Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 7. Band (1966) [1 ed.] 9783428423538, 9783428023530

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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German Pages 345 Year 1967

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 7. Band (1966) [1 ed.]
 9783428423538, 9783428023530

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH

NEUE FOLGE / SIEBENTER BAND

1966

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N KUNISCH

N E U E FOLGE / SIEBENTER

BAND

1966

Das »Literaturwissensdiaftlidie Jahrbuch' wird im Auftrage der Görresgesellschaft herausgegeben von Professor Dr. Hermann Kunisch, 8 München 19, NürnbergerStraße 63. Schriftleitung: D r . Wolfgang Frühwald, 89 Augsburg, Nesselwangerstraße 18 und Günter Niggl, 8 München 19, Löfftzstraße 1.

Das .Literaturwissenschaft! iche Jahrbuch* erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind an den Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rüdtporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Den Verfassern wird ein Merkblatt für die typographische Gestaltung übermittelt. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des ganzen Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Sdiriftleitung erbeten. Eine Gewähr für die Besprechung kann nicht übernommen werden. Verlag:

Dunckcr

&

Humblot,

1 Berlin

41

(Steglitz),

Dietrich-Schäfer-Weg

9.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH SIEBENTER BAND

gi-flstmigEee gtnnbtloce. *

VI.

*

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Anonymes Widmungsgedicht (verfaßt von C. R. v. Greiffenberg?) aus F. Bacon, Reden . . . übersetzt von J. W . ν. Stubenberg, N ü r n b e r g 1654. (s. S. 17 ff.).

Getreue

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN

NEUE FOLGE / SIEBENTER

KUNISCH

BAND

1966

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. © 1967 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1967 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany

I N H A L T

AUFSÄTZE John

(Basel), Z u r literaturwissenschaftlichen Betrachtung der Liturgie

1

Martin Bircher (Zürich) u n d Peter Daly (Saskatchewan/Canada), Catharina Regina v o n Greiffenberg u n d Johann W i l h e l m v o n Stubenberg. Z u r Frage der Autorschaft zweier anonymer Widmungsgedichte

Hennig

17

Alessandro Pellegrini (Mailand), D i e Krise der A u f k l ä r u n g . Das dichterische W e r k v o n Christian Fürchtegott Geliert und die Gesellschaft seiner Zeit . .

37

Hermann Fischer 'Prelude'

97

(Mannheim),

Romantische

Antithetik

in

Wordsworths

Friedrich Schnapp (Hamburg), Aus E. T . A . Hoffmanns Bamberger Zeit. Fünf T h e a t e r - K r i t i k e n v o n Adalbert Friedrich Marcus (September—Dezember 1809) 119 Oskar Katann (Wien), D i e Glaubwürdigkeit v o n Clemens Brentanos Emmerick-Berichten. Z u m gegenwärtigen Stand der Quellen und der Forschung . . 145 Klaus-Dieter Krahiel (Frankfurt am M a i n ) , Das Problem des falschen Intellekts. E i n Thema der Epigramme Grillparzers 195 Friedrich Carl Scheibe (Wolfenbüttel), Rolle u n d Wahrheit in Heinrich Manns Roman 'Der Untertan' 209 Peter Vajda

(Zadar/Jugoslawien), Stefan Z w e i g u n d Pierre Jean Jouve

229

Franz Niedermayer (München), Jorge Luis Borges. Eine Betrachtung seiner L y r i k i m Rahmen des Gesamtwerkes 233 Christian-Hartwig Wilke (Würzburg), D i e Jugendarbeiten Felix E i n Vergleich der veröffentlichten Fassungen m i t den Originalen

Hartlaubs. 263

BUCHBESPRECHUNGEN Josef Szôvérffy , Die Annalen der lateinischen Hymnendichtung. Ein Handbuch. Band I : Die lateinischen H y m n e n bis zum Ende des 11. Jahrhunderts. Band I I : D i e lateinischen H y m n e n v o m Ende des 11. Jahrhunderts bis zum Ausgang des Mittelalters. ( V o n Benedikt V o l l m a n n ) 303 Das Nibelungenlied und Die Klage. Handschrift Β (Cod. St. Gallen 857). (Deutsche Texte in Handschriften 1). ( V o n Hanns Fischer) 306 Hartmann von Aue, Iwein. Handschrift B. (Deutsche Texte in Handschriften 2). ( V o n Hanns Fischer) 306

vi

Inhalt

Wolfgang Frühwald, Der St. Georgener Prediger. geistlichen Gehaltes. ( V o n Rainer Rudolf)

Studien zur W a n d l u n g des 308

Hugo von Hofmannsthal. Der Dichter im Spiegel der Freunde. v o n H e l m u t A . Fiechtner. ( V o n Frank Trommler) Martin Glaubrecht, Kupper) Helmut Bruno

Himmel,

Studien

zum Frühwerk

Leonhard

Franks.

Herausgegeben 310 (Von Margarete 312

Geschichte der deutschen Novelle.

( V o n Hansjörg Eishorst) 314

Berger, Der Essay. Form und Geschichte. (Von Frank Trommler)

317

Berichtigungen zu Band V I , 1965

320

Namen- u n d Sachregister

321

ZUR

LITERATURWISSENSCHAFTLICHEN B E T R A C H T U N G DER

LITURGIE

V o n John Hennig

Der Ausdruck »Liturgiewissenschaft«, der 1921 durch das Erscheinen des Jahrbuchs für Liturgiewissenschaft 1 ins allgemeine Bewußtsein gehoben wurde, bezeichnet die Überwindung der Aufspaltung des Studiums der Liturgie nach rubristischen, devotionellen und historisch-philosophischen Gesichtspunkten. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen systematischer und historischer Betrachtung ist die Liturgie am ehesten dem Recht vergleichbar, indem es sich um eine lebende Tradition handelt, bei der die systematische Betrachtung weitgehend auf die historische Bezug nehmen, aber auch die historische Betrachtung auf die systematische hinführen muß. Der systematischen Betrachtung stellt sich die Liturgie als eine Verbindung von Worten und Handlungen dar, welche zu Vergleichen m i t dem Theater Anlaß gegeben hat. Es gibt hier praktisch keine Handlung, die nicht von Worten begleitet ist, und keine Worte, die nicht H a n d l u n g sind 2 . H i e r ist die eminenteste Stelle, an der das W o r t mächtig ist, nicht nur etwas, sondern das Höchste bewirkt, und zwar — so lautet der Anspruch, durch den sich die hier zu betrachtende katholische Liturgie auszeichnet — i m 1 Heute aufgeteilt in Archiv für Liturgiewissenschaft und Liturgisches Jahrbuch. Z u r Geschichte des Begriffs Liturgiewissenschaft s.Cunibert Mohlberg, i n : Mélanges en l'honneur de M g r . Michel Andrieu, Strassburg 1958, S. 343; der Begriff w i r d jetzt auch evangelischerseits gebraucht (L. Fendt, Einführung in die L., Berlin 1958). D i e nachstehenden Ausführungen beziehen sich fast ausschließlich auf die Wissenschaft v o n der römischen Liturgie. Grundlegend für das literaturwissenschaftliche Studium der Liturgie (außer dem A n m . 19 genannten W e r k ) : A . Baumstark und B. Botte y Liturgie comparée, Paris 1953. A . - G . Martimort, Handbuch der Liturgiewissenschaft, Freiburg 1963 f. u n d H . A . P. Schmidt y I n t r o d u c t i o i n l i t u r g i a m occidentalem, R o m 1960, verzichteten auf eine D e f i n i t i o n von Liturgiewissenschaft, ziehen kaum den literaturwissenschaftlichen Aspekt i n Betracht, sind aber für L i t e raturangaben unentbehrlich. D a es sich i n der vorliegenden Arbeit um den Versuch handelt, die Probleme zu umreißen, wurden die Literaturangaben aufs Äußerste beschränkt. 2 K a t h o l i k e n wenigstens sollten sich durch den Ausdruck Wortgottesdienst nicht verführen lassen, v o n liturgia verbi zu sprechen.

1 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 7. Bd.

2

John H e n n i g

letzten Grunde unabhängig von Zuhörern und -schauern. Literatur, insbesondere Dichtung, hat an der Liturgie i n dieser Hinsicht nicht nur Maßstab sondern auch Schutz i n dem ihr eigenen K a m p f gegen das Absinken des Wortes in die Ohnmacht des Geredes, nichtssagend und nichtsbewirkend. Der historischen Betrachtung ist die Liturgie vorzugsweise in Schriftdenkmälern zugänglich; Reste wie Bauten und Gegenstände spielen eine untergeordnete Rolle, so wichtig sie auch unter anderen Gesichtspunkten, etwa dem der Kunstgeschichte, sein mögen. Die historische Betrachtung der L i t u r gie nimmt daher ihren Ausgang von der Aufnahme, Sammlung, Wiederherstellung und Edition von Texten, ehe über deren Lokalisierung und Datierung zur inhaltlichen Auswertung fortgeschritten werden kann. Die Auswertung setzt aber bereits eine Kenntnis der lebenden Tradition, wie sie i n der gegenwärtigen Übung vorliegt, voraus. Die traditionelle Definition der Liturgie als der Ordnung des öffentlichen und gemeinsamen Gottesdienstes der Kirche mag dem tieferen Verständnis aus dem Glauben flach erscheinen, gibt aber immer noch die Grundlage ab für die wissenschaftliche Betrachtung der Liturgie in ihrer historischen und systematischen Erscheinung. Jede der drei Bestimmungen Ordnung, öffentlich und gemeinsam trägt dazu bei, daß die Liturgie i m Wesentlichen schriftlich fixiert, ja, daß, nachdem einmal die technische Möglichkeit gegeben war, der liturgische Text gedruckt w i r d . Der Vermerk: Editio typica (juxta Vaticanam) i n den offiziellen Ausgaben der liturgischen Bücher verbürgt die Verbindlichkeit der Ordnung für die ganze Kirche oder mindestens große Teile der Kirche. Die Frage, inwieweit Improvisationen liturgisch sein könnten, braucht die literaturwissenschaftliche Betrachtung nicht zu diskutieren, da definitionsmäßig das schriftlich Fixierte ihr Gegenstand ist. I n der katholischen Liturgie sind nicht nur die Worte sondern auch die Handlungen schriftlich fixiert; die wegen ihres Rotdrucks Rubriken genannten Beschreibungen der Handlungen wären schon wegen ihrer historischen Würde als Literatur anzusprechen. W i r wissen z. B. weit genauer, wie die handlungsreiche Karwochenliturgie i m zehnten Jahrhundert vollzogen wurde, als w i r wissen, wie Shakespeare seine Stücke aufgeführt haben wollte. Der Vergleich mit der literaturwissenschaftlichen Betrachtung der Bibel ist lehrreich. Bibel und Liturgie treten dem Gläubigen als Einheiten gegenüber. Wenn sich das Neue Testament auf das A l t e bezieht, sagt es: „die Schrift". So spricht man heute, nicht nur i m populär-theologischen Gebrauch von der heiligen Schrift und der Bibel, obwohl das letztere W o r t eine irrtümliche Auffassung des griechischen Plurals des Neutrum als eines Singulars des Feminin ist, und impliziert durch das W o r t biblisch eine in-

Z u r literaturwissenschaftlichen Betrachtung der L i t u r g i e

3

nere Einheit. I n dieser Hinsicht war das Einsetzen der literaturwissenschaftlichen Betrachtung das folgenreichste Ereignis i n der Geschichte der (biblischen) Theologie: Der Absolutheitsanspruch des Wortes Gottes w i r d i n eine Reihe von Ansprüchen aufgelöst, des Elohisten neben dem Jachwisten, der Synoptiker neben Johannes, Paulus' neben Petrus, wobei neben gelegentlich gegen heißt. Weit weniger problematisch scheint es zu sein, die nun doch auch mindestens 1900 Jahre alte liturgische Tradition so als Einheit zu sehen, daß man, ohne mißverstanden zu werden, sagen kann, etwas sei liturgisch oder nicht. Während die Liturgie, z. B. der Messe, trotz ihres natürlich offensichtlichen historischen Wachstums als wunderbar geschlossene Einheit gepriesen wurde, haben andere — früher vorzugsweise evangelische, heute aber auch katholische — Autoren ihre stilistische Uneinheitlichkeit gerügt. Deutungen der Messe, die von der sogenannten Komposition der Feier ausgingen, der etwa der hl. Franz von Sales die fünfzehn Geheimnisse des Rosenkranzes zuordnen konnte, haben Literaturwissenschaftler eher abgeschreckt als angezogen. Die Betrachtung der Liturgie als lebender Einheit scheint nur pastoralen und devotioneilen Wert zu haben. Die Lehre von der stilistischen Uneinheitlichkeit der Liturgie läßt sich schon aus der Betrachtung der Struktur der liturgischen Bücher erhärten. Die fünf Hauptbücher, Missale, Brevier, Pontificale , Rituale und Martyrologium, sind nicht nur nicht aus einem Guß, sondern haben sich erst allmählich konstituiert, das Martyrologium zuerst gegenüber dem Kalendarium, das Missale plenum aus der Kombination von Sacramentarium, Graduale und Lektionarien, ähnlich das Brevier, zuletzt Pontificale und Rituale. Sie sind das Ergebnis historischer Prozesse, die sich i n Zusätzen, Streichungen und Änderungen ständig fortsetzen. Auch heute noch überschneiden sie sich, indem etwa das Brevier Missaletexte enthält, das Martyrologium zum Gebetspensum wenigstens gewisser Gemeinschaften zu rechnen ist und noch immer i n engem Zusammenhang m i t den Kaiendarien steht, und Rituale und Pontificale eng zusammenhängen. Das Missale Romanum ist schlechthin einzigartig in der Weltliteratur 3 . Es ist nicht linear, also von vorn nach hinten, sondern konzentrisch angeordnet. U m den etwa i n der M i t t e des Buches stehenden Canon, dessen Kernstellung noch dadurch betont worden ist, daß er bislang der Vernakularisierung entgangen ist, legt sich nach vorn die Ordnung des Wortgottesdienstes und der Gabendarbringung bis zur Präfation und nach hinten der Kommuniongottesdienst m i t dem Ausgang. D a v o r steht wiederum das Proprium de Tempore, dahinter das Proprium de Sanctis , während bis zur jüngsten Liturgiereform das Ordinarium Missae zwischen Osternacht und 3

256. ν

J. Hennig,

The Missal as w o r l d literature, Irish M o n t h l y 74 (1946), S. 249 bis

4

John H e n n i g

Ostersonntag stand. Dem Proprium der Zeit gehen Kalendarium, allgemeine Rubriken und die Privatgebete des Priesters vor und nach der Messe voraus, dem Proprium der Heiligen folgen Communia, Votivmessen, Gelegenheitsgebete, Lokalpropria und die Indices. I n beiden Richtungen führt der Weg deutlich, wenn auch nicht unbedingt eindeutig, von innen nach außen. Zudem ist das Missale das Buch, das unter den liturgischen Büchern die größten Wandlungen erfahren hat. I n unseren Tagen ist den Verlegern der M u t genommen worden, i n Leder gebundene Goldschnittausgaben mit einem Kalendar der sogenannten beweglichen Feste auf dreißig Jahre herauszubringen. Durch die Vernakularisierung verteuert sich der Druck, indem nun auch kleinste Sprachgruppen, wie Romanen und Bretonen, Meßbücher in ihrer vernacula verlangen. Durch die Vokalisierung des volkssprachlichen Gottesdienstes w i r d das Messbuch entbehrlich, ja, sein Gebrauch w i r d jetzt vielfach als unerwünscht bezeichnet. Der Vorschlag, das Missale literaturwissenschaftlich zu würdigen, kann als Beispiel dafür betrachtet werden, daß die Eule der Minerva ihren Flug in der Dämmerung antritt. Die Struktur des Breviers ist mindestens schichtenförmig: Kalendarium und Ordinarium vor den Hauptteilen (Temporale und Sanctorale) entsprechen Communia und Anhang (Litaneien, Segnungen und Privatgebete) nebst I n dices hinter diesen Hauptteilen. Die Dreiteilung des Pontificale ist einigermaßen systematisch begründet. Beim Rituale hat die ursprüngliche Unterteilung in Sakramente und Sakramentalien durch mehrere Anhänge ein Ubergewicht nach dem zweiten Teil zu erhalten. Das Martyrologium ist das größte Beispiel für eine ungebrochene Tradition der anniversaristischen Geschichtsschreibung, für die heute von der Astrologie her am ehesten Verständnis zu erwarten ist; die Eintragungen innerhalb eines Tages sind nicht chronologisch angeordnet; diejenige, die Gegenstand eines liturgischen Festes ist, steht immer an erster Stelle 4 . Missale, Brevier und Matyrologium (und die entsprechenden Bücher der Ostkirchen) sind neben den heiligen Schriften der großen Buchreligionen die meistgebrauchten Bücher der Weltliteratur, denn sie müssen pflichtmäßig jeden Tag von einer großen Anzahl Menschen gebraucht werden, und zwar seit rund tausend Jahren und heute mehr denn je i n praktisch allen Weltteilen. Sie sind aber nicht Lesebücher, sondern books of reference, indem jeden Tag nur ein kleiner Abschnitt zu lesen ist, allerdings auch ein gewisser Teil jeden Tag gleich. Die Aufnahme eines Textes, etwa von einem Kirchenlehrer oder Dichter, verbürgt eine einzigartige Publizität 5 . Der Einfluß eines 4 J. Hennig, Versus de mensibus, T r a d i t i o 11 (1955), S. 65—90, Ders., Kalendar u n d M a r t y r o l o g i u m als Literaturformen, Archiv für Liturgiewissenschaft 7 (1961) S. 1—44. 5 J. Hennig, Z u r Stellung der Juden i n der Liturgie, i n : W . Eckert — E. L . Ehrlich, Judenhaß — Schuld der Christen?, Essen 1964, S. 173—190.

Z u r literaturwissenschaftlichen Betrachtung der L i t u r g i e

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liturgischen Textes ist daran zu ermessen, daß bei der heutigen Lebenserwartung ein Priester ihn etwa vierzigmal i n seinem Leben liest, viele Texte, wie etwa die Psalmen, aber jede Woche, d. h. 52 X 40mal, einige sogar 365 X 40 mal. I m Gegensatz zu den Grundgebeten der großen Religionen sind gerade etwa die Kirchenvätertexte und H y m n e n vielgestaltig und oft intellektuell nicht leicht zu verstehen. Die Betrachtung soll natürlich auf die immer noch allgemein verbindlichen lateinischen Texte beschränkt bleiben. Bislang hat keine moderne Volkssprache i m Bereich der katholischen Liturgie ein literarische Betrachtung einladendes Niveau erreicht wie das Tschechische, Englische, Deutsche und Französische i m evangelischen Bereich, geschweige denn eine der alten nichtlateinischen Sprachen in der katholischen Liturgie. Die deutschen Übersetzungen insbesondere haben auch deshalb bislang keinen Einfluß ausüben können, weil keine von ihnen einigermaßen Verbindlichkeit zu erlangen vermocht hat wie etwa Luthers 'Kleiner Katechismus'. I m Gegensatz zu heute vielfach vertretenen Ansichten ist darauf hinzuweisen, daß die hieratische Sprache gerade nicht uniformiert, sondern das Nebeneinander verschiedener auch national bedingter Stile ermöglichte, durch die sich die lateinische Liturgie vor den jüdischen, ostkirchlichen und evangelischen L i t u r gien auszeichnet. Das Martyrologium ist die Geschichte nicht nur der christlichen Heiligen sondern auch der alttestamentlichen; der älteste heute noch erwähnte ist Abraham 6 — i m Rituale: Abel — ; i m Spätmittelalter wurden auch A d a m und Eva aufgeführt. Durch die ausgiebige Verwendung alttestamentlicher Texte reicht die literarische Tradition von Missale, Brevier, Pontificale und Rituale rund dreitausend Jahre zurück. Die liturgischen Textbücher stellen daher eine der längsten, jedenfalls die längste noch i n vollem Leben befindliche, aller literarischen Traditionen der Menschheit dar. Die Nebeneinander einerseits von M o n d - und Sonnenkalender, andererseits von für jeden Tag spezifischen und für alle Tage gleichen Teilen, denen die Unterteilungen von Missale und Brevier einerseits i n Temporale und Sanctorale, andererseits i n Propria und Ordinarium entsprechen, verbindet die christliche m i t der jüdischen Liturgie und reicht i n die Tiefen des Zeitbewußtseins, in die die Einebnung durch die Physik kaum noch zu dringen vermag. I n dem Nebeneinander von zyklischer Zeit (Jahr, Monat, Woche, Tag) und linearer Zeit (numerierbare Jahre) hat die Liturgie die Grundlage, die sie befähigt, nicht nur praktisch alle Bewußtseinshaltungen i n Raum und Zeit zu bewahren sondern auch immer neue aufzunehmen. β J. Hennig, schaft (1966).

Z u r Stellung Abrahams in der Liturgie, Archiv für Liturgiewissen-

6

John Hennig

Die Beiträge zur Liturgie stammen aus praktisch allen Teilen der mediterranen Welt und Europas. Amerika (anfangend m i t dem Fest der hl. Rosa von Lima), das schwarze A f r i k a , Ostasien und Australien sind bislang durch Missionsfeste, die als solche selten universale Bedeutung erlangt haben, vertreten, aber eben durch die Breite der Bewußtseinsgrundlage ist gewährleistet, daß selbständige Beiträge aus jenen Weltteilen aufgenommen werden können. I m Missale und Brevier stehen nicht nur Kommemorationen von Ereignissen und Gestalten aus den verschiedensten Jahrhunderten nebeneinander (bis vor kurzem konnte leicht i n der Messe desselben Tages ein Heiliger aus der Frühzeit der Kirche neben einem aus den letzten Jahrhunderten kommemoriert werden) sondern auch Texte verschiedenster Herkunft. Eine i n unserer Zeit geschaffene Präfation kann das Sanctus des Jesajas einleiten, ein Psalmenvers eine Lesung aus einer E n z y k l i k a eines der letzten Päpste. Das Zusammentreffen von Texten verschiedenster Provenienz war oft kaum vorherzusagen, etwa bei der Einfügung von Eigentexten i n Communia. Dazu kommt die Verbindung von verschiedensten Literaturgattungen, Gebete, Lesungen, Gesänge i n solcher Mannigfaltigkeit, wie sie auch die jüdische und ostkirchliche Liturgie nicht aufzuweisen hat. Das Latein verleiht nur eine gewisse gemeinsame Patina. Perioden m i t strengem Stilgefühl wie das sechste, zwölfte, siebzehnte Jahrhundert und die jüngste Gegenwart gehören eher zu den Ausnahmen. A m stilreinsten ist relativ das Pontificale , das i m großen und ganzen eine Schöpfung des Hochmittelalters ist. Durch die jüngst aus praktischen Gründen — die ihrerseits für das Leben der Liturgie charakteristisch sind — verfügte Eliminierung obsoleter Funktionen wie der Austreibung und Wiedereinführung der öffentlichen Büßer und vor allem der Segnungen der Herrscher ist der einzigartige Wert des Pontificale für das Verständnis des christlichen Mittelalters eingeschränkt worden. Das Rituale andererseits legt einen Längsschnitt durch das christliche Verhältnis zur Welt, zurückgreifend auf die mosaischen Ritualgesetze über die Segnung der von den Aposteln benützten Fahrzeuge bis hin zu der Segnung von Flugzeug und Rundfunkstationen 7 . V o r allem aber stellen die Gebetstexte der liturgischen Bücher insgesamt einen Längsschnitt durch die devotionelle Literatur der ganzen Kirchengeschichte dar. H i e r hätte denn auch die literaturwissenschaftliche Betrachtung ihren Schwerpunkt. Missale, Brevier, Pontificale und Rituale zusammengenommen bestehen etwa zu gleichen Teilen aus den Heiligen Schriften entnommenen und eigens für den liturgischen Gebrauch geschaffenen Texten. Z u den heiligen Schrif7 J. Hennig, D i e liturgischen Segnungen der Technik, Liturgisches Jahrbuch 8 (1958), S. 230—237.

Z u r literaturwissenschaftlichen Betrachtung der L i t u r g i e

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ten sind auch die Kirchenväterlesungen des Breviers zu rechnen, die, wie bereits bemerkt, Texte aus neuester Zeit einschließen können. A n sie schliessen sich die aus außerliturgischen Texten hergerichteten historischen Lesungen des Breviers an. Die Anpassung insbesondere der biblischen Texte an den liturgischen Gebrauch wäre das wichtigste Verbindungsstück zwischen der literaturwissenschaftlichen Betrachtung der Heiligen Schriften und der der Liturgie 8 . Während seit zweihundert Jahren die literaturwissenschaftliche Betrachtung der Bibel eine Selbstverständlichkeit ist, werden für die der L i turgie soeben erst die elementaren Grundlagen geschaffen i n Editionen historischer Texte, Editionen der gegenwärtig gebrauchten Texte m i t historischkritischem Apparat (Lesarten, Quellen, Geschichte9), Konkordanzen, Wörterbücher 10 , terminologische Studien 1 1 etc. Es gibt z. B. noch keine Geschichte des liturgischen Lateins bis auf unsere Tage 1 2 . Selbst die Patristik ist literaturwissenschaftlich ungleich eingehender behandelt worden als die Liturgie. Das Missale ist i n seiner Entwicklung und gegenwärtigen Gestalt wie kein anderes Buch Ausdruck der Kulturgeschichte mindestens der weißen Rasse. Trotzdem gibt es Millionen i n unserem Kulturkreis, die dieses Buch nie gesehen, jedenfalls nie i n der H a n d gehabt haben. Selbst die meisten mitteleuropäischen Katholiken kennen es höchstens in Auszügen, die kein B i l d von seinem einzigartigen literarischen Charakter vermitteln. I n einem Brevierband haben nur wenige katholische Laien einmal geblättert, so oft sie ihn auch i n der H a n d eines Priesters gesehen haben mögen. E i n vollständiges Rituale besitzen viele Priester nicht, geschweige denn ein Martyrologium oder gar ein Pontificale. V o m Pontificale gibt es noch keine deutsche Übersetzung. Selbst eminente Erforscher der mittelalterlichen Kunst glauben, 8 Beispielhaft Klaus Dicky Einleitungs- u n d Schlußformeln i n den Perikopenlesungen, Archiv für Liturgiewissenschaft 4 (1955) S. 73—80 u n d J. O'Connelly i n : Festschrift C. Mohlberg I , R o m 1948, S. 377. 9 M a n denke an die Publikationen der H e n r y Bradshaw Society (ab 1891), an die v o n A . Dold begründeten Texte u n d Arbeiten der Erzabtei Beuron (ab 1917), die v o n C. Mobiber g begründeten Rerum Ecclesiasticarum Documenta, Series M a j o r : Fontes, u n d Series M i n o r : Subsidia Studiorum (ab 1952), Spicilegium Friburgense (ab 1957), Textus Patristici et L i t u r g i c i (ab 1964). Für die Sakramentartexte: Klaus Gamber y Codices l i t u r g i c i l a t i n i antiquiores, Freiburg 1963. 10 S. meine Hinweise auf A n d r é Pflieger, Liturgicae orationis concordantia verbalia, I : Missale Romanum, R o m 1964, i n : Bulletin Codicologique 1965 I , no. 344, u n d i n : Archiv für Liturgiewissenschaft I X , 1 (1965) 151 f. 11 Auch wieder nur beispielhaft: Georg Manz y Ausdrucksformen der lateinischen Liturgiesprache bis ins 11. Jahrhundert, Beuron 1941. 12 S. meine Besprechung v o n Christine Mohrmanriy L i t u r g i c a l L a t i n , Z . f. Kirchengeschichte 72 (1961) S. 137. Neben den unschätzbaren Beiträgen v o n C. Mohrmann zur Frühgeschichte sei auf das Werk ihrer Schülerin M . P. Ellebracht, Remarks on the vocabulary of the ancient orations in the Missale Romanum, N y m w e g e n 1964, verwiesen.

8

John H e n n i g

ohne Kenntnis von Martyrologium und Pontificale auskommen zu können 1 3 . Bedenkt man nur, mit welcher Liebe und Sorgfalt die Literaturwissenschaft oft recht bescheidenen Erscheinungen nachgeht, so w i r d man sich nach den Gründen für diese Vernachlässigung der Liturgie fragen müssen. Die Geschichte der Widerstände gegen die wissenschaftliche Beschäftigung m i t der Liturgie wäre ein interessantes Kapitel in unserer Geistes- und insbes. Kirchengeschichte. I n der Vergangenheit hat gewiß der Arkanismus eine Rolle gespielt, aber andererseits haben doch mindestens die Auslegungen der Liturgie einen bedeutenden Beitrag zur Literatur, ja zur Entwicklung der Volkssprachen geleistet 14 . M a n hatte lange das Gefühl, daß die literaturwissenschaftliche Betrachtung dem ehrwürdigen Gegenstand nicht gerecht werden könnte. Der entscheidende Widerstand ist aber zweifellos aus dem reformatorischen Vorurteil gegen die Liturgie gekommen. Die moderne L i turgiewissenschaft ist denn auch ein Erzeugnis der Gegenreformation gewesen 15 . Heute steht zu befürchten, daß das wissenschaftliche Interesse an der Liturgie einsetzt, da das selbstverständliche Leben in der Liturgie vielfach abhanden gekommen ist. I n der literaturwissenschaftlichen Betrachtung werden Laien voraussichtlich eine größere Rolle spielen als i n den älteren Betrachtungsweisen der Liturgie. Der nicht erst seit gestern m i t participatio actuosa auf diesem Gebiete Anfangende bringt hier u. U . eine Breite der Erfahrung mit, die gelegentlich die von Geistlichen übertrifft. Er kommt mehr herum, und seine Sicht als Konsument ist für das Verständnis der Liturgie als lebender Tradition nicht unangemessen. Die Zahl der Laien, die sich über einen längeren Zeitraum wissenschaftlich m i t der Liturgie befaßt haben, und gar derer, die gleichzeitig eine literaturwissenschaftliche Ausbildung und Erfahrung haben, ist äußerst klein. Eine vorwiegend ästhetisch-historisch ausgerichtete literaturwissenschaftliche Betrachtung w i r d sich gern mit den wenigen dichterischen Elementen i n der Liturgie befassen, den H y m n e n 1 6 , Sequenzen, Tropen u. dgl. Diese Texte nehmen schon deshalb eine Sonderstellung ein, weil sie ähnlich wie die oben als den Heiligen Schriften entnommen bezeichneten Texte nicht anonym sind und sich sowohl wegen ihrer festen Form als auch wegen ihrer bestimmten Verfasserschaft beständiger erhalten haben als die liturgischen Prosatexte unbekannter Verfasser. 13 S. meine Besprechung v o n H u g o Steger y D a v i d rex et propheta, N ü r n b e r g 1961, Z . f. Kirchengeschichte 73 (1962), S. 166—168. 14 S. Leopold Lentner, Volkssprache und Liturgiesprache, Wien 1964. 15 Z u r Geschichte der L i t u r g i k : L u d w i g Eisenhof er, Handbuch der L., Freiburg 1932, 2. Hauptstück: Die L i t u r g i k als Wissenschaft. 16 Josef Szöverffy, D i e lateinische Hymnendichtung, Berlin 1964 f.

Z u r literaturwissenschaftlichen Betrachtung der L i t u r g i e

9

Der Ausdruck unbekannter Verfasser ist unpassend. Wenn irgendwo, so sieht man an diesen (hinfort kurz als liturgisch bezeichneten) Texten die Kirche als echte und lebendige Gemeinschaft am Werk. Die Tatsache, daß es hier keine 1 7 namentlich bekannten, individuellen Verfasser des Urtextes gibt, schafft die grundsätzliche Möglichkeit zu Änderungen, die ein Lebensprinzip der katholischen Liturgie ist. Durch die Einfügung eines Ausdrucks seiner persönlichen Verehrung zum hl. Josef hat Johannes X X I I I . dieses Prinzip, entgegen einer jahrhunderte alten Lehre, selbst bezüglich des K a nons der Messe erneuert. Die lebendige Teilnahme an der Liturgie ist für jede Betrachtungsweise der Liturgie nicht nur eine passende praktische Vertiefung sondern ein sachgemäßes Erfordernis. Die Vorstellung, daß hier auf einen U r t e x t zurückzugehen wäre, dem allein Verbindlichkeit zukommt, widerspricht dem Wesen der Liturgie. Was verbindlich ist, ist der gegenwärtig verordnete Gebrauch. V o n Anfang an hat die literaturwissenschaftliche Betrachtung der Liturgie die Eigenart ihres Gegenstandes als Gebrauchsliteratur, oder vielmehr als in einem ganz einzigartigen Sinne: gebrauchte Literatur, in seiner ganzen Tiefe zu verstehen. Die Textgeschichte ist auf unserem Gebiete i n weit eminenterem Maße L i teraturgeschichte als anderswo, da die durch sie verzeichneten Wandlungen Ausdruck des Lebensprinzips der Liturgie sind. Die Abwandlungen liturgischer Texte (vergleichbar der bereits erwähnten Zurichtung von Texten aus den Heiligen Schriften) für andere Gelegenheiten (etwa die eines alten Weihnachtsgebetes zu dem Offertoriumsgebet Deus, qui humanam naturam) wären in ihren zahlreichen Stufen und Formen zu untersuchen. I n der nunmehr erreichten Begrenzung unserer Betrachtung auf die liturgischen Prosatexte ist das zentrale Grundbuch das, welches m i t gutem Recht den Namen Sacramentarium trug, d. h. das i m Wesentlichen das Ordinarium und die nicht der Bibel entnommenen Texte der Propria, Communio und Votivmessen, also grundsätzlich die Orationen enthielt. Die Textüberlieferung des Sacramentarium bis zu seiner Eingliederung i n ein universales Plenarmissale hätte allein schon wegen ihrer Einzigartigkeit in einer Geschichte der Textüberlieferung das Kernstück sein müssen 18 . D a die Sakramentarien noch nicht universale A u t o r i t ä t hatten, veralteten sie schnell. Als reine Gebrauchsbücher betrachtet, wurden sie häufiger zerstört als andere 17 M i t ganz wenigen Ausnahmen, wie natürlich des Fronleichnamsoffiziums oder des durch Pius X I . u n d D o m Quentin geschaffenen neuen Herz-Jesu-Offiziums. 18 Geschichte der Textüberlieferung der antiken u n d mittelalterlichen Literatur, Zürich 1961. M e i n diesbezüglicher H i n w e i s (Theol. Literaturztg. 88, 1963 S. 850) blieb gänzlich unbeachtet.

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John H e n n i g

Texte von ähnlicher Bedeutung. Das teure Material, auf das sie geschrieben waren, wurde anderweitig verwandt; Palimpsestforschung und die Rekonstruktion von Texten aus Einbandmaterialien spielen auf diesem Gebiet eine besondere Rolle. Ja, es wurden hier für diese A r t der Restesammlung und -sicherstellung und der Textrekonstruktion exemplarische Methoden entwickelt. Die Entwicklung des Plenarmissale, des Breviers, des Martyrologiums und des Pontificale sind nur streckenweise bekannt, die des Rituale liegt noch fast ganz i m Dunkeln. Die Gründe für diesen Stand der Forschung kann man aus einem Widerstand ableiten, den die Liturgie selbst der literaturwissenschaftlichen Betrachtung entgegenzusetzen scheint. Der von Paul V I . auf eine philologisch-ästhetische Gegnerschaft gegen die Liturgiereform angewandte Satz Augustins: Melius est, reprehendant nos grammatici quam non intelligant populi scheint eine literarisch-kritische Würdigung zu verbieten. Andererseits könnte doch aber insbesondere vom Missale gezeigt werden, daß auch i m literarischen Detail seine Qualität von solcher A r t und Eigenart ist, daß auch die sog. neutrale Literaturwissenschaft daran Interesse finden könnte. Ist es aber schon erstaunlich, daß das Missale Romanum nicht zum allgemeinen Bildungsgut mindestens so wie Vergil, Dante oder auch das evangelische Gesangbuch gehört, so ist es unbegreiflich, wie selten bewußt w i r d , daß die Liturgie der Maßstab ist, an dem sich der literarische Geschmack der Katholiken auf dem i n dieser Hinsicht so oft gefährdeten Gebiete der Frömmigkeit stets orientieren kann. Edmund Bishop war meines Wissens der erste, der die Kategorie des Stiles i m kunsthistorischen Sinne auf die Liturgie anwandte 1 9 . Die Liturgie der Karwoche illustriert auf engstem Raum das Nebeneinander und die jeweilige Eigenart der Hauptstile, neben denen des Alten und Neuen Testamentes (historische Bücher, Propheten, Evangelien, Briefe), den altrömischen Orationsstil, den byzantinischen Akklamationsstil (sogar — bis zur letzten philologischen Korrektur — i n der historischen Aussprache und immer noch gelegentlich in der historischen Vertonung), den ambrosianischen (Exsultet), den dem keltisch-germanischen Natursinn entspringenden (Kreuzeshymnus) bis zum Kommissionsstil unserer Tage (Gebete für Regierende, Juden und Nochnichtgläubige 20 ). Aus praktisch jedem, wenigstens der letzten 13 Jahrhunderte könnte ein Text angeführt werden, an dem sich typische Merkmale seiner Entstehungszeit, ja oft auch seines Entstehungslandes, aufzeigen liessen. 19

Liturgica historica, O x f o r d 1918. V g l . meine Bemerkungen zu dem M o d e w o r t (1965) 321—323. 20

erarbeiten,

Muttersprache

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Z u r literaturwissenschaftlichen Betrachtung der L i t u r g i e

Eine der ältesten, bis heute bewahrten liturgischen Orationen Quod ore sumpsimus / pura mente capiamus, et de munere temporali / fiat nobis remedium sempiternum,

11

ist:

21

ursprünglich (und bis heute) die Postcommunio für Donnerstag nach dem Passionssonntag, später zum klassischen und ersten Gebet nach der K o m munion erhoben. Auch formal ist diese Oratio klassisch durch den strengen Parallelismus: Leib/Geist, Zeitlichkeit/Ewigkeit. I m ersten Gegensatzpaar hat das zweite Glied durch das A d j e k t i v das Schwergewicht. Das zweite Gegensatzpaar hat, indem jedes Glied ein A d j e k t i v enthält, mehr Masse als das erste Gegensatzpaar, und dabei wieder das zweite Glied mehr Gewicht als das erste. Sumere-capere und munus-remedium sind einerseits nicht synonym, anderseits aber auch nicht Gegensätze, eine charakteristische Erscheinung für die liturgische Terminologie. Der Gegensatz temporalis) sempiternus bedeutet sowohl zeitlich begrenzt!dauernd wie in dieser Zeit!in der Übernatur, aber diese Doppelbedeutung bleibt unausgesprochen und ist in der vernacula kaum wiederzugeben. I m neunten Jahrhundert gab es folgende Variante dieses Gebetes: Quod ore sumpsimus, Domine, ut de corpore ternum. 22

mente

and sanguine Domini

capiam, nostri

Jesu Christi

fiat

mihi

remedium

sempi-

Die Transposition i n den Singular ist nur der Ausgangspunkt. Die Einfügung des Vokativs i n der ersten Zeile zerstört den Parallelismus, aber verstärkt die Gefühlsbetontheit der Singularisierung. Der Gegensatz z w i schen os und mens w i r d absolut gefaßt: I n der Urfassung w a r pura nicht schmückendes Beiwort, sondern wesentliche Qualifikation. Ebenso war dort, wie das Verhältnis von munus zu remedium zeigt, der Gegensatz i m zweiten Paar nicht absolut. Die abstrakten Antithesen darf man als scholastisch (im Gegensatz zu patristisch) bezeichnen. Scholastisch ist auch die U m w a n d l u n g des et i n ut: Es w i r d eine Lehre gegeben. I n der zweiten Zeile der Neufassung besteht kein Gegensatz mehr, aber der Inhalt von munus w i r d konkretisiert. Konkretisierungen sind in der T a t ein Hauptzug der späteren Entwicklung der Orationen. Die Zweitfassung zeigt die Subjektivität und Innigkeit der eucharistischen Andacht, die umso detaillierterer Betrachtung bedarf, als sie heute nicht sonderlich 21 V g l . A . Bastiaensen, Ephermid. Liturgie. 79 (1965) S. 170—175 u n d meine liturgieterminologische Betrachtung Vere cibus y Heiliger Dienst 19 (1965) S. 109 bis 114. 22 J. A . Jungmann, Missarum Sollemnia I I , W i e n 1949, S. 486.

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John H e n n i g

hoch i m Kurs steht. Indem die Strenge und Gedrängtheit der alten römischen Kollekte und der große Schritt ihrer cursus verlassen wurde, werden w i r an Wölfflins Unterscheidungen zwischen römischer und germanischer Kunst erinnert. Ein extremes Gegenbeispiel zu der Urfassung von Quod ore sumpsimus wäre etwa die „ f ü r ein römisches Messformular ungewöhnlich breite" Postcommunio für das Fest des hl. Namens 2 3 , die aus dem 16. Jahrhundert stammt: Omnipotens aeterne Deus, qui creasti et redemisti nos, respice propitius vota nostra: et sacrificium salutaris hostiae, quod in honorem nominis Filii tui, Domini nostri Jesu Christi } majestati tuae obtulimus y placido et benigno vultu suscipere digneris ut gratia tua nobis infusa , sub glorioso nomine Jesu, aeternae praedestinationis titulo gaudeamus nomina nostra scripta esse in caelis.

y

Dieses Gebet zeigt die für viele andere typische Dreiteilung: Es w i r d eine Eigenschaft Gottes angerufen, ihre besondere Anwendung ausgeführt und ihre Verwirklichung i n uns erbeten. Doppelausdrücke (placido et benigno vultu, und selbst: creasti et redemisti) werden dagegen weniger bedeutungsvoll. Eine besonders für das Sanctorale bedeutungsvolle Wendung des dreigeteilten Gebetes ist die historische (im wörtlichen Sinne: erzählende), für die eins der ältesten Beispiele die vorgregorianische Oratio v o m Gründonnerstag ist24: Deus, a quo Judas reatus sui poenam et confessionis suae latro praemium sumpsit, concede nobis tuae propitiationis effectum, ut sicut in passione sua Jesus Christus Dominus noster diversa utrisque intulit stipendia meritorum, ita nobis abluto vetustatis errore resurrectionis suae gratiam largiatur.

Die Erzählung w i r d zu einer anagogischen Folgerung geführt, die allerdings nicht restlos schlüssig ist, denn i n den beiden Erzählungsgliedern ist ja von Strafen und Lohnen die Rede, während die Schlußfolgerung nur von dem Gnadenerweis spricht (ein Vergleich zwischen dem Verrat des Judas und dem vetustatis error ist kaum zu ziehen). U m den Parallelismus komplett zu machen, hätte es eines Gegengliedes bedurft wie etwa i n dem Kommuniongebet Perceptio Corporis: Non mihi proveniat in judicium et condemnationem sed prosit mihi ad tutamentum et ad medelam. Die historischen Elemente sind besonders merkwürdig, wenn sie, wie zuerst aus23

Josef Pascher, Das liturgische Jahr, München 1963, S. 406. Petrus Siffrin y Konkordanztabellen zu den römischen Sakramentarien I I , R o m 1959, S. 49. 24

Z u r literaturwissenschaftlichen Betrachtung der L i t u r g i e

13

schließlich, der Bibel entnommen werden (und nicht etwa den Viten): Gott w i r d gleichsam sein eigenes W o r t entgegengehalten; es w i r d ihm etwas erzählt, was er selbst am besten wissen müßte. I m Exsultet und verwandten Texten scheint der Betende zu vergessen, daß er betet;; er meditiert und erzählt. Der soziale Abstieg von der klassischen Kollekte zu der Gründonnerstagoratio ist unverkennbar: Das Schreiten ist zum Trippeln geworden. Andererseits bietet das historische (oder narrative) Gebet der Meditation Stoff, wo die klassische römische Oratio abstrakt spricht. Die kürzeste heute gebrauchte Oratio ist die nur i m Gregorianum bezeugte Secreta v o m 1. Sonntag nach Epiphanie, Sexagesima-Sonntag und Montag i n der 4. Fastenwoche: Oblatum tibi, Domine, sacrificium vivificet nos semper et muniat 25. Das längste heute noch gebrauchte liturgische Gebet ist die Präfation der Jungfrauenweihe, die, nach der üblichen Einleitung m i t den den Grundton angebenden Worten (hier: castorum corporum) fortfahrend, 450 weitere Worte folgen läßt. Schon die Unterschiede i n der Länge weisen auf verschiedene Stile hin. I n der alten Liturgie sind Collecta, Secreta und Postcommunio i n Stil und Aufbau ähnlich, wenn auch ihre jeweilige Funktion i n der Messe i n I n h a l t und Form verschiedenen Ausdruck findet (es gibt z. B. bestimmte Wörter, die am häufigsten in Secreta- bezw. Postcommuniogebeten vorkommen). Später, als für viele neue Feste i m Sanctorale nur die Collecta eigens neu geschaffen, Secreta und Postcommunio aber einem (älteren) Commune entnommen wurden, begann eine Eigenentwicklung der Collecta. Die neuesten Orationen bemühen sich, zu dem strengen Parallelismus und der abstrakten Ausdrucksweise der alten römischen Kollekten zurückzukehren, etwa die Oratio des Festes der Taufe Christi: Deus, cujus Unigenitus in substantia nostrae carnis apparuit, ut per eum, quem similem nobis Joris agnovimus, intus reformari mereamur.

praesta,

quaesumus,

V o n der Taufe ist hier nicht die Rede. Das W o r t foris kommt nur in diesem Gebete vor, eine Illustration der Tendenz, eine neue, aber an klassischer Literatur orientierte Terminologie zu entwickeln. Der Gegensatz z w i schen Innen und Außen war, wie w i r sahen, i n der Postcommunio Quod ore sumpsimus nicht absolut, d. h. i m Sinne von Leib = außen, nieder; Geist = innen, hoch gefaßt worden (sondern mens wurde durch pura qualifiziert, und sumere heißt keineswegs immer äußeres, caper e inneres Nehmen). Die traditionelle Untersuchung: entweder diskursive Betrachtung der liturgischen Gebete i n der devotionellen Ausrichtung oder wissenschaftliche 25

P. Pruylants,

Les oraisons d u Missel Romain, L ö w e n 1952, I I , no. 734.

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John H e n n i g

Analyse, überläßt der Literaturwissenschaft die Würdigung der Gesamtstrukturen. D a r i n mindestens ebenso wie i n den Formeln zeigen sich die Stilunterschiede, deren Erkenntnis vor Eintreten in den theologischen Gehalt möglich, ja nützlich ist. I n einem ähnlichen historischen Rahmen wie die Orationen i m engeren Sinne könnten w i r die Präfationen betrachten. Bei ihnen wäre, vor allem beim Vergleich m i t der ambrosianischen Liturgie, w o jeder Sonntag und praktisch jedes Fest seine eigne Präfation hat, der Schwund seit dem Hochmittelalter zu berücksichtigen 26 . Andererseits hat sich auf keinem Gebiete die Lebenskraft der Liturgie i n moderner Zeit herrlicher gezeigt als i n den neuen Präfationen (Totenmesse, Herz-Jesu-Fest, Christ-Königsfest usw.). Gemessen an dem Niveau der Literatur und Dichtung der Zeit sind diese modernen Präfationen schlechthin überragende Leistungen literarischer Gestaltung. Noch weniger Beachtung hat die Entwicklung der Segensgebete gefunden. Auch hier ließe sich eine Verwandtschaft der verschiedenen Zeitstile m i t entsprechenden Erscheinungen i n Baukunst, bildender Kunst, M u s i k 2 7 und sonstiger Literatur aufzeigen. Ich erwähne als ein besonders auffälliges Beispiel das Gebet für die Versöhnung eines entweihten Friedhofs. Es zeichnet sich durch seine Länge und superlativistische Ausdrucksweise (clementissimus indultor expectantissimus judicator, superabundantissimus miser ator) aus. Die dreigliedrigen Ausdrücke i n diesem Gebet (auch: Tu es figulus noster, tu quietis nostrae ager, tu agri hujus pretium und: Tu dedisti, et suscepisti . . . (et) donasti) weisen auf eine durch die Kelten dem Westen vermittelte östliche Tradition. Dem Westen geläufiger waren zweigliedrige Ausdrücke als Parallelismen oder Intensivierungen (exauditor et effector , purifica et reconcilia , de potentia et pietate) oder als Gegensatz (non damnans sed glorificans). Eine Merkwürdigkeit in diesem Gebet ist, daß das in der Pontificale- Fassung als Dublette zu coemeterium stehende mausoleum i n der Rituale-Fassung fehlt; das W o r t mausoleum kommt sonst i n der L i turgie nicht vor. Es ließe sich unschwer zeigen, daß dieses Gebet auf der

26 A l b a n Dold y Sursum corda, Salzburg 1954, berücksichtigte nicht die ambrosianischen Präfationen. 27 D i e literaturwissenschaftliche Betrachtung befaßt sich m i t den W o r t e n u n d bezieht die Handlungen nur soweit i n die Betrachtung ein, als es zum Verständnis der Worte erforderlich ist (das genaue Gegenstück zur traditionellen Rubristik). Weiter bleibt die heute vieldiskutierte Frage der vokalen Behandlung der Worte — ob und v o n wem sie zu lesen, i n verschiedenen Lautstärken u n d Feierlichkeitsgraden zu sprechen oder i n verschiedenen Kunststufen zu singen sind, am Rande. Exemplarisch hierzu der V o r t r a g des Abtes v o n M a r i a Laach D r . Basilius Ebel y Grundlagen des Verhältnisses v o n K u l t u n d Gesang i n : I V . Internationaler Kongreß für Kirchenmusik i n K ö l n , K ö l n 1961, S. 163—173.

Z u r literaturwissenschaftlichen Betrachtung der L i t u r g i e

15

Grenze von der Scholastik zur M y s t i k steht, und es ließe sich i h m die bildende Kunst des 14. Jahrhunderts zuordnen 2 8 . Die literarische Betrachtung der liturgischen Gebete müsste also folgende Elemente i n Betracht ziehen: Wörter, Ausdrücke, Formeln, Glieder, Elementarstrukturen (Parallelismus, Gegensätze, Schlußfolgerungen, Relativsätze), die Gebete als Einheiten, ihr Zusammenhang m i t anderen Gebeten (etwa i n einem Proprium), das gesamte Formular (eine ganze Messe, eine ganze Hora, ein Weihe- oder Segensformular), den ganzen Buchteil (Proprium de Tempore, oder: Segnungen von Devotionalien) und endlich das ganze jeweilige Buch. Jeder dieser Punkte bietet dem Literaturwissenschaftler Gelegenheit, seine besonderen Kenntnisse zu betätigen, analytische und synthetische, philologische und ästhetische, historische und systematische. Die Bedeutung dieses Studiums w i r d ganz deutlich, wenn w i r uns vergegenwärtigen, daß die Grenze zwischen liturgischem und paraliturgischem Schrifttum nicht immer so deutlich war wie heute. I n Irland, dem ersten Lande, das auf diesen Gebieten eine Vernakular-Literatur besaß, aber auch i n Deutschland i m 11. oder i m 17. Jahrhundert war diese Abgrenzung loser. Die heute noch fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, die sich der exakten Datierung und Lokalisierung der ältesten Texte für das jeweilige Gebet entgegenstellen, sollten eher anreizen als abschrecken. Wer sich ein Menschenalter lang auf diesem Gebiete umgetan hat, darf es wagen, an H a n d einiger Aspekte die Bedeutung, Würde und Schönheit des Gegenstandes vorzustellen.

28 Z u r Behandlung der Liturgie i n den Geschichten der mittellateinischen L i t e ratur s. meine Besprechung v o n K . Langosch y D i e deutsche L i t e r a t u r des lateinischen Mittelalters, Berlin 1964, Deutsche Literaturztg. 86 (1965), S. 597—599.

CATHARINA UND

JOHANN

REGINA

VON

WILHELM

GREIFFENBERG

VON

STUBENBERG

Z u r Frage d e r A u t o r s c h a f t z w e i e r a n o n y m e r W i d m u n g s g e d i c h t e

V o n M a r t i n Bircher u n d Peter

Daly

Vorbemerkung I m Zusammenhang m i t meiner Arbeit über den Übersetzer Johann W i l h e l m v o n Stubenberg (1619—1663) u n d seinen Freundeskreis 1 , b i n ich in zweien seiner Übersetzungen aus dem Jahre 1654 auf anonyme Widmungsgedichte gestoßen, die inhaltlich wie formal weit über dem Durchschnitt ähnlicher Gedichte stehen. Als Verfasserin schien m i r sogleich Catharina Regina v o n Greiffenberg i n Frage zu kommen, die ja nachweislich m i t Stubenberg i n freundschaftlicher Verbindung stand. — Es w i r d nun i m Nachfolgenden zunächst versucht, alle äußeren, biographischen Indizien zusammenzustellen, die für Catharinas Verfasserschaft sprechen, wobei überdies ein auf neuem M a t e r i a l basierendes B i l d der Verbindung zwischen diesen beiden evangelischen Barockdichtern Österreichs umrissen werden kann. Peter D a l y , der Verfasser einer Studie über die M e t a p h o r i k in den 'Sonetten' der Greiffenberg, gibt sodann eine stilistisch-metaphorische Untersuchung der beiden genannten Gedichte u n d gelangt auf diese aufschlußreiche Weise zum selben Resultat hinsichtlich der Verfasserfrage. M . B.

I. I h r / Jhr doppeltschönes K i n d Clio unsers deutschen Landes! Seyt ein Menschen-Seraffin / Engel unsers Donaustrandes! W e i l sich nicht nur mehr als schön Euer Leib u n d Euer Geist sondern Gottes Schönheit selbst Euer Orpheus-stimm'uns weist! . . . M i t diesen W o r t e n v e r e h r t J o h a n n W i l h e l m v o n S t u b e n b e r g »seine h o c h geachte

Freundinn«

Catharina

Regina

von

Greiffenberg

Herausgabe ihrer 'Geistlichen Sonnette/Lieder u n d Gedichte . Nürnberg

anläßlich

der

d i e 1662 i n

erschienen. Es h a n d e l t e sich u m das erste g e d r u c k t e W e r k

der

1 Sie w i r d in der Reihe 'Quellen u n d Forschungen', hrsg. v o n H e r m a n n Kunisch, i m Verlag W a l t e r de Gruyter, Berlin 1967, erscheinen. A l l e weiteren Belegstellen finden sich i n dieser Arbeit.

2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 7. Bd.

M a r t i n Bircher u n d Peter D a l y

18

1633 i n Seisenegg, N i e d e r ö s t e r r e i c h ,

geborenen j u n g e n D i c h t e r i n 2 , das



w i e bereits a u f d e m T i t e l b l a t t des Buches z u lesen ist — » o h n e i h r W i s s e n / z u m D r u c k g e f ö r d e r t « w o r d e n ist. C a t h a r i n a R e g i n a s S t i e f o n k e l , H a n s R u dolf v o n Greiffenberg,

h a t , » i h r z u E h r e n u n d Gedächtniss«, f ü r das E r -

scheinen

Sorge

der

'Sonette'

getragen.

In

einem

ausführlichen

Vorwort

r e c h t f e r t i g t er seine A u s g a b e u n d schreibt z u m L o b seiner d i c h t e n d e n N i c h t e die bedeutungsvollen Sätze: . . . Jnsonderheit hat Sie / v o n erster Zeit an ihrer Leskündigkeit / zu der nunmehr in unserer Teutschen Muttersprache hochgestiegenen edlen Dichtkunst ein eiffriges Belieben getragen / u n d nicht allein dergleichen Bücher v o r andern m i t Lust gelesen/sondern audi endlich m i t Zuwachs der Jahre / die Feder selber angesetzt / und zu ihrem Zeitvertreib / aus selbst-eigner Belehrung ihres schönen Verstands / ein und anders Gedichte zu Papier gebracht: welche denn v o n etlichen unsern guten Freunden / die v o n dieser löblichen K u n s t - U b u n g beydes Verstand u n d R u h m haben / mehrmals beliebet u n d belobt worden. U n s c h w e r g e l i n g t es uns, einige d e r e r w ä h n t e n » g u t e n F r e u n d e « n a m h a f t z u machen; w i r

finden

Niederösterreich. Gruppe

literarisch

sie i n u n m i t t e l b a r e r U m g e b u n g d e r G r e i f f e n b e r g

Es h a n d e l t tätiger

sich d a b e i u m

eine bisher

kaum

in

beachtete

evangelischer E d e l l e u t e , die i n m i t t e n einer

re-

k a t h o l i s i e r t e n U m g e b u n g a u f i h r e n e r e r b t e n Schlössern l e b t e n 3 . D a n k e i n e m Erlaß

des K a i s e r s i m W e s t f ä l i s c h e n

Frieden v o n

1648 w a r l e d i g l i c h

A d e l i g e n Niederösterreichs der A u f e n t h a l t i n der H e i m a t zugebilligt

den wor-

d e n , u n t e r so schweren B e d i n g u n g e n a l l e r d i n g s , d a ß sie sich n u r e t w a z w e i J a h r z e h n t e h a l t e n k o n n t e n . N e b e n C a t h a r i n a v o n G r e i f f e n b e r g ist d e r bekannteste

Schriftsteller

unter

ihnen

Wolfgang

Helmhard

( 1 6 1 2 — 8 8 ) , d e r i n seinen u m f a n g r e i c h e n l a n d w i r t s c h a f t l i c h e n

von

Hohberg

Kompendien

( ' G e o r g i c a C u r i o s a ' ) e i n überaus anschauliches B i l d » a d l i g e n L a n d l e b e n s « 4 2 Leben, Werk u n d Bedeutung der Greiffenberg sind längst nicht mehr unbekannt, wenn auch bis heute noch keineswegs restlos erforscht u n d allgemein richtig eingeschätzt, was zweifellos m i t dem bisherigen Fehlen einer Neuausgabe ihrer Werke zusammenhängt. Aus dem Schrifttum über die Dichterin seien nur die vier wichtigsten Arbeiten erwähnt: H e r m a n n Uhde-Bernays, C. R. v . Greiffenberg. E i n Beitrag zur Gesch. dt. Lebens und Dichtens i m 17. Jh., Berlin 1903. — Leo Villiger, C. R. v. Greiffenberg. Z u r Sprache u n d W e l t der barocken Dichterin, Zürich 1953. — H o r s t Frank, C. R. v. Greiffenberg. Untersuchungen zu ihrer Persönlichkeit und Sonettdichtung, H a m b u r g 1957 (der erste T e i l erscheint i n der Reihe 'Schriften zur Literatur', Göttingen 1967) — Peter M . Daly , D i e M e t a p h o r i k i n den 'Sonetten* der C. R. v. Greiffenberg, Zürich 1964. 3 Schon Richard Alewyn hat in seiner grundlegenden Schrift über den aus Österreich stammenden evangelischen Erzähler u n d Musiker Johann Beer (Leipzig 1932) nachdrücklich auf diese Gruppe hingewiesen. D i e Entwicklung u n d den H i n t e r grund dieser österreichischen Adelswelt hat der H i s t o r i k e r u n d Soziologe O t t o Brunner dargestellt i n seiner Biographie W . H . v o n Hohbergs ('Adeliges Landleben und europäischer Geist', Salzburg 1949). 4 Der Begriff stammt aus dem T i t e l v o n Hohbergs 'Georgica Curiosa' u n d ist zugleich der T i t e l v o n O . Brunners erwähntem Buch.

Catharina Regina v o n Greiffenberg u n d Johann W i l h e l m v o n Stubenberg

19

gegeben hat. Er verdient überdies als Verfasser des einzigen größeren Epos der Barockzeit ('Der Habspurgische Ottobert', 1664) literarhistorische Beachtung. Z u Greiffenbergs Sonetten hat er ein Gedicht verfaßt, wie auch sie zu Hohbergs 1661 erschienener 'Unvergnügten Proserpina' einen Beitrag geschrieben hatte. I m M i t t e l p u n k t dieses Kreises (dem auch Angehörige berühmter österreichischer Adelsgeschlechter wie z. B. der Auersperg, Dietrichstein, Kuefstein, Schallenberg, Starhemberg und Windischgrätz angehörten oder nahestanden) stand aber der schon eingangs erwähnte Johann Wilhelm von Stubenberg. Er besaß das prachtvolle Renaissance-Schloß Schallaburg bei Melk, seit 1648 war er unter dem Namen »der Unglückselige« Mitglied der bedeutendsten kulturellen Vereinigung von Dichtern, Gelehrten und Adeligen i n Deutschland, nämlich der Fruchtbringenden Gesellschaft. Stubenbergs Übersetzungen von Ritterromanen und moralischen Lehrschriften erschienen seit 1650 i n Süddeutschland, zumeist i n Nürnberg. Stubenbergs Schallaburg und Greiffenbergs Seisenegg sind nur etwa 30 k m voneinander entfernt. O f t mag Stubenberg die Strecke zu Pferd zurückgelegt haben; er ist gastlich auf der alten Burg empfangen worden, die sich i n einer lieblichen Gegend erhebt und sich in einem fischreichen Weiher spiegelt. U n w e i t fließt das von Catharina besungene Flüßchen Ybbs; von der Anhöhe des Schlosses schweift der Blick bis zur Donau, hinter der sich der weite Böhmerwald zu erheben scheint. I n einem Brief an seinen Dichterfreund Sigmund von Birken schreibt Stubenberg 1661 über die junge Dichterin: » . . . das Fraülein v. G r e i f f e n b e r g . . . ist M i r nicht allein vertraülich bekannt, sondern Meine halbe Schulerinn gewesen, zu Seisenekk i n Oesterreich 4 Meilen von M i r wohnhafft, daher Jch vilmahls die Ehre gehabt daß Sie M i r ihre sachen anfangs Zuverbessern übersändet, anjetzt aber ist die Schulerinn über den Meister« 5 . I m Jahre 1654 erschienen zwei neue Übersetzungen Stubenbergs: die 'Getreuen Reden: die Sitten- Regiments- und Haußlehre betreffend . . (lateinischer Originaltitel: 'Sermones fideles') des berühmten Engländers Francis Bacon 6 sowie Betrachtungen über die sieben Bußpsalmen Davids, 5 Stubenberg an Birken, 13. 11. 1659, O r i g i n a l i m Archiv des Pegnesischen B l u menordens, Nürnberg. — Einen erstmaligen, sehr dankenswerten Überblick über diese v o m German. Nationalmuseum verwahrten Bestände hat Blake Lee Spahr ('The Archives of the Pegnesischer Blumenorden', Berkeley and Los Angeles 1960) verfaßt. Sämtliche Briefe C. v. Greiffenbergs an Birken werden detailliert aufgezählt (S. 38—50), diejenigen Stubenbergs dagegen nur pauschal erwähnt. β Über die zahlreichen lateinischen u n d englischen Editionen des Werkes vgl. die genaue Bibliographie v o n R. W . Gibson ( O x f o r d 1950). Stubenberg hat die lateinische Version Bacons übersetzt sowie, i m gleichen Jahr, auch noch die Schrift T ü r trefflicher Staats- V e r n u n f f t - u n d Sitten- Lehr-Schrifften' ('De sapientia v e t e r u m > ) . — Egon Cohn ('Gesellschaftsideale u n d Gesellschaftsroman des 17. Jhs.', Berlin 1921) hat m i t besonderem Nachdruck auf die Bedeutung der Stubenbergschen V e r m i t t l u n g v o n Bacons wichtigen Schriften hingewiesen. — Einen Beweis dafür, daß Stubenberg

2*

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M a r t i n Bircher u n d Peter D a l y

deren italienisches Original der venezianische Edelmann Giovanni Francesco Loredano verfaßt hatte 7 . Beide Werke enthalten, dem Brauch jener Zeit gemäß, eine A n z a h l von Lobgedichten und Zuschriften an Stubenbergs Adresse. Die erste deutsche Übersetzung von Bacons berühmten Essays, nach Stubenberg der »besten Federfrucht . . . des Aristoteles unserer Zeit«, widmet der Übersetzer keinem Geringeren als dem jungen K ö n i g Ferdinand I V . (1633—54), dem ältesten Sohn und designierten Thronfolger Kaiser Ferdinands I I I . Der i n untertänigen Worten verfaßten Widmung folgen 'Lobgedichte/ über des H . Unglückseligen wolgedeutschte Reden des Verulamii', die von folgenden Personen verfaßt sind: I . Veit Daniel Freiherr von Colewald, der biographisch kaum nachweisbare Ubersetzer von Lucas Assarinos Roman 'Stratonica' (Wien 1652), ein Werk, das Stubenberg sehr schätzte. I I . Johann Valentin Andreae, i n der Fruchtbringenden Gesellschaft der »Mürbe« genannt, der berühmte, i n Württemberg tätige Dichter, Prediger und Schriftsteller. I I I . Friedrich von Rotter und Kostenthal, ein Schlesier, der i n Wien kaiserlicher Hauptmann war und für die meisten Werke Stubenbergs Gedichte beisteuerte, welcher ihn später unter dem Namen der »Quälende« i n die Fruchtbringende Gesellschaft aufnehmen ließ. I V . Der bereits erwähnte Wolfgang Helmhard von Hohberg (der »Sinnreiche«), der zu dieser Zeite noch keine größere Arbeit veröffentlicht hatte. V . Georg A d a m Graf von Kuefstein (der »Kunstliebende«), der ehemalige Kommandant Wiens, der i m selben Jahr 1654 i n Nürnberg seine Bartoli-Ubersetzung ( ' V e r t e i d i g u n g der Kunstliebenden und Gelehrten anständigere Sitten') veröffentlichte und m i t seinem Gedicht zur Bacon-Übersetzung Stubenberg seine »immerwährende Dienstbegierlichkeit« bezeugen wollte. V I . anonymus — C. R. v. Greiffenberg? 8 V I I . Christoph Dietrich von Schallenberg (der »Schallende«), ein Enkel des bekannten Dichters Christoph von Schallenberg, der auf Schloß Rosenau i m niederösterreichischen Waldviertel lebte. Auch er verfaßte — wie der A u t o r von V I . — eine 'Erklärung' zu einem Emblem i n Versform. V I I I . Georg Philipp Harsdörffer (der »Spielende«), Stubenbergs großer Mentor und Förderer i n Nürnberg, der hier einen 'Poetischen Aufzug/ den Jnhalt der Getreuen Reden dieses Büchleins vorstellend' veröffentlicht hat. I X . Sigmund Birken, der stets um Stubenbergs Gunst warb und für den Druck seiner Ubersetzungen i n N ü r n berg besorgt war. Shakespeares Sonette kannte u n d Catharina zu lesen gab, habe ich leider nirgends finden können (vgl. H . Frank, a.a.O. S. 280). 7 O b w o h l Loredanos (1607—61) 'Sensi d i devotione soura i sette salmi della penitenza d i Dauide' in zahlreichen Auflagen erschienen sind, findet sich das Werk nur i n den wenigsten Bibliotheken. 8 Text s. unten S. 27 sowie Abb. vor dem T i t e l b l a t t dieses Jahrbuchs.

Catharina Regina v o n Greiffenberg u n d Johann W i l h e l m v o n Stubenberg

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Aus diesen Widmungsgedichten w i r d die Umgebung von Stubenberg zumindest i n Umrissen sichtbar: Hohberg, Kuefstein, Rotter, Schallenberg und w o h l auch Colewald (über den w i r zu wenig wissen) gehören zu seinem nächsten österreichischen Freundeskreis. Einige von ihnen sind — zumeist dank Stubenbergs Vermittlung — Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft, wie auch die beiden bekannten Dichter Andreae und Harsdörffer i n Süddeutschland, die zusammen m i t dem jungen Birken Stubenbergs Werke hochschätzten und förderten. W i r gehen w o h l nicht fehl, auch den Verfasser unseres anonymen sechsten Gedichtes i m Kreise von Stubenbergs österreichischen Freunden zu suchen; würde es sich nämlich um ein Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft handeln, so wäre es ganz unüblich und v ö l l i g unerklärlich, warum kein Gesellschaftsname genannt w i r d . E i n ganz ähnliches B i l d des Freundeskreises gewinnen w i r aber auch aus den sieben Gedichten, die Loredanos 'Andachten über die Sieben BußPsalm' vorangestellt sind, eine Übersetzung, die bisher bibliographisch nicht nachgewiesen werden konnte und v o n der vermutlich nur ein einziges Exemplar (in der Zürcher Zentralbibliothek) erhalten ist. I n diesem Fall übernahm der Übersetzer Loredanos Widmung des italienischen Werkleins an den »ewigen und unsterblichen G O T T « . Das erste Gedicht ist unterzeichnet von einer »M. M . Fräulein v. B. u. W.«, was w i r m i t Margaretha Maria von Buwinghausen und Walmerode auflösen können. Diese Dame wurde i n Stuttgart 1629 geboren 9 , stand m i t Andreae und Harsdörffer i n Verbindung, veröffentlichte 1652 die Übersetzung eines moralischen Traktats des Engländers Joseph H a l l und spielte später i n Stubenbergs Leben eine nicht näher bekannte Rolle. Ihrem Beitrag zu Loredanos 'Andachten' folgt ein solcher des bereits erwähnten Friedrich von Rotter, während N r . I I I anon y m (Greiffenberg?) 10 ist. I V . stammt wieder von Harsdörffer, dessen siebzehnjähriger Sohn Carl Gottlieb m i t N r . V I I am Schluß der Gratulanten steht. V . und V I . sind von uns absolut unbekannten Verfassern geschrieben, nämlich von Johann Beisser und Zacharias Mauß, die möglicherweise zu Stubenbergs Untergebenen zu rechnen sind. — Wenn w i r Catharina als Verfasserin des dritten Gedichtes annehmen, so würde in diesem Fall sogar die Rangfolge der Verfasser stimmen: zunächst drei Adlige (die Greiffenberg an dritter Stelle, entsprechend dem jungen Adel ihrer Familie), darauf die Bürgerlichen m i t dem angesehenen Ratsherrn Flarsdörffer an der Spitze und seinem jungen Sohn am Schluß.

9 Der Geburtsnachweis ist erstmals v o n Markus Otto in seinem Aufsatz ' D i e Grabdenkmäler der Bouwinghausen v o n Wallmerode i n Zavelstein', i n : Südwestdeutsche Blätter für Familien- u n d Wappenkunde, Bd. 11 (1964) publiziert worden. Für nähere Angaben über die Dichterin vgl. die erwähnte Arbeit des Verfassers. 10 Text s. unten S. 27 f.

M a r t i n Bircher u n d Peter D a l y

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Catharina Regina von Greiffenberg, an die w i r zunächst aus stilistischen Gründen bei der Lektüre der anonymen Gedichte i n den beiden Ubersetzungen denken, war bei deren Erscheinen 21 Jahre alt und hatte sich bisher als Dichterin noch keinen Namen gemacht. W i r denken an ihre große Scheu vor der Veröffentlichung ihrer 'Sonette'; wie hätte das junge, vaterlose Mädchen zu dieser Zeit es wagen dürfen, ihren Namen unter die Schar der angesehenen hohen Herren zu setzen? Leicht können w i r uns vorstellen, daß Stubenberg bei einem Besuch auf Seisenegg von seinen beiden neuen Ubersetzungen erzählt hat, deren I n h a l t er (wie aus seinen Vorreden und Gedichten hervorgeht) für höchst wichtig hielt. Er hat Catharina oft gute Bücher zu lesen gegeben und empfohlen, wie sie es selber i n einem spätem Gedicht bestätigt, wenn sie schreibt: »Er pflag und gab zu lesen / was lesenswürdig ist« 1 1 . Stubenbergs V o r b i l d folgend hat sie 1660 ein Werklein des auch von Harsdörffer hochgepriesenen Guillaume Saluste du Bartas aus dem Französischen übersetzt. I m A n hang ihrer 1662 veröffentlichten Sonette finden sich 'Fünfzig Lieder untermischt m i t allerhand Kunst-Gedanken', welche alle wesentlich vor 1662 entstanden sein dürften. Darunter gibt es Ubersetzungen (»Aus dem W ä l schen«, »Aus dem Lateinischen versetzt«) oder Erklärungen italienischer Sprichwörter i n Versen, die wie Übungen i m Dichten wirken. Ähnliche »Spielereien« waren aber auch die »Figurengedichte«, die Catharina i m Sommer 1658 zur Kaiserkrönung Leopolds I . verfaßte. V o n diesen Versen (»eine Krone, Reichsstab, Schwertt, Apfel u. Adler fast lebensgroß von lauter Versen gemacht«) berichtet Stubenberg lobend an Birken 1 2 , doch haben sie sich leider nicht erhalten. Andere Widmungsgedichte Catharinas kennen w i r erst aus späteren Jahren 1 3 . Aus allen diesen Gründen scheint uns vom biographischen Standpunkt her der Schluß nicht allzu kühn zu sein, daß Stubenberg bereits i m Jahre 1654 seine »Schulerinn« angeregt hätte, übungshalber eine »Erklärung« zu einem Emblem, ein Gedicht zu Loredanos 'Andachten' über Davids Bußpsalmen zu schreiben, und daß Catharina i h m diese Proben nur unter der 11

I n ihrem Gedicht zu Stubenbergs 'Clelia'-Ubersetzung, vgl. unten S. 24—26. I n seinem Brief v o m 13. 11. 1659. 13 Außer den in vorliegendem Aufsatz erwähnten f ü n f Widmungsgedichten der Greiffenberg kennen w i r noch folgende weitere: drei Gedichte in Anton Ulrichs Roman 'Aramena' (neu gedruckt i n : B. L . Spahr, A n t o n Ulrich and Aramena, Berkeley and Los Angeles 1966, S. 190—195), ein m i t C. R. F. V . G. unterzeichnetes Gedicht in der Leichenpredigt auf die 1687 verstorbene Barbara v o n Regal (vgl. K a t . d. fürstl. Stolberg-Stolbergschen LP-Slg., Bd. 3, Leipzig 1930, S. 407), ferner ihr langes Gedicht zu Johann W e i k h a r d v o n Valvasors 'Ehre deß Hertzogthums C r a i n . . L a i b a c h 1689 sowie einen Eintrag i m Stammbuch v o n Johann Jacob Benz aus dem Jahre 1683 in der berühmten Stammbuchsammlung der Thüringischen Landesbibliothek in Weimar (vgl. Hoff mann von Fallersleben, Findlinge, Bd. 1, Leipzig 1860, S. 485). 12

Catharina Regina v o n Greiffenberg u n d Johann W i l h e l m v o n Stubenberg

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Bedingung überließ, daß ihr Name nicht erwähnt werden dürfe. E i n sicherer Beweis für diese Annahme läßt sich freilich nicht mehr finden: die handschriftlichen Druckvorlagen wurden i n jener Zeit regelmäßig nach dem Druck vernichtet; die Nachlässe Greiffenbergs und Stubenbergs sind nicht auf uns gekommen, und i n dem erhaltenen handschriftlichen Material i n Nürnberg findet sich kein Hinweis darauf. Die freundschaftliche Verbindung zwischen Stubenberg, Hans Rudolf und Catharina Regina von Greiffenberg blieb auch i n den folgenden Jahren bestehen, als Stubenberg sein Schloß verkaufte und nach Wien übersiedelte. I n welch intensiver Weise er sich um die Drucklegung der 'Sonette' bemühte, kann hier nur kurz angedeutet werden: Er beriet den i n solchen Dingen unerfahrenen und ungeschickten Hans Rudolf i n rührender Weise, er schrieb an Sigmund von Birken i n Nürnberg und schickte ihm Proben von Catharinas Talent, die den Nürnberger Dichter begeisterten. Endlich hat sich Stubenberg auch um die Beschaffung der Widmungsgedichte für Catharinas Erstlingswerk bemüht: auf seine Initiative hin haben Hohberg und Jakob Sturm, Stubenbergs Schützling und nach seinem U r t e i l ein »mühsammer Kletterer des Parnassusberges« 14 Verse verfaßt, während es Birken nicht gelang, solche von Neumark, Schottel, Rist und Moscherosch zu erlangen 1 5 . Stubenberg hat noch m i t Genugtuung und Freude das Erscheinen der 'Sonette' erlebt, deren hoher Rang ihm w o h l bewußt war. Als ihm nämlich Birken schrieb, Catharinas Verleger beklage sich über den schlechten Absatz der Gedichte, meinte er dazu nur » . . und gehört der Verleger redlich m i t t unter die groben Pfützengeister« 16 . Stubenberg spricht i n diesem wenige Monate vor seinem T o d geschriebenen Brief von dem bleibenden Wert von Catharinas Gedichten und prägt die prophetischen Worte: »Geduld! G i b t es doch auch mehr leühte denen der Diamanten Preiß unwissend alß welchen ihr teürer Wehrt kundig, der gleichwohl bey jenen allzeit in seiner höhe bleibt«. Nachdem erst kürzlich wieder M a x Wehrli auf den »teüren Wehrt« von Catharinas Gedichten hingewiesen hat, die er zu den »unbekannten, unverstandenen Schätzen der deutschen Barockdichtung« z ä h l t 1 7 , bleibt zu hoffen, daß durch den erstmaligen Neudruck der 'Sonette' nach über dreihundert Jahren der »Diamanten Preiß mehr leühten kundig« werde. 14 Stubenberg an Birken, 2. 12. 1661. D e m bisher v ö l l i g unbekannten Jakob Sturm und seinen Schriften beabsichtigt der Verfasser bei Gelegenheit eine eigene kleine Studie zu widmen. 15 Wie w i r aus Birkens Brief an Georg N e u m a r k v o m 6 . 9 . 1661 erfahren; (ihr Briefwechsel wurde v o n C. A . H . B u r k h a r d t veröffentlicht i n : Euphorion, 3. Erg. heft, 1897). 18 Stubenberg an Birken, 24. 8. 1662. 17 M a x Wehrli i n seiner Interpretation des 191. Sonettes, erschienen i n : Schweizer Monatshefte, 45. Jahr, September 1965.

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Stubenbergs früher T o d (er starb vierundvierzigjährig am 15. März 1663) hat Catharina sehr bewegt. I h r verdanken w i r das schönste Denkmal Stubenbergs, des »Unglückseligen«, eines Mannes, dessen hohe Qualitäten, dessen Bildung und Verstand sie nicht genug zu rühmen weiß, eines Schriftstellers, der von den größten Dichtern und Denkern seiner Zeit geachtet und verehrt wurde, von Andreae bis Harsdörffer, von Birken bis Neumark, von Schottel und Rist bis zu dem Schlesier Heinrich Mühlpfort, von Andreas Gryphius bis Leibniz. Als letzte vollendete Übersetzung hatte Stubenberg diejenige von Scudérys 'Clelia'-Roman hinterlassen, ein Werk, das an die 5000 Druckseiten füllen sollte. D a n k Birkens Initiative konnte es i m Jahre nach Stubenbergs T o d 1664 i n Nürnberg erscheinen. Catharina von Greiffenberg hat dazu ein Gedicht verfaßt, dessen dichterischer Rang weit über die Reimereien anderer Zeitgenossen bei Todesfällen emporragt. Auch dieses Gedicht hat sie nicht m i t vollem Namen, aber wenigstens m i t ihren Initialen unterzeichnet. Es war bis heute unbekannt, und möge daher an dieser Stelle erstmals ungekürzt folgen als das Zeugnis aufrichtiger Freundschaft z w i schen zwei bedeutenden Dichtern aus dem evangelischen Österreich des Barockzeitalters : Uber des (zwar nicht mehr) Unglückseeligen und Weltbetrübten Todfall.

/ uns Unglückseeligen

W A n n die Durchgeisterung der Weißheit / könde geben Unsterblichkeit dem Leib / in dem sie pflegt zu leben: würdst du / den Sternen gleich / ja länger noch als sie / i n höchster Lebenskrafft befinden dich allhie. W e i l aber nur der R u h m / u n d nicht der Leib / das Glücke der Nie-verwesung hat / als der in diesem Stücke dem Erb-Recht der N a t u r auch unterworfen ist: So ist es billich doch / daß Dessen nicht vergisst die Teutsche Tugend-Welt / der sie den Ewigkeiten durch Weißheit einverleibt / ja der die Folge-Zeiten sie zubewundern reitzt / der ihren Weißheit-Ruhm / i n seinem Geist / erhebt ins Sternen-Käisertum durch Meersand-reiche W i t z . Ο Zier der Leut' u n d Zeiten! du Ceder i m Verstand! i n Unvergleichlichkeiten ein Fönix der V e r n u n f t ! ein Liecht u n d Sonn der W e l t ! dem keine Kunst geheim / n i t trüb noch dunkel fällt. D u Teutscher Cicero! ein Kunst-Geist weiser Zungen / hat sich in- u n d durch dich i n Teutsche Sprach geschwungen. Der H i m m e l mischt' i n d i r die E r z k r a f t i m Verstand m i t süsser Lieblichkeit / u n d goß durch deine H a n d als Musen-Schall sie aus. Ach! solt man Deß n i t denken / an dem der Höchste uns ein Blick zuthun w o l t schenken i n seine Göttlichkeit / durch übermenschte Witz? Aus GOttes Weißheit-Sonn w a r er ein heller B l i t z ;

Catharina Regina v o n Greiffenberg u n d Johann W i l h e l m v o n Stubenberg

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ein Strahl der A l l h e i t / die v o n lauter Wissen w a l l e t ; ein T h o n / der lieblich aus des Himmels W o h l l a u t schallet / den die Dreyeinigkeit aufs süsseste beginnt; ein Sinn aus diesem Sinn / den nimmer man aussinnt. Sein W i t z / w a r eine Flamm / die würklich pflag zulehren die GOtt-zuführungs-kunst: man must m i t Brunst begehren zusehen diese Quell / w o dieser schöne Bach so Geist-ergetzbarlich m i t Weißheit ausherbrach/ Verstand und L a n d erfüllt. Es w a r ja seine Seele ein Zeughaus aller Kunst / ein M e e r v o l l Witzes-Welle/ ein Baum v o l l Sinnenfrücht / ein Schatzhaus voller R a h t ; ein K l e i n o d / w o V e r n u n f t die Weißheit-Demant' hat in Künste-Gold versetzt / geschmelzt m i t bunten Farben der schönsten W u n d e r - w o r t / die höhern Preiß erwarben bey Tugend-Ehrern / als die todten Edelstein / die stumm und thumme Schätz der Lebend-Todten seyn / die ohne Weißheit-Lieb. Sein M u n d war eine Wiesen/ w o tausend Weißheit-West ihr Lieblichkeit ausbliesen / durch Blumenholde Sprüch / die so verzuckbar-schön/ daß man i m Paradeis gedünkt spaziren gehn / anhörend solchen Geist. Es w a r kein Weißheit-Schwelle / die er n i t überschritt / und sich i n höchster Stelle der Haubt-erkäntnis setzt. D i e Erz- ja Gottes-Kunst / die Seelen-Wissenschaft / soweit i m Erden-dunst (ja mehr als sonst) erlaubt / Er Engel-gleich verstünde. Der Ketzer H y d r a - K ö p f ' er a l l abschmeissen künde / durch wohlgegründter Schlüss' Unwiderleglichkeit. I n diesen Gottes-Stoff kam er so wunder-weit / daß er sich selbst enthielt. M i t Recht E r auch i n Rechten ein Erzgelehrter hieß / k o n d so grundrichtig fechten: daß Baldus /Bartholus / m i t aller ihrer Schaar / 1 8 v o r I h m verstummt / besiegt u n d überwunden war. Galen u n d H i p p o c r a t er weit dahinten liesse. A u f Chymisch Geisterwerk sein hoher Geist sich fliesse/ fast Theophrasten gleich / was Wissenschaft belangt: w i e w o h l die W ü r k u n g Er m i t Fleiß n i t unterfangt. Das Weiter-fort E r liebt / in Lernung aller Sachen. Es d o r f t sich kein Statist an sein Regirkunst machen/ er weist i h m scharfe Ziel / da mancher nie auf dacht / aufs seltenst W e r k gestellt / K u n s t f ü n d i g bald vollbracht. D i e Wunder der N a t u r i h m waren / wie ein Spiegel / durch Grund-erforschung klar. Der Erzgeheimnis Siegel sein Fleiß eröffnet hat. Feur / Sternen / H i m m e l k r e i ß / L u f f t / Wasser / Erden / Erz / Thier / K r ä u t e r / Säfft' u n d Schweis v o n Bäumen u n d M e t a l l / nach ihrer A r t u n d Wesen / E r aus dem G r u n d erkennt. E r pflag u n d gab zu lesen / was lesenswürdig ist. K u r z ! Weißheit war sein Punct / durch tausend Witzesblitz' hellstrahlend aus i h m f u n k t . 18 Gemeint sind w o h l bei beiden Schriftsteller u n d Prediger Jacob Balde (1603— 1668) u n d Daniele B a r t o l i (1608—1685), beide Mitglieder der Gesellschaft Jesu.

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Die U n v o l l k o m m e n h e i t doch dieser W e l t zuzeigen/ must diß W i t z - w u n d e r w e r k v o r Unglücks-last sich neigen; und nicht nach Wehrt geehrt / noch nach Verdienst erhebt v o n Glück u n d Göttern seyn. Z w a r hat er nie gestrebt nach hoher Nichtigkeit. J t z t Lethe hat verwaschen das U n : Glückseelig bleibt und blüht aus seinen Aschen/ sein unverwelklichs Lob. Glückseelig ist die Seel / w e i l der Beglückungs-blick des Höchsten Sonnenhell i n Weißheit-lust sie macht. So lebe nun / i m Sterben / in nie-gestorbner Freud! der Glaube nicht verderben i m T o d die Todten lässt. Leb nach dem Leben noch / u n d zwar erst recht / w e i l du bist frey v o m Leibesjoch. Fang i m Vergehen an / recht wesend erst zuwerden/ dieweil w i r Menschen doch seynd nichtes hier auf Erden. Doch w e i l i n deinem Nichts solch Wunder d u liest sehn: was w i r d i m Wesenwerk des Himmels erst geschehn? So leb nun / Edle Seel! i m Freudbelebten Leben. Der Nähme i n dem R u h m den Sternen gleich müß schweben. D e i n Ehrgedächtnis auch in unserem Gemüt m i t Unverbleichlichkeit / als eine Rose / blüht. Z u schuldigen Ehren aufgesetzt / v o n seiner (auch nach dem T o d ) i n Gebühr beständigen Tugend-Freundinn C.R.F.v.G.19 C a t h a r i n a R e g i n a v o n G r e i f f e n b e r g h a t auch nach d e m T o d Stubenbergs die

freundschaftliche

Verbindung

mit

seinen

Hinterbliebenen

gepflegt.

Stubenbergs 1643 geborener S o h n R u d o l f W i l h e l m h e i r a t e t e i m J a h r e 1667 M a r i a M a x i m i i i a n a v o n A u e r s p e r g , d e r e n V a t e r , S i g m u n d E r a s m u s , Schloß E r n e g g i n N i e d e r ö s t e r r e i c h besessen h a t t e , das z w i s c h e n S c h a l l a b u r g Seisenegg l i e g t . C a t h a r i n a w a r m i t d e r acht J a h r e j ü n g e r e n M a r i a

und

Maximi-

i i a n a i n n i g b e f r e u n d e t u n d bezeichnet sie als i h r e »liebste F r e u n d i n « . M a r i a s t a r b b e i d e r G e b u r t ihres ersten K i n d e s u n d w u r d e a m 4. M a i 1668

in

R e g e n s b u r g beigesetzt. C a t h a r i n a R e g i n a , d i e i n z w i s c h e n i h r e n O n k e l ge19 Daß dieses Gedicht Catharina v o n Greiffenbergs auf Sigmund v o n Birken großen Eindruck gemacht hat, beweist eine Strophe seiner Trauerklage um den Verlust Stubenbergs (ebenfalls gedruckt v o r dessen O e l i a ' - Ü b e r s e t z u n g ) . Birken w ü r d i g t das bedeutende Gedicht der »Uranie« (wie die Greiffenberg auch in den 'Sonetten* genannt w i r d ) m i t folgenden W o r t e n : U n d was ist m i r überblieben? hat Dich doch U R A N J E / eine Göttinn/so beschrieben: daß ich D i r bezahlet seh/ was D i r Fama schuldig war. Sie kan deinen Wehrt erzählen/ der nun erst w i r d offenbar. Bäste v o n den grösten Seelen! v o n dir redt ein grosser Geist: also wirst d u recht gepreist.

Catharina Regina v o n Greiffenberg u n d Johann W i l h e l m v o n Stubenberg

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h e i r a t e t h a t t e u n d — w i e Stubenbergs S o h n — aus G l a u b e n s g r ü n d e n nach S ü d d e u t s c h l a n d h a t t e ü b e r s i e d e l n müssen, v e r f a ß t e b e w e g e n d e ' T r a u e r G e d a n c k e n U b e r D i e Erschreckende E r f a h r u n g b e y m e i n e r A n k u n f f t / M e i n e r l i e b s t e n F r e u n d i n t ö d t l i c h e n H i n t r i t t s ' 2 0 . Sie h a t i h r e Verse w i e d e r u m

nur

m i t d e n I n i t i a l e n C . R . F . v . G . u n t e r z e i c h n e t . Es ist i h r l e t z t e r nachweisb a r e r K o n t a k t m i t J o h a n n W i l h e l m v o n Stubenbergs S o h n , d e r schon 1677 starb. C a t h a r i n a l e b t e i n N ü r n b e r g bis z u i h r e m T o d i m J a h r e 1694.

II. Erklärung

*

A U s dem Unglück-dornen-grund seine Sinne lassen keumen / i n der Wiederwärtigkeit sich nicht gar erstorben meinen/ ist nur halber Götter Saat / die den schon erfaulten Saarn seiget i n die Unglücks-Erd durch die vielgebeisste R a m ; W i r erkennen offtermals v o r verdrüßlich dicke Regen / die sich zur Fruchtbarkeit an die dürren K ö r n e r legen; So / die unglückvollen W o l k e n machen des Gewächses Stiel/ m i t durchbrechen frühe dringen zu dem hochem Tugendziel: Biß es hat ein Loch gefunden u n d die hoche Sonn ereilet / also deine gute Mühe sich i m niedern nicht verweilet / n i m m t die Güte fremder Sprach / bringt sie an das Teutsche Liecht/ machend daß die Weißheitlust bey uns eben w o l anbricht / biß du durch die D o r n - u n d W o l k e n selbsten oben an gestiegen / w o du bey der klaren Sonnen über Unglück lernest siegen. anonymes Widmungsgedicht aus F .Bacon, Getreue Reden . . N ü r n b e r g

1654

Entzückung bey Belesung der Tiefsinnigen Andachten der VII. Buß-Psalmen von dem hochbegabten Unglückseligen übersetzet. D E r schwache Menschen Sinn bestärket sein vermögen / so v i e l er immer k a n ; Beginnt was irrdisch ist der Erden beyzulegen / u n d schwingt sich H i m m e l an / Der Geist / der Feuergeist pfeilt an die höchsten Sternen / Durch G O T T E S Gnad erhöht; V o n aller Finsterniß w i l l er sich weit entfernen / in seiner Herzens-Red. N e i g / neig dein Angesicht aus D e m u t zu der Erden / i n dem der schnelle Sinn M u ß / gleich der Morgenrot hell u n d beflügelt werden / u n d flammen wolkenhin. Es hat die guldne G l u t das fromme H e r z berühret / die alle Warheit weist: 20 D i e Leichenpredigt (verfaßt v o n M . Georg Wonna) befindet sich i n der Staad. Bibliothek in Regensburg. * V g l . die Tafel v o r dem T i t e l b l a t t dieses Jahrbuchs.

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M a r t i n Bircher u n d Peter D a l y Es hat der Sonnen-glanz die schöne H a n d geführet / die Geist u n d Feuer laist: So brennet das Papier / u n d ist schwer zu erkennen: D i e Feder ist ein Stral / Befeurend das Gemüt / lässt seine Sterne brennen / gleich jenem HimmelsSaal. H a ß aller Erden Lob / w e i l dich der H i m m e l liebet / beleucht v o n seinem Hecht! Die Reue bringet Freud / i n leid und Büß betrübet / die niemand reuet nicht. Der Threnen perlentau erhitzet solche Flammen / die glüen als Saffran / Wie gleicher weis der Schmid besprützt den Eisenstammen / daß man es zwingen kan. So muß das Ungelück zu Glück und Segen werden / nach dieser jammer-zeit: Erfolget solches nicht auf dieser bösen Erden so w a r t / der E w i g k e i t ! anonymes Widmungsgedicht aus G. F. Loredanoy Andachten über die Sieben Buß-Psalm . . . U l m 1654

Schon die Thematik dieser beiden Gedichte entspricht ganz dem Wesen der Dichterin Catharina Regina von Greiffenberg: während es i m ersten Gedicht um den Sinn des Unglücks und seine Uberwindung geht, so handelt es sich i m andern Gedicht um die »Entzückung« des Autors beim Lesen von Loredanos »tiefsinnigen Andachten« über Davids sieben Bußpsalmen i n Stubenbergs, des »Unglückseligen« Ubersetzung. Unglück und religiöses Erlebnis stehen hier also i m M i t t e l p u n k t ; zwei Motive, die in Catharinas 'Sonetten' (1662) von zentraler Bedeutung sein werden. Besonders zu Beginn und gegen Ende des Gedichts zur Loredano-Übersetzung meinen w i r die mutige H a l t u n g und die kühne Zuversicht der »Tugendtapfferen« — so nennt sich Catharina i m 211. Sonett — zu erkennen, wie sie überall i n den Sonetten (und auch i n ihrem Gedicht auf Stubenbergs Tod) i n aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommen. Es ist vielleicht auch nicht ohne Bedeutung, daß hier nichts über die Buße und Reue als solche ausgesagt, sondern lediglich ihre befreiende und freudebringende W i r k u n g festgehalten w i r d : »Die Reue bringet Freud . . die niemand reuet nicht.« Die 250 Sonette zeugen nur spärlich von einem Gefühl der Reue und Buße für die eigene Sündhaftigkeit und Strafwürdigkeit. Eine stilistische Untersuchung dürfte aber zur Frage der Autorschaft mehr beitragen als eine rein thematische. Eine solche Untersuchung muß jedoch vorsichtig vorgenommen und ihre Ergebnisse den Schwierigkeiten entsprechend bewertet werden. Das Unternehmen w i r d überdies i n zweifacher Hinsicht erschwert: zunächst haben w i r es m i t frühen Gedichten zu

Catharina Regina v o n Greiffenberg u n d Johann W i l h e l m v o n Stubenberg

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tun, die spätestens 1654 geschrieben wurden, während w i r unsere Eindrücke und Prüfsteine der Sammlung 'Geistliche Sonnette / Lieder und Gedichte . . entnehmen, welche erst 1662 erschienen ist. Freilich wissen w i r (aus einem Brief Rudolf von Greiffenbergs an Birken), daß diese Sammlung schon i m Sommer des Jahres 1660 fertig vorlag und also zahlreiche Gedichte noch früher entstanden sind. Doch auch eine Zeitspanne von vier oder fünf Jahren kann i n der Entwicklung eines jungen Dichters von großer Bedeutung sein. Die zweite Schwierigkeit liegt sodann i n jedem Versuch, stilistische Phänomene als Indizien der Autorschaft zu betrachten. M a n muß die größte Vorsicht walten lassen, wenn man Bilder und Motive barocker Gedichte als Ausdruck der dichterischen oder gar der psychischen Persönlichkeit interpretieren w i l l . I n seiner Darstellung über das B i l d i n der Poetik des 17. Jahrhunderts hat Fricke den überzeugenden Nachweis erbracht, daß die barocke Sprachauffassung und -gestaltung objektivistisch ist 1 . Sprache und Dichtung sind weitgehend von einem unpersönlichen Impuls beherrscht. Die Wörter lassen sich umformen, denn sie sind einfach da, von der I n d i v i d u a l i tät des Dichters abgelöst; sie haben eine allgemeine Gültigkeit und Verwendbarkeit 2 . Trotz solchen grundsätzlichen Bedenken und Vorbehalten verläßt uns das Gefühl nicht, daß uns i n den vorliegenden Gedichten diese Wortverbindung oder jener Klangeffekt, diese Handhabung der Verse oder jene Verwendung der Metaphorik bekannt vorkommen. Nicht nur Thematik und Haltung, sondern auch die Ausdrucksweise lassen also den Geist der Dichterin ahnen. U n d je mehr man das vage Gefühl auf diese Indizien hin untersucht, desto stärker wächst die Überzeugung, daß die beiden Gedichte aus der Feder Catharina Regina von Greiffenbergs stammen. Beginnen w i r unsere Betrachtung bei dem Einzelwort i n seiner metaphorischen Verwendung. I m allgemeinen merken w i r , daß hier die wichtigsten Bildfelder aus dem Bereich des Lichts und des Feuers entlehnt sind und i n erster Linie vom Thematischen her bestimmt werden. »Licht« und »Feuer« gehören auch i n den 'Sonetten' zu den bedeutendsten Bildfeldern, die, hier wie dort, hauptsächlich das Göttliche, die Weisheit und deren Erfahrung durch den Menschen umkreisen. W i r stellen sogar fest, daß (mit einziger Ausnahme des »Saffran«-Vergleichs) jede in diesen Versen gebrauchte Übertragung auch i n den späteren 'Sonetten' vorkommt, freilich manchmal anders benachbart.

1 Gerhard Fricke, D i e Bildlichkeit i n der Dichtung des A . Gryphius, Berlin, 1933, S. 33 f., 177, 187. 2 Peter Daly , D i e M e t a p h o r i k in den 'Sonetten' der Catharina Regina von Greiffenberg, Zürich, 1964, S. 122 ff.

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I n den ersten Zeilen des Gedichts zur Loredano-Übersetzung lesen w i r , der Geist »schwingt sich H i m m e l an«. Das ist ein gern gebrauchtes W o r t i n den 'Sonetten', wo es fast ausschließlich eine Bewegung zum H i m m e l oder zu Gott beschreibt, bejahend und freudenvoll 3 . Es geht weiter: »der Feuergeist pfeilt an die höchsten Sterne.« E t w a durch Entsagung oder Überwindung des Irdischen »schwingt sich« der menschliche Geist zu G o t t ; erfährt aber derselbe Geist die göttliche Eingebung, so »pfeilt« dieser »Feuergeist« »an die Sterne«. E i n Beiwort aus dem Wortfeld des Feuers stellt die Dichterin oft i n eine Wortverbindung, die die Erfahrung oder das Verlangen des Menschen nach göttlicher Inspiration und Weisheit ausdrücken soll. Beispiele wie »Feuer-Mund« (186) 4 , »Feuerverstand« (16), »Flammenfluß« (8) und »Flügeflamm« (1) finden sich i n den 'Sonetten' verstreut. Viermal kommt dort das W o r t »Pfeil« i n seiner hiesigen Verwendung als Geschwindigkeitsmetapher v o r 5 . Wenn Gott den Menschen i n seinem höheren Streben gnädig anblickt, w i r d der inspirierte Geist »gleich der Morgenröte, hell und beflügelt werden und flammen wolkenhin«. Das B i l d des Morgenrots finden w i r auch i m 38. Sonett, i n welchem die Dichterin betet, daß Gott »eine Morgenrot« schicken möge, ehe die Welt untergeht und seine »Sohns-Sonne anbricht«. I n jenem Sonett, wie auch i n unserem Gedicht, muß das Morgenrot als Zeichen der Gnade und Güte Gottes aufgefaßt werden. Interessant ist die Assoziation von »Flamme« und »Flügel«, die auch das erste Sonett kennt, welches eine Bitte um » H i t z und Witz«, »Geistes-Strom« und »Flügelflamm« bringt, um Gott w ü r d i g loben zu können. Sowohl Liebe wie auch »Loben-Wollen« sprechen aus diesen Zeilen und aus dem B i l d »Flügelflamm«. Zudem dürfen w i r die mystisch gefärbte Gottes- und Weisheitsmetaphorik auch nicht außer Betracht lassen, denn Catharina verwendet diese Bilder für Gott, den Heiligen Geist und die menschliche Erfahrung des Göttlichen. Gott ist »Flamme« (190), »ein fliegend Himmelflammen« (193); der Heilige Geist ist »ein Andachts-Flamm« (185), »ein anzündens Opffer-Feur« (189), ein »Flammen-Flug« (189) und er schickt »ein Flammen-Heer / die Andacht anzuzünden« (181). Dichterische Bedeutungen eines Wortes lassen sich selten direkt und denotativ wiedergeben, und das ist um so mehr der Fall, wenn es sich um ein B i l d handelt. Dieselben Metaphern, nämlich »Feuer« und »Flamme«, werden weiterhin für das Thema der Weisheit gebraucht: »eine helle Weisheit Flamm« (2), Gottes Weisheit ist 3 C. R. v . Greifenberg, 'Geistliche Sonnette . . N ü r n b e r g 1662, S. 9, 20, 22, 30, 31, 66, 84, 132, 248, 250. 4 Bloße Zahlen entsprechen den Seitenzahlen der 'Geistlichen Sonetten* der C. R. v. Greiffenberg. 5 Greiffenberg, a.a.O. S. 71, 118, 127, 242.

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ein »Flammen-Fluß« (8) und die Engel haben »Feurverstand« (16). I n unserem Gedicht darf man vielleicht von einer Verschmelzung dieser Bedeutungen sprechen. U m diese Verschmelzung ins Auge zu fassen, wollen w i r die Zeilen lesen, wie sie nacheinander folgen und aufeinander abfärben. Der durch Gott erhöhte Geist w i r d zu »Feuergeist« und, nachdem Gott sein Angesicht ihm gnädig zugewendet hat, »flammt« er himmelwärts. Bis jetzt ist nirgends von Weisheit die Rede, aber die folgenden Verse sprechen von einer »guldnen Glut«, die den Menschen berührt, und die »alle Wahrheit weist«, sowie von einem »Sonnen-glanz«, der »Geist und Feuer laist«. H i e r w i r d also die Weisheit-Wahrheitsbeziehung ausdrücklich erwähnt, die potentiell i n der Metapher vorliegt. Die volle Verschmelzung dieser Bedeutungen w i r d i n der Verwendung des alleinstehenden Bilds »Feuer« i m Verse: »Es hat der Sonnen-glanz die schöne H a n d geführet / die Geist und Feuer laist« erreicht, wobei »Feuer« etwa Göttliches und göttliche Weisheit symbolisch umfaßt. I n den 'Sonetten' steht dieses B i l d für G o t t 6 , den H e i ligen Geist 7 und die Weisheit 8 . Wie das Gedicht fortfährt, greift die dichterische Einbildung nach weiteren Licht- und Feuerbildern, die sie allerdings anders verwendet. Die inspirierte H a n d »laist« »Geist und Feuer« auf dem Papier, welches jetzt »brennet« und ist »schwer zu erkennen«. Schon das alleinstehende »Feuer«, welches metaphorisch aufzufassen ist, erzeugt eine leichte, semantische Spannung zwischen seiner wörtlichen und seiner übertragenen Bedeutung, aber der neue Vers heißt einfach und direkt: »So brennet das Papier«, und hier w i r d die Spannung noch stärker empfunden. Das 113. Sonett liefert ein schönes ähnliches Beispiel: A u f dem Stroh die E w i g Liebe brennt u n d flammet liechter loh/zündet solches doch nicht an . . .

Dieses Sonett besingt die Geburt Christi. Es w i r d klar, daß sich die Dichterin der Spannung zwischen Symbolik und Alltagswirklichkeit ganz bewußt ist, aber mehr noch — sie spielt die eine gegen die andere w o r t spielerisch aus; i n unserem Gedicht hätten w i r eine frühere Etappe dieser Anschauungs- und Gestaltungsweise. Das Papier »brennet« und ist »schwer zu erkennen«, denn es handelt sich um »tieffsinnige Andachten« vermutlich dunkler, mystischer N a t u r . Der Gedankengang geht weiter, sich bildlich ausdrückend: »Die Feder ist ein Stral befeurend das Gemüt.« Unsere Dichterin zeigt eine Vorliebe für diese A r t überzeugter Kopula, die ein 6 7 8

Greiffenberg, a.a.O. S. 38, 113, 144, 190, 193. Greiffenberg, a.a.O. S. 181, 185, 189. Greiffenberg, a.a.O. S. 2, 8, 16.

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B i l d autoritativ wirken läßt 9 . Charakteristisch für die Dichterin wäre auch die Anschauungsweise dieser letzten Zeilen, die, grob gesehen, eine reflektierte Bewegung des Lichts bzw. des Feuers darstellen: von oben kommen eine »guldne Glut« und ein »Sonnen-glanz«, welche eine inspirierte Schrift zurücklassen (»Feuer« und ein brennendes Papier), dann werden diese Worte (»Feder«) zu einem »Strahl«, der den Leser wieder inspiriert (»befeurend das Gemüt«). Das B i l d des zurückgeworfenen Lichts, oft m i t dem M o t i v des Spiegels und des Strahls verbunden, findet man etwa i n den Sonetten 6, 10, 25 für den Begriff der »Deoglori«. I n unserem Gedicht folgen einige rhetorisch ausgewogene Verse, welche bildliche Sprache vermeidend knapp und eindringlich den Wert der Reue und Buße unterstreichen. Nach diesen fast bildlosen Versen kommt ein komplexes, nahezu verworrenes B i l d von »Threnen Perlen tau« und »Flammen« und ein ausgeführter Vergleich m i t dem Schmied und der Temperierung des Eisens, dessen Bedeutung i n einem neuen Vers unzweideutig explizite wiedergeben w i r d : »So muß das Ungelück zu Glück und Segen werden«. Über die einzelnen Bilder dieser Verse läßt sich für die Frage der Autorschaft nicht viel Überzeugendes sagen. Catharinas spätere Dichtung bringt Beispiele für die Verwendung dieser Bilder: i n den Sonetten 29 und 136 werden »Tau« und »Perle« assoziiert; Sonett 54 verbindet »Thräne« m i t »Perle« und Sonett 55 »Busse« m i t »Perle«. Die Kombination »Perle«, »Tau« und »Tränen« sowie die Wasser-Feuer-Antithetik (»Perlentau e r h i t z e t . . . Flammen«), welcher sich die Dichterin sehr gern bedient, bleiben aber allgemein barocke Züge. W i r lassen die Betrachtung des bildlichen Einzelwortes und schenken unsere Aufmerksamkeit dem Gedicht als ganzem, wobei w i r eines dichterischen Prozesses gewahr werden, der uns in dem Schaffen der Dichterin immer wieder begegnet: auf einen kurzen, geschlossenen Anfang m i t seiner festen, bildlosen Äußerung folgt eine längere Passage, i n welcher verwandte Bilder nacheinander fließen (zuweilen ineinander-fließen) und die m i t einem knappen (anderswo oft pointierten) Satz schließen; es folgt dann ein dichter Bildkomplex und seine kurze, teils rhetorisch ausladende, teils epigrammatische Explizierung. Das sind auch Stilmerkmale der reiferen 'Sonette'. Die vorliegenden, frühen Gedichte zeigen überall dieselbe feste, sichere H a n d , die w i r aus den 'Sonetten' kennen — dramatische Verwendung der Verbalmetaphern 1 0 (vgl. »pfeilt«, »brennet«), die autoritative Kopula, semantische Spannung, Antithese und eine geschliffene Rhetorik. Es sind hier nur die Klangeffekte und die wortspielerischen Elemente weniger stark vertreten; auch das spricht nicht gegen Catharinas Autorschaft, da 9 10

Daly, a.a.O. S. 179 f. Daly , a.a.O. S. 185—188.

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die vermißten Elemente erst m i t voller sprachlicher Meisterschaft und Selbstbewußtsein zur Reife kommen können. Ein feines Gefühl für rhetorische Gestaltung gibt diesem Gedicht seine festen Umrisse und den Versen ihre feste Form. Nehmen w i r folgende Verse als Beispiel: Beginnt was irrdisch ist der Erden beyzulegen/ und schwingt sich H i m m e l an/ Der Geist / der Feuergeist pfeilt an die höchsten Sternen / Durch G O T T E S Gnad erhöht;

Dieser lange Satz fängt m i t zwei Nebensätzen an, welche eine leichte Spannung durch verbale Umstellung erzeugen. W i r bemerken, wie das Subjekt des zweiten Nebensatzes nicht einfach dem Verb folgt, etwa »schwingt sich der Geist H i m m e l an«, sondern bis zum Ende des Satzes zurückgehalten w i r d und einen neuen Vers beginnt, welches zu einem Enjambement führt. Die Nebensätze zeigen eine gespannte, fließende Bewegung nach oben, die der Hauptsatz weiterleitet. Sehr eindrucksvoll w i r k t die Gegenüberstellung der zwei Subjekte »Geist« und »Feuergeist«. Eine schöne parallele Konstruktion zeigen die Verse: Es hat die guldne G l u t das fromme H e r z berühret / die alle Wahrheit weist: Es hat der Sonnen-glanz die schöne H a n d geführet / die Geist u n d Feuer laist:

H i e r w i r d der Parallelismus bis i n die Wortart genau durchgeführt. Eine ausgeglichene A n t i t h e t i k beherrscht die Verse: »Haß aller Erden Lob / w e i l dich der Himmel und

liebet /«

»Die Reue bringet Freud / i n leid u n d Büß betrübet die niemand reuet nicht.«

Es findet sich auch ein leichtes Wortspiel, das einzige i n unseren beiden Gedichten: das W o r t »Reue« w i r d erst in seinem ernsten, theologischen Sinn verwendet, »Die Reue bringet Freud«, dann i n der Verbalform »reuet« leicht wortspielerisch wiederaufgenommen, »die niemand reuet nicht«. Z u r M e t r i k dieses anonymen Gedichts zur Loredano-Ubersetzung (das Gedicht 'Erklärung' ist ja ein Sonett) wäre endlich zu bemerken, daß es sich um einen sechshebigen Vers m i t starker Zäsur nach der dritten Hebung, also um einen Alexandriner handelt. Der Vers ist auch grundsätzlich jambisch 11 , fast ausnahmslos m i t einem anapästischen A u f t a k t ; i n jedem längeren bzw. 11 E i n kleines metrisches Versehen sdieint i m 6. Vers vorzuliegen: »die sich zur Fruchtbarkeit an die dürren K ö r n e r legen«. Das könnte ein Fehler des Setzers sein, indem er »zu der« durch »zur« leicht änderte u n d den Vers lähmte.

3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 7. Bd.

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senkungsreicheren Vers folgt nach der Zäsur ein Anapäst. Diese längeren Verse sind auch katalektisch, insofern eine unbetonte Silbe den jambischen Vers schließt. Die längsten Verse (9, 10, 13 und 14) passen sich dem Alexandriner an, nicht nur indem sie einen katalektischen Ausgang, sondern auch eine zusätzliche unbetonte Silbe vor der Zäsur aufweisen. Bekanntlich ist dieses Versmaß i n der Barockzeit sehr beliebt gewesen, es entspricht der barocken Neigung zur Gedanklichkeit und Antithetik. Dieser letztere Aspekt t r i t t i n der Sonettdichtung des A . Gryphius stärker und dringender hervor als bei C. R. v. Greiffenberg. Trotzdem finden w i r unter ihren Sonetten viele Beispiele des Alexandriners, wie er i n der 'Erklärung' verwendet w i r d 1 2 . Vieles spricht auch für Catharinas Autorschaft des anonymen Gedichts zur Bacon-Übersetzung ('Aus dem Unglück-dornen-grund.. .'), nämlich die Grundgedanken über das Unglück und seine erzieherische Funktion, über die Weisheit, die dem Menschen über das Unglück siegen h i l f t ; die entschlossene Haltung, m i t der diese Gedanken geäußert werden, und nicht zuletzt manche Aspekte der sprachlichen Gestaltung. I n diesem Gedicht darf aber die bildliche Sprache weniger als Indiz für die Autorschaft gelten als i m andern anonymen Gedicht zur Loredano-Übersetzung, denn eine neue Schwierigkeit liegt vor. W i r wissen nicht, ob der Verfasser dieser 'Erklärung' das Emblem selbst gewählt, vielleicht sogar selbst gezeichnet hat oder ob Stubenberg die W a h l getroffen hat. Aus diesem G r u n d können w i r die W a h l der M o t i v e weniger stark berücksichtigen, sind sie doch durch das Emblem bestimmt. O b w o h l sich die Unglücksmotive »Regen«, »Wolke«, »Saarn« und »dürre Körner« auch wieder i n den 'Sonetten' finden 13, so sind sie doch ganz allgemein i n der Barockliteratur verbreitet. Wie sonst i m Schaffen der Dichterin steht das Unglück nicht allein da; es w i r d auch kein heroischer Einzelkampf zwischen dem Menschen und dieser stärkeren Macht dargestellt. Das Unglück w i r d als eine natürliche Bedingung des Lebens angesehen und, obwohl nicht ausdrücklich gesagt, deuten die Bilder daraufhin, daß das Unglück eine gottgewollte Notwendigkeit ist, welche sich erzieherisch auswirkt. Diese Auffassung entspricht einer Grundeinstellung der Dichterin der 'Sonette' 1 4 . Die Naturbilder des 92. Sonetts zeigen, m i t welcher Unvermeidbarkeit Glück auf Unglück folgt: Ο süsser Himmelschluß / auf Regen / Sonnenscheinen / A u f Stürmen / stille Zeit / auf Schnee u n d wehens Plag / erblicken nach begier / den blau- u n d Goldnen Tag! wer k a n / daß W i t t e r u n g die Sonn verschönt / verneinen? 9 2 12 13 14

Greiffenberg, a.a.O. ζ. B. S. 26, 27, 86, 90, 91, 190, 192. V g l . Greiffenberg, a.a.O. S. 41, 45, 52, 55, 56, 61, 92, 94, 144. Daly , a.a.O. S. 94—99.

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Die Dichterin w i l l damit noch mehr sagen, daß nämlich dieses Unglück eigentlich Quelle und Ursprung des höheren Glücks sei: »das gibt die gröste Lust / was uns am meinsten plagt« (92). Die Naturbilder der 'Sonette' und dieses Gedichts verleihen der Unausbleiblichkeit, m i t welcher Glück dem Unglück folgt, den Charakter eines Naturgesetzes. Dieser Gedanke beherrscht den größten Teil des Gedichts, welches das Ausmaß seiner Bedeutung verstehen läßt. Die letzten Verse haben die Weisheit zum Thema, welche dem Menschen über das Unglück siegen hilft. Der Leser hat den Eindruck, daß m i t Weisheit nicht etwa die menschliche Vernunft gemeint ist, sondern eher eine Weisheit, die von Gott her kommt und i h m zugewandt bleibt. Das Bildfeld der Sonne läßt diesen Eindruck aufkommen. Die »hoche Sonne« und das »Tugendziel« weisen auf G o t t und ein höheres Glück, dann w i r d »Weisheit« durch die Verbalmetapher »anbricht« m i t dem B i l d der Sonne verbunden, die m i t Gott und Glück schon assoziiert ist. Schließlich lesen w i r , daß der Mensch durch Weisheit zu »der klaren Sonne« »oben ansteigt«, w o er über das Unglück siegen lernt. Dieser Gedankengang wäre auch i m Einklang m i t der Lebensauffassung der Dichterin. Eine Betrachtung der Form dieses Gedichts würde i m allgemeinen nur die Ergebnisse der vorhergehenden Untersuchung wiederholen und darf daher erspart bleiben. Es sei ein letztes Merkmal von Catharinas Dichtung erwähnt, das i n diesen Gedichten vertreten w i r d , nämlich die Wortverbindung. Die Dichterin der 'Sonette' kombiniert gerne Wörter und W o r t elemente, wie z. B. folgende markanten Beispiele: »Anfangsschirmungsgeist«, »Wunderschickungskunst«, »Wort-Carthaune«, »Herz-Erz-Herzog«. Aus den beiden anonymen Gedichten wären folgende Wortverbindungen ganz i m Geist und Geschmack der Dichterin: »Herzens-Red«, »Feuergeist«, »Perlentau«, »jammer-zeit«, »Unglück-dornen-grund«, »Unglücks-Erd«, »Tugendziel« und »Weisheitlust«. Zusammenfassend möchte ich festhalten, daß die Gedanken und H a l t u n gen dieser Gedichte i n Einklang m i t denjenigen der Dichterin sind, und daß die poetische Form sowie viele Bilder und Wortverbindungen ihre Gegenstücke i n den 'Sonetten' finden. Zudem sprechen viele stilistische Züge für Catharinas Autorschaft. Das alles beweist (im mathematischen Sinn) ihre Autorschaft nicht, denn, was das Stilistische angeht, sollten w i r darüber i m klaren sein, daß das W o r t Buffons »le style c'est l'homme même« i m Barock nur i n Ausnahmefällen paßt. Aber trotzdem erlaube ich m i r die Meinung, ja die Überzeugung, daß Catharina Regina von Greiffenberg diese zwei Gedichte verfaßt hat.

3*

D I E KRISE DER

AUFKLÄRUNG

Das dichterische Werk von Christian Fürchtegott Geliert und die Gesellschaft seiner Zeit* V o n Alessandro Pellegrini

I.

Die Berühmtheit, die Christian Fürchtegott Geliert während seines Lebens i n den Ländern deutscher Zunge erlangt hatte 1 ; das Ansehen, zu dem er es i m ganzen Europa des 18. Jahrhunderts — vor allem i n Frankreich — gebracht hatte, hauptsächlich durch die Ubersetzung 2 verschiedenster seiner * D e r Aufsatz, aus dem Italienischen übersetzt v o n Christoph I . Gaßner (Salzburg), eröffnet den Sammelband v o n Alessandro Pellegrini, D a l l a »Sensibilité« al Nichilismo, M i l a n o 1962. Für die vorliegende deutsche Fassung wurden die A n m e r kungen geringfügig gekürzt. 1 D i e Zeugnisse dieses Ruhmes sind ungezählt; vgl. K . Biedermann, Deutschlands geistige, sittliche u n d gesellige Zustände i m 18. Jh., Leipzig 1867. Andererseits belegt ihn der umfangreiche, bisher veröffentlichte Briefwechsel Gellerts. 2 Gellerts Werke wurden mehrfach übersetzt u n d besonders i n Frankreich gelesen. Vgl. T h . Süpfle, Geschichte des deutschen Kultureinflusses auf Frankreich, Gotha 1886. I m zweisprachigen A n h a n g zu der 1753 i n Paris v o n G. Quand herausgegebenen 'Grammaire Allemande de M . Gottsched', finden sich drei Fabeln Gellerts, u n d z w a r : 'Der Blinde u n d der Lahme', 'Das L a n d der H i n k e n d e n ' u n d 'Der süße T r a u m ' . Für die Kenntnis der deutschen Literatur u n d Gellerts i n Frankreich w a r das weitverbreitete W e r k v o n F. M . Grimm v o n großer Bedeutung; vgl. Sainte-Beuve i n den 'Causeries d u L u n d i ' v o m 10. u n d 17. Januar 1853 u n d die 'Correspondance littéraire, philosophique et critique par G r i m m , D i d e r o t , Reynal etc.', 16 Bde, Paris 1877—1882. Geliert w a r Mitarbeiter an dem 1754 i n Paris gegründeten u n d m i t einer einzigen Unterbrechung i m Jahre 1759 bis 1762 erschienenen 'Journal étranger'. 1750 veröffentlichte J. G. Bauer i n Straßburg: 'Fables et Contes de M . Geliert'; besser w a r die Ubersetzung verschiedener Fabeln i n der v o n Boulanger de Riverey besorgten Ausgabe: 'Fables et Contes', Paris 1754, der i n der Einleitung die deutsche Literatur umriß u n d u. a. ausführte: » M . Geliert est celui qui me paraît avoir porté le plus l o i n la gloire des lettres en A l l e m a g n e . . . L a poésie de M . Geliert a une force naturelle et une harmonie touchante qui la caractérisent. Ses ouvrages traduits seront dépouillés de ces avantages et se soutiendront encore par la sublimité des sentiments.« M o r i t z von Brühl, der Sohn des einflußreichen Grafen v o n Brühl, eines Ministers am Dresdener H o f e , schrieb gegen Ende des Jahres 1755 aus Paris an seinen Lehrer Geliert: »Sie sind hier so sehr bekannt u n d verehrt als an keinem Orte, w o man deutsch redet.« Z w e i andere Mitarbeiter am 'Journal étranger', Madame de Graffigny

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Alessandro Pellegrini

Werke, besonders aber seines bekanntesten Buches, der T a b e l n und Erzählungen', i n das Französische, Polnische, Russische, Holländische, Dänische, Schwedische und schließlich auch das Hebräische; die grenzenlose Trauer und die zahlreichen Gedenkschriften 3 , die durch seinen T o d hervorgerufen w u r den, dagegen aber Einwände einiger der geistreichsten K r i t i k e r gegen allzu wohlwollende Beurteilungen 4 : das sind die Tatsachen, vor die w i r uns geu n d der Cavalier d'Arcqu, ein Enkel Ludwigs X I V . , bewunderten Geliert lebhaft. 1757 veröffentlichte Wächtler, der Herausgeber des 'Journal étranger', i n Paris Prosafassungen mehrerer Fabeln u n d Erzählungen Gellerts, darunter ' I n k l e u n d Y a r i k o ' , ' D i e zärtliche Frau* u n d ' D i e Widersprecherin'; 1765 druckte der 'Mercure de France* als 'L'histoire du Chapeau' eine Übersetzung der Gellertschen Fabel. I m folgenden Jahre erschienen i n der ' C h o i x de Poésies Allemandes' v o n Huber y Paris 1766, eine größere A n z a h l v o n Fabeln u n d zwei der 'Moralischen Gedichte'; zwei Prosastücke enthielt der Band: ' C h o i x varié de poésie philosophique et agréable, t r a d u i t de l'Anglais et de l ' A l l e m a n d ' , A v i g n o n 1770. I n den 'réflexions préliminaires' zu den 'Fables par M . D o r â t ' u n d den 'Fables Nouvelles', D e n H a a g 1773, findet sich folgendes U r t e i l : »Lessing n'est pas le seul A l l e m a n d qui se soit distingué dans ce genre de composition. Geliert et Hagedorn ont été ses concurrents. J'ai hazardé plusieurs imitations de ces trois f a b u l i s t e s . . . Les auteurs Allemands conservent encore une simplicité de mœurs qui convient parfaitement à celle de l'apologue . . . « D o r â t dichtete v o n Geliert ' D e r grüne Esel* u n d ' D i e Wachtel u n d der H ä n f l i n g ' nach, letzteres unter dem T i t e l L a linotte. I n Deutschland übersetzte M . Toussaint y ein M i t g l i e d der Preußischen Akademie, unter dem T i t e l ' E x t r a i t des œuvres de Geliert, contenant ses apologues, ses fables et ses histoires, t r a d u i t de l ' A l l e m a n d par Monsieur Toussaint', 2 Bde., Zullichow 1768, alle 'Fabeln u n d Erzählungen'. Der Großteil v o n Gellerts W e r k (Dramen, der Roman u n d ästhetische Schriften wie z. B. 'De l ' u t i l i t é des règles dans l'éloquence et la poésie', 1758, sowie eine A u s w a h l seiner Briefe) war i n Frankreich schon zu Lebzeiten des Dichters bekannt. I n Gellerts Briefen, bes. i n denen an M o r i t z von Brähl y finden sich polemische Hinweise auf die französische K r i t i k an seinem Schaffen, so z. B. bezüglich des Lustspieles ' D i e Betschwester'. Nach dem Tode des Dichters veröffentlichte die K ö n i g i n , die W i t w e Friedrich I I . v o n Preußen, 'Hymnes et Odes sacrées, traduits de l ' A l l e m a n d de C. F. Geliert par Elisabeth-Christine de Brunswick', Berlin 1789. 1775 erschienen bei Schoonboven i n Utrecht u n d bei Weidmann in Leipzig die 'Leçons de morale' u n d ebenfalls in Utrecht die 'Lettres de C. F. Geliert traduites de l ' A l l e m a n d en Français par Madame D . L . F.', die auch Cramers Gellert-Biographie übersetzte. Das 'Journal des savants' meint in der Besprechung dieses Werkes: » O n y v o i t partout la belle âme de Geliert s'y peindre par des traits qui la caractérisent, qui attendrissent, q u i échauffent le lecteur et l'animent d u désir de l'imiter . . . « D i e Übersetzerin w a r M m e Marie Elisabeth de L a Fite. Z u r Beurteilung v o n Gellerts R u h m i n Frankreich vgl. F. Strich, Goethe u n d die Weltliteratur, Bern 2 1957: »Wenn aber jetzt Gottsched, Wieland, Geliert u n d andere Schriftfsteller Deutschlands i n der französischen Literatur W ü r d i g u n g u n d Eingang fanden, so ist doch zu bedenken, daß es darum geschah, w e i l diese Schriftsteller eben selbst der französischen Schule entstammten u n d Frankreich sich hier nur wiedernahm, was es selbst gegeben hatte. D i e deutsche Literatur w a r noch nicht eine schenkende, wandelnde, bereichernde Macht. Selbst ein Lessing konnte kaum etwas nach Frankreich bringen, was dort nicht auch D i d e r o t zu gleicher Zeit ins geistige Leben rief.« 3 Eine lückenlose Zusammenstellung dieser Gedenkschriften findet sich i m A n h a n g zu K . O . Frenzel y Über Gellerts religiöses W i r k e n , Diss. Leipzig 1894; Druck u n d Verlag v o n E. M . Mouse, Bautzen 1894. 4 M a n erinnere sich u. a. der antideutschen Polemik v o n Mauvillon i n den 'Lettres françaises et germaniques, ou Réflexions militaires, littéraires et critiques sur les

D i e Krise der A u f k l ä r u n g

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s t e l l t sehen, w o l l e n w i r das W e r k jenes M a n n e s b e t r a c h t e n , d e r z w i s c h e n 1750 u n d 1770 als d e r N a t i o n a l d i c h t e r g a n z D e u t s c h l a n d s gepriesen w u r d e 5 . U n d w e n n m a n sich h e u t e aufgeschlossen u n d leidenschaftslos G e l l e r t s F a b e l n z u w e n d e t o d e r B e e t h o v e n s V e r t o n u n g e n e i n i g e r seiner r e l i g i ö s e n H y m n e n lauscht, w e n n m a n ' D a s L e b e n d e r Schwedischen G r ä f i n v o n G . . . ' v e r f o l g t o d e r i m G e d e n k e n a n Lessings L o b 6 sich w i e d e r e i n m a l seine L u s t s p i e l e v o r n i m m t , u m i n i h n e n das deutsche F a m i l i e n l e b e n a b g e b i l d e t z u

finden



d a n n e r s t a u n t m a n , w a r u m e i n d e r a r t i g l a u t e r e r D i c h t e r , dessen I n t e r p r e t a tion

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unter

die

»poetas m i n o r e s « e i n z u r e i h e n ist, so u n t e r s c h i e d l i c h b e u r t e i l t u n d nach bet r ä c h t l i c h e r , aber auch u n v e r d i e n t e r B e r ü h m t h e i t z e i t w e i l i g ungerechterweise hatte v ö l l i g übergangen werden können. D i e Literarhistoriker stimmen i m U r t e i l ü b e r G e l i e r t n i c h t i m m e r ü b e r e i n 7 : D e m e i n e n erscheint er als t y p i scher V e r t r e t e r d e r A u f k l ä r u n g 8 , d e r andere schließt i h n v o n dieser geistigen Bewegung aus9. F ü r

Wilhelm

Scherer u n d H e r m a n n

Hettner

hatte

Français et les Allemands', L o n d o n 1740. H i e r i n hatte es geheißen: » I i ne se marie point de savetier qui n'ait son Epithalame bien et dûment imprimé.« Deutschland hatte i m Jahre 1740 keinen überragenden Dichter aufzuweisen; i n den folgenden Jahren sah man i n Geliert den deutschen Nationaldichter, da er dem V o l k e sein klarstes u n d erhabenstes Spiegelbild vorhielt. A u f das L o b folgten auch Einwände, so etwa i n der v o n Mauvillon u n d Unzer verfaßten Schrift 'Über den W e r t h einiger deutscher Dichter', F r a n k f u r t und Leipzig 1771; darauf erwiderte 1772 eine Goethe zugeschriebene Rezension i n den 'Frankfurter Gelehrten Anzeigen' (vgl.: Goethe Sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe, 36. Bd, S. 8 f.). 5 D i e berühmte Begegnung zwischen Friedrich I I . v o n Preußen u n d Geliert am 18. Dezember 1760, als der K ö n i g während des Siebenjährigen Krieges Leipzig besetzt hielt, unterstrich nur die dem Dichter zugestandene moralische A u t o r i t ä t . Friedrich I I . bestätigte i n der Schrift ' D e la Littérature a l l e m a n d e . . . ' sein w o h l wollendes U r t e i l . Das 1781 erschienene L i b e l l des Königs rief einigen Widerspruch hervor, der sich auch gegen Geliert richtete; das w a r aber durch des Königs völlige Unkenntnis u n d sein Mißverständnis der deutschen Literatur i n der zweiten H ä l f t e des 18. Jahrhunderts, ja selbst des ' G ö t z v o n Berlichingen', begründet. 6 Lessing schrieb i m 'Zweiundzwanzigsten Stück' der 'Hamburgischen D r a m a turgie' v o m 14. J u l i 1767: »Unstreitig ist unter allen unseren komischen Schriftstellern H e r r Geliert derjenige, dessen Stücke das meiste ursprünglich Deutsche haben. Es sind wahre Familiengemälde, i n denen man sogleich zu Hause ist; jeder Z u schauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Mühmchen aus seiner eigenen Verwandtschaft darin zu erkennen . . . « 7 Biedermann hat in dem A n m . 1 genannten W e r k darauf hingewiesen, daß eine Geschichte der Gellert-Forschung die Voraussetzung zu einer eigentlichen Interpretation wäre. Indem sie sich grundsätzlich auf die Ausführungen v o n Biedermann stützten, unterstrichen Scherer i n seiner klassischen 'Geschichte der deutschen L i t e ratur' und Hettner i n der 'Geschichte der deutschen Literatur i m 18. Jahrhundert', 1929, die Bedeutung Gellerts. 8 So betrachtet etwa Georg Witkowski i n seiner 'Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig', Leipzig 1909, Geliert als den typischen Vertreter der A u f k l ä r u n g in Sachsen u n d seiner Hauptstadt. 9 Richard Newald i m 5. B d der 'Geschichte der deutschen L i t e r a t u r v o n den A n fängen bis zur Gegenwart' v o n H . de Boor und R. Newald: ' D i e deutsche Literatur v o m Späthumanismus zur Empfindsamkeit, 1570—1750', München 1951, S. 515: »Als Typus des Aufklärers k a n n Geliert k a u m gelten.«

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Geliert als einer der ersten die Stimme der modernen Dichtung i n Deutschland erhoben und sie verehrten ihn als den Interpreten der deutschen Volksseele, während i h m andere 10 jegliche dichterische Bedeutung absprachen. Z u einem genauen und endgültigen U r t e i l scheint die Literaturgeschichtsschreibung noch nicht vorgedrungen zu sein. Gellerts Name findet sich aber nicht nur i n der Literaturgeschichte, sondern i n jeder Darstellung deutscher K u l t u r und deutschen Lebens zur Zeit der Aufklärung. Die Literaturgeschichte bewertet den Dichter unterschiedlich, die Kulturgeschichte aber anerkennt unbestritten seinen persönlichen Einfluß und sein für das Auftreten, den Lebensstil und die K u l t u r des deutschen Volkes i m 18. Jahrhundert vorbildliches Leben und W i r k e n 1 1 . M a n muß zugeben, daß dieser »mindere Dichter«, dessen Fabeln einst die Kinder auswendig hersagen konnten, dieser Volksdichter, dessen Name dem Bauern und dem Landvolke bis hinein i n die abgeschiedensten Bergtäler Tirols geläufig war, dessen Fabeln noch heute i n den deutschen Schulen gelesen werden und dessen H y m n e n ein Bestandteil des protestantischen Gottesdienstes sind, daß dieser Dichter ganz unvermittelt geschichtliche und literarische Fragen a u f w i r f t und zum Gegenstand kritischer Untersuchungen gemacht werden kann. Die erste Lektüre seiner Werke und auch eine genauere Beschäftigung damit könnten den Eindruck verstärken, einer ästhetischen Beurteilung stünden keine besonderen Schwierigkeiten i m Wege. Tiefere Einsichten i n die gestellte Aufgabe lassen jedoch erkennen, daß hier ein methodologisches Problem vorliegt, dem man sich zuwenden muß, um zu vermeiden, daß die ästhetische Interpretation so fragwürdig wie ein Geschmacksurteil bleibt, dem zu folgen man sich hüten muß. Z u den Widersprüchen i n den Beurteilungen von Goethe bis Gervinus und Biedermann, i n der historischen Forschung wie bei Köster, Schneider und Newald, oder i n der gesamten zeitgenössischen Literaturgeschichtsschreibung war es sicher durch unzureichende Voruntersuchungen gekommen. Ein ästhetisches U r t e i l kann ja auch nur dann zutreffen, wenn es auf eine genaue Untersuchung der geschichtlichen Bedingungen und der Beziehungen zwischen dem Dichter und seiner Zeit 10 Ferdinand Schneider, D i e deutsche Dichtung v o m Ausgang des Barock bis zum Beginn des Klassizismus, Stuttgart 2 1949. 11 W i r erinnern wieder an K . Biedermann, op. cit.; ferner an: Gustav Freytag y Bilder aus der deutschen Vergangenheit, m i t Anmerkungen u n d Zusätzen verschiedener Autoren neu hsg. v o n G. A . E. Bogeng, Leipzig 1924; Georg Steinhausen, Geschichte der deutschen K u l t u r , Leipzig 3 1929; E m i l Ermatinger, Deutsche K u l t u r i m Zeitalter der A u f k l ä r u n g , 1935. V g l . ferner besonders i n H i n b l i c k auf Gellerts Bedeutung für die Festlegung eines bestimmten Umgangstones i m Deutschland des 18. Jahrhunderts: B. Zaehle, Knigges Umgang m i t Menschen u n d seine Vorläufer, ein Beitrag zur Geschichte der Gesellschaftsethik ( = Beiträge zur neueren L i t e r a t u r geschichte, N . F . , H e f t 22), 1923.

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baut. Diese historischen und kritischen Arbeiten müssen bei jeder monographischen Studie dem ästhetischen Urteile vorausgehen; berücksichtigt man jedoch Gellerts Einfluß auf die K u l t u r und die Sitten, dann könnte man i n diesem Falle beinahe meinen, daß der Erforschung jener Voraussetzungen mehr Bedeutung als selbst der ästhetischen Auslegung zukommt. Die V o r untersuchungen bestimmen bereits den Weg zum ästhetischen Urteil. Die Gestalt Gellerts erfordert insofern die Aufmerksamkeit des Historikers, als i n ihm die verschiedenen Strömungen der Aufklärung aufeinandertreffen: Es handelt sich dabei um außerhalb des Rationalismus verlaufende Bestrebungen, die solange übergangen wurden, als man glaubte, die Vernunft habe jegliche Lebensäußerung und die gesamte Literatur des 18. Jahrhunderts geprägt. Durch die Forschungen über die Aufklärung von Dilthey, Troeltsch, Cassirer und Rudolf U n g e r 1 2 wurden diese Ansichten modifiziert. Ihre Bemühungen wurden unterstützt durch geistvolle Untersuchungen von Einzelfragen. I n unserem Falle bewiesen diese Forschungen nicht nur den stilistischen Einfluß Gellerts auf die Fabeln, Briefe und Dramen Lessings 13 , sondern auch die K o n t i n u i t ä t der literarischen Entwicklung von Geliert bis Wieland und ihre W i r k u n g auf den jungen Goethe während der Leipziger Studienjahre 14 . Es ist aber nicht unsere Absicht, hier eine Geschichte von Gellerts Einfluß zu schreiben; uns liegt vielmehr daran nachzuweisen, daß

12 Es dürfte w o h l überflüssig sein, auf Diltheys grundlegende Werke über Friedrich I I . und Leibniz hinzuweisen ('Studien zur Geschichte des deutschen Geistes', i n : 'Gesammelte Schriften', Leipzig-Berlin 1927); die neue Erfassung der die A u f k l ä r u n g durchziehenden religiösen Strömungen w a r aber das W e r k v o n Ernst Troeltsch, besonders i n seinen 'Aufsätzen zur Geistesgeschichte u n d Religionssoziologie' i m I V . Bd. der 'Gesammelten Schriften', Tübingen 1925; vgl. ferner: ders., Religionswissenschaft und Theologie des 18. Jahrhunderts, i n : Preußische Jahrbücher 114, V I . , Berlin 1903; u n d schließlich v o n Ernst Cassirer, D i e Philosophie der A u f k l ä r u n g , Tübingen 1932, v o n R u d o l f Unger, H a m a n n und die A u f k l ä r u n g , Halle/Saale 1925, u n d : H a m a n n u n d die Empfindsamkeit, i n : Aufsätze zur L i t e r a t u r - u n d Geistesgeschichte, Berlin 1929. H . Hettner hatte jedoch bereits in seiner maßgebenden 'Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts', Braunschweig 1876—83, auf die K o m plexität der geistigen Strömungen innerhalb der A u f k l ä r u n g hingewiesen. 13 D i e stilistischen Beziehungen zwischen Geliert u n d Lessing sind geistvoll erfaßt worden v o n Erich Schmidt i n seiner Besprechung v o n August Lehmanns 'Forschungen über Lessings Sprache', Braunschweig 1875. Diese Rezension erschien i m 'Anzeiger für deutsches A l t e r t u m u n d deutsche Literatur', I I (1876), u n d blieb grundlegend für die weitere Gellert-Forschung. V o n E. Schmidt vgl. weiter: Lessing, Geschichte seines Lebens u n d seiner Schriften, Berlin 4 1923. Daß W i e l a n d Gellerts Weg fortsetzte, w i r d allgemein anerkannt. I n diesem Zusammenhang ist ebenfalls bemerkenswert: Oskar Walzel, Deutsche Dichtung v o n Gottsched bis zur Gegenwart, Potsdam 1927. 14 Liese Spriegel, Der Leipziger Goethe u n d Geliert, Diss. Tübingen-Leipzig 1934; weiter: A l b e r t Leitzmann, Goethe u n d Geliert, i n : Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft, N . F . , Bd. 8 (1943).

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es ihm gelungen war, einen Briefstil für das gesamte Deutschland seiner Tage zu schaffen 15 . Die Bedeutung Gellerts für seine Zeit fußt auf didaktischen Absichten 1 6 , die zu den Beweggründen seines Schaffens zählten. Das zeigt sich i n den Anleitungen zu einem gepflegten Briefstil, i n den Bühnenstücken, i m eigentlichen dichterischen Werk und nicht zuletzt i n den 'moralischen Vorlesungen'. A u f G r u n d der damals verbreiteten Anschauung, daß sich die Dichtung durch sittliche und religiöse Belehrung rechtfertige 17 , richtete Geliert sein Schaffen an diesem erzieherischen Ziele aus; und schließlich trugen für ihn auch stilistische Unterweisungen zur sittlichen Bildung bei. Doch erschöpfte sich sein Werk nicht i n bloßer Belehrung: über alle Regeln und rhetorischen Normen hinaus ist eines der Grundanliegen Gellerts die Verherrlichung des Genies i m Dichter 1 8 . So gibt sein Werk jedem, der sich um ein Verständnis der Aufklärung und des Erwachens einer neuen Dichtkunst bemüht, A n regung zu Untersuchungen, aus denen die europäische H a l t u n g des Dichters klar w i r d , der i n der englischen und französischen Literatur reichlich bewandert war und sich weder auf eine Nachahmung der Franzosen beschränkt, noch den Geboten der klassizistischen Poetik Gottscheds beugte 19 . I n Gellerts Leben und Werk trafen sich die drei grundlegenden Strömungen der Aufklärung: der Rationalismus, der Pietismus und schließlich die 15 Walter Eiermann, Gellerts Briefstil, i n : Teutonia, X X I I I (1912), überschreitet die Grenzen einer bloßen Stilbetrachtung. V g l . ferner: F. Heibert, Der Stil Gellerts, Diss. Tübingen 1936; W ü r z b u r g 1937. 16 Vgl. G. V . Vontobely V o n Brockes bis Herder. Studien über die Lehrdichter des 18. Jahrhunderts, Diss. Bern 1942. 17 M o r i t z H . Schuller y Über Gellerts erzieherischen Einfluß, i n : Jahrbücher für Philologie u n d Pädagogik, X X V I I / 2 . A b t . (1880), u n d gleicherweise das bereits angeführte Werk v o n K . O . Frenzel y Über Gellerts religiöses W i r k e n , Diss. Leipzig 1894. Den Zusammenhang zwischen stilistischer Unterweisung u n d moralischer E r ziehung beweisen die 'Moralischen Vorlesungen* über den Briefstil, also bes. deren 16. und 17., u n d die Ausführungen über die Rhetorik wie etwa ' V o n den Fehlern der Studierenden bei der Erlernung der Wissenschaften, insonderheit auf Akademien' (im V . Bd. der Ausgabe v o n Klee). 18 V g l . : 'Wie weit sich der N u t z e n der Regeln i n der Beredsamkeit u n d Poesie erstrecke' i m 5. Bd. der Ausgabe v o n Klee y Leipzig 1839. Desgleichen die U n t e r suchung v o n K u r t May, Das W e l t b i l d i n Gellerts Dichtung ( = Deutsche Forschungen, H e f t 21), F r a n k f u r t / M a i n 1928, u n d auch H e r m a n n Wolf, Versuch einer Geschichte des Geniebegriffes in der deutschen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1923. 10 Schon F r i t z Behrend, einer der scharfsinnigsten Gellert-Forscher, hat i n seinem A b r i ß v o n Gellerts Leben, der als Einführung zur Ausgabe v o n Gellerts Werken, Auswahl i n 3 Teilen, Berlin-Leipzig o. J., dient, darauf hingewiesen, wie gering der später v o n Lessing hochgespielte Gegensatz zwisdien französischem u n d englischem Einfluß in W i r k l i c h k e i t w a r u n d geschrieben: » M i t Männern wie Richardson, A d d i son und Steele, nicht weniger m i t Destouches, der ja in hoher politischer Mission dem Kreise Addison i n England persönlich nahegetreten war, m i t N i v e l l e de la Chaussee fühlten sich Geliert u n d die u m i h n wesensverwandt.« (C. F. Geliert, Lebensbild, S. X X I I ) .

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Empfindsamkeit 2 0 , zu deren bedeutsamsten Vertretern seiner Zeit er zählte. Dieses Zusammentreffen mehrerer Bewegungen i n Geliert, seine Begegnung und Übereinstimmung m i t dem Geiste und dem Empfinden seiner Zeit begründeten nach Ferdinand Schneider seinen Ruhm. K . Biedermann hatte i n seinem für die Erforschung der deutschen K u l t u r i m 18. Jahrhundert grundlegenden Werk bereits 1867 erschöpfend nachgewiesen, welch außerordentlichen A n t e i l Geliert am Gepräge des deutschen Charakters seiner Zeit hatte; und verschiedene Kulturhistoriker, wie etwa Frey tag und Steinhausen, bestätigten, daß Geliert i m A b l a u f des deutschen Geisteslebens an einem der entscheidenden Punkte steht. Eine geschichtliche Untersuchung und Interpretation kann unserer A n sicht nach Gellerts Stellung i n seiner Z e i t 2 1 und i n der Literaturgeschichte unumstößlich bestimmen. Dazu wäre es erforderlich, seinen Lebensweg, die Herausbildung eines Lebensstiles und einer Sittlichkeit auf das Genaueste und i n allen Einzelheiten zu erforschen. A u f diesem Gebiet hatte er nämlich weitesten Einfluß; das dichterische Werk diente ihm dazu nur als ein Mittel. Dabei stimmte unbezweifelbar das Auftreten des Mannes m i t seinem Werke überein, das sich i m Ausdruck an die größte Strenge hält; auch dieser Gleichklang von Leben und Werk trug zur sittlichen Erhebung bei und rief i n der Seele des Volkes ein unmittelbares Echo hervor. Christian Garve, ein Schüler Gellerts, veröffentlichte nach dem Tode seines Lehrers vielleicht die beste von einem Zeitgenossen dem Dichter gewidmete Abhandlung 2 2 , 20 Dieses Zusammentreffen bestätigten auch Ferdinand Schneider, op. cit., der daraus die Berechtigung ableitet, sich m i t Gellerts E r f o l g zu beschäftigen, o b w o h l er sich nicht auf dichterische Vorzüge stütze, u n d F r i t z Martini, der hingegen i n seiner 'Geschichte der deutschen Dichtung', Stuttgart 1958, gerade darin einen Beweis für den wahren W e r t v o n Gellerts W e r k erblickt. R. Newald führt m i t Recht aus: »Nicht der Glaube, sondern die Frömmigkeit t r u g seine ethischen Anschauungen. Keine Konfession wurde v o n i h m verletzt.« (op. cit., S. 516). Diese H a l t u n g w a r durch einen Zug des Rationalismus i m 18. Jahrhundert möglich geworden, der die dogmatischen Grenzen der einzelnen Religionen überwinden u n d zur Übereinstimmung zwischen geoffenbarter Religion und N a t u r r e l i g i o n gelangen wollte. (Vgl.: E. Troeltsch, Religionswissenschaft u n d Theologie des 18. Jahrhunderts, i n : Preußische Jahrbücher 114/IV., Berlin 1903). Troeltsch wies nach, daß die großen Religionskriege, die ganz Europa überzogen hatten, zum Zusammenbruch des engen k o n fessionellen Dogmatismus u n d damit zu einer Befreiung »von kirchlicher M o r a l u n d Weltbeurteilung« geführt hatten. Andererseits führte der Pietismus zu einer Betonung des subjektiven Wertes der Religion und zur K r i t i k an der orthodoxen protestantischen Kirche, um die Seele wiederum zum wahren religiösen Erlebnis zurückzuführen. Diese Züge der Religiosität des 18. Jahrhunderts drücken sich audi bei Geliert aus. 21 Einen bemerkenswerten Versuch zur Bestimmung v o n Gellerts Stellung innerhalb der A u f k l ä r u n g unternahm Günther Müller i n seiner 'Geschichte der deutschen Seele. V o m Faustbuch zu Goethes Faust', Freiburg-Breslau 1939. 22 'Vermischte Anmerkungen über Gellerts M o r a l , dessen Schriften überhaupt u n d Charakter' v o n Christian Garve (entnommen aus: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften u n d freyen Künste, 12. Bd., 1771).

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w o r i n er jener Übereinstimmung von Gellerts Wesen m i t der Volksseele nachgegangen ist, jenem Zusammentreffen einer gepflegten und strengen Sprache m i t einer Klarheit i m Ausdruck, derzufolge seine Worte jedermann verständlich waren. I n diesen Zügen von Gellerts Werk erkannte er den Klassiker. Gälten für die deutsche Literatur jene Normen, nach denen sich die Klassik i n Frankreich ausgerichtet hatte, so müßten w i r Garves Begründungen i n der Verteidigungsschrift für seinen Lehrer v o l l beipflichten, zumal er dabei Gedanken verfolgte, die sicherlich von Geliert selber stammten. Auch könnte uns dann das B i l d nicht überraschen, das der Dichter von der zeitgenössischen Literatur entwarf, i n der er m i t Hagedorn eine neue Blütezeit anbrechen sah 23 . Selbst die Einwände dem größten Dichter seiner Tage, dem um ein knappes Jahrzehnt jüngeren Klopstock gegenüber, waren seinen Vorstellungen von den Aufgaben und stilistischen Ansprüchen der Literatur entsprungen 2 4 ; das schließt keinesfalls aus, daß einige dieser V o r würfe, etwa daß Klopstock unverständlich und schwerfällig schreibe, i n neueren Untersuchungen wieder auftauchen, wie bedeutsam auch Klopstocks Werk für die Entwicklung der deutschen Literatur gewesen sein mag. Es scheint also ganz allgemein unmöglich zu sein, den Weg der A u f klärung zu verfolgen, ohne die Bedeutung Gellerts von den verschiedensten Seiten aus zu beleuchten; das war die Absicht von K u r t M a y i n der A b handlung über 'Das W e l t b i l d i n Gellerts Dichtung' 2 5 , der wichtigsten letzthin dem Dichter gewidmeten Untersuchung. K u r t M a y befaßte sich aber m i t Gellerts Werk v o m Inhalt und den ausgedrückten Ideen her; daraus leitete er eine Darstellung der Welt des Dichters ab, ohne zu berücksichtigen, auf welche A r t und Weise sie sich ausdrückte: er trennte Form und Inhalt. Ein derartiges Verfahren läuft dadurch, daß es eine logisch stärker geformte Weltanschauung darstellt, als sie dem Dichter tatsächlich eignete, einerseits Gefahr, m i t seinen Schlüssen über das Ziel hinauszugehen, während ihm andererseits die Erfassung der von der sich selbst genügenden Dichtung erreichten Ergebnisse mangelt. Das kann dazu führen, daß i n dem Bestreben, das Dichtwerk m i t übertriebenem Historismus aus dem Zeitzusammenhange zu deuten, das wesentlich Eigenständige des Dichters unberücksichtigt bleibt; andererseits kann man unmöglich erkennen, wie sich i m Kunstwerk eine Weltanschauung ausdrückt, wenn man sie logisch zu rekonstruieren sucht: es führt dann kein Weg zur Dichtung, wenn man von Anfang an außer acht läßt, daß sie m i t dem Weltbild des Dichters eins ist. 23 V g l . : Gellerts Briefe an Frl. E r d m u t h v o n Schönfeld, nachmals G r ä f i n Bünau v o n Dahlen, aus den Jahren 1758—68, Leipzig 1861, und besonders jenen Brief v o m Februar 1759, i n dem Geliert die Vorschläge für eine »kleine deutsche Bibliothek für das Frl. v o n Schönfeld« ausarbeitete. 24 Vgl. Gellerts Brief an die G r ä f i n Bentinck, geb. v o n Oldenburg, ohne D a t u m , doch wahrscheinlich aus dem Jahre 1757 (bei F. Behrend, op. cit.). 25 K u r t May y op. cit., S. 6.

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Wie bedeutsam auch K u r t Mays Darstellung ist, so müssen w i r dennoch das Widersprüchliche i n seinen Aussagen hervorheben; er schreibt: »Man hat sich bewußt zu bleiben, daß i n jeder Weltbildanalyse das i m engeren Sinne Dichterische noch nicht angerührt w i r d . V o n ihr zum Gestaltungsmäßigen fortzuschreiten ist Pflicht und liegt i n unserem Falle einer weiteren Geliertforschung ob, daß dann auch geklärt werde: wie eigentlich dieses Was gestaltet ist und wieweit Dichtung überhaupt hier vorliegt, i n welche das W e l t b i l d aufgehoben ist.« K u r t M a y beruft sich auf die Forschungen von Rudolf Unger und besonders auf dessen Buch über Hamann, berücksichtigt dabei aber nicht, daß Unger das W e l t b i l d eines Philosophen zu erfassen trachtete; und nur auf diesem Gebiete war dieses Vorgehen berechtigt. Nicht einmal Mays Hinweis auf H . A . Korffs Darstellung der Goethezeit 2 6 vermag eine Methode zu rechtfertigen, m i t der man die Welt eines Dichters ohne Berücksichtigung der verwirklichten poetischen Werte untersucht. K o r f f betrachtete die geistige Entwicklung eines geschichtlichen Zeitabschnittes von verschiedenen Seiten, um auf das Erwachen und die Entwicklung des deutschen Idealismus zu schließen. Die Literaturgeschichte w i r d dabei zur Ideengeschichte; indem sie die Kenntnis der poetischen Werte und die eigentlich ästhetische Forschung bereits voraussetzt, versucht sie, die K u l t u r eines Zeitabschnittes zu erfassen; die Literaturgeschichte entartet zur K u l t u r geschichte und zur Geschichte der Philosophie. Mays Untersuchung gelangt zu der Feststellung, daß Geliert »seinen Platz hat i n der Geschichte des Geniebegriffs« 27 ; dafür bringt er gültige Beweise, wobei er sich auch auf die Analyse von Hermann W o l f stützt. Wenn man aber Gellerts ästhetische Gedanken i m Hinblick auf die Polemik zwischen Gottsched, Bodmer und Breitinger und auf jene Ansichten untersucht, nach denen sich die L y r i k zu Beginn der Aufklärung — besonders bei Hagedorn — ausgerichtet hatte, dann gewinnt Gellerts Auftreten für seine Zeit mehr Bedeutung, als ihm K u r t M a y zubilligte 2 8 . Tatsächlich führte Geliert den Streit und die damit verbundenen Fragen nicht so sehr zu einer philosophischen Lösung (diese hatte ja Baumgarten erarbeitet), sondern bewältigt ihn vielmehr literarisch; und seine Begründung erlaubte es ihm, über die Auseinandersetzungen hinauszugelangen und sich dem Dichtwerke zuzuwenden. I n den kritischen Ausführungen wiederholt Geliert Ideen von Johann Elias Schlegel 29 und aus dem Werke von Ch. Batteux Angelesenes 30 . 26

H . A . Korff, Geist der Goethezeit, Leipzig 1923. K u r t May y op. cit., S. 8. 28 Einige Hinweise dazu bringt der Verf. in seinem Aufsatz 'Gottsched, Bodmer, Breitinger e la Poetica d e l l ' A u f k l ä r u n g ' , Catania 1952; vgl. bes. den Geliert gewidmeten Teil. 29 Über J. Elias Schlegel vgl. Verf., op. cit. 30 Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe, Paris 1746. Das Werk v o n Batteux w a r v o n Zeitgenossen u n d Freunden Gellerts zweimal ins Deutsche über27

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Seine bedeutendere Rolle i n der Literaturgeschichte als i n der Literaturk r i t i k gründet sich aber auf das umfangreiche Werk, das die Fabel und die Erzählung ebenso umfaßt wie das Schauspiel, den Brief, das Lehrgedicht und die religiöse L y r i k ; und schließlich bescherte er m i t verblüffender K ü h n heit, die noch mehr überrascht, wenn man seine Erscheinung und jene zerbrechliche Schüchternheit berücksichtigt, die sein Auftreten geprägt haben soll, der deutschen Literatur das erste Beispiel eines modernen Romans. Jeder Aspekt i n Gellerts Werk erfordert eine eigene Uberprüfung. Für die Literaturgeschichte bleibt sein Name m i t den 'Fabeln und Erzählungen' verbunden; aber dieses Werk ergänzte er durch theoretische Schriften. D a r um ist es erforderlich, das Verhältnis dieser Ausführungen zum dichterischen Werke zu untersuchen und die Eigenart von Gellerts Fabeln und Erzählungen auch gegenüber Vorgängern, wie Hagedorn 3 1 , und Nachfolgern, wie Lessing 32 , hervorzuheben. Nicht weniger umfassende Fragen w i r f t sein dramatisches Schaffen auf, das Deutschland ein Beispiel für die rührende oder empfindsame Komödie ebenso wie für die Darstellung des Lebens der Bürger auf der Bühne gab, w o m i t er Lessing den Weg bereitete; und dieser berief sich i n seinen ersten Werken offensichtlich auf das V o r b i l d Gellerts 3 3 . Schließlich folgte ihm auf dem Gebiete des Schäferspieles Goethe nach, der diese Gattung i n seinen Jugendwerken zur Vollkommenheit entwickelte; auch die 'Geistlichen Lieder' sind von nicht geringerer geschichtlicher Bedeutung, da sie ebenfalls die Entwicklung einer literarischen Gattung beschlossen. Sogleich m i t dem Tode setzte die Mißdeutung und Entstellung ein, bis Geliert der nachfolgenden Generation als der Verfechter bereits verworfener Werte erschien 34 , während man i n seiner Empfindsamkeit doch eher eine Vorbereitung der weiteren Entwicklung hätte erkennen sollen 3 5 . M i t tragen worden, u n d zwar v o n A . Schlegel u n d v o n K . W . Ramler. A . Schlegel erläutert seine Ansichten über Batteux in zwei der Ubersetzungen beigefügten A b h a n d lungen: 'Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, aus dem Französischen übersetzt u n d m i t einem Anhange einiger eigenen Abhandlungen versehen', Leipzig 2 1759. 31 W . Eigenbrodty Hagedorn u n d die Erzählung i n Reimversen, Berlin 1884, u n d K a r l Epting, Der Stil i n den lyrischen u n d didaktischen Gedichten. F. v o n Hagedorn, ein Beitrag zur Stilgeschichte der Aufklärungszeit, Stuttgart 1929. A u f die Untersuchung der verschiedenen Gesichtspunkte v o n Gellerts Werk werden w i r jeweils bei der Behandlung seines Schaffens hinweisen. 32 Über Lessing vgl. E. Schmidt, op. cit., 1. Bd, S. 372 ff. 33 K a r l Holly Geschichte des deutschen Lustspiels, Leipzig 1923, trägt hiezu einiges bei. 34 Dies hebt H e r m a n n Schneider i n der gegen Geliert gerichteten 'Geschichte der deutschen Dichtung nach ihren Epochen dargestellt', Berlin 1949, hervor. 35 F. Brüggemann versucht in seinen einführenden Erläuterungen zu den Bänden der Reihe ' A u f k l ä r u n g ' der 'Deutschen L i t e r a t u r ' des Reclam-Verlags, 1935, diese Annahme zu stützen. V o n dems. Verf. vgl. man: Der K a m p f u m die bürgerliche

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seinem Auftreten hat er den deutschen Adel die Achtung vor der sittlichen Erscheinung und der Person des Dichters gelehrt; so konnte er die Hochachtung und die Zuneigung Friedrichs I I . von Preußen erringen, als dieser während des Siebenjährigen Krieges m i t seinen Truppen das feindliche Leipzig besetzte; der Dichter mahnte den König, den Völkern den Frieden nun wiederzuschenken. Als sich Biedermann m i t dem von Geliert geschaffenen Umgangsstil und m i t seiner Lebensweise befaßte, konnte er erkennen, daß sich der Dichter über die Standesunterschiede erhoben hatte; Geliert verkündete allgemein gültige Richtlinien, an die sich auch der A d e l zu halten hatte. Der Rationalismus ließ ihn auf Grund der sittlichen Anschauungen, die sein gesamtes Werk angeregt hatten, Gebote der Höflichkeit fordern, die für jedermann verbindlich seien — der Pietismus hingegen belebte neuerdings die überlieferte religiöse Dichtung. M i t den starken religiösen und sittlichen Bindungen überschritt er den Rationalismus und beteuerte i n seinem Werke m i t der Anerkennung der christlichen Offenbarung und der Gleichheit unter den Menschen die Würde des Einzelnen. Die neue »Empfindsamkeit«, die sich i n Gellerts Schaffen, seinen Briefen, Gedichten und Bühnenstücken bereits zeigt, ging jenem Durchbruch des Gefühles voran, der zu den Eigenheiten des Sturm und Drang zählt. Demgegenüber waren Gellerts V o r stellungen v o m Bau des Kosmos i n den 'Moralischen Vorlesungen' dem Geiste des Barock verpflichtet. D a r i n offenbart sich ein Widerspruch z w i schen der Religion und dem nicht immer m i t der Offenbarung übereinstimmenden Vernunftglauben. Gerade i n diesem Gegensatz, i n dieser Spannung von Gellerts Geist zwischen einer bereits abgeschlossenen und der nun anhebenden Epoche läßt sich ein weiterer Umstand erblicken, der sein Werk beachtenswert macht. Diese Gestalt, die zu einem hohlen Schema geworden ist, erstarrt i n der H a l t u n g eines moralischen Konformismus, demgegenüber die Nachfahren Einspruch erhoben; und Geliert ist von der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts — so etwa von Gervinus — selbst dann noch geflissentlich übersehen worden, als die verschiedenen Ausgaben seiner Werke einander folgten und seine Fabeln nach der Bibel das verbreiteste Buch i n Deutschland waren: dieser Dichter stellt sich der heutigen Forschung viel umfassender dar, als man es damals wahrhaben mochte. Brüggemanns Studien zur Aufklärung scheinen sich i n der Frage zu verdichten, die Gellerts Schaffen aufwirft — aber es fehlt eine streng ästhetische Untersuchung dieses Werkes, weil bisher weder die damit zusammenhängenden geschichtlichen

W e l t u n d Lebensanschauung i n der deutschen L i t e r a t u r des 18. Jahrhunderts, i n : D V S 3 (1925), S, 94—127.

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Alessandro Pellegrini

Fragen geklärt, noch die Voraussetzungen zu einer ästhetischen Interpretation geschaffen worden sind. Doch anscheinend läßt sich Geliert weder die historische Bedeutung abstreiten, noch kann man leugnen, daß verschiedene seiner Fabeln und Erzählungen und einige seiner H y m n e n lebendiger Besitz geworden sind. U m den Wert dieser Dichtungen zu erfassen, ist es nötig, die zu einer Erforschung von Gellerts Werk und Leben erforderlichen Voraussetzungen neuerlich zu überprüfen, die von der Wissenschaft bisher erreichten Ergebnisse zu erfassen und zu einer interpretativen Methode zu gelangen.

II. Bekannt ist Goethes U r t e i l i n seiner Autobiographie, w o er sich m i t der Vergangenheit auseinandersetzt und gleichzeitig auf den Unterschied z w i schen der vorausgegangenen literarischen Epoche und der neuen hinweist, deren Gipfelpunkt er selbst verkörperte. Goethe hatte i n 'Dichtung und Wahrheit' beabsichtigt, die Linien seines Werdens nachzuziehen und die der Deutung seiner Lebensumstände und seines Werkes i h m am dienlichsten erscheinenden Hinweise niederzulegen. Seine Aufgabe war, während er von einer höheren Warte aus die bereits lang entschwundene Jugendzeit zu neuem Leben erweckte, gleichzeitig die eines Dichters und die eines Interpreten seiner eigenen Jugenddichtungen gewesen; und Goethe beschrieb seine Entwicklung nicht von einem subjektiven Standpunkt aus, sondern die objektive und historische Betrachtungsweise veranlaßte ihn, die damalige U m welt darzustellen. Die Erinnerungen an Leipzig und sein literarisches Leben, das Gottsched und Geliert unbestritten anführten, bilden einen höchst anschaulichen Abschnitt; jene Kapitel des V I I . Buches von 'Dichtung und Wahrheit', i n denen er sich bemüht, die literarische Lage Deutschlands i m Jahre 1765 zu umgreifen, sind wahrhaftig die erste Literaturgeschichte großen Stiles, die i n deutschen Landen geschrieben worden ist 3 6 . Goethe w i r f t hier jene Fragen auf, die Gellerts Erscheinen innerhalb der A u f k l ä rungsliteratur betreffen — und deshalb müssen w i r auf diese für die Geschichte der Gellert-Forschung grundlegenden Ausführungen i n 'Dichtung und Wahrheit' zurückkommen. Goethe beurteilt nicht nur das Werk, sondern auch den Menschen Geliert und seine Stellung innerhalb der deutschen Kulturgeschichte. Gellerts Name, dessen Werke er i n der väterlichen Bibliothek neben denen von Canitz, Hagedorn und Haller vorgefunden hatte, war Goethe von 36 V g l . die Einleitung zu 'Dichtung u n d Wahrheit' v o n Richard M . Mayer Jubiläumsausgabe, 22. Bd., S. X X .

i n der

D i e Krise der A u f k l ä r u n g

49

Kindheit an vertraut 3 7 . Das erste Streben des Jünglings richtete sich danach, seinen eigenen Namen einst i n einer Reihe m i t dem Gellerts oder Hagedorns angeführt zu wissen, oder vielleicht auch m i t denen einiger der größten Gelehrten seiner Zeit, zu denen etwa Ernesti zählte 3 8 . N u r am Rande sei daran erinnert, daß nicht Goethe allein Ernesti und Geliert i n einem Zuge nannte; die beiden waren miteinander eng befreundet gewesen, und Ernestis Gedenkrede auf den Dichter stellt auch heute noch eine unerläßliche Quelle für den Gellert-Biographen d a r 3 9 . 37

Goethe, Dichtung u n d Wahrheit, I I . Buch, 1. Teil, Jubiläums-Ausgabe 22. Bd,

S. 91. 38

ibidem, I V . Buch, 2. Teil, Jubiläums-Ausgabe 23. Bd, S. 33. D i e Rede wurde 1770 veröffentlicht, 1791 i n Leipzig bereits neu herausgegeben u n d ist i n der Anthologie 'Vitae hominum quocumque litterarum genere eruditissim o r u m ab eloquentissimis viris scriptae* v o n F. Friedmann y I I . Bd, S. 1, Brunswigae 1825, enthalten. Geläufig ist Gellerts U r t e i l über Ernesti, wie es Cramer m i t t e i l t : »Ernesti ist nach meinen Gedanken jungen Leuten allein eine Akademie.« D i e Gellert-Forschung hat die bedeutsame Rolle Ernestis v ö l l i g übergangen; er zählt bekanntlich m i t seinem W e r k ' I n s t i t u t i o Interpretis N o v i Testamenti ad usum lectionum', 1761, zu den bedeutendsten Exegeten u n d steht i n der ersten Reihe der philologischen Bibelkritiker. Ernesti hatte der Geliert- Biographie bereits den Weg gewiesen und ihre grundlegenden Tatsachen zusammengefaßt, die v o n den folgenden Arbeiten nur bestätigt w u r d e n : E r erwähnte die literarischen Freundschaften m i t Rabener u n d Gärtner, Elias u n d A d o l f Schlegel, m i t Cramer u n d der Runde der 'Bremer Beiträge^; er teilte Gellerts eigenes U r t e i l über sein Schaffen m i t : »Ipse i n scriptorum suorum numéro maxime probabat hymnos sacros.. . nec dubitemus, eum inter principes carminum sacrorum memorare.« Bei den Fabeln hob er die zauberhafte Einfachkeit u n d A n m u t hervor, m i t der sie sich i n H e r z u n d Seele des Lesers einschmeicheln, so daß die K i n d e r gleich von ihnen Besitz ergriffen — und ausdrücklich betonte er die M u s i k a l i t ä t u n d die M e l o d i k dieser Dichtungen. V o n den Carmina didactica sprach er ob ihrer Strenge u n d Schwere, deretwegen sie den Leser eher belehren als ergötzen, u n d er erwähnte auch die K o m ö d i e 'Die Betschwester', »quae feminam hypocritam exprimit plane ad v i v u m « , die Einwände gegen sie u n d die Einschränkungen des Dichters ihr gegenüber, »vitia ea, quae ad religionem pertinerent, non esse ad risus levitatem et scenae oblectationem trahenda, propter facilem et p r o n u m transitum ad religionem ipsam«. U n d damit hatte Ernesti auch den grundsätzlichen Wandel in der Entwicklung v o n Gellerts ästhetischen V o r stellungen erkannt, den Wandel v o n der Zeit, als der Dichter unbefangen die K o m ö d i e n niedergeschrieben hatte, die bei den Zeitgenossen lebhaftesten Beifall fanden, bis zur Ablehnung jener Freizügigkeit i n der Satire, die er sich ursprünglich zugebilligt hatte. N i c h t weniger treffend w a r Ernestis Einschätzung v o n Gellerts Epistolarium: A n der ' R a t i o epistolarum scribendarum quae pars arsoratoriae hodie minus frequentatur i n scholis Rhetorum' bemerkt er, wie sich Geliert einer G a t t u n g zugewandt hatte, »quod liberaliter jocatur, venuste narrat aut officio aliquo humanitatis fulgitur«, das ist also mehr »ad vitae privatae hilaritatem« als dem Abfassen inhaltsschwerer Briefe u n d dem Stile »usum i n republica, qui o l i m putabatur primus«; und hier zieht das U r t e i l des Humanisten die Grenze, an die sich Geliert i n seinen Briefen gehalten u n d die zu überschreiten er weder gewagt noch gewollt hatte. D i e kurzgefaßte Gedenkrede Ernestis zählt bereits alle Eigentümlichkeiten Gellerts auf, spätere Biographien können nur noch weitere Belege dafür erbringen: Gellerts tiefe Religiosität, die sein gesamtes Leben u n d seine ganze Seele durchdrungen u n d die christliche Tugend zu ihrer einzigen u n d gegenüber dem Stoizismus und der A n t i k e allein gültigen Quelle gemacht hatte; seine Scheu v o r Ehrungen, die Unbekümmertheit i n geldlichen Belangen, seine W o h l t ä t i g k e i t andern u n d die Spar39

4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 7. Bd.

50

Alessandro Pellegrini

Gellerts Einfluß auf die Anfänge von Goethes literarischer und geistiger Bildung war bedeutsamer, als sich durch den bloßen Generationsunterschied vermuten ließe. Goethe erinnerte sich an Geliert auch noch nach seiner Rückkehr aus Leipzig nach Frankfurt, also während jener gedankenschweren Andachtsübungen und religiösen Meditationen, i n die er durch die erste Enttäuschung i n der Liebe und die darauffolgende Krankheit verfallen war. Aus Frankfurt schrieb er am 24. November 1768 an Langer: »Empfelen Sie mich Prof. Geliert auf's beste danken Sie ihm für die Liebe m i t der er mich unverdient geehrt hat. Ich würde lange an ihn geschrieben haben, fürchtete ich nicht ein Brief von einem Menschen, der sich nie Seiner nähern Aufmercksamkeit werth gemacht hat, möchte I h m eher gleichgültig und lästig als interessant seyn.« Dieser Brief ist auch dadurch bedeutungsvoll, daß Goethe ihn an Langer richtete, von dem er gesagt hatte, er sei der erste gewesen, der ihm das Evangelium gepredigt habe; Langer war Pietist. Wenn auch der Abschied von dem Dichter, der einst sein Lehrmeister gewesen war, verehrungsvoll und dennoch unverbindlich ausfiel, so kehrte dennoch der Name Gellerts i n den Briefen des Jünglings aus den Jahren 1765—1768 an seine Schwester öfters wieder; so etwa i n dem Schreiben vom 11. M a i 1767, w o r i n Goethe von einigen Gedichten spricht, die er aber nicht für geeignet halte, Geliert vorzulegen, »denn ich kenne seine jetzige Sentiments über die Poesie«. U n d gegenüber den Anschauungen des hochbetagten Geliert verteidigt sich der Jüngling gerade m i t jener V o r stellung v o m Genie, die sein Lehrer i n einem der am weitest verbreiteten rhetorischen Aufsätze vorgebracht hatte 4 0 . Goethe schrieb an seine Schwester: ». . . habe ich Genie, so werde ich Poete werden, und wenn mich kein Mensch verbessert; habe ich keins, so helfen alle C r i ticken nichts.« Die innerliche Absonderung des schon bejahrten Geliert von den Fragen der

samkeit sich selbst gegenüber, das maßvolle Auftreten u n d die Fähigkeit, jedem Menschen auf die i h m angemessenste Weise entgegenzukommen, die Standhaftigkeit und Tiefe seiner Freundschaften, sein geduldiges Ertragen der nach dem dreißigsten Jahr aufgebürdeten K r a n k h e i t , seine Gelassenheit u n d die A r t seines Todes, »quam ille appropinquantem placidus et bene compositus excepit«. Bemerkenswert ist audi Ernestis Unterscheidung zwischen einer blühenden Jugendzeit, als der Dichter noch lachen konnte, u n d den v o n Hypochondrie und Traurigkeit überschatteten Mannesjahren; damit k a n n audi die anders geartete, ja gleichsam entgegengesetzte G r u n d h a l t u n g erklärt werden, die sich i m Werke spiegelt. 40 I n den 'Abhandlungen u n d Reden* ( = C. F. Geliert, Sämtliche Schriften, V . Teil) vgl. man die beiden Aufsätze 'Wie weit sich der N u t z e n der Regeln in der Beredsamkeit u n d Poesie erstredte' und ' V o n den Ursachen des Vorzugs der A l t e n v o r den Neuern i n den schönen Wissenschaften . . . ' , w o sich Geliert m i t den i n der 'Querelle des Anciens et des Modernes* behandelten Fragen beschäftigt, die durch den Streit zwischen Gottsched u n d den Schweizern i m Deutschland jener Tage neue N a h r u n g gefunden hatten. I n diesem Zusammenhange vgl. man auch die o. a. Abhandlung des Verf.

Die Krise der A u f k l ä r u n g Dichtkunst,

während

ein religiöser

Wahn

51

seine T a g e

überschattete,

war

d e m Schüler n i c h t e n t g a n g e n 4 1 . D a s B i l d , das G o e t h e v i e l e J a h r e später i n ' D i c h t u n g u n d W a h r h e i t ' v o n seinem ersten L e h r m e i s t e r i n d e r D i c h t k u n s t zeichnete, ist v o n t i e f e r V e r e h rung durchdrungen:

» N i c h t g r o ß v o n G e s t a l t , z i e r l i c h , aber n i c h t

hager,

sanfte, eher t r a u r i g e A u g e n , eine n i c h t ü b e r t r i e b e n e H a b i c h t n a s e , e i n f e i n e r M u n d , e i n gefälliges O v a l des Gesichts: alles machte seine G e g e n w a r t

an-

g e n e h m u n d w ü n s c h e n s w e r t . « U n d w e n n sich d e r J ü n g l i n g auch einst b e i d e n K l a g e n des Professors dem Entschluß anheimfalle,

gelangweilt hatte, daß m a n a l l z u Gedichte z u verfertigen,

nauere U n t e r s u c h u n g v o n Goethes J u g e n d l y r i k Schwester

u n d seiner B r i e f e a n

dennoch, w i e sehr d e m H e r a n w a c h s e n d e n

lesungen z u r S t i l k u n d e g e n ü t z t h a b e n 4 2 , j a m i t

leichtfertig

so b e w e i s t eine geGellerts

d e m ersten

späte

die Vor-

Bühnenstück,

' D i e L a u n e des V e r l i e b t e n ' , f ü h r t e G o e t h e eine v o n seinem L e h r e r gepflegte G a t t u n g , das Schäferspiel,

zur Vollendung.

A u s d e n ersten S e i t e n v o n Goethes A u t o b i o g r a p h i e

w i r d bereits

welche B e d e u t u n g G e l i e r t als V o r b i l d f ü r eine o r d e n t l i c h e

klar,

Lebensführung

41 Uber Gellerts Gemütsverfassung i n jenen Tagen gibt uns nicht nur das 1863 i n Leipzig veröffentlichte ausführliche 'Tagebuch des Jahres 176Γ Aufschluß, sondern auch das I n t e r v i e w des Johnson-Biographen J. Boswell m i t dem Dichter; siehe dazu: D a n i e l W . B. Hegenau, Boswell's I n t e r v i e w w i t h Gottsched and Geliert, i n : The Journal of English and Germanic Philology, published quarterly by the University of Illinois, U.S.A., X L V I (1947). J. Boswell erzählt i n seinem Tagebuche der grand tour durch Europa i n den Jahren 1763—1766 ( = The private papers of J. Boswell, 3. Bd. 1928) v o n seinem Eintreffen i n Leipzig am 3. Oktober 1764, also ein Jahr v o r Goethes A n k u n f t ; er t r a f damals m i t Gottsched zusammen, v o n dem er i n seinen Aufzeichnungen m i t Hochachtung u n d Verehrung spricht, u n d m i t Geliert: » A t three I went to Geliert. They call h i m the Gay of Germany. H e has w r i t t e n Fables and l i t t l e dramatic pieces. I found h i m to be a poor, sickly creature. H e said he had been t w e n t y years Hypochondriack. H e said that during a p a r t of his life, every night he thought to die, and every morning he wrote a fable. H e said: " M a poésie est passée. Je n'ai plus la force d'esprit!' H e spoke bad l a t i n and worse french; so I d i d m y best w i t h h i m i n german. I found h i m a poor m i n d , w i t h h a r d l y any science. H i s conversation was like that of an o l d L a d y . Y o u saw nothing of the ruins of a Man. Ruins have always something which marks the original building. H e has just had a tollerable fance, and knack of versifying, which has pleased the german Ladies and got h i m a Mushroom reputation. Poor man, he was very lean and very feeble. But seemed a good creature. I d i d not form m y judgement of him, t i l l I had seen h i m several times, which I d i d during m y stay at Leipsic. I shall not mark them i n this m y Journal. H e translated to me i n l a t i n one of his fables, and I promised to learn german so as to read h i m well.« Es kann sein, daß es Boswell, dem Schüler Johnsons, leichter gefallen war, sich Gottsched zu nähern, der an die Beschäftigung m i t philologischen und historischen Fragen gewöhnt war, als dem Dichter u n d Moralisten Geliert. 42 V g l . auch: Dichtung u n d Wahrheit, V I I I . Buch, 2. Teil, Jubiläums-Ausgabe 23. Bd, S. 162: » M i r war es lustig genug, zu sehen, wie ich dasjenige, was Geliert uns i m K o l l e g i u m überliefert oder geraten, sogleich wieder gegen meine Schwester gewendet...«

4*

52

Alessandro Pellegrini

zukam: »Gellerts Schriften waren so lange Zeit schon das Fundament der deutschen sittlichen K u l t u r « , schrieb Goethe 4 3 ; er führte aber ebenso die ironische Bemerkung eines französischen Reisenden an, der sich über Gellerts moralische Belehrungen an die Jugend hatte unterrichten lassen und hierauf meinte: »Laissez-le faire, i l nous forme des dupes . . .« Dieser Satz wurde vielleicht nicht i m richtigen Zusammenhange gesehen. Der Kavalier aus Frankreich, der sich hier an seine jungen Freunde wendet, die er für seinesgleichen hält, beurteilte Gellerts 'Moralische Vorlesungen' auf Grund des i m 18. Jahrhundert beim französischen Adel herrschenden Libertinismus. Seine Behauptung zeugt von der Verschiedenheit der Aufklärung i n Frankreich und in Deutschland, wo man v o m Moralismus und von der Empfindsamkeit durchdrungen ist, die aus einer subjektiven und gefühlsbetonten religiösen H a l t u n g hervorgegangen war, wie sie in den collegia pietatis gepflegt wurde. Goethe fuhr fort: » U n d so wußte denn auch die gute Gesellschaft, die nicht leicht etwas Würdiges i n ihrer Nähe dulden kann, den sittlichen Einfluß, welchen Geliert auf uns haben möchte, gelegentlich zu verkümmern«; auf diese Weise erläuterte er sein eigenes Lebensgefühl während der Leipziger Jahre und das seiner Studienkollegen. Jahre später verweist Goethe an anderer Stelle auf seinen Brief an Carlyle vom 14. März 1828 und betont den Zusammenhang zwischen Fragen der Ästhetik und des Benehmens, wobei er sich der 'Moralischen Vorlesungen' Gellerts erinnert und ihre Bedeutung für die Zeit unterstreicht: » I n Deutschland hatten w i r schon vor sechzig Jahren das Beispiel eines glücklichen Gelingens der A r t . Unser Geliert, welcher keine Ansprüche machte, ein Philosoph v o m Fach zu sein, aber als ein grundguter, sittlicher und verständiger Mann durchaus anerkannt werden mußte, las i n Leipzig unter dem größten Zulauf eine höchst reine, ruhige, verständige und verständliche Sittenlehre m i t großem Beifall und m i t dem besten Erfolg; sie war den Bedürfnissen seiner Zeit gemäß und wurde erst spät durch den Druck bekannt. 4 4 « Dieses U r t e i l erleichtert uns das Verständnis der Vorlesungen in der A r t einer Popularphilosophie zur Erneuerung der Sitten und Gebräuche und des öffentlichen Auftretens i m Leipzig jener Jahrzehnte. Über Gellerts Werk fällte Goethe kein zusammenfassendes oder eingehendes Urteil, er wies aber — wiederum i n 'Dichtung und Wahrheit' und zwar an der Stelle, wo er über Breitingers Theorie der Fabel spricht — anerkennend auf die Fabeln hin. Unter Goethes Werken findet sich aber eine Besprechung jener 1771 i n Leipzig und Frankfurt erschienenen und allbekannten Streitschrift von M a u v i l l o n und Unzer 'Über den Werth einiger deutscher Dichter', die ursprünglich ihm selbst zugeschrieben worden 43 44

Dichtung u n d Wahrheit, V I I . Buch, 2. Teil, Jubiläums-Ausgabe 23. Bd, S. 97 f. Goethe, Briefe u n d Tagebücher, 2. Bd, S. 483 (Insel-Verlag, Leipzig o. J.).

Die Krise der A u f k l ä r u n g

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w a r 4 5 . Die Rezension der 'Frankfurter Gelehrten Anzeigen* stammt unzweifelhaft aus der Feder von Merck; es ist nicht einmal bewiesen, daß einige Bemerkungen darin von Goethe angeregt worden seien. Nichtsdestoweniger erläutern uns diese Ausführungen, wie man Gellerts Werk zwei Jahre nach seinem Tode beurteilte: » A n Geliert, die Tugend und die Religion glauben, ist bei unserm Publiko beinahe eins.« Diese von Geschichtsschreibern und Gellert-Forschern wiederholt angeführten Worte bestätigen, daß Gellerts kulturgeschichtliche Bedeutung darin liegt, für seine Zeit die sittliche Wohlanständigkeit und religiöse pietas umrissen und verkörpert zu haben. Wenn er auch kein großer Dichter wie Shakespeare oder M i l t o n war, »hört er deswegen auf, ein angenehmer Fabulist und Erzähler zu sein, einen wahren Einfluß auf die erste Bildung der N a t i o n zu haben, und hat er nicht durch vernünftige und oft gute Kirchenlieder Gelegenheit gegeben, den Wust der elendesten Gesänge zu verbannen und wenigstens wieder einen Schritt zu einer unentbehrlichen Verbesserung des Kirchenrituals zu tun?« Sicherlich w i r d hier weder der Wert von Gellerts 'Religiösen Liedern' berücksichtigt, noch die Frage entschieden, ob Geliert einen Sinn für die v o m Herzen kommende oder aus einer echten seelischen Erschütterung hervorgegangene Dichtung gehabt habe oder nicht. A u f diese Weise verkannte der Rezensent gleichzeitig die Bedingungen von Gellerts klassizistischer Poetik und seine offensichtliche Ankündigung einer auf den Geniebegriff bauenden Dichtungslehre. Geliert kann nur hinreichend beurteilt werden, wenn man sich bewußt ist, daß er es verstanden hat, einen volkstümlichen Zug der deutschen Seele auszudrücken und zum Volke zu sprechen: darauf gründen sich sein außergewöhnlicher Erfolg und seine Berühmtheit. Eine Betrachtung von Goethes U r t e i l über Geliert wäre unvollständig, vergäße man, auf zwei Stellen i n seinem Werke hinzuweisen, die gewöhnlich übergangen werden. Die eine findet sich ebenfalls i n 'Dichtung und Wahrheit' 4 6 , wo Goethe gesteht, von Geliert die peinliche Genauigkeit i m rein Handwerklichen des Schreibens übernommen zu haben; w i r wissen, daß alle späteren Manuskripte Goethes von dieser äußersten Sorgfalt zeugen, ja daß sie gerade zu einem ihrer Kennzeichen geworden ist. Auch das ist ein Beweis für den Einfluß des Lehrers Geliert auf die Ordnungsliebe seines Zöglings, was umso schwerer wiegt, als sich der Jüngling in diesen Jahren erstmals der Leidenschaften seiner Seele bewußt geworden war. Vielleicht erinnerte er sich i m Alter gerade deswegen dieses Wandels in seinen Schriften als einer Folge der Belehrung durch den Professor der Poetik. 45 46

ibidem, Jubiläums-Ausgabe 36. Bd, S. 8 f. ibidem, V I I I . Buch, 3. Teil, Jubiläums-Ausgabe 23. Bd, S. 157.

Alessandro Pellegrini

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Die andere Stelle i n Goethes Werken reicht hingegen bis i n die erste Zeit des Weimarer Aufenthaltes zurück. A m 24. Oktober 1777, ihrem Geburtstag, überreichte der Dichter der Fürstinmutter Anna Amalia ein Bild des vor drei Jahren von Oeser zur Erinnerung an Geliert errichteten Denkmals; diesem Geschenke hatte er einige Verse auf einem Seidenbande beigefügt. Die Fürstin war eine glühende Verehrerin von Oeser; und Goethe hatte, als er diese Zeilen dichtete, sicherlich i n Gedanken die Studienjahre zu Leipzig wieder beschworen, wo er i n Oesers Haus so freundschaftlich aufgenommen worden war und sich dessen Tochter Friederike bald i n brüderlicher Freundschaft verbunden fühlte. Erinnern w i r uns dieses kurzen Gedichtes i n seiner endgültigen Fassung 47 : Gellerts

Monument

von Oeser

Als Geliert, der geliebte, schied, Manch gutes H e r z i m stillen weinte, Auch manches matte, schiefe L i e d Sich m i t dem reinen Schmerz vereinte U n d jeder Stümper bei dem Grab E i n Blümchen an die Ehrenkrone, E i n Scherflein zu des Edlen Lohne M i t vielzufriedner Miene gab — Stand Oeser seitwärts v o n den Leuten U n d fühlte den Geschiednen, sann E i n bleibend B i l d , ein lieblich Deuten A u f den verschwundnen werten M a n n ; U n d sammelte m i t Geistesflug I m M a r m o r alles Lobes Stammeln, W i e w i r i n einen engen K r u g D i e Asche des Geliebten sammeln.

Ironisch verweist das Gedicht auf die Vielzahl mittelmäßiger und selbstgefälliger Gelegenheitswerke anläßlich von Gellerts Tod. Es scheint tatsächlich des Dichters Los gewesen zu sein, zum Gegenstande von Lobeshymnen und Preisliedern zu werden, die sich nur durch Sentimentalität auszeichnen, ohne dabei frei von überheblicher Selbsteinschätzung zu sein — was zu allen Zeiten die Kennzeichen minderwertiger Dichtung gewesen sind. Dieselben Züge spiegelt das von Ferdinand Naumann 1854 aus Anlaß der Enthüllung eines anderen Denkmales zu Ehren des Dichters i n seiner Heimatstadt Hainichen i n Sachsen veröffentlichte 'Gellertbuch' 4 8 , und ähnliches findet sich i n einer Reihe von Gellert-Biographien, die zum allgemeinen Gebrauch durch das V o l k bestimmt waren: als eine der besseren unter 47 48

ibidem, Jubiläums-Ausgabe 3. Bd, S. 87 f. Gellertbuch, hsg. v . F. Naumann, Dresden 1854.

Die Krise der A u f k l ä r u n g

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ihnen kann man das rund hundert Seiten starke Büchlein von Eduard L e o 4 9 herausgreifen, das eine ausreichende Vertrautheit m i t den Quellen beweist und auch einigermaßen erfreulich zu lesen ist. Es scheint beachtenswert, daß eine Lebensbeschreibung Gellerts zu einer Zeit herausgegeben und auch verbreitet werden konnte, als i n der deutschen Literatur die mächtigsten Klassiker regierten und die Romantik blühte. Dabei muß man aber beachten, daß die Kette von Schriften, die Gellerts Leben und Schaffen dem Volke näherbringen sollten, v o m Todesjahr des Dichters bis heute kaum einmal unterbrochen w u r d e 5 0 ; und dieses Gellert-Schrifttum läßt sich nur i n die Erbauungs-Literatur einordnen. Eine kritische Untersuchung kann über diese Erzeugnisse hinweggehen, doch hat sie darüber Rechenschaft abzulegen, auf welche Weise Gellerts Biographie gleichsam zu einer »moralischen Erzählung« werden konnte. Der Ruhm und die geistige Autorität, zu der es der Dichter unter seinen Zeitgenossen gebracht hatte, ihre Liebe und Verehrung ihm gegenüber werden auch durch diese Erbauungsschriften unterstrichen, welche das Fortwirken seiner Worte i n der Nachwelt bezeugen. Voraussetzung für eine kritische Gellert-Biographie ist es aber, über diese apologetischen Schematisierungen hinauszugehen und das Zwiespältige seines Lebens zu erkennen, während das Erfassen seiner literarischen Entwicklung i m Rahmen der Zeitumstände den ersten Schritt auf dem Wege zu einer ästhetischen Interpretation des Werkes geht. V o n hier aus w i r d sich die geschichtliche Bedeutung von Gellerts Werk und seiner menschlichen Erscheinung eher erhellen, w i r d man besser verstehen können, wie der Dichter die Gedanken der Aufklärung aufnehmen, den Zeitgeist ausdrücken und schließlich zum Ausgleich zwischen dem Neuen und der religiösen Tradition und zu einer allgemeingültigen Auslegung der Sittlichkeit gelangen konnte, wobei er sich den Erfordernissen der geschichtlichen Lage Deutschlands um die M i t t e des 18. Jahrhunderts anzugleichen verstand; das konnte nicht ohne Opfer seitens der Dichtung geschehen. 49 G. E. Leo, Das fromme Leben C. F. Gellerts für das V o l k beschrieben, Dresden 1845. 50 V g l . z. B.: F. Fleischhauer y Geliert, ein Büchlein deutscher Herzenseinfalt, Bielefeld-Leipzig 1923; M o r i t z Dur ach, C. F. Geliert, Dichter u n d Erzieher ( = Schriften großer Sachsen, Diener des Reiches), H e i m a t w e r k Sachsen 1938; K. Kindt y Ehrenrettung für C. F. Geliert, i n : Zeitwende X I V (1937/38); M . Meurery Berühmte Männer X I , 1—5; Haynicher Heimatblätter X I (1936) u n d X I V (1939); E i n Gellert-Denkmal, i n : Zeitschrift für Seelenleben X X X X I V (1940); O t t o Michaelisy C. F. Geliert, i n : Pfarrerblatt, Essen, X X X X I I (1938), X X X X I I I (1939), X X X X I V (1940); G. C. F , 200 Jahre Gellerts Fabeln, i n : D i e Frau v o n Heute, O r g a n der Frauenausschüsse, Berlin 1948. Diese A u f z ä h l u n g ließe sich noch bedeutend verlängern; sie beweist ebenso wie die erst kürzlich erfolgte Neuauflage eines schon älteren Werkes wie ' D r e i Tage aus Gellerts Leben, eine Geschichte erzählt v o n W . O . H o r n ' das Fortleben v o n volkstümlichen Lobesschriften auf Geliert; w i r beabsichtigen nicht, diese Produkte lückenlos aufzuzählen.

Alessandro Pellegrini

56

III. G e l i e r t w a r f ü r seine Zeitgenossen d i e V e r k ö r p e r u n g a l l j e n e r menschl i c h e n Eigenschaften, d i e m a n i n d e m e i n z i g e n W o r t Tugend

zusammenfaßte;

er e r w e i t e r t e diesen f ü r die A u f k l ä r u n g g r u n d l e g e n d e n B e g r i f f u n d e r f ü l l t e i h n m i t r e l i g i ö s e m u n d n a t i o n a l e m I n h a l t 5 1 . Verschiedenes t r a f

zusammen,

u m G e l i e r t diese u n e r h ö r t e Geistesmacht z u v e r l e i h e n : D i e tiefe

Religiosi-

t ä t n a h m d e n o f f i z i e l l e n P r o t e s t a n t i s m u s f ü r i h n ein, d e r i n i h m d e n V e r fasser der ' G e i s t l i c h e n O d e n u n d L i e d e r ' sah; sie e n t s p r a c h aber auch d e m v o n d e n verschiedenen A u s p r ä g u n g e n des P i e t i s m u s i n a l l e n Schichten des V o l k e s verbreiteten religiösen E m p f i n d e n 5 2 . U n d w e i l der Dichter nicht a u f s t a r r e n D o g m e n b e h a r r t e , s o n d e r n sich m e h r a n die G e g e b e n h e i t e n des s i t t l i c h e n u n d r e l i g i ö s e n Lebens h i e l t , w u r d e sein W o r t auch v o n k a t h o l i s c h e n K r e i s e n a n e r k a n n t 5 3 . D u r c h d e n u m s i c h t i g e n u n d gemessenen K a m p f

gegen

eine u n b e d a c h t e u n d ü b e r t r i e b e n e N a c h a h m u n g französischer F o r m e n für

deutsche S i t t e n u n d G e b r ä u c h e 5 4

erwarb

er sich w ä h r e n d

des

E r w a c h e n s des deutschen N a t i o n a l b e w u ß t s e i n s , das z u r A u f k l ä r u n g

und ersten

gehört

u n d die historischen Ereignisse dieser J a h r z e h n t e b e g l e i t e t , d i e H o c h a c h t u n g g a n z D e u t s c h l a n d s . Sein E i n s c h r e i t e n gegen d i e v o n F r a n k r e i c h

übernom-

m e n e n F o r m e n , gegen d e n L i b e r a l i s m u s u n d die sogenannte Freigeist

er ei 55

51 Über die Poetik der A u f k l ä r u n g u n d die E n t w i c k l u n g des Tugendbe^riffes vgl. man die o. a. Studie des Verf.; eine Untersuchung der A u f k l ä r u n g ist selbstverständlich stets m i t einer D e f i n i t i o n der »Tugend« verbunden. 52 Z u r allgemein anerkannten Bedeutung des Pietismus für die Entwicklung der neueren deutschen Literatur vgl. K a r l Viëtor, Deutsches Dichten und Denken von der A u f k l ä r u n g bis zum Realismus, Berlin 1936, S. 11: » . . . i n dieser Seelenschule hat das deutsche V o l k unter Führung des Bürgertums die Tiefe, Innigkeit u n d Bewußtheit des inneren Lebens erworben, ohne die seine große Dichtung nicht hätte entstehen und verstanden werden können.« 53 Gellerts W e r k wurde i n Österreich ohne Einwände der katholischen Zensurstellen aufgenommen; auch wurde dem Dichter v o n offizieller Seite und schließlich sogar v o n der Kaiserin M a r i a Theresia wiederholt L o b gespendet; vgl. K . Biedermann, op. cit. 54 D a f ü r gibt es vielfältige Belege; zum K a m p f gegen die Nachahmung französischer Sitten vgl. den H e r r n Simon i n 'Das Loos in der Lotterie'. M i t der Festlegung eines Sittenkodex für die Deutschen beschließt Geliert eine lange historische Entwicklung. 55 F. J. Schneider, op. cit., 2 1948, erläutert das Aufgehen der französischen Freiheitsbestrebungen i n der A u f k l ä r u n g und die W i r k u n g der Freigeisterei i n Deutschland, die m i t Epikurs Ehrenrettung durch das W e r k v o n Gassendi i n Frankreich ihre Philosophie gefunden hatte. D a z u kam, daß es — wie Schneider meint — der auf die neue Erläuterung des Vergnügens »nicht mehr als sittliche Libertinage, sondern als stille, auf Selbstbescheidung u n d Zufriedenheit, beruhigende Heiterkeit« abzielenden Geisteshaltung gelungen war, das Ideal der A u f k l ä r u n g festzulegen; unserer Ansicht nach hatte dazu auch Geliert besonders m i t seinem Roman über 'Das Leben der Schwedischen G r ä f i n v o n G . . . ' beigetragen. Durch die Aufnahme der Gedanken v o n J. Elias Schlegel wurde das Vergnügen für Geliert auch zu einem ästhetischen K r i t e r i u m . Gellerts K a m p f gegen die Freigeisterei w a r derart entschieden, daß er so lange keiner Unterredung m i t Friedrich I I . v o n Preußen zu-

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wandte sich natürlicherweise auch gegen den Adel, der sich der französischen Aufklärung besonders zugetan fühlte; unvermutet nahmen so seine Bestrebungen sozialkritische Züge an. Geliert führt auf dem Gebiete der Morallehre den Gedanken ein, daß irdische Werte den religiösen nicht widersprechen müssen, die Überzeugung, daß der Schöpfer den Menschen zum Glück bestimmt habe und eine Übereinstimmung der gottgeschaffenen Menschennatur m i t den Geboten der M o ral und der christlichen Tugend möglich sei; an H a n d der aufklärerischen Ideen und ihrer ungebrochenen Tradition versöhnte er m i t H i l f e der Offenbarung Sittenlehre und Naturreligion. Das war ohne Ausschluß der für den Protestantismus so wichtigen Lehre von der Erbsünde nicht möglich; Gellerts Lebensweg beweist, wie diese Vorstellung immer mehr i n den M i t t e l punkt seines Denkens rückte. Zwischen der Bejahung weltlicher Güter und der Anerkennung des Dogmas von der Erbsünde lag ein offener Widerspruch, der auch das gesamte Werk Gellerts durchzieht; diese Diskrepanz rührt aber von der protestantischen Theologie her, sie führte zur Spannung zwischen dem Glauben und dem von ihm auf die Geisteshaltung, die Gedanken und die Tätigkeiten der neu entstehenden sozialen Klasse ausgeübten Einfluß. Deshalb war Geliert für seine Zeit der Born aller Lebensweisheit, deshalb lehrte er in seinem Werk eine neue Sittlichkeit, die den A n forderungen der neuen Gesellschaft entsprach 56 . K l a r drückt dies M a x Wehrli aus: »Auch wenn es i n Deutschland vor dem 1760. Jahre kaum zu einer bewußten Auflehnung gegen die feudalen und orthodox-kirchlichen Mächte kommt, so treten doch eine bürgerliche Ideologie und ein bürgerliches Fühlen überall i n ihre Rechte. Stützte sich höfisches Bewußtsein auf die objektiven Ordnungen von Geburt, Macht, Dogma, so w i r d das neue Innenleben eines vernünftigen und gefühlvollen und tugendhaften Menschen die bürgerliche Domäne. Den Durchbruch dieser Bürgerlichkeit bezeichnet etwa, seit 1740, die Wirksamkeit Gellerts.« 5 7 Gellerts Ruhm und Einfluß, beide auf religiöse, moralische, kulturgeschichtliche Grundlagen und das Nationalbewußtsein gestützt, hingen m i t der historisch bedeutsamen Erneuerung der Gesellschaft zusammen. Deswegen dauerten sein moralischer Einfluß und seine Berühmtheit auch noch stimmte, bis man i h m versichert hatte, der K ö n i g würde i h m gegenüber nichts Nachteiliges über seinen Glauben äußern. I n den Fabeln u n d den 'Moralischen Erzählungen* hat es Geliert aber nicht unterlassen, den K ö n i g — wenn auch nicht gerade offen — anzugreifen, i n den privaten Briefen machte er aus seiner H a l t u n g überhaupt kein H e h l mehr. 56 »Bei keinem zeigt sich die Macht der bürgerlichen Durchschnittsmoral der damals führenden deutschen Großstadt stärker [als bei Geliert] . . .« schrieb Georg Witkowski, op. cit., S. 383. 57 M . Wehrli, Das Zeitalter der A u f k l ä r u n g , i n : Literaturgeschichte i n G r u n d zügen. D i e Epochen der deutschen Dichtung, hsg. ν . B. Boesch, Bern 1946, S. 173 ff.

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Alessandro Pellegrini

bei den folgenden Generationen, als die W i r k u n g seines Wortes auf literarischem Gebiete bereits nachgelassen hatte und sein Werk den Schöpfungen der deutschen Klassik gegenüber nur mittelmäßig erscheinen konnte. So lange die von ihm festgelegten Verhaltensvorschriften lebendig blieben und i m Volke weiterlebten und jedesmal, wenn sie durch irgendwelche geschichtlichen Zufälle i m Bewußtsein und i n der Seele des Volkes wieder aufflackerten, erwachte i n der Erinnerung auch das B i l d Gellerts. H i e r i n wurzeln auch die ihm gewidmeten Lobesdichtungen, deren Ergüsse sich bereits 1774 i n der allgemein anerkannten Biographie von Johann Andreas Cramer niedergeschlagen hatten 5 8 , an dessen einst recht verbreiteten Namen w i r uns heute nur noch dieses Werkes und eines heftigen Angriffes Lessings wegen erinnern 5 9 . Cramers Darstellung von Gellerts Leben wurde 1774 i n die erste vollständige Ausgabe der Werke des Dichters nach seinem Tode aufgenommen und stand später i m 10. Band der verschiedenen von J. L . Klee besorgten Auflagen 6 0 . Es sei darauf hingewiesen, daß — so zahlreich auch die Neuausgaben der 'Fabeln und Erzählungen' waren — seit 1867 keine Gesamtausgabe der Werke Gellerts mehr erschienen ist. M a n bräuchte eine historisch-kritische Ausgabe, die auch den gesamten Briefwechsel des Dichters oder zumindest den davon bisher veröffentlichten Teil enthalten müßte; nicht weniger wünschenswert wäre eine auf genauere historische Forschungen bauende Biographie. Cramer, Kanzelredner und Würdenträger der lutherischen Kirche, mußte unwillkürlich auf eine erbauliche Auslegung von Gellerts Leben verfallen; und da er weder genügend tief noch genau genug forschte, um zu erkennen, welch entscheidenden Einfluß das große Jahrhundert Frankreichs und der englische Klassizismus auf den Dichter ausgeübt hatten, folgte er der durch Gellerts pietas angedeuteten H a l t u n g : Der Dichter, ursprünglich zum geistlichen Berufe auserwählt, habe wegen seiner angegriffenen Gesundheit darauf verzichtet und sein religiöses Empfinden und das Bestreben, das W o r t als M i t t e l moralischer Bildung anzuwenden, auf das Gebiet der Literatur übertragen. Dennoch scheint Geliert i n den Jahren der Hochblüte seines literarischen Schaffens wie die Nachtigall i n einer seiner berühmten Fabeln 6 1 davon überzeugt gewesen zu sein, daß die Poesie schon von sich aus zur sittlichen Vervollkommnung und zur Führung der Seelen beitrage. 58

J. A . Cramer , C. F. Gellerts Leben, 1774. V g l . u. a.: Lessing, Aus den Briefen, die neueste Literatur betreffend, 48., 49. und 51. Brief (Tuli-August 1759). 60 D i e Ausgabe v o n Klee erschien erstmals 1839 unter dem T i t e l ' C . F. Gellerts sämtliche Schriften, neue rechtmäßige Ausgabe', Leipzig; der letzte v o n den zehn Bänden enthält: »Briefe v o m Jahre 1766 bis 1769 und undatierte Briefe; Nachtrag; Gellerts Leben v o n J. A . Cramer; Ubersicht der Briefe; N a c h w o r t des Herausgebers.« 1867 erschien die letzte v o n Klee betreute Neuauflage dieser Ausgabe. 61 ' D i e Nachtigall u n d die Lerche'; es ist das erste Stück der 'Fabeln u n d Erzählungen'. 59

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Cramer erzählte das Leben Gellerts, als er schon etliche Jahre den Freund und Leipzig verlassen hatte; er sammelte die bekanntesten Nachrichten über den Dichter, wobei i h m einige Fehler unterliefen 6 2 ; aus T a k t gefühl scheute er sich wiederholt, auf allgemeinbekannte Gegebenheiten aus Gellerts Leben einzugehen, besonders wenn Persönlichkeiten von Stand und A d e l oder gar Mitglieder des Königshauses darin verwickelt waren 6 3 — selbst wenn ihnen diese Episoden nur zur Ehre gereichten. So mußte der Biograph, dem es an äußeren Vorkommnissen fehlte und der die H i n t e r gründe und Spannungen dieses Lebens nicht durchschaute, nachdem er die wesentlichen Daten und die von Ernesti i n seiner Gedenkrede bereits berücksichtigten Nachrichten mitgeteilt hatte (geboren am 4. Juli i n Hainichen, der Vater, Christian, ein Geistlicher, Pastor 6 4 ; auf der Schule zu Meißen Freundschaft m i t Rabener und Gärtner, zwei Reisen nach Leipzig, wo er sich schließlich niederläßt und um 1740 auch i n der literarischen Gesellschaft einnistet; Beziehungen zu Gottsched und der Gruppe der Bremer Beiträger, während das Werk entsteht; Berufung auf eine Lehrkanzel; andauerndes Kränkeln führt, betrauert von Leipzig und ganz Deutschland, am 13. Dezember 1769 zum Tode), darauf kommen, die sittliche Lebensführung und das christliche Sterben des Dichters zu verherrlichen 65 . Wiederholt verweist Cramer auf eine unvollendete Schrift aus dem Nachlaß, w o r i n Geliert über sein eigenes Leben berichtet. I n einem Briefe des Dichters an Friedrich N i c o l a i v o m 24 .Januar 1760 heißt es: »Nach meinem Tode w i r d man verschiedene kleine Anekdoten finden, die teils nützlich, teils dem Publiko angenehm sein können.« 6 6 Geliert verweist darin auch 62 So berichtet Cramer fälschlich, der Dichter sei das dritte K i n d des Pastors Christian Geliert gewesen u n d nicht das fünfte, was schon Ernesti richtig mitgeteilt hatte. 63 Beispielsweise übergeht Cramer die Begegnung m i t Friedrich I I . 64 Es sei erlaubt, an die Ausführungen v o n A . Eloesser i n : D i e deutsche Literatur, I . Bd.: V o m Barock bis zu Goethes T o d , Berlin 1930, S. 154, zu erinnern: »Erst i m 18. Jahrhundert, nachdem die pietistische Bewegung, auch w o sie nicht regiert, den Protestantismus aufgeweicht hat, beginnt das deutsche Pfarrhaus, i n fast unabsehbarer Reihe, Dichter u n d Gelehrte h e r v o r z u b r i n g e n . . . « Diesem religiösen Boden u n d der v o m Pietismus geschaffenen Innerlichkeit ist Gellerts gesamtes W e r k entsprossen. 65 F. A . Eberty der Herausgeber v o n Gellerts Briefwechsel m i t Demoiselle L u c i u s Leipzig 1823, äußert i m V o r w o r t , daß es aus übertriebener Zurückhaltung unterlassen worden sei, auf das Privatleben Gellerts einzugehen. E r meint, daß Cramers Biographie nicht viel mehr aussage, als daß Geliert a.o. Professor an der Universität Leipzig u n d »ein frommer u n d kränklicher M a n n « gewesen sei. M a n habe aber eine Beschreibung der wirklichen W e l t erwartet, der gesellschaftlichen Beziehungen Gellerts u n d des Personenkreises, den er u m sich versammelt hatte, wie er es i m 'Tagebuch* niedergelegt u n d sein Leben lang vorbereitet habe. Aus den i n den Gesamtausgaben veröffentlichten Briefen könne man sich unmöglich ein B i l d des Dichters Geliert machen, w e i l darin alles Persönliche ausgeklammert worden sei. 86 I n der Ausgabe v o n Klee aus dem Jahre 1867 ( V I I I . Bd, S. 309 f.).

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a u f eine 1758 e n t w o r f e n e A u t o b i o g r a p h i e . A m 21. A p r i l 1758 b a t er eine seiner Schwestern i n H a i n i c h e n b r i e f l i c h 6 7 , i h m alles z u senden, w a s sie a n Jugenddichtungen, Briefen u n d Predigten v o n i h m

finden

k ö n n e , w e i l er

»einige k l e i n e N a c h r i c h t e n , d i e m e i n L e b e n u n d S t u d i e r e n b e t r e f f e n « v o r b e reite. B e i seinem T o d e f a n d e n sich T a g e b ü c h e r aus m e h r e r e n J a h r e n , u n t e r d e n e n sich C r a m e r a n das v o n 1754 als d e r e n ältestes e r i n n e r t 6 8 . D o c h k e n n e n w i r h e u t e v o n diesen A u f z e i c h n u n g e n n u r jene T e i l e , die C r a m e r

in

seine B i o g r a p h i e a u f g e n o m m e n h a t . Der Hinweis

des D i c h t e r s a u f

d i e v o n i h m selbst

zusammengestellten

n ü t z l i c h e n u n d e r g ö t z l i c h e n E r z ä h l u n g e n b e w e i s t , w i e w i c h t i g es i h m w a r , eine D a r s t e l l u n g seines Lebens a n d i e N a c h w e l t w e i t e r z u r e i c h e n ; u n d seine B r i e f e q u e l l e n ü b e r v o n A n e k d o t e n , i n d e n e n er aus seinem eigenen L e b e n p l a u d e r t u n d d a m i t dessen B i l d e n t r o l l t 6 9 . S e l b s t v e r s t ä n d l i c h b e d i e n t e sich C r a m e r f ü r seine Lebensbeschreibung auch d e r s c h r i f t l i c h e n

Aufzeichnungen

des D i c h t e r s ; seit 1863 aber, als das ' T a g e b u c h des Jahres 1 7 6 Γ 7 0

wieder-

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ibidem, V I I I . Bd, S. 272. Erich Michael, Aus meinen Gellertstudien ( = Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht der 5 Städtischen Realschulen zu Leipzig für das Schuljahr Ostern 1912 bis Ostern 1913), Leipzig 1913, weist auf die N o t w e n d i g k e i t hin, nach dem Verbleib dieser Aufzeichnungen u n d Tagebücher Gellerts zu forschen. Michael ist vielleicht der einzige Gellert-Forscher, der die Unentbehrlichkeit v o n Untersuchungen zur Anreicherung der Gellert-Biographie m i t konkreten Daten betont hat. D i e Biographen haben immer nur auf Cramers Ausführungen zurückgegriffen. Nach der Zerstörung der Archive v o n Leipzig u n d Dresden sowie zahlreicher privater Sammlungen während des letzten Weltkrieges besteht allerdings wenig Aussicht, genaue Angaben u n d Einzelheiten v o n Gellerts Leben erfassen zu können. Auch soll darauf hingewiesen werden, daß Gellerts engste Freunde nicht darauf verfallen waren, Tagebücher u n d andere persönliche Aufzeichnungen aufzubewahren; ihnen scheint die Legende wichtiger gewesen zu sein als die Tatsachen. V o n Michael sind beachtenswert aie Forschung nach brauchbaren Quellen für eine Gellert-Biographie u n d die Studie: ' W a n n ist Geliert nach Leipzig zurückgekehrt?', w o r i n er den Oktober des Jahres 1740 als den Z e i t p u n k t v o n Gellerts endgültigem Bleiben in der Stadt bezeichnet; dort auch Hinweise auf die Auseinandersetzung zwischen Gottsched u n d Geliert u n d auf das damit vergleichbare Verhältnis der Bürger zu Gellerts Komödien, i n denen sie sich selbst dargestellt sahen. Schließlich bringt der Aufsatz eine Liste der wichtigsten Daten aus Gellerts Leben, die einige durch vielfältige u n d sichere Beziehungen belegbare Tatsachen enthält. 68

69 Besonders die Briefe an Demoiselle Lucius u n d Fräulein E r d m u t h v o n Schönfeld geben sich bisweilen wie echte Berichte u n d Erinnerungen; sie wurden auch nicht als private Schreiben aufgefaßt, sondern weitergereicht u n d verbreitet; solches geschah auch m i t dem berühmten 'Husarenbrief', der v o n der Begegnung m i t einem O f f i z i e r der preußischen Husaren erzählt u n d v o n dessen ungewöhnlichem Beweise der Hochachtung für den Dichter: er bot i h m seine Kriegsbeute an. I n einigen Fällen erreichten Gellerts Briefe den österreichischen, polnischen u n d russischen H o f . Gellerts H a l t u n g während des Siebenjährigen Krieges erhöhte seinen R u f in den gegen Preußen kämpfenden Ländern — die i h m v o n Friedrich I I . entgegengebrachte Herzlichkeit u n d die fortlaufenden Ehrbezeugungen der preußischen Besatzungstruppen v o r dem Dichter beweisen seine Berühmtheit selbst bei den Feinden seines Vaterlandes, das für i h n zweifellos Sachsen war. 70 C. F. Gellerts Tagebuch aus dem Jahre 1761, Leipzig 1863.

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aufgefunden und veröffentlicht wurde, kann man sich m i t gutem Recht fragen, ob Gellerts Zeugnisse dem Biographen förderlich waren, der sein Leben nach dem Muster der kirchlichen Apologie darzustellen gesinnt war. Aus den Seiten des einzigen überlieferten Tagebuches t r i t t uns jedenfalls Gellerts Leben bedeutend reichhaltiger entgegen, als es die offizielle Biographie und der Briefwechsel vermitteln. Das 'Tagebuch des Jahres 1761' ist v o l l von Berichten über das Zusammentreffen m i t historischen Persönlichkeiten; eine Schwierigkeit der Gellert-Biographie besteht nun darin, daß sie sich dann nicht zu einer bloßen Aneinanderreihung von Begegnungen vereinfachen läßt, sobald man an H a n d der in den Werken nicht vorhandenen und erst Jahrzehnte nach dem Tode veröffentlichten Briefe 7 1 berücksichtigt, welch tiefe geistige Bedeutung diese Treffen und die zahlreichen Freundschaften für den Dichter angenommen hatten. Bis heute hat man sich weder m i t der Rolle des etliche Jahre anhaltenden freundschaftlichen Verkehrs m i t Fräulein von Schönfeld ausreichend beschäftigt, noch m i t dem 1755 aufgenommenen Briefwechsel m i t der Mutter Katharinas I I . von Rußland und »Pflegemutter« von Gellerts jungem Schüler Friedrich K a r l von Bose, der Fürstin Johanna Elisabeth von Anhalt-Zerbst, die wiederum mit der Gräfin Sophia von Bentinck eng befreundet w a r 7 2 . Geliert war oft um Rat und H i l f e in moralischen Fragen angegangen worden, deren Beantwortung er für seine eigentliche Aufgabe hielt; auch den erzieherischen und religiösen Einfluß, den auszuüben er berufen war, bezeugt sein Leben. Während er seinen Mitmenschen auf diese Weise gegenübertrat, wie es zahlreiche Stellen i n Briefen und i m Tagebuch bestätigen, besaß Geliert andererseits einen bemerkenswerten M u t zur Selbstkritik. I n den qualvollen Geständnissen des 'Tagebuches des Jahres 1761' scheint der Glaube fast verloren zu sein, die Seele von der Erwartung und Beschwörung einer niemals gewährten Gnade gepeinigt: »Lebe als hättest du den Glauben an das göttliche W o r t , wenn du ihn auch nicht i n dir merkst«, notierte er am 22. Juli und w a r f sich die Traurigkeit und die Angst vor, w o r i n sich seine Seele zermürbe. Er war bereits schwerer erkrankt, als er es i n den Briefen wahrhaben wollte, und die Schwermut, über die er gewöhnlich klagte, scheint auch i n seinem Inneren zu wurzeln, wenn w i r lesen: »Verzweiflung ist über alle Verbrechen.« Die Seiten des Tagebuches offenbaren eine von den Schrecken der Versuchung verängstigte Seele, ein von körperlichen Leiden überschattetes Leben, Enttäuschung trotz aller entgegengebrachten Verehrung und Zuneigung und den Verlust des 71 Z . B.: Briefwechsel m i t E. v o n W i d m a n n , 1789; Aufgefundene Familienbriefe, 1819; Briefwechsel m i t Demoiselle Lucius, 1822; Briefe an Elias Schlegel, 1861; Briefe an Frl. E r d m u t h v o n Schönfeld, Leipzig 1861; Briefe an Johanna Elisabeth v o n Anhalt-Zerbst, i n : Mitteilungen der Vereins für Anhalt-Geschichte, 1885, usw. 72 V g l . auch Sämtliche Schriften, 1867, V I I I . Bd, S. 133, 152, 154, 174.

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Sinnes für Dichtung und Kunst, während Großherzigkeit gegenüber dem Nächsten und christliche Liebe nur mehr als eine Verpflichtung empfunden werden und die Unterwerfung an den W i l l e n Gottes einem Anheimfallen an das Schicksal gleichkommt. Das 'Tagebuch aus dem Jahre 1761' müßte heute bei der Beschäftigung m i t dem Leben des Dichters als eines der grundlegenden Dokumente aus dem letzten Lebensjahrzehnt dienen; noch bedeutender w i r d es als Zeugnis für die Vertiefung des Subjektivismus i n der mittleren Periode der A u f klärung, der Geliert angehörte. Dazu könnte es zu einem tieferen und schärferen Blick bei der Lektüre seines Briefwechsels und besonders der i n den verschiedenen Gesamtausgaben nicht enthaltenen Briefe anleiten. Geliert bezeichnet m i t seinem Werke den Einbruch der Subjektivität und drückt m i t diesem subjektiven Empfinden die Lebenshaltung des Menschen seiner Zeit aus. Nicht das von der Wirklichkeit losgelöste Ich offenbart sich i n seinem Werke, weder Metaphysisches noch Lyrisches wie etwa i n den Dichtungen Klopstocks, sondern eine v o m subjektiven Empfinden i n eine genau abgegrenzte historische U m w e l t und eine bestimmte Gesellschaft gebettete Einsicht. Bei der Untersuchung der einzelnen Schriften wäre zu berücksichtigen, wie sich die herkömmlichen Dichtungsgattungen — etwa die Fabel — durch das Auftreten dieses Subjektivismus wandelten, der zur Bestimmung der Beziehungen und Zusammenhänge zwischen dem Dichter und seiner U m w e l t beiträgt. H i e r ist es aber unerläßlich, wenigstens darauf hinzuweisen, wie sich das innerhalb derjenigen Gattungen vollzog, die zum subjektiven Ausdruck am geeignetsten sind: i m Brief und i m Tagebuch. Geliert betrachtete den Brief als eine literarische Gattung, deren Grundsätze er aufgestellt h a t t e 7 3 ; er sah i m Brief den imaginären Dialog m i t dem Empfänger, also eine A r t von Unterhaltung; der Brief durfte zu keinem Monolog werden und keinerlei Herzensergießungen oder Geständnisse veranlassen. Dennoch durchbricht das Herz des Schreibers bisweilen diese gattungsmäßigen Begrenzungen — und gerade deswegen sind uns Gellerts 73 Gellerts Sämtliche Schriften, I V . T e i l : Briefe, nebst einer praktischen A b h a n d lung v o n dem guten Geschmack i n Briefen, Leipzig 1839; diese Schriften sind 1751 erstmals veröffentlicht worden. V g l . auch die auf 1712 zurückgehenden 'Gedanken v o n einem guten deutschen Briefe* i m V . T e i l der sämtlichen Schriften. Nach Geliert muß der Brief eine »freie Nachahmung des guten Gesprächs« sein u n d durch den Ausschluß alles Gekünstelten oder Gezwungenen die Natürlichkeit der Sprache bewahren. Indem man »seinem eigenen N a t u r e l l « folgt, können sich die Gedanken frei entwickeln: »Man überlasse sich der freiwilligen Folge seiner Gedanken u n d setze sie nacheinander hin, so wie sie i n uns entstehen: dann w i r d der Bau, die Einrichtung u n d die F o r m des Briefes natürlich sein.« Leo Balet bemerkt allerdings, daß Gellerts Briefe trotz dieses Strebens nach N a t ü r lichkeit nicht frei v o n Geziertheit sind (Leo Balet, D i e Verbürgerlichung der deutschen Kunst, L i t e r a t u r u n d M u s i k i m 18. Jahrhundert, Leipzig-Zürich 1936; vgl. auch G. Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes, 2 Bde, Berlin 1889—1891.)

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Briefe wertvoll. Nicht anders sah er i m Tagebuch ein M i t t e l zur Selbsterziehung, zur religiösen Meditation; und der Durchbruch des Subjektivismus führte zu einer neuen Betonung des Wortes. Es wäre falsch anzunehmen, daß seine i m Tagebuch ausgedrückten Leiden eine rein private oder persönliche Angelegenheit seien; das Tagebuch beweist vielmehr, daß diese neue Empfindsamkeit das Zeichen einer Auflösung des aufklärerischen Rationalismus war. Der Wendepunkt der Zeiten gebiert den Sturm und Drang; doch schon i n Gellerts Erleben bezeugt sich der Zwiespalt v o n Herz und Verstand — zweier Begriffe, die er i n der unklaren Hoffnung, einen Ausgleich zwischen ihnen zustandezubringen, bereitwillig aneinanderrückte. Der Zweifel lastete auf seiner Seele und verminderte den Glauben an die V o r sehung, die sich umbildete zum Schicksal und zum Z u f a l l ; er flehte zu Gott, die Grenzen überschreiten zu dürfen und i m Stande der Gnade die Zufriedenheit und das H e i l seiner Seele finden zu können. Die ersten Herausgeber von Gellerts gesammelten Werken, die beiden Freunde J. A d o l f Schlegel und G. L. Heyer, betrachteten diesen Subjektivismus als etwas Unwichtiges. Sie waren wie Cramer um die Darstellung des tugendhaften und heiligen Mannes bemüht, dem die Verehrung der deutschen Öffentlichkeit galt. Die beim Bericht über Gellerts U m w e l t getroffene Auswahl ist w o h l recht verschieden von dem, was man sich heute wünschen würde: es kam nicht auf die eigenständigen Züge und die persönlichen Äußerungen des Dichters an, sondern der Mensch sollte über seine Einmaligkeit hinaus i n den Rahmen der Erbauungsliteratur eingefügt werden. Der Pietismus anerkannte zwar den Wert des persönlichen Erlebnisses, doch nur innerhalb jener Gelassenheit, der Unterwerfung an den göttlichen Willen, wodurch die durch das Bekenntnis zum Subjektiven aufgerichteten Grenzen und Beschränkungen wiederum aufgehoben wurden; und erst das Wiederauferstehen der Seele i m Jenseits galt als Beweis für die erlangte Gnade 7 4 . Cramers »erbauliche Auslegung« von Gellerts Leben war für die Zeitgenossen einsichtig genug. Als Beleg für den Lebenslauf bediente er sich ausschließlich des Briefwechsels, wobei er sich an die für die posthume Ausgabe der Werke bereits bestimmten Briefe hielt. Andererseits hatte der Dichter in den Briefen sein Selbstbildnis so gezeichnet, wie es seine Aufgabe als Erzieher verlangte. M i t dem umfangreichen Briefwechsel hatte er sich vorgenommen, eine literarische Gattung und dadurch wiederum das Benehmen 74 Z u r Erläuterung genügt der H i n w e i s auf Hans M . Wolff , D i e Weltanschauung der deutschen A u f k l ä r u n g , bes. auf den I . T e i l und das 8. K a p i t e l des I I . Teiles: ' F o r t b i l d u n g des Wolff'schen Intellektualismus, Ausdehnung auf das Gefühl'. Z u m Pietismus vgl. E. Troeltsch, op. cit. u n d H . R. G. Günther, Psychologie des deutschen Pietismus, D V S I V (1926).

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i m Alltag, die üblichen Unterhaltungen und den von i h m entwickelten Stil des Benehmens verbindlich niederzulegen. Die Vorstellungen vom bürgerlichen Anstand, welche die Zeitschriften i n Nachahmung der moralischen Blätter Englands von Addison und Steele i n Deutschland ausgestreut hatten, haben nun ihre Verkörperung und ihren lebendigen Ausdruck i m A u f treten und i m Benehmen des Mannes Geliert gefunden. Deshalb wurde sein Name zu einem Begriffe der deutschen Kulturgeschichte und gehört er zu jener geistigen Bewegung, die gegenüber dem i m 18. Jahrhundert übermächtig gewordenen Einfluß der französischen Mode neue Richtlinien der W o h l anständigkeit erstellte. Gellerts literarische Tätigkeit hatte i m Kreis um Gottsched und als Mitarbeiter an dessen Zeitschrift, den 'Belustigungen des Verstandes und des Witzes', begonnen; beim Nachfolgeblatt, den 'Neuen Beiträgen zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes' war er bereits die führende Erscheinung. Geliert hatte aber von der i n Deutschland herkömmlichen A r t moralischer Zeitschriften auf ihre englischen Vorbilder zurückgegriffen, wobei er Addison für einen seiner Lehrmeister hielt. U n d wie dieser einen neuen privaten Lebensstil für den englischen Bürger und Landedelmann geschaffen hatte, so dürfen w i r bei der Frage, ob nicht auch Deutschland einen i n der Beeinflussung der zeitgenössischen Gesellschaft Addison ähnlichen Schriftsteller besaß, nicht auf die Großen verweisen, auf Lessing oder Goethe, sondern müssen uns dieses Mannes erinnern, der — wie auch Addison nicht zu den in der englischen Literatur führenden Klassikern zählt — heute als ein zweitrangiger Dichter eingeschätzt w i r d : Chr. F. Geliert hatte wahrhaftig i n die deutsche Gesellschaft eine Lebensform eingeführt, die über allen Standesunterschieden, jenseits der politischen Spannungen und schließlich außerhalb der Feindseligkeiten und Kämpfe des Siebenjährigen Krieges lag 7 5 . Die Verschiedenheit i n den Erscheinungen Addisons und Gellerts bezeichnet den gesellschaftlichen Unterschied zwischen dem England und Deutschland des 18. Jahrhunderts. Welch religiösen Anstrich Geliert den Gedanken der Aufklärung gegeben hat, zeigt sich i n der Verwendung der i n der deutschen religiösen Literatur traditionellen erbaulichen Themen, etwa dem v o m beispielhaften Tode; diese Themen wurden i n den Briefen aufgegriffen und entwickelt; später i n den 'Moralischen Vorlesungen' wiederaufgenommen und genauer ausgeführt. I n seinen persönlichsten Briefen, besonders i n denen an Demoiselle Lucius und Fräulein von Schönfeld, berichtete der Dichter bisweilen von Begebenheiten, welche die Popularität seiner Schöpfungen bewiesen und die Dankbarkeit der einfachen Leute i h m gegenüber, der ihre Empfindungen 75 Z u r Bedeutung Gellerts für die Gesellschaftskultur Zaehle op. cit. S. 154.

i n Deutschland vgl. B.

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auszudrücken verstanden hatte; er erzählt von Ehrbezeugungen und beifälligem Lob durch Adelige oder Mitglieder des Königshauses — doch gibt er zu jeder Episode Erläuterungen 7 6 . Gellerts Briefwechsel w i r d von einer Vielzahl von Personen aus allen gesellschaftlichen Schichten bevölkert, denen er i n Leipzig oder auf den kurzen Reisen (einmal sogar bis nach Berlin) begegnet war, während der Kuraufenthalte i n Lauchstadt bei Leipzig und zweimal i n Karlsbad, oder bei Besuchen, zu denen ihn adelige Familien eingeladen hatten. H i e r ist die ganze Welt versammelt: der Tischler steht neben dem Adeligen und der großen Dame, die Bürgerliche neben Prinzessinnen königlichen Geblütes, Fürsten und Königen. A l l diese Menschen, so verschieden sie auch voneinander waren, sahen i n Geliert die Verkörperung der von der Zeit anerkannten höchsten Ideale. Wenn sich der Dichter nun selbst gleichsam als der Führer dieses Chores darstellt, so könnte uns das dazu verleiten, ihm eine gewisse Eitelkeit vorzuwerfen; seine Gestalt w i r d aber eher ergreifend, wenn w i r uns den bescheidenen und immer liebenswürdigen M a n n vorstellen, der sich m i t einem prächtigen Sinne für den humour stets selbst ironisiert, um dadurch jegliche A u t o r i t ä t oder Steifheit abzulegen, und der die Beweise von Hochachtung und Ehrerbietung nicht auf sich selbst, sondern auf die über seiner Person stehenden Ideen bezog, auf Ideale, die er auf eine Weise verkörperte, wie ein Priester seinen Glauben und seine Kirche. Diese Darstellung von Gellerts Leben i m Stile der Erbauungsliteratur und der »moralischen Erzählung«, der sich i n den Gedenkschriften entwickelt hatte und später von Cramer endgültig festgelegt worden war, ist vom Dichter zu Lebzeiten nicht als eine bewußte Irreführung vorbereitet worden, sondern weil er sein Auftreten immer mehr als ein erzieherisches V o r b i l d ansah. Er nahm die Aufgabe auf sich, i n seinem Leben die von der Aufklärung für jeden Stand als verbindlich anerkannten Ideale zu bekräftigen. Eine Überbrückung des Gegensatzes zwischen dem noch i n der feudalen Tradition verhafteten Adel und einem Bürgertume, das gerade dieser Überlieferung entfliehen wollte, konnte nur durch die Verwirklichung von über beide Stände erhabenen Ideen gelingen; und das betont Geliert immer von neuem 7 7 . Die i h m übertragene A u t o r i t ä t gestattete es ihm, sich über die 76 So etwa aus dem Briefwechsel m i t Demoiselle Lucius in dem berühmten Briefe v o m ersten Aufenthalt i n Karlsbad 1763, w o er die Episode v o n der bescheidenen Frau erzählt, die i h m die H a n d küßte, oder der Bericht über den Besuch der Prinzessin Christine i m Schreiben v o m 3. September dess. Jahres; nach dem zweiten Karlsbader Aufenthalt schreibt er i m August 1764 über seine damalige Begegnung m i t den Spitzen der berühmtesten Adelshäuser, am 23. Oktober 1767 bezieht er sich auf eine in Anwesenheit des sächsischen Prinzen gehaltene Vorlesung. 77 »Dem gebundenen Seelenleben seiner Generation entsprach die Lehre Gellerts i n jeder Hinsicht. Der A d e l sah i n Geliert den ersten bürgerlichen Berater, dessen U r t e i l i n allen Lebens- u n d Kunstfragen unbedingt befolgt werden konnte.« (G.

5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 7. Bd.

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Standesgrenzen zu erheben, während er i n seinem Schaffen die geistigen Bedürfnisse Deutschlands i n jenen Jahrzehnten ausdrückte. Die M i t w e l t sah Geliert verklärt vom Schein der Legende, die somit zu seiner Biographie gehört; und auch wenn sich der Biograph dieser Verklärung entzieht und dahinter bis zum eigentlichen Menschen vordringt, so muß er dennoch die W i r k u n g von Gellerts moralischer A u t o r i t ä t verfolgen. Schon 1846 hatte das Heinrich Laube treffend ausgedrückt: »Was er lehrte, mag i n Bezug auf seine Schöpfungskraft nicht erheblich sein, weil es sich innerhalb der durch herrschende Sitte und Religion gegebenen Grenzen verhielt; wie er es lehrte, das war die i h m eigentümliche Tat, welche ihn zu einem Helden seines Vaterlandes machte . . . Gellerts Form war eben Gellerts Person, Gellerts Charakter.« 7 8 W i r möchten eine derartige Begeisterung bedenklich finden, die den Dichter zu einem Volkshelden emporträgt, doch müssen w i r beachten, daß dieser Ausdruck noch nicht dem Uberschwang entspricht, m i t dem die Zeitgenossen Geliert anläßlich seines Todes verherrlichten. Seine Grabstätte wurde jahrzehntelang verehrt, auch noch als Laube diese Worte schrieb; i n den ersten Jahren nach dem Tode erreichten jedoch die Huldigungen des Volkes ein solches Ausmaß, daß sich die städtischen Behörden und die protestantische Kirche gezwungen sahen, Wallfahrten zu seinem Grabe zu untersagen. Biedermann spricht von einer »fast an Vergötterung grenzende(n) Pietät beinahe aller Schichten des Volkes« und meint, »bei seinem Tode ging ein allgemeines Gefühl der Trauer durch ganz Deutschland«. Cramer merkt schließlich an, daß das V o l k von dem Toten auf eine Weise schwärmte, welche alle Grenzen sprenge, »die das Lob auch des besten Sterblichen haben sollte«. Diese Verherrlichung ging ganz bestimmt auf die Übereinstimmung der Persönlichkeit und des Charakters des Dichters m i t seinem Werke zurück, worauf bereits Laube hingewiesen hat; deshalb überrascht uns auch sein U r t e i l nicht: »Nach unsrer heutigen Erkenntnis verdient Geliert eine viel wichtigere Stelle i n der Literatur, als ihm bisher zugestanden worden ist, weil er i n einfacher Form und einfachen Ausdrücken das wirkliche deutsche Leben zuerst literarisch wirksam gemacht.« M a n w i r d untersuchen müssen, ob nicht gerade i n diesem A u f Witkowski, op. cit., S. 389). E i n Vierteljahrhundert lang w a r Geliert Leir>zigs höchster moralischer Richter; u n d hunderte seiner H ö r e r trugen seine Lehren »auf die Kanzeln u n d die Schulen, i n die Paläste u n d die Bürgerhäuser« (ibidem). Richtig bemerkt F. Behrend i n seiner Auswahl der Werke, op. cit., Lebensbild, S. X X V I I I : »Es war wichtig, daß Geliert i m Umgang m i t dem A d e l . . . die Überzeugung gewann, . . . daß eine deutsche N a t i o n a l - L i t e r a t u r nur geschaffen werden könne, wenn auch der A d e l deutscher N a t i o n lebendigen A n t e i l an i h r nähme.« 78 Heinrich Laube, Dramatische Werke, V . B d : Gottsched u n d Geliert, Leipzig 1847. D i e Komödie, der sogleich großer Erfolg beschieden war, hielt sich an die A r t Lessings u n d beweist, in welchem Ansehen Gellerts N a m e in Leipzig noch achtzig Jahre nach seinem Tode stand. Kritisch gesehen, ist die 'Einleitung' wertvoller als der künstlerische Gehalt des gesamten Lustspiels.

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decken der bezeichnenden Merkmale des deutschen Lebens das Eigentümliche von Gellerts Werk liegt. Die Literaturgeschichte darf sich nicht auf ein streng ästhetisches U r t e i l beschränken, sondern muß auch die geistige Entwicklung eines Volkes erfassen, wie sie sich i m Zeugnis seiner Dichter ausprägt; dabei w i r d man die Bedeutung Gellerts und seines Werkes für seine Zeit kaum unterschätzen können. »Das Element, welches Geliert bezeichnet und vertritt, ist grunddeutsch. Es nötigt von selbst zu nationalem Ausdruck. N u r darum ist der M a n n und der Begriff Gellerts so unvergeßlich geblieben«, hatte schon Laube geschrieben, der unseres Erachtens einer der ersten war, welche die entscheidende Stellung Gellerts i n der deutschen Literaturgeschichte erkannt haben. O b w o h l Laubes Ausführungen durch das U r t e i l von Garve unmittelbar nach dem Todes des Dichters vorbereitet worden waren, ist er dennoch der bedeutsamere von den beiden, da er Biedermanns Gellert-Deutung i m Rahmen der deutschen Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts um runde zwanzig Jahre vorweggenommen hat. Die führenden Vertreter der historischen Schule hielten sich grundsätzlich an Biedermanns Darstellung: so etwa W i l helm Scherer und Hermann Hettner oder Erich Schmidt i n seinem biographischen A b r i ß 7 9 . Dieser und das 'Lebensbild' von F. Behrend 8 0 sind trotz ihrer Kürze die beiden einzigen wertvollen Darstellungen von Gellerts Leben nach Ernestis Gedenkrede: die beiden unterscheiden sich i m Geiste und i n den Ergebnissen von Cramers Ausführungen. Z u m Abschluß unserer Bemerkungen über das Leben und die Biographie Gellerts möchten w i r noch festhalten, daß Leben und Erscheinung eines Mannes nie ganz i n seinem Werke aufgehen, selbst wenn Leben und Werk miteinander übereinstimmen. Das literarische Schaffen allein genügt nicht, um Gellerts moralische A u t o r i tät bei den Zeitgenossen zu rechtfertigen; diese gründete sich vielmehr auf seine Persönlichkeit und die i m A l l t a g bewiesene Geistigkeit. Laubes Worte mögen auch dies bestätigen. »Er war die geistliche Oberbehörde der Stadt. Nicht die offizielle, sondern, was viel mehr sagen w i l l , die freiwillige und nur innerlich erwählte . . .« 8 1 . Uber ein Jahrhundert später erfaßte Ernst Beutler Geliert erst richtig; für ihn war er der »große Bischof des christlichen Bewußtseins i m protestantischen Deutschland« 82 . M i t dieser Bezeichnung rechtfertigte er auch gleichzeitig das Entstehen der vielen Schriften zur Verherrlichung Gellerts 79

Erich Schmidt, Geliert, i n : Allgemeine deutsche Biographie, V I I I . Bd, 1878. Gellerts Werke, hsg. v. F. Behrend, 1917. 81 H . Laubey op. cit., Einleitung. 82 Ernst B entier y Essays um Goethe, Leipzig 1941, i m Aufsatz I n k l e u n d Y a r i k o auf S. 380 f f . ; vgl. sein U r t e i l über Geliert S. 382. D i e Erzählung v o n ' I n k l e u n d Yariko* ist i n den 'Fabeln u n d Erzählungen* enthalten. Bekanntlich hatte Geliert die Erzählung aus dem 'Spectator* übernommen. 80

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und des Abschlusses seines Lebens m i t einem christlichen Tode. V o n diesem Blickpunkt aus erscheint das literarische Werk Gellerts als ein Mittel, seine ihm von allen Deutschen übertragene Aufgabe eines religiösen Erziehers zu erfüllen. M a n nannte ihn den »praeceptor Germaniae«; damit führt er innerhalb der Aufklärung die Reihe der religiösen Denker und der großen Bewußtseinsbildner an, w o r i n ihm Lavater, Herder und Schleiermacher folgen werden. IV. Wie K u r t M a y ausführt, hatten bislang i n der Gellert-Forschung Untersuchungen über Anregungen, Einflüsse und Quellen, die schließlich allzu offenkundig wurden und deshalb an Glaubhaftigkeit verloren, eine große Rolle gespielt. Daher konnte man es nicht verstehen, wie ein Dichter, der sich beständig auf das V o r b i l d englischer und französischer Schriftsteller berief, ein Werk hatte schaffen können, i n dem sich die Deutschen wiedererkannten und das die verschiedenen Stände als Ausdruck ihrer Empfindungsweise gelten ließen. Eine Betrachtung der Einflüsse kann nicht das Neue in Gellerts Schaffen erklären, durch das er sich von den i h m vorausgegangenen Schriftstellern und Lehrmeistern, wie etwa La Fontaine, unterscheidet und weswegen er m i t Recht Friedrich I I . von Preußen gegenüber von sich hatte behaupten können, er sei ein origineller Dichter 8 3 . Zweifellos finden sich die stilistischen Eigenheiten der 'Fabeln und Erzählungen' schon bei den besten seiner französischen Vorbilder und lassen sich größtenteils i n Hagedorns Fabeln nachweisen: das betrifft den von eingeklammerten Bemerkungen, rhetorischen und ironischen Fragen unterbrochenen Erzählton, die umfangreichen Erläuterungen i n den Einleitungen, ehe er zur eigentlichen Erzählung vorstößt, und die kaum angedeutete, manchmal übergangene oder unerwartete M o r a l am Ende. Der Erzählton von Gellerts Fabeln erfaßt aber das i m Volke gesprochene Deutsch und erhebt es zu einer ungewöhnlichen Reife des Stiles; so scheint die dargestellte Welt und ihre Satire das wahre Menschenleben seiner Zeit wiederzugeben 84 . 83 » H a t Er den L a Fontaine gelesen?«, fragte i h n unter anderem der König. »Ja, Ihre Majestät, aber nicht nachgeahmt; ich bin ein Original.« D e n H i n w e i s auf dieses Gespräch m i t Friedrich I I . verdanken w i r Gellerts Brief an Fräulein v o n Schönfeld v o m 12. Dezember 1760; es hatte also bereits am 11. Dezember stattgefunden u n d nicht erst am 18., wie Rodenbach i m 'Tagebuch oder Geschichtskalender aus Friedrichs des Großen Regentenleben' anführt. D e r I r r t u m wurde i m V . Bande v o n Gellerts Sämtlichen Werken wiederholt. Diesen Brief sandte der Dichter m i t einigen Abänderungen auch an andere Personen. Einer philologischen U n t e r suchung der Nachahmung v o n L a Fontaine i m Deutschland des 18. Jahrhunderts widmete sich A . Stein, L a Fontaines E i n f l u ß auf die deutsche Fabeldichtung des 18. Jahrhunderts, Aachen 1899. 84 G. Witkowski, op. cit., S. 385, leugnet es, daß Gellerts Nachahmer zur V o l l -

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Untersuchungen der Quellen zu den 'Fabeln und Erzählungen', wie sie etwa G. Ellinger 8 5 oder R. Nedden 8 6 unternommen haben, werfen für die ästhetische Deutung keinerlei Ertrag ab und können nicht einmal der historischen Interpretation als K r i t e r i u m dienen, weil sie bei äußerlichen Bezügen und Vergleichen stehenbleiben; so leistete auch E. Kretschner 87 m i t ihrer Studie über Gellerts Roman keinen Beitrag zur Forschung, weil sie es unterließ, das Verhältnis zwischen Richardsons puritanischer H a l t u n g und Gellerts Religiosität zu untersuchen, die durch die breite Überlieferung des Pietismus verfeinert und vertieft worden war. C o y m 8 8 , H a y n e l 8 9 und D o b b m a n n 9 0 neigen i n ihren Arbeiten über Gellerts Bühnenstücke dazu, diese als Nachahmung mehrerer, doch voneinander derartig verschiedener Schriftsteller abzutun, daß es unmöglich sei, sie auf einen einzigen Stil zurückzuführen; sie beurteilen die Komödie an H a n d des von der zeitgenössischen Bühne aufgestellten Vorbildes, in diesem Falle also des nachromantischen Theaters i m 19. Jahrhundert. Deshalb kann Dobbmann v o n einer „Technik" sprechen, was ein Gebäude von Regeln und Mustern voraussetzt — sonst hätte diese Bezeichnung für ein Kunstwerk keinerlei Bedeutung. I n einem immer wieder angeführten Briefe 9 1 äußerte sich der Dichter über seine Absichten, als er die Fabeln schrieb, daß er sich dabei nämlich an ein weiteres Publikum als die Gelehrten wenden und den Deutschen ein volkstümliches Buch habe bescheren wollen: »Mein größter Ehrgeiz besteht kommenheit gelangt seien, weder Lessing noch Gleim, Lichtwer oder Pfeffel. »Das letzte Ziel, zu dem die eigenartige Leipziger K u l t u r i n ihrer literarischen Ausprägung gelangen konnte, w a r hier erreicht. Abgeschliffene F o r m i n Sprache u n d Benehmen, m i t den Ergebnissen der neuesten B i l d u n g wenigstens oberflächlich vertraut u n d v o r leidenschaftlicher Selbstbefreiung aus den Banden der alten Gewissensnormen bewahrt, durch jahrhundertalte Uberlieferung, die dem D o g m a in allen Angelegenheiten des innern u n d äußern Lebens die letzte Entscheidung überließ, das waren die für i h n v o r t e i l h a f t gemischten Eigenschaften der Leipziger A t m o sphäre, i n der Gellerts liebenswürdige persönliche Begabung so reiche Früchte trug.« M a n darf v o n Gellerts Fabeln keine naturgetreue Wiedergabe seiner U m w e l t erwarten, sondern Anspielungen, Analogien i n F o r m einer Lehrfabel u n d besonders die Stimmung und das A b b i l d des kulturellen Lebens. 85 G. Ellinger y Gellerts Fabeln u n d Erzählungen, Berlin 1895. 86 R u d o l f Nedden, Quellenstudien zu Gellerts Fabeln u n d Erzählungen, Diss. Leipzig 1899. 87 Elisabeth Kretschner, Geliert als Romanschriftsteller, Diss. Heidelberg-Breslau

1902.

88 Johannes Coym y Gellerts Lustspiele, ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des deutschen Lustspiels ( = Palaestra I I ) , Berlin 1899. Brauchbar ist der H i n w e i s auf die unterschiedliche H a l t u n g Gottscheds u n d Gellerts zum rührenden Lustspiel. Frühere K r i t i k e r hatten sich dabei in Deutschland an die 'Regeln und Anmerkungen der lustigen Schaubühne* des Rektors zu Annaberg, A d a m D a n i e l Richter, gehalten. 89 W . Haynel, Gellerts Lustspiele, Diss. Leipzig 1896. 90 T . Dobbmann, D i e Technik v o n Gellerts Lustspielen, Berlin 1899. 91 Auch v o n Cramer i n der Biographie (in: Gellerts Sämtliche Schriften, X . Bd, S. 219 f.).

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darin, daß ich den Vernünftigen dienen und gefallen w i l l , und nicht den Gelehrten i m engen Verstände. Ein kluges Frauenzimmer gilt m i r mehr als eine gelehrte Zeitung, und der niedrigste M a n n von gesundem Verstände ist mir würdig genug, seine Aufmerksamkeit zu suchen, sein Vergnügen zu befördern, und ihm i n einem leicht zu behaltenden Ausdruck gute Wahrheiten zu sagen, und edle Empfindungen i n seiner Seele rege zu machen.« Diese Worte beweisen, wie sehr sich Geliert bewußt war, aus dem Zeitzusammenhange heraus für ein Publikum zu schreiben, dem er sich nicht nur als Schriftsteller und Universitätsprofessor, sondern durch die mannigfaltigen Bande seiner Freundschaften und seines Briefwechsels verbunden fühlte. Gellerts Einfluß auf die Bildung des deutschen Geschmackes geht darauf zurück, daß er m i t seinem Werke dem Verlangen des Volkes entgegenkam. A b b t 9 2 sagt mit Recht von Gellerts Fabeln: »Sie haben dem Geschmack der deutschen N a t i o n eine neue H i l f e gegeben.« Auch Cramer gegenüber behauptete der Dichter, La Fontaine nicht nachgeahmt zu haben, und verwies auf den Unterschied zwischen sich und der französischen Klassik, die ihm unbekannt war, ehe er seinen eigenen Erzählstil gefunden hatte; Geliert meinte auch, er habe sich eher von der Begeisterung als von den Regeln leiten lassen, denn mehr als diese habe ihn sein Gefühl angespornt 93 . Wenn man sich Gellerts außerordentlichen Erfolg beim V o l k vor Augen hält, dann erkennt man, daß die Frage zweitrangig ist, ob er andere Dichter — etwa La Fontaine oder La Motte — nachgeahmt habe. Seine Fabeln fanden sich über ein Jahrhundert lang i n jedem Hause; und dem Bäuerlein, das eines Tages nach dem Erscheinen des ersten Teiles der Fabeln dem Dichter eine Fuhre H o l z brachte, damit er sich i m Winter seine Stube wärmen und weitere derartige Geschichten schreiben könne, die man sich auf dem Lande dann i m trauten Kreise des Abends vorlese, war es bestimmt gleichgültig gewesen, ob hier La Fontaine oder La Motte nachgeahmt worden war — er hatte i n den Fabeln seine eigene Sprache wiedergefunden, die dem Dichter vom Vaterhause her vertraut gewesen war. Der bürgerliche Mittelstand lief ins Theater zu Gellerts Lust92 Christian Garve, op. cit., schreibt: »Seine Talente waren gewiß groß, aber sie waren nicht groß durch den ausnehmenden G r a d einer einzigen Fähigkeit, sondern durch die Vereinigung u n d die mittlere Proportion aller. So mußten die Talente eines Mannes sein, dessen Schriften das Verdienst haben sollten, das A b b t den Gellert'schen zuschreibt, v o n seiner ganzen N a t i o n gelesen, verstanden u n d geachtet zu werden.« Er fährt fort, Gellerts W e r k sei vortrefflich, »ohne über die Fassung des großen Haufens erhaben zu sein«. A n H a n d der Übereinstimmung u n d der Ausgeglichenheit der verschiedenen Charaktereigenschaften des Schriftstellers, der auf diese Weise auch den Geschmack des Volkes bildet, versucht also Garve, einen Begriff der Klassizität zu prägen, der sicherlich auch Gellerts Vorstellungen entsprach. 93 J. A . Cr amer y Gellerts Leben (in: C. F. Gellerts sämtliche Werke, X . Bd, S. 221).

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spielen, und man freute sich, wenn man sich auf der Bühne dargestellt fand; für ihn waren die Gestalten nicht aus der englischen oder französischen comédie larmoyante übernommen, sondern die getreue Wiedergabe bürgerlichen Lebens i n Leipzig. Nicht ohne Ergriffenheit erinnert man sich an Gellerts Erzählung i m 'Tagebuch des Jahres 176 V: Mutlos und niedergeschlagen verhielt er einmal auf einem Spaziergang vor einer Kirche und hörte das V o l k seine religiösen H y m n e n singen; und da wurden ihm seine eigenen Worte, unterstrichen von den Weisen, die Philipp Emanuel Bach ihnen unterlegt hatte, zum himmlischen Chor. Eine Untersuchung der Einflüsse und Quellen oder der noch bedeutenderen ästhetischen Ideen kann der Bestimmung von Gellerts Stellung innerhalb seiner Zeit dienen;und wenn es derartigen Forschungen gelingt, die geschichtlichen Bezüge zwischen einem Dichter und seiner U m w e l t herauszuarbeiten, dann sind sie berechtigt und wertvoll. Für uns ist es inbesondere wichtig zu erkennen, wie sich Geliert den Anregungen seiner Zeit, der ihm vorausgegangenen und der zeitgenössischen Literatur gegenüber verhielt. Er fand einen eigenständigen Ausdruck, der dem deutschen Leben dieser Tage entsprach, und es geht nicht an, bei der Beurteilung seines Werkes nur auf die Voraussetzungen der deutschen Klassik zu achten. Auch kann man das Werk eines Dichters unmöglich verstehen, wenn man sich nicht dazu entschließt, es aus den geschichtlichen Gegebenheiten anstatt v o m deutschen Idealismus her zu erfassen 94 . Gellerts ungeheurer Erfolg bleibt unerklärlich, wenn man nicht die gesellschaftliche Lage i m Deutschland jener Tage berücksichtigt; Biedermann kommt das Verdienst zu, diese Forderung für die Gellert-Forschung erhoben zu haben. Er beschreibt eingehend die Verhältnisse an den Höfen und beim Adel, die langsame Auflösung der aristokratischen Gesellschaft i n der Zeit der Aufklärung, während sich ihr gegenüber das Bürgertum erhebt, das sich aus Mißbilligung des beim Adel herrschenden Libertinismus an eine strenge Sittlichkeit hält. Aufgabe der moralischen Zeitschriften war es hauptsächlich, die Forderungen der neuen Klasse nach einer modernen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens zu bemänteln. Die Vorstellung von der unabhängigen Vernunft, die seit Beginn der A u f k l ä r u n g 9 5 immer mehr i n den Vordergrund gerückt war, prallte m i t den althergebrachten Vorrechten des Adels zusammen; so bildete sich die K u l t u r der neuen Klasse, während der Adel dem Bürgertum die kulturelle Führung überließ. Gottsched 94 D i e Ausführungen über Gellerts Wesen v o n A l b e r t Köster i n seiner 'Deutschen Literatur der Aufklärungszeit , ) Heidelberg 1925, S. 69, sind m i t a l l ihrem L o b das Beispiel für eine übertriebene psychologische Deutung u n d für ein m i t den geschichtlichen Gegebenheiten nicht mehr übereinstimmendes U r t e i l . 95 E. Ermatinger, D i e deutsche L y r i k seit Herder, Leipzig 1925, Einleitung.

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hatte versucht, i n Deutschland eine höfische Literatur anzuregen, und war i n den gleichen Fehler wie die deutschen Höfe verfallen, die immer noch dem V o r b i l d des französischen Königshofes nacheiferten, wobei es ihnen aber an dem zu einer derartigen Lebensweise unerläßlichen guten Geschmack mangelte; an seine Stelle waren ungezügelte Leidenschaften und Instinkte getreten, die i n Frankreich bei Hofe einfach unvorstellbar gewesen wären. M i t Brockes, Hagedorn und den Satiren Rabeners, m i t der Poetik von Bodmer und Breitinger, den Bremer Beiträgern und der Zeitschrift 'Der Jüngling' 9 6 war eine neue Literatur erwacht, der sich trotz allem die adeligen Kreise öffneten. Eigentliches Ziel der Aufklärung war die Uberwindung der Tradition, eine geistige, sittliche und schließlich auch politische Unabhängigkeit; danach strebten die großen Geister von Leibniz bis Thomasius und W o l f f . Der Pietismus hatte sich v o m kirchlichen Dogmatismus innerlich befreien können; auch sittliche Fragen wurden nun verstandesmäßig gesehen und nicht mehr als etwas von außen oder oben Auferlegtes. M a n wollte den neuen Lebensstil, die Sitten und Gebräuche erfassen und der neuen K u l t u r und dem neuen Geiste anpassen. Diese umfassende Geistesbewegung drückte sich in Gellerts Werk aus, er vereinigte i n sich das Sehnen des deutschen Volkes nach einer größeren Unabhängigkeit seines Empfindens, nach einer vernünftigen Familien- und Sozialordnung und nach einem stärkeren Gottvertrauen. Die Uberzeugung, daß die Wahrheit der menschlichen Seele eingeboren sei, und die Würde, die dem Dichter aus dieser innigen Teilhabe an der Wahrheit erwuchs, gaben dem verschüchterten und kränkelnden Menschen die K r a f t , in seiner Zeit nachdrücklich eine menschenwürdigere Auslegung der M o r a l zu fordern und diesem Ziel sein Schaffen und Leben unterzuordnen 9 7 . Diese größere Freiheit wurde dem Dichter erstmals auf einem Gebiete bewußt, w o dies am schwierigsten sein konnte: bei den ästhetischen Uberlegungen, die am Anfange jedes Kunstwerkes stehen 98 ; das war ihm möglich durch seine weltweite Bildung und weil er nicht nur von der religiösen pietas ausgegangen war, sondern von einer objektiven und unbeteiligten Betrachtung der Ereignisse und Leidenschaften, die er von den französischen Klassikern übernommen hatte, von La Fontaine und La Bruyère, von dem 96 Das schalkhafte Lob, das Geliert der Zeitschrift i n dem Einakter ' D i e kranke Frau' ausspricht, beweist, wie sehr er ihr verbunden war. 97 Über die finanzielle Lage Gellerts vgl. man: J. A . Cramer i n seiner Biographie, Schmidt i n dem o. a. biographischen A b r i ß , die Briefe u n d besonders das 'Tagebuch auch dem Jahre 176Γ, das auch über die Rechnungen dieses Jahres berichtet. 98 Gute Ausführungen über Gellerts Ästhetik finden sich bei K u r t May, op. cit., W . Eiermanriy op. cit., u n d auch i n der Untersuchung v o n F r i t z Helhert y Der Stil Gellerts i n den Fabeln u n d Gedichten, Diss. Tübingen 1936, W ü r z b u r g 1937.

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ironischen, scharfen und skeptischen Pope und dem erhaben lächelnden Addison. Sein gelassenes, fast ein wenig trauriges Wesen war erfüllt von Geist und Nächstenliebe, die sich den Lehren der Aufklärung gemäß als Toleranz äußerte und Auswüchse des Rationalismus wie eine dogmatische Uberbetonung der Alleinherrschaft des Verstandes mied; daher rührt der, wenn auch von Geliert vermiedene, so doch beständig drohende Gegensatz zu seinem Vorgänger i n der kulturellen Erneuerung Deutschlands: Gottsched. V o n dem Streit zwischen Gottsched, Bodmer und Breitinger, von den Auseinandersetzungen um eine neue Poetik scheint Geliert, der zu schreiben begann, als diese Polemik auf ihrem Höhepunkt angelangt war, kaum mehr berührt zu sein; und i n den Fabeln, etwa i n 'Die Nachtigall und die Lerche', mit der die Sammlung einsetzt, gleicht der Dichter der Nachtigall, die dann zu singen anhebt, wenn die N a t u r sie drängt. M i t den beiden Abhandlung e n " über die Dichtkunst, ' V o n dem Einflüsse der schönen Wissenschaften auf das Herz und die Sitten' und 'Wie weit sich der Nutzen der Regeln i n der Beredsamkeit und Poesie erstrecke', und schließlich m i t der Rede ' V o n den Ursachen des Vorzuges der Alten vor den Neuern i n den schönen Wissenschaften, besonders i n der Poesie und Beredsamkeit' greift der Dichter i n Tagesstreitigkeiten ein und schlägt ihre Lösung v o r 1 0 0 . Geliert betont ausdrücklich, daß jedes Werk beim Dichter eine unmittelbare Gabe voraussetzt, etwas nicht Erlernbares sondern Angeborenes: das Genie. Er kannte die 'Reflexions' von D u B o s 1 0 1 und die Schriften von B a t t e u x 1 0 2 und war m i t J. Elias Schlegel befreundet, der als erster i n Deutschland von dem Vergnügen als dem Ziele der Kunst gesprochen h a t t e 1 0 3 . Schlegel trachtete i m Kunstwerk nach der Freude, die aus dem Vergleiche der N a t u r m i t ihrer Nachahmung hervorgeht, einer Nachahmung, die v o m V o r b i l d verschieden 99

Abhandlungen u n d Reden, i n : Sämtliche Schriften, V . Bd, 1839. Bemerkenswert ist J . E l i a s Schlegels Brief v o m 15. A p r i l 1747 an Bodmer: »Der H e r r Geliert, u m auf i h n zu kommen, hatte, da ich noch i n Leipzig war, mehr natürliche Gabe zur Poesie als i n der K r i t i k gegründeten Geschmack...« (G. F. Stäudlin, Briefe berühmter u n d edler Deutschen an Bodmer, Stuttgart 1794). Gellerts W e r k ist eher ein V o r b i l d für die Dichter als theoretische K r i t i k . 101 Abbe du Bos, Réflexions critiques sur la Poésie et la Peinture, 1719. 102 Charles Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe, Paris 1746. M i t Batteux befand sich J. A d o l f Schlegel i n einer höflichen Auseinandersetzung; er hatte auch einige seiner Werke übertragen. Ramler hingegen, ein anderer Übersetzer v o n Batteux, verteidigte die normative Anschauung v o n der Kunst als Mimesis. Bezüglich Ramler schrieb Geliert 1758 i n einem Briefe an J. A . Schlegel: »Was w i l l der M a n n m i t seinem eigensinnigen u n d eingeschränkten Geschmacke Deutschland nun Gesetze geben u n d ganzen Scharen wahrer Poeten u n d Dichter widersprechen?« 103 J. Elias Schlegel, V o n der Nachahmung, 1742; V o n der Unähnlichkeit der Nachahmung, 1745; Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters, i n : Werke, Leipzig 1764. 100

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ist u n d i h m d e n n o c h g l e i c h t ; d a m i t w a r er d e m Schaffen v o n B a t t e u x v o r ausgegangen. O b w o h l sich auch G e l i e r t d e r i n d e r A u f k l ä r u n g

geläufigen

V o r s t e l l u n g v o n d e r L e h r h a f t i g k e i t d e r D i c h t u n g u n t e r w o r f e n h a t t e 1 0 4 , erweiterte

er doch i h r e n R a h m e n . K u r t

May

schrieb

dazu:

»Nirgends

G e l l e r t s D i c h t u n g w i r d d i e M o r a l i t ä t u n d R e l i g i o s i t ä t des D i c h t e r s

in

gefor-

d e r t , w i e m o r a l i s c h u n d r e l i g i ö s auch d e r C h a r a k t e r seiner D i c h t u n g sein mag«;

zum

Beweis

dessen e r i n n e r e

man

sich d e r

Fabel 'Der

glückliche

D i c h t e r ' . U n d i n der K o m ö d i e ' D i e z ä r t l i c h e n Schwestern' v e r s p o t t e t e G e l i e r t m i t d e r G e s t a l t des M a g i s t e r s , d e n m a n a l l g e m e i n als e i n A b b i l d G o t t scheds ansah, u n v e r h o h l e n diese r e i n v e r n u n f t m ä ß i g e u n d l e h r h a f t e A n s i c h t v o n d e r D i c h t u n g 1 0 5 . U m d i e w a h r e n Eigenschaften d e r D i c h t k u n s t

klarer

z u e r k e n n e n , schied er Poesie u n d B e r e d s a m k e i t , d i e K u n s t des D a r s t e l l e n s u n d R ü h r e n s v o n d e r K u n s t des U b e r z e u g e n s 1 0 6 . Einen Grundbestandteil

der

F a b e l als l i t e r a r i s c h e r

Gattung bildet

die

M o r a l , d i e a n sich eher z u r B e r e d s a m k e i t als z u r Poesie z u z ä h l e n i s t ; also reicht das L e h r e n a l l e i n , das g e w i ß d i e eine Seite a n d e r F a b e l d a r s t e l l t , 104 G. V i l l y Vontobel, V o n Brodtes bis Herder. Studien über die Lehrdichter des 18. Jahrhunderts., Diss. Bern 1942. 105 V g l . das V o r w o r t zu dem 1747 erschienenen Sammelbande 'Lustspiele', w o sich der Dichter auch gegen den V o r w u r f verteidigt, er habe i n ' D i e Betschwester' die Religion verspottet — eine Anschuldigung, die i h n schwer getroffen hatte. D i e an u n d für sich eindeutige Gestalt des Magisters ist zu einem A n g e l p u n k t der GellertForschung geworden. Vgl., was K . May, op. cit., dazu in seinen Ausführungen über Gellerts Ästhetik bemerkt, u n d Brüggemanns Einführung zur Neuauflage v o n Gellerts Lustspielen i n den Reclam-Klassikern, Reihe ' A u f k l ä r u n g ' . Auch Brüggemann sieht i m Magister — wenn schon nicht Gottsched — so doch die Satire auf den strengen Verstandesmenschen aus dem ersten Abschnitt der A u f k l ä r u n g . 106 Gellerts Ästhetik bedarf einer eigenen Untersuchung. Diese müßte v o n den 'Beurteilungen einiger Fabeln aus den Belustigungen' ausgehen, v o n dieser 1756 erstmals geäußerten eingehenden und strengen K r i t i k an den allerersten Fabeln. D a r i n beruft er sich auf die aus dem großen Jahrhundert der Franzosen übernommene strenge T r a d i t i o n i n Ausdruck u n d Stil, die er über die nur mittelmäßige klassizistische Deutung i n Gottscheds 'Kritischer Dichtkunst' hinaus neu belebt u n d auf ihre ursprüngliche Bedeutung zurückgeführt hatte. Der Bezug auf den »niedrigsten Stil« und auf Boileau g i l t als ein H i n w e i s auf die herkömmliche Vorstellung v o n den drei Stilen, den drei generibus dicendi; das genus humile davon eignet sich für die Fabel. Diesen Stil zog Geliert audi in den Briefen u n d i m Roman vor, während er i m V o r w o r t zu den 'Geistlichen Oden u n d Liedern' den anderen, hier angemessenen Stil erläutert. Dieser rhetorischen Unterscheidung der drei Stile entsprach aber i n der A u f k l ä r u n g keine Poetik mehr. Über die E n t w i c k l u n g neuer Vorstellungen, die zur Krise i n der Ästhetik des Rationalismus führten, vgl. auch die o. a. Studie des Verf. Geliert w a r überzeugt, daß weder Regeln noch Verstand, sondern nur der Geschmack, »eine richtige, geschwinde Empfindung, v o m Verstände gebildet«, zur richtigen A n w e n d u n g der Regeln führen könne. »Haben w i r diese E m p f i n d u n g n i c h t . . . , so können w i r bei unsern Regeln u n d bei unserem Genie i n die größten Fehler verfallen.« D i e auch auf dem Gebiete der Ästhetik immer entschiedenere Betonung des Gefühles untergrub den Glauben an die V e r n u n f t u n d führte zu einer Lösung m i t H i l f e des Begriffes v o m Genie: so brach in der Ästhetik dieselbe Krise aus, die w i r in Gellerts moralischen u n d religiösen Vorstellungen beobachten konnten.

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nicht aus, um die Fabel zu einer lehrhaften Gattung der Literatur zu stempeln. M a n kann eher sagen, daß dort, wo Geliert von innen heraus zur Fabel gedrängt w i r d , die M o r a l aus der poetischen Sicht nur mehr ein V o r wand und nicht mehr der Zweck des Dichtens ist. M a n lese 'Die Geschichte von dem Hute', diese Satire auf die Schulen der Philosophie und auch — i n der A r t Swifts i n 'Tale of a Tub', das sie ja angeregt hatte — des religiösen Sektierertumes. Geliert hielt sich an die grundsätzliche Toleranz der A u f klärung, die M o r a l ist die dialektische Lösung des i n der Fabel Dargestellten. Wenn die Fabel beim Leser Ergötzen hervorrufen soll, wie das Geliert i n dem angeführten Briefe verlangt, dann ist die Moral, welche die Bedeutung des Geschehens erläutert, ihr notwendiger Abschluß; sie vollendet und rundet das Vergnügen des Lesers. Stilistisch bleibt Geliert der klassizistischen Überlieferung treu, jenen Formen und Weisen, deren Beispiel auch Hagedorn gegeben hatte. Er hielt sich an das V o r b i l d der klassischen Komödie, zu deren Eigenheiten das standesgemäß abgestimmte Gespräch und die auf die einzelne Gestalt zugeschnittene Redeweise zählen. Die Absicht war, nicht zu beschreiben, sondern eine H a n d l u n g darzustellen, wie der Dichter selbst i n den 'Beurteilungen einiger Fabeln aus den Belustigungen' ausführt; die Fabel w i r d als ein Gleichnis verstanden, der Dichter verließ sich also auf die lebendige Darstellung und die Bilder. A n H a n d der ausgeführten Einzelzüge erfaßt die Fabel die allgemeine Wahrheit und w i r d plötzlich mehr als eine Allegorie, ein Symbol, das die M o r a l erläutert. Dieser Schritt von der Allegorie zum Symbol w i r d m i t H i l f e eines subjektiven Elementes vollzogen, das von vorneherein i n der Erzählung enthalten ist und bisweilen untertaucht, um den Erläuterungen des Dichters Platz zu machen und damit den Erzählton ins Lyrische überzuleiten oder auch das Satirische hervorzuheben. Auch i n diese streng umgrenzte epische Form, als die La Motte die Fabel betrachtet h a t t e 1 0 7 , brach bei Geliert der Subjektivismus ein, wie w i r bereits i n den Briefen und Tagebüchern beobachten konnten. Gellerts Fabeln greifen erneut auf die in Deutschland herkömmlichen komischen Motive zurück, und zwar nicht aus erzieherischen Gründen, sondern weil er damit ein Echo i m Gemüt seiner Leser hervorrufen konnte. 107 I n seiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1774, 'De Poesi A p o l o g o r u m eorumque scriptoribus', setzte sich Geliert m i t den Gedanken v o n Gottsched, Breitinger, D u Bos, Batteux u n d L a M o t t e über die Fabel auseinander u n d erinnerte daran, daß des letzteren D e f i n i t i o n zufolge die Fabel ein gedrängtes Epos sei. Sie muß ergötzen, also verwundern, u n d wahrscheinlich erscheinen; H a n d l u n g u n d M o r a l müssen zusammenfallen; eine gute Fabel nützt, insofern sie ergötzt. Z u r Übereinstimmung zwischen dem Wahrscheinlichen u n d dem Wunderbaren kann aber nur der Dichter gelangen; das ist nicht lehrbar. Geliert führt D u Bos an: » I I ne me paroit donc possible d'enseigner Part de concilier le vraisemblable et le merveilleux. Cet art n'appartient qu'à ceux q u i sont nés poètes et grands poètes . . . « ( I , S. 132).

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H a g e d o r n h a t t e sich e i n k u l t u r e l l besonders hochstehendes P u b l i k u m

aus-

gesucht, G e l i e r t w ä h l t e aber seine Z u h ö r e r n i c h t aus, s o n d e r n w o l l t e

das

gesamte V o l k , a l l e s o z i a l e n Schichten ansprechen. M a n erforschte d i e Q u e l l e n v o n G e l l e r t s F a b e l n , a u f d i e d e r D i c h t e r ü b r i g e n s t e i l w e i s e selbst i n d e m f ü r die d a m a l i g e Z e i t e r s t a u n l i c h historischen A u f s a t z ' N a c h r i c h t u n d E x e m p e l v o n a l t e n deutschen F a b e l n ' 1 0 8 h i n g e w i e s e n h a t t e , d e r erstmals als E i n l e i t u n g z u r ersten A u s g a b e d e r ' F a b e l n u n d E r z ä h l u n g e n '

1746 erschienen

w a r . V i e l l e i c h t h a t m a n aber z u w e n i g d a r a u f geachtet, d a ß d i e

Abkehr

v o n der Ä s o p i s c h e n F a b e l u n d i h r e V e r w a n d l u n g i n eine ' M o r a l i s c h e

Er-

z ä h l u n g ' a u ß e r a u f H a g e d o r n auch a u f eine gediegene T r a d i t i o n i n d e r d e u t schen L i t e r a t u r z u r ü c k g e h t 1 0 9 . B e i G e l i e r t n i m m t das V o l k erstmals a n d e r h o h e n L i t e r a t u r t e i l , w ä h r e n d es sich b i s l a n g n u r i n v o l k s t ü m l i c h e r D i c h t u n g d a r g e s t e l l t

gefunden

108 Es ist hier weniger wichtig, den historischen W e r t dieser Abhandlung, als ihre besondere Bedeutung innerhalb v o n Gellerts W e r k zu untersuchen, der damit die in die K u r genommene G a t t u n g gleichsam adelte. Geliert entsinnt sich der ersten Fabeldichter deutscher Sprache u n d entwickelt auch ein eigenes Programm, wobei er von H u g o v o n Trimberg spricht, dessen Verdienst es gewesen sei, die Laster seiner Zeit ohne jede Einschränkung aufgedeckt zu haben. »Er fürchtet sich v o r dem geistlichen u n d obrigkeitlichen Stande so wenig,« schrieb Geliert, »daß er beiden die Wahrheit ganz unerschrocken sagt. . . D i e Satire hat auch v i e l zu enge Grenzen, wenn sie sich nur m i t den Fehlern des bürgerlichen Lebens beschäftigen soll. D i e Torheiten der Großen machen beredter als die Narrheiten der Niedrigen. U n d man w i r d allemal finden ,daß in dem Lande, w o die meiste Freiheit herrscht, auch die besten und kräftigsten Satiren angetroffen werden.« Er erinnert auch an B u r k a r d Waldis aus dem 16. Jahrhundert, an 'Reineke Fuchs', 'Georg Froschmäusler' u n d den 'Mücken- u n d Ameisenkrieg' v o n einem unbekannten A u t o r u n d an andere Fabelsammlungen; ferner k o m m t er auf Luthers Liebe zur Fabel zu sprechen und erzählt einige Fabeln v o n Melanchthon. 109 Aus der Geschichte der Fabel i n Deutschland werden Gellerts Bezüge zur mittelalterlichen Überlieferung u n d zur deutschen Renaissance deutlich, zu den 'Schwänken' v o n Hans Sachs, den 'Bîspel' des Stricker u n d zu B u r k a r d Waldis. Letzterer w a r fast v ö l l i g vergessen, als Geliert ihn i n seiner Untersuchung anführte, u n d erst einige Zeit später, 1753, widmete i h m Freiherr v o n Gemmingen in seinen 'Briefen nebst anderen poetischen und prosaischen Stücken' das 'Schreiben über Burckard W a l d i s ' ; vgl. H u b e r t Badstüber, D i e deutsche Fabel v o n ihren ersten Anfängen bis auf die Gegenwart, Wien 1924, u n d die grundlegenden Werke v o n Gustav Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des M i t t e l alters, 1935, und K o n r a d Burdach, V o m M i t t e l a l t e r zur Reformation, 3 Bde, 1917. Uber Gellerts Abhängigkeit v o n Waldis vgl. Joseph Gassner, Uber den E i n f l u ß des B. Waldis auf die Fabeldichtung Gellerts, Programm des Staats-Obergymnasiums zu Klagenfurt 1908—1909. Für die bereits v o n Schmidt u n d H u g o Handwerk recht allgemein erfaßten Ähnlichkeiten zwischen Hagedorn u n d Geliert oder wenigstens dessen Abhängigkeit v o n jenem vgl. H u g o Handwerk, Studien über Gellerts Fabelstil, Diss. M a r b u r g 1891; ferner W . Eigenbrodt, op. cit.. M a n beschäftigte sich m i t der Ableitung bestimmter Themen, doch nicht m i t den tieferen stilistischen u n d strukturellen Zusammenhängen. So geht etwa, wie Badstüber bemerkt, die Erzählform v o n Hagedorn und Geliert, die Fabel u n d Erzählung i n der neuen A r t zu einer nicht-Äsopischen Fabel, der fabulistischen Erzählung, verbanden, auf den Stricker und auf B. Waldis als Urheber zurück.

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hatte, die auf das Mittelalter zurückgeht und ihren Höhepunkt i m 15. Jahrhundert hatte, in einer Gattung also, die der höfischen Literatur entgegenstand und ihre Anregungen aus den Neuerungen und Umwälzungen der Reformation bezog. M i t den 'Fabeln und Erzählungen' nahm Geliert die von O p i t z zu neuem Leben erweckte und von Gottsched abgelehnte und verbannte volkstümliche Dichtung wieder auf; deshalb bediente er sich der Sprache Luthers, die er verfeinerte, biegsamer und geschmeidiger gestaltete, bis er zu der Sprachform gelangt war, die Lessing und den jungen Goethe beeinflussen sollte. E i n Zeichen dieser Neubelebung der volkstümlichen Uberlieferung ist der Verzicht auf den Alexandriner und die bereits erstarrte Strophe, die keine Annäherung zwischen dem Dichter und seinem Leser mehr erlaubte. Der Schriftsteller wendet sich immer an einen imaginären Hörerkreis, der einen Chor um ihn bildet. Dieses Gemeinschaftserlebnis, das auf religiösem Gebiete i n den 'Geistlichen Liedern' durchbrechen w i r d , findet sich bereits in den 'Fabeln und Erzählungen': daher rührt ihr Echo beim Volke110. Eine Aufzählung der M o t i v e der volkstümlichen Überlieferung, z . B . : die Satire auf das böse Weib und das Lob der guten Gattin, die Betonung der Vorzüge der einen und der Laster der anderen, der Spott über Eheleute und das Benehmen des Landvolkes, über die Lust an Zank und Hader, all das erscheint überflüssig, da man sie i n den Fabeln ja m i t Händen greifen kann. Dennoch wollen w i r an einige T i t e l erinnern: 'Der Blinde und der Lahme', 'Der Prozeß', 'Die Widersprecherin', 'Die zärtliche Frau', 'Der glücklich gewordene Ehemann', 'Der gütige Besuch', 'Der grüne Esel', 'Die beiden Mädchen', 'Der sterbende Vater', 'Der junge Drescher', 'Der Bauer und sein Sohn', 'Die schlauen Mädchen', 'Die Bauern und der Amtmann'. Das soll aber keine Liste dieser herkömmlichen M o t i v e sein, die ja schon von anderen bei der Erforschung der Einflüsse ausgearbeitet worden sind, sondern eher ein Hinweis auf jene Fabeln, die selbst sofort i n der volkstümlichen Uberlieferung aufgegangen sind; aber nicht nur die einzelnen Themen, sondern auch die A r t und der Stil der Fabeln bestätigen das Wiedererwachen einer alten Tradition. Ein Teil der Erneuerungen betrifft den Realismus, wenn man den bewußten Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen der Welt des Dichters und der ihn umgebenden Wirklichkeit so bezeichnen kann; letztere w i r d nicht nur vom Adeligen, sondern v o m Leben des einfachen Mannes aus ge110 H u g o Handwerk, Gellerts älteste Fabeln aus den 'Belustigungen des Verstandes u n d des Witzes', Jahresbericht des königlichen Gymnasiums zu M a r b u r g 1903—1904, hatte bereits genau erkannt, daß es bei der ersten Überarbeitung der Fabeln Gellerts Absicht gewesen ist, ein dramatisches Element einzuführen: »Jetzt w i r d uns nicht mehr erzählt, daß jemand etwas sage, etwas tue, nein, w i r hören i h n reden.«

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sehen. W i r wollen nicht darauf bestehen, daß der Dichter gerade i n denjenigen Fabeln oder Erzählungen, in denen die M o r a l wiederholt fehlt, weil sie — wie etwa i n dem berühmten 'Rhynsolt und Lucia' — bereits durch die von der Erzählung verursachte Anteilnahme ausgedrückt w i r d , seine U n zufriedenheit kundtun oder soziale Bedenken erheben wollte, die ja bereits i n seiner Teilnahme am Los der Unterdrückten enthalten sind, i n seiner Bewunderung der Tugend, auch wenn sie nicht belohnt w i r d und ins Unglück führt wie i n 'Der arme Greis'. Wenn die Vorstellung von der Wirklichkeit abschweift, schafft sich die Phantasie erbauliche Szenen aus Tugend und Unheil, i n denen sich dann die besondere Gefühlsweise der Zeit, die Empfindsamkeit niederschlägt; solches geschieht etwa i n dem bekannten 'Inkle und Yariko', wo es dadurch noch bemerkenswerter w i r d , daß sich die Entfernung von den Gegebenheiten durch einen Entfremdungseffekt vollzieht. M a n darf nicht übersehen, daß diese übertriebene Gefühlsbetonung, die Empfindsamkeit, nach Viëtors scharfer Beobachtung »die Tochter der pietistischen Religiosität« 1 1 1 ist und zu einem religiösen Protest gegen die i n Gesellschaft und Politik herrschenden Zustände werden k a n n 1 1 2 . Gellerts Gesellschaftskritik war von einem tief religiösen Gefühl ausgegangen und von ihm stets durchdrungen; dabei beweist der umsichtige Dichter eine für seine Zeit ganz ungewöhnliche Kühnheit. Es genügt, an 'Der fromme General' und die darin enthaltenen Einwände Friedrich I I . gegenüber, oder an 'Der H e l d und der Reitknecht' zu erinnern 1 1 3 . Besonders deutlich w i r d die Auflehnung i n den 'Moralischen Gedichten', wo Geliert mehr didaktische Bestrebungen zeigt; erinnern w i r uns an das Gedicht 'Der Stolz', w o der Günstling des Fürsten für die Zeitgenossen den einflußreichen sächsischen Minister Graf Brühl bezeichnen mußte 1 1 4 . I n den Fabeln treten Ge111

K . Vietor, op. cit., S. 23. Κ . Burdach, Faust u n d Moses, Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, 1912, beweist die Beziehungen zwischen dem religiösen Subjektivismus des Pietismus u n d der Emofindsamkeit i m 18. Jahrhundert, u n d daß derartige Zusammenhänge den Durchbruch des Irrationalismus zunächst i m Sturm u n d D r a n g u n d später in der R o m a n t i k vorbereitet haben. V g l . auch R u d o l f Unger, H a m a n n u n d die Empfindsamkeit, i n : Aufsätze zur Literatur- und Geistesgeschichte, Berlin 1929. 113 Gellerts A n g r i f f e gegen Friedrich I I . u n d die preußischen Eindringlinge i n Sachsen hielten an, wie o f t i h m audi die Besatzung oder gar der K ö n i g ihre Hochachtung bezeugten, wenn sie auch nur m i t den Waffen des Dichters ausgetragen werden konnten. Z u wiederholten Malen findet sich diese Auflehnung i n den Briefen an E r d m u t h v o n Schönfeld ausgedrückt; vgl. v o r allem den Brief v o m 5. Dezember 1758, den sog. 'Husarenbrief', der weit verbreitet war. V g l . ferner die Briefe v o m 18. Februar 1760, 12. M a i 1760, 31. Dezember 1760 und 17. Dezember 1762. 114 M o r i t z v o n Brühl, sein Sohn, war — wie berichtet — ein Schüler u n d Freund Gellerts. Auch das war ein Zeichen der Z e i t : Der höchste u n d allmächtige A d e l des exklusivsten Landes w a r gezwungen, einer Annäherung an die Gedanken u n d Vertreter der K u l t u r der A u f k l ä r u n g beizupflichten. 112

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stalten aus dem Leben auf, etwa 'Die Betschwester', 'Der Informator' und 'Der K a n d i d a t ' ; und weil bei diesen Abbildern die Freude an der Darstellung von einer moralischen Absicht getragen wurde, kam es, daß die Figuren der Komödien, die noch lebensnaher und ausgeprägter erscheinen, oder gar jene 'Moralischen Charaktere', i n denen sich ein Erlebnis stark verdichtet, auf einem ähnlichen Boden gedeihen. Die 'Moralischen Charaktere' 1 1 5 zählen zu Gellerts Meisterstücken: Nach dem Vorbilde von Theophrast, La Bruyère und Addison nimmt er die Charakterzeichnung wieder auf, belebt sie i n Form und Inhalt und beschreibt neue, unerwartete Typen, die aus einander widersprechenden Eigenschaften zusammengesetzt sind und durch die Lebendigkeit ihres Auftretens und die Kunst, m i t der ihre Züge beschrieben und vorgebracht werden, um nichts weniger leibhaftig zu sein scheinen. Dazu gehören: 'Der M a n n m i t einem Laster und vielen Tugenden' und sein Gegenstück, 'Der regelmäßige Müßiggänger oder Der M a n n ohne Laster und ohne Tugend', ferner 'Der schwermütige Tugendhafte', 'Der Jüngling von der guten und der schlimmen Seite', 'Der stolze Demütige', 'Der falsche Schamhafte' und andere; schließlich eine Gruppe von Gestalten und Charakteren, zu denen auch die Personen der Lustspiele zählen, in erster Linie natürlich 'Die Betschwester' 116 aus der gleichnamigen Komödie, die durch die scharfe Satire auf den religiösen Wahn sogleich einiges Gezeter verursachte. Nicht vergessen seien dabei aus 'Das Loos i n der Lotterie' Orgon, der stets lächelnde Enttäuschte, dem keine H o f f n u n g und kein Glaube mehr geblieben und der sich dem Nichts, das sein Leben beherrscht, bereits ergeben hat, oder 'Die zärtlichen Schwestern', diese beiden unterschiedlichen, so glänzend getroffenen Mädchen. Die Gestalten von Gellerts Lustspielen waren aus Freude am Erfinden moralischer Charaktere hervorgegangen, wobei sich der Dichter getreulich an die ihm vom damaligen Bürgertume gebotenen Typen hielt; eine davon ist auch der Leipziger Kaufmann zur Zeit der friederizianischen Kriege, Damon, in 'Das Loos i n der Lotterie' 1 1 7 . 115

Sämtliche Schriften, V I I . Bd, 1839. ' D i e Betschwester' wurde erstmals i n den v o n Gärtner u n d dem Freundeskreise um Geliert herausgegebenen Neuen Beiträgen zum Vergnügen des Verstandes u n d des Witzes, I I . B d (1745), 2. Stück, S. 83—168, veröffentlicht. 117 Gertraud Gelderblom, D i e Charaktertypen Theophrasts, L a Bruyères, Gellerts und Rabeners, G R M X I V (1926), beobachtet, daß unsere Vorstellung v o n dem Menschen u n d seinem Charakter als einer Ganzheit lebendiger K r ä f t e , die sich den Impulsen gemäß bildet u n d diese auslöst, erst durch Shakespeare i n die deutsche Literatur eingedrungen ist: bei i h m werden die Charaktere zu I n d i v i d u e n . Gellerts Personen stehen noch in der rationalistischen Uberlieferung, doch t r i t t bei i h m zur V e r n u n f t eine »Empfindsamkeit des Herzens, das natürliche Gefühl« dazu, wie er i n der zweiten 'Moralischen Vorlesung' ausführt. D i e Darstellung eines Charakters w i r d zur Bearbeitung seines inneren Seelenlebens; der »Charakter« allein ist bereits eine psychologische Studie. 116

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Cramer meint in seiner Biographie, Gellerts Bühnenstücke seien verfaßt »für die mittlere Sphäre des bürgerlichen L e b e n s . . . , denn die Höfe hatten damals so wenig als jetzt ein deutsches Theater«. Gottsched hatte versucht, i n einer Nachahmung der französischen Hofbühne für Deutschland ein Theater zu schaffen, Geliert aber war es gelungen, dem Bürgertume seiner Zeit die Schaubühne zu schenken 118 . Seine Vorbilder lassen sich i n der französischen comédie larmoyante finden; die Voraussetzungen für das Entstehen eines deutschen Lustspieles während der Aufklärung hatten aber die Gottschedin, Luise Adelgunde V i k t o r i a Kulmus, und einige durch die von Gottsched herausgegebene 'Deutsche Schaubühne' bekanntgewordene Komödien des Dänen Holberg geschaffen. Schmidt schreibt i n seinem Abriß von Gellerts Leben: »Geliert ist deutscher als die meisten gleichzeitigen Lustspieldichter« und weist darauf hin, daß i n Gellerts Komödien die beiden bekannten Figuren des französischen Lustspieles fehlen, »der kecke Valet und die vorwitzige intrigante Zofe Lisette«. Das Komische i n der Kunst war aber nicht Gellerts Ziel; „ein schöner V o r w u r f " 1 1 9 eignete sich für ihn eher, Tränen der Ergriffenheit als fröhliches Gelächter hervorzurufen. I n der Abhandlung 'Pro comoedia commovente' 1 2 0 faßte er seine Einwände gegen die klassizistische Bühne zusammen und gelangte zu einer m i t der mehr besinnlichen Dramatik seiner Zeit i n Deutschland und besonders in Leipzig übereinstimmenden Darstellungsweise. Das äußere Gewand des Lustspiels stammt von der comédie larmoyante , der innere Kern des Dargestellten ist die Tugend, die bei der Lösung der H a n d l u n g belohnt w i r d . Doch dienen sowohl der äußere Rahmen, als auch 118 W . H . Brufordy Theatre, D r a m a and Audience i n Goethe's Germany, L o n d o n 1950, w i l l beweisen, daß Geliert als erster i n Deutschland das bürgerliche Lustspiel abgegrenzt h a t ; er unterscheidet Gellerts Komödie, das bürgerliche Lustspiel, v o n der sich v o r einem etwas romantischeren Hintergrunde abspielenden comédie larmoyante. Gellerts Bühnenstücke nehmen hiermit i n der Geschichte des europäischen Theaters eine wichtigere Stellung ein; vgl. audi H . W . Brufordy op. cit., u n d die umfassende allgemeine Bibliographie darin. 119 Vorrede zu den K o m ö d i e n i n Sämtlichen Werken. 120 Pro Comoedia Commovente a Christiano Fürchtegott Gellerto, Leipzig, ex officina Langenhemiana, bezieht sich auf Gedanken v o n J. Elias Schlegel u n d betont, daß v o n den zwei menschlichen Handlungsweisen die eine zum Lachen reizt u n d die andere ernstere Seelenbewegungen hervorruft, »duplex comoedia, tanquam vitae i m i t a t r i x , erit forma«. E r verweist auf das Beispiel v o n Destouches, L a Chaussee, M a r i v a u x u n d Voltaire u n d behauptet, daß sie i n ihren K o m ö d i e n das Lächeln m i t dem Laster u n d die Ergriffenheit m i t der Tugend verbunden hätten. — Das Schäferspiel schließen w i r v o n unseren Untersuchungen aus. H i e r z u genügt der Hinweis, daß Geliert m i t dem ersten, 'Das Band', i n eine G a t t u n g gegen ihre N a t u r mehr Realismus einführen wollte. Z u diesem Versuche w a r es durch die Behandlung des Schäferspieles i n den 'Reflexions' v o n D u Bos gekommen. 'Sylvia' hingegen ist ein vorbildliches u n d in seiner A r t vollkommenes W e r k ; es findet seine E r f ü l l u n g innerhalb der Grenzen seiner Gattung. Übrigens diente es Goethe — wie er selbst bemerkt — zum V o r b i l d .

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das Geschehen i n seiner Einfachheit dazu, das Realistische und die einsichtigen Charakterzüge i m Rahmen der dargestellten H a n d l u n g zu begrenzen. Die Lösung zugunsten der Tugend scheint öfter als nur einmal bloß angehängt zu sein, sie bleibt zufällig, äußerlich, gleichsam »fabelhaft« und überbrückt den Zwiespalt nicht, sondern bestätigt ihn nur. Niemals ändern sich die Personen von innen heraus, es gibt keine Bekehrung v o m Laster zur Tugend, höchstens w i r d es manchmal durch eine A r t von Wunder den Personen ermöglicht, den gegebenen Umständen zu entfliehen. Lohn der Tugend ist ein imaginäres Uberwinden oder Vermeiden der v o m Leben und der U m w e l t festgesetzten unüberschreitbaren Grenzen, also das Zugeständnis, aus dem gewohnten Leben auszubrechen. Jene Charaktereigenschaften, die sich den Gegebenheiten anpassen, sind realistisch, die anderen aber, die darüber hinausgehen, sind das Ergebnis der Einbildungskraft, ein Spiel der Phantasie. Bisweilen erwacht eine Person wiederum aus dieser eingebildeten Welt und erkennt die sie umgebende Wirklichkeit: etwa Christianchen m i t ihrem U r t e i l über die Mutter i n der letzten Szene von 'Die Betschwester' oder Frau Damon i n 'Das Loos i n der Lotterie', wenn sie zu Carolinchen sagt: »Ich w i l l meinen M a n n schon besänftigen. Wenn er tausend Taler und mich sieht, so läßt er sich schon bewegen«; auch Lotte i n 'Die zärtlichen Schwestern' gehört zu ihnen, wenn sie Sigismunds wahren moralischen Charakter zu entdecken beginnt: »Wie redlich habe ich ihn geliebt, und wie unglücklich bin ich durch die Liebe geworden!« Die Charaktere sind auf das Typische zugeschnitten; das entspricht genau Lessings Feststellung 121 , daß sie nicht i m starren Schema ihres Typs verweilen, sondern nach einer I n d i viduation streben, die ihnen aber schließlich durch die Lebensumstände vorenthalten bleibt. Wenn auch die Belohnung der Tugend Gellerts Komödien beschließt, so ist sie doch nicht ihr Ende: den eigentlichen Abschluß bildet das Zerbrechen der Hoffnungen der Tugendhaften, sei dies N o r a i n 'Die Betschwester', Lotte i n 'Die zärtlichen Schwestern' oder Frau Damon i n 'Das Loos in der Lotterie'. A u f diese Weise entspricht die Tugend einer bloßen Ergebung i n die Welt, i n der die habsüchtige Scheinheiligkeit der 'Betschwester' oder die Besessenheit vom Mammon, die Jagd nach Freude oder Macht die wahre Wirklichkeit ist — die Tugend aber Resignation, Passivität, Gelassenheit; diese kann i n eine A r t Wahnsinn oder zum Laster 121 Hamburgische Dramaturgie, X X I I . Stück: » W i r sehen immer nur eine Seite, an der w i r uns bald satt gesehen. D i e N a r r e n sind in der ganzen W e l t p l a t t u n d frostig und ekel; wenn sie belustigen sollen, muß ihnen der Dichter etwas von dem Seinigen geben . . . Sie müssen nichts v o n der engen Sphäre kümmerlicher Umstände verraten, aus der sich ein jeder gern herausarbeiten w i l l . « W i r beabsichtigen hier nicht, uns m i t dem ästhetischen U r t e i l über Gellerts Schauspiele zu befassen. Lessings Bemerkungen über den Rahmen u n d die Sphäre des beschränkten Lebens, die sich i n Gellerts Personen ausdrücken, treffen zu, doch können diese Umstände auch anders ausgelegt werden.

6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 7. Bd.

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der Nachlässigkeit führen, wenn der Mensch, nachdem er bereits alle innerlichen Regungen abgetötet hat, auch seine Seele dem unausweichlichen Schicksal aufopfert, wie es Orgon in c Das Loos i n der Lotterie' ergeht. Für diese Bühne sind die drei Einheiten, wie bereits erwähnt, weder verbindlich, noch dienen sie dazu, den sittlichen Gehalt hervorzukehren, sondern sie sind ein Mittel, den Zwang der U m w e l t zu zeichnen. Die H a n d lung ist äußerst einfach, ihre verschiedenen Stränge werden mehr oder weniger zufällig miteinander verbunden, und die Ereignisse stammen bisweilen ebenso aus dem Alltag, wie der Stil und die A r t des Dialogs 1 2 2 . Die kurze Dauer der Komödie ist gleichsam absolute Zeit. Wie i n einem geschlossenen Kreise bewegen sich die Personen i m Bürgerhaus oder i m anschließenden Gärtchen. Die Lösung bringt immer der Zufall, ein Lotteriegewinn, eine Erbschaft; nicht die Tugend triumphiert oder der Verstand, sondern irgendetwas Irrationales, das einbricht und die abgeschlossene Welt aufreißt, i n welche die Gestalten hineingezwungen waren. M a n könnte auch sagen, die H a n d l u n g strebe nicht nach einem Ziele, sondern vielmehr nach der Darstellung der Unmöglichkeit, ein Ziel zu erreichen, und widerspricht sich mit dem glücklichen Ende schließlich selbst, das dadurch etwas Märchenhaftes und Züge der »moralischen Erzählung« annimmt. Für die Theatergeschichte bezeichnen Gellerts Dramen das Auftreten des Bürgertumes m i t all seiner Sittlichkeit, m i t der von der Aufklärung vorbereiteten Vorstellung von einer größeren sittlichen Freiheit i n den Beziehungen der Menschen untereinander und innerhalb der Familie. Die »tugendhafte Komödie« möchte den Zuschauer m i t den Kämpfen beeindrucken, welche die Tugend durchzustehen hat, und schafft ihm die V o r stellung, daß er selbst an ihnen teilnehme und mit den Geistesgaben der auftretenden Personen ausgerüstet sei. Der den tugendhaften Gestalten mangelnde Realismus kommt hingegen bei den komischen und den satirisch verzeichneten v o l l zur Geltung; der Einbruch der Empfindsamkeit verwandelt nicht die gegebene Wirklichkeit, sondern kann sie nur leugnen. So kommt es dazu, daß Gefühl und Wirklichkeitssinn bei einigen Personen — am ausgeprägtesten bei Julchen i n 'Die zärtlichen Schwestern' — nicht mehr klar begrenzt sind, und das Bewußtsein einer Unterwerfung unter die Wirklichkeit noch weniger deutlich ausgeprägt ist. Julchen bekräftigt ihren Wunsch, frei zu sein und der Stimme ihres Inneren folgen zu können; sie entschließt sich auf Grund von Regungen, die noch nicht bis i n ihr Herz vorgedrungen sind; sie möchte innerlich frei werden und durch innere Überzeugung an die Stärke ihrer Liebe glauben können. Deshalb verspottet sie 122 »Nicht Außenordentliches, sondern Alltägliches, nicht gesteigerte Rede, sondern realistische Sprache bietet er«, meint Oskar Watzel, (op. cit., S. 86), m i t der i h m eigenen Genauigkeit.

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i m Namen ihres Unabhängigkeitsstrebens und jener Empfindungen, denen sie m i t ihrer Entscheidung folgen möchte, den Magister, der vorgibt, eine Harmonie zwischen Verstand und Wille, zwischen logischer Überlegung und Antrieb des Herzens herzustellen. I m Charakter von Lotte, Julchen und Christianchen entwickelt sich eine Empfindsamkeit, die auf Widerstand stößt und enttäuscht werden kann, w o m i t sich die »tugendhafte Komödie« i n eine Tragödie wandelt, wie sich das tatsächlich m i t Lottes herzzerreißendem Schrei i m Schlußakt von 'Die zärtlichen Schwestern' vollzieht. Diese widerspruchsvolle Empfindsamkeit w i r d i n der folgenden Generation des Sturm und Drang hervorbrechen; niedergehalten und überwältigt w i r d sie die Tragödie Werthers ermöglichen. Dieses Band zwischen Geliert und der Generation des Sturm und Drang finden w i r i m Werk eines der hervorstechendsten Vertreter dieses aufrührerischen Zeitabschnittes bestätigt: i m 'Pandaemonium Germanicum' von J. M . R. L e n z 1 2 3 ; er erkennt schließlich die Ähnlichkeit dieses Dichters der Aufklärung m i t Rousseau. Als aber Demoiselle Lucius Geliert im Brief vom Juni 1762 bat, i n Rousseaus 'Emile' auch den Abschnitt über die Religion zu lesen, w o v o n man ihr zu Hause habe abraten wollen, antwortete Geliert, nie ein Buch von Rousseau gelesen zu haben und den Werken des Franzosen gegenüber eine gewisse Abneigung zu empfinden. Er meinte, die Furcht, darin auf eine K r i t i k an der Religion zu stoßen, genüge ihm, sich von Rousseaus Schriften und seinem 'Emile' fernzuhalten; und als Demoiselle Lucius fortfuhr, den ersten Teil des Buches zu loben, antwortete Geliert: »Was geht uns Rousseau weiter an? Nichts mehr von ihm.« Der Brief stammt vom Beginn des Jahres 1763. Der Dichter, der sich an den Grundgedanken der Aufklärung begeistert und es m i t der 'Betschwester' sogar gewagt hatte, den religiösen Wahn darzustellen und zu verspotten, w a r selbst, wie die Personen seiner Komödie, allmählich dem Zwange der U m welt so anheimgefallen, daß er den Pulsschlag des europäischen Geisteslebens nicht mehr spüren konnte. V. Die Aufklärung bedeutet eine Revolution i n der europäischen Geistesgeschichte und m i t der endgültigen Trennung von der Welt des Mittelalters 123 J. M . R. Lenz, Gesammelte Schriften, hsg. v. L u d w i g Tieck, I I . Bd, S. 202, Berlin 1828; i m I I . A k t , 1. Szene w i r d Geliert wie folgt vorgestellt: » T r i t t herein ein schmächtiger Philosoph, m i t hagerem Gesicht, großer Nase, eingefallenen hellblauen Augen, die H ä n d e auf der Brust gefaltet. Als er hereinkommt, bleibt er verwunderungsvoll Hagedorn gegenüber stehen, ohne aus seiner Stellung zu kommen. A u f einmal erblickt er L a Fontaine, u n d schleicht in den W i n k e l , um nicht gesehen zu werden. Nach einer Weile k o m m t er m i t einigen Papieren v o l l Zeichnungen hervor, die er sich v o r die Stirn hält.« etc.

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und dem Glauben an einen steten Fortschritt der Vernunft eine kulturelle Neuordnung. Das Wissen hielt man für den Weg zur Tugend; beider Ziel mußte nach dem optimistischen Grundzug der Aufklärung das Glück des Menschen sein 1 2 4 . Die jahrtausendealte Gewißheit von der Erbsünde, welche die menschliche N a t u r an ihren Wurzeln vergiftet habe, wurde v o m Geist der Aufklärung beiseitegeschoben und überwunden; man war eher geneigt, der natürlichen Güte des Menschen zu vertrauen, man sprach von einer Naturreligion und sah voller Glauben an die Vernunft i m obersten Gott ihre Voraussetzung und höchste Bestätigung. Ernst Troeltsch meint von der Aufklärung: »Eine immanente Erklärung der Welt aus überall gültigen Erkenntnismitteln und eine rationale Ordnung des Lebens i m Dienste allgemein gültiger praktischer Zwecke ist ihre Tendenz 1 2 5 .« M a n ersetzte die Vorsehung durch den Verstand, um die Welt rein von ihm her zu erfassen und m i t seiner H i l f e das Leben neu ordnen zu können. Gegen die M i t t e des Jahrhunderts begann sich aber die Welt der Aufklärung aufzulösen. Lessing und K a n t w i r d die Aufgabe obliegen, ihre Krise zu lösen und das gültige Gedankengut zum Höhepunkt zu führen. Geliert war nicht einmal i n der Lage, auf diese Schwierigkeiten deutlich hinzuweisen, noch viel weniger konnte er sie sich erklären; er l i t t unter ihnen desto mehr, je weniger er sie verstand. Die vorausgesetzte Ubereinstimmung von Christentum und Naturreligion mußte dann zerbrechen, wenn man das Dogma von der Erbsünde als verbindlich anerkannte; andererseits hatte die aufklärerische Gleichsetzung des natürlichen Sittengesetzes m i t Gottes Gebot die Erlösung überflüssig gemacht. A u f diese Weise fand die von stark mystisch-irrationalistischen Bewegungen, von der daraus folgenden Empfindsamkeit und erhöhten Gemütserregbarkeit durchströmte Aufklärung nicht mehr zu der streng verstandesmäßigen und logischen Einheitlichkeit zurück, auf die sie ursprünglich gebaut gewesen war. Das christliche Religionserlebnis vollzieht sich dialektisch zwischen der Anerkennung der menschlichen Unzulänglichkeit und der Anrufung der Erlösungsgnade — zwei unersetzlichen und unerläßlichen Begriffen. Geliert billigte den herkömmlichen Glauben, während er den Abgrund zwischen der religiösen und der aus der zeitgenössischen Philosophie abgeleiteten Wahrheit zu überbrücken suchte. Diese Lehre, die seine Fabeln und Bühnenstücke angeregt hatte, wollte er in dem Roman 'Das Leben der Schwedischen Gräfin von G. . erläutern 1 2 6 , i n dem er seine Weltanschauung zusammen124 St. Behm-Cierpka, D i e optimistische Weltanschauungen i n der deutschen Gedankenlyrik der Aufklärungszeit, Diss. Heidelberg-Mannheim 1933, erläutert treffend, wie sich der philosophische Optimismus der A u f k l ä r u n g in der L y r i k ausdrückt u n d spricht auch v o n Geliert. 125 E. Troeltsch, op. cit., S. 339. 126 Veröffentlicht i n 2 Bden, 1747 f.

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faßte. Dieses Werk zeugt von einem tiefen Bewußtsein, das sich i n das eigene Innere zurückzieht, um hier den sicheren Boden für jene Freiheit zu suchen, die i n der folgenden Generation K a n t ausdrücklich darlegen und Schiller m i t seinen Dichtungen verherrlichen w i r d 1 2 7 . I n den Jahrzehnten von Gellerts angestrengtestem literarischen Schaffen vollzog sich in Deutschland ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel, der seine Rückwirkungen auch auf die Literatur hatte. Tatsächlich fand die neue Klasse ihren Geistesadel i n der K u l t u r ; an ihr richtete sie ihr A u f treten aus: darum entstand auch jene Popularphilosophie, die ihre Blüte w o h l i n Berlin, ihren Ursprung aber i n Leipzig gehabt hatte, und zwar genau m i t Gellerts 'Moralischen Vorlesungen' und — wie w i r meinen — m i t seinem Roman. Durch das Eingreifen Friedrichs von Preußen änderte sich auch die Vorstellung von der Kunst des Regierens: von der absoluten, v o m göttlichen Recht abgeleiteten Regierungsform war man zum aufgeklärten Absolutismus gelangt; der schwankende W i l l e des Herrschers ist durch das v o m Staate festgelegte und eingesetzte Recht abgelöst worden. Die Regierungskunst wurde folglich als ein Dienst, als eine Funktion angesehen; der Fürst war der Exekutor des Gesetzes zu dem Zwecke, das Wohlergehen des Volkes vernunftgemäß zu fördern. Dieser historisch bedeutsame Wandel fand seinen Widerhall i n jenen Ländern, die Preußen feind und auch nicht gewillt waren, sich der neuen Regierungsform zu unterwerfen, wie etwa das v o m Grafen Brühl verwaltete ultrakonservative und traditionalistische Sachsen. H i e r machte sich Geliert zum Sprecher der neuen Klasse, deren Wunsch nach einem Leben i n Freiheit und deren Bestürzung über die Unterdrückung, die Mittelmäßigkeit und die enge Abgeschlossenheit des Daseins, dem die Selbständigkeit und die H o f f n u n g auf die Z u k u n f t mangelten, er ausdrückte 1 2 8 . Die neue Politik entsprach dem Deismus der Aufklärung, für den Gott der Bewahrer der Gesetze des Alls, des absoluten und höchsten Verstandes war. Wenn es also zu einem neuerlichen Zwiespalt zwischen der N a t u r und dem Verstände kam, wenn der Mensch wiederum zwischen diesen beiden wählen mußte, dann verpflichtete ihn die zur Gottheit erhobene Vernunft, sich von der N a t u r ab- und den vernünftigen Gesetzen zuzuwenden. Die Religion schien den Glauben nicht mehr vom Opfer der eigenen N a t u r und des individuellen Empfindens abhängig zu machen, er ergab sich nicht mehr aus einem Anstoß der Caritas, sondern auf G r u n d kalter, rationalistischer 127

V g l . Günther Müller, op. cit., S. 145. Dieses Echo geschichtlicher Ereignisse findet sich i n den 'Fabeln u n d Erzählungen* ebenso wie in den 'Moralischen Gedichten', w o es auf Lehrfabeln, Allegorien u n d Symbole übertragen w u r d e ; ein aufmerksamer Leser w i r d die ständigen H i n weise auf die Zeit erfassen können. 128

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Überlegungen. Auch die M o r a l ließ sich logisch, vernünftig i n Schemata anordnen, die m i t dem Gefühlsleben nichts mehr zu tun hatten und denen dennoch das Leben des Einzelnen unterworfen war. Die Untersuchungen von Schmidt 1 2 9 , Brüggemann 1 3 0 , Kretschner 1 3 1 und Behrend 1 3 2 haben die H e r k u n f t von Gellerts 'Schwedischer Gräfin' vom Abenteuerroman, der i n Deutschland besonders durch Schnabels 'Insel Felsenburg' vertreten war, und vom sentimentalen und moralischen Roman Richardsons nachgewiesen, den Geliert bewundert und dessen 'Pamela' er übersetzt hatte; w i r dürfen aber auch den Einfluß der in Deutschland weitverbreiteten Romane von Marivaux nicht übergehen. Die von den moralischen Zeitschriften vollzogene Umgestaltung der M o r a l und des Benehmens hat Geliert in seinen Roman übernommen und systematisch ausgestaltet; das beweist er nicht nur durch die Berücksichtigung der engen Beziehungen zwischen den Ständen und die darin enthaltene K r i t i k und Beurteilung der adeligen Gesellschaft, die klare Trennung zwischen dem Libertinismus der Fürsten und den Eigenschaften und Tugenden des mittleren Adels und des Bürgertumes, sondern vielmehr durch die moralische Verdammung des Fürsten, der seine Macht mißbraucht, und schließlich durch die deutliche Verteidigung und Verherrlichung der Würde des einfachen Volkes. Cramer schrieb, Geliert habe den Roman m i t der Absicht verfaßt, sich dieser Gattung zur moralischen Belehrung zu bemächtigen. Leider fällt dem Leser auf, daß das Werk nicht aus reiner Lust am Erzählen entstanden ist, wie groß auch seine Verbreitung und wie zahlreich die Übersetzungen in das Französische, Englische und schließlich auch das Italienische gewesen sein mögen. 'Das Leben der Schwedischen Gräfin von G. . .' war der erste deutsche Roman, der das moderne Leben behandelte; er verbreitete die Ideen der Aufklärung i n weiten Kreisen, w o h i n sie bisher noch nicht vorgedrungen waren; dennoch darf man nicht das Lob übergehen, das ihm — auch v o m Ästhetischen her — Brüggemann, Günther Müller und letzthin Richard B e n z 1 3 3 gezollt haben. I n der Geschichte der deutschen Literatur ist es der erste psychologische Roman; die mannigfaltigen Ereignisse dienen dazu, die Vielfalt zu erläutern, m i t der die Menschen auf sie reagieren. I n diesem Roman findet sich auch das Bestreben, an H a n d der verschiedenen V o r gänge, Sitten und Gebräuche Völkerpsychologie zu treiben; w i r vermuten, 129

E. Schmidt, Richardson, Rousseau u n d Goethe, Jena 1875. 130 p. Brüggemann, Gellerts schwedische Gräfin, i n : Der Roman der W e l t - u n d Lebensanschauung des vorsubjektivistischen Bürgertums, Aachen 1925; v o n dems. vgl. man ferner die 'Einleitung* zum V . Bd. der Reihe ' A u f k l ä r u n g ' innerhalb der 'Deutschen Klassiker* bei Reclam. 131 132 133

E. Kretschner, op. cit. F. Behrend, op. cit., I I . T e i l : Einleitung des Herausgebers. R. Benz} Deutsche Barock-Kultur des 18. Jahrhunderts, Suttgart 1949.

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daß dies auf Anregungen von D u Bos in seinen 'Reflexions' zurückgeht, die Breitinger i n die 'Critische Dichtkunst' aufgenommen hatte — beide Werke waren Geliert w o h l bekannt. Die H a n d l u n g ist äußerst vielfältig: es kommt zu Verführungen, zum Ehebruch, zu Bigamie und Inzest, eine Nonne w i r d geraubt, Todesurteile werden gefällt, Morde und Selbstmorde werden vollzogen, Gefängnisszenen und die Verschleppung nach Sibirien enden mit der plötzlichen Befreiung; Liebesabenteuer sind am beliebtesten, i n die schließlich auch eine Wilde verwickelt w i r d , deren natürliche A n m u t und Güte aus dem i m 18. Jahrhundert verbreiteten Mythos vom guten Naturkinde stammen. Eine Unmenge von Personen jeden Standes und Charakters bevölkert den Roman: v o m Fürsten königlichen Geblütes bis zum sibirischen Zuchthauswärter, dem ersten aus einer langen Reihe russischer Gefängnisdirektoren i n der europäischen Literatur bis heute; dann der edle Graf von G. . ., ein Feudalherr und Krieger, der die militärischen Tugenden nicht für die höchsten des Menschen hält, der reiche englische Kaufmann und der bescheidene Edelmann, H e r r von R. . ., der die Ideen der Aufklärung zu seinen eigenen gemacht hat und ein Selbstbildnis des Dichters ist; schließlich finden w i r i n dem Roman noch die Gestalt des guten Hebräers, die eine wagemutige Verteidigung des Judentums auslöst, w o m i t Geliert erneut seine weise und humane Duldung i n religiösen Dingen unter Beweis stellt. Außer der H a u p t heldin, dem Waisenmädchen aus dem einfachen Adel, das durch Heirat zur Gräfin von G. . . geworden ist, treten noch viele Frauengestalten von hoher und niedriger H e r k u n f t auf: die Frau des Gefängnisdirektors, die mit einem englischen Kaufmann ein Liebesabenteuer hat und mit ihm flieht (diese Seiten zählen zu den psychologisch feinsinnigsten), Carolina, eine Geliebte des Grafen, Marianna, die wiedergefundene Tochter, und viele andere: bereuende Sünderinnen, enttäuscht und glücklich Verliebte, die ohne zu zögern ihr Vaterland verlassen, um dem Manne in ein neues Leben zu folgen. Die H a n d l u n g entwickelt sich i n einem ungeheuren Räume, der von Schweden bis Sibirien reicht, vom einen Ende Europas bis zum anderen, von H o l l a n d und England bis nach Rußland; besonders spielt sich das Geschehen i m protestantischen Norden Europas ab. Durch die umfassende Weite, die von den in der erzählenden Literatur des 18. Jahrhunderts einzigartig dastehenden Erlebnissen der Gräfin von G. . . als Gefangene i n Sibirien umspannt w i r d , nimmt der Roman geopolitische Züge a n 1 3 4 ; erstmals w i r d hier das russische Reich mit den Augen eines Gefangenen auf den qualvollen Reisen durch die einsamen Steppen von einem Gefängnis in das andere gesehen. Doch werden diese Erlebnisse oft nur berichtet, mitgeteilt — sie werden nicht lebendig dargestellt; und so löst sich der Roman, wie K . M a y bemerkt, 134

D i e Beobachtung stammt v o n R. Benzy op. cit.

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i n eine Reihe moralischer Abhandlungen auf: über die Erziehung und die Ehe, die Freundschaft und das Familienleben, über alle Vorkommnisse des Lebens und über das i n frohen und schweren Tagen angebrachte Benehmen. Die Abenteuer, die mitunter Anstoß erregen können oder zumindest beweisen, welch offenen und freien Blick der Dichter hatte, dienen dem Nachweis, daß durch die neue Lebensform der Aufklärung alle Beziehungen gewandelt und menschlicher gestaltet worden sind, gleichzeitig damit aber die unumgrenzte Oberherrschaft der Sittsamkeit gesichert werden konnte; die M o r a l hat die N a t u r zu übertönen, sobald diese den Geboten der Religion und der Vernunft zuwiderläuft. Einige K r i t i k e r behaupten, die H a n d l u n g des Romans sei unmoralisch und zeuge von einer Geringschätzung der Familie 1 3 5 , sie verweisen auf eine Rousseau ähnliche übertriebene Gefühlsempfindlichkeit 1 3 6 ; man hat die Kühnheit der Gedanken und den Zusammenprall der Zeitströmungen — des Rationalismus auf der einen Seite und der Empfindsamkeit, des subjektiven Gefühls auf der anderen — hervorgekehrt; dies war aber sicher Ausdruck der Widersprüchlichkeit innerhalb der Aufklärung selbst 1 3 7 . Die Bedeutung des Werkes liegt jedoch darin, daß es die Gedanken der Aufklärung i n die herkömmliche M o r a l hineinträgt und die Gültigkeit der Gesetze der M o r a l auch i n extremen Gewissenskonflikten nachweist. So bezeugt das Verhalten der Gräfin gegenüber Carolina eine gewisse Unbekümmertheit um die von der traditionellen M o r a l geforderte Strenge und eine bemerkenswerte geistige Freiheit, w o r i n man auch den Einfluß der von Geliert besuchten Adelskreise erkennt; die Erzählung von der inzestiösen Heirat der beiden Kinder des Grafen stellt den unlösbaren Gegensatz zwischen Gefühl und Verstand i n den M i t t e l p u n k t . N u r ein vernünftiges Verhalten kann die Lösung bringen: Marianne und ihr Bruder hatten sich trotz ihrer engen Verwandtschaft vermählt und können nicht mehr voneinander lassen, als sie die Wahrheit erfahren; Mariannens Selbstmord, die sich damit den Geboten der Vernunft und dem göttlichen Gesetz entzieht, bestätigt jedoch, daß ein Verlaß auf das Gefühl i n den Untergang führt. Die Nebenhandlung schließt m i t einer Bekräftigung des Gegensatzes zwischen N a t u r und Vernunft und leugnet jegliche Übereinstimmung zwischen den beiden, die ja zu den Grundsätzen der Aufklärung gezählt hatte. Gellerts Roman lehrt Hingabe an das gottgewollte Schicksal, auch wenn es die Leidensfähigkeit und die Unterwürfigkeit des Menschen scheinbar auf die Probe stellt, und die Überzeugung, daß der Mensch die Wege der V o r sehung beschreitet, wie sehr er auch v o m Unheil verfolgt und unterdrückt 135 138 137

E. Schmidt, op. cit. P. Wiegler, V o n der G o t i k zu Goethe, Berlin 1930. F. Brüggemann, Gellerts schwedische G r ä f i n . . .

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werde. Die Notwendigkeit zu fliehen und sich den Blicken eines mächtigen Verfolgers zu entziehen, löst i n diesem Romane genau so wie i n einem anderen auf höherem künstlerischen und moralischen Niveau, alle Ereignisse aus: w i r denken an das H a u p t w e r k von M a n z o n i 1 3 8 . U n d die Verfolgung der Gerechten ist nicht nur das Werk eines aufsässigen Mächtigen, sondern erscheint als eine A r t von Verhängnis, das die Vorsehung auferlegt, und dem sich der Gerechte unterwerfen muß; die höchste Tugend ist folglich die Gelassenheit; sie ist der Weg des Heiles. I n der Resignation und i m Verzicht sehnt sich der Mensch nach einer A r t von Weisheit, die »von dem Verstände in das Herz« dringt und die »uns gesittet, liebreich, großmütig, gelassen und i m Stillen ruhig macht«, schreibt die schwedische Gräfin. So wendet sich die Resignation in Lust und schließlich in Lebensfreude: » W i r haben alle eine Pflicht, uns das Leben so vergnügt und anmutig zu machen, als es möglich ist«, bemerkt sie an anderer Stelle. M a n darf nicht vergessen, daß der Roman i n der ersten Person geschrieben ist, die Gräfin also ihr eigenes Leben erzählt; und einer Dame ziemt eine gewisse Diskretion und Zurückhaltung. Geliert zufolge sollen die Vernunft und die Hingabe an den Willen Gottes, oder besser: an das Schicksal, alle Schwierigkeiten des moralischen Lebens überwinden, auch die schwersten und nicht voraussehbaren. Der Einzelne muß seine Gefühle beherrschen und die moralischen und religiösen Gesetze befolgen. N u r so erklärt sich das Verhalten der Gräfin zwischen den beiden Männern, dem H e r r n von R. . . und dem totgesagten, doch wiedererstandenen Grafen, ihren beiden Ehegatten: die erste Heirat ist die einzig gültige, und die Dame verläßt sofort ihren zweiten Gatten, um zum ersten zurückzukehren. Die Weisheit liegt darin, die Schwierigkeiten zu fliehen, sie zu meiden und ohne Schaden zu überwinden; hierauf sammelt sie um sich einen kleinen Freundeskreis, in dem sie lebt. Graf und Gräfin haben sich wiedergefunden und leben gemeinsam m i t dem H e r r n von R. . ., der die Gräfin während der Abwesenheit und des vermeintlichen Todes des Grafen geheiratet hatte, nun aber ihrem ersten Gatten überläßt, und m i t Caroline, einer Geliebten des Grafen aus der Zeit vor seiner Heirat. Über diesem Roman der familiären Tugenden und der Ergebenheit in den W i l l e n Gottes scheint der Hauch des Libertinismus zu schweben; er ist aber Ausdruck jener Umsicht, mit der jeder Schwierigkeit bewußt aus dem Wege gegangen w i r d . M a n muß die Leiden auf sich nehmen, doch ist das Ziel des Lebens die moralische Zufriedenheit; und wer das Unheil i m Vertrauen auf die Vorsehung erträgt, die es ja gesandt hat, kann nachher über die vergangenen Zeiten und das 138 Die Ähnlichkeiten lassen sich offensichtlich auf die Verwendung der gleichen Quelle — des moralischen Romanes v o n Richardson — zurückführen. Bei beiden geht jedoch die Freude am moralisierenden Kommentar auf die Überlieferung der französischen Moralisten u n d Memorialisten zurück.

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Leid nachdenken, das sich i n der Erinnerung versüßt, wenn Seelenruhe und Friede wiedereingekehrt sind. Geliert glaubt, daß die Vorsehung auf das Gute und die Zufriedenheit der Geschöpfe abzielt, und bekräftigt die Überzeugung der Aufklärung vom Leben i n der besten aller möglichen Welten. I n der Auseinandersetzung m i t den Erkenntnissen der Aufklärung hat sich aber die christliche Vorstellung von der göttlichen Vorsehung zu dem mechanistischen Gedanken von einem notwendigen Zusammenhang unter den einzelnen Ereignissen gewandelt; Vernunft und Notwendigkeit fallen zusammen — und Gott w i r d m i t der Vernunft gleichgesetzt. Gerade in dieser Verwandlung der Vorsehung i n die mathematische und mechanische Vernunft, in das Gesetz von Ursache und Wirkung, das schließlich i n ein den Geschöpfen dienliches Ziel mündet, liegt der größte Widerspruch, in den sich Gellerts Versuch, Christentum und Aufklärung einander anzugleichen, verwickelt hat. Dem Christen dient der Glaube dazu, das Schicksal zu überwinden, nicht es zu bestätigen und geheiligt zu wissen. U n d gegen das Geschick, gegen die Anerkennung des Schicksals, in dem man den Willen Gottes erblickt, erhebt sodann die nächste Generation Einwand. Für Geliert und die ihn umgebende Gesellschaft war diese Auflehnung gegen die Vorsehung, diese Rebellion eine Gotteslästerung und das Vorzeichen des Zusammenbruchs, des Endes. Das Aufgehen im Verzicht, die Unterwerfung unter das Leiden und Ertragen waren Ausdruck der pietas; und deshalb erwacht die Leidenschaft, deshalb w i r d Werthers T o d in jener Zeit solch unerhörten Anstoß erregen 130 . Gellerts Herrschaft i m Kreise der Bremer Beiträger, die ihm von ganz Deutschland übertragene Führerrolle war nicht nur das Ergebnis seiner Versuche, zwischen der Wahrheit der Religion und den Gedanken der A u f klärung auszugleichen, sondern des Auftretens einer gewissen Empfindsamkeit und jener subjektiven Züge i n seinem Werke, w o r i n die Menschen jener Zeit ihr eigenes A b b i l d und sich selbst gedeutet sahen. Die innere Spannung zwischen der Forderung nach moralischen und religiösen Normen, die zum Ausdruck eines auferlegten Mißgeschickes wurden, und dem subjektiven Antrieb spiegelt sich i m Werke desto weniger, je mehr der Dichter die Unversöhnlichkeit des persönlichen Gefühls m i t dem Moralgesetz erkannte. Dennoch gab er den i m Roman am gewagtesten unternommenen Vermittlungsversuch zwischen Aufklärung und religiöser Tradition nie ganz auf; das beweisen auch die 'Moralischen Vorlesungen'. I n diesem Bestreben gingen jedoch sein seelisches Gleichgewicht und das Wertvolle in seiner Dichtung verloren; sein Geist verstieg sich, den sittlichen und religiösen Schemata folgend, bis zur Anpassung an einen strengen Konformismus. 130 Der H i n w e i s auf Beziehungen zwischen Gellerts Roman u n d 'Werther* stammt v o n F. Brüggemann, op. cit.

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Gellerts Weltanschauung baut so, wie sie sich an all seinen Werken offenbart, auf den von allen anerkannten Begriff der Tugend; sie w i r d als die entscheidende Eigenschaft verherrlicht, sie ist die höchste Richtschnur jeglichen Urteils: gut ist der Mensch, der sie besitzt, welchem Stande auch immer er angehört, ein Bösewicht, wer sie mißachtet, sei er selbst ein K ö n i g oder Fürst. A u f diesen Tugendbegriff stützen sich die häufigen sozialkritischen Hinweise i n Gellerts Werk, baut seine Mißbilligung der Vorrechte der Geburt. Die Tugend ist nicht mehr, wie i n vergangenen Zeiten, eine Eigenschaft des Geistes, sondern der Seele; sie drückt sich in der Verbundenheit des Menschen m i t seinem Nächsten aus, i n einem Gefühl der Anteilnahme am Gemeinwohl. W e i l sie der Seele den Frieden gibt, ist es weise, den Leidenschaften eine Grenze zu setzen, wie schwer das auch fallen mag; jeder verhelfe dem anderen zu seinem Glücke und empfinde dessen Glück als sein eigenes. Dabei handelt es sich aber weniger um einen caritativen Zug als um Opportunismus, gleichsam um einen Vertrag zum wechselseitigen W o h l ergehen unter den Menschen 1 4 0 ; eine ähnlich volkstümliche M o r a l drücken die 'Moralischen Gedichte' aus. M i t Recht hat man beobachtet 141 , daß dabei i n 'Der Christ' das B i l d des Heilands nur beschworen w i r d , um die Gebote eines sittlichen und religiösen Lebens zu heiligen. Es wäre wenig eindrucksvoll, Beispiele für die verschiedenen Deutungsund Anwendungsarten des Tugendbegriffs i n Gellerts Werk aufzuzählen; viel wichtiger ist es darzulegen, w o r i n er eigentlich besteht. Dabei kann man beobachten, wie sich die Auffassung von der Tugend i m Lauf des Werkes — vom ersten bis zum dritten Buch der 'Fabeln und Erzählungen', den 'Amoralischen Gedichten' und den vorzüglich erzieherischen unter den 'Geistlichen Oden' — der Erfahrung immer mehr entfremdet und schematisiert w i r d , wie auch der Dichter selbst i m V o r w o r t zu den 'Geistlichen Oden und Liedern' feststellt. Nach Brüggemanns Beobachtung 142 verbreitet sich i m zweiten Teile des Romanes ein größerer Pessimismus i m Hinblick auf die menschliche N a t u r , schwindet das Vertrauen i n die Fähigkeit des Verstandes, zur Tugend zu erziehen. I n den 'Moralischen Gedichten' jedoch sind der Gegensatz und die Spannung zwischen Rationalismus und Subjektivität, Vernunft und Gefühl geschwunden; während Geliert auf das Gefühl verzichtet und es immer mehr zurückdrängt, geht i h m auch die Poesie verloren. Wie aus den Briefen ersichtlich 143 , beginnt sich gerade damals i n ihm der Gedanke festzusetzen, sich der von ihm selbst in den Gedichten gepre140 V g l . : 'Reichtum u n d Ehre', i n : Gellerts sämtliche Schriften, I I . Bd. Hans M . Wolff , op. cit., S. 178 f. 142 F. Brüggemann, Deutsche Literatur, Reihe A u f k l ä r u n g , B d V . 143 V g l . besonders die Briefe an Borchward (in: Nachtrag zu C. F. Gellerts freundschaftlichen Briefen, Berlin 1870) u n d auch den Brief v o m 11. Januar 1764 an Demoiselle Lucius. 141

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digten M o r a l zu unterwerfen. Er strebte nach der Würde, die es ihm erlaube, jene Thesen zu behandeln, die ihm am höchsten und für eine Belehrung am zweckdienlichsten zu sein schienen; der Dichter wurde zum Prediger und vergaß auf die Scheidung zwischen Poesie und Beredsamkeit. Der Tugendbegriff, der für die Aufklärung einerseits seit Thomasius als das zweckmäßigste Streben überliefert war, mit der Vernunft das Wahre zu erfassen 144 , und den andererseits J. A . H o f f m a n n 1 4 5 als die aktive H i n gabe an eine Aufgabe bestimmt hatte, w o r i n der Mensch Befriedigung und innere Zufriedenheit finde, wurde von Geliert berichtigt und durch einen gefühlsbetonten Zug bereichert, der von einer durch Mosheim i n Deutschland bekannt gewordenen Gefühlsmoral abgeleitet war. Shaftesbury hatte von einem moral sense gesprochen; daraus schloß Hutcheson auf einen göttlichen Ursprung des moralischen Empfindens, während Fordyce die nötige Verbindung zwischen Religion und Tugend herstellte. V o n der Gefühlsmoral ausgehend sah Geliert i m Gefühl das Verbindungsglied zwischen der an und für sich auch dem Atheisten erreichbaren und zur Tugend führenden Vernunft und der Offenbarung, die allein die Tugend zu ihrer V o l l endung führen k ö n n e 1 4 6 . Die Offenbarung wies auf »das natürliche Verderben des Menschen« hin, lehrte ihn »Zufriedenheit m i t seinem Zustande«, »Demut« und stetes »Vertrauen auf Gottes Vorsehung«, wie die Überschriften einiger der 'Geistlichen Oden und Lieder' verkünden. I n der T u gend sah man die Übung der Fähigkeit, den Egoismus zu überwinden, die Begierden niederzuzwingen und auf die Vorsehung zu vertrauen, wodurch sich die Seele den Forderungen der M o r a l und den Geboten der Religion unterwirft. I n einer der 'Moralischen Vorlesungen' 1 4 7 beklagt sich Geliert aber, die gestellten Anforderungen nicht erfüllen zu können, unfähig zu sein, die Leidenschaften, Wünsche und Triebe zu unterjochen; w i r verweisen dabei auf den Zwang, unter dem ein Leben steht, dem es unmöglich ist, die auftretenden geistigen Kräfte angemessen zu äußern; die Seele windet und peinigt sich, Gefühl und Vernunft stimmen nicht überein. Tatsächlich stand das Geistesleben i m damaligen Deutschland unter einem Zwang und mußte Verzicht leisten. H . Paustians 1 4 8 Bemerkungen über Geliert und seine Lust, sich selbst zu quälen und seine Seele zu zerstören, und das Verständnis für das Tragische 144

Christian Thomasius, Sitten-Lehre, 1692, Einleitung. Z w e i Bücher v o n der Zufriedenheit, H a m b u r g 1722—1745. D i e 'Moralischen Vorlesungen* entwickeln i n ihrer Gesamtheit den Tugendbegriff i n neuer Sicht. 147 V g l . die 10. Vorlesung. 148 H . Paustian, D i e L y r i k der Aufklärungszeit als Ausdruck der seelischen E n t wicklung 1710—1770, K i e l 1932. 145

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an diesem Dichter der religiösen Hingabe treffen zu, auch ohne daß man nach bisher unbekannt gebliebenen Vorkommnissen i n seinem Leben, einer Begründung i n der Krankheit oder mittels der Individualpsychologie suchen müßte. H . Joswig 1 4 9 hat die tiefe Spannung erkannt, die den Menschen jener Tage zerriß: das vernunftmäßige Weltbild der Aufklärung war nicht mehr wiederherzustellen, ein unheilbarer Zwiespalt zwischen Verstand und Gefühl aufgerissen. Die religiösen Beschwörungen i n den 'Geistlichen Oden und Liedern' brechen aus dieser zerrissenen Seele hervor, aus ihr taucht die höchste Versuchung auf, die Verzweiflung. U n d wie die Tugend i n den Lustspielen durch irgendeinen Zufall belohnt w i r d , so greift i m Roman und i n den 'Geistlichen Oden und Liedern' Gott selbst ein, um den Zwiespalt zwischen Vernunft und Herz, zwischen Religion und N a t u r zu heilen. N u r i n der vollen Hingabe an den Willen Gottes, wie sie etwa der Quietismus kennt, ist H o f f n u n g ; die Gelassenheit, eine reine Gabe der Gnade, umspannt nun jegliche Tugend, sie ist die Tugend schlechthin. H . Joswigs Untersuchung, die den Verlust jeglicher Sicherheit und auch des Zusammengehörigkeitsgefühles der Menschen untereinander ebenso wie das Eindringen eines tiefen Zweifels darlegt, schließt nicht aus, daß es dem Dichter gelänge, sich dem zu entziehen und i m Glauben und i n dem zu Gott erhobenen Gesang all das zu überwinden. Der Dichter unterschied auch i m Metrum und i m Rhythmus zwischen den i n erster Linie erzieherischen unter den 'Geistlichen Oden und Liedern' und den von Herzen kommend e n 1 5 0 , zwischen den einer vernunftmäßigen Hingabe und den dem Glauben an die geoffenbarte Wahrheit entsprungenen 151 . U n d wenn der einfache Glaube spricht, dann wandelt sich das Gesagte i n Poesie. I n der Geschichte des Kirchengesanges zählt Geliert zu den letzten, die diese Gattung, die eher zur Geschichte des Gottesdienstes als der Literatur gehört, zu wahrer Dichtung zu erheben verstanden hatten. U n d zweifellos w i r d man ihn nicht wegen der Dichte und der K r a f t seines Gesanges m i t Luther vergleichen können; i n der unterwürfigen Anbetung Gottvaters aber befreit sich des Dichters Seele plötzlich von der Qual des Geistes und der Furcht, kehrt sie 149 H o r s t Joswig, Leidenschaft u n d Gelassenheit i n der L y r i k des 18. Jahrhunderts v o n Günther bis Goethe, Berlin 1938, Neue deutsche Forschungen V I I . 150 Vgl. Gellerts 'Vorrede' zu den 'Geistlichen Oden und Liedern'. 151 Gellerts religiöse Gedichte wurden verschiedentlich untersucht. V g l . K . Biedermanns 'Einleitung' zu der v o n i h m selbst besorgten Ausgabe, Leipzig 1871; E m i l Werth, Untersuchungen zu C. F. Gellerts Geistlichen Oden u n d Liedern, Diss. Breslau 1936; W . Nelle, Gerhardt, Rist, Tersteegen, Geliert i n unseren heutigen Gesangsbüchern, Monatsschrift für Gottesdienst u n d kirchliche Kunst X ( M a i 1905); P. M a t thaeus Schneiderwirt O. F. M., Das katholische deutsche Kirchenlied unter dem E i n flüsse Gellerts und Klopstocks, Münster 1908, Forschungen und Funde, B d I , H e f t 1; P. Sturm, Das evangelische Gesangsbuch der A u f k l ä r u n g , 1923; W . Werkmeister, Der Stilwandel i n deutscher Dichtung und Musik des 18. Jahrhunderts, Berlin 1936, Neue deutsche Forschungen I V .

Alessandro Pellegrini

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zum Ursprung und zur Einfachkeit zurück und legt sie dem zum Gebet versammelten Volke die Worte i n den M u n d : Der Tag ist wieder hin, u n d diesen Teil des Lebens, Wie hab' ich ihn verbracht? . . .

Der Gedankenreichtum und die innere Bewegung verleihen dem Gedichte 'Prüfung am Abend' etwas überraschend Zeitgemäßes: G o t t , der du alles weißt, was k ö n n t ' ich dir verhehlen?

Jeder Beter spricht für sich zu Gott, doch geht die Stimme des Einzelnen i m Chore der Gemeinschaft auf; und i n der Verzweiflung kehrt auch der Dichter zum gemeinsamen Gebete zurück. Die 'Religiösen Lieder' stammen aus dem Jahre 1757 und sind Gellerts dichterisches Vermächtnis. I h r Erfolg war überwältigend, ihre Verbreitung i n Deutschland ungewöhnlich; den Grund hierfür finden w i r in einem Brief Rabeners an den D i c h t e r 1 5 2 : »Bisher habe ich Sie als meinen besten Freund aufrichtig und zärtlich geliebt; ich habe nicht geglaubt, daß meine Achtung für Sie noch höher steigen könnte, als sie w a r ; aber sie ist i n der T a t noch um einen ziemlichen Grad höher gestiegen. Liebenswürdig sind sie m i r allzeit gewesen, aber nun sind Sie m i r auch ehrwürdig. Ich nehme dieses W o r t i n seinem weiten und prächtigen Umfange . . . Sie dürfen keinen Augenblick zweifeln, daß Sie mit diesen Ihren frommen Gedichten erbauen werden. Die Erbauung w i r d doppelt sein, da die Welt Sie bereits auf einer so vorteilhaften Seite kennt. Durch Ihren W i t z haben Sie die gerechten Vorurteile des Publici gewonnen, welches nichts anders, als etwas Lehrreiches, Tugendhaftes und Vollkommenes erwartet, so bald es Ihren Namen erblickt. Wie vorteilhaft w i r d nunmehr dieses Zutrauen der Welt für unsere heilige Religion sein! Ihre Fabeln und Lehrgedichte haben die Leser zu denen erhabenen Gedanken vorbereitet, die sie nunmehr i n Ihren geistlichen Liedern finden . . .« Tatsächlich spricht Rabener nicht von Poesie, sondern von religiöser Erbauung; der Dichter hatte den ganzen Weg durchschritten und war i n den Stand eines zwar ungeweihten, doch für sich selbst und für ganz Deutschland nicht weniger rechtschaffenen Priesters erhoben worden — und er belastete sich m i t weit mehr als nur ästhetischen Fragen. Dem Leser, der diejenigen Gedichte herausgreifen möchte, i n denen der wahre Dichter spricht, fällt die Wahl nicht schwer: 'Bitten', 'Die Ehre Gottes aus der N a t u r ' , 'Gelassenheit', 'Die Güte Gottes', 'Abendlied', 'Allgemeines Gebet' und einige andere; an keinem einzigen bemerken w i r jene 152

Cramer berichtet dies i n seiner Gellert-Biographie, S. 74.

D i e Krise der A u f k l ä r u n g

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stilistische Strenge, die den besten Fabeln eigen ist. Diese Oden und geistlichen Lieder gehören eher in die Geschichte der Sitten und Gebräuche und des Glaubens i n Deutschland als i n die deutsche Literaturgeschichte. Behrend sagte: »Bei dem Ansturm der Freigeisterei ist der weithin angesehene Geliert ein Bollwerk des Glaubens geworden.« 1 5 3 I m letzten Abschnitte seines Lebens schrieb und vereinigte Geliert die 'Moralischen Vorlesungen' und stellte einen Auswahlband her, aus dem er seinen Zuhörern immer wieder vorlas und den er nach seinem Tode veröffentlicht wissen wollte. Christian G a r v e 1 5 4 hatte i n ihnen von Anfang an Züge einer Popularphilosophie erkannt, und die Betreuer der posthumen Ausgabe, J. A . Schlegel und G. L . H e y e r 1 5 5 , schrieben, daß der Verfasser mit ihnen keinen theoretischen, sondern einen praktischen Zweck verfolgt habe. H i e r wiederholen sich die bereits dargestellten Gegensätze i n Gellerts Geist und Seele, hier verweist er auf den Wert der Empfindung des Herzensy auf »die moralische Empfindung . . ., einen Trieb des Herzens und Gewissens, der uns belehret und fühlen l ä ß t « 1 5 6 und uns vom Gefühl her über den sittlichen Wert unserer Absichten unterrichtet. Die Bejahung der Empfindung genügt an sich bereits, um den strengen Rationalismus der A u f k l ä rung zu durchbrechen, und die 'Vorlesungen' fahren an H a n d der Gefühlsmoral m i t der Umbildung des Tugendbegriffes fort. Die moralischen Überlegungen werden auch i n diesen Vorlesungen schulmeisterlich, jede einzelne Tugend w i r d gepriesen, genau umschrieben und empfohlen; unter den christlichen Tugenden 1 5 7 hebt Geliert besonders die Ergebung und die Demut hervor, die er »eine stets fortdauernde Dankbarkeit gegen den A l l mächtigen« 1 5 8 nennt. Die 'Moralischen Vorlesungen' haben für uns nur geschichtliche Bedeut u n g 1 5 9 ; sie können uns die Auflösung des Rationalismus erläutern. Als Geliert eine Lösung der Krise unmöglich geworden war, flüchtete er sich immer tiefer i n das religiöse Leben. Des Dichters Erscheinung i n den letzten Jahren seines Lebens blieb i m Gedächtnis der Deutschen haften: ein kränklicher und gottesfürchtiger Mann, dessen Erdenwandel und Worte jeden Suchenden erbauen. Dieses B i l d wurde auch am tiefsten geliebt und geehrt. Das einfache V o l k Leipzigs und die rauhen Besatzungssoldaten, die preußischen Fürsten, das sächsische Königshaus und die Würdenträger der öster153

F. Behrendy D i d a k t i k u n d religiöse L y r i k , S. 30.

154

C . Garvey

155

op. cit.

V g l . das ' V o r w o r t ' v o n J. A . Schlegel und G. L . Hey er zur Ausgabe v o n 1770, der ersten Veröffentlichung der 'Moralischen Vorlesungen'. 156 I n der 1. Vorlesung. 157 I n der 19. Vorlesung. 158 I n der 20. Vorlesung. 159 Y g i Else Höhler, Gellerts Moralische Vorlesungen, Diss. Heidelberg 1921.

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Alessandro Pellegrini

reichischen Monarchie versicherten den Dichter ihrer Hochachtung und ihrer Liebe. Die Vielfalt unserer geschichtlichen Betrachtung Gellerts läßt sich aber keinesfalls entwirren oder auflösen. I n der Literatur jenes Zeitabschnittes ist seine Rolle recht genau abgegrenzt: i n seinem Werke zeigen sich das Zusammentreffen der verschiedenen Ströme der Aufklärung und ihre Krise. Sein vorbildlicher Stil, die i n den Fabeln und Erzählungen, den Lustspielen, i m Roman und i n den Briefen entwickelte literarische Ausdrucksweise und schließlich seine vorbildlich hohe Meinung von der Würde und Aufgabe des Dichters frommten den folgenden Generationen. Lessing, Wieland und Goethe ließen sich durch ihn belehren, während Klopstock die Vorbehalte zerstreute, die diese neue Empfindsamkeit an ihrem Ausdrucke hinderten. I n der Blütezeit der Klassik und danach w i r d man Geliert übergehen, er w i r d schließlich ganz der Vergessenheit anheimfallen: der Dichter, dessen Name — zumindest wegen seiner 'Fabeln und Erzählungen' — i n der deutschen Literatur dennoch m i t dem über den literarischen Zeitabschnitt hinausgreifenden Beiwort eines (wenn auch zweitrangigen) Klassikers bedacht w i r d .

ROMANTISCHE

ANTITHETIK

I N WORDSWORTHS

'PRELUDE'

V o n H e r m a n n Fischer

Die Wordsworthkritik

h a t o f t a u f die a n t i t h e t i s c h e n o d e r p o l a r e n

Ele-

m e n t e i n dieses g r o ß e n englischen R o m a n t i k e r s W e l t e r f a h r u n g u n d P h i l o s o p h i e 1 u n d auch i n seiner B i l d e r - u n d S y m b o l s p r a c h e 2 h i n g e w i e s e n . D a b e i h a t m a n auch i m m e r , u n d v o r a l l e m i m H i n b l i c k a u f W o r d s w o r t h s

Hauptwerk,

das a u t o b i o g r a p h i s c h e E p o s ' T h e P r e l u d e , o r G r o w t h o f a Poet's

Mind'3

festgestellt, d a ß sich d i e A n t i t h e t i k d e r E l e m e n t e ( i m D e n k e n u n d i m sprachl i c h e n G e s t a l t e n ) n i c h t m e h r i n e i n e r sauberen, r a t i o n a l e n S c h e i d u n g des P o l a r e n erschöpft, w i e das i n d e r D i c h t u n g des 18. J a h r h u n d e r t s d e r F a l l w a r , die j a i n E n g l a n d g e r a d e z u v o n d e r A n t h i t h e s e n v e r w e n d u n g s o n d e r n d a ß W o r d s w o r t h s panentheistische, e n t h u s i a s t i s c h - e m o t i o n a l e ,

lebte4, irra-

1 Siehe etwa A r t h u r Beatty, W i l l i a m W o r d s w o r t h : H i s Doctrine and A r t in their H i s t o r i c a l Relation, Madison (University of Wisconsin Press) 1922; M . Rader, Presiding Ideas i n Wordsworth's Poetry, Seattle (University of Washington Press) 1931; R a y m o n d Dexter Havens , The M i n d of a Poet: A Study of Wordsworth's Thought w i t h Practical Reference to the Prelude, Baltimore (The Johns H o p k i n s Press) 1941; N e w t o n P. Stallknecht, Strange Seas of Thought, D u r h a m (Duke U n i versity Press) 1945; E. D . Hirsch Jr., W o r d s w o r t h and Schelling, N e w H a v e n (Yale University Press) 1960; John Jones, The Egotistical Sublime: A H i s t o r y of Wordsworth's Imagination, L o n d o n 1964. 2 Siehe etwa Florence Marsh, Wordsworth's Imagery, N e w H a v e n (Yale U n i versity Press) 1952; D a v i d Ferry, The Limits of M o r t a l i t y , M i d d l e t o w n , Conn. (Wesleyan University Press) 1959; Geoffrey H . Hartman , The Unmediated Vision, N e w H a v e n (Yale University Press) 1954; ders. Wordsworth's Poetry 1787—1814, N e w H a v e n (Yale University Press) 1964. 3 A l l e T r e l u d e ' - Z i t a t e i n diesem A r t i k e l basieren auf dem T e x t der Endfassung des Werkes v o n 1850, wenn nicht ausdrücklich ein Bezug auf die Frühfassung v o n 1805 — bezeichnet durch [1805] — vermerkt ist. D i e benützte Ausgabe ist Ernest de Selincourts V a r i o r u m E d i t i o n in der durch Helen Darbishire revidierten 2. Auflage m i t dem T i t e l : W i l l i a m Wordsworth, The Prelude or G r o w t h of a Poet's M i n d , Second E d i t i o n , O x f o r d 1959. 4 D i e A n t i t h e t i k spielt i n der neoklassischen englischen Dichtung nicht nur i m Arrangement der Einzelzeile oder des couplet , also als rhetorische, metrisch unterstrichene Figur eine wichtige Rolle, sie bestimmte auch o f t größere Bauformen. Für die Gedanken des vorliegenden Aufsatzes erhellend wäre etwa ein H i n w e i s auf die Gegenüberstellung der Porträtgalerie der Königsfeinde u n d der Galerie der Königstreuen i n John Drydens 'Absolom and Achitophel Γ v o n 1681 oder die Opposition zweier negativer Porträts (Atticus u n d Sporns) m i t zwei positiven Charakteren (des Adressaten u n d des Dichters selbst) i n Alexander Popes 'Epistle to D r . A r b u t h not' v o n 1734.

7 Literaturwissenschaftlichcs Jahrbuch, 7. Bd.

H e r m a n n Fischer

98

t i o n a l erlebende — also z u t i e f s t r o m a n t i s c h e N a t u r i m m e r w i e d e r d i e gegenseitige A u s s c h l i e ß l i c h k e i t des A n t i t h e s e n m o d e l l s d u r c h b r i c h t ; d a ß er i n d e r P h i l o s o p h i e v o n d e r P o l a r i t ä t des P o s i t i v e n u n d N e g a t i v e n z u S y n t h e s e n weiterschreitet 5;

u n d Einheitserfahrungen minglings denen

u n d blendings Elemente

z u einer »rhetoric

d a ß es i n d e r B i l d e r s p r a c h e

zu

d e r a m A u s g a n g s p u n k t v i e l l e i c h t d i a m e t r a l geschie-

kommt,

zu

einer

of interaction «7

interfusion

6

der

Naturphänomene,

o d e r w i e i m m e r m a n diese E r s c h e i n u n g

nennen w i l l . D a ß sich ä h n l i c h e B e t r a c h t u n g e n auch f ü r

d i e episodische

Aufbaustruk-

t u r des ' P r e l u d e ' a n s t e l l e n lassen, ist n u r i n n e u e r e n A r b e i t e n , u n d auch d a n u r a m R a n d e gesehen w o r d e n 8 . G e w i ß ist h i e r die A n t i t h e t i k n u r e i n B a u p r i n z i p u n t e r a n d e r e n w i e z. B . chronologische R e i h u n g , a s s o z i a t i v e spinnung,

zyklische

(auch d i e E r f ü l l u n g

Wiederkehr,

Wechsel v o n

des g r ö ß e r e n ,

Erzählung

q u a s i archetypischen

und

Fort-

Reflexion

dreiteiligen

Ab-

laufs v o n Kindheitsparadies, F a l l u n d E r l ö s u n g u n d die Steigerungsfigur der » r o m a n t i s c h e n P r ü f u n g s r e i s e « h a t m a n i n d e r S t r u k t u r des W e r k e s gelegent-

5 V o n neueren Arbeiten stellt dies am überzeugendsten E. D . Hirsch Jr., a.a.O., dar. Er geht frappierenden »typologischen« Entsprechungen zwischen Wordsworths philosophischem Denken u n d der N a t u r - u n d Identitätsphilosophie Schellings nach — frappierend w e i l beide Männer so gut wie keine Kenntnis voneinander hatten; u n d er findet prägnante Formeln für den obengemeinten Sachverhalt, wenn er etwa auf S. 16 v o n einem »pattern of mutual inclusivene ss« spricht u n d dieses pattern dann das »both-and motif « oder die »both-and logic« nennt. 6 W o r d s w o r t h hat selbst eine bezeichnende Vorliebe für Komposita u n d eigene Wortbildungen m i t inter -, wie interfuse , intertwine , intermingle , intercourse. M a n konsultiere hierzu Lane Cooper , A Concordance to the Poems of W i l l i a m Wordsw o r t h , L o n d o n 1911 unter den einschlägigen Vokabeln. Auch die Nachweisstellen für Vokabeln wie contrast , difference , oppose u n d opposite , set off , foil usw. können die hier berührten Fragen sehr erhellen. 7 Die Formulierung stammt v o n Herbert Lindenberger, dessen O n Wordsworth's Prelude, Princeton University Press 1963, Wordsworths »rhetoric of interaction « zwei K a p i t e l ( I I und I I I ) widmet. Aus der großen Z a h l v o n Arbeiten, die sich m i t dem Phänomen befaßt haben, seien nur Josephine Miles , W o r d s w o r t h and the Vocabulary of Emotion, Berkeley 1942, Marsh, a.a.O. u n d das eigenwillige, aber in manchen Punkten sehr instruktive neuere Buch v o n Hartman, a.a.O. erwähnt. 8 D i e meiste Anregung verdankt der Verf. der schon erwähnten Untersuchung v o n Lindenberger, a.a.O., v o r allem Chapter I V , 2 »The Larger Structure «, w o (S. 190 ff.) v o n einem »repetitive pattern of alteration« als A u f b a u p r i n z i p des 'Prelude' gesprochen w i r d , das dann allerdings weniger auf seine formalen Eigenschaften i m W e r k als vielmehr — etwas jargonhaft — auf seine psychologische Begründung in dem y>manic depressive movement of much Romantic art« untersucht w i r d . Hartman, Wordsworth's Poetry a.a.O., S. 187, u n d E a r l Wasserman, The Subtler Language, Baltimore 1959, S. 186, tragen wichtige Einzelheiten zu einem tieferen Verständnis des i n höheren Einheiten aufgehenden, nicht rationalistisch scheidenden Kontrastu n d Antithesendenkens v o n W o r d s w o r t h bei, wobei Wasserman mehr auf das Generationstypische der Erscheinung verweist, während Hartman Wordsworths E n t w i c k lung v o m antithetischen Gestalten der Frühwerke bis zum »blending of contrasts« i m 'Prelude' als poetischen Reifeprozeß nachweist.

Romantische A n t i t h e t i k i n W o r d s w o r t h s 'Prelude*

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lieh nachgewiesen9). Aber die Bau-»Technik« der A n t i t h e t i k oder des K o n trastierens oder der Opposition und Gegenüberstellung (alle diese Vokabeln sollen hier als mehr oder weniger austauschbare Benennungen für dieselbe Sache verwendet werden) lohnt es sich doch einmal herausgelöst zu betrachten 1 0 , da hier deutlich w i r d , daß dieses Prinzip sich in mehreren Schichten des Werkes, von der Einzelzeile bis zu weitgespannten Verbindungsbögen, nachweisen läßt und daß von daher ebenso interessante Aufschlüsse über des Dichters Stil, seine Arbeitsweise, sein Denken und seine stilgeschichtliche Position zu gewinnen sind wie über den organischen Werkcharakter des 'Prelude* und über die volle Bedeutung von Einzelpassagen. Das W o r t »herauslösen« muß selbstverständlich cum grano salis verstanden werden, denn die Untersuchung w i r d ergeben, daß wegen der schon erwähnten Tendenz zum Verschmelzen, zur Aufhebung klarer rationaler Scheidungen i n einigen großen Einheitsgedanken oder Erlebniseinheiten, die auch hier festzustellen ist, aber auch wegen der dynamisch-organischen N a t u r des 'Prelude' kaum etwas sich v ö l l i g isoliert betrachten läßt. E i n Satz aus Hartmann (Wordsworth's Poetry, a.a.O. S. 187) faßt diese Tatsache zusammen: »Through contrast everything is made distinct yet nothing is defined into absolute independent singleness. No sphere , no event .. . has exclusive properties.« U m die Betrachtung der architektonischen Rolle der A n t i t h e t i k i m 'Prelude' auf einen noch überschaubaren Raum zusammenzudrängen, w i r d i m folgenden die A n t i t h e t i k der durchgehend verwendeten Symbol- und Bildwelten nicht als eigener Punkt, sondern nur i m Zusammenhang mit der A n t i t h e t i k der Porträts und Episoden behandelt; und die Begründung so gut wie aller A n t i t h e t i k bei den Porträts und Episoden i n der zentralen philosophischen Thematik des 'Prelude', die selber antithetischen Charakter hat, w i r d soweit als bekannt, zumindest als bekannter Weltanschauungstypus vorausgesetzt, daß es für den Zweck dieses A u f satzes genügt, m i t Schlagwörtern darauf hinzuweisen. 9 Siehe Lindenberger, a.a.O. S. 190 u. 305 u n d R. A . Foakes, The Romantic Assertion, L o n d o n 1958. K a p . I V . 10 Nach Eberhard Lämmerts Einteilung der Bauformen des Erzählens würden w i r v o n derjenigen »korrelativen F o r m der V e r k n ü p f u n g mehrsträngiger Erzählungen« zu sprechen haben, bei der das » M i t t e l der Akzentuierung u n d Vertiefung« der »thematische Kontrast der Begebenheiten i n verschiedenen Schichten des erzählten Geschehens ist«; siehe E. hämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955, S. 52 f. — Z u m Gesamtaufbau des 'Prelude* gibt es wenig positive Urteile. Aus der älteren Forschergeneration hat nur Lascelles Abercrombie in The A r t o f Wordsw o r t h , O x f o r d U n i v e r s i t y Press 1952 (posthum) eine Verteidigung unternommen, indem er W o r d s w o r t h eine »power of psychological construction « zusprach, die in ihrer Weise geeignet sei, den Verlust der strafferen Bauprinzipien, wie sie der homerischen oder miltonischen E p i k eigen sind, auszugleichen. I n neuerer Zeit haben Lindenberger (a.a.O.) u n d Foakes (a.a.O.) sich zumindest generell u m ein besseres Verständnis der Gesamtstruktur bemüht. Aber Havens v e r t r i t t die immer noch v o r herrschende Meinung, wenn er sagt, daß »architectonics « nie Wordsworths Stärke gewesen seien (a.a.O. Bd. I I S. 452).

τ

100

H e r m a n n Fischer

I n einer kurzen Voruntersuchung anhand einer naturbeschreibenden Textstelle soll zunächst der eigenartige Charakter der A n t i t h e t i k und ihrer Durchbrechung bei Words w o r t h in nuce vorgeführt werden. Der H a u p t t e i l der Abhandlung w i r d dann gewisse i n der Voruntersuchung gewonnene Resultate auch für die Bauform größerer Passagen nachzuweisen suchen, und zwar zunächst am Beispiel der Porträtgegenüberstellungen und dann am Beispiel von antithetischen Bezügen zwischen weiter auseinandergespannten Passagen und Episoden. Eine knappe s t i l geschichtliche Auswertung des Befundes soll den Abschluß bilden. I m V I . Buch des 'Prelude' steht, kurz nach der berühmten Stelle, i n der Wordsworth seine Alpenüberquerung am Simplonpaß und das damit zusammenhängende mystische Gewahrwerden der »Power of Imagination« schildert, folgende Beschreibung seines Eindruckes von der Naturszenerie der Alpenwelt: The immeasurable height O f woods decaying, never to be decayed, The stationary blasts of waterfalls, A n d in the narrow rent at every t u r n Winds t h w a r t i n g winds, bewildered and forlorn, The torrents shooting from the clear blue sky, The rocks that muttered close upon our ears, Black d r i z z l i n g crags that spake by the way-side As i f a voice were i n them, the sick sight A n d giddy prospect of the r a v i n g stream, The unfettered clouds and region of the Heavens, T u m u l t and peace, the darkness and the l i g h t — Were a l l like workings of one m i n d , the features O f the same face, blossoms upon one tree; Characters of the great Apocalypse, The types and symbols of Eternity, O f first, and last, and midst, and w i t h o u t end.

625

630

635

640

Diese großartige Passage setzt ein m i t der deutlichen Absicht, den erhabenen Natureindruck, der da in der Erinnerung wiedererschaffen w i r d , intellektuell zu durchdringen m i t H i l f e von Antithesenverwendungen, die hier sogar die Form des Paradoxons annehmen. I n Zeile 625 ist das noch ganz deutlich formal balanciert durch den Einsatz des gleichen Wortes einmal i n affirmativem, einmal i n negativem Sinn: »woods decaying , never to be decayed«. I n der nächsten Zeile w i r d das Paradoxon von der vergänglichen Unvergänglichkeit am Beispiel eines anderen Naturobjektes, des Wasserfalls, wiederholt: er ist ein »stationary blast«, also ein Geräusch von explosionsartigem, trompetenstoßähnlichem, plötzlichem Charakter, das aber hier als dauerhaft, bleibend, statisch bezeichnet w i r d . Die Balance ist hier bereits lexikalisch und syntaktisch unauffälliger, unrhetorischer ge-

Romantische A n t i t h e t i k i n W o r d s w o r t h s 'Prelude*

101

worden, aber die Einheit der Zeile ist noch für den Gesamtkomplex gewahrt. I n den Zeilen 628—634 w i r d nun zwar der Grundgedanke der dynamischen Stasis noch lange unterirdisch weitergeführt — entgegengesetzte Winde heben sich i n ihrer Bewegung auf, Gießbäche stürzen herab aus einem H i m m e l , der doch unverändert klar bleibt, starre Felsen und K l i p p e n gewinnen Stimme oder verbinden sich m i t dem fließenden Element des Wassers, so daß sich Rinnsale darauf bilden — aber jede formalistische Rhetorik hat aufgehört. Das intellektuelle Antithesenspiel des Anfangs weicht Schritt für Schritt der unmittelbaren Vergegenwärtigung: die animistische Belebung alles unbelebt Scheinenden verschiebt den Ausgangsgedanken i n neue Dimensionen; eine neue Antithese — die zwischen den beengten und gefesselten Naturphänomenen auf der Erde und den ungefesselten Wolken i n der weiten Himmelsregion (V. 633—634) — überlagert die paradoxe dynamische Stasis von vorher und bringt weitere Bedeutungskomplexe m i t sich. A l l das ist nicht mehr, wie der Anfang, als rhetorische Figur durchdacht und formal bewußt balanciert — es kann gar nicht mehr nüchtern durchdacht werden, da es i n ein Gesamterlebnis zusammengeflossen ist, vor dessen Einheitscharakter der Dichter überwältigt steht. Diese Bewegung illustriert formal genau den Inhalt des Passus, der ja auch i m K o n statieren der Einheit alles Unterschiedenen kulminiert. Bei V . 635, w o das gedankliche Resümee einsetzt, w i r d noch einmal die antithetische N a t u r der Erfahrung aufgegriffen i n einer formal wieder v ö l l i g balancierten Zeile — »Tumult and peace, the darkness and the light « — aber i m Rest des Textes fließt das hier wieder getrennt Gesehene i n immer triumphalere Formulierungen seiner wesensmäßigen lebendigen Einheit zusammen, bis i n der irrationalen Abschlußzeile — » O / first , and last, and midst , and without end« — die Fusion vollkommen ist. Dieser Prozeß, den Hartmann »confrontation and engulfment« n e n n t 1 1 und dessen H e r k u n f t aus dem Wesen romantischen Denkens und Dichtens W . K . Wimsatt scharfsinnig durchdacht h a t 1 2 , zeigt die Charakteristika von Wordsworths Gebrauch und Überwindung, oder besser Ubersteigung, der klassischen Denkfigur der Antithese: ihre Nachweisbarkeit i m Ausgangsp u n k t ; ihre alsbaldige Abwendung von der Balanciertheit des parallelistischen Zeilenmodells; das Verlassen auch des gedanklichen Modells der A n t i these unter dem Eindruck des evozierten Erlebnisses; die Wiederaufnahme der Antithese an dem Punkt, an dem die gedankliche Essenz der ganzen 11

Hartman, Wordsworth's Poetry, a.a.O. S. 227. Siehe das K a p i t e l »The Structure of Romantic Nature Imagery « in W . K . W i m satt, The Verbal Icon, Lexington (University of Kentucky Press) 1954, S. 103—116. Z u r komplexen u n d synthetischen N a t u r des romantischen Bildes oder Symbols siehe auch Foakes, a.a.O., K a p . I — I I I u n d Morse Peckham, T o w a r d a Theory of Romanticism, P M L A 66 (1951), S. 5—23. 12

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Bildvorstellung gegeben werden soll; und ihre schließliche gedankliche und erlebnismäßige Uberwindung durch den zentralen Einheitsgedanken des 'Prelude'. Was hier i n einem kurzen Versabschnitt sichtbar w i r d , ist, stilgeschichtlich betrachtet und simplifiziert ausgedrückt, die Aktivierung und zugleich die Aufhebung eines Kunstmittels der klassischen und klassizistischen Poesie und Rhetorik aus dem Geiste der Romantik. Dieser Prozeß soll nun, auseinandergefaltet i n einzelne Stufen fortschreitender Annäherung an den romantischen Antithesenmodus, anhand von Porträtgegenüberstellungen i m 'Prelude' illustriert werden. Das, was die interpretierte Passage ergeben hat, kann dabei allerdings nur zum Teil als richtungsbestimmendes Beispiel dienen; denn die Porträts, um die es sich handelt, stammen alle aus den »nonvisionary books« 13 des 'Prelude', und dort geht es primär nicht um so große, metaphysisch bestimmte Gegenüberstellungen wie T o d und Leben, Vergänglichkeit und Ewigkeit, Bewegung und Ruhe, sondern um eine »weltlichere« Ausprägung der zentralen Thematik des 'Prelude', nämlich um den Gegensatz zwischen menschlichen Verhaltensweisen, die aus dem imaginativen Einklang der Seele m i t der belebten, von Gott durchwirkten N a t u r resultieren, und solchen, die sich aus einer Naturentfremdung ergeben. Daß diese A n t i these i m philosophischen »System« des Werkes letztlich doch auf die großen Gegensätze von Zeit und Ewigkeit, Leben und Tod, D y n a m i k und Stasis bezogen sind, w i r d bei der Interpretation der Beispiele deutlich werden. Unter den Porträtoppositionen i m 'Prelude' bietet sich zunächst eine als besonders einfaches Beispiel an — einfach deshalb, weil sich aus der Entstehungsgeschichte der betreffenden antithetischen Passage Wordsworth bewußtes K a l k ü l deutlicher als je sonst ableiten läßt. I m Buch V I I schildert der Dichter seine Eindrücke von London, w o er i m Jahr 1791 einige Monate verbrachte. I m Zuge der i m wesentlichen additiven Reihung von Impressionen und Erlebnissen kommt er auf das Thema »Rednerpersönlichkeiten« zu sprechen. H i e r ging i n der Frühfassung des Gedichtes von 1805 die simple Reihung der meist negativ, befremdet, k r i tisch gezeichneten Phänomene des ihm verhaßten Großstadtlebens weiter: auf eine m i l d ironische (und selbstironische) Lobrede auf einen großen Gerichtsredner (V. 523—542 [1805]) in mock-heroischem T o n 1 4 und m i t einer das ganze Lob entwertenden A n t i k l i m a x am Ende 1 5 folgte ursprünglich ein 13 Der Ausdruck stammt v o n Lindenberger (a.a.O.), der ihn als U n t e r t i t e l seines achten Kapitels geprägt hat. 14 Der mock-heroische T o n ist durch wörtliche Anlehnungen an Shakespeare u n d M i l t o n gewürzt (s. Selincourt, a.a.O. S. 565). 15 Die Skizze endet damit, daß der große A u f w a n d des Redners an Pathos u n d Rhetorik nach einer Weile der Faszination als leeres Blendwerk entlarvt w i r d : selbst der junge Bewunderer (Wordsworth) verfällt der Langeweile.

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weit schärferes satirisches Porträt eines eitlen Kanzelredners (V. 543—565 [ 1 8 0 5 ] ) 1 6 . I n der Endfassung von 1850, die i n manchen Punkten die schroffe Attacke gegen das Großstadtleben abmildert (ähnliches ist i n Buch I I I , dem Cambridgebuch, zu beobachten), steht zwischen den beiden negativen Porträts ein positives. Der inzwischen abgeklärtere Dichter war offensichtlich bemüht, die einseitig ablehnende Stellungnahme zu dem Thema Rednerkunst i n London durch ein anerkennendes Beispiel zu balancieren. So schob er — w o h l schon bald nach 1820 — einen enkomiastischen, sehr rhetorischen Passus über den großen Redner Edmund Burke i n die erste Handschrift ein; und dieser Passus blieb dann — nachdem zwischen 1828 und 1832 noch eine in ihn eingebaute rühmende Anspielung auf den Whig-Politiker Fox Wordsworths wachsendem Konservativismus zum Opfer gefallen war — i n der Fassung von 1850 stehen, als Kontrast zu dem vorhergehenden mockheroischen Juristen- und zu dem nachfolgenden satirischen Predigerporträt 1 7 . So charakteristisch dieses H i n - und Herwechseln zwischen positiv und negativ bewerteten Exempeln zu einem Thema für den Stil und Bau des 'Prelude' ist, so ungewöhnlich ist hier die klar scheidende, aufdringlich formelle, objektivierende, blockartig antithetische Disposition, die auch noch dadurch besonders ins Auge sticht, daß sich Wordsworth sehr stark verschiedener konventioneller Gattungsvorbilder der klassizistischen Dichtung bedient: des mock-heroischen und des satirischen Porträts auf der einen und des panegyrischen Porträts auf der anderen Seite. Die Gegenüberstellung hat dadurch einen klassizistischen Charakter, der bei Wordsworth nur dort denkbar und möglich ist, w o der Dichter selber relativ wenig engagiert oder emotional involviert ist, d. h. dort, wo seine ureigensten persönlichsten A n liegen nicht berührt sind; wo er nicht Erlebnis nachschafft, sondern rational reflektierte Stellungnahmen poetisch vermittelt — und das ist i m 'Prelude' nicht gerade häufig. Das folgende Beispiel einer antithetischen Porträtverwendung aus dem I X . Buch, das von Wordsworths Aufenthalt i n Blois 1792 berichtet, geht — obgleich es w o h l letztlich i n ähnlicher Weise durch K a l k ü l verursacht wurde — bereits einen Schritt weiter i n Richtung auf die Zentralthematik des 'Prelude' und damit auf den vorherrschenden Aussagemodus dieser Erlebnisdichtung. Demgemäß gerät hier auch schon die formalistische Balanciertheit 16 D i e Anregung zu diesem Rednerporträt gab vielleicht eine ähnliche Predigersatire i n Cowpers 'The Task* von 1785 (s. Selincourt, a.a.O. S. 565). 17 Derselbe Vorgang der »Aufhellung« durch Antithese w i d e r h o l t sich bezeichnenderweise auch noch innerhalb des Passus über den Kanzelredner: i n der E n d fassung wurden zwischen die Lobrede auf Burke u n d die Satire auf den eitlen Prediger noch einmal 5 Zeilen eingeschoben, die v o m hohen Können u n d guten W i r k e n vieler Londoner Prediger berichten. Z w e i weitere Zeilen leiten dann — m i t Y e t beginnend — über zu dem negativen Exemplum, das schon i n der Erstfassung stand (s. V . 544—550 [1805]).

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der Antithese ins Wanken, und die greifbare Anlehnung an verfügbare Gattungsmodelle verschwindet. Aber dennoch findet man noch vergleichsweise klare Antithesenbezüge, wenn man einmal auf die innere Zusammengehörigkeit der beiden Porträts aufmerksam geworden ist. Das Erkennen dieser Zusammengehörigkeit ist nicht selbstverständlich, weil zwischen das B i l d des fieberkranken royalistischen Offiziers ( I X , V . 139 ff.) und das des revolutionsfreundlichen Michel Beaupuy, m i t dem Wordsworths befreundet war ( I X , V . 288 ff.), 127 Zeilen Bericht und Reflexion über des Dichters persönliche Stellung zur Revolution und zu ihren Gegnern sowie über seine Beurteilung einer Gruppe von adeligen Offizieren, die für die Wiederherstellung des Ancien Régime waren und die Wordsworth i n Blois kennengelernt hatte, eingeschoben sind. Wordsworth beginnt V . 125 von diesen Offizieren zu erzählen. Bei V . 139 liefert ihm seine Erinnerung (oder schafft ihm seine Phantasie) eine Kristallisationsfigur für all das, was er über diese Verfechter einer zum Absterben reifen Lebensform empfindet: den fieberkranken Royalisten. Er w i r d i n 22 Zeilen lebhaft vergegenwärtigt. N u n geht das allgemeine Beschreiben von Gefühlen und Erlebnissen des Dichters i n Blois während der Revolution über die erwähnten 127 Zeilen weiter, bis sich dann ab V . 288 breit das B i l d Beaupuys entfaltet, den er als Ideal eines Patrioten feiert, als einen Soldaten der Zukunft, als einen »Happy Warrior«, wie er es i n dem Gedicht 'Character of a H a p p y Warrior' von 1805 nennt. Die Antithesenabsicht ist hier nicht nur durch den Abstand von 127 Zeilen verschleiert. Sie geht auch deshalb fast unter, weil Wordsworth beide Porträts i n den Fluß der persönlichen Erlebnisse und Gedanken einbettet, und weil er den Royalisten nur kurz als objektiv betrachteten, namenlosen Prototyp einer Klasse und eines politischen Schicksals skizziert, während er Beaupuy m i t Namen nennt und seine Charakterisierung ausweitet zu einem zehnmal so langen Erinnerungsbericht über seine Freundschaft m i t ihm, ihre gemeinsamen Spaziergänge und Gespräche. M a n könnte i m Zweifel sein, ob hier eine Gegenüberstellung beabsichtigt ist, wenn nicht die genauere Analyse des Textes präzise balancierte Details zutage förderte, die diese Ansicht stützen. Sowohl das kranke Sich-Verzehren des Royalisten unter dem seelischen Druck der Revolution, die seinem Stand seiner Meinung nach Unrecht tut, als auch der Zuwachs an »grace and sweetness «, der bei Beaupuy als Reaktion auf i h m angetanes Unrecht zu beobachten ist, werden durch N a t u r bilder ausgedrückt: Meltau auf einer Pflanze bei dem einen, der D u f t , der einer Alpenblume entströmt, wenn sie niedergetreten w i r d , bei dem anderen. V o n beiden Männern heißt es, sie seien früher große Minneritter gewesen; aber der Royalist hat die Fähigkeit zur Galanterie verloren, er ist jetzt »heedless of such honour« — Beaupuy dagegen hat die Courtoisie des

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Frauendienstes emporgesteigert zu etwas Höherem: zur tätigen Menschenliebe, zum sozialen Ethos. Bei dem Royalisten sind Körper und Geist durch den Druck der Zeit reduziert; Beaupuys ganze Person strahlt dagegen mitreißende Freude aus: sein Gesicht glüht von einem inneren Feuer, das nicht Krankheit, sondern seelische Intensität ist. Den Royalisten sehen w i r ohnmächtig nervös m i t der H a n d nach dem Degen zucken, wenn er von Erfolgen der Revolutionäre hört; Beaupuy aber w i r d uns von Wordsworth i n zeitlicher Vorwegnahme i n der Stunde seines Heldentodes gezeigt: »He perished fighting, in supreme command .. . For liberty « (V. 424 ff.). Diese zwar nicht mechanisch formalistischen, aber doch nachweisbaren antithetischen Entsprechungen legen den Gedanken nahe, daß die zwei kontrastierten Porträts so etwas wie strukturelle Keimzellen des ganzen I X . Buches waren. Oder genauer, daß sich dem Dichter, als er nach ca. 130 Anfangsversen dieses Buches über seine Zeit i n Blois v o m bloßen Bericht zur persönlichen Reflexion über die politische Situation i n Frankreich zur damaligen Zeit übergehen wollte, i n der Erinnerung und unter dem Eindruck der seither erkannten Grundthematik seines Lebens (und somit auch des 'Prelude'), der komplexe Eindruck der politischen Lage i n eine A n t i these auseinanderlegte, die der großen A n t i t h e t i k des Werkes entspricht: er ordnete die gemäßigt revolutionäre, idealistische Haltung, m i t der er damals durch Beaupuy i n Berührung gekommen war, dem vitalen, imaginativen, naturnahen Lebensbereich zu, der für ihn einzig Leben bedeutete; und die antirevolutionäre, royalistische Seite, die ihm i n Blois i m Verkehr mit den anderen Offizieren bekannt geworden war, ordnete er dem naturfernen, sich der Bruderschaft alles Geschaffenen verschließenden Lebensbereich zu. Für den positiven Bereich hatte ihm das eigene Erleben ein »human centre « (wie er so etwas in I V , V . 360 nennt) in der Gestalt Beaupuys geliefert; für den negativen schuf er sich (ob aus Erinnerung oder reiner Erfindung, ist nicht zu entscheiden) eine antithetische Kristallisationsfigur i n dem royalistischen Offizier. Das negative Porträt eröffnet die persönlichere Behandlung der Revolutionsthematik; dann schiebt sich — wie so oft i m 'Prelude' — ein mehr reflektierender Abschnitt (die 127 Zeilen) ein, der deutet und klarere Fronten i n der subjektiven Bewertung der Revolution schafft; und alles das kulminiert in dem Porträt und anschließenden Bericht von Beaupuy, der nun fast die H ä l f t e des Buches bis zu seinem Ende einnimmt und vor der Folie des Vorausgegangenen, und gerade auch des entgegengesetzten Royalistenporträts, seine ganzen Tiefendimensionen entfalten k a n n 1 8 . 18 Daß W o r d s w o r t h bei dem Passus über den royalistischen O f f i z i e r u n d dessen Gruppe schon auf die entgegengesetzte Figur Beaupuys geistig hingerichtet war, dann aber das erklärende Material dazwischenschieben zu müssen glaubte, darf man vielleicht aus der wörtlichen Wiederholung — »a band of military officers« (V. 125) u n d »Among that band of officers« (V. 288) — u n d v o r allem aus dem etwas un-

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H i e r haben w i r also eine Antithetik, die nicht mehr eine reine »Denkfigur« oder eine konventionelle Kontrastierung von zwei komplementären poetischen M o d i der Stellungnahme zu einem Thema ist. H i e r ist vielmehr die Antithesenverwendung bereits auf dem Weg zur »Erlebnisfigur«, d. h. zum Einbezogenwerden i n den erinnerten Erlebniskomplex der Vergangenheit und i n den thematischen Erlebniszustand der Gegenwart, ja der letztere ist es eigentlich, der die Antithese und ihre »Instrumentation« auslöst. Noch ist das Raisonnement, das zu der Gestaltung führte, in etwa auszumachen; aber formal hat sich die Auffälligkeit des intellektuell Geplanten, des Formalistischen bereits verloren: die Gleichgewichte haben sich verschoben; eine starre Juxtaposition w i r d nicht mehr angestrebt; die beiden human centres für zwei entgegengesetzte Pole einer Thematik sind, erzählerisch für sich gestellt, i n den Strom des Erinnerns und Bedenkens eingebettet, und erst ein genauer Textvergleich gibt — und auch das nur mutmaßbar — die Aufeinanderbezogenheit und das K a l k ü l preis. Bevor w i r weitergehen zu einem Beispiel, das die völlige Auflösung der A n t i t h e t i k zweier Persönlichkeitsbilder in Handlung, Erzählung, Erlebnis zeigt (wobei der Verlust an intellektueller Präzision der Gegenüberstellung reichlich aufgewogen w i r d durch die Erlebnisintensität und durch die völlige Integrierung in die philosophische Gesamtthematik), ist es vielleicht instruktiv, noch zwei andere Fälle zu betrachten, die, ähnlich wie die eben besprochenen Offiziersporträts, die M i t t e zwischen den Extremen einhalten oder Mischformen aus der A n t i t h e t i k als Denkfigur und der A n t i t h e t i k als Erlebnisfigur darstellen. Das V . Buch führt in etwas undurchschaubarer Weise 19 von seinem Hauptthema, der W i r k u n g von Büchern auf den heranwachsenden Menschen, weg zu allgemeinen Erziehungsgedanken. A b Vers 224 baut sich dieses Thema auf, teils i n reflektierender (bis V . 256), teils i n autobiographischer, auf die eigne Erziehung zurückblendender A r t . Die Rückblende gibt Wordsworth Gelegenheit, einen rühmenden Nachruf auf seine kluge und tolerante Mutter einzuschieben. Sogleich stellt sich wieder die Verbindung des diskutierten Themas m i t der Gesamtthematik des 'Prelude' und m i t deren A n t i t h e t i k her: der freiheitlichen, auf das natürliche Wesen des K i n geschickten und zunächst eher verwirrenden H i n - und Herverweisen — »Save only one, hereafter to he named« (V. 132) und »one, Already hinted at« (V. 288 f.) entnehmen. 19 Über die unbefriedigende K o n s t r u k t i o n u n d den mäanderartigen Themenbezug v o n Buch V ist viel gerätselt worden (siehe v o r allem Havens, a.a.O. Bd. I I , S. 375 ff.). W i e die vielen Selbstermahnungen und technischen Überlegungen (V. 223, V . 293 f., V . 534, V . 584) u n d die vielen Änderungen u n d Umstellungen v o n Fassung zu Fassung (siehe Selincourt, a.a.O. S. 345 ff.) zeigen, w a r W o r d s w o r t h selber klar, daß i h m der A u f b a u nicht recht gelingen wollte. Ähnliches gilt für Buch V I I I .

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des Rücksicht nehmenden Erziehung, die Wordsworth von der Mutter zuteil wurde (V. 256 ff.) und die die Tiere ihren Jungen angedeihen lassen (V. 246 ff.), w i r d polemisch die Gefahr der nicht kindgemäßen, einengenden, Urbanen Dressur gegenübergestellt, wie sie gewisse zeitgenössische Erziehungssysteme propagieren und praktizieren (V. 227—245 und V . 279 bis 2 8 7 ) 2 0 . Bei Vers 293 empfindet der Dichter, daß er seine kritischen Argumente konkreter vorbringen muß, wenn er poetisch überzeugen w i l l , und er greift wieder zu einem erdachten human centre: er gibt uns das satirische und vorwiegend ironisch gestaltete Porträt eines »Musterknaben«, wie ihn die kritisierten Erziehungssysteme hervorbringen. Die Satire schlägt bei V . 347 v o m ironischen Porträt um zur direkten rhetorischen Anklage an die Verantwortlichen. Bis hierher wäre alles formal und äußerlich noch ziemlich konventionell: w i r hätten etwa dieselben Verhältnisse wie bei den kontrastierten Rednerporträts i n Buch V I I : das negative Beispiel t r i t t als teils ironische, teils polemisierende Satire auf, für das positive w ä h l t Wordsworth eine andere konventionelle Gattung, das rühmende Nachruf gedieht, und dazu noch den sentimentalischen Tiervergleich. Aber sei es nun, daß ihm in den Zeilen, die er über die W i r k u n g einer freiheitlichen, naturnahen Erziehung i n ihm selber geschrieben hat, das Thema noch zu abstrakt behandelt erschien 21 ; sei es, daß sich bei ihm, als er i m Zuge der bisherigen Gegenüberstellung, die ja i n erster Linie die Erzieher und nicht die Kinder betraf, das satirische B i l d des Musterknaben entwarf, die emotionale Richtung plötzlich änderte von der Indignation über die Lehrer zum M i t l e i d m i t der beklagenswerten Kindergestalt, die da i n seiner Phantasie erstanden w a r 2 2 ; sei es aus irgendeinem anderen Grund — i n unvermitteltem Kontrast und ohne jede erklärende Überleitung setzt er bei V . 364 plötzlich gegen das Porträt des Modellkindes und die Philippika gegen die unfähige Pädagogik eine echt wordsworthische Kindergestalt, einen abgeschlossenen Passus, hinter dem sich offensichtlich ein eigenes Kindheitserlebnis verbirgt: das schon 1798 verfaßte bedeutende Gedicht von dem Boy of Winander, der i n kindlich spielerischem Austausch von Rufen m i t den Nachteulen plötzlich sein H i n -

20 Selincourt u n d Havens geben i n den entsprechenden Anmerkungen genauere A u s k u n f t über die pädagogischen Theorien, die W o r d s w o r t h hier bekämpfte. 21 D a r i n mag. u. a. ein gerade i n dieser klassizistischen Umgebung von relativ unemotionalen Textpassagen verständlicher Versuch, diskret zu objektivieren, nicht zu viel v o n sich selber zu sprechen, mitspielen: er bezieht ja auch in Zeile 232—245 den Freund Coleridge, an den das ganze 'Prelude' adressiert ist, m i t i n die Diskussion ein u n d lenkt dann auf die M u t t e r ab, anstatt bei seiner Person zu bleiben. Erst bei V . 364 bricht (allerdings auch da noch kaschiert) persönlichste Erfahrung durch. 22 Der Umschlag wäre bei V . 328 f.: »For this unnatural growth the trainer blame, Pity the tree«. Er löst aber zunächst nur polemische Rhetorik aus.

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eingestelltsein i n die allbelebte N a t u r und ihre Einheit intuitiv-sinnenhaft und unreflektiert-emotional erfährt. D a m i t hat Wordsworth nun ein Gegengewicht gegen das Negative i n dem vorausgehenden satirischen Kinderporträt geschaffen — ein Gegengewicht, das auch stilistisch eine echte A n t i these darstellt, und zwar eine romantische Antithese: das analytische Raisonnement i m Stil des 18. Jahrhunderts w i r d aus dem Felde geschlagen durch die Darstellung einer Ganzheitserfahrung, einer imaginativen Erlebniseinheit. H i e r gibt es nun äußerlich kaum mehr Einzelheiten, die sich antithetisch zu den Details des Musterknabenporträts verhalten. H i e r sind letztlich unvergleichlich weit voneinander entfernte Formen des Kindseins kontrastiert. Auch das Thema Erziehung gerät während des Eulen-KnabenPassus eigentlich in Vergessenheit und muß erst später wieder hervorgeholt werden. Denn die Naturbruderschaft, die der Boy of Winander hat, ist gar kein Resultat einer bestimmten pädagogischen Methode mehr, sondern ein Urgeschenk der Schöpfung an das K i n d , an jedes K i n d . Keine Erziehung kann dieses Geschenk ersetzen, aber die moderne Erziehung, die der Musterknabe erhalten hat, kann es zerstören. Die Gegenüberstellung ist auch insofern nicht als präzise kalkuliert zu bezeichnen, als hier ja ein schon geschriebenes Gedicht i n einen neuen K o n text gestellt wurde. N u r die Absicht, es als Ganzes antithetisch kontrastieren zu lassen m i t diesem Kontext, ist klar. Dennoch ergeben sich aus der neu entstandenen Ganzheit symbolische Bezüge, die sich zu einer bedeutungsträchtigen A n t i t h e t i k auch von einzelnen Details aus interpretieren lassen. Der Modellknabe überlebt die verfehlte Erziehung, aber er kann nur naturfern, i m Streben nach totem Wissen leben, »or else not live at all«. (V. 325); und deshalb w i r d er von der Mutter Erde und von Blumen und Flußufern beweint wie einer, der seine Heimat verlassen hat und i n der Fremde eingekerkert oder gestorben ist (V. 334 ff. — diese Zeilen haben ganz den K l a n g einer pastoralen Totenklage, wenn auch der Knabe nicht wirklich tot, sondern nur für die N a t u r gestorben ist). Der Boy of Winander dagegen ist wirklich m i t z w ö l f Jahren gestorben (V. 390); aber die Szene, die Wordsw o r t h in Gedanken versunken an dem Grab des Knaben zeigt (V. 391 bis 406), ist v o l l von Bildern und Eindrücken, die diesen T o d nicht als etwas Endgültiges, als einen Verlust akzeptieren, die ihn vielmehr negieren: das Tal, wo der Knabe geboren wurde und über das nun sein Grab hinblickt, ist von Schönheit erfüllt; die Kirche inmitten des rasenbewachsenen Friedhofes auf dem grünen Hügel vergißt zwar den Jungen, der da zu ihren Füßen schlummert, als Individuum, aber sie darf ihn vergessen und hat nicht nötig, ihn zu betrauern wie die Mutter Erde den verbildeten Musterknaben betrauert, weil von der Schule herüber die frohen Laute anderer Kinder, einer »race of real children« (V. 411) klingen, die ebenso naturnah sein

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werden wie der nun ganz i n das Weben und Sein der N a t u r eingegangene tote Eulenknabe, dessen T o d somit aufgehoben erscheint 23 . Nicht unähnlich diesem letzten Porträtpaar — auch i n der Behandlung des Todesthemas — ist eine Gegenüberstellung von zwei M u t t e r - u n d - K i n d Gruppen i n Buch V I I , dem »London-Buch«. Wordsworth erwähnt da das Schicksal eines Landmädchens aus seiner weiteren Heimat, der Maid of Buttermere y die trotz schwerer Erlebnisse ein unangefochtenes Naturgeschöpf geblieben ist und deren totes K i n d friedlich i m Dorfgrab schlummert, genau wie der Boy of Winander (V. 296—329). Dagegen setzt er eine Londoner Erinnerung (V. 334—381): er hat dort i n einem Theater das frische und sehr natürliche K i n d einer Schauspielerin beobachtet, das mitten i n einem Schwärm roher, indezenter Theaterleute spielte, unschuldig, naiv, kindlich wie nur irgend ein »cottage child « (V. 353), aber i n seiner seelischen Weiterentwicklung von Gefährdung bedroht durch die üble U m gebung und durch die Unfähigkeit der geschminkten, unnatürlichen Mutter, das K i n d vor der vergiftenden Atmosphäre ihres Milieus zu schützen. Anders als bei den vorher behandelten Kindergestalten ist hier der deutlich zusammenfassende Abschluß: die beiden Kinder — das der Maid of Buttermere und das der Schauspielerin — werden ausdrücklich aufeinander bezogen, so daß die antithetische Konfrontierung ganz offenbar w i r d . U n d zwar werden die Schicksale beider Kinder quasi erzählerisch in eine potentielle Z u k u n f t verfolgt (in der Gegenwart gleichen sie sich ja noch i n Wordsworths Bewertung, nur durch ihre Mütter und ihre U m w e l t sind sie kontrastierbar): i n der Z u k u n f t sieht Wordsworth das Theaterkind als Erwachsenen, der inzwischen der Gefahr seelischer Vergiftung erlegen ist, am Grab des Dorfkindes stehen und dieses um seinen friedlichen Schlummer i m Schoß der N a t u r beneiden (V. 378 ff.). A n diesem Passus kann man besser als an den bisher zitierten sehen, wie solche Gegenüberstellungen von Wordsworth nicht nur i n die Hauptthemat i k des 'Prelude', sondern in den gesamten Bild- und Symbolkosmos dieses Werkes integriert werden, und zwar geschieht das durch Konglomerate von Bild- und Begriffsfeldern, die stark emotional aufgeladen sind und die Antithese instrumentieren. Es stehen sich nicht nur Naturkindschaft und Naturferne, Land und Stadt, lebendiges Totsein und Leben, das wertloser als der T o d ist, gegenüber — auch die als Erlebnis und Erinnerung des Dichters deklarierten bildlichen Details ordnen sich Schritt für Schritt die23 Diese Interpretation w i r d nur für den weit hergeholt wirken, der Wordsworths Denkgewohnheiten, gerade in bezug auf den T o d v o n K i n d e r n und jungen Menschen, nicht aus vielen seiner anderen Dichtungen kennt (siehe dazu vor allem Ferry , a.a.O. S. 87 ff. u n d öfter — die Interpretation der 'Prelude'-Stelle dort weicht etwas von der obengenannten ab; und Hirsch, a.a.O. S. 82 ff.).

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sen zentralen Themengegensätzen zu: Erde, H e i m a t , H ü t t e , windumhauchte Hügel, Wolken, Sommerrose, Bergkapelle, L a m m , Schönheit, Früchte, v o n Stürmen verschonte Ruhe, ungestörter Schlaf, kunstlose Einfachheit Naturkraft

und

auf der einen Seite; Verführung, grausamer H o h n , Theater,

falscher Glanz, Schminke, Verworfenheit u n d unechte Fröhlichkeit, Schamlosigkeit und Ausschweifung, Flüche, lockere Reden, böser Zauber auf der anderen. Gelegentlich k o m m t es dabei auch zu interessanten Kreuzungen oder Verschränkungen der beiden »Bildfelder« : i m Umkreis u m das noch unschuldige Theaterkind werden die rohen Reden u n d Laute des Theatervolkes selber unschuldig wie Vogelgezwitscher nach einem Regen ( V . 364 f.), aber der Tisch, auf dem es sitzt u n d spielt, ist für das K i n d schon eine Bühne, seine Bühne i n m i t t e n des großen Theaters (V. 354 ff.). Gerade diese organische Integration i n die große A n t i t h e t i k der Bilderwelten, die das ganze 'Prelude' charakterisiert 2 4 , macht das eben interpretierte Textbeispiel instruktiv (bei den vorher aufgeführten w a r ähnliches noch am ehesten an den beiden Offiziersporträts aus Buch X zu beobachten; i n den anderen untersuchten Passagen verhinderte der Umstand, daß die A n t i t h e t i k nicht für die ganzen Textabschnitte v o n A n f a n g an geplant w a r und daß konventionelle, klassizistisch-rhetorische Gattungsmodelle verarbeitet wurden, eine so klare O p p o sition i n den Details der Bildinstrumentation). Die völlige Integrierung einer antithetischen Figurengegenüberstellung i n das 'Prelude' nicht nur als organischen Bildkosmos m i t einem Zentralthema, sondern auch als fortlaufende autobiographische Erzählung soll unser letztes Beispiel für Figurenoppositionen zeigen. H i e r steht nicht mehr ein Porträtpassus einem anderen gegenüber, sondern hier ist alles i n H a n d l u n g , in zusammenhängendes Erlebnis aufgelöst und w i r d so auch, gleichsam unabsichtlich, als symbolische Ganzheit erfahren — v o m Dichter u n d v o m Leser. Das Buch X behandelt die Zeit v o n Oktober 1792 bis August 1794, also den H ö h e p u n k t der Französischen Revolution, den W o r d s w o r t h zunächst i n Paris u n d dann i n England erlebte. Hinweise auf Robespierre sind über das ganze Buch verteilt: V . 93—120 w i r d seine Kontroverse m i t Louvet (Ende Oktober und A n f a n g November 1792) i n dramatischer Raffung vorgeführt. V . 331—389 w i r d eine Beschreibung der Jakobinerherrschaft gegeben, bei der z w a r sein N a m e nicht mehr genannt w i r d , aber bei der unter Kollektivbezeichnungen wie the few; the men, who . . . Had plucked up mercy; Tyrants; those, they doch immer Robespierre als H a u p t v e r antwortlicher mitgemeint ist. V . 481—510 blenden zurück auf Wordsworths 24 Z u r besonderen A r t von Wordsworths B i l d - und Symbolverwendung siehe vor allem Marsh, Foakes, Lindenberger (opera cit.) ferner D a v i d Perkins , The Quest for Permanence, Cambridge-Mass. 1959, Kap. I und I I .

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Besuch i n Arras, Robespierres Vaterstadt, i m Juli 1790 und kontrastieren eindrucksvoll die Zeit der jubelnden Begrüßung der Revolution mit dem jetzigen Zustand der Stadt, die wie K ö n i g Lear unter der Grausamkeit ihres Kindes stöhnen muß. H i e r schließt sich nun der Bericht von dem Tag an, an dem Wordsworth den T o d Robespierres erfuhr. Aber sei es, daß er noch den Kontrastgedanken eines vorausgehenden Passus i m Sinn h a t 2 5 ; sei es, daß seine antithetische Denkgewohnheit zwangsläufig nach einem weiteren Kontrast zu Robespierres düsterer Figur sucht (nach dem m i t der hoffnungsfrohen und dann grimmig enttäuschten Vaterstadt Arras); sei es, daß ein größerer antithetischer Bauplan des ganzen Buches den Ausschlag gab (was gleich zu erörtern sein w i r d ) ; sei es auch, daß er die Nachricht von Robespierre tatsächlich unter den geschilderten Umständen empfing — Wordsworth geht nicht geradewegs auf das zu berichtende Ereignis los, das er V . 511 f. ankündigt, sondern er schildert ein Erlebnis, das an jenem Tag dem Erhalt der Neuigkeit vorausging, und das er zu einer kontrastreichen Folie ausbaut. Er befand sich auf einer Küstenwanderung i n England; und er nimmt nun erzählend die Gelegenheit wahr, eine breite Beschreibung von Stimmung und Naturszenerie dieses Weges zu geben, die mit ihrem Grundton — gentleness and peace, genial sun, Glück und Glanz i m harmonischen Zusammenklang von H i m m e l und Erde 2 6 — an sich schon ein deutlicher Kontrast zu den i n dem H a u p t t e i l des Buches geschilderten Greueln ist und die noch eine besondere strukturelle Bedeutung gewinnt, wenn man bedenkt, daß das Buch X auch m i t der Beschreibung eines »beautiful and silent day « (V. 1) beginnt, nämlich des Tages, an dem Wordsworth sich von dem glücklichen Leben i n Blois losriß; und daß die ganze Beschreibung der Schreckensherrschaft i n Paris m i t der berühmten Schilderung seiner ersten Nacht in der von Bedrohung und Angst schlaflosen, niedergedrückten Stadt einsetzt (V. 63—93). Die »poetischen«, d. h. die atmosphärisch oder malerisch ausgeführten Passagen dieses sonst wenig »romantischen« Buches X ergeben also eine kontrastreiche Figur, der man, wenn man w i l l , symbolische Implikationen zusprechen kann: die schlaflose »Schreckensnacht« der Jakobinerherrschaft ist eingerahmt von zwei hoffnungsvollen Sonnentagen — A day as beautiful as e'er was given T o soothe regret (V. 4 f.) —

25 I n den Versen 481 ff. war da v o n Oasen i n der Wüste u n d stillen Inseln i m stürmischen Meer die Rede u n d diese Bilder waren als Vergleich gebraucht für die Beispiele menschlicher Bewährung mitten in den Schrecken der Revolution, die W o r d s w o r t h gesehen hat. 26 Anklänge an M i l t o n s Vokabular für den H i m m e l mischen sich hier m i t typisch wordsworthschen Vorstellungen v o m Einanderzugeneigtsein aller Himmels- und Erdennatur.

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der erste, als Wordsworth sich v o l l H o f f n u n g nach dem revolutionären Paris aufmacht; und [ a ] fulgent spectacle, T h a t neither passed away nor changed (V. 526 f.)

der zweite, als i h m die H o f f n u n g auf eine bessere Z u k u n f t neu geschenkt w i r d . W i r wollen aber die Frage der Buchstrukturen hier nicht näher erörtern — sie w i r d später noch einmal angeschnitten. H i e r kommt es uns auf die beiden kontrastierten Menschengestalten an, auf die Wordsworth i m Rahmen dieses poetisch geschaffenen glorreichen Naturraums Bezug nimmt. Die erste ist nicht etwa Robespierre, sondern ein von Wordsworth verehrter Lehrer seiner Jugendzeit, dessen Grab er am Morgen jenes Tages besucht hat. Die Einführung dieses rückerinnernden Kirchhoferlebnisses i n die strahlende Naturstimmung, die vorhergeht (und die freilich schon m i t der Erwähnung, daß dies der Tag der Neuigkeit von Robespierres Sturz war, eingeleitet worden ist), geschieht m i t einem der relativ seltenen offenen H i n weise des Dichters auf die antithetische A r t seiner Gefühlserfahrung und Weltsicht: . . . brightest things are w o n t to draw Sad opposites out of the inner heart (V. 528 f . ) 2 7

Der Verstorbene w i r d nun als ein M a n n geschildert, der ein getreuer Führer der i h m anvertrauten Jugend war (V. 537). A u f seinem Grabstein ließ er einige Zeilen aus Grays 'Elegey W r i t t e n on a Country Churchyard' einmeißeln — welche Stelle, ist nicht gesagt (V. 535 f.). Wordsworth wandert weiter, seine trauernde Erinnerung an den Toten wandelt sich i n »tender pleasure « (V. 546) bei dem Gedanken an die Liebe, die der Lehrer heute für ihn, den Dichter, empfinden würde; denn er liebte die Dichter. Die friedliche, weiträumige Landschaftsschilderung w i r d erneut aufgenommen (V. 552 ff.). U n d hier nun begegnet Wordsworth einem Trupp von Reisenden, aus dem ihm einer die Nachricht »Robespierre is dead!« zuruft (V. 562 ff.). M i t einem Freudenhymnus auf den erhofften Anbruch eines goldenen Zeitalters, i n dem die Erde sich »firmly towards righteousness and peace« entwickeln w i r d , macht sich Wordsworth auf den Heimweg; und wie um zu zeigen, daß diese Stunde eine Rückkehr auch seiner privaten teuersten Hoffnungen ist, schließt er das Buch m i t einer Reminiszenz an ein glückliches Erlebnis seiner Jugendzeit, das m i t demselben O r t verbunden ist und das er i n Buch I I , V . 93—137 geschildert h a t 2 8 . 27 Ähnliche Stellen wären etwa V I I , V . 601, V . 619—625; V I I I , V . 665 ff. und Χ , V . 481 ff. 28 D i e Zeilen I I , V . 137 u n d Χ , V . 603 stimmen wörtlich überein.

Romantische A n t i t h e t i k i n W o r d s w o r t h s 'Prelude

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H i e r ist also i n der Juxtaposition der beiden Männer nichts mehr als explizite Antithese greifbar. A m ehesten läßt sich noch ein direkter Kontrastbezug herstellen, wenn man die Andeutung auf Grays Elegie auszufüllen versucht: dort ist (in den Strophen 8, 9, 16 und 17) die leise wirkende Arbeit und Güte der i m Verborgenen lebenden Menschen auf dem Lande dem Ehrgeiz, der Sucht nach politischer Macht und der Unmenschlichkeit der Großen der Erde gegenübergestellt, und es w i r d angedeutet, daß gerade dieses Los — auf den engen Kreis einer Dorfgemeinschaft beschränkt zu sein — vor den Verbrechen der Großen bewahren könne, die »wade through slaughter to a throne, And shut the gates of mercy on mankind « (Grays 'Elegy', Strophe 17). Aber auf solche rationale Ausdeutungen des Gegensatzes zwischen Robespierre und dem Lehrer kommt es gar nicht an. Wordsworth ist hier weit entfernt von einer klar bewußten Antithesenverwendung — er stellt nur zwei Lebensformen nebeneinander (oder verschränkt sie erzählerisch ineinander), die für i h n den positivsten und den negativsten Pol des Menschlichen bedeuten, und zwar ganz i m Einklang m i t der Grundthematik des 'Prelude': den denaturierten Revolutionär und den natürlichen — und dichtungsfreundlichen — Erzieher. Oder vorsichtiger formuliert: das Bedenken und Erwähnen der lebens- und menschheitsgefährdenden W i r k u n g eines Un-Menschen ruft bei ihm gleichsam assoziativ als poetischen und emotionalen Gegenschlag die Erwähnung eines echten Menschen i n seinem Sinne hervor. Aus der Interpretation dieser kontrastierten Porträtskizzen und ihrer Stellung i m Kontext haben sich nun einige Erkenntnisse über die A r t von Wordsworths A n t i t h e t i k ergeben. Bei einem Beispiel — der Gegenüberstellung der beiden Offiziere — wurde auch schon sichtbar, daß solchen kontrastierten Porträts u. U . eine strukturelle Bedeutung für Entstehung und Bau eines ganzen Buches zukommt. Daß Wordsworth die A n t i t h e t i k wirklich als Strukturmittel für den Bau von Büchern und sogar zur Schaffung größerer struktureller Bögen oder Klammern zwischen mehreren Büchern ausnützt — und das nicht nur i n dem weiten und vagen Sinn einer Themenoder Symbolantithetik, die das ganze Werk überspannt, sondern i n präziser greifbaren Details — das soll nun noch kurz gezeigt werden. Das I I I . Buch schildert Wordsworths Studienzeit i n Cambridge. Reserviert, distanziert, unbefriedigt steht der von Bergen und Wäldern erzogene junge Dichter i n der Welt städtischen und akademischen Treibens, das ihm innerlich fremd bleibt und seine imaginativen Kräfte lähmt, wenn er es auch äußerlich fertig bringt, sich anzupassen. Die zentrale Antithese i n diesem Buch I I I ist also der Kontrast zwischen der reichen Innenwelt des 8 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 7. Bd.

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»Helden« und der oberflächlichen, schalen Umwelt. Daraus ergibt sich nun folgender Aufbauplan: Die ersten 370 Zeilen zeigen — teils erzählend, teils reflektierend — das Hineingestelltsein des jungen Wordsworth i n die Welt von Cambridge und die Diskrepanz zwischen seinem Innenleben und der unbefriedigenden U m gebung. Die letzten 153 Zeilen des Buches lösen den K o n f l i k t i n einer optimistischen Synthese: die Cambridger Zeit war zwar nicht das, was Wordsw o r t h sich davon versprochen hatte, aber sie war nicht unnütz; er lernte dort die »Welt« i n Zwergenproportionen kennen, und das war gut als Uberleitung von seiner egozentrischen Naturliebe zu einem liebenden Teilnehmen an den Problemen anderer Menschen und der Menschheit. I m Mittelteil (V. 371—481) führt die eben aufgezeigte inhärente A n t i t h e t i k des ganzen Buches zu einer charakteristischen Folge von miteinander kontrastierten Passagen mit einem Themenbezug: Wordsworth entwirft aus seiner inneren Vorstellung heraus das Ideal einer Universität oder »pädagogischen Provinz« i n seinem Sinne und stellt dieses Ideal in Opposition zu der Cambridger Wirklichkeit, wie er sie erlebte. U n d zwar geschieht diese Gegenüberstellung dreimal, i n stetem Pendelschlag: zuerst ausführlich i n direkter Schilderung von Ideal (V. 371—401) und Wirklichkeit (V. 401—430), dann kürzer in metaphorisch-emblematischer Einkleidung, m i t N a t u r - und Tierbildern (V. 430—444 und V . 444—449) und schließlich noch i n Form eines wehmütigen historischen Rückblicks auf die — sehr idealisiert gesehenen — Universitätsverhältnisse i m Mittelalter (V. 449—481); hier führt der Pendelschlag nicht zurück zu einer erneuten K r i t i k an der Wirklichkeit von Cambridge, sondern es schließt sich die erwähnte Synthese des Schlußteils an. Ganz ähnlich könnte man auch den Aufbau des London-Buches V I I beschreiben; nur ist dort die Symmetrie verhindert dadurch, daß ein 50 Zeilen langer Eingang über eine Schaffenspause zwischen Buch V I und V I I und ihre Überwindung vorangestellt ist und daß die »Synthese« — Wordsworths schließliche seelische Verarbeitung des Großstadtaufenthalts — zum größten Teil ins nächste Buch verlegt w i r d ( V I I I , V . 530—686). Der »Pendelschlag« i n der Buchmitte wäre i n Buch V I I (freilich weniger deutlich als i n I I I ) durch die wechselnd positiven und negativen Porträts gegeben, von denen w i r einige besprochen haben. Wie sehen nun die antithetischen Bezüge oder links Grenzen der einzelnen Bücher hinausreichen?

aus, die über die

Es gibt da ein sehr instruktives Beispiel für direkte Anknüpfung vom Ende eines Buches zum Anfang des folgenden durch Antithetik. A m Ende des V I I . Buches steht eine geradezu infernalische Vision eines Bartholomäus-Jahrmarktes i n London (V. 675—730); ein Gemälde, das m i t allen

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M i t t e l n sprachlicher Dissonanz und unorganischer Bildhäufung gestaltet ist. Wordsworth w i r d das höllische Treiben zum »true epitome Of what the mighty City is herself « — nämlich »blank confusion« (V. 722 f.). I n etwa 50 Versen w i r d das Erlebnis kurz reflektierend eingeordnet i n Wordsworths moralisches Bewertungssystem; die Sicherheit des eigenen Gefeitseins vor dieser wirren Welt stellt sich wieder her, und m i t der schönen Schlußzeile »Composure, and ennobling Harmony « klingt das Buch aus. Das nächste Buch ( V I I I ) setzt nun ohne weitere Einleitung m i t der Schilderung eines Marktes i n Wordsworths Heimat ein (V. 1—69). Havens bezweifelt, daß der Dichter hier eine deutliche Antithesenwirkung beabsichtigt habe 2 9 . Der antithetische Bezug zahlreicher Details, die hier nicht aufgezählt werden können, ist aber so augenfällig, daß jeder Zweifel ausgeschlossen werden kann: die zwei Marktszenen sind i n allen Einzelheiten als Brennpunkte von Wordsworths beiden »Gegenwelten« instrumentiert. Während hier die Kontrastierung bei fortlaufendem Lesen des Werkes kaum zu übersehen ist, ist das Erkennen der antithetischen Bezogenheit bei den letzten beiden Beispielen, die w i r bringen wollen, schon nicht mehr selbstverständlich. H i e r schlägt die antithetische Opposition der Passagen so weite Brücken, daß man nur bei sehr genauem Achten auf das Strukturprinzip der Kontrastgegenüberstellung auf sie aufmerksam w i r d . Es handelt sich um die Natureingänge der Bücher I I I (V. 1—6) und I V (V. 1—11) und um die Beschreibungen der Schlafkammern des Dichters i m St. John's College i n Cambridge ( I I I , V . 46—63) und i n Hawkshead, seinem Heimatort ( I V , V . 78—92). Die Bücher I und I I haben v o n Wordsworths Kindheit und Schulzeit i m Lake District berichtet und die überragende Bedeutung der N a t u r für das Reifen der kindlichen Seele klargemacht. N u n hebt das I I I . Buch, das die Studienzeit i n Cambridge zum Inhalt hat, folgendermaßen an: I t was a dreary morning when the wheels Rolled over a wide p l a i n o'erhung w i t h clouds, A n d nothing cheered our w a y . . .

Buch I V , überschrieben »Summer Vacation «, führt den jungen Wordsw o r t h zurück i n das H e i m a t t a l und beginnt so : Bright was the summer's noon when quickening steps Followed each other t i l l a dreary moor Was crossed, a bare ridge clomb, upon whose top Standing alone, as from a rampart's edge, I overlooked the bed of Windermere, L i k e a vast river, stretching i n the sun . . . usw. 29

8*

Havens, a.a.O. Bd. I I , S. 454.

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H i e r erübrigt sich jeder Kommentar, selbst der sonst so skeptische Havens weist auf die programmatische Verwendung dieser beiden Natureingänge als antithetische »introductions to a new manner of life« h i n 3 0 . Thematisch i n die gleiche Richtung gehen die beiden Schlafkammerbeschreibungen. Auch sie stehen als Verdichtungen der »Gegenwelten« Cambridge und Hawkshead i n unaufdringlicher, aber durch viele Detailbezüge nachweisbarer Opposition zueinander. Das Zimmer i n Cambridge ist ein »nook obscure », zu dem häßliche oder mechanisch erzeugte Geräusche dringen: der L ä r m der darunterliegenden Küche, unmelodischer als Bienensummen, aber nicht weniger emsig, und oft gemischt m i t schrillem Schelten; die geschwätzige Glocke des benachbarten T r i n i t y College, die tags und nachts durch viertelstündliches Schlagen ständig die meßbare, objektive Zeit bewußt macht; und dazu noch gelegentlich die laute Orgel von T r i n i t y Chapel. I n die Kammer i n Hawkshead tönen nur Naturgeräusche: W i n d und Regen. Der Blick, den Wordsworth i n Cambridge nachts aus dem Fenster sendet, fällt, wenn M o n d und Sterne genug Licht hergeben, auf das Vestibül, w o die marmorne Statue Newtons steht, m i t schweigsam verschlossenem Gesicht, ein Prisma i n der H a n d . The marble index of a m i n d for ever Voyaging through strange seas of Thought, alone (V. 62 f . ) 3 1

Der Blick aus dem Fenster i n Hawkshead dagegen fällt auf eine typisch wordsworthsche Szene der Naturverbrüderung: der strahlende M o n d scheint sich in dem dunklen Wipfel einer Esche wie v o m Windeshauch geschaukelt zu wiegen. 30 Havens , a.a.O. Bd. I I , S. 340. — Zweifelhaft ist nur, ob W o r d s w o r t h i n Buch I V symbolische Intentionen hatte, als er zwischen den »lebensfernen« Bereich Cambridge u n d den »lebensvollen« Bereich Hawkshead ein trauriges M o o r als Schranke legte u n d (in V . 13 ff.) den Fährmann, der i h n zum Ufer seines Heimatdorfes übersetzte, halb scherzhaft m i t Charon verglich. Selincourt nennt diese klassische Anspielung, die sich erst ab dem vierten T e x t e n t w u r f = Ms. D findet, eine » inept allusion « (a.a.O. S. 532). 31 D i e oben zitierten Zeilen tauchen erst i n der Fassung v o n 1850 auf. Sie gehören zu den berühmtesten Zitaten aus dem 'Prelude* u n d sind immer als große Poesie gerühmt, selten aber auf ihren Stellenwert i m K o n t e x t untersucht worden. I n einem A r t i k e l ' O n Six Lines of Wordsworth', Modern Language Review L I X , 3 (1964), S. 339—343, hat neuerdings M . H . Black darauf hingewiesen, daß N e w t o n hier nicht einfach als bewunderte Figur eingeführt ist, sondern vielmehr als Vertreter derjenigen Philosophie, der W o r d s w o r t h seit seinen Cambridger Tagen immer ferner gerückt war. D i e eisige, fahle, starre Instrumentation des Bildes unterstreiche die m i t Respekt gemischte Fremdheit, die W o r d s w o r t h gegenüber diesem »mechanistischen« Denker u n d seinen einsamen philosophischen Entdeckungsreisen empfindet. A u f die Opposition zu der Schlafkammer-Stelle i n Buch I V geht Black nicht ein, sie scheint m i r aber durch seine Interpretation, wenn ich ihr auch i n ihren Weiterungen nicht folgen kann, gestützt zu werden.

Romantische A n t i t h e t i k i n W o r d s w o r t h s 'Prelude

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H i e r ist wieder der Punkt erreicht, wo das antithetische Aufeinanderbezogensein von erlebten Episoden oder Szenen nicht mehr sicher auf eine bewußte Intention zurückgeführt werden kann, sondern w o es sich aus den durchgehenden Bild- und Ideenoppositionen des Trelude' wie von selbst ergibt und demgemäß auch ganz i n der autobiographischen Erzählung aufgeht. Die A n t i t h e t i k ist hier endgültig keine erdachte »Technik« mehr, sondern eine Anschauungs- und Erlebnisform aus romantischem Geist, die letzten Endes zum Symbolismus hinführt. Das Eigenartige an Wordsworth ist, daß er diese m i t Symbolen instrumentierten »Gegenwelten« nicht — wie das etwa Coleridge (im 'Ancient Mariner'), Keats (vor allem i m 'Eve of Saint Agnes'), H ö l d e r l i n (man denke an ' H ä l f t e des Lebens'), Novalis (in seiner Poesie und Erzählprosa) oder später die französischen Symbolisten getan haben — i n einem v o m realen Erleben losgelösten poetischen Bereich, i n erfundenen Bildlichkeiten poetisch schafft, sondern daß er ihnen i n der Realität seiner Lebenserfahrung (und sogar i n den »nicht-visionären« Erlebnisbereichen) allenthalben begegnet, daß er sie also wirklich er-lebt, zumindest i n seiner nachschaffenden Erinnerung. Diese Faktizität der symbolischen Erfahrung macht die Entscheidung, inwieweit hier Symbolik »gemeint« ist, oft recht schwer. Der Gesichtspunkt der A n t i t h t e t i k kann i n vielen Fällen als heuristisches Prinzip diese Entscheidung erleichtern; und er kann darüber hinaus zum Erkennen mancher bedeutungsträchtiger Strukturen verhelfen. Vieles, was sich i m 'Prelude' m i t H i l f e dieses methodischen Ansatzes finden, interpretieren und vertiefen läßt, mußte hier ungesagt bleiben. Aber ein Gedanke, der die Ergebnisse dieses Aufsatzes stilgeschichtlich auszuwerten trachtet, mag zum Abschluß noch verstattet sein. Alles, was sich aus der vorstehenden Untersuchung ergeben hat, ließ deutlich werden, wie sehr Wordsworth i m 'Prelude' eine Zwischenstellung zwischen konventionellen und zukunftsweisenden poetischen Aussageformen einnimmt. Klassische und klassizistische Formmodelle werden noch allenthalben eingesetzt. Aber plötzlich scheinen sie verwandelt: sie werden transparent, und dahinter erscheinen neuartige symbolische Wirkungsmöglichkeiten und -bezüge; oder sie dienen zur Instrumentation gewisser v o n Wordsw o r t h kritisierter Zivilisationsschäden und werden so fragwürdig, ja sie können dort, wo er seine eigene »innere Form« dagegenstellt, aus dem Felde geschlagen werden durch einen ganz anderen, romantisch lyrischen Modus des Sehens und Sprechens; oder diese traditionellen Formmodelle — und die A n t i t h e t i k ist ja auch ein solches — geraten i n den Sog einer speziellen romantischen Erlebnisdynamik und werden davon mitgerissen und schließlich darin aufgelöst. M a n hat Wordsworth diese »halben« Rückwendungen zur formalen Tradition des Klassizismus gelegentlich als Unentschiedenheit angekreidet

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und die stilistische Mischung, die daraus entsteht, als Diskrepanz beklagt (umso mehr, als er in der Preface zu den 'Lyrical Ballads' von 1800 selber dem Überwinden der klassizistischen Formtraditionen das W o r t geredet hat). W i r möchten m i t der Untersuchung der A n t i t h e t i k i m 'Prelude' diese kritische Einstellung revidieren. W i r glauben gezeigt zu haben, daß Wordsw o r t h beide Stillagen funktional einsetzt und gegeneinandersetzt und dadurch eine große, organisch durchgeformte Wirkungsbreite erzielt, die zugleich rational und imaginativ, statisch und dynamisch, philosophisch und poetisch ist. U m den stilgeschichtlichen Standort von Wordsworths 'Prelude' abschließend noch einmal zu definieren, sei eine Querverbindung zur musikalischen Stilentwicklung i n derselben Zeit erlaubt. Die Vorklassik hatte das Prinzip der antithetischen Zweithemenstruktur i n der Sonatenform aufgestellt. Die Wiener Klassik — H a y d n und vor allem Beethoven — hat dann die Möglichkeit entdeckt, aus dieser A n t i thetik der thematischen Expositionsmaterialien einen dynamischen Prozeß, die dramatisch sich entfaltende Durchführung abzuleiten, in der die gegensätzlichen Themen sich bekämpfen, ablösen, zerteilen, durchdringen, aus dem Feld schlagen, gegenseitig verwandeln können. Bei Beethoven ist der Höhepunkt dieser Entwicklung erreicht: die Musik funktioniert gleichermaßen als i n sich beschlossene Formstruktur, als absolute Musik i m Sinne der V o r klassik und des Barock, und als Träger psychologischer, emotionaler Ausdrucks- und Konfliktvorgänge, wie sie für das romantische Schaffen charakteristisch sind. I m Verlauf der musikalischen Romantik geht diese Balance dann mehr und mehr verloren: die »absolute« formale Gestaltintensität (die ja eine geistige Intensität ist) erlahmt gegenüber dem immer wachsenden Einsatz an emotionalen Ausdrucksreizen und Wirkungsmitteln, die dann mehr und mehr etwas sentimental Selbstbespiegelndes, Selbstgenießerisches, geistig Unverbindliches an sich haben. Vollzieht sich i n der Dichtung nicht ein vergleichbarer Entwicklungsprozeß, wenn sich die Symbolik von allgemeinverbindlichen geistigen Inhalten löst, wenn sich — wie Rilke i n einem Brief über T r a k l gesagt hat — »die poetische Figur befreit« 3 2 , wenn über die Bilder subjektiv und ästhetisch verfügt w i r d , wenn sie aber nicht mehr straff logisch und verbindlich auf geistig zu bewältigende Wirklichkeitsfakten und -probleme bezogen werden? Der Wordsworth des 'Prelude' m i t seinen emotional umwandelnden und dynamisch überwindenden Verwendungen des traditionellen, geistig rationalen Prinzips der A n t i t h e t i k steht etwa an demselben Punkt der Entwicklung wie Beethoven. U n d das ist einer der höchsten Gipfel europäischer Geistigkeit und Kunst. 32 R. M . Rilke, Briefe aus den Jahren 1914—1921, hrsg. v o n R u t h u n d C a r l Sieber, Leipzig 1928, S. 126.

Sieber-Rilke

A U S E. T . A . H O F F M A N N S B A M B E R G E R Z E I T Fünf Theater-Kritiken von Adalbert Friedrich Marcus (September—Dezember 1809) Entdeckt und mitgeteilt von Friedrich Schnapp

Bei der Durchsicht der Bamberger Zeitung, des Fränkischen Merkur und des Bamberger Intelligenzblatts aus der Zeit von Ε. T. A . Hoffmanns A u f enthalt i n Bamberg (1808—1813) stieß ich i m Jahrgang 1809 des letztgenannten Blattes auf 5 Theater-Nachrichten, Rezensionen von Theateraufführungen, die bisher unbekannt oder zumindest unbeachtet geblieben sind. Bereits Friedrich Leist hatte es i n seiner Geschichte des Theaters in Bamberg (1893) wiederholt beklagt, daß über die Leistungen der Theatergesellschaft jener Zeit keine Berichte vorhanden seien, und diese unzutreffende Behauptung hat man seitdem als bedauerliche Tatsache genommen. Allerdings sollte man Theaterkritiken i m 'Bamberger Intelligenzblatt' am wenigsten vermuten. Denn diese jeden Dienstag und Freitag erscheinende Zeitung, deren einzelne Nummern i m Durchschnitt kaum mehr als 8 zweispaltig bedruckte Quartseiten von der Größe eines handlichen Buches umfassen, enthält in der Regel nichts anderes als amtliche Verfügungen, Bekanntmachungen und private Anzeigen; über politische Ereignisse w i r d nur ausnahmsweise berichtet. Inhaber und Verleger des Blattes war der gebildete und begüterte Johann Baptist Reindl (1765—1831). Nach der Wiedereröffnung des Königlich privilegirten National-Theaters durch den Grafen Julius von Soden am 17. September 1809 erschien jedoch i n N r o . 74 des Intelligenzblattes zum erstenmal eine 3 Spalten lange Theater-Nachricht, w o r i n versprochen w i r d , solche Nachrichten i n Abständen von 14 Tagen fortzusetzen; ein Versprechen, das bis zum Jahresende i m großen und ganzen eingehalten w i r d . Aber schon i m Jahrgang 1810 sucht man vergebens nach weiteren Artikeln. Sollte das Wehgeschrei der ζ. T. arg mitgenommenen Theatermitglieder das O h r einer einflußreichen Persönlichkeit erreicht und H e r r Reindl einen W i n k erhalten haben, die Fortsetzung der Serie zu unterlassen? Jedenfalls spürt man i n den einleitenden

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Worten der 4. Theater-Nachricht den Entrüstungssturm, der sich auf der Bretterwelt erhoben hatte. I n den 5 Nachrichten werden insgesamt 24 Theatervorstellungen besprochen oder erwähnt; unter den aufgeführten Stücken befinden sich 5 Singspiele, 2 Opern, 2 Melodramen und 2 »musikalisch-dramatische Akademien«. Glücklicherweise hat — wie ich später sah — der verdienstvolle Bamberger Bibliothekar Joachim Heinrich Jäck (1777—1847) i n seinen Bamberg'sehen Jahrbüchern, und zwar i m 4. Jahrgang 1832, den Verfasser dieser anonym erschienenen Rezensionen mitgeteilt. Jäck schreibt dort unterm Jahre 1809 (S. 678): »23. Sept. das Publikum zur Würdigung des Theaters i m Intelligenzblatte aufgefordert, und alle 14 Tage durch D i r . Markus fortgesetzt, mit jener der Dem. Weihrauch begonnen. —« Der Medizinaldirektor und bedeutende A r z t Adalbert Friedrich Marcus (1753—1816) w a r ein leidenschaftlicher Theaterfreund und hat sich unter starken persönlichen Opfern die größten Verdienste um das Bamberger Theater erworben, das er 1810 durch Gründung einer Aktiengesellschaft vor dem Zusammenbruch bewahrte. I n den Ende 1818 veröffentlichten Seltsamen Leiden eines Theaterdirektors, die bekanntlich viele Reminiszenzen an Bamberg enthalten, läßt E. T. A . H o f f m a n n den »Braunen« erzählen — und es scheint jetzt nicht mehr zweifelhaft zu sein, daß er hier den Grafen Soden über Marcus und dessen Rezensionen berichten läßt — : . . . Bald darauf w u r d ' ich zum D i r e k t o r einer bedeutenderen Bühne berufen. Ungefähr nach zwei Monaten erschien i n dem öffentlichen B l a t t , das an dem Orte kursirte, eine Beurtheilung dessen, was ich m i t meiner Gesellschaft geleistet. Ich erstaunte über die scharfe durchgreifende Charakteristik meiner Schauspieler, über die tiefe K e n n t n i ß m i t der der Verfasser jeden würdigte, an seinen Platz stellte. Schonungslos wurde jeder, auch der kleinste Verstoß gerügt, unverholen m i r jede Vernachlässigung vorgehalten, m i r gesagt, daß es vorzüglich, was die geschickte Einrichtung des Repertoirs betreffe, m i r an aller Einsicht mangle u.s.w. — Ich fühlte mich schmerzlich verwundet, aber . . . mußte, kühler geworden, dem scharfen Beurtheiler meiner Anstalt auch in der geringsten K l e i n i g k e i t Recht geben. I n jeder Woche erschien nun eine K r i t i k meiner Darstellungen. D e m Verdienst wurde das gehörige L o b gespendet; aber i n kurzen nachdrücklichen recht ans H e r z dringenden Worten, nie i n emphatischen Deklamationen, das Schlechte dagegen gezüchtigt m i t beißendem schlagenden Spott sobald es nicht bloß i m Mangel des Talents sondern i n frechem Uebermuth des Pseudo-Künstlers lag. D e r K r i t i k e r schrieb so geistreich, er t r a f immer den N a g e l so auf den K o p f , er zeigte so v i e l tiefe K e n n t n i ß des innersten Theaterwesens, er w a r dabei so schlagend w i t z i g , daß es gar nicht fehlen konnte, er mußte das P u b l i k u m auf das höchste interressiren, ja ganz für sich gewinnen. Manches B l a t t wurde doppelt aufgelegt, so wie sich nur irgend wichtiges auf der Bühne ereignet. Funken w a r f es dann ins P u b l i k u m , die überall lustig loderten u n d sprühten. Aber m i t jenen K r i t i k e n stieg auch das wahre Interresse für meine Bühne selbst in eben dem Grade als sie sich dadurch, daß ich

Aus E. T . A . Hoffmanns Bamberger Z e i t

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u n d meine Schauspieler i n steter reger Wachsamkeit erhalten wurden, mehr u n d mehr vervollkommete. Jeder Schauspieler, auch der verständigste, tobt u n d schmählt, wenn er nur i m mindesten getadelt w i r d , sey es auch m i t dem vollsten Recht. Aber nur der übermüthige T h o r w i r d , ist er kühler geworden, sich nicht ergriffen fühlen v o n der Wahrheit, die überall siegt. So mußten die bessern meiner Schauspieler den schonungslosen K r i t i k e r hochachten, gegen freche Egoisten gab m i r der Ehrenmann aber eine tüchtige Waffe in die H a n d . D i e Furcht an den moralischen Pranger zur Schau ausgestellt zu werden w i r k t e kräftiger als alle Vorstellungen — Bitten — Ermahnungen — Weder m i r noch meinen Schauspielern, die sich deshalb alle nur ersinnliche Mühe gaben, gelang es dem unbekannten K r i t i k e r auf die Spur zu kommen. E r blieb ein dunkles Geheimniß u n d w a r u n d blieb daher auch für meine Bühne ein gespenstischer Wauwau, der mich u n d meine Schauspieler i n steter Furcht u n d Angst erhielt. So muß es aber auch seyn. Der, der es unternimmt Theaterk r i t i k e n zu schreiben, darf m i t dem Theater selbst auch nicht in der leisesten Berührung stehen oder wenigstens Gewalt genug über sich, demungeachtet sein U r t h e i l frei zu erhalten und M i t t e l in H ä n d e n haben, seine Person ganz zu verhüllen. . . . Doch, auf meinen K r i t i k e r zurückzukommen! — Mehrere Jahre waren vergangen, längst hatte ich die D i r e k t i o n jener Bühne aufgegeben, als ein ganz seltsamer Z u f a l l mich meinen K r i t i k e r entdedcen ließ. Wie erstaunte ich! — Es w a r ein ältlicher ernster M a n n , einer der ersten Beamten des Orts, den ich hochschätzte, der mich o f t i n sein Haus lud, der es sich o f t bei m i r gefallen ließ u n d dessen geistreiche Unterhaltung mich um so mehr erquickte, als er nie m i t m i r über die Angelegenheiten des Theaters sprach. N i c h t entfernt ahnen konnte ich, daß mein Freund ein feuriger Verehrer, ein gediegener Kenner der dramatischen Kunst war, daß er keine meiner Darstellungen versäumte. Erst jetzt erfuhr ich v o n i h m selbst, daß er jeden Abend so unbemerkt als möglich, i n das Theater schlüpfte u n d seinen Platz ganz hinten i m Parterr nahm . . . Ich k a n n die V e r m u t u n g nicht unterdrücken,

d a ß Hoffmann

selber

an

d e n T h e a t e r - N a c h r i c h t e n seines Freundes u n d G ö n n e r s M a r c u s m i t g e a r b e i t e t hat, u n d daß z u m mindesten U n t e r h a l t u n g e n

der beiden M ä n n e r i n

den

Rezensionen festgehalten sind. So l ä ß t sich M a r c u s gleich i n d e r 1. T h e a t e r - N a c h r i c h t ( a m Schluß) d a r ü b e r b e l e h r e n , d a ß d i e z u W i n t e r s M e l o d r a m Armida

gespielte » O v e r t u r a «

g a r n i c h t z u m Stück gehöre, s o n d e r n aus C h e r u b i n i s O p e r Der Gasthof

stamme. S t a r k hoffmannisch

gefärbt

portugiesische

w i r k e n insbesondere d i e 4.

u n d 5. T h e a t e r - N a c h r i c h t ( m i t d e n B e r i c h t e n ü b e r d i e Gastspiele D ö b b e l i n s , Joseph Reuters, dessen T o c h t e r A n t o n i e R e u t e r u n d des T e n o r i s t e n K l o s t e r m a y e r ) . H i e r entsprechen n i c h t n u r d i e künstlerisch-ästhetischen A n s c h a u u n gen v o l l k o m m e n d e n j e n i g e n H o f f m a n n s , s o n d e r n es e r i n n e r t auch der S t i l a n d i e A u s d r u c k s w e i s e H o f f m a n n s — bis i n L i e b l i n g s w e n d u n g e n h i n e i n . D a f ü r einige Beispiele. ( L i n k s Z i t a t e aus d e n Τ heater-Nachrichten,

rechts

aus D i c h t u n g e n , S c h r i f t e n u n d B r i e f e n H o f f m a n n s . ) 4.

Theater-Nachricht

i n der kleinen Welt, auf der Bühne

I n der kleinen W e l t , das Theater genannt (Prinzessin Β rambilla)

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Friedrich Schnapp

daß die freundliche Muse der SchauspielKunst selbst den K r i t i k e r einladet, den Jokus Stab zu schwingen

D e n Jokusstab schwingt der H u m o r (Brief an K u n z v o m 8. Sept. 1813)

wenn . . . eine augenblickliche Aufopferung nicht gescheut w i r d

Diese wackern Männer . . . scheuen keine Aufopferung (Aus Bamberg)

Ueber unser Theater scheint indessen ein besonderer Unstern zu walten

daß heute ein besonders günstiger Stern zu walten schien (Rezension einer Berliner A u f f ü h r u n g des Oedip auf Kolonos v o n Sacchini)

das Groteske i n höherer Potenz

M o z a r t h a t . . . ihren Schwung i n höherer Potenz (Rez. des Klavierauszuges der Oper Das Waisenhaus v o n Weigl) jene . . . höhere Potenz des Meisters (Nachträgliche Bemerkungen über S pontine s Oper Olympia)

den Zuschauer unwiderstehlich erschüttert und m i t sich fortreißt.

den Zuhörer unwiderstehlich fortreißt (Rez. der 5. Sinfonie v o n Beethoven) die das Gemüth des Zuhörers mächtig ergreift u n d m i t sich fortreißt (Rez. der 1. Sinfonie v o n Spohr) die Seele des Zuhörers gewaltsam ergreift u n d m i t sich fortreißt (Rez. des Oratoriums Christus, durch Leiden verherrlicht v o n Bergt)

i n einem fortwährenden K l i m a x mimisch u n d deklamatorisch steigend

in einem bis zum Ende fortsteigenden C l i m a x (Rez. der 5. Sinfonie v o n Beethoven) I n einem fortsteigenden K l i m a x (Der Magnetiseur) i n einem steigenden C l i m a x (Rez. einer vierhändigen Klaviersonate von F. Schneider)

tiefer in die Expositionen des genialen Künstlers einzugehen

tiefer i n die gehaltvolle Composition einzugehen (Rez. der 1. Sinfonie v o n Spohr) tiefer i n diese, geistreich gedachten Gesänge einzugehen (Rez. der ' Z w ö l f Lieder alter und neuerer Dichter* v o n Riem) tiefer i n das Wesen meiner Bühne einzugehen (Seltsame Leiden eines TheaterDirektors)

u n d ihr einen w a h r h a f t tragischen Charakter gab (s. auch das letzte Z i t a t aus der folgenden Theater-Nachricht)

rücksichtlich des hohen, w a h r h a f t tragischen Ausdrucks (Briefe über Tonkunst in Berlin) die w a h r h a f t tragische Spannung (Seltsame Leiden) die wahrhaft tragische Oper (Nachträgl.

Aus E. T . A . Hoffmanns Bamberger Zeit

123

Bemerkungen über Spontini's Oper Olympia) aus dem . . . wahrhaft tragischen P r i n z i p (Ebd.) was w a h r h a f t tragischen Ausdruck bet r i f f t (Ebd.)

5.

Theater-Nachricht

Eine recht artige, i n ihren einzelnen Theilen aber nicht zusammengehaltene Musik

das Ganze i n allen seinen Theilen zusammen zu halten (Rez. des Pater noster v o n Romberg) i m Ganzen nicht fest zusammengehalten (Rez. Riem, Z w ö l f Lieder) i m Ganzen zusammengehalten (Rez. einer Berliner A u f f ü h r u n g des Duodramas Sulmalle v o n Β . A . Weber)

v o n der allgemeinen Idee der Oper abstrahiren

u n d so v o n der höhern Idee des m i t wirkenden Chors . . . ganz abstrahirt (Rez. eines Klavierauszuges v o n Fioravantis Oper I Virtuosi ambulanti) wenn man v o n der Idee, daß der Chor . . . seinen Charakter aussprechen müsse, ganz abstrahirt (Rez. eines Klavierauszuges der Oper Sofonisbe v o n Paer)

auf die Höhe, welche der Charakter des . . . U b a l d o uns erblicken läßt, konnte sich der Komponist [Paer] vermöge seines Naturells nicht schwingen

solange Pär i n den Schranken bleibt, die i h m nun einmal die N a t u r angewiesen hat (Ebd.)

m i t wahrhaft tragischem Pathos

in jenem w a h r h a f t tragischen Pathos (Rez. eines Klavierauszuges der Oper Iphigenie en Aulide v o n Gluck)

Leider sind Hoffmanns Tagebucheintragungen gerade i m Herbst und Spätherbst 1809 oft summarisch und unvollständig; es ergeben sich aus ihnen lediglich folgende mit dem Theater zusammenhängende Aufzeichnungen. 17. Sept.: » I m Theater — A r m i d a « [ M e l o d r a m v o n W i n t e r ] 26. Sept.: »Probe v o n der D i r n a « [ M e l o d r a m v o n H o f f m a n n ] 7. O k t . : »Große Probe v o n der D i r n a « 10. O k t . : »Große Probe v o n der D i r n a ziemlich gut ausgefallen — H o n o r a r v o n 33 f l erhalten« 11. O k t . : » A u f f ü h r u n g der D i r n a m i t großem Bey f a l l des Publikums welches nach der Vorstellung den Componisten herausrief. — Ich zeigte m i d i i m Orchester auf der Erhöhung des Directors u n d dankte m i t einer Verbeugung«

124

Friedrich Schnapp 13. O k t . : » I m Theater — « [Adolph und Clara v o n Dalayrac, nebst mehreren Einaktern v o n Hagemann u n d Kotzebue] 21. O k t . : »Carl Doebbelin aus Amsterdamm angekommen.« 22. O k t . : »Wiederholung der D i r n a m i t Beyfall — Den T r a n k der Unsterblichkeit zum Copiren abgeliefert« 24. O k t . : » C a r l Doebbelin gespielt« 25. O k t . : » D i t o « 27. O k t . : »Doebbelins Benefiz, Fandion u n d der SchatzGräber D i e ganze Nacht bis zu seiner Abreise bey Doebbelin zugebracht (JudenCanon, spanische Arietta)«.

Beim Wiederabdruck der 5 Theater-Nachrichten habe ich offensichtliche Druckfehler stillschweigend beseitigt, einige Interpunktionszeichen verbessert oder ergänzt und Absätze eingefügt. Ich lasse nun das Titelblatt des Jahrgangs 1809 des 'Bamberger Intelligensblatts' und i m Anschluß daran die Texte folgen. Bamberger Intelligenzblatt. Sechs und fünfzigster Jahrgang 1809. [ K ö n i g l . Bayerisches Wappen] M i t allergnädigstem Privilegium. Gedruckt und verlegt von Johann Baptist Reindl. «j.

[1.]

Bamberger

Intelligenzblatt.

M i t allergnädigstem Privilegium. Freytag N r o . 74. den 22ten September 1809. [S. 684, Sp. 2 — S. 685, Sp. 2 : ] Theater-Nachricht. Das hiesige Theater lag durch die Schuld des bisherigen Unternehmers 1 so i m Argen, daß es höchst unnütz gewesen wäre, auch nur ein W o r t dar1 Der Schauspieler u n d Verfasser beliebter Bühnenstücke Heinrich Cuno hatte die Leitung des Bamberger Theaters i m Herbst 1808 v o m Grafen Soden, dem I n haber des Privilegs, übernommen u n d nannte sich »Unternehmer«. E r mußte bereits i m Frühjahr 1809 Konkurs anmelden, wenn auch seine D i r e k t i o n formell noch bis

Aus E. T . A . Hoffmanns Bamberger Zeit

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über zu verlieren. Jetzt steht der Eigenthümer des Privilegiums 2 wieder selbst an der Spitze, und man glaubte, zu der Verbesserung der Bühne, die sich jetzt m i t vollem Recht erwarten läßt, auch dadurch thätig mitzuwirken, wenn man alle 14 Tage i n diesen Blättern die gegebenen Darstellungen beurtheilt, und so der Direktion und den Schauspielern zum Organ des Beyfalls oder Tadels diente, welchen das für die Kunst gebildete von allen Neben- A b - und Ansichten freye partheylose Publikum ausspricht. Sonntag den 17. Sept. zur Eröffnung der Bühne: ein Prolog gesprochen von Demoiselle Weyrauch 3 , hierauf: Armida, Melodram v. Winter 4 . — Demoiselle W. trat langsam bedächtlichen Schrittes hervor und meinte, nachdem sie einige magische Kreise m i t dem Fächer i n die L u f t beschrieben und sich auf türkische Manier verneigt 5 hatte: »Ein Theaterunternehmen sey ein Dornenstrauch und die Nachsicht des Publikums hinge als Rose daran, sie bitte sich die Rose aus und hoffe, man werde ihr diese R o s e n b i t t e nicht abschlagen.« Der Vorhang fiel und die Zuschauer frügen wie H a m l e t : war das ein Prolog oder ein Denkspruch i m Ringe? — Die Darstellung des Melodrams war geründet und präzis; Musik und Deklamation griff ineinander, nirgends eine Lücke, ein Verfehlen des M o ments, die Chöre waren besser als je und hoben den Effect, kurz alles zeigte von dem Kunstsinn, den praktischen Kenntnissen und der Sorgfalt, w o m i t die Direction die Darstellung angeordnet hatte und erregte bey dem Publik u m die besten Hoffnungen für die Z u k u n f t um so mehr, als man jetzt, bis zum letzten Augenblick von dem vorigen Unternehmer hingehalten, m i t dem, was man gerade noch von dem bessern Reste der vorigen Gesellschaft vorfand, anfangen mußte. Was nun die einzelnen Parthien betrifft, so strengte Madame W i t z 6 alle K r a f t an, die ihr zu Gebothe steht, in wie fern aber diese K r a f t zur Darstellung einer A r m i d a hinreicht, ist eine Frage. Das Organ der M . W [ i t z ] hat Ende J u l i dieses Jahres dauerte. — Cuno war dann anscheinend zunächst wieder Schauspieler (1814 i n Hamburg?); später eröffnete er i n Karlsbad eine Buchhandlung und Leihbibliothek ' Z u m eisernen Kreuz' u n d starb dort 1829. Goethe schrieb i h m i m M a i 1820 den schönen Achtzeiler »Heuer, als der M a i b e f l ü g e l t . . . « ins Stammbuch. 2 G r a f Julius v o n Soden (1754—1831). 3 Victorine Weyrauch k a m m i t ihren Eltern 1808 v o m Ansbacher Theater nach Bamberg, w o die Familie bis 1810 engagiert w a r (ihre M u t t e r , Madame Weyrauch, als erste Sängerin). Schon am 27. Februar 1809 hatte die jugendliche Demoiselle Victorine in einem K o n z e r t der Harmonie-Gesellschaft m i t H o f f m a n n ein D u e t t gesungen. — Weiteres s. 2. Theater-Nachricht A n m . 22, 3. Theater-Nachricht A n m . 28 u. 29, 4. Theater-Nachricht A n m . 58 u n d 5. Theater-Nachricht A n m . 83 u. 84. 4 Armida und Rinaldo, Text (nach Tasso) v o n Franz X a v e r H u b e r (1760—1804), Musik v o n Peter v. W i n t e r (1757—1825); erste A u f f ü h r u n g Wien 1793. 5 I m Druck »verewigt« [ ! ] . 8 V o n Herbst 1808 bis Februar 1810 am Bamberger Theater.

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von N a t u r etwas sehr weiches, dies müßte sie, so viel möglich, bekämpfen, die ganze Rolle tiefer, hohler sprechen und selbst in den zärtlichen Momenten nie ins süße weinerliche fallen. Daß M . W [ i t z ] Gang und Stellung ganz vernachläßigt, ist einer tragischen Schauspielerin nicht zu verzeihen. U n aufhörlich verwickelt sie sich i n ihre Mäntel und Gewänder, und wenn sie kommt und geht, sieht man eine gute Hausfrau i m Negligee und Pantoffeln. Sollte die talentvolle M . W [ i t z ] nicht durch Anstregung und Fleiß, vorzüglich durch einen gründlichen Unterricht in der Tanzkunst und Pantom i m i k diese Fehler, die sich jeder ihrer Darstellungen entgegen stellen, i n kurzer Zeit ablegen können? H [ e r r ] Rousseau7 sprach den R i n a l d kräftig und edel, seine anständige und leichte Bewegung zeigte den geübten Schauspieler, und das Theater darf sich seiner Acquisition erfreuen. Die übrigen Parthien sind ganz untergeordnet, wurden aber dem Sinn des Ganzen gemäß dargestellt. U b a l d ( H . Jost 8 ) ging m i t seinem magischen Strahlenschilde sehr leichtsinnig um, er trug ihn unverhüllt, und man konnte nicht gut begreifen, warum die Leute nicht perpetuirlich, sondern nur dann, wenn er es haben wollte, darüber erschracken. Aus vielem wollte man schließen, daß es m i t der ganzen Zaubermacht Armidas nicht weit her sey, sie würde sonst z. B. das Geheimniß der ewigen Schönheit u. Jugend a l l e n ihren N y m p h e n mitgetheilt haben, und ihre bösen Geister besser i n Zucht und Ordnung halten. Vergebens befahl sie diesen Unholden ihren Pallast zu zerstören, die Ungehorsamen ließen alles stehen, wie es stand, und spuckten noch wie zum H o h n nur gerade ein M a u l von Feuer auf Armidas Mantel, um zu zeigen, sie könnten, wenn sie w o l l ten — aber — Warum sind die Ideen unsers Dekorateurs gemeinhin von Conditorey Aufsätzen entlehnt? — ein kleines Theater verlangt weite Perspectiven und keine Gebäude 9 i n den Vorgrund. Das Costum der Ritter war verfehlt; sie sind i m Lager des Gottfried v. Bouillon und gehen geharnischt. Verfasser dieses versteht sehr wenig von der Musik, und doch fiel ihm gänzlich musikalischen Layen die Overtura als nicht zum Stück passend auf. 7 V o n Soden 1809 als »Erster Liebhaber« ans Bamberger Theater verpflichtet. Rousseau w a r 1807 i n H a m b u r g , A n f a n g 1808 kurze Zeit i n D a n z i g u n d erhielt nach Gastspielen i n Breslau u n d W i e n i m Sommer 1808 ein Engagement ans Wiener Hoftheater. 1813 ging er m i t H o l b e i n nach W ü r z b u r g ; 1815/16 ist er i n Salzburg nachzuweisen; i m J u n i 1817 gastierte er in Wien. 8 Während der Spielzeit 1809/10 am Bamberger Theater engagiert. Vielleicht identisch m i t C a r l Jost (1789—1870), der nach unstetem Wanderleben u n d zahlreichen Engagements an z. T . obskuren Bühnen 1837 an das Münchener Hoftheater k a m u n d dort als vorzüglicher Charakterdarsteller bis zu seinem Tode w i r k t e . 9 I m Druck »Gebäute«.

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M a n belehrte ihn, es sey die Overtura aus dem portugiesischen Gasthof 1 0 von Cherubini die man spiele, weil zu A r m i d a keine vorhanden. Während des Allegros war ihm wirklich einigemal so zu Muthe als höre er Billard à la Chaße11 spielen, und nun m i t einemmahl i n Armidas Zaubergärten hinein aus dem Gasthof. Der Ruck war zu stark und empfindlich. Für künftigen Freytag 1 2 ist die R a d i k a l k u r angezeigt, und jeder hofft, daß die jezt von einem geschickten Arzte unternommene K u r des Theaters auch eine Radikalkur seyn möge. Bamberg den 17. Sept. 1809.

[2·] Bamberger Intelligenzblatt. M i t allergnädigstem Privilegium. Frey tag N r o . 78. den 6ten Oktober 1809. Anhang

zu Nro.

78.

[S. 717, Sp. 1 — S. 718, Sp. 2:] Theater-Nachricht. Sonntag den 24. Sept.: d i e R a d i k a l k u r . Lustspiel i n 3 Aufzügen v. Mad. Weißenthurn 1 3 . D a n n : der Perückenstock, dramatische Bagatelle i n 1 Aufzuge von M a x Heigel 1 4 . Der Patient, welcher i n dem ersten Lustspiel radikal k u r i r t w i r d , ist ein eifersüchtiger Liebhaber, m i t h i n der Stoff des Stückes sehr verbraucht. Indessen ließen sich die beyden ersten Akte, als eine Reihe belustigender Szenen, recht gut ansehen; i m dritten A k t e fällt die Verfasserin ins Empfindsame 15, und w i r d langweilig. Der Scherz, w o m i t die Alten das Liebespaar necken, w i r k t um so unangenehmer, als das Vorgeben: das w i l l k ü h r liche Anlegen der U n i f o r m unterwerfe ihn der Strenge der Militairgesetze, den jungen Wolken nicht täuschen, sondern als ein unwürdiges Spiel, was man m i t ihm treibt, nur erbittern kann. Der H [err] v. Hochau verliehrt 10

T i t e l des französischen Originals: U hôtellerie portugaise (Paris 1798). E i n Billardspiel m i t 15 Bällen. Also am 22. September. Die A u f f ü h r u n g der Radikalkur fand aber erst 2 Tage später statt: s. die folgende Theater-Nachricht. 13 I m Druck »Weisenthurn«. Johanna Franul v. Weißenthurn, geb. Grünberg (1772—1845), begabte Schauspielerin u n d damals sehr beliebte Bühnendichterin. 14 Cäsar M a x Heigel (1783—1847?), bis 1812 O f f i z i e r i n französischen Diensten, dann Schauspieler, außerdem dramatischer Schriftsteller. 1829/30 w a r er D i r e k t o r der Bamberger Bühne, was seinen finanziellen R u i n zur Folge hatte. 15 I m Druck »Empfindsamme«. 11

12

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seinen H u m o r , und ihm w i r d , als sein Sohn nahe ist, vor lauter Vatergefühl übel. Nahmen die Schauspieler die empfindsamen 16 Szenen leichter, und ironirte das Liebespaar den Schmerz und die Verzweiflung durch beynahe übertriebenen Pathos, so würde der Zuschauer i n der lustigen Stimmung erhalten. Dieses geschah nun nicht, sonst war aber die Darstellung sehr geründet, und zeugte wieder von den nicht genug zu rühmenden Bemühungen der Direktion. H [ e r r ] W i t z 1 7 , der sonst Bösewichter und gemeine I n t r i guants m i t Talent als sein eigentliches Fach spielt, hatte den alten Hochau übernehmen müssen. Er stellte ihn leidlich, warum i n aller Welt aber mit jungem Gesichte, jungen Beinen, junger Sprache u.s.w. dar. Friederike: Madame W i t z , recht gut, wiewohl nicht ganz an ihrem Platze. Obristlieutfenant] von Wartberg, H [ e r r ] Renker 1 8 als Gast. N u n ! — Gästen muß man ja w o h l ein freundliches Gesicht machen. — Mancher Besuch ist aber so langweilig, daß man am freundlichsten ist, wenn der Gast nach H u t und Stock greift, und man sagt nicht einmal Höflichkeitshalber: Wollen Sie nicht noch bleiben? — v. Wolken, H [ e r r ] Roußeau, bewährte die für ihn gefaßte gute Meinung, nur mag ihm ein Freund leise ins O h r sagen: Die Gewohnheit i n der Sprache des Affekts, hörbar Athem zu schöpfen, führe sehr leicht zu dem fatalen Schluchzen, dem Ingredienz der veralteten H a u p t und Staats-Aktion. E i n Fremder (der junge Hochau), H [ e r r ] Jost — unbedeutend. — Er sah älter aus, als der Papa. D e r P e r ü c k e n s t o c k ist eine Ehestands-Szene, nicht ohne Laune, und m i t Einfällen ausgeschmückt, die mehr drolligt als w i t z i g sind. H . Roußeau traf den aus Etourderie, Poltronnerie, Geckenhaftigkeit, Eifersucht und H u m o r zusammengesetzten Charakter des Kranz vortreflich. Rose, Dem. Weyrauch, recht artig, nur w i r d ihr der partheilose Kunstrichter sagen, daß ein ziehender, singender T o n keinesweges das Naive ausdrücke, und i n Verbindung m i t dem Kunstrichter der Spiegel: daß Vorbeugen des Oberkörpers, und die eckigte, die L u f t durchschneidende Bewegung der Arme jede natürliche Grazie vernichte. Zur Beruhigung des eifersüchtigen Gemahls 16

I m Druck »empfindsammen«. Gatte der schon i n der 1. Theater-Nachricht genannten M a d . W i t z ; w a r m i t dieser zusammen 1806—1810 am Bamberger Theater. Das Ehepaar spielte später auf dem Theater i n München u n d wurde 1814 nach W ü r z b u r g verpflichtet. 1815 übernahm W i t z die Regie des dortigen Schauspiels, 1816 auch die der Oper, jedoch verließen die beiden W i t z W ü r z b u r g schon i m folgenden Jahre. — I n einem Bericht der Bamberger Zeitung N r o . 301 v o m 27. Oktober 1808 über das neue Theater heißt es, nachdem der Maler A n t o n Fries wegen der Dekorationen u n d des Vorhangs gerühmt worden ist: »Das übrige Arrangement der Bühne, welches, wie die Gesammt-Einrichtung des Theaters selbst, H r . W i t z besorgt hat, ist gut gewählt« usw. 18 E i n sich auf der Durchreise befindender Schauspieler, w o h l identisch m i t dem 1811 v o n H o l b e i n für das Fach »Zweyte Väter und Intrigants« u n d für »zweyte Baßparthien« engagierten Ränker, dessen Frau i m Schauspiel »Zweyte Mütter« darstellte. (Beide nur bis 1812 am Bamberger Theater.) 17

Aus E. T . A . Hoffmanns Bamberger Zeit

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sang sie das Lied: Freudvoll und Leidvoll, m i t bebender Stimme, welches auf die Zuhörer mehr L e i d v o l l als F r e u d v o l l w i r k t . H . Jost gab den Baron v. Blüthen, der m i t Laune geschriebenen Rolle zum Trotz, ganz unbedeutend. Freytag, den 29. Sept. D i e k u r z e E h e , Lustspiel i n 1 Aufzuge von Sonnenleithner 19 , dann ein komisches Duett von Pär 2 0 . Zuletzt: D a s w a r i c h , ländliche Szene von H u t h 2 1 . Die kurze Ehe ist ein gut angelegtes, m i t Laune durchgeführtes Lustspiel, welches aber rascher und präziser als es heute geschah, dargestellt seyn w i l l . H . W i t z mußte wieder als Vater auftreten, hatte auch ein altes Gesicht, aber Gang und Stimme eines Jünglings. H . Jost gab den jungen Seebach so ziemlich, nur sagte er einmal : ich beschwöre I h n e n . Es giebt Kunstproduktionen, die nicht unter aller K r i t i k schlecht, aber so bedeutungslos sind, daß sich gar nichts davon sagen läßt. Dieses ist der Fall m i t dem komischen D u e t t 2 2 . H . Langer w i r d w o h l H . Renker nachreisen. Die ersten Szenen des niedlichen Lustspiels: d a s w a r i c h , wurden unglaublich gezerrt und gezogen, so daß das lebhaftere Spiel der letzten Szenen kaum den begangenen Fehler gut machen konnte. Mad. Z i e r 2 3 hat ein schneidendes Organ, welches zur bösen Nachbarinn gut paßte, sonst gab sie der Rolle weder Laune noch individuellen Charakter. I n dem Pachterhofe, dem Zuschauer links, dicht am Proszenium, standen zwey Zimmer-Culißen. Solche Versehen sind ganz unleidlich. Sonntag den l t e n O k t . D i e S t r i c k n a d e l n , Schauspiel i n 4 A u f zügen von Kotzebue. Hierauf d i e Z e r s t r e u t e n , Lustspiel i n 1 A u f zuge von Kotzebue. Madame Deutsch gab, m i t Vorbehalt des Debuts i m ernsten Fach 24 , die Landräthin Durlach. Die langweilige Exposition des Stückes ermüdete noch 19 I m handschriftlichen Bamberger Theater-Journal: »Sonnenleither«. Joseph Sonnleithner (1766—1835), Jurist, Literat u n d Musiker, w a r v o n 1804 bis 1814 Hoftheater-Sekretär i n W i e n und ist durch das L i b r e t t o zu Beethovens Leonore (dem späteren Fidelio) bekannt geblieben. Sein Einakter Die kurze Ehe (nach dem Französischen des Etienne) wurde zuerst 1804 i n W i e n aufgeführt. 20 Ferdinando Paer (1771—1839). U m welches D u e t t des gefeierten Komponisten — seit 1806 kaiserl. Plofkapellmeister i n Paris — es sich handelt, kann ich nicht sagen. 21 Auch i m Bamberger Theater-Journal » H u t h « . Gemeint ist Johann H ü t t (1774— 1808), Kanzlist bei der k. k. Polizeidirektion i n Wien. Der 1. Band seiner Lustspiele w a r 1805 erschienen u n d enthält als erstes Stück den Einakter Das war ich. 22 Gesungen v o n Dem. Victorine Weyrauch u n d H e r r n Langer a. G. 23 M a d . Zier gab die Nachbarin i n Das war ich als Gastrolle u n d wurde für die Spielzeit 1809/10 engagiert. 24 M a d . Deutsch w a r 1809/10 M i t g l i e d des Bamberger Theaters; ihr Debut i m ernsten Fach fand am 1. Oktober 1809 statt: s. die 3. Theater-Nachricht. — D i e

9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 7. Bd.

Friedrich Schnapp

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mehr durch den eintönigen, gezogenen Vortrag der Mad. D., deren Spiel sich jedoch immer mehr hob, und die, als sie gegen ihren Sohn i n die heftigste Vorwürfe ausbrach, die Gränzlinie des Anständigen vortrefflich zu halten wußte. Bedeutend hat das Schauspiel durch Mad. D . gewonnen. Madame W i t z hat nicht Tournure genug, um eine elegante vornehme Dame darzustellen, deshalb mislang ihr, als Baronin Durlach, die erste Szene, i n welcher ihr noch dazu der neckende, leichte T o n der großen Welt durchaus nicht gelingen wollte, dagegen gab sie die affektvollen Szenen und hauptsächlich den Moment, als sie, ergriffen von dem Bewußtseyn ihrer Schuld, von dem innigsten Schmerz, der bittersten Reue, an Glück und Ruhe verzweifelt, sehr brav, so daß der Zuschauer die erst gegebenen Blößen, leicht und gern vergaß. H . Jost nahm sich als Baron gewaltig zusammen, und überhaupt gelang die Darstellung i m Ganzen sehr gut, da m i t einem lobenswerthen Bemühen alle Schauspieler auf einen Punkt zu wirken strebten. I n der Szene, w o die Baronin auf die Maskerade geht, und w o es also doch w o h l Nacht ist, und der Baron den Brief seiner Frau finden und lesen soll, hätte ein Licht seyn müssen; auch solche kleine Fehler dürfen nicht übersehen werden. Sehr üblen Humors muß d e r seyn, der i n den Zerstreuten nicht lacht, aber recht herzlich w i r d dieses Lachen nur dann seyn, wenn zwey gehaltvolle Komiker, m i t Laune und Geist, die beiden A l t e n geben. H e r r n Langer 2 5 wünschen w i r , daß er recht glücklich reisen, und daß der H i m m e l für ihn ein Publikum entstehen lassen möge, welches ihn für spaßhaft und komisch hält. — Bamberg den 2. O k t . 1809.

[3·] Bamberger

Intelligenzblatt.

M i t allergnädigstem Privilegium. Dienstag N r o . 83. den 24ten Oktober 1809. [S. 766, Sp. 2 — S. 768, Sp. 2 : ] Theater-Nachricht. Mittwochs den 4. O k t . 1809. A m a l i e v o n L i e n a u , Schauspiel in 5 Aufzügen nach Destouches von Friedrich Rohm. W i r erinnern uns nicht jeSchauspielerin ist w o h l identisch m i t »Mad. Deutsch v o m Dresdner Hoftheater«, die i m November u n d Dezember 1808 i n W ü r z b u r g gastiert hatte. 25 Langer als Gast spielte i n den Stricknadeln den A d v o k a t e n Burrmann, i n den Zerstreuten den H a u p t m a n n v. Mengkorn.

Aus E. T . A . Hoffmanns Bamberger Z e i t

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mahls ein langweiligeres, unangenehmeres Schauspiel gesehen zu haben, als diese Amalie v. Lienau. I n der Exposition des Stücks w i r d ganz einfach erzählt, welche M i t t e l angewendet werden sollen, den vorgesetzten Zweck (die Gräfin Lienau m i t ihrem alten Liebhaber, dem Lieutenant Flohr, auseinander zu setzen, und diesem Julien anzufreien) zu erreichen; sie werden angewandt und haben den gewünschten Erfolg. Jede Spannung, jede Ueberraschung ist also dem Zuschauer erspart, der noch überdem genöthigt ist, die Personen des Dramas i n einer fortwährenden peinlichen Lage, durch fünf lange Akte, sich quälen zu sehen. Nicht ein Funke von W i t z oder Laune verrieth das französische Original, Η [err] R. scheint Wasser i n Wasser gemischt zu haben, und es ist etwas sehr undankbares, das geschmacklose Getränk aufzutischen, von den Darstellern daher kein Wort. Frey tags den 6. O k t . d i e P u t z m a c h e r i n 2 6 . Lustspiel i n einem A k t e von Kotzebue. Hierauf eine Musikalisch dramatische Akademie i n zwey Abtheilungen. Das erstgenannte Lustspiel ist eines von Kotzebues schwächsten Produkten, und die Darstellung desselben blieb fast unter dem Mittelmäßigen. Stolperfuchs war die einzige Figur, welche lebendig heraus trat, und H . W i t z beurkundete sein Talent zu K a r r i k i r t e n Rollen dieser A r t . Madame Silber 2 7 sprach m i t einer schneidenden harten Männer-Stimme, und erinnerte an die böse Nachbarinn i n : das war ich. I n der Akademie wurde v i e l e s aber nicht sonderlich v i e l gegeben 28 . N u r i m allgemeinen bemerken w i r , daß die junge Künstlerin 2 9 , welche Goethes schönes, sinniges Gedicht: der Gott und die Bajadere, i n der M a n i e r hersagte, wie Madame Bürger vor einiger Zeit Goethes Legende dek l a m i r t e 3 0 , eben dadurch bewies, wie wenig sie von dem Geiste der herrlichen Dichtung durchdrungen war. W i r brauchen das W o r t : M a n i e r m i t Bedacht, um die angehende talentvolle Künstlerin vor dem Nachahmen jeder M a n i e r zu warnen, und hoffen, daß sie recht bald ihre Begriffe über Deklamation überhaupt berichtigen werde. M a n erinnerte sich bey dem Steigern des Affects i n den ersten Strophen des Monologs der Jungfrau 3 1 m i t 26

Genauer: Die hübsche kleine Putzmacherin. D i e Rolle der Frau Silber spielte »Madame Zier als Mitglied«. 28 M i t w i r k e n d e waren: Dem. Victorine Weyrauch, H e r r Hörger u n d H e r r W e i d t (neue Mitglieder des Theaters), ferner H e r r H o y e r u n d H e r r Fries. (Uber Fries s. A n m . 33.) 29 Dem. Victorine Weyrauch. 30 Elise Bürger, geb. H a h n (1769—1833) w a r 1790—92 m i t G. A . Bürger — als dessen 3. G a t t i n — verheiratet gewesen. I n Bamberg, w o sie v o m 12. A ^ r i l bis 14. M a i 1809 gastierte, hatte sie am 25. A p r i l eine »musikalisch-declamatorische A k a demie i n 3 Abteilungen« gegeben. 31 Der Schillerschen Jungfrau von Orleans. 27

9*

132

Friedrich Schnapp

Vergnügen eines vortrefflichen Musters 3 2 , der Schluß war kalt und matt. A n H e r r n Fries dem jüngeren 3 3 gewinnt die Oper m i t der Zeit einen braven Baßisten. Sonntags 34 . S e l i m P r i n z v o n A l g i e r , Schauspiel i n fünf A u f zügen von Jünger 3 5 . E i n veraltetes, langweiliges Produkt der Jüngerschen Muse, das wahrscheinlich nur des Debuts der Madame Deutsch wegen auf das Repertoir gekommen. Saphira blieb ganz in dem gewöhnlichen Ton, wie man sonst auf der Bühne die unglücklichen Königinnen über ihr Geschick schluchzen hörte, und auffallend war ihre Ruhe, w o m i t sie i n der letzten Szene den: »Tyrannen i n seinem B l u t e ! [ « ] anschaute. Die Darstellerin dieser Rolle w i r d w o h l nun auf das Trauerspiel Verzicht thun, und zur Zufriedenheit des Publikums i n Conversations-Stücken d a s leisten, was ihre Kräfte vermögen. H . Roußeau erregte durch sein gedachtes Spiel den Wunsch, ihn recht bald i n der Helden-Rolle eines klassischen Trauerspiels zu sehen. — Wenn die Kinder etwas undeutlich hingekritzelt haben, so schreiben sie nachher drüber: das ist ein Pferd — ein Vogel etc. So stand an Osmanns Figur der weiße Bart, wie die Inschrift: ich bin ein alter M a n n ! — es hätte es sonst niemand geahndet. Daß bis auf die längst studirte Saphira (vorzüglich Barbaroßa) schlecht memorirt waren, muß man bey der jetzigen Lage des Theaters leider übersehen. Mittwochs den 11. O k t . D i r η a. Großes heroisches Melodram i n drey A k t e n m i t Chören. Nach einer wahren indischen Geschichte. Die Musik von Hoffmann 36. Der Nabob Zami hat D i r n a geraubt, sie zum Ehebruch gezwungen, und m i t ihr Zwillinge erzeugt, die ihr M a n n Ganga, bey der v o m Mogol gestatteten Wiedervereinigung m i t ihr, als seine Kinder aufnimmt. Diese Begebenheit, der Stoff des Stücks, mag als wirklich geschehen, viel interessantes haben, zum Drama ist sie durchaus unschicklich, indem die Lage der handelnden Personen auf den Zuschauer nur unangenehm wirken, und sein Zartgefühl beleidigen muß. Hiezu kommt noch, daß die drey Hauptper32 Schillers D r a m a war zuletzt am 18. J u l i 1807 in Bamberg aufgeführt worden; wer damals die Titelrolle gab u n d ob hier auf diese Darstellerin angespielt w i r d , kann ich nicht sagen. 33 Christoph Fries (1787—1857), Sohn des Theatermalers und Zeichenlehrers A . Fries (s. 2. Theater-Nachricht, A n m . 17), hatte i m 6. Februar 1809 in Bamberg debütiert. H o f f m a n n unterrichtete ihn l t . Tagebuch i m August 1809, offenbar m i t gutem Erfolg, denn am 14. M ä r z 1810 konnte sich Fries auf der Würzburger Bühne in einer Zwischenaktsmusik m i t zwei anspruchsvollen A r i e n v o n Paer hören lassen. 1814 w a r Fries in N ü r n b e r g ; seit 1815 w i r k t e er zunächst als Bassist, später auch als Schauspieler, dann als Dekorationsmaler i n München. 34 8. Oktober. 35 Johann Friedrich Jünger (1759—1794). 38 Der Dichter — G r a f Soden — w i r d nicht genannt!

Aus

. T . A . Hoffmanns Bamberger Zeit

133

sonen: Zami, Dirna, Ganga, unaufhörlich i n den gewöhnlichsten Ausrufungen ζ. Β. ο Jammer! ο Verzweiflung! etc. über ihr Unglück lamentiren, und dadurch eine Eintönigkeit i n das Ganze bringen, die nur durch die Musik, und durch äusserst affectvolles Spiel unterbrochen werden konnte. Hieran ließ es die Darstellerin der D i r n a 3 7 gänzlich fehlen, indem sie den Aufforderungen i n der Musik unerachtet, die ganze Rolle weich und matt nahm. Zami war und blieb eine Neben-Figur, nur H . Roußeau deklamirte feurig und lebhaft, wie sichs gehörte. — Große Herren haben sonderbare Grillen, so ζ. B. der Mogol, der sich und seine Trabanten peruanisch kleidet — auch Zami ging peruanisch, wahrscheinlich dem Mogol zu Gefallen. I m Ernst, es ist nicht zu begreifen, warum man das so bekannte, dem türkischen sich annähernde, effektvolle 3 8 ostindische Costüm, ganz vernachläßigt hatte. Die Dekorationen waren besser und verständiger, als je angeordnet, und die Züge, vorzüglich der D o p pel-Marsch der Priester und Trabanten, von guter Wirkung, welches man von dem Tanze nicht sagen konnte. M a n muß in dieser Kunst i n Ostindien sehr zurück seyn. Wäre das nicht eine Spekulation für einen geschickten Tanzmeister? I m ganzen ging die Darstellung, die i n sehr kurzer Zeit angeordnet seyn soll 3 9 , sehr präzis. V o n der Musik dieses Melodrams 4 0 noch ein W o r t zu sprechen — Dieser Pflicht hätte uns zwar das damalige Publikum durch seinen, dem Compositeur gezollten lauten Beyfall überhoben. Doch w i r d uns der so viel Gefühl für Kunst verrathende A u t h o r nicht misdeuten, wenn w i r unsere Gefühle bey diesem Kunstprodukte äussern. Die Musik ist i m Ganzen gerathen, wenigstens sehr gefällig, wenn w i r gleich einen eigentlichen musikalischen Karakter des Sujets i n ihr zu vermissen glauben. Die Ouvertüre ist eine angenehme ausschweifende Phantasie 41 , aber die H a n d l u n g des Stückes hat sie uns, wie sie eigentlich sollte, nicht angekündet. Etwa 8 bis 9 Täkte hindurch erinnerte sie uns an Cherubinis Wasserträger 42 , bis uns wieder die 37

Jedenfalls Madame W i t z . I m Druck »affektvolle«. Nach Hoffmanns Tagebuch fand die erste Probe am 26. September statt. 40 H o f f m a n n hatte den Kompositionsauftrag am 18. Juni, den T e x t am 22. Juni erhalten. A m folgenden Tage begann er die Niederschrift der Musik, die er am 7. September m i t der Ouvertüre beendete. 41 Wie eine A n t w o r t darauf schreibt H o f f m a n n i n seiner A b h a n d l u n g über Beethovens Instrumental-Musik (Kreisleriana I , 4): »Aber die weisen R i c h t e r . . . v e r s i c h e r n : . . . es fehle dem guten B. nicht i m mindesten an einer sehr reichen, lebendigen Fantasie, aber er verstehe sie nicht zu zügeln! D a wäre denn nun v o n A u s w a h l u n d Formung der Gedanken gar nicht die Rede, sondern er werfe nach der sogenannten genialen Methode alles so hin, wie es i h m augenblicklich die i m Feuer arbeitende Fantasie eingebe. Wie ist es aber, wenn nur Eurem schwachen Blick der innere tiefe Zusammenhang . . . entgeht?«. 42 Französischer O r i g i n a l t i t e l : Les deux journées (Paris 1800). D i e Oper w a r noch am 15. Februar, 15. M ä r z und 13. M a i 1809 i n Bamberg gegeben worden. 38

39

Friedrich Schnapp

134 große

Trommel

zu

dem

Janitscharen

Hofe

zurückbrachte.

Die

Märsche

k ö n n t e n besser k a r a k t e r i s i r t seyn, u n d das B r i l l a n t e , w a s m a n a n i h n e n z u e r w a r t e n b e r e c h t i g t ist, f e h l t e h i e r g a n z . Besonders t r i f f t dieses d e n M a r s c h b e y d e m Z u g e des M o g o l s a u f d e m E l e p h a n t e n . Z w a r w a r d e r glücklich, 2

den

Trauer-Chor

bey

dem

Abgehen

mit

diesem

Gedanke

Marsche

in

/ 4 T a k t e i n f a l l e n z u l a s s e n 4 3 , aber berechnet w a r es n i c h t , d a ß sich z u g l e i c h

d i e Sänger z u w e i t e n t f e r n e n w ü r d e n , u m d i e vorausgesetzte W i r k u n g h e r v o r z u b r i n g e n . D i e C h ö r e h ä t t e n f e y e r l i c h e r u n d e r h e b e n d e r seyn k ö n n e n 4 4 . E i n e graziöse V e r t h e i l u n g e i n i g e r Solos d e r I n s t r u m e n t e w ü r d e d i e M o n o t o n i e des Gedichtes sehr verbessert h a b e n , u n d besonders h ä t t e H .

Hofmann

d i e V i o l i n so z u b e n u t z e n sich befleißen sollen, w i e er ü b e r a l l m i t

dem

Fagotte, Clarinet, u n d O b o e n gethan h a t 4 5 . D o c h w i r gestehen nach unserem eigenen G e f ü h l e , d a ß w e n n d e r D i c h t e r d i e ü b e r a l l z u craße I d e e seiner w e i b l i c h e n T u g e n d , w i e er sie uns i n d i e sem Stücke gegeben h a t , verbessern w o l l t e , das M e l o d r a m v o n Seite

der

M u s i k a u f a l l e n B ü h n e n G l ü c k machen w e r d e 4 6 . F r e y t a g d e n 13. O k t . U m schreiben w i r

d e n engen R a u m dieser B l ä t t e r z u schonen,

d e n h e u t i g e n d r a m a t i s c h e n K ü c h e n z e t t e l n i c h t ab,

sondern

b e m e r k e n n u r , d a ß das P u b l i k u m g e n ö t h i g t w u r d e , z w e y moralische

Be-

t r a c h t u n g e n , eine o f t gegebene O p e r e t t e , e i n u n b e d e u t e n d e s N a c h s p i e l , u n d

43 Dieser Marsch w i r d i n Hoffmanns Tagebuch v o m 28. J u l i 1809 als »complicirter Chor m i t zweyerley T a c k t A r t 2/4 C« erwähnt. 44 Ganz anders als Marcus, der nach dem Zeugnis seines Schwiegersohnes D r . Friedrich Speyer »für die M u s i k auch nicht das mindeste Geschick« besaß u n d sich selbst in der 1. Theater-Nachricht als »gänzlich musikalischen Layen« bezeichnet, urteilt ein anderer Berichterstatter i n der Allgemeinen Musikalischen Zeitung N o . 11 v o m 13. Dezember 1809. D e r Schluß dieses Berichtes lautet: »Die Musik [der Dirna] fand nicht nur ungetheilten, ausgezeichneten Beyfall, sondern man bemühte sich auch, denselben auf alle Weise an den Tag zu legen . . . Vorzüglich schienen den Kennern zu gefallen: die Chöre, die instrumentirten Monologe, u n d der Marsch, m i t welchem i n der Schlussscene der Kaiser auf seinem Elephanten in der Ferne daherzieht, während i m Vorgrunde des Theaters die B r a m [ a n ] e n , welche D i r n a zum Tode führen, ihren Trauerchor fortsingen. (Der Satz ist für ein doppeltes Orchester bearbeitet. Z u dem Chor der Priester i m Vierviertel-Tact, t r i t t ganz leise jener Marsdi i m Unisono u n d Zweyviertel-Tact, m i t Trommel, Becken etc. ein.) Ich darf sagen, dass ein solcher Enthusiasmus für ein Musikstück hier etwas sagen w i l l , denn das hiesige P u b l i k u m ist i n diesem Betracht ziemlich schwierig u n d nicht leicht zu entzünden.« 45 D i e Orchesterbesetzung der leider verschollenen Dirwd-Musik w a r : 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Clarinetten, 2 Fagotte, 2 H ö r n e r , 2 Trompeten, Pauken, große T r o m m e l (Tamburo grande), Triangel u n d Streicher. H i n z u kam noch »Ballo«, offenbar ein kleines Orchester auf der Bühne, hauptsächlich zur Begleitung der Tänze. 43 Die Dirna wurde i n Bamberg am 22. Oktober 1809 u n d am 1. Januar 1810 wiederholt. Ferner lassen sich zwei Aufführungen in Salzburg am 25. M ä r z u n d am 12. J u l i 1811 nachweisen. Außerdem k a m das M e l o d r a m i m Herbst 1812 i n Donauwörth zur Darstellung.

Aus

. T . A . H o f f m a n n s Bamberger Z e i t

135

ein Q u o d l i b e t v o n Versen u n d G e d a n k e n a n z u h ö r e n 4 7 . Was w i r über die Darstellung

des W ä s c h e r m ä d c h e n s 4 8

auf

dem H e r z e n haben, werden

wir

gelegentlich b e y b r i n g e n . S o n n t a g s d e n 15. O k t . D i e

Z a u b e r z i t h e r ,

Oper i n drey

Auf-

z ü g e n v . P e r i n e t ; die M u s i k v o n W e n z e l M ü l l e r 4 9 . L ä n g s t ist dies e r b ä r m l i c h e M a c h w e r k v o n d e n R e p e r t o i r s g u t e r B ü h n e n v e r b a n n t , u n d es ist u m so w e n i g e r z u b e g r e i f e n , w a r u m d i e D i r e c t i o n n o c h j e z t d a m i t das P u b l i k u m l a n g w e i l t , als es d a r a n , w a s dieser O p e r

wenig-

stens d e n R e i t z einer g u t e n magischen L a t e r n e geben k a n n , g a n z f e h l t , d. i . a n M a s c h i e n e n u n d D e k o r a t i o n e n . F a l l e n d i e d a r a u f berechneten Szenen so l ä p p i s c h aus, w i e d i e W a s s e r f a h r t des B o s p h o r o , w o b e y die P e r s o n e n g a n z r u h i g h i n t e r e i n i g e n schlecht b e m a h l t e n B r e t t e r n s t a n d e n , d i e Wasser

und

G o n d e l n v o r s t e l l e n s o l l t e n 5 0 , so k a n n die D a r s t e l l u n g n u r d e n U n w i l l e n des gebildeten Publikums

erregen.



Merkwürdig

war

die Erscheinung

der

K a t z e n , u n d a u f f a l l e n d , daß der C h o r der Gespielinnen der Sidi, nicht dieselbe W i r k u n g h e r v o r b r a c h t e , w i e Z u m i o ' s F a g o t t . M a n h o f t die g a r n i c h t erfreuliche W i e d e r e r s c h e i n u n g des D a r s t e l l e r s des A r m i d o r o 5 1 , w e r d e n u r v o r ü b e r g e h e n d seyn, u n d Z u m i o 5 2 aus d e m G r a b e , i n das er h e u t e v e r s u n k e n , n i c h t w i e d e r e m p o r s t e i g e n . G ä s t e müssen, w e n n sie l a n g w e i l e n , i h r e n Besuch n i c h t ü b e r G e b ü h r ausdehnen.

47 Gegeben wurde das einaktige heroische M o n o d r a m Antonin, Cäsar in Rom v o n Gustav Hagemann, das einaktige Singspiel Adolph und Clara v o n Dalayrac, das M o n o d r a m Adolph oder die Rückkehr ins Vaterland v o n Hagemann, die einaktige Posse Das Landhaus an der Heerstraße v o n Kotzebue u n d Meister Elias Quodlibet oder das reisende Genie, »scherzhaftes Intermezzo i n 1 A c t « v o n Hagemann. — Der Schauspieler u n d Bühnendichter Friedrich Gustav Hagemann (1760— ca. 1830) spielte i n seinen drei Stücken selber die Titelrollen. Dalayracs Adolphe et Clara ou Les deux prisonniers (Paris 1799) wurde in Bamberg zuerst am 5. A p r i l 1809 v o n französischen Darstellern aufgeführt, danach am 30. A p r i l u n d am 17. M a i v o n den deutschen Schauspielern wiederholt. 48 Vielleicht ist das Kammermädchen Nettchen aus Kotzebues Landhaus an der Heerstraße gemeint. Wer diese Rolle spielte, ließ sich .nicht feststellen. 49 Kaspar der Fagottist oder die Zauberzither (Wien 1791) w a r i n Bamberg zuerst am 30. J u l i 1806 gegeben u n d dann wieder am 12. M ä r z 1809 gespielt w o r den. H o f f m a n n hatte diese letzte A u f f ü h r u n g laut Tagebuch besucht u n d schätzte überhaupt Wenzel Müllers Singspiele. Jedenfalls r ü h m t er ihrer zwei i n dem D i a l o g des Dichters und des Componisten, w o er den Komponisten L u d w i g sagen läßt, daß er »Opern wie das Sonntagskind u n d Die Schwestern von Prag gar sehr i n Schutz nehme. M a n könnte sie echt deutsche Opere buffe nennen.« 50 V g l . Hoffmanns Vollkommenen Maschinisten (Kreisleriana I , 6): »Man n i m m t zwey Bretter, so lang, als das Theater breit ist, läßt sie an der obersten Seite auszacken, m i t kleinen Wellchen blau u n d weiß bemahlen« usw. 51 u. 52 Folgenden hervorgeht, Gäste; der eine wahrscheinlich H e r r a u s Langer. — Bekannt ist nur, daß » A l m a , Oberjäger des Prinzen« durch den neu engagierten H e r r n W e i d t u n d »Pizzichi, ein Genius« durch » H r n . Hörgers Sohn«

dargestellt wurde.

Friedrich Schnapp

136

[4.] Bamberger

Intelligenzblatt.

M i t allergnädigstem Privilegium. Dienstag

N r o . 89. den 14ten November 1809. [S. 809, Sp. 2 — S. 810, Sp. 2 : ]

Theater-Nachricht. Die bisher i n diesem Blatte erschienenen Beurtheilungen der Darstellungen des hiesigen Theaters haben in der kleinen Welt, auf der Bühne, und dem was ihr anhängt, eine große Bewegung veranlaßt, und vorzüglich sind es zwey Vorwürfe, die man ihnen macht. Einmahl hieß es: sey die K r i t i k zu oberflächlich, und persiflirend, dann aber sey es ungerecht, über ein erst entstehendes Theater strenge zu urtheilen. Der erste V o r w u r f ist kaum zu berühren, denn ein jeder w i r d einsehen, daß, abgesehen von dem beschränkten Raum dieser Blätter, lange Diskussionen das Publ. gelangweilt, und d e n Schauspieler, dem eine kurze A n deutung nicht das verfehlte zeigt, gewiß nicht gebessert hätten. Eben so gewiß ist es, daß die freundliche Muse der Schauspiel-Kunst selbst den K r i tiker einladet, den Jokus Stab zu schwingen, und wem, ist er nicht überempfindlich, würde denn ein Schlag dieses leichten Stabes eine schmerzhafte Wunde versetzen? Der zweyte V o r w u r f schien etwas wahres zu enthalten, und brachte den Verfasser sogleich zu dem Vorsatze, so lange zu schweigen, bis das Theater ganz als organisirt anzusehen seyn würde. — Rom ist nicht in einem Tage gebaut, aber ein Theater, wie Verfasser glaubt, könnte in sechs bis acht Wochen, wenn die Sache m i t Energie angegriffen, und eine augenblickliche Aufopferung nicht gescheut w i r d , bey der jetzigen Vakanz so vieler guter Schauspieler 53 , wenigstens einigermassen organisirt seyn. Ueber unser Theater scheint indessen ein besonderer Unstern zu walten, der alles bessere, was sich ihm nähern w i l l , blendet, und auf andere Wege fortscheucht. Vielleicht sind es auch mitunter zufällige Umstände, die die Sache i n die Länge ziehen, und es sey dem Verfasser erlaubt, wieder einmal wenigstens i m Allgemeinen über das zu sprechen, was bisher auf dem Theater gegeben wurde. — 53 Infolge der Kriege v o n 1806 bis 1809 waren viele deutsche Staaten i n finanzielle Schwierigkeiten geraten, u n d an zahlreichen Theatern mußten Schauspieler und Sänger entlassen werden. I n Bayern, das m i t Napoleon verbündet war, herrschten verhältnismäßig bessere Zustände.

Aus E. T . A . Hoffmanns Bamberger Z e i t

137

Wer denkt nicht noch m i t Vergnügen an D ö b b e l i n s Erscheinung auf unserer Bühne 5 4 . U m D ö b b e l i n s Darstellungs-Art komischer Charaktere in wenigen Worten zu charakterisiren, glaubt der Verfasser sagen zu dürfen: daß er m i t einem unvergleichlichen N a t u r e l l begabt, das Groteske in höherer Potenz auffasse, und m i t d e r Gemüthlichkeit, die aus einem innern Wohlbehagen entspringt, und dies Wohlbehagen dem Zuschauer m i t theilt, darstelle 55 . Daher kommt es, daß er ohne ausgebildeter Künstler i m höhern Sinne des Wortes zu seyn, von seinem Genius geleitet, überall das Richtige blindlings t r i f t , daß er die menschliche N a t u r tief ergreifend, selbst in der abentheuerlichsten Kleidung und Pantomimik (ζ. B. als Willibald) selbst wenn er Poßen treibt (ζ. B. wenn er als M a r t i n auf dem Stocke gallopirt) den Zuschauer unwiderstehlich erschüttert, und mit sich fortreißt. Seine gelungenste Exposition 5 * war unstreitig Geronte in dem Schatzgräber, wo er bis zum Ausruf der Verzweiflung: M o r a l statt Gold! i n einem fortwährenden K l i m a x mimisch und deklamatorisch steigend, den Zuschauer zu einer seltenen Höhe des Komischen erhob. Der enge Raum dieser Blätter verbietet dem Verfasser, tiefer i n die Expositionen des genialen Künstlers, den er zum Erstenmale sah, einzugehen. Billig ist es aber, auch unserer heimischen Künstler zu denken, und dem rauschenden Beyfall, den das Publik u m der Madame W i t z als A r m i d a 5 7 zollte, noch diese Worte hinzuzufügen, daß sie durch den Geist, der sie in dieser Rolle belebte, und ihr einen wahrhaft tragischen Charakter gab, dem Verfasser einen höheren Begriff von d e m beybrachte, was sie bey ihrem rühmlichen Eifer für die Kunst, bey ihrem rastlosen Fortschreiten, (man vergleiche die e r s t e Darstellung 54 C a r l Döbbelin (1763—1821), damals Theaterdirektor i n Amsterdam, gastierte in Bamberg v o m 24. bis zum 27. Oktober 1809 u n d t r a t i n folgenden Rollen auf: A m 24. Oktober als W i l l i b a l d u n d als Knochen i n Schröders einaktigem Lustspiel Die Heyrath durchs Wochenblatt, als Geronte i n Méhuls (zuerst 1802 in Paris gegebenem) Einakter Der Schatzgräber (Le trésor supposé ou le danger d'écouter aux portes) u n d als H a u p t m a n n v. M e n g k o r n i n Kotzebues einaktiger Posse Die Zerstreuter, ι, am 25. O k t . als H e t m a n in Kotzebues 5aktigem Schauspiel Graf Benjowsky oder die Verschwörung auf Kamtschatka, am 26. O k t . als Franz Bertram in Kotzebues 5aktigem Schauspiel Bruderzwist oder die Versöhnung, am 27. O k t . als Tapezierer M a r t i n in Kotzebue-Himmels dreiaktigem Singspiel Fanchon, das Leyermädchen u n d — »auf Verlangen« — nochmals als Geronte in Méhuls Schatzgräber. — H o f f m a n n w a r schon v o n Posen her m i t Döbbelin bekannt, w o dessen kleine aber ausgezeichnete Truppe i m Herbst 1801/Frühjahr 1802 sein einaktiges Singspiel Scherz, List und Rache mehrmals zur A u f f ü h r u n g gebracht hatte. — E i n weiteres Gastspiel i m Bamberg gab Döbbelin v o m 19. bis 24. J u l i 1811; u m die Jahreswende 1815/16 gastierte er i n Berlin. 55 V g l . Hoffmanns Prinzessin Brambilla, K a p . 3.: »Aber verzeiht, Celionati, wenn ich auch dem Possenhaften, soll es geduldet werden, einen Zusatz v o n Gemüthlichkeit für nothwendig erkläre.« 56 H i e r wie kurz darauf i m Sinne v o n Interpretation (wie es auch i m Französischen möglich ist). 57 D i e Wiederholung des Winterschen Melodrams Armida und Rinaldo fand am 29. Oktober statt.

138

Friedrich Schnapp

der A r m i d a mit der zweyten) noch werden kann. Auch Demoiselle W e y r a u e h 5 8 , H . R o u ß e a u und H . W i t z erwerben sich durch ihre A n strengung und ihren Fleiß, die volle Achtung des für das bessere gewiß sehr empfänglichen Publikums. I n der letzten Akademie 5 9 beurkundeten die beyden Mad. H a n s i n g 6 0 ein entschiedenes Theater-Talent, aber eben i n dieser Akademie — w i r müßen es sagen — geschah etwas unbegreifliches. M a n traut der Direction einen sehr richtigen Tackt zu, auch nach der Probe i m Zimmer entscheiden zu können, w i e und w e n n eine Anfängerin dem Publikum vorzuführen sey, und doch wurde das Publikum genöthigt, ein Mädchen, die, nicht daran zu denken, daß ihr Dialekt und ihr Sprach-Organ zur Zeit durchaus nicht für die Bühne taugen, schon durch die ganz seltsame A r t sich zu bewegen, (eine A r t Schwimmen i m leeren L u f t - R a u m m i t einwärts gebogenen Füßen) nur Lachen erregen konnte, i n einer großen charakteristischen Szene aus den Indienfahrern auftreten zu sehen 61 . Selbst bey dem Fortschreiten i n der Kunst w i r d es nun schwer halten, den ersten beynahe lächerlichen Eindruck zu vertilgen. Ueberhaupt w i r d auf unserer Bühne zu viel angefangen, und der Mißstand dabey ist, daß das Publikum nicht auch erst anfängt zuzusehen, wie der Junker von Plumpersdorf i n Kotzebues Intermezzo 6 2 . — V o n Woche zu Woche erwartet man nun die A n k u n f t der versprochenen Schauspieler und Sänger, die das Ganze heben, und vorzüglich die Oper organisiren sollen. M a n hat neulich zwar versucht den A x u r darzustellen 6 3 ; dieser Versuch ist aber ganz mißlungen, und das Publikum mußte die 58 Victorine Weyrauch hatte inzwischen bei H o f f m a n n Unterricht genommen, wie sich aus Hoffmanns Tagebuchnotiz v o m 30. Oktober (»Erste L e k t i o n m i t Mademois. Weyrauch«) ergibt. 59 A m 8. November. eo Madame Hansing u n d (ihre Tochter?) Demoiselle Sophie Hansing. — Eine Demoiselle Hansing wurde nebst H e r r n Hansing 1804 v o n Soden in W ü r z b u r g engagiert; beide blieben dort bis 1805. A m Bamberger Theater waren M a d . Hansing, Dem. Sophie Hansing u n d die kleine Nanette Hansing 1809/10 beschäftigt. 61 Es w a r Demoiselle Himberger, die sich in der großen Szene der Amalie aus dem Schauspiel Der Indienfabrer v o n Christlieb Georg Heinrich Arresto (1768— 1817) vorstellte, während Dem. Sophie Hansing eine Szene des Pvöschen aus Kotzebues Schauspiel Die Corsen vortrug. 62 Kotzebues 5aktiges Lustspiel Das Intermezzo oder der Landjunker zum erstenmal in der Residenz wurde in Bamberg am 10. November 1809 gegeben (einzige Wiederholung am 14. Jan. 1810). Der H e l d des Stückes, »Junker Hans v o n Birken, Erbherr auf Plumpersdorf«, ein ebenso gutherziger wie einfältiger pommerscher Landjunker, k o m m t nach Berlin u n d sieht dort u. a. zum ersten M a l i n seinem Leben ein Schauspiel. 63 Salieris Oper Axur , König von Ormus , wurde m i t dem neu engagierten H e r r n Mezler in der Titelrolle am 5. November wieder aufgeführt. — D i e Oper, als Tarare auf Beaumarchais' französischen T e x t komponiert u n d 1787 zuerst i n Paris gegeben, wurde v o n da Ponte für die Wiener H o f o p e r ins Italienische übertragen u n d k a m dort 1788 als Axur , re d yOrmus zur A u f f ü h r u n g . Nach da Pontes Version fertigte H . G. Schmieder 1790 die deutsche Bearbeitung an.

Aus E. T . A . Hoffmanns Bamberger Z e i t

139

Schwäche aller Hauptparthien recht empfindlich fühlen. U m so weniger dürfte jezt die Direction um jene Lücken auszufüllen, und ihren Zweck recht bald zu erreichen, Aufopferungen scheuen, als sich durch die Bewilligung der höheren Orts gegebenen Unterstützung, deren Erwartung nicht fehl schlagen dürfte 6 4 , die schönsten Aussichten für das Theater öffnen. I n dieser Hinsicht gehört es zum Unverzeihlichen, wenn das Publikum durch einen geänderten T i t e l getäuscht, m i t einer armseligen alten Feen Oper gelangweilt w i r d . Dieses war der Fall Sonntag den 12ten. A m a t h a η t e , K ö n i g i n der Feen 65 hat weder einen moralischen noch ästhetischen Zweck, und es läßt sich gar nicht denken, wie die Direction die A u f führung eines so ganz elenden Machwerks rechtfertigen könne, gegen ein Publikum, welches sein ächtes Gefühl bey dieser Gelegenheit durch allgemeines Mißfallen geäussert hat. —

[5.] Bamberger Intelligenzblatt. M i t allergnädigstem Privilegium. Freytag N r o . 100. den 22ten December 1809. A n h a n g z u N r o . 1 0 0. [S. 895, Sp. 2 — S. 896, Sp. 2 : ] Theater-Nachricht. Es scheint, als wenn der Organisation unseres Theaters sich noch manche Hindernisse entgegenstellen. Die Oper liegt durch den Abgang mehrerer Personen, deren Verlust freylich nur darum für den Moment erheblich ist, weil sie durch keine bessere Subjekte ersetzt sind, ganz darnieder, und es ist nicht zu begreifen, warum die D i r e k t i o n nicht alles aufbietet, diesen Theil der dramatischen Darstellungen zu heben, und so sich die Vortheile zu verschaffen, die ihr bey der entschiedenen Vorliebe des Publikums dafür nicht entgehen könnten. 64

Leider doch! Das Bamberger Theater-Journal meldet unterm 12. N o v e m b e r : »Amathonte [so!], K ö n i g i n der Feen, Oper i n 3 Acten. Dichter: Bullinger, Compositeur: Tuzek« und bemerkt dazu: »es ist Dämona das Höckerweibchen, aber v i e l ausgelassen.« — Dämona, das kleine Hökerweibchen v o n Franz Tuczek (oder Tutzek, 1755— 1820), T e x t v o n Joseph Bullinger, w a r 1802 i n W i e n zuerst auf die Bühne gekommen u n d i n Bamberg zuletzt am 15. M a i 1808 gegeben worden. — I n der A u f führung v o m 12. November 1809 spielte die oben erwähnte Dem. Sophie Hansing den Genius Ithuriel, die Anfängerin Dem. Himberger »Mathilde, Tochter des H u g o v o n Ehrenburg« u n d H e r r Zinninger den Schloßvogt R a d u l f v o n Grauenstein. 65

140

Friedrich Schnapp

Wie sehr das Publikum für das Beßere empfänglich, und es zu unterstützen geneigt ist, hat es bey der Anwesenheit des H r n . Direktors R e u t e r , seiner liebenswürdigen eilfjährigen Tochter, und des H r n . K l o s t e r m a y e r bewisen, deren Darstellungen immer ein gefülltes Haus fanden 6 6 . — A n t o n i e R e u t e r trat zuerst als G u s t a ν i n der WeigPschen Oper: das Waisenhaus, auf 6 7 . Eine recht artige, i n ihren einzelnen Theilen aber nicht zusammengehaltene Musik läßt das weinerliche Sujet ertragen 6 8 , und wenn G u s t a v m i t der Kindlichkeit, m i t dem T o n der innigen Empfindung auftritt, und von einem sichern natürlichen Gefühl geleitet, das Zarte ergreift, ohne an das Verzärtelte anzustreifen, wie es i n dieser Darstellung geschah, so darf sich der Kenner dem augenblicklichen Eindrucke w o h l hingeben, und von der einzelnen individuellen Erscheinung angesprochen, von der allgemeinen Idee der Oper und von dem bezweckten Totaleindrucke abstrahiren. A n t o n i e R e u t e r hat eine Stimme, ihrem Alter angemessen, ihr Gesang aber einen Ausdruck, den nur ein tiefer musikalischer Sinn erzeugen, aber keine Kunst lehren kann. Vorzüglich war daher auch die Darstellung des A d o l f o i n der K a m i l l a 6 9 . H r . R e u t e r gab in dieser Oper den Herzog m i t einer sonoren Baßstimme, und ächt musikalischem Vortrage, so wie H r . K l o s t e r m a y e r den Loredan vortreflich sang. Die Ensembles gewannen durch den kräftigen reinen Baß des H r n . F r i e s , der den K o l a für einen Anfänger recht gut durchführte. Rücksichts der dramatischen Darstellung ist der Herzog eine schwürige Aufgabe. Der Verfasser meint, daß es zu dieser Rolle nicht hinreiche, sich spanisch zu kleiden, sondern daß man auch tief eingehen müsse in den Charakter einer Nation, deren Blut wie flammendes Erz durch die Adern rinnt, und deren Leidenschaften i n unauf68 Der Nürnberger Theaterdirektor Joseph Reuter ( f 1816) gastierte als v o r t r e f f licher Bassist m i t seiner Tochter A n t o n i e v o m 1. bis 6. Dezember 1809; der Tenorist Klostermayer, ebenfalls aus Nürnberg, der 1806—1808 M i t g l i e d der Bamberger Bühne gewesen w a r , zunächst v o m 5. bis 10. Dezember 1809. — Das P r o t o k o l l der Harmonie-Gesellschaft i n Bamberg v o m 4. Dezember 1809 berichtet über ein interessantes »musikalisches Divertissement« dieses Tages u. a.: »da eben H . Theaterdirektor Reuter zu N ü r n b e r g m i t dem dasigen Opernsänger H . Klostermaier sich hier befand, sangen diese u n d der hiesige H e r r Theater-Musikdirektor H o f m a n n m i t Guitarre-Accompagnement des H . Konzertmeisters D i t t m a i e r ein u n d andere Pieçen.« I m Oktober 1812 übernahm Reuter neben der Nürnberger Theaterdirekt i o n auch die in Bamberg (bis J u l i 1813). 67 Reuter gab in dieser Vorstellung den D i r e k t o r Wellmann, Klostermayer den Obristen v. Wernberg. 68 V g l . Hoffmanns ausführliche Rezension des Weiglschen Singspiels i n der A l l g . Mus. Ztg. N o . 51 v o m 19. Sept. 1810. 69 A u f f ü h r u n g am 5. Dezember. — Paers Camilla ossia il Sotterraneo wurde zuerst 1799 in Wien gegeben. H o f f m a n n hat 6 Jahre nach der Bamberger A u f f ü h r u n g über eine Berliner Darstellung der Camilla i m Dramaturgischen Wochenblatt N o . 12 v o m 23. Sept. 1815 referiert.

Aus E. T . A . Hoffmanns Bamberger Zeit hörlichem K a m p f e

gegen e i n a n d e r

wüthen70.

Auf

141

d i e H ö h e , welche

der

C h a r a k t e r des v o n E i f e r s u c h t H a ß u n d L i e b e g e p e i n i g t e n U b a l d o 7 1 uns erb l i c k e n l ä ß t , k o n n t e sich d e r K o m p o n i s t

v e r m ö g e seines N a t u r e l l s

nicht

s c h w i n g e n , d e r Schauspieler m u ß d a h e r i n dieser R o l l e d a s ersetzen, w a s d e m Sänger z u l e i s t e n n i c h t v e r g ö n n t ist. K a m i l l a s O r g a n schien d u r c h d i e lange E i n k e r k e r u n g merklich gelitten z u haben72. Das

Publikum

wurde

übrigens

durch

C a m i l l a s K e r k e r erschreckt, H r . R e u t e r

das E i n s t ü r z e n

der

Treppe

zu

w u r d e jedoch z u m G l ü c k nicht

b e d e u t e n d beschädigt. B e y d e m T h e a t e r s i n d U n f ä l l e d e r A r t u m so m e h r z u v e r m e i d e n , als m a n b e y K ü n s t l e r n , v o r z ü g l i c h b e y K ü n s t l e r i n n e n ,

ein

reitzbareres N e r v e n s y s t e m v o r a u s s e t z e n m u ß , das o f t schon d u r c h d i e l e b h a f t e V o r s t e l l u n g beschädigt w e r d e n z u k ö n n e n , h e f t i g erschüttert V o n der D a r s t e l l u n g der Z i g e u n e r i n Verlangen

d e r Gäste d i e D i r e k t i o n

74

schweigen w i r

wird73.

ganz, i n d e m

e n t s c h u l d i g t , e i n abgeschmacktes

das und

n o c h d a z u höchst anstößiges Stück a u f die B ü h n e gebracht z u h a b e n . — N a c h d e r A b r e i s e d e r Gäste w a r uns b e y u n s e r m d e s o r g a n i s i r t e n T h e a t e r so z u M u t h e , als d e m , d e n d i e F r e u n d e A b e n d s v e r l i e ß e n , u n d d e r n u n a m t r ü b e n M o r g e n i m öden Z i m m e r allein erwacht. — M ö g e die Bestürmung v o n Smolensk75

im

S t u r m e selbst u n t e r g e g a n g e n seyn, u n d

der

Pseudo-

70 Das Interesse für Spanien u n d die Spanier w a r durch den Volksaufstand u n d die erbitterten K ä m p f e gegen die Franzosen (seit 1808) besonders rege geworden. 71 Eben der Herzog. 72 D i e Sängerin der Titelrolle ist nicht festzustellen; vermutlich Madame Weyrauch. 73 V g l . das schon genannte Kreislerianum Der vollkommene Maschinist, w o r i n H o f f m a n n Bamberger Erlebnisse ironisiert: »Sehr nützlich ist es auch . . . wenn eine Soffite herunterzufallen oder eine Culisse in das Theater zu stürzen droht, oder w i r k l i c h stürzt; denn außerdem, daß die Aufmerksamkeit der Zuschauer ganz v o n der Situation des Gedichts abgezogen w i r d , so erregt auch die Prima Donna oder der Primo Huomo y der vielleicht eben auf dem Theater war u n d hart beschädigt zu werden Gefahr lief, die größere, regere Theilnahme des Publikums u n d wenn beyde nachher noch so falsch singen, so heißt es: D i e arme Frau, der arme Mensch, das k o m m t v o n der ausgestandenen Angst u n d man applaudirt gewaltig! M a n kann auch zur Erreichung dieses Zwecks, nämlich den Zuschauer v o n den Personen des Gedichts ab u n d auf die Persönlichkeit der Schauspieler zu lenken, m i t N u t z e n ganze auf dem Theater stehende Gerüste einstürzen lassen. So erinnere ich mich, daß einmahl i n der C a m i l l a der praktikable Gang u n d die Treppe zur unterirrdischen G r u f t i n dem Augenblicke als eben alle zu Camilla's Rettung herbeyeilenden Personen darauf befindlich waren, einstürzte. — Das war ein Rufen — ein Schreien — ein Beklagen i m P u b l i k u m , u n d als nun endlich v o m Theater herab verkündigt w u r d e : es habe N i e m a n d bedeutenden Schaden genommen u n d man werde fortspielen, m i t welcher Theilnahme wurde nun der Schluß der Oper gehört, die aber, wie es auch seyn sollte, nicht mehr den Personen des Stücks, sondern den i n Angst u n d Schrecken gesetzten Schauspielern galt.« 74 Kotzebues 4aktiges Schauspiel Die kleine Zigeunerin, w o r i n A n t o n i e Reuter i n der Titelrolle (»Lasarilla, die kleine Zigeunerin«) auftrat, wurde am 3. Dezember gegeben. 75 Johanna Franul v. Weißenthurns romantisches Schauspiel, gegeben am 8. D e zember.

142

Friedrich Schnapp

A x u r nach seinem seeligen oder unseeligen Ende 7 6 nicht mehr auf dem Theater spuken 7 7 , der alte Busch uns hingegen m i t seinem jovialen Räuschgen 7 8 i n anderen Variationen wenigstens die lange Weile vertreiben. H . G e i 1 i η g mag i n komischen Fachen brav seyn, von solchen Rollen, wie die des A x u r und Lazarra 7 9 , die gänzlich misglückt, ihm nur bey dem Publikum schaden können, w i r d er daher gewis von selbst abstehen 80 . I n der J o h a n n a v o n M o n t f a u k o n deklamirte Mad. W i t z manche Stellen m i t wahrhaft tragischem Pathos 8 1 . I m Allgemeinen können w i r nicht unterlassen, die Direktion auf gewiße Mißbräuche oder vielmehr üble Gewohnheiten einiger von unsern Künstlern aufmerksam zu machen. Es sind folgende: 1) Vernachläßigung der alten Theater-Regel sich nicht i n Gesprächen, w o es etwa nicht ausdrücklich durch die H a n d l u n g m o t i v i r t w i r d , auf einander zu drängen, sondern wenigstens zwey bis drey Schritte aus einander zu stehen. Abgesehen davon, daß sonst das Spiel des einzelnen genirt w i r d , ist es nicht möglich, dem Auge und dem Ohre des Zuschauers zu gnügen. M a n versteht schwerer, und an Gruppirung ist nicht zu denken. 2) Die veraltete Gewohnheit, das Schnupftuch als ein Ausdrucksmittel der Pantomimik zu brauchen, und damit auf dem Theater h i n und her zu wehen, welches läppisch und unanständig ist. 3) Die Gewohnheit, sich bey jeder Gelegenheit bey den Händen anzupacken, welche der guten Lebensart geradezu entgegenlauft. Vorzüglich fällt es auf, wenn Frauenzimmer nicht sprechen können, ohne ihren M i t spieler, stelle er vor, was er wolle, bey den Händen anzugreifen. Dem Wiedererscheinen des H r n . K l o s t e r m a y e r und der versprochenen Aufführung des Achilles und Titus sehen w i r m i t Sehnsucht ent76 Doppelsinnig: am Schluß der Oper stößt sich der T y r a n n A x u r selbst den Dolch in die Brust. — Bei der Bamberger A u f f ü h r u n g , die am 10. Dezember stattfand, spielte C. T . Geiling die Titelrolle, Klostermayer den Tarar. 77 I m Druck »spucken«. — Tatsächlich wurde Axur — wenigstens in den nächsten Jahren — nicht mehr in Bamberg gegeben. 78 Der alte Busch ist die H a u p t r o l l e i n Bretzners beliebtem Lustspiel Das Räuschgen (Leipzig 1786). Christoph Friedrich Bretzner (1748—1807) hat sich durch den Singspieltext Die Verführung aus dem Serail Unsterblichkeit errungen u n d noch besondere Berühmtheit dadurch, daß er gegen die Bearbeitung des L i brettos durch Gottlieb Stephanie d. J. und gegen Mozarts Vertonung 1782 und 1783 öffentlich protestierte (»Ein gewisser Mensch namens M o z a r t i n Wien, hat §ich erdreistet« usw.). 79 »Ritter Eginhard v o n Lasarra, H e r r zu Monts«, der Bösewicht i n Kotzebues Johanna von Montfaucon, die am 16. Dezember gespielt wurde. 80 C. T . Geiling verließ Bamberg Ende M ä r z 1810 u n d wurde dann eine H a u p t stütze der Secondaschen Operngesellschaft i n Leipzig u n d Dresden. 81 M a d . W i t z gab die T i t e l r o l l e ; als Johannas 8jähriger Sohn w i r k t e die kleine Luise Pallet a. G. m i t .

Aus E. T . A . Hoffmanns Bamberger Z e i t

143

gegen82, u n d bedauern nur, daß m i t wenigen A u s n a h m e n die der H a u p t - P a r t h i e e n glauben w i r Mademoiselle

sehr m a g e r , u n d d ü r f t i g

voraussetzen W e y r a u c h

zu können,

daß

zu Theil, und

Umgebung

ausfallen w i r d . M i t

die R o l l e so i h r e

der

Recht

Briseide83

ausgezeichnet

der

schöne

T h e a t e r f i g u r , so w i e i h r m i t j e d e m T a g e m e h r h e r v o r k e i m e n d e s T a l e n t beachtet w e r d e n w i r d 8 4 . B a m b e r g d e n 1 8 t e n D e z e m b e r 1809.

82 Klostermayer gastierte aufs neue in Bamberg v o m 4. bis 12. Januar 1810; am 4. Jan. sang er in Mozarts Titus die Titelrolle u n d am 10. Jan. den Achilles i n Paers gleichnamiger Oper, die zu seinem Benefiz gegeben wurde. — B a l d nach den Bamberger Gastspielen flüchtete Klostermayer aus N ü r n b e r g — unter Zurücklassung erheblicher Schulden u n d unter Mitnahme eines jungen Mädchens aus guter Familie, das er entführte u n d gegen den W i l l e n der Eltern heiratete. 1814 w a r er M i t g l i e d des Theaters i n Karlsruhe u n d gastierte v o n dort aus in Nürnberg, nachdem i h m sein Schwiegervater verziehen hatte. — Vielleicht ist dieser Tenorist Klostermayer m i t Joseph Klostermayer identisch, der gemeinsam m i t dem Schauspieler L u d w i g H i p p e v o m Frühjahr bis Herbst 1817 unrühmlicher D i r e k t o r des Bamberger Theaters war. 83 I m Druck »Beiseide«. Es handelt sich um die jugendliche weibliche H a u p t r o l l e i n Paers Achilles. O b Dem. Weyrauch diese Rolle erhielt, konnte ich nicht eruieren. 84 Victorine Weyrauch hatte ganz kürzlich, am 11. Dezember 1809, gemeinsam m i t H o f f m a n n u n d Klostermayer i n einem v o m Konzertmeister D i t t m a y e r i m Saale der Harmonie-Gesellschaft veranstalteten Konzert m i t g e w i r k t . I m P r o t o k o l l der Gesellschaft v o m 11. Dezember w i r d berichtet, daß sich außer 4 aristokratischen Damen produzierten: »Mme u n d Dem. Weihrauch, dann die H e r r e n Metzger [Mezler? — s. die 4. Theater-Nachricht, A n m . 63] u n d Fries v o m hiesigen Operntheater, auch H . M u s i k d i r e k t o r H o f m a n n bey hiesigem, u n d H . Klostermaier, Opernsänger bey dem Nürnberger Theater, durch verschiedene Singparthien.«

DIE

GLAUBWÜRDIGKEIT

V O N CLEMENS BRENTANOS

EMMERICK-BERICHTEN

Z u m gegenwärtigen Stand der Quellen und der Forschung

V o n Oskar Katann

Es ist i n der wissenschaftlichen Literatur der Theologie sowohl wie der Literaturgeschichte noch nicht zum Ausdruck gekommen, daß die Publikationen, die A n t o n Brieger in einer Auswahl des Urtextes aus den Tagebüchern Brentanos 1 geboten hat, i m Zusammenhang m i t der früheren Veröffentlichung von Josef A d a m 2 die Emmerick-Brentano Forschung maßgeblich verändert hat, was sich schließlich auch auf die Biographie A . K . Emmericks auswirken müßte 3 .

I

Nach dieser Biographie wurde Anna Katharina Emmerick 1778 i n Flamske bei Coesfeld geboren, war zunächst als Magd und später als Näherin beschäftigt, wußte schon früh ihren Freundinnen v o m Leben der hl. Mechthild, Katharina von Siena, Gertrud und Klara zu erzählen, bis es ihr gelang, zugleich m i t ihrer Freundin Klara Söntgen bei den Augustiner Barfüsserinnen in Agnetenberg bei Münster 1802 als Nonne einzutreten und auf die Augustinerregel verpflichtet zu werden. Sie verletzte sich 1805 das Rückenmark und l i t t all die Jahre ihres Klosterlebens an Katarrhen, Rheumatismus und anderen Krankheiten, wurde nur zu untergeordneten Arbeiten verwendet, soll aber schon 1808, also m i t 30 Jahren, Ekstasen erlebt haben. Als 1812 das Kloster von den eingedrungenen Franzosen aufgehoben wurde, kam sie als Dienstmagd i n das Haus einer W i t w e i n Dülmen, bei 1 A n n a K a t h a r i n a Emmerick, Der Gotteskreis, aufgezeichnet v o n Clemens Brentano, i n erstmaliger genauer Veröffentlichung der Urtexte, ausgewählt, herausgegeben u n d eingeleitet, 1960. 2 Brentanos Emmerick-Erlebnis. Bindung und Abenteuer, 1956. 3 D i e iüngste Darstellung stammt v o n H . J. Seiler, I m Banne des Kreuzes. Lebensb i l d der stigmatisierten Augustinerin A . K . Emmerick. 2. A u f l . besorgt v o n J. M . Dietz, 1948. Z i t i e r t als: Seiler.

10 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 7. Bd.

146

Oskar K a t a n n

der der französische Priester Lambert wohnte. I n diesem Jahre zeigten sich die ersten Wundmale (ein Doppelkreuz auf der Brust) und 1813 traten Stigmen an Händen und Füßen auf. D r . Peter Krauthausen (1750—1820), dem als Armenarzt auch ihr Kloster zugeteilt war und der sie ab 1802 behandelte, legte, obwohl er von der Übernatürlichkeit ihrer Wunden überzeugt war, 1813, als sie Stadtgespräch geworden war, seine Überwachungsaufgabe wegen der Anfeindungen ihrer Gegner und weil er sich m i t seinem Kollegen, dem jungen A r z t D r . Wesener, nicht verstehen konnte, nieder 4 . So übernahm nach dem 21. März 1813 D r . Wesener ihre Behandlung. Er regte eine bischöfliche Untersuchung an, die i m März und A p r i l 1813 auf Anordnung des Generalvikars Droste-Vischering m i t Wissen von Bernhard Overberg und des Arztes D r . Druffel stattfand. Eine zweite Untersuchung v o m 10.—19. Juni 1813 sollte durch strenge Überwachung die Frage: Betrügerin oder Betrogene feststellen. Die Protokolle dieser Untersuchungen sind erhalten, außerdem noch Aufzeichnungen des Dechanten von Dülmen Rensing (7. A p r i l 1812—26. Juni 1813), von Bernhard Overberg (28. März 1813—1815) 5 und des Medizinalrates D r . Druffel, der i n der Salzburger medizinischen Zeitung vom 20. Oktober und 3. Dezember 1813 seine Beobachtungen veröffentlichte. Der erste Teil dieses Aufsatzes schließt m i t dem 7. A p r i l , der zweite Teil berichtet von der Bewachung Katharinas durch Bürger von Dülmen 10 Tage hindurch. Druffel hatte die Nonne i m März 1813 wiederholt besucht, von Blutungen und geringster Nahrungsaufnahme berichtet, wobei auch Krauthausen an den Beobachtungen beteiligt war. Er besuchte sie auch am 15. M a i und am 26. August und wies i n seinem A r t i k e l auf einige aus der Geschichte bekannte Fälle von jahrelanger Nahrungslosigkeit hin. A m wichtigsten aber sind die Tagebuchaufzeichnungen des Arztes D r . Franz Wilhelm Wesener v o m 23. März 1813 bis 3. November 1819, die über ihren Gesundheitszustand, die Stigmen, die geringe N a h rungsaufnahme m i t fortwährendem Erbrechen, die Ohnmächten und Ekstasen berichten 6 . Auch einzelne Visionen werden von ihm verzeichnet, am ausführlichsten, i n wohlgeformter Rede, die von Joachim und Anna und dem grünen Stab Josefs aus dem Jahre 1813 7 , schließlich Gesichte von der Kindheit Jesu, den Unschuldigen Kindern und dem Leiden Christi (1816). Wesener unterschied i n einer kurzen Biographie Emmericks nach deren T o d drei ekstatische Zustände: einen der Erstarrung, i n dem sie Allegorien sah 4

U d o Krauthausen i n : D ü l m e r Heimatblätter 1960, 2. H e f t , S. 26—28. A l l e diese u n d noch viele andere Dokumente sind herausgegeben v o n W . Hümpfner, A k t e n der kirchlichen Untersuchung über die stigmatisierte Augustinerin A . K . Emmerick, 1929. Z i t i e r t als: Hümpfner, Akten. 6 Tagebuch des D r . med. Franz W i l h e l m Wesener über die Augustinerin A n n a Katherina Emmerick unter Beifügung anderer, auf sie bezüglicher Briefe u n d A k t e n , W ü r z b u r g 1926. Z i t i e r t als: Wesener, Tagebuch. 7 Wesener, Tagebuch, 42—45. 5

D i e G l a u b w ü r d i g k e i t v o n Clemens Brentanos Emmerick-Berichten

147

und schreckliche Qualen l i t t , einen Zustand himmlischer Beseligung und einen Zustand — hauptsächlich während der Nacht — , welcher dem Leiden Christi gewidmet ist und in enger Verbindung m i t dem Kirchenjahr steht 8 . M a n weiß, daß das Lieblingsbuch der Nonne c Das verborgene Leben m i t Christus i n Gott' von Johann Bernieres-Louvigni 9 war, das zuletzt 1809 i n der Ubersetzung von Tersteegen erschien und eine Anleitung zu stetem Gebet und Wandel vor Gott gab. Es hat die Selbstvernichtung zum Gegenstand, welche die reine Liebe zu Gott und die Ergebung i n seinen W i l l e n bewirkt. Sie kannte auch Predigten von Tauler, zu ihrer Lektüre gehörte außerdem 1817 eine aszetische Schrift von Joh. Dircking SJ 'Weg der V o l l kommenheit, d. i. Weg der Reinigung, der Erleuchtung, der Einigung' ( K ö l n 1721), die sehr nüchtern und gar nicht überschwenglich gehalten ist. Das V o r w o r t sagt, daß die Vollkommenheit in der Liebe, i m Aufgehen i n Gottes W i l l e n bestehe. Ein anderes Gebetbuch aus ihrem Besitz von Hermann Goldhagen SJ 'Anweisungen zur Andacht zum H l . Herzen Jesu' (1768) stellt die Andacht zur Eucharistie i n den M i t t e l p u n k t und ist v o l l glühender Affekte. So sind alle wesentlichen Züge, ihre große Nahrungslosigkeit, (sie lebte jahrelang hauptsächlich von Wasser), ihre Stigmen, das Vorkommen von Visionen schon vor ihrer Bekanntschaft m i t Clemens Brentano bezeugt, der durch seinen Bruder Christian (der als A r z t v o m 6. A p r i l — 4 . Juli 1817 bei ihr weilte), aufmerksam gemacht, am 24. September 1818 bei ihr eintraf. Sie machte auf ihn sofort den stärksten Eindruck, so daß er m i t kurzen Unterbrechungen, nachdem er seit dem 12. Januar 1819 seinen Haushalt i n Berlin aufgelöst und einen Großteil seiner Bibliothek verkauft hatte, ab M a i 1819 bis zu ihrem Tode (Februar 1824) i n Dülmen ausharrte. Er erlebte noch ihre Stigmatisierungen, von denen sich auch Melchior Diepenbrock i m September und Sebastian Sailer am 23. Oktober 1818 überzeugten. Ende 1818 1 0 wurden die Blutungen seltener und hörten schließlich ganz auf. Brentano unterschied i n seiner kurzen Biographie der Emmerick das A u f treten des Kreuzes auf der Brust 1 1 von den eigentlichen Stigmen an Händen und Füßen. Anfangs war er besonders von ihrer Reliquienerkenntnis beeindruckt, wie seine Briefe an Overberg noch i n der M i t t e des Jahres 1820 zeigen und machte wie Christian Brentano oder Dechant Rensing Experimente; bald aber richtete er sein Augenmerk auf die Mitteilungen ihrer Visionen. A n der v o n der preußischen Regierung angeordneten Untersuchung vom 7.—29. August 1819 durfte er nicht teilnehmen; Anna Katha8

Wesener, Tagebuch 387 ff. Seiler 309. Wesener, Tagebuch 387, 565. 11 Clemens Brentano, Religiöse Schriften I , hg. v o n W . Oehl u n d C a r l Schüddekopf, 1912 (Bitteres Leiden). 9

10

10*

148

Oskar K a t a n n

rina wurde m i t Gewalt aus ihrem Hause entfernt und in das Haus eines Hofkammerrates Mersmann gebracht. Die Untersuchung 12 sollte den Betrug erweisen, endete aber ergebnislos. Wesener beendete am 3. November 1819 sein Tagebuch, da er die Überzeugung gewonnen hatte, daß er die Kranke langsam zu geringer Nahrungsaufnahme gebracht habe, daß ihr K r a n k heitsbild stabil geworden und Brentano ein besserer Beobachter der Visionen sei. Diese dauerten nach Wesener 13 bis zu ihrem Tode. II Brentano hat die Visionen und alle anderen Ereignisse, die er am Bette Anna Katharinas beobachtete, in Tagebücher aufgezeichnet, die zum Teil sicher i n Dülmen niedergeschrieben wurden, während andere Teile eventuell später eingetragen, bzw. überarbeitet sein können 1 4 . Es ist bezeugt, daß Brentano, als er sich i m Herbst 1824 i n Wiesbaden aufhielt, Eintragungen auf Zetteln zur Herstellung eines Manuskriptes benutzte — es dürften w o h l Nachträge früher nicht aufgearbeiteter Zettelrückstände gewesen sein. Bald darauf aber (22. Juni 1825) ist er m i t der Anfertigung von Registern (»zu w o h l 4 Folianten Manuskript«) beschäftigt. Über diese »Register« war man bisher nicht unterrichtet. Dem hochw. H e r r n Archivar D r . Engelbert Zettl, der 1964 i n Gars am I n n Fragmente von Registern gefunden und als Handschriften Brentanos erkannt hat, verdanke ich die Kunde, daß sich eines dieser Register auf Personalien hauptsächlich der Jahre 1821 und 1822 bezieht (66 Blätter), ein anderes m i t 61 Blättern auf die dreieinhalb Jahre der Lehrtätigkeit Jesu. I m August 1965 hatte ich Gelegenheit, i n diese Register kurz Einsicht zu nehmen. Sie sind nicht das, was man heute Register nennt, nämlich alphabetisch geordnete Verzeichnisse von örtlichkeiten, Personen, Ereignissen etc., die auf Band- oder Seitenzahlen oder eventuelle Daten verweisen, sondern Inhaltsangaben der Gesichte, Erlebnisse etc., verschiedenen Umfangs, also eher Regesten. A u f klein beschriebenen Folioblättern verzeichnen sie die Ereignisse nach Jahren, Monaten und Tagen. Soweit es sich um den Lehrwandel Jesu handelt (nach Zählung Zettls 61 Blätter) stimmen sie meist m i t dem Inhalt des Werkes von Schmöger 15 überein, mitunter aber verzeichnen sie 12

M a n lese den Bericht Luise Hensels darüber i n : Hümpfner, A k t e n , 359. Wesener, Tagebuch 387. 14 W . Hümpfner, Clemens Brentanos G l a u b w ü r d i g k e i t in seinen Emmerickaufzeichnungen. Untersuchungen über die Emmerickfrage unter erstmaliger Benutzung der Tagebücher Brentanos, 1923, 67. 15 Das Leben unseres H e r r n u n d Heilands Jesu Christi. Nach den Gesichten der gottseligen A n n a Katherina Emmerick, aufgeschrieben von Clemens Brentano. H g . v. K . E. Schmöger. 3 Bde. 1858/60. 13

D i e G l a u b w ü r d i g k e i t v o n Clemens Brentanos

Emmerick-Berichten

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auch Dinge, die bei Schmöger nicht zu finden sind. Daneben gibt es Inhaltsverzeichnisse aus den Jahren 1819 bis 1822 zur Biographie Anna Katharinas, die chronologisch geordnet sind und Erlebnisse, Träume, Krankheiten, Gebetsarbeiten verzeichnen; das Jahr 1819 hat 18 Blätter, 1820 42 doppelseitig beschriebene Folioblätter, 1821 18 Seiten, 1822 12 Seiten. Das Jahr 1820 verweist ab M a i i n zunehmendem Maß auf das Register zum dritten Lehrjahr, ist also i n seiner Entstehung zeitlich später als jenes anzusetzen. Aus der Beschaffenheit dieser Register läßt sich der sichere Schluß ziehen, daß die Tagebücher zur Zeit, da die Register angefertigt wurden, chronologisch geordnet waren. Als Brentano nach München übersiedelte, besuchte ihn der Maler L u d w i g E m i l G r i m m i n seiner Wohnung bei Professor Schlotthauer. Er f a n d 1 6 (1834) die von ihm bewohnte Stube und eine Schlafkammer v o l l m i t Bücherstellagen versehen, dazu einen einfachen Tisch, einen Sessel, eine Kommode, einen Koffer und eine Schlafstelle: alles lag v o l l von Büchern, Papierrollen, Kupferstichen, gedrucktem und ungedrucktem Papier. 1837 erinnert sich G r i m m an umfangreiche Manuskripte über die Visionen der Nonne von Dülmen, aus denen ihm Brentano Bruchstücke vorlas; so die Flucht nach Ägypten, eine Beschreibung der Gegend, durch die die heilige Familie zog, über die Kleidung Mariens und die Kleider Josefs, über die Wache der Engel beim Christkind, den Stall, die Krippe und vieles andere. Als er Abschied nahm, schenkte ihm Brentano den ersten gedruckten Band seiner Emmerickschriften, d. h. das 'Bittere Leiden' 1 7 . I n dem prachtvollen Porträt Brentanos, das L u d w i g Clarus i n seiner Selbstbiographie 18 auf Grund seines Verkehrs m i t dem Dichter 1836 und 1841 entwarf, schildert er die zwei großen Zimmer, die Brentano bei Professor Schlotthauer i n München bewohnte. Die Wände waren fast ganz m i t Bücherstellagen bedeckt. Brentano selbst wies Clarus auf eine Reihe von 83 oder 85 dünnen Folianten hin, welche seine Aufzeichnungen aus dem Munde der Emmerick enthielten. Er las i h m daraus die Schilderung der Vermählung Josefs m i t Assenath vor, — die noch nicht veröffentlicht und nach Auskunft des römischen Ordensarchivs der Redemptoristen auch nicht zu finden ist. Er habe »noch niemals eine so anschauliche und i n die Gegenwart des Hergangs, seiner Lokalitäten und deren Ausstaffierung versetzende Beschreibung vernommen. Die Tafel i m Speisezimmer, wo der Hochzeits16 L . E. G r i m m , Erinnerungen aus meinem Leben, hg. v o n A . Stoll, 1911, 483, 491 f. 17 I m Folgenden zitiert als Β L nach der Ausgabe der Religiösen Schriften, hg. v. W . Oehl und C. Schüddekopf, Bd. I , 1912. 18 Simeon. Wanderungen u n d U m k e h r eines christlichen Forschers. Bd. I , 1862, 285—310.

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schmaus gehalten, mit ihren Aufsätzen, die Möbel und alle sonstigen Dekors waren mit einer ans Mikrologische streifenden Genauigkeit geschildert. Auch die Nebenfiguren waren genau bis auf das Detail ihrer Kleidung gezeichnet«. III A u f Grund dieses Materials hat Clemens Brentano selbst 1833 'Das bittere Leiden unseres H e r r n Jesus Christus. Nach den Betrachtungen der gottseligen A . K . Emmerick nebst einem Lebensumriss dieser Begnadigten' anonym veröffentlicht. 1834 gab Brentano eine zweite Auflage heraus, die auf dem Titelblatt bereits den Vermerk trägt: »Durch die Mitteilungen über das letzte Abendmahl vermehrt.« Diese Auflage bot um 42 Seiten mehr Text. Nach ihr wurden die später während der Lebzeiten des Dichters erschienenen Ausgaben gestaltet 19 . Brentano betonte i n der Einleitung, das Buch erhebe nicht »den mindesten Anspruch auf den Charakter historischer Wahrheit«, es wolle gelesen werden als »unvollkommen aufgefaßte und erzählte, als ungeschickt niedergeschriebene Fastenbetrachtungen einer frommen Klosterfrau«. Er wollte m i t diesem Buch offensichtlich einen modernen Ersatz für M a r t i n von Cochems 'Leben und Leiden Jesu Christi' (Frankfurt 1689) geben, nach dessen V o r b i l d er nach eigenem Eingeständnis die Gesichte Anna Katharina Emmericks verknüpfte; denn, wie er Luise Hensel versichert, sind »die Gesichte über das bittere L e i d e n . . . die unzusammenhängendsten gewesen, welche er von Anna Katharina empfangen« hat. Brentano verfolgt bei dieser Ausarbeitung offenbar das Ziel, erst später in der Kirchengeschichte aufgetretene Einrichtungen zeitlich vorzuverlegen und das i n den Evangelien Berichtete als Weiterbildungen von Institutionen hinzustellen, die schon i m Alten Testament vorhanden gewesen seien. Er verband die gesammelten Visionen der Emmerick m i t Schilderungen M a r t i n von Cochems und der apokryphen Evangelien und schuf damit eines der erfolgreichsten Erbauungsbücher. I m A p r i l 1824 schon teilte er Luise Hensel daraus mit, las i m Januar 1825 Steingass daraus vor und 1828 den Jesuiten i n der Schweiz 20 . Görres erwähnt in seiner 'Christlichen M y s t i k ' (1837) dreimal Anna K a tharina Emmerick. Er spricht (120) von ihrer Reliquienerkenntnis, schildert 19 Diese Ausgaben sind bei O . Malion, Brentanobibliographie, 1926 verzeichnet, auch die 5. Auflage 1838, die er nicht einsehen konnte, die sich aber i m Besitz der Wiener Universitätsbibliothek befindet. Diese Erweiterung durch die Mitteilungen über das letzte Abendmahl ist i n die Ausgabe v o n Oehl-Schüddekopf nicht aufgenommen worden. 20 Hümpfner, G l a u b w ü r d i g k e i t 49—68.

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die Stigmen der Nonne (453—456) nach scharfsinnigen Beobachtungen i m Lebensabriß und behandelt schließlich die Visionen, wobei er v o m gewaltigen Weltepos (348) spricht und überhaupt von den Gesichten i n einer Weise, die seine Kenntnis der Tagebücher voraussetzt. Görres konnte i n die Aufzeichnungen Brentanos erste Einblicke erhalten haben, als dieser an den Registern arbeitete und m i t ihm von Straßburg aus i m Herbst 1825 die stigmatisierte Apollonia Filzunger besuchte, die auf Görres den stärksten Eindruck ausübte. Brentano richtete daher am Festtag der hl. Apollonia, der zugleich der erste Sterbegedenktag Anna Katharinas (9. Februar 1825) war, eine dringende Aufforderung an Görres, die Filzunger zu beobachten und sich m i t der Geschichte der Stigmatisation zu befassen, wozu er ihm sein Material zur Verfügung stellen w o l l e 2 1 . Außerdem kam Brentano m i t einigen Manuskripten zu i h m 2 2 und konnte Görres, nachdem Brentano 1833 i n München Aufenthalt genommen hatte, leicht weitere genauere Einsichten erhalten, zumal er m i t ihm und Phillips 1835 die stigmatisierte Kreszentia Nigglutsch und anschließend daran Maria M o r l i n K a l t e m besuchte 23 , wobei er feststellte, daß i n der Umgebung von Bozen 300 Exemplare des 'Bitteren Leidens* verbreitet waren. Aus seinen Emmerick-Berichten gestaltete Brentano später auch ein 'Leben der heiligen Jungfrau Maria', von dem am 1. November 1840 schon drei Bogen gedruckt waren 2 4 und das nach seinem Tode von seinem Bruder Christian vollendet und veröffentlicht wurde (1852). Das Buch wurde zum Teil aus Betrachtungen Anna Katharinas an Marienfesten zusammengestellt, hauptsächlich nach Gesichten des Jahres 182 1 2 5 . Ein drittes Buch, 'Das Leben unseres H e r r n und Heilands Jesus Christus' wurde ebenfalls noch v o m Dichter selbst vorbereitet und zuletzt 1837 von ihm überarbeitet, wobei viel m i t Kleister und Schere gearbeitet wurde. Er kündigte dieses Buch i n einem Brief v o m 16. Juli 1837 an eine Schwester Maria des Klosters i n Nancy an: »Ich beginne jetzt den Druck des Lebens der hl. Jungfrau Maria und der Lehren und Wunder und Reisen unseres Herrn, zwei Bücher, die weit mehr Aufsehen machen werden als die Passion.« Das Buch wurde 1858—60 von dem Redemptoristenpater K . E. Schmöger i n drei Bänden herausgegeben 26 . 21

G. Bürke, V o m M y t h o s zur M y s t i k , 1958, 48 f. J. Görres, Gesammelte Briefe, Bd. I I I , 109. Christliche M y s t i k , 1837, Bd. I I , 495—520. 24 C l . Brentano, Gesammelte Briefe, 1855, I I , 396. 25 Z i t i e r t als M L nach der Ausgabe der Religiösen Schriften, hg. v. Oehl und Schüddekopf, Bd. I I . 26 Das Leben unseres H e r r n und Heilands Jesu Christi. Nach den Gesichten der gottseligen A n n a Katherina Emmerick, aufgeschrieben v o n Clemens Brentano. H g . v. K . E. Schmöger y 3 Bde., 1858/60; zitiert als L J . 22 23

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Schmöger veröffentlichte auch eine zweibändige Biographie Anna Katharina Emmericks 1867, die i m zweiten Band weitere Texte brachte, besonders Heiligenlegenden anläßlich der Reliquienerkenntnisse, Betrachtungen über das Fegefeuer, sowie Ansichten über den Papst und die kirchliche Lage, w o m i t i m zweiten Band mehr als 350 Seiten angefüllt sind 2 7 . Schließlich edierte Schmöger i m Jahr 1881 eine gekürzte Zusammenfassung der drei Werke Brentanos: 'Das arme Leben und Bittere Leiden', in der auch die Gesichte der Emmerick aus dem A l t e n Testament zusammengestellt wurden, er fügte dem Werke eine Landkarte Palästinas von R. Riess bei. I n dieser Pracht-Quartausgabe ist alles geglättet; durch Tilgung zahlreicher Stellen über Erinnerungslücken, Krankheitsstörungen und durch Glättung stilistischer Unausgeglichenheiten hat die Erzählung an ästhetischer W i r k u n g entschieden gewonnen.

IV Schon die Biographen Brentanos Diel-Kreiten erhoben 18 7 7 2 8 die Frage, ob die Tagebücher eine treue Wiedergabe der Visionen der Emmerick oder eine freie Bearbeitung Brentanos seien, oder allgemeiner: ob die Bücher Brentanos auf Mitteilungen der Emmerick zurückgingen, also wirkliche V i sionen der Nonne getreu wiedergäben. P. Schmöger hielt hinsichtlich des 'Lebens Jesu' an der treuen Wiedergabe der Gesichte durch Brentano fest und seine Stellungnahme setzte i n der 4ten Auflage der Quartausgabe P. Gebhard Wiggermann (1896) fort. Z w e i Jahre danach, 1898, erschien jedoch i n der Salzburger Kathol. Kirchenzeitung N r . 53 bis 57 ein Aufsatz von Friedrich Raffl, betitelt 'Das U r t e i l des verstorbenen P. Peter Rigler über die Gesichte der Anna Katharina Emmerick'. Rigler (gest. 1873) war Prior des Deutschordenskonventes i n Lana (Tirol). Er wählte etwa 50 Stellen aus, die Widersprüche m i t den Evangelien oder der Tradition enthalt e n 2 9 und warnte vor der Lektüre. Das Buch von Th. Wegener 'Anna K a tharina Emmerich und Klemens Brentano. Zur Orientierung in einer viel besprochenen Frage' (1900) stellte sich die Aufgabe, Brentano als katholischen Christen zu zeichnen und zu beweisen, daß er m i t Unrecht verdächtigt werde, die Visionen der Emmerick nach W i l l k ü r behandelt und ver27 K . E. Schmöger, Das Leben der gottseligen A n n a Katherina Emmerick. 2 Bde., 1867 u n d 1870; zitiert als Schmöger. D a v o n gibt es auch einen Auszug in 1 Band, 1. A u f l . 1884, 3. Auflage 1917. 28 J. B. Diel u n d W . Kreiten, C l . Brentano. E i n Lebensbild nach gedruckten u n d ungedruckten Quellen, 2 Bde. 1877/78, Bd. I I , 236. 20 I n der Salzburger Kirchenzeitung 1898, N r . 69—72, veröffentlichte ein A n o nymus 29 »Bemerkungen zum U r t e i l P. Riglers«, w o r a u f Friedrich Raffl in N r . 73—76 eine Replik erscheinen ließ.

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ändert zu haben, während das Gegenteil der Fall sei. Er stützte diese Stellungnahme durch selbständige Beobachtungen über die A r t der sprachlichen Ausdrucksweise, die auf wörtliche Ubernahmen der Ausdrücke Emmericks schließen lassen. Wegener, der auch eine Biographie der Nonne 1892 (6. A u f lage 1918) verfaßt hatte, war einer der Postulatoren i m kirchlichen Informationsprozeß, der 1892 begann und Pfingsten 1899 abgeschlossen wurde. Die vom Pfarrer Schwägler 1908 bis 1913 herausgegebenen 'Emmerichblätter' ('Studien zu den Visionen der gottseligen A . K . Emmerick. Pro et contra') suchten Widersprüche in den Brentanobüchern zu klären; sie setzten die Untersuchungen von H . Grotemeyer 'Studien zu den Visionen der A . K . Emmerich' (1900 und 1906) und August Edlinger (mit demselben T i t e l 1903—1906) fort. Eine K r i t i k der Ausführungen Riglers veröffentlichte Th. Wegener in der Broschüre 'Die Visionen der Dienerin Gottes A . K . Emmerich' (1909), die Punkt für Punkt seinen Aufstellungen folgten. V o m literarhistorischen Standpunkt aus wies in demselben Jahr H . Stahl ( M a r t i n Cochem und das Leben Christi) auf viele Ubereinstimmungen m i t M a r t i n von Cochem hin; W . Oehl erhob i n seiner Ausgabe des 'Marienlebens' (1913) zahlreiche kritische Bedenken und Hermann Cardauns 'Klemens Brentano' (1915) führte den Vergleich mit Cochem und den Heiligenlegenden fort. Diesen Bedenken trat wirkungsvoll J. Nießen i n seiner Schrift Ά . K . Emmerichs Charismen und Gesichte' (1918) entgegen. Er verwertete die Studien Grotemeyers und Edlingers und wendete sich insbesondere gegen Cardauns, der außerdem in einem Aufsatz i n der Zeitschrift 'Theologie und Glaube' (1916) seine Vergleiche durch Jakob von Voragine ergänzte, ohne jedoch wörtliche Ubereinstimmungen feststellen zu können. Cardauns habe den Einfluß Martins von Cochem übertrieben und das Leben Jesu überhaupt beiseite gelassen. Wer von den Charismen absehe, stehe vor dem größten Rätsel und komme i n einen Knäuel unentwirrbarer Fragen. Nießen verwertete aber noch nicht die Urteile der römischen Zensoren der Ritencongregation, die sich von 1900 bis 1914 m i t den Tagebüchern Brentanos beschäftigten. Wie die genauen Inhaltsangaben der Tagebücher in den 'Judicia theologorum censorum a. S. Congregatione deputatorum super scriptis servae Dei Anna Katharina Emmerich, monialis professae ordinis Eremitarum S. Augustini' (S. 151 f f . ) 3 0 zeigen, lag ihnen i m großen und ganzen das Material vor, das noch heute in Rom in dieser Ordnung, eingeteilt i n Bände und Faszikel, verwahrt w i r d ; nur scheint, wenn ich die Stelle Seite 153 richtig verstehe, das sogenannte Register m i t Band 3 vereint gewesen zu sein und ebenso w i r d zum 5. Band (1822) bemerkt, daß die Diarien am Schluß jedes Faszikels stehen und sehr kurz ge30 D i e Einsicht i n die 'Judicia' verdanke ich Hochw. H e r r n P. Ildefons O S A i n Würzburg, dem ich hiermit meinen verbindlichsten D a n k abstatte.

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halten sind. Band 9 erwähnt ein unvollständiges Register zum A l t e n Testament. Bei dem 2. und 3. Faszikel des ersten Bandes w i r d bemerkt, daß nicht alles von einer H a n d geschrieben, sondern manches von fremder H a n d eingesetzt ist. Die Urteile betrachten Brentano als einen nicht vertrauenswürdigen Zeugen, namentlich auch durch Berufung auf Luise Hensel 3 1 und unterbauten diese These durch Argumente der inneren K r i t i k . Außer einem genauen Vergleich mit der H l . Schrift (die Gutachten umfassen 212 Seiten), der aber über die Arbeit Riglers hinausgeht 32 , wurde besonders geltend gemacht, daß trotz den immer wieder betonten Krankheitszuständen der Emmerick Brentano selbst an diesen Tagen viele Seiten (oft bis dreißig) zu Papier brachte, besonders i m September und Oktober 1822. Diese 'Judicia' wurden zum Teil in dem Aufsatz der Analecta Augustiniana 1919 (S. 237 bis 280) verwertet, der überschrieben ist: 'De scriptorum genuitate, quae hactenus servae Dei Α . Κ . Emmerick nomine sunt honestatae'. Dieser A u f satz erwähnt die Vergleiche m i t der H l . Schrift nicht und so blieben sie auch Lorenz Richen unbekannt, der 1923 in einem Buch 'Die Wiedergabe biblischer Ereignisse i n den Gesichten der Anna Katharina Emmerich' scharfe K r i t i k an den Gesichten übte, auf zahlreiche Unrichtigkeiten aufmerksam machte, auf Widersprüche m i t den Evangelien, die umständliche Reise nach Bethlehem vor der Geburt und Unstimmigkeiten i n der Topographie. Den stärksten Stoß erhielt aber die Glaubwürdigkeit Brentanos durch die gründlichen Untersuchungen W . Hümpfners 1923, der zuerst die Tagebücher i n R o m einsehen konnte, während sie Wilhelm Oehl wegen des Seligsprechungsprozesses unzugänglich blieben. Hümpfner teilte erstmals 33 mit, daß die Papiere in z w ö l f Konvoluten geordnet seien, die aus zahlreichen Faszikeln bestehen, die nach Monaten gebunden sind und ursprünglich mit Bleistift, später m i t Tinte numeriert wurden. Band 1—3 sind tagebuchartig geordnet; die Faszikel des Jahres 1818 sind stark verwüstet, da Pater Schmöger vieles auf Luise Hensel und Apollonia Diepenbrock Bezügliche, so 52 Folioblätter vor dem 8. 1. 1819 herausgerissen und vernichtet hat. I n Band 2 (Jahr 1820) und Band 3 (Jahr 1821) entspricht jedem Monat ein Faszikel. Er werden Gesichte und Krankheitszustände berichtet. Band 4 enthält das erste Lehrjahr Jesu (Mai bis Dezember 1821), Band 5 bringt das zweite Lehrjahr, mitgeteilt 1822, Band 6 das dritte Lehrjahr, mitgeteilt Februar, März und A p r i l 1823, Mai, Juli 1823, noch einmal O k 31 I n einem frühen Brief Luise Hensels an Brentano schrieb sie: »Eins ist i n D i r Clemens, das mich o f t erschreckt u n d fast v o n D i r wendet, Lüge, sie ist i n uns Menschen allen u n d entstellt Gottes Ebenbild, aber D u hast davon eine ziemliche Portion«. ( H . Schiel, C l . Brentano u n d Luise Hensel, 1956, 104.) 32 D i e Ergebnisse der 'Judicia' sollten veröffentlicht werden. 33 Hümpfner, G l a u b w ü r d i g k e i t 69 ff.

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tober 1823 bis 8. Januar 1824 und Oktober und November 1820. Band 7 enthält die letzten Ereignisse des dritten Lehrjahres, mitgeteilt Januar und Februar 1821. Schließlich folgt ein Faszikel über das letzte Abendmahl und über die Ereignisse nach der Auferstehung, mitgeteilt M a i bis August 1821. Die Bände 8—11 vereinigen einzelne Bilder aus dem A l t e n Testament, Auszüge aus den Tagebüchern Weseners und Overbergs. Die Tagebücher klagen immer wieder über die Unfähigkeit der Emmerick zu erzählen, über die Störungen durch ihre Umgebung und Krankheitszustände. Unter den A u f zeichnungen finden sich auch einige Zettel der ursprünglichsten Niederschriften, ζ. Β. I V , 16 3 4 . Hümpfner konnte bei seinem H a u p t w e r k die Register nicht benützen, die ihm erst 1928 bekannt wurden 3 5 . Seine hauptsächlichste Entdeckung w a r Brentanos Abhängigkeit von den Werken des Benediktiners Augustin Calmet, von denen er einige i n seiner Bibliothek besaß 36 . Übrigens konnte Hümpfner auch einzelnes Unbekannte aus den Tagebüchern veröffentlichen, wozu in erster Linie die Selbstgesichte der Anna Katharina Emmerick vom Oktober des Jahres 1820, v o m Februar 1820, vom 25. und 26. M a i 1819 und vom 18. September 1821 gehören. Er erklärte diese Selbstgesichte als Fälschungen Brentanos, obwohl sie i m Lebensumriß (BL 131) vorkamen. Er spricht auch sonst durchwegs von angeblichen Visionen Emmericks und Fiktionen Brentanos, hat aber i n seinen, schon angeführten späteren Veröffentlichungen manchen dieser Vorwürfe zurückgenommen 37 . Hümpfner kam i n seinem Werk zu der Feststellung, daß Brentano infolge seiner übermächtigen Phantasie nicht geeignet war, sich an die genaue Wiedergabe der Gesichte zu halten. Er hätte auch auf die außerordentliche Kombinationsgabe des Dichters hinweisen können, die noch an seinen Altersbriefen an Böhmer und Steinle bewundert werden kann. Das Werk Hümpfners fand von H . Cardauns volle Zustimmung, von L. Richen 3 8 aber eine ausführliche eingehende K r i t i k , während diesem wieder Georg Paul m i t beachtenswerten Ausführungen 3 9 entgegentrat; auch er 34

Hümpfner, G l a u b w ü r d i g k e i t 67. Theologie u n d Glaube 1959, 215. Er erwähnt 203, daß die Ritenkongregation am 17. M a i 1927 auf die Prüfung der Aufzeichnungen der Visionen durch Brentano als Schriften der Emmerick verzichtet hat. 36 K a t a l o g der nachgelassenen Bibliothek der Gebrüder Clemens u n d Christian Brentano, K ö l n 1853. H i e r werden i n der N r . 108—10 v o n Calmet angegeben: Kommentar 8 Bde., Venedig 1754—65; Dictionnaire historique, 4 Bde., 4 1730. Bibl. Untersuchungen deutsch v. Mosheim, Bd. 1—6, Bremen 1738—1747. 37 Hümpfner, G l a u b w ü r d i g k e i t 413 f., 417 ff., 429; Wesener, Tagebuch 285; Hümpfner, A k t e n 397, 481. 38 H . Cardauns, Wiener Reichspost. 14. Januar 1924; L . Richen, Linzer theologisch-praktische Quartalsschrift 1924, 391—97. 39 L . Richen u n d die Topographie der Seherin A . K . Emmerick, 1929. 35

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mußte zugeben, daß sich die Nonne i n den Distanzen irre und manche ihrer Vorstellungen sich schwer m i t den Evangelien in Übereinstimmung bringen ließen. Ein Jahr früher schrieb Johann Seidl 4 0 eine fast durchwegs stichhaltige Widerlegung der von Richen i n Kapitel 3 geltend gemachten U n stimmigkeiten der Gesichte m i t den Evangelien, wobei er allerdings einige selbständige Exegesen (Joh. 2, 6; 12, 1; M t . 1, 19) vornahm. Aus seinen Ausführungen gehen zahlreiche weitere Ubereinstimmungen m i t Calmets Untersuchungen hervor 4 1 . Daß Calmet 4 2 auch für die Stelle über die Rehabiten und Karaiten (L. J. I 516, I I 8, I I I 171) Quelle ist, ist ihm allerdings entgangen. Noch zahlreichere Ubereinstimmungen m i t Calmets Ansichten brachte Seidl i m zweiten Teil seiner 'Vergessenen und verleugneten Wahrheiten' (1930). I n seinen Meinungen über die Ergebnisse der prähistorischen Forschungen ( I 95) erweist sich Seidl allerdings sehr rückständig. Er konnte aber noch die Arbeit A . Edlingers 4 3 verwerten, der eine Reihe von Texten der Evangelien zusammenstellte, die durch die Gesichte eine leichtere Erklärung finden. Hümpfners ( f 1960) letztes W o r t zu dieser Frage erschien 1959 i n der Zeitschrift 'Theologie und Glaube' unter dem Titel 'Neue Emmerick-Literatur'. Diese Arbeit beschäftigt sich bereits m i t dem wichtigen Buche von Josef A d a m 'Brentanos Emmerickerlebnis' (1956), das ebenfalls auf den Originalmanuskripten basiert. Wenn A d a m auch einzelnes berichtigen konnte, so insbesondere das, was Hümpfner über Brieffälschungen Brentanos behauptet und zum Teil i n späteren Veröffentlichungen 4 4 selbst zurückgenommen hatte, und so das Lebensbild des alten Brentano entzerrte — Hümpfners Behauptung einer Rieseninterpolation konnte A d a m nicht eigentlich widerlegen. V o r allem blieb, auch nach Hümpfners Entgegnung auf A d a m i n 'Theologie und Glaube' das Problem bestehen, wie weit die Tagebücher i n Dülmen niedergeschrieben wurden — wofür A d a m 275 eintritt — oder wie weit sie später niedergeschrieben wurden, was Hümpfner mindestens für die ersten Faszikel, die überarbeitet worden seien, annahm. A d a m druckte i n seiner Dissertation erstmals zahlreiche längere Äußerungen der Nonne über Josef und Assenet, über Segola, über das Prophetenbuch i n Ktesiphon, über Magnetismus und Giganten, sowie einige Lichtvisionen 4 5 , vor allem aber 40 Vergessene u n d verleugnete Wahrheiten. Vollständige Verifizierung der Gesichte A . K . Emmericks, 1. Teil, 1928. 41 Seidl, Wahrheiten, Bd. I , 24, 38, 41, 47, 49, 64 f., 72, 80, 82. 42 Calmet, Dictionnaire historique, Bd. I I , 34; Bd. I I I , 788. 43 Α . Edlinger y A n n a K a t h a r i n a Emmerick als Exegetin, 1928. 44 Hümpfner } A k t e n 412 f., 408; Adam 15. 45 Adam 344, 218. 345, 347, 342, 350 ff.

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endlose Klagen Brentanos über die Schwierigkeit der Beobachtungen und Aufzeichnungen, über den Beichtvater, über Differenzen m i t seinem Bruder etc. 4 6 . Er führte in seinem Buch i m wesentlichen aus: Was Brentano an Anna Katharina, deren Leben ganz v o m Geist der Kirche durchpulst war, fesselte, war zunächst ihr kindliches Wesen und ihre Sehergabe, an die er fest glaubte, und die er so hoch schätzte, weil sie sich gerade auf das Detail erstreckte. Er war v o m besten W i l l e n beseelt, ihre Visionen objektiv wiederzugeben und legte den größten Wert darauf, alle Details und Zusammenhänge zu erfahren 4 7 . Das kam seinem Drang nach dem Abenteuer und seinem Bedürfnis, moralischen H a l t zu finden, entgegen. Aber er übte durch Gespräche, gemeinsame Lektüre und suggestive Fragen auch großen Einfluß auf sie aus und seine Phantasie war so stark und überwältigend, daß sie alles überwucherte. A d a m wies insbesondere überzeugend nach, daß sich bei der Abfassung der Visionen spezifische Stilmittel Brentanos geltend machen 4 8 ; i m 'Bitteren Leiden' etwa i n dem hochstilisierten Blick auf das unruhige Jerusalem oder i n der Tanzszene Salomes, den Schilderungen des Satansreiches oder auch i n Stellen, wie sie Schmöger und A d a m selbst abdrucken 4 9 . A d a m meint, daß der überwiegende Teil als durch Brentanos E i n w i r k u n g entschieden beeinflußt und geprägt angesehen werden muß.

V

Die letzte Beleuchtung der Emmerickfrage brachte das Buch A n t o n Briegers: 'Anna Katharina Emmerick: Der Gotteskreis, aufgezeichnet von Clemens Brentano' 5 0 . Brieger ist der dritte, der i n die Originale Einsicht nehmen konnte. Er mußte sich m i t der Edition einer Auswahl begnügen; diese ist chronologisch geordnet. M a n sieht aus ihr, daß die früheste mitgeteilte Datierung 28. M a i 1819 sich auf eine Vision v o m Fall der Engel bezieht (433). Z u m weitaus überwiegenden Teil gibt Brieger Texte aus dem V., V I . und V I I . Tagebuchband, aus denen schon Brentano bzw. Schmöger den Lehrwandel Jesu zusammengestellt hatten; aber dazwischen, vorher und nachher sind auch Texte aus den anderen Tagebuchbänden eingereiht bzw. angefügt. V o r allem kann man nun beweisen, wie weit Brentanos Darbietungen i m 'Bitteren Leiden', seinem berühmtesten Buch, von diesen ursprünglichen Aufzeichnungen entfernt bleiben. 46 47 48 49 50

Adam 332 ff., 338, 276, 181, 263 ff. Adam 159 f., 279, 286, 332, 338. B L 222 f., L J I I , 269; I I I , 366 f. Adam 244; Schmöger I I , 428 f., 477 ff. Z i t i e r t als Br.

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Brentano selbst gab (B L 497) an, die Nonne hätte die Passion ab 18. Februar 1823 bis zum 6. A p r i l erzählt und zwar Tag für Tag. Das Erzählte sei unmittelbar darauf niedergeschrieben (BL 169) und ihr abends vorgelesen worden. Briegers Buch zeigt nun, daß die Emmerick seit dem 7. Januar m i t der Geschichte Johannes des Täufers beschäftigt war, m i t seinem Aufenthalt i m Kerker und seiner Ermordung; am 13. Februar w i r d erwartet, daß sein H a u p t sich i n einer Kloake finde (251). Schmöger erzählt (LJ I I I , 425): während die Emmerick früher niemals eine zusammenfassende Passionsdarstellung zu geben vermochte, habe sie plötzlich am 18. Februar 1823, nachdem ihr Brentano aus einem französischen Buch deutsch vorgelesen hatte, m i t dem dramatischen Anfang des 'Bitteren Leidens' eingesetzt und die darauffolgenden Tage bis zum 30. März ausführliche Mitteilungen gegeben, allerdings »in kleinen Abschnitten«, später ( L J I I I , 428) sagt Schmöger »in Bruchstücken«. Bei Brieger ist von der Passion Christi aus dem Jahr 1823 nichts abgedruckt, auch nichts von dem von Hümpfner (271) angegebenen Ausarbeitungen oder deren Vorlagen zu den Abendmahlkapiteln für die Ausgaben des 'Bitteren Leidens' ab 1834 5 1 . W i r verstehen das sofort, wenn w i r i n den von A d a m (337) unter dem März 1823 angeführten Texten genau nachsehen. H i e r heißt es nämlich wörtlich: Er (der Pilger, Brentano) vermochte nur »unter Kummer und Schwierigkeiten einzelnes zusammen zu lesen, was ihm sehr zerrissen mitgeteilt wurde, während die Gesichte ihren ruhigen Gang gingen«. Ferner: »Ohne M i t t e l irgend ein fortlaufendes B i l d aufzufassen, befindet sich der Pilger sehr betrübt gestellt, während der Beichtvater zu glauben scheint, er schreibe Alles sehr säuberlich auf, w o v o n er nur äußerst wenig und Verwirrtes erfährt, ja er wünscht sogar eine Abschrift davon und äußert mit seltner Güte, so einem M a n n wie Widmer und Sailer könne man es auch senden. Was, um Gottes willen, was? — Welche unglückliche Ansicht und Unkenntnis der traurigen Lage der Sache!« Zwei Zeilen weiter lesen w i r : » I n dieser längst bekannten unseligen Verfassung blieb dem Pilger nichts übrig, als alle einzelnen Züge und Notizen zu sammeln, die von der Erzählung übrig blieben und als Bruchstücke der einzelnen Passionsszenen niederzuschreiben . . . So bleibt es allerdings merkwürdig, da sie an dreißig Tagen i n kleinen Abteilungen die Fasten hindurch, die Geschichte des einen Karfreitags nach und nach sah und kein B i l d davon zustande kam, obschon sie das Ganze am Karfreitag nochmals wiederholte.« 51 I n einem Brief an die Seydel'sche Buchhandlung in Sulzbach fragt Brentano 1834 (Ges. Briefe I I , 301), wie hoch die zweite Auflage des 'Bitteren Leidens' werden solle u n d teilt seine Absicht m i t , diese Ausgabe durch eine Revelation über das letzte Passah u n d Abendmahl i m U m f a n g v o n 4 Bogen zu vermehren, u n d überlegt für die Besitzer der ersten Auflage 1500 Exemplare extra zu drucken. Nach O. Malion (Brentano-Bibliographie 1926) ist eine solche Zugabe erschienen.

D i e G l a u b w ü r d i g k e i t v o n Clemens Brentanos Emmerick-Berichten

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(338) Diese Stelle war bereits den Zensoren der Ritenkongregation 5 2 bekannt, die feststellten, daß sich höchstens 30 oder 40 Seiten i n den Tagebüchern finden, aus denen Brentano 360 machte. Sie folgerten daraus, daß Brentano die Redlichkeit fehle. Aus dem Analecta (273) geht auch hervor, daß den Zensoren ein Manuskript des 'Bitteren Leidens' nicht vorlag. Während ferner zum letzten Passahmahl (29. März 1821) ein verhältnismäßig ausführliches Register existiert, ist für ein etwa darauf folgendes 'Bitteres Leiden' keine Spur von einem Register vorhanden. Also sind die von Brieger als Urtexte wiedergegebenen Aufzeichnungen über die Leidensgeschichte außerordentlich dürftig. Wenn man bedenkt, daß i m 'Bitteren Leiden' etwa die Seiten 170 bis 513 zur Verfügung stehen, i m 'Gotteskreis' aber nur 375 bis 462, so kann man sich von der Ausweitung (aus 87 Seiten werden 342) eine ungefähre Vorstellung machen. Bei Brieger w i r d nichts erzählt von der Gefangennahme Jesu, von Annas, Kaiphas, der Verleugnung Petri, von der Pilatusszene, von Herodes, von Geißelung und Dornenkrönung, v o m Urteil, von der Anheftung ans Kreuz. Der U r t e x t ist weit entfernt, ganze Bilder und Szenen zu bieten. W o h l aber sind einzelne Worte, wie w i r sehen werden, beiden Fassungen gemein. Das Kapitel, das i m 'Bitteren Leiden' »Der kreuztragende Christus und seine Mutter« (343 ff.) überschrieben ist, weist größere Ähnlichkeiten m i t dem U r t e x t auf (Br 378—381), der m i t 15. und 16. August 1822 datiert ist. H i e r sagt Maria zu Johannes: »Soll ich hin wegeilen?«, worauf sie auf Johannes' Rat dem Kreuzweg folgt, um sich später keine Vorwürfe machen zu müssen; hier fragt die Menge: »Was ist das für ein Weib?«, ein Bube hält ihr die Nägel vor, es fällt das W o r t : »Hättest du ihn besser erzogen, wäre er nicht i n unsere Hände gekommen«, sogar der Stein m i t den Knieund Fingerabdrücken begegnet. N u n finden sich aber all diese Motive, sogar, daß der lange Rock den Heiland am Gehen hindert, auch bei M a r t i n v o n Cochem, worauf schon Stahl hingewiesen hat. Das ganze Kapitel ist ein schlagender Beweis dafür, daß Emmerick-Brentano i m August 1822 M a r t i n von Cochem gegenwärtig war und also schon der Urtext nicht ohne Einfluß Cochems niedergeschrieben wurde. Interessant ist die H a l t u n g der beiden Bücher zur Veronikafrage. Daß die heutige Exegese 53 die bekannte Legende v o m Schweißtuch der Veronika als unhistorisch ablehnt, ist bekannt, aber schon der Bibelkommentar des August Calmet (1721), aus dem Brentano nach Hümpfner viel schöpfte, tat das. Der 'Gotteskreis', der Veronika eine Bekannte Maria Magdalenas nennt (95, 97), die am Palmsonntag ihren Schleier vor dem Heiland auf 52

Judicia 28 f., Analecta 270. T h . Innitzer, Kurzgefaßter Kommentar schichte Jesu Christi, 1925, 245 ff. 53

zur

Leidens- u n d

Verklärungsge-

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den Weg ausbreitete (379), sagt bei Schilderung des Kreuzweges ( A p r i l 1820) ausdrücklich: »Vom Schweißtuch sah ich nichts« (387). I m 'Bitteren Leiden* dagegen (349—355, 361) ist ausführlich v o m Schweißtuch und dem Abdruck des Antlitzes Christi die Rede, w o m i t auch das von Schmöger zusammengestellte Veronikaporträt ( L J I I I , 617) v o m 4. Februar 1821 übereinstimmt; was i m Marienleben (122) von der jungen Veronika berichtet w i r d , w i r d hier verarbeitet. Es fiel Brentano offenbar zu schwer, auf die populäre Legende zu verzichten, die i n allen Reisebüchern und Predigten 5 4 weitläufig erörtert wurde. Das beweist, daß Brentano sich nicht scheute, von dem Urtext abzuweichen, wenn er Erfolge erzielen wollte. Z u den Ausweitungen, welche der sogenannte U r t e x t erfährt, gehört die Vorführung der inneren Leiden des Erlösers am ö l b e r g (Br. 376), die i m 'Bitteren Leiden' (180 ff.) viel Raum einnimmt. Eine verhältnismäßig lange Erzählung findet sich unter dem A p r i l 1820 (386 ff.), die v o m Tode Christi und der Kreuzabnahme handelt, worauf dann (395 ff.) ein größeres Stück über das Grab und die Tücher folgt, w o Brentano selbst hinsichtlich des Zeitpunktes der Auferstehung auf Widersprüche m i t den Evangelien hinweist (Br. 395), wie er denn auch sonst manchmal 5 5 Auseinandersetzungen m i t der Emmerick hat. I n diesem Teil kommen charakteristische Abweichungen vor, die die Person des Cassius (Longinus) betreffen. Nach dem Nikodemus-Evangelium ist er der Hauptmann, der die Gottessohnschaft bekennt. D a w i r d nun einerseits berichtet (Br. 383), daß er die Lanze weggab, andererseits früher (Br. 378), daß er sie in Ehren hielt. Während i m 'Gotteskreis' Cassius zu Fuß zum Kreuz t r i t t , um Christus einen Stoß in die rechte Seite zu versetzen (385), tut er das i m 'Bitteren Leiden' zu Pferde (411). Er bekennt hier vor Pilatus seinen Glauben an die Gottheit Christi. Diese Funktion hat dort beim Kreuz zuerst der Hauptmann Abenedar (BL 369), der dem Cassius, der nun das Pferd besteigt, seine Lanze übergibt. Dieser Abenedar fehlt im Urtext vollkommen. Nach dem Nikodemus-Evangelium ist Longinus der Hauptmann, der die Gottheit bekennt, nach anderen Varianten derjenige, der Christus in die rechte Seite stach. Eine zweite wichtige Gestalt aus diesem Komplex ist Josef von A r i mathäa. B L berichtet (499 ff.), daß er für seine Steinmetzarbeiten das Zönaculum gemietet habe, w o er m i t Nikodemus arbeitete. Das findet sich auch i m U r t e x t (Br. 368). Auch an anderen Stellen (225, 368, 386) t r i f f t man diese Vorstellungen. Ich habe dieses M o t i v nirgends i n der Literatur ge54 Quaresmius, Historica Terrae sanctae Elucidatio, 1632, Bd. I I , 230 ff., Maenhard, Passologia, 1675; Adrichomius 154, auch bei M a r t i n v o n Cochem. 55 L J I I , 142, 399.

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funden, das beweist aber nicht, daß es aus dem Munde der Anna Katharina Emmerick stammt, es kann ebenso ein glänzender Einfall Brentanos sein. Aus den Josef von Arimathäa betreffenden Teilen sind manche Sätze und Redewendungen (Br. 386; BL 502) ganz i n das 'Bittere Leiden' aufgenommen worden. Während hier v o m Waschen der Rückseite des Leichnams gesprochen w i r d (432), entsinnt sich die Nonne i m 'Gotteskreis' (Br. 392) solcher Waschung ausdrücklich nicht. Die Schilderung der i m Grabe gegen die M i t t e zugekehrten Tücher des Auferstandenen (BL 490, Br. 397) begegnet i n beiden Büchern, ebenso die Beschreibung des Gartens (grüne Zweige, Palmbaum 393, bzw. 436 f.). Daß Maria den Kreuzweg geht, findet man nicht nur bei Brieger (BL 480, Br. 396), sondern auch schon bei M a r t i n von Cochem. Übereinstimmung besteht auch darin, daß der Schädel Adams sich i m M i t t e l p u n k t der Erde auf dem Kalvarienberg befand und daß das Kreuz senkrecht über ihm stand, was die Vorstellung der Erde als einer Scheibe voraussetzt; es geht diese Vorstellung von dem über dem Schädel Adams stehenden Kreuz Christi auf Origines zurück und w i r d bei Baronius und Calmet wiederholt 5 6 . M a n muß sich vor Augen halten, daß die Angaben Anna Katharinas sicher außerordentlich knapp gehalten waren und meist unter großen Schmerzen erfolgten. Eine Erzählung, wie sie i m 'Bitteren Leiden' vorliegt, die auch Schmöger »kunstvoll« nennt, ist ausgeschlossen, man kann sich die Mitteilungen nicht einmal in der Form des von Brieger gegebenen Urtextes vorstellen, zumal sie vielfach i n westfälischer Mundart erfolgten — allerdings sprach Anna Katharina gelegentlich auch hochdeutsch 57 .

VI Das 'Marienleben' Brentanos hat niemals das hohe Ansehen erlangt, wie sein 'Bitteres Leiden'. Das Leben Mariens i n diesem Buche beginnt m i t der Ankündigung ihrer Empfängnis i m Leibe der Mutter Anna ( M L 68) und endet mit der Rückkehr aus Ägypten. Voraus gehen Berichte über Marias Vorfahren, ein Anhang berichtet v o m T o d Mariens und Ereignissen bei ihrem Grab. Einzelnes stützt sich auf Mitteilungen aus den Jahren 1819 (Beginn 27. Juni) und 18 2 0 5 8 . Ins Jahr 1822 fallen nur zwei Mitteilungen 5 9 . Der größte Teil stammt aus dem Jahre 1821. Es finden sich aus diesem Jahr 56 B L 448; Br. 382 f., Hümpfner, Glaubwürdigkeit historique I , 26 und I I I , 16. 57 Adam, 166, Nießen, 120, Hümpfner, A k t e n 355. 58 M L , 1, 66, 68; ferner 72, 109, 169, 242. 59 M L , 70, 339.

11 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 7. Bd.

142; Calmet, Dictionnaire

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aber nicht nur einzelne Gesichte an Marienfesttagen, sondern zum großen Teil durch Wochen i m Juli, August, September, November, Dezember sich hinziehende Folgen von Erzählungen. Allerdings muß beachtet werden, daß ein Vergleich Hümpfners m i t den Originaltagebüchern ergeben hat, daß Brentano m i t den Zuteilungen an die Jahre 1820 und 1821 sehr willkürlich verfuhr. Es hat sich auch gezeigt, daß die Stellen der Tagebücher i m U m fang beträchtlich erweitert wurden, daß ganz freie Zutaten in sie eingefügt wurden, die in den Tagebüchern keine Grundlage haben 6 0 . I n diesem Zusammenhang muß auf einen Ausspruch K . E. Schmögers i n einem Brief an A . Steinle v o m 9. September 1870 hingewiesen werden, in dem es heißt, der Verfasser des 'Marienlebens* sei erst »dann gescheitert, als er sich durch Einreden von Professoren verleiten ließ, das Leben Mariens nicht nach den Buchstaben der Tagebücher, sondern nach dem Zeitgeschmack zu redigieren. Er erkannte den M i ß g r i f f und wollte das mißlungene Werk unterdrücken; aber nach seinem Tode besorgte dieselbe H a n d den Weiterdruck des unglücklichen Buches, die auch die Briefe des Pilgers um Geld an einen Buchhändler ausgeliefert hatte« 6 1 . Das w i l l viel sagen, denn Schmöger war ein glühender Verehrer Marias i m Sinn von G r i g n i o n - M o n t f o r t 6 2 . Was i n der Geschichte von Joachim und Anna am meisten auffällt, ist der außerordentlich stark betonte Zusammenhang ihres Kreises, insbesondere der hl. Anna m i t den Essenern. Überaus frisch w i r d i m 'Marienleben' (4—17) auf sie hingewiesen, übrigens i n Übereinstimmung mit dem 'Leben Jesu', vor allem aber m i t dem 'Gotteskreis' 6 3 . Ganz deutlich w i r d gesehen, daß ein Orden bestand, daß verheiratete Essener existierten, daß sich Sekten davon abzweigten, daß sie an einen Messias glaubten, und es w i r d Johannes der Täufer m i t ihnen in Zusammenhang gebracht. Es heißt aber deutlich, daß Jesus m i t ihnen keine Gemeinschaft hatte, was auch Calmet betonte. M a n wußte damals von den Essenern nur durch Philo, Plinius und Flavius Josephus. V o n einem Lehrer der Gerechtigkeit, von einem weltlichen und geistlichen Messias, von einem Lügenpriester, dem schroffen Dualismus von Licht und Finsternis 64 etc. ist natürlich keine Rede, w o h l aber von weißer Kleidung, großer Enthaltsamkeit, gemeinsamem Eigentum und dem Aufenthalt östlich des Toten Meeres. 00

Hümpfner, Glaubwürdigkeit, 151—215. H.CardaunSy Quellenuntersuchungen zu Clemens Brentanos Emmerick-Aufzeicnnungen, i n : Theologie u n d Glaube, 1916, 798. 62 K . E. Schmöger, Aus der Kongregation des Allerheiligsten Erlösers. E i n Lebensb i l d (v. P. Klarmann), 1883. 63 L J I , 41, 153; I I , 315 ff., 411; Br. 28 ff., 48, 227—230. 64 J.Hempely Weitere Mitteilungen über T e x t u n d Auslegung der Handschriftenfunde am Toten Meer, i n : Nachrichten der Göttinger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, 1961, 335 ff. 61

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I m übrigen ist bekannt, daß das 'Marienleben' sehr viel m i t Vorstellungen aus den apokryphen Evangelien arbeitet, namentlich des Nikodemus und Jakobus. Was zur Zeit der beiden Brüder Brentano von der apokryphen Literatur bekannt war, ist übersichtlich chronologisch zu übersehen i n dem Buch von Rudolf Hofmann, 'Das Leben Jesu nach den Apokryphen' (1851). Die apokryphen Evangelien über die Geburt Mariens, die Kindheit Christi etc. waren schon dem Mittelalter bekannt und sind auch i n der 'Goldenen Legende' des Jacobus a Voragine verarbeitet. W i r denken hier an den Abschnitt über die Geburt Mariens 6 5 , w o auch die Verwandtschaftsverhältnisse erörtert werden, die i m 'Marienleben' (19 ff., 413) zusammengestellt sind (Br. 68 f.). A u f die Übereinstimmungen m i t den Apokryphen und m i t Flavius Josephus hat schon A . Edlinger i n seinen Studien aufmerksam gemacht. Der 'Gotteskreis' bringt außer den Stellen über die Essener sehr wenig, was man m i t dem 'Marienleben' vergleichen kann; so eine kurze Erwähnung der Heilung des aussätzigen Räuberkindes durch das Badewasser des Heilandes 6 6 . Z u den langen Ausführungen i m 'Marienleben' (225, 232) über die Reise der hl. drei Könige nach Bethlehem findet man bei Brieger nur ein paar Zeilen, (4, 10), wonach zwei Sterne zusammenkamen, ein Schweif und ein Frauenbild gesehen w i r d . Daß so wenige Stellen i m 'Gotteskreis' m i t dem 'Marienleben' verglichen werden können, w i r d sofort klar, wenn man auf die Handschriften zurückgeht, die sich i m Kloster Gars befinden. Bei meinem Besuch 1965 wurden m i r zwei gebundene Bände m i t Texten verschiedener fremder Hände zum 'Marienleben' gezeigt und überdies ein dazu gehöriges großes K o n v o l u t von zurückgelegten Blättern, ebenfalls von fremden Händen. Diese Manuskripte stammen zweifellos aus dem Nachlaß Christian und Emilie Brentanos und sind sowohl Wilhelm Oehl, als auch Hümpfner und der Ritenkongregation vollkommen unbekannt geblieben, dürften aber bei Nießen 6 7 erwähnt sein. Sie widerlegen m i t ihrer bloßen Existenz jene irrige Meinung, daß das 'Marienleben' dem Wortlaut der Erzählungen Anna Katharinas folge. Ich hatte i m Sommer 1966 die Möglichkeit, die zwei gebundenen Bände näher anzusehen. Sie sind anfangs i n kleiner Handschrift geschrieben und lassen Platz für nachträgliche Einfügungen. Später werden der Hände immer mehr. Der erste Band beginnt m i t einer gefühlvollen Erzählung von den Verwandten Joachims und Annas i m Zusammenhang m i t den Essenern, wobei viel von Kräuterwesen die Rede ist. Es handelt sich um mehrere Abteilungen, deren erste i m Marienleben der Ausgabe Oehls bis S. 46 reicht, 65 ββ 67

1 *

Aus dem Lateinischen übersetzt v o n R. Benz, 1925, 676. Br. 22, M L 364; B L 382. J. Nießen, Charismen u n d Gesichte, 196.

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worauf eine neue Zählung 1—34 einsetzt; eine dritte Abteilung beginnt mit Seite 68, dann w i r d der Inhalt sehr verworren, am meisten bei der A n rufung des H l . Geistes (175—188), als zahlreiche Varianten verwendet wurden. Der zweite Teil beginnt m i t dem Abschnitt 'Advent' und reicht bis zum Tode Mariens i n Ephesus. Er schließt m i t dem Satz: »Der T o d erfolgte nach der Nona, da auch der H e r r gestorben« (435). Es sind drei K o m plexe: Gloria i n Excelsis (225), Drei Könige (283—298) und Flucht nach Aegypten (345), deren Reihenfolge stark verändert ist. I m Archiv der Redemptoristen i n Rom gibt es eine Originalhandschrift Brentanos, die die Ephesusangelegenheit noch einige Seiten weiterführt ( V I I I , 6) und also mit dem Text der kritischen Ausgabe übereinstimmt. Die beiden Manuskripte sind durch zahlreiche Bleistiftzahlen verbunden, die sich i n ihnen in gleicher Handschrift finden. Das überdies i n Gars noch befindliche K o n v o l u t von 85 meist doppelt beschriebenen Blättern, von denen manche zweifellos die kleine Handschrift Brentanos aufweisen, beziehen sich auf die Verkündigung, Aufopferung, Flucht nach Aegypten, die Reise der drei Könige, den T o d der unschuldigen Kinder, die Wohnung Josefs i n Nazareth, und die Heimsuchung; die am meisten zusammenhängenden K a p i t e l entsprechen dem 'Marienleben' (264—339). Diese Texte behandeln die Reise der Könige nach Bethlehem, m i t der Einladung der Weisen in das Schloß des Herodes. Diese Blätter waren alle i m Besitz der Emilie Brentano und dienten zur Zusammenstellung des i n den gebundenen Bänden versuchten Gesamtmanuskriptes. A m meisten ist durch Briegers Ausgabe zur Vorstellung des Segens der reinen Mehrung beigetragen worden, der i m 'Marienleben' begegnet; sie geht auf November 1820, Januar und September 1821 zurück 6 8 . W i r sprechen darüber am Schluß dieser Abhandlung. N u n sind aber i m 'Marienleben' auch Angaben über den T o d Mariens in Ephesus (404 ff.) beigegeben, die zum größten Teil 1821 mitgeteilt wurden. H i e r w i r d erzählt, daß Johannes m i t Maria nach Ephesus gezogen sei und hier ein Haus bewohnt habe, von dem aus man auf das Meer sehe. H i e r sei Maria auch begraben worden, man werde das Grab eines Tages finden. D a m i t stimmen die Angaben i m 'Leben Jesu' 69 überein. A u f diese Angaben gestützt stellten die Lazaristen i m Jahr 1891 Nachforschungen an; man stieß i m Laufe der Zeit auf eine kleine Kirche in Panagia K a p ü l i , einem Berg in der Nähe von Ephesus, von der man annahm, daß sie der Wohnort Marias gewesen sein könnte. Darüber gibt es einige Literatur, die letzte gründliche 68 09

M L 17, 37 f., 48 f., 181. L J I I I , 558; vgl. auch 384, 529 und Schmöger I I , 762.

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Untersuchung stammt von K l . K o p p 7 0 ; er kommt aus vielen Gründen zu einem negativen Ergebnis. Seither haben sich noch H . Gsänger und G. Capp r i l i damit befaßt, zuletzt W . Vordtriede 7 1 . Es finden dorthin Wallfahrten statt. Erzbischof Descuffi sprach auf dem marianischen Kongreß i n Lourdes (1958) von 25—30 000 Pilgern, auch Mohamedanern 7 2 . W . Alzinger sagt i n seinem Buch 'Die Stadt der sieben Weltwunder' (1962), S. 250, daß die 1961 freigelegten Fundamente nichts ergeben hätten, was vor der byzantinischen Epoche anzusetzen wäre. Es gibt zwei Uberlieferungen über das Grab Märiens. Diejenige, welche den T o d Mariens nach Jerusalem verlegt, geht zuletzt auf die früher dem Melito von Sardes (gest. 190 n. Chr.) zugeschriebene Schrift über den H i n gang Mariens (die aber dem 4. Jh. angehört) und auf Johannes Damaszenus zurück 7 3 . Daß Pseudo-Dionysios i n seiner Schrift über die göttlichen Namen behauptete, beim Tode Mariens i n Jerusalem, wo alle Apostel zusammenkamen, gegenwärtig gewesen zu sein, ging sogar i n die 'Goldene Legende' über, w o bei Dionysius Areopagita und bei Mariä H i m m e l f a h r t 7 4 davon berichtet w i r d . Diese Tradition ist die verbreiteste, sie findet sich auch bei M a r t i n Cochem. Die andere Tradition, die für Ephesus spricht, stützt sich auf einen Brief der Väter des Konzils von Ephesus an den Klerus, wo es heißt, daß »Nestorius in der Stadt der Epheser verurteilt wurde, w o der Theolog und die Heilige Jungfrau . . .«, (das Prädikat fehlt, man könnte ergänzen:) »sich aufgehalten haben«. Bei vielen Schriftstellern finden sich beide Versionen, so bei Quaresmius, auch bei Calmet 7 5 . Die Visionen Emmericks erwähnen immer wieder Ephesus 76 .

VII Die dritte große Veröffentlichung aus den Aufzeichnungen Brentanos wurde durch den Redemptoristenpater K . E. Schmöger bewerkstelligt, der 70

K l . Kopp, Das Mariengrab, 1955. H . Gsänger y Ephesus, 1959; G. Capprili y L a casa délia S. Vergine a Efeso, 1959; W . Vordtriede y C l . Brentanos A n t e i l an der Kultstätte in Ephesus, D V j s 34 (1960), 384—401. D i e Schilderung eines Besuches gibt Peter Bammy Frühe Stätten der Christenheit, 1955, i n dem K a p i t e l 'Panaja K a p o u l i ' , 149—165. 72 I m 'Tagebuch des Konzils. D i e A r b e i t der d r i t t e n Session', hrsg. v o n L . A . Doris u n d G. Dengler y 1965 w i r d auf S. 96 erwähnt, daß in der 90. Generalversammlung am 29. September 1964 Erzbischof Descuffi gesagt habe, daß hunderttausende mohammedanische Pilger zusammen m i t den Christen zum Marienheiligtum von Ephesus wallfahrten. 73 G. Rauschen, G r u n d r i ß der Patrologie, 1926, 97, 436 f., 439, 457. 71

74

75

Ü b e r s e t z u n g v o n BenZy 792 u n d 5 8 5 .

Quaresmius I I , 144—146; Calmet, Dictionnaire I , 277; I I , 261; I V , 336. L J I I I , 327, 383 f. D i e Broschüre v o n C. L . Henze y M e r y a m A n Panagia K a p ü l i (Das W o h n - u n d Sterbehaus Unserer Lieben Frau bei Ephesus), 1961, hat keinen wissenschaftlichen Wert. V g l . Revue biblique 1963, 318. 76

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1858—1860 drei Bände eines 'Lebens Jesu* herausgab. Dabei ließ er aus, was Brentano i n das 'Marienleben' aufgenommen hatte 7 7 . D a der 'Gotteskreis' sich hauptsächlich m i t den Lehrjahren beschäftigt, fällt das H a u p t gewicht der Frage nach der Glaubwürdigkeit Brentanos auf dieses Werk. Nach J. B. Diel und W. K r e i t e n 7 8 hat die Nonne täglich am Morgen eine Viertelstunde Mitteilungen gemacht; aus dem Jahre 1822 wissen w i r ( L J I , 233, 248, 268), daß dies um 10 oder 11 U h r geschah, so auch offenbar nach dem 'Marienleben' (109), w o sie am Morgen die Betrachtung der Nacht erzählt 7 8 * 1 . A m 21. A p r i l 1820 erzählte sie morgens zwischen 10 und 11 U h r i n ekstatischem Zustand m i t offenen Augen ( L J I I I , 472). Es kommen aber auch andere Zeitangaben vor, so erzählt sie am 3. August 1822 nachmittags ( L J I , 375), ebenso am 17. März ( L J I I I , 399). A m 3. März gibt sie um 4 U h r eine lange Mitteilung ( L J I I I , 381). A m 28. März wacht sie aus dem ekstatischen Schlaf auf und erzählt, was sie gesehen hat ( L J I I I , 417), oder sie erzählt i m wachen Zustand um 15 U h r ( L J I I , 362), was sie zwischen ein U h r und drei U h r geschaut hat. Nach dem 'Marienleben' sieht sie i m November 1821 abends (114), am 25. November erzählt sie morgens und abends (238 f.) ein andermal sieht sie den ganzen Tag (332) und erzählt am Abend. Nach dem 'Gotteskreis' erzählt sie am 29. März 1821 morgens und nachmittags (368). V o r der Himmelfahrt teilt sie ein B i l d mit, das sie gleichzeitig schaut ( L J I I I , 481). A m 17. A p r i l sieht sie gegen sechs U h r abends m i t offenen Augen eine große Mahlzeit ( L J I I I , 470). A m 15. A p r i l 1822 ( L J I , 282) w i r d ihr nicht das tägliche Schauen, aber die Gabe des Erzählens entzogen, so daß sie den Faden erst am 25. Juni aufnehmen und nach dem Gedächtnis nachtragen konnte. Nach L J I I I , 241 konnte sie 13 Tage lang nicht erzählen, sondern erst wieder v o m 20. September 1820 an. Trotz solcher Abweichungen und Ausnahmen kann man an der Tatsache des morgendlichen Erzählens des i n der Nacht Geschauten festhalten, das auch durch Luise Hensel bezeugt ist, die sagte 79 , daß Brentano abends wiederkam und das des Morgens Gehörte, erst skizzenhaft auf Zetteln Notierte, dann zu Hause Ausgearbeitete vorgelesen habe, das durch die Emmerick korrigiert wurde. Das Vorlesen bezeugt auch eine Tante, die bei ihr wohnte 8 0 . So kann auch das Bekenntnis Brentanos i n einem Brief des 77

L J I , 48, 52, 64, 81, 129 f. Cl. Brentano, 1877/78, Bd. I I , 275. a Wenn man v o n »Betrachtungen« spricht — auch Brentano t u t es ja i n der E i n leitung zum G i t t e r e n Leiden* — so könnte man an das Exerzitienbüchlein des hl. Ignatius denken, w o v o n Betrachtungen m i t A n w e n d u n g der Sinne als Methode zur besonderen Veranschaulichung der Evangelien gesprochen w i r d . 79 Hümpfner, A k t e n 385. 80 Hümpfner, G l a u b w ü r d i g k e i t 63. 78

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Jahres 1822 aufrecht erhalten bleiben, wo er mitteilte, daß er den Faden der Erzählung nur selten auf einen Tag verloren habe 8 1 . Der Zensor machte allerdings darauf aufmerksam, daß es ausgeschlossen sei, daß ein tägliches Vorlesen und Korrigieren durch die Nonne stattgefunden habe, da gar nicht täglich Eintragungen gemacht wurden, daß ihr Gesundheitszustand dazu nicht fähig gewesen wäre, daß die Zeit dazu gefehlt habe; außerdem finde die Behauptung Schmögers, die eine Erweiterung darstelle, i n den Tagebüchern keine Stütze. V o n historischen Bildern Anna Katharina Emmericks hat schon Wesener in seinem Tagebuch berichtet, aber die von Brentano zuerst verzeichneten Visionen vom Juli bis Dezember 1819 haben m i t biblisch-historischen V i sionen nichts zu t u n 8 2 . Brentano war über die ersten Visionen enttäuscht (Adam 91, 92). Nach ihrem eigenen Bericht w a r ihre erste Vision die v o m Gotteskreis, von der sie am 28. M a i 1819 erzählte (Br. 433), w o m i t eng die Vision v o m Sturz der Engel (Br. 435) zusammenhängt, die i m Register am 28./29. M a i 1819 erwähnt w i r d . D a n n gibt es noch eine kurze Vision des Heilandes m i t seinen Jüngern v o m 2. M a i 1819 (Br. 415 f.) und eine Schau der W a h l des Matthias und des Pfingstwunders (Br. 429) v o m 29. Mai. Dazu kommt eine Schau des Abendmahls am Fronleichnamstag 1819 und unter dem 10. Juli eine Schau der hl. Familie i n Nazareth 8 3 . Ebenso berichtet das 'Marienleben* vom 27. 6. über die Voreltern und am 26. 7. von der Familie (66). Weitere historische Visionen werden i m 'Marienleben' (68) am 8. Dezember 1819, der Zug nach Bethlehem am 27. November und 13.—18. Dezember und 22. Dezember erzählt 8 4 . I m Jahre 1820 findet man historische Betrachtungen am 16. Januar anläßlich des Kanaaer Evangeliums und i m Februar und März an einigen Fastensonntagen, schließlich i m Juni und Juli Betrachtungen auf Sonntage nach Pfingsten ( L J I I I , 187—220). Dazu kommen i m 'Marienleben' Berichte am 6. 2. (343) und 11. 2. (340) und v o m 1. Juli bis 13. Juli (164—188) über den Besuch Elisabeths. V o n den Marienvisionen abgesehen sind die Gesichte vage und verschwommen. Während Anna Katharina ( M L 253) i m Jahre 1819 und 1820 ihre Betrachtungen nach dem Kirchenjahr anstellte, empfing sie nach Schmöger ( I I , 796) am 19. Juni 1820 von ihrem Führer die Weisung, sie werde an Stelle der Gesichte bei den Reliquien andere Gesichte erhalten, die sie auch dem Beichtvater mitteilen solle. Schmöger meint, daß ihr damit die Aufgabe angekündigt wurde, zusammenhängende historische Gesichte zu sehen. 81 82 83 84

Brentano, Gesammelte Briefe, I , 439. Adam 318, 320, 349—352. Schmöger I I , 355 u n d L J I , 1 ff. Schmöger I I , 187 ff. u n d 174.

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Solche fortlaufenden Gesichte aus dem Lehrwandel erfolgten unter dem D i k t a t des Gehorsams und bezogen sich zunächst auf das dritte Lehrjahr. Schmöger sagt ( L J I , V I I I ) : am 30. Juli 1820 begann Anna Katharina ganz unerwartet den Lehrwandel i n vollkommenem Zusammenhang zu schauen und zwar ohne Unterbrechung bis Ende M a i 1821. Sie begann (Tagebuch I I , 8) m i t der Ehescheidung und der Segnung der Kinder und umfaßte die letzte Osterreise nach Jerusalem, Passion, Auferstehung und Himmelfahrt, Pfingsten und einige Wochen der Apostelgeschichte, also 8 bis 9 Monate ( = L J I I I , 221—523). Ende M a i gingen die Gesichte zum Zeitraum über, der mit dem T o d Josefs und dem Auftreten des Täufers beginnt. Sie sah v o m 2. Juni bis 28. September 1821 Tag für Tag die Wege und Taten Jesu und begleitete den Heiland bis 17. Juli 1823 (Tagebuch I I I , 6 bis 16 b = Juni 1823). Einmal, v o m 27. A p r i l bis 17. Juni 1823, konnte sie nicht sprechen. Der Pilger entfernte sich ( L J I I I , 3) und kehrte erst nach 572 Monaten zurück 8 5 . Nach Mitteilung Weseners in einem Briefe (Tagebuch 565) war die Kranke beinahe den ganzen Sommer 1823 so elend, daß sie nicht imstande war, ihre nächtlichen Schauungen wiederzugeben. Auch fiel sie in eine solche Dürre der Seele, daß die Erzählungen sich fast ganz verwischten. Deshalb entfernte sich Brentano und kehrte erst nach 5 J /2 Monaten aus Frankfurt zurück. Nach einem inbrünstigen Gebet stellten sich i m September, als sie sich erholt hatte, die Gesichte wieder regelmäßig ein, so daß sie imstande war, den Faden der Mitteilungen ab 21. Oktober 1823 bis 8. Januar 1824 fortzusetzen 86 . Drei Briefe von Niesing an Clemens vom 3. und 30. Juni 1822 und v o m 25. Juli 1823 bezeugen, daß auch während der Abwesenheit Brentanos die Visionen der Nonne über das Leben Jesu weitergingen 8 7 . Außerdem gab es aber auch ( L J I , 281; vgl. 292) eine Unterbrechung v o m 15. A p r i l bis 21. Juni 1822 und eine Störung v o m 3. Februar 1821 an durch 10 Tage 8 8 .

VIII Brieger nennt es eine wunderbare Fügung Gottes, daß die Emmerick durch diese Wiederholung dazukam, das ganze Leben Jesu zu erzählen. Der kritisch Veranlagte w i r d gerade daran seine Bedenken anschließen. M a n versteht, daß die Nonne durch die Liturgie der Kirche angeregt wurde, an den verschiedenen Marienfesten Betrachtungen über das 'Marienleben' anzustellen. M a n versteht insbesondere, daß die Karwoche jedes Jahr Anlaß 85 86 87 88

Ges. Briefe I , 3 ff. V g l . Brentano, Gesammelte Briefe I I , 342. Hümpfner y A k t e n 407. Ges. Briefe I , 3 ff.

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gab, das Leiden Christi mitzuerleben und die Stigmata mußten auch sonst zur Erwägung der Leiden Christi führen, da sie selbst das Ergebnis solcher Betrachtungen sind. M a n versteht auch die wenigen Schauungen (Hochzeit zu Kanaa) des ersten Halbjahres 1820, die sich an das Sonntagsevangelium anschlossen ( L J I I I , 187 ff.), zu denen also die Liturgie des Kirchenjahres Anlaß gab. Ganz anders aber ist die Sachlage bei den Erzählungen eines geschlossenen Lehrwandels, wie er fast die ganzen drei Bände von Schmögers 'Leben Jesu' füllt, und die sich erst einstellten, nachdem der Beichtvater ( L J I I I , 183) seine Zustimmung gegeben h a t 8 9 . Bei einer geschlossenen Folge von Erzählungen fehlt jede liturgische Anregung, weil das Kirchenjahr nicht nach einem Itinerar geordnet ist, weil sich das Leben Jesu dort i n einem Jahre abspielt, nicht aber i n drei Jahren. Der Stoff ist i n der Liturgie nicht auf drei Jahre verteilt. Es fehlt somit jeder liturgische Anlaß, das Leben Jesu auf drei Jahre aufgeteilt zu betrachten, wenn man nicht einen Leitfaden vor sich hat oder ein so angeordnetes Betrachtungsbuch 90 . Chronikartige Zusammenstellung bot schon das vielzitierte Werk von Christian Adrichem, 'Theatrum terrae sanctae' (1590), das i m 17. Jahrhundert wiederholte Neuauflagen erfuhr, das Brentano kannte und auch ( L J I I I , 118) zitiert und das die biblischen Lehrjahre auf das 30., 31., 32., 33. und 34. Lebensjahr Christi aufteilte. Auch das Register zu 1821 spricht wie Adrichomius v o m 30. Lebensjahr Christi, das nach Josefs T o d einsetzt. Auch die Kirchengeschichte von Cäsar Baronius 'Annales ecclesiastici' (Bd. I , 1590) teilte die Ereignisse des Lehrwandels Jesu auf die Lebensjahre 31, 32, 33 und 34 auf, angefangen von der Taufe Jesu i m Jordan bis zur A u f erstehung auf etwa 140 Foliospalten, unter Verwertung aller Evangelienstellen und der verschiedensten Quellen und Ansichten. Es w i r d i m 31. Lebensjahr sogar der Briefwechsel m i t Abgar ( L J I , 284; Br. 84 ff.) wiedergegeben und erörtert. Brentano konnte die Ansicht einer etwa drei Jahre dauernden Lehrtätigkeit Jesu aber auch bei Cornelius a Lapide (März 31 bis 34), bei Tillemont und Augustin Calmet (aufgeteilt auf das 32., 34., 35. und 36. Lebensjahr) finden. Diese These w i r d übrigens auch von modernen Exegeten vertreten; so nimmt D . Lazzarati in seinem 1952 erschienenen Werk 'Chronologia Christi' (320, 322, 327) eine Lehrtätigkeit von drei Jahren und sechs Monaten an. 89 A u f die Eigenart des Beichtvaters w i r f t hellstes Licht die Tagebuchstelle bei A d a m 338 f., andererseits aber Schmögers Ehrenrettung i n der Emmerickbiographie, Bd. I I , 774 f. 90 Brentano behauptet i m Lebensumriß (BL 135), daß die Visionen der N o n n e sich meistens an die Festtage des Kirchenjahres anschließen. H . Rupprich (Cl. Brentano u n d die M y s t i k , D V j s 1926, 743) teilt diese Behauptung, die auf das 'Leben Jesu' keineswegs ganz paßt, o b w o h l er richtig erkennt, daß der Lebensabriß keine objektive Geschichtsdarstellung bietet, sondern eine subjektive Auffassung des Dichters darstellt.

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Es w i r d i m 'Leben Jesu' an einer auffallenden Zielstrebigkeit festgehalten, obwohl die fortlaufende Erzählung erst i m Juli 1820 ( L J I , V I I I ) , und zwar i m zweiten Lehrjahr einsetzt. Sie wurde Ende M a i 1821 beendet ( L J I I I , 201—523). Aber ebenso auffallend ist, daß i m M a i 1821 die Erzählung der Lehrjahre von Anfang an aufgenommen w i r d und bis Januar 1824 fortgeführt w i r d , so daß dreieinhalb Jahre v o l l wurden und ein geschlossenes Ganze des Lebenswandels Jesu zustande kam. N u n sah aber Anna Katharina nicht nur den täglichen Lehrwandel so, daß der Schlußteil zuerst erzählt und der erste Teil nachgetragen wurde, sondern sie hatte daneben weitere Gesichte. So folgte Oktober 1820 bis Januar 1821 die Schau und Mitteilung der Reise i n das Land der drei Könige. Die Existenz einer zweiten (und dritten) Ebene der Schau und Erzählung geht einwandfrei aus der Anmerkung des Pilgers ( L J I I I , 308) hervor, die lautet: »Während des Adventes des Jahres 1820, da Katharina den Aufenthalt des H e r r n i m Land der drei Könige schaute und erzählte, hatte sie zugleich die tägliche Anschauung der auf den Advent zu beziehenden Geheimnisse. Diese reichen und mannigfaltigen Bilder erschwerten ihr eine folgenrechte Mitteilung gar sehr, weshalb sie manches nur nachträglich und bruchstückweise berichten konnte.« Die Fülle der Gesichte i m Jahr 1820 ist durch das Register zu diesem Jahr belegt. N u n soll aber Emmerick dem 'Marienleben' (263) zufolge i m Jahr 1821 schon den ganzen Lehrwandel erzählt und audi betrachtet haben, daß sich Jesus nach der Erweckung des Lazarus (7. September) über den Jordan zurückzog und während 16 Wochen die drei Könige besuchte. Das stimmt nicht! Denn von einer Mitteilung des ganzen Lehrwandels um diese Zeit kann keine Rede sein, man kann aber annehmen, daß die Reise i n das Land der Könige schon i m Advent 1820 verfaßt wurde, während der Zug der Könige nach Bethlehem erst 1821 mitgeteilt wurde. Ein anderes Beispiel für ein Nebeneinandersehen verschiedener Bilderreihen: w i r lesen i m 'Marienleben' (278): Die Betrachtung wechselte z w i schen den Ereignissen i n der Krippenhöhle zu Bethlehem und dem Zug der hl. drei Könige ab (Dezember). Ferner heißt es i m 'Marienleben' (239 f.): »Da sie in diesem Jahr auch das erste Lehrjahr Christi und zwar jetzt sein vierzigtägiges Fasten betrachtete, sprach sie: . . . da sehe ich auf der einen Seite Jesus als dreißigjährigen M a n n in der Höhle versucht und auf der anderen Seite sehe ich ihn als neugeborenes K i n d in der Krippenhöhle i m T u r m der H i r t e n angebetet.« M a n liest i m 'Marienleben' (51): »Von 1.—15. Dezember des dritten Lehrjahres sah und erzählte sie täglich den Aufenthalt des H e r r n m i t seinen drei Begleitern i n einer Zeltstadt der Könige i n Arabien. Sie sah eine Pyramide und darin das B i l d des Jesuskindes in der Krippe.«

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M a n muß i n dem an Visionen so reichen Jahr 1821, dem auf weiten Strecken zusammenhängende Texte i m 'Marienleben' zu verdanken sind, parallel gehende Gesichte und disparate Erzählungsebenen annehmen, auch wenn sie mangels chronologischer Tabellen nur schwer zu überblicken sind. Auch i n den anderen Büchern fehlen solche Parallelen nicht. L J I I , 408 w i r d zum 26. März 1823 mitgeteilt, daß Christus i n Lebona angekommen ist, obwohl sie an diesem Tag die Passion miterlebte. L J I , 26 erzählt sie, daß sie von Susanna begleitet wurde, daß aber dieses B i l d neben Bethsaida verschwand und dieses wieder durch ein neues B i l d der Maria i n Ephesus abgelöst wurde. Bei Brieger ist die Rede von einer Störung, die durch das Eindringen der Passionsbilder i n die Ermahnungen über die E h e 9 1 eingetreten war. I m Lebensabriß (BL 169) w i r d gesagt, daß sie während der Fastenzeit 1823 auch die Kämpfe des H e r r n in der Wüste sah. Wie wenig übrigens den Datierungen Brentanos unbedingter Glaube zu schenken ist, beweist am deutlichsten sein Versuch der Mystifikation, als er während seiner monatelangen Abwesenheit geschaute Bilder von der Reise Jesu nach Zypern m i t den Daten 30. A p r i l bis 17. Juli 1823 versieht, an denen sie hätten gesehen und erzählt werden können, wenn er dagewesen wäre. Er läßt merkwürdigerweise eine Wiederholung dieser Bilder am 21. Oktober 1823 bis zum Januar 1824 stattfinden. ( L J I I I , 3 f.). Allerdings war diese Reise schon früher i m Oktober 1822 angekündigt 9 2 . Die Erzählungen v o m Lehrwandel sind höchst rätselhaft. M a n kann sich das Zusammenarbeiten Brentanos m i t der Kranken nur schwer vorstellen, selbst wenn man annimmt (was aber den Angaben Diels und Luise Hensels widerspricht), daß Anna Katharina am Abend Karten und auf ihnen eine Reiseroute zur Betrachtung vorgelegt wurde, die sie i n ihren nächtlichen Gesichten als Reise unter Führung des Schutzengels erlebte 9 3 , wobei i m M i t t e l p u n k t das Gelobte Land steht, wo sie i n das tägliche Gesicht v o m Leben Jesu eintritt ( L J I , 164), um es morgens zu erzählen. Sie erzählt die Visionen, die täglichen historischen Gesichte (Schmöger I I , 342) meist nicht i n hellseherischem Zustand, sondern aus dem Gedächtnis. Hümpfner nimmt a n 9 4 , daß Brentano als Redaktor des 'Lebens Jesu' den Stoff nach eigenen Grundsätzen verteilte und verknüpfte; das stünde m i t den erstmals am 28. Juli 1822 erscheinenden Bildern der Vorbereitung von Herbergen durch die begleitenden Frauen ( L J I , 349) i n Einklang. Jedenfalls sieht es wie ein Programm aus, das der Emmerick von außen (in sehr loser Übereinstimmung m i t dem Kirchenjahr) gesetzt wurde. 91 92 93 04

26. M ä r z 1821, Br. 481, A n m . 147. L J I I , 32, 462; vgl. Br. 289. L J I , 162 f. (Erwachen); vgl. I , 213. Hümpfner, G l a u b w ü r d i g k e i t 277.

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A m bequemsten wäre es, möglichst viel von den Gesichten auf das alleinige K o n t o der Nonne zu setzen, sei es, daß man ihre psychische Veranlagung zu H i l f e nimmt, sei es, daß man eine göttliche Inspiration voraussetzt, die fortlaufend oder mindestens zu bestimmten Zeiten (welchen?) stattfinden müßte. IX M a n kann gewiß darauf hinweisen, daß w i r uns i m Lande des zweiten Gesichtes befinden und meinen, daß Anna Katharina vielleicht selbst eine Anlage zum zweiten Gesicht hatte 9 5 . Aber es gibt nur wenige deutliche Fälle, wo sie einen Todesfall voraussah, der dann wirklich eintraf. Solches Ahnungsvermögen ist schon an und für sich sehr problematisch 98 , und ein Schauen i n die Z u k u n f t ist etwas ganz anderes als ein Schauen i n die Vergangenheit. M a n hat auch von einem Hellsehen Anna Katharinas gesprochen 97 , man könnte auf das Voraussehen der Kommission hinweisen, auf Herzenserkenntnis, auf die Reliquienerkenntnisse. Soweit dieses sich auf religiöse Gegenstände richtet, ist es w o h l besser, sie als Charismen zu werten; die beiden ersten haben überdies m i t einem Schauen vergangener Geschehnisse als gegenwärtig nichts zu tun. Schließlich hat man vermutet, daß sie eine eidetische Anlage hatte (Adam 163). Die Eidetik ist eine Anlage des Gedächtnisses, die bei einzelnen K i n dern, Jungfrauen und Jünglingen i n manchen Gegenden auftritt und V o r stellungen ermöglicht, die an Lebhaftigkeit und Genauigkeit den A n schauungsbildern der Wahrnehmung gleichkommen 98 . Hierher sind möglicherweise die Teufelsvisionen (Seiler 79, 159) zu zählen. Aber was sagt das über Gesichte, die nicht Erinnerungen an Dinge zu verdanken sind, die Emmerick selbst erlebt und gedächtnismäßig aufbewahrt hat, sondern um 95 W . Gubischy Hellseher, Scharlatane, Demagogen. Eine experimentelle U n t e r suchung. K r i t i k an der Parapsychologie, 1961 ; K . Isenkrahe, Experimentaltheologie, 2 1922, bes. 101 ff. 96 Adam 118; Seiler 48, 364, 369; Hümpfner, A k t e n 162. — Der H i n w e i s auf eine etwa vorhandene parapsychische Fähigkeit (Poll, Religionspsychologie, 1965, 476 ff.) oder Psiphänomene (J. G. Rhine , Parapsychologie, 1962) hat nur für die Frage des Hellsehens Bedeutung. Dessen D e f i n i t i o n als außersinnliche Wahrnehmung v o n Gegenständen aber kann hier nicht angewendet werden, da es sich bei A n n a K a t h a rina Emmerick u m ein Erkennen v o n Seelenzuständen, bzw. Erscheinung v o n Geistern, Visionen v o n H e i l i g e n oder auch ein Schauen i n die Vergangenheit handelt. 97 Adam 74, Seiler 67, 167, 162, 221, 376; ferner 323. 98 H . Rohracher, Einführung in die Psychologie, 1963, 246 f f . ; G. Anschütz, Psychologie, 1953, 188; K . Schmeing, Seher u n d Seherglaube, 1959; H . Thum, Außergewöhnliche religiöse Wahrnehmungen, Zeitschrift f. Askese u n d M y s t i k (1949) 170.

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Produkte der Phantasie, um eine außerordentliche plastische Vorstellungsweise und ein Weiterspinnen der i n den Evangelien erzählten Begebenheiten? Brentano sagt, die Nonne habe die Fähigkeit besessen, alles gleich zu sehen, was man ihr erzählte ( L J V o r w o r t X C I I I ) und Wesener hob als charakteristisch für ihr Schauen hervor (Tagebuch 387), daß es sich i n das kleinste Detail verloren habe. M a n kann das als Halluzinationen auffassen, die durchaus gesunde, sinnvolle Bilder und Gestalten, Schilderungen und Lehren zustande brachten. Aber damit ist nichts erklärt über die Original i t ä t und Neuheit ihrer Phantasie, die sie i n tägliche Traumreisen führte, wobei man sich erinnern darf, daß auch die hl. L i d w i n a Traumreisen in das hl. Land erlebte, wie Brentano bekannt war. Was Brentano-Schmöger Traumreisen nennen, die sich von den Visionen unterscheiden (Adam 276), kennt die Traumpsychologie nicht, die höchstens von Traumserien spricht". V o r allem handelt es sich um eine Schau, die sich auf Tage, ja Jahre erstreckte und einen fortlaufenden Faden aufwies, was in der ganzen Literatur kein Gegenstück findet. M i r ist auch unbekannt, daß es Traumketten oder Ketten von Halluzinationen gibt. Über die A r t ihres Schauens wissen w i r , abgesehen von der schon erwähnten Unterscheidung Weseners 100 , kaum etwas Sicheres, denn was Schmöger mitteilt, daß die A r t des Sprechens ein Innewerden, ihr Schauen ein Sehen m i t den Augen des Geistes sei, unter Einstrahlung eines übernatürlichen Lichtes sich vollziehe, als ob sie m i t dem Herzen inmitten der Brust sehe, als ob ein A n t l i t z i n ihre Brust eingehe und sich m i t ihr verschmelze 101 , geht natürlich auf Aufzeichnungen Brentanos zurück 1 0 2 , der ihr 89

W . v. Siebenthal, D i e Wissenschaft v o m Traum, 1953, 123. Wesener, Tagebuch 387. Schmöger I I , 229—233; L J I , V o r w o r t X C V . 102 Die bei Schmöger ( I I , 229—234) zu findenden Stellen sind m i t Ausnahme v o n zwei Stellen nicht datiert. A u f sie stützt sich die Ansicht Albrechts (Mystisches Erkennen, 64 ff.), für A n n a K a t h a r i n a Emmerick sei das Nebeneinander äußerer, traumhaft wirkender Wahrnehmung u n d einer sich als klarer u n d stärker erweisenden inneren Schau charakteristisch. D i e innere Schau sei aber nicht sicher als mystisches Phänomen anzusprechen. A n anderer Stelle {Schmöger I , 75) spricht A n n a K a t h a r i n a v o n einer Lichtschau, aus der ein Engel als Führer auftaucht u n d ihr Weisungen erteilt. Diese Stelle erinnert an die Frage Albrechts (318), ob die m i t dem Erlebnis der Präsenz des Numens verbundene Lichterscheinung m i t dem Phänomen eines Begleiters, Boten, Engels, Führers etc. verbunden werden k a n n oder gar damit identisch ist. D i e Präsenz des Numens (Pöll y Religionspsychologie 420. 491), die i m Zustand der mystischen A b geschiedenheit empfunden w i r d u n d als Lichterlebnis gekennzeichnet werden kann, ist nach Albrecht (293, 297) das mystische Zentralphänomen. Brentano selbst unterscheidet {Schmöger I I , 845) Berichte der Seherin i m Zustand des Hellsehens u n d i m Zustand des Wachens. I n wachem Zustand vergißt A n n a K a t h a r i n a häufig Wichtigstes. Brentano verzeichnet neben diesen beiden Zuständen noch ein Sprechen in Ekstase (Br. 426) und ein Sprechen i m Schlafe (472, 469, 479, 428). 100 101

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diese Worte i m Anschluß an Theresias Lebensbeschreibung i n den M u n d legte oder mindestens m i t seiner unklaren D i k t i o n formulierte 1 0 3 . Überdies sind diese Stellen nicht datiert. M a n kann die Vorstellung kaum in Erwägung ziehen, daß der Nonne — ausreichend für rund 1600 Druckseiten und noch mehr — täglich ein Teil des Lebens Christi, sein Itinerarium m i t geteilt worden sei. Es wäre das i n der Kirchengeschichte ein einmaliges Phänomen; Brentano war allerdings überzeugt von der säkularen Bedeutung Anna Katharinas 1 0 4 , i n gemildertem Maß übrigens auch Pater Schmöger. I n einem Brief an Dechant Overberg 1 0 5 schrieb Brentano: »Ich werde mich nie überzeugen, daß Gott einer Person eine fortgesetzte Offenbarung aus den Geheimnissen seines Lebens auf Erden und der Geschichte seiner Kirche vom Anbeginn seines Erbarmens zur Mitteilung und Auffassung in genau folgenden Bildern, was nie einem Heiligen, soviel ich weiß, geschehen ist, m i t wahrhaft göttlicher Langmut geben und wiederholen« w i r d . Dieser Brief ist m i t »Januar 1820« datiert, was unmöglich stimmen kann, denn i m Januar 1820 hat Brentano noch keine zwei Jahre beobachtet und die aufeinander folgenden Gesichte haben sich erst seit 30. Juli 1820 eingestellt; das erkannte schon Hümpfner (551). Ob sich aber die Wiederholung auf die Erzählung über Zypern bezieht, ist doch nicht sicher; daher kann vielleicht der Brief m i t Januar 1821 zu datieren sein. Die Sachlage ändert sich nicht erheblich, wenn man sagt: Schauen und Erzählen sind verschiedene Dinge; denn wenn auch nicht täglich, wären doch viele Schauungen notwendig, aus denen die Erzählerin wie aus einem Reservoir schöpfen könnte. Dazu kommt, daß außer den vielen Wegangaben und örtlichkeiten, ethnographischen Schilderungen, Heilungen, Wundern, Erinnerungen auf frühere Lehren, monotonen Wiederholungen i n den Reisebüchern kaum etwas enthalten ist, was eigenständigen religiösen Wert hätte. Dabei w i r d so auffällig Rücksicht genommen, daß Brentano seit A p r i l 1823 fast ein halbes Jahr abwesend war. Diese Gesichtspunkte sind i n der bisherigen Literatur noch nie geltend gemacht worden, weil man sich vor allem auf das 'Bittere Leiden' konzentrierte und sich m i t dem 'Leben Jesu', das nach den letzten Veröffentlichungen Adams und Briegers i n den V o r dergrund gerückt werden muß, nur wenig beschäftigte. Es ist aber etwas 103 K. Rahner, Visionen u n d Prophezeiungen, 1958, macht darauf aufmerksam, daß es natürliche, nicht krankhafte Phänomene gibt (77), die nicht transzendenten Ursachen entspringen, spontane eidetische Erlebnisse, außergewöhnliche, nicht w i l l kürlich hervorbringbare Leistungen, die aus dem Unterbewußtsein hervorbrechen, Augenblicke genialer geistiger Produktion, die den Eindruck der Inspiration v o n außen u n d v o n oben machen, Dinge, die das Alltagsbewußtsein des durchschnittlichen Menschen nicht kennt, die weder normal, noch aber auch anormal oder übernatürlich sind. 104 Adam 175 ff. 105 Brentano, Gesammelte Briefe I , 389.

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ganz anderes, sich an der H a n d der Evangelien betrachtend i n das Leiden Christi zu vertiefen, es sich auszumalen und innigstes M i t l e i d zu empfinden und dabei i n Schauungen zu verfallen. Brentano selbst konnte es ähnlich wie bei Katharina Emmerick auch an Maria M o r l , Apollonia Filzunger und Kreszentia Nigglutsch beobachten. Es ist aber wieder etwas ganz anderes, durch drei Jahre hindurch fortlaufend den Lehrwandel Jesu zu verfolgen. Das gehört in einen ganz anderen T y p des Schauens, der meines Wissens kein Gegenstück besitzt.

X

Es hat den Anschein, daß Emmerick-Brentano über eine unerhörte Fülle historischer Tatsachen aus einem Schatz verfügen, der aus fest miteinander verzahnten Tatsachen und Beziehungen besteht. Das fängt schon m i t der Genealogie der Heiligen Familie an. Da ist zunächst eine um 20 Jahre ältere Schwester der Gottesgebärerin, Maria H e l i 1 0 6 , daneben eine Schwester Annas, der Mutter Marias. Anna hat nach der Geburt Marias und nach dem Tode Joachims noch zweimal geheiratet 1 0 7 , und so kommt ein weitverzweigter Stammbaum zusammen, der zum Teil schon i m apokryphen K i n d heitsevangelium Märiens begegnet, dann i n der 'Goldenen Legende', aber i m 'Marienleben' noch weiter ausgebaut i s t 1 0 8 . Diese festen verwandtschaftlichen Bande ziehen sich durch alle Visionen hindurch und immer wieder w i r d daran erinnert, sogar i m 'Bitteren Leiden' w i r d eines Hauses der Anna i n Jerusalem gedacht (BL 269; Br. 49); auch neue Verwandte tauchen auf, so Sebedja ( L J I , 2), eine Tochter, die m i t einem Verwandten Joachims verheiratet war und Kleophas, Jakob, Judas und Japhet zu Söhnen hatte. ( L J I I , 41, 330). Solche Beziehungen ( L J I I , 67, 83) können nicht nachträglich, etwa beim wiederholten Uberlesen des Textes eingefügt sein, denn das würde erfordern, daß die Tagebücher i n einen noch späteren Zeitpunkt verlegt werden müßten. Es ist bewundernswert, wie die persönlichen Beziehungen i n den Tagebüchern durchwegs aufrecht erhalten werden und wie immer wieder auf sie angespielt wird. So befindet sich Lazarus von Anfang an m i t Jesus i n Berührung, er finanziert die Reisen und ist zum Schluß gänzlich v e r a r m t 1 0 9 . Ebenso begegnet immer wieder Magdalena (schon L J I , 18), zumal Brentano m i t Baronius die Identität der drei Marien annimmt, während Calmet drei verschiedene Marien unterscheidet. Ebenso begegnen von Anfang an Vero106 107 108 109

B L 303; Br. 17. Br. kennt einen zweiten M a n n u n d eine ältere Schwester (Br. 17). 'Goldene Legende', übs. v. Benz, 576; M L 19 ff., 413; Br. 472, A n m . 39. L J I , 9, 13, 77, 118, 200, 245; I I I , 519.

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nika ( L J I , 22, 206 etc.) und Saturnin ( L J I , 113, 116; I I , 107). D a Johannes der Täufer m i t Anna und Joachim verwandt ist ( M L 18), die in engster Verbindung m i t den Essenern stehen, ist es nur konsequent, wenn schon i m 'Marienleben' auch Johannes m i t den Essenern zusammenhängt, die sogar seinen Leichnam begraben ( L J I I , 314). Auch sonst werden immer wieder die Essener i m Auge behalten, wie man es eigentlich erst seit den Funden in Qumran begreiflich findet 110. Die Personen, die früh m i t Jesus in Verbindung treten, wie Josef von Arimathäa ( L J I , 96, 117), Nikodemus (I, 68), Nathanael ( I , 13, 195, 199), andererseits Jairus (I, 504, 594, 656, 774), D i n a 1 1 1 , der Hauptmann von Kapharnaum Zerobabel 1 1 2 werden auch später genannt. A u f Johannes den Täufer w i r d während seiner Gefangenschaft immer wieder ein Blick geworfen. Interessant ist, worauf N i e ß e n 1 1 3 aufmerksam gemacht hat, daß die Persönlichkeit des Bartholomäus erst nach und nach enthüllt w i r d , wofür aber die Stelle (Br. 69) noch gar nicht angeführt ist. Es ist nicht sehr bedeutsam zu ermitteln, ob Brentano i n der Chronik der Ereignisse von Cornelius Jansenius (1549), Baronius (1590), der ihm folgte, Christian Adrichomius (1590), Sebastian Barradius (1611), Cornelius a Lapide (1639) und August Calmet (1722) abhängig ist. Denn wie Josef Schmid, der selbst eine Synopse der drei ersten Evangelien 1 1 4 m i t Beifügung der Johannes-Parallelen herausgegeben hat, i m V o r w o r t versichert, ist es nicht möglich, »die einzelnen Daten und Worte Jesu i n der Geschichte seines öffentlichen Wirkens zeitlich und örtlich zu fixieren, da nur wenige örtlichkeiten i n den Evangelien angeführt werden«, selbst wenn man die Apokryphen dazu rechnen würde, kommt nicht die Zahl von etwa 400 örtlichkeiten zustande, die bei Emmerick-Brentano v o m Heiland durchwandert werden. Auch A . L a n g 1 1 5 sagt: Eine Geschichte des Lebens Jesu lasse sich nicht schreiben, die Evangelien böten dazu nicht die nötigen A n gaben. Es lasse sich nicht genau feststellen, wie lange die öffentliche W i r k samkeit Christi gedauert habe und i n welcher Reihenfolge die einzelnen Geschehnisse und Reden zu ordnen seien. Auch bei Schilderungen seines Leidens reichten die Angaben nicht aus, den historischen Verlauf genau festzustellen. G. Paul hat schon 1911 i n einer Broschüre eine Synopse der 110 Bei B r ist 17, 18, 34, 39. 41, 227 v o n ihnen die Rede, L J I , 26, 28 f., 31, 37, 41, 53, 61, 90, 138, 151, 153, 165, 238, 253, 256, 314, 323, 379, 416, 516; I I , 28, 222, 231, 256, 299, 315 f., 411, 460, 490; I I I , 17, — eine Zusammenstellung, die nicht beansprucht, vollständig zu sein. 111 L J I , 196, 356, 359, 463; I I , 26, 29, 106, 118, 153, 242, 259, 370; I I I , 145; B L 441. 112 L J I , 378, 383, 437; I I , 120. 113 Nießen, Charismen 289. 114 J. Schmid, Synopsis der drei ersten Evangelien, 1949. 115 A . Lang, Fundamentaltheologie, 2 1957, Bd. I , S. 211.

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Emmerick-Visionen versucht 1 1 8 , und i n einer späteren Ausgabe 1 1 7 stellte er fest, daß die Nonne Christus am 24. November 9 vor unserer Zeitrechnung geboren sein l ä ß t 1 1 8 , was bisher noch niemand gefunden habe. Brentano ist dabei weder von Baronius noch von Calmet abhängig. Es lassen sich diese örtlichkeiten zum größten Teil auf den Landkarten des Adrichomius nachweisen und ebenso zahlreiche Lokalisierungen biblischer Ereignisse. Selbst wenn man dessen Angaben etwa i n Verbindung m i t der Chronologie des Baronius folgt, bleibt noch immer eine immense A r beitsleistung übrig, m i t der die fünf Jahre i n Dülmen ausgefüllt werden müßten, wenn die Tagebücher tatsächlich i n Dülmen niedergeschrieben w u r den. Dazu kommen die Nachschlagewerke des Calmet und Quaresmius, die i n den beiden Stübchen Brentanos untergebracht werden m u ß t e n 1 1 9 . M i t Recht hat Nießen (129) geltend gemacht, daß Brentano ohne theologische Studien, also ohne Kenntnis der jüdisch-heidnischen Religionsgeschichte, der biblischen Geographie und Archäologie, der alt- und neutestamentlichen Exegese, der Patristik, der Dogmatik m i t ihren scharfen bestimmten Begriffen, schließlich der schwierigen mystischen Theologie, nach Dülmen gekommen ist. Trotzdem wußte Brentano auch über selten berührte Fragen Bescheid, wie die Beichte der Juden, die Beschneidung m i t Steinmessern, die Taufe der Toten, Hochzeitsgebräuche und Sitten beim Passahfest, die Pflanze Dura usf., wobei i h m allerdings das vorzügliche Werk Calmets sehr dienlich sein konnte. Wenn nun auch anzunehmen ist, daß für die chronologische Anordnung das Werk des Baronius vorbildlich war und daß zahlreiche topographische Angaben und historische Hinweise aus dem Werk des Adrichomius geschöpft werden konnten, so sind solche Übereinstimmungen doch nicht entscheidend, sondern die entscheidende Frage ist allein, wer stellte die Reiseroute zusammen, der Anna Katharina i n ihren nächtlichen Gesichten folgte, wer teilte sie ihr mit? H a t t e sie einen Führer? I h r Biograph H . J. Seiler hat auf die Rolle eines Führers hingewiesen, der sie ähnlich den Traumreisen der H l . L i d w i n a begleitete 1 2 0 . Der Führer t r i t t i m Tagebuch Weseners, lange bevor Katharina den Dichter kennen lernte, zuerst am 12. Juni 1813 als 116 G. Paul, Chronologie des Lebens Jesu nach den Visionen der Dienerin Gottes A n n a K a t h a r i n a Emmerick (mit dreifachem Kalender u n d einer Evangeliensynopsis), 49—75. 117 Kleine Chronologie des Lebens Jesu nach der Seherin A . K . Emmerick, 1926. 118 M L 189, 237 f.; L J I , 46; Br. 41; L e x i k o n für Theologie und Kirche Bd. I I , 422 gibt als Geburtsjahr Christi an: 6 oder 7 Jahre v o r unserer Zeitrechnung. 119 V g l . Äußerung Brentanos i m Brief an Diepenbrock, 10.3.1822, er sei »mit einer Masse v o n Büchern u n d Papieren belastet«. 120 Seller-Dietz, I m Banne des Kreuzes, 337; Schmöger, Leben Jesu I . Einleitung, 65.

12 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 7. Bd.

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junger Geistlicher auf, er erscheint am 16. Juni 1813 als Begleiter, sodann am 3. Dezember 1814, am 20. Oktober 1815, am 1. November 1816, am 29. Dezember 1816 und am 20. A p r i l 1817. Seiler verweist auch auf die kirchlichen Untersuchungsakten (62. 80. 90). Weitere Belege finden sich in den Briefen Brentanos aus dem Jahre 1818 1 2 1 . Entscheidend ist die Stelle L J I , 75, die von einer Lichtschau spricht, aus der ein Führer auftaucht, der ihr Weisungen gibt. Dieses steht i n Ubereinstimmung m i t einer Stelle bei M a r t i n Buber 1 2 2 . I m Lebensumriß (BL 124) sieht sie ihren Schutzengel immer an ihrer Seite, stets ist auch v o m Führer (142, 148, 152, 154) die Rede. I m 'Gotteskreis' lesen w i r 1821 S. 56 f.: die ganze Reihe ihrer nächtlichen Anschauungen geschieht i n Form einer Reise unter Führung ihres Schutzengels. Der M i t t e l p u n k t dieser Reise ist das gelobte Land. Sie wandelt an dem Faden des katholischen Kirchenjahres betend und schauend durch die Zeit. Der Pilger hatte nach langen Ausführungen die Gewißheit ( L J I I I , 182 bis 188), die auch der Herausgeber teilte, sie habe die Schau des irdischen Lebens Jesu schon gehabt, bevor er zu ihr gekommen sei; sie habe von früher Jugend an Tag für Tag die Geheimnisse des Kirchenjahres geschaut, aber auch das Leben des Gottmenschen. Sie habe zu dem eingegossenen Licht die Schau der Weissagung gehabt und sei durch den Schutzengel ununterbrochen geführt und getröstet worden, wenn auch der Beichtvater erst i m Jahre 1820 ihr die Erlaubnis zur vollständigen Mitteilung gab. Die Gabe des Schauens sei echt gewesen, sie sei beständig von ihrem Schutzengel begleitet, geführt und bewacht worden (186). Schmöger L J I I , 165 gibt an, daß sich dem Führer zufolge zwölftausend Menschen versammelt hätten, um Jesus zu sehen. B L 146—152 sagt der Führer, sie hätte i m Weinberg des H e r r n gearbeitet und ihre Schmerzen für die fremden Pilger und die lauen Christen aufgeopfert. A n andrer Stelle erteilt ihr der Führer einen Verweis und läßt sie die Schmerzen Marias fühlen (BL 427). Auch i m 'Marienleben' t r i f f t man den Führer als Schutzengel (15, 110, 158, 162, 349). Wenn A . K . Emmerick als Mystikerin gelten soll, sei es, daß man auf ihre Visionen Wert legt oder auf die anderen bei ihr beobachteten Phänomene, so erhebt sich die Frage, ob die Gegenwart Gottes sich bei ihren Visionsbildern durch ein Lichterlebnis kundtut und ob das immer m i t der Gestalt eines Engels, Führers verbunden i s t 1 2 3 . Nach C. Albrecht bleibt es freilich zuletzt ungeklärt, was dies mystische Licht i n seinem Wesen i s t 1 2 4 . 121 Wesener, Tagebuch 54, 61, 109, 134, 210, 212, 233; Clemens Brentano, Ges. Briefe, 295, 314, 318, 328. 122 M . Buber y Ekstatische Konfessionen, 1909, 204. 123 W . Poll, Religionspsychologie, 1965, 441—443, 491—496. 124 C. Albrecht, Mystisches Erkennen, 1958, 318.

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Wenn man m i t M a r t i n Buber den legendären Zug annimmt, daß sie schon als K i n d (BL 123) immer den Schutzengel an ihrer Seite sah, und es für das mystische Zentralelement ansieht, daß der Schutzengel plötzlich aus der Lichtfülle heraustrat, dann ist sehr w o h l ein Nebeneinander von äußerer Wahrnehmung, die traumhaft wirkte, und einem inneren stärkeren Schauen als charakteristisch für die Emmerick anzusehen 125 . Eine weit größere Rolle spielt der Führer, Begleiter oder Schutzengel i n den Traumreisen zu den armen Seelen, die möglicherweise ein bedeutenderes mystisches Phänomen als die Visionäre darstellen. Die Biographie Schmögers zeichnet i h n ähnlich Vergil i n der Göttlichen Komödie als Wegweiser durch das Fegefeuer und bei der Reliquienschau der Jahre 1818 und 1820. Namentlich i m 2. Band von Schmögers Biographie gibt es eine Fülle von Hinweisen auf i h n 1 2 8 . Freilich gilt i n erster Linie von den Traumreisen, worauf schon Pater Wegener aufmerksam gemacht h a t 1 2 7 , daß manche Traumreisen, die sich an Ekstasen anschlossen, weder von Anna Katharina Emmerick noch v o n Brentano v o n den wirklichen ekstatischen Gesichten zu unterscheiden sein mochten. Die vielen örtlichkeiten, die Emmerick-Brentano anführen und die i n den Evangelien nicht vorkommen, findet man fast alle bei Adrichomius angegeben, selbst nebensächlich erwähnte, wie Machmas ( L J I I , 279); vielfach sind bei i h m auch die historischen Daten zu lesen, die Brentano verwendet hat. Einzelne Ortsnamen sind allerdings bei Brentano mehr oder minder stark verändert, so Ennabris i n Gennabris ( L J I , 195), Ruma i n Aruma ( L J I , 152), A z o r i n Azo ( L J I , 10), Megeddo i n Megiddo ( L J I I , 136), Regabe i n Regaba ( L J I I , 393), Anathan i n Hanathan ( L J I , 221), Tahac i n Tanthia ( L J I I I , 175), Zare i n Zarthan ( L J I , 486), Sochot i n Sukkoth ( L J I , 150), Cariathaim i n N i r z a t h a i m ( L J I I , 227). Manche Orte konnte ich bei A d r i 125 Schmöger, Leben Jesu I I . 19, 20, 22, 24, 30, 31, 47—50, 59, 62, 127, 129, 134, 138 f., 141, 158 f., 165, 169, 191, 204, 231, 245, 247, 269, 272, 273, 291, 312, 334, 339, 340, 350, 355, 361, 364, 371, 398, 409, 417, 418, 423, 428, 431, 439, 442, 443, 449 f., 468, 473, 476, 484, 486, 519, 565, 571, 577, 580, 585, 602, 613, 622, 790, 800, 802, 810, 820, 850, 868. B L 150, 154; A d a m 76. 128 Judicia theologorum censorum a sancta congregatione deputatorum super scriptis servae D e i A n n a K a t h a r i n a Emmerich. Rom, Verlag der Vatikanischen Druckerei. — Der theologische Zensor (Judicia 135) teilt m i t , daß sie am Schutzengelfest in ekstatischem Zustand gefragt wurde, ob ihr der N a m e des geistlichen Führers jemals bekannt gegeben worden sei. Sie antwortete: »Der mich i n den Leiden u n d Gesichten begleitet, ist nicht immer derselbe. Der Engel aber, der m i r v o n Geburt gegeben ist, ist aus den 4 Chören, die fortwährend v o r dem Angesicht Gottes stehen, er w i r d Ehoviel genannt.« M a n müsse daraus schließen, sagt der Zensor, wenn »Führer« nicht immer derselbe war, konnte sie manchmal auch ein schlechter Geist, gekleidet i n einen Engel des Lichtes begleiten. Der N a m e Ehoviel ist auch den Juden unbekannt (vgl. Encyclopedia Judaica, Stichwort Engel). 127 Nießen 157.

1*

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chem nicht finden, so Ornithopolis ( L J I I , 371), Abez ( L J I I , 83), Meroz ( L J I I , 25), letzterer kommt jedoch bei W . A . Bachiene 128 vor. Brentano selbst verweist bei H u d o k ( L J I I , 469) auf Adrichomius, bei dem er den O r t H a k o k findet ( L J I I I , 118), oder auf Ubereinstimmung m i t »besseren« Karten ( L J I , 417). Z u diesen besseren Karten ist sicher die von W . A . Bachiene zu zählen, die sich i n Faszikel I X 5 i m römischen Archiv, nach freundlicher Auskunft des Generalarchivars, Pater A . Sampers, vorfindet. I n das 'Bittere Leiden' ist nur wenig aus Adrichomius aufgenommen worden, vor allem weicht der Kreuzweg von i h m ab, der (164) nur drei Fälle unter dem Kreuz kennt, während das 'Bittere Leiden' (359) sieben anführt. Bei Adrichem sitzt Christus vor der Kreuzigung auf einem Stein und w i r d m i t Myrrhe gelabt (174), ebenso w i r d der Text des Urteils aus alten Schriften wiedergegeben; bei Emmerick findet man nichts davon. Auch für die Ausführung über das Cönaculum (BL 498) oder über Calvaria (BL 447) ist aus Adrichomius nichts aufgenommen worden. Die Veronika-Szene (BL 349) findet sich bei Adrichem, der auch ihr Haus i n Jerusalem einzeichnet. V o r allem konnte Brentano auf den Karten des Adrichem die Häuser der Johanna Markus (165), des Zacharias (243), der hl. Anna (153), das Schloß des Lazarus i n Bethanien (169) angegeben finden, die Geburtsorte Joachims und Annas i n Sephoris (142), die Zollstätte des Matthäus (114), selbst den O r t , w o der Samariter unter die Räuber fiel (26), den Berg bei Nazareth, w o man Jesus hinabstürzen wollte (141). Das 'Leben Jesu' kommt wiederholt auf die Orte zu sprechen, wo Johannes am Jordan t a u f t e 1 2 9 , so auf Aenon i n der Nähe von Salim, auf O n gegenüber Betharabe als zweiter Taufstelle, wo Jesus getauft wurde. A d r i chomius sagt (74, 126), Betharabe bezeichne einen Ubergang und hier habe Johannes auf das L a m m Gottes hingewiesen. A u f der Karte von Bachiene liegt Betharabe auf der östlichen Seite des Jordans ungefähr gegenüber dem Berg Quarantana und G i l g a l 1 3 0 . Ennon w i r d von Bachiene ebenfalls behand e l t 1 3 1 . A u f der Karte Adrichems (17) ist der Ubergang über den Jordan eingezeichnet. I n dem nahegelegenen Gebiet Gilgal hat sich das israelitische V o l k gelagert und wurden die z w ö l f Steine zur Erinnerung an den Übergang errichtet 1 3 2 . 128

Historische u n d geogr. Beschreibung v o n Palästina, 1775, I I . Teil, § 613 und

805.

129

L J I , 89 f., 98, 284, 289, 331, 333, 336. Bachiene § 780 f. Bachiene § 598 f. 132 L J I , 137, 142, 106, 112. Bachiene I I , 2, § 231—233 sagt, daß hier die Bundeslade sich befunden hätte, u n d daß die Gedenksteine zur Erinnerung an die Beschneidung des Volkes hier errichtet wurden V g l . C l . Schedl y Geschichte des A l t e n Testamentes, I I , 275. 130

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Auffallend sind die Übereinstimmungen m i t Adrichem i n der Annahme eines doppelten Bethsaida, über die Lage von Kaphernaum bei Tellhum, wo Christus i m Hause des Petrus gewohnt habe, weiter die Übereinstimmungen hinsichtlich Tarichaeas und Dalmanuthas, das schon bei Adrichem 1 3 3 , aber auch bei Calmet i n die Gegend von Magedan verlegt w i r d , hinsichtlich Chorazin, hinsichtlich des Ortes der Bergpredigt, der Speisung der Fünftausend und der Statue der blutflüssigen Frau i n Cesarea P h i l i p p i 1 3 4 . Brentano konnte bei Adrichem auch die Anregung zum viertägigen Jephtefest finden, das L J I , 524 geschildert w i r d . Nach Clemens K o p p 1 3 5 ist es geschichtliche Wirklichkeit, daß Johannes i n Betharaba taufte, die genaue Lage des Ortes lasse sich aber nicht mehr feststellen. Dasselbe gilt auch für zahlreiche andere Ausgrabungsstellen; wenn die Ausgrabungen sich auf Bodenfunde aus der Zeit von 1000 Jahren v. Christus beziehen, sind sie, wie z. B. bei U r oder Jericho, ergiebig. Aber die Zeit Christi betreffend, führen sie nur zu Ruinen christlicher Kirchen, die i n den betreffenden ö r t lichkeiten meist zur Zeit der Kaiserin Helena errichtet wurden, und beweisen i m Grunde nur, was i n den alten Reisebeschreibungen des Hieronymus, Epiphanius, Eusebius und später bei Adrichem und Quaresmius davon angegeben ist. Noch nicht sichergestellt sind durch Ausgrabungen Salim, der O r t der Bergpredigt und Brotvermehrung, der Teich von Siloa, das H i r t e n feld bei Bethlehem, D a l m a n u t h a 1 3 6 . Gesichert ist der Jakobsbrunnen. Die neuesten Ausgrabungen i n Herodium haben festgestellt, daß die Angaben des Flavius Josephus über den Palast des Herodes richtig s i n d 1 3 7 ; Adrichem stützt sich auf Flavius Josephus.

XI Das Ausschlaggebende ist aber nicht, daß bei Baronius oder Adrichomius wie bei Katharina Emmerick eine dreieinhalbjährige Lehrtätigkeit zu Grunde liegt und daß sich zahlreiche stoffliche Ubereinstimmungen m i t diesen Werken finden, selbst nicht, daß ein gewisser Gedankengang festgehalten w i r d , der von der Taufe Jesu zu einem immer deutlicheren Bekenntnis der Sohnschaft Gottes und der Aufdeckung der Messiaseigenschaften führt. V o n dem Bekenntnis zur Gottessohnschaft durch den Himmlischen Vater bei der 133

Bachiene, § 704—710, § 711—722, § 699, § 830 Calmet I I , 178; Adrichem 91. L J I , 224; I I , 197; Bachiene § 700 f f . ; I , § 110,165. Adrichem 111 u n d 33; Bachiene § 845. 135 C l . Kopp, D i e heiligen Stätten Palästinas, 1958, 157, 163. 136 Kopp 171, 259, 276, 376, 65. V g l . aber Bachiene I I , 2, § 2 0 4 ; D e r Jakobsbrunnen § 559. 137 Revue biblique, A p r i l 1964, 258 f. 134

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Taufe ( L J I , 115): » D u bist mein geliebter Sohn« (117, abgeschwächt 122) angefangen, legt Johannes wiederholt ( L J I , 452; I I , 168 f.) das Bekenntnis zur Gottessohnschaft ab, während die Stelle des Johannesevangeliums (I, 34) i m 'Leben Jesu' (I, 141, 181 f.) wenig ausgewertet w i r d . Ebenso bekennt Nathaniel (Joh. 1, 49; L J I , 204) deutlich die Gottessohnschaft Jesu. V o n da an laufen die Ereignisse einem Höhepunkt zu, indem zwar nicht die einzelnen Prophetenstellen durch Christus insgesamt vorgelegt werden, aber doch die Lehre, daß er der Messias sei, und seine Lehre v o m Brot des Lebens und von seinem Opferleiden immer deutlicher entfaltet werde, so daß die Feindschaft der Pharisäer wächst und ihre Absicht, Jesus zu töten, immer klarer zu Tage t r i t t . Briegers Werk bringt von der Reise Jesu nach Zypern, die schon am 25. A p r i l 1823 angekündigt w i r d (Br. 279), einige charakteristische A b schnitte (275—303), die auch L J I I I , 18—112 abgedruckt sind, worunter sich die Stellen über Derceto und Dsemschid finden. V o n der Reise ins Land der drei Könige bringt aber Brieger nichts. Seit A n t o n U r b a s 1 3 8 hat sich niemand mehr damit beschäftigt. I n einer kritischen A n w a n d l u n g wurde sich Schmöger bewußt ( L J I I , V o r w o r t V I ff.), daß die Mitteilungen Brentanos nur unvollkommene Bruchstücke darstellen, daß sie nur dürftige Ausschnitte wiedergeben von Dingen, die zu verzeichnen wären. Er spricht ( L J I I I , 424) v o m fragmentarischen Charakter, welchen die drei Bände des 'Lebens Jesu' darbieten. Er hätte insbesondere darauf verweisen müssen ( L J I , 515, 517; I I , 39), daß sowohl Brentano als die Nonne sich i n ihren Unterhaltungen i m September 1821 über die Stadt Ephrem der Klöden'schen Landkarte bedienten, die nach den Forschungen Seetzens dem Buche Klödens 1 3 9 beigegeben war. I m 'Gotteskreis' ist (476) die Anmerkung Brentanos ( N r . 79) abgedruckt: »Sie findet dies alles auf der Klödischen Karte ziemlich richtig«; diese Bemerkung fehlt L J I , 535, an anderen Stellen aber ( L J I I , 39, 515, 517) w i r d auf diese Karte verwiesen. Sicher hat sich Brentano auch der Karten bedient, die sich in dem Werk von A d r i chem finden, w o er vor allem übersichtliche Zusammenstellungen all dessen traf, was die T r a d i t i o n über die Beziehungen des A l t e n Testamentes zu den Taten Christi zu sagen wußte, insbesondere auch die Ortstraditionen. Diese wurden wiederholt und ergänzt durch Führer wie Quaresmius 'Historica terrae sanctae elucidatio' (1632). Brentano besaß dieses Werk ebenso wie das von O. Dapper, 'Genaue und gründliche Erdbeschreibung Palästinas' (1681), die Kirchengeschichte des Baronius und die Werke Calmets 1 4 0 . 138

A. Urbas, Das Reich der drei Könige, 2 1884. K l ö d e n , Landeskunde v o n Palästina, 1817. 140 K a t a l o g der nachgelassenen Bibliothek der Gebrüder Christian u n d Clemens Brentano 1853, 9, 107, 123, 157, 158. 139

Die G l a u b w ü r d i g k e i t v o n Clemens Brentanos

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Brieger hätte, da er (Br. Einleitung X X V ) überzeugt ist, daß die Niederschriften Brentanos Ergebnisse einer steten, lebendigen und kritischen Auseinandersetzung m i t den Visionsberichten darstellen, wofür er sich auf den zweiten Tagebuchband H e f t 3 und 4 aus dem Jahr 1820 beruft, auch diese Hinweise Schmögers auf die Karten verwerten müssen, da sie ein Beweis des Einflusses Brentanos auf die Nonne sind. Auch die bei A d a m (336) zu Tage getretenen wichtigen Fragen Brentanos hinsichtlich der Speisung der Fünftausend 1 4 1 zeigen, was der Pilger alles von der Nonne erfahren wollte. Die bei A d a m (164) wiedergegebene Stelle aus den Tagebüchern I I , 3 und 6, wonach er ihr ein Modell der Krippenhöhle und zwei Jahre später ein solches von Jerusalem und schließlich ein deutliches Kupfer v o m Hause des Pilatus vorwies, belegen die Tatsache, daß sich der Schreiber über die A n schaulichkeit der Gesichte eine Vorstellung bilden wollte. Hierher gehören auch die häufigen Hinweise i m 'Gotteskreis' auf die dem U r t e x t beiliegenden 'Skizzen'; i n der Mehrzahl sind das w o h l Zeichnungen von Plänen wie bei L J I , 366 oder der Abgarbrief ( L J I , 288) oder in der A r t der Tafel 8 bei A d a m : sie betreffen zusammen etwa 40 Vorkommnisse; auch sie sollten das Gespräch fördern oder illustrieren. Interessant ist auch die Äußerung Brentanos bei A d a m (163): Nachdem die Seherin erzählt hat, daß der sagenhafte Dsemschid v o n N o a h eine heilige Pflanze erhalten habe, fragt der Pilger: »Heißt diese Pflanze vielleicht Horn und der Großvater Dsemschids vielleicht Horn?«, worauf die A n t w o r t lautet: »Ich glaube schier, aber es ist mir nicht ganz deutlich.« Fortan liegt der Name Horn fest (Tagebuch V I I I , 8 a). Aber die Sache ist weit komplizierter als Hümpfner (252) und w o h l auch A d a m annimmt. Josef Görres hat i n seiner 'Mythologie der asiatischen Völker' (1810) nach Zendavesta von Dsemschid erzählt, der ein Kulturgründer gewesen sei, der m i t seinem Golddolch die Erde verteilte und ein Reich gründete, i n dem es keine Tyrannen, Bettler, Betrüger gab, keinen T o d der Tiere und wo die Menschen 15 Jahre alt waren. Zur Zeit seines Vaters lebte Horn, der das Gesetz, Feste und Stände einführte (204 bis 206). Später w i r d O m »der K e i m der Pflanze« genannt (231), die ein Heilskraut für physische und moralische Übel war. I m 'Heldenbuch des Firdussi', das Görres 1820 herausgab, w i r d von Dsemschid (19) erzählt, daß er Erfinder des Nähens und Webens war, aber von Gott abfiel, indem er sich als Schöpfer der Welt sah, so daß Gott sich von ihm abwandte. Es w i r d (64) auch der Prophet Horn genannt, der auf einem Berg weilte. M i t diesen Angaben stimmt etwa die Erwähnung der Seherin 1 4 2 überein, daß Dsemschid das L a n d m i t dem Golddolch teilt und K u l t u r verbreitet, wo i h m aber Melchisedech entgegengestellt w i r d . Was i n der Quartausgabe er141 142

Hümpfner y G l a u b w ü r d i g k e i t , 145. Br. 291, identisch m i t L J I I I , 69.

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zählt w i r d (22—29), daß Mosoch der Vater Horns sei, den Tubal i n der Arche m i t der Schleimwurzel Horn ernährte und dem er deshalb diesen Namen gab, davon findet sich bei Görres nichts. Auch nichts davon, daß Horn der Lehrer des Vaters Dsemschids war, dem er die Lehre v o m Feuer übermittelte, der Zauberei trieb und den der böse Feind m i t sich nahm. Brieger selbst hat (384, 393—397, 425) Aufzeichnungen Brentanos wiedergegeben, welche arge Verwirrungen der Nonne zeigen, die i m Werke Schmögers nicht zu verfolgen waren. Zahlreiche Anmerkungen Brentanos (Br. 469 ff.) gehören i n dieselbe Kategorie 1 4 3 . Brieger erblickt i n diesen und anderen Mängeln (Verwechslung von N a men, Irrungen in den Entfernungen, Vergessen usf.) ein wichtiges Beweisstück, daß die Tagebücher die ursprüngliche Anschauung der Nonne unbeeinflußt wiedergeben (Br. Einleitung X I X ) , wie andererseits auch Schmöger seine Emmerickbiographie m i t den Worten schließt ( I I , 902): »Brentanos große Seele hatte sich nie entschließen können, auch nur eine Zeile der so häufigen Klagen und Beschuldigungen der Kranken und ihrer Umgebung aus den Tagebüchern zu tilgen, damit der künftige Bearbeiter die genaue Kenntnis aller Vorgänge wie ein Augenzeuge sich gewinnen sollte, um parteilos nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu urteilen.« Es ist i n diesem Zusammenhang von höchster Wichtigkeit, daß i m August 1821 i n den Tagebüchern (Adam, Tafel V ) zu lesen ist: » A m Morgen des 21. nahm Christian von ihr Abschied. Sie erzählte nachher, er sei fortwährend kalt gegen sie gewesen, habe ihr gesagt, die Notizen des Bruders müßten ausgesucht werden, es sei vieles nicht wahr. (Leider hat er schier gar nichts davon gelesen.) Er habe von Probieren von Geistern gesprochen, er wolle, wenn er könne, einen erleuchteten M a n n . . .« Christian bemerkte dazu i n einer Bleistiftnotiz: »Christian bezweifelt irgendetwas dergleichen gesagt zu haben.« Ganz selten kommt es vor, daß Brieger etwas mitteilt, w o v o n bei Schmöger nichts oder nur wenig zu lesen ist. Das ist der Fall bei der schönen Geschichte Samsons und Dalilas (Br. 304—308), von der sich bei Schmöger nur ein paar Fetzen finden ( L J I I I , 121 f.). Sonst aber verzeichnet Brieger weitgehendst, was Schmöger bereits mitgeteilt hat, meist i n wörtlichen Ubereinstimmungen. Das ist der Fall bei der Taufe Jesu m i t der merkwürdigen Taufformel (45; L J I , 115 ff.). — Richen tadelt die Ausschmückung des Taufortes (67). Emmerick läßt an jedem der 40 Tage i n der Wüste eine neue Versuchung eintreten, wie i m 'Gotteskreis' (48 ff.) so i m 'Leben Jesu' ( I , 159—178), so daß nur die letzten Versuchungen m i t den Evangelien übereinstimmen können. Bei der Hochzeit i n Kanaa, die i n beiden Büchern 143

Z . B. 480 ( N r . 139 u n d 140), 481 ( N r . 145).

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(Br. 70 ff.; L J I , 207 ff.) insbesondere durch die von Jesus angeordneten und überwachten Spiele sehr ausgeschmückt ist, ergeben sich manche Veränderungen. Vielfach anders ist die Geschichte des Hauptmanns v o n Kapharnaum (Br. 118 ff.; L J I , 382). Bei der Speisung der Fünftausend (Br. 238; L J I I , 339) werden die wichtigen Fragen Brentanos (Adam 336) vernachlässigt. Eine der bedeutendsten Änderungen Schmögers betrifft Judas Ischariot; die Abweichungen sind nicht nur stilistisch ( L J I I , 60), sondern betreffen vor allem den Geburtsort; während es bei Brieger (373) ausdrücklich heißt, daß er aus K a r i o t h stamme 1 4 4 , sagt Schmöger i n ( L J I I , 61) i n Übereinstimmung m i t Adrichomius 1 4 5 , daß er i n Ischariot geboren sei. Die Teufelsaustreibung i n Gerasa, die alle drei Synoptiker berichten, w i r d bei Brentano anschaulicher, indem er das M o t i v der Zauberei, der Berauschung durch Getränke einführt und den Strafcharakter der A k t i o n herausarbeitet ( L J I I , 197 ff.), was sich alles auch bei Brieger (194 ff.) findet. Die Erweckung des Lazarus weicht von dem Evangelium stark ab; bei Schmöger w i r d überdies ( L J I I I , 244 f.) das W o r t »wärest du hier gewesen. . . « nur Maria i n den M u n d gelegt, i m 'Gotteskreis' (317) dagegen sprechen es wie i m Evangelium beide Schwestern. Ebenso fiel bei Schmöger das Bekenntnis: »Ich bin die Auferstehung« (Br. 318) weg. Besonders auffällig ist, daß i m Gegensatz zum Evangelium (Joh. 11, 27) das Bekenntnis Marthas zu Christus als Sohn Gottes w o h l bei Brieger (318), aber nicht i m 'Leben Jesu' erzählt w i r d . Größere Abweichungen finden sich i n der Szene m i t der Samariterin, insoferne i m Urtext (Br. 107 ff.) die Schilderung der Kleider die Oberhand hat, während bei Schmöger ( L J I , 355—365) die Worte aus dem Evangelium nachgetragen werden. H i e r sind besonders die allegorischen Ausdeutungen bemerkenswert. Differenzen finden sich auch i n der D i k t i o n des Himmelfahrtsfestes (Br. 419 ff., L J I I I , 490) und i n dem Bericht über das Pfingstfest (Br. 431, L J I I I , 496 f.). Die Geschichte der Auferweckung der Tochter des Jairus w i r d bei den Synoptikern übereinstimmend mitgeteilt. Der 'Gotteskreis' sagt (185—190), daß sich das Haus i n der Nähe des Hauses des Cornelius befand, daß Jesus i n die Küche trat, wo die Frauen m i t der Vorbereitung der Totenhülle beschäftigt waren. Die Mutter hatte kein Vertrauen, und der M a n n war kein begeisterter Freund Jesu, er wollte es m i t den Pharisäern nicht verderben, und nur die Angst hat ihn zu Jesus getrieben. Jesus nahm das Mädchen i n seine Arme und hauchte es an; da sah Anna Katharina eine kleine Lichtgestalt in den Leib des Mädchens einsinken; auf Jesu W o r t richtete sich das Mädchen v o m Lager auf, zunächst noch schwach und schwankend. Die Eltern hatten anfangs kalt und bange, dann m i t Zittern und Beben 144 145

So auch Baronius, Jahr 32 N r . 9. Adrichomius 28.

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zugesehen und waren schließlich vor Freude außer sich. Jesus forderte sie auf, dem Kinde ein Essen zu geben. A u f dem Rückweg sagte er zu den Jüngern, die Leute hätten keinen rechten Glauben und keine aufrichtige Gesinnung. Das Mädchen solle sich vor dem Tode der Seele hüten. So das Tagebuch vom 28. November 1822. A m 2. und 6. Dezember kommt Anna Katharina abermals auf Jairus zurück, er sei nachlässig und ohne Eifer, sein Weib eitel und sinnlich, die Tochter verwöhnt. Das Mädchen werde durch unreine Lust wieder krank werden. I n der T a t kommt sie wieder dem Tode nahe. Die Mutter veranlaßt ihren Mann, Christus abermals um H i l f e zu bitten. Dieser geht wieder i n das Haus, w i r d aber nicht mehr m i t Spott empfangen. Die Nonne sieht die Seele des Mädchens i n einem Lichtkreis, Jesus sagt aber nicht, sie schläft, sondern besprengt sie m i t einem i n geweihtes Wasser getauchten Zweig. Diesmal bekehrt sich Jairus und gibt einen Teil seines Vermögens den Armen. Beide ausschmückende Erzählungen werden bei Brieger (190) und L J ( I I , 174, 182) wiedergegeben. Der innere Grund, daß sich Brentano berechtigt hielt, die Erzählungen zu wiederholen, liegt darin, daß er überzeugt war, daß Christus dieselben Lehren immer wieder vorgetragen 1 4 6 , insbesondere die Parabeln oft wiederholt habe 1 4 7 , daß i n den Evangelien nur die Hauptlehren wiedergegeben und vieles zusammengezogen sei 1 4 8 . Trotz solcher K r i t i k , die eine genauere Kenntnis der Evangelien voraussetzt, behauptet der Pilger, daß die Nonne die H l . Schrift nicht kannte, auf die er sie selbst oft genug hinwies 1 4 9 . I m Zusammenhang damit fand sich Brentano veranlaßt anzukündigen, daß das Thema der Bergpredigt 14 Tage i n Anspruch nehmen werde. I n Wirklichkeit sind es freilich 3 x /2 Monate geworden 1 5 0 . Es ist durch diese Aufteilung die tiefe und wundervolle W i r k u n g dieser eng zusammenhängenden Lehren fast v ö l l i g verlorengegangen. Das ist ein bedeutender religiöser Mangel, denn w i r sehen heute i n der Bergpredigt den Höhepunkt der evangelischen Lehren. Diese Verteilung der Bergpredigt auf verschiedene Zeiten steht indessen m i t der modernen Exegese insofern i n Einklang, als z. B. auch v o n der Rede bei der Aussendung der Apostel heute angenommen w i r d , daß sie eine Zusammenstellung v o n Worten Christi sei, die bei verschiedenen Gelegenheiten geäußert wurden, wie andererseits auch gelehrt w i r d , daß der ursprünglichen Bergpredigt durch den Übersetzer des hebräischen Urtextes

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Br. 476, A n m . 74; L J I I I , 398. L J I I I , 148, 159. L J I I , 160, 422 u n d L J I I , 20, 108 f., 178, 207, 210 f., 233, 255, 348, 422; I I I , 148, 163 f., 231. Eine abgekürzte Redeweise nehmen auch moderne Exegeten, wie Holzmeister u n d Innitzer an ( M a t t h . - K o m m e n t a r 353, Anmerkung). 149 L J I I , 206, 399 f.; Br. 480 f. ( A n m . 140 u n d 145). Hümpfner, Glaubwürdigkeit 273. 150 Beginn 3. Dezember 1822, L J I I , 175; Schluß 20. M ä r z 1823, L J I I , 397. 147

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ins Griechische einiges aus anderen Reden beigemischt worden sei 1 5 1 . Ä h n liches gilt übrigens auch v o m 24. Matthäuskapitel, für dessen eschatalogische Momente von der Zerstörung Jerusalems, v o m Weltende, der Parusie und v o m Jüngsten Gericht Emmerick-Brentano keinen Blick haben. Eine A r t Gegenstück zu der zweifachen Jairus-Erzählung ist das doppelte Wandeln des Petrus auf dem See. Als die Geschichte das erste M a l ( L J I I , 206) mitgeteilt w i r d , verweist die Nonne bzw. Brentano auf ein späteres Wandeln, das m i t der Schilderung des Evangeliums übereinstimmt und L J I I , 344 erzählt w i r d . Bei Brieger steht die erste Erzählung auf Seite 202, die zweite auf Seite 243, es fehlt aber das Nachwort. Brentano liebt solche Verdoppelungen. I m 'Bittern Leiden' muß sogar Christus sein Bekenntnis, daß er Sohn Gottes sei, zweimal vor Kaiphas ablegen (239, 259). Ein anderes Beispiel: am 24. Januar 1823 w i r d i m Tagebuch (Br. 224 f., L J I I , 310) die Geschichte der Heilung des 38 Jahre lang kranken Gichtbrüchigen am Teich Bethsaida (Joh. 5, 2) erzählt. Dieser M a n n sei ein Gärtner gewesen und ganz verkommen, er habe gegen den Tempel gelästert und sei deswegen gestraft worden. Daß Christus sagte: »Steh auf, . . . . « sei nicht alles, was er gesagt habe, er habe ihm auch aufgetragen, sich i m Teich zu waschen und den Jüngern befohlen, ihn i n eine Wohnung i m Cönaculum zu führen, welche Joseph von Arimathäa m i t seinen Steinmetzarbeiten eingerichtet hat. Er habe sich i m Teiche gewaschen, so daß die Juden glaubten, der Teich habe ihn geheilt. Er wußte wirklich nicht, wer sein Helfer gewesen sei. Was i m Evangelium stehe, sei erst geschehen, als er später Jesus i m Tempel traf. Das sei von Johannes zusammengeschrieben worden. Diese Auffassung findet, wie Hümpfner (270) nachwies, bei Calmet eine Stütze. Es ist also schon der sogenannte U r t e x t nicht identisch m i t dem, was aus dem Munde der Emmerick kam, sondern dem Bibelstudium Brentanos zuzuschreiben. Hierher gehört auch die Erzählung, daß Jesus ( L J I , 474 ff., M L 392 ff.) i n einer Knabenschule den Kindern viel von der Geschichte Hiobs mitteilte, wie sie wirklich gewesen sei. Das findet sich schon i m U r t e x t am 25. September 1823 (Br. 143). Eine der interessantesten Schilderungen der Jahre 1822 und 1823 knüpft sich an den Namen der Stadt Thirza. Schmöger spricht darüber am 18. März 1822 1 5 2 . A n der ersten Stelle heißt es, die Stadt liege in einer anmutigen, lieblichen Gegend, sieben Stunden von Samaria entfernt, m i t Blick auf den Jordan. I n der M i t t e der Stadt sei ein ehemaliges Schloß der Könige von 151

P. Gaechter, Das Matthäusevangelium, 1965, 320, 139 ff. L J I , 261 f., sodann am 28. 1. 1823 ( L J I I , 322), was der Schilderung i m ' G o t teskreis' (230) entspricht. E r k o m m t L J I I , 358 u. am 26. M a i 1823 ( I I I , 95) nochmals darauf zurück. 152

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Israel gelegen, w o r i n O m r i wohnte, bevor Samaria erbaut wurde. Z u r Zeit Emmericks müsse noch eine Spur von Mauern und alten Türmen davon vorhanden sein. I n der Nähe habe Lazarus ein Gut gehabt, i n dem einmal ein K ö n i g gewohnt habe. Z u r Zeit Jesu sei das Schloß i n der Stadt teilweise zu einem Kranken- und Gefangenenhaus eingerichtet worden (mit einem T u r m der Weiber), das sich unter der Aufsicht der römischen Soldaten befand. Jesus, der vor der Stadt Herberge genommen hatte (offenbar i m Hause des Lazarus), besuchte m i t einigen Jüngern von 9 bis 4 U h r die Kerker der Gefangenen, heilte viele, gab anderen Erquickungen und Kleider und ging zum römischen Befehlshaber, um die Schulden der Gefangenen zu bezahlen. Er zahlte für manche das Vierfache; weil er diese Summe nicht bei sich hatte, stellte er einen Schuldschein für den Preis Magdalums aus, das Lazarus zu verkaufen beabsichtigte. Dieser Schuldschein nun ist es, von dem in der dramatischen Einführungsszene des 'Bitteren Leidens' die Rede ist (BL 175 f.). Schmöger sagt i n einer redaktionellen Bemerkung ( L J I I I , 424), daß nach Schilderung der letzten Salbung Magdalenas beim Gastmahl Simeons des Aussätzigen und des Verrates des Judas die Aufzeichnungen des folgenden Tages i n das 'Bittere Leiden' übertragen wurden. Das bezog sich aber nicht auf die erste Auflage desselben (1833), sondern erst auf die zweite und die folgenden noch zu Lebzeiten des Dichters erschienenen, die den Vermerk auf dem Titelblatt tragen: » M i t den Mitteilungen über das Letzte Abendmahl unseres H e r r n Jesus Christus«, welche die Vorbereitung zum Ostermahl schildern, die Fußwaschung, die Einsetzung des Altarsakramentes, die Bereitung des Chrisams und die Priesterweihe, außerdem einen Blick auf Melchisedech werfen. Das alles ist aus Faszikel V I I , 22 genommen 1 5 3 . Schließlich wurde ein wichtiges zweiseitiges V o r w o r t vorausgeschickt, das über die Unstimmigkeiten der Evangelien und die Judaskommunion handelt; hier w i r d der in L J oft vertretene Gedanke vorgebracht, die Evangelisten hätten nur die Hauptsachen erzählt und nicht der Reihenfolge nach. Brentano bekennt sich zur wahrscheinlicheren Ansicht, daß Judas beide Sakramentgestalten genossen habe, was auch bei Brieger zu finden ist (376). Was Brentano i n diesem V o r w o r t von der Irrlehre der Melchisedechianer sagte, konnte er C a l m e t 1 5 4 entnehmen, der an der Spitze des Hebräerevangeliums eine Abhandlung darüber veröffentlicht hatte. Die Kapitel 14—17 des Johannes-Evangeliums, die uns als Höhepunkte der Lehre Christi gelten, werden bei Emmerick-Brentano nicht verwertet. 153 Hümpfner y G l a u b w ü r d i g k e i t 71. Das Wesentliche davon ist schon i n dem ausführlichen Registerblatt zum vierten Lehrjahr am 29. M ä r z enthalten. 154 Dictionnaire, I I I , 235 f.

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XII Anhangsweise sei an die Schmögerische Bemerkung erinnert ( I I I , 429), daß Brentano zum 'Bittern Leiden' Bilder v o m kreuztragenden Christus v o m 13. und 14. August 1822 (wohl m i t denen v o m 15. und 16. August Br. 378—382 gleichzusetzen) und v o m Abendmahl (am ausführlichsten i n der Fronleichnamsoktav 1820) verwenden konnte. Diese Betrachtung ist i n der Emmerickbiographie Schmögers (372) abgedruckt, aber auffällig ist hier, daß auch Maria das Brot erhält. Brieger bringt unter dem A p r i l 1820 neun Zeilen über das Abendmahl (371) und unter dem 28. März über den Kelch eine Stelle (369), die i n die zweite Auflage des 'Bitteren Leidens' eingegangen ist. Brieger (Einleitung X V I I ) meint, daß die Einzelheiten der Visionen weit über die heutige Wissenschaft hinausgehen, was Texte bewiesen, die i n seine Auswahl nur zum geringsten Teil aufgenommen werden konnten. Er verweist insbesondere auf die Ausgrabungen i n Tirza. Aber diese Ausgrabungen der Jahre 1946—1963 von P. R. V a u x 1 5 5 belegen nur die Verlegung der Residenz von Tirza nach Samaria, was aus der Bibel ohnedies bekannt war, und daß die gefundenen Keramiken m i t denen aus Samaria sehr verw a n d t sind. Diese Verlegung der Residenz fand i m 9. Jahrhundert v. Christus statt (nicht wie bei Brieger i m Jahre 9). Die Ausgrabungen sagen nichts über Benutzung des alten Palastes als Kranken- oder Gefangenenhaus, auch nichts über ein Haus des Lazarus 1 5 6 . Unter dem Neuen, das aus dem Buche Briegers hervorgeht, ist anzuführen, daß zu den ersten Gesichten, die Anna Katharina Emmerick mitteilte, datiert 28. M a i 1819, der Kreis der Chöre der Geister und der Sturz der Engel gehörte. Dadurch erklärt sich der Titel des Buches 'Gotteskreis' und sein Buchumschlag. Der Text nennt diese Bilder kindisch 1 5 7 , weil sie dieselben m i t fünf oder sechs Jahren hatte; sie sah einen Lichtraum und i n demselben eine noch lichtere Kugel, i n der sie die Einheit einer Dreiheit fühlte. Unter der Kugel entstanden leuchtende Kreise, Chöre von Geistern. Als ein Teil alle Schönheit i n sich sah, stürzte dieser Teil und ein anderer nahm seinen Raum ein, demütigte sich vor dem Gotteskreis und blieb nun fest. I m Oktober 1820 sagt sie, daß ein Teil der gefallenen Engel, der Reue hatte, außer der H ö l l e blieb und auf die Erde käme, die Menschen zu verführen (Br. 437). Das w i r d wiederholt am 9. September 1821 (450) und am 13. August 1822: die Engel, die einen Moment der Reue hatten, fielen nicht so tief, sie werden am Jüngsten Tag i n die H ö l l e verstoßen 1 5 8 . Die Vorstel155 Y g j # Jahrgänge 1946—1955 der Revue biblique, w o darüber berichtet w i r d . 158 157 158

Schedl, i n : Bibel u n d Liturgie, 24. Band, 168 f. 435, vgl. auch A n m e r k u n g 175. Schmöger I I , 423 f.; Adam 342.

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lung von den reuigen Engeln geht offenbar zuletzt auf Clemens von Alexandrien (Strom. V I I , 7) zurück; auch Dante hat ähnliche Vorstellungen, ebenso W o l f r a m von Eschenbach i m P a r z i v a l 1 5 9 . Es wurde eingangs bemerkt, daß Brentanos Interesse zunächst besonders Anna Katharinas Erkenntnis von Reliquien galt, und daß auch er sich, wie ihre Umgebung vor ihm, m i t Versuchen abgab. Nach einer Bemerkung Christian Brentanos konnte er sich an folgenden Versuch erinnern: Brentano brachte ihr am 13. Februar 1820 1 6 0 ein Stück versteinertes Knochengewebe, das i m Flußbett der Lippe gefunden worden war. Statt, wie erwartet, zu hören, »was bringst du m i r einen Knochen statt einer Reliquie«, sah sich Anna Katharina i n das Paradies versetzt. Sie sah staunend und bewundernd eine große Herde weißer Tiere, deren Mähnen wie weiße Decken m i t gedrehten Locken über ihren Rücken herabhängen; die Tiere waren drei Mann hoch, hatten einen langen Rüssel und lange schöne, weiße Zähne, ihre Augen waren klein, die Ohren weitlappig, ihr Schwanz wie Seide. Prof. Hans M a l fatti, Innsbruck 1 6 1 fand, daß diese Schilderung des Mammut, dessen erste Knochenfunde 1772 und 1806 stattfanden, so beschaffen sei, wie man erst seit den Entdeckungen von Mammutleichen an der Bereskowa (1901) sprechen könne. Ich fand aber i n dem Buche von E. W . Pfitzenmayer 1 6 2 , daß die Farbe des Mammuts rotbraun und nicht weiß war und daß man von keiner Mähne und keinem seidenen Schwanz sprechen kann. Außerdem w i r d diese Schau m i t dem Fabeltier Einhorn i n Verbindung gebracht, das sich die Perser pferdeähnlich vorstellten, während die Nonne eine Rehähnlichkeit anzunehmen scheint 163 . Alles das steht in Zusammenhang m i t der Vorstellung des Prophetenberges, die sicher auf Brentano zurückzuführen i s t 1 6 4 , die zuerst am 10., 19. und 26. Dezember 1819 auftritt und worüber Brentano selbst ( M L 72) einen religionsgeschichtlichen Vergleich anstellte. Die Vorstellung des Prophetenberges bei T i b e t 1 6 5 , auf dem ein altes Weissagungsbuch aufbewahrt w i r d , ist nicht weit entfernt von der bei A d a m abgedruckten Vision eines hl. Buches, das sich noch heute in dem ehemaligen Ktesiphon, 16 Stunden nördlich v o n Babylon am Tigris befinde und das alles enthalte, was i n der H l . Schrift ungenau steht — v o m Fall der Engel, 159 Göttliche K o m ö d i e I , 3,22—69; Parzival, N r . 471 u n d 798. 160 Br. 444, dazu 483, A n m . 181: Schmöger I I , 76, der den Versuch i n das Jahr 1821 verlegt. 161

H . Malfatti, Menschenseele und Okkultismus, 1926, 63. 162 g yyj Pfitzenmayer, Mammutleichen u n d Urwaldmenschen, 1926. 163 L J I I , 5; I I I , 283; Br. 359; Schmöger 72 ff., Hümpfner, G l a u b w ü r d i g k e i t 485. 164 Adam 169, 173, 352; L J I I I , 335; Schmöger I I , 165 ff., 174; Hümpfner, Glaubw ü r d i g k e i t 481, 494 f. 165 Der hl. Berg der Tibetaner, v o n dem Sven H e d i n (Transhimalaya I I 172) berichtet, ist kein Prophetenberg.

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der Schöpfung, v o m Paradies usf. — und das der Grund aller Religionen sei. Diese Vorstellung des Buches kommt am 22. Dezember (16. Dez. 1819, dazu A d a m 174). Das Buch auf dem Prophetenberg w i r d i m Register zum 22. Dezember 1819 erwähnt. Diese Visionen sind ebenso phantastisch, wie die von Schmöger mitgeteilten Traumreisen v o m 9. und 10. Dezember 1819 oder die von A d a m wiedergegebenen Lichtvisionen v o m 30. und 31. Juli und 3. August 1819 1 6 6 . A d a m nennt das m i t Recht (310) »Ausschweifungen einer durch keinen Rückhalt mehr gebundenen, geradezu dämonisch entfesselten Phantasie.« Diese Visionen aus dem Jahre 1819 sind w o h l m i t den aus demselben Jahr stammenden Gesichten von den Lichtchören der Engel in Verbindung zu bringen, von denen schon gesprochen wurde. Brieger hat aber auch androgyne Vorstellungen ans Tageslicht gebracht, die Klaus Schedl 1 6 7 bei Erörterung der Erschaffung Evas aus der Rippe Adams für ganz unbiblisch erklärt. A m 9. November 1820 verlegt die Nonne dieses Gesicht i n ihre K i n d h e i t ; sie habe A d a m und Eva ohne Nabel und Brustwarzen und ohne Gedärme gesehen (Br. 437 f.). Das Essen wäre kein mechanisches Zermalmen gewesen, die Geschlechter waren i n A d a m nicht getrennt (Br. 441). Diese Ansichten gehen sicher auf Brentano zurück, sie finden sich schon bei Plato vorbereitet, klingen bei Jakob Böhme (vom dreifachen Leben, Gnadenwahl, drei Prinzipien) an, stammen vielleicht auch aus Gichtel oder Antoinette Bourignon. Die Emmerick kennt, schon bevor Brentano bei ihr eintraf, etwas von der 'Morgenröte' Böhmes, da Wesener ihr am 15. 1. 1818 daraus vorlas. Eine der originellsten und kuriosesten Ideen Brentanos betrifft den »Segen« der reinen Mehrung aus Gott, der A d a m nach Bildung der Eva gegeben wurde, den Abraham besaß, den Jakob in Gestalt einer leuchtenden Bohne erhielt, der eine Zeitlang i n der Bundeslade aufbewahrt wurde und schließlich auf Joachim überging ( L J I , 43 f.; I I I , 283). V o n diesem »Segen« ist nun auch i m 'Gotteskreis' die Rede und zwar durchwegs an Stellen 1 6 8 , die in die Jahre 1820 und 1821 zurückreichen. Brentano wollte offenbar i n diesem Segen, der i n der Bundeslade aufbewahrt w i r d , ein Gegenstück zu der i m Tabernakel aufbewahrten Hostie schaffen, fand aber nicht die richtige Form, wie am deutlichsten aus einer Stelle hervorgeht, die A d a m (344) aus Tagebuch I X , 1 veröffentlicht hat. Die Idee, die auch i n das 'Marienleben' (17, 37, 48, 181) überging, stammt zuletzt aus dem lateinischen Buche des Franziskaners Galatinus 'Die Geheimnisse der katholischen Wahrheit' (1550, 166 167 168

Schmöger I I , 166 f f . ; Adam 349 f. Geschichte des A l t e n Testamentes I , 1952, 80. Br. 14, 38, 339, 442, 451, 455, 463, 465, 467.

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I . Kap. 7), das Brentano i n seiner B i b l i o t h e k 1 6 9 besaß und das eine Vererbung einer Urmaterie aus A d a m annahm, aus der der Samen Joachims gebildet wurde. Galatinus erwähnt übrigens nichts von der Bundeslade und kennt auch keine zeitweise Entziehung des Segens. Daß Brentano behauptete, i m Jahr 1840 ganz ähnliche Vorstellungen i m Buche Sohar angetroffen zu haben, besagt gegenüber der Tatsache nichts, daß die Vorstellung der Bohne schon 1820 bezeugt ist. Die Zensoren haben natürlich diese Vorstellung ebenfalls unter ihre kritische Lupe genommen, während Wegener sie i n seiner Broschüre (66) verteidigt, wobei er über die Ausdrucksweise Bohne hinwegsah. A d a m spricht darüber 216—219. XIII Die letzte ausführliche Biographie Brentanos von Wolfgang PfeifferBelli (1947) ging absichtlich einer scharf formulierten Stellungnahme zu den mystischen Phänomenen aus dem Wege. Sie untersuchte außerdem nicht die verschiedenen Auflagen des 'Bittern Leidens', sondern beschränkte sich auf die stilistische Würdigung und Hochschätzung desselben und folgte i m übrigen kritiklos der Hauptthese W . Hümpfners. Das Problem der Visionen und ihrer Wiedergabe durch Brentano ist außerordentlich ausgedehnt und kompliziert. Eine Reihe von Wissenschaften sollten daran interessiert sein, die Theologen, Psychologen, Historiker, Literarhistoriker. Dutzende Untersuchungen über die Topographie des hl. Landes, die ethnographischen Verhältnisse, die religionsgeschichtlichen Partien, die Kostümkunde, die Pflanzen- und Tierwelt, auch Vergleiche der Zeichnungen und Skizzen wären notwendig. Ob es durch weitere Untersuchungen möglich sein w i r d , über die i n dieser Arbeit aufgezeigte Wahrscheinlichkeit hinauszukommen, daß Brentano Baronius und i n Verbindung damit A d r i chomius folgte, bleibt ungewiß, solange nicht die Hauptfrage hinreichend durchdacht und entschieden ist, wer für die Aufstellung der Reiseroute (der Anreihung der örtlichkeiten, Begebenheiten und Reden) verantwortlich zeichnet. M a n müßte insbesondere auch die Krankheitsgeschichte Weseners aus den Tagebüchern Brentanos ergänzen; wie ergiebig das sein könnte, kann man aus den Zusammenstellungen Schmögers ersehen, die er v o m 1. bis 12. Januar 1822 und dann weiter machte ( L J I , Einleitung X X I I ) . Auch die v o n Brentano i n den Tagebüchern verzeichneten hellseherischen Zustände (Adam, Tafel V I ) wären i n Fortsetzung der Arbeit Weseners zusammenzustellen, da Seiler (311 ff.) uns hier i m Stiche läßt, ebenso bei der 169

K a t a l o g der Bibliotheken Christian u n d Clemens Brentano 9, N r . 122.

D i e G l a u b w ü r d i g k e i t v o n Clemens Brentanos Emmerick-Berichten

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Angabe der Ekstasen. Nach Theresia von A v i l a können sich auch nach Ekstasen Visionen einstellen, sie hält es allerdings für ein ungünstiges Zeichen, wenn Visionen i n den Einzelheiten beschrieben werden können. Es wären auch Untersuchungen des Tugendlebens der Nonne, soweit es i n den Tagebüchern verfolgt werden kann, lehrreich, da sich die Darlegungen Seilers (347 ff.) allein auf die kirchlichen Untersuchungsakten und das Tagebuch Weseners beziehen und keine Belege aus den Jahren nach 1820 bringen, da er sich durch Hümpfners Thesen zu sehr beeindrucken ließ. Zusammenfassend wäre zu sagen: 1. Aus dem von m i r vorgelegten Material geht m i t voller Gewißheit hervor, daß das 'Bittere Leiden* durch die Bücher Adams und Briegers, zum Teil auch durch die 'Judicia' der Ritenkongregation seinen religiösen Quellenwert i n hohem Grade verloren hat. M a n gewinnt die Erkenntnis, daß man i m 'Bitteren Leiden' nur sehr wenig auf ursprüngliche Mitteilungen Anna Katharina Emmericks zurückgehen kann. 2. Dasselbe gilt v o m 'Marienleben': doch ist es hier vielleicht möglich, in den noch vorhandenen Manuskriptresten früherer Fassungen ursprüngliche, von der H a n d Brentanos geschriebene kleinere Aufzeichnungen ausfindig zu machen, die Bestandteile der Tagebücher gewesen sein können. 3. Es hat sich gezeigt, daß i m Grunde das 'Leben Jesu' von Schmöger ein wichtigeres Untersuchungsobjekt wäre, obwohl schon heute sicher ist, daß auch Briegers Texte Umarbeitungen Brentanos sind. Es ist klar, daß das von Schmöger herausgegebene 'Leben Jesu', von dem nun Brieger verläßlichere Urtexte veröffentlicht hat, i n seinem Quellenwert an erste Stelle rückt. Es wurde aber zugleich offenkundig, daß die handgeschriebenen Tagebücher i n einer verläßlichen kritischen Ausgabe vorliegen sollten. Auch muß man sich klar sein, daß nur durch Erschließung weiteren Materials aus den Tagebüchern unsere Erkenntnis erweitert werden kann. Je mehr die Brentanoforschung geneigt ist, auf das K o n t o der Phantasie und Belesenheit Brentanos zu setzen, um so größer und dringlicher w i r d ihre Verpflichtung, eine wirklich kritische Ausgabe sämtlicher Tagebuchbände zu veranstalten. Es handelt sich aber nicht nur um die Visionen, sonderen auch um die vielen biographischen Mitteilungen, die sich i n diesen Aufzeichnungen finden. Bisher hat man nicht einmal bemerkt, wie weit die Schüddekopf-Oehl'sche Ausgabe der 'Religiösen Schriften' v o m Ideal einer kritischen Ausgabe entfernt ist. Diese Ausgabe, von der A d a m (5) anerkennend spricht, ist hinsichtlich der religiösen Schriften weder kritisch noch vollständig, noch vorbildlich. Sie bringt z. B. von den 500 Seiten der 'Barmherzigen Schwestern' nur einen Auszug von hundert Seiten, was für die Beurteilung der Arbeitsleistung Brentanos sehr ungünstig ist. Bekanntlich hat der Dichter den 13 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 7. Bd.

Oskar K a t a n n

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Ertrag aller seiner seit Dülmen veröffentlichten Bücher zugunsten der Barmherzigen Schwestern bestimmt, so daß die 'Historisch-politischen Blätter' 1844 (15, Guido Görres) schreiben konnten: »Welcher deutsche Dichter hat m i t den Händen, die so kunstreich, so leicht und zart die Saiten zu rühren verstanden, den Armen i n fürstlicherer Weise reichere Almosen geschenkt?« Brieger sagt, daß er i n seiner Auswahl manches nicht veröffentlichen konnte, das über die heutige wissenschaftliche Erkenntnis hinausgehe. D a n n müßte man als dringlichste Aufgabe fordern, daß zunächst von diesen Teilen i n einer wissenschaftlichen Zeitschrift ein Nachtrag zur Auswahl geboten würde. Eine kritische Ausgabe dürfte sich, wie gesagt, nicht auf die Aufzeichnungen der Visionen beschränken, sondern müßte auch alle anderen Eintragungen umfassen, die Schilderung der Krankheitszustände, eventueller Blutungen, der hellseherischen Phasen, der Ekstasen, Reliquienerkenntnisse, Lektüre, Kräuterwesen, Magnetismus, Träume, die Klagen des Pilgers über Besuche und andere Störungen, den Beichtvater, die Verhöre, die Heiligen, die Näharbeiten, den Führer, den Papst und K a r d i n a l Consalvi. M a n weiß auch viel zu wenig über Streichungen, Ergänzungen, Korrekturen, spätere Einfügungen etc. Schließlich wären auch und vielleicht schon zu Beginn die Register zu drucken. Es könnte sich darum handeln, ein oder zwei Registerbände zu veröffentlichen. Sie böten ein religiös geschlossenes Ganzes mit begrenztem Umfang; die Drucklegung wäre erforderlich, weil man m i t der kleinen Schrift Brentanos kaum arbeiten kann. Außerdem zeigte es sich, daß manches weder bei Schmöger noch bei Brieger vorkommt, z. B. die Erwägung, ob Johannes m i t einer Muschel taufte, oder der Tadel der K ö l dischen Karte am 28. September 1822 (es fehle eine Schlucht). Das Register zur Biographie der Emmerick i n den Jahren 1818, 1819 und 1820 ist sehr reichhaltig und weist eine Entwicklung zu größerer Klarheit auf: i m weiteren Verlauf (1821 und 1822) werden sie viel kürzer und beschränken sich zuletzt ganz auf Krankheiten und Leidensübernahmen. Daß Brentano 5 Jahre i n Dülmen ausharren konnte, i n einer Umgebung, die ihm höchst unsympathisch war (schon i n einem Brief v o m 3. A p r i l 1819 spricht er von einem erbärmlichen Leben) und über welche er endlos k l a g t e 1 7 0 , ist ein Beweis seiner starken Bindung an die Nonne, deren Leben und Denken ihm erst die Wahrheit, den Reichtum und die Tiefe des katholischen Glaubens erschloß. Allerdings war sein Bruder Christian v o m Dezember 1819 bis 21. August 1821 ebenfalls i n Dülmen, um den Magnetismus zu studieren. Clemens betrachtete seinen Aufenthalt und seine Betreuung der Manuskripte als eine religiöse Berufung, an der er sein Leben lang festhielt, obwohl er sie als eine schwere Last empfand. 170

Adam

137 ff., 140, 153; Schmöger, I I , 832.

D A S P R O B L E M DES F A L S C H E N

INTELLEKTS.

E i n Thema der Epigramme Grillparzers V o n Klaus-Dieter Krabiel

U m die Wende v o m 18. zum 19. Jahrhundert geraten i m Gefolge der Französischen Revolution m i t den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen i n bedeutungsvoller Weise und nachhaltiger auch die geistigen Prinzipien i n Bewegung, die für ein Zeitalter verbindlich gewesen waren. U m 1800 ist der Höhepunkt des Einflusses der Kantischen »Philosophie der Bescheidenheit«, wie Grillparzer sie nennen w i r d 1 , bereits überschritten. Seine Erben negieren die Grenze, die er dem menschlichen Erkenntnisvermögen bezeichnet hatte, indem sie die Selbstherrlichkeit des Ich verkünden (Fichte) und spekulierend die Einheit von N a t u r und Geist zu fassen suchen (Schelling). Die philosophischen Richtungen lösen sich i n schneller Folge ab; schon 1807 erscheint die 'Phänomenologie des Geistes'. I n Hegels System glaubt der Geist zu sich selbst, d. h. zum absoluten Selbstverständnis gekommen zu sein. I n Österreich wirken die modernen philosophischen Strömungen erst spät. M a n ist hier weniger als i m Norden bereit, sich allem Neuen sofort i n die Arme zu werfen. Das naiv zugreifende Urteilsvermögen des Österreichers und der Sinn für plastische Anschaulichkeit wehren sich gegen überschwengliche Ideengebäude. Eine gewisse geistige Eigenständigkeit bleibt immer gewahrt. Nicht zuletzt verhinderten auch die Zensurmaßnahmen den breiten I m p o r t gefährlich scheinender Literatur aus dem Norden. So erklärt sich, daß man hier nach dem Wiener Kongreß erst beim Studium Kants angelangt ist 2 . Noch i m Jahre 1826 muß Grillparzer Hegel i n Berlin gestehen, daß er von dessen Philosophie bisher nicht die geringste Kenntnis genommen habe 3 . O b w o h l Grillparzer i n die Zeit der Französischen Revolution 1 I , 16, S. 58. — Es w i r d zitiert nach: Franz Grillparzer, Sämtliche Werke, historisch-kritische Gesamtausgabe, i m Auftrage der Stadt W i e n hrsg. v o n August Sauer, fortgeführt v o n Reinhold Backmann, W i e n 1909—1947. — D i e römische Z i f f e r bezeichnet die Abteilung, die arabische den Band. 2 I n Grillparzers Tagebüchern finden sich seit 1819 Niederschläge einer systematischen K a n t - L e k t ü r e . Schreyvogel hatte i h m 1817 die H a u p t w e r k e Kants geliehen. V g l . I I , 7, S. 244, N r . 622. 3 I , 16, S. 188.

1

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Klaus-Dieter K r a b i e l

hineingeboren w i r d , wächst er i n einer geistigen Atmosphäre auf, die von der Absolutierung des spekulierenden Intellekts noch nahezu unberührt ist. Z u Anfang des Jahrhunderts leben i n Wien noch die Ideale der Aufklärung, und zwar i n einer für Österreich charakteristischen Brechung. Die sogenannte »katholische Aufklärung« ist Feind der autonomen E t h i k — das Thema der Grillparzerschen Dramen von der 'Ahnfrau' bis zum 'Bruderzwist' hat hier seine Wurzel 4 . Auch die Empfindung, daß das Göttliche das unvorstellbar Andere und kein Erkenntnisobjekt ist, bleibt hier wach. Beides, die Einsicht i n die menschliche Bedingtheit und das Wissen um die Unfaßbarkeit Gottes, ist unverlierbares, nur selten verschüttetes Erbe G r i l l parzers, — wie es übrigens auch das Adalbert Stifters ist. Zwei konträre Geisteshaltungen stehen also i m ersten D r i t t e l des 19. Jahrhunderts i n Deutschland nebeneinander. Es muß zu Auseinandersetzungen kommen, wenn sich beide Strömungen begegnen. Sie begegnen sich, als Grillparzer seit Anfang der dreißiger Jahre Hegels System studiert 5 und i n der Folge Kenntnis von den Wirkungen dieser Philosophie erlangt. Seitdem steht der Dichter i n einem ununterbrochenen Gefecht gegen die Anmaßung des spekulierenden Intellekts. — Grillparzer ist freilich nicht der Mann, der auf die Barrikaden steigt. Sein Protest schlägt sich i m Tagebuch nieder, i n satirischen Gedichten und Stachelversen und erlangt i m dramatischen Spätwerk plastische Gestalt. Besonders gern bedient er sich der scharf geschliffenen Form des Epigramms, i n der sich seit den 'Xenien' Z e i t k r i t i k m i t tiefster Problematik legitim verbinden kann. — Zunächst seien die Epigramme Grillparzers auf dieses Thema hin befragt. »Die auf dem Ozean des menschlichen Wissens rudern wollen, kommen nicht weit, und die die Segel aufziehen, verschlägt der Sturm.« 6 Dieser Aphorismus aus dem Jahre 1819 kann den Zugang zum bezeichneten Problem erleichtern. Er bezieht sich noch nicht ausdrücklich auf bestimmte Persönlichkeiten. Seit den dreißiger Jahren sind es immer wieder Hegel und — dem H a n g des Dichters zur Völkerpsychologie entsprechend — die Deutschen überhaupt, die i n den Epigrammen angesprochen werden, — die »die Segel aufziehen«. »Strebend und unklar / Geistreich, verrenkt« werden die Deutschen charakterisiert 7 . U n d Hegel: Möglich, daß du uns lehrst, prophetisch das göttliche Denken Aber das menschliche, Freund, richtest du wahrlich zu Grund. (Ep. N r . 731) 4 Vgl. Robert Mühlher, Grillparzer und der deutsche Idealismus, Wissenschaft u n d W e l t b i l d , Jg. 1 (1948), H e f t 1, S. 64. 5 Die erste Lektüre Hegels ist i m Tagebuch v o n 1832 bezeugt; vgl. I I , 9, S. 78 f., N r . 2010. 6 I I , 7. S. 247, N r . 634. 7 I , 12/1, Ep. N r . 817. I m folgenden werden die Epigramme nur m i t ihrer N u m mer nach der kritischen Ausgabe zitiert.

Das P r o b l e m des falschen Intellekts

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Uberhaupt ist die deutsche eine »grüblerische N a z i o n « 8 — das Verbum grübeln hat bei Grillparzer immer den Beigeschmack des Papieren-Unfruchtbaren und Verkehrten. Sie w i r d in ihrem kühnen Aufwärtsstreben bald »den ewigen Schnee« erreichen, die Zone äußerster Unfruchtbarkeit, der eisigen, leblosen Abstraktion (Ep. N r . 1169). D o r t oben wächst nichts, von Früchten kann keine Rede sein. Die Frucht aber ist dem schöpferischen Menschen die Probe der philosophischen Rechnung, besonders auf dem eigenen Felde, dem der »Ästhetik«: Sie sind der höchsten Ideen v o l l Z u m staunen oder zum lachen. E i n Jeder weiß wie mans machen soll Doch Keiner kann es machen.

(Ep. N r . 1335)

Boshaft t r i f f t das folgende Epigramm das ergebnislose Bemühen jener Zeitgenossen, die sich i n die vereiste Zone der Spekulation verstiegen haben: Die Zeit hielt sich schwanger M i t hoffnungsreicher Frucht, Doch als der Tag gekommen, D a wars die Wassersucht.

(Ep. N r . 1241)

U n d immer wieder werden die Deutschen genannt, die Grillparzer i n besonderem Maße m i t leerem Scharfsinn geschlagen scheinen: I h r meine Freunde v o m deutschen L a n d H a b t einen durchdringenden Verstand; Er durchdringt das Wahre i n all seiner Weite U n d k o m m t heraus auf der andern Seite.

(Ep. N r . 1357)

Die ehrgeizig wühlende Verstandesbemühung verfehlt ihren Gegenstand. Sie ist Leerlauf. Sich selbst genug, scheint sie ihre Ergebnislosigkeit kaum zu bemerken. — Wodurch aber weist sich nach Grillparzers Ansicht der spekulative Verstand aus? Es lebe der deutsche Geist! Als Geist unsichtbar meist, K o m m t endlich er zur Erscheinung, T r i t t stolz er auf als — Meinung.

(Ep. N r . 1569)

Meinung ist unverbindlich. Sie sagt über ihren Gegenstand nichts Allgemeingültiges aus. Schon der junge Grillparzer verdeutlicht sich das Wesen philosophischer Systeme am Beispiel der Sternbilder: zu welchen Figuren man die Sterne verbinde, wie man sie bezeichne, sei willkürlich und eigentlich gleichgültig. N u r die Sterne selbst müßten alle gleichermaßen anerken8

I I , 10, S. 144, N r . 3179.

Klaus-Dieter K r a b i e l

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nen 9 . — Einen besonderen Stachel gewinnt das angeführte Epigramm noch dadurch, daß i n dem Geist (Vers 2) leise der Nebensinn von Gespenst mitschwingt, das unsichtbar umgeht, bevor es gelegentlich — i m Kantischen Wortsinn — zur Erscheinung kommt. U m sich den Anstrich der Allgemeingültigkeit zu geben, t r i t t diese Meinung i m Gewände des Systems auf. System — »ein allgewaltig W o r t « 1 0 — scheint durch logische Schlüssigkeit i n der Gedankenkonstruktion die H i l f losigkeit des Menschen den Phänomenen der Welt gegenüber bemänteln zu wollen. Es täuscht über den Mangel an wahrer Einsicht hinweg. Der Dichter hat gegen das glatte, abgeschlossene System, das abstrakte, künstliche Ideengebäude eine unwiderstehliche Abneigung. Es geht auf Welterklärung aus — ein i m Sinne Grillparzers v o n vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen (davon w i r d noch zu reden sein). Ein Epigramm ist ' H u m b o l d ' [sie!] überschrieben: D a ß er die W e l t zum Begriff gebracht Ist m i r ein leeres Gemunkel, Es hat sie schon Hegel durchsichtig gemacht, U n d gleich drauf w a r sie wieder dunkel.

(Ep. N r . 1596)

U n d an Hegel selbst richtet er die Verse: Was m i r an deinem System am besten gefällt? Es ist so unverständlich als die Welt.

(Ep. N r . 1216)

Das System, das der Welt ihr Geheimnis abzulauschen und i n seine Verstandeshelle aufzunehmen meinte, ist i n seiner Unverständlichkeit selbst ein treueres Spiegelbild der geheimnisvollen Unverständlichkeit der Welt, als ihm recht sein kann. I n diesem Umschlag (aus Ironie und Selbstironie seltsam gemischt), der den Anspruch des Systems relativiert, w i r d es dem Dichter beinahe sympathisch. — Eine köstliche Parodie auf philosophische Strömungen, die i n Hegels Nachfolge blühen, spricht i n ihrer A r t den V o r w u r f angemaßten Gott-Schöpfertums aus, den Grillparzer den Hegelianern gegenüber immer wieder erhebt — ob zu Recht oder Unrecht, bleibe dahingestellt: Ich fange m i t dem Einfachsten an: Was kann einfacher seyn als Nichts? Ich sage also Nichts y der erste, einfachste, der Urbegriff. U n d nun geben sie acht. Was ist Nichts? Nebst dem daß es gar nichts ist, ist es zugleich die Verneinung. Ich habe also schon die Negazion erobert u n d operire damit fort. Zuerst also negire ich das Nichts: Nicht-Nichts. Nicht-Nidits ist Etwas. Sehen Sie das Samenkorn aus dem die W e l t hervorgehen wird? . . . Aber was ist Etwas? Etwas ist ein nicht vieles, 9 10

I I , 7, S. 317, N r . 835. I , 11, S. 189, N r . 272.

Das P r o b l e m des falschen Intellekts

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ein beschränktes. W e n n ich daher das beschränkte Etwas negire, u n d kann damit das Etwas nicht wegschaffen, was negire ich denn? D i e Beschränkung. Nicht-Etwas ist das unbesdiränkte Etwas, — das Alles. Alles ist die Welt. Ich habe somit die W e l t erschaffen, wie G o t t aus Nichts. N e h m t sie, geht darin spaziren, erhohlt euch, erquickt euch. I h r habt die Welt, ich schenke sie euch. 11

H i e r t r i t t uns der grämliche, einsame Raunzer i n einer Weise entgegen, wie man sich ihn i m allgemeinen nicht vorstellt: v o l l warmen, heiteren Humors, beredsam aus Freude am geistreichen, witzigen Wort. Die Gattung Parodie ist vollkommen erfüllt: ein ernsthaft einherschreitendes Philosophen! w i r d aufgenommen und erhält unter den Händen des Dichters eine leichte, aber vernichtende Wendung ins Absurde. Jede Philosophie n i m m t ihre Existenzberechtigung aus dem Anspruch her, ihre Vorläufer überwunden zu haben, ein Stück Wegs vorangekommen zu sein. I n den Naturwissenschaften scheint der Fortschritt m i t Händen greifbar. I m 19. Jahrhundert überstürzen sich wissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen. Selbst die Literatur glaubt, m i t ihrem Pfunde gewuchert zu haben. »Von vorwärts! vorwärts! erschallt das Land« (Ep. N r . 993). Wer wie Grillparzer überall einen verkehrten, anmaßlichen und dabei unfruchtbaren Verstand am Werke sieht, w i r d dem Fortschrittstaumel seiner Zeitgenossen m i t Mißtrauen begegnen. U n d tatsächlich richten sich Vers und Prosa immer wieder auf dieses Ziel. Unter dem T i t e l 'Naturwissenschaften' stehen die raunzerischen Verse: »Der Mensch w i r d doch täglich gescheiter.« Zuletzt ist doch Vieles nur Schein. »Zum wenigsten kommen w i r weiter.« Ja, weiter i n den W a l d hinein.

(Ep. N r . 1316, I I )

Weniger massiv, aber schmerzhafter t r i f f t ein Epigramm, das 'Die Kunst' überschrieben ist: M a n hört v o m Fortschritt der neuen Zeit, Sie ist auch v o m alten Wege weit Doch w i r d es ab v o m Verfolge hangen, Sonst w ä r sie vielleicht nur seitwärts gegangen.

Auch auf literarischem Felde w i r d überwunden parzer hier besonders verdächtig sein muß :

(Ep. N r . 1045)

— ein Begriff, der G r i l l -

I h r habt die R o m a n t i k überwunden, N u r hat sich leider gefunden, Daß i n beider Parteien K r i e g 11 I I , 10, S. 156, N r . 3217. Es handelt sich um ein Bruchstück aus der — nach Tiecks gleichnamiger N o v e l l e — geplanten Satire ' D i e Vogelscheuche', vgl. I , 8/9, S. 235, 237—241 u n d 247.

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D e r letzte entscheidende Sieg D i e besten Truppen aufgerieben, So daß nichts als Gesindel übrig geblieben.

(Ep. N r . 1314, I I )

N u r wenn Grillparzer über seine Stellung als Dichter i n dieser vorwärtsdrängenden Welt reflektiert, mischt sich unter den herben Spott zuweilen ein weicher T o n von Resignation, der für seine L y r i k so bezeichnend ist; etwa i n dem Gedicht 'Fortschritt-Männer' : Euch kann mein Lied, ich fühls, nicht mehr gefallen, Es ist zu karg, zu d ü r f t i g u n d zu klein, D i e ihr so weit i n Jedem u n d i n A l l e n Faßt euch nicht gern i n enge Schranken ein. 1 2

» . . . die die Segel aufziehen, verschlägt der Sturm«: die bisher angeführten Epigramme sind wie eine Paraphrase dieser Worte. M a n sieht deutlich, i n welchem Punkt alle diese Verse zusammentreffen: die Anmaßung des spekulierenden Intellekts w i r d zurückgewiesen, seine Ansprüche als unbegründet abgewiesen, seine Fruchtlosigkeit durchschaut. — Aber Grillparzers Epigramme begnügen sich nicht m i t bloßer K r i t i k , sie ringen auch um deren Rechtfertigung; denn Grillparzer ist nicht »der Geist, der stets verneint«, wenn auch dem heutigen Leser viele seiner Urteile unzutreffend scheinen mögen. Es erhebt sich die Frage nach der Position des Dichters, nach seiner Ansicht um Ausmaß und Grenzen und rechten und falschen Gebrauch der intellektuellen Fähigkeiten. Der oben zitierte Aphorismus soll hier weiterhelfen. »Die auf dem Ozean des menschlichen Wissens rudern wollen, kommen nicht weit, . . .«: so lautete die erste Hälfte. Der angemessene, natürliche Gebrauch der Verstandeskräfte w i r d dem menschlichen Erkenntnisdrang nur einen kleinen Kreis des Wißbaren erschließen: das ist w o h l der Sinn dieser Worte. M a n sieht das tiefe Mißtrauen dem Intellekt gegenüber, das sich hier ausdrückt; ähnliche Aussagen ließen sich häufen. Offenbar sind nach Grillparzers Meinung dem menschlichen Erkenntnisvermögen sehr enge Grenzen gezogen. So scheint er v o m Wissen um die höchsten Dinge ein für allemal ausgeschlossen zu sein. Gott, das Jenseits, der Zusammenhang der Welt, das Geheimnis des Kosmos sind keine Erkenntnisobjekte für ihn. »Der letzte Zusammenhang der Dinge müßte . . . dem Menschen, als weit über seine Vernunft reichend, absurd vorkommen.« 1 3 » . . . die Welt würde i n diesem Augenblicke zusammenbrechen, wenn ihre Verbindungen solche wären, die W i r einsehen könnten.« 1 4 Oder wie es i m Epigramm heißt: 12 13 14

I , 10, S. 219, N r . 123. I I , 11, S. 273, N r . 4144. Ebenda S. 261, N r . 4115.

Das P r o b l e m des falschen Intellekts Geläng es m i r des Weltalls G r u n d , Somit auch meinen auszusagen, So k ö n n t ich auch zur selben Stund M i d i selbst auf meinem A r m e tragen.

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(Ep. N r . 1358)

Einen Standpunkt außerhalb seiner empirischen Grenzen zu beziehen, von dem aus er seinen eigenen Seinsgrund und den Zusammenhang der Welt durchschauen könnte, ist dem Menschen versagt. Sein Erkenntnisvermögen ist i n die engen Grenzen des sinnlich Erfahrbaren eingeschlossen. Sein Blick ist getrübt, er gewahrt nur die äußerste Oberfläche der Dinge, nicht ihren tieferen Zusammenhang. Deshalb vermag er selbst das Sichtbare, diese Oberfläche, nicht eigentlich zu verstehen. Die Wirklichkeit entzieht sich dem rationalen Erweis 1 5 , sie ist undiskutierbar vorhanden und spottet jeder Erklärung und jeder K r i t i k . Diese Uberzeugung drückt sowohl Kascha in Grillparzers spätem Drama 'Libussa' aus (»Was w i l l das Menschenkind / Daß es die Dinge richtet die da sind.« 1 6 ) als auch schon die Parabel des jungen Grillparzer vom Stier und v o m Spötter Momus, dem Jupiter zuruft: Elender Spötter! Tadelst du die Stellung des Horns? der du nicht gewußt hättest, was ein H o r n und ein Stier für Dinge sind, bevor ich dir's, schaffend, gezeigt! 1 7

Die geschaffene Welt wie das geschaffene Kunstwerk sind als Wirklichkeit schlechthin gegeben und über alle K r i t i k erhaben. Beide tragen ihren Grund und ihre Wahrheit i n sich und widersetzen sich der verstandesmäßigen Erklärung. Hamanns Uberzeugung, »Dasein müsse geglaubt und könne auf keine andere Weise ausgemacht werden«, ist auch die Uberzeugung Grillparzers; H a m a n n » w i r d für Grillparzer der heimliche Eideshelfer gegen Hegel«. 1 8 Der Verstand ist nicht »letztes Maß aller Dinge« 1 9 . Die ewige Wahrheit bleibt dem Menschen verschlossen, sein Erkennen ist, gemessen an dieser Wahrheit, ein eigentliches Irren, sein Wissen ein Nichts: Zwischen nidits wissen u n d Nichts wissen I n diese zwei Teile ist die Menschheit zerrissen.

(Ep. N r . 1731)

U n d die Naturwissenschaften? »Unser Erklären der N a t u r besteht darin, daß w i r nur selten vorkommendes Unverständliches auf ein oft vorkom15 D i e hiermit verbundenen Probleme k l ä r t I n g r i d Strohschneider-Kohrs, Wirklichkeit u n d Erweis. N o t i z e n zu einem Problem i m Denken Grillparzers, i n : U n t e r scheidung u n d Bewahrung. Festschrift für H e r m a n n Kunisch zum 60. Geburtstag, Berlin 1961, S. 363—380. 16 I , 6, S. 89. 17 I I , 7, S. 300, N r . 795. 18 Erich Hock, Z u r Grillparzer-Forschung, G R M 35 (1954), S. 45. 19 I I , 11, S. 68, N r . 3708.

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mendes, aber eben so Unverständliches, zurückführen.« 2 0 V o n hier aus fällt erhellendes Licht auf Grillparzers Skepsis gegenüber den Welterklärern. Alles menschliche Wissen ist nur ein Sammeln und Verknüpfen von Fakten, die letztlich unverstanden bleiben. Die Naturgesetze sind formulierte Geheimnisse, sie erklären nichts, sondern beschreiben ein unbegriffenes SoSein. » M i t Entschiedenheit bekennt Grillparzer sich zum Agnostizismus.« 21 Er ist, wie man sieht, tief durchdrungen vom Bewußtsein der unendlichen Vielgestaltigkeit und Fülle des Wirklichen, das sich dem Zugriff des Intellekts notwendig entzieht. H i e r liegt der Grund seiner H e g e l - K r i t i k , denn Hegel glaubte das Seiende m i t der Ratio eingeholt zu haben. Die menschliche Unvollkommenheit schränkt nicht nur den Wirkungskreis des Verstandes ein, sondern selbstverständlich auch den des Willens. G o t t sagte nein, Ich aber sagte j a : Doch als ich es ins W e r k gesetzt, Stand nur ein N e i n m i r da.

(Ep. N r . 1020)

Wenn der Verstand seine Grenze überschreitet, so führt er zum Unsinn; überschreitet der Wille seine Schranke, verkennt der Mensch seine Bestimmung, die Gebrechen seines Wesens, die unsichtbaren Mauern aus H e r k u n f t und Konvention, dann ist die Folge das Unheil, — die Selbstzerstörung, ja das Verbrechen: das große Thema Grillparzerscher Dramen — man denke an Gestalten wie Sappho, Jason und Medea, Ottokar, Hero, Rustan, Rudolf, Libussa 22 . Typisch für Grillparzer ist das Epigramm »Deutsche Bestrebungen« — typisch die resignierte Grundhaltung und die ausdrückliche Bezugnahme auf die Deutschen: Das Unmögliche wollen, Das Undenkbare denken U n d das Unsägliche sagen H a t stets gleiche Frucht getragen, D u mußt, wenn die Träume sich scheiden, Z u l e t z t das Unleidliche leiden.

(Ep. N r . 1254)

Dem Intellekt ziemt einsichtige Beschränkung auf seine engbegrenzte Sphäre: das ist Grillparzers A n t w o r t auf das Wirken eines sich absolut setzenden, spekulativen Geistes. M a n sieht, der Dichter begibt sich gerne auf das Feld der Philosophie, — v ö l l i g heimisch w i r d er darauf nicht 2 3 . Der 20

I I , 12, S. 39, N r . 4267. I n g r i d Strohschneider-Kohrs, a.a.O. S. 366. Vgl. hierzu Ilse Münch, D i e T r a g i k i n D r a m a und Persönlichkeit Franz G r i l l parzers, Berlin 1931, Neue Forschungen Bd. 11. 23 D a ß Grillparzers K r i t i k der Philosophie hier auch ihre Grenze hat, sei wenigstens angemerkt. E r hat keinen eigentlichen Sinn für Geistesgeschichte, — ein Mangel, den man w o h l aus seinem österreichertum herleiten darf. 21 22

Das P r o b l e m des falschen Intellekts

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diskursive Verstand ist ein zu armseliges Instrument, als daß er dem Poeten das einzige Medium zwischen sich und der bunten Weltfülle sein könnte. I m Räume lebloser Verstandeskälte gedeiht das Kunstwerk nicht, die Sprache des nackten Logos ist nicht die Sprache des Dichters: Des Innern Sprache, wie auch prahle D i e L o g i k als die Nächstverwandte, N i m m t v o n E m p f i n d u n g die Vokale, V o m Denken nur die Konsonante.

(Ep. N r . 1426)

Der Verstand bedarf der Ergänzung durch die übrigen Gemütskräfte. Fühlen und Denken sind aufeinander angewiesen, erst ihr Zusammenwirken vermittelt ein B i l d der Welt, das dem musischen Menschen und schöpferischen Künstler genügt. Grillparzer bemerkt lakonisch: Fühlen u n d Denken, wenn mans erwägt, Sind der Blinde, der den Lahmen trägt.

(Ep. N r . 1512)

Die Verse T ü r ein kleines Mädchen' setzen schließlich das Fühlen über das Denken: Das Denken sucht sich nach Außen Raum, I m Fühlen sind w i r daheim, U n d a l l unsers Wissens stolzer Baum H a t i m Herzen den fruchtbaren K e i m .

(Ep. N r . 1381)

Erst m i t H i l f e des Gefühls kann sich der Mensch ein Wissen, ein Fremdes, von außen Eindringendes wahrhaft an-eignen: so könnte man vielleicht — i m Hinblick auf die beiden letzten Verse — den Gedanken der zwei ersten Zeilen fortführen. Dieses Wissen, von dem der Dichter spricht, w i r d ein anderes sein als das des Philosophen. Es ist weder das passiv Registrierte noch das aktiv Konstruierte und Produzierte, sondern entstammt einem Geben und Nehmen, einem Entgegenbringen und Empfangen, einem dankbaren Offensein für die Wunder der Welt. — E i n anderes Epigramm scheint diesen Gedanken aufzunehmen: Der erste Stoff k o m m t aus Gottes H a n d , Draus spinnt seine Fäden der Verstand, Doch soll das Gespinst d i r N u t z e n geben M u ß neu das Gemüt es zum Stoffe weben.

(Ep. N r . 1845)

Der Verstand nimmt ein Gegebenes auf und formt es in die ihm gerechte Gestalt. Ein Gewebe, ein Ganzes, eine Frucht der geistigen Bemühung — darauf geht der Nutzen — entsteht erst, wenn das Gemüt an der Formung teilhat, den fremden Stoff aus der eigenen Fülle bereichert.

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Richtiger und falscher Intellekt. E i n Epigramm Grillparzers grenzt beide voneinander ab und faßt zusammen: Der Tiefsinn w i r d gar leicht zum Stumpfsinn, Der Scharfsinn artet oft i n W i t z , H a l t immer dich an den Natursinn, I n i h m hat groß u n d kleines Sitz.

(Ep. N r . 1504)

Witz hat i m damaligen Sprachgebrauch neben der Grundbedeutung 'lebhafter Verstand' häufig einen abfälligen Nebensinn und meint die 'Geistreichelei', die leere Spitzfindigkeit. Tief sinn und Scharfsinn gehören für Grillparzer i n den Bereich der erstarrt-leblosen, begrifflich-abstrakten Spekulation. Natursinn ist als äußerster Gegensatz dazu gemeint und bezeichnet das Urteilsvermögen des aufgeschlossenen, lebendigen Menschen, das rationale wie emotionale Gemütskräfte beteiligt. Sie sind aufeinander angewiesen und werden erst i n der gegenseitigen Ergänzung fruchtbar. — »Der Blinde, der den Lahmen trägt«, so versteht Grillparzer »Fühlen und Denken«. W i r wollen nicht übersehen, daß das doch immer ein seltsames Gespann bleibt. Es w i r d langsam vorangehen und allzu weit nicht führen: das ist der sicherlich beabsichtigte Eindruck, den dieser Vergleich hinterläßt. Das Dilemma scheint unentrinnbar: erhält der Erkenntnisdrang freien Lauf, »verschlägt« ihn »der Sturm«; bescheidet er sich m i t der Sphäre innerhalb der ihm gesetzten Schranken, dann kommt er »nicht weit«. Ist das G r i l l parzers letztes Wort? Aus dem Jahre 1856 stammt folgende Tagebuchnotiz: D e r Kunst die Erkenntniß der Ideen zuzuschreiben ist lächerlich, da der Ausdruck Idee doch immer eine objektive G ü l t i g k e i t beansprucht, w o es denn endlich auf die U r b i l d e r der Dinge hinausgeht, deren Erkenntniß dem Menschen w o h l nicht gegeben seyn dürfte. D a ß dem Künstler, bei vollständiger Konzentration aller K r ä f t e (der Philosoph k o n z e n t r i r t nur die geistigen) das innere Wesen der Gegenstände deutlicher werde, als den übrigen Erdensöhnen, ist allerdings anzunehmen, aber wie weit ist es da noch bis zu den U r b i l d e r n . 2 4

Zunächst w i r d hier bestätigt, daß dem Menschen die Erkenntnis der Urbilder versagt ist. Aber dem Künstler w i r d »das innere Wesen der Gegenstände deutlicher« als dem Philosophen. »Aller Poesie liegt die Idee einer höhern Weltordnung zum Grunde, die sich aber v o m Verstände nie i m Ganzen auffassen, daher nie realisiren läßt, und von welcher nur dem Gefühl vergönnt ist, . . . je und dann einen Teil ahnend zu erfassen«, heißt es an anderer Stelle i m Tagebuch 25 . Dem Künstler gelingt — »bei vollstän24 25

I I , 11, S. 268, N r . 4130. I I , 10, S. 147 f., N r . 3196.

Das P r o b l e m des falschen Intellekts

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diger Konzentration aller Kräfte« (s. oben) — das ahnende Erfassen wenigstens eines Teils der Idee. Er ist dem Philosophen überlegen. I m Augenblick höchster schöpferischer Anspannung ist er dem Reich des Absoluten näher. Er w i r d zum Verkünder einer nicht mehr irdischen, nicht mehr zu begreifenden Wahrheit kraft seiner Fähigkeit der Gestaltung. E i n rätselhaftes Epigramm sei an dieser Stelle zitiert, das sich von hier aus vielleicht aufhellt: W e i l die W e l t ein W u n d e r ist Gibts eine Poesie Was ihr nach seinen Gründen w i ß t W i r d euch ein Dasein nie.

(Ep. N r . 1613)

Die Poesie kündet von dem Wunder, dem Unbegriffenen, das die Welt dem Menschen ist: hiermit erfüllt sie ihren Auftrag. Ohne sie wüßten w i r nichts als das rational — »nach seinen Gründen« — Erfaßbare, Erfahrbare, das sich nie zum lebendigen Ganzen, nie zum Dasein rundet. Das verstandesmäßige Wissen erreicht nicht die Fülle des Seienden, m i t seinen M i t t e l n läßt sich die Welt nicht nachkonstruieren; denn » . . . die Welt würde i n diesem Augenblicke zusammenbrechen, wenn ihre Verbindungen solche wären, die W i r einsehen könnten« 2 8 . N u r die Poesie erfaßt ahnend einen Teil ihrer Zusammenhänge. Sie ist dem Menschen deshalb ein kostbarer Besitz. — Grillparzers ununterbrochene Polemik gegen die rationalistisch-philosophischen Welterklärer hat auch hierin ihren Grund: der spekulative Verstand maßt sich ein Wissen an, daß nur dem Dichter gegeben ist, und auch ihm nur i n besonders reichen Augenblicken. Noch ein weiterer Gedanke erklärt die Abwehrstellung Grillparzers. A u f seine Verwurzelung i m österreichischen Barock ist oft — zu unproblematisch vielleicht — hingewiesen worden. Der barocke Mensch empfindet das irdische Leben als Spiel, nicht als die eigentliche Existenz, — als Spiel vor Gottes Augen. D a er am Ende, wenn der Traum verfliegt, seine Rolle i n diesem Spiel verantworten muß, erlebt er das Diesseits i n ständiger Beziehung zur Transzendenz. Diese Beziehung ist bei Grillparzer noch sichtbar als Ahnung einer transzendenten, i m Irdischen nicht mehr erkennbaren Ordnung, die aber dennoch verpflichtet. Das ist der spezifisch Grillparzersche Gedanke, der das fast verschüttete barocke Erbe modifiziert: die heutige Menschenwelt ist nicht nur die Schöpfung Gottes; der Mensch hat sie handelnd, und das heißt bei Grillparzer: verwirrend in Besitz genommen. N u r i m Kosmos ist die ursprüngliche Ordnung erhalten, die Erde ist weit entfernt v o m ersten Plan. »Dort oben w o h n t die Ordnung, dort ihr Haus, / 26

I I , 11, S. 261, N r . 4115.

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Klaus-Dieter K r a b i e l

H i e r unten eitle W i l l k ü r und Verwirrung.« 2 7 Kosmos und Chaos: v ö l l i g dem dualistischen W e l t b i l d entsprechend, das den Dichter sein Leben lang begleitet. Der historische Mensch w i l l kraft der vermeintlichen Einsicht in die Dinge der Welt der Schöpfer seiner eigenen Ordnung sein, die sich jedoch i m Laufe der Geschichte als Chaos enthüllt. Die Zeit ist i n unaufhaltsamem A b f a l l begriffen; Geschichte ist A b f a l l 2 8 . — Die erkenntnistheoretische Feststellung, die I n g r i d Strohschneider-Kohrs t r i f f t , daß für G r i l l parzer das Wirkliche »den Charakter des Wirklichseins nicht schon i n der empirisch erfahrbaren und vereinzelten Faktizität« hat, sondern »das Dasein als ein Sein aus dem Zusammenhang« ist 2 9 , diese Feststellung hat ihre ethisch-metaphysische Entsprechung. Sie t r i t t bei Grillparzer i n Erscheinung als V o r w u r f dem Intellekt gegenüber, diesen Zusammenhang gestört zu haben. Wo, wie bei Grillparzer, die transzendente Seinsordnung geglaubt und ihre Verwirrung i m irdischen Bereich schmerzlich empfunden w i r d , da ist v o m Menschen die H a l t u n g der Ehrfurcht und Demut gefordert, — das genaue Gegenteil des Anspruchs des prometheischen Intellekts, der A n maßung des Verstehen- und Erklärenwollens. Deshalb nennt der Dichter Hegels System an einer Stelle »die monströseste Ausgeburt des menschlichen Eigendünkels« 80 . I n Grillparzer lebt barockes Erbe. Wie gebrochen dieses Erbe aber i m wissenschaftlichen Zeitalter bereits ist, zeigt seine Polemik deutlich. Der Geist des Beweises, der Zergliederung, der zersetzenden K r i t i k , der Skepsis ist eingedrungen i n den barocken Versuch, Ewiges und Irdisches i n geistige und geistliche Verbindung zu bringen. Auch Grillparzer — das soll nicht verschwiegen werden — ist nicht v ö l l i g unberührt von diesem Zeitgeist. Auch aus ihm spricht zuweilen eine oberflächlichere Schicht. Aber der Kern seines geistigen Wesens bleibt dadurch ungetrübt. Es bleibt auch von der Jugend bis ins hohe Alter nahezu konstant. Eine langsame Vertiefung und Reifung ist unverkennbar, von einer Wandlung w i r d man kaum sprechen dürfen. Auch von einem Bruch zwischen dem poetischen Werk und der theoretischen Äußerung kann nicht ernsthaft die Rede sein 31 . Die frühe Uberzeugung von der menschlichen Bedingtheit i m Erkennen und Handeln führt durchaus konsequent zur ehrfürchtigen Hinwendung zum Ewigen, das 27

I , 6, S. 186 ('Bruderzwist'). V g l . hierzu Benno von Wiese, D i e deutsche Tragödie v o n Lessing bis Hebbel, H a m b u r g , 4. Auflage 1958, bes. S. 437; ferner Erich Hock, Grillparzer — Der Dichter als Prophet, Hochland 40 (1948), S. 338. 29 A.a.O. S. 379. 30 I I , 12, S. 40, N r . 4269. 31 V g l . dagegen Franz Rowas, Die Religion i n Franz Grillparzers W e l t b i l d und Dichtertum, Diss. (Masch.) München 1945, S. 167 u n d 206; auch Ernst Alker, Franz Grillparzer. E i n K a m p f um Leben u n d Kunst, M a r b u r g 1930, Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft Bd. 36, öfter, bes. S. 81 u n d 86. 28

Das P r o b l e m des falschen Intellekts

207

i n der Ordnung des Kosmos ein sichtbares A b b i l d findet. N u r der Akzent verschiebt sich: v o m Irdischen zum Blick i n den Sternenhimmel, vom Zufälligen zum Wesentlichen. Beides ist in Grillparzers Bewußtsein zeitlebens nebeneinander vorhanden. — W o das Erkennen seine Schranke findet, w o der Verstand »noch die Stangen der großen Leiter in's A l l hinaufreichen« sieht, »aber ohne Sproßen« 32 , da bleiben für die übrigen Seelenkräfte Weg und Aufgabe. Aus dem Wissen w i r d ein Schauen, ein dem Wesen nach religiöses Erahnen des Zusammenhangs der Welt. — Grillparzer bringt nicht den ursprünglichen Glauben von Haus aus mit, der etwa seinem Zeitgenossen Eichendorff eigen w a r ; nicht einmal das temperierte Bewußtsein Stifters von einer sinnvollen Weltordnung aus der Liebe Gottes. Nicht die tradierte Religion erschließt ihm den Bereich des Religiösen, sondern — neben dem Phänomen der Kunst — die Einsicht i n die Unzulänglichkeit des Menschen und alles Irdischen 33 , in die menschliche Ohnmacht gegenüber der überwältigenden Fülle des Seins. I n dieser Einsicht liegt der Grund seiner ständigen Polemik gegen den spekulativen Intellekt i m zeitgenössischen Geistesleben. Der Problemkomplex des rechten und falschen Intellekts, den die Epigramme Grillparzers immer wieder umkreisen, weitet sich zwangsläufig aus i n den umfassenderen der geistigen Persönlichkeit des Dichters und seines Weltbildes. A n Grillparzers Epigrammatik ist der Zusammenprall zweier Zeiten ablesbar. Der Dichter — einer der »Unzeitgemäßen« des 19. Jahrhunderts — fühlt sich als letzter Vertreter einer Kulturepoche, die v o m Barock bis zur Aufklärung und Klassik reicht und die seit der Französischen Revolution i n Verfall begriffen ist. Als ein Symptom dieses Verfalls beobachtet er m i t Besorgnis das Vordringen der abstrakt-begrifflichen Spekulation, die das Sinngefüge der geglaubten Seinsordnung mehr und mehr zersetzt. E i n wesentlicher Teil seiner Epigrammatik kann als Versuch verstanden werden, den Intellekt i n seine Schranken zurückzuweisen. Dieser Versuch, so ohnmächtig er ist, verrät Grillparzers tief ethische N a t u r , die wache Ehrfurcht vor dem Unergründlichen, sein demütiges Sich-Bescheiden i n die irdischen Grenzen: Werte, die er sich i n einer entfremdeten Zeit um den Preis der Vereinsamung bewahrt.

32 33

I I , 7, S. 333 f., N r . 879. V g l . Erich Hock> Z u r Grillparzer-Forschung, a.a.O. S. 39.

ROLLE U N D W A H R H E I T I N H E I N R I C H M A N N S

ROMAN

'DER U N T E R T A N ' V o n Friedrich Carl Scheibe

Heinrich Manns Roman 'Der Untertan' entstand zwischen 1906 und 1914 1 . Seit 1911 erschienen einzelne Kapitel als Vorabdruck, unmittelbar vor dem Weltkrieg begann die Veröffentlichung i n Fortsetzungen. Sie wurde unterbrochen durch die Ereignisse des August 1914, die es dem Verleger nahelegten, den Abdruck auszusetzen. Das Gesamtwerk lag i m Jahre 1918 endlich i n Buchform vor. Es wurde ein großer Erfolg. Noch heute gehört der Roman zu den meistgelesenen des Dichters 2 . Z u m Teil angeregt durch Urteile Thomas Manns, der i h m als Darstellung deutschen V o r kriegsbürgertums allen Realitätswert aberkannte 3 , wertete die K r i t i k 4 den 'Untertan' vorwiegend von seinen grotesken Szenen her als Satire und weniger als einen ernsthaften Versuch literarischer Zeitdeutung. Die spät beginnende Heinrich-Mann-Forschung 5 hat sich m i t dem 'Untertan' wenig beschäftigt. Es gibt eigentlich keinen ernsthaften Versuch einer Interpretation, auch nicht i n den beiden größeren Arbeiten der letzten Jahre von U . Weisstein und Klaus Schröter. Weisstein kommt über eine A r t von Inhaltsangabe m i t gelegentlichem Erweis von Bezügen zur Zeitgeschichte und zu anderen Werken des Dichters nicht hinaus 6 . Bei Schröter 1 Z u r Entstehung: U . Weissteiny Heinrich M a n n . Eine historisch-kritische E i n führung i n sein dichterisches W e r k , Tübingen 1962, S. 111 ff. E. Kirsch u n d H . Schmidt, Z u r Entstehung des Romans 'Der Untertan', Weimarer Beiträge 6 (1960), S. 112—132. 2 Z u r W i r k u n g des Romans: Weisstein, a.a.O. S. 115 f. L . Winter, Heinrich M a n n und sein Publikum. Eine literatur-soziologische Studie zum Verhältnis v o n A u t o r und Öffentlichkeit, K ö l n 1965, Kunst und K o m m u n i k a t i o n Bd. 10, S. 52 f. 3 K . Schröter, Anfänge Heinrich Manns. Z u den Grundlagen seines Gesamtwerkes, Stuttgart 1965, S. X I . Z u m Verhältnis zwischen Heinrich u n d Thomas M a n n : A . Kantorowicz, Heinrich u n d Thomas M a n n , Berlin 1956; ders. y Der Zola-Essay als Brennpunkt der weltanschaulichen Beziehungen zwischen Heinrich u n d Thomas M a n n , Wissenschaftliche Zeitschrift der H u m b o l d t - U n i v e r s i t ä t zu Berlin, Gesellschafts- u n d sprachwissenschaftliche Reihe, N r . 3, Jahrg. I I I , (1953/54), S. 127—138. 4 Zusammenstellung der wichtigsten K r i t i k e n bei Winter, a.a.O. S. 100 ff. 5 Überblicke über die Forschungssituation u n d ausführliche Literaturverzeichnisse bei Weissteiny Schröter u n d Winter. 6 Weisstein, a.a.O. S. 111—126. Das gilt auch für Κ.Ύ. Hard away, Heinrich Mann's 'Kaiserreich'-Trilogy and H i s Democratic Spirit, Journal of English and Germanic Philology 53 (1954), S. 319—333.

14 L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e s J a h r b u c h , 7. B d .

210

Friedrich C a r l Scheibe

liegt ein größerer Interpretationsversuch außerhalb der Thematik. Soweit seine Untersuchungen den 'Untertan' betreffen, stellen sie für alle weiteren Überlegungen eine wertvolle Grundlage dar. Der Roman beschreibt den Lebensweg Diederich Heßlings von der K i n d heit an über die Studentenzeit zur Begründung einer bürgerlichen Existenz i n der Kleinstadt Netzig als Papierfabrikant. Er spielt i m letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, für H . M a n n die Zeit eines hektischen Nationalismus und Imperialismus. Heßling gelingt es, in wenigen Jahren einer der mächtigsten Männer von Netzig zu werden. Er schiebt sich dadurch an die Stelle des Altliberalen Buck, dessen Sterbeszene den Abschluß des Romans bildet. D a m i t w i r d bereits folgendes deutlich: die Existenz des Untertanen umfaßt i m Falle dieses Romans nicht nur eine bestimmte Form des passiven Verhaltens zur Macht, sondern auch eine Möglichkeit der persönlichen Machtausübung. 'Macht und Mensch' lautet der Titel einer Essay-Sammlung Heinrich Manns 7 . Aber unter diese Uberschrift ließe sich auch ein wesentlicher Teil seines dichterischen Werkes stellen 8 . Für den Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ist ein Aspekt wichtig, m i t dem sich H . M a n n vielfach beschäftigt hat: das Schauspielerische als Möglichkeit der Machtentfaltung. So etwa i n dem Essay 'Choderlos de Laclos', dessen 'Liaisons dangereuses' Heinrich M a n n übersetzte 9 . Er zeigt sich fasziniert von der meisterhaften Verstellungskunst der Verbrecher Valmont und Marquise de Merteuil, deren Verbrechertum nicht aus primitiver Gewinnsucht oder einfacher Sinnlichkeit resultiere, sondern aus dem leidenschaftlichen Drang, ihre gesellschaftliche U m w e l t zu beherrschen und ins Verderben zu ziehen 1 0 . Insofern seien sie Geschöpfe des Zeitalters der Vernunft, Nachfahren der Renaissance. V a l mont w i r d verglichen m i t dem Condottiere Pippo Spano, die Merteuil mit Katharina Sforza, ein Salon des 18. Jahrhunderts m i t einer verkommenen Republik des 15. 1 1 Macht und Maske begegnen sich auch i n Heinrich Manns Napoleon-Essay 'Der bürgerliche H e l d ' 1 2 . Doch neben dem Spiel erscheint hier die Wahrheit als unüberspielbare Größe. Z w a r habe Napoleon sein ganzes Leben dam i t erfüllt, i n der Maske des Heroischen aufzutreten. Aber die Wahrheit darunter sei schließlich wieder als eine tiefere, i n die Seele gegrabene W i r k lichkeit zu Tage getreten. Noch auf St. Helena habe er den Einzug nach 7

H . M a n n , Macht und Mensch, München 1919. D a z u G. Specht, Das Problem der Macht bei Heinrich M a n n , Diss. Freiburg i. B. 1954 (masch.). V g l . aber die Besprechung v o n Schröter, a.a.O. S. 181 f. 9 Erschienen Leipzig, R o t h b a r t h 1905. 10 Akademieausgabe Bd. X I , S. 22 ff. 11 A.a.O. S. 26 f. 12 A.a.O. S. 131—135. 8

R o l l e u n d W a h r h e i t i n H e i n r i c h Manns R o m a n ' D e r

U n t e r t a n 2 1 1

Italien, als die Bevölkerung ihm als Befreier zujubelte, die glücklichste Stunde seines Lebens genannt 1 3 . Maske, Macht und Wahrheit sind endlich Thema der gleichzeitig m i t dem Choderlos-Aufsatz entstandenen Künstlernovelle, als deren Titel der Name jenes Renaissance-Helden erscheint, m i t dem H . M a n n den Vicomte de V a l mont verglichen hat: Pippo Spano. Das Schicksal des Dichters w i r d hier zum K a m p f um eine sich i n Leben und Werk dokumentierende Wahrheit, v o n der ihn ein Zwang zum Rollenspiel trennt, das Lebensgestaltung und dichterisches Werk gleichermaßen umfaßt, das ihm den Ruhm des großen Schriftstellers und bewunderten Erfolgsmenschen eingebracht hat und so zum M i t t e l der Machtentfaltung wurde. Die Liebesbegegnung m i t dem Mädchen Gemma Contaggi zeigt eine Erlösungsmöglichkeit aus der Gespaltenheit seiner Existenz, die aber von M a l v o l t o doch nicht benutzt werden kann. Eigenschaften des Renaissancemenschen erwachsen zur höchsten Vollendung eines genialen Kunstwerks des Bösen i n der Gestalt des Alessandro aus der Novelle 'Der Tyrann'. Er hat sich i n der H a n d wie der große Schauspieler, er vermag jede Rolle zu spielen, den Wasserverkäufer, den verhinderten Freiheitshelden, den Liebhaber und selbst den Bühnenschauspieler. Der Dialog zwischen Alessandro und Raminga, der Attentäterin, ist ein sich ständig erneuernder Verrätselungsvorgang, der keine Wahrheit länger als für ein paar Seiten, ein paar Minuten der H a n d l u n g bestehen läßt. U n d doch bleibt nach dem letzten Satz der Novelle für den Leser wenigstens die Spur eines Verdachtes, daß ein Kern echter Menschlichkeit i n Alessandro steckt. W o die Rolle als Möglichkeit persönlicher Machtentfaltung benutzt w i r d , erscheint einerseits als Voraussetzung die vollendete Beherrschung des Rollenspiels, der Verstellungskunst, andererseits aber ein hoher Grad von Souveränität des spielenden Subjekts gegenüber der Rolle. Schillers Fiesco, eine der letzten großen Gestaltungen des gracianischen Politico i n der Dichtung des 18. Jahrhunderts, besitzt diese Souveränität. Er ist imstande, sich i m politisch zweckmäßigen Augenblick von seiner Rolle zu trennen 1 4 . Das gilt auch für die von H . M a n n beschriebenen Gestalten aus Laclos' Roman. Nach seiner Meinung ist dann das 19. Jahrhundert nicht mehr imstande gewesen, diesen Menschentyp zu gestalten. Er trete etwa bei Musset wieder auf. Aber er sei v o m Gewissen angekränkelt 1 5 . Auch Napoleon sei von der U m w e l t zu seiner Rolle gezwungen worden 1 6 . 13

A.a.O. S. 132. H . O . Burger , Dasein heißt eine Rolle spielen, München 1963, S. 82, F. C. Scheibe, Schöpfer u n d Geschöpf in Schillers Frühwerk, G R M X L V I I (1966), S. 124 ff. 15 Akademieausgabe Bd. X I , S. 25. 16 A.a.O. S. 134. Z u m K o m ö d i a n t e n t u m bei H . M a n n vgl. auch K . Schröter, a.a.O. S. 103 ff. 14

1 *

212

Friedrich C a r l Scheibe

Bei H . M a n n selbst w i r d dann die Rolle selbständige K r a f t . Sie beherrscht ihren Träger und zwingt ihn zum Kampf, wenn er wie Mario M a l v o l t o seine Souveränität zurückgewinnen w i l l . Bei Alessandro hat die Rolle derart den ganzen Raum seiner Existenz ausgefüllt, daß an eine Loslösung überhaupt nicht mehr zu denken ist. I m 'Untertan' erscheint eine Rolle Heßlings i n jener Neigung, Rhetorik und kaiserliche Repräsentationsgebärde auf der Ebene des Provinziellen nachzuahmen. Ob es genügt, i n diesem Leitmotiv der Heßling-Gestalt allein das M i t t e l der Satire zu sehen, soll untersucht werden. Die i m ersten Kapitel des Romans erzählte Kindheit und Jugend Diederichs ist fast vollständig durch Machterlebnisse ausgefüllt. Figuren des Märchenbuches tauchen i n erschreckender Wirklichkeit plötzlich aus der vertrauten U m w e l t a u f 1 7 (S. 5). Fürchterlicher noch ist der Vater, i n dem sich für Diederich ausschließlich Kontrollgewalt und Strafe verkörpern. Eine andere Begegnungsebene mit ihm gibt es nicht. U n d nicht anders gestaltet sich in Diederichs Bewußtsein das Verhältnis zwischen den Eltern. Gegenüber der Mutter ist der Vater eine A r t oberer Instanz, der sie sich ebenso wie Diederich gelegentlich zu entziehen sucht — und zwar erfolglos (S. 7). Den lieben Gott auf dem Wege des Gebets gegen den Vater auszuspielen, mißlingt (S. 6). Die Mächte dieser Welt, denen sich Diederich ausgeliefert sieht, sind sich offenbar einig. Diederichs W e l t b i l d formt sich i n der Anpassung an diese Gegebenheiten seiner Umwelt. Die Liebe als zwischenmenschliche Begegnungsform, die den Machtfaktor nicht kennt, sondern nur Gleichgestimmtheit und Hingabe, w i r d abqualifiziert zum Sentimentalen (S. 7). M i t dem Zugang zu neuen Lebensbereichen erscheinen gleichzeitig neue Bereiche der Macht. H i n t e r dem Hilfslehrer droht der Oberlehrer, hinter ihm der Direktor (S. 9). Selbst die Macht des Vaters bleibt bei erweiterter Weltkenntnis nicht unberührt, denn er entblößt das H a u p t vor H e r r n Buck, dessen Verhältnis zur Stadt sich Diederich nie anders als ein Machtverhältnis vorstellen kann: »Von der Badeanstalt, v o m Gefängnis, von allem, was öffentlich war, dachte Diederich: >Das gehört dem H e r r n Buckmein Vetter von Klappke< sagte, verbeugten Diederich und H o r n u n g sich m i t den anderen, geschmeichelt wie je.« (S. 32). Delitsch stirbt nicht i m Suff, sondern »auf dem Felde der Ehre« (S. 33). Die Welt des Alkohols und anderer

R o l l e u n d W a h r h e i t i n H e i n r i c h Manns R o m a n ' D e r U n t e r t a n

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korporativer Trivialitäten verklärt sich zur heroischen Landschaft. Diederichs Verwandlungsfähigkeit feiert Triumphe: i n der Instruktionsstunde beim M i l i t ä r vermag er sich m i t solcher Vollendung i n die Situation einer königlichen Audienz zu versetzen, »daß es dem Unteroffizier ein Lächeln des Größenwahns abnötigte« (S. 46). I m Rausch füllt die Rolle dann Diederichs ganzes Wesen aus. K e i n A n ruf von der lästig empfundenen anderen Schicht dringt mehr i n sein Bewußtsein. Wo die K r a f t des Rollenspiels allein nicht dazu ausreicht, h i l f t das Bier nach: »Man schluckte: und da hatte man es schon zu etwas gebracht, fühlte sich auf die Höhen des Lebens befördert und war ein freier Mann, innerlich frei . . . . M a n breitete sich, vom Biertisch her, über die Welt aus, ahnte große Zusammenhänge, w a r d eins m i t dem Weltgeist. Ja, das Bier erhob einen so sehr über das Selbst, daß man Gott fand.« (S. 29) Wie ernst H . M a n n die Entwicklung Diederichs als eine echte Auseinandersetzung zwischen Wahrheit und Rolle nimmt, zeigt der Beginn des zweiten Kapitels. A m Ende des ersten stand die absolute Verkürzung der W i r k lichkeit i n der personalen Konfrontation Diederichs mit dem höchsten Repräsentanten der Macht. Das zweite Kapitel setzt diese Entwicklung nicht fort, sondern sucht einen Neuansatz i m Bereich des Menschlichen, i n der Wiederbegegnung m i t Agnes. Heßling, der am Ende des ersten Kapitels i n grotesker Verfremdung vor dem Kaiser i n einer Pfütze zappelte, steht i m Verlauf des zweiten oft da als ein um künftige Lebensgestaltung ernsthaft ringender Mensch, bei dem sich i n der Krise zwischen Jugend und Erwachsensein fruchtbare Möglichkeiten zeigen. Wie i n Kapitelende und Anfang treten während des zweiten Kapitels Rolle und Wahrheit des Menschen Diederich Heßling ständig zueinander. Es gibt keinen längeren Zeitraum i n dieser Entwicklungsphase, i n der Diederich entweder der Wahrheit seiner Menschlichkeit oder der Unmenschlichkeit seiner Rolle ganz gehören würde. Schon die patriotische Begeisterung der Begegnung m i t dem Kaiser erweist sich als wenig dauerhaft: »Sie waren allein zwischen kahlen Bäumen und nassem altem Laub. W o waren die männlichen Hochgefühle von vorhin? Diederich empfand Beklommenheit . . .« (S. 61). Das Liebeserlebnis m i t Agnes verwandelt ihn v ö l l i g : »>Agnes! Agnes, ich liebe dich Warum Karriere machen und dich abhetzen? W i r könnten es so gut haben.< Diederich sah es ein — nachträglich aber nahm er ihr es übel.« (S. 74) I n diesem Satz haben w i r die ganze Bewußtseinslage Diederichs. Agnes spricht m i t der Stimme der Menschlichkeit, die auch er i n sich immer wieder vernimmt. Insofern stimmt er ihr zu. Aber w i r wissen, wie ärgerlich unbequem er diese Stimme empfindet. Deshalb nimmt er es Agnes übel. Der K a m p f gegen die Stimme der Menschlichkeit ist jetzt K a m p f gegen Agnes. » N u n ließ er sie warten, halb m i t Absicht.« (S. 74) I n immer höhere Grade der Bewußtheit wächst der K a m p f hinein: »Er wehrte sich dagegen vermittels schroffen Auftretens, Betonung seiner männlichen Selbständigkeit und durch Kälte, sobald die Stimmung weich ward.« (S. 80). Oder er betont seine Entfernung von all jenen Lebensbereichen, i n die er m i t Agnes' H i l f e hineinzuwachsen schien. »Noch gestern hab ich meinen Schiller verkauft. Denn ich habe keine Spar-

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ren und laß mir nichts vormachen.« (S. 80) Selbst i n diesem Stadium einer fortgeschrittenen Entwicklung zur Unmenschlichkeit meldet sich noch sein anderes Ich, zeigt sich ihm die unaufgehobene Gespaltenheit seines Wesens, die Rollenhaftigkeit seiner Existenz: »Wenn er nach solchen Worten Agnes' stummen und betrübten Blick auf sich fühlte, hatte er w o h l einen Augenblick die Empfindung, als habe er nicht selbst gesprochen, als gehe er i m Nebel, rede falsch und handle wider Willen. Aber das verging.« (S. 80) Beunruhigt zeigt er sich auch darüber, daß Agnes ihn i n seiner Unwahrhaftigkeit erkannt hat. »>Ich weißdaß du im Herzen ein guter Mensch bist. D u mußt nur manchmal anders tun.< Darüber erschrak er.« (S. 85) Eine letzte »Krise« hat er bei dem Ausflug nach Mittenwalde durchzustehen. Noch einmal entbindet sich i m Erlebnis seiner Liebe Diederichs Menschlichkeit bis zur Aufgabe seiner Lebensrolle. »Diederich fühlte: nun w a r es gut. Er war, m i t Agnes zu leben, nicht edel genug gewesen, nicht gläubig, nicht tapfer genug. Jetzt hatte er sie eingeholt, nun w a r es gut.« (S. 85) Wie schmal die Basis seiner Menschlichkeit ist, zeigt sich an den folgenden Ereignissen. Es bedarf nur eines physischen Anstoßes, d. h. die Schwankung eines aus dem Gleichgewicht gebrachten Bootes überträgt sich buchstäblich auf Diederichs Seelenzustand und die Entscheidung fällt für die Unmenschlichkeit. Über alles, was Agnes ihm war, spricht er das U r t e i l »Das wäre erledigt.« (S. 87) U n d doch kostet ihn der mit erhöhter Energie aufgenommene K a m p f gegen die Menschlichkeit immer noch viel K r a f t . Aber es gelingt ihm, ihren Brief i n die Schublade zu werfen, es gelingt ihm, sie nachts i m Regen stehen zu lassen. A n sich selbst richtet er den A p p e l l : »Mehr Haltung.« (S. 89) Der Gemütsraum der Musik bietet sich als rettendes Asyl für die Menschlichkeit an, die nicht verschwinden w i l l . Nach der Auseinandersetzung m i t Vater Goppel spielt er Schubert (S. 94). Spuren der Menschlichkeit lassen sich bis zum Ende des Kapitels verfolgen. Er braucht eine Rechtfertigung für seine Haltung, die er »schmerzlich« und »tragisches Schicksal« (S. 93 f.) nennt. Er findet sie i n den »harten Zeiten«. Da muß man eben so sein (S. 94). U n d selbst als er sein Äußeres m i t der I m i t a t i o n des Kaiserbartes der inneren Rollenhaftigkeit seines Wesens angepaßt hat, hat sich seine Spaltung nicht aufgehoben: i m Spiegel erscheint er sich selbst verfremdet. Seine Augen erregen ihm Furcht (S. 95). Es wäre das Zeichen für eine geringe Einschätzung der Resistenz des Menschlichen durch Heinrich Mann, erwiese sich i m folgenden größeren Teil des Romans Diederichs aufatmende Feststellung »das wäre erledigt« als wahr. Gewiß finden w i r keine Lebensphase mehr, i n der das Menschliche so wie i n diesem zweiten Kapitel m i t der K r a f t eines echten Spannungspols ihn in eine fruchtbare Krisensituation verwickeln könnte. Aber hin und wieder

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Friedrich C a r l Scheibe

steigt es i n i h m auf, episodenhaft, für einen Moment, aber doch noch behindernd, verwirrend, ihn als etwas Chaotisches entsetzend. So bei seiner ersten Begegnung mit dem alten Buck. Diederich registriert ärgerlich die Faszination, die von dem Altliberalen ausgeht. »So ein alter Schwätzer ist doch bloß eine Vogelscheuche, und m i r imponiert er! >. . . . Werd ich denn ewig so weich bleiben?thrillhinübergeht