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Georg Büchner Jahrbuch 5/1983 In Verbindung mit der ' Georg Büchner Gesellschaft und der Forschungsstelle Georg Büchner - Literatur und Geschichte des Vormärz im Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg herausgegeben von Hubert Gersch, Thomas Michael Mayer und Günter Oesterle

Europäische Verlagsanstalt

Georg Büchner Jahrbuch c/o Institut für Neuere deutsche Literatur der Phiüpps-Universität Marburg Wilhelm-Röpke-Str. 6/A; D-3550 Marburg/Lahn (Tel.: 06421/284541) oder über: Georg Büchner Gesellschaft; Postfach 1530; D-3550 Marburg/Lahn Redaktion dieses Bandes: Thomas Michael Mayer Die Einsendung von Publikationen (Sonderdrucke wenn möglich in 2 Exemplaren) ist freundlich erbeten; von Beiträgen jedoch nur nach vorheriger Absprache und mit üblicher technischer Manuskripteinrichtung sowie mit bibliographischen und Zitat-Auszeichnungen entsprechend dem vorliegenden Band.

Gedruckt mit Unterstützung durch das Kultusministerium des Landes Hessen, die Stadt Marburg und die Stadt Darmstadt

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Georg-Büchner-Jahrbuch / m Verbindung mit d. Georg-Büchner-Ges. u. d. Forschungsstelle Georg Büchner, Literatur u. Geschichte d. Vormärz, im Inst für Neuere Dt. Literatur d. Philipps-Univ. Marburg hrsg. - Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt Erscheint jährl. 3/1983 © 1984 by Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main Motiv: Georg Büchner-Porträt aus: Heinz Fischer: Georg Büchner, Untersuchungen und Marginalien, Bonn: Bouvier Verlag 1972, mit freundlicher Genehmigung des Autors Umschlaggestaltung nach Entwürfen von Rambow, Lienemeyer und van de Sand Produktion: Klaus Langhoff, Friedrichsdorf Satz und Druck: F. L.Wagener GmbH & Co KG, Lemgo Bindung: Großbuchbinderei Bernhard Gehring, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrage, der Rundfunksendung sowie der fotomechanischen Wiedergabe, auch einzelner Teile. Printed in Germany ISBN 3-434-00723-7

Internationales Georg Büchner Symposium Ergebnisse und Perspektiven der Forschung

Darmstadt 25.-2S. Juni 1981

Referate (Teil II)

Veranstalter: Georg Büchner Gesellschaft Marburg in Verbindung mit der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, dem Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft der Technischen Hochschule Darmstadt, dem Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg und der Stadt Darmstadt

Inhalt

Abkürzungen und Siglen

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Wolfgang Promies: Der Hessische Landbote - kontrovers. Anmerkungen zu einer Podiumsdiskussion

11

Fünfte Sitzung: Lenz Hubert Gersch: Georg Büchners Lenz-Entwurf: Textkritik, Edition und Erkenntnisperspektiven. Ein Zwischenbericht Reinhard F. Spieß: Büchners Lenz. Überlegungen zur Textkritik Axel Marquardt: Konterbande Lenz. Zur Redaktion des Erstdrucks durch Karl Gutzkow Richard Thieberger: Lenz lesend Klaus Kanzog: Norminstanz und Normtrauma. Die zentrale Figuren-Konstellation in Georg Büchners Erzählung und George Moorse's Film Lenz. Filmanalyse als komplementäres Verfahren zur Textanalyse

14 26 37 43

76

Sechste Sitzung: Leonce und Lena Jost Hermand: Der Streit um Leonce und Lena 98 Ludwig Völker: Die Sprache der Melancholie in Büchners Leonce und Lena 118 Hans-Joachim Ruckhäberle: Leonce und Lena. Zu Automat und Utopie 138 Siebente Sitzung: Woyzeck Wolfgang Wittkowski: Stufenstruktur und Transzendenz in Büchners Woyzeck und Grillparzers Novelle Der arme Spielmann Ingrid und Günter Oesterle: »Zwei schöpferische Momente« Ingrid Oesterle: Verbale Präsenz und poetische Rücknahme des literarischen Schauers. Nachweise zur ästhetischen Vermitteltheit des Fatalismusproblems in Georg Büchners Woyzeck Günter Oesterle: Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur-, philosophic- und geseUschaftsgeschichtliche Konsequenzen der >voie physiok)gique< in Georg Büchners Woyzeck

147 166 168

200

Heinz-Dieter Kittsteiner und Helmut Lethen: Ich-Losigkeit, Entbürgerlichung und Zeiterfahrung. Über die Gleichgültigkeit zur »Geschichte« in Büchners Woyzeck 240 Achte Sitzung: Fragen der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Friedrich Rothe: Georg Büchners »Spätrezeption«. Hauptmann, Wedekind und das Drama der Jahrhundertwende Burghard Dedner: Büchner-Bilder im Jahrzehnt zwischen Wagner-Gedenkjahr und Inflation Jörg Thunecke: Die Rezeption Georg Büchners in Paul Celans Meridian-Rede Hans-Thies Lehmann: Georg Büchner, Heiner Müller, Georges Bataille. Revolution und Masochismus

270 275 298 508

Inhalt der Ersten bis Vierten Sitzung (Georg Büchner Jahrbuch 2/1982)

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Anschriften der Mitarbeiter

333

»Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen«

Abkürzungen und Siglen Beim

= Maurice B. Benn: The Drama of Revolt A Critical Study of Georg Büchner. - Cambridge [u. a.] 1976 [21 79] F = Georg Büchners Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe. Eingel, u. hrsg. von Karl Emil Franzos. - Frankfurt a. M. 1879 GB / = Georg Büchner / . Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1979 [21982] (= Sonderband aus der Reihe text + kritik) GB = Georg Büchner . Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1981 (= Sonderband aus der Reihe text - - kritik) GBJb = Georg Büchner Jahrbuch HA = Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. - Hamburg [dann München] 1967ff. [Hamburger bzw. Hanser-Ausgabe] Hinderer = Walter Hinderer: Büchner Kommentar zum dichterischen Werk. München 1977 HL = Gerhard Schaub: Georg Büchner /Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. - München 1976 (= Reihe Hanser Literatur-Kommentare, Bd. 1) Jancke = Gerhard Jancke: Georg Büchner. Genese und Aktualität seines Werkes. Einführung in das Gesamtwerk. - Kronberg/Ts. 1975 [31979] Knapp = Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. Eine kritische Einführung in die Forschung. - Frankfurt a. M. 1975 Martens = Georg Büchner. Hrsg. von Wolfgang Martens. - Darmstadt 1965 P1973] (= Wege der Forschung, Bd. LIII) H. Mayer = Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. - Frankfurt a. M. 1972 (suhrkamp taschenbuch 58) 7V = Nachgelassene Schriften von Georg Büchner [Hrsg. von Ludwig Büchner]. - Frankfurt a. M. 1850 Nö = Friedrich Noellner: Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig [...].- Darmstadt 1844 SW = Georg Büchners Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Fritz Bergemann. - Leipzig 1922 Vietor = Karl Vietor: Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenschaß. - Bern 1949 WA = Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearb. von Gerhard Schmid. - Leipzig [desgl. Wiesbaden] 1981 (= Manu scripta, Bd. 1) WuB = Georg Büchner: Werke und Briefe. Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann. Kommentiert von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. - München, Wien [desgl. München: dtv] 1980

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Der Hessische Landbote - kontrovers Anmerkungen zu einer Podiumsdiskussion Von Wolfgang Promies (Darmstadt)

Der Gedanke Thomas Michael Mayers war gut: den innigen Umgang mit Büchner einmal wenigstens in den Tagen des Symposiums auf die interessierte Bevölkerung Darmstadts auszudehnen; und er hielt die Verbindung Büchners zu Darmstadt und das Interesse der Darmstädter an Büchner für so lebendig, daß das Audimax als Ort der Podiumsdiskussion gerade ausreichend erschien. Mein Gedanke war, die Art und Weise öffentlich zu diskutieren, wie Büchner dieser Tage auf dem Theater vergegenwärtigt wird. Gewichtige Inszenierungen seiner Stücke, die zugleich riskante Interpretationen oder auch nur anheimelnde Fehldeutungen sind, bieten sich dafür zur Genüge an. Aber um über Aufführungspraktiken sinnvoll diskutieren und die Öffentlichkeit reizen zu können, bedarf es der Anschauung. Das Staatstheater Darmstadt konnte für die Spielzeit und bei Gelegenheit des Symposiums mit Büchner nicht aufwarten - erst für das Frühjahr 84 steht Woyzeck auf dem Programm -, und auswärtige Bühnen wie die Rammerspiele in München forderten für ein Gastspiel Summen, die wahrscheinlich heutzutage nötig und angemessen, aber nichtsdestoweniger unbezahlbar sind. Sollte man es unter diesen Umständen wagen, mit Büchner-Philologen und Theaterpraktikern über »transitorische Kunstwerke« (Lessing) zu debattieren, die der Darmstädter Öffentlichkeit mit Sicherheit nur aus der Zeitung, wenn überhaupt, und nicht aus eigener Anschauung bekannt waren? Ein unsinnliches und darum wenig sinnvolles Unterfangen. Da das, was mich persönlich am stärksten gereizt hätte, nicht zu ermöglichen war - die. Anwendung Büchners auf die Praxis wenigstens des heutigen Theaters -, verfielen wir auf die Idee, den Hessischen Landboten, der in den Beiträgen des Symposiums nur eine Nebenrolle spielte, in den Mittelpunkt einer Podiumsdiskussion zu stellen, an der wir festhalten wollten, weil wir von ihrem Sinn überzeugt waren, ohne zu bedenken, daß das Publikum auch in diesem Fall daran interessiert sein könnte, die Anwendung Büchners auf die Praxis: des heutigen Gelehrten, der herrschenden Gesellschaft, zu erfahren. 11

Die Zusammensetzung des Podiums - Prof. Dr. Eckhart G. Franz (Darmstadt), Prof. Dr. Walter Grab (Tel Aviv), Dr. Hans-Joachim Ruckhäberle (Paris), Dr. Gerhard Schaub (Trier) und Dr. Thomas Michael Mayer (Marburg), eine vielversprechende Mischung aus Germanisten und Historikern also - veranlaßte mich, der ich kein Büchner-Experte, sondern Büchner-liebender Leser und neuere Büchner-Forschung fasziniert und verwirrt verfolgender Philologe bin, folgende Fragen zur Diskussion zu stellen: 1. War Büchner tatsächlich Frühkommunist? 2. Welche Konsequenzen hätte das für den Hessischen Landboten? 3. Welche Konsequenzen hätte der überzeugte Kommunist Büchner für die Interpretation von Dantons Tod? 4. Ist es denkbar, daß sich Büchner als »öffentlicher« Autor so »verstellt« hat, wie er sich in seinen Briefen angeblich »taktisch« verhielt? Umgekehrt gefragt: Warum relativiert die derzeitige Büchner-Forschung gern persönliche Äußerungen (s. Fatalismus-Brief) zugunsten von Zeugenaussagen, die dann doch nur einen »hypothetischen Palimpsest« (Mayer) ermöglichen? 5. Zur Wirkung des Hessischen Landboten: Kann man den Hessischen Landboten aktualisieren, wie es 1964 Enzensberger in bezug auf die Dritte Welt tat, oder gehört die Flugschrift nicht zu den untauglichen Mitteln der Aufklärung und Umwälzung? Gaston Salvatore wenigstens läßt in seinem Büchner-Drama von 1968 den sterbenden Büchner sagen, daß »nicht der Hessische Landbote, die geheimtuerischen Versammlungen, die Schmähschriften gegen den Großherzog [...] die Situation der Bauern verändert [haben]«, sondern »die Arbeit eines Mannes, der in Gießen, ein paar Zimmer weit von uns entfernt, an der Entwicklung von künstlichen büngemitteln gearbeitet hat.« Soweit die Leitfragen. Aber der Diskussionsleiter denkt, und das Podium lenkt - den Ablauf der Gedanken-Gänge, mindestens bis zu dem Zeitpunkt, wo das Publikum, übrigens weniger zahlreich als erhofft und angenommen präsent, ungeduldig in die Debatte einzugreifen verlangt. Es kam eigentlich nur zur Erörterung der ersten und fünften Frage, und so vorhersehbar kontrovers, daß dadurch eher unklar wurde, weshalb der Hessische Landbote 1981 der öffentlichen Rede und Widerrede wert ist. Die irritierenden Entgegnungen auf diese Fragen kamen darum nicht vom Podium selbst, sondern aus dem Publikum, und es waren auch nicht bündige Antworten, sondern sozusagen handfeste Aneignungen Büchners für die konkrete politische Situation: Startbahn West, Berufsverbot, die Beschwörung des Hessischen Ministerpräsidenten von liberalen und demokratischen Traditionen in Deutschland, auch der Vorwurf, daß 12

Deutschlands republikanische Geschichte daran kranke, daß hier nie die Köpfe von Monarchen gerollt seien. Insgesamt wurde das Unbehagen an der rein akademischen, im Historischen verbleibenden Diskussion über einen Autor artikuliert, der ganz offenbar aktuelle Sprengkraft besitzt. Wenn nicht im Plenum und auf dem Podium Ausländer gesessen hätten - ein Germanist aus Frankreich und ein Historiker aus Israel -, so wäre vermutlich völlig verlorengegangen, was in der Bundesrepublik zur Zeit offenbar nur schwerlich diskutierbar ist. Grab drückte es so aus: »Wer nicht weiß, woher er kommt, weiß auch nicht, wohin er geht.« Thieberger wies seinerseits daraufhin, daß er bei seinen zahlreichen Vorträgen über Büchner sowohl in der BRD wie in der DDR in Diskussionen auch nicht ein einziges Mal die Frage gestellt bekommen hätte, warum er Büchner nicht auf den unterbliebenen Mord an Hitler anwende. So endete der Abend mit dem zu erwartenden Ergebnis: die Teilnehmer an der Podiumsdiskussion hatten nichts anderes gewollt, als den politischen Kopf und ästhetischen Einzelgänger Büchner in ein neues Licht zu rücken; die Diskussionsbeiträger aus dem Publikum dagegen hatten sich etwas für die eigene Lebenspraxis erwartet Auch das Schlußwort des Diskussionsleiters konnte dieses Dilemma höchstens thematisieren - Übereinkünfte waren nicht feststellbar.

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Lenz Georg Büchners Lercz-Entwurf: Textkritik, Edition und Erkenntnisperspektiven Ein Zwischenbericht Von Hubert Gersch (Münster)

l Der frisch formulierten Gewißheit: »Die Probleme der Lenz-Forschung sind [...] erschöpfend erörtert worden«1, steht mein Versuch gegenüber, die Diskussion weiterzuführen. Es ist freilich der Versuch eines Neubeginns, ein Versuch, zunächst zu philologischer Grundlegung der Forschung und auf solchem, in der Wissenschaft sonst üblichen Wege dann zu historisch-analytischer Erkenntnis zu kommen - bei einem Werk, das seit der Jahrhundertwende zum Inbegriff voraussetzungslosen >modernen< Erzählens und zum geschichtslosen Identifikationstext geworden ist. Mein Diskussionsbeitrag soll kein wissenschaftskritisches Spruchband sein, auch nicht lediglich Problemstellungen zu Bewußtsein bringen. Vielmehr kann mein Beitrag bereits Resultate geltend machen. Es sind erste Erträge einer langwierigen, weil komplexen Untersuchung zum Lenz, die im Manuskript vorliegen. Sie wurden dank der >Georg Büchner Gesellschaft allen Symposiumsteilnehmern und anderen interessierten Wissenschaftlern in Vervielfältigungen bekannt gemacht: Hubert Gersch: Georg Büchner: Lenz. Textkritik. Editionskritik. Kritische Edition. - Münster 1981, 2 Teile, 117 + 28 S. (Diskussionsvorlage). Die Form, Arbeitsergebnisse und -Perspektiven einer noch nicht zu Ende geführten Untersuchungsfolge vorläufig zu dokumentieren, wurde l So der Ausgangspunkt im Diskussionsbeitrag des selben Tages von Richard Thieberger: Lenz lesend, S. 43 in diesem Band.

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gewählt, um der Einsamkeit von Forschung mit den Kommunikationsmöglichkeiten des Zeitalters der technischen Reproduzierbarkeit zu begegnen. Das meint schlicht eine Suche nach Möglichkeiten, schon vor der festgeschriebenen Veröffentlichung den wissenschaftlichen Dialog zu fördern und zugleich aus ihm produktiven Nutzen für Verbesserung und Weiterarbeit zu gewinnen, wie sich das durch hilfreiche Kritik2 bereits abzeichnet. Ein Nebeneffekt könnte die Vermeidung von Duplizität sein. Die jetzige Gelegenheit zum Referat erlaubt es, eigens auf zwei verschiedene Arbeitszusammenhänge zu sprechen zu kommen. Zunächst kann summarisch aus der Text- und Quellengeschichte berichtet werden. Danach sollen an einem Beispiel aus der Quellenforschung hermeneutische Perspektiven skizziert werden. So könnte sich ansatzweise vielleicht eine Vorstellung davon vermitteln, wo meine Untersuchungen methodologisch angesiedelt sind - nämlich in der Lücke, die vielerorts zwischen Philologie und Hermeneutik entstanden ist und die seit Jahrzehnten nicht nur die Büchnerforschung kennzeichnet.

Wenn die Rede nun auf Büchners Le/iz-Entwurf und dann auf seine Konzeptionsquelle, den Bericht Herr L des Pfarrers Oberlin kommt, dann drängt sich der alte, oft zitierte, selten in seiner Tragweite ermessene Satz auf, daß literarische Werke ihr Schicksal haben. Tatsächlich, die beiden Texte haben von der Entstehung bis in die Überlieferung ein verwickeltes jund merkwürdiges Schicksal. Es ist die Geschichte von versphöllenen Manuskripten und Abschriften, von divergierenden Fassungen und Verwertungen, von Nachdrucken und Bearbeitungen und von nichtauthentischen Ausgaben. Das ganze Durcheinander war bislang philologisch nicht entwirrt, sondern irrtümlich und fahrlässig noch verdunkelt. Doch jetzt, aufgrund der Text- und Überlieferungskritik, kann dfe Geschichte mit einfachen Worten und konzentriert auf das Wichtigste^ nachgezeichnet werden. Zunächst zum Überlieferungsschicksal des Lenz. Als Georg Büchner am 19. Februar 1837 starb, hatte er seinLmz-Projekt nicht vollendet. Er hinterließ Textteile im Entwurfzustand, ein Arbeitsmanuskript, das (wie der sogenannte WoyzecK) wahrscheinlich noch keinen Titel trug. Seine Braut Wilhelmine Jaegle fertigte davon eine Ab2 Für Kritik und Anregung in der Zwischenzeit danke ich v. a. Klaus Ranzog, Herbert Kraft, Axel Marquardt, Wolfgang Martens, Thomas Michael Mayer, Albrecht Schöne, Reinhard F. Spieß. - Vgl. auch die Kritik von Thomas Michael Mayer: Zu einigen neueren Tendenzen der Büchner-Forschung. Ein kritischer Literaturbericht (Teil : Editionen). - In: GB , S. 280f.

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schrift an, die sie im September 1837 an Karl Gutzkow zum Abdruck schickte. Dieser veröffentlichte den Text im Januar 1839 in seiner Hamburger Zeitschrift Telegraph für Deutschland, in acht Fortsetzungspartien und unter dem hinzugefügten Titel Lenz. Eine Reliquie von Georg Büchner* Das Arbeitsmanuskript Büchners und die Abschrift seiner Braut sind spurlos verschollen. Allein der Erstdruck durch Gutzkow überliefert den Text Und von diesem Erstdruck läßt sich bei eingehender textkritischer Untersuchung feststellen, daß er (abgesehen von punktuellen Verderbnissen infolge von Lese- und Abschreibirrtümern) einen Text von sehr hoher Authentizität bietet. Das heißt: Der Erstdruck Gutzkows überliefert den Z/e/iz-Text im wesentlichen so, wie ihn Büchner hinterlassen hat - in einem fortgeschrittenen Entwurfstadium, doch unvollendet, teils skizzenhaft, teils ausformuliert, voller formaler Unregelmäßigkeiten, mit Arbeitslücken unterschiedlicher Art, mit stilistischen und darstellerischen Unfertigkeiten. Die Abschreiberin Wilhelmine Jaegte und der Herausgeber Karl Gutzkow4 haben sich zurückgehalten und an dem Nachlaßwerk fast nichts verändert; ein Glücksfall im vorphilologischen Zeitalter. Anders Ludwig Büchner, ein jüngerer Bruder des Dichters: Als er 1850 die erste Gesamtausgabe, Nachgelassene Schriften von Georg Büchner, herausgab, unternahm er es, allenthalben zu >verbessernwork in progress< für den Leser nachvollziehbar. Man kann sehen, daß Büchners Lenz konzeptartiger ist, als man bislang dachte. Und wenn durch die textkritische Rückbesinnung vieles an Ausdruckssprache zurückgewonnen ist, was durch Fremdbearbeitung verformt war, so kann anderes, in dem bislang ahistorisch ein Vorklang von Impressionismus, Naturalismus und Expressionismus empfunden wurde, sich eher schlicht als Charakteristisches eines unfertigen Textes enthüllen. Die Geschichte um Büchners Lenz-Entwurf ist verquickt mit einer anderen Geschichte. Die will als Vor- und Parallelgeschichte noch nachgetragen sein. Es ist die Text- und Überlieferungsgeschichte des sogenannten Oberlin-Berichts, der Hauptquelle für die Konzeption Büchners. Und wieder enthüllt sich ein verwickeltes und befremdliches LiteraturSchicksal. Bald nach dem 8. Februar 1778 verfaßte Johann Friedrich Oberlin einen Bericht über den zwanzigtägigen Aufenthalt, den soeben der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz bei ihm in Waldersbach im elsässischen Steintal verbracht hatte. Der Aufenthalt war problematisch verlaufen; Oberlin schrieb einen Rechtfertigungsbericht. Der philanthropische Pfarrer legte dar, wie er ganz ahnungslos zum Besuch des Sturm-undDrang-Poeten gekommen war und warum er den wahrscheinlich Geisteskranken wieder hatte fortschaffen müssen. Der Bericht war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Er hatte privaten Charakter, berührte Intimes und Peinliches, benutzte diskrete Abkürzungen, verharrte in Andeutungen für eingeweihte Leser. Er war bestimmt für einen eingrenzbaren Kreis von Freunden und Förderern Oberlins in Straßburg, wo er wohl in Form eines Zirkularschreibens kursierte. Dieses Schreiben ist verschwunden. Doch ein Doppel des Berichts, ein nach Oberlins Diktat verfertigtes und von ihm eigenhändig in ein paar Sachpunkten korrigiertes Schreibermanuskript, verwahrte der Pfarrer selbst zeit seines Lebens. Dieses Manuskript entdeckte nach Oberlins Tod im Jahr 1826 der Nachlaßverwalter Daniel Ehrenfried Stöber. Angesichts der in der Öffentlichkeit unbekannt gebliebenen, aber literaturgeschichtlich wichtigen Mitteilungen ließ er das Manuskript, bevor er es den Erben aushändigte, abschreiben. Eine Abschrift stellte er 1828 Ludwig Tieck zur Verfügung, der sie aber nicht verwertete. Aufgrund einer anderen Abschrift sei zur weiteren Diskussion der Erzählabsätze verwiesen auf den detailliert argumentierenden Symposiumsbeitrag von Reinhard F. Spieß: Büchners Lenz. Überlegungen zur Textkritik, S. 31-35 in diesem Band. 18

veröffentlichte 1831 nun August Stöber, ein Sohn des Manuskriptentdeckers, ein paar Auszüge aus Oberlins Bericht in einem Zeitschriftenartikel, i« Jetzt kommt die Geschichte auf Georg Büchner. Denn der erhielt von seinem Freund August Stöber auch eine Abschrift des Berichts. Sie diente ihm seit dem Frühjahr 1835 als Ronzeptionsvorlage für sein Lenz-Projekt... Doch dann, nach dem Tode Büchners, betrieb August Stöber mit Hilfe einer weiteren Abschrift die Verwertung des Oberlin-Berichts, der ja nun literarhistorisch noch bedeutender geworden war, auf eigene Faust weiter: In zeitlicher Kongruenz und publizistischer Konkurrenz mit der Le/iz-Erstveröffentlichung durch Karl Gutzkow druckte August Stöber im Januar 1839 in seiner Straßburger Zeitschrift Erwinia Oberlins Bericht ab - m drei Fortsetzungsstücken und unter dem selbstformulierten Titel Der Dichter Lenz, im Steinthale.n Ausdrücklich wies er in einer Anmerkung auf den Quellenwert für den Büchnerschen Lenz hin und hob mit der anderen auf den inzwischen etablierten Goethe-Mythos um Friederike Brion ab. Er lieferte mit diesem Druck eine Textfassung des OberlinBerichts, die sich aus Abschreibdefekten, Bearbeitungsversuchen, Stilretuschen, Mißverständnissen und zensierenden Auslassungen zusammensetzt.12 Schließlich publizierte er 1842 den Bericht noch einmal, indem er seine Textfassung aus dem Jahr 1839 jetzt redaktionell, d. h. sprachlich und in der Darbietungsform, bearbeitete und sie ohne Titel einem literarhistorischen Buch einverleibte mit dem irreführenden Zusatz: »Aus Oberlin's Papieren gezogen und ohne Veränderungen abgedruckt«13 Soweit die Überlieferungsgeschichte. Sie weist die zusätzliche Komplikation auf, daß die eigentlichen Bearbeitungszeugnisse, die drei Stöberschen Abschriften von Oberlins nachgelassenem Manuskript, verschollen sind. Doch mit philologischer Methodik kann eine solche Geschichte entwirrt und aufgelöst werden. Was ist auf diesem Feld bisher geleistet worden? Eine von der Philologie abgewandte Wissenschaft hat sich damit begnügt, immer bloß die späteste, textgeschichtlich nahezu irrelevante 10 August Stöber: Der Dichter Lenz. Mittheilungen. - In: Morgenblatt für gebildete Stände 25 (1831), S. 997 bis 998,1001-1003,1007-1008 u. 1039. - Daß dieser Artikel in der Quellendiskussion berücksichtigt werden muß, darauf machte aufmerksam Richard Thieberger: Situation de la Buechner-Forschung. - In: Etudes Germaniques 23 (1968), S. 255-260 u. 405-413, hier S. 406 ff. 11 In: Erwinia. Ein Blatt zur Unterhaltung und Belehrung 1839, S. 6-8,14-16 u. 20-22. - Die bibliographische , Angabe von Hinderer, S. 160, Stöbers Erstdruck in der Zeitschrift Erwinia sei »abgedruckt bei Lehmann« (das heißt in HA, Bd. l, S. 436-482), ist falsch. - Die Textfassung des Stöberschen Erstdrucks wird erst in der für 1984 vorgesehenen Studienausgabe von Büchners Lenz im Reclam Verlag wieder zugänglich gemacht, zusammen mit einer Auswahl aus dem Apparat der Lesarten gegenüber Oberlins Manuskript Herr L...... (vgl. Anm. 15), der Bestandteil der in Arbeit befindlichen historisch-kritischen Ausgabe ist 12 Stöbers Textfassung gelten die derzeitigen Untersuchungen eines Münsteraner Forschungsseminars, deren Veröffentlichung in GBJb 4 (1984) vorgesehen ist 13 August Stöber: Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim. Aus Briefen und gleichzeitigen Quellen; nebst Gedichten undAnderm von Lenz und Göthe. - Basel 1842, S. 11-31, hier S. 31.

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Bearbeitung A. Stöbers von 1842 zu Rate zu ziehen und nachzudrucken als vermeintlich zuverlässiges Dokument für biographische, pathographische und literarhistorische Folgerungen zu J. M. R. Lenz und als angeblich relevanten Vergleichstext für quellenkundliche und editorische Schlüsse zu Büchners Lenz. Zwar hat es noch Versuche gegeben, Oberlins authentisches Manuskript, das D. E. Stöber seinerzeit entdeckt hatte, wiederzufinden. Doch verliefen diese Versuche im Sande, weil sie unverständlicherweise von der falschen Prämisse ausgingen, Oberlins Rechtfertigungsbericht sei ein »Journal intime«, ein Tagebuch, und also nur zum ergebnislosen Blättern in abwegigen, weil tagebuchähnlichen Archivkonvoluten und zur Hoffnung auf »un hasard« geführt haben.14 Erst ein Münsteraner Forschungsseminar, das zielbewußt nach einem eigenständigen Manuskript fahndete, konnte dieses auffinden. Die anschließende kritische und kommentierte Edition liegt seit 1976 vor: J. F. Oberlins Herr L 15 Damit ist das entscheidende, weil authentische Dokument für jene Lebensphase des J. M. R. Lenz gesichert, das zudem Vergleichseinblicke in A. Stöbers Textkürzungen und -Veränderungen ermöglicht, wie sie teilweise in Büchners Lenz-Konzeption eingeflossen sind. Für die Büchner-Forschung, für Quellenkunde und Textkritik, wäre jene verschollene Abschrift des Oberlin-Berichts von grundlegender Bedeutung, die als unmittelbare Vorlage für den Lenz diente. Auf ihren Wortlaut allenfalls könnte sich die in den bisherigen Editionen grassierende Manier der »Emendationen« des Lenz, seiner »Auffüllung« und angeblich »restituierenden Besserung« aufgrund der »Stoffquelle«16, stützen - und nicht auf irgendeinen anderen, textgeschichtlich isoliert genommenen Überlieferungsträger. Denn Büchners Vorlage enthielt nicht mehr den originalen Wortlaut aus Oberlins Manuskript und erreichte noch nicht den Bearbeitungsstand des Stöberschen Drucks von 1839, ganz zu schweigen vom Redaktionszustand im Druck von 1842. Büchners Vorlage enthielt eine textliche Zwischenstufe. Sie ist inzwischen durch philologische Recherchen erschlossen.

14 Vgl. Thieberger: Situation, a.a.O., S. 408. 15 J.-F. Oberlin: Herr L. Edition des bisher unveröffentlichten Manuskripts. Ein Beitrag zur Lenz- und Büchner-Forschung. Hg. v. Hartmut Dedert, Hubert Gersch, Stephan Oswald u. Reinhard F. Spieß. - In: Revue des Langues Kvantes 42 (1976), S. 357-385. 16 Lehmann: Noten, a.a.O., S. 26. - Verfahrensweise und Folgeerscheinungen solcher »rcstituierenden Besserung« konnten inzwischen an einem exemplarischen Fall vorgeführt werden; vgl. Hubert Gersch: Aus Forschung und Leere. Eine Haberpfeife ist eine Verlesung ist eine Habergeise ist eine Schnepfe. - In: GBJb \ (1981), S. 243-249.

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Was bringt das denn? Was kann die philologische Grundlegung leisten? Welche Erkenntnismöglichkeiten liegen überhaupt in Textkritik, Überlieferungsgeschichte, Quellenkunde, Editionskritik usw.? Solchen Fragen ist mit wenigstens vier Argumenten zu begegnen, die auf Exemplarisches aufmerksam machen: - Erstens, es darf an die Selbstverständlichkeit erinnert werden, daß die Sicherung von Texten, die historisch-kritische Edition, zu den ersten Aufgaben unserer Wissenschaft gehört; jede literaturwissenschaftliche Erkenntniskompetenz ist abhängig von der Qualität der Textgrundlage. - Zweitens, die philologische Arbeit läßt die ganze Mischung aus Lieblosigkeit, Dilettantismus und Willkür erkennen, das generelle Problem der Denaturierung, die der Autor Büchner und sein (Euvre in der publizistisch-wissenschaftlichen Behandlung erlitten haben und erleiden: Die Enthistorisierung Büchners, seine Entstellung durch den ständigen Aktualismus der Germanistik, die Versuche seiner Vereinnahmung durch jedwede Zeitströmung und Wissenschaftsmode. - Drittens, kaum ein Detail philologischer Untersuchung steht für sich oder erschöpft sich in sich. Denn die Notwendigkeit zur intensiven editorischen Auseinandersetzung mit den Textphänomenen erzeugt Energie für die hermeneutische Reflexion. Auch für die Reflexion der Details, und im Detail steckt (wenn nicht die Wahrheit, der liebe Gott oder der Teufel) allemal der Ansatz zu Erkenntnis, die beim Blick nur für das Große, Ganze häufig genug im Allgemeinen, Beliebigen sich verläuft - Viertens, philologische Rekonstruktion kann einen hermeneutischen Horizont eröffnen. Sie kann z. B. die literarische Produktion Büchners, seine einzigartige Arbeit aus »reproduktive [r] Phantasie«17 und Vorlagenmaterial, einsehbar machen als traditionsprüfende Schreibmethodik: Seme darstellerische Reflexion von Materialien der Geschichte ist für Büchner selbst, und potentiell auch für den Leser, ein hermeneutisches Verfahren zur Selbstvergewisserung an und in der Geschichte.

Die beiden letzten Punkte sollen hier etwas entfaltet werden. Von Einzelheiten der Quellenkunde ausgehend soll versucht werden, die These von Bftehners literarischer Produktion als darstellerischer Reflexion zu erläutern und wenigstens ein paar Deutungsperspektiven für sein Lenz17 SoGutzkowim Telegraph Jur Deutschland, a.a.O., S. 111.

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Projekt zu skizzieren. Zunächst eine Vorüberlegung.18 Die Gewißheit, daß der Oberlin-Bericht eine Konzeptionsquelle Büchners war, diese Gewißheit war es wohl, die davon abgehalten hat, systematisch nach ganz anderen Quellen und deren Relevanz zu fragen.19 Eine solche Arbeit scheint aber unabdingbar bei einem Autor, der nicht nur ein >großer Nehmer< war, sondern der bei seinen Texten, vom Hessischen Landboten bis zum Woyzecky von Impulsen der Lektüre bestimmt wurde, der seine Inspiration an und gegen Vorlagenmaterialien sich entzünden ließ. So auch beim Lenz. Büchners Erzähl-Projekt ist nicht einfach eine literarische Umsetzung des Oberlin-Berichts, sondern eine umfassend die Tradition reflektierende und transzendierende Umschaffung und Neuschaffung. Das wäre eine Dimension seiner Literarisierung des Falles Lenz: Bewußtsein und Erkenntnis der Zeit Büchners, der >Nach-RunstperiodeVor-Klassik< - kritische und produktive Verständigungen, die bei Büchner vor allem über und gegen Goethes Darstellung des Lenz und der >Genie-Zeit< zustande kommen. Ein wirkungsmächtiger Impuls dafür ist schon in Dichtung und Wahrheit', mit Goethes Alterserinnerungen an Lenz, gegeben. Es dürfte hinlänglich bekannt sein, daß Goethe sein Erinnerungsbild auf Kritik post festum abgestimmt hat (in etwa analog seiner Erinnerungsstrategie im Fall der Brüder Stolberg). Er hat den Jugendgefährten Lenz zur bedenklichen Repräsentationsfigur für »jene deutsche literarische Revolution«21 des Sturm und Drang stilisiert und zur klassizistischen Spiegelung der romantischen Bewegung benutzt. Goethes Interpretationen »dieses merkwürdigen Menschen«, der als »Schelm in der Einbildung« sein phantastisches Wesen trieb und »verschwand«, »ohne im Leben eine Spur zurückzulassen«22, haben aber entscheidende Bedeutung für die Lenz-Rezeption erlangt. Sie müssen als Matrix aller folgenden Lenz-Darstellungen gelesen werden - auch der Erzählung Büchners. Diese steht allerdings in einer dialektischen Beziehung zu der Stilisierung durch Goethe. 18 Methodologische Parallelen läßt u. a. die Woyzeck-Forschung erkennen. Fixiert auf das dokumentarische Quellenmaterial hatte sie bislang die literarischen Reminiszenzen der Woyzeck-Entvrürfe vernachlässigt Jetzt gelang aufgrund neuerer Quellen- und Gestaltungsuntersuchung ein Durchbruch in dem Beitrag von Ingrid Oesterle: Verbale Präsenz und poetische Rücknahme des literarischen Schauers. Nachweise zur ästhetischen Vermüteltheit des Fatalismusproblems in Georg Büchners Woyzeck, S. 168-199 in diesem Band. 19 Die Dürftigkeit der bisherigen Quellenforschung dokumentiert sich bei Hinderer, S. 159-171. 20 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz, Bd. 9 (München 71974) u. Bd. 10 (München 81976). - Hinderer, S. 159-171 (»Entstehung«, »Quellen«, »Ideengeschichtliche und literarische Bezugsorte«, »Erläuterungen« des Lenz), registriert Dichtung und Wahrheit nicht, obwohl doch schon Landau und neuerdings wieder Anz die Quellenbewandtnis angemerkt haben - vgl. Paul Landau: Georg Büchners Leben und Werke. - In: Georg Büchners Gesammelte Schriften, Bd. 1. - Berlin 1909, S. 5 bis 169, hier S. 111 (Teilabdruck in: Martens, S. 16-81, hier S. 38) und Heinrich Anz: »Leiden sei all mein Gewinnst«. Zur Aufnahme und Kritik christlicher Leidenstheologie bei Georg Büchner. - In: Text & Kontext 4 (1976), H. 3, S. 57-72, hier S. 66 f., Anm. 29; überarbeitete Fassung in: GBJb l (1981), S. 160-168, hier S. 163. 21 Goethes Werke, a.a.O., Bd. 9, S. 490. 22 Ebd., Bd. 10, S. 7ff.

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Es ist in der bisherigen Forschung kaum zur Geltung gekommen, daß und wie Büchners Lenz-Projekt sich Impulsen verdankt, die von Goethe ausgehen und auf Goethe zurückkommen: Büchners suggestive Vergegenwärtigung des »unglücklichen Poeten« Lenz23 ist als Antwort auf Goethes Distanzierung von jenem »merkwürdigen Menschen« konzipiert und auch zu lesen - als Reflexion der Vorlage im Medium erzählerischer Gestaltung. Büchner nahm so produktiv wie kritisch auf, was Goethe zwei Jahrzehnte zuvor gleichsam als Darstellungsappell in Sachen Lenz formuliert und damit für sich erledigt hatte: »Vielleicht wird es dereinst möglich, nach diesen Prämissen, seinen Lebensgang, bis zu der Zeit, da er sich in Wahnsinn verlor, auf irgend eine Weise anschaulich zu machen«24. Unter diesem Gesichtswinkel eröffnet sich heute eine historisch-analytische Einsichtsmöglichkeit in die Erzählintention via Quellenkunde und Gestaltungsuntersuchung. Büchner folgt nicht bloß bis in kleinste Details, wie denen der äußeren Erscheinung von Lenz, der Goetheschen Skizze. Sondern er übernimmt - unter anderem Vorzeichen - auch Goethes Grundansatz, die »Eigenheiten« von Lenz in deren Nexus mit der vorrevolutionären »Zeitgesinnung«25 zu bedenken. Siehe z. B. Goethes Schlüsselworte von »Lenzens Verkehrtheit«26 und dem »verkehrtesten Mittel«27 und Büchners Chiffren, daß Lenz »nicht auf dem Kopf gehn konnte«28 und sich bloß amüsierte, »die Häuser auf die Dächer zu stellen«29. Aber Büchner knüpft durchweg an Goethe an, um dessen Intention ins Gegenteil zu überfuhren. Goethe verharrt darin, vom »Charakter« des Lenz »mehr in Resultaten als schildernd« zu sprechen.30 So ist in Dichtung und Wahrheit dann über Lenz auf Vergegenständlichung und Distanzierung hin räsoniert. Dagegen setzt Büchner gerade den Schreibmodus ein, den Goethe im Fall von Lenz für »unmöglich« erklärt hatte. Büchner vergegenwärtigt sich und seinen Lesern nun den Unglücklichen »schildernd« und »darstellend«. Im Zeichen von Betroffenheit und Traditionssuche hat Büchner eine Erzählweise entwickelt, die auf Annäherung und Vergewisserung zielt. Sie korrespondiert mit dem Darstellungsinteresse, das er für seine Dramatik formuliert hat, nämlich »der Geschichte [...] so nahe als möglich zu kommen«, einem Darstellungsinteresse, das »uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt« und uns »in das Leben einer Zeit hinein versetzt«31. Die Erzählweise im Lenz entspricht der dort im Kunstmonolog 23 24 25 26 27 28 29 30 31

HA, Bd. 2, S. 448. Goethes Werke, a.a.O., Bd. 10, S. 10. Ebd., S. 7f. Ebd., Bd. 9, S. 533. Ebd., Bd. 10, S. 8. Büchner: Lenz. Kritische Edition, a.a.O., S. l, Z. 11 f. Ebd., S. 25, Z. 2 f. Goethes Werke, a.a.O., Bd. 10, S. 7. HA, Bd. 2, S. 443.

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eigens reflektierten DarsteUungsprogrammatik: »Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen«32. Aus solcher Gestaltungsopposition zur Prosa des späten Goethe läßt sich die Geschichtlichkeit der miterlebenden, miterleidenden Erzählperspektive im Lenz einsehen. Freilich, Büchners Opposition greift gleichzeitig wieder positiv auf Goethesche Muster zurück. Durch montageähnliches Zitieren verwandelt Büchner der Erfahrungs- und Denkwelt seiner Lenz-Figur eine Reihe von Textelementen aus Dichtung und Wahrheit an, die auf die »deutsche literarische Revolution« des Sturm und Drang, auf das Zeitalter pietistisch-empfindsamer »Selbstquälerei«, das damalige »Abarbeiten in der Selbstbeobachtung«33, auf das Werther-Synarom, auf das Friederiken-Erlebnis usw. verweisen. Mehr noch: Büchner integriert signalhaft Motive, Denkbilder und Sprachfiguren aus dem Werther54, die ihm geschichtlich symptomatisch und bewußtseinstragend scheinen. Man prüfe unter diesem Gesichtspunkt etwa die von G. Baumann anvisierte »Umgestaltung«35 der bekannten, Natur und Gott umarmenden »Wenn-dann«-Periode Werthers in der ausgefeilt ekstatischen »Nur manchmal, wenn«Periode des Lenz56. Bei näherer Untersuchung des dialektischen Goethe-Bezugs im LenzEntwurf wird erkennbar: Intention des Erzählens ist es nicht nur, Lenz - entgegen Goethes ausdrücklicher Abstinenz in Dichtung und Wahrheit - »anschaulich zu machen«37. Vielmehr ist im Medium des zugleich rekonstruierenden und vergegenwärtigenden Erzählens Büchners, das wie seine Dramatik »die Geschichte zum zweiten Mal erschafft«38, welche in Goethes »Prämissen«39 höchst verschlossen liegt, etwas weiteres verfolgt. Büchner will den abgewandten Räsonnements Goethes über den »Un- oder Halbbeschäftigten«40 die nachvollziehbare Darstellung einer katastrophalen >Leidensgeschichte< entgegenhalten, die in intendiertem Vergleich mit den Leiden des jungen Werther zu lesen ist Der hier skizzierte Untersuchungszusammenhang ermöglicht nicht nur Einblicke in Büchners vom Material inspirierte Arbeit der Integration als einen Erkenntnisvorgang im Schreiben (analog zu seinen Entwürfen zum Woyzeck). Die Untersuchung zielt vor allem auf Erkenntnis von Büchners darstellerischer Integration seiner geschichtlichen Refle32 33 34 35 36 37 38 39 40

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Büchner: Lenz. Kritische Edition, a.a.O., S. 11, Z. 5 ff. Goethes Werke, a.a.O., Bd. 10, S. 7. Einige fFmter-Reminiszenzen sind registriert bei Hinderer, S. 158-171. Gerhart Baumann: Georg Büchner: >Lenzverdeckter< Darstellungsweise, nämlich in der traditionserprobten Maskierung durch das Medium des Wahnsinns. Aber das tangiert schon F. Sengles Auffassung: Lenz »als polizeigerechtes Gegenstück zu [Gutzkows] Wally die Zweiflerin«*2. An diesem Punkt muß die Gedankenskizze abgebrochen werden. Doch soll zum Schluß noch versucht werden, einem drohenden Mißverständnis zu begegnen. Zwar setzt sich dieser Untersuchungsansatz zur religiösen Problematik wohl kaum der Gefahr aus, mit Interpretationen verwechselt zu werden, die Büchner zum Pietisten oder ähnlichem machen. Doch droht das Mißverständnis, Theologisches an sich sei das Thema des Lenz. Es muß deshalb noch die zugespitzte Bemerkung erlaubt sein, daß es im ganzen Werke Büchners nicht um Theologie, sondern um Reflexion von Religiosität und Mentalität geht. Ferner der Hinweis auf Evidentes, auf einen Zusammenhang mit dem revolutionären Bewußtsein Büchners43, dem nicht nur »materielles Elend« einen Hebel der Politik bedeutet, sondern auch »religiöser Fanatismus«, den die »große Klasse« besitzt. Wie schreibt Büchner an Gutzkow? »Unsre Zeit braucht Eisen und Brod - und dann ein Kreuz oder sonst so was.«44 Die Laxheit seiner Formulierung ist selbstverständlich adressatenbezogen. Sie belegt keineswegs Gedankenträgheit oder Interesselosigkeit Im Gegenteil, das Offenhalten des Satzes gibt ein Weiterdenken zu erkennen: Was ist das, was als »religiöser Fanatismus« politisch ambivalente Produktivkraft von Geschichte ist? Seine Gedankenarbeit über »ein Kreuz oder sonst so was« wird Büchner dann weiter zu schaffen machen. Sie wird ihn vom LenzEntwurf weg und zum JToyzec/c-Projekt fuhren. 41 So Gutzkow im Telegraph für Deutschland, a.a.O., S. 111. 42 Vgl. Friedrich Sengle: Georg Büchner (1813-1837). In: F. S.: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848, Bd. 5: Die Dichter. - Stuttgart 1980, S. 265 bis 531 u. 1093-1097, hier S. 319ff. 43 Vgl. dazu Thomas Michael Mayer: Büchner und Weidig - Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textoerteüung des »Hessischen Landboten·. - In: GB / , S. 16-298, v. a. S. 219-228. 44 HA, Bd. 2, S. 455.

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Büchners Lenz Überlegungen zur Textkritik Von Reinhard F. Spieß (Münster)

In den Richtlinien für den Deutschunterricht auf der gymnasialen Oberstufe wird Georg Büchners Lenz zur Vermittlung von Einsichten in komplexere Erzählstrukturen empfohlen. Dem Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen schien er sogar geeignet, in den Regelungen zur Aufgabenstellung in der schriftlichen Abiturprüfung im Fach Deutsch1 an ihm modellhaft die Formulierung der Klausuraufgaben zu erläutern. Was läge also näher, als diesen Text, dem allenthalben ein zentraler Stellenwert zugemessen wird, auch im Unterricht zu behandeln? Nun mag es lange her sein, daß der Lehrer, der sich dazu entschließt, im Studium mit Autor und Werk beschäftigt war. Er wendet sich folglich an die für ihn zugängliche Instanz, seinen Buchhändler nämlich, mit der vertrauensvollen Frage: »Entschuldigen Sie, ich möchte mit meinem Kurs Büchners Lenz lesen, haben Sie den da?« Der Angesprochene wird in den meisten Fällen mit einem spontanen »Aber selbstverständlich!« antworten. Da ihm die Art der Frage nun wohlbekannt ist, wird er zwei preiswerte Bändchen aus dem Regal holen und seinem Kunden vorlegend Das eine bietet neben dem Gesuchten noch einen Landboten und ist sehr handlich, das andere kommt anspruchsvoller einher, Werke und Briefe steht da, und unten »Weltliteratur«, über 500 Seiten, nur DM 8,80 viel Buch fürs Geld. DM 1,90 für das kleine Gelbe ist zwar verlockend, doch was steht da gleich auf der ersten Seite des Dickeren? »[...] das gesamte dichterische Werk [...] versammelt [...] nach der heute unübertroffenen historisch-kritischen Ausgabe [...] gründliches Studium der Handschriften und Erstdrucke [...] erstmals wieder eine Büchner-Ausgabe [...], die kommentiert ist und sich auf dem jüngsten Stand der Forschung befindet.« Rückversicherung bezüglich des Preises beim Händler, dem Lehrer fallt die Wahl unerwartet leicht, neun Mark, das ist ver1 Regelungen zur Aufgabenstellung in der schriftlichen AbiturprDJung im Fach Deutsch des Kultusministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 9. Dezember 1976, Aktenzeichen III A 1.36-20/0 Nr. 3314/76. 2 Georg Büchner: Werke und Briefe. Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann. Kommentiert von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler. - München 1980 (~ dtv 2065); und: Georg Büchner: Lenz. Der Hessische Landbote. Mit einem Nachwort von Martin Greiner. - Stuttgart: Reclam 1973. Der Text dieses letzten Bändchens folgt, ohne daß der Umstand in ihm selbst erwähnt wäre, der Werkausgabe Fritz Bergemanns von 1922 (SW).

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tretbar, also: »Ich denke, wir nehmen das hier, können Sie bis nächsten Freitag zweiundzwanzig Exemplare besorgen?« Ach ja, und der Lenz? Man blättert, findet die Seite 69, eine voll bedruckte Seite, oben drüber LENZ, ja, da ist er. Die linke Hand greift unterdessen noch einmal zu dem gelben Heftchen, und dann - Erstaunen: »Da sind ja schon vier Absätze gleich auf der ersten Seite, und hier, in dem anderen, ist alles hintereinandergedruckt, ist das denn richtig so? - Moment mal, und der erste Satz? Hier steht...« - der Runde hält das kleine Gelbe in Händen »Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.< >Jänner< klingt zwar altmodisch, - aber wieso ist denn in dem Dicken >durchs< mit Apostroph geschrieben?« Der Buchhändler weiß Rat: »Da hat der Herausgeber wohl die historische Schreibweise erhalten.« - »Gut, aber meine Großmutter schrieb das Wort, das direkt darunter steht, >TälerTh20. Januar