Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 39. Band (1998) [1 ed.] 9783428496402, 9783428096404

Das $aLiteraturwissenschaftliche Jahrbuch$z wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publika

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 39. Band (1998) [1 ed.]
 9783428496402, 9783428096404

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH Neue Folge, begründet von Hermann Kunisch

I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. T H E O D O R BERCHEM, PROF. DR. V O L K E R KAPP, PROF. DR. FRANZ L I N K , PROF. DR. K U R T MÜLLER, PROF. DR. RUPRECHT WIMMER, PROF. DR. ALOIS W O L F NEUNUNDDREISSIGSTER BAND

1998

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wird im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Prof. Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, Am Hubland, 97074 Würzburg, Prof. Dr. Volker Kapp, Romanisches Seminar der Universität Kiel, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Prof. Dr. Franz Link, Eichrodtstraße 1, 79117 Freiburg i. Br., Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 4, 07743 Jena (federführend), Prof. Dr. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt und Prof. Dr. Alois Wolf, Lorettostraße 60, 79100 Freiburg. Redaktionsanschrift: Lehrstuhl für Amerikanistik, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 4, 07743 Jena. Redaktion: Dr. Jutta Zimmermann. Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot GmbH, Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.

LITERATUR WISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUNUNDDREISSIGSTER BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N K U N I S C H

I M A U F T R A G E D E R GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N T H E O D O R B E R C H E M , V O L K E R KAPP, F R A N Z L I N K KURT MÜLLER, RUPRECHT WIMMER, ALOIS WOLF

NEUNUNDDREISSIGSTER B A N D

1998

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 3-428-09640-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

INHALT

AUFSÄTZE Rudolf Kilian Weigand (Eichstätt), Das Preislied Walthers, die Sängerrolle und Wien: Überlegungen zum Verhältnis von Text und seiner biographischen Deutung 9 Theodor Nolte (Passau), Mîn minnensanc der diene iu dar: Zum Publikum des späten Walther von der Vogelweide 37 Manuela Niesner (Heidelberg), Zum Guoten Gêrhart des Rudolf von Ems

55

Stephen N. Tranter (Jena), Significant Choices: The interplay of rhyme und allitération in medieval English poetry 75 Joachim Zelter (Tübingen), Die Politik des Als-Ob in der Theorie, Praxis und Literatur der Renaissance-Zeit: Machiavelli, Martyr, Marlowe & Shakespeare 95 Thomas A. Keck (Wesseling), Die Symbolik des Ortes: Zur dramaturgischem Topographie in Molières »Dom Juan« 127 Urs Heftrich (Trier), Warum ich so weise bin: Der tschechische Dichterphilosoph Ladislav Klima und Nietzsche 139 Erkme Joseph (Marburg), »Daß es sich ebensogut anders hätte entscheiden können«: Modernität in Thomas Manns Zauberberg , bei Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin und Zygmunt Baumann 165 Alberto Barrera Vidal (Liège), Pascual en La familia de Pascual Duarte y Sebastián en Con el viento solano-, dos destinos ejemplares 187 Wolfgang Asholt (Osnabrück), Topographie der Metropole: Erzählstrukturen der spanischen Großstadtliteratur 201 Franz Link (Freiburg i. Br.), Religiöse Thematik in der amerikanischen Lyrik der Gegenwart 217 Joseph Jurt (Freiburg i. Br.), Les-arten: Rezeptions- und Lektüreforschung und ihre Folgen für das Literaturverständnis 249 Gerhard Ernst (Regensburg), Alois Hahn (Trier) und Ulrich (Graz), Zukunftsperspektiven der Romanistik

Schulz-Buschhaus 277

Inhalt

6

KLEINE BEITRÄGE Volker Kapp (Kiel), Rhetorica divina: Zu Jörg Villwocks Sicht der Geschichte der abendländischen Gebets- und Offenbarungsrhetorik 297

BUCHBESPRECHUNGEN Jens Haustein , Marner-Studien

(von Hannes Kästner)

Helen Ruth Andretta, Chaucer's »Troilus Ockhamism (von Willi Erzgräber) Frank-Rutger Hausmann, Französisches Hermann Kleber)

321

and Criseyde«:

Mittelalter:

A Poet's Response to 327

Lehrbuch Romanistik

(von 332

Ruxandra Irina Vulcan y Savoir et rhétorique dans les dialogues français entre 1515 1550 (von Andreas Gipper) 336 Stanton J. Linden , Darke Hierogliphicks. Alchemy in English Literature from Chaucer to the Restoration (von Elmar Schenkel) 338 Wolfgang Leiner. ; Etudes sur la littérature française du XVII e siècle. Préface de Roger Duchêne. Ouvrage préparé par Volker Schröder et Rainer Zaiser (von Dietmar Fricke 341 Bernard Beugnot y Le Discours de la retraite au XVIle siècle. Loin du monde et du bruit (von Dorothee Scholl) 345 Winfried Fluck , Das kulturelle Imaginäre: Eine Funktionsgeschichte nischen Romans 1790 -1900 (von Oliver Scheiding)

des amerika348

Raimund Schaffner, ; Anarchismus und Literatur in England: Von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg (von Paul Goetsch) 353 Stephen Ar ata. Fictions of Loss in the Victorian Fin de Siècle (von Paul Goetsch) Volker Drehsen und Walter Sparn (Hg.) y Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900 (von Elmar Schenkel) 357 Pierre Brunei , Apollinaire entre deux mondes. Le contrepoint mythique dans »Alcools « (von Susanne Winter) 360 Peter de Mendelssohn , Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe in drei Bänden (von Werner Frizen) 363 Raphaela Esprester-Bauer y Der Osten und »das was ist« in Paul Claudels »Connaissance de l'Est* (von Albert Fuß) 368

355

Inhalt

7

Cordelia Borchardt, Vom Bild der Bildung: Bildungsideale im anglo-amerikanischen Universitätsroman des zwanzigsten Jahrhunderts (von Thomas Kühn) 373 Mechthild Albert , Avantgarde und Faschismus . Spanische Erzählprosa 1925 - 40 (von Jörg Dünne) 377 Sabine Rohlff\ Léo Malets »Nouveaux Mystères « de Paris in der Tradition minal- und Parisroman (von Dankwart Dittrich)

von Kri380

Thomas Stauder ( Hg.) y »Staunen über das Sein«. Internationale Beiträge zu Umberto Ecos »Insel des vorigen Tages« (von Richard Schwaderer) 383 Poetry in the British Isles. Non-Metropolitan Perspectives , hg. Hans-Werner Ludwig und Lothar Fietz (von Wolfgang G. Müller) 390 Joseph Carroll , Evolution and Literary

Theory (von Elmar Schenkel)

392

Hans-Dieter Gelfert , Kleine Geschichte der englischen Literatur; Ina Schabert , Englische Literaturgeschichte: Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung (von Adolf Barth) 395 Amerikanische Literaturgeschichte , hg. Hubert Zapf (von Udo Hebel)

399

Brian D. Ingraffia , Postmodern Theory and Biblical Theology: Vanquishing God's Shadow; Stephen Prickett, Origins of Narrative: The Romantic Appropriation of the Bible (von Franz Link) 404

Namen-und Werkregister (von Jutta Zimmermann)

411

Das Preislied Walthers, die Sängerrolle und Wien Überlegungen zum Verhältnis von Text und seiner biographischen Deutung Von Rudolf Kilian Weigand

I. Z u m Rollencharakter in Walthers Lyrik W i r wissen kaum etwas von den Umständen realer Aufführung mittelalterlicher Lyrik; die wenigen, mehrfach zusammengestellten Hinweise sind durchweg innerliterarische Zeugnisse. 1 Dennoch wird, vor allem seit Hugo Kuhns bahnbrechendem Aufsatz zu Hartmanns drittem Kreuzlied, 2 immer wieder versucht, die Umstände von Liedaufführungen so weit wie irgend denkbar zu rekonstruieren und für eine Deutung fruchtbar zu machen. Besonders erfolgversprechend scheint dies bei Autoren, die in ihren Liedern feste, auch real vorstellbare Rollen besetzen und bei denen man ferner glaubt, über ein gewisses Mindestmaß an biographischen Informationen zu verfügen. Paradefall eines solchen Autors ist Walther von der Vogelweide. Bei der Durchmusterung von Walthers Liedern schälen sich deutlich drei typische Vortragsposen des Dichter-Sängers heraus, in denen er seinem Publikum gegenübertritt: 1. i n der des Minnesängers, mit den Spielarten der hohen und der niederen Minne; 2. i n der des Lehrers oder Didaktikers, der in Sprüchen zeitlose Wahrheiten mitteilt, die häufig einen hohen Kenntnis- und Bildungsgrad voraussetzen; 3. in der des politischen greift. 1

Dichters, der Zeitereignisse kommentierend auf-

Siehe etwa die Zusammenstellung bei Klaus Grubmüller, »Ich als Rolle. »Subjektivität als höfische Kategorie im Minnesang?«, in: Höfische Literatur, Hofgesellschaft y höfische Lebensformen um 1200, Studia humaniora 6 (Düsseldorf 1986), 387-406, hier 388. 2 Hugo Kuhn, »Minnesang als Aufführungsform«, in: Festschrift Klaus Ziegler (Tübingen 1968), 1-12. Wieder abgedruckt in: Der Deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, Band II, hg. Hans Fromm (Darmstadt 1985), 226-237.

10

Rudolf Kilian Weigand

Die Posen 2 und 3 werden dabei bislang unter dem umfassenderen, aus dem Formverständnis gewonnenen, gleichwohl unscharfen Begriff des »Spruchdichters« Walther subsumiert. 3 Als Minnesänger und als Didaktiker steht er i n einer längeren literarischen Tradition, während i m Bereich der politischen Dichtung Walther derjenige ist, der aus den Mustern anderer Gattungen völlig Neues bildet und so dieses Genre erstmals in der deutschen Lyrik hoffähig macht. Die drei Grundpositionen inszeniert nun Walther in unterschiedlicher Ausformung als textpragmatische Rollen, wobei Walthers Spiel bisweilen so realistisch w i r k t , daß immer wieder direkte Beziehungen zwischen seinen Texten und der ursprünglichen Aufführungssituation der Lieder hergestellt werden. Dadurch gelingt es uns anscheinend weitaus besser als bei anderen Dichtern, Walthers Schaffen an konkrete Ereignisse anzubinden: I n seiner Spruchdichtung finden w i r ihn immer wieder i m Umkreis der Mächtigen und Großen des Reiches, damit auch an den Brennpunkten der Politik. 4 W i r wissen nicht, i n welcher Funktion er mit diesen Herren i n Kontakt kam; aus den vielen Klagen in seinen Liedern über die Beschwernisse des Reisens und aus der wiederholten Betonung seiner Kunstfertigkeit hat man geschlossen, daß Walther als fahrender Sänger sein Brot verdienen mußte. 5 Außerliterarische Belege für seine tatsächliche Stellung stehen uns aber nicht zur Verfügung. I n der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Werkes Walthers führten diese Gegebenheiten zu einem merkwürdigen Zwiespalt: Einerseits w i r d für seine Minnelieder stets der generelle Rollencharakter betont, wie er mittlerweile für den gesamten Minnesang herausgearbeitet wurde; 6 für seine übrigen Lieder 3 Vgl. Helmut Tervooren, Sangspruch dich tung, SM 293 (Stuttgart 1995), 1-4 und speziell zu Walther 110-113. 4 Neben den Kaisern, die während seiner Lebenszeit regierten (Philipp von Schwaben 11208, Otto IV. 11218, und Friedrich II. f 1250) sind es etwa Markgraf Dietrich von Meißen (t 1221), Landgraf Hermann von Thüringen (f 1217) und sein Sohn Ludwig ("f 1227), Herzog Bernhard von Kärnten (1202-1256), die Babenberger Herzöge Friedrich I. (t 1198) und Leopold VI. (f 1230) und Erzbischof Engelbrecht von Köln ( | 1225), die in seinen Liedern mehrfach auftauchen. Weiter auch der Graf Dieter II. von Katzenellenbogen (80, 27); an seiner Stelle kann aber auch einer der bayrischen Grafen von Bogen gemeint sein, so Ulrich Müller, Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters, GAG 55/56 (Göppingen 1974), 49 f. unter Berufung auf A. Wallner in PBB 33 (1908), 42 f. 5 Die soziale Stellung und Existenzform erörtert umsichtig Gerhard Hahn, Walther von der Vogelweide (München und Zürich 1986), 25. Noch zurückhaltender in den Folgerungen ist die Einleitung von G. Hahn in H. Brunner u. a., Walther von der Vogelweide. Epoche - Werk - Wirkung (München 1996), 19-24. 6

Grundlegend zum Problem Vortragsrolle und den realen Möglichkeiten des Vortrages der Beitrag von Volker Mertens, »Kaiser und Spielmann. Vortragsrollen in der höfischen Lyrik«, in: Höfische Literatur ; Hofgesellschaft , höfische Lebensformen um 1200, Studia humaniora 6 (Düsseldorf 1986), 455-470.

Das Preislied Walthers, die Sängerrolle und Wien

11

glaubt man indes zumeist andere, hauptsächlich real-biographische Deutungsmuster heranziehen zu dürfen. Dies hat erhebliche interpretatorische K o n sequenzen: So w i r d die an sich schon problematische Zweiteilung des Werkes eines Dichters i n Minnesang und Spruchdichtung 7 noch zusätzlich durch Versuche untermauert, aus den persönlich klingenden Mitteilungen der Sprüche biographische Rückschlüsse bis hin zur Konstruktion eines fiktiven Lebenslaufes zu ziehen. 8 Dabei berücksichtigt man die Möglichkeit, daß es sich bei den Aussagen Walthers auch in seiner Spruchdichtung (ebenso wie i m Minnesang als selbstverständlich zugestanden) u m stilisierte Rollen handeln könnte, die i m Zuge einer Liedinszenierung zwar vorgeführt werden, die aber in keiner Weise auch seiner realen Position entsprechen müssen, allenfalls am Rande. 9 Als augenfälliges Beispiel sei die Ratgeber-Pose angeführt, die Walther mehrfach thematisiert. 1 0 Gerade i n Strophen des Leopoldstones finden w i r die Verbindung von Ich-Aussagen und Ratgeber-Position, die i n dieser A r t i n der älteren Spruchdichtung (Herger, Spervogel) nicht üblich ist; konsequent durchgehalten, würde diese Position bei niederer Herkunft des Dichters seinen eigenen Äußerungen in eben diesem Ton widersprechen. A m deutlichsten ist dies an folgender Stelle ablesbar: 7 Obwohl diese von Maurer in der Präsentation der Gedichte eingeführte Teilung des Werkes [vgl. seine >Thesen-Edition< Die Lieder Walthers v. d. V. 1. Bändchen: Die religiösen und politischen Lieder,; ATB 43 (Tübingen 1955, 4. Aufl. 1974); 2. Bändchen: Die Liebeslieder,i ATB 47 (Tübingen 1956, 3. Aufl. 1969)] nie wirklich breite Zustimmung erlangte, wird die damit vorgegebene Tendenz der Aufspaltung noch untermauert durch die neueste Ausgabe von Günther Schweikle, Die Lieder Walthers von der Vogelweide Bd. 1: Die Sprüche, RUB 819 (Stuttgart 1994). 8 Besonders deutlich vertritt diese Position Kurt Herbert Halbach, Walther von der Vogelweide, Sammlung Metzler 40 (Stuttgart 3. Aufl. 1973), 8-25. Vorsichtiger, aber immer noch mit unverkennbarer Tendenz äußert sich Gerhard Hahn (wie Anm. 5), 21-29. 9 Dieses Problem der Inszenierung von Sprecherrollen im Minnelied durch die Autoren selbst und damit der Zusammenfall von Autorrolle und lyrischem Ich für die klassische Zeit, in der Minnesang noch unzweifelhaft Aufführungskunst ist, wird ausführlich erörtert von Jan-Dirk Müller, »Ir sult sprechen willekomen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachlicher Lyrik«, in: IASL 19 (1994), 1-22. 10 Die Texte Walthers hier wie im folgenden stets zitiert nach der klassischen Ausgabe: Walther von der Vogelweide. Leich y Lieder; Sangsprüche, 14., völlig neubearb. Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, herausgegeben von Christoph Cormeau (Berlin 1996). Demnach Ratgeber-Posen in Reichston 1,8 deheinen rät konde ich gegeben; Erster Philippston IV (L. 33,44: Ermahnung, sich Saladin zum Vorbild zu nehmen); ebda V (L. 20,5: daz ist min rät, der laz den hof ze Düringen fri); Zweiter Philippston IV (L. 17,11, »Spießbratenspruch«: wir suln den kochen raten); und in Leopoldston III: Ich muoz verdienen swachen haz: ich wil die herren leren daz wies iegeslichen rät wol mügen erkennen (L. 83,27ff.)! Zu Walther als Ratgeber im Minnesang vgl. Trude Ehlert, Konvention, Variation, Innovation (Berlin 1980), Register zum Index.

12

Rudolf Kilian Weigand Swa der hohe nider gät und ouch der nider an den hohen rät gezucket wirty da ist der hof verirret. (L. 83,14 f.)

Wo der Niedriggestellte, also Walther selbst - so bin ich doch, swie nider ich si, der werden ein (L. 66,37) - in den Rat der Hohen berufen wird, da ist verkehrte Welt. Woher nimmt der Dichter den Anspruch für die Gültigkeit seiner Aussagen, wenn diese Feststellung tatsächlich biographisch-real und nicht rollenhaft-gespielt zu verstehen ist? Vor dem Hintergrund solcher, immer wieder überspielter Schwierigkeiten ist es nicht verwunderlich, daß uns heute die Forschung den Sänger Walther in einer zweifelhaften Doppelrolle präsentiert: Einerseits als Minnesänger mit festem Engagement an verschiedenen Adelshöfen, 11 andererseits als fahrenden Sangspruchdichter mit mehrfach wechselnden Auftraggebern. 12 N i m m t man indes den Rollencharakter auch in der Spruchdichtung ernst, dann lassen sich Gönnerstrophen wie L. 35,7 ich bin des milten lantgräven ingesinde nicht mehr nur allein als Ausweis eines tatsächlichen persönlichen Dienstverhältnisses Walthers deuten; der Dichter könnte auch die fiktive Rolle eines solchen Dienstverhältnisses gewählt haben, u m in stellvertretender Aussageposition für bestimmte Gruppen diesen und deren Interessen Gehör zu verschaffen. Räumt man eine solche Möglichkeit ein, so kanp man freilich nicht mehr von sicherer biographischer Relevanz solcher Stellen ausgehen, sondern einzig von einer nicht mehr näher eingrenzbaren Kenntnis bestimmter Höfe und Aufenthalt an ihnen. Notwendige Folgerung einer solchen Sichtweise ist es, das bisher festgefügte Netzwerk der Deutungen von historischen Bezügen auf seine Eindeutigkeit und damit seine Tragfähigkeit zu überprüfen; 13 ansonsten verfestigt sich ein Waltherbild auf der Basis zweifelhafter Fixierungen, die den Blick für die Vielfalt und Offenheit seiner tatsächlichen literarischen Berührungen unhaltbar einengt. 11 Dies betont ganz dezidiert Eberhard Neilmann, »Spruchdichter oder Minnesänger? Zur Stellung Walthers am Hof Philipps von Schwaben«, in: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck (Stuttgart 1989), 37-59. Gegen eine feste Minnesängeranstellung Walthers, allerdings nur speziell am Wiener Hof, argumentiert Jeffrey Ashcroft, »Die Anfänge von Walthers politischer Lyrik«, in: Minnesang in Österreich, hg. Helmut Birkhan (Wien 1983), 1-24. Bei allen Differenzen hinsichtlich der Beurteilung der konkreten Stellung Walthers scheint mir eines sicher: Alle Forscher gehen davon aus, daß er zumindest zeitweise seinen Lebensunterhalt als fahrender Sänger verdienen mußte. Dieser Schluß von der literarischen Rolle auf die realen Lebensumstände ist angesichts des völligen Fehlens eindeutiger nichtliterarischer Zeugnisse sehr gewagt. 12

So Gerhard Hahn (wie Anm. 5), 25. Eine solche weitaus zu optimistische Sicht gesicherter historischer Zuordnung vermittelt die Zusammenstellung von Werner Schröder, »Die Lebenszeugnisse Walthers von der Vogelweide«, in: Festschrift Hugo Moser (Berlin 1974), 88-99, hier 94-98. 13

Das Preislied Walthers, die Sängerrolle und Wien

13

I I . Der konkrete Fall: Rollen und Rollenwechsel im Preislied Der w o h l bekannteste Fall des Spielens mit Rollen auf verschiedenen Ebenen und dadurch mit Gattungserwartungen aus Minnesang und Spruchdichtung i n Walthers Œuvre ist das sog. >Preislied< (L. 56,14). Bevor man die Aussagen dieses Liedes in H i n b l i c k auf die bislang postulierte Aufführungssituation einer Uberprüfung unterzieht, ist zunächst ein Blick auf die Voraussetzungen der Betrachtung notwendig: Überliefert ist uns das Lied in vier Hss., 1 4 die aber drei unterschiedliche Fassungen 15 präsentieren, 16 welche weder i n Strophenzahl noch in Strophenanordnung übereinstimmen; selbst innerhalb gleicher Strophen gibt es eine Anzahl von nicht unerheblichen Textvarianzen. Deshalb zunächst ein Überblick zur Strophenfolge: 17 Ausg. Maurer I (Irsult) I I (Ich wil) I I I (Ichhan) IV (Von der) V (Tiusche man) VI

A I II III IV V -

c

I II V III IV VI

E I II IV V' III -

Uxx I II -

IV V -

Diese Abweichungen sind zunächst insofern nicht verwunderlich, als ein Spiel mit verschiedenen Gattungselementen, wie es i m Preislied unzweifelhaft vorgeführt wird, meist Unregelmäßigkeiten in der Überlieferung hervorruft, weil die damit verbundenen Risiken nicht von allen Rezipienten akzeptiert werden. 1 8 Dennoch ist an der unterschiedlichen Strophenfolge in den einzelnen Hss. einiges auffällig: 14 Dazu kommt die Bezeugung der ersten Strophe als Zitat im >Frauendienst< Ulrichs von Lichtenstein, hier L. 15 Der Begriff »Fassung« soll in diesem Zusammenhang definitorisch nicht eingeengt, sondern so umfassend wie nur irgend denkbar gebraucht werden und somit jede bewußte Textvarianz einschließen, sei es in der Anordnung, im Wortlaut oder auch im metrischen Bereich. 16 Die fragmentarische Fassung in der Wolfenbütteler Hs. Uxx entspricht in ihren erhaltenen Partien der Anordnung in A. 17 Vgl. dazu bereits Heinz Rupp, »Walthers Preislied - ein Preislied?«, in: Festschrift für Richard Brinkmann (Tübingen 1981), 23-44, hier 39-44. Meine Untersuchung ist diesem Aufsatz stark verpflichtet, sowohl im methodischen Ansatz der stufenweisen Textbetrachtung als auch hinsichtlich der Zweifel an den herkömmlichen Deutungen des Liedes als Preislied. Die Konsequenzen der Ergebnisse sehe ich allerdings anders als Rupp. 18 An einigen Beispielen zeigt dies Jan-Dirk Müller, »Die frouwe und die anderen. Beobachtungen zur Uberlieferung einiger Lieder Walthers von der Vogelweide«, in: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck (Stuttgart 1989), 127-146.

14

Rudolf Kilian Weigand 1. Die sechste Strophe w i r d nur in einer Handschrift, in C überliefert. 19

2. Hinsichtlich der Strophen I und I I stimmen alle Hss. i n der Anordnung überein, wohingegen I I I - V in völlig verschiedener Weise (A: I I I - I V - V ; C: VI I I - I V ; E: I V - V - I I I ; für U x x muß wegen des Fehlens der Strophe I I I eine Zuordnung zu A oder E offenbleiben) aufeinander folgen. 3. I n der Handschrift E (Hausbuch des Michael de Leone) ist durch eine markante Umformulierung der fünften Strophe ein veränderter Sinn unterschoben. 2 0 N i c h t aus der Tabelle entnehmen, sondern nur i m konkreten Textvergleich ermitteln kann man die Tatsache, daß auch i m metrischen Bereich eine erhebliche Spannbreite zu beobachten ist, die sich allerdings i m Grunde auf zwei Fassungen A E L und C reduzieren läßt. 2 1 U x x und L scheiden als klar defizitäre Überlieferung von vorneherein für eine umfassende Rekonstruktion des Liedes aus, sie können allenfalls i n Detailfragen zu Rate gezogen werden. Unter Berücksichtigung und sorgfältiger Auswertung aller verbliebenen Varianz von A C E hat sich eine Fassung des Liedes als vermeintlich älteste greifbare Version eruieren lassen, die durch die Reihenfolge und bis auf geringfügige Besserungen den Text von A unter Hinzunahme der sechsten Strophe aus C wiedergegeben w i r d . 2 2 Sie allein soll zunächst betrachtet werden; später w i r d noch zu erörtern sein, was aus den Gestaltungen der anderen Fassungen und damit auch bezüglich der singulären Überlieferung der V I . Strophe in C zu folgern ist. Angesichts der Länge des Gedichtes und der Vielfalt der literarischen Beziehungen, die bislang schon erarbeitet wurden, scheint es angeraten, die Positionen der einzelnen Strophen noch einmal durchzugehen, sie auf ihre Aussage und auf ihre Beziehung zu anderen Liedern zu befragen, ehe eine Gesamtdeutung versucht wird. 19 Vgl. hierzu zuletzt Ursula Kocher, »»Unechte Strophen< in der Waltherüberlieferung«, in: Festschrift Dieter Wuttke (Wiesbaden 1994), 47-62, hier 52 f. mit einer Auswahl der wichtigsten Forschungspositionen zu diesem Uberlieferungsfaktum beim >PreisliedArmer Heinrich< [hg. H. Paul, 15. neu bearb. Auflage v. G. Bonath, ATB 3 (Tübingen 1984)]. V. 346 kindische miete »kindliche Geschenke«; in etwas anderer, mehr auf das Ideelle übertragener Akzentuierung ebda V. 644 (641 ff.): ja gebot er unde bater, daz man muoter unde vater minne und ere biete und geheizet daz ze miete, daz der sele rät werde und lanclip üf der erde. Deutlicher im Sinne von »Auslösung, Bezahlung« gebraucht wird der Terminus im Erec [hg. v. A. Leitzmann, 6. Auflage besorgt v. Ch. Cormeau u. K. Gärtner, ATB 39 (Tübingen 1985)]. V. 975 ff.: sehet, nü getuon ich guoten rät daz ich deheine miete vür minen lip biete.

Das Preislied Walthers, die Sängerrolle und Wien

17

Wiederaufnahme dieses terminologischen Gebrauches in Strophe I I macht indes deutlich, daß Walther die Begriffe bewußt so gesetzt hat, hier mit ihnen spielen will. Strophe I I : (Ich wil tiuschen frowen sagen etc.) Deutschen adeligen Damen (frouwen) w i l l er etwas sagen, das diese dann der Welt umso besser gefallen läßt - und i m Widerspruch zur ersten Strophe w i l l er dies nun gegen geringe Bezahlung tun; gänzlich mag er nicht auf sie verzichten (Wie diese miete aussehen soll, w i r d weiter unten erörtert). Der Gebrauch des Terminus tiusche i n diesem Zusammenhang wurde immer wieder als Replik auf Angriffe provencalischer Sänger, insbesondere von Peire Vidal, verstanden; 29 jedoch hat Heinz Rupp w o h l zu recht in Zweifel gezogen, 30 daß dessen romanische Lieder i m österreichischen Raum, i n dem Walther zweifelsohne diese Strophen vorgetragen hat (s.u. Strophe IV), überhaupt bekannt waren. D o c h nur wenn dem Publikum das Ziel eines Angriffes deutlich ist, ergäbe die Replik einen Sinn. Freilich ist angesichts der erkennbaren Berührungen zwischen Walthers Spruchdichtung und der Lyrik der Troubadours nicht auszuschließen, daß Walther hier wie anderswo bei ihnen Anleihen nimmt; dann ist deren Funktion aber nicht die Erwiderung der fremden Polemik, sondern die produktive U m gestaltung des fremden Materials. Weitaus eindeutiger sind indes die Parallelen zu Walthers eigenem Lied Min frouwe ist ein ungentedic wip (L. 52,23), i n dem Walther - wie mit dem Begriff mtere in der ersten Strophe des Preisliedes - auf Reinmars >Preislied< anspielen könnte: Er nimmt dessen Terminus werdekeit ( M F 165,39) auf, wandelt ihn aber ab und spricht zudem von wiben m frömediu lant: Miner frouwen darf niht wesen leit, daz ich rite und frage in frömediu lant von den wiben die mit werdekeit lebent: der ist vil menigiu mir erkant, und die schoene sint da zuo. Es ist allerdings auch zu erwägen, ob der Terminus tiusche nicht lediglich Gegensatz zu frömediu sein soll, sondern weitergehend eine wörtliche Anspielung darstellt: Bei Heinrich von Morungen 123,6 findet sich der Begriff tiusch in der Verbindung tiuschem lande etc. 3 1 Die inhaltlichen Berührungen des >Preisliedes< mit dem Morungens beschränken sich indes auf die Strophen I I 29 Sie sind zusammengestellt bei: Walther von der Vogelweide, hg. u. erklärt v. W. Wilmanns, 4. Aufl. besorgt v. V. Michels, Bd. 2 (Berlin 1924), 232; besonders hervorzuheben ist Wilhelm Nickel, Sirventes und Spruch dich tung (Berlin 1907), 20-24. Deutliche Parallelen zwischen den romanischen Troubadours und Walthers Ottenton zeigt Silvia Ranawake auf: »Walthers Ottenton (11,6 ff.) und der Kreuzzugsappell der Troubadours«, in: H.-D. Mück (Hg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk (Stuttgart 1989), 315-330. 30 Vgl. Rupp (wie Anm. 17), 31, Anm. 9. 31 Kathrin Smits, »Das >Preislied< Walthers von der Vogelweide (L. 56,14). Eine Reaktion auf Morungens Lied MF 122,1 ?«, ZfdPh, 99 (1980), 1 -20.

2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 39. Bd.

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Rudolf Kilian Weigand

und V, sodaß schwerlich das ganze Gefüge des >Preisliedes< als Replik auf dessen Lied M F 122,1 verstanden werden kann. 3 2 Das erneute miete-lön-Spiel macht deutlich, daß eben dieser Terminologiegebrauch und -Wechsel bereits in der ersten Strophe mit Absicht eingebracht wurde. Warum aber w i l l der Sänger jetzt auf den L o h n zum Teil verzichten? Weil die frouwen ihm ze her sind; darum genügt ihm schon ein einfacher Gruß. Es ist typische Hohe-Minne-Ideologie, die der Sänger hier ins Spiel bringt; als höchsten Gewinn hat er allenfalls den gnädigen Gruß zu erwarten. Gerade deswegen aber werden die Zuhörer aufhorchen: Eben hat der Dichter, - möglicherweise durch Bezugnahme auf ein eigenes Lied (frömediu lant, erkant), in dem er an dem Verhalten der Dame unverhohlen K r i t i k übt, auf jeden Fall aber mit den Anklängen an Reinmars Minne-Terminologie - jene Ideologie angegriffen, auf die er nun wieder in konventioneller Weise abzuheben scheint. Durch diesen Kunstgriff entsteht eine eigentümliche Spannung, die Erwartung hinsichtlich des angekündigten mtere w i r d weiter gesteigert. Strophe I I I : (Ich hän lande vil gesehen etc.) N u n sollte man endlich erwarten, daß der Dichter seine Neuigkeit kundtut. D o c h zunächst präsentiert er sich noch einmal in der Position des Erfahrenen i m eigentlichen Wortsinne, eine Rückkehr zu einer Spruchdichterpose, ähnlich der der ersten Strophe, aber eben nicht unbedingt mit ihr identisch: I m Unterschied zur oben skizzierten Botenrolle präsentiert sich der Dichter nun als Weltkundiger (Reichston und L 31,13, auch 29,4; Spruchdichterpose II). A u f seinen Reisen hat er vieles kennengelernt, dennoch kann er sich nicht für fremde Sitten erwärmen; seine Erkenntnis w i r d demzufolge, und das ist typisch für viele Lob- und Mahnstrophen der Spruchdichtung, nicht eigentlich neu sein. Ist es das folgende, was er verkünden will: tiuschiu zuht gät vor in allen? Die betonte Stellung am Schluß der Strophe läßt es zunächst vermuten. Strophe IV: (Von der Elbe unz an den Rin,etc.) Jetzt umschreibt Walther den geographischen Raum, i n dem er diese gelobte tiuschiu zuht kennengelernt hat: Von der Elbe unz an den Rin, und her wider unz an Ungerlant. Die Aufzählung, die Parallelen i n Spruchstrophen Walthers, aber nicht in seinen Minneliedern hat (L 31,13), 33 gibt neben der formelhaften Umschreibung des »erfahrenen« Raumes vor allem genauere Kunde darüber, in 32 Dies kritisiert an Smits schon Rupp (wie Anm. 17), 31 Anm. 9; Nolte (wie Anm. 21) 220 Anm. 25 will darüber hinaus die Berührungen sogar einzig auf die Strophe V eingrenzen. 33

Im Minnesang bleiben geographische Angaben weitaus unbestimmter, vgl. L. 53,17 frömediu lant. Deswegen fallen auch die wenigen Erwähnungen von tiuschen wiben/frowen (L. 58,34 bzw. 56,22) bei Walther und das tiusche beim Morunger so aus dem Rahmen.

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welcher Gegend der Sänger sich zur Zeit des Vortrages aufhält: I n der Nachbarschaft zu Ungarn, somit i m babenbergischen Österreich. 3 4 Der Kern der Aussage findet sich auch in dieser Strophe in den Schlußzeilen. Der schon i n Str. TV/7 (L. 57,5) des bereits oben genannten Liedes min frouwe ist ein ungenaedic wip (L. 52,23) betonte Gegensatz von frouwe und wip, von Walther bekanntermaßen ständig weiterentwickelt, erreicht jetzt einen besonderen Höhepunkt: Hierzulande sind die wip, die einfachen Frauen, besser als anderswo die frouwen, die adeligen Damen (Spruchdichterrolle I I I , Frauenpreis: vgl. L. 27,17 und 27,27)! 35 Strophe V: (Tiusche man sind wol gezogen, rehte als engel sint diu wip getan) N i c h t nur die Frauen, auch die Männer sind i m Bereich der tiusche sprechenden Regionen von ausgesuchter Qualität: Damit tritt neben den Frauenpreis auch das Herrenlob der Spruchdichter (Rolle IV). Die duschen man und wip bestechen nicht allein durch ihre zuht; auch tugent und reine minne findet man in der Region, die Walther als unser lant bezeichnet. Ist dieses lant der gesamte in IV, 1 und 2 umschriebene Raum? Der bisherige Aufbau des Liedes läßt m.E. keine andere Deutung zu. Eine Einengung des Begriffes auf das babenbergische Osterreich scheint mir der obigen Umgrenzung durch den Dichter zu widersprechen und damit konstruiert. 3 6 Unüberhörbar ist dann der abschließende Wunsch des Sängers: N o c h möglichst lange möchte ich i n diesem Land leben, in dem die einfachen Frauen besser sind als anderswo adelige Damen. 3 7 Strophe V I : (Der ich vil gedienet han, und iemer mere gerne dienen wil) Jetzt wendet sich der A u t o r nicht mehr an ein Kollektiv von Damen und Herren, sondern an eine einzelne frouwe, er wechselt also nochmals i n eine neue Rolle: Es ist nun eindeutig die des Minnesängers. 38 Diese Dame aber preist er gerade nicht, wie er das vorher mit den deutschen Frauen getan hat. I m Gegenteil, er beklagt sich über ihr Verhalten. U n d an die Klage schließt er eine besonders hinterhältige Bemerkung an: Gott möge ihr verzeihen, daß sie 34

So verstehe ich das her wider unz an der Unger lant. Auf dieses sein Lob der tiuschen wip beruft sich Walther auch in späteren Liedern: si pflihten alle wider mich und haben danc y er si ein zage der da wenke. Nu dar swer tiuschen wiben ie gesprache baz. [L. 58,32 ff.] 36 So versucht es Smits (wie Anm. 31), 7 Anm. 10. 37 Der Interpretation von Rupp (wie Anm. 17) 30 f., der in diesen Zeilen und auch schon in Str. IV einen Angriff auf die deutschen adeligen Damen sehen will und daraus folgert, das >Preislied< sei ein Scheltlied auf die deutschen adeligen Damen, vermag ich nicht zu folgen. Das würde nämlich m.E. einschließen, daß diese Damen an fremeder site Gefallen gefunden hätten, und davon ist im Lied nirgends die Rede. 38 Zu den vordergründigen Minnesangmotiven und deren angemessener Deutung in dieser Strophe vgl. die interessanten Ausführungen von Günther Jungbluth, »Thesen zu einigen Waltherliedern«, in: Festschrift Hugo Moser (Berlin 1974), 101-112, hier 102-105. 35

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Unrecht an i h m tut; wenn dies geschehen ist, kann sie es sich ja noch anders überlegen. Normalerweise ist der umgekehrte Weg der übliche; erst kommt die Bekehrung und dann das Verzeihen. Ganz offensichtlich stecken i m Inhalt des Liedes widersprüchliche Aussagen, die es in einer Deutung wenn nicht zu harmonisieren, so doch zumindest aufzulösen g i l t : 3 9 Gebärdet sich noch in der ersten Strophe der Dichter als Bote mit Neuigkeiten und Lohnforderung, so verbindet er in der zweiten Strophe die Ankündigung von Neuigkeiten für Frauen mit Lohnverzicht und wechselt i n der dritten und vierten wiederholt vom Frauen- zum Herrenpreis, u m schließlich die letzte Strophe eindeutig i m Stile des Minnesangs zu präsentieren. Zur Erklärung dieser Widersprüche ging die Forschung unterschiedliche Wege und brachte es infolgedessen zu verschiedenen Deutungen, je nachdem, welche Signale als dominierend angesehen wurden: Beim Abheben auf den Begriff tiusche wurde daraus ein Nationallied der Deutschen; beim Abheben auf Belohnung und den Bleibewunsch in V,8 (L. 57,16) interpretierte man es als eine Bewerbung u m eine Stellung als >hofsässiger Minnesänger< in Wien; 4 0 bei Hervorhebung des Frauenpreises (oder der Schelte) verstand man auch das Ganze des Liedes als Minnesang (oder Minnekritik). Die literarischen Anspielungen auf eigene und fremde Lieder sind, wie zu sehen war, vielfältig, doch i n ihrer Gesamtheit keineswegs eindeutig. Eindeutig ist aber das Spiel mit der miete-lön-Terminologie sowie die Verbindung von Frauen- und Herrenpreis, somit eine thematische Mischung zwischen Minnesang und verschiedenen Spielarten der Spruchdichtung. 41 Neben den Spruch39 Dies ist unverzichtbar, will man der legitimen Forderung von Kurt Ruh nach der Erkenntnis der notwendigen Einheit von Walthers Liedern gerecht werden: Vgl. Kurt Ruh, »Mittelhochdeutsche Spruchdichtung als gattungsgeschichtliches Problem«, DVjs, 42 (1968), 309-324; wieder abgedruckt in: Hugo Moser (Hg.), Mhd. Spruch dich tung, WdF 154 (Darmstadt 1972), 205-226, hier 211 f. 40 Am deutlichsten formulierte dies Günther Jungbluth (wie Anm. 38), 103: »Das Preislied ist, kraß ausgedrückt, zugleich, wenn nicht gar primär, ein Bettellied.« Auch die jüngste Interpretation zum Preislied, die sich gerade der Aufführungssituation widmet, sieht in Strophe VI eine eindeutige Kehrung des Liedes zum Minnesang: Volker Mertens, »Autor, Text und Performanz. Überlegungen zu Liedern Walthers von der Vogelweide«, ABäG, 43-44 (1995, zugleich Festgabe für Anthonius H. Touber zum 65. Geburtstag), 379-397, zum Preislied 392-394. Auch er unterscheidet nur grob die beiden Rollen Spruchdichter und Minnesänger, wobei sich nach seiner Ansicht Walther in der sechsten Strophe eindeutig auf den Minnesänger festlegt - aber nicht auf eine bestimmte Situation! Dies unterstreicht er mit dem Hinweis, daß die Zeile VT,1 der ich vil gedienet hän kaum auf die neue (!) Herzogin in Wien gemünzt sein kann. Damit stützt er von anderer Warte aus meine untenstehende Argumentation, daß das Lied nicht anläßlich der Hochzeit von 1203 am Wiener Hof vorgetragen wurde. 41

Diese kann nicht schon allein aus der anfänglichen Botenrolle gefolgert werden, vgl. die parallele Stelle in MF 215,4 f., die eindeutig reiner Minnesang ist. Erst das Einbringen

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dichterposen ist das Hervorheben des tiuschen unübersehbar. Da in der ersten Strophe die Botenrolle und die von ihr zu erwartenden Neuigkeiten so betont werden, müssen auch sie in einem engeren Zusammenhang mit den tiuschen frowen stehen. Wie zu sehen ist, gibt der Text selbst hierzu keine weiteren Auskünfte. Eine Interpretationshilfe könnte hier der situative Kontext sein, der O r t und die Umstände der Liedaufführung, u m dessen Erschließung sich die Forschung daher auch von Beginn an und mit Recht bemüht hat.

I I I . Zur Entschlüsselung der Rollenwechsel Osterreich als geographischer O r t der Darbietung ist aufgrund der Erwähnung der Nähe zu Ungarn unstreitbar. 42 Die formale und auch inhaltliche Verwandtschaft mit einigen von Walthers eigenen Liedern macht es wahrscheinlich, 4 3 daß dieses Lied i n das Umfeld jener Auseinandersetzung mit anderen Dichtern u m das rechte Verständnis des Minnekonzeptes gehört, die unter dem Stichwort »Reinmar-Walther-Fehde« durch die Literaturgeschichten zieht. 4 4 Das Spiel mit unterschiedlichen Rollen i m >Preislied< ist bislang immer dahingehend gedeutet worden, daß Walther nach längerer Zeit als Spruchdichter an den Wiener H o f zurückkehrt und sich dort als Minnesänger etablieren will. Die in diesem literarischen Zusammenhang postulierte historische Gelegenheit weckt allerdings tiefgreifende, von der Forschung bislang nur am Rande registrierte Bedenken: Aufführungssituation war nach der communis opinio der Wiener H o f u m 1203, »vielleicht bei der Gelegenheit der Hochzeit Herzog Leopolds mit der byzantinischen Prinzessin Theodora Komnena.« 4 5 Leopold heiratet eine Byzantinerin! 4 6 Gerade angesichts der Tatsache, daß zu dieser Zeit weiterer Spruchdichtungselemente macht wahrscheinlich, daß Walther hier wirklich mit den Gattungen jongliert und nicht nur eine ohnehin im Minnesang gebräuchliche Rolle nutzt. 42 Vgl. oben Str. IV/2: her wider nnz an der Unger lant. 43 Für diese Liedgruppe hat F. Maurer (vgl. Anm. 7), Die Lieder Walthers v.d.V. 2. Die Liebeslieder. Tübingen 3. Aufl. 1969 (= ATB 47), 66 den Begriff »Preislied-Gruppe« geschaffen, auf den ich hier indes aus naheliegenden Gründen verzichten möchte. 44 Der Begriff wird hier nicht in biographistischer Weise, sondern rein als Hinweis auf eine solche, nach Ausweis der Lieder unleugbare literarische Auseinandersetzung - in welcher Form auch immer - gebraucht; vgl. zuletzt Helmut Tervooren, »Reinmar und Walther« (wie Anm. 27). 45 Gerhard Hahn (wie Anm. 5), 49. Neuerdings wird es nochmals betont von Nolte (wie Anm. 21) 219 Anm. 18. 46 Dieser faktische Widerspruch wurde, allerdings ohne interpretatorische Konsequenzen, schon gesehen von Eberhard Nellmann, »Spruchdichter oder Minnesänger? Zur Stellung Walthers am Hof Philipps von Schwaben« (wie Anm. 11), hier 53-55, v. a. 53 Anm. 82. Ebenso Kathryn Smits (wie Anm. 31) in ZfdPh, 99 (1980), 16 Anm. 45.

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dynastische Ehen unter rein politischen Aspekten geschlossen wurden, muß man den Preis der deutschen Frauen, die besser sind als anderswo die Damen, als eine unerhörte Provokation der Braut - und damit des Landesherrn - verstehen. Das gezeigte Verhalten paßt dann keinesfalls auf die Situation eines Mannes, der sich u m eine dauerhafte Anstellung am Hofe Leopolds bewirbt: Man w i r d nämlich kaum unterstellen können, daß das Publikum der Zeit bei einer realen Liedaufführung zwischen Walther als Sänger und der fiktiven Sprecherrolle des Liedes selbst unterscheiden konnte oder w o l l t e . 4 7 Warum das Lob aller tiuschen frouwen unde man i m umschriebenen geographischen Raum, nicht ein Abheben speziell auf den H o f , an dem der Dichter sich bewerben will? Warum der Verzicht auf miete, w o doch Walther seine Lehensbitte an Friedrich weitaus deutlicher formuliert hat? Wenn das Lied nicht, wie Heinz Rupp herausgearbeitet hat, als Scheltlied der deutschen adeligen Damen verstanden werden soll, und wenn sich die Spitzen Walthers nicht auf die Anspielungen provenzalischer Herkunft beziehen, 48 dann muß nach anderen Situationen gesucht werden, bei denen deutsche adelige Damen gegenüber fremdländischen Herrinnen zurückgesetzt wurden. Es gilt somit, eine Aufführungssituation zu rekonstruieren, bei der Walthers Aussagen weniger direkt provozierend wirken konnten, i n ihrer aggressiven Schärfe gleichwohl verstanden wurden. Bei unveränderter Ansiedlung i m Umkreis der Wiener Hochzeit mit einer Byzantinerin konnte es eigentlich nur an einem H o f vorgetragen werden, an dem es möglich war, diese Heirat mit einer ausländischen Prinzessin massiv zu kritisieren. Die berühmte Pelzrocknotiz verbürgt uns, daß Walther sich zu dieser Zeit nachweislich am H o f des Wolfger von Erla ( f 1218) aufhielt, damals Bischof von Passau (1191-1204) und später Patriarch von Aquileia: Wie die Ausgabenregister des Bischofs belegen, wurden am 12. November 1203 Waltbero cantori de Vogelweide pro pellicio V. sol. longos übereignet. 49 Wenige Tage zuvor hatte

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Vgl. Jan-Dirk Müller (wie Anm. 9), 7. Angesichts der Verehelichung mit einer Byzantinerin lassen sich beide Varianten in das angenommene Umfeld der Wiener Hochzeit nur mit Mühe einfügen; wozu dort eine Schelte der deutschen Damen oder die Abwehr provencalischer Vorwürfe, wenn die politische Verbindung doch auf den Osten zielt? 48

49 Text nach Hahn (wie Anm. 5), 21; dieses lange Zeit ausschließlich bekannte urkundliche Zeugnis zu Walther ausführlich erörtert und eingeordnet bei Hedwig Heger, Das Lebenszeugnis Walthers von der Vogelweide. Die Reiserechnungen des Passauer Bischofs Wolfger von Erla (Wien 1970). Ein weiteres wird neuerdings reklamiert von Bernd Hukker, »Ein zweites Lebenszeugnis Walthers?«, in: Hans-Dieter Mück (Hg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk (Stuttgart 1989), 1-30. Neben eher abwertenden knappen Rezensionen [R. Krohn in Monatshefte, 83 (1991), 398-402 und Th. Nolte, PBB, 115 (1993), 149 f.] setzt sich Manfred Günther Scholz gründlicher mit Huckers Thesen auseinander: »Der biderbe patriarke missewende fri und dominus Walterus - auch ein Versuch zum Begriff des fahrenden Spruchdichters«, in: Wolfger von

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i n Wien die Vermählung zwischen Leopold V I . und Theodora stattgefunden; den kirchlichen Segen dazu dürfte Wolfger als zuständiger Diözesanbischof erteilt haben. 50 Allerdings war zum Zeitpunkt der Eheschließung die kirchliche Dispens von der Verlobung mit einer böhmischen Prinzessin noch nicht erteilt, sie erfolgte erst am 7. Januar 1204. 51 Ferner konnte die Vermählung als Versuch Leopolds gedeutet werden, nun gleich dem Staufer Philipp sich Einfluß in den byzantinischen Angelegenheiten zu verschaffen. Für den gewieften Diplomaten Wolfger, der einst trotz Gefangennahme des Kreuzfahrers Richard Löwenherz zu Leopold V. gestanden, der dem jungen Herzog Friedrich I. auf dem Bußkreuzzug i m Orient die Augen zugedrückt hatte, mochten sich hier gefährliche Signale eines erneuten und verfrühten Engagements der Babenberger auf der internationalen Bühne ankündigen. Einst war es der Kreuzzug Friedrichs, der Walther von der Vogelweide veranlaß te, den Wiener H o f zu verlassen und sich in den Dienst der Staufer zu begeben: Do Friedrich HZ österlich also gewarp der an der sele genas und im der lip erstarp dö fuort er minen krenechen trit in derde (L. 19,29 ff.). Verstand Walther ähnlich wie Wolfger Leopolds Hochzeit vielleicht als Signal, daß dieser sich ebenfalls i n »orientalische Abenteuer« einlassen wollte? I n einem derart sensibilisierten Umfeld, am Hofe des Bischofs, könnte eine so unverblümte K r i t i k an bestimmten Vorgängen in Wien auf Verständnis gestoßen sein. Der Preis deutschen Wesens könnte unter solchen Voraussetzungen als geschickte Anspielung auf den Lobpreis der fremdländischen Prinzessin und Braut des Landesherrn angelegt sein. Parodistische Züge sind in Walthers Spruchdichtung und Minnesang zuhauf nachgewiesen, 52 wenn man unter Parodie, weit gefaßt, die »verspottende [...] Nachahmung eines schon vorhandenen ernstgemeinten Werkes oder einzelner Teile daraus unter Beibehaltung der äußeren Form (Stil und Struktur), doch mit anderen, nicht dazu passenden Inhalten« versteht. 53 Doch selbst wenn dabei eine Parodie keineswegs ausschließErla. Bischof von Pas sau (1191-1204) und Patriarch von Aquileja (1204-1218) als Kirchenfürst und Literaturmäzen (Heidelberg 1994), 301-323. 50 Das genaue Datum ist nirgends festgehalten; aufgrund von Wolfgers Itinerar ist der 4. November am wahrscheinlichsten, vgl. Heger (wie Anm. 49), 158. 51 Ebda, 158. 52 So Nolte (wie Anm. 21), 321-330: Im Minnesang z. B. im »Hildegunde-Lied« (L. 73,23), in der Spruchdichtung gerade gegenüber Leopold VI. im Wiener Hofton L. 20,31 Mir ist verspart der Salden tor. Vgl. ferner auch John A. Asher, »Das >Traumglück< Walthers von der Vogelweide. Zum parodistisch-erotischen Inhalt des Liedes 94,11«, in: Festschrift Hugo Moser (Berlin 1974), 60-67. Der vielleicht gelungenste Fall von Parodie in Walthers Schaffen ist wohl sein Tagelied, vgl. John A. Asher, »Das Tagelied Walthers von der Vogelweide: Ein parodistisches Kunstwerk«, in: Meduevalia litteraria. Festschrift Helmut de Boor (München 1971), 279-286. 53 G. v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 7. Aufl. (Stuttgart 1989), 660.

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lieh darauf abzielt, durch diese Nachahmung komische Effekte hervorzurufen, sondern noch allgemeiner so zu verstehen ist, daß i n der Nachahmung »eine Disharmonie zwischen den verschiedenen Schichten [ . . . ] entsteht, die nicht in jedem Fall komisch w i r k t « , 5 4 w i r d man zögern, das >Preislied< als Parodie i m eigentlichen Sinne anzusehen. Denn bei näherer Betrachtung unterscheidet sich das postulierte verfremdende Verfahren i m >Preislied< doch deutlich vom geläufigsten Fall einer Parodie bei Walther, dem Minnelied Ein man verbiutet âne phliht (L. 111,23), das mit dem ausdrücklichen Hinweis überliefert wird, es sei vorzutragen in Reinmars des Alten Ton: in dem dône: ich wirb umb allez daz ein man ( M F 159,11). Durchaus denkbar ist allerdings, daß mit dem Preislied ein anderes parodistisches Verfahren vorgeführt wird, das nicht an ein Lied eines bekannten Sängers anknüpft, sondern auf die öffentliche Ankündigung der Hochzeit und das damit verbundene Lob der byzantinischen Prinzessin anspielt. Immerhin handelt es sich bei der Ladung zu einem solchen Ereignis ja u m eine Sonderform eines rechtlichen Aktes, und derartige Ladungen erforderten bestimmte formalisierte Verfahrensweisen. Die Boten, wie der Gerichtsbote, führten ihre Aufträge i m Normalfall unbewaffnet durch. 5 5 Sie waren somit auf die Friedenssicherung und das Wohlwollen der Adressaten angewiesen, und sie mußten sich durch äußerliche Zeichen sowie durch klar definierte Sprachformeln als Boten i m Dienste einer Sache ausweisen. Die Eingangsformel Ir suit sprechen willekomen wäre der unmittelbare Reflex einer solchen Botenrolle. M i t ihr setzt der Sänger ein Erkennungssignal für die Zuhörerschaft; da er aber nicht i n dieser neutralen Pose verbleibt, sondern sie für eine neue, die erwartete Nachricht in verzerrender Weise konterkarierende Botschaft einsetzt - und damit eine altes, hinreichend bekanntes Formelement mit neuen, ungewohnten Inhalten anreichert - , ist es angebracht, hier zwar nicht von einer Parodie i m eigentlichen Sinne, gleichwohl von einem parodierenden Verfahren zu sprechen. Unter dieser Prämisse läßt sich zumindest die Sprechstrategie des >Preisliedes< ungezwungener als bisher deuten: I n der Eingangsstrophe tritt nicht der Spruchdichter Walther auf, der u m Gabe heischt, sondern der Nachahmer jenes Boten, der kurze Zeit zuvor die Hochzeit des Babenbergers mit der Byzantinerin ankündigte und sich für diese Neuigkeit den entsprechenden L o h n erwartete (Botenrolle). 54 Dies nach E. Rotermund, Lyrische Parodien vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Wiesbaden 1980), 12. Zu einem weiter gefaßten mittelalterlichen Parodiebegriff speziell der lateinischen Literatur vgl. auch Paul Lehmann, Die Parodie im Mittelalter. Mit 24 ausgewählten parodistischen Texten, 2., neu bearbeitete Auflage (Stuttgart 1963). 55 Vgl. Sachsenspiegel. Landrecht 111,56,2: »[Der Bote] soll weder ein Schwert noch eine andere Waffe führen. Widersetzt man sich seiner Rechtsausübung, so soll er mit dem Notruf das Landvolk zusammenrufen, um Recht zu bekommen, wenn er es vermöchte.«

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Damit agiert der Vortragende durchaus auch in der Rolle eines Minnesängers, denn in gewisser Weise ist der Bote/Herold - wie im Falle der Übernahme der ersten PreisliedStrophe in der Fassung L die Figur später bei Ulrich von Lichtenstein - natürlich auch Bote im Minnedienst! Leider ist uns der nähere Ablauf solcher Einladungen zu Vermählungsfeiern und das damit verbundene Zeremoniell historisch so gut wie gar nicht bezeugt; aus vielen chronikalischen Mitteilungen wissen wir nur, daß eingeladen und gefeiert wurde. So bestand offensichtlich Heinrich IV. 1114 auf Anwesenheit der Reichsfürsten bei seiner Vermählung, wie dem Bericht des Ekkehard von Aura zu entnehmen ist. 56 Wir wissen jedoch nicht, wie diese Einladung vor sich ging, denn darüber schweigen sich die chronikalischen Berichterstatter aus. Mehrfach bezeugt und beschrieben ist das Aussenden von Boten für die Ankündigung von Feiern zur Verehelichung aber in der erzählenden Literatur. 57 Mangels entsprechender Mitteilungen in anderen Quellentypen kann man indes kaum entscheiden, ob diese Schilderungen Reflex einer Wirklichkeit oder nur literarische Muster sind. I n Strophe I I löst der Dichter dann seine Fiktion auf: Anders als die sicher noch allen erinnerliche Botengestalt lobt er nicht die fremdländische Prinzessin, sondern er verspricht den duschen frouwen seinen Preisgesang. I n der nächsten Strophe begründet der Sänger seine Kompetenz für die angekündigten Behauptungen, indem er auf seine Erfahrenheit verweist, und stellt zugleich seine daraus resultierende Ablehnung des Fremden heraus. Daran schließt sich die Umgrenzung jenes Raumes, i n dem die einfachen Frauen besser sind als anderswo die höfischen Damen. D o c h nicht nur die Frauen, auch die deutschen Männer repräsentieren i n unvergleichlicher Weise tugent und reine minne. 58 Unter ihnen möchte er immer leben (Str. V), nicht in dem sicherlich von Prunk strahlenden, aber doch fremdländischen Byzanz der Prinzessin - und schon gar nicht auf einem Kreuzzug, für den die Verehelichung eines Babenbergers mit einer Byzantinerin ja als Vorankündigung verstanden werden könnte. 5 9 Ein gewisses Problem bleibt auch hier, wie bei allen bisherigen Interpretationen des >PreisliedesPreislied< bemerkenswerterweise auch i m Kontext von Spruchdichtung. 63 Bei den übrigen Textzeugen w i r d dieser Zusammenhang aber zunehmend unkenntlich: Durch Umstellungen der Strophenfolge, Weglassen einzelner Strophen und Änderung des Wortlautes i m verbleibenden Text werden die ursprünglichen Argumentationsstrukturen und Rollenverteilungen in steigendem Maße verwischt. 6 4 A m meisten verändert ist dabei die Aussage des Textes in der Fassung der H a n d s c h r i f t E (E 101-105). Durch Umstellungen w i r d eine neue Argumentations-Abfolge kreiert: Nach der Festlegung des Themas (Str. I u. II) folgt nicht der Kompetenzbeweis, sondern bereits die Umgrenzung des Gebietes, in dem die schönsten (nicht mehr: die besten!) Frauen zu finden sind; auffällig hierin auch der Austausch von Ungerlant, dem realen O r t der Liedaufführung benachbart, gegen das weit entfernte, von Walther sicher nie bereiste Engellant. Der nächsten Strophe ist durch innere Umstellungen und Wortersatz der eigentliche Kern, die Abwehr fremder Vorwürfe, völlig genommen. Verräterisch sind vor allem die Wortänderungen: tobende site statt fremde site, gefeilet mir vor allen anstatt gat vor in allen: Der Rigorismus des Urteils verblaßt in dieser Version. A n die Stelle der scharfen Trennung von fremd und tiuscb ist zwar eine lobende Hervorhebung des tiuschen getreten, doch gerade deshalb verliert sich die Aggressivität der Ablehnung. Die Schelte der Vorliebe für fremdes Gebaren hat sich i n einen biederen Preis deutschen Wesens verkehrt. U n d auch die Schlußstrophe mit ihrer Pointe w i l l nicht so recht passen: tiuschiu zuht gefeilet

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Rotermund (wie Anm. 54), 13. In A findet man die fünf Strophen des Liedes als Nr. 57-61 nach dem >Palästinalied< (L. 14,38 = A 50-56) und vor Sprüchen des Unmutstones (L. 31,33; 32,7; 31,13 = A 62, 63, 64). Die Uberprüfung des Uberlieferungskontextes wird erleichtert durch die Konkordanzen zu den einzelnen Handschriften, die dem Abbildungsband zu Walther beigegeben sind: Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen, hg. H. Brunner, U. Müller und F.V. Spechtler, Litterae 7 (Göppingen 1977), 12* - 44*. 64 Solche Unsicherheiten der Reihenfolge eignen dem Typus »Reihung von Strophen« in einem Ton weitaus eher als dem Typus »Verklammerung von Strophen« in einem Minnelied; vgl. Kurt Ruh (wie Anm. 39), hier 218 f. 63

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mir vor in allen. Soll das die so groß angekündigte unerhörte Neuigkeit sein? Eine solche Vortragssituation ist sicherlich sekundär. A u f ein ähnliches Verkennen der ursprünglichen Situation, aber ebenso auf einen nochmaligen Vortrag i n veränderter Umgebung, könnte die Zusatzstrophe i n C hinweisen. Denn die Fassung der H a n d s c h r i f t C überliefert zwar als einzige die sechste Strophe, verändert aber die Reihenfolge der übrigen Strophen und damit den Argumentationsgang: nach der Themenfindung ( I und I I ; Beginn von I I mit tiuschen frouwen) folgt bereits der Lobspruch auf tiusche man (V), darauf der Kompetenzbeweis ( I I I ) und dann erst die Umschreibung des bereisten Raumes (IV), an dessen Ende ja der wîp -frouwe-Vergleich steht, an den sich geschickt die Wendung an die Dame anschließt (VI). Das Vorziehen des Lobes (V zwischen I I und I I I ) mit >nachgeschobener< Begründung und das Umschwenken auf eine einzelne Dame rauben zwar einerseits der oben vorgefundenen rhetorischen Gesamtstruktur die Basis, schaffen aber auch neue liedgemäße Parallelstrukturen ( I I frouwen , I I I man) und berechtigte Anschlüsse (Ende V an I I I , Ende I V an VI). Dennoch wurde diese doch immerhin historisch bezeugte Version von der Forschung kaum als authentisch eingeschätzt. Auch die Überlieferung der ersten Strophe des Liedes i m >Frauendienst< Ulrichs von Lichtenstein ( H a n d s c h r i f t L) zeigt den Textausschnitt in einem völlig veränderten Kontext: Der auf seiner »Venusfahrt« befindliche Ritter Ulrich trifft auf der Straße für Malanstorf einen chnecht , der chunde hofscher niht gestn (774,5), und dieser sanc ein liet sa an der stunt ; da mit so têt er mir daz chunt , daz er mir breht die hotschaft , diu mir gebe hohes muotes chraft. (775,5-8) 65 . U n d dann singt der Bote i m Auftrage der Herzensdame des Ritters: Ir suit sprechen willekomen, der iu mare bringet , daz bin ich. allez daz ir habt vernomen, daz ist gar ein wint: ir fraget mich! ich wil aber miete, wirt min Ion iht guot, ich sage iu lîhte daz iu sanfte tuot. (776 f, 1-6) Unverändert ist die Botensituation, aber gänzlich umgestaltet wurden die weiteren Sprecher-Rollen: N i c h t mehr der Hochzeitsherold tritt hier auf, und auch nicht der Spruchdichter, sondern der Liebesbote der Dame; Empfänger der Botschaft ist nicht eine höfische Gesellschaft in Passau oder Wien, sondern der minnesuchende Ritter Ulrich - wobei als Publikum natürlich wiederum nur eine höfische Gesellschaft denkbar ist, allerdings gegen Ende des 13. Jahrhunderts w o h l eher schon als Lesepublikum denn als Adressat eines realen Vor65

Vgl. Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst , hg. Franz Viktor Spechtler (Göppingen 1987).

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trags durch den Dichter selbst. Die reproduzierende Überlieferung schafft also neue, veränderte Vortragssituationen, die sich indes nicht immer so leicht rekonstruieren lassen wie i n Ulrichs Minneroman. Häufig können w i r zunächst nur feststellen, daß sie von der originären Vortragssituation abweichen; das belegt schon allein das Fehlen der Melodien in den meisten Handschriften.

IV. Gattung, Rolle, Überlieferung und Edition Die Überlieferung kennt offensichtlich nur i n Ausnahmefällen getrennte »Gattungen« Minnesang und Spruchdichtung. 66 Beide Formtypen lassen sich allenfalls i n der Frühzeit mittelhochdeutscher Lyrik voneinander trennen, und dann auch nur in der Person der Verfasser: Unter den Namen der »älteren« Spruchdichter Herger und Spervogel sind keine Minnelieder überliefert. Spätestens seit Walther von der Vogelweide aber stehen die gleichen Dichter sowohl für Minnesang wie für Sprüche; 67 schon bei Reinmar findet sich neben dem Minnesang Politisches und Spruchhaftes. 68 I n der Generation danach bietet ein Ulrich von Singenberg, lange als Walther-Nachahmer mißverstanden und erst i n jüngerer Zeit als geschickter Parodist entdeckt, einen Querschnitt durch sämtliche Gattungen. 6 9 Das verbreitete Rollenspiel i m Minnesang (Botenlieder, Frauenstrophen) wie in der Spruchdichtung (Ratgeber, Heischen u m milte, Betonung der Rechtsposition, aber auch hier Botenrollen) erlaubt es daher nicht, die Äußerungen der Dichter nur in einer der beiden Gattungen, beim Sangspruch, als Aussage über persönliche Verhältnisse zu klassifizieren, i n der anderen hingegen als formalisiertes Rollenspiel zu werten. Angesichts dieser schwer aufzulösenden Rollengebundenheit w i r d der Versuch, die konkrete historische Entstehungssituation eines mhd. Liedes oder Spruches nachzuzeichnen, stets methodisch fragwürdig bleiben, solange uns 66 Vgl. H. Tervooren (wie Anm. 3), 15: »In der Frühüberlieferung des 13. und 14. Jahrhunderts läuft die Tradierung von Lied und Sangspruch parallel: A und C überliefern Minnesänger und Sangspruchdichter.« Sicherlich kann man in den Handschriften bei einzelnen Autoren gewisse Gattungsdifferenzierungen innerhalb des Corpus beobachten, doch sind solche Ordnungsprinzipien so gut wie nie ohne Durchbrechungen und damit auch nicht zweifelsfrei. Angesichts dessen möchte ich dem Bewußtsein von der Nähe der beiden Gattungen mehr Gewicht zurechnen als dem Versuch einer scharfen Trennung. 67

Walther sagt: Fragt das fahrende Volk nach der milte der Fürsten (L. 84,18), nicht: Fragt mich danach! Dies kann durchaus als Hinweis einer Differenzierung gegenüber den Fahrenden beabsichtigt sein und so auch verstanden werden. 68 MF (wie Anm. 26), Reinmar: XXXVIa; XLIII,4; LX. Vgl. ferner Tervooren (wie Anm. 27) in H.-D. Mück (Hg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Lehen und Werk (Stuttgart 1989), 89-105, hier 94. 69

Max Schiendorfer, Ulrich von Singenberg, Walther und Wolfram

(Bonn 1983).

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Rudolf Kilian Weigand

eine einzige, zur Schriftliteratur geronnene Bezeugung eines Textes mit zweifelhaften Bezugnahmen vorliegt, wie dies etwa bei Hartmanns drittem Kreuzlied gegeben ist. 7 0 Andererseits kann in Fällen, in denen der Liedinhalt und die Uberlieferung ein widersprüchliches Bild von den Texten vermitteln, eine Rekonstruktion der Aufführungssituation zur Klärung der Verhältnisse durchaus hilfreich sein. Die Vortragssituation w i r d dabei als Interpretationsinstrument freilich immer spekulativ bleiben und die Aussagemöglichkeiten nie endgültig konkretisieren, sondern u.U. neben die gefundenen Elemente neue, hypothetische setzen. Soweit dabei aber nicht literarische Abhängigkeiten negiert werden, scheint ein solches Verfahren zur Verdeutlichung von Zusammenhängen legitim. 7 1 Dies wurde versuchsweise an einem Einzelfall, Walthers >PreisliedPreisliedes< gezeigt; und w i r haben auch gesehen, daß es häufig gerade nicht die Umstände der ursprünglichen Aufführungssituation waren, die das Interesse der Uberlieferungsträger hervorriefen, sondern neue Konstellationen, die auf zeitlosere Verwendung der Texte, auf eben ihren poetischen Gehalt abstellen. 72 Durch literarische Zeugnisse sind uns denn auch zusätzliche Formen des Liedvortrages vertraut. So vergleicht Konrad von Megenberg in seinem >Buch von den natürlichen Dingen< den Kapaun mit Geistlichen, die nur nachlässig ihren Pflichten genügen: Sie singent ir tagzeit niht: wolt got, daz si si sprachen mit andäht und süngen niht werltleicher lieder. so singt der ainen Frawenlop, der ainen Marner; der ainen starken Poppen. 73 Hier w i r d nicht mehr auf die ursprüngliche Entstehungssituation der Lieder i m Vortrag des Dichter-Sängers rekurriert, sondern es werden mittler70

Es ist uns einzig in Hs. C (58-60) überliefert, vgl. Kuhn (wie Anm. 2); ferner Hartmann von Aue, Lieder. Mhd. - Nhd, hg., übersetzt und kommentiert Ernst von Reusner, RUB 8082 (Stuttgart 1985), Text 78-81 und Kommentar mit gutem Forschungsüberblick 151-160. 71 Peter Strohschneider, »Aufführungssituation. Zur Kritik eines Zentralbegriffes kommunikationsanalytischer Minnesangforschung«, in: Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis, hg. Johannes Janota, Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Bd. 3 (Tübingen 1993), 56-71, hier 62: Durch die Einführung der »Aufführungsform« in der Weise, wie dies Kuhn verstand, kennen wir nach wie vor »allenfalls die angedeuteten >Leerstellen< der Minnesangtexte, die möglichen Prozesse ihrer >Füllung< aber so wenig wie die ihrer performativen >ErweiterungPreisliedes< kaum realistisch; unter welchen Bedingungen sollte das Lied aus einer offeneren Fassung wie in C (oder E) zum spruchhaften Charakter in A reduziert worden sein? 73 Konrad von Megenberg, Buch der Natur, hg. F. Pfeiffer (Stuttgart 1861), 197, 8-11.

Das Preislied Walthers, die Sängerrolle und Wien

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weile fest etablierte Typen benannt, die - in sekundärer Verwendungssituation - von anderen Sängern vor einem interessierten Publikum aufgeführt werden. Das beste Beispiel für die Zusammenstellung solcher Typen bietet die Neidhart-Uberlieferung: von den 1098 Strophen, die die Ried'sehe Handschrift (c) enthält, wurden von der Forschung 703 für unecht erklärt oder anderen Dichtern zugewiesen, 74 somit als Neidhart-Typen entlarvt. Bei Mehrfachversionen ermöglicht die Auswertung der Uberlieferung unter Umständen eine genauere Differenzierung von Primär- und Sekundärverwendung der Texte. Durch die Einbeziehung des realistischen Elementes »Vortragssituation« werden gleichzeitig die einheitlich überlieferten, aber i n der Forschung gar zu kategorisch getrennten Gattungen Minnesang und Spruchdichtung einander wieder angenähert. 75 Dies sollte nun keineswegs zu einer erneuten Renaissance der biographischen Deutung des Minnesangs verleiten. Für das >Preislied< heißt das, daß es in seiner konkreten Situationsgebundenheit und im Überlieferungskontext der Fassung A eben nicht als Minnelied verstanden werden kann; für die editorische Praxis ist unter diesen Gegebenheiten zu fragen, ob denn die Übung, die Reihenfolge von A ohne Beachtung des Überlieferungskontextes für das Minnelied beizubehalten, wirklich eine glaubwürdige und haltbare Lösung darstellt. Für die Präsentation als Minnelied kann doch allenfalls C als Basis gewählt werden, wo die gattungsspezifische sechste Strophe überliefert wird. Diese fehlt zwar in E, aber C und E teilen bemerkenswerterweise die Reihenfolge V-III. Vor allem aber ist in künftigen Deutungen auf die Vorstellung von einem >Werbelied< für eine Anstellung als hofsässiger Minnesänger zu verzichten. Man sollte bei Autoren, die mit Sicherheit beide Gattungen pflegten, das Schillernde der Begrifflichkeit i m Minnesang und die daraus resultierende Vielfalt der Bezüge zwischen den Gattungen genauer beachten. Für die Spruchdichtung ist der vorgefundene Sachverhalt eine Aufforderung, anstelle vordergründiger biographischer Fixierungen stärker die fiktiven und rollenhaften Merkmale in Rechnung zu stellen und hierbei vor allem den poetischen Charakter der Texte wieder in Erinnerung zu rufen. Dann bleibt freilich auch das Spiel der fahrenden Dichter ein textinternes Rollengebaren, das es ohne außerliterarische Zeugnisse nicht gestattet, Schlußfolgerungen auf den tatsächlichen sozialen Stand der Autoren unmittelbar aus den Texten abzuleiten. Walthers »Lebensform« als Deutungsrahmen einzelner Lieder steht uns dann allerdings auch nicht mehr zur Verfügung, an ihre Stelle müssen handfest nachweisbare literarhistorische Gegebenheiten treten. 74

Vgl. G. Schweikle, Minnesang, SM 244 (Stuttgart 1989), 11. Die Notwendigkeit und den Gewinn einer solchen grenzüberschreitenden Betrachtungsweise, die das bewußt bruchhaft Gestaltete in Walthers Liedern einkalkuliert, zeigt Jan-Dirk Müller, »Walther von der Vogelweide: IR REINEN WlP, IR WERDEN MAN«, ZfdA, 124 (1995), 1-25, zum hier diskutierten Problem v.a. 22-25. 75

Rudolf Kilian Weigand Textanhang 1. Hartmann von Aue - Walther von der Vogelweide, »Dir hat enboten, vrowe guot« (Text nach M F M T , wie Anm. I

II

Dir hat enboten, vrowe guot, [MF 214,34] sinen dienst, der dirs wol gan, ein ritter der vil gerne tuot daz beste, daz sin herze kan. Der wil dur dinen willen disen sumer sin vil hohes muotes verre üf die genäde din. daz solt du minneclich enpfän, daz ich mit guoten maeren var. so bin ich willekomen dar. >Du solt ime minen dienest sagen, swaz im ze liebe muge geschehen, daz möhte nieman baz behagen, der in so selten habe gesehen. Und bite in, daz er wende sinen stolzen lip, da man im lone, ich bin ein vil vrömdez wip zenphähen sus getane rede, swes er ouch anders gert, daz tuon ich, wan des ist er wert.< [215,13]

III

Min erste rede, die si ie vernan, die enphie si, daz mich dühte guot, biz si mich nähen zir gewan, zehant bestuont si ein ander muot. Swie gerne ich wolte, in mac von ir niht komen, diu groze liebe hat so vaste zuo genomen, daz si mich nien läzet vri. ich muoz ir eigen iemer sin. nu enrüoch, est ouch der wille min.

IV

Sit daz ich eigenlichen sol, die wile ich lebe, ir sin undertän, und si mir mac gebüezen wol den kumber, den ich durch sie hän Geliten nu lange und immer also liden muoz, daz mich'n mac getroesten nieman, si entuoz, so sol si nemen den dienst min und bewar dar under mich, daz an mir niht ouch versüme sich.

V

Swer giht, daz minne sünde si, der sol sich e bedenken wol,

Das Preislied Walthers, die Sängerrolle und Wien

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ir wont vil manige ere bi, der man durch reht geniezen sol, Und volget michel staete und dar zuo saelikeit. daz immer ieman missetuot, daz ist mir leit. die valschen minne mein ich niht, diu möhte unminne heizen baz, der wil ich immer sin gehaz.

2. Walther von der Vogelweide, »Preislied« [ L 56,14; Text nach Cormeau] I

Ir suit sprechen willekomen: [L 56,14] der iu maere bringet, daz bin ich. allez, daz ir habt vernomen, dest gar ein wint: nû vrâget mich. Ich wil aber miete, wirt mîn Ion iht guot, ich sage vil lîhte, daz iu sanfte tuot. seht, waz man mir êren biete.

I I Ich wil tiuschen vrowen sagen solchiu maere daz si deste baz al der weite suln behagen, âne grôze miete tuon ich daz. Waz wolde ich ze lône? si sint mir ze hêr. sô bin ich gefüege und bitte si nihtes mer wan daz si mich grüezen schöne. I I I Ich hân lande vil gesehen unde nam der beste« gerne war. übel müeze mir geschehen, künde ich ie mîn herze bringen dar daz ime wol gevallen wolte fremeder site, waz hülfe mich, obe ich unrehte strite? tiuschiu zuht gât vor in allen. IV Von der Elbe unz an den Rin her wider unz an der Unger lant, da mügen wol die besten sîn, die ich in der weite hân erkant. Kan ich rehte schouwen guot gelâz und lîp. sem mir got, so swüer ich wol, daz hie diu wîp bezzer sint danne ander frowen. 3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 39. Bd.

Vgl. MF 215,3 u 4; Albr. MF 94,30 Vgl. Reinmar MF 165,10

Vgl. Heinr. v. Mor. MF 123,6 Walther L. 53,18

(E: tobende site) (E:... gefeilet mir vor...)

(E: engellant) vgl. Walther L. 53,20 (E: kente ich rehter frauwen)

(E: schöner sint denne dort die f.)

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Rudolf Kilian Weigand

V Tiusche man sint wol gezogen, (Str. V in E): rehte als engel sint diu wip getan, swer si schildet, derst gar betrogen: ich enkan sin anders niht verstän. Tugent und reine minne, [MF 127,9] swer die suochen wil, der sol komen in unser lant, da ist wunne vil. lange müeze ich leben dar inne!

Falsches volk ist gar betrogen si enkünnen eren niht begän. tiusche man sint wol gezogen rehte als engel sint diu wip getan. fröide und reine minne, swer die suochen wil, (Ewie A/C) lange müeze ich wonen dar inne!

V I Der ich vil gedienet hän, und iemer gerne dienen wil, diu ist von mir vil unerlän. iedoch so tuot si leides mir so vil. Si kan mir seren daz herze und den muot. nü vergebez ir got, daz si an mir missetuot. her nach mac si sichs bekeren.

3. Reinmar, »Preislied«: Swaz ich nu niuwer maere sage [ M F 165,10; Text nach M F M T , wie Anm. 26] I

II

Swaz ich nu niuwer maere sage, [165,10] des endârf mich nieman vrâgen: ich enbin niht vrô. die vriunt verdriuzet miner klage. des man ze vil gehoeret, dem ist allem sô. Nü hän ich beidiu schaden unde spot. waz mir doch leides unverdienet, daz bedenke got, und âne schult geschiht! ich engelige herzeliebe bi, sône hât an miner vröude nieman niht. [165,18] Die hochgemuoten zihent mich, [165,19] ich minne niht sô sêre, als ich gebäre, ein wip. si liegent und unêrent sich: si was mir ie gelîcher mâze sô der lîp. Nie getroste si dar under mir den muot. der Ungnaden muoz ich, unde des si mir noch tuot,

erbeiten, als ich mac. mir ist eteswenne wol gewesen:

gewinne aber ich nu niemer guoten tac? [165,27] III

Sô wol dir, wip, wie rein ein nam! [165,28] wie sanfte er doch z' erkennen und ze nennen ist! ez wart nie niht sô lobesam, swâ dûz an rehte güete kêrest, sô du bist.

Das Preislied Walthers, die Sängerrolle und Wien Din lop mit rede niemän volenden kan. swes du mit triuwen pfligest wol, der ist ein saelic man und mac vil gerne leben. du gist al der weite hohen muot: maht ouch mir ein wenic vröide geben! [165,36] IV

V

Zwei dinc hän ich mir vür geleit, [165,37] diu stritent mit gedanken in dem herzen min: ob ich ir hohen wirdekeit mit minen willen wolte läzen minre sin, [166,1] Oder ob ich daz welle, daz si groezer si und si vil saelic wip beste min und aller manne vri. siu tuont mir beide we: ich wirde ir lasters niemer vro; verget siu mich, daz klage ich iemer me. [166,6] Ob ich nu tuon und hän getan, [166,7] daz ich von rehte in ir hulden solte sin, und si vor aller werlde hän, waz mac ich des, vergizzet si darunder min? Swer nu giht, daz ich ze spotte künne klagen, der läze im beide min rede singen unde sagen [166,12] ...[166,13] unde merke, wä ich ie spreche ein wort, [166,14] ezn lige, e i'z gespreche, herzen bi. [166,15]

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M i n minnensanc der diene iu dar Zum Publikum des späten Walther von der Vogelweide Von Theodor Nolte

I. Uber das jeweilige Publikum der Lieder Walthers von der Vogelweide wissen w i r sehr wenig. U n d dasjenige, das man darüber zu wissen vermeint, hat man mühsam aus Gönnerapostrophen und politisch-gesellschaftlichen Anspielungen der Lieder selbst extrapoliert. Das Zeugnis von der Schenkung des Bischofs von Passau hilft da nur punktuell weiter, ebenso Zeugnisse von den DichterKollegen Reinmar und Thomasin von Cirklaere. Aus Walthers Sangspruchdichtung gewinnt man immerhin ein Bild von den verschiedenen Gönnern des Sängers und kann darauf aufbauend eine ungefähre relative und absolute Chronologie der Sangsprüche erstellen. 1 Für Chronologie und Publikum von Walthers Minnesang hat man dagegen kaum Anhaltspunkte i n den Texten selbst. 2 In Bezug auf die von der früheren Forschung als >Lieder aus der Zeit des PreisliedsPreisliedGruppeAlterslieder< bezeichneten Texte (C. 43; 70; 9 6 6 / L . 66, 21; 100,24; L. 122, 24; außerdem: C. 4 1 / L . 64, 31) sowie der als >spät< beurteilten Kreuzzugslieder (>Palästinalied< C. 7 / L . 14, 38; >ElegieSitz i m LebenElegie< stellt in der Hinsicht einen Sonderfall dar, als in ihr eine Heimkehrsituation inszeniert wird. Ihre Vortragssituation mag daher von der der anderen hier genannten Texte abweichen. Näheres dazu s. u. S. 51 f. und Anm. 68. 8 Vgl. Cyril Edwards, »Kodikologie und Chronologie: Zu den >letzen Liedern< Waithers von der Vogelweide«, in: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. Volker Honemann und Nigel F. Palmer (Tübingen 1988), 297 - 315. 9 Vgl. Horst Brunner/Gerhard Hahn/Ulrich Müller/Franz Viktor Spechtler, Walther von der Vogelweide. Epoche - Werk - Wirkung (München 1996), 187-189. 10 Kurt Herbert Halbach, Walther von der Vogelweide (Stuttgart 1965), 96: »KampfPentade [...] für den Kaiser«. Nach Matthias Nix sind die »potentiellen Kreuzfahrer« mit diesen Strophen angesprochen. Untersuchungen zur Funktion der politischen Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide (Göppingen 1993), 265. 11 Friedrich Maurer, Die politischen Lieder Walthers von der Vogelweide (Tübingen 1954), 108.

Min minnensanc der diene iu dar

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entwürfe, eine »kühne Selbststilisierung Walthers«, der es mit diesem »Kunstgriff« versteht, »die vorgetragene Meinung aus der Subjektivität i n grundsätzliche Gültigkeit zu erheben«. 12 Die Strophe stellt also kein hochoffizielles politisches Kommunique eines kaiserlichen Lehensmannes dar, sondern greift die politische Willensbildung einer Gruppe von Herrschaftsträgern auf, die in der Reichspolitik engagiert sind, und zwar in Deutschland. Deren politisches Kalk ü l und Handeln w i r d auf eine poetische Ebene projiziert, einen Sprechakt des >Ratensconsiliumso breche er bald (zum Kreuzzug) auf und komme uns schnell wiederElegie< auf Kaiser Friedrichs Kreuzzug (1227/28) bezogen werden? 1 3

III. Vergegenwärtigen w i r uns den historischen Hintergrund der genannten Strophen aus dem Kaiser Friedrichs-Ton. 1 4 A m 29. September 1227 sprach der Papst Gregor I X . über Kaiser Friedrich II. den Bann aus, weil dieser den versprochenen Kreuzzug (wegen der Seuche von Brindisi) abgebrochen hatte. I m Oktober schickte der Papst zwei Enzykliken nach Deutschland - eine an die deutschen Bischöfe und eine an die deutschen Fürsten - , i n denen er den Bann begründete und den Kaiser mit Vorwürfen überhäufte. A m 18. November wiederholte er den Bann i n feierlicher Form in der Peterskirche in Rom. 12 Günther Schweikle (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Werke. Gesamtausgabe. Bd. 1: Spruchlyrik. Mittelhochdeutsch /Neuhochdeutsch. Hg., übers, u. komm, von G. S. (Stuttgart 1994), 443. 13 Zu >Palästinalied< und >Elegie< vgl. Nolte (s. Anm. 4), 108 ff., 119 ff. und die dort zitierte Literatur. 14 Vgl. dazu Eduard Winkelmann, Kaiser Friedrich II. 2 Bde (Leipzig 1889/1897), hier: Bd. 1, 324 - 345; Ernst Kantorowitz, Kaiser Friedrich der Zweite, Hauptband 3. Fotomech. Nachdr. der 4. Auflage (1936) (Düsseldorf / München 1973), 154-194; Wolfgang Haubrichs, »Grund und Hintergrund in der Kreuzzugsdichtung. Argumentationsstruktur und politische Intention in Walthers >Elegie< und >PalästinaliedRat an die Kleriker< (C. 3, I V / L . 10, 25) konvergiert mit diesem Rat des Klausners, nur daß hier die K r i t i k am weltlichen Reichtum des Klerus ins Allgemeine gewendet wird. A m deutlichsten aber zeigt sich die Kenntnis von Friedrichs politischen Plänen und auch das Einverständnis mit ihm i m >Ratschlag an den Kaiser< (C. 3, I I I / L . 10, 17). Das Sprecher-Ich selbst fordert hier zu einem radikalen Vorgehen gegen den unbotmäßigen Teil des Klerus auf, vor allem rät es, nach ausreichender personeller und materieller Vorbereitung den Kreuzzug anzutreten und nach diesem Unternehmen schnell wieder zurückzukehren. Dieser Rat nimmt ja das tatsächliche historische Geschehen vorweg. Die Kenntnisse und das Einverständnis mit den Plänen des Kaisers, die auch in dieser Strophe deutlich artikuliert sind, erweisen sich in diesem Argumentationszusammenhang als durch die Zugehörigkeit des Sprecher-Ichs zu einer größeren Gruppe vermittelt: »so var er balde und k o m uns schiere« (V. 4). Als Sprachrohr einer Gruppe von Kaisertreuen hatte sich bereits das Sprecher-Ich der Strophe C. 11, X I / L . 29, 15 (aus dem König Friedrichs-Ton) stilisiert, w o es von dem Kaiser heißt: »kome er uns friunden wider hein, so lachen wir.« A n früherer Stelle habe ich zu zeigen versucht, wie intensiv das Sprecher-Ich der antikurialen Strophen des Kaiser Friedrichs-Tons (und auch der Klausner ist ja letztlich ein Sprachrohr der Walther-Rolle) sowie das »wir« der Strophe C. 3, I I I / L . 10, 17 an den Geschicken des fernen Kaisers Anteil nehmen, dessen mißliche Lage voller Empörung kommentiert und dessen Pläne mit Ratschlägen und Hoffnungen begleitet werden, dergestalt, daß Konflikte, die der Kaiser in Süditalien ausficht, jetzt verallgemeinernd und in radikalisierter Form auf das ganze »riche« (C. 3, I I I , 7 / L . 10, 23) bezogen werden. 1 9 Aufgrund dieses Befundes habe ich das Publikum dieser Strophen wie folgt einzugrenzen versucht: Walthers Publikum dürfte daher aus Personen bestanden haben, die nach der Bannung Friedrichs sich für diesen engagierten und den Papst kritisierten. Es ist deshalb wahrscheinlich, daß Walther die Strophen C. 3, I - V / L . 10, 1 ff. vor einem Publikum vortrug, das sich in der Hauptsache aus den Reichsdienstmannen und den Bürgern der Reichsstädte rekrutierte. Sicherlich gehörten auch solche dazu, die bereits das Kreuz genommen hatten und sich jetzt auf den Kreuzzug vorbereiteten [.. J. 2 0 18

Vgl. J.-l.-A. Huillard-Bréholles, Historia Diplomática Friderici Secundi, 6 Bde. (Paris 1852-1861), Bd. 3/1,51. 19 Vgl. Nolte (s. Anm. 4), 98 -100. In Deutschland stellen sich diese Probleme, das Interdikt etwa, in dieser Schärfe gar nicht. Die Geistlichkeit verhält sich neutral, versucht zu vermitteln. Einzelne Stimmen vor allem aus der niederen Geistlichkeit nehmen sogar in radikaler Form Stellung gegen den Papst. Vgl. ebda., 92 - 97. 20 Ebda., 100.

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Theodor Nolte

Schweikle geht hier einen Schritt weiter, indem er bei Strophe C. 3, I I I / L . 10, 17 die Zugehörigkeit des Sprechers »zu einem Kreis treuer Vertrauter des Kaisers suggeriert« sieht. 21 Ich möchte darauf aufbauend folgende Arbeitshypothese formulieren: Wie i n C. 11, X I / L . 29, 15 besteht das Publikum dieser Pentade des Jahres 1228 aus »friunden« des Kaisers. Damit käme man auf den H o f König Heinrichs (VII.), den in dieser Zeit der Reichsverweser L u d w i g von Bayern, Heinrichs Schwager Leopold von Osterreich und ein Kreis von süddeutschen - vor allem staufischen - Freien und Reichsministerialen regelmäßig begleiteten. Einer der Hauptratgeber Heinrichs war der A b t Konrad von St. Gallen (Konrad von Bußnang). 2 2 Die These, daß Walther sich am H o f Heinrichs aufgehalten habe, ist nicht neu, w o h l aber die, daß die genannten Strophen aus dem Kaiser Friedrichs-Ton und die einen festen Publikums kreis verratenden >Alterslieder< hierher gehören. Sichten w i r i m folgenden die Indizien, die für diese Annahme sprechen.

V. 1. Walther hatte ja auch vorher schon, nachdem sein Gönner Friedrich II. Deutschland verlassen hatte, königliche Hoftage besucht; das zeigen die auf Erzbischof Engelbert, den damaligen Reichsgubernator, bezogenen Strophen C. 3, I X u. X / L . 85, 1.9, die in den Jahren 1224/25 entstanden sein dürften. 2 3 Ebenfalls auf einem Hoftag des Jahres 1224 sind w o h l die Strophen C. 3, V I I u. V I I I / L. 84, 22; 84, 30 entstanden, als Hermann von Salza i m Auftrag des Kaisers i n Deutschland für den Kreuzzug warb. I n C. 3, V I I I / L . 84, 30 ist von einem Kerzengeschenk des Kaisers an den Sänger die Rede, einer ehrenden Gabe also, die den Beschenkten gleichzeitig unter den Schutz des Gebers stellte. 24 Als Entstehungshintergrund für C. 3, V I / L . 84, 14 kommt am ehesten der Nürnberger Hoftag von 1225 in Frage. 25 Der Königshof bleibt also für Walther weiterhin ein zentraler Anziehungspunkt. Hoftage bilden, wie schon bei seiner frühen Sangspruchdichtung, die Aufführungssituation für Liedvorträge. 26 Gleichzeitig deutet C. 3, V I I I / L. 84, 21

Schweikle (s. Anm. 12), 444. Vgl. Emil Franzel, König Heinrich VII. von Hohenstaufen. Studien zur Geschichte des »Staates« in Deutschland (Prag 1929), 122. 23 Vgl. Nolte (s. Anm. 4), 86 - 88. 24 Vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, »Walters >Kerze< (84, 33). Zur Bedeutung von Rechtssymbolen für die intentionalen Daten in mittelalterlicher Dichtung«, ZfdPh, 87 (1968) Sonderh., 154-185, hier: 175. 25 Vgl. Nolte (s. Anm. 4), 87 f. 26 Grundsätzlich und immer noch richtungsweisend dazu: Gerhard Hahn, »Möglichkeiten und Grenzen der politischen Aussage in der Spruchdichtung Walthers von der 22

Min minnensanc der diene iu dar

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30 die fortbestehende Gönnerbeziehung zu Friedrich II. an. M i t dem i m >Bognerton< apostrophierten »von Katzenellenbogen« (C. 54, X I , 8 / L . 81, 6) bzw. »Bogernaere« (C. 54, X I I , 1 / L. 80, 27) dürfte der Graf Diether II. von Katzenellenbogen gemeint sein, 2 7 der an Engelberts und Heinrichs Frankfurter H o f tag 1224 teilnahm. 2 8 Vor diesem Hintergrund ist es also nicht weiter verwunderlich, wenn Walther die papst- und kleruskritischen Strophen des Kaiser Friedrichs-Tons i m Frühjahr 1228 vor den Stauf ertreuen Adligen und Ministerialen an König Heinrichs H o f vorgetragen hat. Wenn man den >Ratschlag an den Kaiser< (C. 3, I I I / L. 10, 17) als »kühne Selbstinszenierung Walthers« 2 9 auffaßt, so schließt dies nicht aus, daß die Strophe tatsächlich anläßlich einer kaiserlichen Gesandtschaft am H o f Heinrichs gesungen wurde (s. u.). 2. Darauf, daß Walther sich zumindest zeitweise i m Umkreis König Heinrichs und seines staufischen Anhangs aufgehalten haben muß, deuten vor allem einige Strophen Ulrichs von Singenberg, des Truchsessen von St. Gallen, hin. Ulrich ist urkundlich belegt von 1209 bis 1228. Das Truchsessenamt muß er zwischen 1209 und 1219 übernommen haben. Schiendorfer berechnet als ungefähre Lebenszeit den Zeitraum von ca. 1175 bis ca. 1230. 30 Demnach war der Singenberger ein Zeitgenosse Walthers. Kontaktmöglichkeiten zwischen beiden Autoren waren vor allem i m staufischen Umfeld gegeben. Die St. Galler Äbte waren zu dieser Zeit treue Parteigänger der Stauf er. 31 A b t Konrad von Bußnang (1226- 1239) war seit dem November 1227 recht häufig i n der Umgebung des Königs zu finden und wurde i m September 1228 zum festen Beraterkreis u m Heinrich berufen. Nach dessen Bruch mit L u d w i g von Bayern (Ende 1228) war der A b t von St. Gallen einer der einflußreichsten Berater am Königshof.

Vogelweide«, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken,, hg. Christoph Cormeau (Stuttgart 1979), 338 - 355, hier: 349 - 353. 27 Nach anderer Zählung: Dieter IV., 1219-1245. Vgl. Die Regesten der Grafen von Katzenellenbogen 1060-1486, 5 Bde., Veröff. der Histor. Kommission für Nassau X I ff., Bd. 1 (Wiesbaden 1953), 52. 28 Ebda., Nr. 80, 83. Walthers Kontakt zu diesem neuen Gönner könnte also bei diesem Hoftag zustande gekommen sein. 29 Schweikle (s. Anm. 12), 443. 30 Max Schiendorfer, Ulrich von Singenberg, Walther und Wolfram. Zur Parodie in der höfischen Literatur; Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 112 (Bonn 1983), 338-340. 31 Vgl. L. Wolff, »Ulrich von Singenberg«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. W. Stammler und K. Langosch, Bd. IV (1953), Sp. 601 f.: »Ulrich VI. von Sax (1204 -1220), ein hochgebildeter Mann [ . . . ] , wurde schon von Philipp zu Reichsgeschäften herangezogen; dem jungen Friedrich schloß er sich als einer der ersten an und leistete ihm namentlich als Mittler dem Papst gegenüber wertvolle Dienste.«

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Schiendorfer vermutet daher mit gutem Grund, daß sich Ulrich »seine profunden Kenntnisse der Werke Walthers von der Vogelweide zum Teil auf solchen Gesandtschaftsreisen aneignen konnte, die ihn i m Umkreise des staufischen Hofes mit jenem in Berührung bringen mochten.« 3 2 Die Kenntnis von Walthers Werk offenbart sich in vielen Strophen des Truchsessen, ganz deutlich etwa in seiner Parodie auf Walthers Bittstrophe an König Friedrich I I . (C. 11, V I I / L . 28, 1; Singenberg 29, I I I bzw. 29 a 3 3 ), einer Strophe, die in den Handschriften C und B sogar unter Walthers Namen überliefert ist. Hier macht U l rich als adliger Dilettant sich lustig über den fahrenden Berufssänger »von der Vogelweide« (V. 4), der geklagt hatte: »Kume ich späte und rite fruo, gast, we dir, we!« (C. 11, V I I , 8 / L . 28, 8). Dem setzt Ulrich entgegen: »Sust heizze ich w i r t und rite hein: da ist mir niht we ...« (V. 8). Dabei kritisiert er weniger den Fahrendenstatus Walthers, sondern scheint sich vielmehr über »die A r t und Weise zu amüsieren, wie Walther sich mit den gegebenen Umständen nicht abfindet.« 3 4 Die vielfältigen Anspielungen auf Walthers Werk, die Ulrichs Lyrik durchziehen, hat Max Schiendorfer i n extenso aufgewiesen, wobei ich die parodistische Tendenz, die dieser supponiert, nicht immer zu erkennen vermag. I n Lied 27, einer Nachahmung von Walthers Vokalspiel C. 52,1 / L. 75, 25, betitelt der Truchseß sein Vorbild als »meister« 35 , auf dessen Spur er wandern wolle. A m interessantesten ist in diesem Zusammenhang natürlich Ulrichs bekannter Nachruf auf Walther: Uns ist unsers sanges meister an die vart, den man e von der Vogelweide nande, Diu uns nach im allen ist vil unverspart. nü waz frumet, swaz er e der weite erkande? Sin hoher sin ist worden cranc. nu wünschen ime dur sinen werden, hovelichen sanc, 32 Schiendorfer, Ulrich von Singenberg (s. Anm. 30), 341. Schiendorfer erinnert in diesem Zusammenhang auch daran, daß Ulrichs Mutter eine Staufin war. 33 Die Schweizer Minnesänger. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch neu bearb. u. hg. von Max Schiendorfer. Band I: Texte (Tübingen 1990) (zit.: BSM), unter Nr. 12, Ulrich von Singenberg. 34 Schiendorfer, Ulrich von Singenberg (s. Anm. 30), 73. Es scheint mir in diesem Zusammenhang erwähnenswert, daß in dem Wolfenbütteler Fragment w x und den Heiligenstädter Fragmenten ( w x v n ) , die offenbar aus ein und derselben Schreibstube (nach Kraus sogar derselben Handschrift) stammen, sowohl >Alterslieder< (in w x : >Elegie< Str. 3; >Alterston< L. 66, 21; L. 100, 24 [(»Fro weit«), Str. 1] als auch die von Singenberg parodierte Strophe (L. 28, 1; w * ^ 1 ) aus dem König Friedrichs-Ton stehen. Vgl. Edwards, »Kodikologie« (s. Anm. 8), 312 f. 35 Nämlich als den »meister«, der vormals von den »nebelcrä« gesungen habe (V. 4, vgl. C. 52,1, 4 / L . 75, 28).

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sit dem sin vreide si ze wege, daz sin der süeze vater nach genäden phlege! (BSM 12, 20, V) Besonders bedeutsam für unsere Fragestellung ist die A r t und Weise, wie das Sänger-Ich hier für eine ganze Gruppe spricht. Wenn Walther zu Lebzeiten ein »sanges meister« für das Publikum dieses Nachrufs war, so haben w i r damit die Rezipientengruppen des späten Walther vor uns. Ulrich von Singenberg hat somit über einen bestimmten Zeitraum für ein Publikum gedichtet, das zumindest teilweise auch Walthers Publikum war und das deshalb die vielen Anspielungen und Parodien verstehen konnte. Da aber nun Ulrich von Singenberg Kontakt zum Stauferhof, d. h. zu König Heinrich (VII.) und seinem Beraterstab hatte, liegt die Schlußfolgerung nahe, daß auch Walther in seinen letzten Lebensjahren sein Publikum hier fand und politische Strophen wie die aus dem Kaiser Friedrichs-Ton am H o f Heinrichs gesungen hat. Singenberg berührt sich sogar mit Walthers kritischer Einstellung gegenüber Heinrich, wie sie i m König Heinrichs-Ton zum Ausdruck kommt. Man vergleiche dazu etwa das Lied 30, w o das Sprecher-Ich in der ersten Strophe am König kritisiert, daß er sein Herz >nicht sichtbar werden lasseFaß< (d. h. wohl seine Umgebung) ist so beschaffen, daß er es zu sprengen droht, falls er >räßer< [ . . . ] wird; so besteht nur die Möglichkeit, ihn so lange zu »lagern«, bis er seine Qualität verliert [...].« 37 Vgl. Müller, ebda.: »Sobald er selbständig ist, soll er ihnen den Rat entgelten, denn so muß man ergänzen - ihre Ratschläge sind nicht gut!« 38 Walther von der Vogelweide, hg. u. erkl. von Wilhelm Wilmanns. Vierte, vollst, umgearb. Aufl. besorgt von Victor Michels. Bd. 2: Lieder und Sprüche Walthers von der Vogelweide, mit Erklärungen und Anmerkungen (Halle/S. 1924), 368. 39

Vgl. Hermann Pinnow, Untersuchungen zur Geschichte der politischen Spruchdichtung im XIII. Jahrhundert (Bonn 1906), 49. 40 Vgl. Pinnow, ebda., 47 (zu II); Ruth Schmidt-Wiegand, »Fortuna Caesarea: Friedrich II. und Heinrich (VII.) im Urteil zeitgenössischer Spruchdichter«, in: Stauferzeit. Geschichte - Literatur - Kunst, hg. Rüdiger Krohn u. a. (Stuttgart 1978), 195-205, hier: 203 Anm. 48 (zu Str. IV).

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Auch Walthers Lied C. 7 1 / L . 101, 23 ff. bezieht sich, nach dem Urteil der meisten Forscher auf König Heinrich. 4 1 I n Strophe I bezeichnet der Sänger in der Sprechrolle eines Erziehers den König als »selbwahsen kint«, das unreif und selbstherrlich sei. A u c h die beiden anderen Strophen dieses Tons hat man auf Heinrich bezogen. Offenbar beziehen sich die Minnedidaxe (Str. 2) und die Zeitklage (Str. 3) auf einen konkreten Hintergrund, wobei das Stichwort »kint« (Str. 2, 6) wieder auf Strophe 1 zurückverweist. 4 2 Auch hier w i r d offenbar - auf indirekte Weise - der König selbst kritisiert. 4 3 Ruh hebt mit Recht hervor, daß das >Walther-Ich< in diesen Strophen gegenüber seiner früheren politischen Sangspruchdichtung eine »neue Qualität« 4 4 erhalten habe. Hier schwinge kein parteiliches Interesse i m Sinn eines bestimmten Gönners mit. Dieses >Walther-Ich< spreche quasi »parteilos«. 45 Man w i r d daher König Heinrich nicht als Gönner des späten Walther auffassen dürfen. Die kritische Haltung gegenüber dem jungen König schließt natürlich ein prostaufisches und vor allem prokaiserliches Engagement, wie es in den Kreuzzugsaufrufen und Antipapststrophen zum Ausdruck kommt, nicht aus. Ja, gerade die prokaiserliche Haltung Walthers und die Unterstützung von Friedrichs Politik scheinen die K r i t i k an Heinrich, der ab Ende 1228 mit seiner eigensinnigen und mit dem Kaiser nicht abgestimmten Politik begann, erst begründet zu 41

Vgl. Kurt Ruh, »Walters König-Heinrich-Ton (L. 101, 23)«, in: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck Jan-Dirk Müller und Franz Josef Worstbrock (Stuttgart 1989), 9-15; außerdem: Schweikle, Walther von der Vogelweide (s. Anm. 12), 448 f. Gegen einen Bezug zu König Heinrich sprachen sich aus: Ulrich Müller, Untersuchungen (s. Anm. 36), 49; Nix, Spruchdichtung Walthers (s. Anm. 10), 268-270. 42 Vgl. Ruh, »König-Heinrich-Ton«, (s. Anm. 41), 14. 43 Strophe 2, die mit ihrer Minnethematik sich innerhalb eines Sangspruchtons ungewöhnlich ausnimmt, wird allgemein auf Heinrichs Bemühungen bezogen, sich von seiner Ehefrau Margarethe (von Österreich) zu trennen. Diese Scheidungsabsicht scheint, so Schweikle, »ein weiteres Indiz für dessen Unreife auch in Liebe und Ehe und damit ein Anlaß für die Strophe gewesen zu sein«. Walther von der Vogelweide (s. Anm. 12), 452. Vgl. dagegen Ruh, der auf die »erotische[n] Verfehlungen [ . . . ] am Hof« Heinrichs verweist. Ebda., 14. 44 Ruh, »König-Heinrichs-Ton« (s. Anm. 41), 15. 45 Ebda. Ruh zieht aus dieser Beobachtung die Folgerung, daß hier »die Stimme eines Einsamen« zu vernehmen sei, »der in der Welt fremd geworden ist« (ebda.). Demgegenüber ist aber auf die Nähe dieser Strophen zu früheren didaktischen Sangspruchstrophen hinzuweisen, in denen Walther als >Hoflehrer< und >-kritiker< hervorgetreten ist. Man vergleiche etwa C. 55, I V / L . 83, 14 sowie auch die vielfältigen Zeitklagen in seiner Minnelyrik. Dazu neuerdings: Elisabeth Lienert, »Ich bin niht niuwe. Zur immanenten Historizität im Minnesang Walthers von der Vogelweide«, Germanisch-Romanische Monatsschrift 46 (1996), 369 - 382. Auch spricht die Forderung des Sängers im >AlterstonAltersdichtung< Walthers kommt - zumindest bis Ende 1228 - der H o f König Heinrichs neben den bislang genannten Gründen und Indizien vor allem auch deshalb i n Frage, weil hier ein Kreis nicht nur von Literaturrezipienten und -kennern, sondern auch von Dichtern i m Entstehen begriffen war - ein Kreis, der u m den staufischen Königshof Heinrichs und später Konrads IV. zentriert war. N o c h zu Walthers Lebzeiten gehörte Burkhard von Hohenfels (bei Sipplingen am Bodensee) zu diesem Zirkel. Er ist in der Zeit von 1222 bis 1227 mehrfach i n der Umgebung des Königs urkundlich belegt. 4 7 Auch Gottfried von Neifen gehörte in den letzten Monaten der Regierung des Königs (1234/35) zu dessen engsten Vertrauten. 48 U l r i c h von Winterstetten, der Enkel Konrads von Winterstetten, des schwäbischen Landpflegers und Beraters Heinrichs, ist erst ab 1241 urkundlich belegt und w i r d dem Dichterkreis u m Konrad IV. zugeordnet. 49 Offenbar sind auch noch weitere Herren aus diesem Umkreis als Lyriker aufgetreten. Die Namen dieser Minnesänger sind allerdings nicht immer historisch eindeutig zuzuordnen. Dies gilt etwa für den Markgrafen von Hohenburg, der in den Liederhandschriften A und C vertreten ist und aus dem Geschlecht der bayerischen Grafen von Vohburg stammt. Heinzle ist hinsichtlich einer Zuordnung skeptisch: »Wir wissen, daß mindestens einer der Markgrafen von Hohenburg im Umkreis der Staufer Minnelieder verfaßt hat, aber wir können nicht sagen, wann zwischen dem Ende des 12. und der Mitte 46 Gegen Schweikle, der hier eher die Perspektive »der unzufriedenen oder besorgten Fürsten« angesprochen sieht. Walther von der Vogelweide (s. Anm. 12), 451. 47 Vgl. Hugo Kuhn, »Burckhard von Hohenfels«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. hg. Kurt Ruh, ab Bd. 9 von Burghart Wachinger, Bd. 1 (Berlin/New York 1978), Sp. 1135f.; Joachim Heinzle, Vom hohen zum späten Mittelalter; Teil 2: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30-1280/90), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. Joachim Heinzle, Bd. II, Kapitel: »Deutsche Literatur im Umkreis der Staufer«, 34 - 50, hier: 34 f.; Eugen Thurnher, »König Heinrich (VII.) und die deutsche Dichtung«, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, 33 (1977), 522-542, hier: 527; Hugo Kuhn, Minnesangs Wende (Tübingen 21967), 3; Hans Naumann, »Die Hohenstaufen als Lyriker und ihre Dichterkreise«, Dichtung und Volkstum, 36 (1935), 21 -49. 48 49

Heinzle, ebda., 34. Ebda., 48 f.

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Theodor Nolte des 13. Jahrhunderts das geschehen ist.« 50 Thurnher nennt in diesem Zusammenhang noch weitere Autoren: »Von Otto von Botenlauben wird uns bezeugt, daß er 1234 mit dem König in Würzburg zusammentraf; Friedrich von Leiningen, der zwischen 1214 und 1239 in elsässischen Urkunden erscheint, spricht in einem Taglied von einer Fahrt nach Apulien; in der Familie des Taler war ein Hofamt erblich, so daß ihn der Bildkünstler der Heidelberger Liederhandschrift zeigt, wie er dem Herrscher eine Schriftrolle übergibt; Konrad von Kirchberg, der Schenk von Limburg und der von Stammheim zählen zu Familien, die mit Heinrich (VII.) und Konrad IV. eng verbunden waren, auch wenn wir ihre persönliche Identität nicht in jedem Fall klären können; dagegen ist uns Gottfried von Hohenlohe seit 1226 in der Umgebung des Königs bezeugt, von dem er aber 1235 bei dessen Verrat abfällt, um später Erzieher von Konrad IV. zu werden.« 51 Hohenloher ist nicht durch sein Werk, sondern durch einen Hinweis Rudolfs im Willehalm von Orlens (V. 2239) bekannt.52 Der in C überlieferte Dichter Friedrich von Leiningen ist als Graf Friedrich II. (f 1237) identifiziert. 53 Die Dichterminiatur des Taler zeigt den Sänger, wie er von einem König, der als Heinrich (VII.) gedeutet wird, ein Pergamentblatt mit Reichssiegel erhält. 54 Das einzige Lied des von Stamheim (in C und der Neidhart-Handschrift c) ist nach Elisabeth Hages »mit einiger Sicherheit [ . . . ] im Umfeld des staufischen Sängerkreises um Heinrich (VII.) anzusiedeln.«55 Auch der Sangspruchdichter Bruder Wernher hat auf König Heinrich Bezug genommen.56

A m Stauferhof hatte aber auch die Epik ihren Platz. Konrad von Winterstetten, der Großvater des Lyrikers Ulrich von Winterstetten, Reichsschenk und Erzieher sowie Berater erst König Heinrichs, dann König Konrads, w i r d i n Rudolf von Ems' Willehalm von Orlens als Gönner genannt. 57 Des weiteren dürfte Rudolf von Ems auch seinen Alexander für den Stauferhof verfaßt ha-

50 Heinzle, ebda., 50; vgl. Volker Mertens, »Markgraf von Hohenburg«, in: Verfasserlexikon, 2. Auflage, Bd. 4, Sp. 91 - 94. 51

Thurnher (s. Anm. 47), 527; ähnlich vorher schon: Naumann (s. Anm. 47), 28. Vgl. Christine Michler, »Gottfried von Hohenlohe«, in: Verfasserlexikon , 2. Aufl., Bd. X Sp. 141 f. 53 Vgl. Gisela Kornrumpf, »Friedrich von Leiningen«, in: Verfasserlexikon , 2. Aufl., Bd. 2, Sp. 953. 54 Vgl. Claudia Händl, »Der Taler«, in: Verfasserlexikon , 2. Aufl., Bd. 9, Sp. 590. 55 Vgl. Elisabeth Hages, »Der von Stamheim«, in: Verfasserlexikon , 2. Aufl., Bd. 9, Sp. 230. 56 Anton E. Schönbach (Hrsg.), Beiträge zur Erklärung altdeutscher Dichtwerke I I I / IV: Die Sprüche des Bruder Wernher I / II. Wiener Sitzungsberichte , phil-hist. Kl. 148 VII und 150 I (1904 /1905), Nr. 61. Der Text ist wohl im Zusammenhang mit der Wahl (1220) entstanden. Vgl. Müller, Untersuchungen (s. Anm. 36), 94; Schmidt-Wiegand, »Fortuna Caesarea« (s. Anm. 40), 199 f., 203 f. Auch Str. 1 bezieht sich rückblickend auf Heinrich. 52

57

Vgl. Heinzle (s. Anm. 47), 42; Thurnher (s. Anm. 47), 530. Rudolf von Ems, Willehalm von Orlens, hg. Victor Junk, DTM 2 (Berlin 1905), Nachdr. 21967, V. 15601 ff. Nach Heinzle hatte Konrad von Winterstetten mit seinem Auftrag zu diesem Werk vor allem seinen Zögling, den jungen König Konrad, als Leser oder Hörer im Visier. Ebda., 43.

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ben. 5 8 Auch U l r i c h von Türheim mit seinen Fortsetzungen des Tristan und des Willehalm hat nachweislich für den Winterstetten-Kreis gearbeitet. 59 Konrad IV. dürfte die Entstehung des Rennewart gefördert haben. 60 I m Dichterkatalog seines Willehalm von Orlens nennt Rudolf u. a. Ulrich von Türheim als seinen Freund (V. 4390), er nennt aber auch - außerhalb des Katalogs - Walther von der Vogelweide. U n d es kommt sicher nicht von ungefähr, daß er ausgerechnet eine Stelle aus dem König Heinrichs-Ton zitiert: N u sint ir doch einander gram, vor Minne, und ouch diu Kintheit als uns maister Walther sait von der Vogelweide, der sanch, daz ir baide warent gar ein ander gram. (V. 4466-4471 ) 6 1

VL Damit ist der Bogen zurückgeschlagen zur Lyrik des späten Walther. Ich fasse das Bild, das sich aus den hier ausgebreiteten literaturgeschichtlichen Befunden abzeichnet, zusammen. Walthers Bezugnahmen auf den H o f König Heinrichs in der Zeit u m 1228, die ja i m Zusammenhang mit seinen früheren auf den Stauferhof rekurrierenden Sangspruchstrophen zu sehen sind (König Friedrichs-Ton: C. 11, IV; V I I ; X ; X I / L . 27, 7; 28, 1.31; 29, 15; Kaiser Friedrichs-Ton: C. 3, V I ; V I I I - X / L . 84, 14.30; 85, 1.9), sowie die Rezeptionszeugnisse aus dem literarischen Umkreis des Stauferhofes unter Heinrich und Konrad und hier wiederum besonders die intensive Rezeption durch Ulrich von Singenberg, der ebenfalls in den Umkreis König Heinrichs gehört, verweisen 58 Vgl. Heinzle, ebda., 45. Früher war man sogar der Auffassung, der Alexander sei bereits 1232 bis 1235 für Heinrich (VII.) geschrieben worden. Vgl. Thurnher, ebda., 531 f.; Edward Schröder, »Rudolf von Ems und sein Literaturkreis«, ZfdA, 47 (1930), 209-251, hier: 218 f., 223-225. 59 Zu diesem »Literaturzirkel« (Heinzle) gehörten gemäß den Angaben im Willehalm von Orlens außer Konrad der schwäbische Ministerale Johannes von Ravensburg, Graf Konrad von Oettingen sowie die Freiherren von Neifen. Das Zentrum dieses Zirkels war allem Anschein nach der staufische Königshof. Die Totenklage um König Heinrich im Rennewart, hg. Alfred Hübner, D T M 39 (Berlin 1938), V. 25760-63, weist deutlich darauf hin. Vgl. Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150 bis 1300. (München 1979), 276; Heinzle, ebda., 42. 60

Vgl. Bumke, Ebda., 287. Vgl. König Heinrichs-Ton C. 71, II, 8 / L . 102, 8: »minne und kintheit sint ein ander gram.« 61

4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 39. Bd.

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auf das Publikum des späten Walther. Dieses bestand offenbar vor allem aus prostaufisch gesonnenen und zumeist i m Südwesten ansässigen Adligen und Reichsministerialen, die, wie das Beispiel Konrads von Winterstetten zeigt, einen literarischen Zirkel von Autoren, Gönnern und Literaturkennern bildeten, dessen Zentrum anscheinend der Stauferhof war bzw. dessen Beziehungen zu den Staufern sehr intensiv waren. Für einen solchen Publikumskreis könnte der Truchseß von St. Gallen in der ersten Person pluralis die Totenklage u m »unserfen] sanges meister« Walther gedichtet haben, einen Autor, dessen Werk er bestens kannte und aus dem er immer wieder zitierte. Vor einem solchen Publikum könnte man sich auch Walthers berühmte Verse gesungen vorstellen: Ir reiniu wîp, ir werden man ez stât also, daz man mir muoz ère und minneclîchen gruoz nû volleclîcher bieten an. Des habent ir von schulden groezer reht danne ê. weit ir vernemen, ich sage iu wes: wol vierzic jâr hân ich gesungen unde mê von minnen und aise iemen soi. Dô was ich sin mit den andern geil, nû enwirt mirs niht, ez wirt iu gar. mm minnensanCy der diene iu dar,

und iuwer hulde sî mîn teil. (C. 43,1 / L. 66, 21 ff., Hervorhebung von mir, T. N.) Diese Verse machen deutlich, daß der Sänger sich hier an kein punktuelles Publikum richtet, etwa anläßlich eines Gelegenheitsauftrittes. Dies ist ein Publikum, in dessen Kreis Walther als anerkannter »sanges meister« integriert war, gemäß der als gesichert geltenden Grundannahme v o m >hofsässigen< M i n nesänger. 62 Vor einem solchen Publikum, unter dem sich auch Minnesänger befanden, gewinnen diese Verse eigentlich erst ihr Profil. Wo sonst hätte Walther zu dieser Zeit Rezipienten finden können, denen er sein literarisches Vermächtnis - und als dieses erwähnt er bezeichnenderweise seinen Minnesang, nicht seine Sangspruchdichtung - hätte zusprechen können, wenn nicht i n diesem Kreis? Das Verhältnis zu Herzog Leopold V I . von Österreich war längst zerrüttet, 6 3 zum Thüringer H o f finden sich i m Spätwerk keinerlei Bezüge 62 Vgl. Hahn (s. Anm. 26), 338-355, hier: 338 f.; ders., »Walther von der Vogelweide. Ein Spruchdichter macht Minnesang«, in: Romantik und Moderne. Neue Beiträge aus Forschung und Lehre. Festschrift für Helmut Motekat, hg. Erich Huber-Thoma und Ghemela Adler (Frankfurt a. M. / Bern / New York 1986), 197 - 212, hier: 198. 63 Leopold werden nur noch Strophen voller Ironie, Spott und Ranküne gewidmet. Vgl. hierzu und zum folgenden: Nolte (s. Anm. 4), 97.

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mehr, 6 4 der H o f des Grafen von Katzenellenbogen war offenbar nur eine punktuelle Station nach 1220, wenn dieser nicht ohnehin nur auf dem Frankfurter Hoftag von 1224 als Gönner hervorgetreten war. Vor einem Kreis von staufischen Dichtern, Literaturkennern und -mäzenen aber konnte Walther tatsächlich singen: »die werden hänt mich deste baz« (C. 43, I I , 8 / L. 67, 3). Hier konnten aber auch seine antipäpstlichen Strophen aus dem Kaiser FriedrichsTon, die ja an Schärfe alle frühere Papst- und Kirchenkritik Walthers überbieten, auf offene Ohren stoßen. Schließlich nahmen sich ja König Heinrich und seine Berater (mit Ausnahme Ludwigs von Bayern) i n den Jahren 1227- 1229 tatkräftig der Sache des Kaisers an. 6 5 Die nicht zum Beraterkreis Heinrichs gehörenden Fürsten bezogen schließlich i n diesem Konflikt eine eher abwartende Position, keiner von ihnen folgte 1228 dem Ruf des Kaisers zum Kreuzzug. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist also die späte Sangspruch- und Kreuzzugslyrik (C. 9 7 / L . 124, 1 [>ElegiePalästinaliedElegievar hin ze guoter stunde !Sinn< wieder zu finden«, in: Rüdiger Krohn / Bernd Thum / Peter Wapnewski (Hrsg.), Stauferzeit. Geschichte - Literatur - Kunst (Stuttgart 1978), 334 - 347. 71 Ausgabe: H. E. Bezzenberger (Halle 1872), 154,18 -164, 1.

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sers 72 auf die Grundstimmung, die auch i n staufischen Kreisen und am H o f König Heinrichs zu dieser Zeit geherrscht haben muß. I n Walthers >Elegie< hat sie sich deutlich niedergeschlagen: »uns ist erloubet trüren und fröide gar benommen« - aufgrund der »unsenftefn] brieve [ . . . ] von Rome« (C. 97, I I , 9 f. / L. 124, 26 f.). Wie engagiert der Sänger jedoch gleichzeitig mit diesem Lied für die Sache des Kaisers eintrat, zeigt die dritte Strophe, i n der den Rittern in leuchtenden Farben der spirituelle, in einer Nebenbemerkung aber auch der materielle L o h n (C. 97, I I I , 1 2 / L . 125, 5) vor Augen gestellt wird, sowie der eigene Kreuzzugsenthusiasmus des Sängers, der nur durch das nötic www-Motiv gedämpft wird. Auch i n diesen späten religiös-politischen Liedern, nicht nur in seinem M i n nesang, haben offenbar das Publikum und die Nachwelt seinen - wie Singenberg i n seinem Nachruf es formuliert - »hohe[n] sin« erkannt.

VII. Die i n der früheren Forschung, besonders i m 19. Jahrhundert, beliebten Versuche, eine Walther-Biographie zu schreiben, sind heute obsolet geworden. 73 I m Zusammenhang dieser Überlegungen geht es mir auch gar nicht u m eine mögliche Biographie des Autors. Vielmehr bin ich der Meinung, daß eine ganzheitliche hermeneutische Herangehensweise an die Texte sich auch mit deren Kommunikationssituation beschäftigen muß. Daß ein sicheres Wissen hierüber bei der gegebenen Quellenlage nicht erreichbar ist, ist w o h l selbstverständlich. U n d natürlich ist es auch wichtig, klar zu sagen, w o die Grenzen des validierbaren Wissens verlaufen. Generell gilt für solche Fragestellungen, was Joachim Bumke speziell für die Gönnerforschung festgestellt hat: »In den meisten Fällen ist man bei der Interpretation des Quellenbefundes auf Kombinationen und Vermutungen angewiesen. Das bedeutet, daß der Gönnerforschung insgesamt ein spekulatives Element innewohnt.« 7 4 Trotzdem kann die diesbezügliche H y 72 Ausgabe: Johannes Siebert, Der Dichter Tannhäuser. Leben - Gedichte - Sage (Halle/Saale 1934). Zur Datierung vgl. ebda., 188 und 18-22. 73 Vgl. Gerhard Hahn, Walther von der Vogelweide. Eine Einführung (München / Zürich 1986), 12 f.: »Walther kann nicht nach dem Muster dargestellt werden, das für neuere Autoren das übliche und vertraute ist: das Werk als literarische Ausdrucks- und Verarbeitungsform eines wechselnden äußeren Lebensganges und sich entwickelnder innerer Erfahrungen und Erkenntnisse über sich und die Welt unter den Bedingungen der Zeit, vielleicht in einem Dreischritt von Früh-, Reife- und Spätphase.« Vgl. auch Otfried Ehrismann, »Nachdenken über Walther. Probleme beim Schreiben einer postmodernen Biographie«, in: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk, hg. Hans-Dieter Mück (Stuttgart 1989), 191-205. 74

Bumke, Mäzene (s. Anm. 59), 31.

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pothesenbildung, die i m Fall des Publikums des späten Walther durch eine ganze Reihe von Indizien gestützt wird, auch unseren Blick für eine weitergehende Interpretation der Texte selbst schärfen.

Z u m Guoten Gêrhart des Rudolf von Ems Von Manuela Niesner

I. Vom Almosen in abscondito I n seinem Versroman Der guote Gerhard hat Rudolf von Ems bekanntlich den auf die Antike zurückgehenden, in der Predigtliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts verbreiteten Erzähltypus der Streitnovelle 2 aufgegriffen: Eine Rahmenerzählung berichtet von einem Menschen, der sich für vollkommen hält und zu wissen wünscht, wer ihm an Vollkommenheit gleich sei. Er setzt dabei stillschweigend einen sehr hoch gestellten Partner voraus und wird zur Belehrung an einen sozial oder geistlich niedrig Stehenden verwiesen. In der Innenerzählung kann dieser nun seine Geschichte berichten.3 Ging es dabei ursprünglich offenbar v. a. u m die Konkurrenz verschiedener Frömmigkeitshaltungen, 4 so konnte dabei auch schon früh die Warnung vor dem »geistlichen Stolz und vor der Gefahr, durch die Verehrung seitens der U m w e l t selbst i n diesen Stolz zu verfallen«, hinzukommen. 5 Daß die Vorbildfigur dem selbstgerechten Frommen selbst von ihren Taten berichtet und ihn da1

Zitiert wird im folgenden nach der Ausgabe: Rudolf von Ems, Der guote Gerhart, hg. John A. Asher, Altdeutsche Textbibliothek. Nr. 56, 3. durchgesehene Aufl. (Tübingen 1989). Zur Sekundärliteratur bis 1985 vgl. Angelika Odenthal: Rudolf von Ems. Eine Bibliographie (Köln 1988). 2 Vgl. Xenja von Ertzdorff, Rudolf von Ems. Untersuchungen zum höfischen Roman im 13. Jahrhundert (München 1967), 161 ff.; Sonja Zöller, Kaiser,; Kaufmann und die Macht des Geldes. Gerhard Unmaze von Köln als Finanzier der Reichspolitik und der »Gute Gerhard« des Rudolf von Ems, Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 16 (München 1993), 174-177; zuletzt Dieter Kartschoke, »Der Kaufmann und sein Gewissen«, DVjs69 (1995), 666-691, hier 676 ff. 3

v. Ertzdorff, Rudolf von Ems (wie Anm. 2), 166 f. v. Ertzdorff, Rudolf von Ems (wie Anm. 2), 164, formuliert als »ursprüngliche Tendenz« der Paphnutius-Legende der Historia Monachorum: »es gibt nicht nur eine maßgebliche Frömmigkeitshaltung und einen Stand, der sie vorbildlich erfüllt, sondern mehrere. In diesen Mönchsgeschichten steckt anfänglich ein Angriff gegen das Anachoretentum, denn auch die Weltleute können durch ein christliches Leben zur Vollkommenheit gelangen.« 4

5

v. Ertzdorff, Rudolf von Ems (wie Anm. 2), 165.

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durch beschämt, w i r d dabei umso mehr zum Paradoxon, je mehr zugleich ihre Demut akzentuiert werden soll. Dies gilt i n besonderem Maße für den Roman Rudolfs von Ems: Kaiser O t t o errichtet zur Ehre Gottes (V. 173) auf seinem Eigengut das Erzbistum Magdeburg und stattet es großzügig aus. Die öffentliche Anerkennung (der weide lop y V. 245), die er dafür erfährt, bringt ihn auf den Gedanken, daß er sich auch bei Gott große Verdienste erworben haben müsse; und er läßt sich dazu hinreißen, Gott u m die Offenbarung seines himmlischen Lohnes zu bitten. Daraufhin weist ihn ein Engel Gottes scharf zurecht (V. 510 ff.): Den Thron, der für ihn i m H i m m e l bereitet war, habe er nun durch seine Vorhaltungen umgestoßen. Der Engel mahnt ihn, Buße zu tun, wenn er den L o h n für seine gute Tat nicht endgültig verlieren wolle, und verweist ihn an das Vorbild des Kölner Kaufmanns Gerhard, dessen Name i m Buche des Lebens verzeichnet sei (V. 549566). Der Kaiser begibt sich daraufhin nach Köln, u m sich von Gerhard dessen Lebensgeschichte erzählen zu lassen. Wie hat Rudolf von Ems die paradoxe Erzählsituation bewältigt? Zunächst hat er den Widerstand Gerhards geradezu dramatisch zugespitzt: Erst nach sechsmaliger Aufforderung, als sich der Kaiser auf den Willen Gottes beruft, ist Gerhard bereit zu sprechen. Gerhard selbst beteuert mehrfach demütig die Geringfügigkeit seiner Verdienste, 6 während anderen Personen die Rolle zufällt i m Zitat durch Gerhards eigenen M u n d - , dessen güete zu preisen. 7 A l l dies ist offenkundig und allgemein bekannt. Etwas anderes hat man jedoch bisher nicht bemerkt: Gerhard selbst schmälert in seinem Bericht seine Verdienste i n einer Weise, die nicht sofort durchschaubar, sondern erst durch Kombination erkennbar ist. Dies hoffe ich i m folgenden näher begründen zu können. Der Kaufmann Gerhard w i r d auf dem Rückweg von einer überaus erfolgreichen Handelsreise, bei der er sein Ausgangskapital von 50000 Mark Silber verdoppeln konnte, durch einen Sturm an die Küste Marokkos verschlagen. Da nach Strandrecht er und alle seine Waren dem Landesherrn verfallen wären, 8 greift Gerhard zu einer List: Er gibt vor, zu Handelszwecken i n das Land gekommen zu sein. Der heidnische Burggraf Stranmur nimmt ihn daraufhin in seinen Schutz und schlägt ihm einen Handel besonderer A r t vor: Gegen seine gesamte Schiffsladung bietet er Gerhard eine Schar christlicher Gefangener zum Kauf an, die sich in seiner Gewalt befindet. Dabei handelt es sich u m die Frau des englischen Königs Willehalm, die norwegische Königstochter Irene, 6 7 8

Vgl. V. 926-964,1941-1946, 6612-6630. Vgl. z. B. V. 2761 ff., 6107 ff., 6315 ff. Zöller, Kaiser ; Kaufmann und die Macht des Geldes (wie Anm. 2), 299.

Zum Guoten Gêrhart des Rudolf von Ems

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und ihr Gefolge von 14 Edeldamen 9 und 24 englischen Rittern. Nach der Vermählung mit Willehalm war Irenes Schiff auf der Fahrt von Norwegen nach England durch einen Sturm v o m Schiff ihres Gatten getrennt worden und in Marokko ( ! ) 1 0 gestrandet, w o sie Stranmur nach geltendem Recht gefangennehmen durfte. Das Angebot Stranmurs stürzt Gerhard i n heftigen zwivel darüber, was er tun soll (V. 1802 ff.). Die von der Situation her naheliegende, von nahezu allen Interpreten vertretene Auffassung, daß der Kaufmann sich in einem »Konflikt zwischen Christenpflicht und Kaufmannsregeln« befinde, 11 w i r d scheinbar gestützt durch Gerhards erste Reaktion:

1795

Ditz dühte mich vil wunderlich daz er dafür erkande mich in sinem wdne also gemuot daz ich gäbe so gröz guot niht wan umb einen blözen wän.

Walliczek bemerkt zu dieser Stelle: Gerhards A n t w o r t kommt »frei von jeder Emotion, nur die nüchterne ratio des Kaufmanns, seine sachlich-objektive Geschäftskalkulation scheint aus ihr zu sprechen«. 12 Allerdings ist den zitierten Versen soviel zu entnehmen, daß Gerhard das Angebot als Geschäft - denn als solches w i r d es ihm von Stranmur angetragen - zu risikoreich erscheint. 9 Zwei von ihnen sind Norwegerinnen, die übrigen zwölf Engländerinnen, vgl. V. 2664-2666. 10 Diese »geographische Unmöglichkeit« versucht Zöller, Kaiser.; Kaufmann und die Macht des Geldes (wie Anm. 2), 345-353 (Zitat 352), zu erklären. 11 So Werner Wunderlich, »>[...] des koufmannes güeteGuoter Gêrhart< de Rudolf von Ems«, Etudes Germaniques , 32 (1977), 144153, hier 146; Michel Huby: »>Le bon Gérard< ou »Comment faire son salut sans trop de peineDer guote Gêrhart< y Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 46 (München 1973), 21.

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Ist dies aber auch das Problem, das Gerhard die Nacht über bedrängt, so daß er Gott u m Hilfe bittet? 1 3 Betrachten w i r den Text genauer:

1805

1810

1815

1820

des herzen muot mir dicke riet nü sus nü so, nü her nü hin. ze jungest kam mir in den sin daz ich got rätes biete waz ich dar an getnete, daz er in daz herze min sande nach den hulden sin, daz mir ze herzen käme ob ez im war genoeme daz ich die armen löste von solhem untröste. mit disem zwivel was bedaht min herze biz gegen mitter naht, ob ich löste si durch got, ob daz wäre sin gebot, von herzen ich got ane rief, unz ich mit dem gedanc entslief, ob ez almuosen wäre oder ob ich ez verbaere.

Es fällt zunächst auf, daß es sich bei Gerhards Problem u m eine Angelegenheit des herzen handelt (V. 1802, 1807, 1809, 1814, 1817). herze ist - neben muot - i m Guoten Gerhart der häufigste Ausdruck für das Gewissen; 14 die gute Tat entspringt aus guotem, 15 die schlechte aus krankem herzen. 16 Daß das herze selbst i n dieser Angelegenheit unsicher ist (vgl. bes. V. 1802 f.), spricht nicht dafür, daß Gerhard sich i n einem Konflikt zwischen dem Gebot christlicher Nächstenliebe und kaufmännischen Erwägungen befindet. Vielmehr scheint es sich u m ein Problem zu handeln, das ethisch nicht eindeutig zu lösen ist. Dies w i r d durch die folgenden Verse bestätigt: Gerhard bittet Gott u m eine Eingebung, »ob es ihm gefiele, daß ich die Armen aus solchem Unglück befrei13

Vgl. Helmut Brackert, Rudolf von Ems. Dichtung und Geschichte (Heidelberg 1968), 52: »Man kann verstehen, daß Gerhard [ . . . ] zunächst zögert, seinen riesigen koufschatz auf den blozen wan hin wegzugeben, den Stranmur ihm zu erwecken sucht«; Christoph Cormeau: »Rudolf von Ems: >Der guote GerhartDer guote Gerhart[...]«» ger ich an iuch sunder spot y swenn ich von minem guote geltes an iuch muote y daz ir danne geltent mir swes ich hie durch iuch enbir.
tarnt< und in die Rolle des kalkulierenden Geschäftsmannes schlüpft (V. 2778f.), verzichtet er auf das lop der weide , das den Kaiser verführt. 3 7 Er bleibt darin auch i n seinem Be32 Friedrich Sengle, »Die Patrizierdichtung >Der gute Gerhard*. Soziologische und dichtungsgeschichtliche Studien zur Frühzeit Rudolfs von Ems«, DVjs., 24 (1950), 53-82, hier 70. - Cormeau (wie Anm. 13), 85. - Walliczek 1973 (wie Anm. 17), 37: »Den Gefangenen wird also gewissermaßen ein unverzinster Kredit ohne Terminbindung gewährt«, vgl. auch ebd. 35 f. u. 42. - Werner Wunderlich, Der >ritterliche< Kaufmann. Literatursoziologische Studien zu Rudolf von Ems' >Der guote Gerhart< , Scriptor Hochschulschriften Literaturwissenschaft, 7 (Kronberg/Ts. 1975), 157; ders. 1989 (wie Anm. 11), 52 f. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung , Germanistische Einführungen. Gegenstand, Methoden und Ergebnisse der Disziplinen und Teilgebiete (Darmstadt 21992), 288-298; hier 294. - Walliczek 1993 (wie Anm. 24), 259. - Zöller, Kaiser, Kaufmann und die Macht des Geldes (wie Anm. 2), 303-305. - Kartschoke, »Der Kaufmann und sein Gewissen« (wie Anm. 2), 673 u. 678. 33

Hierzu am ausführlichsten Walliczek 1973 (wie Anm. 17), 65, unter Hinweis auf V. 4860-67: »Das kaufmännische Denken in »Quantitäten« schlägt hier schon um in den Ausdruck einer so weitreichenden Opferwilligkeit, daß jeder Erstattungsanspruch für Gerhart einfach nicht mehr zur Diskussion steht.« 34 Auch der dem Kaiser erscheinende Engel bezeichnet Gerhards Tat - allerdings im Rückblick - als almuosen (V. 557). 35 Vgl. V. 2753-2792. 36 V. 5508-5513. 37 Daß die allgemeine Anerkennung (gemäß Prolog V. 21-36) dennoch groß ist und Gerhard schließlich - gegen seinen Willen - den Beinamen »der gute« einträgt, widerspricht dieser Argumentation nicht, sondern bestätigt sie; vgl. dazu unten 67.

Zum Guoten Gêrhart des Rudolf von Ems

65

rieht gegenüber O t t o so konsequent (vgl. V. 946 f.: sürez hier und roggin bröt / was min almuosen für min tor), daß sein eigentliches M o t i v nicht offen zutage liegt, sondern erschlossen werden muß. Daß Gerhard sich bei seiner Tat an dem dritten von dem Engel genannten Beweggrund - durch gotes gebot (V. 1863) - orientierte, w i r d zusätzlich durch folgende Stelle bestätigt: 2590

2595

Er [.Stranmür] vreute sich des koufes dö y ouch was ich des wehsels vrö; er versach gewinnes sich, ouch dinget ich des daz mich min gewin dran iht verge, der Ion üf gotes gnade ste nach den grözen hulden sin und nach den nötdurften min.

Da Gerhard von den Gefangenen nur Schadenersatz verlangt hat, kann es sich bei dem gewin und Ion nicht u m einen materiellen Vorteil handeln. 3 8 Wenn er den L o h n von Gott erhofft, setzt dies nach der Botschaft des Engels vielmehr voraus, daß der Beweggrund seines Handelns dem auch entspricht: »die spezifische Lohnerwartung, wie sie Gerhart ausspricht, [muß] den Rückschluß auf die bestimmende Motivation erlauben«. 39 Entsprechend äußert sich Gerhard auch etwas später: 2720

Do gedäht ich mir zehant: >ich wil burgschaft unde phant an sin selbes giiete län durch den ich ez hän getan.
[...] sine [gotes] güete mache dich erlöst von weltlichen schänden und von der helle banden' mit gotlicher süeze.
Leitwert< einschätzt], den er durch den Anspruch auf Rückerstattung abgesichert sehen möchte«. 4 0 Die 38 39 40

Anders Cormeau (wie Anm. 13), 85. Walliczek 1973 (wie Anm. 17), 43. Walliczek 1973 (wie Anm. 17), 43.

5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 39. Bd.

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Worte des Engels lassen von einer Vereinbarkeit der drei Motive nichts erkennen. ruom und Gottesdienst werden in der Engelsbotschaft an den Kaiser klar als einander ausschließende Alternativen dargestellt:

540

Nü solt du ze löne hän, sit du ez hast durch ruom getan, der weite lobelichen pris, den du hast so manige wis mit ruome dir gefüeget. des lönes got genüeget.

Wer durch ruom handelt, der bekommt auch das zum Lohn, was ihn zu seinem Tun veranlaßt hat, nicht mehr und nicht weniger. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, daß es sich mit dem ersten M o t i v durch gelt anders verhält. 4 1 D e m widersprechen auch Jesu Worte aus der Bergpredigt: Lc 6

34 35

et si mutuum dederitis his a quibus speratis recipere quae gratia est vobis nam et peccatores peccatoribus fenerantur ut recipiant aequalia verumtamen diligite inimicos vestros et benefacite et mutuum date nihil desperantes et erit merces vestra multa

Gerhard selbst sieht, als man ihm die Erstattung seines Besitzes anbietet, ja geradezu aufdrängt, Geld und Gottes L o h n als Alternativen an: 6491

dannoch dühte rieh er mich der gotes Ion.

Ein anderer Abschnitt der Bergpredigt, der in den oben zitierten Versen 537542 anzuklingen scheint, hat für Rudolfs Roman unter dem hier untersuchten Aspekt geradezu Schlüsselcharakter: Mt 6

1

2

3

4

Adtendite ne iustitiam vestram faciatis coram hominibus ut videamini ab eis alioquin mercedem non habebitis apud Patrem vestrum qui in caelis est cum ergo facies elemosynam noli tuba canere ante te sicut hypocritae faciunt in synagogis et in vicis ut honorificentur ab hominibus amen dico vobis reeeperunt mercedem suam te autem faciente elemosynam nesciat sinistra tua quid faciat dextera tua ut sit elemosyna tua in abscondito et Pater tuus qui videt in abscondito reddet tibi

Wenn Gerhard also sein Almosen in abscondito gibt, dann handelt er gemäß den Worten des Evangeliums. Er befolgt diese Lehre der Bergpredigt jedoch 41

Daraus folgt selbstverständlich nicht, daß Gerhards Kaufmannsberuf im Widerspruch zu seinem Christentum stünde. Wer durch gelt handelt, erhält gelt zum Lohn. Dies ist als solches nichts Schlechtes; wer allerdings immer nur durch gelt handelt, erwirbt sich damit bei Gott keine Verdienste.

Zum Guoten Gêrbart des Rudolf von Ems

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nicht nur in seinem Tun, sondern darüber hinaus i n der A r t und Weise, wie er seine Lebensgeschichte schildert. Rudolf von Ems zog damit die Konsequenzen aus der paradoxen Erzählsituation. Erst unter diesem Aspekt w i r d m. E. die Gegenbildlichkeit der Geschichte Gerhards zu der des Kaisers in vollem Umfang erkennbar. Die Erzählsituation, die der geforderten Demut eigentlich diametral zu widersprechen und das »Vorhalten« (verwizen) der guten Tat zum Prinzip zu erheben scheint, w i r d so zum darstellerischen Mittel, u m ein wahrhaft christliches Almosen und eine ganz an Gottes Gebot orientierte Gesinnung vorzuführen. Gerhard verzichtet bewußt auf die weltliche Anerkennung seiner Tat; und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß er dieselbe in der Forschung auch bis heute nicht gefunden hat.

I I . Das Verbot des rüemens und die Botschaft des Romans Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen fällt es besonders auf, daß dem Kaufmann Gerhard gerade der Ruhm, dem er bewußt entsagt, in reichem Maße zuteil wird. Schon i m Prolog äußert Rudolf von Ems die Auffassung, daß das aus reinem Herzen (vgl. V. 544) u m seiner selbst willen vollbrachte Gute von der Welt anerkannt w i r d : 4 2

25

30

35

wan der weite spehender muot kan wol übel oder guot bescheiden und erkennen gar dar nach er beider wirt gewar. durch daz so laze ein wiser man der guotes sich versinnen kan die guoten und die wisen sin lob ze rehte prisen; so wirt er witen mare, sin getdt wirt lobebare, swenn ir die ze guote jehent die guot nach rehter güete spehent. er sol daz rüemen lazen sin; wan den guoten wirt wol schin ob er durch guotes herzen rat guotes iht geprüevet hat.

42 Im Gegensatz zu v. Ertzdorff, Rudolf von Ems (wie Anm. 2), 177, sehe ich hierin eine deutliche Diskrepanz zu Gottfrieds von Straßburg >Tristandiemüete< ist somit ein gütiges, sich gnädig herabneigen-

Zum Guoten Gêrhart des Rudolf von Ems

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Gottes L o h n (V. 6899-6901) sicher. 48 Diese Auffassung spitzt Rudolf von Ems - wobei er wieder die Doppeldeutigkeit des Wortes ruom gezielt einsetzt 49 hier bis zur Paradoxie zu (V. 6896). Sogar der Engel hebt gegenüber dem Kaiser Gerhards Ruhm hervor:

605

»[...] sin [Gerbarts] miltez herze reizet daz man in guoten heizet: durch daz ist er guot genant sin salde zieret wol diu lant da er gehüset inne hat. sin lob mit grözer wirde stät.«

Diese optimistische Sichtweise der Vereinbarkeit von diesseitigem Ruhm und jenseitigem H e i l verbindet Rudolf von Ems mit der fiktionalen Idealwelt klassischer höfischer Dichtung. 5 0 M . E. bleibt nur der Schluß übrig, daß es dem A u t o r nicht u m eine Uberwindung, sondern u m eine Vertiefung der höfischen Existenz geht. Wie Walliczek bemerkt hat, entspricht die zentrale von Rudolf propagierte Tugend der güete »einer Forderung der höfischen Wertethik«. 5 1 Die demüetliche güete w i r d besonders und vor allem von denjenigen Menschen gefordert, denen Macht über andere gegeben ist. 5 2 N i c h t zuletzt deshalb kann

des, bescheidenes Verhalten zu verstehen, das sich am besten zu erkennen gibt in der helfenden Tat gegenüber einem Menschen, über den wir gänzlich verfügen können«. 47 Vgl. dagegen Haug, Literaturtheorie (wie Anm. 32), 295: »An die Stelle der Existenzkrise des Protagonisten [im Artusroman] [ . . . ] ist die isolierte moralische Tat getreten. Sie besitzt ihren Wert in sich selbst und führt zu einem persönlichen Heil, das nicht nur unabhängig von allem Gesellschaftlichen ist, sondern diese Unabhängigkeit geradezu zur Voraussetzung hat.« Cormeau (wie Anm. 13), 95, hebt zwar Gerhards ère hervor; diese sei jedoch »von der Versuchung des verrüemens ständig ins Zwielicht gebracht« und habe damit »nur noch eine äußerliche Gemeinsamkeit mit der existenztragenden ère des Ritters«. 48 Zwischen V. 6898 und V. 6899-6901 besteht nach meiner Auffassung kein Gegensatz. durch si (V. 6898), d. h. »um der Welt willen«, muß hier vor dem Hintergrund von V. 1842 ff. (vgl. dazu oben 61) verstanden werden. Es handelt sich m. E. also nicht um »ein Nebeneinander zweier Bereiche« [v. Ertzdorff, Rudolf von Ems (wie Anm. 2), 188], sondern um ein Ineinander: Man dient Gott, indem man den Menschen, der weit, Gutes tut. 49 Im negativen Sinne in V. 6893 (erkennbar durch die Kombination mit itewizeim positiven in V. 6896 f. 50 Zur klassischen Auffassung vgl. Cormeau (wie Anm. 13), 89 ff., sowie Haug, Literaturtheorie (wie Anm. 32), 122 f. Beide Interpreten sehen allerdings Rudolf im Gegensatz zu ihr. 51 Walliczek 1973 (wie Anm. 17), 154. 52 Vgl. V. 4310-4313 sowie oben Anm. 46. Vgl. Brackert, Rudolf von Ems (wie Anm. 13), 212: »Der Kaufmann demonstriert dem Kaiser herrscherliche Gesinnung.« Ahnlich auch Kurt Ruh, »Versuch einer Begriffsbestimmung von städtischer Literatur< im deutschen Spätmittelalter«, in: Über Bürger; Stadt und städtische Literatur im Spätmittelalter. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters

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Gerhard dem Kaiser als Vorbild dienen. Die Werte der höfischen Gesellschaft werden also nicht etwa durch die Kaufmannsgestalt relativiert. 5 3 Vielmehr verhält es sich umgekehrt: Gerade weil Gerhard Kaufmann ist, kann er auf die ihm angebotenen Herrschaftspositionen verzichten, ohne daß deren Wert dadurch in Frage gestellt w i r d . 5 4 Daß es i m Guoten Gerhart u m die Abkehr von der höfischen Existenz gehe, hat Haug v. a. aus einem Vergleich mit der Handlungsstruktur des Artusromans abgeleitet. Nach Haug entsprechen die beiden Reisen Gerhards dem zweifachen Auszug des Artusritters. Die erste Ausfahrt endet mit dem Gewinn einer Frau und einem pfingstlichen Hochzeitsfest. Die unerwartete Rückkehr Willehalms führt zu einer Krise. Es folgt der zweite Auszug, an dessen Ende ein grandioses höfisches Fest steht, »wie man es seit den Tagen des König Artus nicht mehr gesehen habe«. 55 »Das klassische arthurische Modell« werde somit »mit aller Deutlichkeit erzählerisch zitiert«, jedoch werde »gerade i n den A u genblicken der größten Annäherung« durch den zweimaligen Verzicht Gerhards »die Handlung radikal umgebogen« und damit »der Ubergang zu einer höfischen Existenz programmatisch blockiert«. 5 6 M . E. kann man jedoch nicht von einem Umbiegen der Handlung sprechen; denn Gerhards Verzicht führt in beiden Fällen zur Verwirklichung seiner ursprünglichen Absicht. Die erste erfolgreich bewältigte Krise des Protagonisten besteht i n dem zwivel Gerhards vor dem Loskauf. Die christliche Motivation, den armen zu helfen, ist dabei untrennbar verbunden mit dem Ziel, die höfische vreude der Gefangenen wiederherzustellen. 57 I n diesem Bestreben bemüht sich Gerhard nach seiner Rückkehr auch u m die Wiedervereinigung des getrennten Minnepaares. D o c h gerät dieses Ziel i n Gefahr, als der verschollene Willehalm

1975-1977 , hg. Josef Fleckenstein und Karl Stackmann, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, 3. Folge, Nr. 121 (Göttingen 1980), 311-328, hier 325: »Dem Kaiser mit der Mentalität eines Kaufmanns kann nur ein Kaufmann mit kaiserlicher Gesinnung gegenübergestellt werden.« 53 Anders Haug, nach dessen Interpretation »es die Kaufmannsfigur [ermöglicht], einen grundsätzlich außergesellschaftlichen Ausgangspunkt zu gewinnen«, so daß es zu einer »Ablösung vom Höfisch-Gesellschaftlichen« komme [.Literaturtheorie (wie Anm. 32), 295]. Vgl. dagegen auch Walliczek 1973 (wie Anm. 17), 159; auch Wunderlich: Der >ritterliche< Kaufmann (wie Anm. 32), 171, betont, daß »immer noch das Höfische Bezugspunkt und Norm ist«. 54 Die Frage, weshalb der Protagonist des Romans Kaufmann ist, soll damit keineswegs zureichend beantwortet werden; sie kann hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. 55 Vgl. Haug, Literaturtheorie (wie Anm. 32), 292, vgl. auch 294. Vgl. ferner Cormeau (wie Anm. 13), 83 ff. 56 Haug, Literaturtheorie (wie Anm. 32), 294. 57 Vgl. u. a. V. 1985, 2350,2373, 2474-2477, 2485 ff., 6100.

Zum Guoten Gêrart des Rudolf von Ems

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nicht wieder auftaucht. Da Gerhard aber schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß Willehalm tot ist, 5 8 sieht er nur den einen Ausweg: Irene mit seinem Sohn zu verheiraten, u m sie aus dem Zustand der Freudlosigkeit zu befreien. Sein Schwanken vor diesem Entschluß läßt sich mit seiner Unsicherheit vor dem Loskauf vergleichen: Gerhard überlegt hin und h e r 5 9 und gerät entgegen der Mahnung des Engels 1848

durch den tröstlichen wân soit dû âne zwîvel leben
Helferrolle< für Gerhard. Willehalm erkennt diesen Zusammenhang als ein Dreiecksverhältnis, an dessen Spitze Gott steht: 5120

5125

>[.••] sît got die grözen gnade sin mit dir begangen hat an mir und er mit mir daz fuogte dir daz dîner salden stœtekeit ze himel hohe kröne treit, so volle dîne güete an mir y die got hat gegeben dir.; und gib mir dînen rat hie zuo wie ich lebe und wie ich tuo. [...]
[...] und ophert es da durch den got der durch der gotheit gebot durch uns ze opher wart erkorn unde menschlich wart geborn ze tröste sîner kristenheit [...]. Jesus der reinen megde kint. an des gotlîche kraft

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Walliczek 1973 (wie Anm. 17), 154. Vgl. V. 379-384, 4209-4213, 6156. Vgl. Schnell, Rudolf von Ems (wie Anm. 46), 73, der die güete Gerhards als »Abbild der göttlichen >güeteBlüte der ssüezer vater guot y reines herzen reinen muot, so reinen muot din herz treit, saldenriche salikeit, daz got durch siner Salden bluot vil der weide Salden tuot. got durch siner Salden tröst hat manigen von not erlöst. [...]
1 am a Southron man, I kan nat geeste rum y ram y ruf y bi lettreus ic frod ond fus Wordcraeftum waef Êragum l>reodude Nihtes nearwe. Be ôaere rode riht Imrh da maeran miht Wisdom onwreah. 36

J)urh J)2et fsecne hus ond wundrum lacs, ond gej>anc reodode Nysse ic gearwe dxr me rumran ge]?eaht on modes J)eaht

A similar technique is to be found in the eschatological poem Christ J, 11. 1641 ff., generally ascribed to the same author. 3 7 The use of rhyme for introspection reaches its climax in that poem in the Exeter Book which has come to be k n o w n quite simply as the Rhyming Poem y and which in its most complex rhymes reaches an intricate combination of multiple rhyme and alliteration only otherwise to be found among the skalds of Iceland:

culture unaffected by Christianity, seems to me to be a somewhat extreme view incompatible with the willingness of early Christian vernacular literature to adopt traditional modes of expression. 35

This was not so throughout the Germanic world, as is attested by Otfrid von Weissenburg's rejection of the alliterative line in favour of the octonarius in his Evangelienharmonie, and by Eysteinn Asgrimsson in his preference for the rhyming octosyllabic metre hrynhent rather than the standard skaldic metre for the religious poem Lilja. For further details on these two see Stephen Tranter, »Metrikwandel-Weltbildwandel«, in: Ursula Schaefer (Hg.), Mündlichkeit-Schriftlichkeit-Weltbildwandel: Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Tübingen 1996), 38-49, here 39-40, and the literature referred to there. 36 Cynewulf, »Elene«, 11. 1236-1242, in: George Philip Krapp (ed.), The Vercelli Book , Anglo-Saxon Poetic Records 2 (London 1932). 37 Brinkmann, 1977,169.

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Stephen N. Tranter Swa nu world wendej), Ond hetes hented, Wercyn gewited, Flahmah flite]D, Borgsorg bited, Wraecfaec writ>ad, Singryn sidad,

wyrde sendej), haelel>e scynded. waelgar slited, flan mon hwited, bald aid J)witeJ), wraj) a smitej), searofearo glidej> [ . . . ] 3 8

Wherever we do meet rhyme in O l d English vernacular poetry, even in the Rhyming Poem, it never replaces alliteration. Just as m y examples from Chaucer and iEthelwald show alliteration being grafted onto the basic rhyming system, so here, rhyme is being grafted onto a basic alliterating system. The choice available to the vernacular poet appears thus not to have been between a rhyming system and an alliterating system, but between a marked and an unmarked form of the alliterating system. For the basic, unmarked system, alliteration was used alone; for the marked system, apparently to mark a mode of introspective solemnity, rhyme was added. The situation appears to change i n the eleventh century. The Chronicle entry for 1036, lamenting the ill-treatment of Alfred the Atheling and his followers, appears in the Abingdon manuscript i n a highly irregular form of verse in which end-rhyme and alliteration appear to be in competition: Ac godwine hine l>a gelette, & hine on haeft sette; & his geferan he to-draf; & sume mislice ofsloh, Sume hi man wid feo sealde, Sume hreowlice acwealde, Sume hi man bende, Sume hi man blende. Sume hamelode. Sume hasttode; Ne weard dreorlicre daed gedon On l?ison earde; Sylvan dene comon & her frid namon.39 As far as any system can be seen, it is that pairs of lines are connected either by rhyme, or alliteration, or by both, the principle used around 1200 in Layamon's Brut: 38 »The Rhyming Poem«, 11. 59-65, in: George Philip Krapp and Elliott van Kirk Dobbie (ed.), The Exeter Book , Anglo-Saxon Poetic Records 3 (London 1936). 39 »The Death of Alfred«, 11. 1-14, in: Derek Pearsall (ed.), Old English and Middle English Poetry, The Routledge History of English Poetry, Vol.1 (London 1977), 71.

The interplay of rhyme and alliteration in medieval English poetry

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And wrad him iwrasded wunder ane swide; And J)us cleopien agon Ardur J)e hach3e man: >War beo 3e, Bruttus, balde mine beornes? Her stonde us bivoren ure ifan alle icoren; Go we mid isunde and legge we heom to grunde.e hegge, whet wedes he were. 42 Here, rhyme is clearly the dominant principle of phonetic recurrence, and alliteration is used on the stylistic level only, w i t h two lines devoid of it. So whereas Layamon seems to versify according to the principle »rhyme, or alliteration, or both«, in this example the principle is rather »rhyme, and alliteration as well if possible«. Where alliteration is used, it comes in a variety of patterns, from the standard aa ax pattern of line 7, to the double alliteration aa bb of the first line, and various combinations between. Versifying according to this principle appears to reach its pinnacle i n Pearl, where alliteration is merely one of a set of devices used to increase the density of metrical and phonetic recurrences w i t h i n the text, the whole being structured by the use of continuous end-rhyme and concatenation: 40

Layamon, Brut, ed. G.L. Brook and R.F. Leslie, 2 vols. (Oxford 1963, 1978), EETS 250,227,11. 10665-10669. 41 As pointed out by Cordelia Wittiger in a paper »Layamon's use of rhyme and alliteration« presented at Leeds University, 17th. July 1997, the use of the terms »rhyme« and »alliteration« as binary opposites in Layamon masks the fact that his lines are linked by many different shadings of rhyme-like and alliterative structures, of which full rhyme and alliteration are merely the opposing poles. 42

»The Man in the Moon«, 11. 1-8, in: Carleton Brown (ed.), English Lyrics of the Thirteenth Century (Oxford 1932).

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Stephen N. Tranter ¡)e sexte J)e rybé. He con hit wale In J>e Apocalyppce, J)e apostel John. 3et joyned John J)e crysolyt, Î>e seuenjîe gemme in fundament; J)e a3tj)e J)e beryl cler and quyt; l>e topasye twynne-hew J>e nente endent; ¡)e crysopase J>e tenj)e is ty3t; J)e jacynght t>e enleuenjje gent; J)e twelve, J>e tryeste in vch a plyt, t>e amatyst purpre with ynde blente. t>e wal abof l?e bantels bent 0 jasporye, as glas J)at glysnande schon. 1 knew hit by his deuysement In j3e Apocalyppez, J)e apostel John. As John deuysed 3et sa3 I J)are J>ise twelue degrés wern brode and stayre; [ . . . ] Twelue forlonge space, er euer hit fon, Of he3t, of brede, of lenj)e to cayre, For meten hit sy3 {) e apostel John. XVIII As John hym wrytez 3et more I sy3e: Vch pane of J)at place had J)re 3atez, So twelue in poursent I con asspye, J)e portalez pyked of rych platez, [ . . . ] . J)e aldest ay fyrst J)eron watz done. Such ly3t J)er lemed in aile \>e stratez Hem nedde nawj)er sunne ne mone. Of sunne ne mone had J)ay no nede; t>e Self God watz her lombe-ly3t [ . . . ] 4 3

I n all these Middle English examples, description i n terms of a marked form and an unmarked form, as in the O l d English examples, seems inappropriate. Just as in Layamon, no single criterion seems to determine which form of linelinkage is used, rhyme, alliteration, or one of the intermediate forms, so i n the Harley poem and in Pearl, there is no means of predicting from the content where exactly alliteration w i l l be deployed and what form it w i l l take.

43

»Pearl«, 11. 1007-1046, in: Malcolm Andrew and Ronald Waldron (ed.), The Poems of the Pearl Manuscript (York 1978), York Medieval Texts 2.

The interplay of rhyme and alliteration in medieval English poetry

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I n the case of Sir Gawain and the Green Knight, the exact opposite applies. The stanzaic form assigns alliteration without rhyme to the longer portion of the stanza, rhyme w i t h subsidiary alliteration to the conclusion: For werre wrathed hym not so much, J>at wynter was wors, When t>e colde cler water fro t>e cloude3 schadde, & fres er hit falle my3t to J)e fale erj)e; Ner slayn wyth {)e slete he sleped in his yrnes Mo ny3te3 ¡)en in-noghe in naked rokke3, J>er as claterande fro t>e crest J)e colde borne renne3, & henged he3e ouer his hede in hard ysse-ikkles. J)us in peryl & payne & plytes ful harde Bi contray ca[yr]e3 J>is kny3t tyl kryst-masse euen, al one; t>e kny3t wel {)at tyde To Mary made his mone, l>at ho hym red to ryde, & wysse hym to sum wone. 44 Although the assignment of rhyme and alliteration is ostensibly specified by the form of the stanza, there is an underlying semiotic component i n their use by the Gawain poet. Where a similar form is used elsewhere, the ratio of alliteration to rhyme is predetermined. I n this case, however, the proportions vary; the shortest stanza has 12 alliterating lines, the longest has 37. The poet's decision exactly when to deploy the short rhyming line is semantically conditioned and almost always involves a change in narrative perspective, as in the extract above, where attention shifts from Gawain's journey through the natural world, w i t h the knight passively exposed to external hardship, to his internal state, as the active suppliant beseeching the Blessed Virgin for guidance. The change of form functions as a semiotic icon of the change of perspective. I n the case of Sir Gawain and the Green Knight it is reasonable to speak of an unmarked form, the alliterative line of the fundamental narrative, and a marked form, the rhyming quartet. 4 5 I n this respect we can say that an element of the O l d English tradition re-emerges, 46 but more systematically and w i t h a

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Sir Gawain and the Green Knight, ed. J.R.R. Tolkien and E.V. Gordon, 2nd ed., rev. by Norman Davis (Oxford 1967), 11. 726-739. 45 The first short rhyming line, known in English incongruously as the »bob«, acts in the majority of cases as a bridge between the alliterating and the rhyming sections and belongs syntactically to the former, metrically to the latter. 46 It is well-nigh impossible to use any terminology for this phenomenon that does not appear to take up position on one side or other of the long-running debate as to the cultural-historical relationship between Old English and Middle English alliterative poetry. The term »emerge« should in this instance be seen in present-day perspective; whether the

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somewhat different function. I f Cynewulf's use of rhyme i n Elene is in any way representative of the comparative status of the t w o modes of composition at any stage of the O l d English period, then we can extract one common denominator; i n his case, as in that of the Gawain poet, the use of rhyme signals a change of perspective from an unmarked, basically narrative mode, to one of comment or introspection. Here it must again be stressed that we are operating w i t h minute quantities of data and that no generalizations are valid; if we draw any conclusions, then these are to be seen merely as possible indicators and as nothing more substantial. The point must be stressed i n particular when assessing the use of rhyme i n Piers Plowman, where the number of rhyming lines in proportion to the whole is infinitesimal, and yet where even these few lines appear to be deployed according to some vestiges of a system. Thus we note that there is no systematic use of rhyme i n English. 4 7 A m o n g the numerous Latin quotations we find grammatical rhyme, as in: Non dimittitur peccatum donee restituatur ablatum etc.48 Here the original is in prose, the rhyme is obtained by the parallelism of similar nominal endings. 49 Langland is here following his normal practice of incorporating quotations into the line structure; a text w i t h two clauses approxi-

existence of alliterative poetry in the Late Middle English period is the result of a continuously evolving submerged oral tradition to be traced directly back to Old English, or an independent reinvention of a form of versification inherently more congenial to the language than the French-based rhyming isosyllabic mode, is a question to be discussed at length elsewhere. 47

The use of rhyme in Langland is discussed in detail in Schmidt 1987, 75-79. None of Schmidt's examples fulfils what I would consider the minimal requirement for systematic, that is structurally constitutive rhyme, i.e. two pairs of recurrences. Schmidt quotes two separate examples of rhyme between the final word before the presumed caesura and the final word of the line (75), two separate examples of rhyme between the final word of consecutive lines, two separate examples of rime ricbe between the final word of consecutive lines, and a number of instances in which two words at varying positions within the line rhyme, or in which the final word of the line rhymes with words in varying positions within the line. He does not produce four consecutive rhyme bearing units, whether lines or half-lines. 48 B, Passus V, 1. 279 (Skeat 1886) resp. 273 (Schmidt 1995). Schmidt omits etc. The quotation (from Augustine Epistle 153 section 20,) is given in context by Skeat, ad loc. y as found in Patrologia Latina 2 p. 662, in which the text quoted by Langland is given as »non remittetur peccatum nisi restituatur ablatum.« 49 Arguably this passage is one stage away from pure grammatical rhyme since, although both forms are nominal, the one is a noun, the other a participle. For the transition from grammatical to non-grammatical rhyme in Christian prose and its possible effect on the development of rhyme in verse see Brinkmann 1977.

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mating to the lengths of the surrounding half-lines fits into the overall rhythm of the alliterating line without serious disturbance; where the whole quotation w o u l d be too long, enough is quoted to fill the metrical unit, the etcetera inviting the studious reader to complete the quotation from his o w n learning. 50 O n five occasions, however, Langland uses verse texts, presumably quotations, i n which rhyme is definitely systematic. Four are in Latin, the longest being the following: 5 1 >Sum Rex, sum Princeps; neutrum fortasse deinceps! O qui iura regis Christi specialia regis, Hoc quod agas melius - iustus es, esto piusl Nudum ius a te vestiri vultpietate. Qualia vis metere, talia grana sere: Si ius nudatur; nudo de iure metatur; Si seritur pietas y depietate metasDum »rex« a »regere« dictatur nomen habere, Nomen habet sine re nisi studet iura teneree Kynges counseil - construe whoso wolde >Precepta Regis sunt nobis vincula legis!< 52 one is i n French: Bele vertue est soffrance Mai dire est petyt veniance, Bien dire et bien souffrir Fait lui soffrant a bien venir 53 The above is precious little material on which to base any assessment of Langland's attitude towards the use of rhyme, bearing in mind that Piers Plowman is over 10,000 lines long (the exact number depends on which of the manuscript versions and whose lineation one takes as a standard). I t is however 50 There are numerous exceptions to this basic principle, eg. B-Text, Passus XV, 1. 114 (Skeat) resp. 118 (Schmidt), in which the half-line structure appears able to accommodate the parallelism of an extensive prose text, or of the same Passus, 11. 39-40 (Skeat, prose passage of ca. 5 lines not counted in the lineation) in which it is inconceivable that the prose text could have been integrated into the verse without seriously disturbing the rhythm of the reading. 51 Also: Passus IX, 11. 183 ff., Passus X, 11. 260 ff. arguably also XV, 11. 340 ff. (Schmidt 1995), = 181-2,259-60, 336ff. (Skeat 1886), all B-Text. 52 William Langland, Piers Plowman, B-Text, Prologue, 11. 132-145, (Schmidt 1995 & Skeat 1886). 53 B-Text, Passus XI, 11. 383 ff. (Schmidt 1995) = 376 ff. (Skeat 1886), my lineation.

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fair to say that rhyme is not striven for i n English, and no English rhyming texts are incorporated as quotations; Latin texts that rhyme grammatically or systematically are not eschewed, and as one example suggests, the same is true of French; rhyme is basically a Romance affair.

IV. Mapping significant choice: Some desiderata The outline above suggests that during the whole of the period ca. 700-1400, poets composing i n the vernacular were at least theoretically able to be aware of t w o concurrent metrical systems, one end-rhyme based, one alliteration based. 54 The history of metrics of the period is one of changing and developing choice. I f we assume that the poet's choice of form is i n itself a semiotically relevant statement, then the nature of that statement can only be understood if the nature of available choice is understood. I am not aware that we do understand this at the moment. I t is certainly clear that during the Middle English period, the range of choice available to the vernacular poet was greatly extended. I n this essay I have been concerned w i t h the fundamental choice between two systems of metrical structure and phonetic recurrence; the degree of formal choice available w i t h i n the tonosyllabic end-rhyming system, in terms of line-length, stanzaic organization and the distribution of rhyme is something I have not touched on, nor on its effect on mixed rhyming-alliterative forms. A t first view, it looks as if the ratio between the degree of choice available and the power of the statement made by choosing a form should be simple to establish, i n broad terms at least. Clearly, if there is no possibility of choice, there is no statement to be made. I f zero choice means zero power of statement, does this necessarily mean that infinite choice means infinite power of statement, and that we can simply assume that the more choice available, the greater the power of the individual decision to adopt the one or the other metrical form? This is clearly not the case. I f there was ever a stage when the choice of form was zero, then the first composition to break w i t h the hitherto universally accepted metrical system was making a stronger statement than all those who

54 I am silently assuming that rhyme-based systems involve metrical/rhythmical regularities fundamentally different to those met in alliterative systems. Theoretically this need not, of course, be so, but a comparison of rhyming poem with other Old English poetry, Old Icelandic hrynhent and runhenda with non-rhymed skaldic forms, or of Middle English rhyming and non-rhyming alliterative verse will demonstrate empirically that the adoption of a rhyming system on the level of phonetic recurrence will generally involve a greater degree of isomorphism within the line than is present in compositions in which alliteration is the only phonetic recurrence.

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subsequently adopted this new form. But what of subsequent innovations? Is the introduction of a third element of choice automatically a proportionally weaker statement than that of a second? The choice of form as a semiotic index has a diachronic dimension and does not function on a purely synchronic level. The adoption of rhyme may be an innovation in O l d English, but as a semiotic index, it has as its referent a preexisting tradition of rhyming poetry i n Latin, which its audience w i l l presumably have connected primarily w i t h matters liturgical. I t is this that conditions its use, in the t w o examples I have demonstrated, at moments of solemn religious introspection. The case w i t h alliterative poetry in the later Middle Ages is more complex; for us its referent may well be what we consider to be the classical alliterative poetry of O l d English, but we cannot be sure that it functioned as such for the audience of the time. Most scholars define the O l d English metrical system in terms of Beowulf. However, we have no evidence that Beowulf was read or recited at any time after the Norman Conquest. As far as we can tell, later interest i n O l d English texts concentrated on homilies; for poets in the Middle English period, the use of alliteration is at least as likely to have evoked the metrical style of Aelfric's verse homilies as of anything generally accepted as classical O l d English alliterative verse. I n conclusion, I w o u l d like to return to the second half of the fourteenth century, the half-century of Chaucer, Langland and the Gawain-poet, i n which the t w o metrical systems, alliterative and rhyming, stood more or less evenly balanced w i t h i n the English cultural landscape. This era emerges as the culmination of a development of metrical choice, as a period in which poets had the option of a variety of rhyming forms, of a number of variations w i t h i n a basic scheme of alliterative verse, and a fairly free choice of permutations between the two. W i t h reference to this age, I w o u l d wish to ask the following questions: 1) Is there a common metrical denominator that can be found linking Classical O l d English and Middle English alliterative verse? 55 2) Is there any way of establishing what the writers of alliterative verse in the Middle English period considered the diachronic semiotic referent of their adopted style of versification to be? 3) What influenced those poets who seem equally at home i n the alliterative and the rhyming medium (the hypothetical author of Pearl and Sir Ga55 One step in this direction is the >prosodic metrics< system presented in two papers at this year's (1997) Leeds International Medieval Congress: Tomas Riad »Old English Metrics is Quantitative« and Chris Golston »Cleanness and Prosodic Metrics«.

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Stephen N. Tranter wain and the Green Knight is a prime example) i n their specific choices of form?

What we really need is a »history of metrical choice and its implications« for the whole of the O l d and Middle English period. I t w o u l d be a massive undertaking, but gaining a fuller understanding of the nature of metrical choice in the period promises considerable rewards i n terms of our overall understanding of the culture.

Die Politik des Als-Ob in der Theorie, Praxis und Literatur der Renaissance-Zeit: Machiavelli, Martyr, Marlowe & Shakespeare Von Joachim Zelter

Die klassische politische Philosophie verstand sich seit Aristoteles als »Lehre vom guten und gerechten Leben und als Fortsetzung der Ethik.« 1 Es war Niccolö Machiavelli (1469-1527), der diese jahrtausendealten Verhältnisse zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf den Kopf stellte. Politik ist bei Machiavelli kein Mittel der Ethik mehr, sondern umgekehrt: die Ethik ist ein Instrument der Politik, und nicht nur die Ethik, sondern alles, was der Erhaltung politischer Herrschaft dienlich ist, also auch die Wahrheit oder die Religion. Damit unterläuft Machiavelli zwei zentrale und eng aufeinander bezogene Größen klassischer Philosophie und mittelalterlicher Theologie. Die Religion ist keine absolute Wahrheit mehr, genauso wie der Begriff Wahrheit bei Machiavelli keine unbestechliche Instanz des Denkens und Handelns mehr ist. Beides wandelt sich i m Namen politischer Zweckmäßigkeit zu einem variablen Als-Ob: Der Fürst muß nicht wirklich tugendhaft oder religiös sein, sondern er soll so tun, als ob dem so wäre, wenn dies seiner Herrschaft dienlich ist. Ein solches Denken i n Als-Ob-Kategorien impliziert eine bedeutsame Erkenntnis: daß man »mit bewußtfalschen Vorstellungen Richtiges erreichen« 2 kann, eine Idee, die bei Machiavelli aufblitzt und die i m 19. Jahrhundert von Hans Vaihinger (1852-1933) zu einer umfassenden Philosophie des Als Ob ausgebaut wurde. Vaihinger gebraucht den Begriff A l s - O b als Synonym für die Fiktion und er charakterisiert die Fiktion als nützliche »Abweichung von der Wirklichkeit« (172), die zwei Merkmale aufweist: Man ist sich dieser vorsätzlichen Wirklichkeitsüberschreitung bewußt, und man begreift diese Überschreitung als »Mittel zu bestimmten Zwecken« (174). Das Als-Ob-Denken Machia1

Klaus von Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart (München und Zürich 1972), 19. 2 Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob: System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus (1911; Aalen 1986; Neudruck der 9./10. Aufl. Leipzig 1927), xxiv. Im folgenden in Klammern im Text zitiert. 5

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vellis entspricht diesem Verständnis der Fiktion als »bewusste, zweckmäßige, aber falsche Annahme« (130), die der theoretischen und praktischen Gestaltung von Wirklichkeit dienlich ist. Nach Vaihinger ist die Fiktion alles andere als ein Sonderweg des menschlichen Denkens. Es handelt sich vielmehr u m eine unabwendbare Bedingung theoretischer Erkenntnis und praktischen Handelns. I n diesem Sinne unterstreicht Vaihinger die »Notwendigkeit bewusster Fiktionen als unentbehrliche Grundlagen unseres wissenschaftlichen Forschens, unseres ästhetischen Geniessens, unseres praktischen Handelns« (xxxi). Der Mensch kommt an der Fiktion nicht vorbei, ob er w i l l oder nicht, und so stellt sich vielmehr die Frage, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht. Die Als-Ob-Philosophie intendiert daher ein doppeltes: die konstruktive Erkenntnis, daß Fiktionen der theoretischen und praktischen Gestaltung von Wirklichkeit nützlich sind, aber auch die kritische Erkenntnis, daß vorgeblich fest etablierte Wahrheiten letztendlich auf fiktiven Annahmen aufbauen. 3 A l l dies setzt ein erkenntnistheoretisches Reflexionsniveau voraus, das nach Vaihinger »erst in einer fortgeschrittenen Periode des Menschengeistes möglich« (168) ist, und es w i r d sich zeigen, daß die Zeit der Renaissance eine solche Periode ist, die ein gesteigertes Fiktionsbewußtsein aufweist. Es handelt sich u m ein doppeltes Fiktionsbewußtsein: zum einen die gesteigerte Bereitschaft, althergebrachte Wahrheiten als Fiktionen zu entlarven; zum anderen die Entdeckung der Möglichkeit, daß man mit bewußtfalschen Vorstellungen Richtiges bzw. Nützliches erreichen kann. Es ist diese doppelte Einsicht, die Machiavellis politische Theorie wie ein roter Faden durchzieht und die auch die gewaltige Durchschlagskraft und kontroverse Wirkmacht seiner Schriften erklärt. Was Vaihinger i m 19. Jahrhundert i m Rahmen einer umfassenden Philosophie des Als Oh darlegte, findet sich bei Machiavelli bereits ansatzweise vorgedacht. Der Kontext ist hier freilich ein anderer. Wenn bei Vaihinger die Rede von praktischen Fiktionen ist, so meint er damit in erster Linie ethische Fiktionen , so z. B. den »hohen [ethischen] Wert der religiösen Fiktionen« (xxxi). Demgegenüber ist die Religion und Ethik bei Machiavelli vor allem ein nützliches Mittel der Politik. Wahrend Vaihinger die Fiktion als Beitrag »zu einer vollbefriedigenden Welt- und Lebensanschauung« (xxxii) sieht, ist sie bei Machiavelli ein konkretes Verfahren politischer Herrschaft. Vaihingers Als-Ob-Philosophie ist eine abstrakte Erkenntnistheorie. Dagegen ist das A l s - O b bei Machiavelli eine pragmatische Setzung, die i m Rahmen politischer Handlungsanweisungen zum Ansatz kommt. Doch damit ist die Bedeutung des A l s - O b nicht gemindert. I m Gegenteil! Die Philosophie des Als Oh verdichtet sich i n den Schriften 3

Zur Fiktion im allgemeinen und bei Vaihinger im besonderen, cf. Joachim Zelter, Sinnhafte Fiktion und Wahrheit: Untersuchungen zur ästhetischen und epistemologischen Problematik des Fiktionsbegriffs im Kontext europäischer Ideen- und englischer Literaturgeschichte (Tübingen 1994).

Die Politik des Als-Ob in der Literatur der Renaissance-Zeit

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Machiavellis zu einer Politik des Als-Ob, aus der konkrete Strategien i m H i n blick auf realpolitische Problem- und Interessenlagen hervorgehen. Das AlsO b weist hier einen doppelten Praxisbezug auf: Es ergibt sich einmal aus Machiavellis Erfahrungswissen über die politischen Vorgänge seiner Zeit, »durch lange Erfahrung in der Gegenwart [ . . . ] erworben«; 4 d. h. Machiavelli beschreibt nur, was i n der Renaissance-Zeit bereits politische Realität war. Andererseits zielen die Erkenntnisse Machiavellis darauf ab, in der politischen Praxis umgesetzt zu werden: die konkrete Machbarkeit neuartiger Ideen auszuprobieren, Hypothesen empirisch anzuwenden, politische Theorie praktisch zu verwirklichen. Das A l s - O b enthält somit ein Realitäts- und Realisierungspotential, das darauf drängt, sich i n der politischen Praxis bewähren zu können. U n d in der Tat: Die Idee, daß Religion und Ethik nützliche Fiktionen einer Politik des Als-Ob sind, war den Rezipienten und Gegnern Machiavellis nicht nur als faszinierende wie alarmierende und schockierende Denkmöglichkeit bekannt, sondern findet sich in der Renaissance-Zeit auch praktisch umgesetzt, und dies i m großen Maßstab, nämlich bei der Kolonialisierung der Neuen Welt. Das A l s - O b ist somit nicht nur von ideengeschichtlicher, sondern auch von größter gesellschaftspolitischer, wenn nicht weltbewegender Tragweite. I m folgenden sollen die Grundzüge von Machiavellis Politik des Als-Ob herausgearbeitet werden. Es ist bedeutsam, daß bei Machiavelli nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Religion zu einem variablen A l s - O b gerät. Diese doppelte Unterwanderung fest etablierter Größen erklärt, warum Machiavelli in der Renaissance-Zeit, besonders aber i m Drama der Shakespeare-Zeit, als Inbegriff des Atheismus und des Bösen gesehen wurde. I n einem zweiten Schritt soll gezeigt werden, daß die Ideenwelten Machiavellis gerade bei der Kolonialisierung neuer Welten in großem Maßstab angewendet, umgesetzt und i m wahrsten Sinne des Wortes verifiziert wurden, veritatem facere y d. h. wahr gemacht wurden. Das A l s - O b erscheint in diesem Zusammenhang bereits als selbstverständliches und stummes Wissen, das ohne den Verweis auf Machiavelli das Handeln der Kolonialisten leitete. Auch hier richtet sich das Denken und Handeln in Als-Ob-Kategorien gegen die Religion: die Behandlung fremder Religionen als manipulierbare Fiktionen. I n einem weiteren Schritt soll gezeigt werden, daß die Theorie und Praxis des A l s - O b auch i m Drama der ShakespeareZeit produktiv ist, überwiegend in Person der Bösewichte. Paradigmatisch hierfür steht die Hauptfigur in Marlowes The Jew of Malta, Barabas, dem Prototypen des elisabethanischen Bühnenschurken. U n d auch hier betrifft das Denken und Handeln i n Als-Ob-Kategorien die Religion, ein immer wiederkehrender Zusammenhang, der bei Marlowe eine brisante Zuspitzung erfährt. I m Unter4

Niccolö Machiavelli, Der Fürst, übers. Friedrich Oppeln-Bronikowski (Frankfurt 1990), 17. 7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 39. Bd.

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schied zu den kolonialen Eroberungen der Renaissance-Zeit, richtet sich die Manipulation religiöser Wahrheiten bei Marlowe nicht mehr gegen fremde Kulturen oder neue Welten, sondern gegen das weltanschauliche Zentrum der alten Welt: das Christentum. Die Barabas-Figur ist i n vielerlei Hinsicht das Vorbild für die Bösewichte der Shakespeare-Dramen. A u c h dort ist das A l s - O b eine auffällige Struktur i m Denken, Sprechen und Handeln der stage villains. Die beiden bekanntesten und raffiniertesten Bösewichte Shakespeares, Edmund und Iago, sollen zum Abschluß i n diesem Sinne betrachtet werden. Nach Vaihinger ist das Erkenntnispotential der Fiktion derart, daß sie sehr schnell in ihr Gegenteil umkippen kann. Fiktionen können sich i m Laufe der Zeit zu dogmatischen, unkritischen und nicht mehr hinterfragten Wahrheiten verdinglichen. Oder andersherum gewendet: Scheinbar fest etablierte Wahrheiten fußen nicht selten auf längst vergessenen Fiktionen der Vergangenheit. Es ist diese Einsicht, die letztendlich alles aufklärerische Denken leitet, so auch das kritische Denken der Renaissance. Damit geht eine entsprechende Entlarvungsbereitschaft einher: die Entlarvung der fiktiven Macharten und Ursprünge althergebrachter Wahrheiten, die für einen Skeptiker wie Montaigne (15331592) nichts anderes als unhaltbare Meinungen sind, menschliche und allzumenschliche Meinungen, die sich auf das Ansehen anderer [gründen], und auf das, was man vor Alters geglaubt hat, eben so als ob sie eine Religion oder Gesetze wären. Man nimmt die gemeinen Meynungen an, wenn man sie gleich nicht versteht. Man nimmt eine solche Wahrheit, mit ihrem ganzen Gebäude und Gespanne von Schlüssen und Beweisen, als einen festen und wohlgegründeten Körper an, den man nicht weiter wankend zu machen versucht, und nicht weiter beurtheilt. [ . . . ] Auf diese Art wird die Welt mit Possen und Unwahrheiten überzogen.5 Die Konjunktion als ob ist i n diesem Zusammenhang bezeichnend. Der Mensch, so Montaigne, übernimmt gutgläubig den Kanon tradierter Meinungen, nicht selten Unwahrheiten, »Irrthümer«, 6 »Erfindungen« 7 oder »Erdichtungen«, 8 und behandelt sie so, als ob diese ewig gültige Wahrheiten wären. Die Wahrheitsgläubigkeit des Menschen folgt einem unbewußten und unkritischen Als-Ob. Montaigne betrachtet somit, kaum anders als Vaihinger, die Ideen- und Erkenntnisgeschichte der Menschheit als fortlaufende Verdinglichung ursprünglich fiktiver Vorstellungsgebilde zu dogmatisch akzeptierten Wahrhei5 Michel de Montaigne, »Apologie de Raimon Sebond«, in: Essais [Versuche] nebst des Verfassers Leben nach der Ausgabe von Pierre Coste, übers. Johann Daniel Tietz (Zürich 1992), Bd. 2,242. Hervorhebung durch J. Z. 6 Ibid., 235. 7 Ibid. , 173. 8 Ibid. , 237.

Die Politik des Als-Ob in der Literatur der Renaissance-Zeit

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ten, an denen man u m so mehr festhält, je älter sie sind und je mehr Menschen an sie glauben. 9 Es ist dieses kritische Fiktionsbewußtsein, das auch in Machiavellis Ii Principe (1513) die Maßgabe aller Überlegungen bildet: einerseits die K r i t i k an den fiktiven Vorstellungsgebilden klassischer politischer Philosophie, andererseits der Anspruch, politische Wirklichkeit wahrheitsgetreu und realistisch zu beschreiben. Dies zeigt sich bereits i m Vorwort von Ii Principe, wenn Machiavelli betont, daß seine Schrift die Dinge beschreibt, wie sie in Wahrheit sind, daß er aus Erfahrung spricht, und daß er sich dabei u m eine direkte und einfache Sprache bemüht, ohne gekünstelte Ausschmückungen - ohne ein Blatt vor den M u n d zu nehmen. Dieses Werk habe ich nicht ausgeschmückt, noch mit schönen Phrasen und prunkhaften Worten oder mit anderen Reizen und äußerem Zierat aufgeputzt, womit viele ihre Werke zu schreiben und auszuschmücken pflegen; denn ich wollte, daß die Sache sich selbst ehre und daß allein die Mannigfaltigkeit des Stoffes und der Ernst des Gegenstandes dies Buch auszeichne.10 Die Wortwahl erinnert an die Wahrheitsbeteuerungen und die Realismusprogrammatiken, wie w i r sie aus dem Roman des 18. Jahrhunderts kennen, 1 1 wenn es beispielsweise i m Vorwort zu Robinson Crusoe heißt: »The Editor believes the thing to be a just History of Fact; neither is there any Appearance of Fiction in i t . « 1 2 Somit ereignet sich in der politischen Theorie des frühen 16. Jahrhunderts ähnliches wie i m englischen Roman des frühen 18. Jahrhunderts: ein gesteigertes Fiktionsbewußtsein, ein dezidierter Realismus, eine betont einfache und direkte Sprache, und schließlich die Neigung zur praxisorientierten Instruktion: bei Defoe die »Instruction of others« 13 in religiösen Dingen, bei Machiavelli die politische Instruierung der Fürsten.

9 Cf. Franz Link, »Denkversuche: Montaigne und Pascal, Emerson und Nietzsche, Postmoderne: Hommage ä Max Müller«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 35 (1994), 342-386, hier 348: »Immer wieder betont Montaigne, sich in seinen Essays vor allem mit sich selbst zu beschäftigen, weil er sich wohl am besten kennen sollte. [ . . . ] Doch zu was er durch die Beobachtungen seiner selbst gelangt, sind immer nur Meinungen [ . . . ] . Für diese gilt zum einen, daß sie sich stets ändern, da er sich selbst ändert, zum anderen, daß andere andere Meinungen von dem gleichen Sachverhalt haben können.« 10 Niccolö Machiavelli, Der Fürst, 17-18. Im folgenden in Klammern im Text zitiert. 11 Zur Realismusprogrammatik des frühen englischen Romans cf. Lothar Fietz, »Fiktionsbewußtsein und Romanstruktur in der Geschichte des englischen und amerikanischen Romans,« in: Helmut Kreuzer (Hg.), Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte, Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaftliche Studien (Stuttgart 1969), 113-127. 12 Daniel Defoe, Robinson Crusoe, Preface (New York & London 1975). 13 Ibid.

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Machiavellis Schrift ist Lorenzo di Piero de Medici gewidmet, und er intendiert damit von vornherein einen konkreten Nutzen: die Nützlichkeit seiner Schrift für einen real-existierenden Adressaten von Macht, einem Vertreter der Medicis, aber auch der Nutzen von Machiavellis Schrift für seine eigene politische Laufbahn. So betont Machiavelli wiederholt die praktische Nützlichkeit seiner Betrachtungen: »meine Absicht ist, für den, der es versteht, etwas N ü t z liches zu schreiben.« (78) Politische Theorie zielt somit auf die politische Praxis ab, und es ist auch dieser Umstand, der ein neuartiges Wirklichkeitsverständnis voraussetzt: die empirisch begründete Deskription der Politik, wie sie sich tatsächlich ereignet, die res gestae, und nicht mehr die normative Präskription dessen, was sein soll, die res gerendae. 14 Machiavelli denkt diesen Gegensatz überwiegend i n Wahrheits- und Fiktionskategorien: »Ubergehe ich also alles, was man den Fürsten angedichtet hat, und bleibe bei der Wahrheit« (78). Er sieht sich der unbefangenen Beschreibung empirisch beobachtbarer Wahrheit verpflichtet, »die Wahrheit nachzuprüfen, wie sie wirklich ist«, statt »Hirngespinsten [ . . . ] zu folgen« (78). M i t Hirngespinsten meint Machiavelli die Soll-Vorstellungen der traditionellen politischen Philosophie, 15 deren ideale Wirklichkeitsentwürfe vom guten politischen Leben und Zusammenleben den entscheidenden Nachteil haben, daß sie der Realität nicht entsprechen: Viele haben sich Fürstentümer und Republiken ausgedacht, die niemals gesehen worden, noch als wirklich bekannt gewesen sind. Denn die Art, wie man lebt, ist so verschieden von der Art, wie man leben sollte, daß, wer sich nach dieser richtet statt nach jener, sich eher ins Verderben stürzt, als für seine Erhaltung sorgt. (78) Die Soll-Vorstellungen der politischen Philosophie werden als der Wirklichkeit »angedichtete« (78) Konstrukte und damit als unrealistische Fiktionen zurückgewiesen, die nicht nur i m Kontext politischer Erkenntnis problematisch sind, sondern überdies i n der politischen Praxis zu Fehleinschätzungen oder gar zum Sturz von Regierungen geführt haben. Bis zu diesem Punkt weist Machiavellis Argumentation den typischen Dreischritt aufklärerischen Denkens auf: (1) Fiktionsbewußtsein, (2) Fiktionskritik und (3) die Wahrheit als Maßgabe der K r i t i k sowie als Gegenentwurf zur Fikt i o n . 1 6 Das Wahrheitskonzept Machiavellis ist jedoch von besonderer Art. Es handelt sich u m einen empirischen Wahrheitsbegriff, den Machiavelli aus seiner 14

Cf. Klaus von Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart , 16. Cf. Thomas von Aquin, Ausgewählte Schriften zur Staats- und Wirtschaftslehre, Friedrich Schreyvogl (Jena 1923), 83. »So ist das Leben nach der Tugend das Endziel menschlicher Gemeinschaft. Ein Zeichen dafür ist es, daß nur diejenigen Glieder einer in Gemeinschaft verbundenen Gesellschaft sind, die einander wechselseitig zu dem guten Leben die Hilfe der Gemeinschaft leisten.« 16 Cf. J. Zelter, Sinnhafte Fiktion und Wahrheit, 22-27. 15

hg.

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»lange[n] Erfahrung« mit der aktuellen politischen »Gegenwart« (17) herleitet. Andererseits hat dieser Wahrheitsbegriff nicht dieselbe Reichweite und Wertigkeit wie etwa bei Francis Bacon (1561-1626), dem Begründer des modernen Empirismus, für den Wahrheit eine absolute und ewig gültige Offenbarung göttlicher Natur ist, die objektiv und damit unabhängig vom Menschen und seinen Interessenlagen besteht: [...] truth, which only doth judge itself, teacheth that the inquiry of truth, which is the love-making or wooing of it; the knowledge of truth, which is the presense of it, and the belief of truth, which is the enjoying of it, is the sovereign good of human nature. 17 Demgegenüber ist die Idee der Wahrheit bei Machiavelli weder ein Programm noch ein heiliger Selbstzweck, sondern nur M i t t e l politischer Zwecke und Interessenlagen. Die Wahrheit ist kein Göttliches, noch ist das Göttliche eine unantastbare Wahrheit - beides sind nur Funktionen bzw. Variablen politischer Herrschaft. Es handelt sich u m einen Wahrheitsbegriff ohne jeden Verweis auf Absolutes oder Göttliches, auch bar »jeglicher Idealität und jeglichen Utopismus« 1 8 auf innerweltlicher Ebene, eine höchst variable Wahrheitsauffassung, die keine andere Konstante gelten läßt jenseits der alles dominierenden Frage, mit welchen Mitteln sich politische Herrschaft erhalten läßt. I n diesem Zusammenhang gewinnen zwei Begriffe die Oberhand, das Notwendige und das Nützliche. Alles hat sich dem jeweils Notwendigen und Nützlichen für die Erhaltung politischer Herrschaft unterzuordnen, auch die Wahrheit, die dem geopfert werden kann, oder besser noch: die sich instrumentalisieren läßt, u m ihrem Gegenteil, dem Schein und dem Fiktiven, Geltung zu verleihen. Die Wahrheit wandelt sich somit zu einem variablen und instrumentellen Als-Ob. I n diesem Sinne bemerkt Machiavelli zu den Tugenden: Es ist für einen Fürsten kaum möglich, alle denkbaren menschlichen und religiösen Tugenden in einer Person zu vereinen, noch ist dies notwendig, denn ihr äußerer Schein genügt: Ein Fürst braucht also nicht alle oben genannten Tugenden zu besitzen, muß aber im Rufe davon stehen. Ja, ich wage zu sagen, daß es sehr schädlich ist, sie zu besitzen und sie stets zu beachten; aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig und ehrlich zu scheinen ist nützlich. (88)

17 Francis Bacon, »Of Truth«, The Works of Francis Bacon, hg. James Spedding et al. (London 1857-1874), Bd. 6, 378. Cf. auch J. Zelter, Sinnhafte Fiktion und Wahrheit, 4855. 18 Lothar Fietz, »>Thou, Nature, art my goddessc Der Aufklärer als Bösewicht im Drama der Shakespeare-Zeit«, in: Jochen Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart (Darmstadt 1989), 184-205; 192.

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Der Wert der Wahrheit bemißt sich über ihre Nützlichkeit. Das Nützliche ist eine pragmatische und zugleich inszenierte Form vorgeblicher Wahrheit, jedoch nicht umgekehrt: die Wahrheit per se ist nicht immer nützlich, sondern oft sogar schädlich. Der Fürst muß diese Einsicht unter allen Umständen verschleiern: Freilich ist es nötig , daß man dies [ . . . ] geschickt zu verhehlen versteht und in der Verstellung und Falschheit ein Meister ist. Denn die Menschen sind so einfältig und gehorchen so sehr dem Eindruck des Augenblicks, daß der, welcher sie hintergeht, stets solche findet, die sich betrügen lassen. (87) Die Bereitschaft des Fürsten, ihm nützliche Wahrheiten zu fingieren, stößt somit auf die reziproke Bereitschaft der Menschen, dem äußeren Schein zu glauben, wobei diese Fiktionsgläubigkeit gerade der Wahrheitsgläubigkeit der Menschen entspringt. Das eine bedingt das andere. Das Fiktionsbewußtsein und die Fiktionsfähigkeit des Fürsten ermöglicht die Steuerung gesellschaftspolitischer Wirklichkeit, so wie der unkritische Glaube an vorgebliche Wahrheiten die Herrschaftsfiktionen des Fürsten erst ermöglicht: »Jeder sieht, was du scheinst, wenige fühlen, was du bist. [ . . . ] Denn der Pöbel hält es stets mit dem Schein [ . . . ] ; und die Welt ist voller Pöbel« (88-89). Machiavelli nennt folgende Eigenschaften, die für das öffentliche Ansehen des Fürsten zentral sind und die, wenn er sie nicht besitzt, er notfalls vortäuschen soll: »Mitleid, Treue, Menschlichkeit, Redlichkeit und Frömmigkeit.« U n d er fügt hinzu: »nichts ist nötiger als der Schein dieser letzten Tugend« (88). Damit geht Machiavelli weit über seine Zeit hinaus, unterläuft er doch das mittelalterlich-christliche Apriori der Religion als absoluter, unantastbarer und unüberbietbarer Wahrheit: »Gott ist es, der gesagt hat: >Ich bin die Wahrheit< (Jo 14, 6)«, 1 9 schreibt Augustinus i m 14. Buch seines De civitate Dei. Der Fall der Engel und des Menschen ist in erster Linie ein Abfallen von der göttlichen Wahrheit und damit von aller Wahrheit. Der Teufel, der der göttlichen »Wahrheit nicht standhielt«, ist daher nicht nur der Inbegriff der Sünde, sondern der Lüge als der ersten und größten Sünde. Der Teufel ist der »Vater der Sünde«. Er ist es, »der als erster gelogen hat, und die Sünde hat bei dem begonnen, bei dem die Lüge zu sein begann.« 20 Das subversive Potential von Machiavellis Politik des A l s - O b w i r d vor diesem Hintergrund noch deutlicher, zumal sich das A l s - O b nicht irgendwelcher Wahrheiten bemächtigt, sondern gerade der Religion als oberster Wahrheit, die Machiavelli als die wirksamste Herrschaftsfiktion begreift - nach Augustinus ein teuflischer Gedanke.

19

Aurelius Augustinus, De civitate Dei, Vierzehntes Buch, übers. Carl Johann Perl (Salzburg 1952), Bd. 2: 334. Ibid.

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Es ist genau dieser Umstand, der erklärt, warum Machiavelli von seiner Zeit überwiegend als Inbegriff des Bösen und Gottlosen verteufelt wurde, so etwa durch Innocent Gentillets Anti- Machiavel (1576). Gentillet empört sich in seiner Schrift gegen Machiavelli am meisten über die oben zitierten Passagen von Ii Principe, w o die religiösen Tugenden als nützliche Scheintugenden gedacht werden, für Gentillet »maximes detestables.« 21 Ceste maxime est un precepte, par lequel cest atheiste Machiavel enseigne au prince d'estre un contempteur de Dieu et de religion, et de faire seulement la mine, et beau semblant extérieurement devant le monde, pour estre estimé religieux et devot, bien qu'il ne le soit pas. Car de punition divine d'une telle hypocrisie et dissimulation, Machiavel n'en craint point, parce qu'il ne croit pas qu'il y ait un Dieu. 22 U n d er wirft an anderer Stelle die Frage auf: »La religion ne doit elle servir que pour se rendre agreable au peuple? N e doit elle pas plustost servir pour se rendre agreable à Dieu?« 2 3 Die Frage trifft den entscheidenden Punkt von Machiavellis Als-Ob-Denken. Religion und Wahrheit sind für ihn nicht mehr göttliche und übermenschliche Absoluta, denen sich der Mensch und seine Welt zu beugen haben, sondern variable Funktionen menschlicher Interessen- und Problemlagen. Der Kulminationspunkt von Gentillets Anti- Machiavel ist der Vorwurf des Atheismus. N i c h t nur Machiavelli, sondern auch seine Anhänger geraten zu einem Synonym für den Atheismus: »Machiavel [et] les machiavelistes (cest . . . dire les atheistes de nostre temps).« 24 Derselbe Vorwurf findet sich bereits vor Gentillet i n England, wenn Roger Ascham i m Jahr 1570 Machiavelli als Begründer des Atheismus bezeichnet. 25 Es ist bedeutsam, daß der Begriff Atheismus in der englischen und französischen Sprache erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts existiert. Das Dictionaire Historique de la Langue Française findet i m Französischen i m Jahr 1547 erstmals Belege für den Atheismusbegriff; das OED kann den Begriff für die englische Sprache erst seit dem Jahr 1568 belegen. Die Diskreditierung Machiavellis erfolgt daher mittels eines Schlüsselbegriffs, der in seinen Schriften selbst nicht auftaucht, der zu Machiavellis Lebenszeit nicht einmal existierte. Was Machiavelli nicht auf den Begriff brachte, gelangte durch seine Gegner zum Inbegriff eines Gedankens, den man seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts beim Namen nennen bzw. einem Namen

21

Innocent Gentillet, Anti- Machiavel, hg. Edward Rathé (Genève 1968), 163. Ibid., 190. 23 Ibid. y 201. 24 Ibid. 25 Cf. Roger Ascham, The Scholemaster, in: The Whole Works of Roger Ascham, hg. D. Giles (London 1864/65; rpt. New York 1965), Bd. 3,162. 22

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zuschreiben konnte: Machiavelli, Machiavellismus, Atheismus. Der Name Machiavelli ermöglichte die wachsende Artikulation und Verbreitung eines Begriffes, den man ungestraft aussprechen durfte, da man ihn voller Entrüstung von sich weisen und Reizfiguren wie Machiavelli zuschreiben konnte: Machiavel dit, ist deshalb der immer wiederkehrende Zusatz in Gentillets AntiMachiavel. I m Namen Machiavellis w i r d in Gentillets Schrift ausgesprochen, was i m Namen der Orthodoxie sogleich zurückgewiesen und zugleich einer großen Leserschaft übermittelt wird. Manfred Pfister beschreibt diesen performativen Widerspruch i m Diskurs der Renaissance folgendermaßen: »it was the apologists of orthodox religion who, in attacking and refuting atheism, [ . . . ] contributed to its wider circulation.« 2 6 Es gilt in diesem Zusammenhang festzuhalten, daß Machiavelli den Begriff Atheismus nicht nur nicht gebraucht, sondern auch nirgendwo die Frage nach der Existenz Gottes aufwirft. Theologische Fragen weichen bei ihm von vornherein der rein innerweltlich-politischen Frage nach der Funktion von Religion bei der Erlangung und Erhaltung von Herrschaft. Der Atheismus-Vorwurf kann sich deshalb nicht auf irgendwelche explizite Gottes-Äußerungen Machiavellis beziehen, sondern letztendlich auf das Denken religiöser Fragen in Als-Ob-Kategorien. Dabei überschreitet er in doppelter Hinsicht das gängige Paradigma theologischen Denkens. Die Politik des A l s - O b geht sowohl über den Wahrheitsbegriff der christlichen Orthodoxie als auch über die Wahrheitsfragen des Atheismus hinaus, der wie das Christentum die Wahrheit bemüht, wenn es darum geht, die Unwahrheit und illusionäre Beschaffenheit von Religion zu beanstanden. Beides impliziert noch das Festhalten an ontologischen Wahrheitsvorstellungen. Machiavelli interessiert sich weder für die Wahrheit noch für die Unwahrheit von Religion, sondern für deren innerweltliche Funktionen i m politischen Kontext. Damit argumentiert er bereits von einer Warte nach dem Atheismus, derart wie John Stuart Mills Essay Utility of Religion, 27 w o die Unwahrheit der Religion schon längst beschlossen und gesetzt ist und es nur noch u m die Frage geht, inwiefern sie einen sinnstiftenden Beitrag zur Legitimation und zum sozialen Frieden moderner Industriegesellschaften leisten kann. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß M i l l die Religion als sinnhaftes A l s - O b auf die Erhaltung ganzer Gesellschaftssysteme verpflichtet, während es in Machiavellis Ii Principe u m die Selbstbehauptung einzelner Fürsten geht.

26

Manfred Pfister, »Elizabethan Atheism: Discourse without Subject,« Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West: fahrbuch (1991), 59-81; 69. 27 John Stuart Mill, Utility of Religion, in: Collected Works ofJohn Stuart Mill, hg. J.M. Robson (Toronto und London 1963), Bd. 10, 403-428. Cf. auch William James, The Varieties of Religious Experience (New York 1902).

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I n den Discorsi (1512-17) erweitert Machiavelli noch die Perspektive. Er versteht die Politik bzw. Religion des A l s - O b 2 8 dort nicht mehr nur als Herrschaftsstrategie einzelner Fürsten, sondern als universale Gesetzmäßigkeit jeder Gesellschaft und Herrschaft. Die Bildung und Legitimation aller Herrschaft bedarf der Religion, u m sich mythologisch abzusichern. Die Religion, so Machiavelli, ist »die unentbehrlichste Stütze der Zivilisation.« 2 9 Die Frage nach der Wahrheit ist dabei obsolet, genauso wie die Frage, ob eine Gesellschaft nun durch den Verweis auf die christliche oder irgendeine andere Religion zusammengehalten wird. Die Religionen sind austauschbar, zumindest was deren gesellschaftliche Herrschaftsfunktion angeht. Es handelt sich zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften u m funktionsäquivalente Erscheinungen der mythologischen Absicherung innerweltlicher Herrschaftsansprüche: Es gab tatsächlich noch nie einen außergewöhnlichen Gesetzgeber, der sich nicht auf Gott berufen hätte, weil seine Gesetze sonst nicht angenommen wären. 30 Die Staatsoberhäupter »müssen alles, was für die Religion spricht, unterstützen und fördern, auch wenn sie es für falsch halten.« Dazu gehört auch »der Glaube an Wunder, die i n allen religiösen Bekenntnissen gefeiert werden, auch wenn sie erdichtet sind.« 3 1 Das Argument ist das gleiche wie i n Mills The Utility of Religion: die Religion ist eine sinnhafte Fiktion, die geeignet ist, ein Gemeinwesen »gut und einträchtig zu erhalten.« 32 Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß Machiavelli über M i l l hinausgeht. I m Unterschied zu M i l l ist bei Machiavelli nicht nur von bestimmten Gesellschaften die Rede. Er weitet vielmehr die Idee der Religion als unabdingbare Herrschaftsfiktion auf die menschliche Sozietät ganz allgemein aus. Die Worte nie und alle unterstreichen die allumfassende Reichweite von Machiavellis Überlegungen zur Religion, die er nicht nur empirisch begründet, sondern i m Sinne naturgesetzlichnomologischer All-Sätze vorbringt. Machiavellis Überlegungen zur Herrschaftsfunktion von Religion sind i m Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit nicht nur von größter weltanschaulicher Relevanz und Brisanz, sondern finden sich auch in der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit der Renaissance-Zeit umgesetzt, besonders i m Kontext der kolonialen Eroberungen des 16. Jahrhunderts. Sie eröffneten ein Experimentierfeld, in dem eine Vielzahl von Hypothesen des Renaissance-Denkens praktisch an28 Auch Vaihinger gebraucht den Begriff »die Religion des Als Ob«. Cf. Die Philosophie des Als Ob, xxxi. 29 Niccolö Machiavelli, Discorsi: Gedanken über Politik und Staatsführung, übers. Rudolf Zorn (Stuttgart 21977), 43. 30 Ibid., 44-45. Hervorhebung durch J. Z. 31 Ibid., 47-48. 32 Ibid., 47.

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gewendet und getestet wurden, so auch die Politik und Religion des Als-Ob. Nach Stephen Greenblatt war der Kolonialismus nicht nur ein technisches, sondern auch ein sozial- und kulturtechnisches Abenteuer, das in der Neuen Welt noch nie dagewesene Freiräume vorfand, bei der Okkupation fremder Kulturen die latenten und subversiven Zweifel an den ideologischen Zentren der eigenen Kultur unbestraft nach außen zu projizieren und auszuprobieren: virtually testing the Machiavellian hypotheses [ . . . ] of religion as a set of beliefs manipulated by the subtlety of the priests to help ensure social order and cohesion.33 Und: The testing upon the bodies and the minds of non-Europeans [ . . . ] the most radically subversive hypothesis [ . . . ] about the origin of religion [ . . . ] [as] a cunning imposition of socially coercive doctrines by an educated and sophisticated lawgiver upon a simple people.34 Einer der frühesten und einflußreichsten Darstellungen der Kolonialisierung Amerikas ist Peter Martyrs umfangreiche Chronik De Orbe Novo (15161525). Martyr, der nicht nur zur Zeit Machiavellis lebte und wirkte, sondern auch wie Machiavelli aus Italien stammte, folgte zu Beginn des 16. Jahrhunderts den spanischen Konquistadoren nach Amerika, u m vor O r t die Entdeckung der Neuen Welt zu protokollieren, wohlwissend daß es sich u m Ereignisse von größter historischer Tragweite handelte, die er festhalten wollte. I m siebten Buch (der siebten Dekade) berichtet Martyr von einer Inselgruppe i n der Karibik, den Lukayischen Inseln, die einst bewohnt waren, doch mittlerweile verödet und verlassen sind, da deren Bewohner von den Spaniern als Sklavenarbeiter i n die Goldminen auf dem Festland deportiert wurden: »Ich werde nun über die [ . . . ] Ausrottung seiner Bewohner sprechen.« 35 U n d er fügt hinzu: »Nur mit Kummer kann ich davon berichten, aber ich muß die Wahrheit sagen« (180). Das hier herausgestellte Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsgebot des Berichtenden stellt bereits i n Rechnung, daß sein Bericht bei Lesern in Europa auf Unglauben und Entsetzen stoßen könnte, daß die Vorgänge in der Neuen Welt auch gravierende Folgen für das Selbstverständnis der alten Welt haben könnten. Die Wahrheitsbeteuerung Martyrs bezieht sich nicht nur auf die Tatsache, daß die Inselbewohner deportiert und versklavt wurden, sondern daß sie i n Wahrheit durch »List und Tücke« (181), durch Lügen und Tricks von den Spa33 Stephen Greenblatt, »Invisible Bullets: Renaissance Authority and its Subversion, Henry IV and Henry V«, in: Jonathan Dollimore und Alan Sinfield (Hg.), Political Shakespeare: New Essays in Cultural Materialism (Ithaca und London 1985; 31988), 18-47; 21. 34 Ibid., 22-23. 35 Peter Martyr von Anghiera, Acht Dekaden über die neue Welt, übersetzt, eingeführt und mit Anmerkungen versehen von Hans Klingelhöfer (Darmstadt 1973), Bd. 2, 178. Im folgenden in Klammern im Text zitiert.

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niern auf ihre Schiffe gelockt wurden. Dabei handelte es sich nicht u m irgendwelche, sondern u m religiöse Lügen. Martyr beschreibt zunächst die Topographie der Inseln, sodann deren gesellschaftspolitische Organisation und schließlich die religiösen Riten und Glaubensüberzeugungen der Inselbewohner. Er weist diese religiösen Uberzeugungen von vornherein als »Hokus-Pokus« (195) und bizarre »Fabeln« (186) zurück und vergleicht den »einfältigen Glauben dieser Menschen« (195) mit den religiösen Mythen der »erfindungsreichen Griechen«, die »naiv wie Kinder [ . . . ] von Nereiden und Meeresgöttern [ . . . ] fabulierten« (189). Der Verweis auf das Griechentum unterstreicht die christlich-orthodoxe Perspektive Martyrs, die gleichermaßen auf einer Raum- und Zeitachse zum Ansatz kommt, wenn er den unchristlichen Raum der Neuen Welt mit der vorchristlichen Zeit der Griechen i n Beziehung setzt und beides ins Reich der Fabel verweist. Wie bei den Griechen, so ist auch die Religion der Inselbewohner eine Lüge. D o c h es handelt sich u m eine Lüge i m Sinne der Selbstlüge oder - modern gewendet - der Lebenslüge, die nicht andere betrügt, sondern vielmehr dazu geeignet ist, durch die Lügen anderer betrogen und manipuliert zu werden: einmal durch »die Machenschaften« (189) von Priestern und Medizinmännern, die »das beschränkte Volk« durch »Manöver dumm [ . . . ] machen« (188), sodann durch die List und Tücke der spanischen Konquistadoren, die die religiösen Praktiken des Volkes sowie seiner Priester als Ganzes manipulierten. Somit durchzieht Martyrs Bericht eine bedeutsame Unterscheidung, die auf Vaihingers Abgrenzung der bewußten von der unbewußten Fiktion hinausläuft; einerseits die bewußt gehandhabten Herrschaftsfiktionen der Spanier, andererseits die naiven Lebenslügen der Einheimischen, die an ihre religiösen Uberlieferungen glauben, als ob diese heilige Wahrheiten wären: [Ihr] Glaube wird als heilige und unanfechtbare Uberlieferung von den Ahnen auf die folgende Generation mündlich weitergegeben. Jeder, der nur den Anschein erweckt, anders zu denken, würde von der Gemeinschaft der Mitmenschen ausgeschlossen. (189) Damit beschreibt Martyr, i m Kontext einer fremden Kultur, eine Situation, die auch für seine eigene Religion, das Christentum, charakteristisch ist: der Glaube an die unumstößliche Wahrheit einer Religion, und die Bestrafung all jener, die diese Wahrheit bezweifeln. D o c h es ist genau dieser Umstand, der den Inselbewohnern zum Verhängnis wurde. Bestraft wurden gerade diejenigen Bewohner, die an die Wahrheit ihrer Religion glaubten, als spanische Schiffe auf den Inseln landeten, u m dort Sklavenarbeiter für ihre Goldminen zu finden. Dabei wendeten die Kolonialisten keine Gewalt an, sondern nutzten vielmehr ihr Wissen über die Religion der Inselbewohner, ein hoch analytisches Wissen, das mit sicherem Blick den zentralen Mythos der Bewohner fixierte: ihr Glaube, daß sie eines Tages mit den

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Seelen ihrer Ahnen auf einer anderen Insel vereint würden. Die Kolonialisten überzeugten die Bewohner davon, Abgesandte dieser Insel zu sein und sie dorthin zu bringen, woraufhin das Inselvolk die Spanier i m wahrsten Sinne vergötterte, «wie wenn sie verehrungswürdige Gottheiten wären« (181). Das WieWenn ist Ausdruck eines gravierenden Als-Ob-Vorgangs, weit mehr als nur eine religiöse Attitüde, wie von Machiavelli den Fürsten empfohlen. Es handelt sich vielmehr u m die planmäßige und großangelegte Bemächtigung fremder Kulturen und religiöser Wahrheiten, in die man sich i n kürzester Zeit hineindenkt, mehr noch: Man gibt sich als höchster Repräsentant dieser Religion und inszeniert sich i n der Rolle gottgleicher Wesen, als sei man nicht nur ein Teil dieser Religion, sondern ihr göttlicher Teil, eine Gottheit. Der Vorgang erinnert an die Fabula de homine (1518) des spanischen Humanisten Juan Luis Vives, der in seiner Fabel den neuen Renaissance-Menschen als geborenen Schauspieler charakterisiert, der i n die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen kann, selbst in die Rolle von Göttern, und dabei eine derartige Perfektion des Spiels zeigt, daß die Götter selbst nicht mehr zwischen Spiel und Wirklichkeit unterscheiden können. 3 6 Der fröhliche Ton dieses Spiels wandelt sich in Martyrs Bericht zu einem todernsten Rollenspiel, in welchem die zentralen Wahrheiten einer fremden Kultur als manipulierbare Herrschaftsfiktionen gedeutet und gehandhabt werden, und dies zum Zwecke der Deportation ganzer Völker - mit katastrophalen Folgen für die gutgläubigen Opfer dieser Fiktionen. Sie bestiegen bereitwillig die spanischen Schiffe und starben in den Goldminen auf dem Festland, weniger infolge physischer Ausbeutung, sondern durch die Zerstörung ihrer religiösen Uberzeugungen und Heilserwartungen. Viele begingen Selbstmord, »machten ihrem verhaßten Leben selbst ein Ende« (174). Martyr berichtet diese Vorgänge, verständlicherweise, »voller Empörung« und er rechnet mit der »Bestrafung« der Kolonialisten durch »das göttliche Walten« (195) des christlichen Gottes. D o c h gerade dieser Verweis stellt eine brisante Verknüpfung her, die in dem gesamten Bericht latent angelegt ist. Wenn die religiösen Wahrheiten fremder Kulturen als leicht zu manipulierende Fiktionen handhabbar sind, so provoziert dies auch Rückschlüsse auf das Zen36

Cf. Juan Luis Vives, Eine Fabel vom Menschen , übers. Jürgen v. Stackelberg, in: Jürgen v. Stackelberg (Hg.), Humanistische Geisteswelt (Baden-Baden 1956), 249-258. Cf. auch Sebastian Neumeister, »Noch einmal zur Fabula de homine«, in: Christoph Strosetzki (Hg.), Juan Luis Vives: Sein Werk und seine Bedeutung für Spanien und Deutschland (Frankfurt 1995), 179-186, hier 181. »Vives [läßt] den >Erzschauspieler< Mensch alle Stufen der Schöpfungshierarchie durchlaufen und nacheinander die Pflanzen, die Tiere, den Menschen, die Götter und Jupiter selbst darstellen [ . . . ] . Diese letzte Position erhebt den Menschen dann über die Götter. Denn der Mensch hat bei Vives die Fähigkeit, Jupiter so täuschend echt wiederzugeben, daß die Götter verwirrt zwischen dem als Jupiter auftretenden Menschen und Jupiter selbst hin- und herschauen und einige Schauspieler gar meinen, der Jupiter spielende Mensch sei Jupiter selbst«.

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trum der eigenen Kultur, das Christentum, das möglicherweise auch nur eine manipulierbare Fiktion ist - eben dies geschieht i n Marlowes The Jew of Malta. Greenblatt sieht in Martyrs Bericht zu Recht einen Modellfall bzw. ein M o dellexperiment der Renaissance als Zeit des self-fashioning sowie der Improvisation eigener und fremder Rollen und Wahrheiten: »the subversive perception of another's truth as an ideological construct«; »the transformation of another's reality into a manipulable fiction.« 3 7 Was Machiavelli nur als theoretisch denkbare Handlungsmöglichkeit darlegte, erscheint bei Martyr bereits als empirisch verbürgter Bericht realpolitischer Vorgänge, die sich i m großen Maßstab in der Neuen Welt abspielten und die mit der Veröffentlichung von De Orbe Novo einem großen Publikum übermittelt wurden. De Orbe Novo erfuhr eine Reihe von Neuauflagen, wurde 1555 von Richard Eden ins Englische übersetzt und besonders i n England mit großem Interesse aufgenommen, auch i m Hinblick auf eigene koloniale Ambitionen und Unternehmungen. Eden veröffentlichte seine Ubersetzung von De Orbe Novo zusammen mit anderen, überwiegend ausländischen Schriften über die Kolonialisierung der Neuen Welt, und er präsentierte diese Textsammlung unter dem Titel The First Three English Books on America? 8 Der Titel ist bezeichnend. Die in lateinischer Sprache verfaßte Chronik eines Italieners über die spanische Eroberung Amerikas, w i r d hier kurzerhand als englisches Buch hingestellt, gar als eines der First English Books on America ausgegeben. Es w i r d deutlich, daß De Orbe Novo in England nicht nur eifrig rezipiert, sondern sogleich als wegweisendes Paradigma des Kolonialismus dem eigenen nationalen Kontext einverleibt wurde. Bereits das Vorwort Edens zu seiner Übersetzung von Martyrs Bericht zeigt an, mit welch enthusiastischem Interesse die Kolonialisierung der Neuen Welt in England verfolgt wurde. Das Vorwort umfaßt nahezu dreißig Seiten (in Martyrs Original sind es nur drei). Darin zelebriert Eden die Entdeckung Amerikas als Schlüsselerfahrung einer gänzlich neuen Zeit, in welcher die Menschheit erstmals über die althergebrachten Horizonte der mittelalterlichen oder antiken Welt hinausgeht und nach neuen Welten greift, denen man den Stempel eigener Wirklichkeitsentwürfe aufdrückt. So wie die alte Welt in der Tradition antiker Vorgaben und Vorbilder stand, so folgt nun die Neue Welt den Entwürfen einer neuen Zeit: »the moderns have supplanted the ancients and established their o w n time.« 3 9 37 Stephen Greenblatt, Renaissance Self-fashioning from More to Shakespeare (Chicago 1980), 228-29. 38 The First Three English Books on America (1511-1555): Being chiefly Translations , Compilations , etc., by Richard Eden from the Writings, Mops, etc. of Pietro Martire, Sebastian Munster, Sebastian Cabot: With Extracts etc. from the Works of other Spanish, Italian, and German Writers of the Time , hg. Edward Arber (Birmingham 1885). 39 Cf. Andrew Hadfield, »Peter Martyr, Richard Eden and the New World: Reading, Experience and Translation«, Connotations , 5 (1995/96), 1-22; 14.

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Edens bombastische Übertragung von De Orbe Novo ins Englische ist bedeutsam, erhebt sie doch (trotz der Konflikte zwischen England und Spanien i m 16. Jahrhundert) die spanische Eroberung Amerikas zu einem gleichermaßen epochalen und beispielhaften Vorgang, dem England nacheifern soll. Die Handlungen der spanischen Konquistadoren werden somit von vornherein als nachahmenswerte Verhaltensmodelle, »role models«, 4 0 präsentiert, und damit auch, selbst wenn nur indirekt, so doch potentiell, die oben diskutierten Fiktionen und Tricks der Kolonialisten bei der Versklavung ganzer Völker. Für die Politik und Religion des A l s - O b bedeutet dies: Was mit Bezug auf die politischen Handlungsanweisungen Machiavellis noch durchgehend verteufelt wurde, erscheint hier bereits als empirisch bezeugte und bewährte Handlungsmöglichkeit, die unter positiven Vorzeichen steht. Es ist i n dem oben zitierten Bericht Peter Martyrs {De Orbe Novo) deutlich geworden, wie die spanischen Kolonialisten die Religion einer anderen Kultur i n ein doppeltes A l s - O b transformierten. Sie behandelten die religiösen Wahrheiten der Inselbewohner von vornherein als Fiktion. Doch sie setzten dem nun nicht missionarisch die Wahrheit des Christentums entgegen. Statt die Einheimischen zur eigenen christlichen Religion zu konvertieren, formten sie die andere Religion für ihre Zwecke um. Sie dachten sich in die Struktur einer ihnen fremden Religion ein und schöpften daraus das Material zur kulturimmanenten Umbildung fremder Wahrheiten in bewußt fiktive Vorstellungsgebilde eigener Machart, deren Suggestivkraft die Beherrschung der Insel ermöglichte. Christopher Marlowes The Jew of Malta (1589-90), eines der populärsten Stücke der Shakespeare-Zeit, dramatisiert einen analogen Vorgang. A u f den ersten Blick hat Marlowes Tragödie das Judentum zum Gegenstand, das nach Maßgabe christlicher Vorstellungen und Vorurteile abgehandelt w i r d und i n Person des Bösewichts Barabas alle denkbaren antisemitischen Klischees zu erfüllen scheint: der Jude Barabas als Fremder, vaterlandsloser Geselle, Brunnenvergifter und Vergifter eines ganzen Klosters; ein Betrüger, ein Wucherer und der reichste Mann auf Malta. Dabei überwiegt jedoch die Perspektive des jüdischen Außenseiters. U n d diese Perspektive gleicht in einer Hinsicht dem kolonialen Blick in Martyrs Bericht: die kritisch-distanzierte Betrachtung einer anderen Religion durch einen Außenstehenden. Die Brisanz dieses Vorgangs besteht darin, daß dies i n Marlowes Drama unter verkehrten Vorzeichen geschieht. Während bei Martyr eine fremde Religion in der Perspektive der eigenen christlichen Religion zu einem A l s - O b gerät, richtet sich dieser Vorgang nun i n Person des Juden Barabas* gegen das Christentum selbst. Bereits der Titel von Marlowes Drama deutet diese Konstellation an: ein Jude, d. h. der Repräsentant einer fremden Religion an einem christlichen O r t , welcher be40

Ibid. , 15.

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zeichnenderweise eine Insel ist. Dabei gelangt die Hauptfigur zu einer analogen Schlußfolgerung wie die spanischen Kolonialisten. Er sieht das Christentum als manipulierende und manipulierbare Fiktion. Die schaudererregende W i r k macht der Barabas-Figur besteht darin, daß er diese umgekehrte Perspektive für eine begrenzte Zeit verkörpern und i n seinem Intrigenspiel anwenden darf. 4 1 Es ist bezeichnend, daß diese Thematik i m Prolog durch eine Figur namens Machevill vorbereitet wird. Damit stellt Marlowe von vornherein ein fest etabliertes Vorurteilsprogramm des elisabethanischen Publikums i n Rechnung: Machiavelli als Inbegriff des Bösen, der auf die Shakespeare-Zeit »einen unvergleichlichen Horror« und zugleich »eine unvergleichliche Faszination« 42 ausgeübt hat. Das Böse schwingt bereits in der englischen Schreibweise und Phonetik dieses Namens mit: Machevill = make evil, derjenige, der Böses macht, und damit auch das erste Vorbild für die Figur des Bösewichts i m Drama der Shakespeare-Zeit. Die negative Rezeption Machiavellis erfährt somit eine dramatisch wirksame Steigerung i n Person körperlich präsenter Figuren, die auf der Bühne nicht nur i m Namen Machiavellis handeln und sprechen, sondern i n The Jew of Malta gar unter seinem Namen auftreten und das Publikum direkt ansprechen: »I am Machevill«, 4 3 der noch nicht tot ist, sondern über die Alpen und Frankreich kommend nun in England gelandet ist: »is come from France / To view this land« (»Prologue«, 3-4). Der O r t des Prologs ist also England, und nicht Malta, was die Unmittelbarkeit und Bedrohlichkeit der MachiavelliFigur noch steigert. Die Landung des Bösen auf englischem Boden evoziert spezifisch englische Ängste vor Invasion und Besetzung durch ausländische Mächte. Die Machiavelli-Figur gibt sich hier nicht als militärische, sondern als ideologische Macht, »my books«, »my climbing followers« (»Prologue«, 1013), was diese Ängste nicht mildert, sondern eher noch verstärkt, derart, daß nicht nur die Neue Welt, sondern auch die eigene Welt, England, Gegenstand kolonialer Unterwanderungen sein könnte, mit analogen kulturtechnischen (und eben nicht militärischen) Mitteln, wie sie Martyr i n seinem Bericht beschreibt. Marlowe operiert hier mit dem Bild der Vergiftung ganz Englands, das durch Machiavelli und seine sich ständig vermehrenden Anhänger unter-

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Cf. dazu auch: Emily L. Bartels, »Malta, the Jew, and the Fictions of Difference: Colonialist Discourse in Marlowe's The Jew of Malta «, English-Literary-Renaissance, 20 (1990), 1-16. Coburn Freer, »Lies and Lying in The Jew of Malta «, in: Friedenreich Kenneth et. al., (Hg.) >A poet and a filthy play-makerThou, Nature, art my goddessc Der Aufklärer als Bösewicht im Drama der Shakespeare-Zeit«, 193. 43 Christopher Marlowe, The Jew of Malta, »Prologue«, hg. James R. Siemon (London 2 1994). Im folgenden in Klammern im Text zitiert.

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wandet wird: »when they cast me off, / Are poisoned by m y climbing followers« (»Prologue«, 12-13). U n d er fügt hinzu: »Admired am I of those that hate me most« (»Prologue«, 9). Z u dem Inbegriff des allseits verhaßten Bösen kommt also die Gewißheit der Bewunderung: der Bewunderung für die Raffinesse konspirativer und subversiver Techniken der Macht und damit auch die Anerkennung technischer bzw. machttechnischer Überlegenheit, die keine Grenzen kennt und die alles möglich macht, selbst den Sturz des Papstes: »and thereby attain / To Peter's chair« (»Prologue«, 11-12). Die Machiavelli-Figur des Prologs variiert eine Vielzahl fest etablierter Vorurteilsprogramme, welche sich in der elisabethanischen Zeit mit dem Namen Machiavelli verbinden: der Wille zur Macht, »Might first made kings« (»Prologue«, 10); die Bereitschaft zum Mord, »murders« (»Prologue«, 16); die konspirative Unterwanderung Englands. Es ist bedeutsam, daß Marlowe diese weit verbreiteten Vorurteile sogleich auf den Hauptvorwurf gegen Machiavelli zuspitzt, sein angeblicher Atheismus. Der Prolog kulminiert in folgendem Satz: I count religion as a childish toy And hold there is no sin but ignorance. (Prologue, 14-15) Die Religion ist demnach ein kindisches Spielzeug, d. h. eine Sache für kindlich-naive Gemüter, die sich leicht manipulieren lassen. Entgegen des Titels von The Jew of Malta, ist hier nicht mehr nur von einer bestimmten Religion die Rede, sondern von der Religion schlechthin, ob nun heidnisch, jüdisch oder christlich, eine für elisabethanische Ohren ungeheuerliche Behauptung. U n d wenn dem noch hinzugefügt wird, daß es außer der Unwissenheit keine Sünde gibt, so ist darin auch der Umkehrschluß angelegt, daß Wissen Macht ist, besonders das Wissen u m die fiktive Machart von Religion. Es stellt sich die Frage, i n welcher Beziehung der Prolog der Machiavelli-Figur zu dem steht, was in The Jew of Malta folgt. Die Beziehung hat von A n fang an pseudokausalen Charakter, die Übertragung eines Komplexes von Vorurteilen auf einen weiteren Komplex: der angebliche Atheismus Machiavellis als ideologischer Prätext für die Handlungen des jüdischen Bösewichts Barabas. Als Jude ist er nicht nur kein Christ, sondern in den Augen des elisabethanischen Englands von vornherein gleichzusetzen mit Ungläubigen und Atheisten: »Atheists, Epicures, Paynims, Iewes [ . . . ] and other Infidels.« 4 4 Die BarabasFigur löst die anti-semitischen Klischees der elisabethanischen Zeit i n vielerlei Hinsicht ein, dies jedoch überwiegend aus seiner Perspektive, dem Standpunkt des jüdischen Außenseiters. Während Shylock i n Shakespeares The Merchant

44 Cf. Philip Sidney und Arthur Golding, A Woorke concerning the trewnesse of the Christian Religion: Against Atheists, Epicures, Paynims, Iewes, Mahumetists, and other Infidels (1587).

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of Venice (1596-97) nicht mehr als 360 Zeilen spricht und bereits i n dieser H i n sicht eine marginalisierte Figur ist, steht Barabas in The Jew of Malta i m Zentrum aller Aktivitäten. Er ist weniger Objekt als vielmehr handelndes und sprechendes Subjekt der antisemtischen Klischees i n Marlowes Drama. Dies aber führt zu einer Umkehrung der üblichen Blickrichtung: nicht mehr der antisemitische Blick der herrschenden Verhältnisse auf einen jüdischen Außenseiter, sondern der kritische Blick dieses Außenseiters auf das Christentum. Eine solche umgekehrte Blickrichtung impliziert auch die Inversion fest etablierter Glaubensstandpunkte. Die Vorstellung der Abweichung vom rechten Glauben, der Irrlehre, der Häresie, richtet sich in Person von Barabas gegen die Christen, die er als »Heretics« bezeichnet. U n d er fügt hinzu: »all are heredes that are not Jews« (II.3, 313-14). Damit hält er dem Christentum unter verkehrten Vorzeichen genau das vor, was üblicherweise dem Judentum angelastet wird: das Andersartige als Perversion des eigenen Standpunktes, der als einzig wahrer und möglicher Standpunkt gesehen wird. Die antisemitische Thematik i n The Jew of Malta entfaltet sich somit über die Provokation christlicher Verhältnisse durch die anti-christlichen Äußerungen eines jüdischen Außenseiters, der die Hauptfigur in Marlowes Drama ist. U n d der Kulminationspunkt dieser Äußerungen ist eine doppelte Als-Ob-Betrachtung: (1) Er sieht das Christentum als Lug und Trug, als manipulierende Herrschaftsfiktion, und (2) zugleich als manipulierbare Religion. Die anti-christlichen Äußerungen der Barabas-Figur sind zahlreich. Er sieht das Christentum als Religion voller »malice, falsehood, and excessive pride« (1.1, 116); die Bibel als Rechtfertigungsapparat des Unrechts, »scripture to confirm [ . . . ] wrongs« (1.2, 111); sowie als Rechtfertigungsapparat der Ausbeutung und des Diebstahls, »theft the ground of your religión« (1.2, 96); und er bezeichnet die Geistlichen als betrügerische und ausbeuterische Schmarotzer, »religious caterpillars« (IV. 1, 21). Seine K r i t i k des Christentums kreist meist u m die Idee des Betrugs: das Christentum als naiver Selbstbetrug sowie als hinterlistiger Betrug anderer. It's no sin to deceive a Christian; For they themselves hold it a principie. (II.3,311-12)

BARABAS:

Damit gelangt er zur selben Schlußfolgerung wie die spanischen Konquistadoren, von denen Martyr i m siebten Buch von De Orbe Novo berichtet. Da die andere Religion nur aus Lug und Trug besteht, so ist es auch gerechtfertigt, die Anhänger der anderen Religion zu betrügen. Die Motivation für diesen Betrug ergibt sich i n The Jew of Malta durch den Beschluß des Insel-Gouverneurs, den gesamten Besitz von Barabas zu konfiszieren und sein Haus in ein christliches Kloster umzuwandeln. Der öffentliche Status der Hauptfigur ist daher alles andere als der eines Kolonialisten. Barabas 8 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 39. Bd.

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ist vielmehr der Vertreter einer diskriminierten und rechtlosen Minderheit. D o c h gerade dieser Status verbürgt jene kritische Distanz, die notwendig ist, u m sich der Wahrheiten anderer als manipulierbares A l s - O b zu bemächtigen, i m Falle von Barabas mit dem Ziel, seinen Besitz wiederzuerlangen und - dem Muster der Rachetragödie folgend - Rache zu üben. Das raffinierte Intrigenspiel beginnt mit dem Plan des Enteigneten, eine versteckte Schatzkiste aus dem Kloster zu bergen, das früher sein Haus war. Er beauftragt seine Tochter, sie möge sich dort Einlaß verschaffen, indem sie vorgibt, zum christlichen Glauben übertreten zu wollen: [... ] Entreat the abbess to be entertained. as a nun? B A R A B A S : Ay, daughter, for religion Hides many mischiefs from suspicion. (1.2,280-93) BARABAS:

A B I G A I L : HOW,

Wie i m Prolog, so ist hier nicht mehr von einer bestimmten Religion die Rede, sondern von Religion ganz allgemein. Die Religion ist eine geeignete Tarnung und Ermöglichung der Hinterlist, eine Setzung, die für Barabas wie ein Naturgesetz überall und immer gilt. Die Sorge der Tochter, die Äbtissin könnte Verdacht schöpfen, erwidert er mit dem Hinweis, daß man ihr u m so mehr glauben wird, da sie eine heilige Wahrheit vorgibt: »As they may think it done of holiness« (1.2, 285). U n d er gibt seiner Tochter weitere Anweisungen: Entreat 'em fair, and give them friendly speech, And seem to them as if thy sins were great, Till thou hast gotten to be entertained. (1.2,286-88)

Hervorhebung J. Z.

Das A l s - O b ist hier nicht nur ein Modus der Täuschung, sondern es impliziert auch den Verdacht, daß es so etwas wie Sünden oder die Sünde gar nicht gibt. U n d er fügt hinzu: As first mean truth, and then dissemble it; A counterfeit profession Is better than unseen hypocrisy. (1.2,291-93) Die bewußte Täuschung ist besser als die verborgene Heuchelei. Erkenntnistheoretisch gewendet bedeutet dies: Eine bewußt gehandhabte Fiktion ist besser als eine vorgebliche Wahrheit, die ihre fiktive Machart kaschiert oder sich ihrer fiktiven Machart nicht bewußt ist, ein Gedanke, der i m Zentrum von Vaihingen Als-Ob-Philosophie steht. Das erkenntnistheoretische Potential derartiger Äußerungen w i r d leicht übersehen, da Marlowe i n erster Linie ihr dramatisches Potential ausschöpft und auskostet, so auch in dieser Szene. Die Tochter spricht i m Kloster vor, begründet ihren Ubertritt zum christlichen Glauben mit der Behauptung, sie wolle ihre sündhafte Seele retten, für sie eine Fiktion, für das Kloster eine Wahrheit, an der es keinen Zweifel gibt, »no doubt« (1.2, 325).

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Sie w i r d sogleich i n das Kloster aufgenommen, woraufhin sich Barabas mit gespielter und übertriebener Empörung zu Wort meldet und den »Verrat« seiner Tochter beklagt. Die Logik der Hinterlist wandelt sich hier zu der Lust am Spiel, und zwar nicht nur das Spiel mit der christlichen, sondern auch das Spiel mit seiner eigenen jüdischen Religion, das er wie folgt inszeniert: Da ist zunächst das öffentlich-bombastische Sprechen über die Unvereinbarkeit beider Religionen, hier der Segen, »blessing«, des jüdischen Glaubens, dort das teuflische und häretische Christentum, »devils and their damned heresy« (1.2, 34344), und er malt seiner Tochter die schlimmsten Strafen aus, die ihr angeblicher Übertritt zum Christentum herbeiführen wird, »perdition« (1.2, 341), d. h. ewige Verdammnis, eine Strafvorstellung, an die Barabas nicht glaubt. Barabas' anfängliche K r i t i k des Christentums steigert sich hier zu der Äußerung des Prologs, wonach alle Religion, fremde Religionen und die eigene, nur kindisches Spielzeug sind, a childish toy. Genau i n diesem Sinne spielt nun Barabas nicht nur mit der christlichen, sondern mit seiner eigenen Religion. Dramatisch w i r d dieses Spiel durch den ständigen Wechsel von öffentlichem Sprechen und dem heimlichen Beiseitesprechen inszeniert: [Friar], I reck not thy persuasions. (The board is marked thus that covers it.) For I had rather die, than see her thus. Wit thou forsake me too in my distress, Seduced daughter? (Go forget not.) Becomes it Jews to be so credulous? (Tomorrow early I'll be at the door.) No come not at me, if thou wild be damned, Forget me, see me not, and so be gone. (Farewell. Remember tomorrow morning.) Out, out thou wretch. (1.2, 352-62)

BARABAS:

Die in Klammern gesetzten Textstellen werden i n einem aside 45 zur Tochter gesprochen, die übrigen Zeilen richten sich an den Mönch des Klosters. I n elf Zeilen wechselt Barabas acht M a l die Rolle, von der öffentlichen Person des empörten Juden zur privaten und eigentlichen Person des ränkeschmiedenden Bösewichts, und wieder zurück, ein ständiger Wechsel, der sich von Satz zu Satz vollzieht, teilweise sogar mitten i m Satz. Das Beiseitesprechen wiederholt sich immer wieder, wenn Barabas beispielsweise seine Tochter beauftragt, sie möge dem Sohn des Gouverneurs ihre Liebe vortäuschen:

45 Im Unterschied zu der ersten, von T.W. Craik herausgegebenen New Mermaids Edition von The Jew of Malta sind die asides in der völlig überarbeiteten Neuauflage aus dem Jahr 1994 durch Klammern gekennzeichnet.

8*

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Joachim Zelter Use him as if he were a (Philistine. Dissemble, swear, protest, vow to love He is not the seed of Abraham.) (II.3,230-32)

Hervorhebung J. Z.

Die Idee des A l s - O b w i r d hier sogleich in die Performanz der doppelzüngigen Rede und des Doppelspiels überführt. Dieses Doppelspiel setzt die Schauspielerei voraus, mehr noch: Das blitzschnelle Umschalten von einer Rolle zur anderen gehört zur anspruchsvollsten Form der Schauspielerei, die Barabas beherrscht und liebt. I n The Jew of Malta w i r d den Juden allgemein, und Barabas i m besonderen, wiederholt das Angebot gemacht, zum christlichen Glauben überzutreten. Der Antisemitismus in Marlowes Drama ist daher anderer A r t als der des 19. und 20. Jahrhunderts, w o das Judentum biologistisch auf eine irreversible RassenIdentität festgelegt wurde, der man nicht mehr entrinnen konnte, während der Antisemitismus bei Marlowe i n erster Linie religiöser Natur ist und die Bekehrung zuläßt oder geradezu die Bekehrung beabsichtigt. I n Marlowes Drama fällt immer wieder das Verb convert bzw. das Substantiv convertite , und dies auf zwei Bedeutungsebenen. Da ist zunächst die Idee der Konvertierung A n dersgläubiger zum eigenen Glauben, wobei dieser Bekehrungsdrang immer vom Christentum ausgeht und der jüdischen Minderheit angetragen wird. I m Unterschied zu Shylock in Shakespeares The Merchant of Venice verweigert Barabas diese Bekehrungsversuche: »I w i l l be no convertite« (1.2, 83). Doch die Idee des Konvertierens bezieht sich in The Jew of Malta nicht nur auf Menschen, sondern erfaßt zunehmend auch überindividuelle Entitäten, nicht weniger als die Konvertierung ganzer Ideen- und Glaubenssysteme. Dies zeigt sich bereits in dem Beschluß des Gouverneurs, das Haus von Barabas in ein N o n nenkloster umzuwandeln: »Convert his mansion into a nunnery« (1.2, 130). Der christlichen Mehrheit geht es dabei u m die Umwandlung eines Ortes der materialistischen Anhäufung unendlicher Reichtümer in einen spirituell-heiligen Ort: »His house w i l l harbour many holy nuns« (1.2, 131). Es ist diese grundlegendere Idee des Konvertierens, die i m Verlauf des Dramas immer wichtiger wird, wobei es das Christentum ist, das zunehmend Gefahr läuft, i m Sinne einer prinzipiellen Umwandlung durch Barabas und seine Helfer unterlaufen zu werden. Wahrend die christlichen Figuren sich erfolglos u m die Bekehrung einzelner Juden bemühen, ist Barabas ungleich erfolgreicher bei der systemimmanenten Konvertierung christlicher Prinzipien i n rein materiell-innerweltliche Währungen. I m vierten A k t ist es für Barabas aus taktischen Gründen geboten, den M ö n chen zweier Klöster seinen Übertritt zum christlichen Glauben in Aussicht zu stellen, sogar i n eines ihrer beiden Klöster einzutreten. Voller Pathos spricht er von seinen Sünden und der Errettung seiner Seele:

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Oh holy friars, the burthen of my sins Lie heavy on my soul; then pray you tell me, It's not too late to turn Christian? (IV. 1,48-50) U n d er zitiert die gängigen Klischees, die das Christentum häufig dem Judentum zuschreibt: Er sei ein geldgieriger Wucherer, habe seine Seele für sein Gewinnstreben verkauft etc., u m dann von seinen unermeßlichen Reichtümern zu sprechen, die er dem Kloster, das ihn aufnimmt, schenken wolle. Die beiden Mönche überbieten sich daraufhin in ihren Bemühungen, Barabas und sein Vermögen für ihre jeweiligen Klöster zu gewinnen: » O h good Barabas come to our house«, sagt der eine Mönch. » O h no, good Barabas come to our house«, beschwört ihn der andere, bis dieser Streit u m die Seele oder vielmehr u m das Vermögen von Barabas in einem körperlichen Fight eskaliert (IV.1, 77-96). Wenn also Barabas zu den Mönchen sagt: »You shall convert me, you shall have all m y wealth« (IV. 1, 81), dann läuft dies letztendlich auf das genaue Gegenteil hinaus: N i c h t Barabas w i r d zum christlichen Glauben bekehrt werden, sondern der christliche Glaube konvertiert zu den Werten der Barabas-Welt. I n einer entscheidenden Hinsicht erinnert dieser Vorgang an Martyrs Bericht. Die spanischen Kolonialisten hatten kein Interesse, die Eingeborenen zu ihrem eigenen Glauben zu konvertieren. Gleiches gilt für Barabas, für den die Idee der Konversion derartig belanglos ist, daß er sogar damit kokettieren kann. Der Gedanke der religiösen Konversion wandelt sich in beiden Fällen zu einer Konversion ganz anderer Art. Es geht hier nicht mehr u m die Bekehrung einzelner zur eigenen Religion, sondern um die Umwandlung, Umbildung und Umdeutung der fremden Religion an sich zu einem Material fiktiver Szenarien, und in beiden Fällen dient dies materiellen Zwecken; bei den Spaniern ist es das Gold, bei Barabas das Geld. Bei Barabas kann man den Begriff des Konvertierens auch in der Bedeutung des Ummünzens sehen: das Ummünzen religiöser in materielle Werte, was die Handlungen und Äußerungen der Barabas-Figur von Anfang an durchzieht. Die religiöse Vorstellung himmlischer Instanzen münzt er u m in ein gänzlich anderes Vorstellungsbild: der H i m m e l als Geldquelle irdischer Reichtümer, der H i m m e l als Geldregen, der i n den Schoß der Menschen praßt. What more may heaven do for earthly man Than thus to pour out plenty in their laps. (1.1,106-07) Die christlichen Opfer dieser Umdeutungen bringen das Zusammenspiel von religiösen und materiellen Konversionen selbst, wenn auch unfreiwillig zum Ausdruck. So sagt einer der getäuschten Mönche: O happy hour, wherein I shall convert An infidel, and bring his gold into our treasury. (IV. 1,161-62)

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Während der Mönch von der Bekehrung eines Ungläubigen spricht, ist er selbst schon in einem viel grundlegenderen Sinne konvertiert, wenn er von seinem Kloster bereits in den Wertkategorien von Barabas spricht, als O r t materieller Reichtümer, treasury. Der Gehilfe von Barabas, Ithamore, bringt die Bedeutung der obigen Szene auf den Punkt: »will you [Barabas] turn Christian, when holy friars turn devils and murder one another?« (IV. 1, 191-92). Damit sind beide Formen der Konversion angesprochen, zunächst die gängige Idee der Bekehrung einzelner zu einem anderen Glauben, turn Christian , sodann die manipulative Unterwanderung der anderen Religion, die dadurch i n sich selbst eine Umwandlung erfährt: when holy friars turn devils. U n d diese U m wandlung betrifft besonders die ständige Ausweitung des angeblich jüdischen Erwerb- und Geldtriebes auf die christliche Welt, wenn nicht auf die ganze Welt. Die Welt erscheint i n Marlowes Drama als international verknüpftes System des Handels, wenn nicht gar als Vorstufe des modernen Welthandels, i n dem die Vertreter der unterschiedlichsten Nationalitäten und Religionen auftreten: Juden und Christen; Türken, Spanier und Malteser, deren Handlungen letztendlich alle v o m Handel getrieben werden: dem Handel mit Waren, dem Handel mit Menschen, die als Ware auf dem »marketplace« (II.3, 98) Maltas verkauft werden. »What w i n d drives y o u thus into Malta road?«, fragt der Gouverneur Maltas den Türken Bashaw, der ihm antwortet: »The w i n d that bloweth all the w o r l d besides, / Desire of gold« (III.5, 3-4). Die gleichermaßen schockierende wie faszinierende Wirkung der BarabasFigur auf Marlowes Publikum ergibt sich durch zweierlei: die subversive Reichweite seiner Machenschaften sowie deren durchschlagender Erfolg. Er unterwandert nicht weniger als das weltanschauliche Zentrum seiner Umwelt, die christliche Religion, und damit auch das Apriori der elisabethanischen Welt insgesamt. U n d er ist dabei so erfolgreich, daß er für kurze Zeit die Macht über die ganze Insel gewinnt und zum »Governor of Malta« (V.2, 29) aufsteigt, übrigens eine Rangbezeichnung, die i m Kontext kolonialer Herrschaft gebraucht w i r d und die Barabas nun auch ganz öffentlich von einem Fremden zu einem quasi kolonialen Fremdherrscher über die Insel erhebt. Die Wirkung dieses Aufstiegs ist u m so stärker, da Barabas die Beherrschung der Insel unter wesentlich ungünstigeren Voraussetzungen erlangt als beispielsweise die Kolonialisten i n Martyrs Bericht: als einzelner und diskriminierter Außenseiter, gegen die Übermacht scheinbar unverrückbarer Verhältnisse. Erst i m allerletzten Moment läßt Marlowe seine Hauptfigur scheitern, wenn Barabas in einen kochenden Kessel fällt und darin verbrüht, was das Bild der Höllenqualen evoziert. Das religiöse A l s - O b der Barabas-Figur ist somit nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern w i r d zugleich der entsprechenden göttlichen Strafe zugeführt: »the heavens are just« (V.l, 55). Bei aller Affinität Marlowes 4 6 zu der Idee, daß die Religion möglicherweise nur ein

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manipulierbares A l s - O b ist, so darf dies i m Kontext des elisabethanischen Dramas allenfalls in Person des von vornherein stigmatisierten Bösewichts zum Ausdruck kommen, und dies auch nur für eine begrenzte Zeit, als vorläufiges Instrument des Bösen, das sich niemals als terminaler Endzustand behaupten darf. I m Drama der Shakespeare-Zeit w i r d das Sprechen, Denken und Handeln i n A l s - O b Kategorien überwiegend den Bösewichten zugeschrieben, nicht nur bei Marlowe, sondern auch in den Dramen Shakespeares. Damit ist eine offenkundige Bewertungs- und Wertstruktur angesprochen, die nicht nur mit der Machiavelli-Rezeption zusammenhängt, sondern i n erster Linie vor dem H i n tergrund der orthodoxen Ordnungsvorstellungen dieser Zeit zu sehen ist. Das alles beherrschende Strukturprinzip dieser Ordnung ist das wohlbekannte Konzept der Great Chain of Being, 47 der allumfassenden Seinskette, die alles Sein bindet, und dies auf streng hierarchische Weise: von der göttlichen Transzendenz als oberster Wert- und Wirklichkeitsinstanz, über den translunarischen Kosmos, die himmlischen Sphären (Planeten und Engel), bis hin zu den Seinsklassen und -stufen auf der Erde: der Mensch und die menschliche Sozietät, die Tier- und Pflanzenwelt, die Mineralien etc. Ein wichtiger Aspekt dieser O r d nungsstruktur ist dessen Determinismus, die Unveränderbarkeit des Ganzen sowie die der einzelnen Seinsglieder, die unabänderlich in einem göttlichen Schöpfungs- und Weltenplan positioniert sind. Dieser Punkt ist gerade i m H i n blick auf das A l s - O b von Bedeutung, das, wie gezeigt, auf die Überschreitung des Bestehenden hinausläuft, sei es nun die erkenntnis- und ideologiekritische Hinterfragung bestehender Wahrheiten, oder die manipulative Instrumentalisierung vorgeblicher Wahrheiten zu machtpolitischen Zwecken. Beides enthält ein subversives Vorstellungspotential, das gerade i m Kontext des elisabethanischen Weltbildes problematisch wird. Wenn das A l s - O b ein kritisch-subversiver Überschreitungsvorgang ist, so gilt ähnliches für das Drama der Shakespeare-Zeit, das, ausgehend von den konservativen Ordnungsvorstellungen des elisabethanischen Weltbildes, immer wieder die Überschreitung dieser Ordnung thematisiert und dramatisiert. Es handelt sich in der Regel u m die Überschreitung gesellschaftspolitischer Räume und Rollen, beispielsweise die Usurpation des Königsamts durch Figuren wie Claudius i m Hamlet oder Bolingbroke i m

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Marlowe wurde von seinen Zeitgenossen als Atheist verdächtigt und auch geheimdienstlich beobachtet und schließlich unter mysteriösen Umständen ermordet. Im Jahr 1593 verfaßte der Spion Richard Baines einen Bericht über die religiösen Ansichten Marlowes, der u. a. behauptet haben soll: »Moses was but a juggler.« Cf. John Bakeless, The Tragicall History of Christopher Marlowe, 2 Bde. (Cambridge, Mass. 1942), Bd. 1, 111. 47 Cf. Arthur O. Lovejoy, The Great Chain of Being: A Study of the History of an Idea (Cambridge, Mass. 1948); E.M.W. Tillyard, The Elizabethan World Picture (1943; Harmondsworth 1972; rpt. 1986).

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Richard II. Die genannten Beispiele implizieren noch kein Als-Ob. Die Verletzung bestehender Ordnungen und Rollen vollzieht sich hier durch Machtpolitik, Gewalt oder Mord. Andererseits bilden derartige Vorgänge das thematische Paradigma für raffiniertere Uberschreitungsmöglichkeiten, die das Denken und Handeln in Als-Ob-Kategorien voraussetzen. Eben dies leisten die Bösewichte, und zwar u m so mehr, je raffinierter und komplexer diese Figuren angelegt sind. Die herausragenden Bösewichte i m Drama der Shakespeare-Zeit sind, neben Barabas in The Jew of Malta, Edmund und Iago in Shakespeares King Lear (1605-1606) und Othello (1601-1602). Eine erste wichtige Gemeinsamkeit dieser Figuren ist deren negatives Verhältnis zu der sie umgebenden Ordnung. Es handelt sich nicht u m irgendwelche Ordnungen, sondern u m die grundsätzliche Idee von Ordnung als einer allumfassenden und gottgewollten Seinskette, die apriori besteht. Diese Ordnung definiert sich ganz wesentlich über die Einheit des Ganzen sowie über die unverbrüchliche Verbindung bzw. Bindung der einzelnen Teile. I m gesellschaftlichen Kontext bedeutet dies die Bindung zwischen Menschen, w o m i t die Seinskette in affekt- und emotionsgeladenen Beziehungen aufgeht, sei es nun die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau, die Verbindung zwischen Eltern und Kindern, oder auch die Beziehung zwischen Herrschern und Untergebenen. Bonds bzw. hands sind die immer wiederkehrenden Begriffe dieser Verbundenheit. Die Handlungen der Bösewichte zielen auf die Entzweiung dieser zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Bünde ab: »divorcing lover from lover, husband from wife, child from father, brother from brother, ruler from subject, friend from friend.« 4 8 Die Bedeutung derartiger Entzweiungen geht weit über den zwischenmenschlich-gesellschaftlichen Kontext hinaus. Es handelt sich viel grundsätzlicher u m einen Affront gegen die gesamte Weltordnung, »a single large affront to the unity and harmony of the w o r l d . « 4 9 Die Entzweiung gesellschaftlicher Bünde entspringt der subjektiven Willensentscheidung der stage villains, doch dieser Entscheidung geht ein objektiver Sachverhalt voraus, den diese Figuren selbst nicht zu verantworten haben. Es handelt sich u m Figuren, die mit dem Ordnungsgefüge ihrer Umgebung nicht zurecht kommen, weil sie von vornherein mit dem Stigma des Anders- und Fremdartigen behaftet sind. I n The Jew of Malta w i r d der gesellschaftliche A u ßenseiterstatus der Hauptfigur bereits i m Titel herausgestellt: ein Jude an einem christlichen Ort. I m Othello w i r d Iago schon zu Beginn des ersten Aktes von einem der obersten Spitzen der Venediger Gesellschaft als villain adressiert: 48

Bernard Spivack, Shakespeare and the Allegory of Evil: The History of a Metaphor in Relation to his Major Villains (New York 1958), 46. 49 Ibid., 49.

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»Thou art a villain!«, 5 0 ruft der Senator Brabantio i n aller Öffentlichkeit aus dem Fenster. I m King Lear ist der Bühnenschurke, Edmund, ein unehelicher Sohn, das Ergebnis und die Verkörperung einer Ordnungsverletzung, die sein Vater begangen hat, deren Folgen aber der Sohn tragen oder vielmehr ertragen muß. Es ist die Schwierigkeit einer Feudalgesellschaft, den bastard son eines adeligen Vaters (Gloucester) adäquat in das soziale Gefüge dieser Gesellschaft zu integrieren, sowie die Unmöglichkeit des unehelichen Sohnes, jemals den Stand des ehelichen Erstgeborenen (Edgar) zu erlangen. Edmund ist sich dieser Benachteiligung von Anfang an bewußt. Bereits i n seiner ersten Rede fragt er sich: »Why brand they us / W i t h base? w i t h baseness? bastardy? base, base?« 51 Edmund spricht hier in der Pluralform us. Es geht ihm also nicht nur u m ihn selbst, sondern viel grundsätzlicher u m die K r i t i k an einer Gesellschaft, i n der viele Menschen wie er unabänderlich auf eine diskriminierte Außenseiterrolle festgelegt sind. U n d er begründet diese K r i t i k mit einer egalitären Begrifflichkeit, die weit über den Stand seiner Zeit hinausgeht und auf die Gleichheitsideale des 18. Jahrhunderts vorausweist. Warum, fragt sich Edmund, soll er sich weit unter seinen Möglichkeiten in eine feudalistische Ordnung und Tradition einfügen, »stand in the plague of custom«, die ihm von vornherein seiner Chancen beraubt: »The curiosity of nations [ . . . ] deprive me«, und dies nur, weil er ein Jahr nach seinem erstgeborenen ehelichen Bruder auf die Welt kam: »For that I am some twelve or fourteen moonshines / L a g of a brother« (1.2, 2-6). U n d seine Verbitterung darüber ist u m so größer, da er weiß, daß seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten denen des älteren Bruders i n nichts nachstehen: When my dimensions are as well compact, My mind as generous, and my shape as true, As honest madam's issue? (1.2, 7-9) I n Shakespeares Othello spricht aus Iago ein ähnliches Bewußtsein der Benachteiligung. Das Wort place, das sich i m ersten A k t häuft, ist i n diesem Zusammenhang bedeutsam. Es variiert immer wieder das Problem des sozialen Platzes in einem hierarchischen Gesellschaftsgefüge, das den einzelnen unabänderlich auf einen vorgegebenen Rang fixiert, unabhängig von Fähigkeiten und Leistungen. »I am w o r t h no worse a place« (1.1, 10), beklagt sich Iago gleich zu Beginn über die Ernennung Cassios zum Leutnant, für Iago eine völlig unverdiente Beförderung, die ein erfahrener Soldat wie er selbst verdient hätte, während Cassio ohne jede Eignung für diesen Posten aus Standes gründen ihm vor50 William Shakespeare, Othello, The Arden Shakespeare, hg. E.A.J. Honigmann (Walton-on Thames 1997), 1.1,116. Im folgenden im Text in Klammern zitiert. 51 William Shakespeare, King Lear y The Arden Shakespeare, hg. Kenneth Muir (London 1972; rpt. 1986), 1.2, 9-10. Im folgenden im Text in Klammern zitiert.

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gezogen wurde. I n derselben Szene spricht auch der Senator Brabantio von my place i m Sinne einer gesellschaftlichen Machtposition, die er von vornherein innehat und die es ihm ermöglicht, Menschen wie Iago das Leben schwer zu machen: » M y spirit and m y place have i n them power / To make this bitter to thee« (1.1, 102-03). Dasselbe Bewußtsein des Diskriminiertseins kommt i n The Jew of Malta zum Ausdruck, wenn sich Barabas gegen den Beschluß des Gouverneurs auflehnt, ausschließlich das Vermögen der jüdischen Bevölkerung, »those Jews of Malta« (1.2, 34), für Staatszwecke zu konfiszieren: »we take particulary thine«, erklärt der Gouverneur dem jüdischen Außenseiter, der ihm antwortet: »Your extreme right does me exceeding wrong« (1.2, 154). Das gesellschaftskritische Bewußtsein der Bösewichte entspringt daher ihrem objektiven gesellschaftlichen Sein, das ihnen durch die bestehende Ordnung vorgegeben ist. Das Sein bestimmt zunächst das Bewußtsein. Die Betonung liegt auf dem Wort zunächst , denn die Intrigenspiele der Bösewichte vollziehen später das Gegenteil: die manipulative Umformung und Veränderung des gesellschaftlichen Seins. Die stage villains beklagen zunächst jene Aspekte der sie umgebenden O r d nung, von denen sie persönlich betroffen sind. Doch ihre K r i t i k geht sehr bald über den Skopus der persönlichen Betroffenheit hinaus, erlangt eine immer größere Reichweite, und steigert sich zu einer allgemeinen Hinterfragung der bestehenden Ordnung. Die eigene Betroffenheit ist nur der Auftakt für die Ausweitung ihrer K r i t i k auf immer weiterreichende Zusammenhänge: Zunächst die kritische Reflexion des persönlichen Lebensbereichs, sodann die K r i tik der Gesellschaft als Ganzes, bis hin zur umfassenden K r i t i k der gesamten Weltordnung. Doch nicht nur die Reichweite, sondern auch der Modus ihrer K r i t i k gewinnt i m Verlauf der Dramen eine immer durchschlagendere subversive Stoßkraft. Wahrend sie zunächst die Ungerechtigkeit ihres Diskriminiertseins beklagen, konstatieren sie später nicht weniger als die Unhaltbarkeit und Unwahrheit aller gängigen Ordnungsvorstllungen der Welt, die sie als Fiktionen entlarven: die gesellschaftliche Ordnung, die kosmologische Ordnung, die göttlich-religiöse Ordnung des ganzen Universums. Genau an diesem Punkt tritt das Denken und Handeln i n Als-Ob-Kategorien in Erscheinung. Die zentralen Wahrheiten ihrer U m w e l t sind für die Bösewichte nur unhaltbare Fiktionen. Alle weiteren Handlungen der villains ergeben sich aus diesem Kulminationspunkt der Kritik. I m King Lear fällt die Konjunktion as if i m Verlauf von Edmunds Replik auf die kosmologischen Ordnungsvorstellungen seines Vaters, Gloucester. Uberall erblickt Gloucester einander entsprechende Zeichen schnell u m sich greifender Zwietracht, Disharmonie und Unordnung. Er bezieht diese Auflösungserscheinungen weniger auf die Handlungen innerweltlicher Akteure, etwa auf König Lears Reichsteilung, sondern sieht die Vorgänge der Welt vielmehr als Sym-

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p t o m planetarischer bzw. überirdischer Kräfte: »These late eclipses i n the sun and moon portend no good to us« (1.2, 100-101), orakelt Gloucester, und er fügt hinzu, daß der menschliche Verstand den Lauf der Welt deuten kann wie er w i l l - der Mensch bleibt den Plänen des Uberirdischen hilflos ausgeliefert: »the wisdom of Nature can reason it thus and thus, yet Nature finds itself scourg'd by the subsequent effects.« (1.2, 101-103) Damit verkörpert Gloucester zwei zentrale Aspekte, die nach Tillyard das elisabethanische Weltbild konstituieren: dessen innerweltliche Ordnungsvorstellungen sowie die Einbettung dieser Ordnung in eine allumfassende Kosmologie. Edmund betrachtet all dies als Dummheit der Welt: »This is the excellent foppery of the world.« Wie i m Prolog von The Jew of Malta, so ist auch hier die Ignoranz der Hauptangriffspunkt der Kritik. Es geht Edmund nicht mehr nur u m eine Gesellschaftsordnung, die ihn persönlich benachteiligt, sondern viel grundsätzlicher u m die aufklärerische K r i t i k an der Haltbarkeit der kosmologischen Weltordnung seiner Zeit, die für ihn ein durchgehendes A l s - O b ist. N i c h t die Sterne, so Edmund, sondern der Mensch und sein Verhalten, »our o w n behaviour«, bestimmen die Vorgänge auf der Welt. Wer das Gegenteil glaubt, unterliegt einer Fiktion. U n d er resümiert die Weltanschauung seines Vaters mit einem Als-Ob: as if we were villains on necessity, fools by heavenly compulsion, knaves, thieves and treachers by spherical predominance, drunkards, liars, and adulterers by an enforc'd obedience of planetary influence; and all that we are evil in, by a divine thrusting on. ( K.L. , 1.2,115-23) Was für Gloucester und die elisabethanische Welt insgesamt eine zentrale Wahrheit ist, betrachtet Edmund nur als Fiktion. Davon ausgehend entfaltet sich in der Nebenhandlung King Lears das bekannte Intrigenspiel der Edmund-Figur, auf das hier nicht weiter eingegangen werden soll, da es kaum über The Jew of Malta hinausgeht: Ein von vornherein stigmatisierter Außenseiter, hier ein unehelicher Sohn, kritisiert zunächst die Ordnungsvorstellungen seiner Umgebung, u m daraufhin die bestehende O r d nung zu überschreiten, jedoch nicht durch offenes Aufbegehren, sondern indem er sich in die Wahrheiten anderer hineindenkt und diese als manipulierbare Fiktionen handhabt. Hierbei sind nach Edmund alle Mittel erlaubt: Let me, if not by birth, have lands by wit: All with me's meet that I can fashion fit. (1.3,180-81) Das Wort fashion erinnert an Greenblatts Konzept der Renaissance als Selffashioning. D o c h Edmunds Intrigenspiel ist weniger eine Form der Selbst-Gestaltung als vielmehr die Umgestaltung fremder Wahrheiten für seine Zwecke. Dies setzt, wie Edmund weiß, die Gut- und Wahrheitsgläubigkeit seines Vaters voraus: »a credulous father [ . . . ] on whose foolish honesty / M y practices ride easy« (1.3, 176-79). Edmund sagt hier ähnliches wie Machiavelli über das Volk.

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Erst dessen Gutgläubigkeit ermöglicht und verwirklicht die Herrschaftsfiktionen des Fürsten. Gleiches gilt für die Logik der Machenschaften Edmunds. Seine Fähigkeit, i h m nützliche Wahrheiten zu fingieren, baut auf die Bereitschaft seiner Umgebung, dem Fiktiven zu glauben, und diese Fiktionsgläubigkeit entspringt paradoxerweise der unkritischen Wahrheitsgläubigkeit. Wie i m King Lear ; so fällt auch zu Beginn von Iagos Intrigenspiel i n Othello die Konjunktion as if. Es ist bedeutsam, daß Shakespeare diese Konjunktion beiden Bösewichten zuschreibt, und dies schon zu Beginn ihrer jeweiligen Intrigenspiele, bereits in der zweiten (Edmund) bzw. dritten Szene (Iago) des ersten Aktes. Der frühe Zeitpunkt ist wichtig, denn i n beiden Fällen bildet das Sprechen i n Als-Ob-Kategorien den Auftakt für die weiteren Handlungen dieser zwei Figuren. H i n z u kommt der Kontext, i n dem as if auftaucht, nämlich genau dann, wenn Iago bzw. Edmund allein auf der Bühne stehen und i n Form von soliloquies ihre persönliche Sicht der Dinge erklären. I n diesem Sinne äußert Iago zum Ende des ersten Aktes, sobald er allein auf der Bühne ist, seinen Haß gegen Othello: »I hate the Moor.« Doch er begründet diesen Haß nicht mit einer kausalen Konjunktion, beispielsweise mit einem denn oder weil y etwa derart, daß er Othello haßt, weil dieser ihn nicht zum Leutnant beförderte, eine Begründung, die man nach dem bisherigen Stand der Dinge erwarten würde. Stattdessen folgt die akausale Konjunktion und: I hate the Moor And it is thought abroad that 'twixt my sheets He's done my office. (1.3, 385-87) Die Idee, Othello könnte mit Iagos Frau sexuell verkehrt haben, kommt hier völlig unvermittelt und überraschend, eine aus dem Nichts geborene Vermutung, deren Wahrheitsgehalt, wie Iago selbst zugibt, völlig unsicher ist: I know not if't be true, Yet I for mere suspicion in that kind Will do as i/for surety. (1.3, 387-89)

Hervorhebung J. Z.

Wahrend Edmund i m King Lear so tut, als ob die Wirklichkeitsbilder seiner Umgebung fiktiver Natur seien, verfährt hier Iago so, als ob ein vager Verdacht eine gesicherte Wahrheit sei. Es handelt sich, ganz i m Sinne Vaihingers, u m die bewußt fiktive Setzung einer möglichen Wahrheit. Das Wort surety, das Iago hier in den M u n d nimmt, ist nur ein Als-Ob, das von vornherein den Zweifel voraussetzt. Iago ist zu Recht als Zweifler, douhter, 52 bezeichnet worden, der alle Wahrheiten, auch seine eigenen Wahrheiten, kritisch hinterfragt, und der von sich selbst sagt: »I am nothing, if not critical« ( I I . l , 119). Der Zweifel und 52

Norman N. Holland, The Shakespearean Imagination (Bloomington 1964), 240.

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die Entzweiung zwischenmenschlicher Bande sind bei Iago eng aufeinander bezogen, ein Zusammenhang, der bereits in der Etymologie der Worte Zweifel bzw. doubt angelegt ist - beide Wörter enthalten die Vorstellung der dubiosen Zweiheit ehemals einheitlicher Verhältnisse. Iagos Zweifel impliziert auch den Selbstzweifel, nämlich der Zweifel an der Haltbarkeit seiner eigenen Motive. Coleridge prägte in diesem Zusammenhang das Wort von der motiveless malignity 51 Iagos. Doch die oben zitierten Äußerungen Iagos zeigen vielmehr, daß dieser durchaus von Motiven beherrscht ist, nur daß diese Motive bewußt fiktiven Charakter haben. I n diesem Sinne bemerkt Harold Bloom nicht nur über Iago, sondern über Shakespeares Bösewichte allgemein: »[they] are not motiveless; they overflow w i t h motives, most of which they invent or imagine for themselves.« 54 Die eigentlichen Intrigenspiele Iagos folgen i m wesentlichen der Logik der Handlungen Edmunds i m King Lear: Hier das kritische Fiktionsbewußtsein des Bösewichts, dort die naive Gut- und Wahrheitsgläubigkeit seines Opfers. Es ist bedeutsam, daß Shakespeare diese Opferrolle einem Afrikaner zuweist: »The M o o r is of a free and open nature / That thinks men honest that but seem to be so« (1.3, 398-99). Die naive Gutgläubigkeit w i r d hier nicht nur einem einzelnen Menschen attributiert, sondern zugleich als ethnisches Merkmal eines Nicht-Europäers verstanden, »The Moor«, der leicht zu manipulieren sei, da er nicht zwischen Schein und Sein unterscheiden könne. Ein solcher Zusammenhang ist nicht ohne Vorbild. I m November 1600, also nur ein Jahr vor der Entstehung Othellos, veröffentlichte John Pory seine Übersetzung von John Leos A Geographical Historie of Africa , eine Schrift, die Shakespeare mit ziemlicher Sicherheit gelesen hat. 5 5 Darin heißt es über die Menschen Nordafrikas, die Berber, auf die auch der Othello-Text wiederholt verweist: Most honest people they are, and destitute of all fraud and guile, [ . . . ] very proud and high-minded, and woonderfully addicted vnto wrath. [ . . . ] Their wits are but meane, and they are so credulous, that they will beleeue matters impossible, which are told them. 56 Die Wortwahl erinnert an Peter Martyrs Schilderung des »einfältigen Glaubens« 5 7 der Bewohner der Lukayischen Inseln. I n beiden Fällen erscheint die 53 Coleridge's Shakespearean Criticism , hg. Thomas M. Raysor (Cambridge, Mass. 1930), Bd. 1,49. 54 Harold Bloom, The Western Canon: The Books and School of the Ages (New York 1994), 60. 55 Cf. E.A.J. Honigmann in der »Introduction« zu der neuesten Arden-Ausgabe von Othello (Walton-on Thames 1997), 4. 56 Zitiert nach Honigmann, op. cit. y 4. 57 Peter Martyr, Acht Dekaden über die Neue Welt, 196.

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nicht-europäische Welt als Fundus naiv-gutgläubiger und damit beliebig manipulierbarer Völker, ein Fundus, aus dem sich auch Shakespeare bediente. Die Als-Ob-Thematik i m Othello folgt also einem i n der Renaissance weit verbreiteten kulturellen Rollenmodell: N i c h t einfach nur die Manipulation eines Menschen durch einen anderen Menschen, sondern die Manipulation eines N i c h t Europäers durch einen Europäer. Wenn also Iago ein kritischer Zweifler ist, so ist das Opfer seiner Machenschaften, Othello, ein believer ; der gerade deshalb manipulierbar ist, weil er die Äußerungen und Erscheinungen seiner U m w e l t i m Lichte eindeutiger Wahrheiten und Gewißheiten interpretiert bzw. überinterpetiert. 58 Während für Iago alle Wahrheit Lüge ist, nimmt Othello jede Lüge als Wahrheit hin. Iago bringt diesen Vorgang auf den Punkt, wenn er sagt: trifles light as air Are to the jealous confirmations strong As proofs of holy writ. (III.3, 325-327) Die Sehnsucht nach Gewißheit greift nach allen sich irgendwie fügenden Daten der Welt, solange sie geeignet sind, eine bestimmte Wahrheit zu stützen oder zu verifizieren, und es ist gerade dieser Umstand, der das Gegenteil der Wahrheitsfindung erst ermöglicht: die Unwahrheit und Fiktion. Damit sagt Iago nichts anderes als Karl Popper über die Unhaltbarkeit und Unmöglichkeit der Verifikation i n den Wissenschaften. 59 Die Besonderheit der Iago-Figur besteht nicht nur in der erkenntnistheoretischen Bewußtheit seiner Intrigenspiele, sondern vor allem i n der Zuspitzung des A l s - O b auf die selbstkritische Hinterfragung seiner eigenen und innersten Wirklichkeitsannahmen. Während Barabas und Edmund die Wahrheiten anderer als unhaltbares und manipulierbares A l s - O b handhaben, geht Iago noch einen Schritt weiter und präfiguriert lange vor Nietzsche und Vaihinger den Kulminationspunkt der Als-Ob-Philosophie: daß man sich selbst seiner eigenen Wirklichkeitshypothesen nicht sicher sein kann, aber dennoch so verfährt, als ob sie wahr wären. Erkenntnistheoretisch gewendet, bedeutet dies die Vorwegnahme von Entwicklungen, die man üblicherweise erst i m 19. und 20. Jahrhundert 6 0 zu erkennen glaubt: N i c h t mehr nur die aufklärerische Entlarvung bestehender Wahrheiten als Fiktion, sondern die bewußte Anerkennung der Fiktion als umfassendes Erkenntnis- und Lebensprinzip.

58 59 60

Cf. Terry Eagleton, William Shakespeare (Oxford 1986; rpt. 1993), 69. Cf. dazu Bryan Magee, Karl Popper (Tübingen 1986), 13-33. Cf. J. Zelter, Sinnhafte Fiktion und Wahrheit , 63-71.

Die Symbolik des Ortes Zur dramaturgischen Topographie in Molieres »Dom Juan« Von Thomas A. Keck

A m 15. Februar 1665, einem Karnevalssonntag, wurde Molières »Dom Juan ou le festin de pierre« in Paris uraufgeführt. Z u dieser Zeit existierte die Figur des skrupellosen aristokratischen Verführers, den die Strafe Gottes trifft, bereits seit etwa vierzig Jahren und war auf der spanischen, italienischen und französischen Bühne in zahlreichen Varianten bekannt. Ihre älteste Erscheinung auf der Bühne dürfte i n Tirso de Molinas »El burlador de Sevilla«, einem geistlichmoralischen Lehrstück, zu finden sein. Verschiedene weit ältere motivische Traditionsstränge laufen hier zusammen: Der sich rächende Tote bzw. das zu Leben erwachende Standbild, die Bestrafung eines unbekehrbaren Sünders und die Gestalt des Wüstlings und Verführers. Nach Tirso de Molina wurde der Stoff tragisch, tragikomisch und komisch behandelt. Er tauchte als pathetische Alexandrinerkomödie ebenso wie als volkstümliche Farce und CommediadelParte-Variante auf. Die italienische Truppe von Paris spielte zur Zeit Molières eine eigene Adaption i m Petit Bourbon , und i m Hôtel de Bourgogne gab man die französische Fassung von Villiers. 1 Molière, der vermutlich mehrere Vorläufer-Versionen kannte und sich ihrer bediente, griff also einen äußerst populären Stoff auf. Der überwältigende Erfolg der ersten Aufführungen gab i h m recht. Der Stoff gefiel dem Publikum durch das Element des Ubernatürlichen und die entsprechenden szenischen Dekors. Das reich ausgestattete Kulissenstück i m Palais Royal wurde zum >KassenschlagerMakel< der in dem Paar D o m Juan und Sganarelle personifizierten Vermengung von K o m i k und Erhabenheit, sozialem H o c h und Niedrig, auch die Nicht-Einhaltung der von Aristoteles abgeleiteten Forderung nach der Einheit des Ortes an. 4 Als barockes Maschinenstück folgt »Dom Juan« tatsächlich nicht der klassischen Doktrin, obwohl Molière sich immerhin u m die zeitliche Begrenzung der Handlung auf 24 Stunden bemüht hat: Der erste A k t spielt am Morgen, der zweite am Mittag oder frühen Nachmittag, der dritte etwas später, der vierte am Abend und der fünfte am nächsten Morgen. D o c h jeder der fünf Akte spielt an einem anderen Ort, i m dritten wechselt der O r t sogar auf offener Bühne. Der Text selbst gibt Auskunft über die jeweilige Umgebung. Dieckmann unterscheidet mit Luther/Auger folgende Szenerien für das Stück: »Palast/Küste/Wald/Palast/Freie Gegend.« 5 Der Vagheit dieser Ortszuweisungen soll durch die folgende Analyse ein vertieftes Verständnis der topographischen Struktur entgegengestellt werden.

I. Der erste Akt: Wem gehört der Palast? Der erste A k t spielt in einem Palast, und zwar in einer küstennahen Provinzstadt Siziliens, w o D o m Juan, wie sich später i m Gespräch herausstellt, vor einem halben Jahr den Kommandanten getötet hat. Die Zuschauer kannten die Figur des Kommandanten oder Komturs bereits aus früheren Varianten des Stoffes: Er war der Vater eines der weiblichen Opfer D o m Juans. Letzerer hatte 3 Friedrich Dieckmann, Die Geschichte Don Giovannis. Werdegang eines erotischen Anarchisten (Frankfurt am Main und Leipzig 1991). 4 Im wesentlichen ging es im Streit um Molières »Dom Juan« freilich um religiöse Fragen. Siehe hierzu den Appendix in Molière, Œuvres complètes, I I (Paris 1971), 1999-1230. 5 Dieckmann, Die Geschichte Don Giovannis, 112.

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ihn i m Duell getötet. Die Begnadigung, von der bei Molière die Rede ist, bezieht sich vermutlich auf den Straftatbestand des Duellierens. Offensichtlich meint D o m Louis i m vierten A k t unter anderem die Erwirkung des Gnadenerlasses beim König, wenn er von der Strapazierung seines gesellschaftlichen Einflusses durch die Eskapaden seines Sohnes spricht. Indem Molière die A k t i o n außerhalb des Bühnengeschehens verlagert, gelingt es ihm, eine handlungsreiche Fabel auf ihrem entscheidenden Punkt und in höchster Konzentration darzustellen. D o m Juan hat bereits all seine erotischen Erfolge hinter sich, als er auf Molières Bühne auftaucht. Er kehrt, eher zufällig, an den O r t eines früheren Verbrechens zurück. Der O r t w i r d von Sganarelle mit dem Auftreten D o m Juans bezeichnet: »Le voilà qui vient se promener dans ce palais« 6 (wörtlich etwa: >Da naht er ja durch diesen Palast spazierend heranSnobismus< geprägt, der einem Diener nicht recht ansteht. I n der rhetorischen Frage »ne voyez-vous pas bien« 9 oder Wendungen 6 7 8 9

Molière, Œuvres , 34. Siehe Dieckmann, Die Geschichte Don Giovannis, 92 und 494. Siehe Notiz 7 in Molière, Œuvres , 1299. Molière, Œuvres, 32.

9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 39. Bd.

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wie »tant il est vrai« 1 0 drückt sich sein stilistischer Habitus aus: die Floskelhaftigkeit. Dabei hält er, wie die Regie-Anweisung ausdrücklich sagt, eine Tabaksdose in der Hand. Er ist also selbst dem Tabakgenuß zugetan und sucht seine >Sucht< durch die Rede zu legitimieren: »C'est la passion des honnetes gens« 11 erklärt er und erhebt sich damit selbst i n den Kreis der besseren Gesellschaft. Wie das Bild des i n den Palast eingefaßten Gartens, so ist auch der i n die Argumentation gezwängte Genuß einer pflanzlichen Droge Ausdruck kultivierter Lebenslust. Die i n passion mitschwingenden sexuellen und religiösen Komponenten nehmen das D o m Juan-Thema vorweg. Das M o t i v des Tabak-Anbietens läßt sogar die Problematik der Promiskuität bereits subtil durchscheinen. Bevor die Scheinlogik seiner Argumentation allzu deutlich zutage tritt, knüpft Sganarelle an ein anderes, offenbar durch die Tabaksdose unterbrochenes Gespräch an. Hier erfährt der Zuschauer nun die aktuelle Situation: D o m Juan hat - offensichtlich an einem anderen O r t - die Nonne Donna Elvira aus einem Kloster geraubt, geheiratet und sie bereits wieder verlassen. N o c h ist der Bruch nicht eindeutig: Seine plötzliche Reise in jene Stadt, die den O r t des Geschehens i m ersten A k t darstellt, bedarf noch der eindeutigen Begründung. D o m Juans Auftreten vertreibt Gusman. Wie der Abenteurer nun berichtet, ist er i n die Stadt gekommen, u m einem anderen die Braut auszuspannen. Er ist dem Paar bereits i n seiner Heimatstadt begegnet. D o r t hat er herausgefunden, daß die Hochzeit in jener Provinzstadt am Meer stattfinden soll. I n dieser Stadt angekommen, hat er seine üblichen erotischen Angriffe geführt, ist jedoch an der Liebe des Brautpaares gescheitert und w i l l nun zum letzten Mittel, der gewaltsamen Entführung, greifen. Er hat i n Erfahrung gebracht, daß das Hochzeitspaar eine Bootspartie plant. A u f dem offenen Meer w i l l D o m Juan - wie ein Pirat - zuschlagen. Für den Überfall hat er soeben eine kleine Barke und einige Leute angeheuert. Der sich anschließende moralische >Disput< mit Sganarelle über die libertine Lebensweise enthält eine Reihe aufschlußreicher Verben: reduire , combattre, forcer, vaincre. 12 Die erotische Verführung w i r d mit militärischem Vokabular beschrieben. Der enthusiastische Vergleich des erotischen Abenteurertums mit Alexanders Welteroberung und die prätendierte Ausweitung des Feldzugs auf unbekannte Welten sind freilich i m Gestus wie i m Inhalt höchst ambivalent: D o m Juan entpuppt sich als ein mit den Bedingungen des irdischen Daseins zutiefst Unzufriedener. Er erweitert seine Existenz auf »d'autres mondes« 1 3 , gibt ihr eine kosmische Dimension, die seiner Hybris entspringt und einem Aufbegehren gegen Gott gleichkommt, an den er aber nicht 10 Ibid. 11 12 13

Ibid. Molière, Œuvres, 35-36. Molière, Œuvres, 36.

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glaubt. Er begibt sich damit in eine Haltung, die i m Gegensatz zum Handlungsort steht, insofern als sich in der regelhaften Architektur des 17. Jahrhunderts eine streng hierarchische Weltordnung ausdrückt. Der Kontrast w i r k t umso stärker, als der eigentliche >HausherrHeld< hier die Maske des religiösen Heuchlers auf. Elvira durchschaut ihn aber sofort und zieht Rache schwörend ab. D o m Juan macht sich keinerlei Sorgen über drohende Gefahren und schreitet zur Tat.

I I . Der zweite Akt: Wo liegt das Meer? Der zweite A k t beginnt i n der Nähe der Stadt und zugleich in der Nähe eines kleinen Küstendorfs, aber nicht direkt am Strand, sondern zwischen Bäumen und Felsen, wie D o m Juan bei seinem Auftritt in der zweiten Szene sagt. Die Original-Kulisse zeigt einen von Bäumen umringten Weiler vor der Stadt und eine Grotte, durch die hindurch man das Meer sieht. A u c h in diesem Bild steckt eine besondere Symbolik. Es repräsentiert ein bukolisches Ambiente, das für sich genommen bereits eine starke erotische Komponente enthält, die durch das Element der Grotte verstärkt wird. Der Ausblick auf das Meer kann aber zugleich auch als symbolische Evokation des Lebens mit seinen unberechenbaren Launen betrachtet werden, zumal das gesamte zwischen den beiden A k t e n liegende Geschehen damit vergegenwärtigt wird: die Bootspartie, der Überfall und dessen Scheitern durch einen Sturm, die Rettung der Hasardeure und der Ortswechsel vom Strand zu jenem Weiler. A l l dies hat sich innerhalb kürzester Zeit gewissermaßen i m szenischen >Off< abgespielt. Überraschenderweise begegnen w i r zu Beginn des Aktes nicht dem Helden, sondern zwei Personen aus der untersten Volksschicht. Nach Auskunft Georges Coûtons entspricht die von Molière transkribierte Mundart dem Patois der Pariser Umgebung. 1 4 Molières Angabe, man befinde sich auf Sizilien, ist demnach ein nur schwach kaschiertes Ablenkungsmanöver. Das Stück zielt auf Frankreich, auf Paris. I n der ersten Szene berichtet Pierrot von der Rettung D o m Juans und Sganarelles aus Seenot. Pierrot hat die ganze Gesellschaft, D o m Juan und seine Leute sowie das Brautpaar, ins Haus oder in die Hütte seiner Familie gebracht (da er noch Junggeselle ist, lebt er vermutlich mit seinen Eltern und Geschwistern in einer Hütte), w o sie sich am Feuer getrocknet ha14

9*

Siehe Notiz 1 zu S. 42 in Molière, Œuvres, 1305.

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ben. Anschließend ist er sofort losgegangen, u m seiner Verlobten die sensationelle Neuigkeit zu bringen. I m Gespräch zwischen Charlotte und Pierrot w i r d nicht allein das Geschehen zwischen den Akten resümiert, es kristallisieren sich gleichzeitig gravierende >Beziehungsprobleme< heraus. Die Liebe Charlottes zu ihrem Bräutigam hält sich sehr in Grenzen. Wie Donna Elvira gleich beim ersten Blick D o m Juans fehlende Liebe spürt, so fühlt Pierrot den gleichen Mangel bei Charlotte. Diese w i r d wiederum durch den Bericht Pierrots äußerst neugierig auf D o m Juan, den hohen Herrn v o m Hof. Als D o m Juan schließlich selbst auftritt, hat er das >Terrain< bereits erobert. Bereitwillig gibt Charlotte Pierrot den Laufpaß, u m die bessere Partie zu machen. D o c h D o m Juan kommt erneut nicht zum >SchußOff< abgespielt - einem zweiten Mädchen des Dorfes die Ehe versprochen hat. Mathurines Auftreten bringt D o m Juan in komische Verlegenheit. Wirkte der Gedanke an die spontane Mesalliance zwischen einem hochgestellten Aristokraten und einem Bauernmädchen für sich genommen bereits lächerlich auf Molieres Zeitgenossen, so mußte ihnen das ballet de paroles, mit dem sich D o m Juan aus der Affäre zu ziehen versucht, unglaublich komisch erscheinen. Ein weiteres M a l w i r d die Situation durch eine außerhalb der Szene stattfindende A k t i o n aufgelöst. Ein Bote tritt auf und berichtet von einer unmittelbar drohenden Gefahr: Z w ö l f Reiter verfolgen D o m Juan. Sie sind bereits i n der Umgebung des Dorfes und nähern sich offensichtlich rasch. Höchste Eile ist geboten.

I I I . Der dritte Akt: I n welchem Wald sind die Räuber? Auch der dritte A k t beginnt mit einer Überraschung, die sich auf eine i m Dunkel des Zwischenaktes liegende Handlung gründet: War es zunächst D o m Juans Plan, dem Verderben durch Kleidertausch mit Sganarelle zu entgehen, so hat dessen Widerstand zu einer anderen Verkleidungsstrategie geführt: Als A r z t und Bauer läuft das Paar durch einen Wald. I m Hintergrund zeigt die Kulisse eine A r t Tempel. Das merkwürdige Spannungsverhältnis der Konstellation trägt wiederum zur K o m i k bei: Wollte der Aristokrat sich eben noch herablassen, i n seinem universalen Eroberungsdrang eine Bäuerin zu heiraten, so ist er nun selbst zum Bauern geworden, während Sganarelle, der >Hobby-ScholastDisput< über die Medizin setzt das Gespräch zwischen Herrn und Diener aus dem ersten A k t fort. Frei nach dem M o t t o >Kleider machen Leute< fühlt sich Sganarelle durch sein Kostüm inspiriert und beginnt mit einer systematischen Befragung seines Herrn. Da er bei D o m Juan keinen Ansatzpunkt für theologische

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Ableitungen findet, setzt er zu einem positiven Gottesbeweis an, der ein K l i schee des theologischen Diskurses enthält: die Herleitung eines göttlichen Schöpfungswillens aus den Erscheinungen der Natur. Bei der Demonstration fällt Sganarelle allerdings buchstäblich auf die Nase. Inzwischen aber hat sich das seltsame Paar i m Wald verirrt. Ein Bettler, dem sie i n der zweiten Szene begegnen, zeigt ihnen den Weg. Die sich anschließende Szene sorgte nicht nur bei der Uraufführung für Unruhe i m Publikum, sie stellt den Leser auch heute noch vor Rätsel. Der Bettler möchte ein Almosen, D o m Juan mokiert sich und verspricht ihm schließlich ein Goldstück für einen Fluch. Der Eremit muß das Angebot als Todsünde ablehnen. D o m Juan w i r d hier zum religiösen Versucher, zum Handlanger des Bösen, was für ihn, der weder an H i m m e l noch an Hölle glaubt, freilich nicht viel bedeutet. Daß er schließlich das Goldstück auch ohne den Schwur hergibt, »pour Pamour de l'humanité«, 1 5 stellt die Interpreten bis heute vor tiefgreifende Fragen. Die Berücksichtigung des topographischen Kontextes mag die Deutung in diesem Punkt erleichtern: Wurde für die bisherigen Kulissen bereits eine symbolische Bedeutungskomponente festgestellt, so gilt dies für den Wald in besonderem Maße. A n einem obskuren Ort, w o ein gewissermaßen i m D u n keln tastender Sganarelle nach einem theologischen Halt sucht und in dem sich die Helden verlaufen, geschieht etwas letztlich nicht Erklärbares. Ware der Bezug nicht anachronistisch, so müßte man hier an Baudelaires symbolistisches Sonett »Correspondances« denken. Die Vorstellung von der Natur als einem Tempel ist jedoch weit älter als Baudelaires Text, und tatsächlich zeigt die Original-Kulisse i m Hintergrund ja einen Tempel. Für den Eremiten bedeutet der Wald selbst Gottes wahren Tempel, während D o m Juan nur Bäume sieht, zwischen denen er sich verirrt. I n der Begegnung D o m Juans mit dem Bettler, der in der gesellschaftlichen Hierarchie die unterste Stufe, in der christlichen Heilsordnung aber die oberste repräsentiert, konzentriert sich die Konfrontation von religiöser Orientierung am Jenseits und reiner Diesseitigkeit. D o m Juans herablassende Geste bleibt zwangsläufig dunkel wie der Wald, der sie umgibt, denn diese Dunkelheit ist ihr eigentlicher Sinn. Sie relativiert die Unbeirrbarkeit des Bettlers, der lieber H u n gers sterben würde, als eine Sünde zu begehen. D o m Juans Hybris setzt der unerschütterlichen Uberzeugung des Bettlers eine dieseitige >Barmherzigkeit< entgegen, die seine Charakterisierung als »grand seigneur méchant homme« 1 6 (durch Sganarelle i m ersten A k t ) unterstreicht. Behielte er die Münze, gäbe er sein Scheitern zu. Indem er sie aber gibt, hält er seine Position als ebenbürtiger Gegner, als Verfechter der reinen Diesseitigkeit aufrecht. 15 16

Moliere, (Euvres, 60. Moliere, CEuvres, 34.

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Die Warnung des Bettlers, es trieben sich seit einiger Zeit Räuber i m Wald herum, w i r d sofort bestätigt, als D o m Juan außerhalb der Szene einen Überfall auf einen Standesgenossen beobachtet. Er eilt zu Hilfe, und wieder findet die A k t i o n außerhalb des Bühnenraums, nur von Sganarelle kommentiert, statt. Das Bild von D o m Juans Charakter erscheint auch hier zwiespältig. A u f eine >gute< Tat folgt eine zweite. Aber nicht aus einem Gefühl des Mitleids heraus hilft D o m Juan dem Attackierten, sondern u m die eigene Ehre zu verteidigen, wie er sagt. U m diese Aussage richtig einzuschätzen, gilt es zu bedenken, daß D o m Juan noch immer als Bauer verkleidet ist. Sein adliges Benehmen steht i m (komischen) Kontrast zu seinem Handeln. Daß er dabei unwissentlich einem von Elviras Brüdern das Leben rettet, bewahrt ihn auf kurze Zeit vor dem Tod, als er von seinen Verfolgern gestellt wird. D o c h mit deren Abzug endet der dritte A k t noch nicht. Als weitere Überraschung folgt ein Ortswechsel innerhalb des Aktes: I n der Nähe erspäht D o m Juan den Tempel. Es ist die Grabstätte des von ihm erschlagenen Kommandanten. Er begibt sich hinein, und der Zuschauer folgt ihm. Die Kulisse wechselt, und man sieht das Innere eines prachtvoll eingerichteten Mausoleums. Das Mausoleum i m Wald ist ein magischer Ort, dessen Dignität D o m Juan freilich nicht respektieren kann, obwohl er sie sicherlich wahrnimmt. Er spottet über die Prachtentfaltung des i m Leben geizig gewesenen Toten. Selbst dessen Statue ist nicht vor seinem übermütigen Spott sicher. Der Frevel zieht die Rache des Jenseits nach sich, und mit dem Wunder der belebten Statue endet der dritte A k t .

IV. Der vierte Akt: Wo liegt D o m Juans Speisesaal? Der vierte A k t beginnt am Abend, lange nach der Rückkehr i n die Stadt, i n D o m Juans Wohnung. Die Kulisse zeigt einen Wohnraum. Seit einer Dreiviertelstunde wartet D o m Juans Kaufmann Monsieur Dimanche bereits vor der Tür. Da der Name Dimanche, Sonntag, auf einen Kaufmann verweist, der seine Schulden am Sonntag eintreibt, vermutet Dieckmann sicher nicht zu unrecht, daß die ganze Handlung an einem Sonntag spielen könnte. 1 7 Wichtiger ist allerdings die Frage, w o der vierte A k t spielt. Daß w i r uns in D o m Juans Wohnung, und zwar i m Speisesaal, befinden, steht außer Frage. D o c h der Besuch des Kaufmanns wirft die Frage auf, i n welcher Stadt diese Wohnung liegt. Monsieur Dimanche ist D o m Juan sehr vertraut. Er kennt seine ganze Familie, ist also den Umgang mit ihm gewohnt. Von diesem Händler bezieht D o m Juan seit Jahren seine Waren. Es ist selbstverständlich, daß der Händler und dessen Stammkunde i n derselben Stadt wohnen. Sollte nun Monsieur Dimanche D o m 17

Dieckmann, Die Geschichte Don Giovannis , 137.

Die Symbolik des Ortes

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Juan nachgereist sein, u m die Schulden einzutreiben? Angesichts der Tatsache, daß D o m Juan sich anschickt, den Gläubiger von seinen Leuten nach Hause eskortieren zu lassen, ist das recht unwahrscheinlich, zumal am selben Abend auch noch sein Vater auftaucht. Es steht eher zu vermuten, daß D o m Juan nach dem mißglückten Liebesabenteuer und dem Besuch i m Tempel am frühen Nachmittag den Palast erreicht, eine Kutsche oder ein Pferd bestiegen hat und bis zum Abend nach Hause gereist ist, d. h. zurück i n seine Heimatstadt. Entgegen der i m 19. Jahrhundert gebildeten und bis heute vorherrschenden Meinung befinden w i r uns i m vierten A k t also nicht nur an einem anderen Ort, sondern höchstwahrscheinlich sogar in einer anderen Stadt als i m ersten. Bedenken wir, daß langes Reisen hungrig macht, ist damit auch der Appetit der Helden allzu verständlich, zumal sie w o h l auf die Zubereitung des Essens warten mußten. Doch die Mahlzeit w i r d permanent von unangemeldeten Besuchern gestört: Monsieur D i manche, D o m Louis und die inzwischen von Gott erleuchtete Elvira betreten den Raum. U n d als man schließlich zum Essen schreiten kann, tritt ein unerwarteter, obwohl geladener Gast auf den Plan, die Statue. M i t ihrem Erscheinen überwindet die Statue nicht nur die Logik, zu der sich D o m Juan bekennt, sie legt auch eine beachtliche Strecke zurück, u m der Einladung zu folgen. D o m Juan ist ihr in einer quasi mystischen Umgebung begegnet, an einem geheimnisvollen O r t i m Wald, in einem Bauwerk, von dem man sich »des merveilles« 18 erzählt. Er hat den Toten und damit das Jenseits an dessen eigener Stätte herausgefordert. N u n tritt es in seine Wohnung, seinen A l l tag, ein. Wieder entsteht ein harter Kontrast zwischen Kulisse und Darstellung. Dieser Kontrast w i r d durch D o m Juans Aufforderung, dem Gast aufzutragen und ihn durch ein Lied zu unterhalten, noch intensiviert. D o c h die Statue widersetzt sich diesen Banalisierungsversuchen. Die Licht-Metaphorik am Ende des Aktes ergänzt noch einmal die Symbolik des rechten Weges i m dritten. Der vierte A k t schließt mit der symbolisch bedeutsamen Einladung D o m Juans zum Abendessen mit der Statue. Eine solche Einladung durch einen Toten bedeutet den Eintritt ins Jenseits. D o m Juan, dem diese Symbolik sicherlich klar ist, der aber nicht an die Echtheit der Wundererscheinung glaubt, nimmt die Einladung an.

V. Der fünfte Akt: Wo schlägt Gottes Rache zu? Der letzte A k t beginnt mit einer weiteren Überraschung: Es ist früher M o r gen, und D o m Juan begegnet seinem Vater in respektvoller und reumütiger Weise. Er ist, so heuchelt er, zum Glauben bekehrt und möchte von nun an ein 18

Moliere, CEuvres, 66.

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besseres Leben führen. Er bittet sogar u m Hilfe bei der Suche nach einem geistlichen Führer, der über sein Gewissen wache. Der Vater vergibt dem »heimgekehrtem Sohn bereitwillig, und selbst Sganarelle ist glücklich. Für ihn gibt es ein böses Erwachen, als sein Herr ihm seine wahren, nämlich die alten Ansichten mitteilt und seine hypokritische Strategie erläutert. Die Lokalisierung dieses Geschehens und des restlichen fünften Aktes ist besonders schwierig. Die textuellen Hinweise sind spärlich, weswegen Dieckmann mit Luther schreibt: »Freie Gegend«. I n einer freien Gegend, auf einem Feld außerhalb der Stadt, ist der fünfte A k t jedoch am schlechtesten aufgehoben. Gegen diese Lokalisierung spricht vor allem die dritte Szene, d. h. die zweite Begegnung mit D o m Carlos. Dieser freut sich zunächst, D o m Juan nicht in dessen Wohnung aufsuchen zu müssen, u m den Ehrenhandel zu klären. I m Gespräch erkennt Carlos, daß eine friedliche Einigung nicht möglich ist. Die nach dem Ehrenkodex notwendige Konsequenz ist das Duell. Aber Carlos lehnt die aktuelle Umgebung als Austragungsort ab: »le lieu ne le souffre pas« 19 (wörtlich: >der O r t duldet es nichtDisput< und damit den Schlußpunkt der theologischen Diskussion zwischen Herr und Diener eingebettet ist. Die Erscheinungen des Geistes und der Statue wären zudem i n einer Kirche oder auf einem Friedhof besonders wirkungsvoll. Die überlieferte Original-Kulisse zeigt nun allerdings keine Kirche, sondern eine Stadt. Das ist keineswegs überraschend, denn die Darstellung des Innenraums einer Kirche i m Kontext einer Komödie wäre i m 17. Jahrhundert ein Sakrileg gewesen. Molière hatte sich mit der Thematisierung des Religiösen ohnehin sehr weit i n eine Tabu-Zone vorgewagt. Hätte er für den fünften A k t die passende Kulisse gewählt, eben die Kirche, so wäre dies äußerst unklug gewesen und hätte seine Feinde schon i m Vorfeld der Inszenierung gewarnt. W i r könnten es demnach mit einer präventiven Selbst-Zensur zu tun haben. Daß Molière gezwungen war, sich selbst zu zensieren, wissen w i r aus der Text-Geschichte des »Dom Juan« nur zu gut. Die Stadtkulisse scheint also ein Ausweichmanöver zu sein. Inhaltlich kann es wenig überzeugen, wenn sowohl das zufällige Zusammentreffen der Figuren als auch die Geisterscheinung sich ganz zufällig i m Freien abspielen. Aber wer die durchgehende Bedeutsamkeit des Ortes i m Stück registriert, der muß zu der Ansicht gelangen, daß dies nur eine Notlösung war. Es wäre immerhin möglich, daß hier an den Platz vor einer Kirche gedacht war, daß also außerhalb der szenischen Darstellung, gewissermaßen i m Zuschauerraum, eine Kirche hinzugedacht werden müßte. Träfen sich die Figuren morgens vor der Kirche, so würde dies sowohl dem Handlungsverlauf wie auch dem ideologischen Inhalt des Aktes entsprechen. Diese Vermutung fügt sich i n unsere Beobachtungen insofern ein, als das szenische >Off< für die topographische Struktur des ganzen Stückes sehr bedeutsam zu sein scheint. Der fünfte A k t ist der A k t der Heuchelei, in dem D o m Juans Kunst des falschen Scheins, der Maske, am höchsten entwickelt ist. Die religiöse Heuchelei ist die konsequente A n t w o r t D o m Juans auf die gesellschaftlichen und sozialen Widerstände gegen seine libertine Lebensweise. Er entwirft die Strategie einer effektiven persönlichen Machtpolitik, mit der er zur universellen Manipulation ausholt. Den Einfluß der religiösen Eiferer w i l l er in Zukunft für seine Zwecke ausnutzen. Dieser wahrhaft >teuflische< Plan macht ihn unangreifbar. I m Schatten der Kirche und des Glaubens wäre er vor allen Verfolgungen geschützt.

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U m wieviel effektiver wäre diese Rede, wenn sie in oder vor einer Kirche ausgesprochen werden würde! Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Molières Umgang mit der dramaturgischen Topographie als äußerst reflektiert gelten muß. »Dom Juan ou le festin de pierre« ist - entgegen der lange Zeit geäußerten Ansicht - ein besonders streng durchkomponiertes Stück, das die Gattung der Moralität i n die gesellschaftliche Lage der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts übersetzt und modernisiert. Das Geschehen ist in hohem Maße verdichtet und von symbolischen Bedeutungsstrukturen durchzogen. Die Bedeutung des Ortes ist dabei für das Verständnis des ganzen Stückes außerordentlich wichtig. Die einzelnen Kulissen vermitteln dem Zuschauer des 17. Jahrhunderts über traditionelle NaturSymbolik und spezifische kulturelle Signale spannungsreiche Bezüge des Ortes zur Handlung. Die Stationen auf dem Weg des D o m Juan manifestieren sich zugleich i m Wechsel der Orte. Den regelmäßigen Ortswechsel hat Molière dramaturgisch geschickt genutzt, u m auf subtile Weise eine komplexe Handlung außerhalb des Bühnengeschehens zu suggerieren und seine Zuschauer damit immer wieder zu verblüffen. Jeder Ortswechsel steht für eine überraschende Wendung i m Geschehen, wobei die Topographie häufig die Wirkung der Handlung durch konstrastierende Effekte verstärkt. Die dramaturgische Struktur erweist sich hier sogar als außerordentlich symmetrisch und mag insgesamt an die zu Beginn aufgerufene klassizistische Architektur erinnern: Der erste und fünfte A k t spielen an Orten von hoher Repräsentativität und Dignität, während der zweite und vierte gewissermaßen i m >Privaten< angesiedelt sind. I m Zentrum des Stückes aber steht - auf offener Bühne - der entscheidende Ortswechsel: der Eintritt in den magischen Bezirk des Jenseitigen, das D o m Juan selbst leugnet. Diesem Kulminationspunkt kommt i n der Symbolik des Ortes die höchste Dignität zu, und er verdeutlicht gleichzeitig die Entwicklung des Stükkes von der gesellschaftlich-weltlichen hin zur metaphysisch-geistlichen Sphäre. Sollte Molière das gesamte Publikum i m fünften A k t wortwörtlich auf der >Seite< der Kirche lokalisiert haben, so hätte er damit sicherlich sowohl eine symbolische Verknüpfung von Gesellschaft und Kirche wie auch eine Warnung vor dem großen Heuchler, der >vor der Tür< steht, verbunden.

Warum ich so weise bin: Der tschechische Dichterphilosoph Ladislav Klima und Nietzsche Von Urs Heftrich

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Ruzena Grebenickovä zum Gedächtnis Ladislav Klima (1878-1928), der Vorläufer des Dadaismus 2 und Surrealismus 3 in der tschechischen Literatur, gilt als »das enfant terrihle der tschechischen Philosophie«. 4 Der Ungebundenheit seines Denkens ordnete er alles unter: die Sicherheit einer bürgerlichen Existenz, die Aussicht auf öffentliche Resonanz und nicht zuletzt seine Intentionen als Dichter - Klimas gesamtes belletristisches Schaffen dient der experimentellen Erprobung seiner Philosophie. Als dichtender Philosoph rückt Klima also schon äußerlich i n beträchtliche Nähe zu Nietzsche. Wie stark er ihm auch innerlich, in seinem Denken, verpflichtet ist, läßt bereits sein frühes D i k t u m erahnen, Nietzsche sei ein »unausdenklich großer Mann«. 5 Angesichts solcher Affinitäten zu Nietzsche stellt sich freilich auch die Frage nach Klimas Originalität mit besonderer Schärfe. Diese Frage wurde bislang kontrovers beantwortet. Klimas - anfänglich nicht eben zahlreiche - Anhänger zögerten nicht, ihn »unter die führenden Phi-

1 Eine stark verkürzte Fassung dieses Textes wurde im Rahmen einer Nietzsche-Tagung des Prager Goethe-Instituts im Herbst 1995 vorgetragen. In der vorliegenden Form bildet er zugleich das Abschlußkapitel meines tschechischen Buches über die frühe tschechische Nietzsche-Rezeption: Nietzsche v Cechdch (Prag, voraussichtl. 1998). 2 Miloslav Topinka, »Spät na britve a na blechäch v riji (Hnuti dada ve vztahu k nasi mezivälecne avantgarde)«, Orientace (1970), Nr. 4, 57-64, hier 63. 3 Josef Zumr weist freilich auf den erstaunlichen Umstand hin, daß die »tschechischen Surrealisten Klimas Werk nicht beachteten, obwohl sie ähnliche Erscheinungen aus der französischen Kultur begeistert aufnahmen« [ders., »Ideovä inspirace Bohumila Hrabala«, in: Milan Jankovic, Josef Zumr (Hg.): Hrabaliana. Sborntk praci k 75. narozenindm Bohumila Hrabala (Prag 1990), 121-136, hier 126]. Alle Zitate übersetzt vom Verf. 4 Josef Zumr, »Ladislav Klimas Revolte gegen die Absurdität der Welt«, in: Perspektiven der Philosophie, Neues Jahrbuch 18 (1992), 215-224, hier 215. 5 Ladislav Klima, Svet jako vedomia nie (2. Aufl., Prag 1928), 15 (künftig kurz: SVN).

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losophen der Welt« neben Plato, Kant und Nietzsche einzureihen 6 und ihn zum Urheber einer neuen »kopernikanischen Wende« i n der Geschichte des Denkens zu stilisieren. 7 Z u diesem Zweck bescheinigte man ihm eine gleichsam wurzellose Ursprünglichkeit: sein Standpunkt lasse sich »in der Geschichte der Philosophie nicht unterbringen.« 8 Klimas Erstlingsschrift, Die Welt als Bewußtsein und Nichts, wurde eine »Offenbarung« genannt, 9 ihr A u t o r mit einem »Meteor« verglichen, 10 mit einem »herrlichen Feuerwerk Gottes«. 1 1 Die Kunde von einem solchen Pfingstwunder in der tschechischen Philosophie quittierten die zuständigen Lehrstuhlinhaber nur mit einem müden »Alles schon dagewesen«. 12 Frantisek Krejci fand in Klima nichts weiter als ein »Kontaminat Berkeley - Schopenhauer - Nietzsche«. 13 Während also die einen - als hätte es Nietzsches Angriffe auf den »Aberglaube[n] vom Genie« (2/154) 1 4 nie gegeben - Klimas Werk bestaunten, »als ob es auf einen Zauberschlag aus dem Boden aufgestiegen sei« (2/141), glaubten die anderen, es als einen bloßen Korb von Lesefrüchten abtun zu können. Beides ist gleichermaßen töricht. Die differenzierteren Interpreten haben denn auch Klimas Abhängigkeit von seiner Zeit und seiner Lektüre nie geleugnet. Sie versuchten, seine Eigenständigkeit gleichsam durch Subtraktion dieser Faktoren zu ermessen. Was dabei von Klima übrigblieb, fand der eine (Josef Zumr) mehr, der andere (Jan Patocka) minder tragfähig. Diese Diskussion auf rein philosophischer Ebene kann hier jedoch nicht entschieden werden. Hier w i r d bewußt noch einmal weiter unten an-

6 Emanuel Chalupny, »Dve jubilea ceske filosofie«, in: Ladislav Klima, filosof- bäsnik. 1878-1928-1948 (Prag 1948), 85-94, hier 93-94. 7 Karel Bodläk, »Myslenkovy svet Ladislava Klimy«, in: Ladislav Klima, filosof - bäsnik, op. cit., 11-51, hier 12. 8 Bodläk, op. cit., 14. 9 So Otokar Brezina, zit. nach Jan Patocka, »Ladislav Klima. Pokus o rozbor klicovych tezi«, Orientace (1967), Nr. 3, 40-45, hier 40. 10 Jaroslav Kabes, »Nekolik slov üvodem«, in: Ladislav Klima, Boj o vse. Deniky a korespondence spfäteli z let 1909 az 1917 (Trag 1942), 7-12, hier 7 (künftig kurz: BoV). 11 So wiederum Brezina in: Emilie Lakomä, Ulomky hovorü Otokara Breziny; hg. Petr Holman (Brünn 1992), 300. Brezina äußerte sich gelegentlich freilich auch weitaus kritischer über Klima: »Man darf Klima nicht in eine Reihe mit den großen philosophischen Persönlichkeiten stellen. [ . . . ] Klimas Philosophie ist interessant, aber es gehen von ihr keine Wege aus, die irgendwohin führten« [Gisa Pickovä-Saudkovä, Hovory s Otokarem Bfezinour (Prag 1929), 343]. 12

Mit diesen Worten wird Frantisek Krejci von Chalupny zitiert [Emanuel Chalupny, Dopisy a vyroky Otokara Breziny (Prag 1931), 176]. 13 Zit. nach Patocka, op. cit., 40. 14 Nietzsches Werke werden - unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl - zitiert nach: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München 1980).

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gesetzt: mit den Mitteln der Einflußphilologie soll überprüft werden, wieviel Klima Nietzsche wirklich verdankt. Dabei w i r d sich zeigen, daß von seinem Werk nach Abzug des ganzen Nietzsche weniger übrigbleibt, als selbst Z u m r und Patocka bewußt war. 1 5

I. Aktenstücke eines Psychologen: Nietzsche als Therapeut Klima war für eine intensive Rezeption Nietzsches geradezu prädisponiert. Eine gewisse typologische Nähe zwischen Klima und Nietzsche wurde schon i m äußerlich Biographischen festgestellt. Die Verwandtschaft zwischen beiden reicht jedoch tiefer, bis an die Wurzeln ihrer seelischen Verfassung hinab. So meint nicht nur Nietzsche, er habe mit einem »zerschmetternden Blitzschlag« (6/363-364) die »Geschichte der Menschheit in zwei Stücke« gebrochen (6/373): »Es w i r d sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas U n geheures anknüpfen, - an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, [ . . . ] an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war« (6/365). I n einem Brief von 1917 erinnert sich Klima, wie ihm i m August 1909 »das Sonnenphantom [s]eines Gedankens erschien«: »des größten Gedankens der Erde, des non plus ultra für alle Zeiten, vor dem nahezu alles, was die Kultur hervorgebracht hat, fast unsichtbar klein und verachtenswert erscheint - die plötzliche Grenze der beiden einzigen Ären des Geistes, hinter der alles bodenlos schwarz, vor der alles bodenlos weiß ist« (BoV 104). Nietzsche führt solche Hybris schließlich zum Glauben an »[s]eine Göttlichkeit« (6/268). Klima geht von diesem Glauben aus: »Deus sum!« (BoV 104). Hinter der Selbstvergottung verbirgt sich bei beiden eine ungeheure Einsamkeit: »Aber ich habe Einsamkeit nöthig [ . . . ] . Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit« (6/276), ruft Nietzsche, und Klima versucht ihn noch zu übertrumpfen: »Hier ist die erste wirkliche Einsamkeit! Aber ein Egodeist hat daran noch nie auch nur i m geringsten gelitten, wie z. B. Nietz15

Man mag solches Nachrechnen kleinlich finden. Der Verf. ist sich dessen bewußt, zumal er ohne die Hilfe von Klima-Enthusiasten wie Josef Zumr und Martin Machovec das Material zu dieser Studie in den Jahren 1986/87 gar nicht hätte zusammentragen können. Dafür sei ihnen herzlich gedankt. Ihr Engagement für Klima zu einer Zeit, da der Philosoph verboten war, verdient große Anerkennung. Es war jedoch so erfolgreich, daß man inzwischen von einer regelrechten Klima-Renaissance sprechen kann (acht seiner Werke wurden zwischen 1984 und 1991 allein ins Französische übersetzt). Da man also heute nicht mehr fürchten muß, einen Verfemten zu meucheln, scheint der Zeitpunkt zu einer erneuten Kritik Klimas gekommen - getreu Nietzsches »Kriegs-Praxis«: »ich greife nur Sachen an, die siegreich sind, - ich warte unter Umständen, bis sie siegreich sind« (6/274).

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sehe an seinen kleinen Einsamkeitchen«. 16 Das Leiden hinter Nietzsches H y m nen an die Einsamkeit hat Klima ebenso deutlich herausgespürt wie die Zerbrechlichkeit hinter seiner proklamierten Härte: »Es fehlt ihm jene [ . . . ] stählerne, napoleonische Stärke und Härte; er war zu weich, obwohl er die Härte lehrte« (SVN 15). Eine einfühlsame Charakteristik Nietzsches - nur trifft sie auf Klima selbst nicht minder genau zu. Überraschte dieser Napoleon-Verehrer seine Gesprächspartner doch immer wieder durch ein zartes, kindlich dankbares, ja fast unterwürfiges Auftreten. 1 7 Ähnlich verhält es sich mit Klimas zur Schau getragener »>Fühllosigkeit, »marmornen KälteSeinem Gefühle folgend«, fragt Nietzsche, und er rät, »diesen Andrang bei sich zu überwinden« und nie etwas »auf Impulse hin zu thun, - sondern kalt, raisonnable« (XV/458). 1 9 Solche Gefühlskälte dient Nietzsche als Schutzwall gegen die N ä he des Allzumenschlichen, die er als physische Bedrohung empfindet: »Der Ekel am Menschen [ . . . ] war immer meine grösste Gefahr« (6/276). A u c h die »philosophische Versteinerung« 20 des jungen Klima hat ihren Ursprung i m Ekel vor menschlicher Nähe: Am meisten verachtete ich die Menschen, mit Ekel: es genügte die Berührung ihrer Körper und Kleidung, damit sich mir der Magen umdrehte. Je mehr, desto näher sie mir waren; Verwandte, v.a. Geschwister, am meisten die Eltern - [ . . . ] übrigens fühlten meine Eltern, beide ungewöhnlich weise, meine Intimissima in beträchtlichem Maß und nahmen darauf Rücksicht - sie hatten z. B. nichts dagegen, wenn ich, bereits als Zwölfjähriger, ganze Nächte in den Wäldern verbrachte. 21 Es gibt bei mir keinen Seelenzustand, der nicht in einer Sekunde verschwände, wenn ich das will. Ich wurde eine handelnde Maschine, - was mein Ziel war - , eine Statue; »seelisches Petrefakt«: die höchste Schmeichelei, die ich je über mich gehört habe (VaV 170). Seit Möbius hat es nicht an Versuchen gefehlt, Nietzsches Werk als Ausdruck einer schweren geistigen oder seelischen Störung zu deuten. 22 Solange 16

Ladislav Klima, Filosoficke

listy Ladislava Klimy (Prag 1939), 24 (künftig kurz: FL).

17

Vgl. Jindrich Chalupecky, »Ladislav Klima«, in: Expresioniste (Prag 1992), 135-172, hier 139. 18 Ladislav Klima, Cholupicky den (Samizdat, Prag 1976), 29 (künftig kurz: ChD). 19 Um die Wirkung Nietzsches auf Klima mit größtmöglicher einflußphilologischer Exaktheit nachzuweisen, werden Nietzsches Nachlaßnotizen>soweit möglich, nach den zwischen 1901 und 1904 erschienenen Nachgelassenen Werken (Bände IX-XV der sog. Kleinoktavausgabe) zitiert. Zur Unterscheidung von der Kritischen Studienausgabe wird die Bandnummer in diesen Fällen in römischen Zahlen angegeben. 20 Ladislav Klima, »Vlastni zivotopis«, in: Vtefiny veenosti. Prözy y listy, eseje, sentence (Vybor z dila) (Prag 1967), 267-284, hier 278 (künftig kurz: W ) . 21 Ladislav Klima, Vtefina a veenost (Prag 1946), 163 (künftig kurz: VaV). Vgl. Klimas »Vlastni zivotopis«, W 269. 22 Paul J. Möbius, Über das Pathologische bei Nietzsche (Wiesbaden 1902).

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dabei die Auseinandersetzung mit der objektiven Bedeutung seiner Lehre durch Aufdeckung ihrer subjektiven Entstehungsbedingungen nicht einfach umgangen werden soll, ist dies zulässig. Nietzsche selbst weist ja wiederholt darauf hin, wie sehr er seiner »Krankheit zu Dank verpflichtet« ist (6/272); und er hat auch den Psychologen eine Spur zu den Wurzeln seines Werks i n der Kindheit gelegt: »Die Behandlung, die ich von Seiten meiner Mutter und Schwester erfahre, bis auf diesen Augenblick, flösst mir ein unsägliches Grauen ein« (6/268). 23 Wahrend Nietzsches Kindheit hinreichend dokumentiert ist, u m seinen »Gotteskomplex« 2 4 zu erklären, sind w i r i m Fall Klimas weitgehend auf die Selbstzeugnisse des Erwachsenen angewiesen, dessen frühe Traumata allenfalls noch durch Risse in seinem Verdrängungsgebäude schimmern. Zunächst sei das Bild seiner Jugend so skizziert, wie man es meist dargestellt findet. Klima gilt als »stiller und schüchterner Junge«, von der Mutter behütet, v o m Vater i n seiner Freiheit nicht eingeschränkt. 25 Als er sechzehn ist, rafft der Tod seine M u t ter, Großmutter, Tante und die einzige noch lebende Schwester dahin. Klima hört auf sich zu waschen, revoltiert gegen sämtliche Autoritäten, von den Lehrern bis zum Kaiser, und bricht die Schule ab - mit Billigung des Vaters, den er später als den »in der Tiefe wahrhaftigsten Philosophen, den ich persönlich je kennenlernte«, preisen w i r d (VaV 165). Geht man von Klimas Bestimmung des Philosophen als eines Ausbunds an seelischer Unerschütterlichkeit aus, so ist diese Charakteristik seines Vaters sicherlich zutreffend. Das Gespräch, i n dem der Siebzehnjährige den schicksalhaften Entschluß kundtut, weder die Schule zu beenden, noch einen Beruf zu ergreifen, verläuft folgendermaßen: »Es genügten zwei Minuten [!] Unterredung mit meinem weisen Vater, und w i r einigten uns, und danach fiel darüber zwischen uns nie mehr ein Wort [!]« ( W 271). Überhaupt entpuppt sich die »Weisheit« von Klimas Eltern, die zu rühmen er nicht müde w i r d ( W 276, VaV 163), bei näherem Hinsehen als eine Form höherer Gleichgültigkeit: sie besteht darin, daß man i h m früh jedwede Freiheit gönnt ( W 276), daß man mit 23

Einen Versuch, Nietzsches Philosophie aus den Traumata seiner Kindheit herzuleiten, unternimmt Alice Miller [dies., »Das ungelebte Leben und das Werk eines Lebensphilosophen (Friedrich Nietzsche)«, in: Der gemiedene Schlüssel (Frankfurt 1991), 9-78]. Dabei stützt sie sich fatalerweise auf die von Nietzsches Schwester zensierte Ausgabe von Ecce homo, sodaß ihr Stellen wie die eben zitierte völlig entgehen. Auch sonst spart sie nicht mit längst widerlegten Klischees: Nietzsche gilt ihr als Verfechter des »Altgermanischen« (35), die »blonde Bestie« als Synonym für »Faschismus« (42). Durch solche Unkenntnis wird ihr im Prinzip fruchtbarer Ansatz leider von vornherein diskreditiert. 24

Miller, op. cit., 53. Ladislav Klima, Juvenilie (Vzpominky Jana Paroubka apoznamky Jar. Kabese) (Prag 1941), 31-32 (künftig kurz: J). 25

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ihm »wie mit einem Erwachsenen« umgeht (J 32), ja daß man auf seine A b scheu gegen körperliche Nähe - welchem K i n d wäre sie angeboren? - »Rücksicht« nimmt (VaV 163). Die Entwöhnung vom Menschlichen schlägt an: schon als Dreijähriger hat Klima, wenn er mit Passanten ein paar Worte wechseln muß, ein »Gefühl, als würde ich Scheiße kauen« ( W 278). 2 6 A u c h das Bild von den »schützenden Fittichen«, die seine Mutter angeblich i n »zärtlicher Güte« über ihn breitete (J 31), stimmt nicht recht mit jenen Nächten zusammen, die der zwölfjährige Knabe allein i n den Wäldern verbracht haben will. Wie man mit Menschen Konflikte austrägt, lernt er nicht; sein einziger engerer Schulfreund schildert ihn als einen »ungewöhnlich braven Jungen von weichem Herzen«. 2 7 O b w o h l erklärtermaßen »von Natur zur Tobsucht neigend« ( W 281), legt er noch als Erwachsener Wert darauf, sich kaum je ernsthaft mit jemandem gestritten zu haben ( W 278-279): »Ich bin zu allen Leutchen die verkörperte Mäßigung und Liebenswürdigkeit« ( W 281). Seine Aggression entlädt sich handgreiflich gegen Fensterscheiben, Getreidehocken und Züge ( W 269), nach dem Tod der Mutter dann schriftlich gegen Schule und Monarchie, noch später, wiederum schriftlich, in sadistischen Phantasien bis hin zur Auslöschung der ganzen Menschheit 2 8 - offenbar aber nie gegen den Vater, der ihn ja immer nur »in völliger Freiheit« (J 32), d. h. wohl: verwahrlosen ließ. Dabei schwebt K l i ma, wie er mit Nietzsche sagt, seit seinem 15. Lebensjahr »immer am Abgrund« ( W 277). Der »Gedanke sui occisionis begleitet [ihn] ständig süß und treu wie ein Stab« ( W 277). Aus der Verzweiflung flüchtet er sich in die Pose des stoischen Skeptikers: »wenn w i r schon nicht >wahrhaftig< sein können, laßt uns wenigstens so tapfer und grandios wie möglich sein« ( C h D 51; Hervorhebung von U.H.). Dieses Wechselspiel von Grandiosität und Depression, ein geläufiges Phänomen bei Erwachsenen, die ein Liebesdefizit ihrer Kindheit zu kompen-

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Léon Wurmser konstatiert: »Von einer Reihe von [ . . . ] Borderline-Patienten, deren Schamangst enorme und lähmende Ausmaße angenommen hatte, wurde berichtet, daß sie in sehr früher Kindheit besonders schüchtern gegenüber Fremden waren. Eine Erklärung der Fremdenangst könnte sein, daß der Fremde [ . . . ] nicht der Kontrolle und Macht des Kindes unterworfen ist« [ders., Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten (Heidelberg u. a. 1990), 162-163]. Man vergleiche damit das Bedürfnis des erwachsenen Klima, durch ein solipsistisches System den gesamten Kosmos seiner Kontrolle zu unterwerfen! Vgl. auch P. F. Kernberg, »Narzißtische Persönlichkeitsstörungen in der Kindheit«, in: Otto F. Kernberg (Hg.), Narzißtische Persönlichkeitsstörungen (Stuttgart, New York 1996), 191-217. 27 So Jiri Hoetzel, zit. bei Chalupecky, op. cit., 140. Auch Paroubek bestätigt indirekt, daß diese Freundschaft auf dem Prinzip konfliktloser Unterordnung beruhte: »Mit dem natürlichen Recht des Älteren führte [Hoetzel] Klima geistig und hatte beträchtlichen Einfluß auf ihn« (J 33-34). 28 »Wenn ich mit einem Schlag die ganze Menschheit vernichten könnte - fröhlich, ohne Zorn, nur aus >Übermuth< - , ich würde keine Sekunde zögern« ( W 282).

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sieren versuchen, 29 endet schließlich in der Proklamation der eigenen Göttlichkeit bei schwerstem Alkoholabusus. Der entscheidende Schock, der diese Tendenzen zum Ausbruch bringt, ist zweifellos der Verlust des gesamten weiblichen Teils von Klimas Familie. Er fällt, wie gesagt, in sein 16. Lebensjahr. I n das gleiche Jahr fällt jedoch vermutlich auch seine erste Begegnung mit Nietzsche - jenem anderen Einsamen, der sich aus seiner N o t in die Grandiosität zu retten versuchte. 30 Deshalb sei die These gewagt: Nietzsche dient Klima zunächst nicht so sehr als philosophischer Lehrer, wie verhängnisvollerweise als Therapeut. Indirekt räumt er dies selber ein: »Bei Schopenhauer lernte ich mehr, Nietzsche stärkte und erhob mich mehr« (VaV 165; Hervorhebungen von U.H.). Das eigentliche Verhängnis besteht darin, daß Klima sich weniger an jene Seiten Nietzsches hielt, aus denen der souveräne Denker spricht, als an diejenigen, die die eigene Therapiebedürftigkeit des Menschen zum Ausdruck bringen. Denn Nietzsches fragwürdige Selbststilisierung, wie sie i n Ecce homo kulminiert, gerät Klima zum Interpretationsschema für die Deutung und Bewältigung seines eigenen Lebens schlechthin. Der narzißtisch Gestörte sucht sein Spiegelbild... i n einem Narziß! Ein Schema der Identifikation mit Nietzsche haben w i r bereits am Beispiel der Einsamkeit kennengelernt: das Prinzip der grandiosen Überbietung. Es bewährt sich, soviel wurde deutlich, auch beim Urteil über die Bedeutung der eigenen Lehre: Gewiß ist wenigstens dies, daß, so wie die nächsten Jahrhunderte Nietzsche [gehören], die nächsten Jahrzehntausende, Äonen dem umbristischen, egosolistischen, deoessentischen Absolutismus gehören werden (VaV 8). Als zweites Identifikationsschema dient die direkte Übertragung von Nietzsches Selbstdarstellung auf die eigene Person - teils unter wörtlichem Rückgriff auf dessen Metaphorik. So kündigt Klima an, er werde »mit dem Hammer philosophieren« (VaV 208), und nennt sich »das Dämmern eines unermeßlichen 29

Vgl. das Kapitel »Die Depression als Kehrseite der Grandiosität« bei Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Eine Um- und Fortschreibung (Frankfurt 1994), 109-113. E. Ronningstam und J. Gunderson betrachten das »Grandiositätserleben« als das »stabilste und generalisierbarste Kriterium«, um »narzißtische Patienten zu diskriminieren« (dies., »Deskriptive Untersuchungen zur narzißtischen Persönlichkeitsstörung«, in: Otto F. Kernberg, op. cit., 99). 30 Zwar behauptet Klima, er habe mit 16 nur den Titel von Jenseits von Gut und Böse gelesen (VaV 164), doch scheint dies - auch angesichts der Erinnerungen Jan Paroubeks (J 35) - wenig wahrscheinlich. Die intensive Beschäftigung mit dem ganzen Nietzsche datiert Klima auf seine Zeit in Zagreb, d. h. sein 18. Lebensjahr: »Ansonsten traf ich mich in Zagreb mit anderen: mit Schopenhauer und ein wenig später mit Nietzsche. Nach anderthalb Jahren waren beide durchgelesen, obwohl ich an ihnen eigentlich erst das Deutsche lernte« (VaV 165). 10 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 39. Bd.

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Tages, doch zugleich dessen Mittag« ( C h D 52) 3 1 . Diese Prophetenpose kann indes, wie bei Nietzsche, jederzeit in die Grimasse des »Hanswursts« 32 umschlagen (vgl. 6/365). Seine Fähigkeit, unter widrigen Umständen auszuharren, erläutert Klima mit einem Ecce homo-Zitat (DP 57): »Jener »russische FatalismusJa< gesagt habe, ist eine der größten Taten meines Lebens... Niemand anderer könnte mir dies heute nachtun...« (FL 23), so verschweigt er, daß ihm mit solcher Selbstbejahung zumindest einer vorangegangen ist: Nietzsches Zarathustra, »dieser jasagendste aller Geister« (6/343). Die Kehrseite der Grandiosität ist die Depression. Dieser Satz läßt sich gleichsam von zwei Seiten her lesen: entweder (mit den Augen des Arztes) als Einwand gegen das Hochgefühl des Grandiosen, oder aber (aus der O p t i k des Betroffenen) als Trostmittel in der Depression. Nietzsche handhabt dieses M i t tel, die Umdeutung des eigenen Elends in ein Zeichen von Aus erwähltheit, virtuos. Klima versucht, es ihm nachzutun, wenn er seine Lehre gegen den Vorw u r f des Pathologischen verteidigt: »Und doch [ist das] bei dir ein seelischer Defekt.« Meine Herren, wieviele Leutchen wie Sie habe ich schon kennengelernt, und alle litten bei »ihrer Alltagsköpfigkeit«: Schopen.33 an kapitalen Defekten aller Art. Übrigens ist in dieser sich selbst zerstörenden Welt alles mehr oder weniger ein Defekt und der Botaniker etwa weiß, daß noch an der am schönsten entwickelten Pflanze empirisch irgendein Defekt immer nachweisbar ist... »Aber dein Defekt ist ungewöhnlich groß.« Nego. Aber wenn auch - so wäre das nur natürlich und keine Schande. »Je höher,; desto zerbrechlicher ist das Ding. Das >Genie< ist die sublimste Maschine, die es gibt - folglich die zerbrechlichste«: Niet. (ChD 29-30).34 31 Vgl. auch die weiter unten ausgeführte Parallele zwischen Klimas »vier Tageszeiten des menschlichen Geistes« in: Traktäty a diktdty (Prag 1922), 57-60 (künftig kurz: TaD) und Nietzsches Kapitel »Wie die >wahre Welt< endlich zur Fabel wurde« aus der GötzenDämmerung (6/80-81). 32 Im Original deutsch, in: Duchovni prätelstvi Vzäjemna korespondence Ladislava Klimy s Emanuelem Chalupnym a Otokarem Brezinou. Hg. Jaroslav Kabes (Prag 1940), 45 (künftig kurz: DP). 33 Im Original deutsch.

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Die größte Intensität erreicht die Identifikation mit dem Vorgänger stets dann, wenn Klima aus dem Tal der Depression zu den grandiosen Gipfeln früherer philosophisch-mystischer Entrückung zurückblickt. Für diese bittere Erfahrung w i r d Nietzsche immer wieder als Eideshelfer herangezogen. So meldet das Tagebuch i m September 1912 einen »Letzte[n] Verzweifelte[n] Versuch i n göttl. Praxi« (BoV 27). Der Versuch scheitert und w i r d mit dem Zitat kommentiert: »Zarathustra, [ . . . ] deine Früchte sind reif, aber du bist nicht reif für deine Früchte« (BoV 28). 3 5 1 9 1 3 hat Klima nach eigener Einschätzung erneut »den Zustand erreicht, von dem Nietzsche spricht«. 3 6 Was damit gemeint ist, verdeutlicht ein längeres Exzerpt aus Ecce homo (6/341-342): jener »Nothstand ohne Gleichen« nämlich, der Nietzsche nach Abfassung seines Zarathustra überfiel. 1914 droht Klima gänzlich in der Depression zu versinken. Vor dem Selbstmord bewahrt ihn nicht zuletzt Zarathustra: »Einer der Gründe, weshalb ich hier bislang noch ausharre, ist, daß der Abgang für mich >der ehrfürchtig geschonte Wein der Weine< Zar.-Niet. ist« (BoV 124). 37 Denn Klima legt großen Wert darauf, daß seine Krisen wenigstens die Krisen eines Zarathustra sind: Ich spüre jetzt manchmal einen wütenden Hunger, meine sämtlichen Innereien all diesen Hunden und Schweinen auf Gedeih und Verderb vorzuwerfen - noch ein paar Jahre und vielleicht »Mund bin ich geworden ganz und gar:« Niet.: »wahrlich, es ist schwer zu leben, weil Schweigen so schwer ist«: idem (DAP 29). 38 I n solchen Augenblicken begreift er »die Bedeutung von Nietzsches Satz: >Auch die stärksten Menschen haben ihre schwachen StundenSeinem-Sieg-nicht-erliegen< erlegen wäre, wenn er nicht die Manie gehabt hätte, »unerbittlich zu sein, zur Zerstörung bereit im Siege«; er dachte, »eine Kunst« hätte er »von Grund auf gelernt: auf sich selbst zu warten« - vonwegen! Ein Fieber, ein Krampf, ein Scheuwerden unter der eigenen Peitsche war sein Geist; es war ein menschlicher Geist; überspannte Tätigkeit ist die größte Sünde und der größte Fluch des Menschen [ . . . ] . »Faulheit« ist, genau genommen, immer nur ein Schimpfwort für »Muße« ... Müßigsein ist oft großer Heroismus. Die Entscheidung zur Muße ist das schwerste für den aktiven Geist [ . . . ] . Wieviele der kräftigsten, also entkräftetsten Seelen wären zu retten gewesen, wenn sie rechtzeitig in sich genug Stärke zur »Schwäche« gefunden hätten: zum lang dauernden Ausspannen ihres Willens, zur »Faulheit«! (TaD 56) Nietzsche schäumt, die Götter mögen wissen warum, das ganze Leben lang gegen ein Dauern nach dem Tode, um freilich zuletzt zu Kreuze zu kriechen: zu der verkrüppelten Mißgeburt der Ewigkeit: der Ewigen Wiederkunft des Gleichen (VaV 159).41 40

Ladislav Klima, Arkanum. Cogitata, Sentence (Prag 1934), 25 (künftig kurz: ACS).

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Nietzsche: die größte Freiheit, die je unten erreicht wurde, um den Preis, daß der Gipfel gleich in die tiefste Sklaverei herabgeführt wurde: den Materialismus... (VaV 197). Ich, der absolute Egodeist, soll ein Christ sein, ein Hund Gottes? Daß du bis zum Tod nur noch Stachelschweine schissest! [ . . . ] Übrigens ist mein Deus ein eigenartiger Herr, den nicht einmal Nietzsche zu akzeptieren gezögert hätte, wenn er, der Sklave, in seiner Jugend anstelle des beschränkten hellenischen Plunders, moderner Laster, Wagners und Dr. Rees über die Grundlagen der Philosophie nachgedacht hätte, will sagen: zum Egosolismus gelangt wäre. Das Wesen des Christentums ist für mich eine prächtig entwikkelte Sklaverei und Hündischkeit auf der ganzen Linie, auch wenn sie vielleicht mit »Liebe« maskiert wird (ChD 52). Fassen w i r zusammen: Nietzsche wurde von der wissenschaftlichen Weltanschauung am Kopf getroffen, hat ein Leben lang nur in angehäuften Vorräten herumgekramt und ist seiner fehlenden Fähigkeit zur Muße zum Opfer gefallen. Zuletzt kroch er vor dem Unsterblichkeitsgedanken zu Kreuze - denn i m Grunde war er eine Sklavennatur. Man muß kein besonders intimer Kenner Nietzsches sein, u m in diesen Attacken eine getreue Kopie von dessen eigenen Angriffen auf sein Jahrhundert zu erkennen. A u f die »wissenschaftliche WeltBetrachtung« reagierte Nietzsche mit einer »Kritik des psychologischen Bedürfnisses nach Wissenschaft« (12/256); 42 die Bildung seiner Zeit erschien i h m als eine geizige, aus Lebensangst entsprungene Vorratswirtschaft; 43 die »athemlose Hast der Arbeit«, die Unfähigkeit zum »Otium« beklagte er als »das eigentliche Laster der neuen Welt« (3/556). A u c h die übrigen Geschosse, die K l i ma gegen Nietzsche abfeuert, sind aus dessen Rüstkammer entwendet. »Wahrlich«, predigt Zarathustra »Von den Abtrünnigen«, »Mancher von ihnen hob einst die Beine wie ein Tänzer, i h m winkte das Lachen in meiner Weisheit: - da besann er sich. Eben sah ich ihn krumm - zum Kreuze kriechen« (4/226; Her41 In diesem Zusammenhang muß angemerkt werden, daß Klima den Wiederkunftsgedanken ebenso wie die Idee der Unsterblichkeit des Geistes ausdrücklich gutheißt (s.u. und SVN 32)! Nietzsche wirft er eigentlich nur vor, die Bedeutung der ewigen Wiederkunft überschätzt zu haben, da es dieser Konstruktion zum Beweis der Unsterblichkeit im Grunde gar nicht bedürfe (ibid.). Dabei geht es Klima letztlich darum, das Ewigkeitsbewußtsein möglichst energisch in das Leben hic et nunc zu integrieren: »Wer hat je anständig in der Ewigkeit gelebt? [ . . . ] Das ganze Leben muß von ihr durchdrungen sein« (VaV 159). Nur - eben das ist die Botschaft des Zarathustra! 42 Nietzsche stellt sich angesichts der modernen Wissenschaft die - Klima unmittelbar vorwegnehmende - Frage: »In wiefern eine durchschnittliche Art Mensch dabei zum Übergewicht kommen will« (12/257). 43 Nietzsche schreibt über den Typus des »antiquarischen Historikers«: »Der Besitz von Urväter-Hausrath verändert in einer solchen Seele seinen Begriff: denn sie wird vielmehr von ihm besessen. Das Kleine, das Beschränkte, das Morsche und Veraltete erhält seine eigene Würde und Unantastbarkeit dadurch, dass die bewahrende und verehrende Seele des antiquarischen Menschen in diese Dinge übersiedelt und sich darin ein heimisches Nest bereitet« (1/265).

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vorhebung von U . H . ) . 4 4 Gegen den philosophischen Materialismus zieht Nietzsche mit seiner Lehre vom »Willen zur Macht« zu Felde, den er ausdrücklich als »Instinkt der Freiheit« definiert. 4 5 Gerade aus diesem Instinkt heraus greift er den christlichen Gott an, der i n seinen Augen nur Sklaven als Geschöpfe duldet. Die A r t , wie Klima gegen Nietzsche mit Waffen antritt, die er von diesem selbst geborgt hat, erweist sich bei näherem Hinsehen jedoch als rhetorische Spiegelfechterei - allenfalls geeignet, dem Nietzsche-Unkundigen einen K o n flikt vorzutäuschen, w o in Wahrheit eitel Eintracht herrscht. Selbst dort, w o Klima sich ausnahmsweise einmal i m philosophischen Detail mit Nietzsche auseinandersetzt, zeigt sich mehr Gemeinsames hinter der Differenz, als Klimas heftige Abwehrgeste auf den ersten Blick vermuten läßt: Wille ist das, was befiehlt. Er ist keine Begierde, kein appetitus, wie Schopenhauer denkt; er ist ein Kommando! nicht nur eine Fiktion, die die Koordination der Instinkte ausdrückt, wie Nietzsche sich irrt; der realste Grundzustand ist der imperatorische innere Wink. Das, was befiehlt und der Befehl sind in metaphysischer Tiefe identisch (TaD 118-119). Zwar hat Nietzsche den traditionellen Willensbegriff der Philosophie tatsächlich eine unbrauchbare Fiktion genannt und durch die Annahme einer Vielheit wetteifernder Triebe ersetzt 46 - weshalb ihm der Absolute Wille, 47 mit dem sich der Solipsist Klima zum unanfechtbaren Alleinherrscher über die Welt aufschwingen möchte, erst recht unbrauchbar und fiktiv vorgekommen wäre. Dennoch zeigt ein Vergleich mit Jenseits von Gut und Böse, wie sehr Klima mit seiner Bestimmung des Willens als Kommando gerade Nietzsche verpflichtet ist: Wie also Fühlen und zwar vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist, so zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden Gedanken; - und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem »Wollen« abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig bliebe! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener Affekt des Commando's (5/32).48 44 Daß auch Nietzsche mit dem »Zum-Kreuze-kriechen« die Konversion eines diesseitig Orientierten zu einem Jenseitsglauben meint, belegt seine Kritik an Wagner: »Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste [ . . . ] , sank plötzlich, hülflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder...« (6/431-432). 45 Vgl. 5/326. Gegen den Materialismus wendet sich Nietzsche wiederholt, u. a. an folgenden Stellen: 2/551, 5/468. 46 Klima bezieht sich vermutlich auf § 270 der 1. Aufl. des Willens zur Macht: »Es giebt weder >Geistwollenerste Ursache< gibt. Die Kausalität ist i n ihrem Wesen unendlich, also unsinnig, die Logik alogisch, die Welt ein Irrkreis« (SVN 13). I n engem Zusammenhang damit steht Klimas Wort von der Fiktion der Wahrheit«: »Wahrheit ist eine Lüge« (SVN 20). 5 6 Nietzsches Nachlaß, dessen Veröffentlichung genau in die Vorbereitungszeit der »Welt als Bewußtsein und Nichts« fällt, 5 7 birgt ganz ähnliche Einsichten: dort ist etwa von der »Vollkommene[n] Leerheit der Logik« (XIV/35) die Rede oder auch davon, »daß [ . . . ] jedes Für-wahr-halten nothwendig falsch ist« (XV/36), daß »es keine Wahrheit giebt« (XV/12). Aufgrund solcher Zweifel am traditionellen Wahrheitsverständnis verzichtet Nietzsche auf die trügerische Stringenz eines geschlossenen philosophischen Systems und verfaßt Aphorismen: »Der Wille zum System« gilt ihm als »eine Charakter-Krankheit« der Philosophen (XIV/353). Auch K l i ma empfindet die »systematische Manie der Philosophen« als »ernste Krankheit« (SVN 13-14) und empfiehlt das »aphoristische Schreiben« als das »einzig gesunde« (SVN 17). N u n ist es natürlich immer ein leichtes, aus der verbalen Nähe isolierter Zitate eine Gleichgesinntheit zwischen zwei Autoren zu konstruieren. U m Klima gerecht zu werden, sei daher von vornherein klar benannt, w o r i n sich sein Wahrheitsverständnis von dem Nietzsches unterscheidet: es ist die Radikalität, mit der er auf den Illusionscharakter von Wahrheit und Logik pocht. Wahrend Nietzsche die wirklichkeitsverfälschende Tendenz des menschlichen »Sinnes für Wahrheit« (XIV/18) herausarbeitet, u m i n ihr etwas Positives: nämlich eine arterhaltende Interpretationsleistung angesichts einer unüberschaubaren U m w e l t zu entdecken, hält sich Klima an den negativen Aspekt der Gleichung zwischen Dichtung und Wahrheit. Nietzsche sagt:

mußte Heideggers Buch nach zwei Jahrzehnten stalinistischer Verfemung Nietzsches im tschechischen Kontext höchst inspirierend wirken und den Eindruck von Unanfechtbarkeit erwecken. 55 Vgl. Bodläk, op. cit., 41. 56 Vgl. Zumr, »Filosof hrde lidskosti«, op. cit., 16. 57 Vgl. Anm. 19.

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Die fingirte Welt von Subjekt, Substanz, »Vernunft« u.s.w. ist nöthig - : eine ordnende, vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende Macht ist in uns. »Wahrheit« = Wille, Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen [ . . . ] . Der Charakter der werdenden Welt als unformulirbar, als »falsch«, als »sich-widersprechend«. Erkenntniß und Werden schließt sich aus. Folglich muß »Erkenntniß« etwas Anderes sein: es muß ein Wille zum Erkennbar-machen vorangehn, eine Art Werden selbst muß die Täuschung des Seienden schaffen (XV/279). Klima folgert: 5 8 Der Zweck des Denkens ist allein die Fälschung von allem, die Produktion von Illusionen, Fiktionen [ . . . ] . Und tatsächlich sind die Begriffe »Sein«, »Welt«, »Etwas«, »Substanz« samt und sonders Fiktionen! [ . . . ] Nach all dem ist die Konklusion: »Nichts existiert« selbstverständlich. [ . . . ] Wenn wir die Bahn eines fingierten, nicht existenten Planeten errechnen wollen, wen wundert's, daß unsere Rechnungen nicht übereinstimmen? -: doch die Welt ist ein fingierter Planet. - Ergo: Es gibt keinen Weltsinn, einfach deshalb, weil keine Welt existiert (SVN 21-22). Die nihilistische Unerbittlichkeit dieser Beweisführung muß auf den ersten Blick beeindruckend wirken. Es verwundert kaum, daß man i n solchen Sätzen, zu Beginn des Jahrhunderts geschrieben, etwas Zukunftsträchtiges witterte. U n d nicht einmal zu Unrecht: geht es dabei doch u m nichts Geringeres als »die Heraufkunft des Nihilismus«, die Nietzsche für die kommenden zweihundert Jahre prophezeit. Die Schlußfolgerung vom Zweifel an der Wahrheit auf einen Generalzweifel am Sinn der Welt nämlich wurde Klima Punkt für Punkt von Nietzsche vorexerziert. N u r ist das, was Klima für der Weisheit letzten Schluß hält, erst der vorletzte Schluß von Nietzsches Weisheit. Dieser empfand den Nihilismus als pathologischen Zwischenzustand, den es zu überwinden gelte: Der Nihilismus stellt einen pathologischen Zwischenzustand dar ( - pathologisch ist die ungeheure Verallgemeinerung, der Schluß auf gar keinen Sinn -) [...]. Voraussetzung dieser Hypothese: - Daß es keine Wahrheit giebt [ . . . ] . Dies ist selbst nur Nihilismus, und zwar der extremste (XV/12). 2. Als Fortschritt gegenüber Nietzsche gilt des weiteren der radikale Subjektivismus von Klimas Debüt. Josef Z u m r faßt zusammen: In einem weiteren Gedankengang negiert er den Primat des Objekts und gibt dem Subjekt die absolute Freiheit. Er gelangt zu dem Schluß, daß zwischen Wahrheit und Fiktion kein Unterschied besteht, alles absurd ist und der bewußte Wille die einzige Gewißheit darstellt, der Wille als Bewußtsein.59 58

Der nun folgende Vergleich der Welt mit einem fingierten Planeten erinnert an den Beginn von Nietzsches Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne: auch dort erscheint die Erde in erkenntnistheoretischem Zusammenhang als fingiertes »Gestirn« (1/875). 59 Zumr, »Ladislav Klimas Revolte...«, op. cit., 219.

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M i t gutem Recht hat man diese Rückbesinnung auf das Subjekt als das einzig Gewisse zumeist auf Berkeleys Einfluß zurückgeführt. Tatsächlich beruft sich Klima wiederholt auf den Bischof von Cloyne. A n entscheidender Stelle nennt er freilich einen anderen Gewährsmann für seine Theorie - Nietzsche: Aus Nietzsche sei hier ein höchst beachtenswerter Absatz zitiert, in dem der Sinn der letzten Kapitel embryonal enthalten ist: »Fragen, wie die >Dinge an sich< sein mögen, ganz abgesehn von unsrer Sinnen-Rezeptivität und Verstandes-Aktivität, muß man mit der Frage zurückweisen: woher könnten wir wissen, daß es Dinge giebtf Die >Dingheit< ist erst von uns geschaffen. Die Frage ist, ob es nicht noch viele Arten geben könnte, eine solche scheinbare Welt zu schaffen - und ob nicht dieses Schaffen, Logisiren, Zurechtmachen, Fälschen die bestgarantirte Realität selbst ist: kurz, ob nicht Das, was >Dinge setztWirkung der äußeren Welt auf uns< auch nur die Folge solcher wollenden Subjekte ist... Die anderen >Wesen< agiren auf uns; unsre zurechtgemachte Scheinwelt ist eine Zurechtmachung und Überwältigung von deren Aktionen: eine Art Defensiv-Ma®el. Das Subjekt allein ist beweisbar. Hypothese, daß es nur Subjekte giebt, - daß >Objekt< nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist... ein modus des Subjekts« (SVN 28-29).60 Mögen manche Gedanken der Welt als Bewußtsein und Nichts auch i n Nietzsche »embryonal enthalten« sein - es wäre natürlich unsinnig, diesen zum Solipsisten stilisieren zu wollen. Schon gegen Berkeleys subjektiven Idealismus hat er sich ausdrücklich verwahrt. I n einer Passage aus Jenseits von Gut und Böse, die mit der eben zitierten Stelle korrespondiert, stellt er die heuristische Frage, ob es nicht erlaubt sei, »aus Seines-Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder >materielleScheinVorstellung< (im Berkeley'sehen und Schopenhauerischen Sinne)« (5/54). Auch hier nimmt Nietzsche die Klima'sche Wendung seines Gedankens bereits selbst vorweg und verwirft sie. Für ihn sind die Dinge, denen er durch Erforschung der eigenen Subjektivität auf die Schliche kommen w i l l , »vom gleichen Realitäts-Range« wie er selbst (ibid.). Für Klima, den Egosolisten, sind sie es nicht. Hier liegt fraglos eine unüberbrückbare Kluft zwischen beiden. 3. Klimas Spott über Nietzsches Wiederkunftslehre als eine »verkrüppelte Mißgeburt der Ewigkeit« (VaV 159) legt die Vermutung nahe, an diesem Punkt müßten sich die Wege beider Denker endgültig trennen. Doch wurde schon angedeutet, daß auch Klimas Willenswelt letztlich ins Zyklische mündet. Sein Verhältnis zur Ewigen Wiederkunft des Gleichen gilt es daher noch einmal näher zu betrachten. Das Ich gerät dem jungen Klima zum Alleinherrscher über die Welt, die es i n seinem Bewußtsein willentlich erzeugt. Grundlage seiner ab-

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Klima zitiert § 275, Abs. 4 der ersten Auflage des Willens zur Macht (XV/281).

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soluten Macht ist die Identität von Ich und Welt - es selbst ist das universale Bewußtsein: »Nichts liegt außerhalb des eisernen Willenskreises i n dieser durch und durch intellektualen Welt« (SVN 40). Die Kreismetapher ist wörtlich gemeint, denn: Das universale Bewußtsein hat eine bestimmte Größe, ist genau umgrenzt. Daß es unendlich groß oder klein sein könnte, ist absurd: »es widerspricht dem Begriff der Kraft«: Nietzsche. Der Punkt, wo auch das schwächste Bewußtsein aufhört..., - ist das Gedankenatom (SVN 31).61 Aus der Unendlichkeit der Zeit und der Endlichkeit des Quantums des kosmischen Bewußtseins folgt notwendig Nietzsches »Ewige Wiederkunft des Gleichen« (SVN 32). Jedes Gedankenatom verbindet sich während eines Weltjahres mit allen anderen Gedankenatomen und wird so im Verlauf eines Weltjahres zu dem, was die Welt in jedem Moment ist (SVN 40). Bei der formalen Begründung, dem Warum der Wiederkunft weiß sich Klima mit Nietzsche offenbar einig: »Wenn die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftcentren gedacht werden darf [ . . . ] , so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl von Combinationen, i m großen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen hat« (XV/410). Differenzen scheint es eher über den Inhalt der Wiederkunft zu geben, über die Frage, was denn da wiederkehrt. Bei Nietzsche sind es die Gestalten des Willens zur Macht, 6 2 bei Klima die Kombinationen des universalen Bewußtseins. 63 D o c h auch diese Trennlinie weicht desto mehr auf, je weiter man die Metamorphosen jenes Bewußtseins bei Klima verfolgt: 6 4 das Weltbewußtsein w i r d als Wille bestimmt, und zwar als Wille zum Angenehmen - dieser aber wiederum als eine Ausprägung des W i l lens zur Macht. 6 5

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Vgl. § 380 der ersten Auflage des Willens zur Macht (XV/406). Nietzsche geht davon aus, »daß alle treibende Kraft Wille zur Macht ist, daß es keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem giebt« (XV/323). 63 Diese Differenz betont Zumr, »Filosof hrde lidskosti«, op. cit., 17. 64 Ähnlich argumentiert bereits Patocka, op. cit., 41. - Wie sehr umgekehrt Nietzsches Wille zur Macht Klimas universales Bewußtsein bereits vorwegnimmt, kann hier nur angedeutet werden. So geht Nietzsche davon aus, daß »alles Sein essentiell etwas Wahrnehmendes« (XIII/228) ist, und er sagt: »Die Gedanken sind Kräfte. Die Natur ergiebt sich als eine Menge von Relationen von Kräften: es sind Gedanken« (XIII/88). 62

65 »Nähere Bestimmung des Weltbewußtseins: es hat Willenscharakter« (SVN 33) »Grundlage der Welt ist ein komplizierter Willenszustand. Man kann ihn freilich - ungenau - als Willen zum Angenehmen charakterisieren« (SVN 35) - »Nähere Bestimmung des Willens zum Angenehmen: er entsteht vermittels des Willens zur Macht« (SVN 36). Den Willen zur Macht erklärt Klima wiederum für eine bloße Folge des Willens zum Angenehmen - ein Widerspruch, den er offenbar nicht mehr aufzulösen vermag und deshalb als »circulus primarius« (SVN 38) abtut.

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Einen weiteren Unterschied der beiden Wiederkunftskonzeptionen meinte man in der nihilistischen Konsequenz zu finden, die Klima aus dem ewigen Kreisen der Welt zieht: 6 6 Wenn der schwindelnde Kreislauf von allem am Ende angelangt sein wird, was wird das Ergebnis sein? Keines..., als wäre nichts gewesen...: der einzige Wert des ganzen hat sich inzwischen in diesem Kreislauf verflüchtigt... Und dann beginnt diese gespenstische Welt sich wieder von vorne zu drehen... [ . . . ] Hier ist das innerste schreckliche Geheimnis dieser Welt - eines Phantoms: Alles müht sich und quält sich, sehnt sich und schreckt sich, hofft und verzweifelt, jubelt und klagt für etwas, was nicht nur theoretisch nichts »ist«, sondern sich auch praktisch zu nichts paralysiert... (SVN 41). Aber auch dieser Schluß wurde vor ihm schon von Nietzsche gezogen: Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale in's Nichts: »die ewige Wiederkehr«. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das »Sinnlose«) ewig! (XV/21). Die Aussicht auf eine Ewige Wiederkunft ist für Nietzsche der Prüfstein, an dem sich die Geister scheiden sollen: wer stark ist, begrüßt sie; wer schwach ist, verzweifelt daran. 6 7 Wiederum bestätigt sich, daß Klima lediglich aufgreift und fortführt, was von Nietzsche als eine von mehreren Möglichkeiten längst erwogen und für zu leicht befunden wurde: Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichsten Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einer Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe (XV/ 483). 4. Als eigenständiger Zug Klimas gilt schließlich der Ausweg, auf dem er solchem Nihilismus entrinnen möchte: das Ich erklärt die sinnentleerte Welt zum bloßen Spiel seines göttlichen Willens. 6 8 Es fällt freilich schwer zu glauben, daß Klima diesen Gedanken ganz und gar »nicht von Nietzsche übernommen« haben soll. 6 9 Denn von ihm vermochte er nicht nur zu lernen, daß der 66

Vgl. Jiri Svoboda, »Ladislav Klima - filozof smirliveho vzdoru«, Filozoficky casopis, 28 (1980), Nr. 5, 699-715, hier 701. 67 Vgl. § 341 der Fröhlichen Wissenschaft: »[D]ie Frage bei Allem und Jedem »willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?< würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung« (3/570). 68 Zumr, »Filosof hrde lidskosti«, op. cit., 27. 69 Dies vermutet jedenfalls Josef Zumr in: »Ladislav Klimas Revolte...«, op. cit., 219. Zumr vergleicht Eugen Finks Interpretation von Nietzsches Philosophie des Spiels [ders., Nietzsches Philosophie (Stuttgart 1968), 179-189] mit Klima, und stößt dabei auf inter-

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»Nihilismus, als Leugnung einer wahrhaften Welt, eines Seins, eine göttliche Denkweise sein« könne (XV/36); i n Ecce homoy jenem Schlüsseltext für das Selbstverständnis des jungen Klima, steht auch zu lesen, es gebe »keine andre A r t , mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel« (6/297). 7 0 Es genügte bereits, diese beiden Stellen miteinander zu verknüpfen, u m auf die Fährte von Klimas Ludibrionismus zu geraten. D o c h finden sich bei Nietzsche noch deutlichere Spuren einer Konzeption der Welt als Spiel. »Darin, daß die Welt ein göttliches Spiel sei und jenseits von Gut und Böse - habe ich die VedantaPhilosophie und Heraklit zum Vorgänger« heißt es i m Nachlaß (XIII/75). U n d Nietzsche hat versuchsweise auch schon den Menschen selbst anstelle der traditionellen Götter als Weltenspieler eingesetzt: »Der Mensch ist das Zeugniß, welche ungeheuren Kräfte i n Bewegung gesetzt werden können durch ein kleines Wesen vielfachen Inhalts [ . . . ] . Wesen, die mit Gestirnen spielen« (XIII/71). Ein Denker ist nicht damit schon widerlegt, daß man ihm seine Quellen nachweist. Diesen häufigen Kurzschluß der Einflußphilologie gilt es hier zu vermeiden. Es sei deshalb ausdrücklich festgestellt: Klimas Philosophie verdankt zwar alle wesentlichen Elemente, aus denen sie zusammengefügt ist, Nietzsches Analyse des Nihilismus. Dennoch bleibt die Auswahl und spezifische Kombination jener Elemente Klimas Eigentum - ein Besitz, dessen philosophischer Wert hier nicht abgeschätzt werden kann. Auch die feine Witterung für ein Lebensgefühl, das in diesem Jahrhundert erst durch zwei Weltkriege an Breite gewann, darf zu einem beträchtlichen Teil bereits Nietzsche, nicht erst Klima zugeschrieben werden. Doch ist dies kein Grund, Klima etwas von dieser Witterung abzusprechen. So voreilig es also einerseits wäre, seine Philosophie in Bausch und Bogen für epigonal zu erklären, so oberflächlich erscheint es andererseits, sie zum epochalen Ereignis stilisieren zu wollen. Denn es hat sich gezeigt, daß von Klimas vielbeschworener Originalität vieles - wenn auch nicht alles - abbröckelt, sobald man sie auf verborgene Nietzsche-Zitate abklopft.

essante Parallelen. Recherchiert man jedoch, welche einschlägigen Äußerungen Nietzsches Klima tatsächlich gekannt haben dürfte, so erscheint diese Geistesverwandtschaft weniger überraschend. 70 Vgl. auch Nietzsches Nachlaßnotiz: »Das Phänomen >Künstler< ist noch am leichtesten durchsichtig: [ . . . ] >das Spiels [ . . . ] - als Ideal des mit Kraft Überhäuften« (12/129) mit SVN 67-68: »Verspieltheit - ein Zeichen des Überflusses; nichts Besseres kann man über einen erwachsenen Mann sagen, als daß er sehr verspielt ist; Verspieltheit ist das Charakteristikum des Genies!«

Der tschechische Dichterphilosoph Ladislav Klima und Nietzsche

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IV. Nietzsche als Gefahr: Klimas Menschenbild Wenn Nietzsche »mit dem Hammer Fragen stell[t]«, treibt ihn die Hoffnung, »als A n t w o r t jenen berühmten hohlen Ton [zu] hören, der von geblähten Eingeweiden redet - welches Entzücken« (6/57-58). Auch wenn einem solches Entzücken fremd ist, kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, daß Klima dort, w o er aus seinen - noch vergleichsweise eigenwilligen - philosophischen Prämissen Schlüsse auf den Menschen zieht, tatsächlich nur unvollständig Verdautes von sich gibt. Die gesamte Abteilung »B. Der Mensch« seiner Welt als Bewußtsein und Nichts ist, es sei i n aller Schärfe gesagt, über weite Strecken nur ein aufgeblähter Nietzsche. Dies beginnt (1.) bei der Einordnung der Menschheit als species in den Prozeß der Evolution, es setzt sich (2.) fort in den ethischen Maximen, die er für das Individuum ausgibt, und gipfelt (3.) i n seinem Urteil über die menschliche Gesellschaft. 1. Wie Nietzsche sieht auch Klima i m Menschen zugleich ein »Unthier und Überthier« (XV/479; vgl. S V N 73), als Gattungswesen anderen Tierarten kaum überlegen (XV/344; vgl. S V N 70), 7 1 i n einzelnen Exemplaren dafür alles Animalische einschließlich der eigenen species weit überragend. Ein solcher »höherer Typus«, der »im Verhältniss zur Gesammt-Menschheit eine A r t Ubermensch« darstellt, ist nach Nietzsche »immer möglich« (6/171) - mit Klimas Worten: »Der >Übermensch< wurde faktisch schon viele Male erreicht« ( S V N 70). Da jedoch - wie beide überzeugt sind - »mit jedem Wachsthum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß« (XV/481; vgl. S V N 72), bedeutet es keinen Widerspruch, ihn zugleich das »tapferste [ . . . ] Tier« (6/131; vgl. S V N 71) und das »furchtsamste aller Geschöpfe« zu nennen (3/134; vgl. S V N 72). Denn wie für Nietzsche der Mensch »den Gegensatz-Charakter des Daseins« verkörpert (XV/481), so ist er für Klima »eine Verbindung des Höchsten und Niedrigsten, Sublimsten und Elendesten« (SVN 73). 2. Nietzsches Formel, daß »der Mensch besser und böser werden muß« (XV/481-482), ist nur ein anderer Ausdruck für seine Umwertung der Werte i n der Ethik. Wie sein Lehrer, bekennt sich auch Klima zur »theoretischen I m m o ralität« (SVN 15; vgl. 6/367). M i t dem Eifer des frisch Bekehrten zieht er gegen die christliche Moral zu Felde: »Moral: [ . . . ] das niedrigste Tier hat die Moral erfunden: Hinweis... Was ist die Moral? Ein schlechtes Rezept zum bequemen Vegetieren niedriger Individuen: >Tu andern gut, daß auch sie dir Gutes tunintelligenterUnegoistisch sein< bedeutet: i m Liegen gehen, schweigend sprechen« ( S V N 38). 7 3 Deshalb ist ihm jede Form von asketischer Triebunterdrückung verdächtig: »Askese - Rache an sich statt an der Welt« (SVN 88). D o c h spricht er damit nicht etwa einem rücksichtslosen Ausleben aller Triebe das Wort: »Je größer ein Tyrann, ein desto größerer Schwächling ist er. Wenn ein Herrscher seine Energie an den Untergebenen ausläßt, zeigt er bloß, daß er ohne Energie ist: seinem Herrschaftswillen genügt wenig« (SVN 183). Denn der wirklich starke Mensch beherrscht sich selbst: »Selbstüberwindung ist ein Hauptbestandteil der Willensstärke« ( S V N 120). Mühelos ließen sich zu jeder dieser Thesen korrespondierende Stellen bei Nietzsche finden. 7 4 D o c h entscheidender als solche Übereinstimmungen i m Detail ist die Verwandtschaft, ja Identität der geistigen Grundhaltung, auf die sie verweisen. M i t erstaunlicher Präzision hat Klima herausgefühlt, w o r u m es in Nietzsches Ethik des Willens zur Macht geht: 7 5 gerade nicht u m W i l l k ü r und ein Streben nach Machtzuwachs auf Kosten von Schwächeren, d. h. zum billigsten Preis, sondern u m Selbstvervollkommnung und die ständige Steigerung einer reichen Persönlichkeit. Wie weitgehend Klimas Ideal des Menschen sich mit dem Nietzsches deckt, mag der folgende Passus verdeutlichen. Würde hier nicht das Stoische so stark betont, 7 6 man könnte von einem Nietzsche-Referat sprechen: 77

72 Klima ist sich mit Nietzsche einig, »daß die größte Härte dem Nächsten genauso oft nützt, wie ihm die größte Wohltätigkeit schadet« (SVN 105). 73 Hier reicht die Nähe zu Nietzsche bis ins rhetorische Detail. Vgl. XIII/149: »Unegoistische Handlungen sind unmöglich: >unegoistischer Trieb< klingt mir in die Ohren wie >hölzernes EisenModernität< ihres Autors über seine Zeit hinaus bis in unsere Gegenwart zeugen. 4 *

Was verstand Nietzsche unter >Modernität