflexionen über die ideelle und empirische Seite des Theaters. Daß darin sowohl antike

Das »Heilige aus dem sinnlich faßlichen Schönen«

99

Mythologie wie auch die Nachbildung aus christlicher T r a d i t i o n stammender Tableaus, die der späte Goethe m i t besonderer Sorgfalt als einen eigenständigen Kunstzweig pflegt, eine wichtige Rolle spielen, ist eine weitere K o n sequenz v o n Goethes Zusammenschau dramatischer u n d sittlich-religiöser Elemente sowie deren theaterästhetischer Realisierungsmöglichkeit. Gelegentlich — wie beispielsweise bei der Beschreibung des Berliner Theaterlebens i n dem Aufsatz »Wunsch u n d freundliches Begehren« v o n 1823 — manifestiert sich diese Entwicklung Goethes i n formelhaften Wendungen wie »Besitz des Ganzen« und »ein sinnlich geistiger Genuß« (17,154) oder auch »die E i n heit, Unteilbarkeit, Unantastbarkeit Shakespeares« (17,159) den er als eine »rechtmäßige A u t o r i t ä t « (17,161) m i t einer schier sakralen A u r a schmückt. Goethes Zusammenschau dramatischer u n d sittlich-religiöser Elemente sowie deren theaterästhetischer Realisierungsmöglichkeit scheint somit jenem Altersuniversalismus zu entsprechen, der bereits i m Brief an Schlichtegroll v o m 31. Januar 1812 die »Antinomien der Überzeugung« (111,589) bzw. die »Antinomie der Vorstellungs-Art« (ebd.) zu versöhnen sucht und der schließlich i n Goethes allgemeinem Glaubensbekenntnis gipfelt, das er am 19. Februar 1815 als Beilage zu einem Schreiben an Christian Heinrich Schlosser v o m 5. M a i 1815 verfaßt hat: so w i l l ich mein allgemeines Glaubensbekenntnis hierher setzen. a. I n der N a t u r ist alles was im Subjekt ist. y. und etwas drüber. b. I m Subjekt ist alles was in der N a t u r ist. z. und etwas drüber. b kann a erkennen, aber y nur durch ζ geahndet werden. Hieraus entsteht das Gleichgewicht der Welt und unser Lebenskreis in den wir gewiesen sind. Das Wesen, das in höchster Klarheit alle viere zusammenfaßte, haben alle Völker von jeher G o t t genannt ( I I I , 304).

I m Zusammenhang dieses allgemeinen Glaubensbekenntnisses, v o n dem Riemer eine andere Fassung überliefert hat (vgl. I I I , 627), bedeutet für Goethe die Inkommensurabilität v o n N a t u r u n d Subjekt b z w . Mensch »das Gleichgewicht der Welt« als auch jenes Wesen, »das [ . . . ] alle V ö l k e r v o n jeher G o t t genannt« ( I I I , 304) haben u n d das zugleich »Träger dieser T o t a l i tät« wie die »Notwendigkeit dieser Totalität« (ebd.) ist. Goethes Nachdenken über die Existenz u n d N o t w e n d i g k e i t einer solchen T o t a l i t ä t entspricht somit auch jener für sein dichterisches Alterswerk spezifischen Simultanitätserfahrung, die er i n einem Brief an W i l h e l m v o n H u m boldt v o m 1. September 1816 beschreibt u n d die nach Bodo M o r a we einigen seiner Gedanken u n d Aperçus »den Glanz einer säkularisierten Prophetie« 7*

Ernst Josef K r z y w o n

100

(111,651) verleiht, »den Menschen und »ihn zum

Seher«

G o t t

ä h n l i c h

w e r d e n « (ebd.) l ä ß t

(ebd.) m a c h t :

Verwundersam aber ist mir jetzt mehr als je das Gewebe dieses Urteppichs: V e r gangenheit, Gegenwart und Zukunft sind so glücklich in eines geschlungen, daß man selber zum Seher, das heißt: Gott ähnlich wird. U n d das ist doch am Ende der Triumph aller Poesie im Größten und im Kleinsten ( I I I , 366). W i e w e i t Goethes synthetisierende Zusammenschau v o n dramatischen u n d sittlich-religiösen

Aspekten u m

1826 f o r t e n t w i c k e l t ,

aber

ebenso a n

G r e n z e n g e l a n g t i s t , z e i g t a m e i n d r ü c k l i c h s t e n sein A u f s a t z

über

H a y d n s >Schöpfung< « v o n 1 8 2 6 , d e r eine ü b e r a r b e i t e t e u n d i m — u m das P r o m e t h e u s - M o t i v —

ihre

»Joseph Schlußteil

e r g ä n z t e Fassung eines M a n u s k r i p t s

von

K a r l F r i e d r i c h Z e l t e r d a r s t e l l t 5 , die hier i n einer Synopse beider Fassungen vorgelegt w i r d : Zelter-Fassung:

Goethe-Fassung:

Endlich erscheint, unangemeldet, auf der Grenze zweier Nationen, in der Krippe einer Stallmacherwerkstatt das auf Erden arm geborne neue Jesuskind, das unsere Kunst von den Gängelbanden fremden Formenwesens erlösen soll, sieht fromm und klug aus sich heraus in die frisdie grüne Welt, befruchtet sich mit Säften süßer Blüten und bringt den goldnen H o n i g heim (17, 769). Irgend jemand hat dies Bild subaltern und k i n d i s c h . . . (17, 771).

Endlich erscheint, unangemeldet, auf der Grenze zweier Nationen, in der Krippe einer Stellmacherwerkstatt, das auf Erden arm geborne neue Wunderkind, das unsere Kunst von dem Gängelbande und fremden Formenwesen erlösen soll, sieht fromm und klug aus sich heraus in die frische grüne Welt, nährt sich von Säften süßer Blüten und bringt den goldnen H o n i g zum Stocke (17,164 f.). Irgend jemand hat dies Bild subaltern und kindisch finden wollen; mir ist dabei die uralte Fabel des Prometheus klargeworden, ja ich wüßte mir kein

5 Die hier erwähnte Zusammenarbeit zwischen Zelter und Goethe war keineswegs ein Einzelfall. So entwarf Goethe, angeregt durch Zelter, im November 1816 den Plan einer Reformationskantate anläßlich der 300. Wiederkehr des Reformationsfestes im Jahr 1817 (vgl. Beilage zum Brief an Zelter vom 14. November 1816). Goethe geht dabei aus von »dem entschiedenen Gegensatz von G e s e t z und E v a n g e l i u m , sodann der Vermittlung solcher Extreme« ( I I I , 379), und hofft durch den Austausch dieser Begriffe gegen N o t w e n d i g k e i t und F r e i h e i t »auf einen höheren Standpunkt zu gelangen« (ebd.). Goethe schließt sich hier in der Interpretation des A T und N T der Lehre Luthers an und sieht in dem »ausschließlichen Glauben« ( I I I , 380) — gelegentlich auch »ausschließende Religion« (I, 404) genannt — den unvereinbaren Gegensatz von Luthertum und Papsttum. Obgleich Goethe zugesteht, daß solcher »ausschließender Glaube« des Luthertums »der reinen Vernunft aber nicht widerstrebt, sobald sie sich entschließt, die Bibel als Weltspiegel zu betrachten« (ebd.), so hält er sich dennoch in Distanz zu Luther, »da der treffliche M a n n durchaus dogmatisch-praktisch ist; so audi sein Enthusiasmus« ( I I I , 381), wie auch zum Katholizismus, denn die christliche Religion leide »durch sinnige und unsinnige Ketzereien« und habe »ihr ursprüngliches Reine« (ebd.) verloren. Was folgte, sei »eine A r t von heidnischem Judentum, das noch bis auf den heutigen Tag lebt und webt« (ebd.).

Das »Heilige aus dem sinnlich faßlichen Schönen«

101

erhabneres Bild zu denken als das allmächtige Licht im Funken, das Allergrößte im Kleinsten, das Fließendste aus dem Härtesten, das Allerhellendste aus der Dunkelheit, und worüber uns die Weisen aller Welt nodi Belehrung geben sollten, das hätte der Künstler unserm feinsten Sinne geoffenbart (17,167). E i n Vergleich beider Fassungen zeigt, daß G o e t h e — ob m i t oder ohne Z e l ters B i l l i g u n g m u ß o f f e n b l e i b e n —

den bei Zelter ausgeprägt

christologi-

schen A s p e k t l e i c h t e r w e i t e r t u n d d e n t h e o l o g i s c h e n A s p e k t , d e r b e i Z e l t e r c h r i s t l i c h o r i e n t i e r t ist, i n B e z i e h u n g z u a n t i k e r M y t h o l o g i e setzt, i n d e m er d e n c h r i s t l i c h e n » V a t e r des L i c h t s « ( 1 7 , 167) m i t d e r u r a l t e n F a b e l des P r o metheus parallelisiert. Freilich bedeutet Goethes E i n g r i f f i n Zelters T e x t v o r a l l e m eine stilistische K o r r e k t u r , d i e sprachliche G e n a u i g k e i t m i t A n m u t z u verbinden

sucht, z u m a l

Merkmale

des Z e l t e r - T e x t e s

von

diese T e x t s t e l l e a l l e c h r i s t o l o g i s c h e n unverändert

»Jesuskind« i n » W u n d e r k i n d «

beibehält6. Auch

Signale die

und

Änderung

b l e i b t durchaus i m religiösen

Sprach-

g e b r a u d i . » W u n d e r k i n d « f ü r das J e s u s k i n d ist n a c h d e m G r i m m s c h e n W ö r t e r b u c h ( D W b 14 I I , 1 8 9 4 ) besonders g e l ä u f i g i m 17. u n d 18. J a h r h u n d e r t . Die

Parallelisierung

von

christologischer

und

mythologischer

Sicht

wird

n o c h m a l s e r k e n n b a r , w e n n d e r christliche » V a t e r des L i c h t s « d u r c h assoziat i v e I n t e r p r e t a t i o n m i t P r o m e t h e u s 7 i n V e r b i n d u n g g e b r a c h t u n d so g l e i c h β Eine solche Absicht hat in Goethes Korrespondenz eine lange Tradition, wobei aber die in Briefen oft gereizte Polemik — gerade Herder gegenüber, besonders in der Zeit seiner »Ideen« (1788) — nicht übersehen werden darf. I m Einzelnen bedürften solche Unmutsäußerungen, denen andere positive gegenübergestellt werden müßten, eingehender Deutung. Vielleicht darf man ein W o r t des sich in sich selbst zurückziehenden Schweigsamen seinem katholischen Freund Boisserée gegenüber als eine A r t Schlüssel zu dem Thema Gott und Unsterblichkeit ansehen: »Darum w i r über viele Dinge uns nie ganz verständlich machen können, und ich daher oft zu mir sagen muß: darüber und darüber kann ich nur mit Gott reden«. Sulpiz Boisserée, I . Bd. (1862), S. 252. Uberhaupt waren gerade die Beurteilung des angeblichen »Heidentums« Goethes durch Boisserée und seine Umgebung zu beachten. 7 Goethes Rückgriff auf die uralte Prometheus-Fabel kündigt sich bereits in seinem Brief an Zelter vom 11. M a i 1820 an, wo er auf seine altersgemäße »mohammedanische Religion, Mythologie, Sitte« ( I I I , 477) sowie auf seine »Neigung z w i schen zwei Welten schwebend« (ebd.) hinweist. M i t Blick auf die Textstelle »Vater des Lichts« muß vermerkt werden, daß Goethe in dieser Zeit, etwa im Brief an Zelter vom 19. M ä r z 1827, auch vom »Weltgeist« und vom »ewig Lebendigen« spricht, der »väterlich« sorgt in Regionen, »wo die Vernunft nicht hinreichte und wo man doch die Unvernunft nicht wollte walten lassen« ( I V , 219): »Wirken w i r fort bis wir, vor- oder nacheinander, vom Weltgeist berufen in den Äther zurückkehren! Möge dann der ewig Lebendige uns neue Tätigkeiten [ . . . ] nicht versagen!« (ebd.). D a z u muß noch jene Briefstelle vom 17. A p r i l 1823 an Auguste v. Bernstorff erwähnt werden, da Goethe unter Hinweis darauf, in »unseres Vaters Reiche sind viele Provinzen« ( I V , 63), den Wunsch äußert: »Möge sich in den Armen des allliebenden Vaters alles wieder zusammenfinden« ( I V , 64).

102

Ernst Josef Krzywon

sam i n das Pantheon der antiken Mythologie einbezogen w i r d , wobei die gnostischen Elemente — signalisiert durch »das allmächtige Licht i m Funken, das Allergrößte i m Kleinsten, das Fließendste aus dem Härtesten, das Allerhellendste aus der Dunkelheit« (17,167) — sich unverkennbar zu W o r t melden 8 . Was der späte Goethe an der antiken Mythologie — i m Gegensatz zum Christlichen — so sehr zu schätzen scheint, illustriert recht sinnfällig seine letzte, wieder erst aus dem Nachlaß zu der Ausgabe Letzter Hand (Bd. 46) veröffentlichte theaterästhetische Schrift über Spontinis Die Athenerinnen v o n 1832, w o es einleitend heißt: Der Gegenstand ist aus der heroischen Griechenzeit sehr glücklich gewählt; denn die Vorteile soldier Sujets sind sehr groß, indem sie bedeutende Zustände darbieten, edle große Bildung, noch nah an der N a t u r , sodann eine grenzenlose Mythologie an die H a n d geben zu dichterischer Ausbildung (17,175).

Genau diese Steigerungsfähigkeit des Theaters ins Grenzenlose scheint für Goethe eine christliche oder gar kirchlich orientierte Theologie u n d Religion nicht mehr zu gestatten, sondern eher »alle theatralische Herrlichkeit« (17, 176) zu verhindern. Andererseits dokumentieren Goethes Athenerinnen in gleichsam gegenläufiger Tendenz zur antik-mythologischen Interpretation des christlichen »Vaters des Lichts« die Anwendung abwertender Sprachklischees christlicher Provenienz auf Gestalten der antiken Mythologie, so etwa wenn Alkesias, Hoherpriester u n d Gesandter des Minos, als ein »Pfaffe« (17,177 u n d 180) charakterisiert w i r d , der zugleich »mißwollend u n d tückisch« (17, 177) wie »listig« u n d »kretensisch« (17,180) sei. So zeigt sich i m K o n t e x t der letzten theaterästhetischen Schriften des späten Goethe eine durchaus wechselseitige Sinnfärbung antiker M y t h o l o g i e durch christliche Elemente u n d umgekehrt dieser durch jene, wobei Goethes Sympathie der antiken M y t h o l o g i e zuneigt, ohne sich gleich »an die Seite der epikureischen Götter zu setzen« ( I V , 294), wie er i n einem Brief an Zelter v o m 27. J u l i 1828 schreibt. I n bewußter Beschränkung auf die theaterästhetischen Schriften ließe sich deshalb sehr w o h l v o n einer säkularisierenden Tendenz beim späten Goethe sprechen, der sich mehr u n d mehr der antiken M y t h o logie verbunden weißt. Es bleibt z u überprüfen, inwiefern sich eine ähnliche Entwicklungslinie auch i n Goethes Schriften zur Literatur sowie i n seinen zeitgleichen poetischen Werken nachweisen läßt, zumal die hier angedeuteten Tendenzen auch i n Goethes theaterästhetischem K o n t e x t dieser Zeit kei8 Was die genannten gnostischen Elemente betrifft, so scheint sich bereits im Kontext dieser Prometheus-Interpretation das späte, in einem Brief an Boisserée vom 22. M ä r z 1831 interpretierte »Hypsistarier«-Bekenntnis Goethes anzukündigen. Die Lehre dieser aus dem 4. Jahrhundert stammenden kleinasiatischen Sekte, die — »zwischen Heiden, Juden und Christen geklemmt« ( I V , 424) — den allmächtigen Gott unter dem sichtbaren Zeichen des Feuers und des Lichtes anbetete, bedeutet für Goethe »ein frohes Licht« »aus einem dunklen Zeitalter« (ebd.).

Das »Heilige aus dem sinnlich faßlichen Schönen«

103

neswegs isoliert dastehen, da er sowohl »das Peinliche des Romantizismus« (17,172) — illustriert am Beispiel des »Französischen Haupttheaters« u m 1828 — v o n sich weist als auch i m selben Aufsatz sich ebenso entschieden distanziert v o n »der ganz reinen, regelmäßigen, sogenannten klassischen A r t « (17,171) der Franzosen: Es war eine A r t von Kultus, im Theater zu sitzen, als mentaler Souffleur die bekannten Stücke zwischen den Zähnen zu murmeln und bei dieser frommen Handlung zu vergessen, daß man sich von Herzen ennuyiere (17,172).

D i e angedeutete wechselseitige Sinnfärbung christlicher durch m y t h o l o gische Elemente — u n d umgekehrt — begegnet sich somit i n auffälliger Weise m i t Goethes Distanz z u m Romantizismus und zur sogenannten Klassik. Solche Bemühungen des späten Goethe sind Ausdruck seines w o h l lebenslangen Strebens nach dem vielgesuchten und oft zitierten »höheren Standp u n k t « (vgl. I I I , 62 u n d 379), der möglicherweise alle theologischen, religiösen u n d mythologischen Begrenzungen samt und sonders transzendierte u n d der seinen w o h l letztgültigen Ausdruck i n Goethes »Hypsistarier«Bekenntnis gefunden haben mochte 9 .

9 Diese Andeutungen i n Text und Anmerkungen, die sich auf einen kleinen Ausschnitt Goethescher Äußerungen in theoretischen Schriften und Briefen stützen, können nicht den Anspruch erheben, das Problem der Christlichkeit, nicht einmal der Frömmigkeit (G. Niggl, *Fromm« bei Goethe, München 1967) Goethes zu klären. D a z u bedürfe es der Erörterung auf breiterer Grundlage, vor allem der Deutung der Dichtung. Z u einer notwendigen Erweiterung des Gesichtskreises sei auf die Goethe-Arbeiten von Paul Hankamer (Spiel der Mächte, 1947), Wilhelm Flitner 0Goethe im Spätwerk, 1947) und vor allem Eduard Spranger (Goethe, 1967) verwiesen.

GOETHES

PORTUGALLEKTÜRE*

V o n John

Hennig

A m 3. o d e r 4. A p r i l 1 8 0 1 schrieb G o e t h e a n S c h i l l e r : Ich habe, um eine empirische Unterlage zu meinen Betrachtungen zu gewinnen, angefangen, mir ein Anschauen der Europäischen Nationen zu bilden. Nach der Linkischen Reise [d. i. Heinrich Friedrich Link, Bemerkungen auf einer Reise durch Frankreich, Spanien und vorzüglich Portugal (Kiel 1801), die Goethe Schiller am 25. 3., einen Tag, nachdem er sie von der Weimarer Bibliothek entliehen hatte, gesandt hatte] habe ich noch manches über Portugal gelesen [s. u.] und werde nun zu Spanien 1 übergehen. Wie sehr sich alles ins Enge zieht, wenn man solche Betrachtungen recht von innen heraus nimmt, werde ich täglich mehr überzeugt. G o e t h e w o l l t e also e i n systematisches S t u d i u m E u r o p a s v o n d e r ecke des K o n t i n e n t e s h e r i n A n g r i f f

Südwest-

n e h m e n . D a ß i h m bereits b e i diesem

A n f a n g d i e f ü r unsere Z e i t so v o r b i l d l i c h e n V o r a u s s e t z u n g e n ( » r e c h t i n n e n heraus«), A n f o r d e r u n g e n

(»täglich«)

a b e r w o h l auch

von

Begrenzungen

( » a l l e s i n d i e E n g e z i e h t « ) d e u t l i c h w u r d e n , m a c h t schon das K a p i t e l » G o e thes P o r t u g a l k u n d e « wird

b e d e u t s a m ; dessen B e s c h r ä n k u n g a u f das

d u r c h Goethes Ausgehen v o n einer Reisebeschreibung

Schrifttum

gerechtfertigt.

I m Unterschied z u vielen anderen L ä n d e r n hat Goethe über Portugal nicht

* Abkürzungen : E U I = Enciclopedia Universal llustrada. Κ = Elise v. Keudell, Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek, Weimar 1931. R = Hans Ruppert, Goethes Bibliothek Katalog, Weimar 1958. W A = Weimarer Ausgabe von Goethes Werken (Sophien-Ausgabe), 1887 ff. Das Thema »Goethes Portugallektüre« ist bislang nur in portugiesischer Sprache dargestellt worden (Albin Eduard Beau — unter Mithilfe von Lieselotte Blumenthal — in Biblos (Coimbra) 25 (1949) 3 8 6 - 4 3 7 und kürzer in Colóquio 1961 N r . 13, 61 - 62, 68). Ich beschränke mich auf nachweisliche Portugallektüre Goethes, ergänze Beaus Ubersicht und stelle den Gegenstand in chronologischer Anordnung dar. Beau ging nicht auf Alfredo da Cunha, Goethe haverio lido Gil Vicente [1495 - 1562?], Lisboa 1932 (mir unzugänglich) ein. Beaus mit den über Portugal vermischten Ausführungen über Goethes Brasilienkunde wären zu ergänzen durch die Arbeit von Ernst Feder in Goethe 13 (1951) 142 ff. (aus Beaus Übersicht über Goethes Wirkung in Portugal [126 ff.] folgend). 1 S. meine Arbeit »Goethes Spanienlektüre«, Jahrbuch Hochstifts 1982, 97 - 109.

des Freien

Deutschen

John Hennig

106

v o n dort einheimischen Besuchern gehört. Seine Beschäftigung m i t einem entlegenen Lande, das er nie gesehen hat, dessen Sprache er nur wenig kannte u n d auf dessen Geschichte er ganz selten Bezug nahm, ist bemerkenswert. Der früheste Bezug auf Portugal ist natürlich die Reaktion des Sechsjährigen auf das Erdbeben v o n Lissabon 2 , die bereits i n dem E n t w u r f zu Dichtung und Wahrheit 3 vermerkt wurde. K a u m ein Ereignis seiner Zeit ist v o n i h m öfter erwähnt worden: 1771 i n der Besprechung v o n Sulzers Die schönen Künste 4, 1811 i n der Tagebucheintragung für den l . M a i (Bezug auf die an diesem Tage v o n der Weimarer Bibliothek entliehene Beschreibung des Erdbebens, welches die Hauptstadt Lissabon und viele andere Städte in Portugall und Spanien theils ganz umgeworfen, theils sehr beschädigt hat y D a n z i g 1756 5 ), 1824 i n der Besprechung v o n Varnhagens Biographische Denkmale i n Über Kunst und Alterthum e, 1827 i n Briefen an Zelter v o m 21. u n d an v. Sternberg v o m 27.11., 1830 i n einem Brief an W . v. H u m b o l d t 19.10. ( i n Goethes Briefen k o m m t »Lissabon« nur i n diesem Zusammenhang vor) u n d i n der nachgelassenen N o t i z : »Voltaire u n d Rousseau über das Erdbeben i n Lissabon« 7 . D i e ersten Zeugnisse von Goethes Berührung m i t portugiesischem Schriftt u m — das einzige i n seines Vaters Bibliothek befindliche portugiesische Buch Portugallia, Leiden 1641 8 , erwähnte er nie — stammen aus dem Jahre 1795: Goethe las 9 i m Neuen Teutschen Merkur 10 Proben einer Ubersetzung der Lusiaden. Seine lakonische Bemerkung dazu: »Wer's lesen kann, mag's beurtheilen« kann sich auf die Sprache oder den I n h a l t beziehen. D i e Übersetzung stammte v o n Christian W i l h e l m A h r w a l d t ( 1 7 6 0 - 1830), Professor für klassische u n d neue Sprachen i n Greifswald, u n d wurde an mehreren Stellen unter Zitierung des Originaltextes gerechtfertigt: Z u 6: »Das O r i ginal ist noch gespitzter: Dado ao mundo por Deoss que todo mande / Parado mundo a Deos dar parte grande «; zu 13: »Alfonso — wörtlich nach dem O r i g i n a l : A quartce quinto Alfonso , e ο terceiro «; oder — für heutige Terminologie interessant: »Entmenschlichen — das O r i g i n a l hat: que divino tornar a hum corpo humano«. 2

W A I x x v i 41 f., 72.

3

Dass. 349.

4

W A I x x x v i i 209.

5

Κ 708.

» W A I xlii i 112. 7

W A I liii 444.

8

F. Gotting, »Die Bibliothek von Goethes Vater«, Nassauische Annalen (1953) 2 4 - 6 9 . 9 10

W A 1 x 1 4 8 1 f. S. 33 - 48.

64

Goethes Portugallektüre

107

I n Vorbereitung zur 2. Reise nach Italien 1795. 1796 notierte Goethe unter »Litteratur« : »Privatleben der Römer (doch der alten) übersetzt v o n Amato«. O b Goethe gewußt hat, daß dieser Lusitano A m a t o , ein portugiesischer Jude 1 1 (1511 - 1568), dessen Eltern aus I t a l i e n 1 2 gekommen waren, als erster Eutropius' Breviamm ab urbe condita 13 ins Italienische und Spanische übersetzte, ist nicht zu ermitteln. Goethe besaß die v o n M m e Anne Louise Germaine de Stael i n Efforts sur les fictions (1795) m i t Werther verglichenen Lettres portugaises 14 der M a rianna Alcaforada ( 1 6 4 0 - 1723) i n der Ausgabe Paris 1669. Das Fehlen einer entsprechenden Anmerkung i n W A I V x i i 423 zu Goethes Brief v o m 29.1. 1797 an C a r l August läßt vermuten, daß nicht festzustellen ist, w o r u m es sich bei der i n diesem Brief erwähnten Goethe v o n Carl August zugesandten »achitecktonischen Schrift« handelte, i n der er »das Portugiesische Kloster« fand 1 5 . Diese Briefstelle ist der einzige nachweisbare Bezug Goethes auf portugiesische Architektur. A m 24. 3.1801 entlieh Goethe v o n der Weimarer Bibliothek die eingangs erwähnte Reisebeschreibung v o n L i n k 1 6 . A m 27. 3. 1801 schrieb i h m Schiller: »Ich danke für die portugiesische Reisebeschreibung; sie ist nicht übel geschrieben, doch etwas dürftig«. W i r haben gesehen, daß Goethe dieses Buch w o h l wollender beurteilte. A m 28.3. entlieh er dann Jacques M u r p h y , Voyage en Portugal dans les années 1789 et 1790, Paris 1797 1 7 , w o r i n er (nach Tagebuch), man k a n n sagen: wie üblich, sofort nach der Entleihung las. A m 31.3. entlieh er das anonym erschienene kritische Tableau de Lisbonne en 1796 y suivi de lettres écrites de Portugal sur Vêt at ancien et actuel de ce royaume , Paris 1797, des Joseph Barthélémy François Carrère ( 1 7 4 0 1802) 1 8 u n d Das Leben Sebastian Josephs von Carvalho und Melo , Marquis 11 A m 2 0 . 6 . 1 8 2 3 hatte Goethe den Besuch von »Handelsmann Castro von Altona, wahrscheinlich aus portugiesischem Judenstamme«. Z u den engen Beziehungen der jüdischen Gemeinde Altona zu Portugal s. H . M . Graupe, Die Statuten der drei Gemeinden Altona, Hamburg und Wandsbek, Hamburg 1973, I , 11. 12

Dizionario

13

Pauly-Wissowa

14

S. W A I I I iv 413. R 1669; Beau, a.a.O., 422.

Biografico degli Italiani

I I 680.

V I 1522 f.

15

Beau a.a.O. scheint die Ansicht zu vertreten, daß es sich um das in Goethes Brief an Vulpius 6 . 4 . 1 8 0 4 erwähnte »Werck über das Kloster Batalha« handelt, nämlich Luis de Sousa, Plans elevations sections and view of the church of Batalha in the province of Estramadura in Portugal with history and description (London 1795, s. W A I V xvii 310). 18

Κ 254; Beau, a.a.O., 412.

17

Κ 255; s. meine Arbeit zu Goethes englischer Belesenheit I , Litw. 48 (1974) 557; Beau, a.a.O., 412. 18 Diese Autorschaft wurde durch Beau ermittelt. Κ 259; dazu Biographie verselle V I I 60; Beau, a.a.O., 416.

Vjs. f. Uni-

John Hennig

108

von Pombai, ersten Ministers Joseph I König in Portugal des spanischen Jesuiten Francisco Gusta aus dessen italienischem Text übers, v o n C. J. Jagemann (Dessau 1782). D i e Entleihung am 23.11. 1801 1 9 v o n A n t h o n y Vieyra, Dictionary of the Portuguese and English languages (London 1773) eröffnet ein ganz anderes Interesse Goethes an Portugal. A m 29.11. schrieb er an W i l h e l m v. H u m b o l d t : »Für die Portugiesische Schrift [die H u m b o l d t m i t seinem Brief v o m 11.11. übersandt hatte] danke ich recht vielmals, ich kann damit so ziemlich zurechtkommen. Es ist sehr angenehm zu sehen, wie ein Gegenstand, der uns interssirt, die Aufmerksamkeit so manches andern gleichfalls i n Bewegung setzt. [Es folgt eine inhaltliche Beurteilung.] Sagen Sie m i r doch Näheres v o n seinen [des A u t o r s ] Lebensumständen! Ich w i l l mich doch i n Göttingen nach jenen Übersetzungen erkundigen.« Der E n t w u r f zu diesem Brief 2 0 lautete: »Die Portugisische Schrift hat m i r viel Freude gemacht [ u r sprünglich: Für die P. S. danke i d i Ihnen redit sehr]. I d i hoffe m i t ihr zurecht zu kommen. D e m ersten Anblick nach scheint sie m i r etwas paradox. Mögen Sie m i r das Nähere [urspr.: etwas näheres] v o n dem Verfasser anzeigen, so w i r d m i r ein Dienst [urspr.: etwas gefälliges] geschehen. I n G ö t tingen w i l l ich mich ehestens nach der Übersetzung erkundigen.« M a n sieht, wie zwischen diesem E n t w u r f und dem endgültigen Brief Goethe der Schrift sprachlich und inhaltlich näher gekommen ist. Es handelt sich u m Memoria sobre a formaçao natural das cores ( M a d r i d 1791) des Diego de Carvalho e Sampayo, dem einzigen portugiesischen, ja iberischen Gelehrten, dem Goethe i n dem historischen Teil seiner Farbenlehre ein K a p i t e l 2 1 w i d mete. Dieses K a p i t e l beginnt m i t einer Liste v o n T i t e l n : Tratado das Cores. M a l t a 1787 Dissertaçao sobre as cores primitivas , 1788. Diesem ist beigefügt: Breve Tratado sobre a composiçao artificial das cores. Elementos de agricultura. Madrid, 1790, 1791.

u n d schließt m i t dem T i t e l der Memoria, v o n der es am Ende des Kapitels heißt: »Sehr schön auf 32 Seiten i n klein Q u a r t gedruckt, verdiente w o h l ganz übersetzt, u n d m i t der i h m beigefügten Kupfertafel begleitet zu werden, indem nur zweihundert Exemplare davon existieren . . . « . W A I V x v 364 w i r d , m. E. zu unrecht, vermutet, daß sich Goethe Übersetzungen »sämtlicher Abhandlungen Carvalhos, von denen H u m b o l d t schrieb«, beschaffen wollte. I n Goethes Bibliothek befindet sich nur ein Exemplar von Memo19

Κ 273 bis 31. 3.1802 und wieder Κ 354 28. 10. 1804 - 2 6 . 9. 1806.

20

W A I V xv 365.

21

W A I I iv 233 - 241 ; Beau, a.a.O., 406 ff.

Goethes Portugallektüre ria 22;

109

a m 2 9 . 4 . 1 8 2 1 b a t G o e t h e v o n J e n a aus A u g u s t , i h m das » i n O k t a v ,

sehr d ü n n , schön i n F r a n z b a n d g e b u n d e n e H e f t « , das » a u f d e m B ü c h e r b r e t t i m G r u n d e meiner B i b l i o t h e k « zusammen m i t »allen Schriften über u n d Farbe«

s t a n d , z u senden. I n

der H a m b u r g e r

Ausgabe v o n

Licht

Goethes

W e r k e n X I V 2 3 6 s i n d d i e als U b e r s e t z u n g e n g e k e n n z e i c h n e t e n S t e l l e n v o n G o e t h e s K a p i t e l weggelassen w o r d e n ; D o r o t h e a K u h n a b e r m e r k t e S. 3 2 4 a n : W i l h e l m v . H u m b o l d t » d i k t i e r t e C h r . A . V u l p i u s eine Ü b e r s e t z u n g , d i e sich n o c h i n G o e t h e s N a c h l a s s b e f i n d e t « , w ä h r e n d B e a u sagte: A deve ser do proprio

tradnçao

Goethe.

D i e Ü b e r s e t z u n g i n G o e t h e s K a p i t e l Diego

de Carvalho

y Sampayo

f a ß t d i e A b s c h n i t t e 1 3 - 2 1 , 3 9 - 4 4 u n d 4 6 - 5 0 v o n Memoria.

um-

D i e folgenden

Übersetzungen sind bemerkenswert: 13: por meto da refracçao da luz: durch's Licht 15: intensidade: Lebhaftigkeit, aber 47 f.: Intensität densidade: Tiefe, aber 49: Dichtigkeit 18: derivada e nao primitiva: keine primite(n) Farbe(n) 39: A idea que eu tinha formado , de que e vermelho e verde, erao as duas cores primitiv as, e de que se achavao sempre juntas, sem que jamais se confundissem: Der Anlass, Roth und Grün als primitive Farben anzunehmen und zu sehen conrespondiao:

zusammentrafen

40: huma bengala: mein spanisches Rohr reflexo: Zurückstrahlung (sonst aber z. B. 42 f.: Reflexe, 44: Reflexion) 42: mais escuro: dunkel (müsste entscheiden »dunkler« heissen) se diluiao

e chegavao mesmo a desvanecer-se: sogar endlich verschwanden

(aber 47 diluir:

diluiren)

43: Como a cor, que resultava do reflexo verde, era a vermelha; cor resultarla de hum reflexo vermelho.

quiz ver que

Tirei outra vez a panno verde da

meza: bei Wiederholung der Versuche 44: Repetindo

diversas vezes esta observaçao,

em différentes

dias: Sooft ich

diese Observationen machte mais ou menos sensiveis, segundo os diversos graos de intensidada e força dos reflexos; 48: rarefacçao:

da luz,

fuquei tendo para mi: Es ergab sich also

Verdünnung

49: devem reputar-se: sind anzusehen sensivel: merklich 50: se combinando por meto de adaptados instrumentos: licher Vorrichtungen verbindet.

sich vermittelst schick-

D i e Ü b e r s e t z u n g w a r also k o r r e k t u n d e i n f a l l s r e i c h . E i n e v o n Goethes w e i t e r e m T e x t

Rekonstruktion

» V e r s u c h e « aus d e n r e s t l i c h e n 14 S e i t e n

von

22 R 4458. Eine Photokopie von Memoria verdanke idi Senora Kathleen Manuel y Pinies, Bilbao.

John Hennig

110

Carvalhos Schrift möchte ich einem i n O p t i k sowie i n portugiesischer und deutscher Sprache gleich Bewanderten überlassen 28 . Es ist charakteristisch für Goethe, daß er auch bei einem Naturwissenschaftler an dessen »Lebensumständen« interessiert war. Sein Bemühen, hier etwas zu erfahren, scheint erfolglos gewesen zu sein. Lediglich stellte er selbst (aus der i n 43 erwähnten U n i f o r m , sowie evtl. aus dem Verlagsort der ersten i n seiner Liste genannten Schriften) fest, daß Carvalho Malteserr i t t e r 2 4 war. Goethes Bibliothek enthält auch Biblioteca castellana , portugues y proenzal v o n D . G. Enrique Schubert (1804) 2 5 . D i e i m gleichen Jahre erschienenen und sicher sofort i n Goethes Besitz gelangten Blumensträusse italiänischer, spanischer und portugiesischer Poesie 26 enthalten A . W . Schlegels Ubersetzungen aus den Lusiaden sowie zweier Sonette und kleinerer Gedichte von Camoes. Z u den bibliographischen Grundlagen v o n Goethes Camoeskenntnis: A m 9 . 5 . 1 8 0 9 las er die Lusiaden i n der Ubersetzung v o n Freiherrn Leo v. Seckendorf-Aberdar. 1819/20 entlieh er dreimal v o n Jena 2 7 Os Lusiades i n der neuen Ausgabe durch de Spuza-Botelho (Paris 1817) u n d dazu v o n Weimar die deutsche Übersetzung durch K ü h n u n d W i n k l e r (Leipzig 1807) u n d die französische durch Duperon de Castra (Paris 1735) 2 8 . A m 29. 6.1819 ist Goethe »die Prachtausgabe der Lusiade i n der Bibliothek durchgegangen«, am 8. 7. hat er »mit Meyer die Kupfer der Lusiaden besehen« 29 u n d am 25. 7. »Leben des Vasco de Gama, Camoes (sie stammten aus der gleichen Familie) udgl.« gelesen 80 . A m 1.10.1829 erhielt er J. J. Ch. Donners Ubersetzung der Lusiaden (Ellwangen 1829) 3 1 . 23 Beau, a.a.O., 432 - 436 bietet kommentarlos den portugiesischen und (soweit übersetzt) deutschen Text nebeneinander. Z u Goethes Eingehen auf Originale fremdsprachlicher Texte i m naturwissenschaftlichen Bereich s. ζ. B. meine Arbeiten zu N e w t o n (Goethe 20 [1958] 2 2 5 - 2 3 2 ) und de Candolle (Modern Language Quarterly 13 [1952] 2 7 7 - 2 8 4 ) . 24 Wie Goethes Freund Anthony O ' H a r a (s. meine Arbeit in Modern Review 39 [1944] 145 - 151). 25

R 1713.

29

R 1655.

27

K . Bulling, Claves Jenenses 2 (1932) N r . 47, 51 und 86.

28

Κ 1257 f.; Beau, a.a.O., 420 ff.

Language

29 D a z u W A I V xxxii 321: Über Kunst und Alterthum 2. Bd., 2. Heft 1820: »Französische Kupfer zu einer neuen Prachtausgabe von Camoen's Luisiade, dirigirt von (François Pascal) Gerard«. 30 1826 übersetzte Goethe aus dem Artikel über ihn in Le Globe 1826 ( W A I xli ii 191) die Stelle, in der es hieß, daß Goethe das Thema »Faust« »durch all die Aufregungen seines Lebens trug, wie Camoens sein Gedicht durch die Wogen mit sich führte«. 31

R 1723.

Goethes Portugallektüre

111

1811 entlieh Goethe v o n Weimar Juan Alvarez de Colmenar, Annales d'Espagne et de Portugal (Amsterdam 1791) u n d Richard Twiss, Reisen durch Spanien und Portugal i. d. Jahren 1772 und 1773 (a. d. Engl, übers, m. A n m . v. C. D . Ebeling, Leipzig 1776) 3 2 , sowie des Kieler Professors Joh. Ernst Faber Übersetzung aus dem Engl. Nachrichten von der portugiesischen Hof- und Staatsverwaltung des Grafen Oeyras (Frankf. u. Leipz. 1768) 3 3 . A m 15. 5. 1812 las er »Geschichte v o n Portugal u n d Spanien i n Le Sage's Tabellen«, d . i . Atlas historique des Emmanuel Augustin las Cases [1766 - 1842] (Paris 1804). 1813 entlieh er v o n Weimar Wunderliche Reisen innerhalb 21 Jahren durch Europa, Asien und Africa, die Amsterdam 1671 erschienene Übersetzung der H istoria oriental de la peregrinaciones (1620) des Fernän Méndez Pinto Portuguese (1508 - 1580) 3 4 . Spanien und »Portugal[e]« werden wiederholt erwähnt i n den N o t i z e n »Wiener Congress« 35 , die offenbar auf G r u n d v o n Mitteilungen durch den Minister v. Voigt, der Goethe Wiener Briefe u n d Depeschen übermittelte, von einem Aufsatz v o n Sartorius über die Congresspolitik u n d v o n Einsicht i n Wiener Aktenstücke gemacht wurden. U m was es sich bei den i m Tagebuch 7 . 2 . 1 8 1 9 erwähnten »portugiesischen u n d spanischen kleinen Broschüren« gehandelt hat, scheint nicht ermittelt werden zu können (s. W A I I v i i 276). A m 27.1.1823 schrieb Goethe an Boisserée, Binder, der Stuttgarter M ü n z händler, solle »für das Neueste aus Spanien, Portugal . . . seine monetarische Aufmerksamkeit betätigen«. A m 22. 9. 1824 notierte Goethe das Eintreffen einer Kiste »Portugiesische Mineralien) aus Lissabon«. Diese beiden über das Schrifttum i m strengen Sinne hinausgehenden Interessen Goethes verbinden sich i n seiner Beziehung zu Oberst W i l h e l m L u d w i g v. Esdiwege (1777- 1855) (nach Goethes Brief an N ö h d e n v o m 7 . 1 1 . 1 8 2 4 v o m K ö n i g von Portugal zum Oberdirektor sämtlicher Bergwerke des Reichs bestellt), mit einem dritten: Bei seinem Besuch am 17.2.1823 hatte i h m Esdiwege »Wetterbeobachtungen aus Lissabon« mitgebracht. A m 25. 6. vermerkte dann Goethe: »Von H e r r n v o n Eschwege Nachricht angekommen, wie es m i t dem sogenannten neuentstandenen V u l k a n sich verhalten habe«; hierzu der Entw u r f eines Briefes an v. Eschwege 36 : »Herr Obrist v o n Eschwege würde m i r 32 Τ 20. 5. - 26. 5. 1809 schon erwähnt (s. meine Anm. 17 genannte Arbeit S. 558). Κ 767 f. Über Ebeling Allg. Deutsche Biog. V 524; Beau, a.a.O., 412. 33

Κ 750; Beau, a.a.O., 417.

34

Κ 872. EVI

35

W A I liii 415 f.

38

W A I V x x x v i i i 331. Über Eschwege Allg. Deutsche Biogr. V I 373.

X X X I V 590; Beau in Colóquio 1961, 62 f.

John Hennig

112

eine besondere Gefälligkeit erzeigen durch Beantwortung nachstehender Frage: V o r einiger Zeit stand i n den Zeitungen: I n Portugall sey, nach einer großen Überschwemmung, ein V u l k a n (d. h. w o h l ein Erdbrand) entstanden. Sollte man von dieser Naturerscheinung nähere Nachricht erhalten können? Ferner würde H e r r Obrist dem Großherzoglichen Münzkabinet besondern Vorschub thun, wenn er uns portugiesische Silbermünzen, w o möglich harte Thaler, v o n Johann dem Ersten an verschaffen wollte, so w o h l durch die verschiedenen Regierungen, als besonders vor, während und nach der Constitution« — eine Illustration der Breite des Interesses, das Goethe an Portugal nahm. 1824 entlieh Goethe ein weiteres W e r k des bereits unter 1811 erwähnten Juan Alvarez Colmenar, nämlich Delicias de Espana y Portugal i n der franz. Übersetzung Leiden 1715 3 7 . I m gleichen Jahre besprach er i n Über Kunst und Alterthum Johann Christian Mämpels Der junge Feldjäger in französischen und englischen Diensten während des spanisch-portugiesischen Krieges von 1806 bis 1816, wobei er auch portugiesische Ortsnamen erwähnte und »die spanisch-portugiesische Landkarte mehr, als je geschehen, studirte« 3 8 . Goethe besaß den Catalogue of Spanish and Portuguese books printed since the year 1700 (London 1826) 3 9 , die der 1823 aus Spanien gekommene Philologe Vicente Silva y Perez i n seiner Spanish and classical Library in L o n d o n 4 0 zum Verkauf anbot. — A m 24. 1. 1827 entlieh Goethe v o n Weimar Portugal und Spanien (wie das Werk v o n R. Twiss, Reisen durch Spanien und Portugal [s. o.] — bearbeitet v o n C. D . Ebeling [ H a m b u r g 1808]) und am 2.11. vermerkte er i n seinem Tagebuch die Lektüre des Resumé d'histoire littéraire de Portugal (1826) v o n Ferdinand Denis (1798 - 1890) 4 1 . I n den Tabellen v o n Johns H a n d , die i n Goethes Arbeitszimmer an der T ü r zum Schlafzimmer aufgehängt waren 4 2 , heißt es unter 1828 (nach Bezug auf Spanien): »Portugal. Die N a t u r bedingter Abdicationen ist noch nicht staatsrechtlich untersucht«, daneben unter 1829: »Don Michael, wahrscheinlich nach der Convenienz der übrigen Staaten anerkannt« u n d 1830 »Tod der K ö n i g i n Mutter«. A m 27.4. 1829 notierte Goethe i n seinem Tagebuch die Lektüre des i n seiner Bibliothek befindlichen Lebens des Standhaften Prinzen Ferdinand von Portugal (Berlin 1827) v o n Ignaz Franz Olfers, D i p l o 37

Κ 1515; Beau, a.a.O., 412.

38

W A I xli ii, 120 und 124; Beau, a.a.O., 415.

89

R 611; Beau, a.a.O., 424.

40

EUILIII412.

41

Diet. Biogr. Franç. X 1032; Beau, a.a.O., 424.

42

W A I liii 416; Beau, a.a.O., 424.

Goethes Portugallektüre

113

mat i n Lissabon 43 . Goethe besaß audi des Joao de Almeide Johann Marquis v. Alornas ( 1 7 6 2 - 1 8 0 2 ) Beschreibung des Gefängnisses von Juanqueira in Portugal (Nürnberg 1803) 4 4 . Das letzte m i t Portugal i n Verbindung stehende Buch, das Goethe nachweislich gekannt hat, ist zugleich eins der letzten Bücher, das er aus der Weimarer Bibliothek entlieh 4 5 , nämlich v o m 23. 2. 5. 3. 1832: Théorie des ressemblances ou essai philosophique sur les moyens de déterminer les dispositions physiques et morales des animaux (Paris 1831) des portugiesischen Grafen José Joaquin Gama-Madiado, der damals portugiesischer Gesandter i n Paris war, aber bald seine diplomatische Laufbahn aufgab, u m sich der Ornithologie zu w i d m e n 4 6 . Es wäre unsachgemäß, v o n einem Portugalbild Goethes zu sprechen. Goethe hat nie Veranlassung gehabt, sich eingehender m i t Portugal z u befassen. Dieses L a n d nahm i n seinem wahrhaft universalen Interesse nur einen kleinen Platz ein. Gerade deshalb aber beeindruckt die V i e l f a l t der Aspekte, von denen Goethe v o r allem durch Schrifttum Kenntnis nahm. Auch an dieser entlegenen Stelle kann Goethe unserer informatorisch so unvergleichlich bessergestellten Zeit Maßstab u n d V o r b i l d sein.

43

Allgemeine Deutsche Biogr. X X I V 290, 1793 - 1872. R 89.

44

R 3452. Beau 419 fand über W A I I I xiv 523 und W A I V xix 505 hinaus, daß der Autor des in Goethes Brief an Christiane vom 28. 7.1806 als in Karlsbad, nach Tagebuch 1 0 . 1 0 . 1 8 0 7 , und 3 1 . 1 . 1 8 0 8 als in Weimar aufgeführt zitierten Stückes Pinto oder die Verschwörung in Portugal von Nepomucène Lemercier (1771 - 1840, zu ergänzen zu Bertram Barnes, Goethe's knowledge of French literature , Oxford 1937, 117 f.) war. 45

Κ 2267; Beau in Colóquio 1961, 68.

46

E U I X X X I 1259.

8 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

»OTAHITI« V o m Wandel eines literarischen M o t i v s V o n Jens Haustein » [ . . . ] da ist Völkerschaft, I n k a oder aus Tahiti, verschollen, fortgewischt, vertrocknet oder ersoffen [ . . . ] « Gottfried Benn I

I n den älteren Arbeiten z u m T a h i t i b i l d w i r d die Ansicht vertreten, T a h i t i sei für die sich m i t dieser Südseeinsel beschäftigenden Autoren v o r allem ein Beispiel für paradiesische Unschuld u n d antizivilisatorische Natürlichkeit. A l l e dieses B i l d störenden Äußerungen werden schon i n den Inhaltsangaben der jeweiligen Texte ignoriert. Das ist zu beobachten bei Elisabeth LÖhner 1 oder auch bei W i n f r i e d V o l k 2 , der ζ . B. bei Jean Paul T a h i t i als »repräsentativen Träger des Ideals« 3 entdeckt haben u n d »die Spielarten der Sehnsucht« 4 bis i n seine (Volks) Gegenwart fortgesetzt sehen w i l l . I n neueren Arbeiten glaubt etwa H o r s t Brunner eine i m Sinne » v o l l k o m mener Glückseligkeit« 5 verklärende Betrachtung Tahitis i m 18. Jahrhundert feststellen zu können, u n d Thomas Lange meint, daß »in dem kurzen Zeitraum v o n 1769 bis etwa 1790 [ . . . ] T a h i t i [ . . . ] zur Metapher für V o l l kommenheit und Glück« 6 geworden sei. Einzig bei Ralf-R. Wuthenow findet 1 Elisabeth Löhner, »Tahiti«. Ein Wunschbild. Gerstäcker, Diss, phil., Wien 1940, S. 27 - 33.

Von Georg Forster bis Friedrich

2 Winfried V o l k , Die Entdeckung Tahitis und das Wunschbild der seligen Inseln in der deutschen Literatur, Diss, phil., Heidelberg 1934. 3

Ebd., S. 94.

4

Ebd., S. 111.

5

Horst Brunner, Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur, Stuttgart 1967, S. 120. Vgl. auch die K r i t i k an Brunner, in: U w e Japp, »Aufgeklärtes Europa und natürliche Südsee. Georg Forsters >Reise um die Welt< «, in: Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung, hg. Hans Joachim Piechotta, Frankfurt 1976, S. 55, Anm. 41. Auch Klaus Wille, »Georg Forsters Tahiti-Bild. Utopie und Kritik«, Doitsu Bungaku (Tokio) 47 (1971), S. 23 - 32, hier: S. 32. 6 Thomas Lange, Idyllische und exotische Sehnsucht. Formen bürgerlicher stalgie in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Kronberg 1976, S. 206.

*

No-

116

Jens Haustein

sich d e r —

allerdings a u f G e o r g Forster beschränkte —

H i n w e i s a u f eine

» n a c h d r ü c k l i c h e , u n p o l e m i s c h e K o r r e k t u r « des T r a u m e s » v o n d e r z i v i l i s a t o rischen U n s c h u l d « 7 . D i e L i s t e d e r das B i l d T a h i t i s als eines w i e d e r g e f u n d e n e n Paradieses t r a d i e r e n d e n l i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n

A u s s a g e n l i e ß e sich

fortsetzen. Z i e l dieser A r b e i t ist es, z u z e i g e n , d a ß es i n d e r T a h i t i l i t e r a t u r des 18. u n d 19. J a h r h u n d e r t s n e b e n e i n e r solchen o h n e Z w e i f e l v e r k l ä r e n d e n

Ten-

d e n z auch S t i m m e n g i b t , d i e schon f r ü h v o r d e n v e r h e e r e n d e n F o l g e n d e r T a h i t i - E n t d e c k u n g f ü r die Insulaner w a r n e n u n d später ihre A u s w i r k u n g e n verurteilen 8. II Frühe

W a r n u n g e n

vor

den

T a h i t i - E n t d e c k u n g

( D i d e r o t ,

Im

Supplément

fiktiven

>Nachtrag< —

d r u c k t 1796® —

au

Folgen

Z a c h a r i a e , voyage

der F o r s t e r )

de Bougainville ,

ge-

z u m R e i s e b e r i c h t B o u g a i n v i l l e s 1 0 l ä ß t D i d e r o t b e i dessen

A b r e i s e v o n T a h i t i » d e n G r e i s « z u seinen Stammesgenossen sprechen: Weint, unglückliche Tahitianer, weint ruhig; aber weint über die Ankunft und nicht über die Abfahrt dieser ehrgeizigen und bösen Menschen 11 . Die Assimilationskraft

der europäischen Z i v i l i s a t i o n i n s t i n k t i v

erkennend,

sagt er d i e Z u k u n f t d e r T a h i t i a n e r v o r a u s : 7 Ralf-Rainer Wuthenow, Vernunft und Republik. Studien zu Georg Forsters Schriften, Bad Homburg 1970, S. 17. Vgl. dazu auch: Gerhard Steiner, Georg Forster, Stuttgart 1977, S. 18 ff.: »Weithin verbreitete sich allerdings der Irrtum, Forsters Tahiti-Schilderung sei in der Nachfolge Rousseaus ein ungetrübtes Bild paradiesischer Unschuld und süßer Glückseligkeit« (S. 18). Steiner geht weiter unten (S. 19) auf das schon vor Forster vorgeprägte Tahitibild ein und versammelt Stellen, die in der Reise um die Welt bereits das Empfinden um die Gefährdung »des Liebenswerten« ausdrücken. Vgl. Abschnitt I I dieser Arbeit; zu Forsters Hinweisen auf die möglichen schädlichen Folgen der Tahiti-Entdeckung vgl. auch: Urs Bitterli, Die >Wilden< und die >2ivilisiertenBougainvilles Reise< oder Gespräch zwischen Α. und Β. über die Unsitte, moralische Ideen an gewisse physisdoe Handlungen zu knüpfen, zu denen sie nicht passen, Frankfurt 1965. 10

Louis Antoine Bougainville, Voyage autour du monde , Paris 1771, 2 1772.

11

Diderot, A n m . 9, S. 17.

»Otahiti«

117

Eines Tages werdet ihr unter ihnen dienen, ebenso verdorben, niedrig, und unglücklich wie sie 12 .

Der Erkenntnisstand u n d der Weitblick, die Diderot »dem Greis« zuerkennt, beruhen auf den ersten Nachrichten, die von den katastrophalen Folgen der Entdeckung Tahitis für die Eingeborenen nach Europa gekommen sind. Dies erklärt, w a r u m die Anklage des Repräsentanten der Insulaner sich nicht i n allgemeiner Zivilisationsanklage verliert, sondern konkret w i r d gerade i m gefährlichsten Moment europäischer Südsee-Eroberungen, nämlich der Einschleppung v o n bis dahin auf T a h i t i unbekannten K r a n k heiten, i n erster Linie der Syphilis. Wehe dieser Insel, wehe den lebenden Tahitianern und allen kommenden Tahitianern, seitdem du uns besucht hast! W i r kannten nur eine Krankheit, nämlich diejenige, zu der Mensch, Tier und Pflanze verurteilt sind: das Alter. D u aber hast uns eine andere gebracht; du hast unser Blut verseucht 13 .

A u f dem H ö h e p u n k t der A u f k l ä r u n g bildet sich bereits ein Bewußtsein für die Folgen der Aufklärung. D i e Ausbreitung der Kenntnisse, die Erforschung des Erdkreises ist für die zu Erforschenden stets m i t Gefahren verbunden, w e i l das Wissen dem Wissenden zum Instrument der Überlegenheit, z u m Argument der Repression w i r d 1 4 . Einige Jahre früher als Diderots >Nachtrag< erschienen, nicht minder v o r ausschauend, nicht weniger verzweifelt, ist Zachariaes Gedicht Tay ti 15, das auf »des H e r r n v o n Bougainville Reise um die Welt« (S. 1, Vorbericht) fußt. I n arkadischer Landschaft spaziert der Dichter umher u n d begegnet einer Muse, die sich seiner annimmt — »längst erkohr / Z u meinem m i r Geweihten dich mein H e r z « (S. 8) — u n d i h n i n »ein neues Paradies« (S. 10) führt. Dies nun ist T a h i t i . D e r Dichter ist geradezu aus Europa geflohen — »O Muse, reiße mich aus dem T u m u l t / Der Laster dieser Europärwelt« (S. 10 f.) — u n d steht staunend jetzt dem Neuen gegenüber. A l l e i n er ist nicht der einzige Fremde auf der Insel. M i t i h m ist Bougainville »und seine tapfre Schaar« (S. 16) auf die Insel gekommen. Das schönste Land! vom schönsten H i m m e l noch Umschlossen! und vom schönsten V o l k bewohnt! D e m Seemann wars ein Paradies ! [ . . . ] (S. 20 f.) 12 Ebd., Lange, Anm. 6, meint dazu, daß »die Verbreitung von Krankheiten durch die Europäer [ . . . ] als Nebenmotiv in der Rezeption des Tahiti-Mythos erwähnt werden« mag (S. 219)! 13

Ebd., S. 20.

14

M a x Horkheimer, Theodor W . Adorno, Dialektik 6 1979, S. 8: »Macht und Erkenntnis sind synonym.« 15

1777.

Friedrich Wilhelm Zachariâ, Tayti,

der Aufklärung,

oder Die glückliche Insel,

Frankfurt

Braunschweig

Jens Haustein

118

Der heitere Zustand, der fröhliche T o n des Gedichtes schlägt plötzlich u m : U n d dennoch konntest du, blutdürstige Brut D e r mörderischen Europa, nicht das Recht D e r heiigen Gastfreyheit, (dir unbekannt!) N u r wenig Tag erfüllen! grausam fuhr D e i n Pulverdonner, und dein blanker Stahl, Entehrt in niedriger Barbaren Faust, Durch deiner neuen Freunde nackte Brust! (S. 21 f.)

Diesem v o n Bougainville übernommenen Vorkommnis, nämlich der Ermordung dreier Insulaner, das Zachariae i n einer Anmerkung näher erläutert (S. 22), folgt die Beschreibung der »Mitnahme« eines der Tahitianer durch Bougainville, der diesen, A o t u r u , i n halb Europa zur Schau stellte. » [ . . . ] w i l l s t d u [ . . . ] / [ . . . ] der Weißen Falschheit d i c h / V e r traun?« (S. 23), fragt i h n seine Geliebte. Während der v o m »Flammentrieb / Nach Ruhm« (S. 24) erfaßte A o t u r u m i t den Europäern verschwindet, »Saß an dem hohen Catarakt, von dem / Der w i l d e Strom lautdonnernd niederschoß, / A u f einem Felsen, m i t u m w ô l k t e r Stirn / Taytis Schutzgeist« (S. 25). Er beklagt nicht nur Aoturu16: D o r t Aoturu auf der wilden See? Getrennt von seinem Mutterland, getrennt V o n seiner jammernden Geliebten, tief V o m süßen Gift berauscht, der Laster Gift, Des er zu viel nur trank i m Schwindelgeist Der thorigten Bewundrung falschen Volks? (S. 26)

sondern auch Tayti,

oder Die glückliche

Insel:

Unglücklich Land! Bald w i r d der Segelflug D e r Europäer wiederkehren! Trug und M o r d W i r d unverholner wûthen! Thrânend w i r d Schuldlose Freiheit fliehen, und mit ihr D e r Sitten Gleichheit, und des Eigenthums Erquickende Gemeinschaft! Tyranney W i r d dich beherrschen! Eine finstre Schaar V o n Vorurtheilen schwärmt dann über dir, U n d Priestersucht und Aberglaube w i r d D i e Freuden dir vergiften, so die Gunst Des Schicksals über dich so reichlich goß ! Noch glücklich, wenn nicht selbst der Seuche Glut Europens Brandmark wilder Ausschweifung, A u f ewig dich verpestet! [ . . . ] (S. 27)

H i e r klingen bereits alle i m weiteren stets wieder auftauchenden M o t i v e an: die Zerstörung einer Sozialstruktur, Priesterherrschaft u n d tödliche Bedrohung durch die Syphilis. D a ß der Zustand des Arkadisch-Idyllischen ge16

Z u m weiteren Schicksal des historischen Aoturu vgl. Lange, Anm. 6, S. 217 ff.

»Otahiti«

119

fährdet ist, deutet der Übergang v o m Präsens z u m Imperfekt i m Verlauf des Gedichtes an, die zunehmende Objektivierung findet ihren Ausdruck auch i n zahlreichen das Geschehen erläuternden Anmerkungen. A l l e a n t i k i sierend-poetisierenden Elemente verschwinden. Zachariae hatte Teile des Gedichts schon v o r 1777 geschrieben, und bei der Überarbeitung und V o r bereitung zum Druck fügte er den Sätzen des Schutzgeistes — und damit der poetischen Darstellung eine historische Verbindlichkeit gebend — eine Anmerkung hinzu: Diese Weissagung vom Schutzgeiste Taytis ist, wie hernach der Erfolg gezeigt, leider! nur zu sehr zum Unglück der Insulaner eingetroffen. (S. 2 5 ) 1 7

A l l e Vorstellungen v o n der N a t u r einer ozeanischen Inselwelt und dem Charakter ihrer Bewohner, die i n der deutschen Literatur zwischen 1780 und 1850 ihren Ausdruck finden, sind mehr oder minder stark beeinflußt von Georg Forsters Reise um die Welt (1777 engl., 1 7 7 8 - 8 0 dt.) 1 8 . M e h r noch: T a h i t i als »Gegenbild zivilisatorischer Überfeinerung« 1 9 , die Verklärung zum natürlichen Paradies u n d die Erklärung seiner Bewohner zu »nicht-denaturierten, natürlichen« 2 0 Brüdern finden hier ihren Ausgang. Wenn diese Begeisterung für die N a t u r u n d den Wilden, für die wilde N a t u r und den naturhaften Wilden, als G r u n d t o n erhalten bleibt, so gibt es aber auch die pessimistische Betrachtung des Verhältnisses v o n N a t u r u n d Geschichte, v o n N a t u r u n d Zivilisation, v o n Freiheit u n d Regel. A m Ende des 18. Jahrhunderts zeigt sich bereits die berechtigte Befürchtung, daß die Regel stets über die Freiheit siege, daß die Zivilisation sich m i t der N a t u r schlecht vertrage u n d daß der geschichtliche Progreß aus seinem Selbstverständnis heraus die Eigenwertigkeit einer »zivilisatorischen Rückständigkeit< leugnen müsse. D i e Südsee w i r d nicht »zur Folie der K r i t i k am Feudalismus« 21 , sondern z u m Beweis für den Ausschließlichkeitsanspruch bürgerlicher Z i v i l i sation. Forster ist der Ansicht, »daß gerade diejenigen Völkerschaften am besten weggekommen sind, die sich immer v o n uns entfernt gehalten haben u n d aus Besorgniß und Mistrauen unserm Seevolk nie erlaubt haben, zu bekannt 17 Vgl. auch: Bremer Beiträge, hg. Franz Muncker, Kürschners Deutsche National-Litteratur, 44. Band, 2. Teil, Berlin u. Stuttgart 1873, S. 258. Wille, Anm. 5, meint, daß »der kleine Roman von Fr. W . Zachariae, >Tayti oder Die glückliche Insel· [ . . . ] > schon im Titel den Zusammenhang mit dem Insel-Topos der europäischen Utopien und Robinsonaden« (S. 27) zeige. 18 Georg Forster, Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. 2 ( = Reise um die Welt, 1. Teil), bearb. v. Gerhard Steiner, Berlin 1965. 19

Wuthenow, Anm. 7, S. 17.

20

Japp, Anm. 5, S. 16.

21

Ebd., S. 33.

John Hennig

120

u n d zu vertraut m i t ihnen zu werden« 2 2 . Diese Verbindung v o n K u l t u r und Zivilisationspessimismus i n der Zeit größter Kolonieerweiterungen u n d auf dem H ö h e p u n k t aufklärerischen Fortschrittsjubels ist u m so erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß sich die katastrophalen gesundheitlichen u n d kulturellen Folgeerscheinungen erst i n den Jahren nach Forsters Reise ( 1 7 7 2 - 1 7 7 5 ) zeigten. Es ist würklich im Ernst zu wünschen, daß der Umgang der Europäer mit den Einwohnern der Süd-See-Inseln in Zeiten abgebrochen werden möge, ehe die verderbten Sitten der civilisierten Völker diese unschuldigen Leute anstecken können, die hier in ihrer Unwissenheit und Einfalt so glücklich leben 2 3 .

Diesem Wunsch Forsters folgt seine Einsicht: Aber es ist eine traurige Wahrheit, daß Menschenliebe und die politischen Systeme von Europa nicht miteinander harmonieren 2 4 .

Das Unspezifische des Ausdrucks »politische Systeme« erklärt sich aus seiner Verwendung als Synonym für »Zivilisation«. T a h i t i ist nicht »der O r t der Erlösung und ewigen Glückseligkeit« 2 5 , jedenfalls nicht für Forster und nicht mehr seit der Entdeckung Ozeaniens durch die Europäer. Das steht auch i n der Reise um die Welt, v o n einem »Vernünftigen« geschrieben, der ahnte, was Vernunft u n d A u f k l ä r u n g auch sein kann, nämlich Tugend- u n d Sittenverderbnis, religiöse Unduldsamkeit, ja physische Vernichtung der Entdeckten, wenn sie, die Aufklärung, das W o r t »Zivilisierung« auf ihre Fahnen geschrieben hat. III » T a h i t i als das a n d e r e E n d e der

Welt«

T a h i t i steht i n den folgenden Texten keineswegs als B i l d für paradiesische Unschuld, sexuelle Libertinität u n d soziale Großzügigkeit (und wenn es i n anderen i n diesem Sinne gebraucht w i r d , steht es i m Gegensatz zu allen Robinsonaden u n d Felsenburgiaden, i n denen stets m i t Erfolg die europäische Sozial- und Sexualmoral nachgelebt w i r d , und diese ist es gerade, der die Tahitibegeisterten entgehen w o l l t e n ) 2 6 , sondern als ein beliebiger, auch austauschbarer H i n w e i s auf einen möglichst weit entfernten P u n k t der Erde. H ö l d e r l i n schreibt an Boehlendorff v o r seiner Abreise nach Südfrank22

Forster, Anm. 18, S. 187 f.

23

Ebd., S. 254.

24

Ebd.

25

Brunner, Anm. 5, S. 138.

26 Brunner verwechselt die eine (Tahiti) mit der anderen Utopie (Robinsonaden, Felsenburgiaden), die nur bedingt eine ist, etwa S. 138.

»Otahiti«

121

reich: »Deutsch w i l l und muß ich übrigens bleiben, und wenn mich die H e r zens- u n d Nahrungsnoth nach Otaheiti triebe« 2 7 . T a h i t i als einen beliebigen O r t findet man ebenfalls bei Lichtenberg, den es verwundert, »daß die Welle, die jetzt meinen Fuß benetzt, ununterbrochen m i t der zusammenhängt, die O t a h i t i u n d China bespült, u n d die große Heerstraße u m die Welt ausmachen hilft [.. . ] « 2 8 . Goethe fällt zu »Tahiti« einzig »der Otahitische Mistfinke« 2 9 ein, u n d Claudius scheint v o n der Toposforschung und den Vorstellungen v o m Paradies so gar nichts ahnen zu wollen, wenn er i n »Urians Reise« schreibt: [···] U n d damit reist ich weiter fort Nach China und Bengalen. [...] Nach Java und nach Otaheit, U n d A f r i k a nicht minder; U n d sah bei der Gelegenheit V i e l Städt und Menschenkinder; [...] U n d fand es überall wie hier, Fand überall 'n Sparren, D i e Menschen gradeso wie wir, U n d ebensolche N a r r e n 3 0 .

U n d Johann G o t t f r i e d Seume muß i n Forsters Reisebericht vor allem gelesen haben, daß auf T a h i t i die Freiheit sidi auch darauf beziehe, m i t dem Besitz der anderen großzügig umzugehen, wenn er, v o m Stehlen sprechend, dieses als »otaheitische Sitte« 3 1 bezeichnet.

27 Friedrich Hölderlin, Sämtliche N r . 236.

Werke

28 Georg Christoph Lichtenberg, Schriften mies, München 1972, S. 96. 29

(St A ) , 6 , 1 , Stuttgart 1954, S. 428, und Briefe, 3. Bd., hg. Wolfgang Pro-

Goethe, W A I , 17, S. 99.

30

Matthias Claudius, Sämtliche Werke, hg. Hansjörg Platschek, München 1968, S. 347 f. 31 Johann Gottfried Seume, Prosaschriften, hg. Werner Kraft, Darmstadt 1974, S. 90. Schon 1779 hatte Forster die Tahitianer gegen den V o r w u r f der »Diebereyen« (445), der sexuellen Laster und des »Müssiggangs« (ebd.) in Schutz genommen (Gòttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, hg. Georg Christoph Lichtenberg u. Georg Forster, Göttingen 1780, S. 4 2 0 - 4 5 8 ; geschrieben » l . N o v . 1779«).

Jens Haustein

122

IV Die Zerstörung (Jean Paul,

des

Paradieses

Chamisso)

Jean Paul gebraucht von allen Autoren das W o r t »Otahiti« vielleicht am emphatischsten, für i h n mag dieser Begriff ein Eldorado oder Paradies 32 bezeichnen, aber gerade bei i h m läßt sich der Wandel i m Gebrauch gut beobachten. I n den Briefen findet sich »Otahiti« nur bis 1801. E i n m a l ist die Ferne, wie Weimar oder Berlin, für Jean Paul tahitisch, oder er schaut v o n einer »Otaheiti=Insel« i n den Trubel umher 3 3 . T a h i t i ist gleich einer » i t a l i e n i schen]«, »paradiesischen« oder »himlischen« 34 Gegend. I m Hesperus dienen die Tahitianer zur Veranschaulichung des Zustandes derjenigen, die außerhalb der bürgerlichen O r d n u n g ihr Dasein finden: Künstler, Satiriker, Namenlose und Namentäuscher, »Leibgeber« 35 . Bis etwa 1810 lassen sich i n den Romanen Jean Pauls Verwendungsvarianten finden, zumeist i n Reihungen auftauchend, i n ähnlichem Sinn gebraucht, wie für die Briefe gezeigt. Dies läßt aber nach 1810 auffallend nach und außer einer Stelle i n der Seiina 36 gibt es noch folgende: Es steht daher unter seinen Verdiensten um R o m dieses nicht zuletzt, daß er die oben gedachten vier Gesellschaft-(Sozietät-)Inseln dermaßen zu lichten, auszuroden und ordentlich zu entvölkern wußte, daß am Ende auf jeder nur ein Eiländer übrig blieb [ . . . ] 3 7 .

Das steht i m Komet, der »er« ist ein Landhauptmann, ein Polizist, ein Vertreter einer Ordnungsbehörde u n d T a h i t i ist eine der Gesellschaftsinseln. A n dieser Stelle w i r d T a h i t i nicht mehr als B i l d paradiesischer Schönheit u n d Einfalt verwendet, sondern der A u t o r bedient sich der Vorstellung »Tahiti«, wenn er v o n Ausrottung u n d Entvölkerung sprechen w i l l ; die Zerschlagung v o n vier oppositionellen Gesellschaften i n Italien (vgl. italienisch = paradiesisch = tahitisch) entspricht der Vernichtung der Inselbevölkerung Ozeaniens. 32

E t w a : Jean Paul, Werke, hg. A . Miller, München 1960, Bd. 1, S. 409.

33

Jean Paul, Sämtliche Werke, S. 272, S. 228 u. Bd. 3, S. 109.

hg. E. Berend, Berlin 1958, I I I . Abt., Bd. 2,

34

Ebd., Bd. 2, S. 372.

35

Jean Paul (Miller), Bd. 1, S. 519.

39

Ebd., Bd. 6, S. 1207.

37

Ebd., S. 729.

»Otahiti«

123

E i n deutlicher Einbruch i n der Verwendung >Tahitis< ist zu konstatieren. Nach 1801 fällt es i n den Briefen v ö l l i g aus, i n den Romanen w i r d es ab 1810 erheblich seltener benutzt u n d die entstandene Lücke w i r d unter anderem durch »die Insel der Seligen« 38 ersetzt. Es kann bei Jean Paul keine Rede sein v o m absoluten, hermetisch verriegelten »Innenraum« 3 9 . Dieser erfährt seine bestimmende K o r r e k t u r , wenn das Außen sich i m Material verändert (vgl. auch unten Absch. V ) . D i e Bilder werden erneuert und wieder und wieder m i t denen der Innenwelt verglichen. Eine Veränderung außen findet innen ihre Berücksichtigung. »Der N e r v , als inneres Wesen des Menschen, verlangt das Äußere und Fremde, u m funktionieren zu können« 4 0 . Innen u n d Außen stehen i n K o r respondenz miteinander, reagieren aufeinander, interpretieren einander. Selbst bei einem A u t o r wie Jean Paul, für den die Beschreibung einer Gegend nicht deren Besichtigung voraussetzt u n d die Anschauung nicht stets z u m Auslösemoment dichterischer Phantasie nötig ist, kann diese gegenseitige Bedingung i m Einzelfall beobachtet werden. Es ist auch die Frage des Eigentums, dessen soziale F u n k t i o n u n d dessen Ausdehnungsmöglichkeit auf Besitz an Menschen, die die Europäer sich für T a h i t i zu interessieren veranlaßt. Daß das B i l d v o n der sozialen M o b i l i t ä t der Tahitianer u n d deren Freizügigkeit i m Umgang m i t Besitz u n d Eigent u m nicht unbedingt der empirischen Wirklichkeit entspricht, ist nicht unabhängig v o n dessen Projektionscharakter z u sehen. I n einer Zeit, i n der ökonomischer Erfolg u n d soziale Anerkennung korrelieren, i n der Arbeitsmoral u n d Sparsamkeit zu Tugenden bürgerlicher Selbstfindung werden u n d die Monogamie i n ihrer F u n k t i o n bestätigt w i r d 4 1 , muß gerade eine anders organisierte Gesellschaft eine große Anziehungskraft ausüben. Nach 1800 w i r d das Wunschbild vermehrt i n das Gewand ethnologischen Interesses gehüllt; das Hohelied »der gesitteteren N a t i o n e n « 4 2 hört man sel38

E t w a : Ebd., S. 788.

39

Brunner, Anm. 5, S. 138; dazu: Theodor W . Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 4 1980, S. 15: »Gerade als Artefakte aber [ . . . ] kommunizieren sie [die Kunstwerke] auch mit der Empirie, der sie absagen, und aus ihr ziehen sie ihren Inhalt.« 40 Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten Frankfurt 1973, S. 28. 41 42

Vgl. Klaus Theweleit, Männerphantasien,

eines Nervenkranken,

hg. M . Weber,

Bd. 1, Reinbek 1980, bes. Kap. 2.

Immanuel Kant, Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie und Politik, hg. K a r l Vorländer, Leipzig 1913, S. 45. Ein ähnlicher Optimismus der zur Aufklärung Bereiten findet sich ζ. B. auch bei Helfrich Peter Sturz, »Erinnerungen aus dem Leben des Grafen Johann H a r t w i g Ernst von Bernstorff«, in: ders., Die Reise nach dem Deister, Prosa und Briefe, hg. K a r l W o l f gang Becker, Berlin-Ost 1976, S. 90: »Wär indessen noch jetzt ein Land

124

Jens Haustein

tener, u n d z u den allgemeinen Aussagen v o n den ehemals

»glücklicheren

E i l a n d e n « 4 3 treten empirische Studien, Forschungsberichte u n d ethnologische B e t r a c h t u n g e n 4 4 . T a h i t i findet A u f n a h m e i n K o n v e r s a t i o n s l e x i k a . Ich habe es immer bedauert und muß hier mein Bedauern wiederholt ausdrücken, daß nicht ein guter Genius einmal einen Maler, einen zum Künstler Berufenen, nicht nur einen Zeichner von Profession, auf diese Insel geführt. — Es w i r d nun schon zu spät. A u f O - T a h i t i , auf O - W a i h i verhüllen die Missionshemden die schönen Leiber, alles Kunstspiel verstummt, und der Tabu des Sabbats senkt sich still und traurig über die Kinder der Freude [ . . . ] 4 5 , schreibt C h a m i s s o i n seiner Reise um die Welt.

D i e freudlose christliche R e l i -

g i o n b e w i r k t eine i r r e v e r s i b l e V e r ä n d e r u n g 4 6 i m V e r h a l t e n u n d

Charakter

der Insulaner. A u s den K i n d e r n u n d W i l d e n w e r d e n religiöse Erwachsene. Der

Natürlichkeit

der T a h i t i a n e r

steht die erkünstelte,

auch

verhüllende

Zivilisiertheit der Europäer gegenüber47. von allen andern durch unwegsame Grenzen abgesondert, hätten seine Bewohner nie die Lüste fremder Völker gekostet und nie mit neuen Kenntnissen auch neue Begierden erworden: so hätte freilich kein Luxus der erleuchteten oder verdorbenen Völker ihre H ü t t e n erreicht, und die Frage mag den W i t z eines Sophisten beschäftigen, ob ein solches V o l k nicht glücklicher als ein gesittetes sei. Aber sobald der Sophist vergleicht und empfindet, so söhnt er sich wieder mit der allgemeinen Vernunft aus. I h m graut alsdann vor dem Ideal seiner Welt, das noch in mancher Insel des Südmeers übrig ist, w o Geschöpfe, wie Menschen gestaltet, keine andere als tierische Bedürfnisse fühlen und, wenn diese befriedigt sind, nicht aus ihrer Felsenkluft kriechen. Alle Kräfte des gesellschaftlichen Lebens haben sich schon lange vereinigt, um ein so dürftiges Glück von der veredelten Erde zu treiben. Vgl. auch Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, Bd. 5, Berlin und Stettin 1785, S. 299: »Die N a t i o n auf O t a heiti gehört zu den schönsten lebenden Nationen. Ist sie die vollkommenste? Ist der sinnliche Genuß, den sie in so großer Vollkommenheit, und so reizenden Verhältnissen genießt, der höchste G r a d der Kultur einer Nation? Wer w i r d dieß behaupten dürfen?« 43 Alexander von Humboldt, Kosmos II (1845 - 5 2 ) , S. 72, zitiert nach: Paul Schultz, Die Schilderung exotischer Natur im deutschen Roman mit besonderer Berüdksidotigung von Charles Sealsfield, Diss, phil., Münster 1913, S. 25. 44 Z . B . Kinder- und Jugendbücher: Die Insel O-Tahiti und ihre Bewohner; ein angenehm unterrichtendes Wey nach tsge schenk für wissbegierige Jünglinge und Mädàoen, von V . G. Palozzi, Weissenfeis u. Leipzig 1793. Das glückliche Land. Ein Neujahrsgeschenk für Kinder, die gern etwas über Länder- und Völkerkunde lesen, Altona 1798. 45 Adelbert von Chamisso, »Reise um die Welt mit der Romanzoffischen Entdedcungs-Expedition in den Jahren 1 8 1 5 - 1 8 auf der Brigg Rurik Kapitän O t t o v. Kotzebue«, in: ders., Sämtliche Werke in zwei Bänden, hg. Jost Perfahl, M ü n chen 1975, Bd. 2, S. 137 f. 49 47

Ebd., S. 210 ff.

Der Kapitän der »Rurik« ist Otto v. Kotzebue gewesen, dessen Vater sich mit dem Südseemotiv 1797 beschäftigte. Bei ihm schon steht einer Südsee, in der »die N a t u r Gesetzgeber« (August v. Kotzebue, »La Peyrouse. Ein Schauspiel in zwei Aufzügen, erschienen 1797«, in: ders., Theater von A. v. K., Bd. 7, Leipzig

»Otahiti«

125

I n ganz ähnlicher Weise tauchen die M o t i v e Christentum, Verlust der Freude u n d Sabbatruhe i n »Ein Gerichtstag auf H u a h i n e « 4 8 wieder auf. Die historischen Reflexionen des Klägers — Uns ist das Licht der heitern Lust verglommen 4 9 , — [...] Galt doch das Leben nur dem Dienst der Lust, U n d nur das Lied der Freude ward gesungen. [...] D e r stille Sabbat jammert dem Verlust 5 0 . —

sind verbunden m i t der Gleichung Gesetz, Eigentum, Christentum. Das Christentum hat m i t dem Buch der Offenbarung auch das Buch der Gesetze gebracht. Es ist Verteidiger des Eigentums geworden, und die getaufte K ö n i gin v o n T a h i t i muß ihrer W i l l k ü r entsagen, denn »Es kamen auf, seit Christi W o r t erscholl / Gesetze [ . . . ] « 5 1 .

V

Lexika Der Charakter der L e x i k a i n der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts ist zumeist auch ein wertender. D i e Beschränkung auf scheinbar neutrales Faktenwissen bleibt späteren Zeiten vorbehalten. Neben der Geschichte und der geographischen Beschreibung Tahitis tauchen i n den Spalten der Lexika die schon bekannten Themen auf: Ausrottung der Eingeborenen durch Syphilis, Veränderung der Soziokultur u n d Einfluß der Missionare. Der Meyer (1978) berichtet, daß T a h i t i i m Jahr 1970 etwa 85 000 Einwohner hatte. V o r 1768 waren es über 200 000; »eine Folge der hitzigen Getränke und der syphilitischen Krankheiten, m i t welchen sie [die T a h i 1840, S. 31; auch: ders., »Bruder Moritz, der Sonderling«, in: ebd., Bd. 3) ist, ein Europa gegenüber, dessen Menschen »häßlichen, erkünstelten Leidenschaften unterthan« (S. 38) sind. 48

Chamisso, Anm. 45, Bd. 1, S. 410 ff.

49

Ebd., S. 412.

50

Ebd., S. 413.

51

Ebd., S. 411. I m Romanzerò Heines ( H . H . , Sämtliche Elster, Bd. 1, Leipzig u. Wien 1890, S. 345 f.) heißt es:

»[...]

H e i l , der Königin Pomare! Jene nicht von Otahaiti — Missionärisiert ist jene — Die ich meine, die ist wild, Eine ungezähmte Schöne.«

Werke,

hg. Ernst

Jens Haustein

126

tianer] die Europäer beschenkten« 52 , w a r eine Abnahme der Bevölkerungszahl auf 5 000 (um 1820) 5 3 . Das entspricht einer Reduzierung auf zweieinhalb Prozent i n 50 Jahren! V o n der allen Fremden aufgefallenen Freundlichkeit, Gastfreundschaft u n d Lebensfreude (die ja noch heute Bestandteile des Klischees sind) weiß K ä m t z (1836) nichts mehr zu berichten: Was hätte aus diesem mit trefflichen Naturanlagen versehenen Volke werden können, wenn Männer von Einsicht und gutem Herzen sich seiner angenommen hätten. Doch verschwunden sind alle diese Tugenden; an die Stelle des offenen Wesens ist Verstellung getreten, und dieses fröhliche V o l k ist in Kopfhänger verwandelt worden [ . . . ] 5 4 .

D e m kritisierten Zustand einer nicht vorhandenen Staatlichkeit, der den Verkündern eines spätaufklärerischen Sittlichkeitsideals ein D o r n i m Auge ist, folgt keineswegs, wie erhofft, eine Verwandlung i n ein europäisches Pendant, sondern der Fall i n das historisch-kulturelle Nichts. Der Zustand der K i n d h e i t , i n dem die Tahitianer von ihren europäischen Beobachtern angesiedelt werden, w i r d nicht durch ein >Hineinwachsen< i n europäische K u l t u r abgelöst. » W i r müssen daher die oben genannten Beschreibungen [Forster, Kotzebue etc.] als Darstellungen eines nicht mehr vorhandenen Zeitalters ansehen [ . . . ] « 5 5 , so perspektivlos endet der Brockhausartikel v o n 1816. D i e einzige positive Behandlung erfahren die Missionare i n Hübners Staatslexikon; ihre Arbeit habe, so heißt es, »wohltätig g e w i r k t « 5 6 , nachdem sie trotz großer Schwierigkeiten der Sprache Meister geworden seien 57 . Beißenden Spott über sich ergehen lassen muß die Missionstätigkeit bei Kämtz : 52 Conversations-Lexicon oder Hand=Wòrterbuch für die gebildeten Stände [ . . . ] , Leipzig u. Altenburg (Brockhaus), 2 1812 - 1819, hier: Bd. 7, 1816, S. 157. 53 Z u diesen Zahlenangaben siehe: a) ebd., S. 157; b) Johann Hühners reales Staats-Zeitungsund Conversations-Lexicon [ . . . ] . Ganz umgearbeitet und nach neuesten politischen Verhältnissen eingerichtet von F. X . Speri, Grâtz 1820, Bd. 2, Sp. 479. — Zur Bevölkerungsdezimierung auch: Neue Beiträge zur Volker* und Länderkunde, hg. M . C. Sprengel und G. Forster, 3. Theil. Leipzig 1790, S. 239 258, hier: S. 252: »Die venerische Seuche, die durch die Verbindung mit der M a n n schaft der Resolution und Diskovery sehr unter ihnen verbreitet war, hatte eine große Anzahl Menschen weggerafft.« 54 Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet und hg. v. Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber, Leipzig 1818 - 1889, hier: Dritte Section, Siebenter Theil, 1836, S. 270. 55

Brockhaus, Anm. 52, S. 158.

59

Hübner, Anm. 53, Sp. 480.

57

Ebd.; vgl. dazu Forster, A n m . 18, S. 220: »Was mich anlangt, so schien mir keine Sprache leichter als diese.«

»Otahiti«

127

Endlich ließ sich auch Pomareh mit seiner ganzen Familie, auf Überredung des Missionars N o t t , taufen und starb als Christ i m besten Mannesalter, an den Folgen des unmäßigen Genusses geistiger Getränke, die er von den Schiffen der europäischen Christen erhielt 5 8 .

D i e Bevölkerungsreduzierung geht zu Lasten der Christen: D i e Missionare, welche durch ihren Bekehrungseifer die Bevölkerung wenigstens um 9 /io vermindert haben [ . . . ] 5 9 .

U n d die sozio-kulturelle Veränderung ist das Ergebnis: Daher ist denn auch bei dem kleinen Uberreste des gemordeten Volkes die freudige Lebenskraft und die ehemals bewundernswürdige Industrie durch das viele Beten und das müßige Hinbrüten über Gegenstände, welche die Lehrer so wenig verstehen, als die Belehrten, fast gänzlich untergegangen 60 .

D i e hier nur i n aller Kürze dargestellte Kommentierung einer kulturellen Entwicklung (oder eben ihrer Verhinderung) u n d die Parteinahme für die Belange der Insulaner, die aus beinahe allen einschlägigen Lexikaartikeln des frühen 19. Jahrhunderts zu entnehmen sind, sind aus den L e x i k a der Gegenw a r t verschwunden. D i e Fakten sind sinnlos geworden, da ihre Einordnung i n Gesdiehenszusammenhänge nicht mehr möglich ist. Wie k a n n man die Zahlenangabe »85 000 Einwohner i m Jahre 1970« (Meyer, 1978) oder etwa die mitgeteilte Tatsache, daß die 1832 gegründete Mamaia-Sekte die Vertreibung aller Europäer aus T a h i t i anstrebte (Brockhaus, 1973), bewerten, wenn beide Informationen dadurch isoliert werden, daß sie die jeweils einzigen sind? Späte K r i t i k

an den F o l g e n der Ta h i t i - Ε η t d ec k u η g (Gerstäcker,

Gauguin)

Friedrich Gerstäcker läßt seinen Abenteuerroman Tahiti 61 auf eben dieser Insel u n d den ihr benachbarten spielen: E i n junger Franzose, René, auf einem Schiff angeheuert u n d alsbald der rauhen Gesellschaft überdrüssig, desertiert und verliebt sich wenig später i n ein Eingeborenenmädchen, das i h m zudem noch das Leben rettet. D i e Hochzeit findet unter den Augen des eifersüchtigen Nebenbuhlers statt. Durch René w i r d das Mädchen seiner 58

Ersch/Gruber, A n m . 54, S. 271.

59

Ebd.

60

Ebd.

61

Friedrich Gerstäcker, Tahiti. Roman aus der Südsee, in: ders., Werke, siebente Aufl., neu durchgesehen u. hg. Dietrich Theden, Bd. 7, Berlin o. J. — I n Freiligraths Gedicht »Das Mädchen von Otaheiti« (F. F., Sämtliche Werke in zehn Bänden, hg. L. Schröder, Leipzig 1906, Bd. 7, S. 148) verläßt ein Christ ein in ihn verliebtes Eingeborenenmädchen, das daraufhin vor Kummer stirbt.

Jens Haustein

128

U m w e l t entfremdet. A m Ende erkennt der Eindringling seine Schuld, seine unruhestiftende u n d unglückbringende Verstrickung, u n d begeht Selbstmord, indem er sich i n einem kleinen Boot auf das offene Meer hinaustreiben läßt. I n den Roman ist die unselige R i v a l i t ä t v o n protestantischen u n d katholischen Missionaren, die nicht nur i m Dienste ihrer Kirche stehen, sondern auch nationale, nämlich englische u n d französische, Interessen vertreten, eingearbeitet. Neben zahlreichen Sympathiebekundungen für die Belange des Inselvolkes, Attacken gegen die brutale Behandlung der Eingeborenen durch die Missionare und der resignativen Einführung v o n zivilisierten Wilden i n den Handlungszusammenhang gibt es ein geradezu handbuchartiges K a p i t e l der Geschichte der Insel seit dem Tode Pomares bis zur Erzählgegenwart, das Gerstäcker folgendermaßen beginnt: H i e r z u kam der zu jener Zeit gerade so verwickelte p o l i t i s c h e Zustand der Insel, der eben durch den übergroßen Eifer der Missionäre herbeigeführt worden, und mit dem ich den Leser, ehe ich meine Erzählung wieder aufnehme, jedenfalls erst vertraut machen m u ß 6 2 .

A u f sechs Seiten w i r d die R i v a l i t ä t der Missionare als Ursache für die zahlreichen »traurigen Folgen« (S. 139) behandelt. M i t »religiöser U n d u l d samkeit« (ebd.) haben die Missionare sich zu den »eigentlich regierenden Herren« (ebd.) der Insel gemacht 68 . Es war ein Paradies, das Gottes milde Vaterhand erschaffen, ein Paradies, von seinem Athem durchweht und seiner Werke Herrlichkeit kündend zu jeder Stunde — ein Paradies, das nur die Leidenschaft und das trotzige H e r z des Menschen oft, ach wie oft! so muth- und böswillig verdarb und zerstörte, und H a ß und Schmerz saete, selbst zwischen diese Palmen. Ehrgeiz und Fanatismus, Sinnlichkeit, Geldgier und sorgloser Leichtsinn reichten sich einander die H a n d , und der Insulaner, der gastliche H e r r dieses Aufenthaltes, in dem Engel hätten schwelgen können, sah in kurzsichtiger Lust, wie die fremden Männer Tand auf Tand in sein Canoe häuften, es schmückten und verzierten und beluden — bis es s a n k. — Sorglose Kinder des Augenblicks, denen Palmen und Brotfrucht jeden Tag gaben, was der Tag begehrte, was kümmerte sie die Zukunft? Der bunte Flitterputz freute sie; jeder goldenen, blitzenden Masche jubelten sie entgegen und ahnten das N e t z nicht, das sich langsam, aber sicher wob, sie niederzuziehen aus ihrem H i m m e l 6 4 .

Wenn man nicht wüßte, daß Gerstäcker T a h i t i als Augenzeuge gesehen hat — er ist der dritte große Reiseschriftsteller nach Forster u n d Chamisso — u n d man seine Bildlichkeit u n d religiöse M e t a p h o r i k nicht 62

Ebd., S. 137.

63

Z u dem S. 141 erwähnten »Consul Mörenhout, der dem pietistischen Wesen der Protestanten theils abhold, andererseits auch seinen eigenen Nutzen durch die Oberherrschaft der Franzosen zu befördern glaubte«, vgl. Anm. 69. 64

Gerstäcker, Anm. 61, S. 145.

Otahiti«

129

als Stilmittel einordnen würde, könnte man zu dem Schluß kommen, i n der zitierten Textpassage sei nicht T a h i t i , die Insel der empirischen W i r k lichkeit, verloren, sondern nur Gerstäckers Vorstellung davon. Bei Berücksichtigung beider Prämissen lesen w i r umgekehrt nichts v o n einer nachträglichen Verherrlichung Tahitis, sondern w i r erfahren eine ins Poetische transponierte Realitätserkenntnis. D i e übermäßige Poetisierung w i l l ein bewußtes Kontrastmittel sein, das den zeitlich vorangegangenen Zustand beschönigt und so den nachfolgenden u m so kläglicher erscheinen l ä ß t 6 5 . D i e Geschichte der Malerei weist Gauguin i n erster Linie als Tahitibegeisterten aus. Seine Bilder v o r allem haben die Insel i n das optische Bewußtsein gebracht. Gauguin hat zwei große Reisen i n die Südsee unternommen, 1891 1893 u n d 1895- 1901. D i e Frucht dieser Reisen ist neben zahlreichen Bildern u n d Skizzen audi ein Tagebuch, das i h m Zeugnis über die allmähliche A u f nahme der Südsee i n sein Denken u n d Schaffen geben sollte — Noa Noa 66. A m Beginn der Entdeckung

steht die große Enttäuschung:

Erst vor kurzem hier angekommen, in gewisser Weise desillusioniert von den Dingen [ . . . ] 8 7 . Für jemanden, der viel gereist ist, bietet diese kleine Insel keinen bezaubernden Anblick, wie etwa die Bucht von Rio de Janeiro 6 8 .

D i e weitere Auseinandersetzung Gauguins m i t dem Problem v o n N a t u r u n d Zivilisationsvolk ist beeinflußt u n d geprägt v o n seiner die Reisen v o r bereitenden Lektüre, die vor allem aus dem Reisebericht J.-A. Moerenhouts bestand 69 . Dieser minutiöse Bericht, der sich vereinzelt der offenen Parteinahme für die Belange der Insulaner nicht enthält, führt die schon bekannten Übel auf die Wurzel des gegenseitigen Unverständnisses v o n Europäern u n d Tahitianern zurück: Les insulaires ne connaissant pas la force des Européens, et les Européens ignorant les usages des insulaires [ . . . ] 7 0 .

65 Vgl. auch Anselm Maler, Der exotische Roman. Bürgerliche Gesellschaftsflucht und Gesellschaftskritik zwischen Romantik und Realismus, Stuttgart 1975, S. 36 f. 86 Es wird aus der hervorragenden Edition: Paul Gauguin, Noa Noa, aus dem Franz. übertr. v. H e l e n Hessel (Franz. Text als Faks. d. Handschrift), München 1969, zitiert. 67

Ebd., S. 12.

68

Ebd., S. 8.

69 J.-A. Mœrenhout, Voyage Aux lies Du Grand Océan [ . . . ] , 2 tombs, Paris 1837. Moerenhouts Bericht ist unterteilt in: Geographie, Ethnographie und Histoire, im weiteren w i r d aus dem Abschnitt Histoire zitiert. 70

Ebd., S. 389.

9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

Jens Haustein

130

Das Resultat eines Kontaktes zweier Welten sieht Gauguin folgendermaßen: » [ . . . ] übrig bleiben nur Zivilisierte« 7 1 . Für Gauguin bleibt v o r seiner Reise ins Landesinnere, weg v o n den v o n der Z i v i l i s a t i o n infizierten Städten entlang der Küste, die Frage: » W i r d es m i r gelingen, die Spur einer so fernen, so geheimnisvollen Vergangenheit wieder aufzufinden?« 7 2 D i e Kunst Gauguins lebt auf, als die Annäherung an das W i l d e möglich w i r d , was sowohl die Abwendung v o m faktisch Zivilisierten als audi eine innere W a n d l u n g zur Voraussetzung hat. »Ich wurde jeden Tag ein wenig zu einem Wilden«73. VII T a h i t i ist kein Topos für ein gefundenes, sondern ein Exempel für ein verlorenes Paradies. Durch den K o n t a k t der Europäer m i t den Bewohnern der Südseeinsel w i r d deren K u l t u r und Lebensraum vernichtet; selten deutet sich die Möglichkeit einer fruchtbaren Symbiose an. Wenn i n den hier v o r gestellten Texten v o m Ende des 18. Jahrhunderts die Befürchtung geäußert w i r d , so i n denjenigen aus dem 19. Jahrhundert die Gewißheit, daß die Europäer Schuld tragen an der Zerstörung dieses >neuen ParadiesesSketches of Character might be a good guide book . . . I f it be as here represented, the world is the most hollow, heartless, vulgar, brazen world . . . « (zit. bei Pantuikovâ, S. 102). 48 Z u Byrons bzw. Campbeils Identifizierung des Verlegers mit Barrabas vgl. Dale Hepker, Early Nineteenth Century British Author-Publisher Relations (Diss. U n i v . of Nebraska, 1978), S. 2 und Anm. 1.

Künstler und Künstlerfiktion

143

rington autoritativ seinem Freund Pen, daß das K a p i t a l »absolut« sei und ein Verleger wie jeder andere Unternehmer das Recht habe, seinen eigenen Interessen gemäß Verträge m i t Schriftstellern abzuschließen (355). Dementsprechend kann der A u t o r dem i m K o n k u r r e n z k a m p f stehenden Verleger drohen, seine Texte dem Rivalen anzubieten. Freilich läßt Thackeray seinen Protagonisten diesen vermeintlichen T r u m p f nicht recht ausspielen. Er w i l l i m Grunde nicht den K o n f l i k t zwischen beiden Seiten gestalten, sondern die neue, individuell-moralisch begründete D i g n i t ä t des Schriftstellers exemplifizieren. Grundlage dieser D i g n i t ä t ist zunächst jene industry , die etwa der Unternehmer E d m u n d Potter 1856 i n A Picture of a Manufacturing District als Erfolgsnorm setzt: Some are born w i t h fortune; more are born without any, and the struggle for it is very serious. I t is the best educated of these, the most talented and industrious, who take the prize; but all may possess industry which is, after all, the starting point and by far the most valuable power 4 7 .

Thackerays Pendennis, Sohn eines i n die gentry aufgestiegenen Apothekers, ist z w a r »born w i t h fortune«. Aber er hat sein Geld — » w i l d and wickedly extravagant at college« (336) — weitgehend durchgebracht. Als er sich in London der Juristerei w i d m e n w i l l , muß er feststellen, daß er gerade seine letzte Fünf-Pfund-Note einwechselt, »and [he] could t h i n k of no method of p r o v i d i n g a successor« (336). Dieser finanzielle Tiefpunkt ist zugleich der Wende- und Ausgangspunkt für eine neue Entwicklung i n diesem zumeist als Bildungsroman eingestuften Werk. Thackeray, der gewissermaßen sein eigenes Schicksal an das Pens bindet, ist nach achtundzwanzig K a p i t e l n entschlossen, so teilt er Mrs. Brookfield m i t , »that M r . Pendennis shan't dawdle any more, and that I ' l l do something t o fetch up m y languishing reputation« 4 8 . Der A u t o r rekurriert dabei jedoch nicht auf stereotype Schemata wie unverhoffte Erbschaft oder reiche Ehe, sondern er aktiviert i n seinem Protagonisten jene industry , v o n der E d m u n d Potter spricht u n d die bereits seit längerer Zeit als eine der zentralen Wertkategorien der Mittelklasse der als parasitär bezeichneten Untätigkeit der modern landlords entgegengestellt w i r d , »who t o i l not, neither do they spin« 4 9 . Pen hat sich i m ersten Teil des Romans als ein — sicherlich liebenswürdiger — »worthless idler and spendthrift« (357) entpuppt. I n L o n d o n beginnt 47

Zit. bei Perkin, S. 223.

48

Letters, Bd. 2, S. 565.

49

Vgl. Perkin, S. 227, mit mehreren analogen Belegen.

144

Uwe Böker

er zu arbeiten und verdient weitgehend unabhängig seinen Lebensunterhalt. Einerseits stürzt er sich m i t Eifer und Freude i n seine Arbeit, als er die ersten Rezensionsexemplare für die Pall Mall Gazette erhalten hat (358). Z u m anderen muß er sich jedoch auch redlich abmühen, muß hart arbeiten, ehe er der Meinung sein kann, sein Geld redlich verdient zu haben (375, 376, 381). Thackeray präsentiert also seinen Protagonisten als einen »daily toiler« (380). Er ist damit ein »professional writer, or literary hack, as M r Warringt o n chooses to style himself and his friend« (380). Wie die unterschiedliche Terminologie andeutet, differieren die Positionen Warringtons u n d des E r zählers voneinander. Allerdings hat der Begriff hack keineswegs die immer wieder postulierte pejorative Bedeutung, da Thackeray i n den K a p i t e l n 32 bis 36 den Bedeutungskern der Metapher durch den Kontrast m i t dem B i l d des Pegasus spielerisch reaktiviert 5 0 . »We are all hacks upon some road or other«, so bemerkt W a r r i n g t o n (354) u n d betont, daß der potentielle Käufer dasjenige Pferd auswählen dürfe, das er für seine Zwecke benötige (»a lady's horse, or a cob for a heavy t i m i d rider, or a sound hack for the road«, 355). Auch wenn der A u t o r den Wert seines Pegasus höher einschätze, dürfe der Verleger unter dem Gesichtspunkt des Kapitalrisikos ein solides Pferd auswählen. Während W a r r i n g t o n aus der Sicht des Verlegers argumentiert, n i m m t der Erzähler die Perspektive des i m täglichen Existenzkampf stehenden Bürgers ein. Daß der Schriftsteller oft hart, gegen die Zeit, seine Neigungen, seine Gesundheit 5 1 arbeiten müsse, bedeute nur, daß er m i t am allgemeinen Los der Menschheit trage, oder, m i t dem B i l d des Arbeitspferdes: »There is no reason w h y this animal should be exempt f r o m labour, or illness, or decay, any more than any of the other creatures of God's w o r l d « (380). Arbeit gilt als Grundkategorie menschlicher Existenz; Schriftsteller sind demgemäß nicht ausgeschlossen v o n den »prose duties of this daily, bread-wanting, tax-paying life« (380). Thackeray demontiert übersteigerte Vorstellungen v o m privilegierten Status des Schriftstellers. Er schließt sich damit i m p l i z i t der K r i t i k der Mittelklasse an jenen Schichten der Gesellschaft an, »who neither labour nor p u t by, but merely hold out their hands to accept the offerings of the rest of the c o m m u n i t y « 5 2 .

50 Vgl. Noll-Wiemann, S. 74; Verdi, S. 92 ff. Deutlich negativ sind dagegen die Assoziationen des Begriffes hack in Charles Kingsleys Alton Locke: Tailor and Poet (Leipzig, 1857); das 20. Kapitel dieses im August 1850 erschienenen Romans trägt die Uberschrift »Pegasus in Harness«: » I t was miserable work, there is no denying it — only not worse than tailoring« (S. 175). 51 Es ist zu bedenken, daß Thackeray diese Äußerungen unmittelbar nach seiner eigenen schweren Krankheit im Herbst 1849 zu Papier bringt. 52 N . W . Senior, zit. bei Perkin, S. 227; die Äußerung richtet sich gegen die landlords.

Künstler und Künstlerfiktion

145

A u f g r u n d seiner neugewonnenen positiven Einstellung zur A r b e i t gelingt es Pen, sein jährliches Einkommen auf fast 400 £ i m Jahr zu steigern (381), eine Summe, die i h n erneut — diesmal »by his o w n merits« — als »a gentleman of good present means and better expectations« (382) erscheinen l ä ß t 5 3 . Freilich manifestiert sich die D i g n i t ä t des Literaten nicht allein i n industry , die für Thackeray positive wie negative Seiten hat. So zeigt sich etwa i m Falle v o n Warringtons Kollegen Paley eine unsozial-egoistische Tendenz: . . . all people praised Paley for his industry . . . The one [Warrington] could have sympathies and do kindnesses; and the other must needs be always selfish. H e could not cultivate a friendship or do a charity, or admire a work of genius . . . he had no time, and no eyes for anything but his law-books (318).

Pen dagegen bewahrt bei aller Arbeitsamkeit und Energie, die i h n v o n dem nur bei Bedarf arbeitenden W a r r i n g t o n unterscheiden, Züge eines Gentleman. Thackeray verdeutlicht dies i n K a p i t e l 35. Pens Rezension eines Reisebuches der Countess of Muffborough, »the wife of a celebrated member of the opposition party« (376), sprüht nur so v o r »bitter fun«. Aber trotz der politischen Gegnerschaft und der mangelnden literarischen Qualitäten des Buches hat Pen keinen Satz geschrieben, »which was not polite and gentlemanlike« (376) 5 4 . Der Erzähler räumt z w a r ein, daß Pen wie mancher junge K r i t i k e r »impertinence and a certain prematurity of judgement« (377) an den Tag lege. Er orientiert sich jedoch andererseits i m Falle der Besprechung eines Buches, das Bungays K o n k u r r e n t Bacon verlegt hat, an Grundsätzen wie impartiality u n d fair play : er besitzt — dieser Begriff taucht an der Stelle dreimal auf — conscience (378, 379). D a m i t setzt Thackeray dem ökonomischen Prinzip des Wettbewerbs, das Shandon als Argument anführt (»for w h a t do y o u suppose a benevolent publisher undertakes a critical journal, — to benefit his rival?«, 378) ein moralisch begründetes Regulativ entgegen. Er spart z w a r Shandons b z w . Bungays Entscheidung darüber aus, ob Pens Rezension erscheinen w i r d . Aber darauf k o m m t es w o h l auch nicht an 5 5 . Wesentlich ist der Kontrast zwischen dem eher zynischen Herausgeber, der Pens »tender conscience« als »the l u x u r y of a l l novices« (379) bezeichnet, u n d dem jungen Literaten, der Ehrlichkeit, Selbstrespekt (379) u n d »a fine sense of the d i g n i t y of his 53 Vgl. zur Einkommensstruktur nach 1850 Perkin, S. 420. Das Einkommen der Mittelklasse liegt 1868 zwischen £ 3 0 0 und £ 1000 pro Familie. Carlyles Einkünfte belaufen sich z. B. 1854 auf ca. £ 400; vgl. Saunders, S. 192. 54

Vgl. die Charakterisierung von Thackerays eigenen Positionen als Kritiker

des Morning Chronicle , die kaum von denen Pens abweichen, bei Pantu2kovd, S. 86. 55 I m Unterschied zu Thackeray gibt es in Kingsleys Alton Locke eine heftige Auseinandersetzung zwischen dem Protagonisten und dem Herausgeber, der einen Stuhl hinter Alton herwirft. Vgl. Alton Locke, S. 205. 10 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

146

Uwe Böker

position« (378) an den Tag legt. Angesichts dieser auktorialen Bewertung gegen Schluß v o n K a p i t e l 35, das Thackeray v o r der K r i t i k des Morning Chronicle u n d des Examiner geschrieben hat, sind seine Kommentare i m dignity of literature- Leserbrief durchaus ernst gemeint. Wenig später hat sich Thackeray noch einmal ähnlich geäußert: Literary men are not by any means, at this present time, that most unfortunate and most degraded set of people whom they are sometimes represented to b e . . . Certain persons are constantly apt to bring forward or to believe in the existence, at the moment, of the miserable old literary hack of the time of George the Second, and bring him before us as the literary man of this day . . . I propose from this day forth that the oppressed literary man should disappear from among us. The times are altered, the people don't exist . . . I have been in all sorts of society in this world, and I have never been despised that I know of. I don't believe there has been a literary man of the slightest merit or of the slightest mark who did not greatly advance himself by his literary labours . . . A n d therefore, I say, don't let us be pitied any more 5 6 .

Dies ist sicherlich die Position eines wohlmeinenden u n d erfolgreichen Schriftstellers zu Beginn der durch die Londoner Weltausstellung v o n 1851 eingeleiteten Prosperitätsperiode, eines Schriftstellers, der wie viele V i k t o rianer auf die Selbsthilfe des Einzelnen setzt und übergreifende ökonomische Entwicklungen m i t ihren Auswirkungen auf den kulturellen Bereich nicht voraussehen kann. Diese Entwicklungen betreffen v o r allem die Verbesserung der Ausbildungssituation m i t der weiteren Senkung des Analphabetismus, der Aufstieg v o n Angehörigen der Arbeiterklasse i n die lower middle class, zu deren Statussymbolen auch Bücher gehören, oder etwa die Modernisierung der Papierherstellung u n d der Drucktechnik. Diese Veränderungen schaffen bzw. ermöglichen eine Ausweitung der Absatzmärkte, die über eine intensivierte P r o d u k t i o n m i t Massenliteratur beliefert werden 5 7 . Durch die A b d a n k u n g des v o n den circulating libraries favorisierten three-decker , die Publikation billiger einbändiger Romane, v o r allem auch durch die neuartige Honorierung nach dem royalty- System, das die Risiken gleichmäßiger auf Verleger u n d A u t o r verteilt, verschlechtert sich die finanzielle Situation des Schriftstellers gegen Ende des Jahrhunderts 5 8 . Als möglicher Ausweg bleibt nur, 66

Thackeray in einer Rede am 14. M a i 1851, zit. bei Ray, Bd. 2, S. 152.

57

Vgl. Gillian Sutherland, Policy-Making in Elementary Education , 18701895 (London, 1973); die Artikel von Crossick, McLeod und Price in The Lower Middle Class in Britain , 1870 - 1914, hg. Geoffrey Crossick (London, 1976); Victor E. Neuburg, Popular Literature: A History and Guide (Harmondsworth, 1977), S. 224 if.; Jacqueline Colombat, »Mass Production Reaches the Book Trade«, Cahiers Victoriens et Edouardiens , 3 (1976), 97 - 107. 58 Vgl. Guinevere L. Griest, Mudie's Circulating Library and Novel (Bloomington, Ind., 1970), S. 176 ff.; Laurenson, S. 131 if.

the Victorian

Künstler und Künstlerfiktion

147

wie i n Gissings New Grub Street angedeutet, die Orientierung am Geschmack des durchschnittlichen Lesers. »Get d o w n to the facts, m y son, and study y o u r market«, so rät der Verleger dem jungen A u t o r : »find out w h a t people like to read and then w r i t e a story along those lines. This w i l l bring y o u success . . . Remember that novel w r i t i n g is as much a business as making calico« 5 9 . Gissings Vision der literary machine oder die art of the novelKontroverse zwischen James u n d Besant sind deutliche Hinweise auf eine Verschärfung des Gegensatzes zwischen Kunst u n d Ware 6 0 . Angesichts des Verfalls der literarischen K r i t i k u n d der Herrschaft der Rezensenten etwa des Daily Telegraph — » I t heralded mediocrity to the sound of shawms and oboes: i t never praised any w r i t e r of merit and originality u n t i l he had g r o w n o l d and imbecile« 6 1 — scheinen einander endgültig ästhetisch-moralische D i g n i t ä t und Popularität, u m die M i t t e des Jahrhunderts noch i n einer Figur wie Dickens miteinander vereint, auszuschließen. Dieser Positions- u n d Einflußverlust des anspruchsvollen Schriftstellers führt z u m Bewußtsein der Entfremdung v o n einer Gesellschaft, die ihrerseits nichts m i t der progressiven Kunst anzufangen w e i ß 6 2 . I n dieser Entwicklung ist sicherlich einer der wesentlichen Gründe für die Tatsache zu sehen, daß die Künstlererzählungen u m die Jahrhundertwende häufig scheiternde Protagonisten vorstellen. I h r Los ist nicht archetypisch-überzeitlich, sondern das sich i n Textstrukturen vermittelnde Resultat gesellschaftlicher Konflikte u n d temporärer Problemlösungen 63 .

59 Vgl. Robert L. Selig, » >The Valley of the Shadow of Booksc Alienation in Gissing's New Grub Street «, Nineteenth Century Fiction, Bd. 25 (1970 - 1), S. 188 198; das Zitat stammt aus Bennetts Books and Persons (1909), Brief eines Verlegers an einen jungen Autor, zit. in C. K . Stead, The New Poetic: Yeats to Eliot ( H a r mondsworth, 1967), S. 48. 60 George Gissing, New Grub Street, hg. Bernard Bergonzi (Harmondsworth, 1968), S. 505; M a r k Spilka, »Henry James and Walter Besant: >The A r t of Fiction« Controversy«, Novel, Bd. 6 (1973), S. 101 - 19. 61

F. M . Ford, zit. von Stead, S. 47.

62

Vgl. Stead, Kapitel 2, S. 46 ff.

03

Vgl. Peter V . Zima, Textsoziologie

IQ*

(Stuttgart, 1980), S. 60 ff.

MACHT

UND

OHNMACHT

DER

POETEN

B a u d e l a i r e s »Les C h a t s « als i n k a r n i e r t e

Metapher

dichterischer E x i s t e n z

V o n Kurt

Reichenberger

M i t z w e i Diskussionsbeiträgen v o n Charles V . A u b r u n R o m a n Jakobson in memoriam

In

einem

L'Homme

heute

fast

legendären

Aufsatz,

der

1962

in

der

Zeitschrift

erschien, l e g t e n R o m a n J a k o b s o n u n d C l a u d e L é v i - S t r a u s s

I n t e r p r e t a t i o n des B a u d e l a i r e g e d i c h t s »Les C h a t s « {Fleurs

du Mal

eine

66) v o r ,

welche die Forschung i n den nächsten J a h r z e h n t e n noch i n t e n s i v beschäftigen s o l l t e 1 . D a s l a g w e n i g e r a m T h e m a — »Les C h a t s « w a r bis d a h i n k a u m s o n d e r l i c h beachtet w o r d e n — als a m m e t h o d o l o g i s c h e n A n s a t z i h r e r D e u t u n g , der Probleme v o n größter T r a g w e i t e aufwarf. D a s Ergebnis ihrer A n a l y s e v o n S t r u k t u r e n der Ausdrucks- u n d der Bedeutungsebene w u r d e alsbald v o n M i c h e l R i f f a t e r r e i n Frage gestellt2. V o n e i n e r M e t a p h e r f ü r d i e F r a u o d e r d e n D i c h t e r d e r chats k ö n n e h i e r n i c h t d i e 1 Roman Jakobson/Claude Lévi-Strauss, » >Les Chats< de Baudelaire«. L'Homme. Revue française d'anthropologie 2 (1962) pp. 5 - 2 1 . Wiederabdruck in La stylistique. Ed. P. Guiraud/P. Kuentz. Paris: Klincksieck 1970, pp. 2 8 4 - 3 0 1 . Eine deutsche Übersetzung erschien in alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion Heft 62/63 (Dezember 1968) pp. 1 5 6 - 1 7 0 und in: Interpretationen französischer Gedichte, ed. K u r t Wais. Darmstadt 1970, pp. 2 1 2 - 2 3 2 . Baudelaire wird zitiert nach der von Yves-Gérard le Dantec besorgten Ausgabe der Œuvres in der Bibliothèque de la Pléiade. 2 Michael Riffaterre, »Describing poetic structures: two approaches to Baudelaire's >Les Chats< «. Yale French Studies 36/37 (1966) pp. 200 - 242. Eine französische Fassung in M . R., Essais de stylistique structurale , édités et présentés par D a niel Delas. Paris, Flammarion 1971, deutsche Übersetzung in M . R., Strukturale Stilistik y München 1973, im 11. Kapitel u. d. T . : »Die Beschreibung poetischer Strukturen: zwei Versuche zu Baudelaires Gedicht >Les Chats< «, pp. 232 - 282. Riffaterre vermittelt zunächst (pp. 235 - 239) einen Einblick in die methodischen Grundlagen der Analyse von Jakobson und Lévi-Strauss. D e m folgt eine mit »Die Irrelevanz der Grammatik« überschriebene K r i t i k (pp. 239 - 247). I n dem Abschnitt »Das Gedicht als Reaktion des Lesers« (pp. 247 - 251) legt er seine Interpretationsgrundsätze dar und läßt dann seine eigene Interpretation von »Les Chats« folgen.

150

Kurt Reichenberger

Rede sein. Das Sonett habe vielmehr eine Vergeistigung der chats zum Thema, und i n den Terzetten handle es sich u m ein hymnisches L o b der Einsamkeit. I m Gegensatz zu der strukturalistischen Beschreibung, die Jakobson/ Lévi-Strauss hier erstmals einer Gedichtinterpretation dienstbar gemacht hatten, ging Riffaterre i n seiner Beweisführung strikt philologisch, i m Grunde textimmanent vor. Die i n den Vordergrund gerückten rezeptionsästhetischen Ansätze erweisen sich bei näherem Zusehen als bloßes Beiwerk, eine K o n zession des Autors an eine aktuelle Forschungsrichtung. Für die K r i t i k w a r unschwer auszumachen, daß beiden Arbeiten lediglich das hohe Argumentationsniveau gemeinsam ist, die Standpunkte i m Einzeln aber extrem v o n einander abweichen. Rasch erkannt wurde auch die exemplarische Bedeutung der Kontroverse, u n d i n schneller Reihenfolge erschienen v o n literarhistorischer, rezeptionsästhetischer u n d sprachwissenschaftlicher Seite eine Menge z u m T e i l recht umfangreicher Arbeiten, die sich kritisch m i t beiden Methoden, vornehmlich der strukturalistischen, auseinandersetzten 3 . I m wesentlichen waren folgende Einstellungen vertreten: (1) Diskussion v o n Detailfragen, (2) eine vergleichende, i n engem Zusammenhang m i t dem Text stehende Methodenanalyse, (3) die praktische Anwendung der neuen Interpretationsweise auf andere Baudelairegedichte 4 u n d (4) die methodische Weiterentwicklung der v o n Jakobson/Lévi-Strauss inaugurierten Strukturanalyse. Dabei f ä l l t auf, daß nicht wenige Arbeiten linguistischer Blickrichtung auf eine Entscheidung i n der kontroversen Sinnfrage bewußt verzichten. Das Thema nach so vielen Deutungsversuchen — es sind mittlerweile über zwanzig an der Z a h l — erneut aufzugreifen, könnte müßig erscheinen. Für eine Weiterführung der Diskussion sprechen jedoch mehrere Gründe. Erstens: D i e Entscheidung darüber, welche der beiden, extrem voneinander divergierenden Deutungen den V o r z u g verdient, ist nach wie v o r offen. M . W . 3 Vgl. insbesondere Roland Posner, »Strukturalismus in der Gedichtinterpretation. Textdeskription und Rezeptionsanalyse am Beispiel von Baudelaires >Les Chats< «. Sprache im technischen Zeitalter 29 (1969) p. 42. Eine Zusammenstellung der Literatur zur »Quereile des Chats« bis zum Tahre 1976 findet sich bei Reinhard Wolff, Strukturalismus und Assoziationspsychologie. Empirisch-pragmatische Literaturwissenschaft im Experiment: Baudelaires * Les Chats«. Tübingen: Niemeyer 1977, X , 124 pp. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 24) auf den Seiten 119 - 120. Weitere Literatur bei M . Delcroix/W. Geerts, Les >Chats« de Baudelaire. Une confrontation de méthodes. Paris 1982, 384 pp. (Collection Publications des Presses universitaires de N a m u r ) . 4 Einen Versuch in dieser Richtung unternimmt Sebastian Neumeister mit seinem Aufsatz »Charles Baudelaire, >Spleen< (J'ai plus de souvenirs que si j'avais mille ans . . . ) . Ein Beitrag zu Theorie und Praxis der Interpretation«. I n : Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 3 (1970) pp. 439 - 454, nicht ohne zuvor die methodischen Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens sorgfältig zu analysieren. Vgl. a.a.O., pp. 439 - 4 4 5 .

Macht und Ohnmacht der Poeten

151

wurde nie ernsthaft versucht, die Masse der philologisch m i t äußerster A k r i bie und Gelehrsamkeit abgestützten Argumente Riffaterres i n Frage zu stellen. Eine schlüssige Widerlegung entschiede aber nicht nur die Kontroverse über die Auslegung eines v o n vielen Baudelairegedichten, sondern könnte zugleich eine Bestätigung für die hier erstmals verwendete Interpretationsmethode erbringen. Zweitens: D i e extreme Verschiedenheit v o n Interpretationen w a r und ist eines der zentralen Probleme rezeptionsästhetischer Forschung. Für die Kategorie des Beliebigen müßte ein F a l l wie der diskutierte wertvolles Anschauungsmaterial bieten. U n d drittens könnte eine neue Deutung auch die v o n Jakobson beschriebenen Strukturen tangieren, speziell diejenigen, die er expressis verbis als doppeldeutig bezeichnet hat. Bei der enormen Tragweite der Verfahrensweise, zumal i m Zusammenhang m i t der sprachwissenschaftlichen Komputertechnik, können dabei selbst geringfügige Änderungen v o n Bedeutung sein. W i r kommen nun zur Interpretation v o n »Les Chats«. Erste These: Metaphorisch gesehen bestehen überraschende Gemeinsamkeiten zwischen den Lebensformen der Dichter und denen der chats 5. Der dichterische Schaffensprozeß w i r d v o n der antiken Rhetorik gegliedert nach inventio, dispositio u n d elocutio. Bei der inventio geht es u m die Themenwahl u n d den Gedanken, das beabsichtigte Thema i n einer ganz bestimmten Weise zu behandeln. Thema v o n Baudelaires Gedicht »Les Chats« ist, wie noch nachzuweisen sein w i r d , die materielle u n d geistige Existenz des Dichters i n der Gesellschaft. Inventio heißt i n concreto: Baudelaire bemerkt (wie w i r ) überraschende Gemeinsamkeiten zwischen Dichtern u n d chats. (1) Beide haben ein besonderes Verhältnis zu Geschlechtlichkeit, zur Zeugungskraft bzw. »Kreativität«. D i e nächtlichen Balzgesänge der chats haben 5 D e n Gedanken, daß chat in diesem Sonett für poète stehen könne, äußert bereits Léon Cellier, » >Les Chats< de Baudelaire. Essai d'exégèse«. Revue des sciences humaines 36 (1971) pp. 2 0 7 - 2 1 6 , ohne allerdings weiter darauf einzugehen. Ä h n lich auch Jean Pellegrin, »Felices feles«. Poétique 3 (1972) pp. 89 - 101 : » »amoureux fervents< et »savants austères< ont pour dénominateur commun >poètes< « p. 91. Eine eigenwillige, aber durchaus überzeugende Interpretation im Sinne der antiken H u moralmedizin bietet Henning Mehnert in Melancholie und Inspiration. Begriffsund wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen zur poetischen »Psychologie« Baudelaire s, Flauberts und Mallarmés , Heidelberg 1978, pp. 158 - 165. Vgl. schließlich Gautiers Charakteristik Baudelaires in der Préface zur postumen dritten Ausgabe der Fleurs du Mal: »Baudelaire lui-même était un chat voluptueux, câlin, aux façons veloutés, à l'allure mystérieuse, plein de force dans sa fine souplesse, fixant sur les choses et les hommes un regard d'une lueur inquiétante, libre, volontaire, difficile à retenir, mais sans aucune perfidie et fidèlement attaché à ceux vers qui l'avait une fois porté son indépendante sympathie«. Dieser Passus hätte einen Fingerzeig geben können, hat aber die meisten Interpreten in die Irre geführt.

152

Kurt Reichenberger

analogische Beziehungen zur petrarkistischen Liebeslyrik, deren Autoren einer fasziniert lauschenden M i t - und Nachwelt verkünden, daß Phyllis die schönsten Augen besitzt. (2) Beide haben es m i t Rivalen zu tun, die sie lautstark übertrumpfen möchten. D i e Konkurrenzsituation beim Dichter zielt über die umschwärmte Frau hinaus auf ein kunstverständiges Publikum, dessen Gunst es zu erringen gilt. (3) Beider Kundgebungen sind bei der U m w e l t , den Umständen entsprechend, mehr oder weniger erwünscht. D i e Liebesraserei des chat entm u t i g t ein Guß kalten Wassers, den poète eine vernichtende K r i t i k . Zensurmaßnahmen wären zu nennen, der Prozeß u m die Fleurs du Mal u n d Ä h n liches. Wie dem auch sei, die Übereinstimmungen sind amüsant u n d einprägsam, der Gedanke, sie zu thematisieren, spricht für einen hintergründigen H u m o r . Bei der dispositio, dem zweiten der rhetorischen Ordnungsprinzipien, geht es u m die W a h l der Darbietungsform, bei der elocutio schließlich u m die syntaktische Ausformulierung i m Einzelnen. Zweite charakter Allegorie W o r t für

These: V o n der Disposition her hat »Les Chats« den Rätseleiner äsopischen Fabel. M i t anderen Worten, das Gedicht w i l l als gelesen werden. Diese Behauptung muß auf der Ebene der elocutio W o r t nachgewiesen werden.

D i e Bezeichnung allegorisches Gedicht w i l l besagen, daß sein Text auf mindestens zwei verschiedene Weisen gelesen werden k a n n : i n einem w ö r t lichen Sinne, i n dem jede Textkonstituente die v o m L e x i k o n ausgewiesene Bedeutung z u m Ausdruck bringt, u n d i n einem übertragenen, bei dem sie metaphorice zu deuten ist. I m altfranzösischen Roman de la rose erzählt der Dichter, wie ein Jüngling sich einem Garten nähert, nach mehreren Versuchen sich Einlaß verschafft u n d eine eben erblühte Rose bricht. Parallel z u m Wortsinn läuft eine kontinuierlich durchgehaltene metaphorische Deutung, die sich als eigentlicher Sinn versteht: die Rose ist ein junges Mädchen i n der Blüte seiner Jugend, dem sich der junge M a n n nähert, deren Zuneigung er nach anfänglichen Rückschlägen zu gewinnen weiß, u n d v o n der er am Ende physisch Besitz ergreift. Das kontinuierliche Nebeneinander beider Lesarten über weite Strecken h i n macht den Rosenroman zu einem allegorischen Gedicht. Wenn unsere These zutrifft, daß Baudelaires »Les Chats« als ein allegorisches Gedicht aufzufassen ist, bei dem es letztlich u m die ambivalente Stellung der Dichter — aktualisierend könnten w i r sagen der I n t e l lektuellen — i n der Gesellschaft geht, müssen w i r es i m doppelten Schriftsinn, i m wörtlichen u n d i m metaphorischen, lesen können. D a ß eine Lektüre

Macht und Ohnmacht der Poeten

153

v o n »Les Chats« i m Wortsinn sinnvoll u n d möglich sei, ist v o n keinem Interpreten bestritten worden. Wenn w i r dennoch die wörtliche Fassung nicht übergehen, so i m H i n b l i c k auf einige Passagen, die, wie aus den bisherigen Untersuchungen hervorgeht, durchaus nicht unproblematisch sind, u n d die w i r bei dieser Gelegenheit erläutern wollen. Liebende u n d Gelehrte, so heißt es i m Text, haben eines gemeinsam, sie lieben die chats. U n d z w a r i m reifen A l t e r , d . h . zu einer Zeit, i n der sie aufgrund ihrer Lebenserfahrung über ein fundiertes U r t e i l verfügen. Die chats werden als k r a f t v o l l und sanft bezeichnet, als der Stolz des Hauses, u n d es w i r d v o n ihnen gesagt, wie Liebende u n d Gelehrte seien sie v ä r m e bedürftig und neigten dazu, Stunde u m Stunde an ein u n d demselben O r t zu verbringen. Freunde des Wissens und der Wollust sollen sie sein, d. h. kluge u n d sinnenfreudige Tiere. Sie suchen m i t Vorliebe die Stille u n d die Schrecken der Nacht auf. Erebus, der Fürst der Unterwelt, hätte sie als Rosse v o r seinen Wagen gespannt, wenn sie nicht zu w i l d , zu stolz, zu eigenwillig für die Knechtschaft wären. Sinnend nehmen sie die edlen Ruheposen steinerner Sphinxe ein, die i n der tiefsten Einsamkeit v o r sich hindämmern i n einem T r a u m ohne Ende. I h r Rückenfell knistert, u n d i n ihren Pupillen sind goldgesprenkelte, geheimnisvolle Sternmuster. Soweit die wörtliche Auslegung. Sie ergibt durchgängig einen akzeptablen Sinn. O b w o h l w i r en passant schon einige Schwierigkeiten ausgeräumt haben, bleiben eine Reihe vorerst noch unbefriedigender Stellen zurück. (1) D i e chats werden charakterisiert als »puissants et doux«. Diese A n t i these nach A r t eines O x y m o r o n spannt zwei unvereinbare oder zumindest schwer vereinbare A t t r i b u t e zu einer syntaktischen Einheit zusammen, ein poetisch höchst wirksamer Kunstgriff, der i n Petrarcas Canzoniere als b i t tersüßer Schmerz zum Inbegriff unerfüllten Liebessehnens wurde. Bei einer semantischen Uberprüfung des konkreten Sinngehalts w i r f t »puissants et doux« eher Fragen auf. Zärtlich mögen die chats i m Umgang m i t den M e n schen schon sein, aber »puissants« sind sie eben nicht, es sei denn i m U m gang m i t einem Kanarienvogel. (2) D i e Apposition »amis de la science et delà volupté« erscheint dem Leser überzogen. Z w a r hat Riffaterre darauf hingewiesen, daß i n der zeitgenössischen zoologischen Fachliteratur die chats als kluge u n d erfindungsreiche Tiere dargestellt werden 6 . Aber reicht das als Erklärung aus für den 6 Vgl. Riffaterre, Strukturale literatur.

Stilistik,

p. 262, und die dort angeführte Quellen-

154

Kurt Reichenberger

hymnischen Lobpreis, auf den das Sonett seit der Anfangszeile der zweiten Strophe hinsteuert? (3) K l a r h e i t wäre zumal i m H i n b l i c k auf Anlage u n d Intention des Gedichts zu fordern. Es könnte sich i m Sinne des Parnasse u m eine partielle A b b i l d u n g der Wirklichkeit handeln. Wie Riffaterre richtig bemerkt, scheint der T i t e l »Les Chats« zunächst i n diese Richtung zu deuten, aber dem widerspreche der Stil nach A r t des genus sublime. A n diesem P u n k t wäre auf die miniaturhafte poèmes eines Leconte de Lisle hinzuweisen, welche die poetisch sublimierte Darstellung exotischer Banalitäten zu einem das ganze 19. Jahrhundert hindurch beliebten Modethema erhebt. Wenn das hier zuträfe, wäre Baudelaire — was dieses Stück angeht — nichts weiter als ein Parnasseschüler 7, u n d die jahrelange Diskussion u m »Les Chats« ein tragisches MißVerständnis der literarischen Forschung. V o r diesem H i n t e r g r u n d ist es verständlich, wenn Riffaterre alles interpretatorisch Mögliche aufbietet, u m auf eine Vergeistigung der chats hinzuarbeiten, ein Bemühen, bei dem er sich nicht nur i m E i n k l a n g m i t den textlichen Befunden, sondern, was diesen Aspekt der »Chats« angeht, audi i n Übereinstimmung m i t Jakobson/Lévi-Strauss befindet. Aber was soll das, wenn er deren Sdilußfolgerung, es gehe primär gar nicht u m die chats , nicht nachzuvollziehen bereit ist. Baudelaires Gedicht gerät dann, was Riffaterre z w a r nicht konstatiert, was aber dem Zusammenhang nach unabweisbar erscheint, i n unmittelbare Nähe bravouröser manieristischer Nonsenspoesie, die Themen u m ihrer Absurdität willen, als rhetorischen tour de force ausw ä h l t u n d behandelt. Das »Lob der Torheit« des Erasmus v o n Rotterdam gehört i n diese Kategorie. Sicher ein interessanter u n d seit den kunsthistorischen Forschungen u m A b y Warburg erneut ein respektabler Traditionsstrang, allerdings, wenn auf das Formale beschränkt, wiederum nur Kleinkunst, eines Baudelaire wenig würdig. V o n diesen Zusammenhängen her w i r d verständlich, w a r u m w i r uns m i t der v o n Riffaterre vorgeschlagenen Deutung nicht einverstanden erklären können, vielmehr zugunsten der v o n Jakobson/Lévi-Strauss vorgeschlagenen plädieren, was angesichts der souveränen Beherrschung der interpretatorischen M i t t e l durch Riffaterre, seiner A k r i b i e u n d besonnenen Urteilsfähigkeit zunächst als ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen erscheinen mußte. 7 Dahingehend äußerten sich Robert-Benoît Chérix in Essai d'une critique intégrale. Commentaire des Fleurs du Mal (Genève 1949): »poème parnassien par la régularité des alexandrins sans brisure, par le choix précis des images et par le caractère plastique et lapidaire de la peinture« (a.a.O., p. 247) und Marcel A . Ruff in L'esprit du mal et l'esthétique haudelairienne , Paris 1955, pp. 245 und 304.

Macht und Ohnmacht der Poeten

155

Versuchen w i r einen Ansatz zu gewinnen, der über den Wortsinn hinausführt. I n der soeben dargebotenen Übertragung wurde, zum Unterschied v o m Original, bewußt prosaisch formuliert. Bei Baudelaire ist nur die E i n gangsstrophe prosaisch. Sie enthält genaue, nüchterne Angaben m i t detaillierten, fast ein wenig umständlichen Erläuterungen 8 . Der zweite Quatrain beginnt m i t einer Apposition und schließt m i t einem mythologisch verschlüsselten Satzgefüge. D i e Terzette schließlich, insbesondere die Schlußstrophe, verwenden eine äußerst gewählte, metaphernreiche D i k t i o n . Aber sobald w i r die Stilfiguren auflösen, u n d die Gestalt des Erebus als Fürst der Finsternis identifiziert ist, ergibt der Konditionalsatz einen schlichten, eindeutigen Sinn: die chats sind eigensinnig u n d nicht willens, sich unterzuordnen. Dasselbe gilt mutatis mutandis v o n den steinernen Sphinx und der hochpoetischen Schlußstrophe, deren hyperbolische Wendungen i n die Alltagssprache rückübersetzt werden mußten. Anders liegen die Dinge bei der dem äußeren Anschein nach so harmlosen Eingangsstrophe. W i r registrieren klare i n d i k a tivische Aussagen, eine schlichte Syntax, Kongruenz v o n syntaktischer u n d metrischer Gliederung, n o d i unterstrichen durch die Doppelungen i n Vers 1 u n d 4 sowie die starken Einschnitte i n der Zäsur v o n 2 u n d 3, sodann ein bis auf die A t t r i b u t e alltägliches Vokabular, u n d schließlich das gleichsam pedantische Insistieren auf Einzelheiten. » Q u i comme eux sont frileux et comme eux sédentaires.« I n Verbindung m i t dem angedeuteten O r t der H a n d l u n g — K e n n w o r t »maison« — erweckt das geradezu den Eindruck des Hausbackenen. U n d doch enthält gerade diese Strophe mehr Schwierigkeiten als die übrigen zusammengenommen. Was ist v o n Feststellungen wie Liebhaber u n d Gelehrte lieben die chats zu halten? Doch offensichtlich apodiktische Aussagen ohne jede empirische Grundlage. D e n n wenn i n diesem K o n t e x t eine für die Liebe zu den Katzen typische soziale Gruppe zu nennen wäre, dann d o d i eher die Rentnerinnen, Baudelaires petite vieilles . U n d was soll die nachgeschobene Scheinbegründung » Q u i comme eux sont frileux et comme eux sédentaires«? Gewiß, Gelehrte als Schreibtischmenschen mögen »frileux« u n d »sédentaires« sein, u n d nicht zu Unrecht wurde i n diesem Zusammenhang auf die D o k t r i n von »Les H i b o u x « hingewiesen, das i n den Fleurs du Mal unmittelbar auf »Les Chats« folgt. Aber der Einwand, daß gleiche Eigenschaften noch kein G r u n d zur Liebe sind, bleibt bestehen. I m H i n b l i c k auf die »amoureux« ist der Leser zunächst noch verwirrter, da v o m Semantischen her attributives »fervents« zu dem späteren » frileux« i n Widerspruch steht. D i e sprachliche Struktur dieses Dilemmas kann als typisch angesehen werden für die Problemfälle i m ersten Quatrain. 8 Unverkennbar sind dabei Anklänge an die Schemata logischer Schlußformen. Z u der scheinbaren Einfachheit des ersten Verses vgl. Jean-Michel Adam, »Encore >Les Chatsc sur le premier vers«. I n : Poétique 10, 37 (1979) pp. 43 - 55.

156

Kurt Reichenberger

»Frileux« bedeutet i m H i n b l i c k auf die chats >wärmebedürftigdie Wärme liebendLes Chats< de Baudelaire. Essai d'exégèse.« I n : Études littéraires 5 (1972) pp. 189 - 211, insbesondere p. 206. 15 Immer noch richtungweisend : Mario Praz. La carne , la morte e il diavolo nella letteratura romantica. 3 a ed. Firenze: Sansoni 1948, passim. 16 Vgl. Baudelaires süffisante Äußerung in »Fusées« X I X : »Pourquoi les démocrates n'aiment pas les chats, il est facile de le deviner. Le chat est beau; il révèle des idées de luxe, de propreté, de volupté, . . . « (Œuvres , ed. Le Dantec, p. 1200). 17

Riffaterre, a.a.O., p. 244, speziell auch zur Verwendung des Plurals.

Macht und Ohnmacht der Poeten

159

sans fin«) zählen n i d i t erst seit der R o m a n t i k zu den A t t r i b u t e n wahren Dichtertums. Seine größte Dichte erreicht das N e t z allegorischer Entsprechungen i n der Schlußstrophe, wenn die geschlechtliche Potenz der chats zur K r e a t i v i t ä t des Dichters i n Parallele gesetzt w i r d . D i e »reins féconds« der chats sind dann als die schlummernde Imagination des Dichters aufzufassen, die »étincelles magiques« als das funkensprühende Feuerwerk seiner schöpferischen Einfälle, das den Zuhörer i n seinen Bann schlägt 18 . Poesie als Zaubergesang ist eine uralte Vorstellung. I n »prunelles mystiques« schließlich w i r d dem Dichter eine visionäre K r a f t attestiert, die i h m v o n den Himmelsmächten (im Gegensatz zu den Mächten der Finsternis) verliehen w u r d e 1 9 . D i e allegorische Lesart ist also durchzuhalten und, wie es den Anschein hat, akzeptabel. W i r können uns der eingangs vorgebrachten These auf einer weiteren Ebene zuwenden. D a z u einige Vorbemerkungen. Macht- und O h n machtsgefühle — der Augenschein legt es nahe — lassen sich überzeugend durch eine Variierung der Körpergröße darstellen. Dabei bewährt sich erneut der alte Spruch v o m Menschen als dem M a ß aller Dinge, bemißt sich doch letzten Endes an ihm, was als groß oder was als klein zu gelten hat. D i e Swiftschen Fabeln beispielsweise lassen das deutlich erkennen. Bei den Z w e r gen hat Gulliver unumschränkte Verfügungsgewalt über sich u n d andere, i m L a n d der Riesen dagegen gerät er durch seine Statur i n eine demütigende Situation nach der anderen. Eine Wespe oder H u m m e l bedeutet bereits akute Lebensgefahr. Als natürliche Folge hier Panik u n d dramatische Angstzustände, dort ein herrliches Gefühl der Befreiung v o n allem Zwang, das sich bis h i n zum Machtrausch steigert. A u f den Text v o n »Les Chats« bezogen: Katze, Mensch, steinerne Sphinx verkörpern Größenordnungen, die als sprachliche Oppositionen verwendet Gefühle der Macht oder Ohnmacht erzeugen können. Oder anders ausgedrückt: das Größenverhältnis der chats zu ihrer Umgebung muß auf analoge Sachverhalte aus dem dichterischen Lebensbereich bezogen werden. Gehen w i r das Stück unter diesem neuen Gesichtspunkt durch 2 0 . 18 Zur semantischen Ambivalenz von fécond vgl. Littré 3, 1457/58: fécond »(1) propre à la réproduction, que peut produire beaucoup. (3) fig. I l se dit de tout ce qui, par comparaison à la terre, produit abondamment. O n dit de même esprit fécond, imagination féconde . . . Auteur fécond, auteur qui a beaucoup écrit.« 19 Die Antithese Apollon/Erebus behandelt I . M . Frandon, »Le structuralisme et les caractères de l'œuvre littéraire. A propos des Chats de Baudelaire«. Revue d'histoire littéraire de la France 72 (1972) pp. 101 - 116, hier p. 108. 20 Abweichende Größenordnungen im metaphorischen Hintergrund einiger Baudelairegedichte legen nahe, daß der Autor auch hier mit physischer Größe als Ausdruck für geistige Größe operierte. Vgl. »L'Albatros« (Fleurs I I ) : »ses ailes de géant Pempêchent de marcher«, geistige Größe als Behinderung i m Alltagsleben,

Kurt Reichenberger

160

I m Verhältnis z u m Menschen sind die chats kleine, niedliche Haustiere. E i n Anspruch auf Gleichberechtigung w i r k t eher belustigend: der »amoureux«, der m i t der Laute unter dem A r m z u m nächtlichen Ständchen aufbricht, und der m i t vergleichbaren Intentionen sich davonschleichende chat stellen allenfalls ein komisches Paar dar. Anheimelnd dann das B i l d des »savant« i n seiner Studierstube, dem der chat schnurrend u m die Beine streicht. Aber damit bringt Baudelaire erstmals eine Verschiebung der Größenordnungen ins Spiel. H a l t e n w i r uns v o r Augen, daß der P r o t o t y p des abendländischen Gelehrten, Hieronymus i m Gehäus, zu seinen Füßen nicht einen harmlosen chat hat, sondern einen wehrhaften Löwen, der zwar f r o m m ist wie ein Lamm, aber furchterregende Fangzähne u n d Klauen hat. N i c h t er bedarf der H i l f e , sondern der Gelehrte steht unter seinem Schutz 21 . D i e Antithese »puissants et doux« erhält durch den H i n w e i s auf den ikonographischen Typus einen neuen Sinn. Ubertragen auf die dichterische Existenz heißt das: die poètes sind an sich sanftmütige, d . h . unpolitische Geschöpfe. U n t e r besonderen Konstellationen können sie aber — kraft der Macht des Worts — eine schreckenerregende Größe annehmen, indem sie m i t ihren Strophen eine ganze N a t i o n m i t sich fortreißen. Ferner: Wie ein wohlgenährter chat dem Hauswesen Ehre macht, so k a n n auch ein Shakespeare, Molière oder Baudelaire bei der nächsten Centenarfeier als »orgueil de la maison« angesprochen werden. Dasselbe Nebeneinander v o n Kleinheit u n d potentieller Größe begegnet uns i n der zweiten Strophe. Erebus hat die chats als Zugtiere für seinen Wagen ausersehen. Das erscheint disproportioniert u n d — kleine chats , großer Wagen — ein B i l d hilfloser Ohnmacht. Wiederum erfolgt ein jähes Umschlagen der Gefühle, wenn w i r uns neben der hier evozierten B i l d v o r stellung das bekannte Alciatemblem des römischen T r i u m v i r n Marc A n t o n vergegenwärtigen, der m i t einem Löwengespann durch R o m f u h r 2 2 . D . h . auch hier statt der niedlichen Schoßtiere dumpf grollende Raubkatzen. »La Géante« (Fleurs X I X ) : »J'eusse aimé vivre auprès d'une jeune géante, / Comme aux pieds d'une reine un chats voluptueux«, der Dichter als schutzbedürftiges Wesen, hierzu weiter unten pp. 16/17. 21 I m christlichen Humanismus des 16. Jahrhunderts war Hieronymus zu einer wichtigen Schlüsselfigur geworden. Das volkstümliche, auf der Legenda Aurea beruhende Bild läßt den streitbaren Humanisten, diplomatisch erfahrenen Papstberater und Mentor frommer Damen der römischen H i g h Society unberücksichtigt und rückt statt dessen den Einsiedler von Bethlehem in den Vordergrund, der bis zu seinem Tode literarisch tätig war. Offensichtlich ist die Legende vom gezähmten Löwen aus antiken Autoren adaptiert. Vgl. Gellius, Noctes att. 5, 14; Aelian, De nat. anim. 7.48 und Seneca, De benef. 2, 19, 1. Siehe Titelbild. 22

Siehe Abb. nach S. 160.

Ï M B I

EM Α Τ Α ,

Eciam fcrociifimos E m b l e m a

R O M A N V M Perdidcrat Infcendit Compatit Magnammo* Ambage

p9$lquam patrU

&

durum

ceßijfe fuis bac cupiens

domari* xxix.

eloqui um,Cicerone

pefiU

curi m victor ,

χ45?

acerba

itmxitcfó colli

fubire

per

empio*

fua: Icônes, iugmn:

Antonius

arniis>

fignificare

duces.

Τ

f. S T I s h u i u s h i f t o r i r r poteft v i d c r i P l i n i u s s q u ì fic Ii.8. Emblema c a p . \ G . P r i m u s R o m a : leoncs ad c u r r u m i u n x u M . A n - t™iï *ex t o n i u s & c p u d c m civìili b e l l o c u m d i m i c a t u m eilet i n Pharfah c f c c a m p i s , n o n i i n e q u o d ä o f t e n r o t e m p e r i m i , generoios i p i - l e ' ^ n t t Titus i u g i m i fubire i l i o p r o d i g i o l i g n i f i c a r e . P l u t a r c h u s a u t c m niana Κ

?

in

Emblema X X I X , »Etiam ferocissimos domari«. In Andreae Alciati Emblemata. Editio Quarta. Lugduni Batavorum: Platin 1591, p. 149. Im Kommentar von Claude Minois wird als Quelle Plinius, Nat. hist. V I I I , 16 angegeben.

Macht und Ohnmacht der Poeten

161

I n der dritten Strophe w i r d die Größenrelation zum drittenmal thematisiert. Wiederum sind die chats genannt und neben ihnen, vereint durch eine identische H a l t u n g , die Steinkolosse der ägyptischen Sphinx. Z u m erstenmal w i r d die Größenordnung der Menschen nicht u m das Doppelte oder D r e i fache, sondern u m ein Vielfaches übertroffen 2 3 . Eine letzte Steigerung, nunmehr i n kosmische Dimensionen, erfahren die chats i n der Schlußstrophe, w o sie i n den Rang v o n Sternbildern erhoben werden. So erfährt der Gegenstand des Gedichts eine stufenweise, v o n Strophe zu Strophe zunehmende Größensteigerung. I n der Eingangsstrophe sind die chats niedliche Schoßtiere, die nur potentiell ihre Macht erkennen lassen. I n der zweiten w i r d die potentielle Größensteigerung wieder aufgenommen, zugleich der Stil des genus humile m i t Stilfiguren u n d mythologischem Beiwerk auf das N i v e a u des genus grande erhöht. I n der dritten erfolgt die Einführung der löwenmähnigen Kolossalfiguren, u n d i n der Schlußstrophe w i r d die Bildvorstellung auf kosmische Dimensionen gebracht, eine eindrucksvolle Apotheose der Dichter 2 4 . Als H i n t e r g r u n d dieses Gedichts ist die gesellschaftliche Position der Künstler u n d Intellektuellen i m 19. Jahrhundert anzusehen. Während des 18. Jahrhunderts hatten sie sich, mühsam u n d i n fortwährenden Auseinandersetzungen, aus der Vormundschaft ihrer aristokratischen Gönner freigemacht, waren aber sogleich i n die ungleich drückendere Abhängigkeit v o n einem Käufermarkt geraten, dessen mehrheitlich desinteressiertes i n Kunstfragen banausisch, prüde u n d besserwisserisch sich aufspielendes P u b l i k u m ihnen neue Ohnmachtserlebnisse vermittelt hatte. I n der sich anbahnenden D i k t a t u r des zweiten Kaiserreichs sahen sie dann die Freiheit der Künstler i n steigendem Maße bedroht durch kontinuierlich verschärfte Zensurmaßnahmen 2 5 . »Les Chats« k a n n als A n t w o r t auf diese Situation anzusehen sein. 28 Die ägyptischen Monumentalplastiken waren im Frankreich des 19. Jahrhunderts durch Bonapartes Ägyptenfeldzug bekannt. Zur Beliebtheit der Sphinx in der Malerei des späten 19. Jahrhunderts vgl. Hans H . Hofstätter, Symbolismus und die Kunst der Jahrhundertwende. Voraussetzungen, Erscheinungsformen, Bedeutungen, 2. Aufl. Köln 1973, pp. 188 -190. Vgl. audi das Bild der Sphinx in Baudelaires Sonett »La Beauté« {Fleurs X V I I ) . 24 Steigerung der Dimensionen und Anhebung des Stilniveaus werden begleitet von einem Wechsel der Metaphorik zwischen Dunkel und Licht, wie er auch bei »Élévation« (Fleurs I I I ) vorliegt. Höhepunkt des Dunkels ist Strophe 2, in der Sdilußstrophe dominiert die Lichtmetaphorik. Vgl. auch Jakobson/Lévi-Strauss, a.a.O., p. 15. 25 Zur gesellschaftlichen Situation der Zeit um die Jahrhundertmitte vgl. Arnold Hauser, Sozialgeschidote der Kunst und Literatur, Band I I (München: Beck 1958) pp. 301 - 48. Als typisch für die geistige Intoleranz werden in der Regel die Prozesse gegen die Fleurs du Mal und Flauberts Madame Bovary genannt. Daß ein vernichtendes Verdikt oft ohne Richterspruch erfolgen kann, zeigt der Ausspruch

11 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

162

Kurt Reichenberger

Baudelaire hat das Thema noch öfters behandelt. I n »La Muse Vénale« (Fleurs du Mal 8) ist die prekäre wirtschaftliche Situation des Künstlers thematisiert. »Bénédiction« (Fleurs du Mal 1) schildert diskursiv den H a ß des Pöbels u n d die Bestätigung des poète durch die Mächte des Himmels. I n der antithetischen Struktur gleicht es also dem wesentlich früher verfaßten »Les Chats«. I m Zusammenhang m i t der Analogie Dichter/Prophet überwiegen hier jedoch pathoserregende, u m nicht zu sagen melodramatische Stilfiguren. Als drittes ist hier »La Géante« (Fleurs du Mal 19) zu nennen. D i e Eingangsstrophe lautet: Du temps que la Nature en sa verve puissante Concevait chaque jour des enfants monstrueux, J'eusse aimé vivre auprès d'une jeune géante, Comme aux pieds d'une reine un chat voluptueux. Das Stück ist eine K o m b i n a t i o n v o n Rollengedicht u n d Vergleich. Der poète äußert ein Schutzbedürfnis, das m i t einem rhetorischen Kunstgriff i n den M i t t e l p u n k t geschoben w i r d . Es resultiert die analogische Gleichung: »moi« bzw. »poète / jeune géante« und »aux pieds d'une reine / un chat voluptueux«. Zweierlei ist hervorzuheben. Das Umschlagen der Größenordnungen, das w i r i n »Les Chats« beobachten konnten, ist hier bereits v o r gebildet, »chat voluptueux« n i m m t die zweite Vershälfte v o n »Amis de la science et de la volupté« vorweg. D i e antithetische Behandlung des Themas u n d die Gegenüberstellung v o n Macht u n d Ohnmacht scheinen durch zeitgenössische Buchtitel wie A l f r e d de Vignys Servitude et Grandeur Militaires (1835), Balzacs Histoire de la Grandeur et de la Décadence de César Birotteau (1837) oder Splendeurs et Misères des Courtisanes (1839/1847) angeregt zu sein. Anläßlich der ersten P u b l i k a t i o n v o n »La Géante« sah Baudelaire sich hämischen Angriffen seitens der Presse ausgesetzt 26 . H a t er deshalb »Les Chats«, bei dem er an der einmal gewählten Identifikationsfigur festhält, i n solchem Ausmaß verschlüsselt? Vermutlich w a r Baudelaire sich der Schwierigkeiten, die das Verständnis des Stücks ersdiweNapoleons III., als er sich im Salon des Refusés unversehens mit Manets »Frühstück im Freien« konfrontiert sah. Vgl. die Schilderung der Situation bei R. H . Wilenski, Französische Maler. Berlin: Safari 1964, p. 45. 26 In der Revue anecdotique war am 20. April 1857 zu lesen: »M. Charles Baudelaire enrichit aujourd'hui la Revue Française de vers qui ont au moins le mérite de la bizarrerie. M. Baudelaire avoue, par exemple, dans une pièce intitulée La Géante, qu'il eût aimé du temps des fées et des génies, vivre auprès d'une jeune géante comme aux pieds d'une reine un chat voluptueux«. J. Habans im Figaro vom 30. April brachte ein Zitat und höhnte: »Je jure mes grands dieux que je copie textuellement, je serais fort empêché d'ajouter un mot à de telles choses.« Allein Flaubert ergriff für den Dichter Partei. Vgl. Charles Baudelaire> Les Fleurs du Mal. Ed. Jacques Crépet/Georges Blin. Paris: Corti 1942, pp. 329/30.

Macht und Ohnmacht der Poeten

163

ren, irgendwie bewußt. Jedenfalls stellte er »Les Chats«, dem diese V o r zugsstellung von der Textqualität sicher zukommt, nicht an die Spitze der Fleurs du Mal, sondern das eigens dazu verfaßte, hochpathetische »Bénédiction«. M i t Sicherheit eine Konzession an den Publikumsgeschmack. Z u m Absdiluß wenden w i r uns erneut der Ausgangssituation zu. D e m Verfasserteam Jakobson/Lévi-Strauss w a r sicher nicht primär an der Deutung eines vereinzelten Baudelairegedichts gelegen. M i t ihrem Aufsatz über »Les Chats« sollte vielmehr exemplarisch eine neuartige, an den Verfahrensweisen des Strukturalismus orientierte Interpretationsmethode vorgeführt werden, deren Bedeutung für den Forschungssektor Sprache u n d K o m p u t e r technik nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Dieser prometheisdie Versuch ist durch Mißverständnisse i m literarhistorischen Lager nachhaltig i n Frage gestellt worden. Nach der hier vorgeschlagenen K l ä r u n g des Sachverhalts dürfte einer erneuten Beschäftigung m i t den ursprünglichen Problemen nun nichts mehr i m Wege stehen.

Charles V. Aubrun

an Kurt und Roswitha

Reichenberger:

Brief vom 13. Juni 1982 41320 Mennetou-sur-Cher. Le 13 Juin 1982 Chers amis, J'ai beaucoup apprécié votre étude sur »Les Chats«. I l apparaît bien, après elle, que le sonnet est consacré aux aspects les plus concrets de l'existence poétique. E t Baudelaire les trouve dans les vertus, les attitudes, les »affects« des chats, des sphynx, des amoureux, des savants et, implicitement, dans tous ceux qui sont farouches, singuliers, solitaires rêveurs et marginaux. I l exprime son sentiment dans une série parallèle de métaphores brisées, comme dans la fable mediévale avec ses invraisemblances, ses réductions et ses grossissements arbitraires, de sorte qu'au total, tout y est à la dimension des hommes »poétiques« (non de l'écrivain-poète exclusivement). Le réel subit les distorsions les plus violentes ; car les images, (les reflets) »virtuelles« d ' u n objet dans un m i r o i r déformant sont beaucoup plus révélatrices de son essence que les sensations que, d'un commun accord, nous y prélevons pour les besoins de notre vie quotidienne. E t Baudelaire préfère saisir les »esprits poétiques« dans leurs images mouvantes et sans cesse brisées, p l u t ô t que de les emprisonner dans une allégorie, une métaphore filée, rigoureusement parallèle, avec un seul sens et une forme sans ambiguïté. 11*

164

Kurt Reichenberger

Riffaterre a été mon collègue à Columbia University en 1962 et 1970 (si je me souviens bien des dates). Je connais son mode d'interprétation littéraire : i l est fondé sur une analyse philologique rigoureuse des »auras« sémantiques de chaque mot, complétée par une analyse des formes une par une (allitérations, rimes et autres tours du métier) ; et i l complète le tout pour en faire un ensemble, en référant le poème au répertoire de la rhétorique. Dans le cas présent, »Les Chats« en tant que sonnet, aurait été élaboré pense-t-il à p a r t i r d'un mot-clé »solitude de chat«, soleil de cet univers, comme si le poète était p a r t i d u titre, au lieu de p a r t i r de l ' i n c i p i t (cf. Valéry). O r à mon avis, le titre résulte du poème tout comme le tableau reçoit du peintre son titre au bas du cadre hors de la peinture, dont i l ne fait pas partie. Riffaterre tient le sonnet pour une présentation, des chats dans leur solitude spiritualisée, allégorisée. E t le poème serait le résultat de la transposition consciente singulière, personnelle, unique dans sa forme et dans son contenu. O r est-il bien sûr que le poème, considéré en soi, hors de l'auteur, hors du lecteur ne déborde pas de l'intention et de la science du poète, ou de la lecture particulière de chaque lecteur ? Baudelaire a trouvé ce q u ' i l ne cherchait pas dans un domaine ou i l savait q u ' i l y avait quelque chose à trouver. L a rhétorique n'est à la vérité qu'une compilation a posteriori des effets du langage, effets que ne cesse d'inventer, Yinventio , que ne cesse de combiner la dispositio,

que ne cesse de moduler Yelocutio

(je donne à ce terme un autre sens que vous, semble-t-il) : Modalités ou modulations d u »canere« lyrique, le plus rarement accompagnées de musique, le plus souvent concrétisées oralement par la déclamation : prière, élégie, apothéose, dithyrambe, méditation introspective (depuis Pétrarque) ou admiration contemplative, à la façon de l ' A n t i q u i t é . O r vous avez bien démontré que les analogies (ni similitudes, n i homologies, n i parallélismes) entre les chats et les »esprits poétiques« rendent compte, non de l'être des chats, mais de l'être des poètes, quelle qu'ait été la distance prise par »l'écrivant« ( i l n ' y a pas un »je« dans tout le sonnet) par rapport à ces esprits jamais nommés dans le texte. Précisément cette distance est si grande qu'elle permet aux lecteurs de s'y interposer et de se reconnaître tantôt dans une image tantôt dans une autre. Car chaque lecteur va tracer entre le dédale des mots l'itinéraire qui l u i convient, qui réponde à ses besoins spirituels et q u i offre une issue à sa confusion, à la saisie imparfaite q u ' i l prenait de lui-même, avant sa lecture. Bref, le poème demeure en soi et à tout jamais un agencement singulier de formes verbales, le fruit d'une exploration, une nouvelle conquête du »génie de la langue«, mis à la disposition d'une communauté d'esprits poétiques« non situés n i dans le temps n i dans un milieu social déterminé sociologiquement, mais dont fait partie

Macht und O h n m a t der Poeten

165

humblement le »poète porte-piume«, le poète »inspiré«, hanté et passif, mettant simplement ses outils, son métier, au service de sa »Muse«. Je ne me souviens plus du tout des articles de Lévi-Strauss et de Jakobson (Si vous les avez, pourriez-vous m'en envoyer une photocopie ?) Même si les conclusions convergent, mon approche d u poème est tout à fait différente. Si l ' o n m ' i n v i t a i t à me déclarer, je commencerais par effacer le titre, le nom de l'auteur et sa personne ( U n tableau de Raphaël perd son p r i x , mais rien de sa valeur si l ' o n efface la signature — qui n'est pas de la peinture, mais de l'écriture — ou si le peintre a oublié de signer et même si on suspend le tableau le bas en haut), je considérerais sa grammaire singulière : son agencement à jamais unique de mots. Je note d'abord une extraordinaire fidélité au pluriel tout le long du poème. C'est le signe d'une vaste confrérie, »la maison«, d'où le »moi« est banni, mais qui est vue objectivement : »ils« et non pas »nous« (ou vous inclus). D'autre part, dans le texte, i l n ' y a pas d'actants (agissant et molestant les autres): une seule exception : l'Erèbe, l'enfer, le M a l , i l échoue. I l n ' y a pas de sujets (au sens propre de »assujettis à l'action«. Ils sont indociles, fiers, indépendants, refusent le servage ; i l n ' y a pas non plus d'objets, altérables par l'action : ils sont »nous« sommes des sphynx de pierre, éternels comme eux ; i l n'a pas d'action, de verbes transitifs. Seuls demeurent les prédicats esse et stare ( A = B) et »se tenir allongé«, immobile, dormir, rêver, chercher on ne sait quoi, et je note aussi bien l'abondance des adjectifs, et même des adjectifs substantivés : amoureux, savants, féconds, mystiques. Ainsi, le substantif est rare, l'aspect l'emporte sur la substance ; la puissance et l'impuissance dépassées sont comme sublimés par le potentiel, la fécondité réalisable non encore réalisée. Les chats eux-mêmes, finalement ne sont que reins et prunelles, réduits donc à leurs éléments essentiels, »virtuels« à leur »virtus«. Les circonstances (compléments circonstanciels) sont déstabilisées, comme le temps et le lieu dans le rêve, à tel p o i n t précises qu'elles ne sont n i fixés dans un lieu n i fixés dans la chronologie. (Comme »il y avait une fois, c'était N o ë l , sans presser l'année«). De là, l'abondance du présent éternel, l'absence de passés et de futurs et le vague »précis« de la solitude, des ténèbres. Le module rythmique est d'abord le cercle (abba) puis la chute (aab, cbc : le sonnet se termine en pointe, comme toute entreprise impossible). L a polyvalence du poème est attestée par huit groupes de lectures ou interpretations au moins. 1. Une lecture conceptuelle, tracée comme un itinéraire dans le réseau des mots, de concept (au singulier) en concept : solitude, silence, horreur,

166

Kurt Reienberger fierté. C'est la lecture de Riffaterre (spiritualisation), qui minimise le poids des pluriels concrets, où i l ne veut v o i r que des supports !

2. Une lecture structuraliste, où l'accent est mis, aux dépens des autres rapports, sur les contrastes : fervent-frileux, savant-voluptueux, douxpuissant, et autres oxymorons. Par delà se profile toute une mythologie. 3. Une lecture psycho-littéraire. Le sonnet est tenu pour un apport à la connaissance de Baudelaire ; ses choix entre les thèmes et même entre les formes aident à mieux définir, par delà l'écrivain, la personnalité de l'homme et ses angoisses. 4. Une lecture socio-littéraire. Le poème affirme ses droits et ses raisons d'être, que l u i refusent les béotiens du Second Empire. Les artistes, les poètes et tous les marginaux ; les amoureux et les savants refusent tout engagement. 5. Une lecture rhétorique : Mots-clés, ressorts des genres oxymorons, etc. 6. L a lecture traditionnelle historico-littéraire. L a réaction contre le romantisme. Baudelaire entre le Parnasse et le réalisme, le symbolisme et l ' i m pressionisme. Baudelaire et l'esprit d u temps : T h . Gautier, G. Moreau, la découverte de Goya, le chevalet du peintre posé dans les bois, près des chaumières, dans les bas-quartiers et les bouges, la couleur locale (nouvelle découverte de l'art) transcendée par la saison, la nuit, les bacchanales, le carnaval, tout ce qui, ponctuel est pourtant éternel. 7. Une lecture philosophique. Centre le panthéisme de H u g o , l'animisme manichéen coloré de christianisme (la tragédie du Christ, bien p l u t ô t que les bontés d u Messie). Le sensualisme de Condillac et l'idéologie selon Destutt de Tracy. L'éthique (Bien-Mal) et le moralisme (vices, vertus selon la nation, le climat, l'héritage, l'évolution des moeurs), le dandysme. 8. Lecture psychanalytique : Les mythes : Furies, satyres, faunes, nymphes, Psyché (absence de narcissisme), le labyrinthe, Thésée, la descente aux Enfers, Orphée, Eurydice, Eros et Antéros. Et encore ici, je ne tiens pas compte des »réceptions« : les juges qui condamnèrent le recueil, les censeurs-critiques, les illustrateurs des Fleurs du M al y G. Moreau (thèse de Leakey), Rimbaud, les décadents, les universitaires depuis 1940, le public contemporain, les Belges, les Anglais, les A l l e mands, les Italiens et les Russes. L a somme de toutes ces interprétations n'épuise pas le potentiel des Fleurs et ne se confond pas avec lui, la poéticité (la vertu lyrique) n'est pas une somme.

Macht und Ohnmacht der Poeten

167

O ù est donc cette poéticité ? Peut-on la mesurer ? Oui, mais i l faut d'abord dégager le poème-objet de l'écrivain, de son métier, d u milieu d u temps (et pour l'en dégager, i l faut connaître à fond ces divers facteurs). I c i je suis amené à poser un postulat : L a grammaire ou l'agencement des mots dans le discours poétique (ici, le sonnet »Les Chats«) résulte d'une saisie de certaine situation d'»hommes en communion de sentiments« (ici, les »esprits poétiques«), mais plus encore cette mise en ordre suscite ou suggère, une remise en place des lecteurs dans leur monde, une redéfinition de leurs rapports en tant que sujets, objets, actants, ou non). U n réseau parallèle à celui des mots se dessine dans leur esprit, ils s'y tiennent et s'y meuvent plus à l'aise, avec eux-mêmes, autrui, la communauté : ou tout au moins éclairés sur leur sort, leur destin. Ils saisissent mieux leurs liens, avec leur personne je avec tu, avec elle, avec lui, avec vous, tous etc. avec D i e u (le Bien — le M a l ) . Ils assimilent — souvent trop vite les circonstances ou les prédicats d u poème avec les leurs (mutatis mutandis). Car le poèmeobjet s'ouvre à chaque lecteur et l'ayant enclos en lui, irradie avec lui. Ce qui est v r a i pour »Les Chats« ne l'est pas de la même manière pour »Les H i b o u x « , le Chat I , le Chat I I etc. Sinon, comme dirait Borges, tous les poèmes seraient faits des mêmes mots dans le même ordre, la même grammaire. Car notre situation, d'abord confuse, puis éclairée par les poèmes, est sans cesse mouvante. Le potentiel d u poème est donc inscrit dans le labyrinthe verbal où sans son aide nous égarerions à coup sûr, nous bredouillerions. L'agencement des mots ne coincide pas, entièrement du moins, avec l'intention du poète, si celui-ci se laisse guider par le génie de la langue. L'affectus des lecteurs ne coincide pas non plus avec la conscience qu'ils prennent de cet affectus. E n d'autres termes, ce que j ' a i v o u l u dire des Chats dans les longues pages ennuyeuses qui précèdent ne coincide pas avec ce qu'elles disent. Car, en dépit de moi-même, ce que disent ces considérations demeurent décidément vague et clairement, évidemment confus. N e voyez pas dans se dernier paragraphe une pirouette. Si vous êtes généreux (et vous l'êtes), vous y lirez un aveu de Ohnmacht après tant d'assertions apodictiques, qui simulent m a l une Macht très hypothétique. Très cordialement à tous deux, avec mes excuses. C. V . A .

Kurt Reienberger

168 Charles V . Auhrun

an Kurt und Roswitha

Reich enberger:

Brief vom 16. August 1982 41320, Mennetou. Le 16 août 1982 (C'était hier précisément la fête des chats : la M i - a o û t (miaou). Chers amis, Merci pour votre photocopie de l'article de Riffaterre. I l est assez précis pour me remettre en mémoire les thèses de Jakobson et de Lévi-Strauss. I l m'a obligé de mettre un peu d'ordre dans mes idées. Donc je reviens sur les commentaires du sonnet, que je vous ai envoyés i l y a quelque temps. J'ai même dû préciser pour mon propre usage certaines définitions, certaines prémisses impliquées dans mon approche de l'objet littéraire (et de ce poème en particulier). Je vous livre ces nouvelles réflexions. Si vous les jugez dignes d'intérêt, parlez-en à M . Berchem. Je consens bien volontiers à ce que vous les publiez avec votre propre étude. A vous d'en juger. Car votre analyse m'a mis sur la piste. E n voici quelque points : p. 3, ligne 8 : Metaphorisch . . . ; la tonalité pétrarquiste (introspection), l ' i m p o r tance d u Umwelt où doivent s'insérer les amoureux, les savants, les chats et les œuvres d'art (comme les sphynx) et ce que vous appelez nonsens poésie et que je nomme invention et exploration grammaticale. Je ne veux tenir aucun compte d u sadisme de Baudelaire, n i de ses intentions n i de la zoophylie de 1847 (il y a des détails amusants dans les commentaires de Blin, 1942). Je ne vois pas, non plus que vous, l'ironie de l'incise : L'Erèbe . . . A u contraire, la distanciation de »ils« au lieu d ' u n »nous«, qui serait ou sérieux ou orgueilleux, l ' h u m i l i t é des poètes et des amoureux devers les animaux ou leurs images sculptées en plus grand, expliquent ce léger persiflage, q u i ne v a pas sans une revendication de »ils«, leur droit au refus du servage (ou plus exactement le droit à la négation de l'action au service de . . . ) ce qui suggère la fierté de l'indépendance (plus exactement sur le plan grammatical, le seul qui m'interesse, 1° la négation i m pliquée dans le v. 8), 2° le recours à deux concepts — ou mots abstraits au singulier — , servage, fierté, dérivés l ' u n et l'autre d'adjectifs et donc servent à qualifier »ils« (amoureux, chats et poètes confondus). N i ironie, si sadisme, n i masochisme. Vous trouverez ci-joint la photocopie du court compte-rendu que je vais envoyer au Bulletin Hispanique. J'ignore quand i l le publiera. N e manquez pas de m'envoyer »Le Golem interprété« quand i l sortira ainsi que Cada uno para si.

Macht und Ohnmacht der Poeten

169

Je suppose que vous êtes maintenant de retour à Kassel. J'espère que la canicule espagnole n'a pas été trop éprouvante. J'ai une dilection particulière pour Barcelone. M a d r i d ne me semble pas justifié dans son paysage et encore moins sociologiquement. Bon courage pour cette rentrée »universitaire et bibliothécaire« (Mes bons souvenirs au D r . Berchem quand vous le verrez). Bien amicalement à tous-deux.

, ι T 4 Charles V . A u b r u n

P. S. Vous trouverez égalemant sous ce p l i un exemplaire de la dernière édition de ma Littérature espagnole . Elle suscitera j'en suis sûr beaucoup de réactions. J'attends les vôtres. Les prémisses que je rejette : 1. L a structure d ' u n ouvrage littéraire relèverait uniquement de la structure de la langue selon Jakobson et Lévi-Strauss. (Riffaterre cite làcontre des pluriels : ténèbres, reins) ; je pourrais citer des subjonctifs, qui relèvent ou de la logique (logos) ou de la langue totale (même si j'étais, quoique je sois ; règles parfois oubliés dans le langage parlé). D e nombreux faits grammaticaux n'ont pas de signification poétique, même dans un poème. 2. I l existe, à m o n sens, une structure spécifique de la poésie épique (ou du roman) une autre propre à la poesie lyrique, une autre propre à la poésie dramatique. E t ces structures admettent divers niveaux. Par exemple, pour la poésie lyrique : le discours didactique, la satire, l'élégie . . . le panégyrique, la prière ; ou la combinaison de deux ou p l u sieurs de ces tonalités. Par exemple, la poésie lyrique fait une place prépondérante aux verbes d'affection et de sensibilité (aimer, voir, contempler) et aux verbes réfléchis. Car la contemplation et l ' i n t r o spection sont les deux ressorts de genre. Les écarts par rapport à la grammaire normative ne sont signifiants que s'ils ne sont pas délibérés, calculés. Seuls doivent compter les vrais lapsus (inventions incontrôlées, donc inspirées). 3. Le sens littéral est enraciné dans le milieu et le temps, ou bien dans la psyché de l'écrivain. C'est bien utile pour connaître ces contingences et comme témoignages. Mais le sens littéral n'est qu'une armature faite de matériaux d'occasion, traditionnels ou contemporains, de lieux communs et de clichés ; i l enferme le poème dans son temps et dans un certain milieu. A u contraire les sens dérivés donnent au poème une aura, l'ouvrent sur d'autres horizons parfois recherchés par l'auteur, parfois imposés par les lecteurs : mais parfois aussi terrae incognitae que le poème explore. Aussi le sens moral, le sens social, le sens allégorique, le sens psychologique, le sens anagogique (métaphysique ou spirituel).

170

Kurt Reichenberger

4. Mais devons nous pratiquer l'herméneutique ? L'analyse sémantique maltraite le poème, modifie la séquence des mots, commente, prosifie. 5. Riffaterre tient le poème pour un message communiqué ; la poésie pour un acte de communication, comme toutes les espèces de langage. D e fait, si le poète veut en faire un message, i l l'organise dès lors pour atteindre une certaine catégorie de lecteurs, ou simplement un public réduit à un ami, ou sa bien-aimée etc. E n ce cas, i l recourt à un métier, à une rhétorique ; et le meilleur des poèmes en ce cas serait celui qui communique le plus de choses, qui satisfait le mieux le besoin occasionnel d u lecteur, de la lectrice, du public. A mon sens, c'est le public q u i fait du poème un message. Q u a n d un écrivain se fait le porte-parole de sa plus ou moins étroite communauté (gens avec lesquelles i l communie) ; l'inspiration (la Muse) peut l'abandonner : I l ferait aussi bien de rédiger son message en prose didactique. 6. A mon sens, le poème est le résultat permanent et inaltérable d'une exploration dans les possibilités du langage, d'une invention au sens propre du terme (la trouvaille, el tropare des troubadours, in-venio, tomber sur). Cette invention existe hors de l'inventeur, hors d ' u n poète qui ne fut que le medium dans l'opération. E n aucun cas, le poème n'est l'expression totale du poète et ne répond totalement à ses intentions. Le poème d i t une chose ; le poète a v o u l u dire autre chose qui ne coincide pas tout à fait avec elle. E t la preuve, c'est que si l ' o n consulte l'auteur, i l donne chaque fois — en prose — des explications et des commentaires différents ; comme le ferait un lecteur (bien que le poète soit mieux informé que quiconque sur les sens possible de son ouvrage). 7. Riffaterre recourt à un archilecteur : toutes les réactions devant le poème sont superposés, ce que chacune peut avoir de subjectif s'efface, quand on en fait le total, à travers parfois des siècles et jusqu'aux étudiants présents sur les bancs de la Columbia University. Selon R. les »variants«, superposés, découvrent l'invariant, en filigrane, c'est à dire le texte-objet débarrassé de tout ce qui est ou fut contingent. C'est une méthode qui fait bon marché des lectures à venir et qui privilégie une catégorie limitée : les amateurs de belles-lettres, p a r m i lesquels on rassemble l'espèce encore plus rare des »affinités électives«, cette espèce changeant avec chaque poète. I l me parait difficile de justifier, en procédant de la sorte, u n authentique jugement de valeurs. C'est la singularité et la cohérence verbale qui fait la qualité intrinsèque d'un poème, non ses échos, même multiples, toujours extrinsèques. 8. Cette déviation est due à une autre prémisse très discutable de R . : L a beauté du discours poétique est attestée par ses effets sur le public (ci-

Macht und Ohnmacht der Poeten

171

dessus défini et délimité). Sa valeur serait essentiellement »esthétique«, au sens propre du terme, se confondrait avec sa puissance émotive, son action sur la sensibilité (esthesis) de l'archilecteur. Je n'en crois rien, je ne tiens pas le texte de la Marseillaise, du Ave Maria , du God save the Queen, le l'Internationale, ou d u Horst Wessel Lied pour des chefs d'œuvre poétiques bien qu'ils aient remué ou continuent à remuer les types de communautés immenses, nationales, religieuses, ou politisées. Songez à l'absurdité totale de : L'internationale fera le genre humain (???). V o i c i mes définitions de base : Le poème se fait de lui-même, à partir de son premier vers (Valéry l'a déjà dit). C'est la Muse (le genie de la langue) qui l'élabore avec l'aide d'un homme de métier, le poète, qui est une sorte de greffier ou de medium chargé surtout de faciliter sa communication à u n certain public, dans une certaine conjoncture historico-littéraire. I l y a trois muses (ou inspirations), requérant chacune un métier différent : la muse lyrique, la muse épique et la muse dramatique. Chacune fait son choix et élabore ses combinaisons dans le vaste répertoire, mais très spécifique, de la grammaire de la langue. I l y a donc une grammaire propre à chaque poème, entendons par là, une manière unique de réaliser verbalement les paradigmes du vocabulaire (par exemple : nuit, ombre, obscurité, crépuscule, ténèbres, mots entre lequels i l l u i faut choisir), les paradigmes de syntaxe (je, tu, il, on, elle, nous, vous, ils, on) et les temps verbaux, et encore le paradigme choses, personnes, concepts, etc, etc). Ces choix éliminatoires donnent sa consistance au discours. I l faut éliminer le titre et la signature, qui n'appartiennent pas au discours poétique et se proposent seulement d'orienter (ou de désorienter) le lecteur. L'ensemble est compact et non vertical. C'est le cas aussi bien d u langage pictural. L a Joconde, doit être regardé à plat, le nom de Leonard de V i n c i étant éliminé avec le titre ; car ils sont inscrits dans le cadre, ne jouent pas avec les formes et des couleurs de la toile, de la peinture. M i e u x encore, le poème est comme une carte géographique avec sa légende : bleu pour l'eau, les rivières, la mer, brun pour les altitudes, vert pour la plaine (Passons le doigt sur la partie bleue : ça ne mouille pas). Une carte n'est pas un paysage ; mais le promeneur y trace par l'imagination un itinéraire qui correspond à ses forces et à ses goûts et q u ' i l réalise dans son excursion. I l en est de même dans le langage (ou discours) pictural. Margitte peint une pipe en trompe l ' œ i l ; mais i l prévient l'éventuel fumeur : »Ceci n'est pas une pipe.« Je m'interdis aussi bien, dans mon étude de cette grammaire spécifique, de me référer à la manière poétique de Baudelaire, à certains exemples tirés

172

Kurt Reichenberger

d'autres poèmes des Fleurs, de recourir aux goûts ou procèdes du Parnasse, aux clichés du R o m a n t i s m e . . . Car des segments du discours en apparences identiques, s'ils appartiennent à d'autres ensembles, à d'autres poèmes, n'ont pas les mêmes fonctions, ne jouent pas de la même façon avec les segments voisins : ils ne sont donc nullement identiques. A plus forte raison, je ne confonds pas la signifiance, — un potentiel, une virtualité — avec la signification, acte délibéré d u poète visant son lecteur. Et je ne procède pas non plus à une analyse sémantique : elle consisterait à détruire la mosaïque, en faire un tas de petits cubes, et retracer l'histoire de chacun d'eux, d'en mesurer le poids et la nature : U n poème est irréfragable et non réductible à ses sources. L a qualité est donc, à mon avis, dans l'invention, l'exploration hors du domaine connu : sa nouveauté, son unicité, son originalité sont inhérentes et spontanées, (or les stylisticiens ne veulent retenir que les écarts ostentoires délibérés, les contraventions à la »norme«). M o n hypothèse de base peut se formuler ainsi. Le réseau des interrelations au sein de l'ensemble, au sein du poème, est axé sur les rapports entre un ou plusieurs actants (qui peuvent être actifs ou bien sujets assujettis à l'action) avec eux-mêmes, avec d'autres sujets ou objets, avec les concepts, et avec les entités métaphysiques. Le paradigme central est donc celui des pronoms dits personnels : je, tu, il, elle. Les autres paradigmes mis en jeu sont les articles, (singulier, pluriel, définis, indéfinis), les verbes (temps, modes, réfléchis, pronominaux, affectifs, d'action sur un objet (transitif accusatif ou datif, intransitif, impersonnels), les paradigmes des démonstratifs et des possessifs (qualifiant le sujet ou l'objet) liés aux pronoms personnels (mon, ton, son, celui-ci, celui-là) de même que les propositions relatives, et le paradigme des divers subordinations. L'ensemble est inchoatif, c'est-à-dire, propose au lecteur de s'assimiler (en tant que »on, ils, je etc.«) à l'actant de la phrase et à prendre ou imiter ses attitudes devers soi et le monde ; mais à son gré (pour guidée que soit celle-ci par le texte). Ainsi la carte topographique permet toutes sortes d'excursion. Le sonnet de Baudelaire. Remarque préliminaire. Le texte selon R. et Crépet/Blin 1942 d i t coursiers mystiques. Baudelaire laisse imprimer des ou ses coursiers. E t vous l'illustrez avec un emblème où Rome, non pas l'Erèbe, monte un char où sont attelés deux lions. O r j ' a i d'abord travaillé sur une édition de Florenne, L i v r e de poche, 1972, qui donne: ses courriers funèbres.

Macht und Ohnmacht der Poeten

173

J'ai compris par »courriers« >messagers< : le sens logique est satisfaisant : ce sont les messagers funèbres du royaume du Chaos, les messagers de la M o r t . Les dégâts sont pratiquement limités, par cette coquille ou lapsus car >courriers< ou >coursiers< joue seulement dans l'incise : (vers 7 et 8) la seconde moitié du deuxième quatrain. Mais j'observe que la définition que l ' o n donne du poème en tant que structure ne sort pas tout à fait indemne de l'épreuve : Est ce-là ce système tel que le changement de l ' u n de ses éléments affecte tous les autres ? O r , qu'adviendrait-il si je remplaçais >courriers< ou »coursiers« par fourriers ? J'aurais une allitération : fourriers funèbres (fourriers ayant le même sens que messagers) ; et cette allitération, toujours en dépit des tenants de la structure, n'aurait aucune signification perceptible. Méfions-nous des méthodes ; elles passent toujours à côté d'un fait ou d'un autre. Méfions-nous des systèmes ; un petit incident et ils craquent. Je me bornerai ici à enregistrer l'incontable. Le pronom personnel »ils«, qui représentent les amoureux, les savants, les chats et les sphynx commande tout le discours (sauf lorsque l'Erèbe intervient et essuie d'ailleurs u n échec). Ces quatre »sujets non assujettis« n'en font qu'un : le premier quatrain le d i t explicitement : »également«, »comme eux«. Ce »ils« s'impose contre toute logique au vers 8, car la logique exigerait »il« au singulier, remplaçant l'Erèbe. A u vers 11, »ils« désigné tout autant les grands sphynx »allonges«, et rêveurs, que les petits chats, les savants sédentaires et les amoureux fervants. »Amis de la science et de la volupté« convient à la fois aux chats, ainsi caractérisés, aux amoureux et aux savants (poètes sensibles et d'un metier complexe). L a fierté et le refus du servage, la fécondité, et la lucidité sont communs aux chats, aux amoureux et aux savants. Ils habitent la même demeure, qui est à la fois un désert i n f i n i et une maison dont ils devraient faire l'orgueil. Ce »ils« cache un »nous« implicite, celui des lecteurs, »esprits poétiques« et même un »moi«, celui du poète. »Iis« erre dans le ciel, tout comme les étoiles, et comme elles, étincelant et en nombre infini. Les substantifs sont rares : amoureux, fervents, savants, austères sont quatre adjectifs. Les concepts ont encore moins de substance : abstraits, ils sont dérivés d'adjectifs (silence, horreur, solitudes, science, volupté, fierté, servage). Ce »ils« quadruple honorent la société et l'enrichissent tant par leur fécondité (cachée et potentielle) que par la beauté qu'ils cultivent, qu'ils incarnent ou qu'ils manifestent. Les verbes, au présent éternel, relèvent de prédicats, à base d'adjectifs et non p o i n t d'équivalences substantives, et de sentences apodictiques, propres

174

Kurt Reichenberger

à l a constatation des évidences. I l n ' y a p o i n t de verbes transitifs, car leurs objets ne sont jamais altérés, sauf pàr u n simple éclairage (étoiler). T e l est le poème dans sa grammaire singulière, unique ou, du moins, insolite, dans la complexité infinie des interrelations entre les mots. L à réside sa vertu, à jamais sensible, là réside sa qualité. Ce n'est pas — comme prétend Riffaterre — une machine à produire des effets, et inventé ad hoc. Si le lecteur, s'assimilant à »ils«, veut bien se laisser entraîner par la rime, le rythme et autres habiletés d u metier, et aussi par le bonheur (inspiré) de la langue, i l en tirera certes des effets ; sa sensibilité en sera affectée. Plus encore, i l pourrait même trouver dans le sonnet une incitation à prendre dans le monde l'attitude attribuée aux chats et aux sphynx, p o u r v u q u ' i l ait été un jour un amoureux fervent ou u n savant (par exemple un poète) exigeant, austère. Bref, s'il cherche à sortir de son labyrinthe mental, s'il veut en f i n i r avec son chaos digne de l'Erèbe, i l suffit q u ' i l se laisse guider par le poème, tout en suivant sa propre voie. A i n s i le promeneur choisit son propre itinéraire sur une carte bien faite, où tous les détours et les errements sont possibles et légitimes.

H U G O BALL'S EXPRESSIONIST T H E A T R E

V o n Philip

Mann 1910 - 1914 war alles für midi Theater: das Leben, die Menschen, die Liebe, die Moral 1 .

N o study of the Expressionist Theatre can afford to ignore H u g o Ball, the » I n i t i a t o r eines konsequenten expressionistischen Theaters« 2 , and yet there is no w o r k of any great length dealing w i t h Ball's involvement i n the theatre 3 . O f the biographies devoted to Ball, o n l y E m m y Ball-Hennings's Hugo Balls Weg zu Gott provides the reader w i t h any concrete information on Ball's theatrical career, and even this information is very patchy 4 . Steinke's attempt to describe Ball's spiritual decline and increasing submission to w h a t he calls the »Zeitgeist« deals o n l y very superficially w i t h Ball's years as a Dramaturg 5 , whereas Stein does not deal w i t h the 1

Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, München und Leipzig, 1927, p. 7. Paul Pörtner, »Expressionismus und Theater« in Wolfgang Rothe (ed.), Expressionismus als Literatur, Bern und München, 1969, pp. 194 - 211 (p. 210). 3 When this essay was written in 1979, the only work dealing exclusively with this topic was a one-page newspaper article by Paul Pörtner: >Hugo Balls »Theater der neuen Kunst« SoSooSonntagsfeier< errege Anstoß als Kirchenkonkurrenz.« Ball, however, found i t hard to believe that a Sunday matinée w o u l d cause the congregation to desert the Church: »Als ließe sich, wer i n die Kirche gehen w i l l , davon abhalten!« I t may w e l l be, however, that this comment was meant ironically and that Ball, still very much under the influence of Nietzsche's philosophy, f u l l y expected a wide-scale desertion of the decadent Church for the v i t a l i t y of the theatre. A n examination of the abovementioned »Brandartikel« could w e l l prove this theory: the f o l l o w i n g quotation f r o m 1914 seems to support i t : »Das Theater allein ist imstande, die neue Gesellschaft zu formen. M a n muß nur die Hintergründe, die Farben, Worte u n d Töne so aus dem Unterbewußten lebendig machen, daß sie den A l l t a g mitsamt seinem Elend verschlingen« 20 . Furthermore, the fact that B a l l gave his article the prefix »Brand« suggests that he was w e l l aware of its inflamatory message and that he actively wanted his theatre 16

Ibid., p. 12. I have written for information about Ball's Plauen period to the following places, but without success: Stadttheater-Archiv, Plauen; Sachsendruck, Plauen; Stadtbibliothek, Plauen. The Rat der Stadt Plauen has informed me that it was unable to find any details of Ball's career in Plauen. 18 Neuer Theater Almanack , 23 (1912), Berlin, 1912, p. 585. 19 Ball, letter to Hildebrand-Ball, 5 November 1911, Briefe , pp. 17 - 18. 20 Ball, Flucht, p. 13. 17

Hugo Ball's Expressionist Theatre

179

t o provoke strong reactions. T w o years later, B a l l was to make this connexion between art and »Brand« yet again: »Der Künstler muß die Idee haben, die W e l t zu erlösen durch Rausch und Brand, oder er ist sinnlos« 21 . The letter provides some further information on the Sunday matinées. B a l l writes that he has just given a speech on Hans Sachs (whose anniversary was on 5 November) at just such a Sonntagsfeier: »Habe dem alten H e r r n , dem Hans Sachs, eine extrafeine Sonntagsrede gehalten, m i t ganzer Lust u n d Energie, wie's einem solchen Helden u n d Ahnherrn i m Dichten u n d Fabulieren zukommt.« A l t h o u g h Ball is not listed as an actor i n the Neuer Theater Almanack, he does seem to have done some acting while i n Plauen. A t first he was only given minor roles, but i n the letter of November 1911 he writes that he is n o w being entrusted w i t h more major parts. H i s next role, he writes, is to be that of the Baron i n Gorki's Nachtasyl (The Lower Depths), which one could perhaps describe as a major supporting role. B a l l was, however, more concerned w i t h the theoretical side of the theatre. H e writes that he often prepares lectures, presumably those which accompanied the Sonntagsfeiern, during rehearsals and that his reviews of the most recent plays are printed on the back of the theatre handbills. B a l l found the preparation of these lectures and w r i t i n g of reviews easy and enjoyable w o r k . The season 1911 - 1 2 i n Plauen ran f r o m 16 September 1911 t o 30 A p r i l 1912. B a l l then left Plauen and, b y 12 September 1912, he was to be found i n Munich, ready t o take up the post of D r a m a t u r g at the former »Lustspielhaus« which, at Ball's suggestion, had been renamed the »Kammerspiele« 22 . The Neuer Theater Almanack for 1913 confirms that B a l l was D r a m a t u r g at the »Kammerspiele« for the season 1912 - 13, and the official appointment seems t o have taken effect from 1 October 1912 for, on that day, B a l l wrote to the painter W i l l y Deutschmann: >Seit heute definitiv u n d allein Dramaturg< 2 3 . As Dramaturg, i t was Ball's job to select and evaluate plays for the stage, as w e l l as help w i t h their production and, as Petzet writes, the D r a m a t u r g Ball, w h o had at last found a favourable intellectual climate i n which t o develop his ideas, consciously tried to cultivate links between contemporary ideas and the theatre 2 4 . 21

Ball, »Aphorismen«, Jugend , 18 (1913), p. 363. » >Kammerspiele< ist mein Vorschlag gewesen« : Ball, letter to Willy Deutsdimann, 12 September [1912], Briefe, p. 19. 23 Ball, letter to Deutschmann, 1 October 1912, Briefe, p. 19. 24 Petzet, Theater, pp. 60-61. 22

1*

180

Philip Mann

B a l l was to come i n t o contact w i t h many literary and artistic figures during his stay i n Munich, but one man was to exercise a greater influence than any other: the Russian painter, aesthetician and writer Vassily Kandinsky. A p a r t f r o m the influence o f Kandinsky's ideas, B a l l was impressed b y the latter's personality: München beherbergte damals einen Künstler, der dieser Stadt vor allen andern deutschen Städten durch seine pure Anwesenheit einen Vorrang der Modernität verlieh: Wassilij Kandinsky25. Kandinsky ist der heute genialste Russe. Der umstürzlerischste. In der Idee. Noch weiß man es erst unter den >SpitzenNeuen Verein< (in der Revolution Nummer 2) wurde verlesen. Auch die Notiz von dem Bühnenvertrieb unter meiner Leitung wurde verlesen. Man griff die Liierung zwischen Bachmair und Kammerspielen an, blitzte aber sowohl an Badimair wie an Bing ab, der auf unserer Seite steht. Mein Name schwebt so zwischen den Wassern36. The »Neuer Verein« was, however, unable to prevent B a l l and Badimair from proceeding w i t h the first of their planned series of performances which, according t o an announcement i n the Munich press, w o u l d include plays b y Franz Blei, Paul Claudel, Richard Guttmann, Stanislaw Przybyszewski and Reinhard Johannes Sorge 37. B a l l travelled to Berlin, where he succeeded i n gaining Franz Blei's permission t o stage the première of his p l a y Die Welle. Moreover, Blei himself agreed to p l a y Spavento, the leading male role. Thus, on 10 November, B a l l could w r i t e to his sister: >Die A u f f ü h r u n g w i r d sein zwischen l . u n d 15. Dezember — so G o t t gebeProblem< nennt, weder vornehmen, noch lösen wollte, so habe ich, scheint m i r , alles gesagt, was dieser geringfügige A n l a ß verlangt. Wer m i r sagt, daß ich m i r nichts Besonderes dabei gedacht habe, der w i r d der Wahrheit am nächsten kommen« 4 1 . O n the other hand, Hans Leybold's contribution 39 The following report appeared in the Münchener Neueste Nachrichten , 5 December 1913: »Die Uraufführung des Schauspiels Die Welle von Franz Blei ist, wie wir erfahren, von der Münchner Zensurbehörde dem Verlag Heinrich Bachmair nunmehr s t r i c h l o s f r e i g e g e b e n worden (für geschlossene Vorstellung)« (p. 3). 40 Richard Seewald, Der Mann von gegenüber, München, 1963, p. 271. 41 Theatre programme, Münchner Kammerspiele: »Die Welle. Schauspiel in drei Akten von Franz Blei. Regie: Hugo Ball. Ausstattung: Richard Seewald«. 8 pp., München, 1913. With an introduction by Franz Blei, Die Welle.

184

Philip Mann

to the programme is f u l l of praise for Blei's w o r k and places Blei among the modern dramatists of his time. Furthermore, the audience also received the p l a y enthusiastically, applauding Blei both as actor and writer. Lastly, B a l l was praised i n the press for the impressive w a y i n which he brought Leontine Sagan's talents to the fore i n her role as the princess 42 . The prospect o f the Neue Kunst matinées gave B a l l the chance t o give f u l l expression to the new ideas on the theatre which were forming i n his mind. »Der Zweck dieser Veranstaltungen«, he wrote, . . . ist, mir Luft zu schaffen und Bewegungsfreiheit, daß ich arbeiten kann, wo ich meiner ganzen Seele nach hingehöre: am Theater und im allergrößten Stil. Ich war in Dresden und habe Theater gesehen. Ich habe neuerdings in Berlin wieder Theater gesehen. Ich lasse mir nicht mehr ein X für ein U vormachen. Heute weiß ich, wie niemals vorher, was ich will, und glaube mir: da braucht es nur Zeit 48 . Thus, when the continuation of Bachmair's series o f Neue Kunst performances failed o w i n g to financial difficulties, B a l l began to look elsewhere for a post that w o u l d satisfy his demands for freedom of movement and a l l o w h i m to put his various theatrical ideas i n t o practice. I n January 1914, he travelled to Dresden, where he hoped t o be appointed director of the Alberttheater. H e wrote t o the writer and publicist Michael Georg Conrad ( 1 8 4 6 - 1 9 2 7 ) : »Mein Bestreben ist, an exponierter Stelle nunmehr den Wirkungskreis als D r a m a t u r g Regisseur u n d D i r e k t o r zu finden den ich für die breitere Entfaltung meiner Resultate u n d Erfahrungen wünsche« 44 . B a l l also longed for success and for public recognition of his talents: »Ich habe solche Sehnsucht, ein großer Künstler zu werden!« 4 5 I t was perhaps for this reason that he placed a l l his hopes i n gaining this post: »Bete zu allen Göttern, daß m i r das glückt. Ich habe meine letzten Gelder drangehängt u n d weiß nicht was werden soll wenn es m i r fehlgeht« 4 6 . Unfortunately theater, and this zurückgeworfen. H e regarded his

for Ball, he was not appointed director of the A l b e r t rejection threw h i m i n t o despair: »Mich hat die Sache sehr U n d ich w a r v o r einigen 8 Tagen noch t o t a l verzweifelt« 4 7 . whole situation as almost hopeless: apart from the failure

42 Richard Elchinger, »Die Welle«, Münchener Neueste Nachrichten , 12 December 1913, p. 1. 43 Ball, letter to Hildebrand-Ball, 4 November 1913, Briefe , p. 23. 44 Ball, letter to Michael Georg Conrad, 12 January 1914, Hugo Ball Almanach, 3 (1979), 13 - 16 (p. 14). 45 Ball, letter to Hildebrand-Ball, 27 May 1914, Briefe , p. 31. 46 Ball, letter to Hildebrand-Ball, 11 January 1914, Briefe , p. 26. 47 Ball, letter to Hildebrand-Ball, 11 February 1914, Briefe , p. 26.

Hugo Ball's Expressionist Theatre

185

of Bachmair's plans, his o w n position at the »Kammerspiele«, which had already been adversely affected b y the »Neuer Verein« affair, was even more i n jeopardy n o w that he had applied for the post i n Dresden. O n his return t o Munich, B a l l was presented w i t h t w o opportunities for the further development of his ideas. One of these l a y i n the coming summer season: »Ich könnte die Sommerdirektion der Kammerspiele haben, wenn sich ein Pächter fände« 4 8 , while the other was closer at hand: »Draußen i m Ausstellungspark stand ein Theaterbau, der wie geschaffen für unsere Zwecke schien. Eine inzwischen gealterte Künstlergeneration hatte sich darin versucht. Was lag näher, als sich der Sympathie dieser älteren Generation zu versichern und die V e r w a l t u n g u m Überlassung der Räume für unsere neueren, jüngeren Zwecke zu bitten?« 4 9 The theatre i n question was the »Münchener Künstlertheater« a theatre that had been founded six years earlier, i n 1908, i n an attempt to reform the staging of plays: i n order t o emphasize the dramatic content of a play, the founders wanted t o simplify stage scenery b y reducing the number of props. As B a l l pointed out, Stanislavsky was already operating along similar lines i n the Moscow »Künstlertheater« 5 0 . Plans for such a theatre i n Munich, however, were soon to f a i l : ideas for a relief-stage and the use of related arts were soon abandoned. E a r l y i n 1914, the theatre found itself i n a crisis. I n February, however, an interest group was formed, whose concern was the continuation of the »Künstlertheater« along the lines set d o w n i n 1908. A declaration calling for a renovation of the theatre appeared i n the Münchener Neueste Nachrichten on 14 A p r i l 1914, signed b y Ball, Blei, M a x Halbe, Ricarda Huch, Alexey Javlensky, Bernhard Kellermann, A l f r e d K u b i n , Thomas M a n n , Erich Mendelsohn and Seewald, among others. They claimed t o have a programme ready for the summer season of that year, which w o u l d be a programme by Munich artists for the people of Munich, as befitted the name »Münchner Künstlertheater«. The »Künstlertheater's« directors planned to a l l o w the Düsseldorf »Schauspielhaus« to perform i n the theatre for the summer reason, and B a l l and the others regarded this as a betrayal of Munich artists: »Es handelt sich darum, ob das Münchener Künstlertheater i n diesem Sommer wieder den Münchener Künstlern gehören soll oder durch Verpachtung an ein auswärtiges Unternehmen weitergegeben w i r d « 5 1 . 48

Ibid., p. 26. Ball, Flucht, p. 13. 50 Ball, »Das Münchener Künstlertheater«, Phöbus, 1 (1914), No. 2 (May 1914), 68 - 74 (p. 70). 51 »Münchener Künstlertheater«, Münchener Neueste Nachrichten, 14 April 1914, l - 2 ( p . 1). 49

186

Philip Mann

The plan to take over the »Künstlertheater« failed, but B a l l continued to w o r k on plans for his o w n Expressionist theatre. H i s relationship w i t h the »Kammerspiele« and the »Neuer Verein« soon proved to be more favourable than he had feared, and he found himself faced w i t h the possibility of using both t o his o w n ends. Even at the end of February 1914, t w o weeks after he had w r i t t e n despairingly to his sister that he was considering abandoning everything and leaving the country 5 2 , he could w r i t e that the »Neuer Verein« had been i n contact w i t h him, proposing that he suggest plays for performance. A t the same time, he was developing plans to produce a women's theatre group together w i t h one Frau v. Willemoes: plans which were later completed but never realized 5 3 . Further evidence that B a l l had over-exaggerated the seriousness of his position came i n M a y , when the »Neuer Verein« approached h i m w i t h the offer of joining their artistic advisory committee. B a l l was naturally pleased at this show of confidence, and knew that o n l y through the »Verein« could he produce the closed performances which he had proposed for the coming season at the »Kammerspiele«. O n the other hand, he feared that this appointment might restrict his artistic freedom, and prevent the fulfillment of his plans, which were beginning to take concrete shape 54 . When the »Neuer Verein« approached Ball, he was already i n contact w i t h leading modern artists, negotiating plans for his o w n theatre: Was diese neue Idee betrifft, so plane ich zusammen mit Kandinsky, Marc, Thomas von Hartmann, Fokin, von Bechtefeff [sie], für den 1. Oktober ein Buch >Das Neue Theater » A n schlechten Stücken«, sagte er hinterher zu ihm, »erweist sich der gute Regisseur. Wenn er zu verhüten weiß, daß das P u b l i k u m bei den schauerlichsten Stellen schallend lacht« < 59 . The play, performed on 12 June 1914, was sharply criticized b y K u r t Eisner i n the Münchner Post , w h o described i t as a »Mischung aus Fusel u n d Haaröl·, w r i t t e n »im plumpsten Kolportagestil« 6 0 . Richard Elchinger was also unimpressed b y the play, but nevertheless commended Ball's skill as a director: »Für die flotte Regie, welche die drei A k t e i m Tempo erträglich machte, zeichnete H u g o B a l l « 6 1 . I t w o u l d seem that Ball had indeed passed Ziegel's test: i n J u l y B a l l could w r i t e : »Meine Stellung am Theater ist nun sehr lose. Ich brauche nur wenig positiv zu tun. Ziegel n i m m t m i r sogar das Lesen der langweiligen Stücke ab. M e i n neuer K o n t r a k t ist unterzeichnet. I d i habe wieder feste Bürostunden, eigenes Büro, etc.« 6 2 . Ball's improved relationships w i t h the »Kammerspiele« and the »Neuer Verein« soon showed positive results. I n June 1914, the »Neuer Verein« agreed to six matinées i n the »Kammerspiele« under Ball's direction 6 3 . I n a later letter t o his sister, B a l l gave more details about these performances: »Sechse sind's. Japanische Matinée. K a n d i n s k y 6 4 , Claudel 6 5 , Kokoschka, Lautensack, u n d >Aktion< « 6 6 . 57

Ibid., p. 30. I have been unable to trace the text of this play. 59 Petzet, Theater , p. 63. 60 K[urt] E [isner], »Die rote Nelke«, Münchner Post, 14 June 1914, p. 2. 61 Richard Elchinger, »Die rote Nelke«, Münchener Neueste Nachrichten, 14 June 1914, 1 - 2 (p. 2). 62 Ball, letter to Hildebrand-Ball, 29 [July 1914], Briefe, p. 34. 63 Ball, letter to Hildebrand-Ball [23 June 1914], Briefe, p. 31. 64 According to Ball, Kandinsky wrote a play (Der violette Vorhang) especially for the new theatre. See Ball, letter to Hildebrand-Ball, 29 [July 1914], Briefe, p. 34. 65 On his way to Berlin in June 1914, Ball visited Dresden, where he made arrangements for ClaudePs Tausch to be performed as the »Claudel-Matinee«. See Ball, letter to Hildebrand-Ball, 30 [June 1914], Briefe , p. 32. θβ Ball, letter to Hildebrand-Ball, 29 [July 1914], Briefe, p. 33. 58

Philip Mann

188

I n J u l y 1914, B a l l travelled to Berlin, where he successfully negotiated w i t h H e r w a r t h Waiden for Sturm exhibitions to be shown i n the foyer of the »Kammerspiele« 8 7 . H e knew that he was n o w closer than ever to the completion of his plans for a new theatre. F u l l of enthusiasm and optimism, he wrote to his sister: Auch diese Ausstellungen (Futuristen, Kubisten, Expressionisten) sind unter meiner Leitung. Sie sind das radikalste, was es heute auf malerischem Gebiete gibt. Hauptsächlich Franzosen und Russen. So, daß wir zur Kandinsky-Matinée zugleich eine Kandinsky-Ausstellung haben. [ . . . ] Unser Theater wird 1914/15 vielleicht das interessanteste Deutschlands sein. Ist das nicht sehr schön?68 When which later, artists

B a l l wrote this letter, however, events were already taking place w o u l d lead to Germany's declaration of w a r on Russia three days and which ended any plans for an international cooperation of i n a new theatre. Ball's Theory

of an E x p r e s s i o n i s t

Theatre

Ball's first mention o f his desire for a new theatre is i n a letter o f October 1913, i n which he writes of his plans for a new w o r k on the theatre, »die v o n Claudel, Wedekind, Corsleben [sic] . . . ausgehen w i r d u n d i n der ich für diese Schriftsteller neue Direktoren neue Schauspieler, ein neues Theater postuliere«® 9 . When discussing these theatrical plans, B a l l uses three different terms t o refer to the same idea. A t one point, he writes: »Was gedacht war, w a r ein »Theater der neuen KunstTheater der neuen KunstDekoration< u n d >BühnenbildEntladungVernünftigkeit w i d e r Instinkt< spricht u n d für den >Instinkt< gegen die >Vernünftigkeit< Stellung nimmt?« 8 5 I n his theatrical plans, Ball's attraction to a Dionysian solution became even more ambiguous and, increasingly, he tended away from Expressionist daemonism towards more sublimated, spiritual art forms. I n the first instance, therefore, the artists and aestheticians i n w h o m B a l l was interested emphasized the importance of the soul i n art and tried, through their o w n art, t o reflect the inner workings of the personality. N i k o l a i Evreinov ( 1 8 7 9 - 1953: presumably the Jewrenow mentioned b y B a l l above), for example, proposed a theatre which w o u l d be the centre of a l l spiritual life and M i k h a i l Fokine ( 1 8 8 0 - 1942) wanted his dances to express the inner condition of the soul. As early as 1904, he had called f o r : »an Stelle des obligaten Nummernballetts ein durchkomponiertes H a n d lungsballett, dessen M u s i k >die Gefühle< der Gestalten spiegle« 86 . Furthermore, Fokine had also propagated a k i n d of Gesamtkunstwerk : his ballet productions included the intensive cooperation of composers, choreographers and visual artists. Through Kandinsky , B a l l became acquainted w i t h the theories of Konstantin Stanislavsky (1863 - 1938) 8 7 who, both i n his Naturalist and post-Naturalist periods, had been concerned that his actors should give expression t o the spiritual life of their roles and that this expression, i n its turn, should appeal to the soul of the audience. I n his Naturalist period, believing that the actor could progress f r o m the mimetic to the unconscious life of the role, Stanislavsky had insisted on the most exact realism. H e later abandoned realism, and was greatly influenced i n this decision by G o r d o n Craig's Hamlet production i n Moscow i n 1911/12. This production opposed Stanislavsky's realism w i t h a stylized, timeless theatre. Just as many Expressionist works were later to be the expression of an idea w i t h the m i n i m u m of action, so Craig's Hamlet was concerned o n l y to show Hamlet's v i e w of the w o r l d , and cut movement and gesture drastically. Stanislavsky approved of this new direction, seeing i t as leading to a deeper, more psychological realism. 85 Ball, »Nietzsche in Basel«, Hugo Ball Almanach , 2 (1978), 1 - 65 (pp. 17 - 18). See also my article »Ball and Nietzsche«, esp. pp. 300 - 302. 86 Heinz Kindermann, 7 heater geschickte Europas, 10 vols, Salzburg, 1957 - 74, I X , p. 159. 87 See, for example, Ball's letter to his sister, 27 May 1914: »Viel höre ich auch bei ihm [Kandinsky] von Stanislawski« (Briefe, p. 30). Ball also reports that Kandinsky planned to enrol Stanislavsky as a collaborator in Ball's Expressionist theatre (Ball, letter to Hildebrand-Ball, 29 [July 1914], Briefe , p. 34).

13*

196

Philip Mann

Thomas von Hartmann's (1883 or 1886- 1956) ideas of anarchy i n music were also based on the idea that true art is the expression of the inner life. H e proposed that no external laws could be imposed on music, and that true music necessarily had to be >anarchicOstasiatische Gesellschaft on his ideas for the use o f Japanese drama i n his theatre 9 6 . Furthermore, together w i t h one Frau Selenka, B a l l planned t o stage the Japanese p l a y Kana-dehon Chushingura, a w o r k b y the p l a y w r i g h t Takeda I z u m o (1688 - 1765) 9 7 . Ball's interest i n this p l a y is evident, given that his attraction t o Expressionist daemonism was countered b y an interest i n some f o r m of spiritual order. Here, Japanese society is shown to rest on sacred, time-honoured customs and laws, unto which all actions are subordinated. Passions and base instincts are powerless when faced w i t h this system: for example, the nobleman Enya's f a m i l y is so honourable that no thief dares to steal f r o m him, even when the house is unlocked 9 8 . 94 Ball was not alone in his enthusiasm for this play. The Dresdner Neueste Nachrichten of 6 October 1913 reported that Franz Blei, Else Lasker-Schüler, Max Reinhardt, Rainer Maria Rilke, Ernst Rowohlt, Franz Werfel and Kurt Wolff had visited the permière of the play in Hellerau on 5 October 1913. 95 Paul Claudel, Verkündigung., Hellerau und Berlin, 1912, p. 112. 96 Ball, Flucht y p. 14. 97 Ball, letter to Hildebrand-Ball, 26 February 1914, Briefe, p. 28. 98 Takeda Izumo, Kana-dehon Chushingura y in Japanische Dramen , adapted by Wolfgang von Gersdorflf, Jena, 1926, pp. 99 - 151 (p. 110). I am grateful to Pro-

Hugo Ball's Expressionist Theatre

199

These social laws are absolute, tolerating no exceptions. Thus, Enya has to k i l l himself after he has transgressed the l a w b y i n j u r i n g K o n o i n the temple, even though K o n o had insulted Enya's honour. As an envoy of the Shogun explains: » . . . D u weißt es selbst, unsere alten geheiligten Bräuche dulden keinen Aufschub!« (p. 118). Ball's plans to include Japanese drama i n his o w n theatre may w e l l also have been influenced b y Bernhard Kellermann's ( 1 8 7 9 - 1951) essays on J a p a n " . While Claudel revealed G o d as the Absolute behind the chaos of existence, Kellermann emphasized the preciosity of Japanese art, and dance i n particular. For him, this preciosity afforded the beholder a vision of a higher f o r m of reality: of stillness i n movement and of the beauty w i t h which the empirical w o r l d is shot through. The Japanese dance, according to Kellermann, »verbietet realistische Darstellung und mildert sie zu bloßen flüchtigen Andeutungen, die i m Rhythmus sanfter Bewegungen u n d entzückender Posen verschwinden« (p. 53). Kellermann saw the dance behind a l l Japanese life, and i t is for this reason that he was so impressed w i t h the country and its people (p. 132). Kellermann d i d not concentrate solely on dance, but also cited the example of the »painting« of a wave, which had captured the whole essence o f wave and sea i n a single line: »es w a r ja keine Woge, es w a r nur die Linie einer Woge, und ich, der i d i das Meer kenne, sah das ganze Meer i n dieser schlichten Linie« (p. 60). Kellermann's v i e w of Japanese art was also that of an Absolute which is opposed to the chaos of the everyday, but here this Absolute is an integral part of everyday life; spirit is revealed through matter, and belongs to i t , whereas Claudel rejects the material i n favour o f the spiritual. Nevertheless, Kellermann i m p l i c i t l y shows a w a y of countering daemonism, describing art as a w a y of holding the natural w o r l d i n check. Whereas the German Expressionists, for example, w o u l d have seen the wave as a sign of the forces of the unconscious about to swamp society, the Japanese painting described b y Kellermann portrays a l l the essence of a wave and the sea, and yet holds this w i t h i n the strict f o r m of a single line. Ball's dioice of material and influences for his Expressionist theatre thus show his discontent w i t h modern society and, more i m p o r t a n t l y , the ambiguity of his attraction t o the liberation of the daemonic drives. H i s enthusiasm for K a n d i n s k y and Wedekind shows that he strove towards fessor Kenzo Miyashita, of the University of Utsunomiya, for drawing my attention to this German translation of the play. 99 Bernhard Kellermann, Sassa yo y ass a: Japanische Tänze , Berlin [1911]. In Tlucht , Ball writes that, on a visit to Frau Selenka, they read Kellermann's essay on the Japanese theatre together (pp. 13-14).

Philip Mann

200

both a version of the Gesamtkunstwerk as w e l l as the liberation of the personality, but whereas his enthusiasm for the former endured throughout, his attraction to the latter was almost always ambiguous. Given that he later considered a spiritual solution, one can speculate that he was aware of the i m p l i c i t ambiguity i n the seemingly most daemonic plays. Gorsleben, for example, took the French w o r d »rastaquouère« (»conceited swindler«) as the title for a p l a y which apparently approved of extreme subjectivism and Kokoschka, b y having a cock crow at the end of his Mörder, Hoffnung der Trauen , left the audience wondering whether to welcome or fear the daemonic drives. Ball's attraction t o Japanese aesthetic theory and practice again showed the ambiguity of his attraction t o daemonism: reluctant to repress these drives and yet afraid t o give them f u l l rein, he explored the possibility of an art which had the same function as church dogma, revealing the true nature of the w o r l d to man while at the same time protecting h i m f r o m its harmful effects. However, by considering Claudel's strict R o m a n Catholic dualism which rejected all earthly existence i n favour of the spiritual life, B a l l began to move i n a new direction. I n this solution, not o n l y the natural drives, but also everything material, is evil, preventing the spirit f r o m revealing itself: o n l y through a denial of the earthly side of existence can man come to a realization of the true life.

Ball's own H a v i n g discussed Ball's one must n o w study Ball's his theory, and h o w far towards the natural drives,

plays

theoretical plans for an Expressionist theatre, o w n plays, i n order to see h o w far they realize they are marked b y his ambiguous attitude discussed above.

O f the five plays mentioned b y Annemarie Schütt-Hennings i n her edition of Ball's letters, o n l y t w o exist i n p r i n t 1 0 0 . B o t h of these, Die Nase des Michelangelo (1911) 1 0 1 and Der Henker von Brescia (1914) 1 0 2 , have been almost entirely neglected b y critics. The o n l y study of Die Nase des Michelangelo is that to be found i n Steinke's biography of B a l l (pp. 32 - 44), and u n t i l very recently, when Schaub published his above-mentioned study of 100 Apart from Ball's two published plays, Annemarie Sdlütt-Hennings lists three as yet unpublished pieces: the tragedies Nero and Antonius und Kleopatra and the puppet play Des Teufels Er d fahrt (Briefe, p. 305). She does not, however, list the one-act play Die Nacht, which Emmy Ball-Hennings mentions in Hugo Balls Weg zu Gott (p. 60). Since this essay was written, the Hugo Ball Sammlung in Pirmasens have acquired copies of both Nero and Des Teufels Erdfahrt (For a discussion of these early plays, see Bähr, pp. 86-7). 101 Ball, Die Nase des Michelangelo, Leipzig, 1911. 102 Ball, Der Henker von Brescia, Die neue Kunst, 1 (1913 -14), 327 - 44.

Hugo Ball's Expressionist Theatre

201

the origins of Der Henker von Brescia, Steinke's biography also contained the only study of this p l a y (pp. 90 - 97). Die Nase des Michelangelo, which Frank Wedekind seems to have judged p o s i t i v e l y 1 0 3 and which, according to Steinke, was w r i t t e n i n 1908, deals w i t h the legendary emnity between Michelangelo and Pietro Torrigiano. This lasted t h i r t y years and arose because Torrigiano had punched i n Michelangelo's nose when both were young men. This potentially comic conflict m a y explain w h y Ball denoted the p l a y a tragi-comedy, for the action of the p l a y is far f r o m comic, portraying Torrigiano's desperate attempt to f i n d recognition of human d i g n i t y i n a corrupt w o r l d . Gerhard Schaub's study of Der Henker von Brescia shows that B a l l took K a r l Hans Strobl's novel Das Frauenhaus von Brescia (1911) as the source for the action of this drama. This discovery is useful to the extent that i t proves that B a l l d i d not begin w o r k on the p l a y u n t i l A u t u m n 1911, which disproves Ball-Hennings's claim that i t was w r i t t e n between 1901 and 1905, as an attempt b y the young Ball to distance himself from the lewdness of his fellows 1 0 4 . O n l y the first act of the »drei A k t e der N o t u n d Ekstase« of this w o r k exists i n p r i n t 1 0 5 . B a l l takes over Strobl's fictitious story of h o w Barbiano, the mayor of Brescia, captured Margaret, the wife o f H e n r y V I I of Burgundy, and four of her companions, planning t o keep her i n the t o w n brothel. Roswitha, one of the Queen's companions, pretended to be Margaret, thus saving the Queen f r o m dishonour, as Barbiano d i d not intend to harm Margaret's companions. The first act o f Ball's dramatic version of the story begins after five men have already taken advantage of the new attraction i n the brothel and concentrates, as the title suggests, on the character of the Executioner, w h o is also the brothel keeper. Neither p l a y relates t o any great extent to Ball's theories of an Expressionist theatre. W o l f r a m Goebel writes that Die Nase des Michelangelo was »ein eher konventionelles Stück« 1 0 6 , and both plays, as far as one can tell, adhere strictly t o the three unities of time, p l o t and place: a feature which, as Sokel has commented, belongs more t o conventional drama than t o an 103

Ball, letter to Hildebrand-Ball [17 December 1912], Briefe, p. 19. Ball-Hennings, Ruf und Echo, Einsiedeln, Zürich und Köln, 1953, p. 27. 105 The third and fourth numbers of Revolution contained announcements to the effect that the complete play was ready for print in Bachmair's publishing house. The quotation is taken from those announcements. 106 Wolfram Goebel, Der Kurt Wolff Verlag 1913 - 30: Expressionismus als verlegerische Aufgabe, Frankfurt/Main, 1977, p. 759. 104

202

Philip Mann

Expressionist p l a y 1 0 7 . However, while the language of Die Nase des Michelangelo is conventional and ordered i n t o unrhymed hexameters, Der Henker von Brescia is w r i t t e n i n more daring prose. The Executioner's style of speech is characterized b y short sentences, dynamism and daring metaphors, all of which, as Richard Samuel has suggested, were t y p i c a l of Expressionist prose 1 0 8 . A few examples w i l l serve to illustrate this p o i n t : Eine Königin, Herr! Da steht sie, da schreitet sie! Ausgemergelt von innerem Feuer. Abgezehrt von Gebeten und Nachtwachen. Ihre Arme sind lang und dünn wie Gestrüpp. An jedem ihrer Finger hangen zehn Ertrinkende. Sie lächelt und ihre Augen tropfen wie die Talgkerzen beim Hochamt. Ihr Mund ist gleich dem Resonanzboden einer Geige. Ein Mandelruch strömt von ihm aus (p. 330). Barbara, sieh, deine Haut ist ein Madensack! Wanzen und Flöhe nagen sich fest daran, endloses Ungeziefer, endloser Schmutz. Die Haut juckt uns und ist rot gefleckt. Wir liegen am Boden, und bluten und spucken (pp. 338 - 9 ) . Aber nun platzen die Himmel auf. Eine Hand greift herunter. Berge aus Purpur. Sonnen am Himmel wie Wurzelstöcke im Wald, die von Axthieben zerschlachtet sind (p. 341). The terse language of Expressionism developed out of a desire for a f i t t i n g medium b y means of which t o express feelings and emotions. The language of Der Henker von Brescia also attempts t o reveal the workings of the soul (in this case, the Executioner's), and i n this respect the p l a y relates to Ball's dramatic theory. The main emphasis of Die Nase des Michelangelo is on Torrigiano's drive for t r u t h and justice, which has survived t h i r t y years of persecution. This is made clear f r o m the outset, when he reveals his true i d e n t i t y to Michelangelo and declares that he hopes for »Menschlichkeit« (p. 13). H o w e v e r , Torrigiano is not simply presented as an innocent v i c t i m of persecution: we are t o l d that he himself has committed bestial crimes i n the past (pp. 1 4 - 1 7 ) . H e thus represents a man w h o has given expression t o the daemonic side of his personality, and yet at the same time has retained his belief i n »higher« values such as integrity and justice. Michelangelo recognizes and salutes this t r a i t : Wenn der Mann Nach einem halben Menschenalter Höllenfahrt Die Kraft nodi findet, vor uns hinzutreten, so Beweists nur eines : Daß ein Drang nach Wahrheit und 107 Walter H. Sokel, »Dialogführung und Dialog im expressionistischen Drama«, in Aspekte des Expressionismus, edited by Wolfgang Paulsen, Heidelberg, 1968, pp. 59-84 (p. 61). 108 Richard Samuel and Richard Hinton Thomas, Expressionism in German Life, Literatur and the Theatre (1910 - 1924), Philadelphia, 1971, pp. 146 - 70.

Hugo Ball's Expressionist Theatre

203

Nacht Echtheit seines Unglücks in ihm flammte, wie Er nimmer in verrottetem Gemüte sich Entzünden wird (p. 67). Torrigiano has returned to Rome because he intends to ask the Pope for justice: his fateful fight w i t h Michelangelo had made h i m i n t o an enemy of the Roman people. Michelangelo, recognizing Torrigiano's integrity, is prepared to forget their o l d emnity and help h i m t o become reconciled w i t h the Romans. B o t h Torrigiano and Michelangelo, however, underestimate the extent of the corruption of the Roman state and the persuasiveness of mass emotions. Michelangelo's admirer Cellini, w h o has been one of the most fanatical of Torrigiano's persecutors, refuses to accept this reconciliation of former enemies, and uses his p o p u l a r i t y to arouse popular hate against Torrigiano. M o b riots start up i n the city. The Pope, worried by this unrest, sets up court t o decide on Torrigiano's innocence. Cellini's rhetoric, based on fanaticism and hate, is so persuasive that Michelangelo and Torrigiano are defeated. Their honesty and sense of justice are powerless when faced w i t h the evil, irrational power of the mob and its mouthpiece, Cellini. H a v i n g been sentenced t o death, Torrigiano can only face death fighting and cursing the madness and corruption of the w o r l d : »Der Gipfel del: Verrücktheit ist erreicht! D i e Welt/Bricht auseinander. Schlagt sie ganz ins Nichts hinein!« (pp. 70 - 71). L i k e Torrigiano, the Executioner i n Der Henker von Brescia is portrayed as a man capable of the most bestial acts. Steinke comments that here, B a l l »pictures man as a completely debauched being, sunken far below bestiality and yet retaining, by virtue of his being human, an unquenchable spark of goodness, p u r i t y and childlike truth« (p. 76). The Executioner is a highly ambiguous character, i n w h o m depravity and the desire for redemption compete w i t h one another. This ambiguity is summed up i n his attraction for Roswitha, which is both sexual and spiritual, and i n his room, which contains both flowers and instruments of torture. H e believes that he can gain redemption through Roswitha, and when the latter accuses h i m of being merely an animal, he replies : Ich heule zum Himmel: Ich bin ein Mensch! Ich schreie zum Himmel, bis mir die Lunge zerspringt! Ich kralle mich fest mit beiden Händen in diese Luft, die vom Himmel kommt! Ich bin ein Mensch, auch ich bin ein Mensch. Hab ich nicht Adern und Knochen und Blut? Kann ich nicht schreien und toben und fluchen ganz wie ein Mensch? Heilige mich in Glanz und Qual! Heilige mich! (p. 344.) These t w o plays thus reflect Ball's ambiguous attitude towards the personality and the daemonic drives. The desire for redemption described

Philip Mann

204

i n the characters of both Torrigiano and the Executioner shows that while B a l l believed that man's personality d i d have immanently good sides, at the same time he was all too aware of the dangers of the personality and the derepressed drives. The ambiguous nature of these drives is shown clearly i n the character of the Executioner, i n w h o m desire for redemption and depravity clash w i t h each other, causing h i m to live i n a state o f inner torment. U p t o the present, one cannot tell whether this conflict is resolved, but i f further parallels exist between this play and Die Nase des Michelangelo, one can then speculate that the depraved side of the Executioner's character w i l l triumph, just as Torrigiano's hopes for redemption are crushed b y the uncontrolled irrational forces of evil and hate. Ball's Interest

in the Theatre

after

August

1914

Ball's plans for a new theatre and the regeneration of society through art were forgotten i n his enthusiasm for the w a r : Gestern stellte idi midi als Kriegsfreiwilliger beim 1. Schweren Reiterregiment, wurde gleich untersucht und geimpft. [ . . . ] Kunst? Das ist nun alles aus und lächerlich geworden. In alle Winde zersprengt. Das hat alles keinen Sinn mehr. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie mir zu Mut ist. Und man sieht ja noch gar nicht die Folgen ab . . . Laßt bitte oft von euch hören. Mir graust vor der Zukunft. Der Krieg ist noch das Einzige, was midi noch reizt. Schade, auch das wird nur eine halbe Sache sein109. H i s enthusiasm for the w a r soon turned to horror, however. I n November 1914, he wrote i n his d i a r y : »Vierzehn Tage bin ich an der Grenze gewesen. I n Dieuze sah ich die ersten Soldatengräber. I m eben beschossenen Fort Manonvillers fand ich i m Schutt einen zerfetzten Rabelais. D a n n fuhr ich hierher nach Berlin. M a n möchte doch gerne verstehen, begreifen. Was jetzt losgebrochen ist, das ist die gesamte Maschinerie u n d der Teufel selber« 110 . I n the w i n t e r of 1 9 1 4 - 1 5 , still suffering from the trauma he had suffered at the Front, Ball's interests turned towards revolutionary politics, and he began reading K r a p o t k i n , Bakunin and Mereschkovsky i n his search for an explanation of the causes of the W a r . H e began t o wonder whether his true vocation lay i n politics, and came to the belief that i t was the lack of revolutionary fervour i n Munich which prevented h i m from returning there: »Wenn es stimmt, daß mein Temperament revoltäre Instinkte hat, so w i r d m i r hier allmählich klar, weshalb ich i n München auf die Dauer hätte verkommen müssen« 111 . Nevertheless, he was still concerned w i t h the theatre, 109 110 111

Ball, letter to Hildebrand-Ball, 7 August [1914], Briefe, pp. 34 - 35. Ball, Flucht, November 1914, p. 16. Ball, letter to August Hofmann [18 December 1914], Briefe, p. 36.

Hugo Ball's Expressionist Theatre

205

w r i t i n g reviews for the periodical Zeit im Bild and attempting, w i t h Richard Huelsenbeck, to save the »Freie Volksbühne« i n Berlin. Ball's writings on the theatre from the time between November 1914 and M a y 1915 are a combination of remnants of ideas from his Munich period and of his new interest i n politics 1 1 2 . O n the one hand, his reviews still praised actors or actresses w h o , like Wedekind, embodied primal, daemonic force. Reviewing a performance of Raimund's Der Alpenkönig und der Menschenfeind, for instance, he wrote enthusiastically of the actress Camilla Eibenschütz: »Wie sie die A r m e schlenkert! Es gibt keine Schlüsselbeine mehr u n d sonstige Hemmungen. Sie ist vollendete Schwebe« 113 . Similarly, he praised the charismatic personalities of I d a R o l a n d and Leontine Sagan 1 1 4 , and wrote of M a r i a Orska: »Nicht ihr W o r t packt, sondern der (neue) K ö r p e r « 1 1 5 . H e also admired the character of Christian Dietrich Grabbe , regarding h i m as the embodiment of Dionysian drunkenness and Expressionist irrationalism: »Meine Damen u n d H e r r n ! Grabbe: Das heißt: sich maßlos besaufen. [ . . . ] H e r r Dietrich Christian Grabbe gehört zu unserer Armee der lokomobilen Exzessionisten. H ä t t e er heute gelebt, so würde er sich beteiligen an Expressionistenabenden u n d würde t r i l l e r n d auf dem Podium erscheinen, a l l w o er den Vogel abschösse « l l e . O n the other hand, Ball's ideas showed a new aspect: that of a p o l i t i c a l l y engaged, revolutionary theatre. For example, B a l l objected to a performance of Strindberg's Luther because i t failed to make any comparisons w i t h contemporary society. B a l l w o u l d have produced the p l a y differently: »Damals hießen Päpste: Leo u n d Alexander. Heute heißen sie: >Humanität< oder >StaatswohlLiebesgaben< « 1 1 7 . H e w o u l d probably also have given the character of U l r i c h v o n H u t t e n , w h o m 112 See, for example, Richard W. Sheppard, »Sixteen Forgotten Items by Hugo Ball from the Pre-Dada Years«, GLL, 29 (1976), 362 - 69. 113 Ball, »Raimunds >Rappelkopf< «, Zeit im Bild, 13 (1915), No. 7 (14 February 1915), p. 168. 114 Ball, »Wiener Theater«, Zeit im Bild, 13 (1915), No. 3 (17 January 1915), p. 72. 115 Ball, » >Ostern< von Strindberg«, Zeit im Bild, 13 (1915), No. 16 (18 April 1915), p. 384. 11β Ball, »Zur Grabbeaufführung im >Kleinen Theater< «, Zeit im Bild, 13 (1915), No. 19 (9 May 1915), p. 456. 117 Ball, » >Luther< im Deutschen Künstlertheater«, Zeit im Bild, 12 (1914), No. 52 (27 December 1914), 2111 - 12 (p. 2111).

206

Philip Mann

he regarded as a true revolutionary, more emphasis: »Dieser H u t t e n [ . . . ] Schmiß einen Dominikaner über die Fensterbrüstung hinunter (einen Polizisten, nach heutigen Begriffen!). Kerle! Teutsch, aber echt!« (p. 2112). I t was Ball's concern for a p o l i t i c a l l y engaged theatre that led h i m to take an interest i n the fate of the »Freie Volksbühne«, which was an organisation founded i n 1890 as a means of p r o v i d i n g the proletariat w i t h progressive theatre. This began b y producing plays i n different Berlin theatres, but i n January 1915 b u i l t its o w n theatre on the B ü l o w p l a t z i n Berlin. Long before this time, however, the original guiding principles of the organisation had been forgotten. I n 1892, the »Neue Freie Volksbühne« was formed, which no longer regarded itself as an organisation solely for the proletariat. When the new theatre on the Bülowplatz opened, i t ran almost immediately i n t o difficulties caused by the war. Gustav Landauer, one of the founders of the »Freie Volksbühne«, summed up these difficulties: » . . . K a p i t a l wie K r e d i t der Neuen freien Volksbühne beruht auf organisierte Kundschaft. V o n diesem organisierten P u b l i k u m aber ging i n den ersten Kriegsmonaten die H ä l f t e etwa verloren« 1 1 8 . The managing committee of the theatre, i n its search for financial assistance, considered leasing the theatre to M a x Reinhardt. Ball belonged to that group of artists w h o was opposed to this solution, and became i n v o l v e d i n t r y i n g to restore the idea of the »Volksbühne« as a progressive theatrical organisation. Ball's article »Das neue Volkstheater am Bülowplatz« set out his plans for the continuation of a theatre which was youthful, democratic, experimental and, above all, radical 1 1 9 . I n his opinion, the theatre had to return to the original idea o f a theatre which combined the cause of the proletariat w i t h avantgarde and contemporary drama. H e summed up his idea as follows: »Sich allem Neuen offen halten, r a d i k a l sein, zukunftsfreudig. Hinzuziehen aller tatsächlichen aktiven Köpfe, deren man habhaft werden kann. D e r Ehrgeiz eines solchen Instituts muß sein, wahrhafter Ausdruck der Zeit u n d damit (nur damit) des Volks zu sein« (p. 184). A pressure group was formed to t r y to preserve the original intentions of the »Freie Volksbühne« and its new theatre. A m o n g those w h o signed a declaration to this effect were Franz Blei, Lovis Corinth, M a x Dessor, M a x i m i l i a n Harden, Julius H a r t , Wolfgang Heine, A r t h u r K a m p f , M a x Liebermann and Paul Schlenther. A l l those w h o were interested i n the 118 Gustav Landauer, »Die Volksbühne«, Berliner Börsen-Courier, 5 March 1915 (Morgen-Ausgabe), p. 5. 119 Ball, »Das neue Volkstheater am Bülowplatz«, Zeit im Bild, 13 (1915), No. 8 (21 February 1915), 183 -84.

Hugo Ball's Expressionist Theatre

207

matter were asked to contact B a l l and Richard Huelsenbeck i n B e r l i n 1 2 0 . The declaration appeared too late to be effective, however, and four days after its publication, Vorwärts announced that the theatre had been handed over to M a x R e i n h a r d t 1 2 1 . For those w h o wanted a p o l i t i c a l theatre, Reinhardt's appointment signified the end of their hopes. When i t had first been rumoured that Reinhardt w o u l d be given the directorship of the theatre on the B i i l o w platz, Vorwärts had warned: »Reinhardts Absichten sollten nach den uns gewordenen Mitteilungen dahin gehen, die Volksbühne als Durchgangsstufe i n Vorbereitung für sein geplantes Theater der 5 000 zu benutzen! D a n n wäre die >Volksbühne< freilich gewesen« 122 . B a l l had earlier described Reinhardt as a »ganz unpolitischen K o p f « 1 2 3 , and although he publicly hoped for an improvement of the situation under R e i n h a r d t 1 2 4 , privately he conceded defeat: »Es w a r übrigens nicht mehr zu helfen. Reinhardt hat die Sache inzwischen übernommen u n d damit ist auch diese H o f f n u n g (eines politischen Theaters i n Deutschland) d a h i n « 1 2 5 . N o t o n l y political interest, but also interest i n t o t a l structures (implicit i n his Utopian ideal of a reforming theatre) became more explicit i n Ball's thought after August 1914. Even before this time, he had been aware of the ambiguity of the daemonic drives he wished to liberate, and the trauma of his w a r experiences must have made i t clear that these forces, when liberated, could destroy as w e l l as create. One can assume that he n o w began i n earnest to consider total forms capable of holding these daemonic forces i n check. Indeed, the first explicit sign of this attraction to t o t a l structures had come as early as A p r i l 1914, i n an article entitled »Theatertrust«. Here, B a l l had advocated a central governing body for the theatre, which w o u l d give »gemeinsame Maßstäbe der K r i t i k , stabile feste Verhältnisse, Linie, Stil, Gleichmäßigkeit, kurz alle Voraussetzungen einer nationalen Theaterkultur« 1 2 6 . This was again a case of B a l l altering Kandinsky's thought. Kandinsky had referred to Goethe's comment that there is no »Generalbaß« i n painting as there is i n music and used this to justify his attempt to p u t f o r w a r d theoretical rules according to which the artist can 120

»Bühne und Konzertsaal«, Frankfurter Zeitung, 2 March 1915 (2. Morgenblatt), p. 2. 121 »Die Schicksal der Volksbühne«, Vorwärts (Berlin), 6 Mardi 1915. 122 »Reinhardt in der >Volksbühne< «, Vorwärts, 16 February 1915. 123 Ball, »Das neue Volkstheater am Bülowplatz«, p. 184. 124 Ball, »Das Theater am Bülowplatz«, Zeit im Bild, 13 (1915), No. 11 (14 March 1915), 263 - 64 (p. 264). 125 Ball, letter to Hildebrand-Ball, 8 Mardi [1915], Briefe, p. 38. 126 Ball, »Theatertrust«, Zeit im Bild, 12 (1914), No. 17 (23 April 1914), p. 900.

208

Philip Mann

paint a purely abstract composition out of f o r m and colour 1 2 7 . H o w e v e r , Kandinsky's theory of composition left matters of composition to the discret i o n of each artist. I n contrast, Ball's theory approached a dictatorship of the theatrical arts. Indeed, the extreme nature of Ball's theories caused the editors of Zeit im Bild to publicly distance themselves f r o m his plans. They feared that these w o u l d lead to the »künstlerische Knebelung v o n Autoren u n d Schauspielern « 1 2 8 . A l t h o u g h B a l l was never to return to the theatre after M a y 1915, when he left Berlin for Switzerland, his interest i n K a n d i n s k y and the Gesamtkunstwerk continued. B a l l regarded the Gesamtkunstwerk as a means of bringing about a Utopian, total w o r l d , in which art takes on a purely spiritual aspect and all the imperfections of the material w o r l d are banished. For Ball, the artist became a spiritual figure, whose life was »ein K a m p f m i t dem I r r s i n n « 1 2 0 . K a n d i n s k y i n particular was regarded as a great prophet and redeeming figure: »Man sollte wallfahren zu seinen Bildern: sie sind ein Ausweg aus den Wirren, den Niederlagen u n d Verzweiflungen der Zeit. Sie sind Befreiung aus einem zusammenbrechenden Jahrtausend. K a n d i n s k y ist einer der ganz großen Erneuerer, Läuterer des Lebens« 1 3 0 . Eventually, however, B a l l even lost f a i t h i n the power of Kandinsky and the Gesamtkunstwerk to free h i m f r o m the confusion and despair of the age, and he retired into the extreme asceticism of Gnostic Catholicism.

127 128

above).

Kandinsky, Über das Geistige, p. 51. Editors' comment prefacing Ball's article »Theatertrust« (see footnote 126

129 Ball, Kandinsky , lecture given in the Galerie Dada, 7 April 1917, edited by Andeheinz Mößer, DVjs, 51 (1977), 688 - 703 (p. 691). 130 Ibid., p. 693.

T H E EARLY RECEPTION OF T H E EXPRESSIONIST A N T H O L O G Y DER

KONDOR

A Documentation and Analysis 1

V o n Richard W. Sheppard

According to a letter f r o m K u r t H i l l e r to H e r w a r t h Waiden of 23 M a y 1912, n o w lodged i n the Sturm-Archiv (Stiftung Preussischer Kulturbesitz, West Berlin), Der Kondor y published by the Verlag Richard Weissbach i n Heidelberg, was ready for distribution to reviewers by the end of M a y 1912. H i l l e r claimed i n his foreword that the A n t h o l o g y was »Eine DichterSezession; eine rigorose Sammlung radikaler Strophen« (p. 7) and certainly, Der Kondor immediately sparked o f f a controversy which lasted for more than a year and which this article aims to document and analyze. I n preparing it, I w o u l d like to acknowledge m y indebtedness to D r . Michael Stark (University of Bamberg, B R D ) w h o generously supplied me w i t h several of the items listed below. D r . Stark is himself preparing a rather different article using the same material entitled »Poesie der Provokation. Fortgeschrittene L y r i k u n d >Kondor-Krieg< i m Frühexpressionismus«.

The

Materials

[ 1] Letter from Georg H e y m t o Richard Weissbach of 19 September 1911, i n : Der Monat, N o . 191 (August 1964), p. 55. [ 2 ] »Der K o n d o r « [ p r e v i e w ] , Pan, 3, N o . 20 (4 A p r i l 1912), pp. 603 - 604. [3]

Anon., »Der K o n d o r « , Tägliche beilage (21 June 1912).

Rundschau

(Berlin), Unterhaltungs-

[4]

Ernst Lissauer, »Der K o n d o r « , Das literarische Echo , 14, N o . 20 (15 J u l y 1912), cols. 1455 - 1456. [ 4 a] K u r t H i l l e r , » K o n d o r k r i t i ker [ I ] « [a rejoinder], Die Aktion, 2, N o . 30 (24 J u l y 1912), cols. 941 - 942.

1 I would like to express my thanks to the Alexander von Humboldt-Stiftung, whose generosity during the Summer of 1980 enabled me to complete the research for and write this article. My thanks are also due to the staff of the Deutsche Staats-Bibliothek (Berlin/DDR) and the Institut für Presse-Forschung (Bremen).

14 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

210 [5]

Ridiard W. Sheppard Heinrich Lautensack, »Die Kondoristen«, Deutsche Tageszeitung (Berlin) (21 J u l y 1912). [5 a] K u r t H i l l e r , » K o n d o r k r i t i k e r [ I I ] « [a rejoinder], Die Aktion, 2, N o . 32 (7 August 1912), cols. 1002 - 1003.

[ 6 ] Erich Mühsam, »Die Rigorosen — E i n Manifest des lyrischen Nachwuchses«, Kain, 2, N o . 5 (August 1912), pp. 72 - 77. [6 a ] Erich M ü h sam, »Herr H i l l e r berichtigt« [a reply to a protest letter from H i l l e r ] , Kain , 2, N o . 6 (September 1912), pp. 93 - 94. [ 7] R.Rt., »Der Kondor«, Vossische Zeitung (2 August 1912).

(Berlin), Morgen-Ausgabe

[8]

Julius Bab, »Theatrum L y r i c u m I I I « , Die Gegenwart, 41, Bd. 82, N o . 32 (10 August 1912), pp. 501 - 5 0 3 . [8 a] Ernst Blass, »Kondork r i t i k e r I I I « [a rejoinder], Die Aktion, 2, N o . 37 (11 September 1912), cols. 1 1 6 2 - 1 1 6 5 . [8 b ] H e r w a r t h Waiden, »Bab der L y r i k sucher« [a reply to Bab and a critique o f Der Kondor], Der Sturm, 3, N o . 123/124 (August 1912), pp. 125 - 126.

[9]

Ulrich Rauscher, »Neueste L y r i k « , Morgenblatt (17 August 1912).

Frankfurter

Zeitung,

[ 1 0 ] Anon., »Der K o n d o r : Eine Dichter-Sezession«, Kölnische Erste Morgen-Ausgabe (21 August 1912).

Erstes Zeitung,

[ 1 1 ] Letter f r o m R u d o l f Borchardt t o H u g o v o n Hofmannsthal of 7 September 1912, i n : Borchardt, Heymel, Schröder [catalogue] (Marbach/Neckar, 1978), p. 220. [ 1 2 ] K u r t Erich Meurer, »Der Kondor«, Deutsche Montags-Zeitung lin) (9 September 1912).

(Ber-

[ 1 3 ] Letter f r o m Stefan Z w e i g to Paul Zech of 14 September 1912, i n : Der Monat, loc. cit., pp. 5 8 - 5 9 . [ 1 4 ] D r . F r i t z Hellermann, »Radikale Strophen: D e r K o n d o r — Eine Dichtersezession«, Hamburger Fremdenblatt (15 September 1912). [ 1 5 ] C [ a r l ] C h [ r i s t i a n ] B r y , »Der K o n d o r « , Die N o . 12 (20 September 1912), p. 172. [ 1 6 ] Fritz D r o o p , »Der K o n d o r « , Niederlausitzer tember 1912).

kritische

Tribüne,

1,

Bote (Cottbus) (27 Sep-

[ 1 7 ] K a r l W i l l y Straub, »Die deutsche L y r i k i n ihren jüngsten Entwicklungsphasen. Neuidealismus. — Sinfonismus. — Radikalismus.«, Bayerische Landeszeitung (Würzburg) (30 September 1912). [ 1 8 ] A review appeared i n the Neue Badische Landeszeitung (Mannheim), N o . 424 [probably September 1912]. A l t h o u g h this newspaper has a l l but disappeared, the review i n question is quoted extensively i n

The Expressionist Anthology Der Kondor

[19]

211

»Edio der Zeitungen«, Das literarische 1912), col. 121 (c.f. footnote 13).

Echo, 15, N o . 2 (15 October

[ H a n s v o n Weber],

Der

»Der Kondor«,

Zwiebelfisch,

4, N o . 4

(October 1912), p. 151. [ 2 0 ] F r i t z Hammer, »Der K o n d o r « , Deutsches Literaturblatt,

2, N o . 10

(1 October 1912), p. 10. [ 2 1 ] A l f r e d Richard Meyer, »Der K o n d o r « , Die Bücherei Maiandros, Erstes Buch (1 October 1912), p. 10. [ 2 1 a ] Alexandra Ramm, »Kond o r k r i t i k e r [ I V ] « [a rejoinder], Die Aktion, 2, N o . 41 (9 October 1912), cols. 1293 - 1294. [ 2 2 ] E m i l Faktor, »Der Kondor«, Der Tag (Berlin) (16 October 1912). [ 2 3 ] Ernst Stadler, »Der Kondor«, Cahiers Alsaciens , 1, N o . 6 (November 1912), pp. 3 1 6 - 3 1 9 . [Reprinted i n : Ernst Stadler, Dichtungen (2 Vols), edited by K . L . Schneider and Paul Raabe (Hamburg, [1954]), I I , pp. 1 5 - 2 2 ] . [ 2 4 ] Letter from R u d o l f Borchardt to Josef H o f m i l l e r of 17 November 1912, i n : Borchardt, Hey mei, Schröder, pp. 220 - 221. [ 2 5 ] Michael Georg Conrad, »Der Kondor«, Deutsches Literaturblatt, N o . 12 (1 December 1912), p. 9. [ 2 6 ] Herbert Eulenberg, »Jüngste L y r i k « , Die neue Rundschau, (March 1913), pp. 4 2 5 - 4 2 9 .

3,

24 N o . 3

[ 2 7 ] Letter from K u r t H i l l e r t o Richard Weissbadi of 22 June 1913, i n : Der Monat, loc. cit., pp. 63 - 64. [ 2 8 ] J [ a k o b ] L [ e o p o l d ] W i n d h o l z , »Die v o n dreissig Jahren«, März, N o . 3 (2 August 1913), pp. 167 - 170.

7,

[ 2 9 ] Erich Franz, »Neue F l u g b l a t t l y r i k « , N o . 10 (1 October 1913), pp. 5 - 6.

3,

Deutsches

Literaturblatt,

I n a letter from K u r t H i l l e r to H e r w a r t h Waiden of 1 October 1912 (,Sturm-Archiv ), i t appears that a further review was w r i t t e n by one E r w i n Ο . Krauss. Despite extensive searches, I have been unable to locate this review or discover anything about its author. I t should therefore not be assumed that the above list of reviews is exhaustive. The O n the hindsight, review as geblasene 1*

Analysis

whole, Der Kondor was not w e l l received by its reviewers. W i t h i t is quite evident that Hiller's foreword (described i n one »Haltloses Seifenblasenwerk« [ 1 6 ] and i n another as »diese aufVorrede, die [den T i t e l der A n t h o l o g i e ] an Anmassung w e i t

212

R i a r d W. Sheppard

übertrifft« [ 2 6 ] and selection of texts must, quite apart f r o m the quality and implications of the texts themselves, have prejudiced his readers against Der Kondor. Certainly, this opinion was shared by Heinrich Lautensack w h o wrote [ 5 ] : »Wenn je eine Vorrede geschadet hat — so die des H e r r n K u r t H i l l e r , der übrigens die darin aufgestellten Behauptungen i n womöglich noch schlimmer aufreizenden Tönen seither i n einem gewissen Blättchen [presumably a reference to [4 a ] ] wiederholte.« T o begin w i t h , the tone of Hiller's foreword was, as one might expect, superciliously cavalier, pugnaciously intellectual, aggressively elitest. The A n t h o l o g y is described there as »eine Angelegenheit der Wenigen« (p. 5) — among w h o m , quite clearly, H i l l e r d i d not number reviewers w h o might not like his book! N o r was Hiller's claim that Der Kondor represented the acme of modernity calculated to make his reviewers, several of w h o m were poets themselves but w r i t i n g i n a very different vein, sympathetic to his A n t h o l o g y . Consequently, one hears an outraged Fritz H a m m e r vigorously denying that these verses were »den lyrische[n] Ausdruck einer ganzen Generation v o n Poeten« [ 2 0 ] and i t is a fact that, o f the 97 poems included i n Der Kondor , at least one had been w r i t t e n or first published i n 1902, three i n 1905, t w o i n 1907, five i n 1908 and three i n 1909 — hardly hot o f f the presses (a p o i n t which is also made i n [ 2 2 ] ) 2 ! The contradictoriness o f H i l l e r ' s characterization of Der Kondor also provoked antagonism. Lautensack, for instance [ 5 ] , was quick to p o i n t out that the self-righteously puristic subtitle of the A n t h o l o g y — »Eine rigorose Sammlung radikaler Strophen« — hardly d i d justice to the haphazard selection of texts to be found there or to the fact that one contributor, Paul Zech, » . . . nachgerade i n sämtlichen illustrierten Familienzeitschriften m i t lyrischen Produktionen zu finden ist«. Furthermore, having said that Der Kondor d i d not aspire to move i n any one direction (pp. 7 - 8), H i l l e r immediately contradicted himself by conceding that i t did, however, give pride o f place to »die Erlebnisart des geistigen Städters, die uneinfache, bewusstere, nervöse« (p. 8), only then to compound confusion b y making the qualification that that d i d not mean, of course, that the A n t h o l o g y had anything t o do w i t h »Dynamos u n d Massenstreiken« (p. 8). T o readers used to dealing w i t h poetry i n terms of surface content and subject-matter rather than hidden assumptions, sudi statements must have been very confusing, not to say incomprehensible. A n d one o n l y has to look at the polemic of [ 6 ] and [6 a] to see the unnecessary misunderstandings to which Hiller's lack of precision i n his foreword could lead. 2 Dr. Wolfgang Peitz of the University of Freiburg is currently preparing a new edition of Der Kondor (with extensive commentaries) which will include an analysis, compiled by myself, of the dates when the Kondor poems were first published.

The Expressionist Anthology Der Kondor

213

Then again, H i l l e r ' s comparison of the K o n d o r poets w i t h Rilke certainly made Lautensack angry [ 5 ] and Hiller's description of Der Kondor as a reaction against epigones, especially Stefan George's (p. 6), probably had a similar effect upon other reviewers since, i n 1912, Stefan George was Germany's accepted major poet. Such comparisons and assertions from a young m a n i n his '20' s must, despite H i l l e r ' s protestations i n [6 a ] , have seemed like extreme arrogance (compare [ 1 1 ] and [ 2 4 ] ) and H i l l e r and his supporters could certainly not have made reviewers more sympathetic to their case b y the rejoinders which they sent i n to Kain and Die Aktion ( [ 4 a ] , [5 a ] , [6 a ] , [8 a ] and [ 2 1 a ] ) , all of which rely more on polemical vituperation than on reasoned argument or explication. Quite apart f r o m the foreword, the A n t h o l o g y is, as several reviewers pointed out ( [ 5 ] and [ 2 2 ] for example), a mixture of styles rather than a unified collection, ranging f r o m the terse urban poetry of Blass to the effusions of Else Lasker-Schüler and from the apocalyptic visions of H e y m to the exoticism of some of Hiller's o w n early verse. There is, i n other words, a discrepancy between H i l l e r ' s characterization of the poetry i n his foreword and the nature of the poems themselves, a good number of which (such as M a x Brod's »Das Bad auf dem Lande«, »Waldrand« and »Der Magier«, A r t h u r Drey's »Junger Prophet« and »Kloster« and Herbert Grossberger's »Götzendienst« and »Exhibition«) have l i t t l e or nothing to do w i t h c i t y life or the sensibility o f its inhabitants (c.f. [ 2 2 ] ) . I n this connection Erich Mühsam wrote: »Was diese Autoren [Brod, Lasker-Schüler and Schickele] [ . . . ] m i t dem v o n H e r r n H i l l e r i n der Einleitung zwar bestrittenen, doch aber k l a r formalierten [sie] Programm zu schaffen haben, ist unerfindlich« [ 6 ] and Lautensack went so far as to say: »Aber man w i r d eben fort und fort i n dieser Annahme bestärkt, daß der Herausgeber seiner Vorrede i m wortwörtlichsten Sinne vor der Zusammenstellung der A n t h o l o gie verzapft hat« [ 5 ] . This discrepancy i n itself irritated reviewers (compare [ 4 ] , for example, where Lissauer juxtaposes w i t h o u t comment extracts f r o m Der Kondor w i t h assertions f r o m H i l l e r ' s foreword which clearly contradict them): i t must have been doubly i r r i t a t i n g for reviewers who, like E m i l Faktor [ 2 2 ] , knew of poets such as G o t t f r i e d Benn, Jakob v a n H o d d i s or A l f r e d Lichtenstein w h o w o u l d have better fitted Hiller's b i l l . Finally, anyone at all familiar w i t h the oeuvre as a whole of the i n d i v i d u a l contributors soon saw that Hiller's selection of texts was at best personal and at worst arbitrary and that several of the contributors had w r i t t e n poems w i t h a better claim to be included. Mühsam, for instance, noted that Werfel's Der Weltfreund (Berlin, [ W i n t e r ] 1911), f r o m which eight of Werfel's ten Kondor poems had been taken, contained verses »von starker, schöner u n d oft rührender Empfindung«, and concluded: »Statt dessen ent-

214

R i a r d W. Sheppard

hält der Kondor aus Werfeis Repertoire nur Stüdte, die noch peinlich m i t gesuchten Ungewöhnlichkeiten kokettieren« [ 6 ] . Stadler likewise asked w h y H i l l e r had omitted Schickele's »Predigt an das Großstadtvolk« or » T i v o l i - V a u x h a l l « [ 2 3 ] . A n d 70 years later, one cannot but wonder, as d i d the author of [ 1 6 ] , w h y H i l l e r selected some of Heym's weaker poems and failed to anthologize such poems as »Berlin I , I I I - V I I I « , »Der G o t t der Stadt«, »Die Dämonen der Städte«, »Wolken« or »Schwarze Visionen I V I « , all of which had appeared i n Heym's first collection Der ewige Tag ( A p r i l 1911). I n short, Hiller's foreword and editorship seem to have been the most immediate reason for the negative reception of Der Kondor and, whatever one's retrospective sympathies, one has t o concede that there is considerable t r u t h i n Lautensack's judgment: » U n d die jungen Dichter mögen sich bei ihrem Herausgeber bedanken, wenn einem durch dessen Vorlautsein, das nichts mehr m i t dem Recht der Jugend zu schaffen hat, selbst der Genuß etwaiger Talentproben vergällt w i r d « [ 5 ] . Hiller's tone and editorial attitudes provided reviewers w i t h the perfect excuse for rejecting the A n t h o l o g y out of hand w i t h o u t investigating its originality further. Provoked by the introduction t o and make-up of Der Kondor, very few of its reviewers were, as K a r l W i l l y Straub remarked [ 1 7 ] , neutral. O f those k n o w n t o me, o n l y E m i l Faktor ( 1 8 7 6 - 1 9 4 2 ) , the literary critic of the liberal Berlin newspaper Der Tag, seems to have remained unaffected, dealing out praise and blame w i t h such obvious detachment that his hyperboles seem t o function more as a demonstration of his polished professionalism than as a sign of any real engagement. Thus: Tiefes hat einer zu geben, der so gar nicht auf das Großstadtprogramm eingeschworen ist. Es ist der tagscheue Polaritätssucher S. Friedländer, ein geborgener Geist voll heimlicher Spannungen. [ . . . ] Eingeschmuggelt erscheint mir Else Lasker-Schüler, die auf einer Himmelsleiter steht und die Welt in abenteuerlichen Farben brennen sieht. Diese Fliegerin ist an keine Gruppe zu ketten. Dagegen ist Ferdinand Hardekopf gewiß einer, den die Kokarde schmückt. Dem Auge schwindelt bei seinen Kurven, und als Momentzerpflücker und Stimmungsanatom ist er ahnungsvoller Vorläufer der Futuristen [22]. W h i l e seeming to participate i n the i£o«i/or-Debatte, Faktor is actually indicating that he is unaware of its importance and unreceptive t o the more drastic implications o f the Kondor poetry: having nullified its impact i n a cushion of absorbent metaphors, he can move on to the next job. Most other reviewers, however, entered the lists against H i l l e r , revealing as they d i d so that their indignation was generated not simply by H i l l e r ' s foreword and editorship but, at a deeper level, b y the realization that his Condor was a b i r d of prey which both devoured corpses (compare [ 1 1 ] )

The Expressionist Anthology Der Kondor

215

and flew i n the face of conventional assumptions about the nature and practice of poetry, the nature of man and the nature of reality (compare, especially, [ 1 4 ] ) . Indeed, the history of the early reception of Der Kondor is a fascinating example of the various strategies available t o reviewers for dismissing or assimilating a w o r k which, b y failing to f i t their established preconceptions, has generated an emotional unease w i t h i n them. A t the most p r i m i t i v e level, the t w o earliest reviewers o f Der Kondor k n o w n to me—the anonymous reviewer i n the liberal Tägliche Rundschau [ 3 ] and the agrarian poet Ernst Lissauer ( 1 8 8 2 - 1957) [ 4 ] — b o t h use the strategy of selective quotation. I n both cases, verses are presented from the A n t h o l o g y — w i t h o u t detailed commentary i n the first instance and set against assertions from Hiller's foreword which they contradict i n the second—and i n b o t h cases, the reviewer assumes a complicity w i t h his readers, saying i n effect that »we, as cultured men, can see h o w ludicrous this is and need no commentary to tell us so«. Thus, the author of [ 3 ] begins his piece b y asserting: »Ein äusserst humoristisches Buch ist soeben erschienen. D i e W i r k u n g ist geradezu erschütternd u n d erstaunlich, u m so erstaunlicher, da es sich u m eine lyrische Anthologie handelt, die so viel H u m o r vermittelt.« I t is not hard t o see w h y Der Kondor should have provoked such a wholesale dismissal f r o m Lissauer (whose collection of poems f r o m 1901 - 1 9 0 6 , Der Acker, had r u n i n t o t w o editions b y 1910). The poems, say, of H e y m and Blass involve a sense of the f r a g i l i t y of the poetic »Ich« and thus tend t o suppress i t . They also present emotions indirectly, by means of concrete situations; debunk l o f t y emotions; explore the arcane, pathological regions o f experience and the psyche; deal i n urban contexts; i m p l y a gap between man and the demonic N a t u r e b y which he is surrounded and use terse, pared-down language because their authors are acutely aware of its approximate nature. I n contrast, Der Acker assumes the supremacy and unassailability of the »Ich« even when faced w i t h extreme situations (»Ich löse, was zu Licht w i l l , aus der H a f t / I d i b i n der Bergmann meiner eignen Tiefe« [p. 9 ] ) ; deals i n external, abstracted descriptions at one remove of l o f t y , artificial and respectable emotions (such as love of w o m a n seen i n k n i g h t l y terms); uses language as a cerebrally constructed, decorative surface; w i t h d r a w s f r o m urban contexts to such an extent that »Der Schlot« (p. 44) envisages factory chimneys as mediaeval castles w i t h the plumes of smoke as their banners; emphasizes the continuity between man and the blood of N a t u r e which is felt to circulate just below the earth's surface (»Ein jeder Schritt verwurzelt uns dem unten w e i t gefügten Land« [p. 4 6 ] ) and plays, b y means of luxuriant

216

R i a r d W. Sheppard

language i n which the writer clearly has great confidence, w i t h extreme emotions and apocalyptic themes w h i l e carefully holding these at arm's length. Whereas Der Kondor, for all its imperfections as an anthology, offers insights i n t o a drastically alien w o r l d , Lissauer's Der Acker, w h i l e pretending to do the same, actually presents the reader w i t h a reassuring vision of a static, comfortable w o r l d , i n which the power of language is not doubted and the ultimate stability of the »Ich« never questioned. When Lissauer writes: »Ich höre eine Brandung singen./Es schrillt das tief i n m i r gefangne Meer« (p. 33), he never really doubts that that sea is negotiable b y pleasure craft which can be hired for the afternoon. Given this, his rejection of Der Kondor was inevitable. Heinrich Lautensack ( 1 8 8 1 - 1 9 1 9 ) had participated i n the E l f Scharfrichter Cabaret i n Munich around the t u r n of the century and, b y mid-1912, was enjoying a m i l d l y scandalous reputation as the author of erotic comedies (such as Hahnenkampf — which had received its first performance i n Vienna i n 1911) and poetry (the largest collection of which had appeared i n Berlin i n 1910 as Documente der Liebesraserei — Die Gesammelten Gedichte ). One might therefore have expected him, as something of a Bohemian, to be favourably disposed towards the avant-garde Der Kondor. As i t happened, however, he contributed a review [ 5 ] to a r i g h t - w i n g Berlin newspaper which is notable for its scathing rhetoric rather than for any analytical appreciation. Nevertheless, the review is of interest i n the first instance for p r o v i d i n g the first example of a critical strategy which became common i n later reviews —that of dismissal b y labelling (c.f. [ 8 b ] , [ 9 ] , [ 1 1 ] and [ 1 3 ] ) . W r i t i n g on the basis of late Romantic sympathies, Lautensack commends Rilke, Dauthendey, V o l l m ö l l e r , Borchardt, Greiner, Michel, Carossa and K r e l l and consequently, w i t h o u t explaining his criteria for doing so, denies out of hand that the Kondor poems have anything to do w i t h » L y r i k « , »Kunst« or »Literatur«. The reviewer assumes that the meaning of such labels is k n o w n , accepted and static and, b y denying their applicability to Der Kondor, absolves himself f r o m the need to look at that w o r k on its o w n terms and consider the appropriateness of the categories b y which he has evaluated it. Quite apart f r o m the offence which Lautensack had very clearly taken at Hiller's foreword, i t is not hard to see w h y he should have been so dismissive of Der Kondor. A l t h o u g h Lautensack's o w n poetry can be sexually explicit 3 (c.f. »Das Lied zur Laute« [p. 53] or » V o n der Judentochter die Novelle« [p. 54]), i t is not imbued w i t h that sense of pan3 All references are to: Heinrich Lautensack, Das verstörte Werke, edited by W. L. Kristl (Munich, 1966).

Fest — Gesammelte

The Expressionist Anthology Der Kondor

217

eroticism which is to be found i n some of the Kondor poetry so that one is left w i t h the feeling that for Lautensack, sensuality is a means of subjective t i t i l l a t i o n rather than a force of cosmic dimensions. N o r does Lautensack's poetry evince a very complex understanding of Eros: he is able to celebrate the sexual act i n heroic tones (e.g. »Zeugung« and »Die Magd« [pp. 48 - 50]) precisely because he does not have the awareness, to be found i n Der Kondor , of the sordid, bestial and destructive aspects of Eros. Consequently, his »Pan« (pp. 45 - 46) is presented as a gentle, reassuring god w i t h cool hands. For Lautensack, eroticism is a split-off area of experience which the »Ich«, secure i n itself, can enjoy w i t h o u t reference t o anything outside itself. I n contrast, the best of the Kondor poets sense that Eros is a power which undermines the security of the »Ich« and which, far from being susceptible to compartmentalization, underlies all things — especially the mass modern city, a context which is conspicuously absent from Lautensack's verse. Thus, Lautensack denies the labels of » L y r i k « , »Kunst« and »Literatur« to Der Kondor for a very simple reason. I n his canon, art, even when, on the surface, i t appears to be shocking, has to deal i n pleasurable sensations and reassuring enjoyment — not i n desturbing explorations of the modern consciousness and environment. The position taken and tactics used b y the D a n z i g essayist Fritz D r o o p (1875 - 1938) are not fundamentally dissimilar f r o m Lautensack's. D r o o p had clearly been enraged by Hiller's foreword and, steeled b y that anger, quotes the Kondor's poetry selectively, dismisses some of i t out of hand as »dilettantenhaft albern« and »zotig« and accuses the A n t h o l o g y as a whole of conjuring up once again »eine glücklich überwundene Epoche dekadenter Entartung« [ 1 6 ] . L i k e Lautensack too, D r o o p conceals the real bases of his sweeping and f a i n t l y ominous value-judgments which, however, become very p l a i n from the t w o books which he published on the neo-Anachreontic poet O t t o Julius Bierbaum (1865 - 1910) 4 . I n the foreword to the 1910 volume (p. 6), D r o o p w r o t e : Bierbaums Gedichte, Lieder und Sprüche haben fast durchweg etwas Schlichtes, Natürliches, etwas Einschmeichelndes und Herzgewinnendes, wie es unser Volk liebt; und wenn seine Versbücher auch eine Menge leichter Tändeleien mit sich führen, so enthalten sie doch alle eine stattliche Anzahl Gedichte, über denen ein wirklich echter, zarter Duft von Grazie und Armut liegt. A n d i n the 1912 volume, Bierbaum is said to be a »Schönheitstrunkenes Sonntagskind« (p. 6) whose poetry is characterized by a »phantastischer Idealismus« (p. 9), a burning respect for Goethe (p. 13), a threefold harmony 4 Fritz Droop (ed.), Reife Früchte vom Bierbaum (Leipzig, 1910); Fritz Droop, Otto Julius Bierbaum: Ein deutscher Lyriker (Leipzig, 1912).

218

R i a r d W. Sheppard

between »Freude, Schönheit, Liebe« (p. 16) and a sense of the u n i t y between man and N a t u r e (p. 16). D r o o p , like Lautensack, clearly assumes that the task of poetry is t o weave beautiful, harmonious and reassuring illusions. Consequently, the poetry of Der Kondor , constituting as much of i t d i d an i m p l i c i t denial of those illusions, inevitably provoked f r o m h i m a v i o l e n t l y negative reaction. Despite his reputation at the time for radicalism, the Anarchist Erich Mühsam ( 1 8 7 8 - 1934) is also very negative about Der Kondor [6] — although, unlike Lissauer and Lautensack, he attempts to make his theoretical preconceptions explicit. Surprising though i t is, given his subsequent history, Mühsam's assumptions are basically late Romantic: » L y r i k , scheint mir«, he states i n [ 6 ] , »ist der persönlichste Ausdruck künstlerischer Empfindungen, die denkbar sind« and the touchstones of »good poetry« are described as »die grosse ernste Ehrlichkeit des Empfindens« and »die Umsetzung [der] Gefühle ins Symbol«. Accordingly, Mühsam commends Else Lasker-Schüler (the contributor to Der Kondor w h o , above a l l the others, wrote about her o w n feelings and w h o , as Ernst Stadler pointed out some months later, d i d not really belong i n the A n t h o l o g y at a l l [ 2 3 ] ) as »genialisch«, w h i l e criticizing the impersonal, t h r o w - a w a y tone of H e y m , Blass, H i l l e r and H a r d e k o p f , together w i t h Heym's »Naturalismus des Schauens«. Furthermore, Mühsam also contrasts Der Kondor unfavourably w i t h his o w n collection o f poems Der Krater (Berlin, 1909), precluding i t from empathetic consideration b y means of the dismissive labels of »Kitsch«, »Journalismus« and »schlechte Kunst« — all relative categories masquerading as objective value-judgments. Again, i t is not hard to see w h y Mühsam should have reacted as he did. I n accordance w i t h his loaded conception of »good poetry«, a large proportion of the poems i n Der Krater, albeit sharper and less sententious than those of Lissauer's Der Acker, proceed f r o m very similar preconceptions. They t a l k about feelings rather than present images which mediate those feelings directly and concretely; deal rhetorically at one remove w i t h large themes; contemplate apocalyptic subjects as long as these can assume an exotic or Romantic f o r m and thus be held at a distance (e.g. »Der Krater«, p. 5); p l a y w i t h the idea of the lonely, alienated poet (p. 16); reject the city (p. 19) and present love as the redeeming force w i t h i n the w o r l d (pp. 64 and 65). For Mühsam, »der persönlichste Ausdruck künstlerischer Empfindungen« seems i n practice to mean the translation i n t o verse of high thoughts about relatively straightforward feelings rather than, as is the case w i t h the best o f the Kondor poems, the visual presentation of an irreducible complex of emotions through a concrete image. Which explains w h y , when Mühsam has to summarize his criticism of Der Kondor, he does so as follows:

The Expressionist Anthology Der Kondor

219

Was die Kondoristen treiben ist hingegen nicht nur »immerhin schlechte Kunst«, sondern auch Kitsch, weil ihre Augen keine guten Bilder, sondern schlechte Oeldrucke schauen, und weil sie sich einbilden, Kunst sei der plumpe, u n v e r a r b e i t e t e [my emphasis] Beschreibung roher Sinneseindrücke mit angehängter Pointe und einem dicken Knalleffekt. Throughout much of Der Krater , Mühsam's »Verarbeitung« has the effect of placing a barrier of language between the reader and the poetry and hence of reducing the impact of the verse. A n d yet, paradoxically, there a r e poems i n Der Krater which are very close to the best verse of Der Kondor . Every n o w and again, the reader encounters lines or stanzas which, i n their monochrome simultaneism, unadorned directness, sense of impending threat and imaginative suggestiveness, could have been w r i t t e n b y H e y m or v a n H o d d i s (whose poems really belong i n Der Kondor but w h o was not included there because he had been prominent i n expelling H i l l e r from the proto-Expressionist Berlin Neuer Club i n 1911). Thus: Und schwärzer wird die Nacht — und endlos dehnt die Strasse sich — und schmutziger Regen tropft.

(p. 11)

or: Der Himmel gähnt in schattenlosem Blau; der See schnappt faul nach grellen Strahlenbrocken; der Berge schläfrig regungsloser Bau glotzt in den Tag, — gelangweilt, trag und trocken, (p. 18) or: Die Kirchenuhr schlägt Mitternacht. Da unten schäumt der Fluss und keucht. Die Eisenbrücke ächzt und kracht, und meine Stirn ist kalt und feucht. Was will das lüsterne Gehirn? Ein Baum greift aus. Ein Vogel krächzt. Ein Peitschenschlag durchreisst mein Hirn . . . Es keucht der Fluss. — Die Brücke ächzt, (p. 30) Given the existence of such verse, Mühsam's unequivocal rejection of Der Kondor may mean at one level that he was irritated at not being included i n an A n t h o l o g y w i t h which some of his poems had a clear affinity. But, at another level, Mühsam's vehemence may indicate that he sensed i n Der Kondor aspects of his o w n imagination which were fundamentally alien to and could not be reconciled w i t h his o w n , late Romantic, theoretical principles. The anonymous reviewer i n the Vossische Zeitung [ 7 ] approached Der Kondor f r o m a perspective that was b o t h humanist. Accordingly, he takes exception to its attacks on bourgeoisie, its preoccupation w i t h human c o r r u p t i b i l i t y

seems to have bourgeois and the established and therefore,

220

R i a r d W. Sheppard

presumably, its neglect of transcendent »Geist«. Correspondingly, he singles out Werfel, the most explicitly humanist of the Kondor poets, praising his poem » A n den Leser« for its faith i n m a n k i n d and comparing i t w i t h Schiller's » A n die Freude«: »Solches verschönt einen doch: da ist ein M a n n , der i n verbesserter Form das >Seid umschlungen, M i l l i o n e n !< ausruft, ohne böse zu sein auf die Turnlehrer, Rechtsanwälte u n d Privatbeamten« [ 7 ] . N a i v e though these comments may be f r o m an aesthetic point of view, they indicate that the reviewer has grasped the basic implications of the major items published b y Der Kondor — their challenge to a Weltanschauung which places man and the human ego at the centre of Creation; neglects those aspects of experience contradicting the power and supremacy of man and, basing itself on a belief i n the benign ordering of the Universe, views contemporary industrial c i v i l i z a t i o n as the highest pinnacle attained so far by human history. Thus, i n order to reassure himself that the threat posed b y Der Kondor is not to be taken seriously, the author of [ 7 ] denies the A n t h o l o g y the accolade of poetry, relegating i t to the »unserious« category of »cabaret verse«. D r . Fritz Hellermann (no biographical details k n o w n ) , the literary critic of the liberal Hamburger Fremdenblatt , writes f r o m a similar perspective to that of the author of [ 7 ] and gives himself away w i t h an equally touching naivety. H e begins his review b y describing the circumstances, a reading-evening among friends, i n which he had first encountered Der Kondor: Wir waren von einer Kahnfahrt ins sommerliche Alstertal heimgekommen und saßen nach einem gesunden Abendbrot bei einer Flasche italienischen Landweins und einem Tabak um den runden Tisch mit der bunten Decke, auf den die grünbeschirmte Lampe einen hellen Kreis zeichnete, während die Köpfe der Tischgenossen im Dämmer versanken. Die Laute, die das junge Wandervolk von heute in schlimmer Verkennung ihres reichen Klanges Zupfgeige heißt, hatte draußen im blumigen Garten genug geklungen, und beim Planen, wie der Rest des Abends schön und geruhig hingebracht werden könne, kamen uns ein paar Bücher in die Hände und wir begannen einander vorzulesen. Wohlklang und Sinn und Tiefe der mit glücklicher Hand gewählten und mit schlichtem Vortrag gelesenen Dichtungen woben eine fröhlich zufriedene und still besinnliche Stimmung durch die Stube. So hatten wir, wie es jeder fand, Goethe und Eichendorff, Mörike und Storm, Keller und Conrad Ferdinand Meyer, Dehmel und Bierbaum, Liliencron und Rilke gehört [14]. Deciding to contribute to the entertainment, Hellermann began to read from Der Kondor , lately sent to h i m to review, but as he d i d so, the mood of his hearers became increasingly ugly and he himself increasingly disturbed u n t i l the c o n v i v i a l i t y of the evening was completely destroyed. Whether this account is true or fictionalized, Hellermann's response is striking: he is

The Expressionist Anthology Der Kondor

221

lucid enough to recognize that the features of Der Kondor , the »grünes Unheil«, which had upset h i m so much, were broadly ideological rather than exclusively literary. Consequently, he does not disguise his critique of the A n t h o l o g y i n a literary-critical code. L i v i n g i n a mental w o r l d which had still not accepted the mass industrial city as the established social milieu of early twentieth-century Germany, Hellermann's comfortable, bourgeois i d y l l had, on his o w n admission, been shaken so badly by the »Asphalt-Lyrik«, b y »die Atmosphäre des Bordells und trüber Schänken« of Der Kondor , that he explicitly accuses the A n t h o l o g y of i n v o l v i n g a »Gefahr [ . . . ] der man den Garaus machen muß« and concludes: Aber es soll sich schon manch einer verrechnet haben, und die ehrliche Hoffnung, daß die »Kondorigen« an dem gesunden Kern unseres Zeitempfindens scheitern und in ihren absinthfarbigen Sumpf zurücksinken mögen, wird nicht enttäuscht werden. Eine Warnung vor ihnen wollen diese Zeilen sein durch Aufweisung ihrer armen und traurigen Mache und durch die daraus entspringende Erkenntnis des Irrwegs, den sie taumeln. Und diese Absicht mag entschuldigen, daß hier so viel Raum für eine so unerquickliche Sache beansprucht worden ist [14]. As w i t h [ 7 ] , a bourgeois imagination senses a threat to the entire valuesystem on which its literary tastes and judgments are dependent: unlike [ 7 ] , however, that threat is admitted as real and warned against rather than dismissed as t r i v i a l . [ 8 ] , [ 1 0 ] and [ 2 5 ] f o r m something of a coherent group of reviews since, i n all three cases, the authors approach Der Kondor f r o m a Naturalist point of view. Julius Bab ( 1 8 8 0 - 1 9 5 5 ) , the author of [ 8 ] , had published t w o books of verse b y the end of 1912. The first, Freisprüche: Angelische Verse (Berlin and Leipzig, 1903), was an eminently forgettable collection of four-line »Sprüche« modelled on Angelus Silesius* Cherubinischer W andersmann and notable for its heavy-footed moral sententiousness. A n d the second, Lyrische Porträts (Berlin, 1912), was a series of portraits i n verse of famous men such as Napoleon, Ibsen, Büchner etc. and scarcely less tedious than the first collection. Bab was, i n other words, no poet. Indeed, he was best k n o w n at the time as a theatre critic sympathetic to N a t u r a l i s m and, accordingly, the principles by which he evaluates Der Kondor seem to derive directly from the ideas of W i l h e l m Arent, H e r m a n n Conradi and K a r l Henckell, the editors of the Naturalist anthology Moderne DichterCharaktere (Berlin, 1885—hereafter cited as M D C ) which went into a second edition i n 1886 under the title Moderne Lyrik — Jung Deutschland (hereafter cited as M L J D ) . I n »Die neue L y r i k « , Henckell's introduction which appeared i n both editions, the poet is enjoined t o : begeistern, hinreissen, mit ein paar herrlichen aus den unergründlichen Tiefen einer geistes- und ideen-trunkenen Seele hervorströmenden Worten dich macht-

222

R i a r d W. Sheppard

voll zu erhabener Andacht zwingen und dir süssmahnend gebieten . . . , dich zu beugen vor der Urkraft, die in ihm wirkt und schafft . . . (MDC and MLJD, p.VI) A n d Conradi, i n his piece »Unser Credo« (which appeared i n M D C alone), proclaimed that the contributors desired »neue, glühaufflammende Begeisterung« (p. I ) , poetry which i n v o l v e d »Grosses, Hinreissendes, Imposantes, Majestätisches, Göttliches« (p. I I ) . Bab's review contains an echo of these demands, describing poetry as the impassioned reproduction »einer zentralen Leidenschaft« which, having been purged of its »bloss stofflich [es] Interesse«, becomes a »klingendes Symbol dieser Leidenschaft«. N o t surprisingly, Bab objects to most of the Kondor- poets' »fühllos verselnde Blasiertheit«, claiming that this subverted the »Echtheit des Erlebnisses« and exempting f r o m this judgment only M y n o n a , Else Lasker-Schüler and W e r f e l — a l l of whose Kondor- poems could, w i t h o u t too much d i f f i c u l t y , be assimilated t o Bab's demand for passionate sincerity. Here again, the reviewer has sensed a q u a l i t y i n Der Kondor which is latently threatening — irony. When poets like Blass, H a r d e k o p f , D r e y , H e y m and K r o n f e l d adopt an unemotional, t h r o w - a w a y tone, ironizing on the utterances of their poetry b y means of cynical enjambements, outlandish rhymes and a selfconsciously »unpoetic« vocabulary, they do so for three reasons. First, because they are t o a greater or lesser extent aware of the ambiguous nature of »Leidenschaft«, the fragmentary nature o f the human ego, the insufficiency and insubstantiality of that ego when faced w i t h p r i m o r d i a l psychic forces 5 , the r e l a t i v i t y of the poet's point o f view, the arbitrary nature of language and its i n a b i l i t y , once f a i t h i n the centrality and substantiality of the human ego has been lost, t o support grandiose themes and emotions. I n contrast, although W i l h e l m Arent's »Mondnachtzauber« ( M D C , p. 21) and Julius H a r t ' s »Der Seele T o d « ( M D C , p. 66) deal w i t h extreme states o f mind—madness, despair and eternal longing i n the first case and death i n the second—both poems are marked b y a very strong sense of the stability and d u r a b i l i t y of the lyric »Ich«. B o t h poets can declaim their thoughts w i t h an unironic linguistic confidence precisely because the reality of the source f r o m which the words are assumed to derive

5 Compare James Rolleston's pertinent remarks about Expressionist poetry with particular reference to Heym and Trakl: »First, the romantic ideal of the >IdiIchDie Welt der Aufklärung< «, Die Aktion, 2, No. 35 [28 August 1912], col. 1104). Second, Hiller certainly wrote reviews for the Neue Badische Landeszeitung under his own name (e.g. that of Egmont Seyerlen's novel Der schmerzliche Scham which appeared there between 17 and 21 February 1914). Third, [18] is the only review known to me whose author is unequivocally positive about Der Kondor. Fourth, the author of [18] is unique in paraphrasing Hiller's foreword approvingly, using neologisms (»rigoros« and »tumultuarisch«) of the kind favoured by Hiller at the time and identifying precisely those aspects of Der Kondor (the youthfulness of the contributors, the urban setting of many of the poems and the transcendence of epigonic classicism) which appealed to Hiller.

The Expressionist Anthology Der Kondor

233

place i n Stadler's style: abstract rhetorical stridency has given w a y to a quality of visceral passion objectified i n concrete imagery; the declamatory »Ich« is less obtrusive and urban contexts, combining real and surreal elements, are m u d i more i n evidence. The chronological pattern, the emergence of such new features and the striking similarities between Stadler's »Judenviertel i n London« (Die Aktion , 12 J u l y 1913) and Heym's »Die Vorstadt« (half of which appeared i n Der Kondor and a l l of which had appeared i n Der ewige Tag —reviewed b y Stadler i n the second half of [ 2 3 ] ) suggest that Stadler's reading of these t w o books of poetry had had a decisive effect on his o w n w r i t i n g . I n which case, Stadler's somewhat hesitant review of Der Kondor w o u l d be the product of an imagination i n transition, receptive to the new w i t h o u t entirely understanding i t or being entirely committed to it. Perhaps, however, the most perceptive review of Der Kondor came from the pen of Herbert Eulenberg [ 2 6 ] . Subtitled »Betrachtet nicht beurteilt«, i t displays considerable insight i n t o the novelty of Der Kondor together w i t h an awareness that the new poetry cannot be judged by o l d criteria — which says a great deal for Eulenberg w h o had, by 1912, w r i t t e n relatively little poetry himself and was better k n o w n as the author of light comedies and historical novels. Eulenberg's piece takes the form of a dialogue i n which an o l d professor fulminates t o a young lecturer against the arrogance of Hiller's foreword, the exclusive concern of the Kondor poets w i t h »das Hässliche« and »die Nachtseite des Daseins«, their lack of »Sinn für das W e s e n t l i c h e unseres Menschseins«, their cynical use of rhyme, their »sinnlose Aneinanderreihen v o n Worten, Gesichten u n d Vorstellungen« and their »Aufhäufen v o n Scheusslichkeiten«. The young lecturer, on the other hand, defends their poetry as follows: Bemerken Sie, bitte, dass fast alle diese jungen »Dichter«, um dieses vielfassende weitauszulegende Wort auch auf sie anzuwenden, in der Großstadt aufgewachsen sind und dass dies keine schöne Umgebung zu sein pflegt, dass vielmehr das Hässliche sich hier und für junge reizbare Wesen, die am taedium vitae kranken, doppelt empfindlich hervordrängt. Furthermore, the young lecturer makes the very significant point that i t is possible to r e s i d e i n a great city w i t h o u t actually l i v i n g i n it—i.e. to persist i n habits of perception and feeling which have been inherited from a pre-industrial epoch and overlook those aspects of experience peculiar to the contemporary situation. The young lecturer implies that many critics of Der Kondor (including his professor) are i n this situation and thus incapable of understanding w h a t the A n t h o l o g y is actually saying. Finally, the young lecturer gets to the heart of the Kondor-Debatte b y making the

234

R i a r d W. Sheppard

following, h i g h l y pertinent statement which, i n view of the preceding discussion, needs no gloss: Derlei Erlebnisse hinterlassen vielleicht in unsern stillen pazifizierten Zeiten einen stärkeren Eindruck bei dem Einzelnen! Und dass der sinnliche Trieb in diesen Jungen noch mächtiger ist als der Wille zur Vergeistigung dürfte erklärlich und verzeihlich sein. Sie suchen das Un- und Aussergewöhnliche, und dass sie dies in der gesättigten unbewegten Luft um unser Bürgertum nicht finden, ist doch nicht ihre Schuld. Darum steigen sie wohl zu den Dirnen und Zuhältern und Zöllnern wie weiland Christus hinab, weil das Leben hier mehr schäumt — The Kondor-Debatte was a battle conducted almost entirely i n code and i f one looks at the combattants' explicit statements, i t seems almost incredible that one little anthology of poetry could have generated so much heat. Indeed, at a mundane level, the Kondor-Debatte constitutes a salutory w a r n i n g to reviewers i n general: the anger provoked b y a w o r k under review may, i n the end, say more about the short-comings of the reader than of the author. However, once one decodes the hidden assumptions on which the poems and the reviews are based but of which most of the authors seem to be unaware, one discovers t w o things. O n the one side, a critique of the closed, static, anthropocentric w o r l d o f contemporary bourgeois society which, although i m p l i c i t , goes far beyond purely aesthetic considerations. A n d , on the other side, various strategies of dismissal and assimilation whose perpetrators seem to have sensed that the implications of the most radical poetry of Der Kondor confronted and subverted their most basic preconceptions about man, language, N a t u r e and H i s t o r y . The debate about the aesthetics of the A n t h o l o g y is, as so often, simply the t i p of the ice-berg: i n retrospect, i t is not exaggerated to say that the Kondor-Debatte encapsulates, largely i m p l i c i t l y , the much broader crise de conscience through which European Humanist culture as a whole was going through the years around the Great War.

K O N R A D WEISS Ü B E R H R O T S V I T V O N G A N D E R S H E I M V o n Walter Berschin ja sieh, der Sinn und Geist, er hat kein wahres Kleid so lang die Hand nicht treu und maschengleich gereiht Buchstaben, oder jedes andre Werk und Ding . . . »Largiris. Ornament der Schrift« (K. W., Gedichte, ed. F. Kemp, München 1961, S. 636) I n der vorletzten N u m m e r der Neuen Rundschau des damals Berliner Suhrkamp-Verlages erschien als Titelaufsatz: K o n r a d Weiß » H r o t s v i t v o n Gandersheim« 1 . I n i h m geht Weiß v o n der A r t aus, i n der man sich vielleicht unbefangen »die erste deutsche Dichterin« vorstellen w ü r d e 2 : Schon die Vorstellung, wie vor rund tausend Jahren die ersten eigenen Dichterstimmen, die wir kennen, in die deutschen Gaue erklungen sind, möchte uns Heutige selbst mit der Lust einer dichterischen Morgenfrühe überkommen. Wer dazu noch den Harz kennt und an den blauen Ernst der Höhen zurückdenkt, womit er in das westliche Land heraus schattet, wer hier nun Gandersheim an der Gande weiß und also den Ort, wo Hrotsvit, die erste deutsche Dichterin, ihr einbezirktes Leben gehabt hat, der mag davon eine so lebhafte Lust empfinden wie von dem schönsten deutschen Naturbild mit Wald und Fluß und Feldern, wenn der Wind hindurchgeht mit vielen beflügelten Stimmen. Die erste weibliche Stimme der deutschen Dichtung mußte wohl wie ein Laut der Natur selber sein, der aber zugleich wie eine Glocke die schwingende Erwartung einer langen Zukunft in sich trug. Dieses imaginäre B i l d w i r d alsbald m i t der Wirklichkeit konfrontiert. Weiß referiert Historisches u n d Literaturgeschichtliches aus der Ottonenzeit u n d zeigt die sächsische Kanonisse des X . Jahrhunderts als ein Paradigma für die scheinbare Selbstentfremdung, unter der — m i t allen abendländischen V ö l k e r n — die Deutschen i n die Geschichte eingetreten sind: D a steht N a t u r und Freiheit gegen eine übermächtige Geschichte u n d T r a d i t i o n , u n d so k o m m t es, daß die Sprache der ersten deutschen Dichterin nicht alt1

Die Neue Rundschau 55, 1944, Heft 2, S. 47-57. Wiederabdruck in Jahrbuch der Drostegesellschaft 2, 1948 - 1950, S. 235 - 251 und L. Verbeek, »Literaturkritische und zeitkritische Aufsätze von Konrad Weiß (II)«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 12, 1971, S. 324 - 441. Zitiert wird nach dem Erstdruck. 2 Die Neue Rundschau, 55, 1944, S. 47.

Walter Berschin

236

sächsisch oder deutsch ist, keine Muttersprache, sondern die »Vatersprache« Latein. H r o t s v i t ist dennoch eine »deutsche N a t u r trotz des Lateins ihrer Sprache u n d gerade auch m i t der sonderbar echten Angemessenheit ihrer weiblichen M o t i v e « 3 . Das ist dann das eigentliche Thema für den Aufsatz. Diese N a t u r , heißt es, erkennt man »nicht aus dem ersten Q u e l l der Wahrnehmung«, nämlich i n den lateinischen Dialogen, die Terenz nachahmen u n d den hochrhetorischen Perioden i n der A r t der spätantiken christlichen Dichter, »sondern«, sagt Weiß i n einer seiner typischen Formulierungen, die man schneller nachempfindet als nach-denkt, aus einer »prismatischen Rückstrahlung«, die »so vielseitig u n d einheitlich zugleich« ist, »daß der Q u e l l ihres Geistes v o n selbst zu schimmern beginnt u n d das lebendige Wesen ihrer N a t u r v o n i h m durchpulst w i r d wie v o n den Hauchen u n d dem schönen Blute einer ganz eigenen Bestimmung« 4 . Was ist damit gemeint? Weiß nähert sich auf Umwegen der Erläuterung. Er erinnert an die romanischen Frauenfiguren i n Quedlinburg und Gernrode 5 : Dort sind diese Figuren dann auf dem Grund der Steine festgelegt, eingefaltet in Gewänder wie in Sinnkräfte, stehend, ohne eigentlich zu stehen, aber im Andrang zu einem inneren Wesen noch aufrechter befestigt, mit Augen, die in einer geöffneten Mitte sind von Ein- und Ausblick, und ebenso mit Mündern, die stumm sind, weil gleichsam horchend gegen die eigenen Worte, um unverloren und bereit zu bleiben für den Empfang eines größeren Sagens. Aber das stille Gandersheim ist nicht das königliche Quedlinburg u n d nicht das reckenhafte Gernrode, u n d das X . Jahrhundert noch nicht die hohe Romanik. D i e Analogie aus der sächsischen Plastik hat nur Annäherungswert. H r o t s v i t hat noch nicht die romanische Wucht und Schwere, sondern »ein noch lebendigeres [ . . . ] funkelndes Zwielicht und Morgenlicht«. Dieses B i l d läßt Weiß nicht mehr los. Er spricht v o n Naturen, die »blitzen gleichsam v o n Erdreich u n d Wasser u n d noch nicht gleich dem Steine fest geworden sind m i t ihren geschichtlichen Sinnen«, der »Freiheit eines musikalischen Blitzens«, einem »funkelnden Geschöpf u n d einer ersten Schöpferin aus dem unversieglichen Wasser unseres Wesens«, v o n einer »Sinnesgewißheit [ . . . ] , als ob man das Dasein wie einen blitzenden K r i s t a l l i n der H a n d hätte« 6 . Versuchen w i r , das nachzuvollziehen. E i n Schlüssel z u m Verständnis sind die Frauengestalten i n Hrotsvits Dramen. A l l e sechs Dramen Hrotsvits handeln v o n Frauen. H r o t s v i t wollte Terenz verdrängen u n d suchte Stoffe, 3 4 5 6

S. 49. Ebd. S. 50. S. 50 f.

Konrad Weiß über Hrotsvit von Gandersheim

237

die zunächst i n ihrem Kloster oder Stift, unter Frauen, ebenso viel oder noch mehr Interesse fanden als die Liebes-, Dirnen- u n d Sklavengeschichten der antiken Komödie. Wer einmal H r o t s v i t gelesen hat, weiß, daß ein sächsisches Frauenstift des X . Jahrhunderts kein Mädchenpensionat war. Calimachus z u m Beispiel, das dritte der sechs Dramen H r o t s v i t s 7 : Calimachus liebt Drusiana, eine Anhängerin des Apostels Johannes, u n d gesteht ihr seine Liebe. Sie w i l l lieber sterben als ihre Jungfräulichkeit verlieren: u n d sie stirbt. Calimachus ist noch i n den schönen Leichnam verliebt. E i n ungetreuer Wächter namens Fortunatus schließt das Totenhaus auf u n d Calimachus schickt sich an, Drusiana als Tote zu schänden. Der tödliche Biß einer Schlange hindert i h n daran. D i e Schlange tötet auch den ungetreuen Fortunatus. Der Apostel Johannes erscheint u n d alle drei Toten oder Scheintoten werden erweckt. Der eigentlich Schuldige u n d Verdammte ist nicht der bis zur Perversion der Totenliebe entflammte Calimachus, der zur Besinnung k o m m t u n d die Taufe empfängt, sondern Fortunatus, der Verräter. Er w i l l das wiedergeschenkte Leben nicht behalten. Ο admiranda invidia diaboli , ο malitia serpentis antiqui [...] Nihil terribilius invido [ . . . ] 8 : »Erstaunlicher N e i d des Teufels, Bosheit der alten Schlange [ . . . ] . Nichts ist furchtbarer als ein neidischer Mensch . . . « Das ist der vielleicht krasseste Dramenstoff Hrotsvits. Es ist mehr ein Mysterienspiel als ein D r a m a i m antiken u n d modernen Sinn. I m Zentrum stehen der bis zur N e k r o p h i l i e leidenschaftliche Mann, der gerettet w i r d , der Verräter, der sich selbst verdammt und, unberührt, aber nicht unbewegt als Bewahrerin eines johanneischen Lebenssinns, die Jungfrau, deren O h n macht eine Schlange beschützt. »Bei aller Knappheit v o l l v o n unausschöpfbaren Elementen« nennt Weiß das Spiel i m gedruckten Aufsatz 9 ; »Gruftsinn als Mangelmitte des Lebens« ist zu diesem D r a m a i n den unpublizierten N o t i z e n zu lesen 10 . Drusiana stehe hier für alle Frauengestalten Hrotsvits, die aber beileibe nicht alle so johanneisch jungfräulich vorgestellt werden wie diese. Z w e i der sechs Dramen Hrotsvits enthalten Dirnengeschichten. A l l e sind Gestalten, die Weiß anders als Figuren romanischer Plastik empfindet, noch älter, aber keineswegs altertümlicher: »funkelndes Zwielicht« eines hellen Morgens, Blitzen wie Wasser u n d Erde. Diese Frauengestalten sind nicht unbeweglich, Drusiana w i l l nach der Liebeserklärung des Calimachus sterben, M a r i a läßt 7 8 9 10

Hrotsvithae opera, hrsg. v. Karl Strecker, Leipzig 21930, S. 151 - 165. S. 164. Die Neue Rundschau, 55, 1944, S. 54. Ich benütze dankbar eine hektographierte Umschrift von Dr. Veit Roßkopf.

238

Walter B e r s i n

einen Liebhaber i n ihre Reklusenzelle ein — »das B i l d der G ö t t i n w i r d nicht gerettet« 1 1 — aber es ist da kein Schwanken, Schwelen, Zögern oder langsamer Übergang. Das Ereignis trifft wie ein B l i t z , u n d so t r i t t die Lebenswende ein. Diese Frauen sind allein »ohne Ritter oder Helfer, das heißt ohne eigentliche Mitspieler u n d als rein für sich ausgelieferte Geschöpfe« 12 . Sie vertreten nicht Ideen, sondern nur einen Sinn u n d ein Vertrauen »ohne Wanken vor« dem »bestimmten Leben«, nicht fatalistisch, sondern leidenschaftlich hingegeben »auszuharren« 13 . Sie sind nicht Iphigenie u n d Johanna v o n Orleans, sondern, wenn w i r eine vertraute Parallele aus der neueren D r a m a t i k suchen, vielleicht Shakespeares Cordelia, die den Liebeserklärungen ihrer beiden Schwestern an den Vater, K i n g Lear, i n Worten »Nichts« entgegensetzt 14 : Lear: Cordelia: Lear: Cordelia:

Nichts? Nichts. Aus nichts kann nichts entstehen: sprich noch einmal! Ich Unglückselige, idi kann nicht mein Herz Auf meine Lippen heben . . .

Wer das W e r k v o n Weiß kennt, hat bemerkt, daß die Formulierungen über das »Prismatische« »Funkelnde« »Blitzende« bei H r o t s v i t u m ein größeres Thema, das Thema seines letzten Lebensjahrzehnts kreisen, das i n dem schönen Buchtitel gefaßt ist Deutschlands Morgenspiegel. W i r finden i n diesem W e r k auch einen Schlüssel zu unserem Hrotsvit-Aufsatz, freilich unter einem Stichwort, das man zunächst nicht m i t H r o t s v i t v o n Gandersheim zusammenbringen würde: Heinrich v o n Kleist. V o n i h m heißt es d a 1 5 : Seine Ideen, seine innersten Gefühle sind in gewissem Maße seine Frauengestalten. So wie diese vertrauen, wie sie Glanz geben und empfangen, wie sie ohnmächtig und doch als innerste Mächte in Gleichnis und Geschichte stehen, ja wie sie mit Penthesilea zwischen Natur und Geschichte das innerste Band der Liebe nur im Kampfe oder auch wie in einer Erblindung erkennen, so ist alles bei Kleist Weltanschauung, aber nicht Weltanschauung als Idee, sondern als Geschichte und Wirklichkeit, oder als die reinste Vertrauensfrage zum Dasein. Liebe vor allem ist in diesem Daseinsgefühl bei Kleist kein Gretchen-Schicksal um die persönliche Beglückung, sondern zutiefst noch der Kampf um eine reine Selbstaufgabe... Das ist die kürzeste u n d präziseste Formulierung dessen, was Weiß m i t Sinnesgewißheit, Sinnwillen u n d Vertrauen i m Ursprung meint. 11

Die Neue Rundschau 55, 1944, S. 57. S. 55. 13 Ebd. 14 Shakespeare, König Lear, Erster Aufzug, erste Szene. Ubers, von Wolf Graf Baudissin. 15 K. Weiß, Deutschlands M or genspie geh Bd. 2, München 1950, S. 21 f. 12

Konrad Weiß über Hrotsvit von Gandersheim

239

I m selben B u d i hat Weiß Gandersheim ganz als architektonisches Erlebnis geschildert. Er ist aber i m Gedanken an H r o t s v i t d o r t h i n gefahren 18 . Mit Lust zieht der Wanderer zu dem Orte, wo von der Dichterin doch nichts mehr zu erwarten ist als der schwebende Ruhm eines Namens. Aber das Herz will auf diese Weise eine stärkere Fühlung bekommen. Und dann steht hier auch der große romanische Münsterbau, der, als späterer Bau nach Bränden um 1100 vollendet, über die Zeit der Roswitha weiterträgt, der aber hauptsächlich in seinem Innenraum ein Baugefühl von einer sonderbar zugehörigen Stattlichkeit hat. Es ist nicht heftig im Baudrange, sondern von einem schön und sicher in Wechselstützen und Bogen geordneten Raumsinne, der wie eine kulturvolle Sprache und dichterische Prosodie die Schauenden umschreitet. Weiß sieht Gandersheim i n starkem Gegensatz z u den nahen ottonischen Stätten Quedlinburg u n d Gernrode, spricht v o n einer »schönteiligen, ordnungsstarken geistlichen Sprach- u n d Ausdruckskultur«, »Raum für schöne Rhetorik durch schöne Raumsprache« 17 ; »Konversationsraum« heißt es pointiert i n den N o t i z e n 1 8 . Wer Gandersheim kennt, w i r d das w o h l m i t Z u stimmung lesen; wer es nicht kennt oder dem Versuch, Architektur so z u m Sprechen zu bringen mißtraut, w i r d freilich sagen, der reisende Dichter habe nur gefunden, was er immer gesucht habe: den Raum Hrotsvits, der ersten deutschen Dichterin. Es gibt jedenfalls noch eine Hrotsvit-Studie, den Vergleich des sprachlichen Kunstwerks m i t einem räumlichen Kunstwerk, innerhalb des Reisebuchs Deutschlands *

Morgenspiegel. *

*

Der zuerst vorgestellte Aufsatz der Neuen Rundschau u n d die dann berührte Architekturstudie aus Deutschlands Morgenspiegel sind nur Teildrucke u n d Fragmente eines größeren gedanklich u n d methodisch umfassenden Werks, das als Ganzes noch nicht gedruckt ist. Dies ist aus der hektographierten Umschrift der Tagebücher v o n K o n r a d Weiß durch V e i t Roßk o p f zu entnehmen. Z w e i Hefte dieser großen Materialsammlung sind dem Thema H r o t s v i t gewidmet: eines ( N r . 58) m i t den oben schon genannten Notizen, ein anderes ( N r . 54) m i t allen Hrotsvitstudien, den gedruckten u n d ungedruckten. Es ergibt sich eine Tetralogie in folgender Reihenfolge : I II

Eine Schriftstudie Uber das Wesen der Dichtung

16 Deutschlands Morgenspiegel, Bd. 1, München 1950, S. 150 f. Der Besuch Gandersheims, dessen Eindruck Weiß hier schildert, war am 4. Juni 1934 (freundliche Mitteilung von Frau Dr. Runte-Schranz vom 8.11. 80). 17 S. 152. 18 Wie Anm. 10.

Walter Berschin

240 III

Geschichtlicher Dramasinn um das »holde Geschöpf«

IV

Geschichte zwischen Bild und Wort im mittelalterlichen Bausinne (Gernrode, Quedlinburg, Gandersheim).

Für den T i t e l des vierten Teils gibt es eine das Thema weiter spannende Variante: Sinngang der Geschichte in den Bauten des Mittelalters. Das Ganze sollte offenbar als Buch erscheinen, für das Weiß als T i t e l erwogen hat Hrotsvit von Gandersheim, die erste deutsche Dichterin oder Hrotsvit im Sinnspiegel. Was Hans Paeschke i n die Neue Rundschau 1944 aufgenommen hat (und dann i m 2. Jahrbuch der Drostegesellschaft 1948 - 1950 nachgedruckt wurde) ist Abschnitt I I u n d I I I dieses Gesamtplans. N u r eine Leerzeile i m Druck der Neuen Rundschau markiert noch die ursprüngliche Zäsur zwischen den beiden Teilen. D i e Zwischentitel sind weggelassen, sowohl der etwas groß gefaßte des I I . Abschnittes, wie der schöne u n d ganz präzise des I I I . Aus dem I V . Abschnitt hat Weiß w o h l selbst das eine u n d andere i n Deutschlands Morgenspiegel aufgenommen. Der I . Abschnitt ist bisher ganz unbekannt. D i e Idee für diesen ersten T e i l u n d vielleicht für das Hrotsvit-Buch überhaupt ist Weiß auf einer Ausstellung i n der Münchener Staatsbibliothek des Jahres 1935 gekommen, i n der künstlerische Werke v o n Frauen aus älterer Zeit gezeigt wurden 1 9 . Es waren zu sehen zum Beispiel das berühmte Evangeliar der Äbtissin U t a v o n Niedermünster zu Regensburg, zwei der 45 Handschriften, die die fleißige N o n n e D i e m u t v o n Wessobrunn geschrieben hat, ein Exemplar des Buches Scivias v o n H i l d e g a r d v o n Bingen. I m M i t t e l p u n k t der Ausstellung stand der H r o t s v i t - C o d e x aus St. Emmeram zu Regensburg, der seit der Säkularisation i n München als C l m 14485 verw a h r t w i r d . Aufgeschlagen w a r i n dieser Handschrift — das ist wieder aus den N o t i z e n zu entnehmen — der Anfang des Calimachus: Paucis vos amici volo. A(micï) U ter e quantum libet nostro colloquio 20. Daneben lag die Erstausgabe der Hrotsvithae opera v o n Conrad Celtis (Nürnberg 1501) 2 1 . Weiß hat i m Vertrauen auf die K o n t i n u i t ä t der Ortscharaktere die H a n d schrift als ein Zeugnis aus der W e l t Hrotsvits betrachtet, w o h l m i t Recht. Die Handschrift darf man zuversichtlich noch ins X . Jahrhundert setzen; sie stammt w o h l aus Gandersheim selbst u n d ist ein Zeugnis der Schule, i n der H r o t s v i t gelernt, geschrieben und vielleicht gelehrt hat. 19 Freundliche Mitteilung von Herrn Ltd. Bibliotheksdirektor Dr. Karl Dachs, Bayer. Staatsbibliothek München, vom 3.11. 80. 20 Siehe Tafel 1. Nach S. 240. 21 Siehe Tafel 2. Ebd.

-S'a* · § . § ! ! ^ O g ti j- 3 (Λ .5 rt 2 J2 C

• ο* Ρ - ε fe «· ^ . -I * £ 3 1 1 3 ? 1 I a " i Ι Ί -fE a w υ

f s CA M

i

fc J

^ Su S

I ^ Ι

S i

s * t Zr* U. ^ ti w S £ > -

β II "S J.S·* ^ M n'^ ^ V« f ì p- Ü 'Ss XÎ-v-Zf^ χ-6 Λ « c e r a l i e ü C ^ Ο 0 - 6 < é *T3 73 > «JÜ ω'Sa 3-g-« ÖJ . s * go ^ S ο rt ^ G cJ^-QJC £ s ^ 2 rt . tcc 2 C o.iS . O C £ - c .o U | " c0 &Λ 2 »»"e-S'e H ü .5 ID 3 h υ ο - ω * > S ^ £ § ε ο C 11 ο M 0 "S 0 ^ ^ ^ rS > 3 S „ £ g ^ (Λ C alten< Kontinent nach Afrika, von diesem sog. >primitiven< Kontinent nach Amerika, dem >neuen< Kontinent. Die Schauplätze bezeichnen damit auch drei Zeitpunkte der geschichtlichen Entwicklung: die Reise führt so von der gegenwärtigen Gesellschaft Frankreichs, die als irrational empfunden wird, in die Kolonialgesellschaft, die eine ältere Entwicklungsphase darstellt, während das hochindustrialisierte Nordamerika eine künftige Entwicklung der totalen Entfremdung vorwegnimmt. Ähnlich wie Malraux, der Les Conquérants mit dem Generalstreik in Kanton eröffnet, läßt auch Céline Voyage au bout de la nuit mit einem politischen Ereignis beginnen: mit dem ersten Weltkrieg. Die Initiation des Protagonisten findet nicht mehr wie im traditionellen Roman in der Liebeserfahrung, sondern auf dem Schlachtfeld statt. Gleich zu Beginn des Romans schließt sich der junge Bardamu einer vorübergehenden Soldatenkolonne an, eigentlich nur aus Neugier, und um seinen Freund in Erstaunen zu setzen — 10 In: Jean Lacouture, André Malraux. Une vie dans le siècle, (Paris, Seuil, 1975), S. 15; siehe dazu auch Vf., »Malraux et Bernanos«, André Malraux 3. La Revue des lettres modernes, n o s 425 - 431, 1975 (2), S. 7 - 30.

Céline — Eine faschistische Literatur von Rang?

249

damit entlarvt Céline die Klischeevorstellung des Heldenmutes und der patriotischen Überzeugung der Kriegsfreiwilligen. Gleichzeitig zeigt er aber auch auf, wie in dieser Massenbewegung das Individuum seine Autonomie völlig verliert und zum Gefangenen irrationaler Kräfte wird. »Ich wollte fortgehen. Aber es war zu spät! Sie hatten sachte hinter uns Zivilisten die Tore gesperrt. Wir saßen in der Falle wie Ratten« 11 . Ähnlich wie Barbusse in Le Feu, den er als einer der wenigen Zeitgenossen gelten ließ, entwirft Céline ein äußerst schonungsloses Bild der schrecklichen Kriegswirklichkeit. Der Krieg erscheint als die große Absurdität; in dieser verkehrten Welt wird aber gerade derjenige, der wie Princhard die Sinnlosigkeit erkennt, als verrückt erklärt. Der Autor vergleicht die Kriegshysterie mit der Tollwut der Hunde, wobei allerdings die Hunde ihre Tollwut nicht auch noch verehrten. Die häufigen Vergleiche zwischen dem animalischen und dem humanen Bereich münden bei Céline fast immer in die Feststellung, das Verhalten der Tiere sei vernünftiger — ein Vergleich, den man auch früher schon in der französischen Moralistik fand, so etwa in La Bruyères Caractères , wo er ebenfalls mit einer scharfen Kritik am Krieg verbunden ist. Céline entlarvt all diejenigen, die die Sinnlosigkeit durch Sinngebung zu überhöhen traditen, so die Vaterlandsdichter vom Schlage eines Déroulède, die im Brustton der Überzeugung vom sicheren Hinterland aus die Schönheit des militärischen Heldentums besingen. Gleich zu Beginn läßt Céline durch seine Hauptfigur die leeren Phrasen der patriotisch-militärischen Reden parodistisch imitieren. Der Patriotismus erscheint so als große Mystifikation, die das sinnlose Gemetzel rechtfertigen soll; eine Mystifikation auch die Idee der Rasse, die Idee Frankreichs. Das was aber real ist, das ist die Angst der Menschen vor dem Tod. Die Angst der Helden wird so als spontane Reaktion gegen die >folie< des Krieges beschrieben. Die Angst als vitaler Ausdruck des Lebenswillens, des Überlebenwollens begründet allein den Pazifismus Célines und nicht altruistische Gefühle wie Brüderlichkeit und Völkerverständigung, denen er mißtraut, weil er dahinter wieder leere Worte vermutet. Vor der Angst ums Leben werden Feigheit und Tapferkeit austauschbare, nicht reflektierte Reaktionen. I n einem dreifachen insistierenden Parallelismus mahnt schließlich der Erzähler, die Entdeckung der menschlichen Monstruosität dürfe nicht der Vergessenheit anheimfallen. »Quand on sera au bord du trou, faudra pas faire les malins nous autres, mais faudra pas oublier non plus, faudra raconter tout sans changer un mot, de ce qu'on a vu de plus vicieux chez les hommes«12. Von 11

S. 12.

Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht (Reinbek, Rowohlt, 1968),

12 Céline, Romans, I (Paris, Gallimard, 1977, Coll. Bibliothèque de la Pléiade, 157), S. 27.

Joseph Jurt

250

hier aus läßt sich ablesen, daß die Célinesche écriture aus der Kriegserfahrung entstanden ist, aus der Verpflichtung, die er als Zeuge und Überlebender des Massakers empfand. »Je n'ai plus d'enthousiasme que pour la paix«, hatte er schon 1916 in einem Brief geschrieben13. Diese Obsession des Krieges wird ihn ein Leben lang nicht verlassen; selbst seine Pamphlete waren nodi von diesem Pazifismus genährt. Celine, der beim Ausbruch des ersten Weltkrieges zwanzigjährig war, und am Ende des Zweiten fünfzig, empfand seine Lebenszeit als vom Krieg durchfurcht, von einem Krieg, der nicht mehr in den Frieden mündete, sondern bloß mehr von einem aprèsguerre in ein neues avant-guerre führte. Diese Unfähigkeit zum Frieden erschien ihm als das Signum des 20. Jahrhunderts. »Les guerres, autrefois, ont toujours fini par des maladies; elles ne finissent plus par des maladies, elles finissent par la guerre« 14. Die Mechanismen der Kolonialgesellsdiaft, die der Protagonist als zweite Etappe erlebt, unterscheiden sich nur graduell, nicht prinzipiell von denen, die im Krieg herrschen. Der Erzähler beschreibt hier in einem topologischen Modell diese Gesellschaft, an deren Spitze der Gouverneur steht, dann die Kaufleute, schließlich die Beamten und auf der untersten Stufe l'élément militaire . Durch sein analytisches Verfahren gelingt es dem Schriftsteller, die Gesellschaft als Ganzes und nicht bloß einzelne zu erfassen und als Unterdrückungssystem zu denunzieren. Die Beziehungen zwischen den Gruppen werden als durch Fehden, Neid und Haß bestimmte beschrieben. I n der tropischen Hitze offenbaren nach Céline die Menschen, ähnlich wie im Krieg ihre wahre Natur, ihre Instinkte, so wie Nattern und Kröten in der Sommerhitze an den rissigen Gefängnismauern ausschlüpften. Als die eigentlichen Opfer des Systems erscheinen die Eingeborenen, die von den Weißen, die deren Rohprodukte mit läppischem, wertlosen Ramsch bezahlen, schamlos ausgebeutet werden. I n den Figuren des Leutnant Grappa und des Sergeanten Alcide werden zwei Unterdrückungssysteme dargestellt, das eine »à la romaine«, das auf nackter Gewalt und Betrug beruht und das andere, »combinaison commercialo-militaire«, das die Unterdrückung als Handel kaschiert. Das Bild, das Céline von den Schwarzen entwirft, ist bisweilen sarkastisch, ist sicher nicht der romantischen Vorstellung des edlen Wilden verpflichtet; trotzdem spürt man eine gewisse Sympathie mit den Unterdrückten, die mehr Würde an den Tag legten als die Weißen. Andernorts ist in positivem Sinne von der Leidensfähigkeit und der Gelassenheit der Schwarzen die Rede.

13 14

Cahiers Céline , 4, S. 156. Cahiers Céline , 2, S. 33.

Céline — Eine faschistische Literatur von Rang?

251

Céline demaskiert schonungslos die koloniale Gesellschaft, deren elendigliche Realität im Frankreich der Zwischenkriegszeit ähnlich wie der Krieg durch ein Geflecht ideologischer Überhöhung verdeckt wurde, namentlich durch die Rede von der zivilisatorischen Mission Europas, die der Autor parodistisch karikiert. Die schamlose Ausbeutung der Schwarzen durch die französischen Handelsgesellschaften war schon von Gide in Voyage au Congo und Retour du Tchad (1928) gegeißelt worden, der allerdings die Kolonial Verwaltung bei seiner Anklage ausklammerte. Bei Gide finden sich allerdings begeisterte Schilderungen der afrikanischen Landschaft, der Fauna und Flora des schwarzen Kontinents. Bei Céline ist aber auch die Natur ein feindliches, aggressives Element. Termiten, Fliegen und Insekten übertragen nicht nur tödliche Krankheiten, sondern zerfressen und zernagen audi die Behausungen. M i t sehr eindrucksvollen Bildern wird der langsame Zerfall des Kolonialmenschen beschrieben, der schon am Tage seiner Abfahrt voller Leichenwürmer sei. So ist das Leben in der Kolonie letztlich wie im Krieg ein Kampf ums Überleben: »la guerre en douce«15. Die Regenzeit, wo alles zu versinken und sich aufzulösen droht, wird durch das Bild der Sintflut beschworen »et dans l'arche, moi Noè, gâteux«16. Die Schiffsmetapher kündigt gleichzeitig die folgende Sequenz an, wo der vom Tropenfieber geschlagene Protagonist von den Schwarzen auf eine Galeere getragen wird, die ihn nach Amerika bringt — Umkehrung der jahrhundertewährenden Situation des Sklaventransportes, die aber auch suggeriert, daß Bardamu das Schicksal der Sklaven der modernen Gesellschaft teilt, die er in Amerika nicht mehr in einer frühen, sondern späten Phase der Gesellschaftsentwicklung erlebt. Bardamu arbeitet in den Ford-Werken in Detroit und erfährt dort die Unmenschlichkeit der vollmechanisierten Arbeitsprozesse am Fließband, deren Lärm ihn bis in die Freizeit verfolgt, so daß er völlig abgestumpft wird. Die Versklavung des Menschen durch die Maschine ruft wieder die Erinnerung an den Krieg wach: »On cède au bruit comme on cède à la guerre« 17. Ähnlich wie im Krieg steht der Einzelne allein, wehrlos den indifferenten Massen gegenüber innerhalb derer die Einsamkeit als noch drückender empfunden wird als im afrikanischen Dschungel. Während die afrikanische Welt vor allem durch die Elemente der Auflösung, des Zerfalls bestimmt wird, so charakterisiert sich die amerikanische Großstadt durch 15 18 17

Celine, Romans. I., S. 126. Ebenda, S. 175. Ebenda, S. 225.

252

Joseph Jurt

die Verfestigung, durch die unendlichen Betonfluchten, die vom Protagonisten als nicht weniger bedrohlich empfunden werden; zweimal wird diese städtische Welt durch das Bild der Sintflut beschworen, gegen die sich die Mauern stemmten; die Stadt erscheint als riesenhafte architektonische Folter, als ein unberechenbares Ungeheuer, das auf der Lauer liegt. Als treibende Kraft der amerikanischen Gesellschaft wird das Geld dargestellt. »Vive Dollar« ist das Paßwort, das Zugang zu dieser Welt verschafft. Der Erzähler beschreibt die Banken von Manhattan als Kirchen und das Geld als Heilige Speise dieses Kultes — eine Metaphorik, die man schon in Zolas Germinal fand, die aber trotzdem nicht abgegriffen wirkt, weil sie mit der konkreten Erfahrung des Protagonisten in Verbindung gebracht wird. Eine vierte Etappe führt Bardamu, der inzwischen Armenarzt geworden ist, in die Pariser Bannmeile, die gleichzeitig durch das Bild der Auflösung der festen Linien der Stadt sowie durch den Eindruck des Eingeschlossenseins bestimmt wird; die Bannmeile erscheint als eine große morastige Auflösung, die die Stadt umgibt und wo deren verlogener Luxus in Fäulnis verrieselt und endet; über der Vorstadt lagert aber wie ein Verschluß der Himmel, eine Pfütze, in der sich die Dünste spiegeln. Auf der Erde beschwert der Dreck die Füße, und auf beiden Seiten schließen Fabriken und Wohngebäude jede Hoffnung aus. I n dieser Gegend sind die Häusermauern schon Särge. Céline entwirft in seinem Roman eine Topologie der Unterdrückung, die durch die Kategorien oben und unten bestimmt wird, vor allem in dem eindrücklichen Galeerengleichnis zu Beginn des Romans, das später als Variation nodi einmal aufgegriffen wird: »Die einen sind unten im Schiffsbauch, sitzen auf Nägeln und müssen alles schleppen, schnauben aus dem Maul, stinkend und schweißig. Oben auf dem Verdeck im Kühlen, sitzen die Herren, die es sich wohl gehen lassen, mit schönen rosigen und von Wohlgerüchen aufgeblähten Frauen auf dem Schoß«18. Andernorts werden die beiden Gruppen auch den Kategorien draußen und drinnen zugeordnet oder der Peripherie und dem Zentrum. Die Gesellschaft wird in Voyage au bout de la nuit stets auf diese beiden Pole reduziert: die Herren und die Sklaven, die Herrscher und die Beherrschten, die Reichen und die Armen. Aus der Sicht des Protagonisten ergeben sich keine Differenzierungen in Klassen oder Klassenfraktionen; man gehört zum einen oder zum andern Lager. Die einfachen Leute, aus deren Blickwinkel die Kritik an den Herrschenden formuliert zu sein scheint, werden indes keineswegs als positive Gegenkraft in einem idealistischen Lichte dargestellt. Die Rede vom »bon peuple« wird als Mythos der Herrschenden entlarvt. Wenn Céline das Leben 18

Céline, Reise ans Ende der Nacht, S. 13.

Céline — Eine faschistische Literatur von Rang?

253

der kleinen Angestellten, Handwerker, Händler und Arbeiter beschreibt, so schildert er das alltägliche Leben in seiner Banalität, Vulgarität und Grausamkeit. Die kleinen Leute werden ohne Beschönigung mit all ihren Lastern, ihrer Kleinlichkeit und Unterwürfigkeit gezeigt. Der Erzähler nimmt sich dabei keineswegs aus und weiß sich ebenfalls mitschuldig. Ist dieses Bild, das Céline von den Menschen entwirft, das eines systematischen Menschenfeindes, ist es Ausdruck einer negativen fixen Idee, die die Realität ebenso verfehlt wie die Idealisierung? Zweifellos mißtraut Céline allen Mystifikationen, jeder Überhöhung, gerade auch im Bereich der Gefühle; er denunziert in den Idealisierungen »[des] instincts habillés en grands mots«19. Der Schwache kann sich nur dann behaupten, so schreibt er, wenn er bei den Menschen, die er fürchtet, die Maske des Prestiges herunterreißt, die Menschen so sieht, wie sie sind, schlimmer als sie sind. Trotzdem gibt es in der düsteren Welt von Voyage an bout de la nuit Figuren, die nicht allein durch ihre negativen Züge bestimmt werden; etwa Alcide, der wohl im Urwald die Schwarzen betrügt, jedoch allein deshalb in der tropischen Hölle bleibt, um eine entfernte Nichte mit dem Ersparten zu unterstützen. »Ii offrait à cette petite fille lointaine assez de tendresse pour refaire un monde entier« 20. I n diesem Zusammenhang wird man sich audi an die Figur des einfachen amerikanischen Mädchens Molly erinnern, von dem der Protagonist schreibt: »Pour la première fois un être humain s'intéressait à moi« 21 . Man wird sich hier fragen, ob das so schwarze Bild der Menschen letztlich nicht Ausdruck einer verletzten Liebe ist und ob Nathalie Sarraute nicht recht hatte, als sie schrieb: »Ii y avait de la tendresse dans Voyage au bout de la nuit.« Bei seinem Erscheinen im Jahre 1932 wurde Voyage au bout de la nuit vor allem als sozialkritisches Werk rezipiert und Céline wegen der Demaskierung der herrschenden Werte als linker Schriftsteller eingestuft. So lud Aragon, der zusammen mit Elsa Triolet den Roman ins Russische übersetzte, Céline in einem Aufsatz, der in Commune erschien, ein, die Konsequenzen aus seiner Haltung zu ziehen und aus dem Agnostizismus herauszukommen22. Man könne sich nicht vorstellen, daß Céline sich am Ende der Nacht in der bürgerlichen Welt einrichte, die er so sehr hasse. Ähnlich äußerte sich noch 1935 der kommunistische Politiker Jacques Duclos. Céline war allerdings nicht bereit, seine Schilderung des Elends als Ausgangspunkt sozialreformerischer Projekte zu betrachten. Es ging ihm darum, das Böse 19 20 21 22

Céline, Romans. I, S. 82. Ebenda, S. 160. Ebenda, S. 229. Commune, Nov. 1933.

254

Joseph Jurt

und das Elend zu zeigen; mehr konnte und wollte er nicht. Das erkannte im übrigen gleich ein Trotzki in seiner Besprechung des Romans: »Céline ist kein Revolutionär und w i l l keiner sein. Er hat nicht das — für ihn illusionäre — Ziel, die Gesellschaft zu verändern. Er w i l l lediglich das entlarven, was ihn erschreckt und bedrückt« 23. Zudem war Céline keineswegs von jenem optimistischen Fortschrittsglauben erfüllt, der etwa noch Zola beseelt hatte. I n seinem Vortrag in Médan im Jahre 1933 betonte er bewußt die Distanz, die ihn vom Verfasser von Germinal trennte: » Avonsnous encore sans niaiserie le droit de faire figurer dans nos écrits une Providence quelconque?«24 Georges Bernanos hatte seinerseits in einer Besprechung von Voyage au bout de la nuit die Wahrhaftigkeit des Bildes des Elends in diesem Roman betont 25 . Doch auch für ihn ist das Elend Ausgangspunkt für ein Projekt, für die Idee einer neuen Christenheit, die den Armen wieder ehren und ihn nicht zum Sklaven erniedrigen würde. Céline verweigert sich sowohl der sozialreformerischen wie der christlichen Vereinnahmung seiner Darstellung, die beide das Elend in ein Zukunftsprojekt integrieren und so als schreckliche unmittelbar gegenwärtige Erfahrung auch relativieren. Der Gehalt dieses Romans erschöpft sich jedoch keineswegs in seiner sozialkritischen Dimension; ähnlich wie sich die Revolutions-Romane Malraux' nicht auf einen sozio-politischen Konflikt reduzieren, sondern letztlich auf das verweisen, was der Verfasser der Conquérants die Pascalsche Dimension nennt, geht es auch Céline nicht allein um die Menschen der Banlieue, der Kolonialgesellschaft, der amerikanischen Großstadt, sondern um den Menschen schlechthin: um die condition humaine. Eine der Grunderfahrungen des Célineschen Menschen besteht im Gefühl, gehetzt, verfolgt, umstellt zu sein. »Etre traqué« und ähnliche Begriffe aus dem Wortfeld der Jagd sind Schlüsselbegriffe des Romans. Das Gefühl, umstellt zu sein, bedroht von unsichtbaren Feinden, konkretisiert sich in der räumlichen Figur des Hinterhalts im Krieg, in der Nacht, in der Großstadt; oft wird es auch durch das Bild des gejagten Hasen im Wildgehege evoziert. Der Eindruck des Verfolgtwerdens, des Eingeschlossenseins, ohne daß es einen Ausweg gäbe, wird auf eindrückliche Weise in der Sequenz der Überfahrt von Europa nach Afrika beschworen, wo Bardamu als Außenseiter, der nicht zur offiziellen Kolonialgesellschaft zählt, das Mißtrauen der Passagiere 23 L. D. Trotzki, Literaturtheorie und Literatur kr itik, hg. U. Mölk (München, Fink, 1973), S. 141. 24 Cahiers Celine , 1, S. 81. 25 Bernanos, Essais et écrits de combat . I (Paris, Gallimard, 1971), S. 1301.

Céline — Eine faschistische Literatur von Rang?

255

weckt, welche wildeste Gerüchte über ihn verbreiten, so daß er sich kaum mehr an Deck wagt, bis er von den Offizieren eingekreist wird, die ihn vor eine Art Tribunal stellen wollen — eine Situation, die durch das Bild der »corrida«, der »mise à mort« übersetzt wird: »J'étais la bete [ . . . ] plusieurs toreros s'offrirent« 26 . Der Verfolgte wird zum Opfertier, zum Sündenbock, der letztlich dafür bestraft werden soll, daß er wagt, zu existieren und der dem Verdikt nur dadurch entgeht, daß er sich scheinbar unterwirft. Weil er gehetzt, gejagt, verfolgt wird, muß der Célinesche Mensch immer wieder aufbrechen, reisen. Céline greift so das alte literarische Motiv der Reise wieder auf, das im übrigen auch in der Schiffs- und Galeerenmetaphorik des öftern anklingt. Doch wird bei ihm der Mensch zum Aufbruch, zur Reise, die eine Flucht ist, gezwungen; doch derjenige, der hier aufbricht, findet am Ende der Reise nicht mehr den Graal, findet kein transzendentales Ideal. »Courage, Ferdinand, que je me répétais à moi-même, pour me soutenir, à force d'être foutu à la porte de partout, tu finiras sûrement par le trouver le truc qui leur fait si peur à eux tous, à tous ces salauds-là autant qu'ils sont et qui doit être au bout de la nuit. C'est pour ça qu'ils n'y vont pas eux au bout de la nuit« 27 . Das was hier gesucht wird, bezeichnet der Erzähler, wieder aus Angst vor einer idealistischen Uberhöhung, mit dem umgangssprachlichen Begriff »truc«, vor dem aber die Menschen Angst empfinden und darum nicht bis zum Ende des Weges gehen und sich mit beruhigenden Mystifikationen zufrieden geben; diejenigen, die so auf halbem Wege stehen bleiben, werden hier schon als >salauds< bezeichnet, worin sich eine spätere Sartresche Kategorie ankündigt. Bardamu jedoch muß bis zum Ende des Weges gehen. Doch am Ende dieser Reise findet sich nicht mehr ein Sinn, der alles begründen würde, sondern bloß mehr die Nacht, »un ciel où rien ne luit« 28 . Diese Erkenntnis ist äußerst schmerzlich. Aber vielleicht ist es das, so heißt es in Voyage au bout de la nuit , was man ein Leben lang sucht, den größtmöglichen Schmerz, um vor dem Tode sich selber zu werden. Doch ist es nicht allein das Verfolgtwerden, das den Menschen zum Aufbrechen zwingt; denn selbst die Evidenz der körperlichen Existenz wird als brüchig erfahren; die Immobilität beschleunigt diesen Desagregationsprozeß; an mehreren Stellen ist die Rede davon, daß der Mensch, wenn er immer am selben Ort bleibt, zu zerfallen, sich aufzulösen, zu verwesen beginnt. Das Gefühl, ständig auch von innen vom Verfall bedroht zu sein und dagegen ankämpfen zu müssen, macht hier die Not der menschlichen Existenz aus. A l l unser Unglück rührt daher, schreibt der Erzähler, daß 28 27 28

Céline, Romans, I., S. 118. Ebenda, S. 219. Ebenda, S. 5.

256

Joseph Jurt

wir ein Leben lang unsere Identität wahren müssen, obwohl sich alle Moleküle unseres Körpers gegen die grausame Farce des Dauerns auflehnen. Die Erfahrung der Kontingenz ist gleichbedeutend mit dem Bewußtsein der ständigen Bedrohung durch den Tod. Das Leben ist ein Sein zum Tode, oder wie es Celine sagt, ein Tod mit Aufschub, der Mensch ist voller Leichenwürmer, ein Larvensack. Leben heißt den Tod einüben, langsam sterben. Ganz zentral in diesem Zusammenhang ist die Antwort auf die Frage, was denn die Menschen Umtriebe, was sie suchten, was sie versteckten: »C'est tuer et se tuer qu'ils voulaient« 29 . Das Thema des Todes bildet so den eigentlichen Kern des Buches und macht die innere Einheit der durch keine strenge Kausalitätskette verbundenen Szenen aus. Der Bedrohung durch den Tod im Krieg, in den Kolonien, in der Neuen Welt entspricht die Erfahrung des Armenarztes in der Bannmeile im zweiten Teil, der immer wieder dem Tod begegnet. Die meisten Ideen und Vorstellungen werden im Roman als brüchig oder lügenhaft beschrieben; eine einzige Sicherheit bleibt: die des Todes. »La vérité de ce monde c'est la mort« 30 . Mit dem »tuer et se tuer« als menschliche Grunderfahrung übersetzte Céline eine der wichtigsten Kategorien, die Freud in den zwanziger Jahren, nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges, in seine Theorie eingeführt hatte: die des Todestriebes. Céline hat hier in höchst eindrücklicher Weise die Erkenntnisse der »énorme école freudienne« 31 — so seine Worte in einem Brief an Albert Thibaudet — literarisch verkörpert. »La mort, sujet de votre livre, seul sujet!«32 hatte auch Bernanos Céline gegenüber erklärt. Der Tod ist nicht nur in Voyage an bout de la nuit ein zentrales Thema, sondern auch bei Bernanos, bei Malraux, bei der Generation der dreißiger Jahre. Und das hängt wohl auch wieder mit dem Zusammenbruch des Individualismus zusammen. Denn wenn die Individualität allgemeingültiger Wert ist, stellt sich für das Individuum das Problem des Lebensendes kaum. Das Individuum stellt — solange es existiert — als Individuum einen Wert dar; mit dem Augenblick des Todes aber existiert es weder als Wert noch als Problem. Handelt es sich bei Voyage au bout de la nuit , dessen Dimensionen stellvertretend für das Romanwerk Célines herausgearbeitet wurden, um ein faschistisches oder präfaschistisches Werk? Ich würde heute diese Frage mit einem klaren Nein beantworten und dies aus folgenden Gründen: 29

Ebenda, S. 268. Ebenda, S. 200. 31 Zitiert durch H . Godard in Céline, Romans. I (Paris, Gallimard, 1981), S. 1109. 82 Cahiers Céline , 1, S. 51. 30

Céline — Eine faschistische Literatur von Rang?

257

Zentraler Ausgangspunkt des Buches, ja des Gesamtwerkes von Céline ist der Krieg. Sein Werk ist jedoch eine flammende Anklage gegen das Völkermorden, gegen jeden Krieg, gegen alle Rechtfertigungsideologien. Darin stand er in radikalem Gegensatz zum Faschismus. Denn dem Krieg wird in der Tat innerhalb der faschistischen Ideologie ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Für den Faschismus, so betont Reinhard Kühnl zu Recht, ist das Militär nicht nur Vorbild für politische und soziale Organisationsformen, sondern der Soldat fungiert als Idealbild des Menschen schlechthin und der Krieg als Höhepunkt menschlicher Selbstverwirklichung 33. »Nur der Krieg, so schrieb Mussolini, bringt alle menschlichen Energien zu höchster Anspannung, nur er prägt den Völkern, die den Mut aufbringen, ihn zu wagen, das Zeichen des Adels auf« 34 . Mit seiner Anklage gegen den Krieg, seiner schonungslosen Schilderung der Schrecken des Völkermordens unterscheidet sich Céline auch von einem Drieu La Rochelle, der in seinem Buch La Comédie de Charleroi, das kurz nach Voyage au bout de la nuit erschien, den Krieg mystifizierte, in emphatischem Tone die Geburt des Helden schilderte, der sich im Sturmangriff aus der Masse erhebe. Schließlich läßt sich in Voyage au bout de la nuit auch nicht von Rassismus reden; gleich zu Beginn wird die Rasse als mystifikatorischer Begriff hingestellt. Wenn der Schriftsteller die Schwarzen Afrikas schildert, betont er ihre Würde, unterstreicht er die Solidarität der Unterdrückten. I n Voyage au bout de la nuit wie auch in den übrigen Romanen Célines gibt es kein einziges negatives Porträt eines Juden, währenddem, wie Léon Poliakov in seiner Geschichte des Antisemitismus aufgezeigt hat, stereotype jüdische Figuren im damaligen Roman bei Paul Morand, Pierre Benoît, Marcel Jouhandeau, Roger Martin du Gard und selbst bei Mauriac sich ausmachen ließen35. Wir würden mit Philippe Muray annehmen, daß sich die Literatur als solche, daß sich wahre Literatur der Einführung solch stereotyper Bilder verschließt. Das Nicht-Vorhandensein des Antisemitismus im Romanwerk ist so in gewissem Sinne ein Dementi der haßerfüllten antisemitischen Ideologie der Pamphlete. I n Voyage au bout de la nuit finden sich nicht nur keine negativen jüdischen Figuren; im Gegenteil, hat nicht Céline, ohne sich dessen bewußt zu sein, im Bild des gehetzten und gejagten Menschen, der immer wieder zur Flucht getrieben wird, auf eindrückliche Weise das Schicksal des jüdischen Volkes übersetzt? Hat er nicht dem Begriff des Exils, vor allem in seinem Spätwerk, eine literarische Existenz verliehen, die man 33

S. 95.

Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher

Herrschaft

(Reinbek, Rowohlt, 1971),

34

Zitiert ebenda, S. 95. Siehe dazu Léon Poliakov, Histoire de l'antisémitisme y L'Europe 1870 - 1933 (Paris, Calman-Lévy, 1977), S. 322 - 334. 35

17 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

suicidaire ,

258

Joseph Jurt

vor ihm noch kaum gekannt hat? Und so scheint mir die Aussage des jungen jüdischen Schriftstellers Patrick Modiano nicht so abwegig, der erklärt: »C'est très juif, ce qu'il écrit Céline... On ne peut pas être plus juif dans la manière... Au fond, le plus grand écrivain juif par le style, le ton, n'est pas juif« 86 . Endlich hat auch die zentrale Thematisierung des Todes bei Céline nichts mit dem faschistischen Viva la muertel zu tun; denn dem Verfasser von Voyage au bout de la nuit geht es nicht um eine Todesverherrlichung; nein, im Gegenteil, das immer stärkere Uberhandnehmen des Todestriebes ist für ihn ein negatives Signum der Moderne, dem sich sein Lebenstrieb, sein Uberlebenstrieb verzweifelt entgegensetzt. Das was Célines Romanuniversum bestimmt, ist die Negativität, der Mut zur Negativität, die nicht verdrängt wird. Seine Landschaft wird geprägt durch das Bild der Spitäler, der verfallenen Bannmeile, des Selbstmordes, der Ruinen der Geschichte, des Kriegslärmes. Gerade darin ist Céline exemplarisch, so betont Philippe Muray, daß er zeigt, wohin die entfesselte Negativität führt 37 . Julia Kristeva spricht vom Arzt und negativen Theologen in Céline. Ihm fehlte die Positivität des Arztes Rabelais, mit dem man ihn immer wieder verglichen hat — Renaissancepositivität, die den Zusammenbruch der mittelalterlichen Transzendenz zu überwinden vermocht hat. Nach dem historischen Konkurs des transzendentalen Ego im 20. Jahrhundert noch Positives zu vermelden, dies hat Céline kaum mehr vermocht 38. Dem Bösen in die Augen geschaut und es im literarischen Werk bewältigt zu haben — darin liegt wohl die Größe Célines. Es ist bezeichnend, daß dieses negative Bild von den affirmativen Ideologien, allen voran vom Faschismus abgelehnt wurde. So wurde die deutsche Übersetzung von Voyage au bout de la nuit , die zum Vorabdruck im Berliner Tageblatt und zur Publikation im Piper-Verlag vorgesehen war, im Mai 1933 verboten 39. Die Reichszensur hielt den Schriftsteller für einen gefährlichen Anarchisten und moralischen Saboteur. Selbst nach der Veröffentlichung der Pamphlete schrieb Bernhard Payr — Leiter des Amtes Schrifttumspflege im Amt Rosenberg — 1942 in seinem Buch Phönix oder Asche: Célines Schriften »vermögen uns aus mancherlei Gründen nicht zu befriedigen. Céline, dessen schriftstellerische Tätigkeit mit dem nihilistisch38

»Demi-juif, Patrick Modiano affirme: >Céline était un véritable écrivain juifIdéeszwei Kulturen< ist F. R. Leavis, neben T. S. Eliot wohl der bedeutendste und einflußreichste Literaturkritiker dieses Jahrhunderts in England, über die eigentlichen Fachgrenzen hinaus audi einem größeren Publikum bekannt geworden. Leavis reagiert mit seiner im Februar 1962 im Downing College, Cambridge, gehaltenen Richmond Lecture »The Two Cultures? — The Significance of C. P. Snow« auf Snows Rede Lecture »The Two Cultures and the Scientific Revolution«, die dieser 1959 ebenfalls in Cambridge gehalten hatte. Snow war seit seinem Vortrag der Rang eines Klassikers des modernen zivilisatorischen Denkens zuerkannt worden, der die Entfremdung von wissenschaftlicher und literarischer Intelligenz unter Einschluß der daraus zu ziehenden Folgerungen prägnant und autoritativ zum Ausdruck brachte. Leavis' ätzende Polemik und sein Versuch, die Autorität Snows zu demontieren, riefen mit der Veröffentlichung seines Vortrags im Spectator (6976, Mardi 9, 1962) einen Sturm der Entrüstung hervor, der sich in den Folgenummern der Zeitschrift niederschlug. Der Verlauf der Kontroverse zwischen Snow und Leavis und die daran anknüpfende grundsätzliche Diskussion ist in den Aufsatzsammlungen Cultures in Conflict — Perspectives in the Snow-Leavis Controversy und, in deutscher Sprache, Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz: Dialog über die >zwei Kulturen< nachzulesen1. Man wird den Zorn und die polemische Unversöhnlichkeit, mit der Leavis Snow begegnet, nur verstehen können, wenn man ihre Auseinandersetzung nicht als einen bestenfalls >akademischen< Streit um Worte, sondern als den 1 Vgl. Cultures in Conflict — Perspectives in the Snow-Leavis Controversy , hg. David K . Cornelius und E. S. Vincent (Chicago, 1964) und Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz: Dialog über die >zwei Kulturenzwei Kulturen< bei Leavis vor dem Hintergrund seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlich-utilitaristischen Welt- und Menschenbild der modernen Zivilisation zu sehen und als zentraler Bestandteil seiner Zivilisationskritik zu werten. Die Aspekte seines kritischen Werks, die man als Zivilisationskritik bezeichnen kann, erklären sich aus der für sein Denken axiomatischen Dichotomie von Kultur und Zivilisation in der modernen Industriegesellschaft. Mit diesem Ansatz ordnet sich Leavis in die Tradition der Kultur- und Zivilisationskritik ein, die auf das Denken sowohl in England als auch in Deutschland bis in die unmittelbare Gegenwart einen wesentlichen Einfluß ausgeübt hat. Ihre Entwicklung in England seit der Romantik ist im einzelnen von Raymond Williams in Culture and Society 1780 -1950 nachgezeichnet worden 2· Leavis kontrastiert die Idee der Kultur als Inbegriff des Humanen mit der verkürzten kulturellen Praxis in der technologico-Benth amite civilization ι. Seine Zivilisationskritik kann man daher auch als Kritik an dem verengten Verständnis von Kultur in der zeitgenössischen Gesellschaft auffassen. Sie ist nicht so sehr gegen die materielle Basis der Zivilisationsentwicklung gerichtet, gegen das komplexe Zusammenspiel von positivistischer Wissenschaft, Technologie und kapitalistischer Ökonomie, sondern sie zielt auf den >Geist der Zivilisationzwei Kulturen
Geist der Zivilisat i o n prägenden Rationalitätsbegriffs selbst angreifen zu müssen, erweckt seine Argumentation wiederholt den Eindruck, er lehne die Zivilisation überhaupt und damit auch deren unbestreitbare Vorteile für die reale Lebenssituation des Menschen ab und plädiere statt dessen für eine Rückkehr zum >Goldenen Zeitalter< einer vorindustriellen Kultur. Das damit verbundene Problem ist letztlich mit der Frage identisch, unter welchen Bedingungen die aufklärerische Utopie von der umfassenden Verwirklichung des menschlichen Seelenvermögens einer gesellschaftlichen Realisierung nähergebracht werden kann. Nach Leavis' Ansicht ist dazu in der Gegenwart eine an der Kulturidee ausgerichtete Korrektur des Zivilisationsprozesses erforderlich. Diese soll in eine Versöhnung der durch Kultur und Zivilisation bezeichneten Formen menschlicher Praxis bzw. in eine Komplementarität von Verfügungswissen und Verständigungswissen einmünden4. Letzten Endes soll eine am Wesen des Menschen sich ausrichtende ZweckMittel-Relation wiederhergestellt werden. Der Ausgangspunkt von Leavis' Auseinandersetzung mit Snow war das hohe gesellschaftliche Ansehen, welches das aus den experimentellen Naturwissenschaften entwickelte positivistische bzw. neo-positivistische Wissenschaftsverständnis genießt. Dieses Ansehen erklärt sich daraus, daß erst die Naturwissenschaften die Voraussetzung für die technologische Beherrschung der Natur und damit für die Dynamik des zivilisatorischen Fortschritts geschaffen haben. Die aus ihrer praktischen Leistungsfähigkeit resultierende Wertschätzung der modernen Wissenschaft hat zu der Ausdehnung der empirisch-positivistischen Methodologie auf die Gesellschaftswissenschaften und sogar auf die Geisteswissenschaften geführt, die mit ihrem traditionellen Erkenntnisinstrumentarium weitgehend in eine Defensivposition gedrängt 3 Vgl. hierzu u. a. Regina Wettern, D. H. Lawrence: Zur Funktion und Funktionsweise von literarischem Irrationalismus (Heidelberg, 1979) und Scott Sanders, D. H. Lawrence: The World of the Five Major Novels (New York, 1973). 4 Vgl. Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 1, Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik (Frankfurt, 1976), S. 68 ff.

266

Meinhard Winkgens

worden sind. Dies ist der Punkt, an dem Leavis* Kritik am Szientismus einsetzt. Sie richtet sich nicht gegen die Wissenschaften und ihr Methodenideal an sich, sondern gegen den Absolutheitsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnis und gegen die zunehmende gesellschaftliche Gleichsetzung wissenschaftlich begründeter Rationalität mit menschlicher Vernunft und Wahrheit schlechthin. Denn die moderne Wissenschaftsgläubigkeit geht für Leavis mit der Verkümmerung und Mißachtung der kulturellen Dimension menschlicher Erfahrung einher: I spoke earlier of the collaborative interplay that sustains cultural continuity as creating the human world; for the >human world< I might have said >realitySelfsurrender< (Peirce) organisiert ist, vor allem dadurch aus, »daß jeder Wissenschaftler die Abstraktion von den individuellen, persönlichen Bedürfnissen und Interessen eingeübt hat und sich als austauschbares Subjekt wiederholbarer Experimente und logisch-mathematischer Denkoperationen dem institutionalisierten Fortschritt zur Wahrheit in der »unbegrenzten Gemeinschaft der Forscher< zur Verfügung stellt«7. Alle Erkenntnisbereiche müssen zur wissenschaftlichen Objektivierung in ein quantifizierendes, operationelles und nomologisches Denken transformiert werden. Die Bereiche, die sich, wie 5

F. R. Leavis, »T. S. Eliot and the Life of English Literature«, Mass. Rev. Bd. 10 (1969), S. 26. β F. R. Leavis, Thought , Words and Creativity : Art and Thought in Lawrence (London, 1976), S. 13. Vgl. Matthew Arnold, Culture and Anarchy , The Essential Matthew Arnold , hg. Lionel Trilling (London, 1949), S. 530. 7 Apel, Transformation , Bd. 1, S. 16 f. Vgl. Ch. S. Peirce, Schriften, Bd. 1 (Frankfurt, 1967), S. 245 ff.

Das Problem der >zwei Kulturen
And nobodyis going to consult humane letters about the mortal problems of our industrial civilization; he is going to consult sociology and economicshumane letterscertified factsMittel-Charakter< der utilitaristischen Methode und ihre Relativität in bezug auf die historische Entwicklungsstufe des national character . M i l l sieht eine der Hauptgefahren des utilitaristischen Denkens in einer verkürzten Sicht der menschlichen Natur. »Nobody's synthesis can be more complete than his analysis. I f in his survey of human nature and life he has left any element out, then, wherever that element exerts any influence, his conclusions w i l l fail, more or less in their application« 17 . Wenn man bei 14

Apel, Transformation, Bd. 1, S. 19. F. R. Leavis, »Mill, Beatrice Webb and the English School«, Scrutiny, Bd. 16, H . 2 (1947), S. 121, vgl. auch S. 107 ff. 16 J. S. Mill, »On Bentham«, zit. n. Leavis, »Mill«, S. 121 f. 17 Mill on Bentham and Coleridge, hg. F. R. Leavis (London, 1962), S. 57. 15

Das Problem der >zwei Kulturen
learning< noch mit »technical skill· gleichzusetzen sei«24 und der Natur- bzw. Geisteswissenschaften als unterschiedliche Methoden zur menschlichen Kulturisierung ansieht: » . . . while culture is one, the road by which one may best reach it is widely different from that which is most advantageous to another« 25. Infolgedessen versöhnt der Kulturbegriff bei Huxley noch die geisteswissenschaftliche und die naturwissenschaftliche Position und es kommt noch nicht zu einer unüberbrückbaren Kluft zwischen beiden. 22

Apel, Erklärenderstehen-Kontrover se, S. 27. T. H . Huxley, »Science and Culture«, Science and Education: Collected Essays, Bd. 3 (London, 1902), S. 134 - 159, hier S. 142. 24 Lothar Fietz, »Cambridge und die Diskussion um das Verhältnis von Literatur und Naturwissenschaft«, in: Literatur — Kultur — Gesellschaft in England und Amerika. Festschrift für Friedrich Sdiubel, hg. G. Müller-Schwefe und K. Tuzinski (Frankfurt, 1966), S. 120. 25 Huxley, S. 153. 23

Das Problem der >zwei Kulturen
Relationswissen< und einer moralisch-ästhetischen Harmonisierung leitet er die Differenzqualität ab, durch die sich die Aufgaben der Geistes- von denen der Naturwissenschaften unterscheiden: We experience, as we go on learning and knowing—the vast majority of us experience—,the need of relating what we have learnt and known to the sense which we have in us for conduct, to the sense which we have in us for beauty. . . . Now in this desire lies, I think, the strength of that hold which letters have upon us 29 .

Mit dem Hinweis auf die soziale Funktion der mittelalterlichen Universitäten und der Kritik an verschiedenen Varianten eines bloßen »instrument knowledge« charakterisiert er die eigentliche Aufgabe und Leistungsmöglichkeit der humane letters in der Ausarbeitung von an ästhetisch-moralischen Kriterien orientierten Handlungsmodellen, die eine Einbindung der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse unter Einschluß ihrer praktischen Konsequenzen in eine historisch konkrete, humane Lebenswelt ermöglichen, »to establish a relation between the new conceptions, and our instinct for beauty, our instinct for conduct«30. Infolge des Einflusses, den die Künste 26 Matthew Arnold, »Literature and Science«, The Essential Matthew S. 413; vgl. auch S. 410 ff. 27 Arnold, »Literature«, S. 415. 28 Arnold, »Literature«, S. 415. 29 Arnold, »Literature«, S. 416 f. 30 Arnold, »Literature«, S. 421 ; vgl. auch S. 417 ff.

18 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 24. Bd.

Arnold,

274

Meinhard Winkgens

auf das emotionale Leben ausüben, schwächen sie das menschliche Leistungsvermögen nicht, sondern fördern es, weil sie den ganzen Menschen ansprechen. And the more that men's minds are cleared, the more that the results of science are frankly accepted, the more that poetry and eloquence come to be received and studied as what in truth they really are,—the criticism of life by gifted men, alive and active with extraordinary power at an unusual number of points—so much the more w i l l the value of humane letters, and of art also, which is an utterance having a like kind of power with theirs, be felt and acknowledged, and their place in education be secured 31.

Für Arnold scheint die Evidenz dieser Bildungs- und Kulturaufgabe der Geisteswissenschaften so zwingend und so gesichert zu sein, daß er selbstbewußt die Gefahr leugnet, die humane letters könnten ihre führende Rolle in der gesellschaftlichen Erziehung verlieren 82. Der von Arnold unterstellte Konsens über die humane Kultur, die als Bindeglied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften fungiert, ist im 20. Jahrhundert offensichtlich zerstört, wenn man Snows These von den zwei Kulturen als repräsentativen und adäquaten Ausdruck des modernen zivilisatorischen Bewußtseins akzeptiert. Snows Kernthese lautet, daß für die westlichen Industriegesellschaften die Polarität zweier einander mit Unverständnis und Mißtrauen gegenüberstehender Kulturen, der der »literary intellectuals« und der »scientists« charakteristisch sei. Der Antagonismus zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften hat für ihn nur negative Konsequenzen und muß daher unbedingt überwunden werden: »Closing the gap between our cultures is a necessity in the most abstract intellectual sense, as well as in the most practical. When those two senses have grown apart, then no society is going to be able to think with wisdom« 33 . Sich selbst sieht Snow wegen seiner naturwissenschaftlichen Ausbildung und seines Berufes als Schriftsteller als kompetent an, die jeweiligen Selbstbilder und wechselseitigen MißVerständnisse zu analysieren bzw. zu korrigieren. Seine Auffassung von der Existenz zweier Kulturen basiert auf der anthropologisch-soziologischen Definition von Kultur als einem common 31

Arnold, »Literature«, S. 424. Vgl. Arnold, »Literature«, S. 426 ff.: »And therefore . . . I cannot really think that humane letters are in much actual danger of being thrust out from their leading place in education, in spite of the array of authorities against them at this moment. So long as human nature is what it is, their attractions w i l l remain irresistible.« Ähnlich optimistisch äußert sich Arnold in Culture and Anarchy. Vgl. Arnold, Culture , S. 491. 33 C. P. Snow, The Two Cultures and a Second Look : An Expanded Version of The Two Cultures and the Scientific Revolution (New York, 1964), S. 52. Weitere Stellenangaben erscheinen im Text und beziehen sich auf diese Ausgabe. 32

Das Problem der >zwei Kulturen
zwei Kulturen
die Zukunft in ihren Knochen< und »they are the base of our social hope«38. I n seinem ungebrochen-naiven, naturwissenschaftlichtechnologisch begründeten Fortschrittsoptimismus knüpft Snow an den Fortschrittsglauben an, wie er sich seit dem 16. Jahrhundert geschichtlich zu entfalten begann. Diese Tradition charakterisiert Sidney Pollard so: . . . in the sphere of the development of ideas, there is a clear line of progression ever since the rise of modern science in the 16th century, from the belief in the inevitability of the advancement of scientific knowledge and the scientific method to that of advancement in human and social affairs. The consequent assurance of the inevitability of progress seemed confirmed beyond dispute by the successes of the application of science to industry in the 18th and 19th centuries 39.

Ein derartig euphorischer Glaube an eine Fortschrittsautomatik geht mit einer Unterschlagung und Verdrängung der menschlichen Verluste einher, die dialektisch zugleich als Rückschritt in der soziokulturellen Lebensqualität innerhalb der Fortschrittsgeschichte auftreten 40. Zu Recht kritisiert Fietz die »fast rührende Unbefangenheit«, mit der Snow in rosigen Farben das menschheitsbeglückende Gemälde ungehemmten wissenschaftlich-technischen Fortschritts zeichnet und dabei nicht nur die »potentiell menschheitsgefährdenden Entdeckungen der scientific culture «41, sondern auch die janusköpfige Natur zivilisatorischen Fortschritts überhaupt unterschlägt. Verursacht wird Snows theoretische Naivität durch den typischen szientistischen Fehlschluß, daß es ausreiche, die Gesellschaft einfach zum Objekt technologischer Rationalität zu machen, »um die Misere der rhetorisch-humanistischideologischen Pseudoargumentation« 42 zu überwinden. Eigentlicher Kristallisationspunkt der schematischen Gegenüberstellung von positiver Wissenschaftskultur und negativer literarischer Kultur ist Snows Unterscheidung zwischen individual condition und social condition. Die individual condition ist für Snow essentiell tragisch: »Each of us is alone: sometimes we escape from solitariness, through love or affection or perhaps creative moments, but these triumphs of life are pools of light we make for ourselves, while the edge of the road is black: each of us dies alone.« (S. 13) Demgegenüber bietet die social condition Anlaß zur Hoffnung: 38

Vgl. Snow, S. 18 ff., 32, 35, 43 und 50. Sidney Pollard, The Idea of Progress, History and Society (Harmondsworth, 1971), S. 149 f. 40 Vgl. Theodor W. Adorno, »Fortschritt«, Stichworte (Frankfurt, 1969), S. 29 50, hier vor allem S. 35. 41 Vgl. Fietz, S. 117 f. 42 Vgl. Apel, Transformation, Bd. 1, S. 65. 39

278

Meinhard Winkgens

But nearly all of them [the scientists]—and this is where the colour of hope genuinely comes in—would see no reason why, just because the individual condition is tragic, so must the social condition be. Eadi of us is solitary; each of us dies alone: all right, that's a fate against whidi we can't struggle—but there is plenty in our condition whidi is not fate, and against which we are less than human unless we do struggle. (S. 13)

Auf den ersten Blick erscheint diese Unterscheidung durchaus vernünftig, ermöglicht sie doch im Gegensatz zu einer handlungsunfähigen existentialistischen Nabelschau eine moralische Philosophie der Tat, einen unmißverständlichen Aufruf zur tiefgreifenden Verbesserung der materiellen Lebensumstände im weitesten Sinne und im weltweiten Rahmen, einen Aufruf zur Beseitigung von Armut, Unterernährung, kurzer Lebenserwartung und materieller Not. Darüber hinaus bedeutet die »soziale Hoffnung< eine verantwortungsvoll und angemessen erscheinende Zielvorgabe für das zweckrationale Handeln einer zivilisatorischen Gesellschaft, eine Zielvorgabe, die nicht nur zu den Funktionsprinzipien des zivilisatorischen Fortschritts paßt, sondern auch die Räder der zivilisatorischen >Megamaschine< (L. Mumford) beständig antreiben und stetiges Wachstum erzeugen könnte. Die von der Komplexität individueller Bedürfnisstrukturen gereinigte Form von social hope erlaubt es Snow, in der Industrialisierung die einzige Hoffnung der Armen auch in der dritten Welt zu sehen. Ebenso leitet er aus der Fähigkeit der zivilisatorischen Kultur, materiellen Reichtum zu produzieren, ihren generellen Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen Kulturen ab. Dabei erscheint es ihm unnötig, unausweichliche Konflikte mit einheimischen Kulturtraditionen näher zu berücksichtigen. Etwaige Widerstände sind für Snow nämlich nur der Ausdruck irrationaler Rückständigkeit und lösen sich über kurz oder lang von selbst: »For, with singular unanimity, in any country where they have had the chance, the poor have walked off the land into the factories as fast as the factories could take them.« (S. 30) Zwar räumt Snow ein, der Prozeß zivilisatorischer Akzeleration vollziehe sich in einer Weise, daß unser Vorstellungsvermögen nicht Schritt halten könne und daß der Mensch nicht nur vom Brot allein lebe. (Vgl. S. 45 und 73 f) Die Einsicht jedoch, dadurch könnten die lebensweltliche Erfahrung kultureller Lebensqualität und die menschliche Kulturfähigkeit generell beeinträchtigt werden, entzieht sich Snows Blickfeld. Statt dessen singt er ein Loblied auf die menschenveredelnde Macht von jam, d. h. dem materiellen Wohlstand als dem anzustrebenden zukünftigen Zustand: »Yet they've proved that common men can show astonishing fortitude in chasing jam tomorrow. Jam today, and men aren't at their most exciting: jam tomorrow, and one often sees them at their noblest.« (S. 46)

Das Problem der >zwei Kulturen
social condition< that has nothing to do with the »individual condition