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Georg Büchner Jahrbuch 4/1984 Für die Georg Büchner Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Büchner - Literatur und Geschichte des Vormärz im Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg herausgegeben von Thomas Michael Mayer in Zusammenarbeit mit Hubert Gersch und Günter Oesterle

Europäische Verlagsanstalt

J&üdjetei

Redaktionsadresse:

t&r Georg Büchner Jahrbuch c/o Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg Wilhelm-Röpke-Str. 6/A; D-3550 Marburg/Lahn (Tel.: 064 21 728 45 41) oder über: Georg Büchner Gesellschaft; Postfach 1530; D-3550 Marburg/Lahn

Die Einsendung von Publikationen (Sonderdrucke wenn möglich in 2 Exemplaren) ist freundlich erbeten; von Beiträgen jedoch nur nach vorheriger Absprache und mit üblicher technischer Manuskripteinrichtung sowie mit bibliographischen und Zitat-Auszeichnungen entsprechend dem vorliegenden Band.

Gedruckt mit Unterstützung durch das Land Hessen, die Stadt Darmstadt und die Stadt Marburg

ClP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Georg-Büchner-Jahrbuch / Für d. Georg-Büchner-Ges. u. d. Forschungsstelle Georg Büchner, Literatur u. Geschichte d. Vormärz, im Inst, für Neuere Dt. Literatur d. Philipps-Univ. Marburg hrsg. - Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt Erscheint jährl. 4/1984 © 1986 by Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main Motiv: »Nein laß mich, so zu deinen Füßen...« Georg Büchner. Von Horst Janssen (1968) Umschlaggestaltung nach Entwürfen von Rambow, Lienemeyer und van de Sand Satz: Computersatz Bonn GmbH, Bonn Druck und Einband: Bercker, Graphischer Betrieb GmbH, Kevelaer Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Obersetzung, des öffentlichen Vertrags, der Rundfunksendung sowie der fotomechanischen Wiedergabe, auch einzelner Teile. Printed in Germany ISBN 3-434-00726-1

Inhalt

Abkürzungen und Siglen Aufsätze Rudi Dutschke: Georg Büchner und Peter-Paul Zahl, oder: Widerstand im Übergang und mittendrin Anmerkungen des Herausgebers: 59 - Abkürzungen und Siglen: 59 Ernst-Ullrich Pinkert: Langer Marsch, aufrechter Gang, Schmerzen verschiedener Art. Editorischer Kommentar zu Rudi Dutschkes Büchner-Zahl-Essay Heinz Wetzel: Das Ruinieren von Systemen in Büchners Leonce und Lena Alfons Glück: Der »ökonomische Tod«: Armut und Arbeit in Georg Büchners Woyzeck Alfons Glück: Militär und Justiz in Georg Büchners Woyzeck Christine Heiß: Die Rezeption von Dantons Tod durch die deutschamerikanische Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert

10

76 154 167 227 248

Debatten Richard Thieberger: Über Hubert Gerschs neue »Studienausgabe« von Büchners Lenz 266 Klaus Kanzog: Faksimilieren, transkribieren, edieren. Grundsätzliches zu Gerhard Schmids Ausgabe des Woyzeck 280 Reinhold Grimm: Woyzecks Hundele und Wetzels alter Hut: Eine (fast überflüssige) Erwiderung 295 Kleinere Beiträge und Glossen Erich Zimmermann: Zur Heirat von Büchners Eltern Erich Zimmermann: Noch einmal: Büchners Geburtshaus Thomas C. Knemeyer: Gießener Zwangskollegs zu Büchners Zeiten oder warum sich die Forschung um Professor Schäfer kümmern sollte Jean-Louis Besson: Ein kleiner Beitrag zu den Dtfwfow-Quellen Nikolaus Dorsch/Jan-Christoph Hauschild: Clarus und Woyzeck. Bilder desHofrats und des Delinquenten

302 305 312 315 317

Rezensionen Maurice B. Benn: The Drama of Revolt, 1976 (Peter Horn) Theo Buck: Wucher mit Büchner. Kritische Anmerkungen zur Büchner-Serie »von Prof. Dr. Gerhard P. Knapp, The University of Utah, Salt Lake City« Gerhard P. Knapp: In den Krümeln gesucht. Eine Replik auf die voranstehenden »diversen Hervorbringungen« Theo Bucks Theo Bück: Zur Replik von Gerhard P. Knapp Thomas Michael Mayer: »Schlußbemerkung« Peter von Becker (Hrsg.): Georg Büchner. Dantons Tod, 1980 (Henry J. Schmidt) Inge Stephan / Hans-Gerd Winter: »Ein vorübergehendes Metor«? 1984 (Michael Kohlenbach) Alwin Binder: Georg Büchner als >Kopfgeburt< für die Jugend (zu Frederik Hetmann: Georg B., 1981)

326 329 337 343 346 353 356 359

Georg Büchner-Literatur 1981-1984 (mit Nachträgen) Zusammengestellt von Bettina Bischoff, Thomas Michael Mayer und Hans Wißkirchen

363

Anschriften der Mitarbeiter

407

Abkürzungen und Siglen Benn F G B I/II GB III GBJb HA Hinderer HL Jancke Knapp Martens H. Mayer N Nö SW Vietor WA WuB

Maurice B. Beim: The Drama of Revolt. A Critical Study of Georg Büchner. - Cambridge [u. a.) 1976 [21979] Georg Büchner's Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe. Eingel, u. hrsg. von Karl Emil Franzos. Frankfurt a. M. 1879 Georg Büchner IIII. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1979 [21982] (= Sonderband aus der Reihe text + kritik) Georg Büchner III. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1981 (= Sonderband aus der Reihe text -l- kritik) Georg Büchner Jahrbuch Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. — Hamburg [dann München] 1967 ff. [Hamburger bzw. Hanser-Ausgabe] Walter Hinderer: Büchner. Kommentar zum dichterischen Werk. — München 1977 Gerhard Schaub: Georg Büchner/Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. — München 1976 (= Reihe Hanser Literatur-Kommentare, Bd. 1) Gerhard Jancke: Georg Büchner. Genese und Aktualität seines Werkes. Einführung in das Gesamtwerk. - Kronberg/Ts. 1975 [31979] Gerhard P. Knapp: Georg Büchner: Eine kritische Einführung in die Forschung. - Frankfurt a. M. 1975 Georg Büchner. Hrsg. von Wolf gang Martens. - Darmstadt 1965 [31973] (= Wege der Forschung, Bd. LIII) Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. — Frankfurt a. M. 1972 (suhrkamp taschenbuch 58) Nachgelassene Schriften von Georg Büchner [Hrsg. von Ludwig Büchner]. Frankfurt a. M. 1850 Friedrich Noellner: Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverrats eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig [...]. - Darmstadt 1844 Georg Büchners Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Fritz Bergemann. — Leipzig 1922 Karl Victor: Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft. - Bern 1949 Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearb. von Gerhard Schmid. - Leipzig [desgl. Wiesbaden] 1981 (= Manu scripta, Bd. 1) Georg Büchner: Werke und Briefe. Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann. Kommentiert von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. - München, Wien [desgl. München: dtv] 1980

AUFSÄTZE

Georg Büchner und Peter-Paul Zahl, oder: Widerstand im Übergang und mittendrin Von Rudi Dutschke f (Aarhus)*

[Inhaltsverzeichnis] 1. Vorbemerkung als Erinnerung'11

11

2.

Übergang zwischen Feudalismus und Kapitalismus?

13

a) b) c) d) e)

13 19 23 26

Was berührte Büchner bei der Verteidigung von Katos Selbstmord? Straßburger Wendung durch die Fortführung des Blicks nach Hessen Die Qual, nach Deutschland zurückzukehren Der politische Aktivismus des Verliebten und Verdammten »Friede den Hütten, Krieg den Palästen« — oder: die frühmaterialistische und spätidealistische Agitation in der Noch-Nicht-Zeit Zwischenbemerkung: über Kontinuität und Bruch bei Büchner und Weerth

33

Der zu 15 Jahren Gefängnis Verdammte und seit Anfang der 60er Jahre seinen »aufrechten Gang« erlernende, bewahrende und nie aufgebende Peter-Paul Zahl

35

f) 3.

29

* Die Veröffentlichung des letzten Manuskripts von Rudi Dutschke erfolgt mit Genehmigung von Gretchen Dutschke-Klotz, die mir den Nachlaß zugänglich machte und so ermöglichte, daß die Entstehung und Entwicklung des Essays im Editorischen Kommentar anhand von Dutschkes Exzerpten und Entwürfen rekonstruiert und dokumentiert werden konnte. Der zweite Teil des Essays erschien 1980 in dänischer Übersetzung in der im Kopenhagener Informations-Verlag veröffentlichten Peter-Paul-Zahl-Anthologie Kontrabande. Vier Wochen vor seinem Tod schickte Dutschke seinen Artikel (Fassung C2, ohne Anmerkungen) an die Herausgeber des Bandes, Doris Teller und mich. Der deutschsprachige Originaltext erscheint hier nach der von Dutschke unmittelbar vor seinem Tode überarbeiteten und mit (fragmentarischen) Anmerkungen versehenen letzten Fassung £ erstmals in voller Länge. Zu den Abkürzungen und Siglen vgl. unten S. 59-62. Da der Artikel trotz Dutschkes letzter Überarbeitung sprachlich in mancher Hinsicht unzulänglich ist, wurden redaktionelle Eingriffe notwendig (vgl. dazu den Editorischen Kommentar). Die Eingriffe des Herausgebers sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. Die hochgestellten Ziffern verweisen auf Dutschkes eigene Anmerkungen (Fußnoten), die hochgestellten Ziffern in eckigen Klammern bezeichnen die dem Aufsatz folgenden Anmerkungen des Herausgebers. Kursive Zahlen in kursiven eckigen Klammern in der Zeile machen die Originalpaginierung in der letzten Fassung E kenntlich. Ernst-Ullrich Pinkert

10

a) b) c) d) 4.

Ausgangspunkt und Vergleich Kenntlichwerdung und Niederlage Gemeinsamkeit und Differenz in der Frage der Liebe Schüsse und Schüsse

Die tiefe Nähe zwischen der »Sonne Unzucht« bei Büchner und dem a n t i a u t o r i t ä r e n Selbstverständnis bei Zahl a) b) c)

Wie über die »Sonne Unzucht« die Leere der Zwischenzeit angeknackt wird Arbeit und Müßiggang bei Zahl kurz vor dem vollen Niedergang der ersten APO Ist nicht Müßiggang (und Selbsttätigkeit) der Anfang aller Muße, Freiwerdung, Lust und Widerstand?

35 39 42 46

50 50

53 54

Nachbemerkung über »Gefängnis-Besuche«!2!

5.

[2]

1. V o r b e m e r k u n g als E r i n n e r u n g

In der Oberschule von Luckenwalde (DDR) hörte ich zuerst und mehrmals von jenem Schriftsteller, der so extrem kurz lebte und Langwirkendes hinterlassen habe. Etwas, was von Generation zu Generation, wenn es produktiv verarbeitet werde, eine äußerste Aktualität aufweise. Von den Büchnerschen Schriften verschiedenster Art bekamen wir allerdings in unserer Schule nichts in die Hand. Erwähnt wurde allein der Hessische Landbote. Der Kampf des »Demokraten« gegen die »Reichen und Feudalherren« blieb für lange Zeit mein unvermitteltes, verkürztes und dennoch nicht unwichtiges Grundwissen über deutschen Widerstand im autoritären und zersplitterten Deutschland jener Zeit. Ohne im geringsten die W u r z e l n der Negation von Demokratie in der DDR und des bürgerlichen Scheins in der BRD zu durchschauen. Ob es Peter-Paul Zahl in Feldberg (DDR) g a n z a n d e r s ergangen wäre, »wenn« er nicht mit seinen Eltern aus Gründen der aufregenden und bedrükkenden Ereignisse des 17. Juni 1953 die DDR verlassen »hätte«, ist zu bezweifeln. Danton's Tod u. a. m. ist jahrzehntelang dort nicht aufgeführt worden. Allerdings war Zahl als Sohn einer Familie mit langjährige[m] Kinderbuch[verlag] wahrscheinlich der Welt der Bücher recht früh nahe. Dennoch wird er ihn wie ich erst im »Westen« beim Studium von WiderstandsLiteratur echt wahrgenommen und kennengelernt haben. Wann genau der heutige politische Gefangene u n d Schriftsteller in seinem bundesrepublikanischen Proletarisierungsprozeß oder davor i[m Gymnasium bis zur Mittleren ReifeGlücksmänner< herumzurennen s. Kursbuch. 4 S. MEW, Bd ... Marx/En[gels] - Lafargue [vgl. Hg/Anm. 145].

13

werfen zu sein, mußte beim ersten Büchner-Kind, Georg, Angst, Verzweiflung und Wut bzw. extremen Mut erzeugen. Georg Büchners erste Gedichte^ um 1828 kennen besonders die »Nacht«, das »düstre Nachtgewölke« und den »Schiffsuntergang«. Alles StimmungsSkizzen des jungen Dichters, wo der hoffnungsorientierte T r a u m vom undurchschauten C h a o s überschattet ist. Eine derartige Chaos-Stimmung, wo Tod und Leben eine verworrene Einheit in einem nicht unproblematischen Spannungsverhältnis bilden, begleitet die unmittelbare und die verdichtete Geschichte Büchners in vieler Hinsicht. In ganz mannigfaltigen Variationen wird diese Linie, so meine These, durchgehalten und gleichzeitig von ihm daran immer wieder gearbeitet, um sich davon zu emanzipieren. Wie ist die Lage eines jungen Gymnasiasten im Jahre 1830 im allgemeinen einzuschätzen, und was bedeutete die Büchner-Rede für den Selbstmord von Kato im alten Rom im Vergleich zu der Schelling-Rede am Ende des Jahres 1830 in der Aula Academica der Universität München? Beide Reden (Büchners vom 29. 9. und Schellings vom 29.12. 1830)5 müssen zweifellos im Zusammenhang mit der französischen Juli-Revolution und den monatelangen Unruhen und Protestwellen an den deutschen Universitäten gesehen werden. Diese deutsche Richtung, nicht mehr nur über andere Revolutionen oder Revolten zu schreiben und inaktiv zuzuschauen, gehört ja durchaus zur Erbschaft des antiautoritären Widerstandes in der autoritären deutschen Geschichte. Im antiautoritären Vortrag von Büchner und dem anti-rebellischen von Schelling spiegelt sich meiner Meinung nach lehrstückhaft das gesellschaftliche Z w i s c h e n w e t t e r jener Zeit wider. Das Recht auf S e l b s t m o r d , sich durch nichts daran hindern zu lassen, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt, ist der Grundkern des anti-autoritären Gehalts jener Rede. Die Schranken des rebellischen Ansatzes zeigen sich jedoch bereits darin, daß der Geschichtsprozeß beim Gymnasiasten sich als die Tätigkeit von »Riesen«, »großen Männern«, nicht als Kampf von Klassen und Massen vollzieht. Darum interessieren ihn nicht die »Ereignisse und ihre Wirkungen]«, »wie sie ä u ß e r l i c h sich darstellen«, sondern »ihren i n n e r e n t i e f e n Sinn«f10l will er herausfinden. Gibt er damit nicht Entscheidendes auf? [S] Nein, man würde es sich [mit dieser Annahme] zu einfach machen. Allein die radikale Auseinandersetzung mit dem christlichen Moral-Begriff verweist früh auf einen E x i s t e n t i a l i s m u s des W i d e r s t a n d s , nicht auf einen der Integration und Verinnerlichung a la Kierkegaard6. Der dänische Philosoph und Ideologe drückte die herrschende Tendenz der Zeit am deutlichsten aus, und g e g e n jenen Strom kämpft Büchner immer wieder an. Dem herkömmlichen Vorwurf an Kato (Cato von Utika), 5 S. Ausgabe ... (gelbe) ... 6 S. die interessante Arbeit von [Gustav Beckers] aus dem Jahre 19(61]. Indem er Büchner und Kierkegaard immer wieder versucht zu identifizieren und die Differenz nicht ableitet, bleibt er hinter V[ietor] zurück. [Vgl. Beckers und Hg/Antn. 143.]

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er habe sich nicht als fähig erwiesen, »Republikaner« u n d »Diener« im Staate zu werden, trat Büchner radikal entgegen: die Ablehnung der Doppelrolle nach (bzw. vor) dem Sieg des Tyrannen Cäsar u n d der Selbstmord sind Ausdruck von Charakterstärke und nicht Charakterschwäche, sind die letzte Konsequenz und Möglichkeit. Nachdem Kato in den Bürgern »Sklavenseelen« f 11 J, nicht mehr nach Freiheit lechzende und kämpf ende Mit-Bürger vorgefunden hatte, und alle Agitation wirkungslos blieb, gab es für den »Römer« keinen anderen Weg mehr. Warum hätte sich denn der römische Stoiker, fragt Büchner, irgendwie »schicken« sollen? Und er fährt fort: »Daß aber dieses Schicken in alle Umstände eine Vollkommenheit sei, kann ich nicht einsehen, denn ich glaube, daß das das große Erbteil des Mannes sei, n u r e i n e Rolle spielen, nur in e i n e r Gestalt sich zeigen, nur in das, was er als wahr und recht erkannt hat, sich fügen zu können«f12!. Die Echtheit des Charakters und die Bestimmung der Verunmöglichung der Erniedrigung zur Charakter m a s k e wird da bereits am schärfsten durchreflektiert. Der Konflikt mit den herrschenden Ideologen wurde unvermeidlich. Das Plädoyer des jungen Widerstandskämpfers für »Freiheit« und für »Republik«, mitbeeinflußt vom französischen Revolutionswind, mußte von den berühmten deutschen Professoren ganz anders gesehen werden. Über Büchners Rede konnte das lokale Gymnasium hinweggehen, über die französische Revolution vom Juli des gleichen Jahres aber niemand. Professor Niebuhr z. B. erblickte infolge der revolutionären Ereignisse auch »Rom«, doch ganz anders: »Jetzt blicken wir vor uns in eine, wenn Gott nicht wunderbar hilft, bevorstehende Zerstörung, wie die römische Welt sie um die Mitte des dritten Jahrhunderts erfuhr: auf Vernichtung des Wohlstandes, der Freiheit, der Bildung, der Wissenschaft«^3^ Die Ängste der herrschenden Klasse konnten nicht besser zusammengefaßt werden! In der Rede von Schelling an der Münchener Universität am Ende des gleichen Jahres stoßen wir direkter auf die Interessen der noch schwachen Bourgeoisie. In München, der »Stadt der Finsterlinge« (A. v. Feuerbach), herrschte ja nicht immer die Finsternis. Studenten, Handwerker u. a. m. machteir Ende 1830 die Stadt wochenlang extrem hellf, es war zu] schweren Konflikte[n] zwischen Armee und »Krawall-Machern«7 [gekommen]. Schelling hatte sich nun aus eigenen und fremden Zielen bzw. Interessen die Aufgabe gestellt, »Ruhe und Ordnung« in Zusammenarbeit mit den Herrschenden wiederherzustellen, [6] philosophengemäß (oder ungemäß) daran mitzuhelfen. Von aufklärender Philosophie in der Tradition von Kant bis Hegel war da nichts mehr zu verspüren, die Brechung von Widerstand stand allein zur Debatte: »Wenn Auflehnung gegen die rechtmäßig eingesetzte Gewalt, selbst dann,

7 Krawallmacher ... [Da der Text in £ sprachlich unzugänglich ist, erfolgte die Ergänzung in eckigen Klammern nach dem Wortlaut von C2.]

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wenn diese durch eine offenbare und schreiende Verletzung beschworener Pflichten und Rechte sie hervorruft, stets ein Unglück, da wo keine unwiderstehlich dringende Ursache dazu vorhanden ist, stets ein Verbrechen ist, so wäre sie hier, so wäre sie in Verhältnissen wie die unsrigen außerdem zugleich — Wahnsinn.«^14] Demokratie, Freiheit und Republik gibt es in Schillings autoritärer und rhetorisch geschickter Manipulations-Rede nicht. Aufklärerischer, politischer oder existentieller Klassenwiderstand erscheinen bei ihm als »Unglück«, »Verbrechen« und »Wahnsinn«. Das »Recht« ist für ihn allein das Recht der herrschenden Klasse, und in einer solchen Logik muß jeder Widerstand rechtswidrig sein, kann subversive Philosophie nur noch negiert und bekämpft werden. Autoritär, ohne intellektuelle Argumentation, ging Schelling daran, seine studentischen Rebellen von ihrem aufständischen »Wahnsinn« zu befreien: »Es ist nur dieß, daß Sie diese Eine Nacht alle, wie Sie hier sind, sich ruhig zu Hause halten, daß die, welche mich gehört haben, alles thun, um auch die, welche mich nicht gehört haben, zu diesem Entschluß zu bewegen ... Jetzt gleich, indem Sie nach Hause gehen, bitte ich Sie, alles Aufsehen zu vermeiden«l15l Er bekam die »Bayerischen Jünglinge« (Schelling)f16J der Münchener Universität an diesem Abend ziemlich rum, bei dem hessischen Gymnasiasten Büchner wäre eine solche Technik nicht mehr erfolgreich gewesen, besonders weil dessen existentieller Widerstand bereits über ein theoretisch-ethisches Fundament verfügte. (Ist Zahls Widerstandsund Lern-Fähigkeit unter den sich zumeist verschärfenden Gefängnis-Bedingungen zwischen 1972 und 1979 anders überhaupt zu verstehen?) In Büchners Kato-Aufsatz war die »Centralsonne«8 seines Lebens bereits bestimmt, in einem gewissen Sinne antizipiert er in seiner ersten Rede bereits ungewollt die spätere Qual: »Den Fall seines Vaterlandes« zu erleben, war für Kato schwer genug, es wäre dennoch ertragbar gewesen, »wenn er ein Asyl für die andre Göttin seines Lebens, für die F r e i h e i t , gefunden hätte«^7!. Der alte »Römer« und »Stoiker« Cato von Utika fand zu seiner Zeit ein Asyl für die »Göttin« der Freiheit nicht, und der junge, seine Unfreiheit im Hessenland immer mehr begreifende Gymnasiast träumt offensichtlich bereits von seinem eigenen Asyl, um nicht den Weg von Kato gehen zu müssen. In dem Kato-Dilemma zu sein, wiederholt Büchner am Ende seiner Rede, [das bedeutete: »Hier] gab es nur e i n e n Ausweg, er war der Selbstmord«.^ [7] Damit stoßen wir am Ende der Frage nach dem, was Büchner bei der Selbstmord-Verteidigung am meisten berührte, erneut auf die Moral- und Ethik-Problematik des weltgeschichtlich zwar aufsteigenden, im Deutschland

8 Allein an diesem eigenartigen Begriff der »Centralsonne« werden bereits die Welten von Büchner und Kierkegaard unterscheidbar. Die Erde im Sonnensystem impliziert Freiheit. ...?! [Vgl. HA II, 29, Z. 3.]

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jener Zeit [aber] steckengebliebenen Bürgertums. Ahnt er nicht in seiner Bejahung des Selbstmords durchaus etwas vom grauenhaften Aufschwung der Bourgeoisie und dem sich festigenden Bündnis der neuen Klasse mit der alten Feudalklasse gegen alle anderen Klassen? Ohne sich der Unvermeidlichkeit des Abstieges der herrschenden Klassen sicher zu sein, ohne [etwas] von einem Bündnis zwischen radikalen Demokraten (citoyen) und aufsteigender Industriearbeiterschaft zu ahnen oder zu träumen! Darum ist die »Gerechtigkeit der Sache, für die man streitet«, schon »etwas Großes und Erhabnes«, aber »das wahre Motiv«, der echte Grund, war (für Büchner und) für Kato »ein höherer«1191. Worin bestand der? Nach Meinung des jungen rebellischen Geistes aus dem Hessenland ist Kato, wie wir vorher einmal in ähnlicher Aussage hörten, »ganz erfüllt von einem unendlichen Gefühle für Vaterland und Freiheit, das sein ganzes Leben durchglühte«^20!. Was ist nun das »höhere«, »unendliche Gefühl«, welches ihn »durchglüht«? Die »Gerechtigkeit« schiebt er nicht einfach weg, sie rangiert aber hinter »Freiheit« und »Vaterland«. Ohne »Vaterland«, wie wir wissen, wäre Kato trotz alledem ausgekommen, aber nicht ohne »Freiheit«. Wie sieht es aber mit dem Büchnerschen Lebens-Begriff9, jener ExistentialKategorie bei ihm, aus? Seine Position macht [Büchner] am klarsten sichtbar bei einer Rezension des Textes von einem anderen Gymnasiasten: »... ich glaube aber, daß das Leben s e l b s t Zweck sey, denn: E n t w i c k l u n g ist der Zweck des Lebens, das Leben selbst ist Entwicklung, also ist das Leben selbst Zweck «10. Ist da nicht der Marxsche Freiheits-Begriff zu hören, jenes Denken über die »menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gibt«11? Die faszinierende Nähe zwischen Büchner und Marx entpuppt sich als Unklarheit, wenn nicht nach dem »Zweck« der Büchnerschen Begriffe von »Leben« gefragt wird, wir uns nicht erinnern der neo-stoischen »Tugenden«. Wir erfahren dann nämlich viel über den zentralen Punkt der » U n s t e r b l i c h k e i t « in seiner Begriffs- und Lebens-Welt: »wenn er an die Erreichung seines Zwecks sein Höchstes, sein Alles setzt«^21!, dann ist ihm nämlich die »Unsterblichkeit« sicher. Das Leben hat als Sinn, Zweck und Ziel nicht ein befreiendes oder befreites gesellschaftliches Da-Sein, sondern die »Unsterblichkeit«. Das »wahre Reich der Freiheit«, welches »erst da« anfängt, »wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit] bestimmt ist, aufhört«^, dieser kr i t i s c h - m a t e r i a l i s t i s c h e F r e i h e i t s s t a n d p u n k t hat mit der i d e a l i s t i s c h e n » U n s t e r b l i c h k e i t « keinerlei (!) [8] Identität. Im Büchnerschen Traum von der »Unsterb-

9 Lebensbegriff— Existenz —, materialistisch] ist es »Kraftentwicklung«..? über Selbsttätigkeit. 10 Büchner [HAU, Z. 32 ff.] 11 Marx: Kapital [Bd. 3, MEW, Bd. 25, S. 828]. 17

lichkeit«, gerade weil er keine christliche Wiedergeburt impliziert, bleibt dennoch ein nicht unwichtiges idealistisches Existenz-Moment des ErdenDaseins übrig. Dennoch ist ihm unvermeidlicherweise die A r b e i t als gesellschaftliche Kategorie und eine wie »Lebens-Zeit« (Marx)f23! fremd. Aus diesem Grunde identifiziert er problemlos »Leben«, »Zweck« und »Tod« (bzw. Selbstmord) und kann alle[s] unter der anzustrebenden »Unsterblichkeit«i24! fassen. Hegels Kritik des Stoizismus, in der Phänomenologie des Geistes am stärksten auf Kant und Schiller gerichtet, muß die stoizistische Seite von Büchner natürlich voll treffen: »nur de[n] Begriff der Freiheit, nicht die lebendige Freiheit selbst«12 kenne diese Lehre. Und Hegel fährt fort: auf die Frage »nach dem I n h a l t e des G e d a n k e n s s e l b s t « , dem » K r i t e r i um der Wahrheit überhaupt« kenne diese Denkrichtung »die allgemeinen Worte von dem Wahren und Guten, der Weisheit und der Tugend«, mehr aber nicht. »Verlegenheit«, Stehenbleiben und »Langeweile« breiten sich aus, gerade weil diese Stoiker »in der Tat zu keiner Ausbreitung des Inhalts kommen können« I25l Wie weit in einem existentialistischen Anpassungsoder Widerstands-Denken ein Mangel an logischen und dialektischen DenkFormen der Geschichtsverarbeitung unüberwindbar ist, wird uns weiter zu beschäftigen haben. Stehen geistesgeschichtlich und ideologisch Schiller und Fichte hinter Büchner? Auf diese Frage muß ich so kurz wie möglich antworten. Die KatoRede klingt (!) in der Rhetorik (!) danach, der neue Ton eines existentialistischen Widerstands, die Bejahung des »Selbstmords« verweisen aber vielmehr auf das W e r d e n des e i g e n e n G a n g s des jungen Rebellen. Gegen einen echten Einfluß von Fichte spricht z. B., daß es eine Kategorie der »Sünde«, von Fichtes »Zeitalter der völligen Sündhaftigkeit«i25*! nicht zu trennen, bei Büchner von Beginn an in seinem Denken nicht gibt. Deswegen ist u. a. für ihn sogar ein »Selbstmord« keine »Sünde«. Für die These des »eigenen Gangs« spricht die äußerst interessante Arbeit über den Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer13, eine Hymne auf den Kampf »für Rechte und Menschenfreiheit «i26! eines zur Niederlage verurteilten Widerstands. Die Hoffnungslosigkeit der Lage und die Entschlossenheit, dagegen anzukämpfen, um eventuell Hoffnung wieder zu ermöglichen, sind entscheidend in den beiden frühen Schriften von Büchner. Im Plädoyer für das Wagnis, »einzugreifen in den Gang der Weltgeschichte«^7!, wie es in der Kato-Rede heißt, ist die a k t i v i s t i s c h e Seite des Widerstands gegen bestehende Zustände so unüberhörbar wie im Helden-Tod der vierhundert Pforz· heimer.

12 Hegel: Phä[nomenologie des Geistes. - Frankfurt/M. 41980, S. 158]. 13 Mayers Interpretation vom »Helden-Tod der Pforzheimer« [vgl. Hans Mayer, S. 42 f. - Das Buch befindet sich mit zahlreichen Randbemerkungen und Hervorhebungen in Dutschkes Nachlaß].

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[8a] Die treibende Kraft von Büchner scheint mir darin zu liegen, daß es ihm bereits in der Frühzeit darum geht, »den Menschen zu sehen im Kampfe mit seinem Schicksale«f28l Allein diesen »Zweck« im Blick zu haben und ziellos zu sein, [erscheint] dem Gymnasiasten [als erstrebenswert: ein Mensch wie Kato] »giebt den Widerstand nie auf, er siegt — oder stirbt«I29l Der Schicksais-Begriff14 läßt einen befreienden Sieg oder ein echtes Lernen aus der Niederlage nicht zu. Findet er aus diesem Dilemma einen Ausweg bzw. erscheint ihm irgendwann sein Standpunkt als fragwürdig? Oder unterliegt er der Illusion, seine G e m ü t s - und Widerstands-Stimmung als grundlegend neue Erkenntnis auszugeben? (Bei Peter-Paul Zahl wird uns nachher u. a. interessieren: wohin der Blick des 17jährigen in einer anderen Gesellschaftsformation und spezifischen Etappe gerichtet ist, was aufgezwungene Beendigung de[s Gymnasiums]i3°l und Proletarisierung für ihn bedeuten, welche Konsequenzen sich für ihn in seiner Beziehung zu Studenten für eine bestimmte Zeit ergeben, wie er die soziale Revolte der 60er Jahre wahrgenommen hat und ob er darin »Wahnsinn« (Schelling) oder neuen gesellschaftlichen Lebens-Sinn für sich und andere entdeckte. Warum er in der Frage des Selbstmords mit dem Standpunkt von Büchner existentiell übereinstimmt und dennoch als antiautoritärer Sozialist nicht bereit ist, dem politischen Gegner ein leichtes Spiel zu gestatten, muß uns unbedingt beschäftigen.) [9]

b) S t r a ß b u r g e r W e n d u n g e n d u r c h F o r t s e t z u n g d e s B l i c k s n a c h Hessen

Gab es für Kato, wie wir hörten, keinen anderen Ausweg als den des »Selbstmords«, so war es dem Gymnasiasten aus dem Hessenland nach dem Abschluß möglich, in sein erstes »Asyl« zu gehen und dort die »Göttin« der »Freiheit« bei sich zu haben und sie zu genießen. Sogar unaufgezwungen vollzog sich für die jungen Studenten der Weg ins Ausland: denn die »großherzogliche Regierung« gestattete den Studenten, vier Semester außerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs zu studieren. Da Georg Büchner sich bereits am Ende der Schulzeit unter schwerem innerlichen Druck befand, was bei den Zuständen nicht verwunderlich war, waren die Eltern über seinen Abzug nach Straßburg erleichtert, schließlich stand dort allein das Medizin-Studium zur Debatte. Vor einer Beeinflussung durch die Juli-Revolution und die französischen revolutionären Strömungen hatten die Eltern offensichtlich viel weniger Angst als vor den Resultaten der innerdeutschen Repression auf ihren Sohn. Die »Freiheit« in Straßburg zu genießen, ließ andere Möglichkeiten in verschiedenster Hinsicht offenwerden. Wie sah es nun mit den Resultaten der Juli-Revolution aus und wie kam 14 Schicksalsbegriff, Nähe zu Kierkegaard hier am ehesten?

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der junge deutsche Student in Straßburg damit zurecht? Meine andere Frage heißt: was an Neo-Stoizismus und existehtialistischem Widerstahdsdenken blieb erhalten bzw. wurde neu weitergeschleppt auf höherer Ebene oder gar qualitativ aufgehoben? Unerläßlich muß weiter die Grundfrage aufgeworfen werden: was fand der junge Ausländer objektiv in der Grenz-Stadt vor und wie wirkte die neue Umgebung auf ihn? Hans Mayer weist in seiner Büchner-Studie sehr eindrucksvoll auf die besondere Lage dieser Zwischen-Stadt hin, auf die spezifischen Schwierigkeiten, die sich über den widersprüchlichen Grenzverkehr der Waren für die arme Bevölkerung ergaben. Nicht umsonst wäre es schließlich zum sogenannten »Rinderkrieg«15 im September 1831 gekommen. Mit Sicherheit hat Büchner davon gehört, und der berühmte Lyoner Aufstand vom OktoberNovember 1831 kann ihm nicht entgangen sein, wie es [auch] richtig ist, anzunehmen, daß die Tätigkeit der »Gesellschaft [der] Menschenrechte« (Societe des Droits de PHomme et du Citoyen) und der »Gesellschaft der Volksfreunde« (Amis du Peuple) ihm irgendwie im Verlauf der fast zwei Jahre Studienzeit bekannt wurde. Die Frage muß jedoch scharf gestellt werden: vollzog sich in der Straßburger Zeit »Büchners Schulung als Revolutionär« (G. P. Knapp) ?i31! Von Karl Victor bis zu Hans Mayer, von Gerhard P. Knapp bis zu Thomas Michael Mayer hat bisher niemand behauptet oder gar bewiesen, daß sich Büchner in seiner Straßburg-Zeit auf einer f r a n z ö s i s c h e n Veranstaltung von »Verschwörergruppen« befunden habe. Welche illegale Organisation würde denn so einfach einen ausländischen Studenten aufnehmen? Werfen wir eine weitere Frage auf: hat Büchner überhaupt mit den d e u t s c h e n politischen Flüchtlingen in Straßburg16 einen gewissen, intensiven oder gar keinen Kontakt gehabt? [10] Mit wem traf er in dieser Periode am meisten und regelmäßig zusammen? [Ich] meine nicht die Medizin-Studenten, sondern die Zeit-Genossen und Zeit-Genossinnen, die ihn besonders berührten und neue Beziehungen, Frauen und Männer mit sich brachten. Th. M. Mayer hat die Verbindung zwischen Büchner und d e u t s c h e n Verbindungsmitgliedern (»Eugenia«) vom November 1831 bis Juli 1832 nachgewiesen17, von Verbindungen mit den französischen »Verschwörern« ist da keine Rede. Ganz sicher konnte es zwischen einem Verteidiger des »Selbstmords« und deutschen Burschenschaftlern, auch wenn die vor 1848 durchaus nicht nur zur reaktionären Front gehörten, keine volle Gemeinsamkeit des Denkens geben. Der innere Klärungsprozeß über die politische Lage in Deutschland erfolgt insofern für Büchner in einer isolierten Ghetto-Situation, er kommuniziert und diskutiert

15 S. Hans Mayer [vgl. Hans Mayer, S. 62]. 16 S. Flüchdinge in Straßburg ... 17 S. Th. M. Mayer [vgl. GB I/II, S. 365-367]. 20

primär mit deutschen Burschenschaftlern, aus Deutschland stammenden Theologen usw. Beim Lesen der zugänglichen Büchner-Briefe18 fiel mir sofort die Beschränktheit seiner Bezogenheit [auf die] französischen Klassenkämpfe [und] die sich daraus ergebende mangelnde Information [auf]. Der Student in den ersten Semestern betastete die echt an der Oberfläche, hin und wieder die Straßburger Straßen berührend und sich an einigen Demonstrationen beteilig[end], er roch und spürte da über die Tendenz der damaligen Zeit nicht wenig. Die Stärke und die grundlegenden Schranken eines existentialistischen Widerstandsbewußtseins tauchen in den ersten Briefen aus Straßburg an die Familie in »Deutschland« sofort auf. Anläßlich einer Studenten-Demonstration für die polnischen Widerstandskämpfer und ihre Verbündeten, die eine schwere Niederlage gegen die Russen19 hatten einstecken müssen, verweist er mit einer spontanen Vermutung auf den K o m ö d i e n - C h a r a k t e r des menschlichen Da-Seins in der Welt im allgemeinen und im besonderen auf das Theater-Spiel der Herrschenden in Straßburg: »Die Nationalgarde« bestimmte die Szenerie, und zum Schluß »erscheint Ramorino auf dem Balkon, dankt, man ruft Vivat! — und die Comödie ist fertig«l32l Die Kanonen-Auftritte der Herrschenden nicht lange Zeit danach lassen seine existentialistische Kritik aller bestehenden Verhältnisse festigen, machen es ihm aber nicht möglich, darüber hinauszugehen: »Unter meinem Fenster rasseln beständig die Kanonen vorbei. ... Für eine politische Abhandlung habe ich keine Zeit mehr, es wäre auch nicht der Mühe werth, das Ganze ist doch nur eine Comödie. Der König und die Kammern regieren, und das Volk klatscht und bezahlt.«20 (Warum er »Friede den Hütten, Krieg den Palästen« geschrieben hat, wird uns zu beschäftigen haben.) Was war für Georg Büchner in Straßburg k e i n e »Komödie«? Sicherlich wird er sein Medizin-Studium, seine freundschaftliche Beziehung zu den deutschen Theologen und Theologie-Studenten nicht als »Komödie« [11] angesehen haben. Am allerwenigsten wird ihm sein Liebesverhältnis mit Minna Jaegle als eine solche erschienen sein. Viel eher wird eine » Tragödie « ihn i n n e r l i c h bewegt haben, eine, die von der Ausstrahlungskraft und inneren wie äußeren Harmonie der Pfarrerstochter Minna Jaegle gebändigt wurde. Der bedeutendste Büchner-Forscher nach dem 2. Weltkrieg, Karl Victor, des18 Büchner-Briefe [Dutschkes Ausgabe von Büchners Dichtungen (GB/RUB) enthält keine Briefe; er exzerpierte aus HA II, dem Bibliotheksexemplar, das sich im Nachlaß befindet, Teile der Briefe 9,15-19, 21-25, 63. Diese handschriftlichen Exzerpte befinden sich auf den Nachlaß-Seiten Y2, Y3a, Y3b, Y4a, Y13. Wie intensiv Dutschke sich mit den Briefen Büchners auseinandergesetzt hat, belegen nicht nur seine zahlreichen Anstreichungen in HA II, sondern auch in den Briefen bei Seelig und in BWE (vgl. dazu ausfuhrlich im Editorischen Kommentar)]. 19 Russen 20 Büchner ... [Aus dem Brief an die Familie, Straßburg, im Dezember 1831, vgl. HA II, 415, Z. 17 ff.]

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sen Studie mit die Grundlage von Th. M. Mayer u.a. ist, schrieb über dieses Liebesverhältnis: »Bei ihr fand sein gespannter Wille, sein ruhelos nach vorwärts lebender Geist die Ruhe, die ihn vor Erschöpfung und Ungeduld zu bewahren vermochte. >Mein lieb Kind< nennt er sie, die doch drei Jahre älter war«21. Wie stark sie in seinem Denken und Leben ein g e l i e b t e s O b j e k t oder g l e i c h b e r e c h t i g t e s S u b j e k t im L e b e n und in der Liebe war, ist damit nicht beantwortet. Verliebt zu sein, heißt nicht unbedingt, sich auf der Höhe der Zeit zu befinden. E i n e Frau zu lieben, heißt noch lange nicht, das Problem der Frauenemanzipation im allgemeinen Befreiungskampf der Menschheit begriffen zu haben. Ähnliches scheint mir bei Büchner vorzuliegen, und der mannchauvinistische Klang in einem der frühen Briefe aus Straßburgt33! diente mit Sicherheit nicht dazu, die Eltern von seinen sich anbahnenden Liebesbeziehungen und neuen Bedürfnissen abzulenken. Einem Saint-Simonisten auf der Straße sagte er z. B. über deren Versuch — wie Büchner meint —, in Deutschland nun die »femme« zu entdecken, den »Vater« habe man ja mit Saint-Simon: »... er hätte nicht viel an den Weibern, die Weiber aber viel an ihm verloren«, diesem »langhaarigen, bärtigen, jungen Mann«l34L Weder hat Büchner in seiner ersten Universitätsstadt die Saint-Simon-Ausgabe von 1832 gekannt, wo Olinde Rodrigues in [seinen] Herausgeber-Seiten die »einzige Belegstelle für die Frauenemanzipation bei St.-Simon« zitiert und aus »polemischen Gründen groß drucken ließ«, noch kannte er offenbar die viel intensiveren Reflexionen von Fourier über das gleiche Thema: denn der sprach »zuerst aus, daß in einer gegebnen Gesellschaft der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation ist« (F. Engels)i35L Dennoch blieb eine äußerst progressive Tendenz von Büchner unübersehbar, eventuell gerade deswegen, weil er im halben Exil in keinem Augenblick vergaß, was er im Hessenland an Armut gesehen hat[te], und nicht verdrängte, was bei der lokalen bäuerlichen Revolte in Södel und Umgebung geschehn war. »Armut« und die Zerschlagung von Opposition durch die Herrschenden blieb in ihm lebendig, jene Grundvoraussetzung, um eigenen existentialistischen Widerstand nicht untergehen zu lassen. Was der saint-simonistische Agitator auf der Straße über die Vorstellungen von industrieller und agrarischer P r o d u k t i o n den Zuhörern berichtete, interessierte Büchner nicht sonderlich, aber mit einem richtigen Instinkt vermerkt er im Brief darüber ziemlich sarkastisch: der »steckt die Hände in die Taschen und predigt dem Volke die Arbeit ,..«i 36 l Doch mit solch [l l a] einem Blick kann er den Zusammenhang zwischen der »Sturmglocke« des städtischen und ländlichen Proletariats »zu Lyon« und der »Stunde der Vulgärökonomie« des »Owenis2l Minna J[aegle] (Karl Victor) [vgl. Victor, S. 14. - Das Buch befindet sich in Dutschkes Nachlaß; der letzte Satz des Zitats ist dort mit Kugelschreiber hervorgehoben. Zum Thema »Anrede« vgl. auch HA II, 425, Z. 23; 463, Z. 7; 464, Z. 10]. 22

mus, ... Saint-Simonismus und Fourierismus« (K. Marx) nicht wirklich wahrnehmen. Wird er gerade in Deutschland, im Hessenland, in einer solchen Sache große Fortschritte machen können? ([Die Beantwortung der Frage,] wie es bei Zahl mit dem Produktionsbegriff aussieht, wird uns am ehesten ermöglichen, herauszufinden, ob die Kritik der Arbeit bei beiden eine grundsätzlich gleiche ist oder nicht.)^ [12]

[c)] Die Q u a l , n a c h D e u t s c h l a n d z u r ü c k z u k e h r e n

Selbst wenn es bei der französisch-deutschen Geliebten »Ruhe und Harmonie« für Büchner gegeben hat, die deutsche Frage am spezifischen HessenBeispiel quälte ihn dennoch ununterbrochen. Ob in den Burschenschafts-Diskussionen oder in den Briefen an die Familie. Wenige Monate vor seiner Rückkehr nach Deutschland spitzte sich sein Problem zu. Am Beispiel des Aufstandsversuchs der »demokratischen Putschisten« (M. Beer)i38) vom 3. April 1833 in Frankfurt kommt es zu einer erregten Auseinandersetzung in der Büchner-Familie über die R o l l e der G e w a l t und der K a m p f f o r m e n gegen d i e H e r r s c h e n d e n . Im Brief vom 5. April 1833 versucht er, seine grundlegende Anerkennung der positiven Rolle der »Gewalt« in »unserer Zeit« (Büchner) zu erklären, worauf ich später genauer eingehe. Gleichermaßen wird es darum gehen, warum er im »gegenwärtigen Zeitpunkt« jeden revolutionären Bewegungsversuch als ein vergebliches Unternehmen betrachtet und nicht die »Verblendung« derer teilt, die »in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites Volk sehen«!39!. Auf die Frankfurter Vorgänge vom 3. April bereits am 5. April von Straßburg aus intensiv einzugehen, die Darmstädter Familie nach eventuellen Freunden, die am Aufstandsversuch beteiligt waren, zu befragen, verweist auf eine nicht geringe Kenntnis über die Fragestellungen und Diskussionen innerhalb der deutschen Opposition dieser Etappe. Hierbei darf sein Freundeskreis in Hessen niemals vergessen werden, und es muß darauf verwiesen werden, daß Büchner [einige Zeit]^ nach dem H a m b a c h e r Fest vom Mai 1832 mehrere Monate in Hessen bei der Familie und woanders verbracht hat. Er hat sich intensivst informiert über die sich bekämpfenden Fraktionen innerhalb der deutschen Opposition. Insofern wußte er höchstwahrscheinlich von der weniger berühmten Bekker-Rede in Hambach über die V o l k s b e w a f f n u n g viel eher als von der berühmten Verteidigungsrede Blanquis von 1832, [deren Kenntnis] Büchner immer wieder unterstellt wird. In Hambach ging es um »Freiheit und Vaterland«, Grundthemen Büchners von der Cato-Zeit an. Und Becker, [der] zur Handwerker-Fraktion [gehörte], die mit keinem liberalen Oppositionsgehabe einverstanden war, [rief] am Abend des zweiten Tages (28. Mai 1832) einem weiteren Sprecher dieses Kurses entgegen: »Halt endlich's Maul dort drüben mit deinem Legalitätsschmus«. 23

Der Handwerker, dem die Geduld am Ende des zweiten Tages ausgegangen war, der viel erhofft hatte von den »ergrauten Volksfreunde[n]«, den »grundgescheiten Doktoren und Professoren«, war tief enttäuscht .und griff in die Diskussion ein: »Hofft nichts von Fürsten und protestiert nicht mehr, denn hinter den Verfügungen der Regierungen sind Bajonette, hinter unseren Protestationen aber ist nichts. Darum können die Regierungen gehen, soweit sie wollen, und aus uns machen, was sie wollen. Es bleibt klar, daß nur die Waffen der Bürger vor solchem Unheil das Vaterland bewahren, daß nur bewaffnete Bürger kompetente Richter gegen Laune [13] und Willkür sein würden. Die Deutschen sind Sklaven, seitdem der Bürger keine Waffe mehr trägt. Die Waffe war die Zierde des freien Mannes, jetzt tragen sie nur Knechte. Sind wir bewaffnet, so werden die Regierungen nicht mehr so keck sein, gesetzwidrige Verfügungen zu erlassen« J41^ D[ie] Gießener, Marburger, Darmstädter usw., die sich der deutschen Opposition zugehörig fühlten, wußten nach Hambach nur zu gut von den zwei sehr verschiedenen Fraktionen innerhalb des Lagers, und Büchner war mit Sicherheit der Becker-Linie von ganzem Herzen nahe, ohne damit identisch zu sein. Die Sklavenhaltung der Deutschen den herrschenden Institutionen gegenüber war ja für Büchner bereits ein wesentliches Moment der CatoRede, auch der Abreise nach Straßburg. Jetzt, nach der Frankfurter Niederlage, faßt er seine Einschätzung der deutschen Misere exakter zusammen: er teile nicht die »Verblendung« derer, »welche in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites Volk sehen. Diese tolle Meinung führte die Frankfurter Vorfälle herbei, und der Irrthum büßte sich schwer«. Voller Solidarität fügt er hinzu: »Irren ist übrigens keine Sünde, und die deutsche Indifferenz ist wirklich von der Art, daß sie alle Berechnungen zu Schanden macht.«i42! Wie wahr! Diese Kritik deutscher Verhältnisse, die sich wieder in der N ä h e — und doch so weit weg noch - von Marxscher Kritik der deutschen Abläufe befindet, kennt noch keine Klassenkampfdimension, aber erneut einen existentialistischen Widerstand auf einem nun höher gewordenem Niveau: »Man wirft den jungen Leuten den Gebrauch der Gewalt vor. Sind wir denn aber nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, daß wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde. Was nennt Ihr denn gesetzlichen Zustand? Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum frohnenden Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen?«^43! Konnte Büchner zu seiner Zeit schärfer fragen? Er fragte von Straßburg aus, aber durchaus nicht mit einem in Straßburg gewachsenen Denken! Es waren deutsche Anlässe und deutsche Erfahrungen, die seine Fragen und Lernprozesse bestimmten. (Trotz des großen Einflusses der französischen Geliebten und der französischen Einflüsse im allgemeinen.) In diesem Brief vom 5. April 1833 begegnen wir den »unnatürlichen 24

Bedürfnissen« der herrschenden »Minderheit« und alternativ dazu der »gesunden Vernunft« der »großen Masse der Staatsbürger«, die sich [durch] die »Notwendigkeit« des Kampfes von den Herrschenden »Alles« [erzwingen muß. Was ist bei dieser Büchnerschen Begriffswelt auffällig? Die stoischen Reste im Denken, ob nun »gesunde Vernunft« oder »unnatürliche Bedürfnisse«, sind unübersehbar, die Hegeische Kritik daran ist nicht aufgehoben. Dennoch ist die materialistische Geschichtswendung und Massenorien/14/tiertheit im Denken von Büchner unübersehbar, wie abstrakt und undifferenziert sein Begriff von »Volk« immer noch [gewesen] sei. Der i n d i v i d u e l l e existentialistische Widerstand mit seiner Ziellosigkeit ist durchbrochen worden, über die Solidarisierung mit der a r m e n M e h r h e i t im Kampf gegen die r e i c h e M i n d e r h e i t hat sich der Sozial-Rebell ein neues Fundament geschaffen. Je näher er der Rückkehr nach Deutschland kam, um so unverkennbarer wurde sein Dilemma als ein deutsches und persönliches. Der Brief vom Juni 1833 betont zwar [die Absicht,] seine »Grundsätze« des existentialistischen und sozial-rebellischen Widerstands, sich nicht den Herrschenden zu beugen, kein Knecht, Sklave oder Staatsbürokrat zu werden etc., eine materialistische Wendung der Kato-Linie von ihm, aber die Frankfurter Niederlage der deutschen und polnischen Studenten, Handwerker und Offiziere brachte unlösbare Probleme mit sich. Er faßt seine eigene Lage und die bevorstehende unlösbare Aufgabe so zusammen: »daß nur das nothwendige Bedürfniß der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der E i n z e l n e n vergebliches Thorenwerk ist« i44!. Das Herantasten an ein materialistisches Verständnis von Geschichte ist evident, die »Grundsätze« des existentialistischen Widerstandsbewußtseins stehen aber damit in einem Widerspruch. Die Schwierigkeit, mit der dialektischen Methode der Analyse umzugehen, die »SubjektObjekt «-Dialektik zu durchschauen und nicht in einen »Objektivismus« oder »Subjektivismus« abzugleiten, ist der noch nicht durchschaute Hintergrund der Sache. G. P. Knapp hat meiner Ansicht nach völlig unrecht, »ein amüsantes Licht« darin zu entdecken, daß der studierende Halb-Exilant kurz vor der Abreise zurück ins Hessenland in dem zitierten Brief an die Eltern davon spricht, sich »nicht« auf die »Gießener Winkelpolitik und revolutionären Kinderstreiche «i45! einzulassen. Was für einen Sinn hätte es gehabt, die Eltern von Straßburg aus zu täuschen? Ist nicht bekannt, wie b e s t i m m t e Zus t ä n d e einen Menschen zwingen können, den Weg des existentialistischen Widerstands einzuschlagen, auch wenn er damit einen erreichten Erkenntnisgrad und [das] Geschichtsbewußtsein über objektive Abläufe aufgibt? (Finden wir bei Peter-Paul Zahl nicht am Ende der ersten außerparlamentarischen Opposition eine ähnliche Situation vor, trotz des Da-Seins in einer ganz anderen Formationsperiode?) 25

d) Der p o l i t i s c h e A k t i v i s m u s des V e r l i e b t e n und Verdammten Nicht mehr auf die »Meteore« und »Genies« [zu] schauen, die aus »dem Dunkel des menschlichen Elends und Verderbens« herausspringenf46^ sondern das reale soziale Elend des Volkes in den Vordergrund [zu] stellen, verlangte von Büchner ein völlig neues und direktes Verhältnis zur Politik. Nicht mehr von Straßburg aus schreibend, vielmehr direkt mit Hessen konfrontiert zu sein, mußte Veränderungen innerer und äußerer Art mit sich bringen. Wie nahm nun der nach Hause getriebene Student und Oppositionelle die unmittelbare Hessenrealität wahr und wie versuchte er, die zu verarbeiten? [15] Im [August] 1833 kehrte der Medizin-Student nach fast zweijährigem Studium im Ausland in jenes von ihm so gehaßte Großherzogtum Hessen zurück. Sarkastisch witzelt er noch im November über den deutschen Widerstand gegen die bestehende Herrschaftsstruktur: »Die Leute gehen ins Feuer wenn's von einer brennenden Punschbowle kommt!«i47! Seine persönliche Lage und die deprimierenden, zum Widerstand zwingenden Zustände im Lande machten seinen Blick scharf u n d verkürzt: »Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu den Laternen, «i48^ Die spätere Differenz mit dem Demokraten und Pfarrer Weidig scheint mir hier bereits vorprogrammiert zu sein. Büchners neue Lage und Stimmung zwischen Dezember 1833 und März 1834 beschreibt der Betroffene ganz gleich in einem Brief von Gießen aus an die Geliebte in Straßburg und von Straßburg aus an die Familie im Hessenland. Im ersteren heißt es in tiefster innerlicher Verlassenheit: »Seit ich über die Rheinbrücke ging, bin ich wie in mir vernichtet, ein einzelnes Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat; die Seele ist mir genommen. «^ Jeder, der sich der Büchnerschen Gtfo-Rede erinnert, wird die unzweideutige Kontinuität, trotz aller Differenzen, schnellstens konstatieren. Von Straßburg aus trägt die Sprache den gleichen Ton, dieselbe Linie in der Sache: »... ich schämte mich, ein Knecht mit Knechten zu sein, einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden Staatsdiener-Aristokratismus zu Gefallen.«^! Der »Kummer«, die Geliebte nicht bei sich zu sehen und zu fühlen, sein »Widerwille« gegen >die da oben< erzeugten jene »tiefe Schwermut« der Krankheitsmonate, aber schließlich desgleichen die Negation der »tiefen Schwermut«, — das Heranwachsen von neuem Mut und Widerstand. Um noch zu existieren, mußte er den Widerstand über die existentialistische Ebene hinausführen, er mußte beginnen zu organisieren. Persönliche Existenz und politische Organisation sind i n n e r l i c h bei ihm nicht zu trennen von dem Verliebt-Sein, — ohne ä u ß e r l i c h im geringsten direkt miteinander 26

vermittelt, verbunden zu sein. Unter solchen Umständen und unter solchen Voraussetzungen begann sich Büchner in die Lokal-Politik einzumischen. Was er von Straßburg aus ganz anders gesehen hatte, schärfer damals im Allgemeinblick über die deutsche Lage sich äußerte, die Schranken des organisierten Widerstands benannte^51! Wie sehr sein innerliches Gleichgewicht von dem Kontakt mit der Geliebten abhing, zeigen die Februar-März-Briefe und sein Oster-Besuch bei Minna Jaegle in Straßburg. Da ging es niemals um die französischen Verschwörergruppen, weiterhin nicht um die deutschen politischen Flüchtlinge usw., es ging in all diesen Briefen und beim Straßburger Aufenthalt um eine Wärme, Geborgenheit, Ruhe etc., die er woanders [16] nicht finden konnte. Er mußte, so heißt es, »einem unerträglichen Zustande ein Ende ... machen. «1521 Unerträglich war für ihn, o h n e die Geliebte und m i t dem Großherzogtum zu leben. Mir ist nach intensivem Studium der Arbeiten] von Karl Victor, Hans Mayer, Hans Magnus Enzensberger u. a. m. bis hin zu Thomas Michael Mayer und Gerhard P. Knapp nichts einsichtiger geworden bezüglich der so häufig unterstellten »Straßburger Lektionen« oder »Straßburger Lehren« des werdenden Revolutionärs Georg Büchner. Die politische »Komödie« der Herrschenden nach 1830 zu erkennen, war nicht schwer, schließlich waren die meisten [Anhänger] der Revolution von 1830 im Gefängnis oder im Untergrund usw. oder getötet. Da war bei Büchner k e i n e französische Lektion, die der Medizin-Student und Verliebte aus Straßburg mitgebracht hatte, [der] nun als Revolutionär in die Geschichte eingreift. Im Gegenteil, in Gießen und nicht in Straßburg b e g i n n t er mit dem Studium der »Geschichte der Revolution «I53l Unter miserablen deutschen Bedingungen stößt er bei der Vertiefung seines Widerstands zu echteren Widersprüchen vor. In der Gtfo-Rede war der »Eingriff« der »Genies« und »Riesen« in den Ablauf der Geschichte »unerforschlich«, »unabänderlich«^41; in seinem Versuch, die spezifische Revolutionsgeschichte Frankreichs genauer kennenzulernen, stößt er nun bereits auf ein »ehernes Gesetz« in der Geschichte. Ein Gesetz, welches seiner Meinung nach »zu erkennen das Höchste«, [und das] »zu beherrschen unmöglich« sei. Die Wendung im Geschichtsverständnis von Büchner ist beachtenswert. Zwar entdeckter im »ehernen Gesetz« einen »gräßlichen Fatalismus der Geschichte«, sieht in der »Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen«. Dennoch, oder gerade deswegen fällt es ihm »nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte« sich »zu bücken«: »Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser.«t55! Beschränkter deterministischer Materialismus mit existentialistischem Grundtenor des aktiven Widerstands gehen nebeneinander [her]. Ist aber damit das »Gefühl seines Elends«, seine miserable Situation beseitigt? Durchaus nicht. Zwar hat er im März 1834 mit der Organisierung der 27

»Gesellschaft der Menschenrechte« begonnen, sieht aber seinen OsterBesuch bei der Geliebten als seinen »einzigen Trost«. Die persönliche L i e b e zieht ihn nach Straßburg, sein Haß gegen die hessischen Zustände zur illegalen Organisierung des Widerstands. Und mitten in der Etappe des politischen Aktivismus wird seine innerliche Abhängigkeit von der Geliebten immer vollständiger, sogar die Heiratsdiskussion und Entscheidung darüber findet zur gleichen Zeit statt. Über seinen inneren Zustand in dieser Zeit schreibt er ihr: »Will ich etwas Ernstes thun, so komme ich mir vor, wie Larifari in der Komödie; will er das Schwerdt ziehen: so ist's ein Hasenschwanz. «1561 Wieder hören wir von einer »Komödie«, [das] war uns [17] bereits in Straßburg mehrmals begegnet. Und es kommen in diesem MärzBrief die bezeichnenden Worte [vor]: »Ich wollte, ich hätte geschwiegen. Es überfällt mich eine unsägliche Angst. Du schreibst gleich...«J57J Zum Schweigen war keine Möglichkeit mehr, die ihm »Angst« bereitende politische » K o m ö d i e « im » g r ä ß l i c h e n F a t a l i s m u s « der deutschen Geschichte hatte begonnen, — dort, wo » K o m ö d i e « und » T r a g ö d i e « identisch wurden. Jedenfalls würde ich seinen variierenden Komödien-Begriff von [der] Straßburger Zeit an so verstehen. Nicht davon zu trennen ist die alternative Struktur der Einheit von L i e b e, H a ß und S o l i d a r i t ä t . Liebe zu seiner Straßburger Geliebten, Haß [auf die] Reichen und Herrschenden, Solidarität mit den Armen und denen, die dagegen [gegen die Reichen, gegen die Armut] ankämpfen. Hinzu kam bei Büchner eine starke innere Bezogenheit seinem E l t e r n h a u s gegenüber. Wie sich bei ihm »Komödie« und »Tragödie« [gegenseitig] bedingen, so sind » F a t a l i s m u s « und » A k t i v i s m u s « [miteinander] verknotet. In dem merkwürdigen Brief vom 19. März 1834 wird das Schicksal von Verschwörern beschrieben, seine eigene Rolle bereits antizipiert: »Ich wollte die Unschädlichkeit dieser Verschwörer eidlich bekräftigen. Die Regierung muß aber doch etwas zu tun haben! Sie dankt ihrem Himmel, wenn ein paar Kinder schleifen oder Ketten schaukeln W58! Trotzdem [hielt] ihn nichts [zurück]. (Ergibt sich daraus nicht die Frage, ob jede massenfremde und rüekwirkungslos gedachte Aktion dazu verdammt ist, die herrschenden Verhältnisse zu festigen? Peter-Paul Zahl sagte: »Wer die Entführung des CDU-Politikers Lorenz so trefflich nutzte, Verfassung und Recht in bezug auf bestimmte Gefangene aufzuheben, wußte die Entführung [und Ermordung] des Arbeitgebers Schleyer für seine Zwecke auszunutzen«. Sind bei Peter-Paul Zahl diese Zusammenhänge Anlaß zu einem neuen Nachdenken über den Charakter der heutigen Klassenkämpfe, oder ist es seine antiautoritäre Linie der 60er Jahre, die ihn immer wieder davor bewahrt, in den »Leninismus« oder Maoismus, welcher Variation auch immer, abzugleiten?)

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[e)] » F r i e d e d e n H ü t t e n , K r i e g d e n P a l ä s t e n « , o d e r : d i e frühmaterialistische und spätidealistische Agitation in der Zwischen-Zeit der Leere Die Büchnersche kurze Schweige-Zeit auf deutschem Boden war schließlich im März endgültig von ihm persönlich beendet worden. Nach seinem Aufbau der »Gesellschaft [der] Menschenrechte« und jener erneuten Rückkehr aus Straßburg im April, machte er sich im Mai an die Vollendung seiner ersten (und letzten) politischen Agitationsschrift. Den Grundtenor soll er bereits im März unter Freunden benannt haben, aber durchaus nicht nur auf Zustimmung gestoßen sein. Mit einem gewissen statistischen Material, [das er] wohl von Pfarrer Weidig erhalten [hatte], versuchte er, seine Einschätzung der Lage abzusichern und zu präzisieren. [18] Nach Aussagen des »roten Becker«, dem persönlichsten Freund Büchners, der mit [dem anderen] i59! Becker nichts direkt zu tun hatte, habe sein Freund [Büchner] ihm gegenüber immer darauf verwiesen, mit der Agitationsschrift das Ziel zu haben: zu »erforschen«, zu testen, wie revolutionsbereit — oder auch nicht - die deutsche Bauernschaft einzuschätzen sei. Sicher sind all die Akten, die die Herrschenden hinterlassen haben, äußerst kritiscW59al zu studieren, schließlich geht es immer um die Legitimation der herrschenden Verhältnisse. Dennoch ist es spannend genug, die Angriffs-, Verteidigungs- und Einschätzungsberichte der Rebellen, wie sie uns wiedergegeben werden, zu verfolgen. Immer geht es um »Verhöre«. Der intensivste politische Freund von Weidig und Büchner verweist wohl korrekt darauf, daß nach Büchner die Bauern »fast an keiner Seite mehr zugänglich sind, als gerade am G e l d s a c k « . Die »Ehre und Freiheit ihrer Nation«, auch die »Rechte des Menschen usw.« [seien] für die Bauern nicht mehr von einer treibenden Bedeutung [...]. Darüber mag man »traurig« sein, aber allein der »Geldsack« wäre der Hebel, über den »die Masse des Volkes« »aus ihrer Erniedrigung« herauskommen könnte.^60! Der materialistische Ansatz ist nicht wegzuleugnen, und ob er den in »Friede den Hütten, Krieg den Palästen« durchgehalten hat, werden wir noch sehen. Bevor wir direkt zur Agitationsschrift übergehen, muß ich Büchners »Kapitalismus«-Begriff, wie Becker ihn erfuhr und in den Verhören wiedergibt, kurz streifen. Im besonderen darum, weil wir darüber im Hessischen Landboten nichts (!) direkt (!) zu hören bekommen. Th. M.Mayer und G. P. Knapp u.a.m. werden irgendwie Weidig dafür verantwortlich machen. Habe der doch das echte Original verändert, und vom Original haben die Forscher bis heute nichts zu sehen bekommen ... Argumente solcher Art halte ich für falsch, denn sie verschleiern die in sich widersprüchlichen Standpunkt-Ebenen des sozialen Rebellen. Die Beurteilung des »Kapitalismus« durch Büchner erfahren wir erneut am deutlichsten über Becker: Büchner [sei] der Meinung gewesen, daß die »Capitalisten« nicht unter die Steuerknechtschaft fielen, im Gegenteil »leer ausgehen«f61!, und »lieber soll es blei29

ben, wie es jetzt ist«; bloß keine Herrschaft einer über die » c o n s t i t u t i o n e i l e landständische Opposition« erkämpften »allgemeinen Monarchie oder auch Republik« entstehen lassen. Begegnen wir hier nicht einer k o n s e r v a t i v e n Richtung, steckt hinter der Angst vor dem »Geldaristokratismus wie in Frankreich«^ nicht die Angst vor einer undurchschaubaren neuen Formation des Warenfetischismus? Die Schwierigkeiten, in einer Zwischenzeit der Leere eine neue Produktionsweise zu antizipieren, die neuen Klassenkampfmöglichkeiten zu erblicken, sind klar.i62*! [l9] Büchner versuchte, über den » G e l d s a c k « an die Interessen der Bauern heranzukommen, Weidig wiederum vertraute auf die r e l i g i ö s e n S p u r e n . Beide berühren da wichtige Sachzusammenhänge, aber sind sie sich der zerstörerischen u n d progressiven Rolle des Wucher-Kapitals und der Kapitalisierung von Stadt und Land über die kapitalistische Produktionsweise, über das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital bewußt gewesen? Beim Streit zwischen Weidig und Büchner über »diesen Aristokratismus des Weidig« i63! wußten alle miteinander nicht, worum es eigentlich ging. Büchner läßt etwas anklingen [von den] Gefahren des aufsteigenden Kapitalismus, ohne die revolutionäre Rolle des Kapitalismus und des Privateigentums in der Geschichte im geringsten zu erkennen. Der J u n g - M a t e r i a l i s t , nicht Jung-Kommunistf63al, mußte unter den [Bedingungen der] deutschen Zustände da hängenbleiben. Weidig wiederum vertraute auf Gott und den politischen Fortschritt, wie es sich für einen S p a t - I d e a l i s t e n immer wieder gehört. Muß die Agitationsschrift nicht einen gleichen Charakter haben? Die Illusionen des Hessischen Landboten sind so groß wie die der Fürsten und Staatsbeamten jener Zeit, wenn auch fundamental entgegengesetzt. Die herrschenden, in sich zermodernden Stände in Deutschland, die gegen Napoleon und gegen alle sozial-revolutionären Versuche antraten, um ihre Legitimität abzusichern, waren in Wirklichkeit »bezahlte Landsknechte der englischen Bourgeoisie«f64) (K. Marx). Wenn wir für diese Zeit »weder von Ständen noch von Klassen« [...] zu reden haben, »sondern höchstens von gewesenen Ständen und ungebornen Klassen«\65\ dann war der Rahmen der objektiven Möglichkeiten der Sozial-Rebellen extrem ungünstig. Die Illusionen und Fehleinschätzungen waren dementsprechend: »Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies sein. Das deutsche Volk ist ei n Leib, ihr seid ein Glied dieses Leibes. Es ist einerlei, wo die Scheinleiche zu zucken anfängt. Wann der Herr euch sein Zeichen gibt durch die Männer, durch welche er die Völker aus der Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erhebet euch, und der ganze Leib wird mit euch aufstehen.«I66l Indem Büchner die »Reichen« (bei Weidig die »Vornehmen«) und das »arme Volk« alternativ gegenüberstellt, die sozial-ökonomisch und politisch zu differenzierenden Fraktionierungen des »Volkes« wegläßt und eine Einheit vortäuscht^67! (wie der Zoll ver [ein] von der herrschenden Seite aus), wird es ihm möglich, radikal zu k l i n g e n . Die Französische Revolution wird ins Spiel gebracht, doch die Nicht/2()/existenz des n a t i o n a l e n

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M a r k t e s zeigt unzweideutig an, wie wenig von einem »deutschen Volk« die Rede sein kann. Herrschende bornierte Lokalinteressen sind noch lange nicht Ausdruck von Interessen und Zielen der bevorstehenden historischen Aufgabe. Wodurch kann unter solchen Umständen [angesichts] der pseudostarken Unabhängigkeit der Klein-Monarchien der Duodezfürsten jede Klein-Monarchie ein gleiches »Glied« in der Kette von Widerstand sein?!68! Waren denn z. B. die jeweiligen Grundbesitzer, die ihr nicht riesiges Vermögen in den kleinen Höfen und Armeen, in der jeweiligen Bürokratie untergebracht hatten, überhaupt akkumulationsfähig genug, um kapitalistischen Fortschritt zu ermöglichen? Man vergleiche bloß die französische und erst recht englische Großgrundbesitzer-Geschichte mit der deutschen! Entscheidend scheint mir in der Sache die Frage zu sein, wie die Art und Weise der Produktion und Kultur auf dem Lande wirklich [aussieht]. Was war in Hessen oder woanders in »Deutschland« z. B. mit der Parzellierung los? Oder war die Fronlast aufgehoben bzw. ging die weiter wie das alte politisch-ökonomische Prinzip? War da auf dem Lande eine neue »Art des Betriebs« zu sehen und jene daraus wachsen könnende neue revolutionäre Klasse mit der ihr entsprechenden »revolutionären Bourgeoisie«I68al (Marx)? Von all dem ist im Hessischen Landboten nichts zu finden. So wenig wie von einem aufkommenden Maschinensystem der Produktion in den Städten und den Rückwirkungen auf das Land. Die p o l i t i s c h e Agitation gegen die Herrschenden ist scharf, polemisch und provozierend, kann [aber] unter den Umständen der Zwischen-Zeit noch zu nichts anderem vorstoßen: »Das Leben der V o r n e h m e n «, d. h. Reichen bei Büchner, »ist ein langer S o n n t a g ... Das Leben der Bauern ist ein langer W e r k t a g « . Bei Büchner und bei Weidig klingen MünzerMomente an, in all der Schönheit des Klangs, aber nicht mehr mit jener historischen Tiefe, — denn eine andere Epoche stand bevor, wenn auch schwer erkennbar in der Zwischenperiode der Zweideutigkeit. Beim Lesen des Hessischen Landboten fiel mir immer wieder auf, daß die Kritik der kirchlichen Institution und der damit verbundenen Eigentumsverhältnisse nicht wirklich auftaucht. Da bleibt Weidig weit hinter Münze[r]i69l zurück, und bei Büchner ist es an diesem Punkt nicht anders^70! Als ob da keine relevanten Spuren mehr wären. (Der Versuch, Büchner mit dem Anarchismus in Verbindung zu bringen, findet da eine Grenze.) Die Französische Revolution und die Bedeutung der Menschen- und Bürgerrechte werden von Büchner gelobt^71!, aber die Niederlage der Französischen Revolution, die Niederlage der »jungen Freiheit« schließlich erscheint dem Dichter und Rebellen als »Verkauf(s) «akt, ohne die inneren Zusammenhänge der Klassenfraktionierungen in den Blick zu bekommen. »Citoyen« und »Bourgeois« [wären] scharf zu unterscheiden, und das kurze Bündnis zwischen junger Arbeiterschaft und »Citoyen« gegen den aufkommenden Kapitalismus ist ihm weder [21] in Frankreich noch in Hessen klargeworden. 31

Nicht uninteressant ist, daß höchstwahrscheinlich Weidig auf die »Bauern und Handwerker« verweist, [daß aber] bei Büchner diese Differenzierung nicht im geringsten eine Weiterentwicklung erfährt. [Daß] es weder bei Büchner noch bei Weidig den Versuch gibt, innerhalb der Bauernschaft zu unterscheiden, scheint mir auf die Ferne der Widerstandsrichtung [vo]m Da-Sein auf dem Lande zurückzuführen [zu] sein. I n n e r l i c h war der Student, Verliebte und Sozial-Rebell von der Unfähigkeit des »armen Volkes«, den Kampf für die Freiheit aufzunehmen, tief überzeugt, doch die Zustände erforderten existentialistischen Widerstand! Bei sich nach der Rückkehr aus Straßburg festzustellen, [wie sich] ein Sklavenverhalten zu entwickeln [beginnt], zu fühlen, »ein Knecht [mit] Knechten« zu sein, mit großer Anstrengung erst in den politisch-existentialistischen Widerstand hineingehen zu können, all das konnte bei ihm bestimmt kein »Prinzip Hoffnung« aufkommen lassen. Ä u ß e r l i c h sollte (und mußte) die Flugschrift alles bestätigen, um [Büchner] einen echten Grund zu [geben], das Land zu verlassen und »ein Asyl« »für die Freiheit« zu finden. Becker sagt über Büchner in d[ies]er Hinsicht: »Als er später hörte, daß die Bauern die meisten gefundenen Flugschriften auf die Polizei abgeliefert hätten, als er vernahm, daß sich auch die Patrioten gegen seine Flugschrift ausgesprochen, gab er alle seine politischen Hoffnungen in Bezug auf ein Anderswerden auf.«i?2l Der Weg zur Geliebten wurde erneut frei? Niemals allerdings - und [da]s ist sehr wichtig - gab er seinen inneren Widerstand gegen die bestehenden Knechtschaftsverhältnisse auf, und [er] verhielt sich auch im Exil seinen Freunden aus der »Verschwörerschaft« gegenüber solidarisch. Eine politisch-theoretische Weiterentwicklung findet jedoch im neuen Ausland, der zweiten Heimat nun, nicht statt. Niemals aber wurde er unsicher in der Ablehnung und Kritik des herrschenden Systems, ohne dafür analytische Klarheit erreicht zu haben.!73! Die ihn bis zum Schluß quälende Sorge um jene »noch an vierzig«f74^ im Gefängnis, die von Tag zu Tag gebrochen werden sollten, hat ihn nie verlassen. Die jahrelange Qual seines Freundes Minnigerode, dessen Tod er in der Schweiz annahm, [der] in Wirklichkeit aber [aus dem] barbarischen Hessenland nach Amerika abreisen durfte, weil er nicht mehr »gefängnisfähig« war, erschütterte ihn immer wieder. Die hoffnungslosen Versuche von Weidig, sich durch die verschiedensten Anträge zu verteidigen, waren ihm wahrscheinlich [eben] so bekannt wie dessen sich anbahnender Gefängnis-Tod unter [dem] Georgi-Terror. Der Pfarrer und politische Kampfgefährte wurde am 23. Februar 1837 im Gefängnis »tot aufgefunden«, und Georgi wurde von aller »Schuld« freigesprochen. Vier Tage (!) vor (!) dem Ende von Weidig verstarb Büchner an einem Nervenfieber. Ob er als Arzt die letzte »Entscheidung« mitbestimmt hatte, um »zu sterben« — »mit soviel Ruhe« wie -, ist zu bezweifeln, aber nicht ganz auszuschließen.

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[f)] Z w i s c h e n b e m e r k u n g [ ü b e r K o n t i n u i t ä t u n d B r u c h b e i B ü c h n e r u n d Weerthp 6 !

Am Ende seines so kurzen Lebens war Büchner weiterhin dafür, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse »zum Teufel« zu jagen. Doch desgleichen — und mehr denn je — träumte er davon, dem »Volk und dem Mittelalter immer näher«f?7l zu kommen. Aus diesem unlösbaren Widerspruch läßt sich u. a. sein Verhältnis zu seiner Geliebten und zu den Rollen der Frauen in seinen Texten tendenziell ableiten. Frauen faszinierten ihn, ein sozial- und sexualökonomisches Egalitätsprinzip war ihm fremd. Die spezifische soziale Mißachtung, individuelle Beleidigung und die verschiedensten Formen der Demütigung der Frau durch Männer in der kapitalistischen oder zaristischen Gesellschaft der allgemeinen Staatssklaverei werden bei Büchner kein zentraler persönlicher und literarischer Punkt. Der 1822 geborene Dichter Alfred Meißner, dessen tschechische Freundin und Mitarbeiterin im »Roten Turm« aus sozialen Gründen in die Prostitution hineingetrieben wurde, geht an das Frauenproblem im aufsteigenden Kapitalismus bereits mit einem ganz anderen Blick heran, auch die Armutsdimension wird dadurch tiefer: »Seitdem hab ich die Armut erst recht begriffen« (A. Meißner). In einem Gedicht aus den 40er Jahren heißt es: »Was ich so gesehn, vergeß' ich nie! Kinder hört' ich wimmern, sterbensmatte, Weil der Mutter welke Brust für sie Keinen Tropfen süßer Labung hatte, Schuldlos sterben in der Mutter Hut!«l78l

Meißner hat die ersten proletarischen Widerstandskämpfe gegen das industrielle Maschinensystem voll wahrgenommen, kann darum bereits vor Weerth eine sozialistisch orientierte Richtung in seinen Gedichten einnehmen. Büchner kennt in seinem Werk noch nicht die h i s t o r i s c h e Tendenz der Etappe für das hochentwickelte Industrieproletariat, die französische und englische Industrie-Hölle in ihrer Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit ist für ihn kein konkreter Gegenstand. Meißner ist diesem Prozeß bereits viel näher, zumeist zu nah, um einen Abstand bei der Verdichtung zu haben. Seine Fixierung auf die theoretisch-politische Arbeit von Proudhon, besonders nach 1848, ist insofern nicht verwunderlich: »Die St. Simonisten sind jetzt nichts mehr als eine Erinnerung, die Fourieristen bilden eine zurückgezogene, wenig beachtete Gemeinde, die .. .allen Einfluß auf die Welt der Tatsachen verloren hat«J79l Eine kritische Äußerung von Büchner den St. Simonisten gegenüber ist uns nicht unbekannt, völlig neu ist [die] Hinwendung des Dichters Meißner [zu] Proudhon. Eine solche Beziehung zu einer Strömung der europäischen Arbeiterklasse finden wir bei Büchner [verstän]dlicherweise nicht. Den Fortschritt und die [Grenzen] von Meißner [zeigt] uns [folgendes Zitat]: »Das Prinzip von [23] Proudhons Volksbank ist

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die Unverzinslichkeit der Kapitalien. Proletariat, erzeuge dein eigenes Kreditmittel! Arbeiter, kreditiert euch zinslos! Das ist der Inhalt der ganzen Gedankenbewegung, aus der die Bank hervorgegangen. Alle Kreditoperationen und die ganze Zirkulation der Werte auf den Tausch zurückzuführen, mit welchem man der Beihilfe des Geldes entbehren würde, das ist es, was Proudhon realisieren will«.i8°l Die [Grenzen] in der Ökonomie dieser Strömung lieg[en] darin, nicht die P r o d u k t i o n im allgemeinen und besonderen, nicht den G e b r a u c h s w e r t , sondernden » T a u s c h « und die » U n v e r z i n s l i c h k e i t der Kapitalien« zum Wesen der Sache zu erklären. Georg Weerth, im gleichen Jahr 1822 geboren wie Meißner, geriet nicht in die Abwehrschlachten des Proletariats der ersten Periode, er geriet vielmehr als 21 jähriger Kaufmann in den Hexenkessel der sich international verteidigenden und angreifenden englischen Industrie. Diesen modernen Kapitalismus in England wahrzunehmen, die sozialistische und chartistische Lektüre genau zu studieren, gar einen Friedrich Engels als Freund zu bekommen, die Wendung zum ersten typischen Arbeiter-Dichter deutscher Tradition wurde jedenfalls möglich. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familie, mit der Mutter etc., hat dabei eine nicht unwichtige Rolle gespielt. Ein Vergleich der Briefe von Büchner und der von Weerth macht uns die Differenz bereits erkennbar: »Ich muß Dich ein für allemal bitten, mich meinen eignen Weg gehen zu lassen; Du kannst aber versichert sein, daß ich alles in der reinsten Absicht tue. Ich gehöre zu den >Lumpen-Kommunistenhochentwickelte< Kneipensystem nicht im geringsten. Das unmittelbare Interesse des bundesrepublikanischen Kriegsdienstverweigerers richtete sich nach der ersten überraschenden Berührung mit der radikalen Opposition natürlich darauf, an Wohnung und Arbeitsplatz heranzukommen. Zum anderen wollte seine Freundin Urte Wienen ihm bald folgen. Einen Job als Drucker zu finden und über die Abend-Schule das Abitur nachzuholen, mußte zu einer Fortführung des schwierigen, aber produktiven Widerspruchs im inneren Selbstverständnis von Zahl führen. Sein inneres Ziel, sein großer Traum und die vielleicht noch größere Gewißheit war, Schriftsteller zu werden. Dem 48stündigen Rhythmus der Lohnsklaverei in der Woche unterworfen zu sein, [das] Abiturzeugnis zu erkämpfen und an der Freien Universität Berlin (West) sich Vorlesungen der Literaturwissenschaftler anhören zu wollen, [war] ein schwer zu realisierendes Projekt. Zahl verdrängt in dieser ganzen Sache nichts, wenn er vom Gefängnis in Werl im Jahre 1978 über seine Enttäuschung in den 60er Jahren schreibt, er [sei] entsetzt [gewesen] über die Literaturwissenschaftler an der »Freien Universität«: »Um so'n Scheiß zu erleiden, geh ich doch nicht länger auf die Abendschule, um Abitur zu machen! Und: schreiben bringen die einem eh nicht bei. Im Gegenteil, die versauen einem nur den Stil und das Klassenbewußtsein «J881 Von 1965 an tritt er in Berlin und Westdeutschland als D r u c k e r und D i c h t e r auf> die Abendschule und die Universität ist er los, die Uni scheint ihn am meisten abgestoßen zu haben! [27] An d i e s e m Aspekt und Ton ließe sich eher ein Vergleich mit dem »Schuhmacher und Dichter«, unserem Hans Sachs, herstellen. Die extreme Nähe zwischen Zahl und Büchner, gerade in der scharfen Kritik der entfremdeten Arbeit, werden wir später genauer nachweisen. Den [Ein] klang in der Hinsicht wie die Ablehnung der Lohnsklaverei formuliert er in [der] Erinnerung an die frühen 60er Jahre vom Knast der 70er Jahre aus so: wenn Du »die Erwartung vor Augen >hastBoden< gestampft wurden: »Stell Dir bitte folgendes vor: recht gute, funktionierende Stadtteilgruppen (etwa die Neuköllner, in der Kramer und wir waren) — und in diese Gruppen aus Arbeitern, Lehrlingen, Angestellten, Lehrern, Sozialarbeitern (letztere beide Berufe zumeist Genossen aus dem 2. Bildungsweg - was, wie Du weißt, psychologisch und sozial eine große Rolle spielt) stießen Genossen, die Leute wie ich >die 2. Reihe des SDS< nannten. Luschen. Großmäuler. «^ Zahl formuliert seine damalige innere Wut über die Zersetzung der Bewegung an anderer Stelle so: »Es war damals wirklich so, daß so Typen wie ich dann hingingen und sagten: >wenn Du nicht augenblicklich die Schnauze hältst und Dich zurückhältst, kriegst Du einen Satz roter Ohren< «. Die Reaktion der überfrischen Monats-SDSler usw., [die] erst seit kurzer Zeit politisch aktiv [waren], bestand natürlich in dem Verweis auf die »Argumente«, »und wir seien doch Genossen usw.« Noch heute sagt Zahl vom Knast aus mit gewisser Verbitterung: »die versauten eine Menge guter proletarischer Genossen «f95!. Bereits im Sommer 1968, nach der Verabschiedung der »Notstandsgesetze« und dem sich anzeigenden Auflösungsprozeß des SDS breitete sich »der große Frust« (Zahl) aus. Davon bekam ich im Krankenhaus durchaus zu spüren. Wie Frustration und Regression miteinander zu tun haben, merkte ich allein bereits daran, wie ein führender SDS-Genosse mich >batAlIe Macht den Räten< und die Organisierung der Klassenkämpfe unter diesem Motto durch die arbeitenden Massen selber — ohne selbsternannte Avantgarden, Parteien und Sekten marxistisch-leninistischer Prägung — sind Zeichen für das Ende der Entmündigung des Proletariats«. Was sind seine Beispiele? Darüber sagt er: »In Italien, in Frankreich, in England, in der Tschechoslowakei, in Polen (s. die Unruhen im vergangenen Winter dort!), die Ansätze auch in der BRD und West-Berlin, [überall] beginnen die arbeitenden Menschen, ihre Ketten zu verlieren, sie zu sprengen«. Historischer Realismus, Prinzip Hoffnung, Phantasie und Illusionen sind nachweisbar, aber wie überragt dieser besondere und allgemeine Blick nicht all die vernebelnde und betrügerische »ML-Bewegung« der Bewegungslosigkeit. In einer sich durchsetzenden Niedergangsperiode ohne Tragödien, Komödien und Farcen auszukommen!98!, ist schwerlich denkbar. Viele derjenigen der antiautoritären Bewegung der 60er Jahre, die nicht über die Universität und die SDS-Mitgliedschaft, sondern meistens auf den Straßen den antiimperialistischen Gehalt der Vietnam-Kampagne etc. erlernten, waren nach dem völligen Kurswechsel der ehemaligen SDS-Führer erst recht nicht bereit, ihnen zu folgen. Ehemalige SDS-Führer hatten nämlich begonnen, sich einzubilden, die Thälmann-Nachfolge anzutreten. Ich kann mir heute vorstellen, mit welchem Vergnügen und [mit welch] steigender Genauigkeit die herrschenden Kräfte den Zersetzungsprozeß der APO verfolgten und daran mitwirkten. Ob nun über Agententätigkeit, »legal« oder »illegal«, physisch oder psychisch. Das Niveau der Metternich-Zeit [beim Versuch], Oppositionelle auszuschalten, war [32] nicht gering, Büchner und seine Freunde hatten es zu ertragen. [Wirkt aber] der damalige Staatseingriff nicht dennoch [vergleichsweise] geringer, wenn ich mir die heutigen Möglichkeiten der Herrschenden genauer anschaue? Ob nun größer oder geringer, [ist hier] nicht das Thema, zum anderen wäre ein solcher Vergleich nicht korrekt, schließlich handelt es sich um verschiedene Gesellschaftsformationen. In beiden Fällen spielt aber Solidarität und Liebe eine große Rolle. c) G e m e i n s a m k e i t und D i f f e r e n z in der F r a g e der L i e b e S o l i d a r i t ä t und L i e b e haben viel miteinander zu tun, sind aber nicht identisch. Beide voneinander zu trennen, führt schnellstens zu einem abstrakten Solidaritätsbegriff oder zu einem gesellschaftsfremden Verständnis von Liebe. Versuchen wir hier nun, Büchners und Zahls Problematik in dieser Sache im Ablauf der Niederlage eines radikalen Oppositionsversuches zu vergleichen.1"! Bei Büchner hatten wir jenes aufgezwungene, teilweise innerlich gewünschte Exilstreben, um seine Geliebte in Straßburg aufsuchen zu können. Denn allein bei ihr, so scheint es immer wieder, fand er für gewisse Zeit jene 42

Ruhe, Geborgenheit und Liebe, die es ihm ermöglichten, n i c h t in ein undurchschaubares Chaos voller Angst zu versacken. Die Situation eines Peter-Paul Zahl scheint mir in der Hinsicht eine völlig andere gewesen zu sein. Dessen Freundin, ab 1966 mit ihm »verheiratet«, war ihm nach Berlin gefolgt. Ob sie glücklich oder unglücklich über das Leben in einer Groß-Stadt war, weiß ich nicht. Peter-Paul und Urte WienenZahl hatten ursprünglich gar nicht vor, lange in Berlin zu verbleiben, noch 1966 waren sie entschlossen, nach Griechenland abzuhauen, und zwar für viele Jahre: »da kam der Putsch dazwischen«. Dazwischen kam gleichermaßen die international sich verändernde Situation; und ein weiterer Aspekt liegt in dem, was Zahl so zusammenfaßt: »Ja und dann stießen wir alle«, und er meint damit nicht nur sich und seine Frau, »auf Euch ...«. Bis 1966 hatte ich eine intensive Beziehung mit meiner amerikanischen Lebensgefährtin, mit der Zunahme des politischen Aktivismus im Rahmen der neuen Etappe konnte von Monat zu Monat, mit Ausnahme der Auslandsreisen, immer weniger davon die Rede sein. Werden sich bei Peter-Paul Zahl ein solcher Entfremdungsprozeß und die Versuche, den zu durchbrechen, nicht ähnlich vollzogen haben? Wird es bei Urte ganz anders gewesen sein? Neben der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in einem sozial-lokalen Sinne gibt es natürlich auch eine Ungleichzeitigkeit der Entwicklung [33] der männlichen und weiblichen Seite in der kapitalistischen Gesellschaft; die sozialistische Opposition ist davon nicht ausgeschlossen. Da nun »vorne« zu sein, ist beileibe nicht nur eine Freude, besonders weil man ungewollt der Freundin, Genossin oder Lebensgefährtin Schmerzen, Sorgen und Beleidigungen zufügt. Während nun Minna (Wilhelmine) Jaegle keinen direkten Kontakt zur politischen Tätigkeit hatte, Büchner offensichtlich nicht daran interessiert war, seine Geliebte in einer französischen Menschenrechtsgruppe aktiv zu sehen, geriet Urte Wienen-Zahl immer direkter in die politische Szene hinein. Bald wurde sie mitverantwortlich für die Zahl-Wienen-Druckerei, einen Verlag, durch den in der Zersetzungsperiode der APO 1969/7[1] [die] 883 und viele andere Publikationen gingen, - ab 19[69] die Polizeirazzien.i1001 Wie Urte den wahrscheinlich für uns alle unerwarteten Aufschwung der Bewegung wahrgenommen hat, [davon] weiß ich so wenig wie von ihrer Re-aktion auf die blitzartig sich anzeigende Niederlage. Nicht genügend Wärme in einer kälter werdenden Etappe zu erhalten, eine echte Solidarität jenseits des Lebensgefährten nicht wirklich kennenzulernen, aber eine bittere Echtheit von brutalen Polizeieinsätzen immer mehr wahrzunehmen, nicht mehr gelassen schlafen zu können usw., — wer kann dabei warm und ausstrahlend werden? In der Frauenzeitschrift Courage, wo 1978 eine Polemik gegen den im Knast (bisher überlebenden Peter-Paul Zahl geführt wurde, wird auf der einen Seite von »buchstäblich unzählbaren Hausdurchsuchungen« der Drukkerei durch die Polizei geschrieben, auf der anderen aber behauptet: »weil 43

der Mann« (Zahl) »unterwegs ist des nachts - aus politischen Gründen oder um sich sexuell zu befreien«, »ist diese Frau krank und kaputt gegangen«, — und »nicht« der Hausdurchsuchungen wegenJ10^ Die gezielte Denunziation oder tiefe Resignation vom Jahre 1978, die gezielte Erweiterung der Entpolitisierung der Frauenbewegung muß man sich genauer anschauen. Ich versuche, mir die Lage der Frauen in der Opposition während der Aufschwungswelle vorzustellen und mit der von Urte Wienen-Zahl in der Niedergangsphase zu vergleichen. Ich weiß nur zu gut von der Ablehnung der ersten selbständigen Frauengruppe durch die Mehrheit der SDS-Häuptlinge im Jahre 1966/67, erinnere mich der unzureichenden Unterstützung der Frauengruppe durch diejenigen, die nicht gegen eine solche autonome Frauengruppe waren. Die Kinderabneigung und Kinderangst der linken Männer der 60er Jahre ist da durchaus desgleichen erwähnenswert. Vom Ausland her hörte ich von der Frauen-Revolte innerhalb des SDS, von den fliegenden Tomaten und der literarisch-malerischen Beseitigung der Penisse der SDS-Kardinäle. Wenn eine Frauenzeitschrift 1978 eine Polemik gegen den politischen Häftling Peter-Paul Zahl startet, ohne selbstkritisch danach zu fragen, warum sich beim jungen »Frauenrat« und den darauf folgenden Organisationsformen der jungen Frau/34/enbewegung ein extremer Mangel an Solidarität, besonders den außeruniversitären Frauen in der Opposition gegenüber, [entwickelt] u. v. a. m., dann merkt man leicht, wie es der herrschenden Meinungsmacherei und der inneren Selbst-Zensur der innerlich zerstrittenen Frauenbewegung von heute gelungen ist, in eine entpolitisierende und nicht mehr vereinigende Emanzipationsposition zu gelangen. Warum sich M. Hellriegel-Rentzel in ihrer Polemik nicht mit »Christa« und mit »Renate« und deren Rollen im ersten Zahl-Roman Von einem, der auszog, Geld zu verdienen (1970) auseinandersetzte, ist [ohnehin] verwunderlich. All die auftauchenden Personen im Roman, ob nun weiblich oder männlich, sind nicht mit Urte und Peter-Paul zu verwechseln, zeigen aber glänzend das allgemeine gesellschaftliche und zwischenmenschliche Problem der Widersprüche der Zwischenetappe. Das Buch [weiß] noch [von] keine [r] polizeilichefn] Besetzung einer [Druckerei] Zahl-Wienen oder einer [als] typisch dargestellten Oppositions-Druckerei; und der LohnarbeiterTypus »Wolf« zeigt [ebenso] wie sein politischer Freund »Shoccy« [...] die innere Beschränktheit und verkürzte Menschlichkeit des Agitators wie die neben breitester Menschlichkeit und Verantwortungsbewußtsein beim Lohnarbeiter durchbrechende Brutalität [gegenüber] seiner Frau »Christa«. Noch mehr halte ich für sehr wichtig: »Christa« will sich von »Wolf« trennen, läßt den Zustand [aber] weiterbestehen, verweigert als junge Mutter nun den Sexualverkehr. In seinem Unverständnis für [die] Rückwirkungen und Auswirkungen [des] erlittene [n] Schmerz [es] stellt er ihr eines Abends im Bett die Frage, »ob das so weitergehen solle«, und macht die nicht freundliche Aussage: »Wenn das so weitergeht, mußt du mal zum Psychiater«. »Christa« antwortet ganz unverklemmt: »Dafür haben wir doch überhaupt

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kein Geld«, und sie fügt hinzu: »Du wirst doch wohl mal warten können!«l102J Wer aber gab »Christa« oder »Wolf« usw. 1970 noch eine Chance zu warten? Warum verdrängt eine M. H.-Rentzel eine bittere Realgeschichte? Die immanent[e] Widersprüchlichkeit ihrer Argumentation wird [...] erkennbar: »Eines Tages versteckte Urte den Schlüssel zur Druckerei und griff zum Hammer, als P.-P. Zahl sich nicht überzeugen lassen wollte, daß das Drucken der Zeitung 883 für sie, für ihr Leben, das der Kinder und auch das ihres Mannes mit solchen katastrophalen Folgen wie z. B. d[en] brutalen nächtlichen Hausdurchsuchungen verbunden war, daß das Drucken für sie lebensfeindlich geworden war«J103l Was tun unter solchen grauenhaften anti-demokratischen Bedingungen? Aufgeben und sich zurückziehen? Wer sollte die Zahl-Wienen-Druckerei ersetzen? War da nicht ein nicht aufzuhebender Widerspruch, ein unauflösbares Dilemma? Hat Zahl nicht völlig recht, wenn er in seiner Verteidigungsrede von 1974 sagt: »Der Druck nahm zu. Und es ist kein Einzelfall, wenn er vor allem dann zunimmt, wenn ... Solidarität auseinanderbricht . ..«?f 104 ! Mußte nicht gerade Urte WienenZahl die permanenten Durchsuchungen der Zahl-Wienen-Druckerei [35] durch die Polizei als Ausdruck eines Mangels an Solidarität empfinden? Der Kritik nach links wegen des Mangels an Solidarität und der Aufgabe des Bildes einer »anderen, besseren Gesellschaft« läßt Zahl die Schlußfolgerungen für das Leben seiner Frau folgen: »Meine Frau unterlag auf Dauer dem Nervenkrieg. Denn nun kamen sie in unregelmäßigen Abständen, mal morgens, mal abends, mal mittags — immer mit großem Aufwand, immer mit Beamten in Zivil von der Politischen Polizei .. .«.11051 Ob nun in Berlin oder bald darauf in KölnJ106! Der Däne in Aarhus oder Menschen in vielen kleinen Städten [anderer] Länder in Europa können sich solch eine Mißachtung [der] Meinungsfreiheit nicht vorstellen. All das geschah in der Stadt des »Symbols für die Freiheit«. Wir wissen von der realen Un-Freiheit in Osteuropa und schweigen nur zu gern über die im [eigenen] Lande, die dazu diente, der außerparlamentarischen Opposition die letzten Schlußschläge zu erteilen. Einen ersten schweren hatte ich persönlich erlitten; wir und unser Kind hatten zwischen Februar und April 1968 viele Wohnungen wechseln müssen, viele Festnahmen hatte ich hinter mir, was aber ist das gegenüber einer Etappe des t ä g l i c h e n physischen, juristischen und psychischen Terrors [mit dem Ziel,] die sich zersetzende Opposition zu [zer]brechen? In der Kritik nach links gegen jenes Auseinanderbrechen von Solidarität wird meiner Ansicht nach nicht klar genug die links getünchte V e r a n t w o r t u n g s l o s i g k e i t problematisiert. Sicher, eine Verteidigungsrede hat dafür keinen Platz, — aber eigentlich durchaus!? Keine Verantwortung tragen zu wollen, das jeweilige individuelle und gesellschaftliche K l a s s e n k a m p f - L o s nicht mitzutragen, [heißt das] nicht, [daß es] mit der echten Solidarität bereits vorbei [ist]? Wer trug z. B. das Los der ganzen Familie 45

Wienen-Zahl und deren Kinder mit? Auf jeden Fall, soweit ich informiert bin, keiner aus der linken Szenerie. Die Wöchenzeitüng 883 herauszugeben, war lebensnotwendig für die linke außerparlamentarische Opposition, [aber] eine unter täglichem Druck stehende Klein-Familie ohne breite Solidarität mußte [diesem] erliegen. Urte Wienen-Zahl wurde in den Verfolgungswahn getrieben, als nach dem Polizei-Terror in Berlin die gleiche Methode in [Ratingen und Düsseldorf] fortgesetzt wurde, und der antiautoritäre Sozialist geriet in die Falle, die sie ihm schon längst zu legen versucht [hatten], in den halben Untergrund, und [er verfiel auf] den Gebrauch einer Pistole, um sich seiner Verfolger ohne Mordversuch zu entziehen. Büchner hatte grauenhafte Verfolgungsängste in den letzten Tagen und Nächten vor seinem Tode, in den meisten Augenblicken nahm er an, nach Deutschland ausgeliefert zu werden. Wer ihn versteht, wird mit Sicherheit den Weg von Urte Wienen-Zahl und Peter-Paul Zahl nachvollziehen können.

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[d)] S c h ü s s e und S c h ü s s e - w o h e r , w o h i n und weswegen?^ 0 7 !

Schuß oder Schuß, — Schüsse bleiben Schüsse. Gibt es da eine Unklarheit? Auf den a l l e r e r s t e n Blick? Bereits dann würde Büchner nach dem »Motiv« fragen, nach dem Sinn. Können wir heute nicht weit schärfer danach fragen, wie die Gesellschaft und die jeweilige Person eine bestimmte Genesis erhalten haben? Wie weit die Eingriffs- und Selbstveränderungsmöglichkeiten existierten und wodurch ein bestimmtes Handeln erzwungen wurde? Gesellschaftliche Determination und individuelle Autonomie bzw. Klassenspannung sind davon nicht wegzulassen! Daß unter den Bedingungen der Ausschaltung demokratischer Abläufe im gesellschaftlichen Alltag der Institutionen die Eingriffsmöglichkeiten von solchen ehemaligen NSDAP-Typen wie dem »Landgerichtsdirektor Brandt« wachsen und die Existenz der Zahl-Wienen-Familie und -Druckerei in [Ratingen und Düsseldorf] politisch hoffnungslos wurde, ist grauenhaft einfach zu verstehen. D r u c k e r zu sein, s c h r e i b e n zu k ö n n e n und zusammen mit der E h e f r a u über eine D r u c k e r e i zu v e r f ü g e n , k o n n t e e s f ü r d i e p o l i t i s c h - j u r i s t i s c h e n B r a n d t - T y p e n eine s c h ä r f e r e H e r a u s f o r d e r u n g g e b e n ? Waffen und Pistolen der Polizei hat die Zahl-Wienen-Druckerei und -Familie seit 1970 in Berlin immer mehr zu sehen bekommen, immer in den Händen der provozierenden und kontrollierenden Richter- und Polizei-Maschine. Einer der oberen Herren sagte zu dem freien Bürger [...] Peter-Paul Zahl: »Verlassen Sie sich darauf, Ihre Druckerei kriegen wir kaputt«t108!; Urte Wienen wurde zuerst von dieser Herrschafts-Meute kaputtgemacht. 46

Eine zermürbende Verfolgung und Kontrolle zu erleiden, fast alles unter dem betrügerischen Schleier von »Legalität«, hinterläßt nach einer gewissen Zeit jene Spuren, die sich die andere Seite nur zu sehr wünschte. Innere Spuren, die es ihm immer weniger ermöglichten, die sich um ihn neu ausbreitende Falle zu durchschauen. In die halbe »Illegalität« zu gehen, so wie die [Herrschenden sich das](109J wünschten, einen anderen Paß und eine Pistole schließlich bei sich zu haben, nicht mehr von einer breiten sozialen Bewegung umgeben zu sein, — aus s o l c h einem Dilemma konnte es keinen Ausweg geben. Er geriet in die individuelle Gewaltanwendung, als die Polizei wieder einmal vor ihm stand, um endlich i h r Ziel zu erreichen. »Wer zuerst schießt, lebt länger«, diese faschistische Mörderlosung war Zahl immer fremd, sonst hätte er mit der Blitzartigkeit des kalkulierenden Mörders geschossen. Nein, er versuchte sich der Polizisten durch Pistolenschläge zu entledigen, um sich ihrer Kontrolle ingesamt zu entziehen, und der gefährliche Schußwechsel zwischen beiden Seiten erfolgte in einem größeren Abstand. Wie dem auch sei, ein Polizist wurde dabei getroffen, und PeterPaul Zahl hat noch direkt an »Ort und Stelle« ausgesprochen, daß es n i c h t sein Ziel war, den Polizisten zu treffen. Sein Leben und das der anderen schätzend, war er fähig, [37] der Polizei seine Pistole hinzuwerfen und nicht bis zur »letzten Kugel« zu schießen: »Ich war noch nicht so kaputt, so sehr Opfer, daß ich ... mein Magazin in die Körper der beiden Polizisten geleert In seiner Verteidigungsrede von 197[6] macht er uns die Wurzel seines Verhaltens in der Frage unzweideutig klar: ». . . Gewalt um ihrer selbst willen, das bedeutet Faschismus. Dieser benötigt nicht warme, sensible Menschen, sondern Maschinen, denkentwöhnte Befehlsempfänger, Institutionen. Und weil ich Antiautoritärer Sozialist bin, habe ich am 14. Dezember 1972 weder Tötungsabsichten gehabt, noch Tod oder Verletzung der beiden Beamten billigend in Kauf genommenzufriedenIm N a m e n des V o l k e s < am 24. mai 1974 - nach der reform verurteilte mich nur noch drei richter das voik und zwei geschworene - drei richter in gleicher sache und sechs geschworene zu fünfzehn jähren zu vier jähren freiheitsentzug freiheitsentzug ich finde am 12. märz 1976 das sollen verurteilte die Völker mich das volk unter sich ausmachen und mich da raus[lass]en«lH6J

[39] Oh, nun sitzt er seit über sieben (7) Jahren im Gefängnis, tragen wir d r a u ß e n dafür nicht eine Mitverantwortung? Ich muß es wiederholen: über die osteuropäischen Knechtschaftsverhältnisse schwatzen die Herrschenden gern, über die Un-Freiheiten im eigenen Lande gehen die Herrschenden schnell [hinweg]. Sogar in Karlsruhe, der höchsten bundesdeutschen Instanz, wurde konstatiert, in Peter-Paul Zahl k e i n e n »Terroristen« sehen zu dürfen. Ist es aber nicht beschämend für die BRD, daß [demgegenüber] der zu [8] Jahren verurteilte Bahro und der zu [5 Jahren] verurteilte Hübner aus der DDR nach wenigen Jahren, nach einer offiziellen Amnestie, wieder aus dem Gefängnis kamen?l117J Ob die BRD Gelder dafür gezahlt hat, ist hier nicht entscheidend, entscheidend ist [die Frage], warum die BRD sich seit langem so schwer [tut], eine politische Amnestie wie die vor ca. 10 Jahren durchzuführen. Bundespräsident Scheel ließ der von Heinemann initiierten keine folgen, und ist eine von Carstens zu erwarten?

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4. Die t i e f e N ä h e z w i s c h e n der » S o n n e U n z u c h t « b e i B ü c h n e r u n d dem antiautoritären S e l b s t v e r s t ä n d n i s bei Z a h l a) W i e ü b e r d i e » S o n n e U n z u c h t « d i e L e e r e d e r Zwischenzeit angeknackt wird

Wieviele Interpreten des »Realismus« von Büchner gehen nicht über die antizipatorische »Sonne Unzucht« bei ihm [hinweg]? Ist die provokative Frage von Zahl [nach] »Arbeitslosigkeit und Berufsverbot« i1181 als »Vorstufen künftiger Arbeits- und Lebensweise« nicht [im gleichen Sinne] zu verstehen, und wird [sie] von den Proletkultpflegern unserer Tage [nicht] ähnlich verdrängt? Hat denn die Negation von Lohn-Sklaverei nichts mit der »Sonne Unzucht« zu tun? Georg Lukäcs bestreitet bei Büchner nicht die literarische Größe in der Shakespeare-Tradition. Allerdings wirft er ihm vor, Hegel »ignoriert« zu haben und darum nicht in der Lage [gewesen] zu sein, sich »breiter, beweglicher, reicher« in der [Weise] von Heinrich Heine entwickeln zu könnenJ119^ [Büchner, der] den widersprüchlichen Lernprozeß eines Heine nicht durchmach[te], mußte [bei seiner] Verarbeitung der Französischen Revolution auf besondere Schwierigkeiten stoßen. Ein Überschreiten der »bürgerlichen Revolution«, jene »Zentralfrage der politischen Lage«, um den Gegensatz von »arm und reich« richtig einordnen zu können, mußte Büchner nach Lukäcs so mißlingen.i120' Gerade seine Konzeption des » F a t a l i s m u s der Ges c h i c h t e « (Büchner) schließe insofern »dialektische« Übergänge aus. Kann man nicht mit Büchner aus dem Woyzeck dazu sagen: »Hohl, hörst du? Alles hohl da unten! Die Freimaurer!«? Das W o h i n ist nicht sicher, aber durchaus jenes W o h e r : »Wir arme Leut - Sehn Sie, Herr Hauptmann, Geld, Geld! Wer kein Geld hat - Da setz einmal einer seinesgleichen auf die Moral in die Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut... Ich glaub', wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen« J121.l Polemisch kann gesagt werden: wenn wir in die Distribution] Produktion] kommen ...!??11221 Immer wieder schuften zu müssen, die hohe Arbeitszeit und so niedrige Lebenszeit kennenzulernen, ist das nicht ein Thema, welches über die bürgerliche Revolution hinausgeht? Ist es denn sehr gewagt, gerade die gesellschaftlichen Fragestellungen, die die Negation der Lohnarbeit nicht zum Zentralthema der sozialistischen Zielorientierung machen, als welche zu begreifen [und zu] benennen, die h i n t e r denen der bürgerlichen Revolution noch z u r ü c k b l e i b e n ? In Dantons Tod steht die Französische Revolution (und die eigene Rebellionserfahrung) zur Debatte. Von Danton bis zu Herault geht es um die Beendigung der Revolution, Verhinderung des Umschlags der eigenen Revolution in die Konterrevolution, geht es urn den Beginn der »Republik«. Nicht »Pflicht«, »Tugend« und »Strafe«, sondern »Notwehr«, »Recht« und 50

»Wohlbefinden« sollten zur Debatte stehen. Das Leben »genießen« zu können, die »Staatsform« als ein »durchsichtiges Gewand«f123J kontrollieren zu können, [ist] für Danton und seine Freunde [zur] Absicherung der Republik entscheidend. Das Problem liegt jedoch tiefer, erneut geht es um das Wesen von »Arbeit« und »Leben«. [Angesichts der Art und Weise,] wie Büchner hier die Kategorie der Arbeit verdichtet, den Arbeiter [und den] Bürger zur Sprache gelangen läßt, sehe ich beileibe keinerlei Notwendigkeit, unbedingt den Hegel verarbeitet haben zu [müssen]: »Unser L e b e n ist [41] der M o r d d u r c h A r b e i t ; wir hängen sechzig Jahre lang am Strick und zappeln, aber wir werden uns losschneiden!«f124! Das proletarische Problem scheint mir hier glänzend gefaßt zu sein. Da geht es [eben] nicht nur um einen »Realismus«, da geht es um Alles, um die Frage emanzipativer Bedürfnisse der Unterdrückten, Ausgebeuteten und Beleidigten. Unter welchen Bedingungen kommt es überhaupt zur Herausbildung s o l c h e r Bedürfnisse? Marx jammerte schon in der Deutschen Ideologie über die »Bedürfnislosigkeit«i125! des Proletariats, und im Kapital ist die abstrakte Unterscheidung zwischen »Verwertungsbedürfnissen« auf der Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise und den »Entwicklungsbedürfnissen« als Negation derselben nur ein g e w i s s e r Zugang zur »Sonne Unzucht«. Die Schwierigkeiten des »Volkes«, mit der Sonne der Unzuchtf 1 2 6 J umgehen zu können, sie überhaupt zu entdecken [und] zu genießen, formuliert ein Freund von Danton: »das Volk ist tugendhaft, das heißt, es genießt nicht, weil ihm die Arbeit die Genußorgane stumpf macht«.t127! Immer wieder geht es [in Dantons Tod] um die mannigfaltigen Beschränkungen des menschlichen Daseins durch die Arbeit. Robespierre spricht gern vom »armen«, noch mehr vom »tugendhaften Volk«, vom disziplinierten, arbeitsamen, von dem anti-lasterhaften. Der »Lasterhafte« muß damit unvermeidlich zu den inneren Feinden gerechnet werden: »Die Waffe der Republik ist der Schrecken, die Kraft der Republik ist die Tugend .— die Tugend, weil ohne sie der Schrecken verderblich, der Schrecken, weil ohne ihn die Tugend ohnmächtig ist« J128J Die Konfrontation zwischen Danton und Robespierre wurde unvermeidlich. Derjenige, der entscheidend für die Revolution gearbeitet hatte, aber nicht bereit war, die Arbeit zu fetischisieren und die Unlust zu negieren, kann über die Situation nur sagen: »Das ist die Diktatur; sie hat ihren Schleier zerrissen, sie trägt die Stirne hoch, sie schreitet über unsere Leichen.«[129l Marx sagt extrem verkürzt und vernebelnd: »Der g a n z e f r a n z ö s i sche T e r r o r i s m u s war nichts als eine p l e b e j i s c h e M a n i e r , mit den F e i n d e n der B o u r g e o i s i e , dem Absolutismus, dem Feudalismus und dem Spießbürgertum fertig zu werden, «f130^ Denn lassen sich Danton etc. unter »Spießbürgertum« fassen?i131l Daß sich Marx und Engels nicht mit Büchners Dantons Tod beschäftigt haben, hat mit Sicherheit damit zu tun, daß dieser sich in seiner Identifizierung] mit den Armen ihrer Meinung 51

(Konzeption) nach noch im Blick[feld] der Kleinproduktion, aber nicht im Bewußtsein der großen Warenhäuser, kleinbürgerliches< Denken überschreitet? Wohl weder »kleinbürgerlich« noch »proletarisch« läßt Büchner in Le~ once und Lena Valerio zum Schluß sagen: »Und ich werde Staatsminister, und [42] es wird ein Dekret erlassen, daß, wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt wird; daß, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; daß jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird; und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion!«i132J Der j u n g e M a t e r i a l i s t Büchner, und dafrüber] kann die »commode Religion« nicht hinwegtäuschen, vergaß hier in der Komödie so wenig wie in Danton's Tod, sich mit der »Arbeit« auseinanderzusetzen, ihre Qual und die Auswirkungen der »Schwielen« [im] Blick zu [behalten]. Finden wir aber an irgendeiner Stelle ein gewisses Verständnis Büchner[s] [für] die Fundamentalkategorie Arbeit, [für] den geschichtlichen Doppelcharakter von »Vergegenständlichung« und »Entfremdung« in der bürgerlichen Gesellschaft? Bleibt der junge Materialist da nicht doch hinter dem a l t e n und h ö c h s t e n I d e a l i s t e n , Hegel, entscheidend zurück? [Bleibt Büchner nicht hinter] dessen Kritik der Arbeit, [der] Darlegung der Entfremdung [im] »Herr-Knecht«-Kapitel in der Phänomenologie des Geistes [zurück], auch wenn [Hegel] dabei die Kategorie der Ware [ebenso]wenig durchschau[t] wie Büchner? [Durch] Bakunins Staatlichkeit und Anarchie ([1873]) merken wir, wie Büchner vom Häuptling des Anarchismus an [die] erste Stelle der »Schule der Materialisten und Realisten« gesetzt worden ist, direkt als Übergang von Feuerbach zu Marxf133! [...]. Marx schreibt diese Aussage von Bakunin in seinem Konspekt von Bakunins »Staatlichkeit und Anarchie«^134} nieder, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Ich gestatte mir aber ein informatives Wort: in den Marxschen Manuskripten findet sich, wenn ich mich nicht täusche, mit Ausnahme des Bakunin-Zitats über Büchner kein Wort. Dem ist bei Engels nicht so, ohne daß der ihn als Frühmaterialisten in der deutschen Geschichte hingestellt hätteJ135! Wie weit die Frage des Verhältnisses von direkter Demokratie und Diktatur dabei eine Rolle spielte, müßte untersucht werden. Schauen wir uns jetzt aber, um Büchner und Zahl immer genauer vergleichen zu können, Zahls Blick auf die »Arbeit« in seinem Roman von 1970 und [in] späteren Publikationen [an].

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b) Arbeit und Müßiggang bei Zahl k u r z vor und m i t t e n im N i e d e r g a n g der e r s t e n APO Bereits in seinem ersten Roman Von einem, der auszog, Geld zu verdienen spielt die Arbeitsproblematik in der Form des realen Arbeitsprozesses, der der Lohnarbeit und der menschlichen Entfremdung und der Kritik dieser Verhältnisse eine wichtige Rolle. In dem Abschnitt »Guten Morgen, Mr. Morgan« versucht der Autor, eine detaillierte Rekonstruktion des entfremdenden, bedrückenden und ausbeutenden Arbeitsablaufs literarisch darzustellen. Mit der Marxschen These von dem Fehler und der Unmöglichkeit [einer] [43] Übernahme der » f e r t i g e n Staatsmaschine« durch die »Arbeiterklasse« [als Motto] den Abschnitt einleitend, stellt er ihr die bittere Realität gegenüber: »oder du stehst an einer Maschine, pfeifst im Rhythmus ihrer Funktion, wischst dir die Finger am grauen Kittel ab, drückst den Ausrückhebel nach rechts und gleichzeitig das Handrad nach links, bis der Stapeltisch seine tiefste Stellung erreicht hat, du trittst hinter der Maschine hervor, stellst dich an ihre linke Vorderseite, drehst mit der linken Hand die Handkurbel, so daß sich die Zylinder drehen und die Stiftleiste am oberen Rande der Scharnierhälften des Formzylinders zugänglich ist, stellst den Farbhebel auf l=Farbe, ... drückst mit der freigewordenen Hand auf die Mitte des Scharniers, es biegt sich nach innen, ... und du pfeifst noch immer im Rhythmus der Funktion deiner Maschine,... packst Original und Druckmuster in die Auftragsmappe, stellst den Farbhebel wieder auf 3=Farbe, hebst den Druckhebel an, bis er einrastet: du drückst, pfeifst nicht mehr, kein Stopper stört den Druckablauf, du sitzt auf einem Schemel neben dem Ablagetisch, überprüfst noch die ersten dreißig/vierzig Druck nach Doppelbogen ..., die Maschine läuft« .. J136J Von einer »Arbeitsfreude«, wie die Eigentümer und Herrschaftsverhältnisse es sich so wünschen, ist da nichts zu spüren, ganz im Gegenteil: »und dein Blick, der den Papierbogen gilt, die die Maschine verlassen, irrt ab, findet aus dem Fenster, das, sehr niedrig über den Heizkörpern angebracht, die Sicht freiläßt: auf Himmel, blauen, strahlenden Himmel mit kleinen Wolken, auf den im Bau befindlichen Fernsehturm am Alex, auf Dächer ... Spitzdächer und Pappeln«.i137! Getrieben von Arbeit, voll von Tagesträumen und nicht ganz zu beseitigenden Hoffnungen heißt es dann: »dir ist warm, du erhebst dich von deinem Sitz, öffnest das Fenster einen Spalt breit, bist, wie immer nach dem Papierstaub-, Druckfarben-, Waschbenzin-, Öl-, Metall- und Trichloräthylengeruch, überrascht von der Klarheit und Sauberkeit der Luft, du siehst hinunter in den Hof, ... und du siehst Kinder in der Sonne Nachlaufen und Fußball spielen, Himmel und Hölle, siehst sie seilspringen, herumturnen«; er hört, sieht und fühlt, noch mehr träumt er für einen Augenblick: »und stellst dir vor, du lägest in der Sonne auf dem Rasen«. Diese Hoffnung kennt [man] 53

nur, [wenn] der Feierabend näher kommt: »... wenn du Glück hast, bist du dann bei dir, wahrscheinlich aber bist du dann dazu zu'müde« J1381 Die Sprüche der Arbeitertypen in Büchnerfs] Danton's Tod klingen da etwas an, allerdings bereits auf einer anderen historischen Ebene. Dieser Zahl-Roman von 1970, den ich erst in diesem Jahr las, ist, wie die Kritiker sagen, ohne »Perspektive«. Dem genauen Leser kann aber schwerlich entgehen, daß dieser Roman in jener Zeit [dazu beitragen wollte], von literarischer Seite [her] die V o r a u s s e t z u n g e n für einen neuen Weg zu schaffen. [44] Daß diese Arbeit mit antiautoritärer Tendenz in einem Klima der [Hin]wendung zu autoritären Organisationsformen keinen breiten Widerhall erfahren konnte, ist nicht verwunderlich. Aber ein anderer Aspekt scheint mir da viel wichtiger zu sein: in diesem Roman war eine Stimme zu hören, die mit dem herkömmlichen und herrschafts- bzw. klassenbewußt geförderten Namen »Studentenbewegung« nicht übereinstimmte. Die n i c h t - s t u d e n t i s c h e Seite der R e v o l t e der 60er Jahre so schnell wie nur möglich zu beseitigen, spielte dabei eine zentrale Rolle; die Spaltung der für Augenblicke einheitlichen, die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit im politischen Kampf durchbrechend[en] Generation vom Widerstand wiederherzustellen, war ein Grundinteresse der Zwischenperiode der Großen Koalition, auch der danach folgenden Regierung.

c) I s t n i c h t M ü ß i g g a n g ( u n d S e l b s t t ä t i g k e i t ) d e r A n f a n g aller Muße, Lüste und Widerstand? Im Roman von 1970 begegnen wir in der Schlußphase dem a r b e i t s l o s gewordenen »Wolf«: »du lebst in einem Sozialstaat, weil du Frau und Kind hast und Schulden bei der Stadt, bekommst du Arbeitslosenunterstützung, sie ist besser, als du denkst, jetzt hängst du in der Luft: bist kein Student, kein Facharbeiter, bist angelernter Arbeiter, F a c h h i l f s a r b e i t e r « . i 1 3 9 ^ Zu der veränderten Lage hören wir: »du hast Zeit, du lernst Westberlin wieder anders kennen,... du hast viel Zeit, du bist selten zu Hause — Christa bleibt immer noch trocken, soll sie doch trockenbleiben, denkst du, fährst oft zu Shoccy, abends, und noch mehr zu Renate, tagsüber«, und es folgen jene besonders bedenkenswerten Sätze: »du bist voll ausgelastet, aber du hast es satt«J14°l »Satt«-sein, ist darin nicht ein letzter Höhepunkt und latenter Ansatz zum Übergang in eine neue Richtung freigemacht? Nicht »Stimmung völliger Ratlosigkeit« (I. Drewitz), sondern jene L a n g e w e i l e im Büchnerschen Sinne, die hin und wieder den »göttlichen« M ü ß i g g a n g als Hoffnung auf bessere Zeiten, Zustände und Beziehungen dennoch bereits aufklingen läßt.I14^ Zwischen Langeweile und »göttlichem« Müßiggang liegt bei »Wolf« Orientierungslosigkeit: »was sollst du, ein Arbeitsloser, in einer arbeitslosen 54

Stadt? Was willst du hier?«f 142 J Die Fragen klingen beinahe nach Kierkegaards »Wo bin ich?«f1431 - sind aber keine existentialistischen Vernebelungen, sondern tiefes materialistisches Fragen nach dem gesellschaftlichen Ort u n d S i n n, wo weitergelebt werden kann. In seiner Unklarheit [über das] Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital in der bürgerlichen Gesellschaft und die Widersprüche in dem Staat auf der anderen Seite der Mauer glaubt er wenige Augenf45yblicke [lang, dort] leben bzw. in arbeitslosen Zeiten überwintern zu können. Den Alex (in Ost-Berlin) hatte er immer geschätzt, [der] ist aber nicht mit der DDR gleichzusetzen: »Nach zwei Tagen schicken sie dich zurück. So einen wie dich wollen die nicht. Oder«!!"!

Ohne Punkt oder Fragezeichen endet dieser erste Roman von Peter-Paul Zahl. In ihm war hin und wieder [etwas] von Büchner zu merken, Reich und Landauer tauchen direkt auf, aber von Bakunin und dessen letztem Schüler, wie Karl Marx an Engels spöttisch und sauer über seinen Schwiegersohn Lafargue schrieb^145), [ist] in einem breiteren Sinne nichts auffindbar. Dafür gibt es besondere Gründe. Die bereits 1965/66 begonnene Arbeit verweist auf einen gewissen DDR-Einfluß, [der durch] »Shoccy« repräsentiert [wird]. Die Darlegung der Rolle, Funktion und der Verhaltensweise von ihm impliziert jedoch bereits die Kritik der Verhältnisse in der DDR. Erwähnenswert ist [der] Versuch des »Aufbau-Verlags«, sich der Dortmunder »Gruppe 61«, der Zahl angehörte, zu widmen und Zahl, dessen Roman [wie gesagt] 1965/66 begonnen worden war, beim Besuch des »Aufbau-Verlags« durch die Dortmunder Gruppe im Jahre 1966 gar einen Lizenz-Vertrag für den Roman in Aussicht zu stellen. Daraus könnte nichts werden, solch »einen« können die wirklich nicht wollen, [und das gilt auch] umgekehrt. Zahl sagt über seinen Besuch zusammen mit der Gruppe 61: »Ich war einmal nach '53 in der DDR, 1966. Dann nie wieder«. Seine antiautoritäre Rezeption von »Marxismus« und »Anarchismus«, erst recht die Auseinandersetzung mit dem »Marxismus-Leninismus«, zeigen in den 883Artikeln seine Weiterentwicklung und die unübersehbaren Schranken in der Einschätzung der Etappe. Die »Subjekt-Objekt-Dialektik« für die Analyse, mit der wir bereits in der Aufschwungperiode [große] Schwierigkeiten hatten, verschwindet in der Zwischenperiode des Niedergangs der APO vollständig. [Alle] die »subjektive« bzw. die »objektive« Seite fetischisierenden Strömungen waren damit längst Objekt des Pazifizierungsprozesses der neuen Linie der herrschenden Klasse geworden. Jahre später, vom Gefängnis aus, [wird] Zahl - [wie] andere[n] außerhalb davon bzw. außerhalb des Landes — der verhängnisvolle [Mangel] einer antiautoritären Massenorganisation klar. Im Prozeß der bitteren Lernprozesse des antiautoritären Sozialisten und 55

Schriftstellers in den nächsten Jahren intensiviert Zahl neben dem politischexistentiaKstischen Widerstand, um überleben zu können, sein Studium der Sozialrevolutionären Geschichte. Die Kritik der Lohnarbeit im besonderen, der »Arbeit« im allgemeinen stand da[bei], soweit ich es sehen kann, immer wieder im Mittelpunkt. Wieweit Lafargue Büchners politische und literarische Tätigkeit zur Kenntnis genommen hat, weiß ich nicht, daß aber Peter-Paul Zahl BakuninLafargue, nicht immer genau unterscheidend, mit Marx-Engels zu ver/46/knoten suchte, ist in den 70er Jahren nachweisbar. Das LafargueBuch über das Recht auf Faulheit, welches die Marx-Familie, Engels und große Teile der französischen Öffentlichkeit in Verstimmung und Entrüstung versetzt hatte, wird Peter-Paul Zahl und anderen, die es lasen, große Freude [bereitet] haben: es geht dabei um die prinzipielle Ablehnung der Leistungsgesellschaft jeder Art. Engels schrieb noch 1883 an Bernstein, der im Feuilleton (!) des Sozialdemokrat Lafargues Text stückweise veröffentlichen wollte: »Mit >droit a la paresse< nehmen Sie sich in acht. Selbst den demokratischen Franzosen war 'das stellenweise zu stark«. 146 Im anti-demokratischen Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts ging es im Feuilleton des Sozialdemokrat unter der Leitung Bernsteins (!) unter, - bei nicht vorhandener gesellschaftlicher Öffentlichkeit in der Tradition der bürgerlichen Revolution bestimmt kein Wunder. Als der Lafargue-Text am Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts wieder [durch] Neuveröffentlichung zugänglich wurde, ging die monopolbürgerliche Öffentlichkeit der BRD ohne [die] Erbschaft bürgerlicher Revolution erneut extrem schnell daran vorbei und hatte mehr Grund dazu denn je, denn die prinzipielle Infragestellung der bürgerlichen Leistungsgesellschaft erhielt ja mit der Revolte der 60er Jahre ihren nicht unwichtigen Beginn in unserer Zeit. Peter-Paul Zahl nahm sich nicht »in acht«, um mit Engels' Worten zu sprechen, sondern versuchte, ihn [Lafargue] produktiv zu verarbeiten. Ob dabei die Erkenntnis von der Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit einem der heutigen Hauptideologen des Leistungsprinzips, halt diesem (!) Bernstein, eine Rolle gespielt hat, weiß ich nicht. Vom Gefängnis aus aber, trotz verschiedenster Beleidigung und Isolationshaft und trotz (!) der notwendigen politisch-existentialistischen Widerstandsformen, die beileibe nicht ohne jegliche negative Rückwirkung sind, fähig zu sein, im Jahre 1976 ein Essay in bester Tradition von Büchner und Lafargue über eine » P a r t e i gegen die Arbeit«! 1 4 7 ^ zu verfassen, verweist auf politisch-literarische Fähigkeiten eines höher gewordenen Niveaus, trotz alledem. Grundlage des schelmenhaften »Parteiprogramms« - und keine echte Schelmentradition hat sich je in Witzeleien erschöpft - ist die Erkenntnis des Widerspruchs zwischen dem höchstentwickelten ökonomisch-technischen Reichtum und den unterentwickelt gehaltenen Bedürfnissen. Sein »Parteiprogramm neuen Typs« ist beileibe nicht vergleichbar mit anderen Parteipro56

grammen. Der Dichter Zahl insistiert erst einmal auf eine [r] Erbschaft der Neuen Linken, auf [der] Negation der Arbeit, und sieht die Arbeitsverweigerung als grundlegende Voraussetzung für die Freiwerdung von menschlichen Entwicklungsbedürfnissen [an]. Der subversive Schelmen-Ton d i e s e s Sozialisten u n d Schriftstellers läßt nicht auf sich warten. Seine Freunde im Gefängnis ergreife ein »heiliger Zorn« über das, was sich bei denen abspielt, [47] die den Namen Neue Linke noch für sich beanspruchen: »Hatten wir uns denn je um Arbeit und Beruf geschert — im K a p i t a l i s m u s ? Man wagte, uns >Hedonismus< vorzuwerfen (wovon es gar nicht genug geben kann) — und Ihr bettelt darum, >Berufe< ausüben zu dürfen?« il48 l Ob nun Lehrer, Pfarrer, Rechtsanwalt etc., die am meisten in den Staatsdienst hineinwollen und bestimmten Bedingungen unterliegen, was treibt die eigentlich auf diesen Weg? Der Dichter Peter-Paul Zahl verweist sie auf ihre eigene Jugendgeschichte und stellt die Frage: »Habt Ihr so schnell verdrängt, daß unsere in staubigen und langweiligen Klassen(!)-Zimmern verbrachte Kindheit und Jugend Mord und Totschlag an Initiative, Spontaneität, Spieltrieb, unserer Lebenslust, kurz: unserer Zukunft als Menschen war?«l149J Und mit Brechtscher Zunge ruft er uns allen zu: »An wem liegt es, wenn Angst oder Resignation regieren? An uns!«l15°l Wie in seinem ersten Roman fragt er nun die nach [einer Tätigkeit als] Rechtsanwalt, Dozent etc. Strebenden, ob sie solch eine Tätigkeit bis zum 65. Lebensjahr haben wollten, ob da nicht ein »Heiliger Schauder« aufkäme!? Von dieser Frage leitet sich bei ihm nun eine weitere provokative Frage ab: »Sind Arbeitslosigkeit und Berufsverbot nicht vielmehr Vorstufen künftiger Arbeits- und Lebensweisen?« Ohne eine »Große Aneignung«, Sozialisierung in verschiedenster Form, vollziehe sich eine soziale Emanzipation bestimmt nicht. Den unverdinglichten Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse kann sich Zahl ohne Lust schier nicht vorstellen, »den Anderen« »in Spiel, Freude und Kooperation« den alternativen Weg zu zeigen, zu leben, hält er für unerläßlich^151! In den hochentwickelten Industrieländern gab es um 1976 18 Millionen Arbeitslose (heute sind es beileibe nicht weniger), und der Dichter stellt die These auf: »Spricht sich endlich herum, wie wunderschön Muße sein kann, wird unsere Branche gewaltigen Zulauf aus Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungssektor erhalten«J1521 Denn schließlich sind » T a n z , Ges a n g , Spiel, M ü ß i g g a n g « eine echte Alternative zu » S t r e ß , D r e c k , G e s t a n k , L ä r m , B e r u f s k r a n k h e i t « . Über letzteres konstituiert sich die »zweite Natur« (als Lohnsklaverei und »Staatssklaverei« mit niedriger zweiter Natur ...) des Pseudosubjekts. (In der Staatssklaverei vielleicht viel genauer die Subjektlosigkeit). Erst über »Tanzen ... Müßiggang« erhält die gesellschaftliche Natur der Subjektivität ihre objektive MöglichkeitJ1«] Steckt in diesen Thesen nicht eine völlige Mißachtung der »Produktion um der Produktion halber«, jene Einsicht, die Marx bei Ricardo bereits auffand und hoch einschätzte? Ist der Vorwurf von Marx und Engels in der Deut· 57

sehen Ideologie gegen Feuerbach, [er werde] in wenigen Monaten nicht [in der Lage sein,] die Welt und sich wiederzuerkennen, wenn sich nicht täglich Produktion voll[48/ziehen würdef154H, tatsächlich begründet]? Das Kapital des Meisters der Kritik der politischen Ökonomie ist dem Dichter, Schriftsteller und Sozialisten wohlbekannt, ob ausreichend genug, muß nicht nur er immer wieder beweisen. Diejenigen, die ihn mit Sicherheit sofort erneut des »Subjektivismus« beschuldigen, zeichnen sich oft dadurch aus, die Kategorien von »Lebenszeit« und »Mußezeit« im Marxschen GroßWerk nicht zu kennenJ155! Des weiteren sollte daran erinnert werden, daß bereits in den Träumen von Aristoteles über die Automation die Aufhebung der Lohnsklaverei antizipiert wird, ohne schon direkt von einer Lohn-Sklaverei in der kapitalistischen Produktionsweise etwas zu wissen: »wenn jedes Werkzeug auf Geheiß, oder auch vorausahnend, das ihm zukommende Werk verrichten könnte, wie des Dädalus Kunstwerke sich von selbst bewegten, oder die Dreifüße des Hephästos aus eignem Antrieb an die heilige Arbeit gingen, w e n n so die W e b e r s c h i f f e von s e l b s t w e b t e n , so bedürfte es weder für den Werkmeister der Gehilfen, noch für die Herrn der Sklaven«J156^ Aus den Gedichten der germanischen Frauen wissen wir von deren Ablehnung der Wassermühle, und in der alten Griechen-Zeit wird die A r b e i t zwar anerkannt, aber dennoch wird die A r b e i t s l o s i g k e i t gepriesen: »Schonet der mahlenden Hand, o Müllerinnen, und schlafet Sanft! [es verkünde der Hahn euch den Morgen umsonst!] Däo hat die Arbeit der Mädchen den Nymphen befohlen, Und itzt hüpfen sie leicht über die Räder dahin, [Daß die erschütterten Achsen mit ihren Speichen sich wälzen, Und im Kreise die Last drehen des wälzenden Steins.] Laßt uns leben das Leben der Väter, und laßt uns der Gaben Arbeitslos uns freun, welche die Göttin uns schenkt.«l157J

Peter-Paul Zahl befindet sich offenkundig in bester Tradition, und sein neuester Roman Die Glücklichen, dieser unvorstellbare Schel[m]en-Romani158l, ist voll davon. Wegen der Breite und Tiefe des darin enthaltenen sozialkritischen Sprengstoffs verzichte ich hier mit Absicht darauf, ihn irgendwie wiederzugebenJ159) Widerstehende Literatur f

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Anmerkungen des Herausgebers Als Rudi Dutschke am 22. November 1979 seinen Büchner-Zahl-Essay in der Fassung C2 aus den Händen gab, machte er die Herausgeber der Peter-Paul-Zahl-Anthologie Kontrabande in seinem Begleitbrief darauf aufmerksam, der Artikel sei »noch ohne Anmerkungen u. a. m.« Im Brief vom 1. Dezember 1979 unterstrich er erneut, daß »noch ca. 20 Anmerkungen [fehlen]«. Diese Anmerkungen liegen, wie ich erst geraume Zeit nach dem Erscheinen von Kontrabande im Sommer 1980 entdeckte, in den nachgelassenen fragmentarischen Fassungen D und in der letzten Fassung £ im Entwurf vor. An den Fassungen D und £ (letztere eine umfassende Überarbeitung der miteinander vereinten Fassungen C2 und D) arbeitete Dutschke bis unmittelbar vor seinem Tod am 24. Dezember 1979. Die von Dutschke skizzierten 21 Anmerkungen sind in all ihrer Vorläufigkeit oben jeweils als Fußnoten abgedruckt und vom Hrsg. teilweise in eckigen Klammern ergänzt bzw. kommentiert. Einige hochgestellte Klammern ohne Ziffern im Text lassen darauf schließen, daß Dutschke sich wohl nicht mit diesen 21 Anmerkungen begnügt hätte. In den Anmerkungen des Herausgebers werden die meisten Zitate des Essays lokalisiert und belegt; darauf hatte Dutschke, wie seine eigenen Anmerkungen beweisen, in der Regel verzichtet. Darüber hinaus enthalten diese Anmerkungen u. a. Überlegungen zu Problemen der Textkonstitution, einzelne Texteingriffe werden erläutert, es finden sich Querverweise auf die vielfältigen Materialien zum Essay aus Dutschkes Nachlaß — vor allem auf Briefe, Exzerpte und Entwürfe des Artikels -, vereinzelt werden Abweichungen aus anderen Fassungen mitgeteilt, und es werden Dutschkes Veröffentlichungen herangezogen oder auch einige seiner Irrtümer kommentiert. Man mag daran zweifeln, ob der Essay durch die Fülle der Herausgeber-Anmerkungen lesbarer geworden ist, doch war es die Absicht, durch sie den kommunikativen Gebrauchswert des Essays mit seiner bewegten und bewegenden Entstehungsgeschichte zu erhöhen. Die Ausführlichkeit der Anmerkungen erscheint gerade auch wegen des nach wie vor fragmentarischen Charakters des Artikels berechtigt, - sie ist deshalb auch ein Ausdruck von Trauerarbeit.

Abkürzungen und Siglen I. Manuskripte und Artikel aus dem Nachlaß A B C Cl C2 D

- Erster (überlieferter) Gesamtentwurf von Dutschkes Artikel, Basisfassung, davon S. 7-33, 36-40 erhalten; = A in überarbeiteter, erweiterter Form, S. 2-43 erhalten; = ß in überarbeiteter, erweiterter Form, S. 1-48 erhalten, S. 22/23 handschriftlich skizziert; = leicht überarbeitete Kopie von C, S. 1-21, 24-48, Kopiervorlage für C2 und D; = Kopie von Cl (S. 22 und 23 maschinenschriftlich), Grundlage der dänischen Übersetzung in Kontrabande; = handschriftlich bearbeitete Fotokopie einiger Cl -Seiten, S. 2-7a, 9-10, 14, 18-19, mit ersten handschriftlichen Notizen zu Dutschkes Anmerkungen; 59

£

= letzte Fassung, Kombination aus erweiterter D-Reinschrift und jenen (z. T. überarbeiteten) C2-Seiten, die in D »fehlen«, 50 Seiten -l- handschriftlich skizzierter Entwurf der Anmerkungen. Sammelsigle für die übrigen im Nachlaß erhaltenen Blätter und Artikel zum Themenkreis Büchner-Zahl. YA-YG hand- und maschinenschriftliche Fragmente von Entwürfen, die zur Fassung A führten, vgl. die Blätter Y4, Y5, YJ7-Y22. Yl V/eior-Exzerpte; Y2 »Saint-Simonismus/Fourierismus«-Exzerpte; Y3 Brief-Exzerpte aus HA II; Y4 Brief-Exzerpte aus HA II und Yß-Entwurf; Y5 Überlegungen zu Büchner und Weidig, MEW-Exzerpte, YA-Entwurf; Y6 Überlegungen zum Hambacher Fest, Raddatz- und Engelmann-Exzerpte; Y7 methodische Überlegungen und Kurzexzerpte aus Dantons Tod (nach GB/ RUB); Y8 Exzerpt aus Marx* Kapital·, Y9 Fotokopie eines handschriftlichen Inhaltsverzeichnisses zum Essay, vermutlich Vorstufe des C2-lnhaltsverzeichnisses; Y10 Walter Grabs GB ////-Rezension, Frankfurter Rundschau, 9.10.1979; l Peter-Paul Zahls Artikel Müßiggang statt/oder Arbeit. - In: Der lange Marsch, hrsg. [u. a.] von Tilman Fichter, Berlin/West, Nr. 23, September 1976, s. u. S. 136-8; 2 Peter-Paul Zahls Gedichte DGB, o de an keinen arbeitsplatz, sabotage (Typoskripte auf Durchschlagpapier); Y13 handschriftliche Exzerpte aus Knapp und aus HA II; 14 kurze handschriftliche Exzerpte aus Bakunins Staatlichkeit und Anarchie und aus Engels' Geschichte des Bundes der Kommunisten; 15 Exzerpte zu Lafargues Recht auf Faulheit auf der Rückseite einer Antwortkarte des Rotbuch-Verlags zum Thema Zahl; Yl 6 methodische Überlegungen über das Ende des Artikels (S. 48/C bzw. E) und über den Unterschied Büchner/Zahl (handschriftlich); Y17, Yl# Teil einer Vorstufe v o r A, drei S.Typoskript, l S.Manuskript, thematische Überschneidungen u. a. mit den Seiten 18, 21, 30, 42 von C2 - Vorfassung YC; 9 fragmentarische S. 11 einer Vorstufe vor (Vorfassung YD) auf der Rückseite einer Einladung der »Grünen« zu einer Veranstaltung im Mai 1979; Y20, Y21 Teil einer Vorstufe v o r , thematische Überschneidungen mit S. 21/C (Vorfassung YE), zwei S. Typoskript, eine S. Manuskript; Y20 = Weiterentwicklung von Y17a; Y22 Teil einer Vorstufe vor A, wahrscheinlich Entwurf der S. 26/A (YF) — Rückseite identisch mit Rückseite von S. 25/A — d. h. fragmentarischer Brief; Y23 handschriftliche Notizen über »Das Versagen des bürgerlichen Rechtsstaates und das Aufkommen des Untergrundes«; auf der Rückseite Typoskript, inhaltliche Überschneidungen mit den S. 31 ff. der Fassung C (= YG); Y24 Original des fotokopierten handschriftlichen Schlußteils der S. 43/ß; Y25 Knappe handschriftliche Arbeitsanweisung: »P. P.-Essay neu durchgehen (mit Anmerkungen!!) (Neue Büchner-Studie ...?)«.

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II. Werke von und über Büchner, die sich mit Dutschkes Arbeitsspuren im Nachlaß fanden Beckers

Büchner-Preis

BW E

Cato-Rede

GB/RUB Goltschnigg HA

Knapp Hans Mayer Mosler Seelig Vietor

Gustav Beckers: Georg Büchners »Leonce und Lena«. Ein Lustspiel der Langeweile. — Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1961; Der Georg-Büchner-Preis (1951-1978). Eine Ausstellung des.Deutschen Literaturarchivs Marbach und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, Wissenschaftszentrum Bonn-Bad Godesberg, 11. Oktober-26. November 1978. Ausstellung und Katalog: Dieter Sulzer, Hildegard Dicke und Ingrid Kußmaul. — Marbach 1978; Georg Büchner/Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Briefe, Prozeßakten. Kommentiert von Hans Magnus Enzensberger. - Frankfurt: Insel 1974 [U965] (= insel taschenbuch 51); Deutsche Reden. Herausgegeben von Walter Hinderer. Teil I: Von Berthold von Regensburg bis Uhland. - Stuttgart: Reclam 1973 (= Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 9672-78); darin Büchners Rede zur Vertheidigung des Cato von Utika (S. 441-450) und Schellings Rede an die Studierenden der Ludwig-Maximilians-Universität zu München (S. 451-45*)', Georg Büchner: Dichtungen. - Leipzig: Reclam 81979 (= Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 20); Dutschkes Handexemplar; Dietmar Goltschnigg (Hrsg.): Materialien zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Georg Büchners. — Kronberg: Scriptor 1974; Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. — München: Hanser 1974 (Bd. 1), 1972 (Bd. 2); im Nachlaß nur Bd. 2; Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. - Stuttgart: Metzler 1977; Georg Büchner und seine Zeit. — Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972 (= suhrkamp taschenbuch 58); Peter Mosler: Georg Büchners »Leonce und Lena«. Langeweile als gesellschaftliche Bewußtseinsform. — Bonn: Bouvier 1974; Georg Büchner: Gesammelte Werke. Mit einem Lebensbild herausgegeben von Carl Seelig. - Zürich: Artemis 1944; Karl Victor: Georg Büchner. Politik. Dichtung. Wissenschaft. Bern: Francke 1949.

III. Übrige Siglen Dokumentation

EK G B 1111 Hg/Anm.

Am Beispiel Peter-Paul Zahl. Eine Dokumentation. Hrsg. von Erich Fried, Helga M. Novak u. der Initiativgruppe P.-P. Zahl. - Frankfurt/M. 31978 t11976]; Editorischer Kommentar = Ernst-Ullrich Pinkert: Langer Marsch, aufrechter Gang, Schmerzen verschiedener Art (s. unten S. 76-153); Georg Büchner IIU. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1979 (= Sonderband aus der Reihe text + kritik); Ernst-Ullrich Pinkerts Anmerkungen zu Dutschkes Büchner-ZahlEssay (nachfolgend);

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Kontrabande

MEW RDA

Peter-Paul Zahl: Kontrabande. Tekster af og omkring en tysk digter, samlet og redigeret af Doris Teller og Ernst-Ullrich Pinkert. Med efterskrift af Rudi Dutschke. — Kopenhagen: Informations-Verlag 1980 [Konterbande. Texte von und über einen deutschen Dichter. Hrsg. von Doris Teller und Ernst-Ullrich Pinkert. Mit einem Nachwort von Rudi Dutschke]; Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. - Berlin 1967 ff.; Rudi Dutschke: Aufrecht gehen. Eine fragmentarische Autobiographie. Hrsg. von Ulf Woher. - Frankfurt/M., Ölten, Wien: Büchergilde Gutenberg 1984 [U 981].

Anmerkungen [1] Die z. T. erheblichen Unterschiede zwischen den Kapitelüberschriften im Inhaltsverzeichnis und denen im Text wurden so belassen; sie dokumentieren Denkprozesse, die im Editorischen Kommentar unter Bezugnahme auf die in Dutschkes Nachlaß vorhandenen Materialien erläutert werden. [2] In seinem Brief vom 1. 12. 1979 erklärt Dutschke, er lasse den 5. Abschnitt »jetzt weg«, denn sein Beitrag enthalte »bereits zu viele Seiten«. [3] Dutschke schreibt irrtümlich: »in der Mittelschule«; Zahl besuchte das Gymnasium in Velbert und Ratingen. [4] Im Kursbuch kommt nur Ernst Bloch in einem Gespräch über Ungleichzeitigkeit (Nr. 39,1975, S. 1-9) auf die Aktualität des Hessischen Landboten zu sprechen (S. 2 u. 8). Da das Kursbuch keinen Artikel über den Hessischen Landboten enthält, dürfte Dutschke hier an die von Enzensberger im selben Jahr (1965) herausgegebene, Aufsehen erregende Ausgabe des Hessischen Landboten (BWE) gedacht haben, die mit vielfältigen Arbeitsspuren in seinem Nachlaß vorliegt (vgl. zu dieser Verwechslung auch EK). [5] Zu Lenins Frage »Was tun?« nahm Dutschke auch in einem Gespräch mit Herbert Marcuse Stellung: »Mareuse hat niemals versucht, ein »Handbuch< wie etwa Lenin mit Was tun? zu schreiben, Anleitungen zum Handeln zu geben. Das haben wir verstanden. [...] Es ist unsere Aufgabe, die Antwort auf die Frage >Was tun?< zu finden. Ein wesentliches Element der gesellschaftlichen Emanzipation der Arbeiterklasse besteht darin, daß diese Klasse lernt, ihre Emanzipation selber zu betreiben und zu verwirklichen. Wir brauchen keine Partei, die stellvertretend für die Arbeiterklasse denkt, hofft, agiert, und wir brauchen keinen starken Mann, der dies anstelle oder mittels einer Partei tut.« (Gespräche mit Herbert Marcuse. Gesprächsteilnehmer: Herbert Marcuse, Jürgen Habermas [...], Rudi Dutschke [...]. - Frankfurt/M. 1978 [= edition suhrkamp, Bd. 938], S. 138). [6] In Ernst Blochs Buch Das Materialismusproblemt seine Geschichte und Substanz (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972), von dem sich ein Widmungsexemplar des Verfassers in Dutschkes Nachlaß findet, gibt es ein Kapitel »Zum Kältestrom-Wärmestrom in Naturbildern« (S. 316-376). Am Ende dieses Kapitels heißt es u. a.: »Bei alledem sind die ökonomisch-quantitative und die human-qualitative Analyse miteinander verbunden, der Kältestrom hier, der Wärmestrom dort, derart, daß im Marxismus das Wahre am Wärmestrom erst feststellbar wird durch den Kältestrom.« (S. 374) Im letzten Satz des Kapitels formuliert Bloch die Hoffnung, daß einmal »die Beziehungen des Menschen zum Menschen und zur Natur selber weniger Kältestrom nötig machen und den Wärmestrom einfacher.« (S. 376). [7] Am 25. Juli 1984 teilte mir Zahl demgegenüber mit: »es gab durchaus heftige literaturdiskussionen, auch und grad über Büchner, 1964/65 ff. im >jungbuchhändlerkellerclub a i r a < ; auch war Büchners Hessischer Landbote eins meiner ersten >zwergschul-ergänzungshefte«; vgl. £/C, Anm. 35. [8] Dutschke schreibt »nachzufolgen«. [8a] In Walter Hinderers kurzer Einleitung zu Büchners Rede zur Verteidigung des Cato von Utika hob Dutschke u. a. mit Kugelschreiber hervor, daß der »vor allem« von »Büchners Mutter verehrte [...] Schiller« bei dieser Rede vereinzelt Formulierungshilfe geleistet habe; vgl. Cato-Rede, S. 441. [9] Vgl. HA I, 185 ff. Dutschke meint neben den Gedichten auch das Erzählfragment ... Augen von der Brandung verschlungen. [10] Vgl. HA II, 26, Z. 7, 17-19. [11] Vgl. HA II, 28, Z. 9. [12] Vgl. HA II, 31, Z. 31-36. [13] Die Zitate des Bonner Historikers Barthold Georg Niebuhr (1776-1831) konnten nicht nachgewiesen werden. Seine Römische Geschichte erschien in 3 Bänden 18111832. [14] Friedrich Schelling: Rede an die Studierenden der Ludwig-Maximilians-Universität zu München (in der Aula Academica am Abend des 29. Dezember 1830), zit. nach der von Dutschke benutzten, im Nachlaß vorhandenen Quelle Cato-Rede, S. 455. Dieses und das nächste Schelling-Zitat (Hg!Anm. 15) sind hier von Dutschke handschriftlich hervorgehoben. Am oberen Rand der S. 455 notierte er mit Filzstift: »Kein Freiheitsbegriff bei Schelling«. [15] Ebenda, S. 457 f. [16] Ebenda, S. 457. [17] HAU, 29, Z. 5 f. [18] HA II, 30, Z. 27. [19] HA II, 28, Z. 34 ff. [20] HA II, 29, Z. l f. [21] HA II, 25, Z. 11 f. [22] Das Kapital, Bd. 3, MEW, Bd. 25, S. 828. [23] Vgl. Hg/Anm. 155. [24] HA II, 7, Z. 24; 9, Z. 1; 13, Z. 7; 25, Z. 20. [25] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. — Frankfurt/M. 4 1980, S. 158 f. - Die Hervorhebungen fehlen bei Dutschke. [25a] Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. [ . . . ] Vorlesungen, gehalten zu Berlin, im Jahre 1804-1805. Berlin 1806. - In: J. G. F.: Werke. Auswahl in sechs Bänden. Vierter Band. - Leipzig [o. JJ, S. 393 ff., hier besonders S. 405 u. 412. [26] HA II, 12, Z. 8 f. [27] HA II, 25, Z. 10 f. [28] Vgl. HA II, 25, Z. 9 f. u. 7, Z. 16. [29] Vgl. HA II, 25, Z. 12 ff. sowie 7, Z. 15 f. (Hervorhebung von Dutschke geändert). [30] Vgl. Hg/Anm. 3. [31] Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. - Stuttgart 1977, S. 17. - Ebenfalls mit zahlreichen Randbemerkungen in Dutschkes Nachlaß. [32] HA II, 413. [33] Vgl. HA II, 443: »die Geschichte ist vom lieben Herrgott nicht zu einer Lecture für junge Frauenzimmer geschaffen worden«. [34] HA II, 418, Z. 2 f., 13 f.; 417, Z. 25 f. [35] Friedrich Engels (über Fourier) in: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. - in: MEW, Bd. 19, S. 177-228, hier S. 196; vgl. dazu auch S. 566 f.

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- Dieses Engels-Zitat stammt aus dem Jahre 1880; doch schon 1845 hatten Engeis und Marx Fourier in der Heiligen Familie zustimmend zitiert: »Die Erniedrigung des weiblichen Geschlechts ist ein wesentlicher Charakterzug der Zivilisation wie der Barbarei [...]. Die Veränderung einer geschichtlichen Epoche läßt sich immer aus dem Verhältnis des Fortschritts der Frauen zur Freiheit bestimmen, weil hier im Verhältnis des Weibes zum Mann, des Schwachen zum Starken, der Sieg der menschlichen Natur über die Brutalität am evidentesten erscheint. Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation.« (MEW, Bd. 2, S. 208). [36] HA H, 418. [37] In C2 endet der Abschnitt folgendermaßen: »(Können wir nicht bei Peter-Paul Zahl in vielen seiner Gedichte, in seinem ersten Roman Von einem, der auszog, Geld zu verdienen bereits einen sehr verschiedenen Inhalt und Begriff von Liebe und zwischenmenschlicher Beziehung auffinden?)«. Der Roman, auf den Dutschke sich unten bezieht (vgl. Hg/Anm. 136-140,142, 144, 148 u. ö.), erschien 1970 in Düsseldorf, die Belege folgen der Neuauflage im Verlag freie Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976. Die in C2 am Ende des Abschnitts eingeklammerte Frage fehlt in B (S. 10), ist dort aber ansatzweise in dem handschriftlichen Zusatz »[Welche Frage f P. P. Z.?]« enthalten. [38] Max Beer widmet in seiner Allgemeinen Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, 7. Aufl. mit Ergänzungen von Hermann Duncker. - Berlin 1931 [H920] den 4. Abschnitt im 1. Kapitel des 5. Teils dem Thema »Sozialkritische und Sozialrevolutionäre Versuche« in Deutschland zwischen 1800 und 1847. Dabei läßt er zwei Namen in die Oberschrift eingehen: (Ludwig) Gall und Büchner. Beer behandelt in diesem Abschnitt (S. 501-504 in der 2. Aufl. des Nachdrucks der 7. Aufl. - Erlangen 1972) auch den Frankfurter Wachensturm (S. 503). Von »demokratischen Putschisten« ist aber nicht hier die Rede, sondern im Abschnitt über den »Bund der Gerechten« (V.II.2). Hier wird u. a. Karl Schapper als ein »Geheimbündler« vorgestellt, der »stets bereit [war], an einem demokratischen Putsch teilzunehmen.« (S. 507). [39] HA II, 416 f. [40] Dutschke schreibt »wenige Wochen«, Büchner hielt sich jedoch erst von August bis Oktober 1832 wieder in Darmstadt auf. [41] Dutschkes Quelle für das Zitat der Rede des später mit Marx und Engels eng befreundeten Bürstenbinders Johann Philipp Becker (1809-1886) ließ sich nicht ermitteln. Der betr. Ausschnitt findet sich allerdings in zahlreichen Darstellungen des Hambacher Festes. [42] Vgl. HA U, 417. [43] HA II, 416. - Büchner hebt gesetzlichen Zustand hervor. [44] HA II, 418. [45] Vgl. Knapp (Hg/Anm. 31), S. 22, und HA H, 418. [46] HA II, 7, Z. 31 f.; 25, Z. 24. [47] HA H, 420. [48] HAH, 422. [49] HA II, 426. [50] HAH, 429. [51] In dieser Weise unklar schon im ersten maschinenschriftlichen Gesamtentwurf (A) und noch in C2. Vielleicht soll der Satz so gelesen werden: »[...] begann sich Büchner in die Lokal-Politik einzumischen, [eine Tätigkeit, die] er von Straßburg aus ganz anders gesehen hatte, damals, [als er] sich in seinem [Überblick, über die deutsche Lage schärfer äußerte [und auch] die [Grenzen] des organisierten Widerstands benannte.« [52] HA II, 425, Z. 1. [53] HA II, 425, Z. 32. [54] Vgl. HA II, 25, Z. 31. 64

[55] Vgl. HA II, 425 f. [56] HA II, 427, Z. 22 ff. [57] HA II, 427, Z. 25 f. [58] HA II, 426, Z. 32 ff. [59] Ergänzt aus C2. Zu Johann Philipp Becker vgl. oben Hg/Anm. 41. [59a] An dieser Stelle eine hochgestellte Anmerkungsklammer noch ohne Ziffer. [60] Zit. nach BWE, S. 119; Dutschkes Hervorhebung. Die zitierten Passagen sind in Dutschkes Exemplar mit Kugelschreiber bzw. mit gelbem Filzstift deutlich hervorgehoben. Von »Geldsack« führt ein Pfeil quer über die Seite; an dessen oberem Ende notierte Dutschke: »Wucher-Kapital Abhängigkeit...«. Das in Dutschkes Essay an dieser Stelle verwendete Wort »Hebel« findet sich im übrigen auf dieser Seite 119 ebenfalls als Randbemerkung vorformuliert; dies geschieht neben der Zeile »am Geldsack. Dieß muß man benutzen, wenn [...]« (Dutschkes Hervorhebungen mit Kugelschreiber). Das Bild vom »Hebel« hat Dutschke mit Sicherheit Büchners Brief an Gutzkow entnommen (1836; HA II, 455, Z. 19 f.), wo es gleich zweimal erscheint. Die entsprechende Briefstelle hat er in BWE (S. 86) durch Anstreichungen hervorgehoben. [61] Zit. nach BWE, S. 119. [62] Zit. nach BWE, S. 124 f. - Hier von Dutschke durch Unterstreichungen hervorgehoben. [62a] In Dutschkes Fassung C2 war die vorangegangene Passage noch vorsichtiger formuliert: Weidig habe zwar den Text des Hessischen Landboten »an verschiedenen Stellen wesentlich in [seiner] Richtung verschoben. Dieser sekundäre, nicht uninteressante Punkt interessiert mich erst einmal nicht. Viel wichtiger scheint mir Büchners Beurteilung - von Analyse kann keine Rede sein — der >Capitalistenleer ausgehen^ Und wir bekommen sogar über Becker die r e g r e s s i v e Seite des Dichters in d[ies]er Hinsicht zu hören: >lieber soll es bleiben, wie es jetzt istallgemeine[n] Monarchie oder auch Republik. Warum? Weil es dann einen >Geldaristokratismus wie in Frankreich< geben würde. Die Beschränktheit einer solchen antikapitalistischen Haltung ist unübersehbar. P r o g r e s s i v i t ä t und R e g r e s s i v i t ä t sind in der Zwischenzeit der Leere, wo die alte Produktionsweise nicht mehr wirklich lebt und die neue sich noch nicht durchgesetzt hat, äußerst eng miteinander verbunden.« (C2, S. 18). [63] Zit. nach BWE, S. 121 f. [63a] WieAnm.59a. [64] Karl Marx u. Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. - In: MEW, Bd. 3, S. 179. - Das Zitat befindet sich bereits im Entwurf YA auf dem Blatt Y56. [65] MEW, Bd. 3, S. 178. - Dieses Zitat findet sich als handschriftliches Exzerpt auf dem Blatt Y5a im Nachlaß. [66] Dutschke zitiert hier nach seinem Handexemplar, GB/RUB, S. 186, wo die entsprechende Passage zweifarbig hervorgehoben worden ist. [67] Gerade die von Dutschke zitierte Passage geht aber wohl auf Weidig zurück; vgl. GB ////, S. 228 ff. [68] Der Text ist an dieser Stelle unklar. Im Nachlaß hat sich ein erster Entwurf dieser Passage erhalten (YA; vgl. E1Q, der etwas deutlicher ist: »Herrschende bornierte Lokalinteressen sind noch lange nicht nationale Interessen, noch lange nicht Glied des nationalen Marktes. Wie stark (o. schwach) war denn der alte Feudaladel? Wie läßt sich die starke Unabhängigkeit der Klein-Monarchien der Duodezfürsten schnell als ein >Glied< des >deu[tschen] Volkes< fassen?« Der Ausdruck »bornierte Lokalinteressen« ist im übrigen ein indirektes Marx-Engels-Zitat. In der Deutschen Ideologie (MEW, Bd. 3, S. 177) ist nämlich von »kleinlichen Lokalinteressen« und von »provinziellefr] Borniertheit« die Rede.

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[68a] MEW, Bd. 3, S. 177. - In Verbindung mit d i e s e m Zitat läßt sich im übrigen dokumentieren, wie sehr sich Dutschke bei seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Hessischen Landboten an Marx* und Engels1 Deutscher Ideologie orientierte. Im Nachlaß findet sich das Buch - total zerlesen - als Teil der MEG A vor. (I. Abtig., Bd. 5. - Moskau, Leningrad 1933); die betreffende Passage ist hier von Dutschke hervorgehoben und am Rand unter Bezug auf Büchner kommentiert worden. Das Zitat im Kontext — hier S. 176: »Der Ackerbau wurde auf eine Weise betrieben, die weder Parzellierung, noch große Kultur war, und die trotz der fortdauernden Hörigkeit und Fronlasten die Bauern nie zur Emanzipation forttrieb, sowohl weil diese Art des Betriebes selbst keine aktiv revolutionäre Klasse aufkommen ließ, als auch weil ihr die einer solchen Bauernklasse entsprechende revolutionäre Bourgeoisie nicht zur Seite stand.« Dutschkes Randbemerkung lautet »gegen Büchner«. Der Essay zeigt, daß er diese Passagen der Deutschen Ideologie tatsächlich »gegen Büchners« Positionen im Hessischen Landboten einsetzt. - Auch an einer anderen Stelle wendet sich Dutschke beim Durcharbeiten der Deutschen Ideologie »gegen Büchner« (MEW, Bd. 3, letzter Abschnitt S. 68 = MEGA I, 5, S. 58). [69] Dutschke schreibt »Münzenberg«. [70] Dutschke hat den Hessischen Landboten in seinem Handexemplar (GB/RUB, S. 175 ff.) gelesen, wovon die zahlreichen Unterstreichungen auf jeder Seite zeugen. Dutschkes handschriftliche Randbemerkungen, mit denen einzelne der Positionen Weidigs hinterfragt werden, sind in die im Essay formulierte Kritik eingegangen, und diese wird auch in einigen handschriftlichen Fragmenten aus dem Nachlaß greifbar (V5a, Y5b). Abgesehen von der Randbemerkung »Cato« ganz am Ende des Hessischen Landboten (GB/RUB, S. 186; entsprechend HA II, 58, neben Zeile 37 f.) finden sich alle Randbemerkungen auf den ersten Seiten des Textes, und sie gelten vor allem der Bedeutung der Rolle der Kirche in dieser Flugschrift. Direkt im Anschluß an die sechs Punkte, mit denen die Abgaben der hessischen Bevölkerung bezeichnet werden, schreibt Dutschke »Wo ist die Kirche?« (GB/ RUß, S. 176; entspr. HA II, 36). Zwei Abschnitte weiter, wo im Text von denen die Rede ist, »welche diese [...] Ordnung« zu überwachen haben, notiert Dutschke wieder »Kirche?* (ebd.), zum nächsten Abschnitt »Die Justiz ist in Deutschland seit Jahrhunderten die Hure der deutschen Fürsten.« (GB/RUB, S. 177; entspr. HA II, 38; Dutschkes Hervorhebungen) am Rand daneben: »und Pfaffen, [wenn auch] nicht der unteren Pfarrer wie W[eidig].« In Dutschkes Augen entspricht der Landbote nicht dem Bewußtseinsniveau, das er Büchners Briefen aus dieser Zeit entnimmt. Deshalb findet sich bereits ganz am Anfang der Flugschrift unter offensichtlichem Bezug auf die im Text von ihm unterstrichenen Passagen, wo vom Leben der Vornehmen und dem der Bauern (»langer Sonntag« — »langer Werktag«) die Rede ist, am unteren Rand der Seite die Feststellung: »Er fällt zurück hinter die Briefe aus Straßburg.« (GB/RUB, S. 175). [71] Was die hier angesprochenen Passagen des Hessischen Landboten (vgl. HA II, 46 ff.) betrifft, nicht von Büchner, sondern von Weidig; vgl. Gß ////, S. 256 ff. [72] Zit. nach WE, S. 124. - Mit diesem Verhörprotokoll vom 1.11.1837 hat Dutschke sich besonders lebhaft und intensiv auseinandergesetzt, wie seine Unterstreichungen und Randbemerkungen beweisen. Neben den im Artikel zitierten Sätzen notierte Dutschke »Gzto«, und am Ende des Verhörprotokolls, wo vom »Aristokratismus des Weidig« die Rede ist (BWE, S. 125), machte Dutschke einen Pfeil, der zum unteren Rand der Seite zeigt, wo er dann schreibt: »Insofern ist Weidig und nicht Büchner der progressivste Denker, wie idealistisch auch immer ... Büchner ist Vulgärmaterialist, fortschrittlich und regressiv!« [73] Der gesamte im Text folgende Abschnitt fehlt in B auf der entsprechenden S. 20. Statt dessen endet das Kapitel (2 e) (auch in A, S. 19) mit folgenden Sätzen: »In Danton's Tod, geschrieben nach der Auflösung der Verschwörergruppe und in der Zeit der Verhaftungen, fertiggestellt und an Gutzkow kurz vor der Abreise ins Exil gesendet, lassen sich die 66

progressiven und regressiven Tendenzen wie vorher herausfinden. Ich werde gerade an der Kritik der Arbeit bei Büchner die Nähe und Differenz zu P. P. Zahl herausarbeiten.« in A und B fehlt das ganze nächste Kapitel (2 f.: Z w i s c h e n b e m e r k u n g ) . [74] Brief an die Eltern, Zürich, 20. November 1836, HA II, 462, Z. 28. [75] Vgl. HA II, 32, Z. 4. [76] Der eingeklammerte Text erscheint bei Dutschke nur im Inhaltsverzeichnis. [77] Vgl. HA II, 464, Z. 2. [78] Alfred Meißner: Gedichte [Leipzig 1845]. 2., stark vermehrte Auflage. - Leipzig 1846, S. 104. Zitat aus dem Gedicht Demos, S. 100-108. - Das Kapitel in Meißners Autobiographie, in dem die Wiederbegegnung mit dem Mädchen Celeste in Paris im Jahre 1847 beschrieben wird, läßt allerdings vermuten, daß Meißners generelles Wissen um die »sozialen Gründe« der Prostitution ihn keineswegs davor schützte, rat- und tatlos zuzuschauen, wie »das Frauenproblem im aufsteigenden Kapitalismus« seine geliebte Freundin bedrückte. Meißner schreibt über seine Empfindungen nach der Wiederbegegnung in einem Haus, das er zu spät als Bordell identifizierte, ganz offen: »Ich verbrachte eine schlaflose Nacht und dann einen öden, wüsten Tag, und dann noch viele, viele gestörte Nächte, in denen ich Celeste immer vor mir sah. Helfen? Wie helfen? Was in den Pfuhl gefallen, holt man nicht herauf! Die Sache war unheilbar. Jahrelang ist mir die Sache nachgegangen. Der versprochene Brief Celeste's ist nicht gekommen; ich habe sie nie wiedergesehen und das Haus nie mehr betreten. Auch der Geschichte, wie Alles so gekommen, habe ich nie nachforschen mögen.« (Alfred Meißner: Geschichte meines Lebens, 1. Bd. - Wien und Teschen 1884, S. 209 f.). [79] Die Vorlage für Dutschkes Zitat konnte nicht ermittelt werden. [80] Ebenfalls nicht ermitteltes Zitat. Proudhons »Project der Volksbank« wird aber auch in anderen Schriften Meißners begeistert beschrieben, u. a. im 2. Band der Geschichte meines Lebens, S. 172 f., und im Kapitel Die Arbeiterassociationen in Meißners vielgelesenen Revolutionäre[n] Studien aus Paris (1849). - Frankfurt/M. 1849, S. 183 ff.: »Die Associationen lösen die soziale Frage nicht, aber sie sind eine Anbahnung ihrer Losung. [...] Was ist natürlicher, als daß sie versuchen, sich untereinander zu verbunden, um den Kampf nach Außen solidarisch zu fuhren? Dies werden sie thun. Nächstens schon werden sie zusammentreffen und den gegenseitigen und unentgeltichen Credit unter sich organisiren, wie es Proudhon vorgeschlagen hat. Die >Volksbank< wird hierzu das Mittel sein. [...] Die wichtigste Bedeutung, die die Associationen in meinen Augen haben, ist die eines Prot e s t e s gegen das bestehende Lohnsystem.« [81] Brief an die Mutter, 19. Juli 1845, in: Georg Weerth: Vergessene Texte. Werkauswahl, Bd. l, hrsg. von Jürgen-W. Goette, Jost Hermand, Ralf Schloesser. - Köln 1975, S. 77. — Dutschke zitiert hier und auch beim nächsten Zitat vermutlich nach einer anderen Ausgabe. Eine Textabweichung: »in reinster Absicht« (R. D.)· [82] Ebenda, S. 78. - Textabweichungen bei R. D.: »Daß«; »gähn«. [83] Rheinische Jahrbücher. Hrsg. von Hermann Puttmann. — Darmstadt 1845; vgl. auch Georg Weerth: Vergessene Texte, Bd. l, a. a. O., S. 157. [84] Dutschke bezieht sich hier auf Zahls Brief vom 24.725.3. 1978; s. u. S. 139-153. [85] In einem Brief vom 25. 7. 1984 weist Zahl darauf hin, daß mütterlicherseits gleichwohl eine »proletarische familientradition« vorhanden sei: »mein opa war schuster, die familie wohnte im Wedding Ostberlins, in Friedrichshain«. [86] Ober sein eigenes Verhältnis zu Heidegger und Lukäcs nach seiner Übersiedelung nach West-Berlin im Sommer 1961 schreibt Dutschke [1977/78]: »Nicht Marx und der Sozialismus, Comte und die Soziologie fesselten mich zuerst, es war vielmehr Heideggers Sein und Zeit, das sogenannte existentieüe Problem der Geworfenheit. [...] Die mehrmalige Lektüre von Isaac Deutscher hat [...] auf der historischen Seite eine große Rolle gespielt, wie auf der philosophischen Ebene die noch viel intensivere Studiererei von Lukäcs*

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Geschichte und Klassenbewußtsein. Über. Lukacs [...] stieß ich auf Bloch. Ober diese beiden erfolgte die erste Marx- und Engels-Rezeption [...].« (RDA, S. 37 f.). -- Heideggers Sein und Zeit war in Dutschkes Besitz und liegt (Tübingen: Niemeyer 1960) mit einigen handschriftlichen Arbeitsspuren in seiner Nachlaß-Bibliothek vor. [87] Bertolt Brecht: An die Nachgeborenen. - In: ders.: Gesammelte Gedichte, Bd. 2. - Frankfurt/M. 1976, S. 723 ff., hier S. 725. [88] Dieses und die folgenden Zitate aus einem Brief Zahls an Dutschke, vgl. Hg/Anm. 84. [89] Im Brief vom 25. 7.1984 teilte Zahl mir mit, er habe »damals« im Club £a Ira »auch auszüge aus dem ersten roman«, Von einem, der auszog, Geld zu verdienen ^ vorgelesen. [90] P.-P. Zahl zufolge ist Dutschke besonders über Tilman Fichters und Siegward Lönnendonkers Kleine Geschichte des SDS. - West-Berlin 1977, verärgert gewesen (Zahl am 18. 7.1984 an EUP). [91] Michael Baumanns Buch Wie alles anfing. — München: Trikont-Verlag 1975, war in Dutschkes Besitz; ein Exemplar aus der ersten Auflage des Buches liegt mit Arbeitsspuren in der Nachlaß-Bibliothek vor. - 1976 wurde das beschlagnahmte Buch in Frankfurt von Wolfgang Abendroth, Elmar Altvater, Ingeborg Drewitz und vielen anderen Schriftstellern und Wissenschaftlern neu herausgegeben, zu ihnen gehörte auch Rudi Dutschke. Durch ihre massive Beteiligung an einer zweiten Edition hofften Dutschke und die Mitherausgeber, die Maßnahmen von Polizei und Justiz unterlaufen zu können. Vgl. dazu auch »Bommi« Baumann: Wie alles anfing beschlagnahmt. Dokumentation über die Beschlagnahmung von Literatur. Diskussion über das Buch »Wie alles anfing« — München: Buchguerilla 1976. — Bereits im Herbst 1978 hatte Dutschke Zahl und Baumann in diesem Kontext in einem Atemzug erwähnt: »Am erschreckendsten ist allerdings die Bücherproduktion über die 60er Jahre. Da schreiben zumeist ehemalige Studenten, heute Inhaber von Stellen in den Universitäten [...]. Wie sie ihre eigene Geschichte umschreiben - die Verdrängungen stinken zum Himmel! Bloß gut, daß Peter-Paul Zahl und Bommi Baumann dabei waren und es gelernt haben, ihre, unsere Geschichte vom nicht-studentischen Daseinsblick [...] darzulegen.« — Dutschke: Die Revolte, a. a. O., S. 153. [92] Aus Zahls Brief an Dutschke vom 24. März 1978. - Zahl verweist auf Ostern 1968, als Dutschke niedergeschossen wurde. - Vgl. Hg/Anm. 84. [93] Ebenda. » -Null« ironisch für KPD/AO (Aufbauorganisation); PL/PI: Proletarische Linke/Projektinitiative. [94] Rekonstruktion des bei Dutschke unvollständigen und von ihm mißverständlich ergänzten Zitats nach dem im Nachlaß vorliegenden Brief Zahls vom 24. März 1978, Unmittelbar im Anschluß an die zitierte Charakterisierung der »2. Reihe des SDS« spricht Zahl noch von den »theorief reaks, die aufgrund ihrer Schulung, ihres guten ruf s vom SDS her pipapo - den ganzen laden fraktionierten und zerstörten.« (Vgl. unten, S. 145) - In dem Fragment Y19a9 einer isolierten S. 11, ist Zahls Zitat (korrekter!) vorformuliert. Hier wird Zahl im Anschluß daran auch noch wie folgt zitiert: »Ja, an Großmäulern im SDS, die auf den Straßen extrem ruhig waren, mangelte es beileibe nicht.« [95] Vgl. Hg/Anm. 92. [96] Dieser Satz in C2 und in E handschriftlich. — Zur Vermarktung von Dutschkes Leiden vgl. auch RDA9 S. 97 f. [97] Vgl. Wolf Biermann, Rudi Dutschke, Jakob Moneta: Brief an Petr Uhl. - In: Listy-Blätter, Dezember 1977. Vgl. dazu auch die Peter Uhl betreffende Passage in ADA, S. 44. [98] Dutschke knüpft hier sowohl an Büchners »Komödien«-Begriff für die Karikierung politischer Unzumutbarkeiten, als auch an die einleitenden Sätze von Marx im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte an: »Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen

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weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.« (MEW, Bd. 8, S. 115). [99] Mit diesem Satz »Versuchen wir [...]« beginnt das Kapitel 3 c in B. In B fehlen an dieser Stelle alle autobiographischen Aspekte; der vierte Abschnitt dieses Kapitels 3 c (C2/ E, S. 32 f.: »Bis 1966 hatte ich eine intensive Beziehung« bis »Schmerzen, Sorgen und Beleidigungen zufügt.«) fehlt in ß noch. [100] Zahls Korrektur der Jahreszahlen, Brief vom 25. Juli 1984 an den Hrsg. [101] Vgl. Meo Hellriegel-Rentzel: Alltagslyrik von Peter-Paul Zahl. - In: Courage, 3. Jg., Heft 6, Juni 1978, S. 8-11, hier S. 11. - In Dutschkes Nachlaß findet sich ein fünfseitiger Brief (Kopie) der Marburgerin E. D. vom 18. 6. 1978 an Meo Hellriegel-Rentzel und an die »Courage-Frauen.« Darin setzt sie sich kritisch-solidarisch mit dem Artikel Alltagslyrik auseinander — aber auch mit Zahl. [102] Peter-Paul Zahl: Von einem, der auszog, Geld zu verdienen (vgl. Hg/Anm. 37), S. 83. [103] Meo Hellriegel-Rentzel: Alltagslyrik ..., a. a. O., S. 11. [104] Dokumentation, S. 35. Zahls Hervorhebungen hier wie z. T. auch in den folgenden Zitaten von Dutschke geändert. [105] Dokumentation, S. 35. [106] Der gesamte folgende Teil des Kapitels 3 c in dieser Form nur in C2 und E. Für die beiden letzten Abschnitte des Kapitels gibt es in B kein Vorbild. [107] Kapitel 3 d in C2 und E gegenüber B wesentlich verändert und um eine Seite verlängert. [108] Dokumentation, S. 36. [109] In der Fassung E ist ebenso wie in C2 von den »Anderen« die Rede - in C2 präzisiert Dutschke aber interlinear, was er hier meint: »die Herrschenden«. Das Fehlen bzw. Nicht-eingearbeitet-Sein des handschriftlichen Zusatzes in E dürfte auf ein Versehen zurückzuführen sein. [110] Dokumentation, S. 112. [111] Ebenda, S. 116 und 119. - In Dutschkes Nachlaß ist die Dokumentation nicht zu finden, statt dessen liegt ein größerer Auszug aus Zahls Rede vor dem Revisionsgericht am 13. 2.1976 als Artikelausriß aus der Wiener Zeitschrift Neues Forum vor (Mai/Juni 1976, S. 7-11); der dortige Text entspricht den S. 27-38 und S. 111 ff. (partiell). Dieser Artikel weist Dutschkes typische Arbeitsspuren auf, Zahls Zitate im Essay hier meistens durch Kugelschreiber hervorgehoben. Da das zu belegende Zitat, das aus zwei in der Dokumentation weit auseinanderliegenden Teilen besteht, im Ausriß eine Einheit (ohne Auslassungspunkte) darstellt, ist davon auszugehen, daß Dutschke, der ebenfalls ohne Auslassungspunkte zitiert, die Dokumentation nicht benutzt hat. Dies ist um so wahrscheinlicher, als die vollständige Rede Zahls (= Dokumentation, S. 17-48) auch als Separat- bzw. Sonderdruck mit zahlreichen Arbeitsspuren Dutschkes im Nachlaß vorliegt: Peter-Paul Zahl: Lebenslauf einer Unperson. - [o. O., o.J.], S. 120-145. Hier sind z.T. dieselben Stellen hervorgehoben worden wie in der erstgenannten Kurzfassung im Neuen Forum, die Randbemerkungen aber unterscheiden sich. [112] Die Beschreibung des Attentats ist bereits in einem knappen Ausschnitt aus dem Büchner-Zahl-Essay in Dutschkes posthumer Anthologie Mein langer Marsch (Reden, Schriften und Tagebücher aus zwanzig Jahren, hrsg. von Gretchen Dutschke-Klotz, Helmut Gollwitzer und Jürgen Miermeister) erschienen (Reinbek bei Hamburg 1980 [= rororo, Bd. 4718], S. 136 f.). - In der Fassung C2 wurde der »Lohn-Sklave« Bachmann noch als »Lohn-Arbeiter« charakterisiert. [113] Abgedruckt in: Rudi Dutschke: Geschichte ist machbar. Texte über das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens. Hrsg. von Jürgen Miermeister. - Berlin 69

1980 (= WAT, 74), S. 122-124. Ebenfalls in: R. D.: Mein langer Marsch, a. a. O., S. 130135. [114] Vgl. Rudi Dutschke: Geschichte ist machbar, a. a. O., S. 123, und R. D.: Mein langer Marsch, a. a. O., S. 133. [115] Der eingeklammerte letzte Teil des Satzes stammt aus der Fassung C2, Dutschke hat ihn in E gelöscht. Er wird hier abgedruckt, um den Vergleich zwischen Zahl und Bachmann sinnvoller erscheinen zu lassen. [116] Das Gedicht erscheint hier in einer Vorform; Dutschke schreibt auch »rausholen« statt »rauslassen« - möglicherweise ein Schreibfehler, bei dem der Wunsch der Vater des Gedankens war. In der im Essay vorliegenden Form (ohne Schreibfehler, mit Zwischenräumen zwischen Vers 5 und 6, 7 und 8,10 und 11,13 und 14,16 und 17 war das Gedicht Dutschke bekannt aus Zahls Artikel Frühmorgens ist es der Eilbriefträger — noch. Deutscher Lyriker bekam lebenslänglich. — In: Neues Forum (Wien), Mai/Juni 1976, S. 7-11, hier: S. 11. (Der Artikel liegt als Ausriß im Nachlaß vor, vgl. Hg/Anm. 111). Oberarbeitet und stärker verdichtet wurde der Text in Zahls Gedichtband Alle Türen offen (Berlin/West 1977, S. 68) veröffentlicht. Peter-Paul Zahl teilte mir (im Brief vom 18. 7. 1984) mit, er habe »des öfteren arbeitsfassungen neuer texte« an Freunde und Bekannte verschickt; eine solche Arbeitsfassung des Gedichts könnte auch Dutschke erhalten haben. Vgl. u. a. auch die »arbeitsfassungen« von drei Zahl-Gedichten in Dutschkes Nachlaß (YJ2, TyposkriptDurchschläge): DGB, öde an keinen arbeitsplatz, sabotage. [117] Vgl. dazu Dutschkes Brief an Nico Hübner: »... und geistig Dir nicht den Rükken brechen läßt!« — In: Briefe in die DDR. Hrsg. von Hannes Schwenger. — Reinbek bei Hamburg 1978. - Zu Bahro vgl. RDA, S. 108 f. - In Dutschkes Nachlaß findet sich Rudolf Bahros Buch Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. - Köln, Frankfurt/M. 1977. Auf einem der darin liegenden Blätter schrieb Dutschke: »>Amnesty International· hat es in Prag am schwersten, Herr Wehner und Bahr haben es dort seit dem 21. 8. 68 am leichtesten. Herr Strauß würde es mit Sicherheit nicht schwieriger haben.« [118] Peter-Paul Zahl: Müßiggang statt/oder Arbeit. - In: Der lange Marsch, Nr. 23, September 1976. — Sprachlich überarbeitet ist dieser Text auch in Zahls Schelmenroman Die Glücklichen eingegangen (Berlin/West 1979, S. 198-202). In seiner ursprünglichen Fassung, die sich auch in Dutschkes Nachlaß gefunden hat (Yll), wird dieser Text unten nach dem editorischen Kommentar abgedruckt. Dort sind sämtliche Hervorhebungen Dutschkes kursiv kenntlich gemacht. Dutschke hatte den Rotbuch-Verlag im Frühjahr 1979 gebeten, ihm diesen Artikel zuzusenden; vgl. EK, Anm. 41. [119] Georg Lukacs: Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner. In: ders.: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten. - Neuwied und Berlin 1964, S. 249272, hier S. 257, 265, 267. [120] Ebenda, S. 259 u. 265. [121] Vgl. HA I, 168 u. 172; von Dutschke zit. nach GB/RUB, S. 150 f. Die von Dutschke zitierten Passagen sind - neben anderen - in seinem Handexemplar z. T. stark durch Kugelschreiber hervorgehoben. [122] Dieser Satz ist von Dutschke handschriftlich hinzugefügt worden. [123] Vgl. HA 1,11. [124] Gß/RUß, S. 15. Dutschkes Hervorhebungen kündigen sich im Handexemplar durch heftigste Unterstreichungen und Anstreichungen an. Von der auch im Artikel hervorgehobenen Passage führt ein Pfeil an den oberen Rand der Seite, wo Dutschke schreibt »Lafargue!«. [125] Zum Thema »Bedürfnislosigkeit« vgl. z.B. MEW, Bd. 3, S. 28 u. 416 ff., vor allem aber Marx* Ökonomisch-philosophische Schriften von 1844, wo es u. a. heißt: »Selbst das Bedürfnis der freien Luft hört bei dem Arbeiter auf, ein Bedürfnis zu sein, der Mensch kehrt in die Höhlenwohnung zurück, die aber nun von dem mephytischen Pest-

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hauch der Zivilisation verpestet ist [...]. Licht, Luft etc., die einfachste tierische Reinlichkeit hört auf, ein Bedürfnis für den Menschen zu sein. [...] Wie die Vermehrung der Bedürfnisse und ihrer Mittel die Bedürfnislosigkeit und die Mittellosigkeit erzeugt, beweist der Nationalökonom (und der Kapitalist [...]), 1. indem er das Bedürfnis des Arbeiters auf den notwendigsten und jämmerlichsten Unterhalt des physischen Lebens und seine Tätigkeit auf die abstrakteste mechanische Bewegung reduziert, also, sagt er: Der Mensch hat kein andres Bedürfnis weder der Tätigkeit noch des Genusses; denn auch dies Leben erklärt er [als] menschliches Leben und Dasein; indem 2. er das möglichst dürftige Leben [...] als allgemeinen Maßstab ausrechnet [...]; er macht den Arbeiter zu einem unsinnlichen und bedürfnislosen Wesen, wie er seine Tätigkeit zu einer reinen Abstraktion von aller Tätigkeit macht [...]. Die Bedürfnislosigkeit als das Prinzip der Nationalökonomie zeigt sich am glänzendsten in ihrer Bevölkerungstheorie. Es gibt zu viel Menschen.« (MEW, Ergänzungsband, 1. Teü. - Berlin 1977, S. 548 f. und 551). Vgl. auch Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1. - Berlin 1965, S. 350 f. u. 618 ff. [126] In C2 notierte Dutschke über »Unzucht« handschriftlich »Freiheit (?)«. [12 GB/RUB, S. 26, vgl. HA 1,25. Dieses Zitat ist - wie auch die beiden nächsten in Dutschkes Handexemplar durch Unterstreichungen hervorgehoben worden. [128] GB/RUB, S. 19, vgl. , I, 18. [129] GB/RUB, S. 67, vgl, HA I, 63. [130] Marx/Engels: Die Bourgeoisie und die Konterrevolution (Neue Rheinische Zeitung, 15.12. 1848). - In: MEW, Bd. 6, S. 107, bzw. MEGA (Marx/Engels Gesamtausgabe), I. Abtig., Bd. 7: Werke und Schriften. Von März bis Dezember 1848. - Moskau 1935, S. 493. - Dutschke hebt in seinem Essay nur » p l e b e j i s c h e M a n i e r « durch Sperrung hervor. In der MEG A sämtliche Hervorhebungen durch Sperrung wie hier im Text; MEW: kursive Hervorhebungen, leicht geänderte Schreibweise und Zeichensetzung; Dutschkes Zitierweise entspricht weder MEGA noch MEW. [131] Über dem Ende des Satzes fügt Dutschke in £ handschriftlich ein: »XX Weiber (S. 80)«. Damit verweist er ganz offensichtlich auf jene Danton-Passage in seinem Handexemplar, wo sich eine Fülle von Randbemerkungen finden und die im EK (S. 116-8) ausfuhrlich kommenden ist. [132] GB/RUB, S. 144, vgl. HA 1,134. - Dieses Zitat ist in Dutschkes Handexemplar (GB/RUB) am Rand und im Text mit Kugelschreiber hervorgehoben worden. Am Rande findet sich auch der handschriftliche Vermerk »Lafargue Zahl«; vgl. Hg/Anm. 159. [133] Michail Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften. Hrsg. und eingeleitet von Horst Stuke. - Frankfurt/M., Wien, Berlin 1972, S. 558 f. - Dutschke übersieht, daß Bakunin an dieser Stelle mit Sicherheit n i c h t Georg Büchner, sondern dessen jüngeren Bruder Ludwig im Auge hatte. Die von Dutschke gemeinte Passage über Feuerbach lautet: »obwohl selbst Metaphysiker, mußte er seinen rechtmäßigen Erben, den Vertretern der materialistischen Schule Platz machen, von denen sich übrigens ein großer Teil, wie z. B. Büchner, Marx und andere, auch noch nicht vom Vorherrschen metaphysischabstrakten Denkens freimachen kann.« (S. 558 f.). [134] Marx schreibt: »Feuerbach war noch Metaphysiker: >mußte Platz machen seinen [rechtmäßigen] Nachfolgern, den Vorstehern der Schule der Materialisten oder Realisten, wovon großer Teil im übrigen, z. B. die Herren Büchner, Marx und andres sich noch nicht befreit >vom Vorwalten des metaphysischen abstrakten Gedankens*.« (MEW, Bd. 18, S. 626). Wird der Leser der Neuübersetzung von Bakunins Staatlichkeit und Anarchie durch das Register darauf aufmerksam gemacht, daß der von Bakunin gemeinte Büchner Ludwig B. sein muß (vgl. Hg/Anm. 133), so verweist das MEW-Register auf Georg Büchner. Dutschkes Irrtum ist vermutlich vor allem auf diesen Fehler der MEW-Herausgeber zurückzuführen. — In dem nachgelassenen Notizzettel Y14 findet sich der Hinweis »Büchner in Staatlichkeit u. Anarchie*«.

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[135] In seiner Schrift Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, die im November 1885 erschien, spricht Engels von »der von Georg Büchner gestifteten Verschwörung« (MEW, Bd. 21, S. 207), verwechselt dabei jedoch die Wachenstürmer von 1833 mit Büchners Gesellschaft der Menschenrechte< von 1834. — In dem handschriftlichen Fragment Y14 hatte sich Dutschke zu diesem Thema Notizen gemacht. [136] Peter-Paul Zahl: Von einem, der auszog, Geld zu verdienen (vgl. Hg/Anm. 37), S. 47 ff. [137] Ebenda, S. 50. [138] Ebenda, S. 50 f. [139] Ebenda, S. 116. [140] Ebenda, S. 117. [141] Büchner zum Thema »Langeweile«: vgl. HA I, 33; 55 f.; 96; 110; HA II, 457; zum Thema »Müßiggang«: HA I, 11; 96; 105; 107; 134. [142] Peter-Paul Zahl: Von einem, der auszog, Geld zu verdienen, S. 120. [143] In Dutschkes Nachlaß findet sich Gustav Beckers' Untersuchung Georg Büchners »Leonce und Lena«. Ein Lustspiel der Langeweile. - Heidelberg: Winter 1961, die mit einem Kapitel über »Büchner und Kierkegaard« eingeleitet wird (S. 13 ff.), wo Dutschke seine charakteristischen Arbeitsspuren (Unterstreichungen, Randbemerkungen) hinterlassen hat. Diese Spuren beginnen bereits über den beiden Motti, die Beckers seinem Buch voranstellt, Zitate Büchners und Kierkegaards, die Dutschke nicht nur durch Unterstreichungen hervorhebt, sondern über die er ein anderes Büchner-Zitat schreibt: »>Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt. Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen ...< (1833)«. Dutschke wählte dieses neue Motto, weil ihm Beckers* Motti als »existentialistische Vernebelung« vorgekommen sein dürften. Beckers* Kierkegaard-Zitat wird im übrigen (auf Dänisch) mit eben der Frage eingeleitet, die Dutschke hier in seinem Essay zitiert. Im folgenden Beckers' Motti mit Dutschkes Hervorhebungen (S. 7): »Jedoch, wenn ein Wandrer, der gelehnt steht [/] an dem Strom der Zeit oder aber sich die [/] göttliche Weisheit beantwortet und sich [/] anredet: Warum ist der Mensch? Warum ist der Mensch? (Georg Büchner [...])«. - »Hvor er jeg? Hvad vil det sige: Verden? Hvad betyder [/] dette Ord? [ . . . } Hvorfor skaljeg vcere Interessent? {/] (S0ren Kierkegaards Samlede Vaerker, III, 261 [...])«. - In £ (S. 5) nimmt Dutschke etwas ausführlicher als in C2 zu Kierkegaard Stellung. Vgl. dazu Dutschkes Anmerkung 6, die in C2 ganz fehlt. [144] Peter-Paul Zahl: Von einem, der auszog, Geld zu verdienen, S. 121. [145] Auf dem nachgelassenen Blatt YH sind einige der Passagen aus Briefen Marx' und Engels' vom Herbst 1882 knapp exzerpiert, in denen es um Lafargue geht (MEW, Bd. 35, S. 109, 118, 120, 407 f.). Nur das Zitat/Exzerpt, auf das Dutschke sich im Text bezieht, sei hier wiedergegeben: »Lafargue hat die üble Narbe von dem Negerstamm: kein Gefühl der Scham, ich meine damit der Schamhaftigkeit, sich lächerlich zu machen. [...] Lafargue ist in der Tat der letzte Schüler Bakunins, der ernstlich an ihn glaubt.« (MEW, Bd. 35, S. 109). - Vgl. auch EK, Anm. 117. [146] Brief vom 13.11. 1883 (MEW, Bd. 36, S. 76); »demokratischen« von Dutschke zugefügt. - Zum Thema »Faulheit« und »Verweigerung« vgl. auch RDA, S. 30. - Auf dem nachgelassenen Notizzettel YlSa sind einige der hier im Text enthaltenen Gedanken vorformuliert worden. [147] Peter-Paul Zahl: Müßiggang statt/oder Arbeit? - vgl. Hg/Anm. 118. [148] Ebenda. [149] Ebenda. [150] Ebenda; vgl. Brechts Gedicht Lob der Dialektik, wo es heißt: »An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns. / An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird? Ebenfalls an uns.« (Bertolt Brecht: Gesammelte Gedichte, Bd. 2, a. a. O., S. 468). [151] Peter-Paul Zahl: Müßiggang statt/oder Arbeit? (vgl. Hg/Anm. 118).

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[152] Ebenda, Hervorhebungen von Dutschke. [153] Dieser Satz ist (isoliert) vorformuliert in dem handschriftlichen Fragment 16: »Subjekt, erst über ersteres erhält die gesellschaftliche Natur der Subjektivität eine objektive Möglichkeit«. [154] Marx: »So sehr ist [...] dieses fortwährende sinnliche Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grundlage der ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert, daß, wenn sie auch nur für ein Jahr unterbrochen würde, Feuerbach eine ungeheure Veränderung nicht nur in der natürlichen Welt vorfinden, sondern auch die ganze Menschenwelt und sein eignes Anschauungsvermögen, ja seine Eigne Existenz sehr bald vermissen würde.« (MJEW, Bd. 3, S. 44). [155] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1. - Berlin 1965; im folgenden einige zentrale Zitate zu dem von Dutschke angesprochenen Problemkreis: »Wie weit kann der Arbeitstag verlängert werden über die zur Reproduktion der Arbeitskraft selbst notwendige Arbeitszeit? Auf diese Fragen [...] antwortet das Kapital: Der Arbeitstag zählt täglich volle 24 Stunden nach Abzug der wenigen Ruhestunden, ohne welche die Arbeitskraft ihren erneuerten Dienst absolut versagt. Es versteht sich zunächst von selbst, daß der Arbeiter seinen ganzen Lebenstag durch nichts ist außer Arbeitskraft, daß daher alle seine disponible Zeit von Natur und Rechts wegen Arbeitszeit ist, also der Selbstverwertung des Kapitals angehört. Zeit zu menschlicher Bildung, zu geistiger Entwicklung, zur Erfüllung sozialer Funktionen, zu geselligem Verkehr, zum freien Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte [...] - reiner Firlefanz!« (S. 279 f.). »Die kapitalistische Produktion, die wesentlich Produktion von Mehrwert, Einsaugung von Mehrarbeit ist, produziert also mit der Verlängrung des Arbeitstags nicht nur die Verkümmerung der menschlichen Arbeitskraft [...]. Sie produziert die vorzeitige Erschöpfung und Abtötung der Arbeitskraft selbst. Sie verlängert die Produktionszeit des Arbeiters während eines gegebenen Termins durch Verkürzung seiner Lebenszeit.« (S. 281). »Intensität und Produktivkraft der Arbeit gegeben, ist der zur materiellen Produktion notwendige Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags um so kürzer, der für freie, geistige und gesellschaftliche Betätigung der Individuen eroberte Zeitteil also um so größer, je gleichmäßiger die Arbeit unter alle werkfähigen Glieder der Gesellschaft verteilt ist, je weniger eine Gesellschaftsschichte die Naturnotwendigkeit der Arbeit von sich selbst ab- und einer andren Schichte zuwälzen kann. Die absolute Grenze für die Verkürzung des Arbeitstags ist nach dieser Seite hin die Allgemeinheit der Arbeit. In der kapitalistischen Gesellschaft wird freie Zeit für eine Klasse produziert durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit.« (S. 552). — Meine Hervorhebungen, EUP. [156] Dutschke zitiert Aristoteles nach Marx* Kapital, Bd. l, a. a. O., S. 430; Hervorhebungen von Dutschke, der sich aber mit Sicherheit an der bei Dietz 1960 in Berlin erschienenen Edition orientiert hat. Diese Ausgabe liegt im Nachlaß vor und weist auf den entsprechenden Seiten (S. 428 f.) viele handschriftliche Hervorhebungen auf. Dafür, daß Dutschke sich auf diese Edition stützte, spricht auch das Notizblatt Yi6, wo Dutschke notierte: »S. >Kapitales grünt so grünGefängnis-Besuchenachruf< zu verfassen, ich tats nicht, ich konnte nicht, vielleicht, weil ichs vorgezogen habe, Rudi die liebeserklärungen zu l e b z e i t e n zu machen.«23 Eine Formulierung in Dutschkes autobiographischen Aufzeichnungen (RDA) aus den Jahren 1977/78 läßt darauf schließen, daß er sich bereits v o r seinem Essay öffentlich für den inhaftierten Schriftsteller eingesetzt hatte: »Viele legal arbeitende Demokraten und Sozialisten werden nun von allen Seiten noch mehr denunziert werden. Ob wir nun mit linken Sozialdemokraten zusammenarbeiten oder bei allen möglichen Veranstaltungen für P. P. Zahl [...] sprechen«.24 In seinem Essay räumt Dutschke ein, Zahl Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre weder persönlich gekannt noch gelesen zu haben, in einer Zeit also, in der er sich längst mit dem Schriftsteller und Revolutionär Georg Büchner auseinandergesetzt hatte. Dutschkes nicht nur durch den »Fall Zahl« entfachtes Interesse an Büchner läßt sich im übrigen auch 22 In Dutschkes posthumem Buch Mein langer Marsch (vgl. EK/Anm. 14) findet sich neben der Beschreibung des Mordanschlags (S. 136 f., vgl. oben S. 48) auch die kurze Passage über die »Kinderangst der linken Männer der 60er Jahre« (S. 171, vgl. oben S. 44). - Das Kapitel 3 d (Schüsse und Schüsse) erschien in französischer Übersetzung (auf der Grundlage der Fassung C2) in: Peter-Paul Zahl: L'avocat de la terreur et autres signes de vie. Postface de Rudi Dutschke. - Paris 1980, S. 141-145. 23 Vgl. auch Zahls Brief an Dutschke vom 24.725. 3. 1978, unten S. 151 ff. 24 RDA, S. 163; vgl. dort auch S. 166 und 168. - Auch in einer Veröffentlichung über Herbert Maicuse hatte sich Dutschke im Herbst 1978 positiv über Zahl geäußert (vgl. Rudi Dutschke: Die Revolte, a. a. O., S. 153, und Hg/Anm. 91). 84

einer Passage seiner Autobiographie entnehmen, die sein generelles Interesse am Hessischen Landboten und dessen Botschaft schon vor Abfassung des Essays dokumentiert und der ein besonderes Gewicht zukommt, weil der fragmentarische Text damit abbricht: »NATO und Warschauer Pakt werden nicht durch Breshnew und Carter (oder andere Namen gleicher Linie nach ihnen) aufgelöst, die Entmilitarisierung, Demokratisierung und Sozialisierung wird wieder unter einer Grundlosung stehen: >Friede den Hütten, Krieg den PalästenEntspannung< als Resultat der zugespitzten Krise und eindeutiger Kriegsvorbereitung dem Wahnsinn mit organisierter politischer Gewalt in West und Ost Widerstand zu leisten, halte ich für Menschenrecht und Menschenwürde, halte ich es für eine Menschenpflicht.«25

Dutschkes Irrtum, zu Beginn seines Essays den Hessischen Landboten und Büchner mit Hans Magnus Enzensbergers Kursbuch in eine ganz unmittelbare Verbindung zu bringen26, verweist nur um so mehr auf die Vielfalt der Zusammenhänge, in denen Büchners Name in der zweiten Hälfte der 60er Jahre erwähnt wurde. Dabei wurde in der Regel jene »Gegenwärtigkeit« Büchners betont, die der Leitgedanke von Heinrich Bölls Rede war, mit der er im Herbst 1967 für die Verleihung des Georg-Büchner-Preises dankte. In seinem Essay wie in der Autobiographie hat Dutschke, der Bölls Rede mit Sicherheit kannte, jenen »unruhigen Rand der Zeitgenossenschaft« Büchners im Auge, von dem Böll sagte, daß er Büchner als »Genossen seiner Zeit [...] in unserer Zeit so gegenwärtig mächt. [...] Die Unruhe, die Büchner stiftet, ist von überraschender Gegenwärtigkeit, sie ist da, anwesend hier im Saal.«27 25 RDA, S. 176 f. 26 Vgl. Hg/Anm. 4. 27 Heinrich Böll: Georg Büchners Gegenwärtigkeit. Rede am 21. Oktober 1967 in Darmstadt. - In: Tintenfisch l -Jahrbuch für Literatur, hrsg. von Michael Krüger und Klaus Wagenbach. - Berlin 1968, S. 73-78, hier S. 73. Tintenfisch l ist in Dutschkes Nachlaßbibliothek vorhanden. Auf Auszüge aus Bölls Rede kann-Dutschke in dem ebenfalls im Nachlaß vorliegenden Band Der Georg-Büchner-Preis 1951-1978 (vgl. Siglenverzeichnis) gestoßen sein (S. 212-214). Einige Notizen Dutschkes auf einer Beilage zu Manfred Nopens* Brief vom 8.4. 1979 (s. unten S. 89) geben Anlaß zu der Vermutung, daß er die Rede wohl im Tintenfisch gelesen hat; bei dieser Beilage handelt es sich um eine Liste mit Namen und Adressen der Mitglieder des Präsidiums und des Kuratoriums der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. In der rechten oberen Ecke notiert Dutschke »Enzensberger Bachmann Grass Böll Johnson« und darunter »Quartheft 6 Böll«. Da Wagenbachs Quartheft 6 nichts mit Büchner/Böll zu tun hat (Autor Stefan Hermlin), liegt die Annahme nahe, daß Dutschke hier an den Tintenfisch (6) gedacht hat, der auch als Quartheft erschien. Hier findet sich von Böll ein Auszug aus einer Rede vor dem Dortmunder SPD-Parteitag am 12.10. 1972 unter 85

Implizit schloß Böll dabei an den Persischen Landboten Büchner-WeidigEnzensbergers aus dem Jahre 1964 an> als er erklärteres sei »nicht schwer [...], den >Hessischen Landboten< ins Persische zu übersetzen.«28 Wie intensiv Dutschke Georg Büchners »Gegenwärtigkeit« empfand, können u. a. seine Arbeitsspuren in Enzensbergers auf die 60er Jahre bezogenem Kommentar zum Hessischen Landboten verdeutlichen; in seinem Arbeitsexemplar (BWE) unterstreicht er nämlich die folgende Passage des Persischen Landboten mit Kugelschreiber: »Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein eurer Presser, die nur stark sind durch das Blut, das sie euch aussaugen. Ihrer sind vielleicht 20 000 im ganzen Iran und eurer sind es einundzwanzig Millionen, und also verhält sich die Zahl der armen Völker zu ihren Pressern auch in der übrigen Welt.«29 Der Vermutung, Dutschke verwechsle am Anfang seines Essays (S. 2) das Kursbuch von 1965 mit der von Enzensberger herausgegebenen und kommentierten Edition des Hessischen Landboten, schloß Enzensberger sich an; am 22. August 1984 schrieb er mir u.a.: »Ihre Vermutung ist richtig, Dutschke meinte den Landboten. In diesem Zusammenhang spielte auch der Iran eine Rolle, vgl. Bahman Nirumands Buch über das Land und den Schah, das bei Rowohlt erschien; ich habe, glaube ich, ein Nachwort dazu verfaßt.« Enzensberger, der 1963 den Büchner-Preis erhalten hatte, spielt »in diesem Zusammenhang« auch insofern »eine Rolle«, als er Dutschke 1968 als Verfasser einer weiteren »Flugschrift« aufgefallen ist; in Dutschkes Nachlaß findet sich nämlich die von Enzensberger verfaßte VoltaireFlugschrift Nr. 11 mit dem Titel Staatsgefährdende Umtriebe. Darin ist Enzensbergers Rede abgedruckt, die er am 16. März 1967 gehalten hatte, als ihm der Nürnberger Kulturpreis verliehen worden war; weiterhin werden darin u. a. die Reaktionen nachgezeichnet, die die Rede im Bundestag hervorgerufen hatte; Enzensberger hatte nämlich mit dem Preisgeld in Höhe von 6 000 DM ein Konto eröffnet, mit dem, wie er am Ende seiner Rede erklärte, Menschen unter-

dem Titel Gewalten auf der Bank (S. 74). Die von Dutschke erwähnten Schriftsteller haben in der von ihm notierten Reihenfolge den Büchner-Preis erhalten: Enzensberger 1963, Bachmann 1964, Grass 1965, Böll 1967, Johnson 1971. Vqn ihnen ist im Tintenfisch 6 nur Böll mit einem Beitrag vertreten, im Tintenfisch l dagegen vier von ihnen: Johnson (S. 8), Grass (S. 69-72), Böll (S. 73-78) und Enzensberger (S. 79-85). - Im Nachlaß findet sich ein weiteres Dokument, mit dem sich die Verbindung Dutschke/Böll/Büchner(-Preis) belegen läßt. (Vermutlich) Ende 1977/Anfang 1978 hatte Böll Dutschke nämlich einen Sonderdruck des S. Fischer Verlags (Frankfurt/M., Dezember 1977) mit dem Titel Georg-Büchner-Preis 1977 an Reiner- Kunze geschickt. Darin findet sich nicht nur Bölls Laudatio und Kunzes Dankesrede, sondern auch eine handschriftliche Widmung: »Rudi Dutschke mit herzlichem Dank für die Geleitworte / Heinrich Böll«. 28 Heinrich Böll: Georg Büchners Gegenwärtigkeit, a. a. O., S. 74. 29 BWE, S. 167. - In dem fragmentarischen Typoskript-Entwurf Y18a wird in einer von Dutschke später verworfenen Kapitelüberschrift die » A k t u a l i t ä t der B ü c h n e r s c h e n E i n w ä n d e « hervorgehoben.

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stützt werden sollten, »die wegen ihrer politischen Gesinnung in der Bundesrepublik vor Gericht gestellt worden sind.«30 Dutschkes Verwechslung ist angesichts der »Gegenwärtigkeit« Büchners in B WE, der besonderen Bedeutung Enzensbergers in der politisch-literarischen Debatte dieser Jahre und beim Manifestcharakter der frühen Kursbücher verständlich, den Dutschke ebenso wie Nirumand mitgeprägt hatte.31 Büchner, der Hessische und der Persische Landbote sind am Anfang von Dutschkes Essay mithin der Punkt, an dem sich verschiedene historische Erkenntnisstränge, Überlegungen über anachronistische gesellschaftliche Zustände, über die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung von gesellschaftlichen und Bewußtseinsstrukturen, über den verhängnisvollen Schah-Besuch im Juni 1967 und über die politische Justiz in Deutschland treffen. Zum historischen und persönlichen Assoziationskontext gehört auch, daß Gaston Salvatore, mit dem Dutschke jahrelang befreundet war und zusammenarbeitete32, ein vielbeachtetes Theaterstück über Büchners Tod schrieb, mit dem im Herbst 1972 das Kleine Haus des Staatstheaters Darmstadt eröffnet wurde. In den Besprechungen ist nicht selten von Dutschke und von Enzensberger die Rede; Helmuth Karasek schreibt z. B.: »Gaston Salvatore, ein junger Chilene, stand der deutschen studentischen Revolte nahe. So was zitiert sich gut: Ein Bildzitat zeigt Salvatore mit Rudi Dutschke (siehe den >Spiegel< der letzten Woche), er selbst zitiert Hans Magnus Enzensberger, der ihm Mut zum Weiterschreiben gemacht habe. Sein Stück ist daher auch, unter anderem, >Magnus< gewidmet.«33 In seinem Brief vom 22. 8. 1984 erklärte Enzensberger dazu, daß über Salvatore, mit dem er seit 1965 eng befreundet sei, »die ersten Kontakte mit Rudi D. [liefen]. Salvatore spielte eine sehr wichtige Rolle und hat Rudi in vieler Hinsicht beraten. Natürlich lasen alle Büchner, auch Schneider.34 Rudi Dutschke traf ich zuletzt in Berlin, Ende der siebziger Jahre, auch damals mit Gaston Salvatore.«

30 Hans Magnus Enzensberger: Staatsgefährdende Umtriebe. VoltaireFlugschrift 11, hrsg. von Bernward Vesper, 1. und 2. Aufl. - Berlin: Voltaire Verlag 1968, S. 13. - Auf S. [1] findet sich ein handschriftlicher Registraturvermerk Dutschkes. 31 Vgl. Kursbuch 14 (1968), das der »Kritik der Zukunft« gewidmet war; darin u. a. Bahman Nirumand und Eckhard Siepmann: Die Zukunft der Revolution, S. 71-99; weiterhin Ein Gespräch über die Zukunft mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler [und Hans Magnus Enzensberger], S, 146-174. Ein Manifestcharakter kam dem Kursbuch nicht zuletzt dadurch zu, daß ihm die Eigentümer bzw. Türhüter der westdeutschen »Paläste« eben diesen wütend absprachen. Marcel Hepp bezeichnete im Bayern-Kurier (19. Juni 1967) das Kursbuch 9 als ein »Lehrbuch des Lamentierens«, das »gerne ein Manifest der Revolution wäre«. 32 Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker: Kleine Geschichte des SDS. - Berlin (West) 1977, S. 164 u. 183; vgL auch RDA, S. 98. 33 Stirb und merde! [sie!] -. In: Die Zeit, 13.10. 1972. 34 Peter Schneider schrieb mir am 3. 9. 1984 über sein Verhältnis zu Büchner und Dutschke u. a.: »Ich weiß von Rudi, daß die frühen Gedichte von H. M. Enzensberger für ihn wichtig waren, aber ich habe - leider - weder mit ihm noch mit Gaston damals darüber oder über

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Da Peter-Paul Zahl Ende der 60er Jahre als (Klein-)Verleger mit der Veröffentlichung des Hessischen Landboten und anderer Schriften von und über Büchner befaßt war35, liegt die Querverbindung Büchner-Zahl schon aus diesem Grund auf der Hand. Dutschke räumt in seinem Aufsatz aber ein, daß ihm die Aktivitäten des Druckers, Verlegers und Schriftstellers Zahl Ende der 60er Jahre in Westberlin noch unbekannt waren; in seinem Bewußtsein hat sich diese Querverbindung also erst viel später herausgebildet. Ob sie ihm als solche bereits b e w u ß t war, als er auf die Bitte, an Kontrabande mitzuarbeiten, positiv reagierte, ist keineswegs sicher. Es ist nicht auszuschließen, daß Dutschke erst beim Studium der Dokumentation auf die Idee kam, die Themenbereiche »Büchner« und »Zahl«, die für ihn persönlich und historisch so nahe beieinander lagen, miteinander zu verknüpfen. Ausschlaggebend dafür, daß er bei seinem Vorhaben, Zahl zu nützen, an literarisch-politische Erlebnisse, Erfahrungen und Diskussionen in West-Berlin Ende der 60er Jahre anknüpfte, könnte gewesen sein, daß er in der Dokumentation zum einen auf das Faksimile eines Prospekts des Verlags Peter-Paul Zahl stieß, in dem u. a. für zwei Büchner-Publikationen geworben wurde36, zum anderen aber ein Zitat Büchners aus dem Brief an die Familie vom 5. April 1833, das als Motto dem ersten Kapitel der Dokumentation vorangestellt ist und das hier in seiner dortigen Gestalt wiedergegeben sei: »>wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es gewalt, wir wissen, was wir von unseren fürsten zu erwarten haben, alles was sie bewilligten, wurde ihnen durch die notwendigkeiten abgezwungen ... man wirft den jungen leuten den gebrauch der gewalt vor. sind wir denn aber nicht in einem ewigen gewaltzustand?< Georg Büchner«37

Da sich die Dokumentation nicht in Dutschkes Nachlaß fand, statt dessen aber eine Reihe von gedruckten Zeitschriftenartikeln bzw. Typoskriptdurchschlägen von Artikeln Zahls, in denen ausführlich von dessen Entwicklung Büchner diskutiert. [...] Wann ich auf die Idee kam, meinen >Lenz< zu schreiben, weiß ich nicht mehr genau. Sicher nicht in den sechziger Jahren, sondern jedenfalls in der Zeit des Niedergangs und Auseinanderfallens der Studentenbewegung, also Anfang der siebziger Jahre.« Schneiders Erzählung Lenz (Rotbuch 104. - Berlin: Rotbuch-Verlag 1973) ist mit Arbeitsspuren (vor allem Anstreichungen) in Dutschkes Nachlaß vorhanden. Auf S. 13 schreibt Dutschke - Schneiders Worte gleichsam bestätigend - knapp: »Alles Probleme der Rückzugsperiode«. 35 Zahl veröffentlichte den Hessischen Landboten als 4. Heft der zwergschul-ergänzungshefte, das, wie mir Zahl am 20. Oktober 1982 schrieb, »etwa 1967/68« erschien. Das 4. Heft der 1970 im 3. Jg. erscheinenden literarischen Zeitschrift SPARTACUS, die Zahl mit dem Untertitel Zeitschrift für lesbare literatur herausgab, war ganz dem Thema Büchner, Literatur und Revolution gewidmet. - Zum literarisch-revolutionären Kontext von Zahls verlegerischen Aktivitäten vgl. Dokumentation, S. 30; vgl. oben auch Dutschkes Anmerkung 1. 36 Dokumentation, S. 30. 37 Dokumentation, S. 16 (vgl. HA II, 416). 88

und vom »Fall Zahl« die Rede ist38, erscheint es allerdings fraglich, ob Dutschke sich an der Dokumentation orientiert hat. Die Verkuppelung des Engagements und der Entwicklung Zahls mit der von Büchner ist gewiß vor allem dadurch in Gang gekommen, daß Dutschke am 8. April 1979 von einem ihm unbekannten Stuttgarter Bürger brieflich gebeten wurde, dafür einzutreten, daß Zahl der Büchner-Preis verliehen würde: »Sehr geehrter Rudi Dutschke, Georg-Büchner-Preis für Peter-Paul Zahl. Dem Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt wird dieser Vorschlag bei seiner nächsten Sitzung im Mai vorgelegt. Meine Bitte an Sie: Unterstützen Sie diesen Antrag! Es ist mir als »Normalbürger«, (Jg. 1940, kfm. Angestellter), sicher nicht möglich, über Peter-Paul Zahl mehr zu sagen, als es Wilfried F. Schoeller in der Frankf. Rundschau, Erich Fried u. a. in der FAZ, Ulrich Sonnemann in L 76, Gerhard Mauz im Spiegel, Michael Seufert im Stern, Theo Sommer und Fritz J. Raddatz in der Zeit, Michael Buselmeier und viele andere auf ihre Weise getan haben. Meine Hoffnung ist, daß eine Würdigung, wie die Verleihung des Büchner-Preises, nicht im Sinne eines Schlußpunktes verstanden wird, sondern daß es sehr wohl auch gewollt ist, zu fördern und zu ermutigen. Es werden Reden auf die Republik gehalten - gute, sehr gute, wie die von Walter Jens, es wäre dem Anlaß sehr angemessen, wenn die entsprechenden Taten da nicht allzu dürftig ausfallen würden! [gez.] Manfred Nopens«

In einem (gegenwärtig nicht zugänglichen) Brief an Zahl berichtete Dutschke umgehend von Nopens' Initiative; Zahl antwortete am 22.723. April 1979: »lieber Rudi, ich erhielt Deinen brief vom 14. [...] am 19. [...]. kurz zum Büchner-preis: ich erfuhr erst später von Manfreds bemühungen. fand sie naiv, aber wie oft beim naiven faszinierend, denn erst eine solche >naivität< gehört dazu, um dann sich fragen stellen zu müssen: ja, warum nicht? bei B u c h n er. klar ist es eine frechheit. sitzen doch in beirat und kuratorium (krematorium?) just j e n e würmer, die sich posthum an Büchners leiche mästeten, etwa anläßlich der frechen Verleihung des preisesin Bonn, 1978.39 eine frechheit, eine provokation. gewiß, aber warum nicht? auch hier ist es richtig, auf den busch zu klopfen, und da wärs verkehrt, aus >taktischen< gründen sich und die freunde und genossen hinterm rücken zu verstecken, klar >polarisiert< ein Rudi D. warum nicht? aber wie ? auch hier kann abgesteckt werden, inwiefern man noch zu gemeinsamen Überlegungen fähig ist - oder nicht, wie in der Weimarer zeit. selbstverständlich war die vergäbe d i e s e s preises in d i e s e m lande, das immer

38 Vgl. Bestandsverzeichnis, unten S. 100 f. 39 Der Büchner-Preis wurde 1978 ausnahmsweise in Bonn verliehen - an Hermann Lenz.

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noch, und in g e n a u der f o r m fahndungsblätter aushängen läßt wie damals der richter Georgi in Darmstadt, 1834, chuzpe. gegen die sich angehen läßt, mit unserer selbstbewußten >frechheitprivilegierten StändenDurch dieJuli-Rev. ... wurden die der ausgebildeten Bourgeoisie entsprechenden politischen Formen den Deutschen von außen zugeschoben. Da die deu. ök. Verhä. noch bei weitem nicht die Entwicklungsstufe erreicht hatten, der diese polt. Formen entsprechen, so akzeptierten die Bürger diese Formen nur als abstrakte Ideen, an und für sich ...Schelmenroman< Die Glücklichen auf (S. 198-202). - Lebenslauf einer Unperson (= Zahls Rede vor dem Revisionsgericht am 13. 2. 1976, im wesentlichen identisch mit dem gleichnamigen Kapitel l der Dokumentation, S. 15-48; zahlreiche Unterstreichungen und Randbemerkungen Dutschkes).63 3. Typoskriptdurchschläge bzw. Kopien von Artikeln und Gedichten Zahls: - Drei Gedichte, Typoskripte auf Durchschlagpapier (vgl. Siglenverzeichnis 12): DGB-, öde an keinen arbeitsplatz, sabotage.

62 Vor allem an den Stellen des Romans, die Dutschke in seinem Essay zitiert, finden sich zahlreiche Unterstreichungen. Auffällig viele Arbeitsspuren auch in Zahls selbstkritischrezeptionssteuerndem Nachwort (S. 123-127) aus dem Jahre 1975. 63 Auszüge aus dieser Rede liegen im Nachlaß auch als Artikel mit anderer Überschrift vor: Peter Paul Zahl [sie!]: Frühmorgens ist es der Eilbriefträger - noch. Deutscher Lyriker bekam lebenslänglich. - In: Neues Forum (Wien), Mai/Juni 1976, S. 7-11; Artikelausriß mit zahlreichen Unterstreichungen und zwei Randbemerkungen Dutschkes.

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Typoskript, Durchschlag, 2 S.: Zahl als Übersetzer aus dem Amerikanischen: Gefangene bringen US-Knastverhältnisse vor die UNO - eine Antwort auf Carters Menschenrechtsgewäsch. — Typoskript, Fotokopie, 4 S.: Haftstrafe normalisiert, Vollzugsplan in kraft (abgeschlossen am 1.4. 1979). Dutschke hatte den Artikel, in dem sich seine Arbeitsspuren finden, von der Frankfurter Initiativgruppe Peter-Paul Zahl erhalten, die sich in einem Rundbrief vom 6. 4. 1979 an »Freunde und Kollegen« auf Zahls Text bezieht.64 4. Briefe Zahls an Dutschke und an andere: - Zahls Brief an Dutschke vom 24.725. 3. 1978, 19 S., mit dreiseitiger biographischer Beilage (s. u. S. 139-153). Mit Dutschkes Arbeitsspuren. — Zahls Offener Brief an die Justizministerin des Landes Nordrhein-Westfalen, Frau Donnepp, vom 4. Mai 1978, Typoskript, Fotokopie, 17 S., eine Reihe von Arbeitsspuren Dutschkes und eine kommentierende Randbemerkung. - Zahls Brief an den Leiter der Justizvollzugsanstalt Werl vom 18. 6. 1978, Typoskript, Durchschlag, 6 S. - Zahls Brief vom 13. 6. 1978 an A., Typoskript, Fotokopie, 4 S., geschrieben am 53. Tag des Hungerstreiks. Sehr heftige Unterstreichungen Dutschkes, vor allem da, wo der am 22. Tag zwangsernährte Zahl über W i d e r s t a n d und S e l b s t b e s t i m m u n g spricht. - Zahls Brief an Dutschke vom 22723. 4. 1979, 2 S.65 5. Zahl betreffende Briefe Dritter: — Fotokopie eines zweiseitigen Briefs vom B. M. an Zahl, Datum unleserlich; Beilage in Zahls Brief an Dutschke vom 22.723.4. 1978. - Fotokopie von fünf Seiten eines vom 18. 6. 1978 datierten Briefes von E. D. an Meo Hellriegel-Rentzel und die Cowrage-Redaktion als Reaktion auf den Artikel Alltagslyrik von Peter-Paul Zahl, vgl. Hg/Anm. 10l.66

64 Erwähnenswert ist hier auch ein zehnseitiges Typoskript (Durchschlag) mit Zahls Handschrift in der Überschrift: »auszüge aus dem V. und IX. Kapitel des Schelmenromans >Die Glücklichen s VII/78«. Aus dem gleichen Roman liegt auch die Fotokopie des Findex vor (S. 511-525), die Doris Teller am 22. 9. 1979 an Dutschke geschickt hatte. 65 Weitere Briefe Zahls an Dutschke aus dem umfangreichen Briefwechsel waren gegenwärtig nicht zugänglich. 66 Auf der Rückseite der S. 5 geht Dutschke (handschriftlich) auf die Verhältnisse in der UdSSR ein; vermutlich handelt es sich dabei um die (fragmentarische) Skizze einer Rede: »Genossinnen] und Genfossen]. Als [ich] die russische Genossin reden hörte, und sie von den 7 Demonstranten sprach in einem Lande von 300 Millionen, was heißt das? Herr Mies [durchgestrichen] Herr Breshnew wird sagen, ist doch klar, wir haben 299. [999.] 993 Normale und 7 Verrückte. Daß die in die psychiatrischen Anstalten müssen, ist doch klar. Herr Mies, Herr Honecker würdefn] zustimmen, die Manager von Daimler wissen das zu schätzen (Arbeitsdisziplin), und die Entspannungspolitiker werden darüber hinweggehen, um der >Entspannung< willen. Oh, diese Linken, wie ich sie damals kennenlernte, wie wenig verändert noch bei vielen heute ... Allgemeine Staatssklaverei ... Am gleichen Tag demonstrierten in Ostberlin ca. 7 Demonstranten gegen die Okkupation und landeten im Gefängnis. Am gleichen Tag demonstrierten in West-Berlin ca. 7 000, ich war im Krankenhaus, hatte die 1. Operation hinter mir. Später mußte ich mir oft die Frage stellen, wie politisch bedeutend sind die 7 und wie unbedeutend war[en] poli[tisch] die 7 000?«

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VI. Übriges 1. Als Zeitungsausschnitt: Walter Grab: Zu den Quellen. Thomas Michael Mayers »Büchner« [Rezension]. - In: Frankfurter Rundschau, 9. Oktober 1979 (Y10). 2. Manfred Nopens' Brief an Dutschke vom 9. April 1979. 3. Durchschlag von Dutschkes Brief an den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Lothar Späth, vom 17. 2. 1979 mit einem Zusatz Zahls vom 8. 3. 1979. 4. Briefkarte des Rotbuch-Verlags vom 21.5. 1979 zu .

3.2. Arbeitsschritte: vom Entwurf YA über die Kontrabande^assung C2 zur letzten Fassung E Auf der Grundlage der im Nachlaß vorgefundenen Materialien soll die Entstehung des Essays in ihren Grundzügen nachgezeichnet werden; dabei geht es weitgehend nur um jenen Teil der Arbeit, deren Chronologie wegen einer ausreichenden Materialgrundlage eindeutig belegbar ist, nämlich um die Arbeitsschritte von den Vorentwürfen YA-YG über die Kontrabandeiassung C2 bis zur letzten Fassung E. Vor den nur fragmentarisch erhaltenen Y-Entwürfen lagen die in den Notizen und Exzerpten greifbar werdenden Vorarbeiten und die Materialbeschaffung, die Lektüre der Primär- und der Sekundärliteratur und der Zahlschen Briefe, das Exzerpieren und die methodischen Überlegungen. Der besseren Übersichtlichkeit halber werden die diesen Teil der Vorarbeiten betreffenden Materialien erst im nächsten Unterkapitel (3.3. Nachträge zu den Vorarbeiten) angesprochen und diskutiert. Nachdem Doris Teller im Anschluß an Gespräche mit Erich Fried, dem Mitherausgeber der Zahl-Dokumentation, im Herbst 1978 den Plan gefaßt hatte, eine Zahl-Anthologie auf Dänisch herauszugeben, sagte ich im Februar 1979 meine Mitarbeit zu, Rudi Dutschke wenig später. Einige Etappen der weiteren Arbeit Dutschkes sind oben in der Einleitung zum dritten Kapitel bereits genauer datiert worden. Daß Dutschke sich eigens für diese Arbeit eine Büchner-Ausgabe (GB/RUB) zulegte, geht aus deren Erscheinungsjahr, 1979, hervor. Aus der Bibliothek des Germanistischen Instituts der Universität Aarhus entlieh er sich HA II, BWE9 und einige Werke der Büchner-Literatur (in einer wissenschaftlichen Präsenzbibliothek an sich nicht möglich!). Er arbeitete diese Bände und auch einen Band mit Reden (vgl. Cato-Rede) engagiert durch, wie die zahlreichen Hervorhebungen und Randbemerkungen zeigen. In der selben Art und Weise bearbeitete Dutschke die Bücher, veröffentlichte oder unveröffentlichte Artikel und die Briefe Zahls. Die handschriftlichen Exzerpte aus einigen dieser Bücher — vor allem aus HA II zeigen, daß Dutschke sich beim Exzerpieren an den von ihm bereits vorgenommenen Hervorhebungen orientierte. Zu einigen der ihm besonders wichtig erscheinenden Themen brachte Dutschke dann, wie verschiedenen Blättern im handschriftlichen Nachlaßkomplex zu entnehmen ist, erste Überlegungen zu Papier, die später im 102

Artikel zentral wurden. Diese Themen - vor allem das »Lob der Faulheit« und der »St. Simonismus« - spielten schon in den Exzerpten aus Büchners Briefen und aus Dantons Tod eine bedeutende Rolle. In diesem Zusammenhang formulierte Dutschke auch stichwortartige Überlegungen über die Art und Weise, die Themenkreise »Büchner« und »Zahl« miteinander zu verbinden. Wesentliche Kritik am Hessischen Landboten wurde auf der Grundlage von (z.T. ebenfalls exzerpierten) Arbeiten von Marx und Engels (Deutsche Ideologie, Das Kapital) vorformuliert. Auf einen ersten handschriftlichen (Teil-)Entwurf (YA) folgten verschiedene maschinenschriftliche (YB-YG). Daß dieser Prozeß in mehreren Etappen vor sich gegangen sein muß, macht zum einen die oben beschriebene Beschaffenheit von Yß deutlich; im übrigen weisen andere Fragmente maschinenschriftliche und korrigierende handschriftliche Teile nebeneinander auf. Auf der Grundlage seiner verschiedenen Vorarbeiten und unter Übernahme von Gedanken und Sätzen aus bis YG begann Dutschke mit der Niederschrift einer ersten zusammenhängenden Fassung , die bereits als Basisfassung für die weitere Arbeit charakterisiert worden ist. A liegt als Kohlepapierkopie vor, erhalten haben sich die Seiten 7-33, 36-40. Die Rückseiten der S. 11 und 13 der Fassung A und auch das Blatt Y22 belegen, daß Dutschke zu einzelnen Seiten mehrfach angesetzt hat, um den Gedankengang weniger kompakt und differenzierter darstellen zu können; die beschrifteten Rückseiten machen deutlich, daß Dutschke das Schreibpapier samt Durchschlag in der Maschine umdrehte und mit der Konzipierung der Seite wieder von vorne anfing. Dutschke archivierte seine Kohlepapierkopie der Fassung A und arbeitete am »Original« weiter. Von der durch die Umarbeitung - d. h. durch Einschübe, Ergänzungen, Kürzungen, Korrekturen, handschriftliche Randbemerkungen — entstehenden Fassung B ist ein die S. 2-43 umfassendes Exemplar als Fotokopie erhalten; S. l ist vermutlich für das Inhaltsverzeichnis ausgespart worden. In B belegen die Kopieschatten von Schnitt- und Montagestellen, daß manche dieser Seiten mehrfach überarbeitet worden sind. Das »Original« der Fassung B stellte dann die Grundlage für die Ausarbeitung der Fassung C dar. Diese Fassung enthält 46 maschinenschriftliche Seiten; die Seiten 22 und 23 existieren als handschriftlich skizzierte Doppelseite. Von den übrigen Seiten sind 12 Originaltyposkripte ohne eingeklebte Passagen, 19 Seiten Kopien von mit Schere und Klebstoff komponierten Blättern und 15 Seiten aus verschiedenen Manuskriptteilen zusammengesetzt (über 50 Nahtstellen). C wird als Kopievorlage von Cl und C2 verwendet; einige Passagen in Cl und in C2 werden von Dutschke danach noch leicht verändert, einige wenige Seiten ganz neugeschrieben; die S. 22 und 23 existieren nur in C2 im maschinenschriftlichen Original. In Cl erscheinen die Seiten l, 2,4, 8, 48 als Originaltyposkript (und unterscheiden sich damit von C); diese fünf Seiten erscheinen in C2 als Kohlepapierdurchschläge. In der Arbeitsstufe C/C1/C2 entstehen mithin nur gut ein Drittel aller Seiten als durchge103

hendes Originaltyposkript, die übrigen Seiten sind entweder »Kollagen« aus verschiedenen Seiten bzw. Fotokopien bereits in der Arbeitsschicht A odef B zusammengesetzter Seiten aus verschiedenen Originalteilen. Die Fotokopie ersetzte die aus »Original«-Teilen zusammengeklebte, im Zuge der Umarbeitung zerschlissene, mit Schere und Leim komponierte Seite. Die mit S. 40 abbrechende Fassung A umfaßte — wie aus einem Textvergleich zwischen A und B hervorgeht - mit größter Wahrscheinlichkeit insgesamt 42 Seiten; sie war damit um sechs Seiten kürzer als C2 und um ca. sieben kürzer als £. Wegen der Umarbeitung des Essays wurde bis C2 jeweils eine neue Seitenzählung notwendig, in £ schob Dutschke die Erweiterungen als S. 8a und lla ein. Die Umnumerierung beim Übergang von A zu B, von B zu C und von C über D zu £ reicht zur Feststellung der Chronologie der Typoskriptentwicklung aus; die maschinenschriftliche Numerierung der Seiten in A wird in B handschriftlich geändert; B wächst um insgesamt e i n e Seite. Da in B die Seiten 3-7 aus den maschinenschriftlich notierten Seitenzahlen 2-6 hervorgehen, sind diese Seiten mit Sicherheit mit den in A fehlenden Seitend 2-6 (weitgehend) identisch. Zur Bestimmung der Chronologie der Manuskripte tragen neben der Numerierung auch die Einfügungen in den Text bei: in gibt es noch keinerlei handschriftliche Zusätze; auf der Grundlage der maschinenschriftlich greifbaren Textsubstanz von A sind aber in B eine Reihe solcher Einfügungen zu entdecken. Bei der (partiellen) Neuschrift in C sind davon viele maschinenschriftlich in den Text integriert worden. Die fragmentarische Übergangsfassung D (S. 2-7a, 9-11, 14, 18, 19) ist die handschriftlich bearbeitete Fotokopie der entsprechenden Seiten in Cl. Diese Seiten sind in £ sämtlich neugeschrieben und in Cl eingefügt worden. Die in £ so aus Cl übernommenen Seiten wurden ebenfalls überarbeitet, stellenweise ergänzt und stilistisch geglättet. (Von den in £ neugeschriebenen Seiten sind Kohlepapierdurchschläge erhalten.) Die Fassung £ unterscheidet sich von C/C1/C2 prinzipiell so wie C von B und B von A, d. h. daß das Manuskript jeweils umfangreicher wird, einzelne Abschnitte werden umgruppiert, Kapitelüberschriften werden umformuliert bzw. erweitert, Formulierungen präzisiert, der Stil wird weniger sperrig. Es fällt auf, daß das Manuskript beim Übergang von B zu C nicht nur um insgesamt ca. 5 Seiten wächst, sondern daß die Erweiterungen hier überwiegend auf autobiographische Überlegungen zurückzuführen sind. Liegen A und B im Nachlaß in je einer Kopie vor, so haben sich von der Stufe C drei verhältnismäßig geringfügig voneinander abweichende Fassungen erhalten. Als Dutschke C2 als Kopie von Cl hergestellt hatte, sandte er, wie oben bereits angesprochen, das noch unfertige Manuskript an die Konirabtfttde-Herausgeber, um diese zu beruhigen und von der Existenz des Artikels zu überzeugen. »Original« in C2 sind die S. 22 und 23, Spuren von Korrekturlack, neue maschinenschriftliche Einfügungen, eine neu eingeklebte fotokopierte Passage (S. 2/C2). Auch an Cl arbeitete Rudi Dutschke weiter.

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Um eine technisch verbesserte Kopiervorlage für die weitere Arbeit zu haben, tilgte Dutschke hier auf fotokopierten Seiten jene Kopieschatten von Schnittund Montagespuren, die in C2 deutlich sichtbar sind. Die ursprünglich in der Kopiervorlage Cl vorhandenen, in C2 erhaltenen handschriftlichen Zusätze wurden in Cl nachträglich entfernt und mit Maschine neu geschrieben. In C2 finden sich auch maschinenschriftliche Originaleinfügungen (S. 4), die in Cl als Kohlepapierdurchschrift erscheinen. Die übergroßen Bleistiftpunkte auf einigen Seiten in C2 sind in Cl nicht vorhanden; da Dutschke mit diesen Punkten brüchige bzw. problematische Passagen bezeichnet hatte, ist das Fehlen in Cl leicht erklärlich. Dutschke kopierte nämlich wenig später in der Arbeitsphase D von Cl jene Seiten, die er handschriftlich bearbeiten wollte, — darunter auch die in C2 durch Bleistift hervorgehobenen Seiten. Das C2-InhaltsVerzeichnis (Kohlepapierdurchschlag) weicht vereinzelt von den Kapitelüberschriften im Text selbst ab; dies ist auch noch in der Fassung E der Fall. Im C2-Inhaltsverzeichnis stellt dabei die Einbeziehung von BlochBegriffen die markanteste Änderung dar: »aufrechter Gang«, »Noch-nichtZeit«. In der letzten Fassung E wird das Bild des »aufrechten Gangs« auch im Text verwendet (S. 3); der Begriff des »Noch-Nicht« wird an keiner Stelle explizit erklärt. Dieses Bild, das unter Verweis auf Bloch auch in einer Vorstufe des C2-Inhaltsverzeichnisses vorkommt, die sich handschriftlich (als Fotokopie) im Nachlaß erhalten hat (Y9), und das hier als »Noch-nichtSein« in Erscheinung tritt, findet sich im übrigen auch als handschriftliche Randbemerkung in GB/RUB und ist unten Gegenstand weiterer Überlegungen. Die Entwicklung der Kapitelüberschriften von A über C2 zu E spiegelt sehr komprimiert die Veränderungen der verschiedenen Textstufen wieder und macht dabei die Mühe deutlich, die sich Dutschke gab. Unablässig revidierte er auch den Text der Überschriften, präzisierte sprachlich Unzulängliches, Unzugängliches, inhaltlich Überholtes und ließ seine eigene Weiterentwicklung im Zuge der Arbeit zum Ausdruck kommen. Der politisch aktive Büchner ist in B und C (S. 13 bzw. 14) nicht nur ein Verliebter wie in der Kapitelüberschrift in A (S. 12), sondern auch ein Verdammter; den Dichtern aus A (S. 20) fehlt etwas, wenn sie nicht auch als oppositionelle (B/S. 21) bzw. radikal-oppositionelle (C2/S. 24) gekennzeichnet werden, und sie verlieren sich als Dichter (A/S. 20) womöglich im Nur-Lyrischen, wenn sie nicht gleichzeitig auch (wie in B/S. 21 und G2/S. 24) prosaischer als Schriftsteller charakterisiert werden. Der von ihm in (S. 38) propagierte Müßiggang als Anfang aller Lüste erschien Dutschke womöglich zu individualistisch-hedonistisch, deshalb fügte er in B (S, 39) und C2 (S. 44) nicht nur die Muße als Zielvorstellung ein, sondern auch den Widerstand (als kollektive Handlung), um im Inhaltsverzeichnis zu C2 schließlich auch noch die Freiwerdung einzubeziehen, so daß er endlich fragen kann: Ist nicht Müßiggang (und Selbsttätigkeit) der Anfang aller Muße, Freiwerdung, Lust und Widerstand? Charakteristisch für die Entwicklung von Dutschkes Arbeit ist, daß die 105

Zunahme der Blochschen Begriffe auch in der stetigen Fortentwicklung der Überschriften zum Ausdruck kommt. Ist in A (S. 20), ß (S. 21) und C2/E (S. 24) jeweils von dem zu 15 Jahren Gefängnis Verdammten die Rede, so wird dieser im C2/£-Inhaltsverzeichnis außerdem vorgestellt als der seit Anfang der 60er Jahre seinen »aufrechten Gang« erlernende, bewahrende und nie aufgebende Peter-Paul Zahl. Und aus der Zwischen-Zeit in A (S. 15) wird in B (S. 16) und C2/E die Zwischen-Zeit der Leere\ diese verändert sich aber im C2/£-Inhaltsverzeichnis zur Blochschen Noch-Nicht-Zeit.67 Trotz der zu konstatierenden Entwicklung des Manuskripts von A zu ß, C und £ liegen die wohl wesentlichsten Veränderungen vor der Abfassung der umfangreichen Basisfassung A. Aus den nur durch wenige Blätter greifbaren hand- und maschinenschriftlichen Fragmenten YA-YG läßt sich erschließen, daß der Artikel zunächst tatsächlich — wie vereinbart - auf ca. 20 Seiten angelegt war. Erscheinen z. B. Georg Lukäcs und die Metapher »Sonne Unzucht« in £ auf S. 40, so ist in dem von Dutschke durch Striche ungültig gemachten fragmentarischen Typoskript YC (= Y17/18a) bereits auf S. 20 von diesen Themen die Rede. Die Seite 11 eines weiteren Fragments (YD = S. Y19a) enthält Sätze und Gedanken, die in £ ebenfalls erst wesentlich später, auf S. 30, in Erscheinung treten. Aber auch von den ersten schriftlichen Entwürfen vor A hat es verschiedene Entwicklungsstufen gegeben; neben den handschriftlichen Entwürfen belegen dies vor allem jene zwei Typoskript-Fragmente YC und Y£ (= S. 17a und Y20), in denen inhaltliche Überschneidungen feststellbar sind: Y20 (eine S. 6) ist offensichtlich die Weiterentwicklung von Y17a (eine S. 5). Stellt man die in YA-YG greifbaren Überschriften nur gemäß der Kapitelnumerierung und ohne Rücksicht auf den Kontext zusammen, so ergibt sich folgendes Bild, das eine gewisse Ahnung von einem Entwurf vor der Fassung A vermitteln kann: »2. »4. »4. 5. 6.

Deterministisches Denken und realer Aktivismus« (Y4b) Büchners unmittelbare Ängste« (Y21a) Der. Landbote, die Niederlage, Gefängnis und Exil Die Mitstreiter von Büchner werden Sozialisten [/] Kommunisten Die Aktualität der Büchnerschen Einwände« (Y17a, Y17b, Y18a)

Die Numerierung deutet an, daß die Kapitel in den Y-Vorstufen einander nebengeordnet waren. Mit der Erweiterung des Artikels verringerte sich die Zahl der Kapitel, statt dessen wurden eine Reihe von zusätzlichen Unterkapiteln eingeführt. Der Kapitelnumerierung in A läßt sich entnehmen, daß diese Fassung in zwei Teile zerfiel; Teil l umfaßte die späteren Kapitel l und 2, Teil 2 die späteren Kapitel 3 und 4. In der Fassung B werden aus den zwei Teilen die vier Kapitel, die in C und £ beibehalten sind. Die Einführung der 67 Vgl. dazu auch 106

, Kap. 4.

vier Kapitel hat auf die Zahl und Abfolge der Unterkapitel aus A keinen Einfluß. Um so erstaunlicher muß ein vollständiges Inhaltsverzeichnis erscheinen, das sich auf den Rückseiten von S. 22/23 in der Fassung C erhalten hat — in von Dutschke deutlich durchgestrichener Form. Es ist schwer einzuordnen, denn von der Struktur her scheint es n a c h A zu liegen, es enthält gar Elemente der Überschriften in ß - und doch fehlen ihm Kapitel, die seit der Fassung A mehr oder weniger unverändert in allen Schichten vorhanden sind. Um den Facettenreichtum der Vorarbeiten Dutschkes noch besser beleuchten und dokumentieren zu können, sei dieses Inhaltsverzeichnis hier abgedruckt; in den Unterkapiteln 2b, 2c, 2d erscheinen je zwei Titel: der maschinenschriftliche, von Dutschke ungültig gemachte zuerst (in Klammern, kursiv), danach der handschriftlich darüber geschriebene neue; diese ungültig gemachten Titel erinnern z. T. an die aus den Y-Fragmenten, mithin läge hier eine Zwischenstufe zwischen und A vor (bei gleichzeitigen Vorgriffen auf B): »I. Vorbemerkung als Erinnerung II. Im Obergang vom Feudalismus in den Kapitalismus a. Was berührte Büchner bei der Verteidigung von Katos Selbstmord? b. (Deterministischer Materialismus und politischer Aktivismus) Straßburger Wendung durch Blick nach Hessen c. (Ausstiegsversuche und Grenzen) Die Qual, nach Deutschland zurückzukehren d. (Seine unmittelbaren Ängste und Träume) Der politische Aktivismus des Verliebten und Verdammten III. Der zu 15 Jahren Verdammte und die Aktualität des Sozialismus a. Wo Widerspruch und Widerstand wuchsen b. Kenntlichwerdung, Niederlage, - und dennoch weiterkämpfen c. Jacobinismus und Putschismus IV. Die Ablehnung der Arbeit geht durch alle Epochen a. Von der >Sonne Unzucht< des radikalen Demokraten? b. Arbeit und Müßiggang des radikalen Sozialisten! c. Ist nicht Muße-Zeit der Anfang aller Lust und Freiheit? d. Jenes Minimum an Arbeit und Maximum an Selbsttätigkeit V. Nachbemerkung über die Schwierigkeiten mit der Solidarität«

Danach folgt in großen handschriftlichen Buchstaben die methodische Frage »hier Lafargue??« Wenn man vor dem Hintergrund der Entwicklung der Kapitelüberschriften in den Fassungen vor A und unter Bezugnahme auf die handschriftlichen und maschinenschriftlichen Nachlaßmaterialien davon ausgehen kann, daß vor der Basisfassung A vermutlich ein handschriftlicher und zwei maschinenschriftliche, kürzere Entwürfe existiert haben, so hat es - auch wenn man 107

die Fassung(en) C/C1/C2 als e i n e Entstehungsphase zählt, insgesamt nicht weniger als acht Entwicklungsstufen des Essays gegeben. Und doch erscheint die letzte Fassung £ in mancher Hinsicht immer noch als fragmentarisch. Die handschriftlich skizzierten Anmerkungen waren noch nicht fertig - die zweite Hälfte des Essays weist gar keine Anmerkungen auf. Dutschke hatte offenbar aber vor, neben den 21 noch weitere Anmerkungen einzufügen; in E sind nämlich auf den S. 14 und 18 hochgestellte Klammern zu sehen, die keine Anmerkungsziffern enthalten. Einige Fragezeichen am Rand deuten in der Fassung E an, daß Dutschke trotz Neuschrift mit den betreffenden Seiten/ Stellen (S. 3 u. S/E) noch unzufrieden war. Der nach wie vor fragmentarische Charakter von E ergibt sich auch aus weiteren Beobachtungen. D ist die (Zwischen-)Fassung, in der der Übergang von Cl zu E vorgezeichnet ist; Dutschke bearbeitete hier handschriftlich eine Reihe von Seiten aus Cl; diese wurden dann mit der Maschine neu geschrieben und dabei erweitert (S. 2-11, 14, 18,19). Die restlichen Seiten (S. 12-13, 15-17, 20-48) sind in leicht überarbeiteter Form aus C2 übernommen und in die entsprechenden Seiten von £ transformiert worden. Während die aus D hervorgegangenen Seiten (ca. 2/5) deutlich machen, daß sich Dutschke über die vielfältigen sprachlichen Mängel und Zitatlücken in C klargeworden ist und diese deshalb verbesserte, bestand für den Herausgeber bei den übrigen 3/5 immer wieder die Notwendigkeit zu sprachlichen Eingriffen. Zweifellos wäre Dutschke, dessen Überarbeitung von Teilen der Stufe C in der Fassung D und bei der Neuschrift der in D verbesserten Seiten sprachlichen Überblick und stilistische Umsicht beweist, auch diesen Mängeln auf die Spur gekommen. Auch die nur in £ auftauchenden, handschriftlich angefügten vielsagenden Schlußworte »Widerstehende Literatur ...« (vgl. Hg./Anm. 160) verraten, daß der Arbeitsprozeß immer noch nicht abgeschlossen war. Auch die Beobachtung, daß Dutschke für £ das Inhaltsverzeichnis aus C2 zwar stilistisch leicht überarbeitete, dabei aber die Unterschiede zu den Kapitelüberschriften im Text weiterhin übersah, spricht dafür, daß er zu seinem Text immer noch nicht ausreichend Distanz gewonnen hatte. Die überarbeitete Fassung £ läßt erkennen, daß Dutschke sich der stilistischen Schwächen seines Essays in der Fassung C2 wohl bewußt war. Davon zeugen neben vielen Uniformulierungen, Straffungen und Einschüben nicht zuletzt auch einige Umstellungen, durch die die Gedankenentwicklung klarer wird. Werden einerseits gewisse handschriftliche Bemerkungen ersatzlos gestrichen (so auf S. 41/£ das Wort Freiheit über »Sonne Unzucht«), so bringen einige der neu eingefügten Passagen eine Art Zwischenbilanz zum Ausdruck; enden in der Textstufe C einige Kapitel mit offenen Fragen, so wird in £ daraus oft die Formulierung von Arbeitsaufgaben, oder es entwickeln sich knappe, das Artikelganze strukturierende Vorgriffe auf den weiteren Verlauf des Essays. In diesem Arbeitsgang formuliert Dutschke zu Büchner auch eine »These« (vgl. S. 4/£). Dies alles nimmt dem Artikel die mitunter recht sperrige Eigenwilligkeit des Vorläufigen - der Text wird kommunikativer. 108

Die Überarbeitung zeichnet sich aber nicht nur durch eine stilistisch-kommunikative Dimension aus, sondern erstreckt sich auch auf die inhaltliche Substanz des Artikels. Gerade eine Reihe der in £ eingefügten Zusätze charakterisieren die Etappen in Büchners Entwicklung abgeklärter und knapper: Aus dem »existentialistischen Anpassungs- oder Widerstandsdenken« bzw. einem »Widerstandsbewußtsein« Büchners, das noch durch einen »Mangel an logischen und dialektischen Denk-Formen der Geschiehtsverarbeitung« gekennzeichnet sei, wird schließlich »sozial-rebellischer Widerstand«. Nach der von Dutschke konstatierten Durchbrechung eines ziellosen »individuellen existentialistischen Widerstands« erfolgt »eine materialistische Wendung« Büchners und die »Solidarisierung mit der armen Mehrheit«. Gerade an diesen Ergänzungen läßt sich ablesen, warum Dutschke sich in seinem Beitrag zu einer Anthologie über einen gesellschaftskritischen Schriftsteller seiner eigenen Generation so intensiv mit dem scheinbar so fernen Büchner beschäftigt: dessen Entwicklung erscheint ihm nämlich deshalb so vertraut, weil er sie in gleichen oder ähnlichen Etappen auch bei großen Teilen der antiautoritären Linken in den 60er und 70er Jahren beobachtete; desgleichen bei Peter-Paul Zahl und auch bei sich selbst. Der Büchner in E attestierte »kritisch-materialistische Freiheitsstandpunkt« — es ist denn auch sein eigener. Dieser »eigene« Standpunkt wird aber als Ausdruck von Bewegungen in der antiautoritären Linken in der Bundesrepublik und in Westberlin erläutert; dies geschieht in der Fassung £ vor allem in den neuen, präzisierenden Sätzen wie: >»Was tun?Kältestrom< mehr denn je durch einen solidarischen >Wärmestrom< (Bloch) zu ergänzen.« (S. 3) Dutschke erwog in der allerletzten Phase seiner Arbeit am Essay, über Büchner einen eigenen, neuen Artikel zu schreiben. Dies ist einigen knappen Arbeitsnotizen zu entnehmen, die sich im Nachlaß zusammen mit den beiden Fassungen D und £ fanden. Es handelt sich hier um ein handschriftliches Merk-Blatt, auf dem die anstehenden Aufgaben aufgeführt wurden (Y25): »1. P. P. Zahl-Essay neu durchgehen (mit Anmerkungen!!) (Neue Büchner-Studie ...?) 2. Essay-Sammlung abschließen Kursbuch-Besprechung (a - Revolte, b - Mythos des Irrationalismus« 109

Dieses Merk-Blatt ist mit Sicherheit zu Beginn der Arbeitsphase D entstanden, denn C2 enthielt noch keine Anmerkungen. Sein Vorhaben, eine »Essay-Sammlung ab[zu]schließen«, konnte Dutschke nicht mehr verwirklichen. Er hatte geplant, eine Reihe seiner politischen, theoretischen und autobiographischen Texte aus 15 Jahren herauszugeben; das Buch erschien posthum unter dem Titel Geschichte ist machbar 1980 bei Wagenbach, von Jürgen Miermeister nach Dutschkes (fragmentarischen) Plänen herausgegeben. Vielleicht hatte Dutschke, als er sein Merk-Blatt anlegte, mit dem Gedanken gespielt, seinen Büchner-Zahl-Essay (oder gar eine »neue Büchner-Studie«?) in diese Essay-Sammlung mitaufzunehmen.

3.3 Nachträge zu den Vorarbeiten Der Versuch, die Entstehungsumstände und Entstehungsgeschichte von Dutschkes Essay mit einer Fülle von Anmerkungen und Materialien aller Art aufwendig zu rekonstruieren, ist nicht Selbstzweck. Ein Motiv dieser Arbeit ist, die angesichts der Unabgeschlossenheit des Essays offengebliebenen Fragen wenn schon nicht zu beantworten, so doch das Material für eine mögliche Beantwortung aufzuarbeiten und bereitstellen zu können. Ein weiteres Motiv wäre, jene Argumente stärker herauszuarbeiten, mit denen Dutschke implizit nachweist, daß die Vergabe des Georg-Büchner-Preises gerade an Zahl den Preisverleihern Gelegenheit geben müßte, zu zeigen, daß sie sich der besonderen Verpflichtungen, die mit dem Namen dieses Preises nach wie vor verbunden sind, bewußt sind. Die Darstellung der Entstehungsgeschichte des Essays folgte deren Chronologie nicht uneingeschränkt; wesentliche Teile von Dutschkes Vorarbeiten werden erst jetzt präsentiert. Das hängt mit dem besonderen Charakter der »Spuren« zusammen, mit deren Hilfe diese Vorarbeiten erschlossen werden. Es geht dabei vordringlich um die in Dutschkes Nachlaßbibliothek vorhandenen Randbemerkungen zum Thema Büchner; bemerkenswerterweise finden sie sich nicht allein in den Werken von und über Büchner, sondern auch in der Deutschen Ideologie von Marx und Engels.68 Die Auseinandersetzung mit den Randbemerkungen erfolgt auch erst an dieser Stelle, weil einige von ihnen in Dutschkes Essay zwar (weitgehend) resonanzlos geblieben sind, dafür aber gewissermaßen über den von Dutschke gewählten Rahmen hinausweisen.

68 Auf einige der Randbemerkungen bin ich bereits in den HglAnm. eingegangen. - Zur Randbemerkung in der Deutschen Ideologie vgl. HglAnm. 68a.

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3.3.1 Dutschkes Randbemerkungen in Büchners Werken und in der Büchner-Literatur Aus Dutschkes Randnotizen in der Cato-Rede geht hervor, daß er Dantons Tod und den Hessischen Landboten bereits (wieder) gelesen hatte, als er daran ging, die Schüler-Rede Büchners durchzuarbeiten. Diese ist vielleicht der einzige Büchner-Text, der schon in Dutschkes Bibliothek vorhanden war, als er beschloß, den geplanten Zahl-Essay um die Dimension »Büchner« zu erweitern und so der Ohnehin vorhandenen Funktionalität des Essays einen neuen Akzent zu verleihen. Diese Rede zur Verteidigung des Cato von Utika ist in den von Walter Hinderer herausgegebenen Deutschen Reden erschienen, wo jeder Redner/ Autor vom Herausgeber einleitend auf jeweils einer halben Seite vorgestellt wird. Die Einleitung zur Cato-Rede weist ebenso wie der Text der Rede eine Fülle von Unterstreichungen auf; einige der so hervorgehobenen Passagen bestimmten das im Essay greifbare Büchner-Bild Dutschkes nachhaltig. Heißt es in Hinderers Einleitung abschließend, daß sich in dieser Rede »schon Gedankengänge [zeigen], die für den späteren Büchner typisch sind«69, so ist diese Charakteristik auch kennzeichnend für den inhaltlichen Aufbau von Dutschkes Büchner-Abschnitten. Diese Feststellung läßt sich auch aus denjenigen der im Text selbst vorhandenen 12 Randbemerkungen ableiten, mit denen Dutschke nicht nur einzelne Texteinheiten hervorhebt, sondern Erkenntnisse des siebzehnjährigen Schülers mit Haltungen und Handlungen des späteren Schriftstellers und Revolutionärs vergleicht bzw. identifiziert. Diese Randbemerkungen erhalten so in Verbindung mit den entsprechenden Textstellen gleichsam den Charakter der Vorausdeutung aus der Perspektive der Nachgeborenen. Die folgende Passage der Cato-Rede ist von Dutschke ganz vehement hervorgehoben worden: »So wenig als Kato Christ war, so wenig kann man die christlichen Grundsätze auf ihn anwenden wollen; er ist nur als Römer und Stoiker zu betrachten.«70 Neben den diese Passage auch am Rand hervorhebenden Strichen schreibt Dutschke »Bü[chner]«, und von »Römer und Stoiker« führt ein Pfeil an den unteren Rand, wo zu lesen ist »Republikaner]/ Stoiker« - kein Zweifel, daß Dutschke hier Büchner mit Kato identifiziert bzw. Büchner sich als Republikaner und Stoiker in der Charakteristik Katos selbst widerspiegeln sieht. Eine ähnliche Identifizierung Büchners mit Kato zeichnet sich in drei weiteren Randbemerkungen ab. Den von Büchner beschriebenen »letzten Anstrengungen« Katos, »die Bürger für die Sache der Freiheit zu gewinnen«, gilt, wie der Essay zeigt, Dutschkes besonderes Interesse. Diese und die sich daran anschließende Passage ist im Text und am

69 Cato-Rede, S. 441. 70 Cato-Rede, S. 443 = HA II, 26, Z. 38 ff.

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Rand fast bis zur Unkenntlichkeit hervorgehoben: »Doch als er sah, daß in ihnen nur Sclavenseelen wohnten, [...] als er nirgends mehr ein Asyl fand für die Göttin seines Lebens, da hielt er es für das Einzigwürdige, durch einen besonnenen Tod seine freie Seele zu retten.« Daneben schreibt Dutschke »Hessischer] Landbote«.71 Auch die nächste Randbemerkung formuliert Gedanken, die im Essay ausführlicher dargestellt werden, nämlich daß sich in der Cato-Rede Haltungen ausdrückten, die sich in Büchners späterem Leben nicht änderten und die deshalb Konsequenzen bekamen. Dutschkes Randbemerkung »Büchner Frankreich« findet sich neben dem heftig unterstrichenen Satz: »Den Fall seines Vaterlandes hätte Kato überleben können, wenn er ein Asyl für die andre Göttin seines Lebens, für die Freiheit, gefunden hätte. Er fand es nicht.«72 Von dem sich anschließenden Satz - »Der Weltball lag in Roms Banden, alle Völker waren Sclaven«73 — führt ein Pfeil an den oberen Rand der Seite zu dem von Dutschke dort notierten Wort »Kapital-Banden..«. Die Randbemerkung »Schweiz« ist ebenso wie die Querverbindung zu Büchners Frankreich-Aufenthalt Ausdruck von Dutschkes Überlegung, daß die Unwilligkeit Katos, sich unter den gegebenen Zuständen in seinem eigenen Lande zu arrangieren, als eine Art Antizipation jener Kompromißlosigkeit Büchners anzusehen sei, die diesem Exilierung und Tod im Exil einbrachte; mit »Schweiz« kommentiert Dutschke den Satz: »Er [Kato] sah, Rom und mit ihm die Freiheit war nicht mehr zu retten. — «74 Ist die Mehrzahl dieser Randbemerkungen wohl durch jene Überlegung Hinderers in der Einleitung angeregt, nach der in der Cato-Rede z. T. Gedanken vorgetragen werden, die Büchner später weiterverfolgte und die deshalb in letzter Konsequenz dazu führten, daß er das furchtbare Vaterland verlassen mußte, so enthält die Randbemerkung »Kapital-Banden« einen Verweis auf die, wie Dutschke meint, von Büchner im Hinblick auf seine eigene Zeit nicht erkannten gesellschaftlichen Grundprobleme: die Kapitalverhältnisse. Eine einzige Randbemerkung bezieht sich auf Büchners literarisches Werk. Der Vermerk »Danton?!« findet sich neben folgendem Satz gegen Ende der Rede: »Wenig Menschen werden je gefunden worden seyn, die den Entschluß zu sterben mit soviel Ruhe haben fassen, mit soviel Beharrlichkeit haben ausführen können.«75 Auch hier werden Parallelen hergestellt, denen im Essay selbst eine zentrale Rolle zukommt. Zwischen den auf den Hessischen Landboten und auf Dantons Tod bezogenen Randbemerkungen in der Cato-Rede und Dutschkes Auseinandersetzung mit Büchner in seinem Handexemplar (GB/RUB) gibt es eine augenfäl71 72 73 74 75

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Cato-Rede, S. 444 f. = HA II, 28, Z. 7 ff. Cato-Rede, S. 446 = HA II, 29, Z. 5 f. Cato-Rede, S. 446 = HA II, 29, Z. 7 f. Cato-Rede, S. 447 = HA II, 30, Z. 6 f. Cato-Rede, S. 449 = HA II, 32, Z. 3-5.

lige Querverbindung; das Revolutionsdrama ist nämlich neben der Flugschrift (und Büchners Briefen und der Cato-Rede) der Büchner-Text, mit dem sich Dutschke am eingehendsten auseinandergesetzt hat. Dieser Eindruck stellt sich schon beim Durchblättern von GB/RUB ein, wo Dantons Tod der Text ist, dem Dutschke mit Bleistift und drei verschiedenfarbigen Kugelschreibern am häufigsten am Rand und zwischen den Zeilen zu Leibe gerückt ist. Hier finden sich nicht nur die meisten und unterschiedlichsten Hervorhebungen, sondern auch die häufigsten handschriftlichen Randbemerkungen: vierzehn. In Leonce und Lena76, Woyzeck und Lenz findet sich j e e i n e Randbemerkung. In Büchners Erzählung gibt es nur im letzten Viertel des Textes Unterstreichungen und andere Hervorhebungen; besonders leidenschaftlich und zahlreich werden diese bei Lenz' Überlegungen über Langeweile, Müßiggang, Laster und Tugend77 und beim Bericht von Lenz' »halbem Versuch zum Entleiben«78. Neben der Stelle, wo Lenz im Gespräch mit Oberlin »die entsetzliche Stimme« erwähnt, »die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt«79, findet sich Dutschkes Hinweis »s. Woy[zeck]«. Im Woyzeck-Text selbst gibt es (in der Anordnung Bergemanns) vor allem am Anfang bis hin zu den Doktorszenen viele Unterstreichungen; die einzige schriftliche Anmerkung findet sich hier in der letzten Szene (nach: »Es kommen Leute«); direkt im Anschluß an die Replik der »Ersten Person« notiert Dutschke »Büchner?«80 Hinweise dieser Art, die ähnlich wie im Gzto-Text als Versuch anzusehen sind, die Person des Schriftstellers ganz unvermittelt im literarischen Kontext zu identifizieren, sind in Dutschkes Handexemplar (GB/RUB) besonders in Dantons Tod festzustellen. Mit der Randbemerkung »Büchner« werden Danton-Repliken markiert, in denen Dutschke Sentenzen des Autors selbst erkennen zu können glaubt. Wenn Danton erklärt, er wolle »lieber guillotiniert werden als guillotinieren lassen«81, wenn er rhetorisch fragt: »kann man mehr verlangen, [...] um überhaupt keine Langeweile zu haben? — Ob sie nun an der Guillotine oder am Fieber oder am Alter sterben«82, wenn er behauptet: »Ich werde mit Mut zu sterben wissen; das ist leichter, als zu leben«83 und: »Die Guillotine ist der beste Arzt«84, so notiert Dutschke jeweils am Rande daneben »Büchner«. Auch neben Dantons rast-

76 77 78 79 80 81 82 83 84

Vgl. EK/Anm. 89. GB/RUB, S. 102 (vgl. HA I, 95 f.). GB/RUB, S. 106 (vgl. HA I, 99 f.). GB/RUB, S. 107 (vgl. HA I, 100). GB/RUB, S. 172 (vgl. HA I, 428). GB/RUB, S. 34 (vgl. HA I, 32). GB/RUB, S. 35 (vgl. HA I, 33). GB/RUB, S. 40 (vgl. HA I, 38). GB/RUB, S. 79 (vgl. HA I, 74).

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losem Satz »Ich muß fort, sie reiben mich mit ihrer Politik noch auf«*5 fragt Dutschke am Rande »Büchner?« Die übrigen Randbemerkungen in Dantons Tod reichen von der kurzen Anmerkung zur eigenen historischen Orientierung86 über den spontanen politischen Kommentar87 bis zur skizzenhaften Herstellung eines politisch-philosophischen Kontextes. Die Namen M a r x und L a f a r g u e , die in Dutschkes Artikel und in dem darin so oft erwähnten »schelmenhaften Parteiprogramm neuen Typs« (Yll) eine zentrale Rolle spielen, treten bereits in den Randbemerkungen in Erscheinung. An Paul Lafargue fühlte sich Dutschke erinnert, als der Dritte Bürger in der ersten Volksszene (1.2) sagt: »Unser Leben ist der Mord durch Arbeit; wir hängen sechzig Jahre lang am Strick und zappeln, aber wir werden uns losschneiden!« Über dem von Dutschke im Text und am Rand mehrfarbig hervorgehobenen Satz findet sich nämlich seine handschriftliche Notiz: »Lafargue!« Der Bezug zwischen »Mord durch Arbeit« und »Lafargue!« ist durch einen beide Formulierungen verbindenden langen Pfeil ganz unmißverständlich.88 An Lafargue wird auch in der einzigen Randbemerkung zu Leonce und Lena erinnert; neben Valerios Absage an die Mühsal der Arbeit und seinem Lob des Müßiggangs und der Faulheit notiert Dutschke »Lafargue/Zahl«89. Die gesamte Replik fällt im übrigen durch Unterstreichungen und durch ein Spalier von Ausrufezeichen am Rand besonders ins Auge. Randbemerkungen dieser Art sind aller Wahrscheinlichkeit nach der Hintergrund dafür, daß Dutschke in einem seiner unten näher vorzustellenden Exzerpt- und Skizzenblätter (Y7a) die »Faulheit« und die »Weiber« als »Obergang [von Büchner] zu Lafargue und Zahl« fixiert. Hier wären dann die durch Randbemerkungen und Unterstreichungen immer wieder gerade zu diesem Themenkreis nachdrücklich gemachten Erfahrungen bei der BüchnerLektüre inhaltlich und methodisch im Hinblick auf den zu schreibenden Artikel umgesetzt worden. Zu diesem Themenkreis gehört auch, daß Dutschke die folgende Replik Dantons aus dem 2. Akt in seinem Handexemplar im Text und am Rand auffällig hervorhebt: 85 GB/RUB, S. 12 (vgl. HA I, 12). 86 ( .7): »Legendre. [...] Der Mann, welcher im Jahre 1792 Frankreich durch seine Energie rettete, verdient gehört zu werden« (Gß/Rl/ß, S. 45; vgl. HA I, 43). Dutschke notiert daneben am Rand: »September morde]«. 87 »Dem konterrevolutionären] Beginn müssen Schranken gesetzt sein!« - dies schreibt Dutschke auf den unteren Rand der Seite, auf der Robespierres Rede im Nationalkonvent (II.7) abgedruckt ist (Gß/Rt/ß, S. 46; vgl. HA I,44). Von Robespierres Satz: »Wie könnt ihr eure Grundsätze weit genug verleugnen, um einigen Individuen das zu bewilligen, was ihr gestern Chabot, Delaunai und Fabre verweigert habt?« (Hervorhebung von Dutschke) zeichnete Dutschke einen langen, quer über die Seite führenden Pfeil, der auf den Anfang seiner hier zitierten Bemerkung am unteren Rand der Seite zeigt. 88 Gß/Rl/ß, S. 15 (vgl. HA I, 15). 89 Gß/RUß, S. 144 (vgl. HA I, 134).

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»Ich wittre was in der Atmosphäre; es ist, als brüte die Sonne Unzucht aus. — Möchte man nicht drunter springen, sich die Hosen vom Leibe reißen und sich über den Hintern begatten wie die Hunde auf der Gasse?«90

Am oberen Rand derselben Seite notierte Dutschke jene beiden Worte »Sonne Unzucht« erneut, die in seinem Essay so bedeutungsschwer sind und die auch in der Überschrift zum 4. Kapitel erscheinen. Dutschke erkennt diesen Worten, die (unter Hinweis auf Gß/Rl/ß, S. 37) schon in dem Entwurf Y18a auffällig hervorgehoben worden sind, allerdings eine metaphorische Bedeutung zu, die von Büchner in dieser Weise nicht intendiert war. Das wird besonders dadurch deutlich, daß Dutschke in seinem Artikel, abweichend zu Büchner, von der »Sonne der Unzucht« spricht (E/S. 41). Bei Büchner bleibt es offen, ob die Sonne mehr ist als - um im Bild zu bleiben — »Wärmequelle«; ob sie, wie bei Dutschke anklingt, gleichsam die Quelle der Unzucht ist, steht nicht zur Debatte. Aber auch in dieser Eigenschaft wäre sie nicht, wie bei Dutschke, die Unzucht selber. Bei Dutschke ist »Sonne« eine Art metaphorisches Attribut zu »Unzucht«, wird gleichsam zum »Licht der Unzucht«, zu einem, wie Dutschke schreibt, »antizipatorische[n] Kraftfeld;, das Bild ist hier in einer Weise positiv aufgeladen, die Büchner fremd ist. Die Doppelbödigkeit gerade dieses metaphorischen Zusammenhangs bei Büchner läßt sich im übrigen jener (von Dutschke in GB/RUB ganz auffällig hervorgehobenen) Replik Woyzecks entnehmen: »Immer zu — immer zu! [...] Dreht euch, wälzt euch! Warum bläst Gott nicht die Sonn aus, daß alles in Unzucht sich übereinanderwälzt, Mann und Weib, Mensch und Vieh?! Tut's am hellen Tag, tut's einem auf den Händen wie die Mücken! - Weib! Das Weib ist heiß, heiß! - Immer zu, immer zu!«91

Zwei Randbemerkungen verweisen auf Marx, der sich seit Anfang der 40er Jahre mit der Französischen Revolution von 1789 und dem Verhältnis von Verfassungsrecht und ökonomischem Interesse auseinandergesetzt hatte.92 Eine findet sich in Dantons Tod (III.7), wo Philippeau über sich und seine Mitgefangenen sagt: » Wir sind wie die Herbstzeitlose^ welche erst nach 90 GB/RUB, S. 37 (vgl. HA l, 35). 91 GB/RUB, S. 163 (vgl. HA I, 422), Hervorhebungen (durch Unterstreichung) von Dutschke. 92 »Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechts der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigenthums. [ . . . ] Das Menschenrecht des Privateigenthums ist [...] das Recht, willkürlich [...], ohne Beziehung auf andre Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu geniessen und über dasselbe zu disponiren, das Recht des Eigennutzes. Jene individuelle Freiheit [...] bilde[t] die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie lässt jeden Menschen im ändern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden.« Karl Marx: Zur Judenfrage. - In: Deutsch-französische Jahrbücher, hrsg. von Arnold Rüge und Karl Marx, 1. u. 2. Lieferung. - Paris 1844, S. 182-214, hier: S. 200. 115

dem Winter Samen trägt. Von Blumen, die versetzt werden, unterscheiden wir uns nur dadurch, daß wir über dem Versuch ein wenig stinken. Ist das so arg?« Über Dantons Antwort darauf - »Eine erbauliche Aussicht! Von einem Misthaufen auf den ändern! Nicht wahr, die göttliche Klassentheorie? Von Prima nach Sekunda [...] und so weiter?« - notiert Dutschke: »[>]Wiederholung derselben Scheiße< (Marx)«93. Diese Randbemerkung, die Dutschke auch in Gustav Beckers' Buch hinterläßt94, konnte bisher nicht als Marx-Zitat lokalisiert werden; da Dutschke eine ähnliche Formulierung aber auch in seinen autobiographischen Aufzeichnungen (RDA) verwendet, lassen sich Kontext und Funktion der Randbemerkung doch abstecken. Bezogen auf die »Herrschaftskontinuität« in Rußland und in der UdSSR heißt es in RDA: »die alte Rolle und Funktion des Staats, die alte Staatsform der allgemeinen Staatssklaverei wurde bei ihm [Lenin] noch lange nicht genügend zum Schluß und auf den Begriff gebracht, in keiner Weise konsequent genug reflektiert. Am Ende der zwanziger Jahre ist die >alte Scheiße< (Marx) zu konstatieren; der bürokratisch-despotische Staatsapparat beherrscht die Gesellschaft, und die KPdSU ist im Staatsapparat integriert und spielt die dementsprechende Rolle.«95

Dutschkes Randbemerkung im Handexemplar hätte also die Funktion, Büchner und Danton mit der Kritik an der auch durch eine erfolgreiche Revolution ungebrochenen Herrschaftskontinuität in Verbindung zu bringen96, eine Annahme, die tatsächlich naheliegt, wenn man Dantons Robespierre-Kritik mit Dutschkes Lenin-Kritik in der Autobiographie vergleicht: Dutschkes zweite Randbemerkung in Dantons Tod, die auf Marx verweist, findet sich in der vorletzten Szene des Dramas (IV.8), in der sich in GB/RUB neben Dutschkes handschriftlichem Kommentar auch vielfältige Unterstreichungen sowie heftige Ausrufe- und Fragezeichen am Rande befinden:

93 GB/RUB, S. 64 (vgl. HA I, 60 f.); Hervorhebungen von Dutschke. 94 Gustav Beckers: Georg Büchners >Leonce und Lenaim alten Trab< geht, >gar kein Absehen [ist], wie es anders werden soils im Irdischen nichts entscheidend Neues geschehen kann, starrt der Mensch schließlich, gelangweilt, interesselos in sein Dasein hinein.« (Dutschkes Hervorhebung); am Rand daneben schreibt Dutschke: »Wiederholung der alten ScheißeKlassenkampf< die >alte Scheiße< stehen lassen.« - Rudi Dutschke: Die Revolte, a. a. O., S. 208 f. 116

Uhren gehen, die Glocken schlagen, uteiauen/clas Wasser rinnt, und so alles >yeiter bis n darf nicht geschehenT p*»*",

die

:. frlles stockt, sich nicKtJLL __ iriüllt sich die Augen und stößt einen Schrei aus. Nach einer Pause erbebt sie sich. Das hilft nichts, da ist noch alles wie sonst: die Häuser, die Gasse, der Wind

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kommen die Gasse herunter.

. der H6raultL ERSTES ZWEITES W»IR? wie er beim Konstitutionsfest so am Triumphbogen stand, da dacht* icn so, der~mulf sich jut "£ J"" ^ — ' " u s n e h m e n , dacht' ich. Das war $o ne Ja, man seheni es ist rcdu gut^d^j

'Sie geben vorbei. LÜCILB: Mein Camillel Wo soll i

Der Revolutionsplatz Zwei Henker, an der Guillotine beschäftigt. ERSTER HENKER steht auf der Guillotine und singt: Und wann ich harne geh, scheint der Mond so scheh ... ZWEITER HENKER: He, holla! Bist bald fertig? ERSTER HENKER: Gleich, gleicht Singt: Scheint in meines Ellervaters Fenster Kerl, wo bleibst so lang bei de Menscher? So I Die Jacke her l Sie gebn singend ab: Und wenn ich harne geh, scheint der Mond so scheh ...

Dutschkes Büchner-Ausgabe (Gß/Rl/ß), S. 80 117

»Einige Weiber kommen die Gasse herunter. E r s t e s Weib. Ein hübscher Mann, der Herault! Z w e i t e s Weib. Wie er beim Konstitutionsfest so am Triumphbogen stand, da dacht' ich so, der muß sich gut auf der Guillotine ausnehmen, dacht' ich. Das war so 'ne Ahnung.

D r i t t e s W e i b. Ja, man muß die Leute in allen Verhältnissen sehen; es ist recht gut, daß das Sterben so ö f f e n t l i c h wird.«97 Hinter der Replik des Zweiten Weibes notiert Dutschke: »Die (!) werden ihre Kämpfe unter sich austragen.« Da es ihm an Platz fehlt, um weiterzuschreiben, verbindet er die folgende, vor der Szene »Der Revolutionsplatz« notierte Überlegung mit der Replik des Zweiten Weibes durch einen Pfeil, der bei »auf der Guillotine« beginnt: »Nicht plebejische Manier ... d. Terr ... (Marx), vielmehr Erkenntnis der Unterdrückten über die lat[enten] Unterdrücker??« Einen Teil dieser Randbemerkung hat Dutschke in seinen Artikel einfließen lassen: Marx' (und Engels') im Dezember 1848 formulierte Feststellung, der französische Terrorismus sei »nichts als eine p l e b e j i s c h e M a n i e r , mit den F e i n d e n der B o u r g e o i s i e , dem Absolutismus, dem Feudalismus und dem Spießbürgertum fertig zu werden«98, charakterisiert Dutschke im Essay als »extrem verkürzt und vernebelnd«, weil »Danton etc. unter >SpießbürgertumAttentat auf die Freiheit und die Erklärung der Menschenrechtes ... Dies Gesetz, welches den Konkurrenzkampf zwischen Kapital und Arbeit staatspolizeilich innerhalb dem Kapital bequemer Schranken einzwängt, überlebte Revolutionen und Dynastiewechsel. Selbst die Schreckensregierung ließ es unangetastet. ... Nichts charakteristischer als der Vorwand dieses bürgerlichen Staatsstreichs.«103

Dutschkes Randbemerkung scheint mithin anzudeuten, daß sich der plebejische Zorn des Zweiten Weibes nicht nur gegen die von Marx und Engels erwähnten Gruppierungen richtet, sondern gegen Herrschaftsverhältnisse generell und gegen eine Unterdrückung, die man tendenziell auch von selten derer erwartet, die man selbst an die Macht gebracht hat, die man womöglich gar >magdas Leeregeld verdienen«, ich will nach Griechenland.« da kam der putsch dazwischen. Silvester 1966 erste ladung zum tempelhofer dämm: ich hatte (schwarz, in der firma) auf eigene initiative flugblätter - schiere polemik - gemacht, in denen ich mich mit Wolfgang Neuss solidarisierte. damals waren die herren des morgengrauens noch richtig »nett«, der Staatsanwalt (Thiele!) bedauerte förmlich, nur noch mit uns antiautoritären zu tun zu haben, nicht mehr mit ausgewachsenen »agenten aus der zone«. ja und dann stießen wir alle halt auf Euch. und auf Dich, denn Du spieltest - Bommi hat ganz recht in dem punkt - eine nicht unbedeutende rolle für uns alle. wir: das waren die antiautoritären arbeiter und angestellten, »politische fluchtlinge aus der BRD« oft (es gab und gibt richtige »landsmannschaften«). die katalysatorrolle des SDS war uns klar, wir akzeptierten sie. Ihr — und da speziell Du — »machtet vorschlage«, wir nahmen sie an (so würde Brecht sagen), das ist ein kompliment, und es ist auch so gemeint, daß es bei Euch verschiedene richtungen gab, war jedem, der hören konnte, klar. warum verzichteten wir auf Sprecher? zu d e m Zeitpunkt? wir sagten uns eben, und auch das darfst Du als kompliment nehmen: wenn Rudi das, was wir meinen und denken, in der duften (für viele manchmal unverständlichen - na, wenn schon) art öffentlich sagt, spricht er für uns. das war keine »autoritätsfrage«. wir waren kein »fanclub« (wenn es auch, das dürftest Du wissen, proletarische mädels gab, die sich einnäßten, wenn sie Dich hörten). wir sagten: er spricht für uns. er macht vorschlage, wir nehmen sie an. »wird gemacht, eh.« das gesunde k l a s s e n m i ß t r a u e n gegenüber intellektuellen (eines der wenigen dinge, die beim deutschen arbeiter noch funktionieren - und, Du sahst es wie ich, vom »Spiegel« in typischer und denunziatorischer form gegen IG-druck-häuptlinge ausgespielt wird) ließ uns denken und sagen: wenn der (Rudi) scheiße baut oder sagt oder vorschlage macht, die nichts taugen, oder sich aufspielt oder ne zu große fresse kriegt, hauen wir ihm was aufs maul! so einfach war das, Rudi.

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nun können wir hier lang und breit Überlegungen »zur rolle der Persönlichkeit in der geschiehte« machen. oder wir könnten, wie die CNT-genossen, sagen: »es gibt viele Durrutis (und viele Rudis), wir alle sind D's.« aber es g a b halt nur mal einen und d i e s e form der Politisierung und Identifikation — wenn sie noch quergeprüft wird mit theorie und praxis - war und ist beileibe nicht die schlechteste. der »dutschkismus« - den es gab! - hatte eine vorantreibende und emanzipative rolle, er hatte n i c h t s zu tun mit dem »charisma eines führers«, den dekadente bourgeois bei Dir zu sehen glaubten, (diese form der dekadenz brachte auch den französischen adel dazu, sich an Beaumarchais' figaro zu »erheitern« ...) die wut Ostern '68 war nicht umsonst so immens, w i r waren wirklich alle s e l b s t getroffen, uns war nicht, wie uns unterstellt wurde, ein »führer« oder »Häuptling« weggeschossen worden, die schüsse trafen uns alle. und ich glaube, die erschöpfung (Ungewißheit, die Ziellosigkeit) mancher kampagne n a c h den Schüssen auf Rudi D. - auf uns alle - war die gleiche, die Rudi D. als kranker im bett erlebt haben muß. es wird nicht oft auf einen geschossen. das ist keine metapher gewesen. das gilt in doppelter hinsieht. wegmarken waren der 2. Juni gewesen und der Vietnam-kongreß. und, ausgesprochen oder nicht, wir waren uns der nweaulosigkeit unserer kämpfe bewußt geworden. die schüsse auf Benno, die brutalen drohungen von Neubauer am Vorabend der Vietnam-demo im Februar, die schüsse auf Dich - und die glatte Verabschiedung der notstandsgesetze — das summierte sich alles und hinterließ — gerade nach den Schulungskursen i. s. historischer materialismus und nach unserem kennenlernen von geschiente als abfolge von klassenkämpfen - ein ungemein schales gefühl. Du sagst da: aber die große 1. Mai-demo? Du sagst da: aber die große notstandsdemo in Bonn? das war quantität, köpfezählen. das war keine neue qualität. neue qualität wäre gewesen, den kämpf auf die nächsthöhere stufe zu stellen, was nicht ging, aus den berühmt-berüchtigten »objektiven gründen«. in d i e s e lücke stießen dann die »großen absahner«: DKP/SEW, Jusos, ML-vereine. und in dieser phase löste sich der SDS auf und trat - n e g a t i v in Erscheinung. stell Dir bitte folgendes vor: recht gute, funktionierende Stadtteilgruppen (etwa die Neuköllner, in der Kramer und wir waren) - und in diese gruppen aus arbeitern, lehrlingen, angestellten, lehrern, Sozialarbeitern (letztere beide berufe zumeist genossen aus dem 2. bildungsweg - was, wie Du weißt, psychologisch und sozial eine große rolle spielt) stießen genossen, die leute wie ich »die 2. reihe des SDS« nannten, luschen. großmäuler. theoriefreaks. die aufgrund ihrer Schulung, ihres guten rufs vom SDS her pipapo - den ganzen laden fraktionierten und zerstörten. es war damals wirklich oft so, daß so typen wie ich dann hingingen und sagten: »wenn Du nicht augenblicklich die schnauze hältst und Dich zurückhältst, kriegst Du einen satz roter ohren.« dann betroffenes schweigen allerseits, der typ wendet sich ab, allgemeines gelaber, daß dies doch keine argumente seien, und wir seien doch genossen usw. in einem wort: einflippen auf konfliktregelungsmechanismen von kleinbürgern. 145

dabei bereinigt eine gute proletarische klopperei in der tat luft und laune und Stil... oft. die versauten eine menge guter proletarischer genossen. Kramer etwa, serzer aus Remscheid, der wirklich durch so leute wie Fiesel völlig weich- und dummgekocht wurde (was er erst nun wieder langsam abgelegt haben soll, wie ich hörte), im zuge dieser allgemeinen auflösung waren die libertären halt eine fraktion wie alle anderen - begannen religiös und stur und dogmatisch zu werden wie MLer (der größte klops war die erfindung des »wissenschaftlichen anarchismus« - au weia!). 25. 3., da bin ich wieder, eine stunde hofgang und einzelbad. nun wieder 24 stunden im wohnklo: ich möchte stichwortartig auf einige wichtige punkte, die für Deine fragen von interesse sind, eingehen, ehe ich chronologisch fortfahre und andere themen anschneide: Mosler-buch und Tschombe-demo: Du darfst es P. M. nicht übelnehmen, wenn er einiges falsch wiedergibt, bei der suche nach der verlorenen zeit bist du auf informanten angewiesen, er hatte zum teil falsche oder nicht-repräsentative! so las ich kürzlich band 2 und 3 der dokumentation von Bartsch über »anarchismus in Deutschland« (Fackelträger-verlag. dürfte für Dich von interesse sein), oft mußte ich laut lachen, wußte ich doch, wer Bartsch informierte und warum auf diese weise ein falsches bild entstand. 1. Mai und notstandskampagne 1968: der 1. Mai zeigte, wie viele leute wir aktivieren konnten, er zeigte aber auch schon die Zersetzung und fraktionierung, Zerfahrenheit, Ungewißheit. und die ungleichzeitigkeit von erfahrungen: eines unserer größten probleme. Du warst weiter als die meisten im SDS. der SDS war weiter als die meisten Studenten, die meisten Studenten waren weiter als... die fahrt nach Bonn, zur anti-notstandskundgebung, war eher ernüchternd: die differenzen zwischen den Berlinern und den Westgermanen aus der provinz waren unüberseh- und unüberbrückbar, wir Berliner waren schon ein m y t h o s . nach außen: »die Vandalen kommen« — Bonn wirkte wie ein kaff im ausnahmezustand. BGS als Gary Cooper in »High Noon«, die unterschiedlichen erfahrungen - gerade in der auseinandersetzung mit den apparaten - waren nicht mehr zu vermitteln, die ungemeine Brutalität der Berliner polizei kam in Westdeutschland erst jähre später auf. während der buchmesse im Herbst in Frankfurt war es beispielsweise noch möglich, vor dem Springer-stand in halle 5 ein sit-in zu machen und, als die bullen aufkreuzten, in sprechchören: »eins/zwei/drei, wir lieben die polizei!« zu rufen - und ein oberbulle mit massenhaft litzen sagte dazu noch aufgeräumt: »ei, mer libbe ja auch de befelkerung.« in Berlin unmöglich! revisos: den August und den einmarsch der Russen in die CSSR überschätzt Du (Deine bindung an den Osten ist z. T. libidinös). es war r i c h t i g zu versuchen, mit der FDJ und den SEW-lern im gespräch zu bleiben; ebenso klar war aber uns, daß von einem gewissen punkt an keine Zusammenarbeit mehr möglich war. das stellte sich immer in der praxis heraus: wenn die revisos den »geordneten rückzug« anordneten, sobald wir offensiv wurden (etwa bei aktionen gegen die NPD im Sommer '69). zur SEW gingen viele unserer genossen erst, nachdem sich für alle herausgestellt hatte, daß die MLer, in Berlin halt die Semler-Horlemann-Rotzeg-bande, totale neurotiker und für'n arsch waren, das Berliner APO-lager wurde nicht von den revisos aufgesogen, sondern von den MLern, also klar von den »leninisten« kaputtgemacht. 146

selbst die reinsten anarchos kamen nicht umhin, texte von Lenin zu lesen und zu versuchen, die MLer mit Lenin zu schlagen (frei nach Lenins devise, diesen tatbestand mit der kath. kirche betreffend), was einfach nicht drin war. Organisation: nachher sind wir immer klüger, zwischen dem Herbst 1967 und dem Frühjahr 1968 hätte sich eine antiautoritäre massenorganisation bilden können und müssen, deren ( s t u d e n t i s c h e r ) kern der SDS gewesen wäre, wir haben diese historische chance versäumt, weil wir alle aber spätestens beim Vietnam-kongreß wußten, daß der Übergang vom prolest zum widerstand organisatorische konsequenzen haben müßte - und diese versäumt wurden, stellte sich im Sommer der große frust ein. das OTganisationsbedürfnis war groß, selbst bei den puristischen anarchos. in diese, wenn Du so willst, »marktlücke« stießen -null und PL-PI, die Jusos und die DKP/SEW, später der SB u. a. die PL-PI kastrierte später sich selbst total, indem sie ihre basis, ihren einfluß auf dem campus (in nachfolge des SDS) liquidierte und in die betriebe ging, bei arbeitern erntete sie nur s p o t t (freiwillig in die hölle?). zudem scheiterte sie, wie ich damals sagte, am bindestrich, an ihrem versuch, das im PL bewahrte erbe der Sozialrevolutionären massenbewegung mit dem PI, dem partei-aufbau zu koppeln. Lenin läßt sich halt nicht auf das aufpfropfen, was wir uns mühsam erkämpft hatten, auf autonomie und Spontaneität (die noch nicht, wie bei den spontis, zum -ismus verkommen war), auf gesunden rebellischen geist und dezentralisierte tendenzen. der auseinandersetzung mit den revisos schenkst Du - da in der DDR aufgewachsen und mit ihren problemen vertraut - bei weitem größere beachtung, als ihr tatsächlich damals zukam, vielmehr war der versuch der MLer, vor allem der -null, uns alle l i n k s zu überholen (die kulturrevolution in China übte bekanntlich auf uns alle einen großen reiz aus — weil wir sie nicht durchschauten), von großem reiz für alle, die persönlich und ideologisch nicht sonderlich sattelfest waren, die rechnung schien für viele so einfach: unseren 67er impetus mit der stringenz einer straffen organisation zu verbinden. Sackgasse. aufarbeitung: bei uns bis heute nicht gelungen, ich stimme Dir zu, wenn Du sagst, der positivistischen herrschaftswissenschaft sei es gelungen, unsere bewegung in ihrem sinne aufzuarbeiten — nicht umsonst strömte ein teil zu den Jusos, nicht umsonst wurde die DKP zugelassen, nicht umsonst das Instrumentarium zur bekämpfung des inneren feindes ungeheuerlich vergrößert, aber wie immer können die herren nur den »pragmatischen« teil dieser geschiehte abchecken, koppeln sie das versprechen auf reform mit repression. Bismarck und Stolypin waren noch in der läge, die reformen auch durchzuführen, heute läßt der weitmarkt reform in Willy's sinn nicht mehr zu. die Sprengkraft der versprechen jedoch wirkt weiter - und wird der SPD, da sie jetzt das instrumentarium der präventiven konterrevolution durchgesetzt hat und nicht mehr in der läge ist, die arbeiterklassen friedlich zu pazifizieren, das genick brechen. berufsrevolutionäre: D e i n ungeheurer einsatz damals läßt sich einfach nicht so vermassen. Du darfst anderen nicht vorwerfen, nicht genug getan zu haben, denn Dein einsatz impliziert ja bekanntlich einige gefahren — ist er auf der einen seite das kleine rädchen, das große rädchen antreiben kann, droht er auf der anderen seite, zu jacobinischem Selbstzweck zu gerinnen, so kann sich hinter dem rücken die geschäftigkeit just jener einstellen, die wir bekämpfen, der Jakobiner ä la ML, der bürokraten und (revolutions-)manager. Du weißt jetzt, was Du versäumt hast, wo die anspräche in die irre liefen, wie sich gegen den willen bedürfnisse und anspräche auseinanderentwickelten, die zu gründende antiautoritäre massenorganisation hätte die luft, den atem gehabt, längere phasen des Stillstands, der defensiven gar, »überwintern« zu hel147

fen. Du warst zu schnell gerannt, wir waren zu schnell gerannt, spätestens in Bonn, beim antinotstandstreffen, sahen wir Berliner, wie weit wir dem gros vorausgeeilt waren, da half kein Voluntarismus, da hatte auch kein großartig anfeuernder Rudi etwas bewirken können, die lernprozesse mußten erst einmal vermasst werden — und wurden gleichzeitig von der fraktionierung ventnmöglicht. so kamen wir in die schere: auf der einen seite denen, die nach Ostern 68 den letzten kick gekriegt hatten, die inhalte und formen unserer kämpfe zu vermitteln - auf der anderen seite, uns gegen die z. t. berechtigten vorwürfe der »Organisationen« zu wehren. (wären etwa in jener phase, im Frühjahr und Sommer '68, die taktischen einheiten entstanden, egal wie man heute zu ihrer existenz steht, sie wären später ganz entschieden anders in unsere bewegung eingebunden gewesen, heute wären sie nicht so total - subjektiv wie objektiv - isoliert, die eilfertigkeit jener, die sich da so flinkzüngig und cool »distanzieren«, wäre unmöglich...) nähe und ferne-. Du weißt, wenn du zu dicht an einer sache dranbist, verlierst du den überblick, war schon der SDS nicht in der läge, seine objektive rolle in der revolte einzuschätzen — der Überheblichkeit der einen phase folgte die phase der angeblichen »ernüchterung«, die simpel fälsche bescheidenheit war -, waren gruppen und kollektive Organisatoren und katalysatoren erst recht dazu nicht in der läge, etwa die 883. 883: ich kenne die geschichte dieser zeitung von beginn an. Bommi schildert sie komplett falsch. für Dich wäre es bestimmt sehr interessant, [Dir] in der Amerika-gehenkt-bibliothek oder bei Dirk Schneider oder im FU-archiv die kompletten ausgaben zu besorgen, die ##3 wurde - ohne es selber ausreichend reflektiert zu haben, ja hinter dem eigenen rücken — nach und nach beides zugleich: chronik der laufenden ereignisse und kollektiver Organisator, die einzigen, die das damals kapierten, waren die MLer — in der reihe ihres auftretens und ihrer Putschversuche: KPD/ML (u. a. Schlotterer...), -null, PL-PI (die leute von der Cosima'er waren ständig zumindest als >beobachter< vertreten, u. a. J. Weerth). und der Staatsschutz! war die 883 zunächst nur als stadtblatt und zeitung für flipp und freizeit gedacht, wurde es später tatsächliches Sprachrohr der stattfindenden diskussionen und vermaßte sie im besten sinne des Wortes, las man anfangs immer diese aufforderungen: »schickt Eure termine! macht 883 zu Eurem blatt«etc., waren die ersten redaktionskonferenzen noch langweilig bis komisch - Wodo vögelte im nebenzimmer, andere schluckten tiefsinnig bier, redakteure trafen mit riesigen Verspätungen ein usw., stellten später die gruppen, die bedeutungsvoller wurden, leute ab, im kollektiv mitzumischen und Informationen aus den betriebs-, Stadtteil-, schul- und unigruppen. die zeitung wurde kollektiver Organisator - und merkte es selbst nicht mal. die stammredaktion (die bis Mai 1970 im impressum stand) wurde immer überflüssiger, fast nur noch als technische kader ge- oder mißbraucht (vertrieb, falzen etc.), die tatsächlichen Strömungen der gesamten szene vereinten sich bei konferenzen und später auch bei vertrieb (dem dezentralisierten falzen und verkaufen), in der Adalbertstraße gab es schließlich redaktionskonferenzen, in denen bis zu 60 leute aus 20 gruppen vertreten waren, von der Silbermannschule und v,om Blues, von den Spandauer, Neuköllner, Mark. Viertel, Tempelhofer, Kreuzberger Stadtteilgruppen bis hin zu den diversen betriebsgruppen, kinderläden, elterninitiativen pipapo. Individuen wie Tilman spielten schließlich gar k e i n e rolle mehr, es sei (!), sie waren von bestehenden, arbeitenden gruppen d e l e g i e r t , ich fand die arbeit damals unheimlich interessant (wenn auch, ich gehörte schließlich zu den technischen kadern, 148

ungemein aufreibend und hektisch), wenn Du beispielsweise erlebt hast, wie leute wie Härtung/Gang als gruppendelegierte montagsabends ein paper vortrugen, kollektiv kritisiert wurden und brav zurück in ihre gruppen zurückgingen, redigierten, diskutierten, um am Mittwoch mit einem echt feinen und verständlichen paper zurückzukehren, in die die erfahrung und diskussion sowohl ihrer (Stadtteil- oder betriebs)gruppe als auch der redaktionskonferenz eingeflossen waren, hat das einen ungemeinen spaß gemacht, waren endlich bedürfnis und notwendigkeit auf den begriff gebracht, organisiert. im, schon erwähnten, Mai 1970 war die redaktionskonferenz von 883 - da von gruppen getragen - in der läge, innerhalb kürzester zeit tausende von genossen zu mobilisieren (Kambodscha-demo, militärparaden-störung). innerhalb dieser m a s s e n h a f t i g k e i t des Widerstands spielten die kleinen TW-gruppen ihre, eben eine kleine und keineswegs überragende rolle. Bommi spinnt völlig, wenn er schreibt, der Blues habe die 883 »in der hand gehabt«, sie hatten ihre spalten und artikel, da a u c h sie authentischer ausdruck u n s e r e r bewegung waren, mehr nicht, aber auch nicht weniger, (es gab da so'ne putzige »klandestine« konferenz, u. a. von Tilman einberufen, auf der geklärt werden sollte, ob weiterhin kommandomeldungen abgedruckt werden sollten, da schließlich die bullen uns, die wir's ja nur dokumentierten, aufs haupt stiegen, ohne große diskussion entschieden wir: ja. weil in diesem drecksland die linksradikale presse nun schon die bürgerliche informationspflicht übernehmen muß.) e i n e gruppe der vielen war die der Grunewaldstraße (u. a. Holger und Philipp), sie war schon eine gute gruppe und eine der wenigen, die in der tat arbeit m i t (mit-)mietern, im Stadtteil, Internationalismus und medienarbeit zu vereinen in der läge waren, ohne den psychohorror der K I und K II (wenn auch ein bißchen arg verbalüberheblich - was ihnen zunächst die bullen einbrachte, dann Verhaftungen und illegalisierung). diese putschte per aktion karteiklau, machte die 883 zur zeitung der »komm, rebellen« — und kaputt, wie so oft in der geschichte der revolutionären bewegung exakt auf der höchsten höhe des einflusses, zum Zeitpunkt der größten Schlagkraft, der massenhaftigkeit. (typisch und wie verhext auch, daß zum Zeitpunkt der ##3-prozesse - allein ich hatte, nur als drucker, an die zehn ermittlungsverfahren - alles schon so weit auseinandergelaufen war, daß wir völlig solo auf der anklagebank saßen.) als ich nach dem putsch die 883 weiterhin drucken sollte, weigerte ich mich und erklärte, grundsätzlich feind jedes putschismus zu sein und eine nicht demokratisch zustandegekommene 883 gem unter anderem titel drucken, nicht aber als 8 83 ansehen und herstellen zu können. fraktionierungem innerhalb der 883 also war es noch gelungen, das erbe der 67er, 68er jähre im hegelschen sinne »aufzuheben«, liest Du die 883, siehst Du aber auch die chronik dessen, was außerhalb dieser antiautoritären gruppen vor sich ging: randgruppenkonferenz, hick-hack um den ED, gründung der RPIC, Übernahme der RPK durch die -null, der SOPO durch die SEW, Parteitagsbeschlüsse der K-gruppen, gründungserklärung der RAF usw. usf. der leninismus ging um wie eine seuche, wie die pest. das Rotbuch über die Kgruppen (»wir warn die stärkste...«) gibt nur ein schwaches abbild der psychischen Verheerungen und ideologischen traumtänzereien, der brutalisierung, der kaputtheit wieder. die Rotzeg überfiel die Oberbaumpresse und klaute druckplatten, sich mit eisen149

knüppeln legitimierend (der 2. drucker, den Du meinst, war der Martin Dürschlag); Horlemann und Semler liefen rum wie parodien eines Thälmann, umgaben sich mit Schlägertrupps (Saalschutz); auf der Black-Panther-demonstration ende '69 erscholl der sprechchor: »kommunisten und polizisten / gegen anarchisten« — weil die schwarzen zellen die einzigen gewesen waren, die mit Black Brothers kontakte geknüpft und im Black Information Center (neben dem »International« in der Hauptstraße, Schöneberg) Zusammenarbeit mit den BPP-genossen vereinbart und einen block gebildet hatten, stell Dir das illustriert vor: auf einer demo für die BPP kloppen bullen und -nullen auf s c h w a r z e ein...! Horlemann, inmitten seiner Chikago-leibwächter, auf dem dach des A-null-VWbusses vor dem Amerikahaus, Mai 1970, w ö r t l i c h : »Ihr sollt hier nicht kämpfen! Ihr sollt mir zuhören!« man hörte nicht, man kämpfte, bis zum frühen abend. (diese demonstration und die schlacht wird in meinem nächsten roman geschildert.) von a n a l y s e konntest Du von da an bei Horlemann und co. ü b e r h a u p t nicht mehr sprechen, wenn Du mal zuhörtest (oh, was hatten wir für eine geduld! waren wir nicht einmal zusammen genossen ...?), dachtest du, du bist im irrenhaus. oder in der geschichte von Poe, die im irrenhaus spielt und bei der nie klar ist, wer da arzt, wer patient. fehler war: um die einheit (die längst nicht mehr bestand) aufrechtzuerhalten bürgerliche kabinettspolitik, kungeleien, bescheissereien. fehler war: mit so was überhaupt noch Solidarität zu üben. fehler war: sie nicht von vornherein mit arschtritten auf den misthaufen ihrer geschichtchen zu befördern (da hätten wir von den spanischen antiautoritären lernen sollen, die den Browning zogen, wenn sie Stalinisten sahen). fehler war: sich von denen den ganzen mißverstandenen Lenin aufdrängen zu lassen. fehler war: uns vorschreiben zu lassen, wie wir bedürfnisse und notwendigkeiten auf den begriff bringen sollten. fehler war: sie nicht in die gleiche ecke gestellt zu haben wie die Jesus-people, die Hare-Krischna-leute, sie nicht rechts liegen gelassen zu haben und zu tun, was notwendig war: unsere a r b e i t zu organisieren (statt die köpfe). der rückzug: an der breiten, wenn auch sehr diffusen bewegung heute siehst Du, wieviele leute von damals »übriggeblieben« sind, daß für die proletarischen genossen keineswegs eine »langfristig bedeutungslose episode« in ihrem leben (wie Du fragst) vorliegt, es ist einfach so: wenn eine bewegung und ihre führer ihre attraktivität verloren haben, wenn aufgehört wird, politik in der ersten person plural zu machen, »privatisiert« die arbeiterklasse zeitweilig, zorn, wut, empörung, rebellion und revolte bleiben latent. das beste beispiel ist doch der Pariser Mai: k e i n e r all der marxologen kann uns hinreichend erklären, warum die arbeiterschaft genau zu dem Zeitpunkt zugewichst hat (wenn ich die dicken bücher des Frankfurter reviso-instituts lese, krieg ich die kratze); erklärlich ist es, warum, nachdem die KP bürgerliche politik gemacht und abgewiegelt, den Mai vulgärökonomisch runtergespielt hat, große teile der rebeilen von gestern es vorzogen - herrn de Gaulle zu wählen (bei dem wußte man, was man hatte). nichts war umsonst. die kampiformen der betrieblichen kämpfe im Heißen Herbst 1969 und 1973 und

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all die kleineren auseinandersetzungen in diesem lande sind undenkbar ohne unsere Bewegung! wir hatten viele unserer formen vom US-SDS übernommen; dieser wiederum hatte sie von der IWW, von den Wobblies, von urproleten; wenn diese formen sozialer kämpfe zur arbeiterklasse z u rück-kehren (die seit 1933 vorsätzlich geschichts- und traditionslos gemacht werden sollte), dann ist dies u. a. unser aller verdienst; und guck Dir die gesichter der kollegen bei wilden Streiks an, bei Hoesch oder Ford, bei Küppersbusch und Hella - das sind u. a. unsere mitgenossen von damals, guck Dir die widerstandsformen der manner und frauen z. b. hier im tiefen, reaktionären Westfalen an, die die längste betriebsbesetzung gemacht haben (Seibel & Söhne), hör Dir an, was »brave hausfrauen« inzwischen sagen und tun - das sind aus Wirkungen unserer kämpfe, nichts ist verloren, ich meine, das gegenteil ist der fall, die letzten elf, zwölf jähre haben dies land nachträglicher verändert als es die klassische arbeiterbewegung zwischen 1918 und 1933 tat. die alte arbeiterkultur und -Öffentlichkeit ist tot, ganz und gar. Du findest vielleicht noch relikte in linkssozialdemokratischen arbeitervierteln in Hannover o. ä.; die keimformen n e u e r Produktionsweisen in arbeit und verhalten, von arbeiten und kultur sind aus unserer Bewegung entstanden — alternativtechniken, LIP-streik, musik, frauenbewegung, anti-KKW-bewegung, Infragestellung der Stadt-»Sanierung« (wer hätte zwischen 1945 und 1967 von kämpfen für lebens- und wohnqualität geträumt?) usf. die klassische arbeiterbewegung, deren Wurmfortsatz die revisionistischen parteien sind, haben fast ausschließlich den späten, den ökonomistischen Marx aktualisiert; wir erst haben den frühen Marx wiederbelebt, den kämpf gegen entfremdung aktualisiert. (über konkrete erwartungen, chancen, gewißheiten etc. will ich hier nicht spekulieren.) Du hast, Rudi, gar nicht so viel versäumt, wie Du meinst. wenn Horst Mahler j e t z t erst da angekommen ist, wo die meisten von uns schon 1967 standen (ich rechne ihm seine lernfähigkeit und -Willigkeit hoch an), dann müßtest Du wissen, daß Du der jetzigen bewegung bei weitem weniger fremd bist als Du meinst. ich möchte hier lieber einmal die kritik wiedergeben und kommentieren, die über Rudi D. in der gesamten szene im schwänge ist: es ist völlig klar, welche Verdrängungsprozesse in genossen vorgehen, wenn sie merken, daß Du Dich - gottlob! - wieder »einmischst«; vor den Schüssen warst Du für die, die Dich kannten, genösse und bruder und p r i m u s inter pares, für die, die Dich nicht kannten, ein mythos; als die Schüsse gefallen waren auf Dich, waren wir mehr als betroffen, wir waren ge-troffen, daher die elementare wut und ein kämpf, der vielleicht »objektiv« nicht viel sinn, subjektiv um so mehr hatte - im sinne von Fanons »katharsis«; dann änderte sich die ganze bewegung, und Du (im übertragenen sinne »von den toten auferstanden«) hast Dich auch geändert, die einen, die nach rechts abdrifteten und sich bürokratisierten oder den marxismus zum diskurs einer neuen bürgerlichen herrschaft machten oder zu einer seminarfratze, haben, werden sie Deiner ansichtig, ein schlechtes gewissen, das sich normalerweise in erheblicher aggression (re-gressiv) artikulieren würde, diese aber, da Du schließlich »Opfer« warst, unterdrücken (von den arschkeksen der DKP-obermuftis, mit denen Du Dich viel zu sehr auseinandersetzt, ganz zu schweigen); die neu herangewachsenen, die »Mescaleros« und spontis etc. sehen nicht mehr den »fighter«, der Du mal warst, zudem ist ihnen, da sie auf erste kategorie trafen, marxistische »analyse« und spräche - zu großen teilen sogar zurecht - suspekt. 151

wenn von Dir die rede ist, dann oft achselzuckend als dem, der »ein bißchen viel über asiatische despotie< und DDR und so redet.« und daran, meine ich, ist etwas wahres. so klar es ist, daß wir uns für die »drüben« einsitzenden genossen einsetzen, jeden ansatz von proletarischer initiative unterstützen, so sehr aber auch ist uns die probleniatik, über die Du oft reflektierst, einfach fremd, schau (siehe s. 1-3 [= Die andauernde Ausbürgerung, s. o.], auch ich bin in der DDR aufgewachsen, und ich hatte eine schöne kindheit dort; als ich aber 1964 nach Westberlin kam, war mir die mauer so gut wie »scheißegal«; diese art von »realem Sozialismus« eine sache zum speien; mir war klar, daß auch dort klassenkämpfe ausbrechen und die bürokratie erledigen werden — aber an t e i l nahm und nehme ich eher an dem, wovon wir mehr ahnung haben: am EG-ausland etwa, die sog. »Übergangsgesellschaften« haben inzwischen gewisse formen entwickelt, die mit den herkömmlichen kriterien einer kritik der pol. Ökonomie nicht mehr ganz zu packen sind — und darum bei hies. Sozialisten einen rattenschwanz von Interpretationen hervorgebracht, daß es einen, der an die Feuerbachthesen denkt, schier graust. daß D«, dort entscheidend sozialisiert, ehe Du in der antiautoritären revoke wie wir alle die entscheidende politische nachsozialisation bekamst, größeren anteil am wohl und wehe »unserer brüder und Schwestern im Osten« nimmst als andere, ist zwar nachvollziehbar, aber nicht mehr recht verständlich. es gibt viele genossen und genossinnen - und das sind gute leute - die machen dann so'ne resignative handbewegung und sagen: »na, da hat der Rudi auch so professorale tics und marotten entwickelt...« und schreiben Dich irgendwie ab. das aber, meine ich, hast Du nicht nötig. darum schreib ich's Dir halt so offen. wenn dann noch hinzu kommt, daß im Spiegel der BND eine sehr sehr seltsame »Deutschland-politik« durchsetzt, wenn da »gesamtdeutsches« beschworen wird, das es gottseidank nicht mehr gibt, dann kannst Du zwar Dein theoretisches interesse an analyse und differenzierung zur spräche bringen — zuhören aber tut Dir dann keiner mehr. mir geht es darum, daß Du ein genösse und brüder bist, dazu einer, den verdammt viele lieben; darum möchte ich Dich davor bewahren helfen, ein mythos zu sein oder einer dieser linken Oberlehrer (die sich, verzeih, im SB angesammelt haben und alles »richtig« machen und bis in die puppen analysieren und sich von diesem und jenem »absetzen« und auf dauer so einen typisch deutschen, wenn auch auf seine weise charmanten, professoren-, Sozialarbeiter- und aufbaustufe-II-lehrer-sozialismus verkörpern). Du bist doch nicht »raus« und bist in Aarhus nicht am arsch der weit; und wenn Du einige zeit nicht am kämpf teilnehmen konntest, hast Du — das ist wirklich kein Zynismus! — nicht so viel versäumt, wie Du nun annimmst, j e t z t kündigt sich meiner ansieht nach eine menge gutes an, ein gewisser drive, ein impuls, eine bewegung, die noch völlig grün und unformiert und unausformuliert und ungewiß ist. da sollten wir eingreifen und mitmachen, jeder nach seinen kräften und so gut er es kann (vgl. das vorwort zu »ein deutscher Herbst«, Neue Kritik, Herbst 1977!). amnestic für alle!

P.P. ps. kurzantworten auf kleinere fragen nächste seite.

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Retzlaw-buch: die antwort ist viel simpler: daß das buch so spät und evtl. verkürzt rauskam, hat ganz einfache, nämlich ökonomische gründe gehabt. R. bot Wagenbach, NK, Beverförden (£a Ira Presse) und mir das expose gleichzeitig an. riesig dickes buch, und wer hatte da das geld? ebenso versandete das projekt, »il strage di stato« herauszubringen - eines der wichtigsten bücher, damals, über die versuche der konterrevolution, mit der »Strategie der Spannung« den faschismus in Italien zu etablieren, verlag Samona e Savelli, glaube ich. das kursierte bei frau Gerhardt, beim Kramer, bei Impuls, bei Wagenbach und mir - und schließlich starb die Übersetzung. druckerstreik. 1961, als ich in die lehre gesteckt wurde, schlug meine oma die hände über dem Kopf zusammen: »tschung, du gehst zu die rotens!« — »rot«? — das waren und sind rechte sozis, konservative und behäbige menschen, arbeiteraristokraten mit sinn fürs handwerkliche, die SPD war's, die nach 100 jähren ihre interessen historisch durchsetzte, der e m a n z i p a t i v e prozeß der deklassierung muß - gerade in Teutschland — erst einmal sichtbar gemacht werden, ein »Sozialismus«, der das »menschenrecht« auf die j e t z i g e form entfremdeter arbeit proklamiert, hat zurecht keine chancen beim jungen proletariat; die »qualifizierungs«-Spirale in der DDR kann keine alternative sein. Vertrauensleute bei FIAT, Mirafiori, die in Togliattigrad sahen, wie die russischen ko l legen schuften müssen, sagten aus gutem grund, daß man ihnen mit so'nem Sozialismus vom hals bleiben möge, unsere ständige aufgäbe kann es vielmehr sein, reale alternativen sichtbar und bekannt zu machen - in Teutschland ein mühseliges unterfangen, wird doch hier arbeitslosigkeit immer nur als »laster« angesehen oder als krankheit, die es zu verbergen gilt wie eine venerische. KI: nach a u ß e n hin galt und gilt Fritz eher als »typischer« kommunarde. im übrigen haben pioniere es immer riesig schwer - danach kommen die Siedler und bauen das körn an. K I, K II, Pots-, Wieland- und Linkeck-kommunen zahlten einen riesigen preis dafür, als erste experimentiert zu haben, heute gehen die kommunen und Wohngemeinschaften in die tausende und zehntausende, selbst auf dem flachen land. K I und KII waren für mich und meine (ex-) frau die einzigen, aber überzeugenden gründe, k e i n e kommune zu machen, (später bereute ich's.) über Dieter K. und sein Frankfurter pendant (den's zur DKP verschlug) schreib ich demnächst eine satire. SDS-auflösung: Du irrst, wir fanden die Selbstauflösung keineswegs erwünscht, im gegenteil. (parallelen zum Untergang der 883.) zuhören: waren bei antiautoritären diskussion und kommunikation conditio sine qua non, hörte das bei den MLern völlig auf. die kreuzten mit schlägertrupps auf, ihren Schwachsinn abzulassen, w i r waren so bescheuert, das zuzulassen. romanl'lumpen: als die 883 in der Adalbertstraße war, existierte im »vereinshaus« eine unglaublich komische mischung aus linksradikalen, rockmusikern, kreuzberger ganoven und — cowboys (die auf dem 2. hinterhof ihr Hauptquartier hatten), die kommunikation hättest Du erleben müssen! und die razzien! wieviele schichten es innerhalb des lumpenproletariats gibt - gerade nun, wo das einzige, was noch echte Zuwachsraten hat, die banken und die kriminalität sind -, erlebe ich seit jähren im knast. Karl Heinz machte in Bochum auch recht interessante erfahrungen (etwa die auswirkungen unserer revoke auf die vollzugs»reform«). küsse Gretchen und kind(er?) auch von mir. zorn und aufbruch! P.P.

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Das Ruinieren von Systemen in Büchners Leonce und Lena Von Heinz Wetzel (Toronto)

Je mehr sich die Büchner-Forschung in den letzten Jahren von Gundolfs altem Fehlurteil befreit hat, Leonce und Lena sei eine epigonale romantische Literaturkomödie1, um so intensiver quält sie sich mit der Frage, ob das Lustspiel eine politisch-soziale Satire ist oder ein Stück, in dem exemplarisch die Erlösung eines Menschen aus Resignation, Lethargie und Zynismus vorgeführt wird. Die meisten Interpreten haben sich entschieden, und noch die überzeugendsten Beiträge sind von der Absicht motiviert, das Stück für das eine o d e r das andere Verständnis zu vereinnahmen. Dabei ist der Interpretationsansatz meistens einem weltanschaulichen System verpflichtet, das sich an Büchner bestätigen soll. Weil der widersprüchliche Text dem dauernd Widerstände entgegensetzt, wird der interpretatorische Scharfsinn zu immer größeren Leistungen angeregt, ohne daß er die Hürden, die im Stück selbst liegen, jemals ganz überwinden könnte. So kommt es, daß die meisten Untersuchungen auf eine mögliche Perspektive begrenzt bleiben, aus der sie das Werk dann oft hervorragend, aber in der Einseitigkeit schließlich doch unzulänglich erklären. Dieses Schicksal teilt Leonce und Lena mit den anderen Werken Büchners, aber mit der Satire auf der einen Seite und der Seinsproblematik auf der anderen begünstigt es die Polarisierung der Interpretationen ganz besonders. Das soll an zwei jüngeren Arbeiten verdeutlicht werden, deren jede für den Aspekt, den sie behandelt, sehr hilfreich ist. Erwin Kobel wollte mit seinem Büchner-Buch aus dem Jahre 1974 Büchners Christentum erweisen.2 Deshalb hat er vor allem die Entwicklung Leonces mit subtilen und meist überzeugenden Einzelbeobachtungen erklärt, so problematisch auch sein Fazit, die These von Leonces Erlösung aus der Absurdität seiner Existenz, bleibt. Auf die politisch-soziale Satire geht Kobel aber nicht ein, und die eindrucksvolle Bauernszene aus dem letzten Akt, in der die Sozialkritik gipfelt, erwähnt er in den über sechzig Seiten seiner Leonce-und-Lena-lnterpretauon wahrhaftig kein einziges Mal. Anders Henri Poschmann in einem Artikel im ersten Band des Georg Büchner Jahrbuchs (198l).3 Er stellt eben die Bauernszene bewußt an den 1 Friedrich Gundolf: Romantiker. - In: Martens, S. 93 f. 2 Erwin Kobel: Georg Büchner. - Berlin, New York 1974, S. 211 ff. 3 Henri Poschmann: Büchners Leonce und Lena. Komödie des status quo. — In: GB]b l (1981), S. 112 ff.

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Anfang und in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, weil er sie für den Schlüssel zum richtigen Verstehen des Dramas hält, und erklärt es dann von der marxistischen Geschichtsauffassung her als Adels- und Staatssatire. Auch das ist ein fruchtbarer Ansatz; die Verbindungen zum Hessischen Landboten und zu Briefstellen, in denen Büchner von der unüberbrückbaren Kluft zwischen dem Volk und der »abgelebten modernen Gesellschaft«4 spricht, wiegen schwer, und Poschmann öffnet einem die Augen für die große Bedeutung der Adelssatire in Büchners Lustspiel. Aber den Höhepunkt der Handlung, das Treffen zwischen Leonce und Lena und dessen — wenigstens vorübergehend - verändernde Wirkung auf Leonce, behandelt Poschmann so gut wie gar nicht. Leonce muß als Repräsentant seiner obsoleten Klasse fungieren, und das bringt ihn um jede Chance, als Mensch ernst genommen zu werden. Und so vollbringt Poschmann von der entgegengesetzten Seite her eine fast so große Unterlassungsleistung wie Kobel: Die zentralen Szenen aus dem mittleren Akt, die sich nur in unerlaubter Pauschalisierung der Adelssatire subsumieren lassen, werden, zusammen mit dem Handlungsablauf der Komödie, am Schluß seiner rund fünfzig Seiten auf nur etwa eineinhalb Seiten erörtert. Gerechtfertigt wird dies so: »Die Vermenschlichung des Prinzen durch die Liebe war Poesie, das Produkt eines schönen Traums, der rasch verfliegt.« (159) Man wird aber ohne den Versuch, zwischen Poesie und Pseudo-Poesie zu unterscheiden, kaum Aussicht haben, den Szenen der Begegnung zwischen Leonce und Lena im zweiten Akt gerecht zu werden. Würde man die Arbeiten von Kobel und Poschmann lesen, ohne das Lustspiel zu kennen, man ahnte kaum, daß sie über denselben Text sprechen. Aber das dokumentiert nur, um wieviel die Spannweite von Büchners Drama das Fassungsvermögen seiner Interpreten übersteigt, von denen der eine den anderen zum Glück gerade da ergänzt, wo der Text dessen weltanschaulichen Prämissen entgegensteht und ihn zum Verschweigen oder zur Gewaltsamkeit herausfordert. Die Frage, wie die politisch-soziale Satire mit der individuellen Problematik Leonces im Stück verbunden ist, wird aber bei solchem Nebeneinander ausgespart. Die Antwort ist gar nicht so schwer zu finden; man braucht statt von der ideologischen Selbstbeschränkung nur vom Handlüngszusammenhang des Lustspiels auszugehen. Dann erkennt man als Hauptthema die Menschenfeindlichkeit weltanschaulicher und politischer Systembildungen. Ihnen und nicht allein dem Feudalaristokratismus gilt die Satire, und sowohl die melancholische Resignation Leonces als auch sein Versuch, sich dem rigiden System zu entziehen, resultieren direkt aus den Zuständen, welche die Satire beschreibt. Die beiden scheinbar disparaten Elemente des Lustspiels

4 Alle Büchner-Zitate nach Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Werner R. Lehmann, Bd. l (3. Aufl., München 1979) und 2 (München 1972). Belegstellen sind im Text mit römischen Band- und arabischen Seitenzahlen gekennzeichnet. Hier: 11,455.

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stehen in Wirklichkeit in einem engen kausalen Zusammenhang. Um das zu erkennen, greift man am besten auch auf biographische Zeugnisse zurück. Am 2. September 1836 schrieb Büchner aus Straßburg: »Ich [...] werde in Kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenschaft als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft meinen Mitmenschen Vorlesungen über etwas ebenfalls höchst Ueberflüssiges, nämlich die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza, zu halten. — Dabei bin ich gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier todtschlagen oder verheirathen zu lassen [...]« (11,460). Mit dem »Todtschlagen« dürfte er auf den Woyzeck anspielen und mit dem »Verheirathen« auf Leonce und Lena, wo die zitierte Briefstelle mindestens zweimal ein Echo hat: Gegen Ende des ersten Akts erwägen Leonce und Valerie verschiedene Möglichkeiten, etwas zu »treiben«, um Leonces Langeweile und Lebensüberdruß zu überspielen. Aber Leonce will nicht König werden, auch nicht Gelehrter, Held oder Genie, so daß Valerio schließlich mit der Idee kommt: »So wollen wir nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft werden.« Aber diese grundsätzliche Integration in das bestehende soziale Gefüge weist Leonce noch entschiedener zurück: »Lieber möchte ich meine Demission als Mensch geben.« (1,116) Seiner kategorischen Ablehnung, sich zum funktionierenden Teil einer etablierten Ordnung zu machen, steht der Wille seines Vaters, König Peter, gegenüber, der außerhalb eines rigorosen sozialen, politischen und philosophischen Systems nicht existieren kann. Gleich bei seinem ersten Auftritt wird er so vorgestellt; dabei ist sein Hinweis auf sein »System« das andere Echo der zitierten Briefstelle: »Der Mensch muß denken und ich muß für meine Unterthanen denken, denn sie denken nicht, sie denken nicht. - Die Substanz ist das >an sichUnd ich hatte noch im Scherz gemeint, wenn er sich umbringen wolle, soll er einen ökonomischen Tod haben. Wenn ich das geahnt hätte!< Und für seine >ahnungslosen< Worte kann er sich auf das Zeugnis des Angeklagten selbst berufen, der das nicht leugnen, vielmehr, aller Voraussicht nach, diese Aussage durch ein apathisches Kopfnicken oder sein gewohntes »Jawohl« bestätigen wird. » J u d e . Zwe Grosche. W o y z e c k . Da! (Geht ab.) J u d e . Da! Als ob's nichts war. Und s'ist doch Geld. Der Hund.« 168

In Erregung kommt der Mann erst, als der ärmliche und aufgeregte Kunde die zwei Groschen von dem wenigen, was er in der Tasche haben mag, auf den Ladentisch hinwirft, als war's nichts. Es ist aber ein Metall von transzendenten Eigenschaften, von dem man viel zu wenig sagen würde, sagte man, es stinke nicht. Charakteristisch sind Kälte und Hohn des Verkäufers, Geringschätzung blinkt aus jedem seiner Worte hervor; und ebenso charakteristisch ist das grobe und aggressive - Not, Unsicherheit und Verzweiflung kaschierende - Benehmen des Käufers. Und doch kommt es zu einem Einverständnis hinter den höhnischen und den widerspenstigen Worten, ohne daß man für diese Harmonie eine »prästabilierte« bemühen müßte. Die Szene ist ein Miniaturbild der Kälte und Gleichgültigkeit des Äquivalententausches, der gefühllosen baren Zahlung. In diesem Rahmen bewegt sich die Bedeutung des Ausdrucks »ökonomischer Tod« in H4,15 — »ökonomisch« ist schon etwas mehr als ein Synonym für »billig«. Ich verbinde indessen diesen Ausdruck im Titel mit einem noch weitergehenden, umfassenden Sinn, der den Rahmen dieser Szene überschreitet und von dem ich glaube, daß ihn die Tragödie als ganzes aufdecke, nämlich den Tod d u r c h »Ökonomie«, durch eine Ökonomie der Ausbeutung, der gnadenlosen Verwertung der Ware Arbeitskraft, der Degradierung des Menschen zu einem Mittel. Diese Ökonomie, in deren Logik auch ein Menschenversuch liegt, ist nach meiner Überzeugung das tragische Fundament des Woyzeck. Den Ausdruck »Fundament« gebrauche ich, weil Not und Arbeitsüberlastung allem ändern vorausgehen, weil sie die Substanz (»das Tragende«), allesdurchdringend und unausgesetzt gegenwärtig sind und nicht nur transitorische Momente in der und der Szene. Den Ausdruck »Fundament« gebrauche ich aber auch deshalb, weil damit nicht die Erwartung verknüpft sein kann, das liege offen am Tag; Fundamente sind ihrem Begriff nach unterirdisch. Und was heißt »Mord durch Arbeit« ? Der Satz vom Strick, aus dem die Gefesselten sich losschneiden müssen, steht der Position nahe, die Büchner in zwei grundsätzlichen, seinen politischen Standort bestimmenden Briefen an Gutzkow 1835 und 1836 umrissen hat: »das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt«, und: »wären Sie je direkter politisch zu Werk gegangen, so wären Sie bald auf den Punkt gekommen, wo die Reform von selbst aufgehört hätte. Sie werden nie über den Riß zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft hinauskommen« (11,441,455).

Am Strick: im Geschirr, und im Geschirr wie am Galgen (»zappeln«), ein Mischbild. Sechzig Jahre: bis das Leben verbraucht ist im Dienste anderer, um sein Leben betrogen, um sein Leben gebracht werden = ein Mord. So ist es, doch so muß es nicht ewig bleiben. Büchners Ungewisse Hoffnung: nicht Reformen — Lockerung der Schlinge, Erleichterung der Zuglast —, sondern »sich losschneiden«, gewaltsam; die Befreiung werde nicht bewirkt durch die 169

Überredung einer sanften, angeblich Herren und Knechten gemeinsamen »Vernunft«1. Weim die Gefesselten mit dem Messer die Schlinge um ihren Hals durchschneiden, werden ihre Bewacher nicht tatenlos zusehen, wie die Sklaven sich davonmachen - was immer auch Seneca über den verbindenden Charakter von Fesseln sagen mag.2 Es wird zu einem Kampf auf Leben und Tod kommen (»Riß«, »Revolution«). Im Woyzeck sehen wir den »ökonomischen Tod«, das gewöhnliche Schicksal, das unspektakuläre Verschlissen- und Erwürgtwerden durch lebenslange entfremdete Arbeit; inDantons Tod den — niedergeschlagenen Versuch der Geknechteten, sich »loszuschneiden«. I

Büchners Woyzeck liegt, wie dem Hessischen Landboten, ein System zugrunde: das System der Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung. Ausbeutung ist der Zweck, Unterdrückung das Mittel, Entfremdung die Folge. 1. A u s b e u t u n g : Woyzecks Arbeitskraft, seine Lebenskraft wird ausgepumpt. Die Existenz dieses Soldaten und Gelegenheitsarbeiters gleicht der eines Zugtiers. Seine Herren haben ihn restlos für ihre Zwecke nutzbar gemacht. In dem Menschenversuch, der an ihm durchgeführt wird, erblicken wir ein Extrem: Woyzeck wird zusätzlich als Versuchstier verwendet. Es ist seine A r m u t , was ihn rettungslos ausliefert; und es ist die bis zum Extrem gesteigerte entfremdete A r b e i t , was ihn erdrückt. Das ist der Grund und das Fundament seiner Tragödie. 2. U n t e r d r ü c k u n g : das Aggregat der Mittel, die für den Systemzweck Ausbeutung eingesetzt werden, die Herrschaft auf allen Ebenen, vom Militärregiment bis zu den subtilen Techniken der Indoktrination, der Lenkung und Desorientierung des Bewußtseins durch die Normen der herrschenden Moral usf.3 Die Knechtung und Demütigung des armen Woyzeck stehen theatralisch im Vordergrund, und daher der Schein, sie seien das Letzte, ein Selbstzweck, als quälten ihn der Hauptmann und der Doktor für nichts und wieder nichts. Aber wie die Folter in der Regel ihren Zweck hat und nicht dafür eingerichtet wird, den Sadismus der Folterknechte zu befriedigen - der nebenher auf seine Kosten kommt —, so haben die Knechtung und die Demütigungen, die an Woyzeck verübt werden, einen Zweck, nämlich den, das Arbeite- und Versuchstier niederzuhalten, ungefähr im Sinne des Ausrufs in der Dreigroschenoper »Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?« Die Unterdrückung hat den Zweck, Widerstand 1 S. u. S. 180. 2 S. u. S. 172 f. 3 Vgl. meinen Aufsatz »Herrschende Ideen«: Die Rolle der Ideologie, Indoktrination und Desorientierung in Georg Büchners Woyzeck. - In: GBJb S (1985).

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nicht aufkommen zu lassen, sicherzustellen, daß die Ausbeutung reibungslos vonstatten geht, genau so, wie es Büchner in einem Kernsatz des Hessischen Landboten ausgesprochen hat: »Diese Gerechtigkeit [die Justiz und analog alle anderen Herrschaftsinstrumente und Herrschaftsnormen] ist nur ein Mittel, euch in Ordnung zu halten, damit man euch bequemer schinde« (11,38), und »In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden« (11,36). Die Organisation dieser Herrschaft ist der S t a a t : die Regierung, ihr Verwaltungsapparat, die Institutionen Militär, Polizei, Justiz, der Strafvollzug, psychiatrische Anstalten und nicht zuletzt die »herrschenden Ideen«, wie die herrschende Vorstellung von »Gesetz und Ordnung«, die herrschende Religion, die offizielle Wissenschaft, die Schulen. Die Anatomie des Staates im Hessischen Landboten ist in ihrer Gegenständlichkeit und Schärfe (und in ihrer Faßlichkeit für die Adressaten) in der Vormärz-Literatur unüberboten. Büchner kritisiert diesen Staat als ein System der Ausbeutung und Knechtung. Er setzt den Bauern, Knechten und Taglöhnern auseinander, aus welchen Posten sich das Staatsbudget zusammensetzt: Für das Ministerium des Innern und der Justiz 1.110.607 Gulden, für das Ministerium der Finanzen 1.551.502 Gulden, für das Militär 914.820 Gulden usf. Und er stellt zwei Fragen: 1. Woher kommt das Geld, das der Staatsmacht zur Verfügung steht? Antwort: Es wird mittels Steuern und Abgaben aus den arbeitenden und hungernden Massen herausgepreßt. Und 2. Wofür wird dieses Geld aufgewendet? Antwort: zur Niederhaltung dieser menschlichen Zugtiere mittels der Greif arme der Staatsmaschine, Militär, Justiz usf. Es ist ein Zirkel: Ausbeutung, Hunger, Arbeitsüberlastung, Repression, Desorientierung, Ausbeutung, Hunger ... Der Hessische Landbote hat Systemcharakter. Die Voraussetzung war, daß Büchner bis zum Fundament der Klassengesellschaft vorgedrungen ist, zur Ausbeutung; sie ist der »erste Beweger«. Seine Analyse ist gleichzeitig die Kritik der herrschenden Staatsmythen, die ihrerseits wieder ein ideologisch-propagandistisches Instrument der Knechtung sind. Solche Mythen sind das »von Gottes Gnaden« und »alle Obrigkeit ist von Gott« (Paulus: Römer 13), oder, ein modernisierter Mythos, »der Staat sind wir alle« — irgendwie herrschen also auch die Beherrschten! —, ferner »der Staat ist der unparteiische Schiedsrichter über den Klassen« und, besonders kühn, was Hegel in seiner Staatsphilosophie dekretiert, »der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee«. Wie kommt nun Herrschaft im Woyzeck zum Vorschein? Hauptsächlich auf vier Ebenen: 1. Ideologie, die »herrschenden Ideen«, die lebenslang auf Woyzecks Bewußtsein einwirken, niedergehen, dürfte man sagen. 2. Das Militärregiment, dem er seit vielen Jahren unterworfen ist. 3. Die Wissenschaft, eine Wissenschaft im Dienst des Systems; für sie ist Woyzeck ein Versuchstier, ein Objekt, eine res extensa. Und 4. die Justiz, in deren Hände er als >Mörder< fallen wird, die Strafverfolgung (in Hl,21 wird gezeigt, wie die Ermittlungen anlaufen: Richter und Gerichtsdiener, Arzt und Barbier an der Leiche Maries) und die Hinrichtung, die ihm bevorsteht. Diese Herrschaft 171

gleicht einem konzentrischen Angriff oder einem Getriebe, dessen Zahnräder lückenlos ineinandergreifen. Von einem Räderwerk der Herrschaft spreche ich annähernd in dem Sinn, wie in Dantons Tod von einem »Mühlwerk« die Rede ist. Danton sagt HI/7, »es ist mir, als wäre ich in ein Mühlwerk gefallen und die Glieder würden mir langsam systematisch von der kalten physischen Gewalt abgedreht. So mechanisch getötet zu werden!« Daß hier die Ausdrücke »systematisch« und »mechanisch« fallen, ist für den Zusammenhang, der uns vor Augen steht, sehr aufschlußreich. In Dantons Tod ist aber dieses Räderwerk noch ein Element der philosophisch-resignativen Rhetorik, eine fatalistische Metapher; im Woyzeck ist es mehr, steht es auf ungleich höherer Stufe der Konkretion: Es ist die dramatische Wirklichkeit. Szene um Szene führt uns plastisch vor, wie Woyzeck die Glieder »abgedreht« werden, wie er psychisch verstümmelt wird. 3. E n t f r e m d u n g : die Folge der Ausbeutung und Unterdrückung für die Objekte und Opfer des Systems, die physischen und psychischen Einwirkungen jenes Räderwerks auf das Subjekt Woyzeck, das zermalmt wird. In der wissenschaftlichen Literatur über den Woyzeck spielt »Entfremdung« eine gewisse Rolle — als eine Abstraktion, als geheimnisvoll schillernder philosophischer Terminus.4 Die Ursache einer solchen abstrakten Entfremdung ist dann nicht Woyzecks reale Existenz — Mittellosigkeit, Arbeitsüberlastung, Militärdisziplin, Indoktrination -, sondern diese Entfremdung ist (wie die in Hegels Phänomenologie des Geistes und in ihrem theologischen Ursprung, der »Erbsünde«) irgendwie »gesetzt« mit der menschlichen Existenz »überhaupt«. Damit hat es eine eigene Bewandtnis, auf die ich kurz eingehen möchte. Entfremdung ist eben nicht gleich Entfremdung, wie durch die Abstraktion unterstellt wird. Für die Herren hat sie (nach einem Ausdruck von Marx) den Charakter der »Selbstbestätigung«, sagen wir ruhig des Lustgewinns; für die Knechte hingegen hat sie den Charakter des Selbstverlusts, des Unglücks. Dennoch gibt es unter dem Riß zwischen den Klassen (von dem Büchner in einem Brief an Gutzkow 1836 gesagt hat, er könne nicht überbrückt oder geschlossen werden, II, 455, 441) etwas wie einen gemeinsamen Nenner. Die Vorstellung wäre naiv, Herrschaft sei lauter Genuß und Selbstverwirklichung. Schon der alte Seneca hat geschrieben, eine Kette (ver)binde den Sklaven und seinen Bewacher (eadem catena et custodiam et militem copulat).5 Was besagt das? Von der Unterdrückung werden auch die in Mitleiden-

4 Schillernd zwischen Hegels Phänomenologie des Geistes (eine Hauptstelle VI B; JA II, S. 372 ff.) und den Frühschriften von Marx, spez. den Pariser Manuskripten. 5 Epistulae morales 5,7. - Richtiger hieße es: »Es ist n i c h t dieselbe Kette, die den Gefangenen und seinen Bewacher verbindet.« Im Vorbeigehen: Mir fällt auf, wie das nicht die einzige Sentenz Senecas ist, die an Sinn gewinnt, wenn man sie auf den Kopf stellt. Über der Eingangspforte so mancher Gymnasien steht »non scholae, sed vitae discimus«; bei Seneca (epist. 106) steht, was Lehrer in guter Absicht verschweigen, das genaue Gegenteil. In seiner

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schaft gezogen und verstimmt, die sie ausüben (wie man auch an der Langweile des Hauptmanns und dem Zynismus des Doktors im Woyzeck ersehen kann). Doch von dieser gefühlvollen Reflexion ist es nur ein Schritt, Herr und Knecht über den Riß zwischen den Klassen hinweg einander näherzubringen, ja sie mittels einer eleganten Verschleierung einander gleichzusetzen, wie es W. Kayser, H. Wetzel und gelegentlich auch H. Mayer und B. Ullman getan haben. Nach W. Kayser besteht zwischen Woyzeck und seinen Herren eine unselige Identität, sie werden gleicherweise getrieben von einem »sinnlosen Es«. Die »Hast des Gehetzten« wirke wie das »schreckhafte Phlegma« des Hauptmanns und der »kurzbeinige Übereifer« des Doktors grotesk, es sei offensichtlich, daß »alle [...] drei [...] sich in dem exzentrischen Bewegungsstil der Commedia dell'arte bewegen«6. Antrittsrede Homer und die klassische Philologie (1869) sagt Nietzsche, er wolle sein Glaubensbekenntnis aussprechen, »indem ich einen Satz des Seneca also u m k e h r e : »philosophia facta est quae philologia fuit< [bei Seneca: philologia facta est...]. Damit soll ausgesprochen sein, daß alle und jede philologische Tätigkeit umschlossen und eingehegt sein soll von einer philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und Vereinzelte als Verwerfliches verdampft [verdecktes Goethe-Hamann-Zitat] und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt.« - Wenn das öfter vorkommt, daß die Sätze eines Philosophen durch Umkehrung gewinnen, ist das kaum ein günstiger Befund. 6 W. Kayser: Das Groteske. - Oldenburg u. Hamburg 1957, S. 100. - Für Kayser existiert kein sozialer Grund dieser Tragödie. Büchners dezidierte Aussagen über »Realismus« als »Grundlage für die Deutung von Büchners Werken« heranzuziehen, scheint Kayser »verfehlt« (S. 95 ff.); er schiebt diese grundlegenden Aussagen beiseite, indem er »Realismus« mit »exakter Naturwiedergabe« (Naturalismus) gleichsetzt und als Gegenbeleg, als »deutlichen Vorbehalt« Büchners, einen Satz aus dem Brief vom 1.1.1836 anführt: »Ich zeichne meine Gestalten, wie ich sie der Natur und der Geschichte angemessen halte.« Dieser Satz aber, in Einklang mit so vielen andren seiner Briefe (wie »der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich kommen«, 28.7.1835, oder »der Geschichte treu bleiben und die Männer der Revolution geben [...] wie sie waren«, 5. 5.1835), ist nicht mehr und nicht weniger als eine anspruchslose, faßliche Formulierung einer realistischen Ästhetik, wie er sie, mit weiterem theoretischen Umblick, im »Kunstgespräch« des Lenz entfaltet hat. Der Brief, aus dem Kayser zitiert, schließt mit einer realistischen Szene, der in Büchners Briefen nichts gleichkommt: den Kindern auf dem Straßburger Christkindlmarkt (s. S. 188). Kaysers Tendenz ist klar: Die soziale Tragödie wird enthoben zu einem »sprachlichen Kunstwerk«; sorgfältig abgedichtet gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit schwebt es dahin wie eine fensterlose Monade durch die Leere der Intermundien. Dagegen folge ich der Grundannahme, auch das Kunstwerk könne den von sozialer Gravitation durchwirkten Raum nicht verlassen. Kein Kunstwerk, wie »abgehoben« es sich immer geben mag, verläßt diesen Raum auch nur für eine Sekunde. An einem Gedicht wie Komm in den totgesagten park und schau mag das schwer zu erkennen sein, an der Tragödie eines Paupers ist es leichter zu erfassen. An dem sprachlichen Kunstwerk Woyzeck sind für Kayser ausschließlich die Stilschichten interessant, vor allem natürlich, im Rahmen seines Themas, der groteske Stil. Auch ein Rest Metaphysik (gegen die Kayser sich sonst eher distanziert, gelegentlich ironisch verhält) hat sich in Verbindung mit dem Grotesken erhalten: die Figuren würden »von einem fremden Es getrieben« (S. 99). Die Fäden der »Marionetten« hat im Woyzeck kein »Es« in der Hand (wie im »Fatalismusbrief«, dessen Stilisierungen Kayser treffend kritisch und nüchtern würdigt); wer die Fäden in der Hand hat, dächte ich, sähe man? An die Stelle von Ausbeutung, Unterdrückung tritt zuletzt selbst bei Kayser eine >existentialistische< Metaphysik des Absur-

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H. Mayer spricht (1946, 1960 korrigierend gestrichen) von einer »geheimen Zuordnung der Dienenden und der Herren«, die Alban Berg in seiner Musik zum Ausdruck bringe, wo »die Peiniger und der Gepeinigte im fugierten Trab nebeneinander her laufen«.7 Und B. Ullman, der die »sozialkritische Thematik« im Woyzeck untersucht, behauptet eine »grausige Identität jener Gesellschaft [...], von der Woyzeck, aber nicht weniger seine Herren geformt worden sind.«8 H. Wetzel: »[...] in seiner fortwährenden Geschäftigkeit wird Woyzeck dem Doktor ähnlich. An beiden beklagt der Hauptmann, daß sie durch die Straßen hetzen.« Beide würden sich »dem hektischen Streben nach sozialer Integration und Anerkennung überlassen« und sich »die Einsicht in ihre Nichtigkeit und in die ihres Strebens« verdecken. »Auch dem Hauptmann wird Woyzeck ähnlich.« Beide würden nicht erkennen, »daß diese Geschäftigkeit sinnlos ist«, und verdrängten damit Resignation und Angst, im Sinne Pascals.9 Einspruch! Diese »Identität« ist bloß formal, erkünstelt auf der Ebene von Begriffen, aus denen jede soziale Realität entleert ist. Auf solche Weise ließen sich >Identitäten< in beliebiger Menge herstellen. Wie kann man etwa das Gehetztwerden des gedrückten, überlasteten Woyzeck als »Geschäftigkeit« bezeichnen? »Geschäftigkeit« heißt Betriebsamkeit, aus eigenem Antrieb; und wie kann man diese >Geschäftigkeit< dann mit der (zu Recht so genannten) pressanten Geschäftigkeit des Doktors gleichsetzen, der durch die Panik

den, an die Stelle der Arbeitshetze tritt der exzentrische Bewegungsstil der commedia dell'arte, und der gejagte Woyzeck wirkt »lächerlich«! (S. 100) - Eine ästhetizistische Deutung ist diesem revolutionären Dichter besonders unangemessen. Für den Kritiker der »Idealdichter« wäre sie vermutlich eine weitere Erscheinungsform des »Aristokratismus«. Kritik des Ästhetizismus bei Büchner: Camille über das Theater Dantons Tod U/3 (»die erbärmliche Wirklichkeit!«, »sagen zu Gottes Geschöpfen: wie gewöhnlich«), darauf, scheint es, spielt der Ausrufer im Woyzeck (Hl,l) an: »die Kreatur, wie sie Gott gemacht hat, nix, gar nix. Sehen Sie jetzt die Kunst«; vgl. auch eine Äußerung wie die über »das ästhetische Geschlapp« (Brief an Stoeber, 9.12.1833). Wenn ich oben feststellte, Büchners Definitionen von »Realismus« seien anspruchslos, so meine ich das nicht in einem negativen Sinn. Oberhaupt ist auffällig, in wie einfachen Worten sich große realistische Dichter (die es schließlich wissen müssen) über den »Realismus« geäußert haben — während so viele Theoretiker der Ästhetik ihn wie einen Begriff zu behandeln scheinen, über den sich endlos hin- und herreden lasse und dessen Definitionen sie mit so vielen Kautelen ausstatten, daß der Leser, schon etwas schwindlig durch uferlose >Problematisierungens nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht und ob er noch etwas in der Hand behält. Manche Definition erweckt den Eindruck, es komme nicht darauf an, eine Sache ins Klare zu bringen, sondern darauf, sich nicht erwischen zu lassen. 7 Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. - Wiesbaden 1946, S. 395 f.; die Korrektur im Vorwort zur 2. Aufl., S. 5. 8 Bö Ullman: Die sozialkritische Thematik im Werk Georg Büchners und ihre Entfaltung im Woyzeck. - Stockholm 1972, S. 93. 9 Heinz Wetzel: Die Entwicklung Woyzecks in Büchners Entwürfen. - In: Euphorion 74 (1980), S. 384 f. 174

seines Opfers in >wissenschaftliche< Begeisterung versetzt wird? In j e d e m Wort, in j e d e r Regung ist die Differenz, der G e g e n s a t z , vorausgesetzt und aufs klarste zum Ausdruck gebracht. Und Büchner trägt diesen Gegensatz überdies noch per Regieanweisung in die Szene ein, auf die sich diese >Identitätsphilosophie< bezieht: Am Ende von H2,7 »geht« Woyzeck — schwer getroffen - wankend, »mit breiten Schritten ab, erst langsam dann immer schneller«, und der andere »schießt ihm nach« und ruft »Phänomen, Woyzeck, Zulage«, begierig darauf, den schwer Verstörten (der so »schöne« Symptome produziert) noch weiter zu observieren, nicht gleich aus dem Auge zu verlieren. Sehen so Identitäten aus? Verflüchtigt hat sich die Bestimmung^ auf die hier alles ankommt, »Herr« und »Knecht«, wie schon in Senecas Epistel im Wort »angekettet« (Sträfling und Bewacher seien gleichermaßen angekettet). Verschleiert ist der Unterschied, wie sie angekettet sind: Der Sklave ist an die Kette geschmiedet, die sein Bewacher willentlich und mit eiserner Faust umklammert hält! Der Stoiker Seneca, Besitzer riesiger Ländereien, der einige hundert Sklaven gehalten hat, >übersieht< diesen kleinen Unterschied. Wir dürfen nicht in eine solche >philosophische< Zerstreuung verfallen. Auch muß es uns gelingen, die Differenz im »fugierten Trab« herauszuholen. Es ist der Unterschied zwischen dem Ungestüm des Verfolgers und der Panik des Verfolgten, zwischen dem Jäger und dem Gejagten. Und diese soziale Jagdszene beschreibt man nicht richtig, wenn man sagt, beide hetzen sich ab ... Soviel zur Kritik einer abstrakten Entfremdung. Was ist sie im Woyzeck konkret? Das, was das System der Ausbeutung für deri Füsilier und Seinesgleichen bereithält: Elend, Hunger, Arbeitshetze, Bewußtseinslenkung und •Verödung, jene Erscheinungen, die im Fall Woyzeck in eine Psychose münden (grelle Symptome schon in der ersten Szene, H4,l), und endlich das, was aus dieser Psychose erwächst, der Mord und die Folge10 des Mordes, die Hinrichtung. Die Tragödie führt vor, wie Woyzeck ruiniert, wie seine Seele gleichsam geschleift und dem Erdboden gleichgemacht und wie er in das Extrem der Selbstentfremdung, in die Psychose hineingetrieben wird. Der Eifersuchtsparoxysmus (H2,7; H4,ll) ist in diesem langandauernden und auf weite Strecken unterirdischen Prozeß nur der Auslöser der destruktiven Endphase der Psychose, nicht die wichtigste und schon gar nicht die einzige Ursache der Katastrophe. Der Woyzeck ist keine Eifersuchtstragödie, keine >Beziehungskiste< mit dem Schluß >ein Mann sieht rotSträfling< den Rest. 10 Eine notwendige Folge - »notwendig« im Rahmen und in der Logik dieses Systems. 175

Ich muß mich mit diesen Andeutungen begnügen. Den Prozeß der Psychotisierung und die Phasen der Psychose vor und nach dem Bruch der Bewußtseinskontrolle - dem >Durchdrehen< in H4,12 — kann ich hier nicht schildern. II

Nach der Skizze des Gesamtzusammenhangs dieser Tragödie, dem System der Ausbeutung und Unterdrückung und der Einwirkung dieses Systems auf eines seiner Objekte, jetzt zu meinem speziellen Thema, dem Fundament dieses Systems, der tragischen Prämisse, ohne die Woyzecks Katastrophe sich nicht hätte ereignen können: seiner Armut und dem daraus erwachsenden Zwang, sich — seine Arbeitskraft und zuletzt noch seinen Körper — verkaufen zu müssen. Das — seine Klassenlage, und nicht eine metaphysische Fatalität, ein »Muß«, das mit der Existenz »des« Menschen gesetzt sei - ist die reale »tragische Notwendigkeit«. Bevor ich »Armut« bei Büchner näher ins Auge fasse, skizziere ich eine ideengeschichtliche Übersicht des Problems11, um den historischen Ort dieses Themas im Woyzeck zu bestimmen. Das Wort »arm« bedeutet mittellos, seinen Lebensunterhalt nicht aus eige-

11 Rilke sagt, »Armut ist ein großer Glanz von Innen«. Für die Armen? Das scheint mir eine sehr spiritualistisch-feierliche oder sehr vermögende Ansicht. Man muß sie auf den Anblick von Hunger, Existenzangst, Bewußtseinselend aufprallen lassen. Die Spekulationen über die Herkunft der Armut sind nicht immer um vieles gescheiter als die Ansicht der Sache, die Christian Reuters Unkel Bräsig zum besten gibt: »die Armut kommt von der Powerteh« (pauvrete). »Arm«: ein statischer Begriff, »Schicksal«; »ausgebeutet«: ein dynamischer Begriff: der Klassengegensatz zwischen den Besitzern gesellschaftlicher Produktionsmittel (auf der historischen Ebene des Hessischen Landboten und des Woyzeck vor allem des Bodens, etwa zur Hälfte im Besitz des Fürsten - Domänen - und der Standesherren) und den Besitzlosen, vor allem den Taglöhnern und Dienstboten, und den armen Bauern, die sich nur knapp durchbringen konnten, und die der Staat über Steuern und Abgaben auspreßte. Wenn Buchner selbst noch von »Armut« spricht, so kann man auch daran den historischen Index ablesen. VgL Anm. 35. Der Gegensatz »die Armen« — »die Reichen« im Hessischen Landboten ist in der historischen Perspektive, im Blick auf »Lohnarbeit« und »Kapital«, ein noch unentwikkelter Gegensatz: so wie die deutsche Gesellschaft 1834 (wovon jene Entgegensetzung ein Reflex und eine Verallgemeinerung ist) zurückgeblieben ist gegen die weit vorangeschrittenen Gesellschaftsformationen Westeuropas, dem entwickelten Kapitalverhältnis in England, Frankreich, den Niederlanden. Und ferner ist Büchners Fassung des Klassenantagonismus auch abhängig von den Adressaten des Hessischen Landboten, der sich nicht an das Industrieproletariat, sondern an arme Bauern, Knechte und Taglohner wendet; insofern könnten Büchners Grundbegriffe »arm« - »reich« (von Weidig in »arm« - »vornehm« verfälscht, um ein Bündnis mit dem liberalen Bürgertum nicht zu gefährden) auch ein Moment taktischpropagandistischer Anpassung und Ermäßigung enthalten und einen Schritt oder doch eine Handbreit rückverschoben sein. 176

nen Mitteln bestreiten können, nicht nur Mangel, sondern Not, Elend, sich lebenslänglich abschinden müssen (im Dienste anderer), hungern, frieren, in Lumpen gehen, ohne Bleibe sein oder in Löchern hausen, sich von Tag zu Tag durchschlagen müssen, herumgestoßen und drangsaliert werden, unter dem Druck der Existenzangst sein Leben hinbringen, es verlieren. Der Begriff steht in der christlichen Tradition, auch wenn wir das nicht mehr realisieren; Armut ist danach gottgegeben (ein Schicksal), Arme werden immer unter uns sein (5. Moses 15, eine Parallele Matth. 26). Wenn dagegen Rousseau über seinen Diskurs von 1755 den Titel setzt Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, dann signalisiert »Ungleichheit« (statt »Armut«) eine Revolution in der Auffassung des Problems. Die Sozialisten und Marx reden nicht von »Armut«, sondern von »Ausbeutung«, »Enteignung«, »Verelendung«, »Ware Arbeitskraft«. Diese Begriffe setzen die ökonomische Analyse der gesellschaftlichen Beziehungen und die Revolte gegen die Klassengesellschaft voraus. Die Ableitung der Verelendung erfolgt hier aus den Produktionsverhältnissen, aus dem Privateigentum an gesellschaftlichen Produktionsmitteln, in äußerster Abstraktion: aus dem Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, die Produktionsmittel sind nicht in den Händen der Produzenten. Das Elend (auch das psychische) der arbeitenden Klasse ist die Wirklichkeit dieses Widerspruchs. Blicken wir von dieser Ableitung zurück auf die mythische im Alten Testament: Das 1. Buch Moses sagt, die Armut ist eine Folge der Ursünde, der Neugierde, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Die Strafe war die Vertreibung aus dem Paradies, mit diesen Folgen: 1. Tod, jetzt sterben die Menschen, und 2. Not und Arbeit, sie müssen Äcker umgraben, auf denen Disteln und Dornen wachsen und im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot essen; und die Frauen müssen noch zusätzlich die Schmerzen der Gebärerin ertragen und — was ihnen kaum leichter fällt - ihren Männern gehorsam sein. Solange das archaische Bewußtsein noch ungebrochen ist, wird der Reichtum aufgefaßt als der greifbare Segen Gottes für die Gerechten und entsprechend Armut als Bestrafung der Sünder. Die schreienden Widersprüche zwingen dazu, diese naive und brutale Gleichung (z. B. 1. Moses 26,12 ff.: Isaak) aufzugeben und den Tatsachen durch Deutungen/Umdeutungen Rechnung zu tragen: 1. der gerechte (unschuldige) Arme ist arm, weil er die Schuld seiner Väter abzubüßen hat. Sprichwörtlich ist: »Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Söhnen werden die Zähne stumpf«. 2. Die Armut ist eine Prüfung, wie im Fall Hiob. Nach bestandener Prüfung verdoppelt sich der Reichtum des Gerechten. Und endlich 3. die unverschleierte Feststellung des Tatbestandes und der offene Protest der Propheten. Vor allem Hosea und Amos halten Brandreden gegen den ungerechten Mammon, der herausgeschnitten ist aus dem Fleisch der Brüder. Im Neuen Testament ist es die große Tatsache, daß Jesus arm ist. Er hat die Mühseligen und Beladenen seliggepriesen und den reichen Jüngling auf177

gefordert, alles zu verkaufen und das Geld den Armen zu geben. Von den Reichen hat Jesus gesagt, eher ginge ein Schiff stau durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in den Himmel käme. Im Urchristentum gab es Gütergemeinschaft und freiwillige Armut. Aber der reiche Jüngling war nicht der einzige, der Ausflüchte machte. Folgende Sinngebungen wurden aufgebracht: 1. Armut ist eine Prüfung, wie im Hiob. 2. Ein Ausgleich werde in einem Jenseits stattfinden. 3. Spiritualisierung: Die Armut wird als »innerer« Reichtum und Segen glorifiziert wie in Jak. 2 und im 2. Kor. 6. Was einem darin wie eine Vertiefung vorkommen mag, ist in Tat und Wahrheit ein Ausweichen vor der realen Nachfolge — gerade so, als wenn der reiche Jüngling seiner Weigerung noch einen Kommentar nachgeschickt hätte wie den: >Ach Herr, das mußt du nicht so eng sehen, es ist gar nicht nötig, daß ich meine Güter verschenke, ich folge dir ja in einer vertieften Weise nach, nämlich innerliche Wir können natürlich nicht wissen, was Jesus darauf geantwortet hätte, aber vermuten, daß es für das Neue Testament nicht zitierbar gewesen wäre. — Und wie steht es mit den Reichen? Die Drohung mit dem Nadelöhr konnte sie nicht beeindrucken. Ihre Theologen beseitigten das Ärgernis im Text. Die Reichen brauchten nicht mit den Armen zu teilen; es genügte, Almosen zu geben. Damit sammelten sie (analog einer Kapitalanlage) Verdienste für ihr Seelenheil im Jenseits, in das sie also doch eingehen konnten, auch gegen das Wort vom Nadelöhr. Nur wenige traten die Nachfolge Christi in freiwilliger Armut an, wie die Anachoreten und Mönche und Sekten wie die der Katharer, die Gütergemeinschaft praktizierten. Sie wurden von der reichen Kirche, der Kirche der Reichen, seit Konstantin Staatskirche mit riesigem Grundbesitz, verfolgt mit Feuer und Schwert und mit spiritualistischer Theologie: die Imitatio Christi in Armut sei nicht wörtlich zu nehmen, sondern in einem übertragenen, geistlichen Sinn - in einem Sinn, der es erlaubte, die Güter zu behalten. Und doch blieb unvergessen, was im Text stand und was die Urgemeinde gelebt hatte. Noch im 12. Jahrhundert wurde der Satz vom Gemeineigentum aller an allem (communis omnium possessio) in das Decretum Gratiani aufgenommen, und noch im 16. Jahrhundert sagte Sebastian Franck: »Die Bosheit fing an, das Mein und das Dein, ja ein Eigentum im Christentum aufzurichten«. Der Chiliasmus, die Hoffnung auf eine tausendjährige Herrschaft Christi auf Erden und auf ein Reich des Heiligen Geistes - besonders wirkungsvoll vertreten von Joachim von Fiore (f 1202; »II Calabrese abate Gioacchino/Di spirito profetico dotato«, Dante: Paradiso XII, 140, der kalabresische Abt Joachim, mit prophetischem Geiste begabt) - konnte zwar in den Untergrund gedrängt, aber nicht erstickt werden. Der Protest gegen die herrschende Kirche (wie der Wycliffs) wurde von aufständischen Bauernmassen aufgegriffen; 1381 sangen sie vor den Toren Londons: »When Adam dalf and Eve span/Who was thanne a gentil manne?« (Als Adam grub und Eva spann/Wer war damals Edelmann?) Ein qualitativer Sprung tritt ein mit den Humanisten. Die Armut wird 178

nicht länger als göttliche Schickung hingenommen, mit Varianten nur in der Sinngebung. 1526 erschien De subventione pauperum (über die Unterstützung der Armen, über Armenpflege) des Spaniers Juan Luis Vives. Er stellt mit klaren Worten fest, Armut sei ein gesellschaftliches Problem. Was uns wie eine Selbstverständlichkeit vorkommt, war eine Entdeckung, die den Bruch mit der theologischen Tradition voraussetzte. Vives folgert, die Unterstützung der Armen könne nicht länger eine Sache des Almosenspendens bleiben, es handle sich vielmehr um eine soziale Aufgabe und Verpflichtung der Gemeinden und des Staates. Zehn Jahre zuvor, 1516, war die Utopia des Thomas Morus erschienen. Dieses bahnbrechende Werk reflektiert die Schrecken der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, den Pauperismus der frühen industriellen Produktion. Morus entwirft im Kontrast einen Staat ohne Privateigentum und ohne Geld. Er hat begriffen, wie das Privateigentum an gesellschaftlichen Produktionsmitteln die Verelendung der arbeitenden Massen verursacht, wie etwa in der Vertreibung der Bauern durch die »Einzäunungen« des Landadels, die Morus schildert als einen Vorgang, in dem die Menschen von den Schafen aufgefressen werden. Im deutschen Bauernkrieg agitierte Müntzer die Aufständischen (wie es schon die Lollarden und die Taboriten getan hatten) mit der urchristlichen Gleichheitsforderung (»omnia sunt communia«), die auch mit dem Schwert durchgesetzt werden müsse. Die Bauern wurden niedergemetzelt, die Wiedertäufer und Schwarmgeister im Blut erstickt. Auf welcher Seite Luther stand, ist bekannt, und was er Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern geschrieben hat, nicht weniger; die fürstlichen Bauernschlächter wies er darauf hin, wie sie ihr Gewissen beschwichtigen könnten durch Lesung der Psalmen. Calvin erklärte den Reichtum für ein Indiz der Auserwähltheit durch die Gnade Gottes und die Armut als Zeichen der Verworfenheit durch seine Gerechtigkeit — eine »frohe Botschaft« nicht für die Armen, sondern für Bankiers. Es ist die Ideologie des frühen Kapitalismus in der archaischen Sprache des Alten Testaments und in den Begriffen der Prädestinationslehre Augustins. Hier fließt eine der Quellen des von Max Weber beschriebenen puritanischen Ethos der Arbeit und der Leistung (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus). Ein bedeutendes Ereignis in der Entwicklungsgeschichte des Problems war der schon erwähnte Diskurs über die Ungleichheit von Rousseau und sein Gesellschaftsvertrag von 1762. Auch Rousseau erfaßt, wie Morus, das Privateigentum als Ursache der Risse, die den Gesellschaftskörper auseinandersprengen. Rousseaus Vorstellungsmuster ist nicht mehr das Urchristentum, sondern ein vorstaatlicher Naturzustand, den er aus Reiseberichten extrapoliert, welche die Begegnung mit »Wilden« schildern (Indianer, der Jesuitenstaat in Paraguay, später Cook und Bougainville in der Südsee usf.). Den radikalen Weg Rousseaus und des Abbes Mesliers gehen wenige. Weitaus die meisten Aufklärer, besonders die Literaten und die Rokoko-Ökonomen, ver179

trauen auf ein kontinuierliches Wachstum der Produktivkräfte und auf die Güte der menschlichen Natur und ihre moralische Vervollkommnung. Die Gesellschaft könne mittels »Vernunft« friedlich und sanft von oben reformiert werden. Die Eigentumsverhältnisse lassen sie unangetastet (ein Muster: die Artikel »Eigentum« und »Gleichheit« in Voltaires Philosophischem Wörterbuch). Die Fortsetzer dieser Strömung sind die Liberalen, die überzeugt sind, die kapitalistische Wirtschaft reguliere sich über Angebot und Nachfrage auf dem Markt von selbst (»laissez-faire, laissez-aller, le monde va de lui-meme«) und werde so eine Harmonie der Gesellschaft bewirken, die der »prästabilierten« nicht viel nachstehe (wenngleich sie, fatalerweise, der >Harmonie< des Dschungels ähnlich sieht). Schon im Jahrzehnt vor der Französischen Revolution schlug die Stimmung um, und das Bewußtsein verbreitete sich, eine Änderung des Bestehenden sei ohne Gewalt undurchführbar. Chamfort, dessen »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!«, Parole der revolutionären Armeen Frankreichs, Büchner als Motto über den Hessischen Landboten setzt, nennt die Armen »die Neger Europas«. Die Theorie von der kapitalistischen Harmonie ist das Gelächter der frühen Sozialisten, vor allem Fouriers. Sie haben gesehen, was die bürgerliche Revolution und vor allem die Bourgeoisieherrschaft, der »Despotismus der Mittelklasse« (Blanqui) nach dem Thermidor an gesellschaftlicher Harmonie< heraufführte — und was hätten sie gesagt, wenn sie in die Zukunft hätten blicken können, auf die Junischlacht in Paris 1848, die Massakrierung der Pariser Kommune, die Weltkriege, Auschwitz, Hiroshima usw. usf.! Fourier, Saint-Simon, Owen streben eine Neuordnung der Eigentumsverhältnisse an. Das soll aber nicht durch Klassenkämpfe und Revolutionen geschehen. Sie entwerfen utopische Projekte: Inmitten der bestehenden Gesellschaft sollen sich sozialistische Inseln bilden, die sich dann, vermöge der Ansteckungskraft der »Vernunft« und des wirtschaftlichen Erfolges, immer mehr ausweiten würden.12 Von diesen konstruktiven Träumern muß man einen Blick auf Malthus werfen, wie vorhin von Morus auf Calvin. Malthus sagt, es sei ein Naturgesetz, daß die Bevölkerungszahlen schneller ansteigen als die Produktion von Lebensmitteln. Es finde ein Selektionsprozeß statt (was Darwin auf das Tierund Pflanzenreich übertragen hat). Die Armen sind aus diesem Lebenskampf als die Untauglichen ausgeschieden. Es wäre geradezu naturwidrig, sie n i c h t krepieren zu lassen. Das ist das Bulldoggengesicht des Manchesterkapitalismus, brutal, zynisch, aber ehrlich.

12 Eine noch heute verbreitete Illusion! Genau das Gegenteil tritt ein: diese Inseln werden nach kurzer Zeit von dem Meer überspült und dann verschlungen. Der Kapitalismus dringt in diese alternativen Enklaven ein schon vor dem Tag, an dem sie den ersten Kredit aufnehmen

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Werfen wir von hier aus wenigstens einen Blick auf die heutige Situation. Etwa 60 % der Weltbevölkerung sind unterernährt, über 20 % stehen am Rande des Hungertodes, den jährlich 40 Millionen überschreiten. Zum Vergleich: Der Zweite Weltkrieg forderte auf sämtlichen Kriegsschauplätzen, in den bombardierten Städten, den Konzentrationslagern usf. insgesamt 55 Millionen Tote. 170 Millionen Kinder kämpfen heute Tag für Tag um das nackte Überleben, und dieser Kampf wird täglich von mindestens 40 Tausend verloren.123 Ein Viertel der Menschheit lebt in Industriegesellschaften, die große Masse gewiß nicht in >glänzenden Verhältnissen^ Der Gegensatz — nicht der zwischen den Industriearbeitern und den ausgesetzten Kindern! — nimmt an Schärfe ständig zu. Seine Ursachen werden durch eine geographisch-klimatische Mythe als »Nord-Süd-Konflikt« verschleiert. Ein erheblicher Teil des »externen Proletariats« hat sich durch die Chinesische Revolution aus dem Hunger herausgekämpft. Doch zurück zu den frühen Sozialisten. Im Gegensatz zu den utopischen Sozialisten ist der Kommunist Babeuf (hingerichtet 1797) überzeugt, daß auf friedlichem Weg das Privateigentum an gesellschaftlichen Produktionsmitteln nicht abgeschafft werden kann. Eigentumsverhältnisse sind Machtverhältnisse und Machtverhältnisse können nicht durch Aufklärung, Erziehung, Propaganda, durch das gute Zureden der »Vernunft«13, sondern nur durch Gewalt, durch die Kämpfe der Klassen und durch Revolution umgestürzt werden. Das ist die Grundüberzeugung aller revolutionären Sozialisten von Babeuf bis Marx und seinen Nachfolgern. Und diese Grundüberzeugung teilt auch Georg Büchner, wie man an seiner politischen Praxis, am Hessischen Landboten oder aus dem schon angeführten Brief an Gutzkow über den nicht zu schließenden Riß zwischen den Klassen (II, 455) ablesen kann. Zwischen Babeuf und Marx ist historisch die Position Büchners einzuzeichnen, wie es von G. Lukacs und detailliert von Th. M. Mayer nachgewiesen wurde.14 12a Keineswegs ist es hoffnungslos, sich solche Zahlen vorzustellen: Kinderleiche an Kinderleiche gereiht, ergibt es täglich einen Zug von 40 Kilometern Länge und die Gesamtzahl der auf der Erde in einem Jahr Verhungerten einen eineinhalbmal um den Äquator geschlungenen Totengürtel. — Vor einer solchen Anschauung muß man anhören, was die »Worthelfer der Macht« (K. Kraus) dafür als Ursachen benennen, und >Erklärungen< wie die klimatische ins Auge fassen! 13 Was stellt man sich vor? Die Selbstaufhebung, den Selbstmord einer Klasse? Eine bodenlose Phantasie. Als Stütze wird, wenn überhaupt ein Faktum, dann gelegentlich die sog. »Nacht der Wunder« angeführt, der 4. August 1789, als die Adeligen in der Konstituante auf einige durch die Bauernaufstände faktisch schon beseitigte Feudalrechte verzichteten. Und was unternahm der Adel nach dem 4. August, was zur Zeit der Interventionskriege, was nach der Wiedereinsetzung der Bourbonen? 14 G. Lukacs: Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner (1937). - In: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten (= Werke VII). - Neuwied u. Berlin 1964, vor allem Abschnitt II: Büchner sei ein plebejischer Revolutionär, dem die ökonomischen Grundlagen einer Befreiung der arbeitenden Massen klarzuwerden beginnen. Er gehöre in

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Ill Die traditionelle Büchner-Forschung - ich drücke mich absichtlich unklar aus — sieht das natürlich anders. Babeuf und Marx kämen ihr nicht in den Sinn. Wenn Büchner nach Jahrzehnten der Verkennung in den Kanon eingehen soll, dann um den Preis, daß seine revolutionäre Position gelöscht wird. Mittels der »Resignationsthese« wird er als gescheiterter Revoluzzer, der endlich zur Vernunft15 und zur Dichtung gekommen ist, rückverschoben auf christliche Positionen (>existentialistisch< modernisierte). Nicht selten wird er auch als Nihilist oder Dandy hingestellt, so daß man im Zweifel sein könnte, ob von Büchner oder von Oscar Wilde die Rede ist. So gegensätzlich diese Deutungen auch immer scheinen mögen, so treffen sie doch in dem einen Punkt und Zweck zusammen, die politische Position dieses Dichters zu tilgen. Daß Büchner sich von der revolutionären Theorie und Praxis des Hessischen Landboten abgewandt habe, soll vor allem am Woyzeck demonstriert werden: Woyzecks »Passivität« sei das Indiz dafür, daß Büchner jeden Glauben an eine Revolte der Unterdrückten verloren habe. Ein solcher Schluß, finde ich, verdiente es wirklich, in einen Musterkatalog von Kurzschlüssen aufgenommen zu werden. Und das Elend, das im Woyzeck dargestellt ist? Daß es sich da — wie im Hessischen Landboten - um Ausbeutung, Verelendung, Pauperismus handeln könnte, sollen wir nur ja nicht glauben. Vielmehr, sagt uns W. Martens, sei alles viel »tiefer« zu fassen, in einem spirituellen, geistlichen, allegorischen Sinn: »Woyzeck ist nicht Proletarier, sondern: ein Armer - ein Armer in dem viel umfassenderen und tieferen Sinne, den das Christentum dem Wort verliehen hat. Seine Gestalt erscheint vorgeprägt im Bild jener Besessenen, Geschlagenen und Aussätzigen, von denen die Bibel spricht.«16 die Reihe Babeuf - Blanqui. Er sehe vor sich noch nicht das Proletariat als Klasse, sondern die »Armen«, in erster Linie die Bauern, deshalb habe er das Problem der sozialen Revolution nicht völlig klar erkennen können. Blanqui sei den Weg von den »Armen« bis zum Proletariat gegangen, Büchner am Anfang dieses Weges gestorben; in Deutschland sei er, neben Heine, der einzige Dichter, der diesen Weg eingeschlagen habe. - Vgl. die neuen Quellen zur Beeinflussung Büchners durch den französischen Neobabouvismus der Jahre um 1833 bei Th. M. Mayer: Büchner und Weidig - Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. - In: GB ////, bes. S. 20-69. 15 Was für eine Vernunft ist diese Vernunft? Sie steht der des Interpreten nahe. Nach E. Alker hat Büchner nach dem Hessischen Landboten die »Rückkehr zum konservativen Gedanken« vollzogen (Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert. - Stuttgart 21962, S. 355). »Zurückkehren« kann man nur zu dem, wovon man ausging. So heftig drängt sich hier ein konservativer Wunsch vor, daß eine Konversion schon nicht mehr genügt, die Rückkehr des verlorenen Sohns soll es werden! Büchner, ein Konservativer! 16 Zum Menschenbild Georg Büchners. - In: Wirkendes Wort 8 (1957/58), wieder abgedruckt in: Martens, S. 384: »nicht Proletarier«; in Über Georg Büchners »Woyzeck« (Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins, 1980/81, S. 149) läßt Martens sich aber dann selbst das verpönte Wort entfahren und nennt Woyzeck einen »Proletarier«.

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Davon haben wir eben einiges gehört und auch davon, welche Denkarbeit von Morus über die Physiokraten bis Marx nötig gewesen ist, um den >tiefen< mystischen Sinn einer gottgegebenen Armut kritisch zu überwinden durch die Erforschung ihrer irdischen Ursachen, durch ihre soziologische Erklärung und ökonomische Ableitung! Keineswegs ist Woyzeck »vorgeprägt« in den Besessenen und Aussätzigen der Bibel. Er ist nicht ein Nachbild des armen Lazarus oder der Besessenen, die Jesus wunderbar geheilt hat. Der Woyzeck ist kein Spiel vom armen Mann. Er ist vielmehr das realistische Bildnis eines Deklassierten der Zwanziger- und Dreißigerjahre des 19. Jahrhunderts, der unter dem Druck der Verelendung in eine Psychose getrieben17 und zum Mörder wurde: Wie Büchner es vorfand in seiner Quelle, einem psychiatrischen Gutachten, das der Staatsmediziner Clarus über den 1824 in Leipzig hingerichteten Mörder Johann Christian Woyzeck erstellte. Und darüber hinaus ist der Woyzeck das realistisch dramatisierte Bild der Lage des Vorproletariats in den deutschen Staaten während der Restaurationsperiode, und das auf einem solchen Niveau der Verallgemeinerung und der Konkretion, daß darin grundsätzliche Strukturen der Situation und Verfassung der Erniedrigten und Beleidigten aller Zeiten und Zonen zum Vorschein kommen. — Der Woyzeck ist kein ausgedachter Extremfall (wie Becketts Endspiel). So scheint es nur, solange man in einer »immanenten« Betrachtung auf seine spontane Empfindung vertraut, die ihre Maßstäbe — und zuerst den, was »realistisch« sei — aus der uns umgebenden Wirklichkeit hernimmt: und nicht aus dem h i s t o r i s c h e n B o d e n , auf dem der Text steht.18 Durch Anschauung historischer Dokumente = Ausschnitte der Wirklichkeit, die Büchner vor Augen hatte, überzeugt man sich, daß der Woyzeck ein realistisches Abbild und eine (mit dichterischen Mitteln durchgeführte) anatomisch genaue Untersuchung dieser Wirklichkeit (Enthüllung ihrer Strukturen) ist. Und gerade durch die Exaktheit seiner Phantasie, durch den Abstieg in die Tiefen des Gegenstandes (des historischen Falls), überschreitet Büchner den Rahmen dieser Situation, und seine Tragödie eines Paupers aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wird ein Inbild-Inbegriff und ein »Fall, der für tausend gilt.«19 Werfen wir einen Blick auf diesen historischen Boden20, die unterentwikkelte Wirtschaft und Gesellschaft in den deutschen Staaten der ersten Jahr17 Symptome dieser Psychose konstariert Clarus, verdrängt sie jedoch wieder; Büchner hebt sie hervor und systematisiert sie zu einem geschlossenen Krankheitsbild. 18 Das aber ist unerläßlich, wenn Literaturwissenschaft als historische Wissenschaft betrieben werden soll. 19 S. unten S. 226. 20 Einige Hinweise, wie man sich eine reale Anschauung von der Lage des Vorproletariats und des Proletariats in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschaffen kann: F. Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845). K. Marx: Das Kapital, Erstes Buch (1867), vor allem 13. Kapitel (»Maschinerie und große 183

zehnte des 19. Jahrhunderts: absterbender Feudalismus, ein Bürgertum, das noch nicht als Klasse organisiert ist, kein Nationalstaat, chronischer Kapitalmangel, niederer Stand der Technik und der Arbeitsproduktivität — die »deutsche Misere«. Die Rückständigkeit gegenüber England, Frankreich, den Niederlanden hatte sich seit den Anfängen der Industrialisierung dramatisch verschärft. Zusätzlich litten die deutschen Staaten noch unter den Folgen des Krieges gegen das revolutionäre Frankreich, der Kriege auf Seiten Napoleons und des Krieges gegen ihn. Die wirtschaftliche Entwicklung wurde ferner durch die »Kontinentalsperre« geschädigt, ausgenommen die Anfänge der Industrie in den linksrheinischen Gebieten und in Sachsen, die durch die Aussperrung der englischen Konkurrenz zunächst einen Aufschwung nahm, dann aber, nach Aufhebung der Kontinentalsperre, durch die englische Industrie niederkonkurriert wurde. Die Folge für das Vorproletariat war eine weitere Senkung des Lohnniveaus, Massenarbeitslosigkeit, Pauperisierung. Die Lage verschärfte sich noch durch die Agrarkrise der Zwanzigerjahre. Der Lebensstandard der Bauern, Dienstboten, Taglöhner, Heimarbeiter, der gewerblichen und industriellen Lohnarbeiter sank in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts rapid ab, Tiefpunkt um 1830. Arbeitstage von 16 Stunden und mehr waren die Regel. Die Masse vegetierte unter dem physiologischen Existenzminimum. Was ein Taglöhner verdiente, lag unter dem, was es kostete, ein Postpferd zu füttern (nach heutiger Kaufkraft etwa 15 Mark). Die Ernährung bestand aus Kartoffeln, Kleie, Quecken, kaum je Fleisch. - Und darunter die Pauper, Deklassierte, Arbeitslose, abgedankte Soldaten, Arbeitsunfähige, Kranke, Alte, Kinder; und das sogenannte Lumpenproletariat, Landstreicher, Bettler, Prostituierte, Kriminelle usf. - Die Folgen: Epidemien, Hungertyphus, Cholera, Tuberkulose, Rachitis (»englische Krankheit«), »Nervenfieber«, Alkoholismus, extreme Selbstmordraten, Massenauswanderung.

Industrie«) und 24. Kapitel (»Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation«). F. Mehring: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Erster Teil (1897). O. Rühle: Illustrierte Kultur- und Sittengeschichte des Proletariats (1930). J. Kuczynski: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus. Bd. I Deutschland 1789-1849. - Berlin 1961. Ders.: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes. Bd. U (1650-1810) und Bd. III (18101870). - Köln 1982/1983. Hanmut Zwahr: Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution. - Berlin 1978. E. Hobsbawm: Europäische Revolutionen (- Kindlers Kulturgeschichte Europas Bd. XV). - München 1978,11. Kapitel »Die arbeitenden Massen«. G. Rüde: Die Volksmassen in der Geschichte, England und Frankreich 1730-1848. Frankfurt, New York 1977. Ein Blick in die Gegenwart, die uns vielleicht nicht bekannter ist als die Vergangenheit: J. Roth: Armut in der Bundesrepublik. - Reinbek b. Hamburg, 1974 (21979); G. Wallraff: Ganz unten. - Köln 1985.

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Das ist die Situation, die das Schicksal des historischen Woyzeck determiniert (wie wir es aus Clarus kennenlernen), dieses arbeitslosen sächsischen Perückenmachers und abgedankten Soldaten (Teilnehmer mehrerer Feldzüge).21 Und diese Situation ist auch der Grund und das Fundament der Woyzeck-Tragödie Büchners. Im Text können wir auf Schritt und Tritt (wenn auch nicht auf den ersten Blick) Abdrücke und Spuren der arbeitenden Klasse und der Deklassierten in den Zwanziger- und Dreißiger jähren des 19. Jahrhunderts wiedererkennen22: So die vorindustrielle Gesellschaft in der Kleinstadt mit Universität und Garnison (im Hintergrund der Hof; Erwähnung des »Prinzen« H4,6), die Beziehungen des Füsiliers zu seinen Vorgesetzten sind noch unmittelbare, >persönlichegefiltertGeliebte< verachtete ihn wegen seiner Armut. — Woyzecks Bericht über sein Leben ist eines der wenigen, unschätzbaren Dokumente, die einen authentischen Einblick eröffnen in das Dasein und die Bewußtseinsverfassung der arbeitenden Klassen und der Deklassierten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Man muß allerdings lernen, wie Büchner an dem Inquisitor Clarus vorbei den Blick auf das Opfer zu richten. 22 Das hat der realistische Dichter nicht so »gemacht«, diese Züge hat er, wenn ich mich so ausdrücken darf, aus der Quelle und aus der Wirklichkeit, die ihm vor Augen stand, in das Drama »eingeschleppt^ 23 Aber auch der Menschenversuch ist nicht aus der Luft gegriffen, eine freie Erfindung der »Tochter der Luft«; er hat einen historischen Kern, nämlich in der Untersuchungsmethode, die Clarus gegen seinen »Inquisiten« zur Anwendung brachte, vgl. vor allem I, 504, 507, 545 - Woyzecks Zittern, Clarus mißt ihm den Puls - exakt wie der Doktor H2,7 und H4,8! Büchners Tragödie >wimmelt< von solchen wörtlichen Zitaten aus Clarus. Dieses dichterische Verfahren ist für Büchners Phantasie ungemein charakteristisch; hier werden die Folgen jener anspruchslosen Sätze über »Realismus« sichtbar. Auch als Dichter ist Büchner ein Forscher. An der Exaktheit seiner Beobachtungen (nicht nur von Psychosesymptomen) erkennt man den Mediziner und Anatomen (schon Gutzkow hatte die »seltene Unbefangenheit, fast möcht' ich sagen [...] Autopsie« dieses Dichters hervorgehoben; 10. 6.1836, an Büchner). 185

sal. Dieses Leben ist eine Welle inmitten eines ozeanischen Geschehens, ein Szenenfetzen des Mässendramas »Verelendung der Volksmassen in der Restaurationsperiode«. (Unter den Opfern dieser Massentragödie waren auch Friedrich Ludwig Weidig und Georg Büchner.) Der Fall Woyzeck hebt sich nur deshalb heraus, weil er als sensationeller Kriminalfall Aufsehen erregte und von der zeitgenössischen Psychiatrie diskutiert und dokumentiert wurde; die anonymen Opfer der Hungerepidemien hingegen gingen kaum in die Statistik ein. Im Vergleich mit dem historischen Woyzeck, dem abgedankten Soldaten und Gelegenheitsarbeiter, der arbeitslos vagabundiert und bettelt, ist der Woyzeck Büchners sozusagen noch gut dran. Er ist im Militär untergekommen. Er hungert nicht (scheint es), und durch Nebentätigkeiten gelingt es ihm (jedenfalls vorübergehend), seine Frau und das Kind über Wasser zu halten. Keineswegs steht er, wie immer wieder ohne historische Anschauung vorausgesetzt wird, auf der untersten Stufe des Elends.24 Im Vergleich mit einer Analyse, der es gelänge, die historische Wirklichkeit im Text aufzudecken, erscheint mir eine Deutung der Tragödie als christliche Allegorie »des Armen« als regressive Lesart.

24 Wie die unterste Stufe des Elends in Wirklichkeit ausgesehen hat: Da müßten wir die Gefangenen in den Zuchthäusern und die Gefolterten in den Irrenhäusern sehen (s. den oben Anm. 3 genannten Aufsatz, dort Anm. 84), die Schwerverwundeten, die auf den Schlachtfeldern verdursten und am Wundfieber dahinsterben, die Opfer der Epidemien, die Kinder, die in den niedrigen Bergwerksstollen, auf allen Vieren kriechend, die Grubenwagen hinter sich herziehen, und die Kinder, die, durch die Feinheit ihrer Finger allein dazu befähigt, überfeine Kettchen flechten und dabei erblinden usw. usf. Stellvertretend zwei Dokumente, die an Schrecken den Blick in Dantes Hölle überbieten: 1. Der Bericht über Opfer der Hungertyphus 1847 in Oberschlesien, abgedruckt von Kuczynski: Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. l, S. 280. 2. Der Bericht über den verhungernden arbeitslosen Nadelmacher Henry Morgan im Northampton Mercury, den Marx in seinem Artikel Politische Perspektiven - Handelsprosperität - Ein Fall von Hungerstod (1853) abdruckt und mit einem Kommentar versieht, der an Wucht nicht hinter den Versen des Inferno zurücksteht (MEW, Bd. 8., S. 497 f.). Selbst Ullman meint, das »soziale Milieu«, das Woyzeck umgebe, sei »die unterste Hölle« (Sozialkritische Thematik, S. 37). Das kann man glauben, wenn man sich vom »Elend« lediglich Vorstellungen macht und sich die Lage der arbeitenden Klasse ausdenkt, statt den Boden der Tatsachen zu betreten und Dokumente zu studieren. Daß mit vagen Vorstellungen von »Elend« operiert wird, ist aus naheliegenden Gründen die Regel; doch bei Ullman muß dies verwundern, ihn hätte seine Thematik zu »realhistorischen« Nachforschungen verpflichtet. Wie kann man die »sozialkritische Thematik« (ausweichender Ausdruck) des realistischen Dichters würdigen, wenn man die zweite Größe der Relation »Tragödie - Realität« nicht schärfer im Auge hat? >Metaphysiker< dürften sich mit abstraktem »Elend« begnügen (»allegorisches Material«), daß aber auch bei denen, die den Woyzeck als »soziale Tragödie« verstehen, das historische Fundament so weitgehend fehlt, ist methodisch ein Manko, über das man nicht einfach hinwegsehen kann.

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IV Jetzt zur Darstellung der Armut bei Büchner, zuerst in den Schriften vor dem Woyzeck: Im Hessischen Landboten hat er den »langen Sonntag« der Reichen und den lebenlangen Arbeitstag der menschlichen Zugtiere beschrieben. Sie wühlen die steinigen Äcker um und verkümmern hinter ihren Webstüh? len, bis sie, ausgepowert, in ein frühes Grab sinken.25 In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Rolle des Hungers in Büchners Werken hinweisen. »Hunger« ist ein Zentnerwort. Im sogenannten Fatalismusbrief (März 1834) hatte Büchner noch in einem mystischen Ton die Frage aufgeworfen »Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?« (mystisch ist dieses »in«). In Dantons Tod griff er diese Frage wörtlich auf, und ein Sansculotte beantwortet sie mit einem einzigen Wort: der Hunger.26 Im Lenz schilderte er »das von materiellen Bedürfnissen gequälte Sein« (I, 84) der Bauern in den Vogesen27, und selbst noch über dem romantischen Lustspiel Leonce und Lena steht der

25 Über Arbeit im Hessischen Landboten auch W. B. Armstrong: »Arbeit« und »Muße* in den Werken Georg Büchners. - In: GB ///, S. 64 ff. (wie für das folgende: gute Sichtung der Hauptstellen). 26 Dantons Tod: Armstrong, S. 86 ff., Hinweis auf die Kongruenz Lohnarbeit/Prostitution, Verkauf der Ware Arbeitskraft/Verkauf des Körpers: »... daß für die Prostituierte die Prostitution Arbeit und nicht Lust darstellt [Verweis auf 1/2 und II/2], [...] erscheint es klar, daß ihr Singen vom Hunger nach Essen und nicht nach Sex inspiriert wird.« Mit dieser Antwort auf die in Dantons Tod wiederaufgeworfene Frage des »Fatalismus brief s« bin ich einverstanden: der Hunger ist es! Anders beantwortet E. Kobel die Frage für den Woyzeck (Georg Büchner. - Berlin, New York 1974, S. 306): »Die Frage, was in uns stehle, hure, lüge, morde, ist in Buchners Dichtung beantwortet: es ist die Schwermut ob der Vergänglichkeit, die Verzweiflung darüber, daß das Ewige nicht sei und deshalb alles nichtig.« Auch wenn uns solche Worte wieder an Pascal oder Kierkegaard erinnern sollen, - nicht jeden Leser kann ein so schwermütiger Satz auch schwermütig stimmen. 27 Lenz: Armstrong, S. 94 ff. Nur im Lenz gebe Büchner, meint Armstrong, eine »positive Darstellung von Arbeit«, die sonst durchgehend »mit Ausbeutung und Erniedrigung gleichgesetzt« werde. Das Bergdorf in den Vogesen sei »der einzige Schauplatz Büchners, der nicht von dem entscheidenden Konflikt, dem V e r h ä l t n i s z w i s c h e n A r m e n und Reic h e n berührt wird.« (S. 97) Das halte ich nicht für richtig, siehe den oben angeführten Satz über das »von materiellen Bedürfnissen gequälte Sein«; und warum fühlt sich dann Lenz gedrungen, ihre »Leiden gen Himmel [zu] leiten«? Die Arbeiten der Bauern unter Anleitung Oberlins sind keine Lohnarbeit, das ist alles. Aber selbstbestimmte Tätigkeit, wie Armstrong offenbar glaubt, sind sie ganz und gar nicht. Es ist die gemeinsam unternommene Sicherung minimaler Reproduktion, die hier vonstattengeht ohne s i c h t b a r e (außerökonomische) Gewalteinwirkung von seiten der Herrschaft. Deshalb ist aber Herrschaft/ Knechtschaft doch wirklich, so wie Eisberge auch unter der Wasserlinie >wirklich< sind. Herrschaft im Lenz ist wirklich selbst noch in ihrer mildesten Erscheinungsform, in der patriarchalischen Gestalt Oberlins. Die Bauern im Steintal leiden Not, erleben Mißernten und »Teuerungen«. Der Konflikt Arm/Reich »berührt« sie grundlich: über den Markt. Die Gesetze des Marktes dringen auch 1778 in das hinterste Vogesental. Der Schein einer >IdylleIdylle< herrscht nicht die reine Subsistenzwirtschaft — die keine Idylle ist - und noch weniger ein rousseauistischer vor- oder außergesellschaft187

Hunger als Motto: »Alfieri: e la fama?/Gozzi: e la fame?« Ein einziger Buchstabe, e statt a, konfrontiert hier den Ruhm des Geistes, fama, mit dem Hunger der Massen, fame, mit dem Elend, das die glänzenden Fassaden der hohen Literatur (hier die Tragödien Alfieris) verdecken und überblenden.28 - Von den Briefen möchte ich nur an zwei erinnern. An den vom 9. 12. 1833: »Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen.«

Vor allem möchte ich hinweisen auf eine >Momentaufnahme< in dem Brief aus Straßburg Ende 1835 über die Kinder auf dem Christkindlmarkt: »überall Haufen zerlumpter, frierender Kinder, die mit aufgerissenen Augen und traurigen Gesichtern vor den Herrlichkeiten aus Wasser und Mehl, Dreck und Goldpapier standen [Lebkuchen]. Der Gedanke, daß für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind, machte mich sehr bitter.« (11,452)

Es war mehr als Bitterkeit. Von solchen Erfahrungsbildern denke ich, daß sie die G r a v i t a t i o n s z e n t r e n von B ü c h n e r s P h a n t a s i e sind, um solche Bilder kreist sie, solche Erfahrungen treiben sie ari — Phantasie als Anamnesis, wie es schon der mythische Dichter Hesiod gewußt hat, als er die Musen (die Phantasie) die »Töchter der Erinnerung« nannte. Ich glaube nun, daß sich die psychische Spur dieser >Momentaufnahme< in die Dichtung Büchners hinein verfolgen läßt: Das Kind, das im Woyzeck nach dem Mord an seiner Mutter und der Hinrichtung seines Vaters zurückbleibt (H3,2) — mit geringen Überlebenschancen, in der Obhut eines Schwachsinnigen - und dem Woyzeck, unmittelbar bevor er verhaftet wird, noch einen »Reuter« (ein Gebäck) kaufen will, dieses Kind ist das dichterische Denkmal der Kinder auf dem Christkindlmarkt. — lieber Zustand, vor Sonnenaufgang, als die Welt, angeblich, noch in Ordnung war. Das Steintal liegt nicht in einer herrschaftsfreien Zone, es liegt in Frankreich, im Frankreich des ancien regime, wo die gesellschaftlichen Zustände, und speziell die Lage der Bauern, derart elend waren, daß es ab 1787 zu schwersten Bauernaufständen kam und 1789 zu einer Revolution, die die Welt erschütterte. Wer hätte das weniger vergessen können als der Revolutionär und Dichter Büchner? Wenn Büchner immer und immer wieder e n t f r e m d e t e Arbeit darstellt, bedeutet das natürlich nicht, er habe nichts anderes gekannt! Seine Forschungen und vor allem seine dichterische Arbeit sind selbstbestimmte Tätigkeiten hohen Ranges (vgl. etwa den Brief vom 20. 1. 1837); aber was er als realistischer Dichter gezeichnet hat, sind eben keine Idyllen selbstwirtschaftender Bauern in den Vogesen u. ä., sondern das, was ihm auf den Feldern in Hessen wie an den Hängen der Vogesen begegnete: die Not und die entfremdete Arbeit der »Geringsten«, die er geliebt hat wie wenige Dichter, tatkräftig und nicht sentimental, nicht idyllisch verklärend. 28 Armstrong zu Leonce und Lena, S. 76 ff. 188

v Und wie ist »Armut« in dem Werk realisiert und dargestellt, in das uns diese Erinnerungsspur hineinführt? In j e d e r Szene des Woyzeck ist sie, offenkundig oder unterschwellig, gegenwärtig: Sie ist die grundlegende, allem vorausgehende Wirklichkeit, die Voraussetzung der dramatischen Handlung, die Prämisse des tragischen Syllogismus. Ihr entströmt die dumpfe und düstere Atmosphäre, die alles bedeckt und einhüllt. Nie weicht sie, auch nicht für eine Minute, aus dem Bewußtsein der Niedergedrückten und Gehetzten, sie ist der nicht abreißende Strom bitterer Erfahrungen, die nie versiegende Quelle ihrer Ängste und ihrer Panik, der entnervenden und lähmenden Existenzangst, die alle ihre Regungen und Zuckungen, jedes Wort und jede Geste dirigiert. Im folgenden werde ich mich auf typische und prägnante Fälle beschränken, die alle ändern, gleichgelagerten, mitvertreten können, und nicht (nur um stoffliche Vollständigkeit zu demonstrieren) Beleg auf Beleg häufen, ohne daß noch eine Erweiterung der Erkenntnis und Einsicht zustandekäme. 1. Büchner läßt »Armut« von den dramatischen Personen b e r e d e n . Das ist natürlich der einfachste Fall. In H4,5 sagt Woyzeck: »Wir arme Leut. Sehn Sie, Herr Hauptmann, Geld, Geld. Wer kein Geld hat«. (Zu ergänzen ist etwa: »der ist auf dieser Welt verloren und verkauft«.) Das Thema der Tragödie wird angeschlagen. Solche direkten Aussagen sollen sicherstellen, daß keinem Zuschauer entgeht, was der Grund und das Fundament ist. Weitere Belege: Woyzecks »Wir arme Leut!« in H4,4 und sein »Herr Hauptmann, ich bin ein armer Teufel, - und hab sonst nichts [als Marie] auf der Welt« (H2,7). Der »arme Wurm« (das Kind) (H4,5), auch das Kind im »Märchen« (Hl,14), .istein »arm Kind« (hier wie dort in der Bedeutung »miser« und »pauper«). Marie sagt von sich »ich bin nur ein arm Weibsbild« (H4,4) und die Dienstmagd Käthe singt, »lange Kleider spitze Schuh/Die kommen keiner Dienstmagd zu« und »O pfui mein Schatz das war nicht fein./Behalt dei Taler und schlaf allein.« (Hl,17) In einem ganz ändern Ton als dem »Geld, Geld« Woyzecks >klagt< ein Handwerksbursch, »Selbst das Geld geht in Verwesung über.« (H4,ll). Das heißt nun nicht, mit der vom Geld regierten Welt gehe es zuende. Auch >tiefsinniger< monetärer Spekulationen sollte man sich enthalten. Dieser herumziehende, vielleicht arbeitslose Geselle hat keine Inflation zu befürchten. Die Gefahr, die paar Groschen würden in seinem Hosensack verschimmeln, ist gering: Sie schreien »heraus! unter die Leute!«, sie wollen versoffen sein. Der Mann sitzt im Wirtshaus und seine »Seele stinkt nach Brande wein«. Aber auch noch von dieser scheinbaren Sorglosigkeit - der Schnaps muß die Sorgen ersäufen - fällt ein Licht auf die Armut, hinunter auf den Grund.

2. Ungleich wichtiger ist, wie Armut d r a m a t i s c h in die Tat u m g e s e t z t ist. a. Zuerst einige Fälle, wo sie, als der Begriff in der Anschauung, noch auf den ersten oder zweiten Blick erkennbar ist. Auf dem Jahrmarkt (H2,3) singt

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ein »armer« alter Mann (zum Leierkasten), und ein »arm« Kind tanzt: zwei Bettler. *- In H4,4 sehen wir, welchen Eindruck die billigen Ohrringe auf das »arm[e] Weibsbild« machen, die sich in einem »Stück« Spiegel besieht, nicht in einem Spiegel, sondern in einer Spiegelscherbe, die sie irgendwo aufgelesen hat (sie bewundert die »großen Madamen mit ihren Spiegeln von oben bis unten«, hohen Wandspiegeln). Sehr schön sagt F. H. Mautner, Spiegel und Ohrringe »blinken und glitzern durch die graue Armutatmosphäre der Kammer«.29 — In derselben Szene ist das Kind auf einen Stuhl gebettet. » W o y z e c k . Was der Bub schläft. Greif ihm unter's Ärmchen der Stuhl drückt ihn.« Das Kind hat offensichtlich kein Bettchen, keine Wiege. (Woyzeck sagt nicht: »Der Bub ist eingeschlafen, leg ihn in sein Bettchen.«) Ich stelle mir das so vor: Das Kind ist etwa ein Jahr alt (Hl,15), ein Wickelkind, es kann auf der Sitzfläche eines Stuhls abgelegt werden; wenn man den Stuhl mit der Vorderkante an die Wand schiebt, wird durch die Rückenlehne verhindert, daß das Kind, unbeaufsichtigt, herunterrollt (nachts wird es wahrscheinlich in Maries Bett schlafen). In H4,13 schlafen sogar Andres und Woyzeck in e i n e m Bett (was ganz gewöhnlich war; Regieanweisung: »Nachts. Andres und Woyzeck in einem Bett.«) - In H4,4 liefert Woyzeck seiner Frau den Sold ab: »Da is wieder Geld, Marie, die Löhnung und was von mein'm Hauptmann. / M a r i e . Gott vergelt's Franz.« Das Geld vom Hauptmann, ein paar Kreuzer oder Groschen, ist zusätzlich, für Bedienung (eine von Woyzecks Nebentätigkeiten). Das »wieder [...] was« deutet darauf hin, daß ihm der Hauptmann kein Fixum auszahlt; er bezahlt ihn offensichtlich nach Belieben, ist er »gerührt«, wird es mehr, ist er ungehalten, wird es weniger - eine für den Hauptmann recht vorteilhafte Zahlungsweise, ein patriarchalischer Stil der Entlohnung. b. Jetzt drei schwierige Fälle. Man muß das zugrundeliegende Elend als die v e r b o r g e n e U r s a c h e dessen, was auf der Bühne vorgeht, erschließen. Das stellt Anforderungen an die Wahrnehmungsfähigkeit, an die »reflexive Urteilskraft« (nach Kants Begriff: das Schließen von einem Fall auf das zugrundeliegende Gesetz) und an die reproduktive Phantasie des Zuschauers oder Lesers. Bemerkt der Zuschauer (und vor ihm der Regisseur), was hier >Sache< ist, dann übertreffen diese Fälle an suggestiver Kraft alle ändern, er vergißt sie nicht mehr, sie beschäftigen ihn noch lange, nachdem der Vorhang gefallen ist. 1. Woyzeck muß nicht nur seine Arbeitskraft verkaufen, sich im Dienste anderer restlos verausgaben; er ist sogar gezwungen, noch seinen K ö r p e r zu v e r k a u f e n : an ihm wird ein medizinisches (ernährungsphysiologisches) Experiment durchgeführt. Dafür erhält er pro Tag 2 Groschen (H4,8).

29 Wortgewebe, Sinngefüge und »Idee« in Büchners »Woyzeck«. - In: Martens, S. 526. (Auch A. Meier: Georg Büchner: »Woyzeck«. - München 1980, S. 57, weist darauf hin, wie die Armut Marie gegen die >Reize< des Tambourmajors anfällig macht.)

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Das sind nach heutigem Kaufwert etwa 7 Mark.30 Diese Versuche dauern 90 Tage, dann ist er gesundheitlich ruiniert — für 630 Mark! Ein solcher Preis wirft ein Licht auf die Not dessen, der ihn akzeptieren mußte. — » D o k t o r . Ißt sei Erbse? W o y z e c k . Immer ordentlich Herr Doktor. Das Geld für die Menage kriegt mei Frau.« (H4,8) Was mag hier gemeint sein? Das Geld für die »Menage« (Verpflegung, militärischer Ausdruck) wird ein Betrag sein, der den Soldaten mit dem Sold (oder als Bestandteil des Soldes)303 ausbezahlt wird: sie haben sich selbst zu verköstigen (Speisung in der Kaserne, in Kantinen, war in den Dreißigerjahren noch die Ausnahme). Da Woyzeck auf Kosten des Doktors seit drei Monaten ausschließlich mit Erbsen gefüttert wird, braucht er für »Menage« nichts auszugeben, und somit kann er auch diese Groschen dafür aufwenden, das Kind und Marie über Wasser zu halten. Nur auf den Sold gestellt, würden sie unter das Existenzminimum sinken.31 Das kann man mit Gewißheit erschließen; denn wenn der Sold und geringe Nebeneinnahmen auch nur die minimalen Bedürfnisse knapp decken würden, hätte er sich nicht für diese wissenschaftliche Folterung hergegeben. Das geschieht schließlich nicht aus »Dumpfheit« (dumpf wäre eine solche Annahme), sondern nur in äußerster Not, nicht um selbst durchzukommen (dafür würde sein Sold ausreichen), sondern um Marie und vor allem das Kind durchzubringen. Seine Belastung muß sich seit etwa einem Jahr, seit der Geburt des Kindes, merklich verschärft haben. Diese Sorge um das Kind ist sein erster Beweggrund, solche Lasten und Entwürdigungen auf sich zu nehmen. 2. In der Testamentsszene (H4,17) sehen wir Woyzeck seine Habseligkeiten verteilen: »Das Kamisolche Andres, ist nit zur Montur, du kannst's brauche Andres. Das Kreuz is meiner Schwester [...].«

30 Siehe Anmerkung 31. 30a W. B. Armstrong: Das Experiment ermögliche Woyzeck auch, »das Geld zu sparen, das die Armee ihm für seine täglichen Rationen gibt: >Das Geld für die Menage kriegt meine Frau.Arbeit< erscheint im Themenverzeichnis von Schlicks Bibliographie nicht. Bei der Durchsicht der Aufstellungen in Schlicks Bibliographie und in denen von Klaus-Dietrich Petersen, >Georg Büchner-Bibliographie«, >Philobiblonlm Himmel donnern helfenWortindex zu Georg Büchner: Dichtungen und Übersetzungen« (Berlin: de Gmyter 1970), S. 25. GefrhardJ Janckes Buch »Georg Büchner: Genese und Aktualität seines Werkes« (Kronberg/Ts.: Scriptor Verlag 1975); erwähnt auch Arbeit in Büchners Schriften. Jancke ist jedoch in erster Linie daran interessiert aufzuzeigen, wie Handlungen und Behauptungen bestimmter Figuren Büchners mit vielfältigen Aspekten der marxistischen sozioökonomischen Theorie zu fassen sind. Deshalb widmet er der Bestimmung dessen, wie Büchner selbst Arbeit darstellte, wenig Aufmerksamkeit.« (S. 98, Anm. 4) Der Logik des Schlußsatzes - »deshalb« - kann ich nicht folgen, wie ich eingestehen muß. Das Interesse am Marxismus sollte doch kein Hindernis sein, der Wirklichkeit »Arbeit« in den Werken Büchners die verdiente Aufmerksamkeit zuzuwenden. Armstrongs Abhandlung gehört nach meinem Urteil zum besten, was über eine soziale Realität in den Dichtungen Büchners vorgelegt wurde; es handelt sich in der Hauptsache um eine nüchtern abwägende und kritische Sichtung der Hauptstellen über »Arbeit« und »Muße« (die Armstrong »Kategorien« nennt) vom Hessischen Landboten bis zum Woyzeck. Die unerläßliche Methode, die Stellen zu sichten, wo von »Arbeit« die Rede ist oder von ihr berichtet wird oder wo sie auf der Bühne direkt vorgeführt wird, hat aber dort ihre Grenze, wo Arbeit wie im Woyzeck die g r u n d l e g e n d e Wirklichkeit und unausgesetzt gegenwärtig ist — im Gegensatz etwa zu Leonce und Lena, wo man sicher sein kann, das Wesentliche über »Arbeit« in diesem Werk zu erfassen, wenn man Stellen wie die Aufstellung der Bauern zwecks Vivat-Schreien HI/2 ins Visier nimmt. Im Woyzeck steht es anders damit, Status und Verfassung von »Arbeit« in diesem Werk sind etwas qualitativ Neues, sie liegt nicht auf derselben Ebene wie in Dantons Tod, Lenz, Leonce und Lena. Gerade weil »Arbeit« im Woyzeck Fundament ist, ist sie in der Hauptmasse untergründig. Im Verhältnis zu ihrer Bedeutung kann sie nur >ungenügend Versuchstier - über die von der Selbsterhaltung gezogene Grenzlinie gedrängt, und das alles, wie natürlich, auch ohne voraussehendes Bewußtsein seiner Bedränger. Jedenfalls für den Hauptmann könnte das uneingeschränkt gelten, der Doktor allerdings nimmt Woyzecks Erkrankung nicht nur »billigend in Kauf«, sie ist ein Element seines Experiments, denn er will einen physiologischen Grenzwert bestimmen. — Wie Woyzeck nicht als Individuum, sondern bloß als Sache gilt, als »Nummer«, wird auch an der >Identität< ersichtlich, die er in der Testamentsszene H4,17 von einem Papier (G. Baumann: Legitimationspapier; F. H. Mautner: militärisches Personaldokument) abliest (mit »markierten Pausen«, wie G. Baumann wohl zurecht annimmt): »Friedrich Johann Franz Woyzeck, geschworner Füsilier im 2. Regiment, 2. Bataillon, 4. Compagnie, geb. [...] Maria Verkündigung, ich bin heut alt 30 Jahr, 7 Monat und 12 Tage.« Er hat nachgerechnet, mit dem Leben abgeschlossen und wirft noch einmal einen sich vergewissernden Blick auf das, was er offiziell, für seine Herren gewesen ist, ein Soldat, den man da und da hinstellt, der dem und dem Truppenteil zugeteilt ist usw. Und welche >Identitäten< stehen ihm noch bevor? »Mörder«, »Inquisit«, »Delinquent« und »Kadaver« in der Anatomie. Die »Nummer« wird durchgestrichen.

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Diktum formuliert hat »propter vitam vivendi perdere causas«42 (um die Mittel des Lebens zu erwerben, die Zwecke des Lebens verlieren [verlieren müssen]). Das ist der »Mord durch Arbeit«, von dem ein Sansculotte in Dantons Tod (1/2) sagt: »Unser Leben ist der Mord durch Arbeit, wir hängen sechzig Jahre lang am Strick und zappeln, aber wir werden uns losschneiden.« Dieser Strick ist das Zugseil, das sie erwürgt wie ein Galgenstrick, nur langsam, unauffällig. Das Extrem entfremdeter Arbeit im Woyzeck ist der Menschen versuch: Woyzeck wird nicht nur als Zugtier, er wird auch noch als Versuchstier verwertet. Das ist der Typ Verwertung, der auch in so offenherzigen Ausdrükken wie »Menschenmaterial« oder »Kanonenfutter«43 angezeigt wird; eine Verwertung, deren letzte (?) Konsequenz das KZ ist: über Eingangstoren zu diesen Höllen stand »Arbeit macht frei«44, im Innern Arbeitsmord, Mordarbeit (»Vernichtung durch Arbeit«, Himmler), und der Ausgang Gaskammern und Verbrennungsöfen. Büchner stellt — erstmals in der Geschichte der Tragödie überhaupt45 im Woyzeck Arbeit als Arbeit dar, als brutales Faktum, »Maloche«, und als die Grundtatsache von Woyzecks Leben. Woyzeck selbst hat ein Bewußtsein, wie sie sein Leben durch und durch bestimmt und aufzehrt. Als er in H4,4 auf der Stirn des schlafenden Kindes Schweißperlen bemerkt, seufzt er: »Alles Arbeit unter der Sonn, sogar Schweiß im Schlaf. Wir arme Leut!« Und in H4,5 befürchtet er, diese Fron werde sich noch im Jenseits fortsetzen, wo er und seinesgleichen donnern müßten. Woyzeck ist Soldat und Gelegenheitsarbeiter: 1. Als Soldat hat er einen langen, durch Vorschriften streng geregelten Tagesablauf. In H4,10 sehen wir ihn Wache schieben, in H4,2 zum Appell rennen, in H4,4, einer Szene, in der vieles darauf ankäme, daß er bleiben könnte, hören wir wieder wie in H4,2 sein »Ich muß fort«, die Pflicht ruft, der Dienst reißt ihn weg und heraus. 42 Saturae 8,84. — Jancke: In der Predigt der Handwerksburschen komme verdreht die »Wahrheit der kapitalistischen Gesellschaft« zum Vorschein, in der (für die Lohnarbeiter) »die Arbeit nicht mehr dem Leben, sondern das Leben der Arbeit dient« (Georg Büchner, S. 273). Das dürfte eine der Aussagen sein, die Armstrong in seiner Kritik Janckes im Blick hatte (s. o. Anm. 37). Armstrong seinerseits bemerkt zu diesem Zusammenhang naiv: »In Woyzeck wird die Gleichsetzung von Leben Und Arbeit nicht als eine abstrakte Wahrheit [!] hingestellt, die für alle Leute gilt.« (»Arbeit« und »Muße«, S. 75) »Alle Leute« sind eben nicht nur nach Marx, auch nach Büchner — gespalten in die »große Klasse«, der es >bestimmt< ist, lebenslänglich zu schuften, und in jene glückliche Minorität, happy few, die das keineswegs nötig hat. 43 Diesen Ausdruck gebraucht schon Shakespeare (Heinrich IV., 1. Teil IV/2). 44 Und nicht »Laßt alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet« wie über dem Tor zur Hölle bei Dante. Im Vorübergehen: Dort steht auch, diesen Eingang habe die Allmacht, Weisheit und die Liebe Gottes aufgerichtet. Vermutlich muß man theologisch sehr geschult sein, um in den ewigen Qualen Taten der ewigen Liebe zu erkennen. 45 Daß Arbeit überhaupt auf der Bühne, direkt oder indirekt, dargestellt wird, ist bis heute eine große Seltenheit geblieben. Das kann nicht nur dramaturgische Gründe haben.

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2. Nebenher ist er noch Bediensteter seines Hauptmanns, rasiert ihn usf., in Hl,8 geht er ihm Wein holen. 3. Er schneidet, zusammen mit seinem Kameraden Andres, Stöcke in einem Gebüsch, draußen vor der Stadt (H4,l). Was es mit diesen Stöcken auf sich hat, ist nicht ganz klar; sicher aber ist, daß er damit zusätzlich ein paar Groschen verdient. 4. Und ebenso gewiß ist, daß er hinter den Kulissen noch eine Reihe weiterer Arbeiten und Dienstleistungen verrichtet, bevor wir ihn jeweils wieder auftauchen sehen - immer in Eile. 5. Er dient dem Doktor als Versuchskaninchen, sowie als Demonstrationsobjekt in der Vorlesung, die der Professor und der Doktor gemeinsam abhalten (H3,l). Dort präsentiert ihn der Doktor den Studenten als »interessanten casus« (so nennt er ihn H4,8); denn nach neunzigtägiger Erbsendiät beginnt Woyzeck höchst interessante Krankheitssymptome zu produzieren. In H2,6 fängt er noch als Gehilfe des Doktors Frösche, Süßwasserpolypen und andere Versuchstiere. 6. Ich behaupte sogar, daß er selbst noch nach seinem Tod — er wird geköpft werden - dazu ausersehen ist, der Wissenschaft weitere Dienste zu leisten: als Leiche auf dem Seziertisch der Anatomie46 (wie er ja schon, noch lebend, den Studenten vorgeführt wurde). Man kann sagen: Dieser Mann wird restlos verwertet. Wie wir gesehen haben, was »Existenzminimum« besagt, so wird uns jetzt gegenständlich klar, was der Begriff »Ware Arbeitskraft«47 beinhaltet. Woyzeck führt ein sklavenähnliches Dasein und seine schon reflexartigen Bewegungen und Reaktionen nähern sich dem Ideal der Knechtung, dem Roboter und Automaten oder den Marionetten48, die nicht umsonst in Büchners Werken eine so 46 Wie eine solche Vorstellung tatsächlich im Blickfeld von Büchners Phantasie steht - Büchner war Anatom und sah gewiß nicht nur Foeten in Spiritusgläsern —, kann man in H2,7 erkennen, wo der Doktor von einer im siebten Monat schwangeren Frau prognostiziert, sie werde in vier Wochen tot sein: »In 4 Wochen, dummes Tier, sie gibt ein interessants Präparat.« Woyzeck nennt er H4,8 analog einen »interessanten Casus«, und dem »dummen Tier« entspricht »Bestie« in H3,l. - In der Quelle wird die Leiche in die Anatomie eingeliefert und von Prosector D. Bock seziert (Clarus, I, 537), wie es bei Hingerichteten und Mittellosen, für deren Beerdigung niemand aufkam, üblich war (und vielleicht noch ist). Warum sollte sein Körper, der im Leben zu Versuchszwecken diente, als Leiche nicht als »Präparat« dienen? Glaubt man, daß hier an irgendeinem Punkt die Logik der Ausbeutung durch Pietät oder ein Menschenrecht wie das habeas corpus unterbrochen werden könnte? 47 Armstrong: »Sein Dasein ist in der Tat die Ware, die er dem Doktor verkauft.« (a. a. O., S. 74); der Prostitution verwandt, in der der Körper »zur Ware gemacht« werde (über Dantons Tod, a. a. O., S. 87). 48 Hier kein romantisches Cliche, sondern eine Metapher für eine klassenbedingte psychische Mechanisierung - im Fall Woyzeck und Andres die Reduktion und Mechanisierung zur Ware Arbeitskraft - und gegensätzlich, im Fall des Hauptmanns die Entleerung und Automatisierung durch den Müßiggang, die Langweile und die leeren Konventionen einer historisch schon überständigen herrschenden Klasse - im Doktor eine psychische Vereisung und Mechanisierung, wie sie dem mechanistischen Begriff von Wissenschaft entspricht, die auch den Menschen, den Versuchsmenschen Woyzeck, aber auch, humoristisch verkleidet, den

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große Rolle spielen. Die Bildung solcher Extreme49 ist meiner Ansicht nach charakteristisch für Büchners Phantasie: Er bringt durch ein solches Verfahren mit geradezu anatomischer Schärfe auf den Begriff, was sonst im Bereich des >Normalen< diffus oder verdeckt bleibt. Dieser Begriff ist »Ausbeutung«. Das Leben als Versuchstier ist nur die grelle und spektakuläre Erscheinung der entfremdeten Arbeit überhaupt, die sonst für uns eingehüllt ist in den Schein des Normalen, Natürlichen, dessen, was einmal so ist und gar nicht anders sein kann. Diese zusätzlichen Arbeiten muß der Füsilier während oder außerhalb seiner Dienstzeit in knappen Fristen abwickeln. Er ist fortwährend in Zeitnot, muß sich »zerreissen«.50 Wenn man von Woyzeck sagt, er habe keine Zeit, Hauptmann, betrachtet und behandelt als eine »res extensa« (im Sinn einer brutalisierten cartesianischen Metaphysik). Die Marionetten sind Figuren der Entfremdung, die Büchner der romantischen Tradition entnimmt und umfunktioniert (vgl. die gegensätzliche Deutung in Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater) zu poetischen Chiffren der ausgetriebenen Subjektivität, des vereitelten Selbstseins, des reibungslosen fremdbestimmten Funktionierens. Aus der Perspektive »Ware Arbeitskraft«, der sich die Marionettenmetapher bei Büchner dort annähert, wo sie als Zeiger auf die psychische Verfassung der »großen Klasse« eingesetzt ist, liegt in der Fortentwicklung dieser nicht mehr romantischen Figur der Roboter, die menschenähnliche Maschine, dieses Ideal der Ausbeutung, dessen Arbeitsleistung durch keine physischen Grenzen eingeschränkt ist, der keine Lohnkosten verursacht und nicht streikt oder revoltiert — allerdings auch mit dem Manko behaftet ist, nicht als Käufer auf dem Markt zu erscheinen. 49 Eine eindrucksvolle Formulierung bei R. Kreis: Dieses Drama zeige »die letzte Phase der Degradation eines Leibeigenen zum Nullpunkt« und synchron das »frühe Werden« des Kindes Christian: »der paranoische Woyzeck-Zirkel beginnt sich in dem verwahrlost auf der Straße zurückgelassenen Kind [H3,2] aufs neue zu drehen!« (Die verborgene Geschichte dos Kindes in der deutschen Literatur. - Stuttgart 1980, S. 135). 50 Woyzeck hetzt »sich« nicht, er wird gehetzt. Er hat nicht ein »gehetztes Wesen«, diese Hetze ist nicht »Konstitution«, »Veranlagung«, nicht »Natur«, sondern Unterdrückung = »gesellschaftlich«. Schon in dem gewiß unauffälligen Ausdruck »sich abhetzen« steckt ein erster Ansatz zur Verschleierung: die Verursacher der Hetze gleiten (durch dieses »sich«) aus dem Blickfeld. Der Scheinableitung »Natur« benachbart und zweckgleich ist ihr scheinbarer Gegensatz »Freiheit«: die Hetze wird dem Gehetzten ins Gewissen hineingeschoben, ist »seine eigene Schuld« (in H4,5 stellt sie der Hauptmann als Folge der Sünde, als Ausdruck des Sündenbewußtseins hin, Woyzeck treibe das schlechte Gewissen um, er habe ein Kind in die Welt gesetzt ohne den Segen der Kirche), d. h. die Hetze wird hingestellt als moralischer Defekt: die Opfer haben es sich mithin selbst zuzuschreiben. Diese »Natur« und diese »Freiheit« sind Grundfiguren ideologischer Verkehrung. Dieses Gehetztwerden ist eine Texttatsache von grundlegender und kaum zu überschätzender Bedeutung. Aus dieser Tatsache kann man einen sicheren Schluß ziehen auf das, was sich h i n t e r der B ü h n e a b s p i e l e n m u ß . Die Hetze, die wir mitansehen, kommt natürlich nicht von dem >bißchen Rasierenangeschossenangeschossen< kommt und am Szenenende erneut »ausgreift«. Aber was ist das für ein Unterschied! Woyzeck keucht unter seiner Arbeitslast; das Keuchen des Hauptmanns hingegen rührt von seiner Verfettung her, wie aus der Diagnose hervorgeht, die ihm der Doktor ins Gesicht sagt: »aufgedunsen, fett, dicker Hals, apoplektische Konstitution« — ein mageres und ein fettes Keuchen: die Klassen. Der gemächliche Hauptmann, faktisch einer der Verursacher von Woyzecks Hetze, sieht solche Umtriebe nicht gern; immer wieder fordert er den Gejagten auf, doch langsam zu machen: »renn nicht so; langsam hübsch langsam die Straße hinunter« (H4,5). Man hat nicht den Eindruck, das sei Zynismus; es ist Blindheit. — Nur scheinbar geringer ist in Hinsicht auf Zeit der Gegensatz zwischen Woyzeck und seinem anderen Herrn, dem geschäftigen, immer »pressierten« Doktor (vgl. H2,7 und H4,9 den Hauptmann über das Tempo des Doktors). Ende H2,7 rennt der Doktor Woyzeck nach, »(schießt ihm nach)«, um an seinem Versuchsmenschen eben aufgetretene höchst interessante Psychosesymptome zu beobachten. Die Panik Woyzecks ihm die Zeit knapp werde, um seine Familie zu ernähren: »la vittima Woyzeck corre perche gli manca il tempo materiale per tener dietro a tutte le incombenze ehe costituiscono per lui addirittura la premessa necessaria per la stessa sopravvivenza della sua illegittima famiglia« (Segni apocalittici e critica delle ideologic nel Woyzeck dt Büchner. - In: Annali. Studi tedeschi, Napoli 19 [1976], H. 2, S. 163). 51 Anders Armstrong, vgl. Anm. 67. 52 Gleicht in Tempo und Perspektive einer Filmeinstellung, man könnte etwa an Chaplins Modern Times denken.

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und der pressierte Eifer des Doktors kommen dem phlegmatischen Hauptmann gleicherweise »grotesk« vor. Dieses Urteil »identisch« ist denkbar oberflächlich. Hier liegt die Differenz nicht in der Geschwindigkeit, sondern im A n t r i e b : mögen sich beide - gelegentlich, zu diesem Zeitpunkt — mit der gleichen Geschwindigkeit fortbewegen, w a s sie bewegt, ist, wie gesagt, der Gegensatz der Gegensätze, der zwischen Verfolger und Verfolgtem. Zeitdruck wird wie eine die Seele zusammenpressende Bedrohung empfunden. Seine entnervende, krankmachende Wirkung ist keine spezifisch proletarische Erfahrung, sie gehört zu den wenigen Martern, die wir dem Gejagten aus eigenem Erleben nachfühlen können (im Gegensatz etwa zur »Maloche« und der Marter des Menschenversuchs). »Zeitdruck« ist ein verschleiernder Ausdruck: Was Woyzeck drückt, ist nicht »die Zeit«, sondern die Herrschaft, genauer die Arbeitsüberlastung, die ihm seine Herren diktieren und aufbürden.53 Sie treiben ihn an, setzen ihn unter Druck, scheuchen und jagen ihn, auch ungeplant und ohne Vorsatz, sie tun instinktiv das >RichtigeWoyzeck< ausgeführt, nichtsdestoweniger stark impliziert wird) heißt arbeiten vergewaltigt werden.« (S. 73) Diese Behauptung ist mir unverständlich: natürlich nicht das »stark impliziert«, unverständlich ist mir, daß ein solcher Zusammenhang nicht deutlich ausgeführt sein soll. Dieser Zusammenhang ist der nervus rerum, der Zweck dieser Gesellschaftsordnung, die Ausbeutung, die durch Repression (Vergewaltigung) sichergestellt wird (s. S. 170 ff., 194). 68 Vom Regisseur und Schauspieler wünsche ich mir, daß sie zum Text ein Verhältnis einnehmen wie ein gewissenhafter Musiker zur Partitur. Ihre Arbeit ist nicht weniger als die des Philologen Deutung, Textauslegung; sie ist es in einem anderen Medium. Beide Arbeiten treffen sich in dem Ziel, die Intention des Dichters, den gemeinten Sinn, herauszubringen. Ein wahrer Schauspieler legt uns eine »Stelle« aus, daß es auch denen, die den Text gründlich studiert haben, wie Schuppen von den Augen fällt. Der Gegensatz einer solchen Theaterarbeit ist die »Verpackung«, die den Text als »Vorlage« benutzt,-mit Lust darin herumstreicht, willkürlich ändert und ihn mit sog. Regieeinfällen aufpulvert; im Gegensatz zur freilegenden Arbeit des Deutens (die man der eines Archäologen vergleichen kann) dürfte

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6. Es gibt noch ein wirkungsvolleres Verfahren, wenn auch nicht auf der theatralischen Ebene wirkungsvoller. Büchner deckt A u s w i r k u n g e n der Arbeitshetze und -Überlastung an S y m p t o m e n auf. Arbeit ist nicht nur gegenwärtig in den Szenen, die Arbeitsprozesse vorführen oder voraussetzen. Sie ist - wie Armut - u n a u s g e s e t z t gegenwärtig: in den nicht abklingenden Nachwirkungen, vor allem den psychischen. Diese Nachwirkungen nimmt man nicht auf der Oberfläche des dramatischen Vorgangs (als Bestandteil der >actionproletarische< vorgegaukelt wird« (a. a. O., s. Anm. 49, S. 136). Das scheint mir eine in sich widersprüchliche Utopie (verkenn ist dieses »holen«), aber in der Kritik des hysterisch-destruktiven Gestikulierens, das proletarische Existenzbedrückung vorstellen soll, trifft es. - Vor mir liegt ein Widerspruch anderer, amüsanter Natur, das (ausgezeichnete) Programmheft der Bayerischen Staatsoper zum Wozzeck Alban Bergs, München 1982: innen - feinstes Hochglanzpapier; der Umschlag - von wegen »Armut« - Packpapier, natürlich feinste Imitation. 69 Ich vermute, diese im Woyzeck - verglichen mit der frontalen Rhetorik und Theatralik in Dantons Tod — weit entwickelte Kunst indirekter Darstellung ist an Shakespeare geschult, vor allem an der untheatralischen Symptomatik von Verzweiflung im Spätwerk, die mit ihrer konventionellen theatralischen Darstellung einhergeht. Wie Woyzecks Verzweiflung H2,7 zur Erscheinung gebracht ist, etwa dieses abgelenkte-ablenkende »schön Wetter«, das scheint mir ein Echo Shakespeares (das »Ja und Nein« in diesen Sätzen ist ein Zitat aus Lear V/6). Zweck (in einem nichtinstrumentellen Sinn) einer solchen diskreten Darstellungsmethode ist es, die psychische R e a l i t ä t Verzweiflung vorzustellen, die weit abweicht von den theatralischen Konventionen, die »Verzweiflung« vorstellen sollen. Das eine steht von dem ändern so weit ab wie das Erscheinungsbild einer Psychose von dem pittoresken »Theaterwahnsinn«. Was ich hier zur dramatischen Realisierung von Verzweiflung andeute, ergänzt, was über indirekte Darstellung von Armut und von Arbeit ausgeführt ist. Hier wie dort verhält sich die theatralische Demonstration zu diesen diskreten dramatischen Realisierungen wie das Wasser in Seen und Flüssen (Oberflächenwasser) zum Grundwasser. Im Vorübergehen: Vor allem zwei moderne Denker haben das Problem »indirekte Mitteilung« immer wieder durchdacht: Kierkegaard und Nietzsche. Der Blick auf die indirekte Darstellung von Verzweiflung bei Shakespeare ist mindestens in Kierkegaards Krankheit zum Tode ein Element (Hauptblickrichtung ist die sokratische Maeutik und dann der »Mittler« in der christlichen Theologie sowie der damit zusammenhängende Begriff »Vermittlung« in der Hegeischen Logik); aber auch ein Aphorismus wie der 98te der fröhlichen Wissenschaft (Zum Ruhme Shakespeares) über Brutus und Momente indirekter Selbstdarstellung Shakespeares im Julius Caesar deutet in diese Richtung. 213

die auf weite Distanz hin sichtbar und auf den ersten Blick >erkennbar< sind. Solche Stereotypen rufen im Zuschauer konventionelle Reaktionen ab. Anders diese Symptome einer seelischen Verstörung und Verödung durch entfremdete Arbeit. Sie verlangen vom Zuschauer eine logische Anstrengung, nämlich die des Rückschließens. Er muß seine »reflektierende Urteilskraft«70 betätigen. Diese Denkbewegung ist eng verwandt mit der Wahrnehmungsschärfe und den fliegenden diagnostischen Schlüssen von (latenten, diffusen) Symptomen auf die Krankheit oder den kriminalistischen von einer zufälligen, kaum wahrnehmbaren Spur auf den möglichen Täter. Erfaßt der Zuschauer den Zeichencharakter solcher Erscheinungen und durch das Symptom hindurch das Bezeichnete, das, was zugrundeliegt (fremdbestimmte Arbeit), dann löst das in ihm aber auch andere als konventionelle Reaktionen aus und führt ihn zu Einsichten — Katharsis ist ein durch emotionale Erschütterungen ausgelöster E r k e n n t n i s v o r g a n g 7 1 —, die in andere Schichten hinabreichen als jene >Erkenntnissedurchhalten< und stehen sogleich neben unserer Leiche wieder auf, als überlebende Zuschauer. Das Unbewußte kennt den Tod nicht. Die höchste Distanz der Vernunft nimmt die diametral entgegengesetzte Haltung ein. Von Einstein wird berichtet, er habe geäußert, seinem Tod sehe er mit Interesse entgegen; ich vermute: als subjektivem Analogen eines Weltuntergangs. Diese äußerste Unerschrockenheit hat vielleicht niemand grandioser ausgesprochen als ein Dichter, dem man sie am wenigsten zutrauen darf: Si fractus inlabatur orbis, / Inpavidum ferient ruinae -Wenn geborsten über ihm der Weltkreis einstürzt, treffen die Trümmer einen Unerschrockenen (Horaz, carm. 3,3 lustum et tenacem).

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ahnung, die panisch übersteigerte Übersetzung des Gefühls der Bedrohung und des Zugnmdegerichtetwerdens durch den Menschenversuch, sondern auch der tägliche unspektakuläre Ruin der permanenten Arbeitshetze, ihrer ewigen Aufregung, übersetzt in die Sprache des Wahns: gehetzt = gejagt = verfolgt. Die »Arbeit« steckt in diesen Symptomen darin wie die »Armut« in jenem Messer... Nicht immer kann man scharf trennen: Was ist 1. noch eine normale Reaktion auf Überforderung und was ist 2. schon »Nervosität«, »zweite Natur«, d. h. gesellschaftlich ausgeprägte Folge permanenter Unterdrückung, und was ist 3. psychotischer Selbstlauf. Die Grenzen sind fließend, und sicher ist, wie das eine das andere verstärkt und steigert. Doch gibt es eine solche Anzahl massiver Psychosesymptome, wie etwa die Halluzinationen, daß an dem Faktum kein Zweifel aufkommen kann. Das N e b e n e i n a n d e r von Arbeit und psychotischem Anfall gleich in der ersten Szene, H4,l, darf man als einen Wink des Dichters auffassen, Arbeit und Psychose miteinander in Beziehung zu bringen. Vom »Mord durch Arbeit« haben wir in Dantons Tod nur gehört — im Woyzeck sehen wir ihn als dramatische Wirklichkeit. IX

Anhang: Skizze des Grundmusters einer metaphysischen Deutung des Woyzeck™: Ich referiere hier nicht in stofflicher Breite eine Strömung der WoyzeckDeutung, die mit ü b e r g e s e l l s c h a f t l i c h e n , auch übernatürlichen Gründen und Urhebern des tragischen Vorgangs rechnet; ich beabsichtige, das zugrundeliegende Muster, seine Struktur und Tendenz, durch zentrale Aussagen der Autoren zu kennzeichnen. Versuche, den sozialen Charakter dieser Tragödie abzuschwächen oder zu negieren, werden bis heute unternommen. Gundolf hat aus der sozialen Tragödie romantische Stimmungskunst machen wollen (wogegen Lukacs heftig protestierte): »Die Gesellschaftsschicht ist im Woyzeck eine Stimmung, wie im Macbeth das Schottland, im Romeo der Süden, im Sturm die Zauberinsel, entledigt aller Zwecke, der Politik, der Moral, ja selbst der Vernunft. Hier wacht nur die Schicksalslandschaft mit ihren Seelenwesen.« Der Woyzeck sei ein »Schicksalsträum aus unterer Sphäre«. K. Vie'tor: Im Woyzeck handle es sich um »die Beschaffenheit der Welt, die ewige Grundartung des Lebens«, das, was durch keine Aktion verändert werden könne.

75 Über Deutungen des Woyzeck als christliches Trauerspiel s. den Antn. 73 genannten Aufsatz.

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B. v. Wiese: »das Tragische wurzelt für Büchner nicht nur in einer ökonomischen Lebensnot, sondern in der Not des Daseins überhaupt. Der >arme< Mensch, das ist der in das Sein gleichsam ausgesetzte Mensch.« Woyzeck ängste sich, seine »Drangst« vor dem »dunklen Geheimnis« des »Seins« sei die » A n g s t vor dem N i c h t s « , vor »namenlosen Dämonen«, »namenlosen Mächten, denen er am Ende erliegt«. F. H. Mautner: Woyzecks »ökonomische Notlage und seine soziale, die Not des Herzens und die des Körpers sind alle nur verschiedenartige Erscheinungsformen des Leidens, dem der Mensch nicht entweichen kann.« W. Martens: Woyzecks Tragödie sei »nun nicht einfach eine soziale Tragödie in dem Sinne, daß Woyzeck nichts als das Opfer seiner Klassenlage, ein Opfer von Ausbeutung und Unterdrückung wäre, so daß die Dichtung sich in ihrer Aussage in sozialer Anklage erschöpfte.« Es handle sich vielmehr um »letzte menschliche Sinnfragen«. Diese Tragödie deute »auf eine Disharmonie des Seins selber«, eine »übergesellschaftliche Heillosigkeit der Weltordnung«. H. Wetzel: Woyzeck sei »Spielball nicht nur der Mächtigen dieser Welt, sondern auch einer überirdischen Gewalt«, er höre »überirdische Stimmen«.76

Ich untersuche und kritisiere im folgenden lediglich den logischen Bau dieses Deutungsmusters, die Konstruktion und Statik, nicht die verschwenderische Fülle der Baumaterialien; speziell möchte ich die Weise prüfen, wie hier Voraussetzungen eingeführt werden. Erstens: Gundolf löst die soziale Wirklichkeit des Woyzeck (»Gesellschaftsschicht«, »untere Sphäre«) in Nebel auf (denn sehr viel dichter dürften »Traum« und »Stimmung« kaum sein). Dieses resolute Verfahren wird nicht beibehalten und »das Gesellschaftliche« doch als vorhanden anerkannt. Aber vielleicht ist es nur ein vorsichtigeres, ermäßigtes Verfahren gleicher Tendenz, wenn es als M a t e r i a l m e t a p h y s i s c h e r A l l e g o r i e n (mit christlicher, existentialistischer, nihilistischer u. a. Färbung) veranschlagt wird? Es wird V o r d e r g r u n d , so als ob der Schluß zulässig und gesichert wäre, Büchner sei ein viel zu bedeutender Dichter, als daß das Soziale (Arbeit, Ausbeutung, Herrschaft) Grund und Fundament seines letzten und größten Werkes sein könnte. Auffällig und ich muß sagen verdächtig sind immer wiederkehrende Insinuationen mit »nicht nur«, »nichts als«, »nun nicht einfach« usf., die mit sanfter Stimme den Leser zu solchem metaphysischen Tief sinn einladen und ihn gleichzeitig leise 76 F. Gundolf: Romantiker, 1930, das Kapitel über Büchner wieder abgedruckt in: Martens, die zitierte Stelle S. 94. S. 97 ist die Rede von einem »vormenschlichen Mächtereich« im Woyzeck. - K. Vietor: Georg Büchner. - Bern 1949, S. 206. - B. v. Wiese: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. - Hamburg 1948, 51961, S. 528, 530-34. - F. H. Mautner (s, Anm. 29), S. 536, - W. Martens: Über Georg Büchners Woyzeck. - In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins (1980/81), S. 151, 153, 155. - H. Wetzel (s. Anm. 9), S. 380, 377. Spekulationen über das Tragische, die ein totales Wissen, wie über eine Verfassung des »Seins« u. dgl., vorspiegeln und mit einem >existentialistischen< Jargon operieren, offensichtlich, um solche Spekulationen als der Existenzphilosophie zugehörig auszugeben, sind von einem ihrer Begründer scharf zurückgewiesen worden: K. Jaspers: Über das Tragische (aus Von der Wahrheit). - München 1952, S. 52 f., 60-62 u. ö. 217

aber streng, zu ermahnen scheinen, doch ja Abstand zu halten gegen die platte Ökonomie und was sie etwa im Gefolge hätte. — Zweitens: Es ist zu vermerken, daß eine gewiß nicht einfache, aber doch berechtigte, ja unabweisbare Forderung bisher unerfüllt geblieben ist: Jenseitige »Mächte« wurden noch in keiner Szene des Textes als wirklich und am Werk nachgewiesen, es sei denn, Wetzel habe damit recht, Woyzeck höre überirdische Stimmen. Ü b e r i r d i s c h e ! Wie Faust in der Osternacht? Man zeige uns, wie etwa die »Grundartung des Lebens« - von der wir blutwenig wissen - in der Testamentsszene dieses Paupers zum Vorschein komme, oder die »Angst vor dem Sein« - die identisch scheint mit der »Angst vor dem Nichts« - in den irdischen Stimmen der psychotischen Anfälle, etwa in H4,l oder H4,12. — Drittens: Durchgängig wird vorausgesetzt, Metaphysik sei an sich »tief«, wie Gesellschaftliches »nur« Vordergrund. Es ist die Frage, ob Anspielungen auf Philosophien selber Philosophie sind - oder sind es die schillernden Mythen des Irrationalismus? Auf letzteres scheinen Ausdrücke (Begriffe möchte ich sie nicht nennen) wie »Schicksalstraum«77, »Spielball überirdischer Gewalten«, »namenlose Mächte« u. dgl. zu deuten. Eine solche Terminologie hat eine Vergangenheit und romantische Quellen; eine Fortsetzung der Aufklärung wird man nicht darin erblicken dürfen. Vielleicht stehen z. B. die »namenlosen Mächte« sogar im Personen Verzeichnis, der Hauptmann und der Doktor als die Repräsentanten des Systems der Herrschaft und Knechtschaft? Das »tief« überträgt eine ästhetische Kategorie in empfehlender Absicht auf das Territorium der Logik. Die Frage ist nicht, ob eine Deutung »tief« ist (»tief« im Sinne von »eindrucksvoll«, »geistreich«, »kühn« oder »spekulativ«); die Frage ist, ob sie den Gegenstand trifft.78 Und nur in dem 77 Bei einem solchen Wort denkt man an Calderons La vida es sueno, Grillparzers Der Traum ein Leben oder Hof mannsthals Der Turm. 78 Diese einfache, doch immer wieder vernachlässigte Unterscheidung das logische Urteil betreffend - a) »von bewundernswerter spekulativer Kraft«, »tief und geistreich« u. ä. und b) »ist es faktisch wahr und logisch richtig?« (Beobachtung und regelrechtes Denken) - liegt einem Brief Freuds an Einstein zugrunde. Einstein hatte zu Freuds 80. Geburtstag geschrieben: »Bis vor kurzem war mir nur die spekulative Kraft Ihrer Gedankengänge sowie der gewaltige Einfluß auf die Weltanschauung der Gegenwart klar geworden, ohne mir über den Wahrheitswert Ihrer Theorien klarwerden zu können.« Darauf antwortet Freud am 3.5.1936: »Ich wußte natürlich immer, daß Sie mich nur >aus Höflichkeit« bewundern, aber von all meinen Behauptungen sehr wenig glauben. Obwohl ich mich oft fragte, was daran eigentlich zu bewundern ist, wenn es nicht wahr ist, das heißt nicht einen hohen Wahrheitsgehalt hat. Nebenbei, meinen Sie nicht, daß man mich viel besser behandelt hätte, wenn meine Lehre einen größeren Prozentsatz von Irrtum und Tollheit in ihre Zusammensetzung aufgenommen hätte? Sie sind um soviel jünger als ich; bis Sie mein Alter erreichen, darf ich hoffen, werden Sie mein Anhänger geworden sein. Da ich's dann nicht erfahren werde, nehme ich jetzt die Befriedigung darüber vorweg (Sie merken, was mir vorschwebt: Im Vorgefühl von solchem Glück genieß ich usw. [Faust, V. 11585 f.]).« — Einsteins kleine logische Unscharfe in diesem Brief scheint mir psychologisch eine Kompromißbildung zweier sich widersprechender Aussagen: a) »ich bewundere Sie« (wie einem Geburtstagsbrief angemessen) und b) »aber vielleicht ist Ihre Theorie gar nicht wahr« (seine durchschimmernde Skep218

Ausmaß, wie sie in das Konkrete eindringt, kann in einem reellen Sinn von »tief« gesprochen werden. Mehr als tief ist dann gründlich. Wo aber stünde geschrieben — da es uns durch Szenenanalyse nicht nachgewiesen wird —, dieser Grund müßte ein metaphysischer oder religiöser und könne kein gesellschaftlicher sein? Es wäre immerhin m ö g l i c h , daß metaphysische Auslegungen des Woyzeck nicht nur nicht tief, sondern nicht einmal oberflächlich sind. »Oberflächlich« setzt voraus, daß der Gegenstand mindestens berührt wird. Sollte aber der Woyzeck tatsächlich eine soziale Tragödie sein in ihrem Kern, nicht nur im »Vordergrund« -, dann gingen >tiefe< metaphysische (oder religiöse) Deutungen einfach an der Sache vorbei. Keinen Augenblick kann man sich als Zuschauer des Woyzeck darüber täuschen, in welcher sozialen Schichtung sich das alles abspielt! Nie erleuchtet der einfache und unreflektierte Schein des »Allgemeinmenschlichen« die Szene, wie in der Iphigenie. Daß es sich in der Iphigenie um »das« Menschliche handelt, übersieht niemand; daß hingegen zwischen Woyzeck, Andres, Marie auf der einen und dem Hauptmann und dem Doktor auf der ändern Seite ein scharfer Trennungsstrich gezogen ist und dieser Strich »Klassen« scheidet, sollte niemand übersehen. Wenn der Sinn des Woyzeck ein übergesellschaftlicher, ein metaphysischer oder religiöser wäre, wie behauptet wird, würde dann ein derart massiver sozialer >Vordergrund< (man vergleiche damit die abstrakte gesellschaftliche Realität in religiösen oder metaphysischen Tragödien wie denen Calderons oder Corneilles), würde dann ein sozial durch und durch konkretisierter >Vordergrund< nicht von diesem meta-physischen Sinn abziehen und ablenken, ja ihn zum Verlöschen bringen, wie ein Medium, das schwer- wenn nicht undurchlässig ist für ein jenseitiges, überirdisches Licht? Wenn der Sinn des Woyzeck ein metaphysischer sein sollte, bestünde diese Tragödie, die Szene für Szene »soziale Szenen« vorführt (nur das Antimärchen dürfte man eventuell als Ausnahme ansehen), dann nicht in der Hauptmasse aus dramatisch »toten Kosten«? Wenn Armut und Arbeit, Ideologie, Militärdisziplin, Herrschaftswissenschaft und Strafverfolgung g r u n d l e g e n d e Texttatsachen sein sollten, dann allerdings würden religiöse oder metaphysische Deutungen der von Büchner (wie ich finde) mit anatomischer Genauigkeit dramatisierten gesellschaftlichen Wirklichkeit aus dem Wege gehen. Der Flug an den »überhimmlischen Ort« (Platon) würde dann seinen Antrieb aus Abwehr und Verdrän-

sis gegen die Psychoanalyse, schön verhüllt in ein Lob »spekulativer Kraft«); wie nun Freud — der letzte, dem ein solches Moment von »Widerstand« entgangen wäre - diesen kleinen logischen Schwächeanfall des großen Physikers sich zunutze macht, darin kann ich nur einen Gipfel des souveränen Humors und der Liebenswürdigkeit erblicken, einer Liebenswürdigkeit, die durchaus nicht ohne Hintergedanken ist. (Vollständiger Abdruck beider Briefe in E. Jones: Leben und Werk Sigmund Freuds, Bd. 3. - Bern und Stuttgart, S. 242 f. Den Satz, der die betreffende logische Unterscheidung enthält, habe ich kursiv hervorgehoben.)

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gung beziehen, aus dem Desinteresse an dem irdischen Schauplatz, auf dem Woyzeck von irdischen Feinden - nicht von »Dämonen« - niedergemacht wird. Wenn dem so wäre, bliebe noch die Frage offen, ob eine solche Ausflucht erfolge aus Abscheu vor den Tätern oder aus Indifferenz gegen das Opfer. E i n e n Vorzug bietet die Auslegung des Woyzeck als soziale Tragödie jedenfalls: Armut, Arbeit, Wissenschaft im Dienste der Herrschaft usf. sind unbestreitbar Texttatsachen (bliebe auch ihr Rang umstritten); ob aber »Mächte« oder eine »übergesellschaftliche Heillosigkeit der Weltordnung« Texttatsachen sind, ist problematisch. Wenn jemand erklären sollte, er fände keinen »sozialen Faktor« »Herrschaftswissenschaft« im Text, so kann man ihm die Szenen H4,8, H2,7 und H3,l vor Augen halten; wenn jedoch einer erklären sollte, weder die »Disharmonie des Seins« noch die »Angst vor dem Nichts« fände er im Text, welche Szenen hat er sich dann vor Augen zu führen? Die häufig zu hörende Antwort, er habe den »Fatalismusbrief« zu lesen, ist nicht zur Sache. Soll etwa die Deutung nicht nur von Dantons Tod, sondern auch noch die des Woyzeck aus einem Brief bezogen werden? Aus einem Brief, der im März 1834 geschrieben wurde? Was würde man sagen, wenn die These »soziale Tragödie« für den Woyzeck gegründet würde auf den Brief an Gutzkow 1836 aus Straßburg (II, 455), der immerhin geschrieben wurde, als Büchner bereits am Woyzeck arbeitete? Ein solches Verfahren ist unzulässig. Die Deutung eines Textes kann nicht bezogen (importiert), sie kann nur aus dem Gegenstand entwickelt werden, und Gegenstand ist der Text, dort der von Dantons Tod, hier der des Woyzeck.

X Wie steht es um die Gegenposition, die Deutung des Woyzeck als soziale Tragödie in der Sekundärliteratur? Auch in diesem Fall beschränke ich mich auf einen methodischen Einwand: den fast durchwegs zu geringen Grad der Konkretion. G. Lukacs: Büchner habe »die physische und ideologische Hilflosigkeit Woyzecks gegen seine Unterdrücker und Ausbeuter«, »eine reale gesellschaftliche Hilflosigkeit« »gestaltet« und in dem »ausgelieferten, ausgebeuteten, ruhelos hin und her gejagten, von jedem getretenen Woyzeck, die großartigste Gestalt des damaligen >Armen< in Deutschland« geschaffen.79 79 Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner (1937), wieder abgedruckt in: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten (= Werke VII). - Neuwied und Berlin 1964, S. 265 f. - Das ist praktisch alles. Daß der Marxist Lukacs mit ein paar allgemeinen Bemerkungen - in einem Abschnitt von l l/2 Seiten - über die größte soziale Tragödie der deutschen Literatur hinweggleitet, ist mehr als auffällig. Es fehlt nicht nur an Philologie, der Untersuchung des Textes. Der Aufsatz ist zur Zeit der Moskauer Schauprozesse geschrieben. 220

H. Mayer: »Was treibt Woyzeck ins Verbrechen? [...] Mit aller Schonungslosigkeit und Helligkeit [...] antwortet das Drama, indem sein Held die Antwort gleichsam vorlebt: die Armut, die >Umstände< seines materiellen Lebens treiben jenen Woyzeck in die Umdüsterung, in die Auflösung seiner Bindung zur Umwelt, ins Verbrechen.« Das Verbrechen werde »aus der gesellschaftlichen Lage erklärt«. Aber: »Es handeln doch nicht alle Menschen in der gleichen Lage wie Woyzeck. Der Weg führt zurück ins Dunkel. Über dem ganzen Werk könnte als Motto der Aufschrei Woyzecks stehen: >Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.< « »Es bleibt der >gräßliche Fatalismus der Geschichten Auf die dreimal gestellte Frage nach der Möglichkeit, ihn zu überwinden, hat Georg Büchner auch im Woyzeck keine andere Antwort gefunden als das Mitleiden des Dichters mit seinem Geschöpf.«80 W. R. Lehmann: »Woyzecks Paranoia, seine Halluzinationen und Phantasmagorien, seine Selbst- und Weltentfremdung, all das ist nicht n u r , aber auch das Ergebnis einer planmäßigen, wissenschaftlich kalkulierten Verstümmelung seiner Existenz, die im Gesellschaftlichen ihre Ursache hat, so wie die körperlichen Entstellungen, auf die Gerhart Hauptmann in den Regieanmerkungen seiner >Weber< hinweist, ihre Ursache haben in den unmenschlichen Bedingungen der sozialen Arbeitswelt. Es kommt Büchner [in H2, H3 und, weiter gesteigert, in H4] ersichtlich darauf an, die physischen, psychischen und bewußtseinsgeschichtlichen Wirkungen solcher gesellschaft-

Das Schwergewicht liegt auf Dantons Tod. Dantons Tod ist voller Parallelen - Lukacs >übersieht< sie alle. Büchner verurteilt das frame-up St. Justs, das als Prozeß aufgezogene Komplott, die korrupten Richter, das »Amalgam« - und Lukacs erklärt mit eiserner Stirn, St. Just sei eine »Wunschfigur« Büchners! (S. 262) Das ist so wahr, wie Stalin und seine Henkersknechte, wie Wyschinski, Berija und Konsorten, »Wunschfiguren« der »Verdammten dieser Erde« sind. — Völlig anders steht es um den Schlußabschnitt über 1937 zeitgemäße Tendenzen der Germanistik (S. 267-272). Lukacs schlägt das Thema an, das er später in der Zerstörung der Vernunft ausführen wird: die Kritik des Irrationalismus. Er kritisiert die »Umfälschung« des »plebejischen Revolutionärs« Büchner in einen Metaphysiker, Pantragiker, Nihilisten u. ä. und deckt das politische Interesse auf, das hinter solcher Metaphysik steht. Diese Analyse gehört neben dem, was W. Benjamin in dieser Sache vorgebracht hat, zum Aufklärendsten, was gegen die präfaschistische und die faschistische Germanistik geschrieben worden ist. Manches davon ist von unerwünschter Aktualität, mit neuerdings ansteigender Tendenz, fürchte ich. Es ist nicht nötig, daß man dieser von Lukacs geübten Kritik Punkt für Punkt zustimmt; nötig aber ist es, eine solche Kritik zur Selbstprüfung zu studieren. 80 Georg Büchner und seine Zeit [1946], - Berlin 21960, S. 331 f., 337, 338. Nachdem H. Mayer als ein gesellschaftliches >Schicksal< erkannt hat, was Woyzeck erleidet, eines, das Menschen über Menschen verhängen, biegt er, sozusagen im letzten Moment, noch in eine dunkle Metaphysik ab, die das letzte Wort Büchners sein soll (einmal mehr auf den Fatalismusbrief gestützt). Diese Kehre soll erzwungen werden durch einen Schluß: »Es handeln doch nicht alle Menschen in der gleichen Lage wie Woyzeck«, also müsse mit einer übergesellschaftlichen Verursachung gerechnet werden. Diese populärphilosophische Reflexion führt in einen Paralogismus. Wäre ein solcher Schluß zwingend, dann stünde ja das Gebäude der Metaphysik noch! Logisch korrekt ist lediglich die Feststellung, daß nicht in allen Fällen gesellschaftliche Faktoren zum gleichen Resultat führen, d. h. daß eine lineare, monokausale Ableitung nicht ans Ziel kommt; daraus folgt, daß es sich unreine Gleichung mit mehreren Unbekannten handelt und mindestens noch eine weitere Bedingung eingefühlt werden muß: »Natur«, die jeweilige individuelle physische und psychische Konstitution (aber auch diese ist gesellschaftlich zugerichtet!). Es läuft auf den Satz hinaus, daß gleiche Ursachen in verschiedenen Individuen ungleiche Wirkungen hervorbringen, und mündet in die Tautologie, 221

liehen Bedingungen nachzuweisen und mit der Eifersüchte- und Liebestragödie [wie in Hl entworfen] aufs engste zu verbinden [*..].« »Wer sich daran macht, die Halluzinationen der Szene H2,l [...] und der Umarbeitung in H4,l [...] zu interpretieren, und die Deutung sogleich in das Gebiet des Visionär-Metaphysischen dirigiert, der übersieht den Zusammenhang, der zwischen dieser Szene und dem besteht, was wir in anfechtbarer Vereinfachung soziale Thematik genannt haben. Büchner ist weit davon entfernt, >dieses von materiellen Bedürfnißen gequälte Seyn, diese dumpfen Leiden gen Himmel· zu leiten [...]. Das unterscheidet ihn von der Vielzahl seiner Interpreten, deren unmenschliche Arglosigkeit darin besteht, materielle Bedingungen der menschlichen Existenz idealistisch zu ignorieren.«81 B. Ullman erhebt wie Lehmann Einspruch gegen >jenseitige< Regisseure dieser Tragödie wie »das Schicksal«, »das Es«, »das Nichts«; er nennt Woyzeck »Repräsentant und Opfer der Gesellschaft« und deckt auf, wie »Art und Grenze seines geistigen Vermögens von seinem sozialen Ort bestimmt ist«. Besonders überzeugend sind die Nachweise der sozialen Determination auf der Ebene Ideologie, der Lenkung und Desorientierung Woyzecks vor allem durch die herrschende Moral und Sprache. Die höchste Stufe der Konkretion erreicht Ullman in detaillierten Nachweisen, wie Alban Berg in der Oper Wozzeck die sozialen Voraussetzungen der Tragödie (vor allem durch die Technik des Leitmotivs) musikalisch realisiert hat.82

daß Individuen nicht identisch sind. Den Boden von Natur und Gesellschaft zu verlassen und nach jenseitigen Urhebern, einer Verfassung des »Seins« u. dgl. Ausschau zu halten, zwingt uns nichts. Daß Büchner keine andere Antwort als »Mitleid« gefunden habe, könnte man nur dann erwägen, wenn er nach dem Verrat der Organisation um den Hessischen Landboten jede politische Tätigkeit aufgegeben hätte (politische Resignation/Metaphysik/ Mitleid). Das ist eindeutig nicht der Fall. Büchners Praxis und Briefe wie der an Gutzkow 1836 über das materielle Elend und den religiösen Fanatismus als Beschleuniger der Massen und Bedingung revolutionärer Befreiung widerlegen die »Resignationsthese«. 81 Textkrittsche Noten. - Hamburg 1967, S. 54 (das Zitat aus Lenz: I, 84). Diesen Sätzen kann ich weitgehend zustimmen. Lehmann schildert die Entwicklung der Textstufen, die zunehmende gesellschaftliche Fundierung von Hl nach H4. In einzelnen Wendungen glaube ich ein Moment von Defensive zu bemerken. Warum soll »soziale Thematik« eine »anfechtbare Vereinfachung« sein? Es käme auf die Konkretion an. An dem A u s d r u c k könnte man den literarischen Charakter beanstanden, wie an »sozialer Frage«. »Soziale Frage«: so sprechen Außenstehende davon; für die, die Hunger leiden, ist es etwas anderes als eine »Frage«. Und so steht es vielleicht mit der »Thematik« (auch mit Ullmans »sozialkritischer Thematik«). Steht es anders mit dem vielgerühmten »Engagement« (und der überhandnehmenden »Betroffenheit«)? Setzt es nicht jene sichere Distanz voraus, die Lukrez beschrieben hat: den Blick vom Strand hinaus auf das stürmische Meer, wo ein Schiff scheitert (über den Zuschauer in der Tragödie)? — Nirgends bin ich in der Sekundärliteratur auf eine Formulierung gestoßen, die an polemischer Schärfe der »unmenschlichen Arglosigkeit« gleichkäme, die Lehmann den >Metaphysikern< vorwirft, die vor dem Anblick des Geschundenen flugs in jene Höhen entweichen. Wirklich, es verwundert mich sehr, daß darauf keine schwergepanzerten Repliken erfolgt sind. Man wird doch durch solches Stillschweigen nicht andeuten wollen, diese Kritik sei »unter aller Kritik«? Fassen wir es als einen Beweis für den friedfertigen Charakter der >Metaphysiker< auf. 82 Die sozialkritische Thematik im Werk Georg Büchners und ihre Entfaltung im »Woyzeck«. Mit einigen Bemerkungen zu der Oper Alban Bergs. — Stockholm 1972, S. 98 f. (die Summe), S. 87. Vgl. auch B. Ullman: Produktive Rezeption ohne Mißverständnis. - In: Wozzeck. Programmheft der Bayerischen Staatsoper. — München 1982, S. 55-74. — Ullmans Begrifflichkeit ist an Adorno orientiert: »Schuldzusammenhang« statt Herrschafts- und

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A. Meier: »Denken und Handeln werden den Personen des Woyzeck nicht von höheren Mächten verordnet, sondern sind das in sich widersprüchliche Resultat des anarchischen Sozialsystems.«83 W. B. Armstrong: »Die Verbindung von Armut und ständiger, lebensbeherrschender Arbeit ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Woyzeck, denn es ist genau diese Verbindung, die den Zusammenhang zur Unseligkeit herstellt, die den Ton des ganzen Stückes bestimmt. Wie im Falle des grotesken Experiments sind Verzweiflung und Elend, die in Woyzeck aufgezeigt werden, so extrem, daß sie die Grenzen der speziellen Situation, in denen sie sich ereignen, zu überschreiten scheinen. Aus diesem Grund ist es leicht, das Stück als rein existentielle Bestandsaufnahme zu interpretieren, als Abbild der menschlichen Bedingungen, die mit den tatsächlichen Faktoren der sozialen Wirklichkeit nicht verbunden sind.« »Mit diesem Wissen [»... unselig in der und der ändern Welt«] kann man folgern, daß der unausweichliche Zustand, unselig zu sein, wie Woyzeck sagt, wenn nicht völlig, so doch sicherlich weitgehend gleichgesetzt werden kann mit dem Zustand ständiger Arbeit, in dem Woyzeck aufgrund seiner unveränderlichen Stellung in der bestehenden Gesellschaftsordnung leben muß. Daß es für Woyzeck keinen Ausweg aus der Unseligkeit gibt, reflektiert deswegen nicht so sehr eine grundlegende und unveränderliche Tatsache der menschlichen Existenz als die materielle Wirklichkeit des Lebens unter einer unterdrückenden und - aus Woyzecks Perspektive - anscheinend immerwährenden sozialen Ordnung. Jeder Versuch zu behaupten, daß diese Interpretation die Negation der Transzendenz im Antimärchen erklärt, muß an der Tatsache scheitern, daß das Großmutter-Märchen absolut nichts mit Arbeit zu tun hat. Andererseits steht jede Erklärung, die die Verzweiflung in dem Märchen nur in abstrakten, existentiellen Begriffen definiert, insofern auf schwachen Fußen, als sie die vorherrschende konkrete Definition der Ursache der Verzweiflung ignoriert, wie sie in der Darstellung der Arbeit in dem Stück zu finden ist.«84

Der Nachweis, die Tragödie des Füsiliers habe gesellschaftliche Ursachen, macht andere Schwierigkeiten als die Behauptung, sie sei ein »Schicksal«, verhängt von unbegreiflichen »Mächten«. Einige Autoren, die den Woyzeck als soziale Tragödie verstehen, suchen dann doch wieder die Vermittlung mit übergesellschaftlichen Gründen oder Knechtschaftsverhältnisse, »sozialer Ort« statt Klassenlage usw. Nichts oder so gut wie nichts über soziale Haupttatsachen wie Ausbeutung, Arbeitsüberlastung, Menschenversuch. Kein historisches Fundament, Wirtschaft und Gesellschaft um 1830, Büchners Erfahrungshorizont, keine Anschauung der Lage der arbeitenden Klassen und der Deklassierten in der Restaurationsperiode. 83 Georg Büchner: »Woyzeck«. - München 1980, S. 72. - A. Meier bleibt häufig im Bereich solcher Abstraktionen. Mustern wir nur den angefühlten Satz: »Resultat« ist der abstrakteste Ausdruck, der für diesen Sachverhalt überhaupt möglich ist, nicht »Wirkung«, offensichtlich um der Kausalität auszuweichen. »Sozialsystem«, statt Klassengesellschaft; »anarchisch« — welche konkrete historische Charakteristik? »Widersprüchlich« - welche Wirklichkeit, in der Bewegung ist, ist es nicht? Welche Widersprüche? Einzelne Textbeobachtungen Meiers habe ich an Ort und Stelle erwähnt. 84 »Arbeit« und »Muße«, S. 75 L - Armstrongs Leistung habe ich oben (Anm. 37) zu würdigen versucht, wichtige Textbeobachtungen, die er gemacht hat, an Ort und Stelle angeführt und diskutiert.

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Urhebern, den Rückweg in die >MetaphysikMetaphysiker< niederzulassen und (wenn auch vielleicht erst nach einigem Zögern) anzuerkennen, »das Gesellschaftliche« im Woyzeck sei in letzter Instanz allegorisches Material für ein übergesellschaftliches, mit der Existenz »des« Menschen gesetzten Leids, der ewigen conditio humana. An diesem Punkt will ich die Frage logisch justieren. Das Entweder-Oder läßt sich nicht beliebig in der Schwebe halten. Eine »soziale Tragödie«, deren letzter Sinn dann doch ein metaphysischer ist, gibt es nicht und kann es nicht geben. Die meisten Autoren, die den Woyzeck als soziale Tragödie verstehen, bleiben noch weitgehend im Bereich von Abstraktionen und formulieren eher ein Programm, als daß sie den gegenständlichen Nachweis lieferten. Auf den kommt es aber an. So breitet Lukacs eine thesenförmige Gesamterklärung über den Woyzeck aus, nicht e i n e Szene wird untersucht, um darin die gesellschaftliche Mechanik nachzuweisen; Konkretionen fehlen vollständig (im Unterschied zu Mayer, Lehmann, Ullman, Armstrong). Methodisch läßt Lukacs »Gesellschaft« auftreten wie einen Hegeischen Begriff86 - und nicht als polyphone Wirklichkeit, die uns der Text gegenständlich-szenisch vor Augen führt und aus wechselnden Perspektiven beleuchtet, die »Substanz« Unterdrückung, deren »Attribute« durch den Fortgang der Handlung zum 85 Dieses »es ist b e i d e s « wird nicht selten mit überlegenem Gestus eingeführt: Jede der gegensätzlichen Positionen sei »einseitig«, borniert; das »Sowohl als auch« das Wahre und Umfassende, die >SyntheseVermitdung< keine sachliche Arbeit erfordert (sondern bloß die Addition dessen, was die »einseitigen« Arbeiter geleistet haben), ist es im Fall sich ausschließender Gegensätze Unsinn; dieses »Sowohl als auch«, in die Sprache der Logik übersetzt, würde lauten: »entweder und oder«. Solche Synthesen ähneln etwas der Synthese eines Zeitungsschreibers, der es sich mit keiner der beiden Seiten verderben wollte und das Gerücht vom Ableben Mazarins so kommentierte: »Die einen sagen, Kardinal Mazarin sei tot; die ändern, er sei am Leben. Ich glaube weder das eine noch das andere.« Der Unterschied besteht darin, daß unsere Synthetiker sowohl das eine wie das andere glauben. 86 Mit »methodisch« meine ich hier - im Unterschied zum Begriffs-inhalt -, wie mit dem Begriff operiert wird.

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Vorschein gebracht werden: »Arbeitshetze«, »Kadavergehorsam«, »entmenschende Demütigungen«, »Menschenversuch« usf. Das Problem »soziale Tragödie« muß aber (mindestens) auf diese Stufe der Konkretion gebracht werden; denn nur so ist auszumachen, ob Woyzecks Bewußtsein tatsächlich »gesellschaftlich determiniert« wird und wie; konkret: wie er durch Arbeitshetze (wie Lehmann es andeutet) oder den Drill kaputtgemacht und in die psychische Katastrophe — seine Tragödie — hineingetrieben wird. Bleiben detaillierte Nachweise am Text aus, dann bleibt »gesellschaftlich determiniert« die Abstraktion einer materialistischen Metaphysik, die nicht überprüft, sondern immer schon vorausgesetzt und nur gelegentlich flüchtig bebildert wird, wie aus Rücksicht auf noch uneingeweihte oder zurückgebliebene oder schwankende Leser, denen man ein weiteres Mal bildhaft zu wiederholen hat, was an anderer Stelle längst logisch komplett ein für allemal abgeleitet und bewiesen ist. Das ist ein Bluff. In Wirklichkeit ist eine Aufgabe und eine Methode der Forschung heruntergekommen zu einem Dogma, zu einem Bescheidwissen v o r der philologischen Forschung, der Textanalyse, die erst in die Tiefen des Gegenstandes hinabsteigt und in die Einzelheiten eindringt (»der liebe Gott steckt im Detail«, A. Warburg), die Außenstehenden oft genug als nebensächlich vorkommen, die aber für die »Leute vom Bau« die Sache selber sind. Solange »Gesellschaft« eine abstrakte Setzung bleibt, lösen auch illustrative Hinweise das Problem nicht. Auf der Stufe der Abstraktionen kann man g l a u b e n , mit einer »gesellschaftlichen Ableitung« würde es aller Voraussicht nach seine Richtigkeit haben, wenn - wenn sie unternommen würde (statt sie nur anzukündigen oder vorzugeben, sie sei »am ändern Ort« geleistet worden). Plausible Behauptungen bringen noch keine Überzeugung hervor; Gewißheit stellt sich erst ein, wenn wir s e h e n , wie es >funktionierthöheren< Sinns, der über oder hinter dem dramatischen Geschehen oder auch in einem »Abgrund« zu suchen sei, wo das »Sein« west oder das »Nichts« gähnt oder »Mächte« walten oder »Dämonen« spuken, ein Abgrund, von dem man doch nur wissen kann, daß man nicht hinuntersieht auf den Grund, und von dem folglich auch die >Metaphysiker< nicht mehr sagen sollten, als daß er »dunkel« ist.

87 JA Bd. 40, S. 204. Was Goethe »Apercu« nennt, ist der Platonischen Idee verwandt. Das Apercu hat den Charakter des Blitzartigen, »es geht einem plötzlich ein Licht auf«, Begriff und Anschauung sind gleichzeitig, man »sieht« die Lösung, wie Galilei den freien Fall im schwingenden Leuchter; dieser vorwegnehmende Blick auf die Lösung, die dann nachgerechnet wird, ist von einem intensiven Glücksgefühl begleitet. (Daher die mystischen >Erklärungerl· wie >gemütliche< Hauptmann B. Justiz (236) Gerechtigkeit oder Klassenjustiz? — Recht als verfolgende Instanz — Vorspiel: einige unscheinbare Rechtsakte im Text - Ende der gespielten Handlung: die Justiz taucht am Tatort auf - das gerichtliche Nachspiel der Tragödie: Hinrichtung, reale Vorlage: die Hinrichtung des >Mörders< Woyzeck am 27. August 1824 in Leipzig - Welchem Zweck dient eine öffentliche Hinrichtung? - Ist der >Mörder< Woyzeck in Büchners Tragödie »zurechnungsfähig« ? — Bedenken und Urteil — ein Leben als lange Hinrichtung — Recht als maskierte Gewalt — Stellung der Woyzedb-Tragodie in der Tradition der Gerichtsspiele

Militär und Justiz sind, wie die Wissenschaft, die Woyzeck zu einem Versuchstier erniedrigt, Bestandteile eines Systems der Ausbeutung, Unterdrükkung und Entfremdung.1 Der Füsilier und Gelegenheitsarbeiter ist umklammert von Zwängen und eingehüllt von einer Atmosphäre der Einschüchterung, Bedrohung, Demütigung und Irreführung. Es gibt keine herrschaftsfreie Zone in seinem Leben, auch nicht in seiner Liebe zu Marie und dem Kind. Herrschaft erfüllt den Raum dieser Tragödie wie Rauch ein niederes Zimmer, zum Ersticken.. Diese Unterdrückung ist nicht Selbstzweck. Sie ist ein Mittel. Ihr Zweck ist es, das Arbeits- und Versuchstier Woyzeck für seine Herren restlos nutzbar zu machen. Die Organisation dieser Herrschaft ist der Staat, die Regierung, ihr Verwaltungsapparat, die Institutionen Militär, Justiz, die Organe der Strafverfolgung, der Strafvollzug usf. und nicht zuletzt die herrschende Religion und die offizielle Wissenschaft. Im Hessischen Landboten zerlegt Büchner durch Analyse des Staatsbudgets diesen Herrschaftsapparat in seine Bestandteile. Über den Text und wie zitiert wird, siehe S. 167. l Wie ich es S. 170 ff. umrissen habe. 227

Ein solches Räderwerk dreht sich auch im Wöyzeck.2 Was im Hessischen Landboten auf der Ebene des Begriffs durchgeführt ist, ist im dramatischen Medium schwerer faßlich und dennoch konkreter. Wöyzeck wird von diesem Räderwerk zermalmt. Die Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse, die seine Tragödie bewirken, könnte man wie die im Hessischen Landboten beschriebenen mit Greifarmen oder mit einem Getriebe ineinandergreifender Zahnräder vergleichen. In der Quelle Clarus ist das Ineinandergreifen von Wissenschaft (Psychiatrie) und Justiz vorgezeichnet. Der Wöyzeck führt vor, wie das Opfer physisch und psychisch verstümmelt und zugrundegerichtet wird. Zwei Greifarme der Herrschaft, besonders massive, das Militärregiment, dem der Füsilier unterworfen ist, und die Justiz, in deren Hände er als >Mörder< fallen wird, sollen im folgenden näher in Augenschein genommen werden. Das Militär ist in den meisten Szenen, nicht nur in denen, wo der Soldat seinem Vorgesetzten gegenübersteht, eine offene oder verdeckte Wirklichkeit, von dem Trommelwirbel in der ersten Szene (H4,l) bis zu dem Papier, von dem Wöyzeck in der Testamentsszene (H4,17) seine Daten abliest. Die Justiz taucht erst gegen Ende der gespielten Handlung am Horizont auf: Hl,21 stehen »Gerichtsdiener, Barbier, Arzt, Richter« an der Leiche Maries, anzeigend, was dem >MörderWoyzeckverträumten< Garnisonsstadt, eines sich langweilenden und >jovialen< Offiziers oder der >idyllischen< Rasierszene über Zweck und Charakter dieses Militärs täuschen lassen5 — so wenig wie von den gemütlich-biedermeierlichen Soldaten auf Bildern Spitzwegs, in Gedichten Mörikes, in Geschichten Hebels: die heben prüfend zwinkernd das Weinglas und streichen sich den Schnurrbart — und was tun sie außerdem? »Gemütlich ruhen Wald und Fluß, Von sanftem Mondlicht übergössen; Nur manchmal knallts - Ist das ein Schuß? Es ist vielleicht ein Freund, den man erschossen.« (Heine: Im Oktober 1849)6 3 Das ist eine Definition, die an Schärfe und Wucht nicht hinter Shakespeares »Kanonenfutter« zurückbleibt. - Die »gesetzlichen Räuber«, die sich die Gesetze machen und das Recht auf ihre Seite gebracht haben: der Fürst und die Inhaber der Staatsgewalt, der Adel (die »Vornehmen«) sowie die »Reichen« und die »Gelehrten«, die davon profitieren, wie diese Staatsgewalt ausgeübt wird. - »Brüder- und Vatermörder«: als den zum Militär eingezogenen, geworbenen und gepreßten Bauernsöhnen befohlen wurde, auf das Volk zu schießen. 4 Wozu Woyzeck, Andres und ihre Kameraden bestellt sind: Dürfte man die gehäufte TierMetaphorik des Textes fortsetzen, könnte man sagen, sie sind »Wachhunde«. 5 Zweifelt man etwa daran, daß der »biedermeierliche« Hauptmann auf den >Mob< schießen lassen würde? - Aus den Zügen gemütlicher Stagnation, die in den Text eingezeichnet sind, sollte man nicht auf einen gemütlichen Charakter dieses Militärs schließen, sondern lediglich darauf, daß wohl in letzter Zeit kein Anlaß für ein militärisches Eingreifen bestanden hat. Das deutet auf eine Zeit vor 1830. Auch sonst gibt es Indizien im Text, die (von 1836/37 aus gesehen) für eine leichte zeitliche Rückverschiebung sprechen. 6 Aus der übernächsten Strophe können besonders Germanisten manches lernen; dort äußert Heine die Vermutung, der Knall könnte eventuell auch von einem Feuerwerk herrühren, »einem Feuerwerk zur Goethefeier! -« H. Winkler (Georg Büchners »Woyzeck«. - Greifswald 1925, S. 158 f.) meint, der Hauptmann sei der Typ des Offiziers der Biedermeierzeit. Nur müßte er klarstellen, was er unter »Biedermeierzeit« versteht: den Lebensstil? dann gleitet unsere Vorstellung in irreführende Assoziationen ab; oder, was »Biedermeier« politisch war, das System Metternich? Der Unterschied zwischen »Biedermeier« und »Biedermeier« ist so groß wie der zwischen den heiteren Klängen des Radetzkymarsches und dem Terrorregime des Generalfeldmarschalls in Italien und seiner blutigen Rolle in der Niederschlagung der Revolution 1848.

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Einem solchen Zweck entspricht der Charakter dieses Militärregiments. Die Soldaten werden als »unterste Stuf von menschliche Geschlecht« (als das bezeichnet sie der Ausrufer auf dem Jahrmarkt, H2,3) behandelt, als bloße Nummern (in H4,17 liest Woyzeck seine Identität von einem Zettel ab: »Friedrich Johann Franz Woyzeck, geschworner Füsilier im 2. Regiment, 2. Bataillon, 4. Compagnie, geb.« usf.). Bezeichnend ist, wie seine Vorgesetzten mit ihm umspringen, wie sie ihn anfahren und abkanzeln. Der Füsilier hat zu parieren und den Mund zu halten bzw. »Jawohl« zu sagen. Wenn er auch nur im geringsten aus der Rolle fällt und dazu ansetzt, ungefragt und von sich aus zu reden, wird ihm sogleich das Wort abgeschnitten, wie vom Doktor, der ihn H4,8 zusammenstaucht; oder der Vorgesetzte kann gar nicht begreifen, was dem Mann da einfällt, wie es dem Hauptmann ergeht, der H4,5 gleich »konfus« wird, als der Füsilier von seinem gewohnten »Jawohl« abweicht. Woyzeck ist wahrscheinlich kaserniert (Hl,4, H4,13). Sein Tagesablauf zwischen Reveille und Zapfenstreich ist durch Vorschriften bis ins Einzelne geregelt und mechanisiert. Er steht unter dem Druck der Militärdisziplin und unterliegt der abstumpfenden Routine des Dienstes, dem Exerzieren mechanisierter Griffe und Schritte, dem öden Wacheschieben, Antreten zum Appell (»Verles«), vorschriftsmäßigem Salutieren usf. Er ist zugerichtet, seelisch verödet durch den unmenschlichen Drill. Die Soldaten einer Armee diesen Typs werden dressiert, wie ihr Spiegelbild, der als Soldat abgerichtete Affe in Uniform (H2,3), der wiederum vor ihnen salutiert, was sie mit Gelächter quittieren, in dem vielleicht doch ein Funke Selbsterkenntnis aufblitzt. Der feinste Zug in der Darstellung des Militärregiments und der Wirkung des Drills ist der Trommelwirbel in H4,l: Woyzeck erleidet einen schweren psychotischen Anfall, sogar Andres wird davon >angestecktMenschenmaterial< zu willenlosen Werkzeugen zugerichtet, die jedem Befehl blind gehorchen (Kadavergehorsam) — bewußtlose Gliedermänner (machina membrorum, Descartes), die, an Fäden gezogen, die Hacken zusammenschlagen, das Gewehr schultern und auf den >Mob< feuern.8 Diese Mechanisierung durch den Drill — analog der Mechanisierung durch entfremdete Arbeit — ist ein Gipfel der Fremdbestimmung und Entmenschung und eine der Quellen von Woyzecks »Passivität«. Seit langen Jahren ist Woyzeck diesem Militärregiment unterworfen. Der historische Woyzeck war ein deklassierter Perückenmacher (daß er im Drama beim Hauptmann noch die Dienste eines Barbiers verrichtet, ist davon eine Spur), 12 Jahre (von 1806 bis 1818) war er Soldat in verschiedenen Armeen und, abgedankt, Gelegenheitsarbeiter, häufig arbeitslos; vergeblich bemühte er sich, wieder im Militär ein Unterkommen zu finden. Im Verhör gab er an, er habe viel Hunger gelitten, lange im Lazarett gelegen, einen Selbstmordversuch begangen, sechs Monate in einem Militärgefängnis eingesessen, jedoch nie eine Regimentsstrafe und Schläge erhalten. Auffällig aber ist, daß er keine Entlassungspapiere, keinen ordentlichen Abschied erhalten hatte: Das war der Hauptgrund, warum er von keiner Armee mehr aufgenommen wurde (seit 1820 hatte er sich darum bemüht, Stadtsoldat zu werden, d. h. er suchte einen Posten zu erlangen, wie ihn Büchners Woyzeck innehat).9 Für den Woyzeck der Tragödie war der Eintritt in eine Armee eine der knappen Möglichkeiten, das Leben zu fristen. Daß er Füsilier (Infanterist) geworden ist, damit folgte er einem eisernen Zwang, dem Hunger.10 Und 8 Um ein Gegenbild vorzustellen, möchte ich an das Denkmal erinnern, das Chamfort (17411794) einem demokratischen Offizier errichtet hat: »Mme de Prie, maitresse du regent, dirigee par son pere, un traitant, nomme, je crois, Pleneuf, avait fait un accaparement de ble qui avait mis le peuple au desespoir et enfin cause un sdulevement. Une compagnie de mousquetaires re^ut ordre d'aller apaiser le tumulte; et leur chef, M. d'Avejan, avait ordre, dans ses instructions, de tirer sur la canaille: c'est ainsi qu'on designait le peuple en France. Cet honnete homme se fit une peine de faire feu sur ses concitoyens, et voici comme il s'y prit pour remplir sä commission. fit faire tous les apprets d'une salve de mousqueterie, et, avant de dire: >TirezMob< in dieser Richtung etwas zutrauen mußte oder durfte, trat schon wenig später, 1830, und dann in den erbitterten Kämpfen 1848/49 in Sachsen ans Licht.) Diese Prävention geschieht dadurch, daß die Menge durch ihre Schaulust >geleimtvernünftig< es ist, sich der Herrschaft und ihren Normen auch im kleinen und kleinsten völlig zu unterwerfen. Der Gipfel der Perfektion wird erstiegen, wenn, wie auch im historischen Fall Woyzeck, der Delinquent, durch geistlichen Beistand in seine letzte Rolle eingewiesen, dazu gebracht wird, durch »Reue« und »Zerknirschung« diese Normen auf den Stufen des Schafotts anzuerkennen. Diese »erpreßte Versöhnung« des Opfers ist die denkbar wirkungsvollste Bestätigung der Herrschaft. Der »arme Sünder« spricht laut Gebete - Woyzeck dehnte sie lange aus, weil man ihn bis zuletzt auf eine Begnadigung hatte hoffen lassen —, und dann legt das Opfer willig (ein letztes Mal der »freie Wille«!) sein Haupt auf den Richtblock, ohne zu schreien. Schon mit einem Fuß im Grab, erweist er seinen Verfolgern einen letzten, unschätzbaren Dienst: Vor aller Augen und Ohren erkennt er die herrschenden Normen als die ewige Gerechtigkeit an, und das in dem Augenblick, wo diese Normen seine Vernichtung bewirken. Das Schuldbekenntnis aus dem Mund des Opfers ist dazu da, jede Frage nach den sozialen Ursachen seines Verbrechens, nach den Verursachern seines lebenslangen Elends zu unterlaufen und abzuschneiden. Die Repräsentanten der Herrschaft und ihre Gehilfen, Richter, Henker, Geistliche, der Psychiater Hofrat Clarus, Militär mit aufgepflanztem Bajonett stehen in unmittelbarer Nähe des Paranoikers, und der schlägt sich an die Brust und bekennt seine alleinige Schuld, ein Verbrecher aus »freiem Willen«, und bittet seine Verfolger, auch den Henker, um Vergebung. Man staunt nicht genug über das, was wirklich ist. Nehmen wir an, die Aufgabe wäre gestellt, ein solches Einverständnis eines zum Tode Verurteilten mit seinen Richtern und Henkern zu konstruieren: Keine Vorstellungskraft würde hinreichen, vermute ich, diese Lösung zu erfinden, die doch nichts weiter als die gemeine und oft erprobte Wirklichkeit war. Sollen wir glauben, der realistische Dichter, der es nicht besser als die Wirklichkeit machen wollte22, habe als Fazit aller Perspektiven für seinen Woyzeck ein anderes Ende vorgesehen? Die Verurteilung eines Mörders setzt Zurechnungsfähigkeit voraus. Weitaus die meisten Ausleger, die Woyzecks Psychose nicht bemerken, unterstellen seine Zurechnungsfähigkeit, in der Regel stillschweigend, wie selbstverständlich. Anders W. Wittkowski, der das Urteil »zurechnungsfähig« ausspricht und zu begründen sucht: Woyzeck morde »mit klarem, konsequent durchgeführtem Vorsatz. D. h. er wirkt nun ganz eindeutig zurechnungsfähig, wenigstens in der entscheidenden Handlungsphase; die Tat selbst wirkt dadurch tückisch und brutal (Lindenberger).« Die »Stimmen« »verstummen [woraus geht das im Text hervor?] und treiben ihn zu keiner seiner Handlungen.« »Fachmännisch besonnen sucht er das Instrument aus.« (H4,15)23 22 Vgl. den Brief an die Familie vom 28. 7. 1835 und das »Kunstgespräch« im Lenz. 23 Georg Büchner. Persönlichkeit, Weltbild, Werk. - Heidelberg 1978, S. 280, 311, 312.

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Für »zurechnungsfähig« scheint zu sprechen, daß der Mord nicht in einem Wutanfall geschieht, sondern vorsätzlich verübt wird: Woyzeck kauft ein Messer (H4,15), macht sein Testament (H4,17), fordert Marie auf, ihm vor die Stadt, an einen abgelegenen Ort zu folgen (Hl,14), und nach dem Mord sucht er die Tatwaffe zu beseitigen (Hl,19 und Hl,20). Ob diese Feststellungen ausreichen, »Klarheit des Bewußtseins« und »Freiheit des Willens« zu bezeugen (und zwar so zu bezeugen, daß kein Zweifel bleibt), müssen wir prüfen. Auf den ersten Blick sieht es danach aus. Zuerst zu Woyzecks Bestreben, die Spuren zu verwischen, was mehr als alles andere für eine rationale Kontrolle und Übersicht zu sprechen scheint. Nach dem Mord sucht er (Hl,17) b l u t b e f l e c k t ein Wirtshaus auf, und dort v e r r ä t er sich! Und erst d a n a c h rennt er zum Tatort zurück, um das corpus delicti, das Messer, in den Teich zu werfen. Sollte das mehr als ein bloßer Reflex seines noch einmal aufflackernden Selbsterhaltungstriebs sein? So wenig wie seine Flucht vom Tatort, als er Leute herankommen hört (der Schluß der Mordszene). Rational ist nämlich die Beseitigung des Messers nach der Wirtshausszene Hl,17 (was man übersehen hat) völlig z w e c k l o s ; denn ob jetzt die Tatwaffe noch gefunden wird oder nicht, ist gleichgültig. Im Wirtshaus werden Blutflecken an seinen Händen und an seiner Kleidung bemerkt. » K ä t h e . Aber was hast du an dei Hand? L o u i s . Ich? Ich? K ä t h e . Rot! Blut. (Es stellen sich Leute um sie.) L o u i s . Blut? Blut? W i r t . UuBlut. L o u i s . Ich glaub ich hab' mich geschnitte, da an der rechten Hand. W i r t . Wie kommt's aber an den Ellenbogen? L o u i s . Ich hab's abgewischt. Wirt. Was mit der rechten Hand an den rechten Ellenbogen? Ihr seid geschickt. N a r r . Und da hat der Ries gesagt: ich riech, ich riech, ich riech Menschefleisch. Puh! Das stinkt schon. Louis. Teufel, was wollt ihr? Was geht's euch an? Platz! oder der erste - Teufel! Meint ihr ich hart Jemand umgebracht? Bin ich Mörder? Was gafft ihr! Guckt euch selbst an! Platz da. (Er läuft hinaus.)«

»Platz! oder der erste -«: Woyzeck verschluckt eine Drohung, die Drohung mit dem Messer. »Platz! oder der erste [der mir in den Weg tritt] wird niedergestochen!«, so oder ähnlich hätte der vollständige Satz gelautet. Da wird ihm bewußt: Er hat ja das Messer gar nicht mehr bei sich. Er hat es am Tatort zurückgelassen. Er bricht ab und läßt das Satzende fallen - nicht, weil er sich noch kontrollieren könnte, nicht, um sich nicht zu verratender verrät sich ja weiter mit jedem Wort, das auf das >verschluckte< Messer folgt; er unterbricht sich, weil in dem Augenblick, als das Messer, der End- und Zielpunkt des gekappten Satzes, in seiner Vorstellung auftaucht, ihm mit 242

Schrecken bewußt wird: Ich hab es liegenlassen, es wird mich verraten, ich muß es im Finstern suchen, muß es verschwinden lassen. Jeder der Umstehenden weiß sofort Bescheid - hat doch selbst der Idiot den Braten gerochen: »Und da hat der Ries gesagt: ich riech, ich riech, ich riech Menschefleisch. Puh! Das stinkt schon.« Das sind >passende< Worte, die der Narr da (aus dem Märchen Die sieben Raben) anführt, wie H3,2 den >passenden< Vers »der is in's Wasser gefalln« (aus einem Abzähllied), als ihm Woyzecks durchnäßte Kleider auffallen. Nach diesem Ausbruch hat Woyzeck nicht mehr die mindeste Aussicht, unentdeckt zu bleiben. Und das um so weniger, als er von vornherein zum engsten Kreis der Tatverdächtigen gehört. (Als er H4,17 sein Testament machte, wußte er das noch.) Der Wirt, die Gäste und Käthe, sie alle werden ihn anzeigen, sobald die Tat ruchbar geworden ist; sie werden zu Protokoll geben, welche Reden er führte, als man in der Mordnacht die Blutflecken an ihm gewahr wurde. Überdies wird ihn der Jude (H4,15) als Käufer eines Messers identifizieren. Erst nach diesem Auftritt im Wirtshaus läuft Woyzeck an den Tatort zurück und versenkt das Messer im Teich — der Akt, der für »Klarheit des Bewußtseins« zeugen soll. Und jetzt wäscht er sich auch die Blutflecken aus; zu spät, auch das ist inzwischen völlig sinnlos geworden. Danach treibt er sich die ganze Nacht im Freien herum. Seine Abwesenheit muß in der Kaserne24 bemerkt werden. Am Morgen taucht er - noch durchnäßt (H3,2), in welchem Zustand, kann man sich denken — vor der Wohnung der Ermordeten auf, um das Kind noch einmal zu sehen. Es ist sicher, daß er schon kurz darauf festgenommen wird. Diese >Tat< könnte man als das wahre Gegenteil eines »perfekten Verbrechens« bezeichnen. Er ist überführt, noch bevor er auch nur vernommen und mit den Indizien und mit den Zeugen konfrontiert wird. Die Fakten und die Zeugenaussagen sind so erdrückend, daß er gar nicht leugnen kann. Abgesehen davon ist er nicht in der Verfassung, in einem Verhör lange Widerstand zu leisten und das Geständnis zu verweigern (das für den Tatnachweis entbehrlich ist). Und das soll also eine Tat und ein Verhalten gewesen sein, denen man die »Klarheit des Bewußtseins« und die »Freiheit des Willens« ansehe, die juristischen Voraussetzungen eines Schuldspruchs! Richten wir jetzt den Blick auf die in diesem Zusammenhang wichtigste Tatsache, Woyzecks Psychose.25 Willensfreiheit setzt mindestens Besonnenheit voraus. Davon kann im Fall Woyzeck schon nach der schweren psycho-

24 Falls die Szene H4,13 »Andres und Woyzeck in einem Bett« nicht im Schlafsaal einer Kaserne spielen sollte: Daß er nicht in ihrer gemeinsamen Kammer übernachtet, muß dem Vermieter auffallen. Andres wurde seine Abwesenheit nicht vertuschen können. 25 Die Haupttatsache Psychose wird in der Regel übersehen, offensichtlich weil man fixiert ist auf eine grelle, spektakuläre Vorstellung von >Wahnsinn«: völlige Verstörung, Ausbrüche, Schreie, Toben usf.

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tischen Attacke in der ersten Szene (H4,l) keine Rede mehr sein; und eine Szene wie H4,12 (die »Stimmen«, die ihn auffordern, die »Zickwolfin« zu erstechen) sollte keinen Zweifel bestehen lassen. Spätestens mit H4,ll tritt die Psychose, ausgelöst durch einen Eifersuchtsschock, in ihre destruktive Schlußphase ein. Es gibt für Woyzeck keinerlei reale Möglichkeit, diesen überwältigenden und undurchsichtigen Mechanismus durch »Besonnenheit« und »Willenskraft« zu kontrollieren und anzuhalten. Wo sollte denn »Willensfreiheit« in der blinden Mechanik einer Psychose herkommen? Die »Freiheit«, die ihm als idealistische Forderung und als die Voraussetzung des Schuldspruchs und des Todesurteils präsentiert wird (wie es schon der Psychiater Clarus getan hatte), setzt ein Bewußtsein in Woyzeck voraus, das längst zertreten wurde. »Freiheit« und »Vernunft« sind im Raum dieser psychischen Wirklichkeit phantastische Setzungen, sie schweben wie eine weiße Wolke hoch über dem finsteren und zerklüfteten Grund dieses zerstörten Bewußtseins. Die Interpreten, die Woyzeck moralisch verurteilen (und die, die seiner Tragödie einen religiösen Sinn beilegen wollen), führen die Willensfreiheit, Voraussetzung von Schuld und Sünde, wie einen deus ex machina ein, als sei es immer möglich, die begriffliche Kontrolle (eben das heißt »Besonnenheit«) aufrechtzuerhalten, ausgenommen natürlich Unmündige und Schwachsinnige und jene spektakulären Anfälle, die man ohne Kenntnis der durchschnittlich unauffälligen Verlaufsformen vieler Psychosen fälschlicherweise mit »Wahnsinn« gleichsetzt. Die Wirklichkeit der Psychosen, die dem Mediziner Büchner vertraut war, sieht anders aus als der konventionelle »Theaterwahnsinn«, dessen grelle Stereotypen freilich auf den ersten Blick >erkannt< und von niemandem übersehen werden. Durch den deus ex machina »Freiheit des Willens« wird vorausgesetzt, was man n a c h w e i s e n sollte. »Du kannst, denn du sollst«, dieser famose Schluß erlaubt, auf einem Vorurteil zu beharren, das man, unkritisch dem traditionellen idealistischen Schema folgend, für »das« moralische hält. Mag es einem auch als das natürliche, ja einzige vernünftige vorkommen, so besagt das nur, daß man auf dem Boden der herrschenden Moralvorstellungen festgewurzelt ist. Auf dem Richtschwert von Königsberg war eingraviert »Wer tötet, lerne zu sterben«. Dieser lapidare Satz hält der Kritik nicht stand, selbst nicht in Fällen, wo Klarheit des Bewußtseins vorausgesetzt werden darf. So einfach kann es nicht sein; auch in der Moral und im Recht gibt es nicht nur Gleichungen ersten Grades.26 Auffallend muß man es finden, daß in dieser Konstruktion »die Freiheit« (von der sonst in Zusammenhang mit einem Woyzeck nicht viel die Rede wäre) ausschließlich als Kategorie des Strafrechts auftritt. — Wir müssen uns bemühen, vorurteilslos zu prüfen, ob die Hinrichtung dieses >Mörders< - der ein Paranoiker und der ein Opfer ist — eine Forderung 26 Wie das »Auge um Auge, Zahn um Zahn« (jus talionis). 244

»der Gerechtigkeit« ist. Und an unserer Abscheu gegen seine Untat müssen wir prüfen, ob sie mehr als eine Affektäußerung, mehr als bloß reaktiv ist. Und zuletzt sollten wir uns bedenken, einen V e r z w e i f e l t e n zu verurteilen — daß seine >Tat< einem Verzweiflungsausbruch gleicht, kann niemand verkennen —, um dann, wie es zu gehen pflegt, die V e r u r s a c h e r dieser Verzweiflung aus dem Auge zu verlieren. Leicht und unversehens wird nämlich aus dem Schuldspruch gegen den Gejagten ein Freispruch für die Jäger. Dieser Mechanismus ist im Clarus-Gutachten vorgebildet: Das Opfer der Gesellschaft (wenn ich mich einmal so abstrakt ausdrücken darf) wird als moralisch verwilderter Täter hingestellt, der in einem »finstern Aufruhr roher Leidenschaften« gemordet habe (I, 488); ein Triebtäter (vermöge »Willensfreiheit« dennoch voll verantwortlich), der unschädlich gemacht, vor dem die Gesellschaft — durch Exekution — geschützt werden müsse, was abschreckend wirke und die bestehende Ordnung sichere. Aber auch wenn der Freispruch für die Jäger nicht beabsichtigt ist, kann er sich, ungewollt, als Effekt einstellen; dann nämlich, wenn Woyzecks Schuld energisch betont, die des Hauptmanns und des Doktors dagegen zwar nicht übergangen, aber doch nur in dürren Worten und wie ein Anhang, >der Vollständigkeit halben, nachgetragen wird.27 Gegen die Konstruktion des Hofrats Clarus — der moralisch verwilderte Täter, der, nachdem er am Maßstab der »Freiheit des Willens« vermessen ist, der Exekution zugeführt werden kann - macht Büchner Front. Büchners Kritik an dem Staatsmediziner ist, wie schon K. Victor und W. R. Lehmann behauptet haben, einer der Beweggründe, warum er diesen Stoff aufgegriffen hat. Die Woyzeck-Tragödie darf man auffassen als eine dichterische R e v i sion des historischen Prozesses, in dem ein seelisch schwerkranker Pauper geköpft wurde, nach einem Verfahren, das schon 1824 umstritten war, das mehr als einen skandalösen Zug aufweist und das nach Maßstäben, wie Büchner sie anlegte (der Mediziner sowohl wie der Verfasser des Hessischen Landboten und der Organisator der Gesellschaft der MenschenrechteTat< und Sünde ernte »und es lerne zu sterben«! Woyzeck verdiente aber auch mehr als jenes unpraktische Mitleid, das ihn zum Richtblock begleitet. Er verdiente medizinische und psychiatrische Behandlung: Therapie29, nicht Enthauptung. Politisch heißt diese Therapie Befreiung. Die Verursacher und wirklichen Täter werden nicht nur nicht angeklagt, sie werden vielmehr — in der Tragödie (nach der gespielten Handlung), wie

der Stufen, die hinabführen zum Fundament dieser Tragödie: der Existenz des Paupers unter einem System, das ihn ruiniert. Die juristische Reduktion dieses Ruins ist eben der gerichtsverwertbare Befund »nicht zurechnungsfähig«. Das ist keine Konstruktion, in der ein »autonomes Subjekt« vorausgesetzt werden müßte. Natürlich ist dieses »nicht zurechnungsfähig« für Büchner n i c h t d e r Ziel- u n d E n d p u n k t , s o n d e r n > n u r < e i n S c h r i t t a u f dem Weg d o r t h i n : gerade deshalb aber nicht »verfehlt«. Das Ziel ist nicht eine Reform des Strafrechts und eine Reform der Psychiatrie auf der B a s i s der b e s t e h e n d e n V e r h ä l t n i s s e . Büchner ist kein Reformist (vgl. vor allem seinen Brief an Gutzkow von 1836 gegen den Reformismus; II, 455). Auch diese Ketten sollen nicht nur erleichtert, sie müssen gesprengt werden. — H.-D. Kittsteiner und H. Lethen (Ich-Losigkeit, Entbürgerlicbung und Zeiterfahrung. In: GBJb 3 [1983], S. 240) mokieren sich sowohl über »historische Teleologen«, die im Woyzeck »den Keim der >Revolte< aufspüren« wollen, als auch über jene, die »- philanthropisch herabgestimmt — die Vorzüge einer sanften Psychiatrie oder milden Justiz zu schätzen lehren«. Für die >Revolte< verweise ich auf den eben angeführten Brief an Gutzkow, der während der Arbeit am Woyzeck geschrieben wurde. Was »sanfte« Psychiatrie und »milde« Justiz angeht (die nicht geringzuschätzen sind), gebe ich zu bedenken, daß auch sie sich bislang nie unter Einwirkung philanthropischer Rhetorik eingestellt haben, sondern jeweils erkämpft werden mußten, und zwar in Kämpfen, die >Revolten< nicht unähnlich waren. Ich meine damit nicht nur Kämpfe, wie sie 1789-1794 auf den Straßen von Paris ausgefochten wurden (und ohne die eine Psychiatrie wie die Philippe Pinels sich nicht hätte durchsetzen können), sondern auch einen Kampf wie den Voltaires im Fall Calas, im Fall de La Barre und im Fall Sirven. Dieser Kampf brach eine Bresche in die korrupte Justiz des ancien regime, indem er die öffentliche Meinung revoltierte und dadurch den Weg bahnte zu einer »milden« Justiz, die überhaupt erst die Frage nach der »Zurechnungsfähigkeit« in einer Weise aufwerfen konnte, die auch das Leben des kranken Woyzeck hätte retten können. J. Eskelund (Augias 6, Aarhus, 1982, S. 43) schreibt: »Woyzeck soll in Gewahrsam genommen werden, aber nicht weil er bestraft werden soll, sondern weil ihm als Krankem geholfen werden soll.« Doch reiche das Problem - Rolle der Psychiatrie im Straf recht - weit über den engen Rahmen einer solchen Diskussion hinaus; es gehöre in den Rahmen »menschliche Situation« und »existentielle Bedingungen, die notwendigerweise Lügner, Mörder und Diebe erzeugen müssen« (Verweis auf den »Fatalismus-Brief«, März 1834). - G. Oesterle: Die vor Büchner »wissenschaftsimmanent geführte Kontroverse um die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Woyzeck sprengt das Stück ins Soziale, auch der Wissenschaft, auf.« (Das Komischwerden der Philosophie [...]. - In: GBJb 3 [1983], S. 239). 29 Therapie nicht im Sinn der herrschenden Psychiatrie als Unterwerfung oder »Wiedereingliederung« in die bestehenden Verhältnisse; eine solche Psychiatrie ist »Staatsmedizin« (»Staatsarzneikunde« nannte Clarus seine Wissenschaft), sie ist ein Rad im Räderwerk der Herrschaft und ihre Irrenanstalten gleichen nicht zufällig Zuchthäusern. Ich denke für 1824 oder 1836/37 an eine Psychiatrie in der Nachfolge Pinels (1745-1826). 246

1824 in Leipzig — noch über ihr Opfer zu Gericht sitzen und kurzen Prozeß mit ihm machen. Das ganze Leben dieses >Verbrechers< ist eine lange Hinrichtung gewesen, der »Mord durch Arbeit« und was ihm zusätzlich angetan wurde. Seine Untat ist in dieser lebenslangen Tragödie die vorletzte Szene des letzten Aktes, und seine Enthauptung wird die letzte sein. Und diese letzte wird die Essenz aller vorhergehenden zusammenfassen und auf den Begriff bringen, sie wird v o l l s t r e c k e n , was dieses Leben unter diesem System gewesen ist. Wenn ich sage, das Schafott stehe unsichtbar von Anfang an auf der Bühne (der »rollende Kopf« in der ersten Szene H4,l), dann ist das nicht nur in einem strukturellen Sinn wahr (finale Konstruktion der dramatischen Handlung). Die Enthauptung ist die >Krönung< des lebenslangen Zerstörungswerks, das an Woyzeck verrichtet wurde und mit seiner Liquidierung abgeschlossen wird. Die Justiz zieht den blutigen Schlußstrich. Die Justiz versetzt ihm (nur noch) den Todesstoß. Sie ist das letzte Rad des Mechanismus, der das Subjekt Woyzeck zermalmt. Der im Hessischen Landboten angeprangerten gleicht sie auf ein Haar. Als Klassenjustiz ist sie dazu da, die Unterdrückung (hier deren Extrem, die Beseitigung) mit dem Mantel der »Gerechtigkeit« zu umhüllen und das K ö p f e n als einen Akt des »Rechts« erscheinen zu lassen. Sie ist Gewalt, unter der Maske des Rechts. Sie hat den Charakter eines Fallbeils. Das ganze Stück läßt sich als ein Ger ich t s spiel auffassen: als Revision, die Büchner gegen das Urteil im historischen Prozeß Woyzeck einlegt. Der Dichter stellt die Bedrücker, Ankläger und Richter, den Psychiater Clarus und die militärischen Vorgesetzten des Füsiliers (letztere in Person), die Täter (ausführende Organe des Systems) und ihre Handlanger vor das Tribunal der Tragödie. Was K. Vietor und W. R. Lehmann behaupten, halte ich für zutreffend: »Aus der Empörung darüber [über die moralische Verurteilung des >Verbrechers< durch den Psychiater Clarus im Vorwort seines Gutachtens, 1,488-490] wird Büchner die Idee seines Dramas gekommen sein. Es ist ein Gericht über die Richter.« (Victor)30 »Er läßt ihn zum Opfer derjenigen werden, die ihn anklagen.« (Lehmann)31

Der Prozeß ist überhaupt eine dramatische Ursituation. Es besteht eine enge Affinität des Tragischen und der Rechtssphäre. In der großen Tradition der Gerichtsspiele, die bis zur attischen Tragödie zurückreicht — bedeutendster Fall die Eumeniden des Aischylos —, ist das Woyzecfc-Fragment, das Wiederaufrollen eines abgeschlossenen Verfahrens und die Gegenanklage, eine originale und tiefe Wendung. 30 Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft. - Bern 1949, S. 199. 31 Textkritische Noten. Prolegomena zur Hamburger Büchner-Ausgabe. - Hamburg 1967, S. 76. 247

Die Rezeption von Dantons Tod durch die deutschamerikanische Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert* Von Christine Heiß (Bologna)

I Am 14. 8.1886 erschien im Sozialist, dem Parteiorgan der >Socialistischen Arbeiterpartei von Nord-Amerika« (SAP) folgende Ankündigung: »Mit nächster Nummer des Partei-Organs werden wir als Feuilleton das großartige Geschichtsdrama Georg Büchner's >Danton's Tod< zu veröffendichen beginnen. Da dieses bedeutende Werk des genialen Dichters bisher noch wenig bekannt ist, so wird unser Abdruck allen Verehrern wahrhaft revolutionärer Poesie hochwillkommen sein. Unsere Freunde und Genossen sollten ihre Freunde und Bekannten auf das Erscheinen dieses Werks im Sozialist aufmerksam machen.«1 Mehr als zwei Monate (von Samstag, dem 21.8.1886, bis zum 30.10.1886) nahm der Abdruck zwei Seiten des nur acht Seiten umfassenden Wochenblattes in Anspruch. Schon im nächsten Monat folgte in der Reihe der Socialistic Library, einer von der SAP im Jahr zuvor ins Leben gerufenen Schriftenreihe zur Förderung sozialistischer Ideen, eine Buchausgabe des Dramas zum Preis von 15 Cents — das erste literarische Werk in einer Reihe populärwissenschaftlicher Abhandlungen.2 Am 10. 4. 1887 kündigte der * Ich danke Hartmut Keil, der mir die im Rahmen des von ihm geleiteten Forschungsprojekts zur »Sozialgeschichte der deutschen Arbeiter in Chicago, 1850-1910« gesammelten Materialien großzugig zur Verfugung stellte und der mir manche hilfreiche Anregung gab. Für wertvolle Hinweise zu Freidenkern und Turnern bin ich Ralf Wagner verpflichtet. 1 Sozialist, New York, 14. 8.1886. 2 Im Sozialist hieß es dazu: »Soeben erschienen in No. 10 der Socialistic Library: Danton's Tod. Von Georg Büchner. 92 Seiten kl. Oct. Preis 15 t. Wiederverkäufer Rabatt.« - In: Sozialist, 27. 11. 1886; Das Titelblatt lautet: »Danton's Tod. Ein Drama in 3 Akten von Georg Büchner. New York John Oehler, Steam Printer, 22 & 24 North William Street. 1886.« Vgl. Ralph P. Rosenberg: Georg Büchner's Early Reception in America. - In: The Journal of English and Germanic Philology, Vol. XLIV, No. 3. - Urbana 1945, S.271; über die Schriftenreihe der Socialistic Library gab der Sozialist folgendes bekannt: »Von der Socialistic Library, herausgegeben vom National-Exekutiv-Comite der Sozial. Arbeiter-Partei, sind bis jetzt erschienen: Erster Jahrgang 1886. 1. Constitution und Platform der Sozial.

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Milwaukeer Freidenker eine »vollständige, ungekürzte Ausgabe nach dem Originalmanuskript«3, ebenfalls für 15 Cents, besorgt von der Freidenker Publishing Company in Milwaukee, an. Läßt sich die letztgenannte Ausgabe mit dem fünfzigjährigen Todestag Georg Büchners in Verbindung bringen (am 20. und 27. Februar 1887 erinnerte der Freidenker mit einem dreispaltigen Artikel auf der Titelseite an den verstorbenen Dichter)4, so müssen für den Abdruck im Sozialist und die Publikation der New Yorker Socialistic Library — immerhin ein Dreivierteljahr vor der durch Gerhart Hauptmann eingeleiteten Wiederentdeckung Büchners im deutschen Naturalismus — andere Beweggründe gesucht werden. Daß Dantons Tod von sozialistischer Seite als sozialkritisches Drama aufgefaßt wurde, ist durch die deutsche Rezeptionsgeschichte im 19. Jahrhundert belegt.5 Wie ist jedoch zu erklären, daß die deutschamerikanische sozialistische Bewegung, die sich in Kulturfragen im allgemeinen an der Entwicklung in Deutschland orientierte, so früh auf Dantons Tod aufmerksam wurde? Eine vermutlich von Wilhelm Liebknecht verfaßte Artikelserie, die 1876 in der Neuen Welt erschien und Leben und Werk Georg Büchners würdigte, Arbeiter-Partei, in deutscher Sprache ... gratis; 2. [dass.] in englischer Sprache ... gratis; 3. Verhandlungen des Kongresses der Soz. Arbeiter-Partei zu Cincinnati im Oktober 1885 ... 0,05; 4. Stiebeling, Geo. C. Erzeugung und Verteilung des Arbeits-Ertrages in den Vereinigten Staaten ... 0,05; 5. [ders.] Die wirtschaftliche Entwicklung der Ver. Staaten in dem Jahrzehnt 1870-80 ... 0,10; Dr. A.Douai. Socialism and Anarchism ... 0,05; 7. Adolf Hepner. Die Ikarier in Nord-Amerika ... 0,10; 8. Der Anarchismus. Von Dr. Q. ... 0,01; 9. Capitalism on Trial I ... 0,05; 10. Damon's Tod ... 0,15; Im Drück befindet sich und wird Mitte Dezember d. J. erscheinen: 11. Frederick Engels. The Condition of the Working Class in England in 1844 ... 0,25.« Tatsächlich erscheint als Nummer 11 jedoch Vor der Wahlschlacht von Wilhelm Ludwig Rosenberg. Vgl. Ralph P. Rosenberg: Georg Büchner's Early Reception ..., S. 270 ff. Für die Standorte der New Yorker Ausgabe von Dantons Tod in den USA vgl.: The National Union Catalogue. Pre-1956 Imprints. - Mansell, London 1968. Von der University of Wisconsin Memorial Library bin ich informiert, daß die Ausgabe seit 1979 nicht mehr in ihrem Besitz ist. Auch im Büchner-Archiv der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek ist ein Exemplar vorhanden (nach diesem die Abb. S. 250). 3 Es kann als sicher gelten, daß sich der nicht weiter erklärte Zusatz »nach dem Originalmanuskript« auf die Franzos-Ausgabe bezieht. Bisher konnte kein Exemplar der Freidenker Publishing Company-Ausgabe von Dantons Tod in den öffentlichen Bibliotheken ermittelt werden. 4 (Für die »Amerikanische Turnzeitung«). Zum fünfzigjährigen Todestag Georg Büchner's. Von Chr. Tarnuzzer, abgedruckt in: Freidenker^ Milwaukee, 20. und 27. 2.1887. 5 Vgl. Dietmar Goltschnigg: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Georg Büchners. - Kronberg/Ts. 1975, S. 43; Wolfram Viehweg: Georg Büchners »Dantons Tod« auf dem deutschen Theater. — München 1964, S. 26; Helmut Schanze: Büchners Spätrezeption. Zum Problem des »modernen« Dramas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. - In: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Hg. von Helmut Kreuzer in Zusammenarbeit mit Kate Hamburger. - Stuttgart 1969, S. 341; E. F. Hauch: The Reviviscence of Georg Büchner. - In: Publications of the Modern Language Association of America XLIV (1929), S.897ff.

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zeigt, daß sich die sozialistische Bewegung in Deutschland schon in den 70er Jahren mit Büchner befaßte.6 Der Erlaß des Sozialistengesetzes im Oktober 1878 brachte jedoch die kulturellen Bestrebungen der deutschen Sozialdemo-

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kratie — und damit auch die Beschäftigung mit Büchner als sozialkritischem Autor7 — zum Stillstand; ihre Zeitungen und Schriften wurden verboten und ein Großteil der publizistisch wirkenden Anhänger der Sozialdemokratie war gezwungen, ins Exil zu gehen. Die Zentren der deutschamerikanischen sozialistischen Bewegung, die sich in den 70er Jahren aus Angehörigen der ersten Internationale, Lassalleanern und einigen radikalen 48ern formiert hatte und 6 Vgi. Goltschnigg: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, S. 43. 7 Vgl. Schanze: Büchners Spätrezeption, S. 348. 250

die infolge von Wirtschaftskrisen und ausbeuterischer Lohnpolitik gegen Ende des Jahrhunderts bereits große Resonanz bei der deutschamerikanischen Arbeiterschaft gewonnen hatte, wurden zum Sammelpunkt der politischen Flüchtlinge von 1878. Nicht zuletzt aufgrund der bestehenden Kontakte zwischen deutschamerikanischen Sozialisten und der Bewegung in Deutschland nahmen viele von ihnen rasch Führungspositionen in der deutschamerikanischen Arbeiterbewegung oder in den Redaktionen der Arbeiterpresse ein.8 Der Lebenslauf von Wilhelm Ludwig Rosenberg, Redakteur des Sozialist zur Zeit des Danton-Abdrucks, mag die engen Kontakte zwischen deutscher und deutschamerikanischer Arbeiterbewegung verdeutlichen. Bis 1880 war Rosenberg als sozialistischer Publizist in Frankfurt a. M. tätig gewesen.9 Nach seiner Emigration in die USA Ende 188010 leitete er von 1881 bis 1884 die Redaktion der mit der Sozialrevolutionären Bewegung sympathisierenden Chicagoer Fackel.11 1884 wurde Rosenberg zum Sekretär der SAP in New York ernannt und übernahm 1885 zusammen mit Joseph Dietzgen die Redaktion des neugegründeten Parteiorgans.12 Wilhelm Ludwig Rosenberg, neben Robert Reitzel, Gustav Lyser und Martin Drescher einer der prominentesten deutschamerikanischen Schriftsteller — sein Stück Vor der Wahlschlacht erschien als Nummer 11 der Socialistic Library - dürfte noch in Frankfurt auf die Franzos'sche Ausgabe von Büchners Werken aufmerksam 8 Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in den USA vgl.: Hermann Schlüter: Die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung in Amerika. - Stuttgart 1907; derselbe: Die Internationale in Amerika: Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiter-Bewegung in den Vereinigten Staaten. Chicago 1918; Friedrich A. Sorge: Die Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten. - In: Neue Zeit 9-13 (1891-1895); Dirk Hoerder und Hartmut Keil: The American Case and German Social Democracy at the Turn of the 20th Century, 1878-1907. Ms. eines Vortrags, gehalten auf der Konferenz »Why is there no socialism in the United States.« Centre D'Etudes Nord-Americaines, ßcole de Hautes faudes en Sciences Sociales. Paris, 25.27. Mai 1983; Hartmut Keil: The German Immigrant Working Class of Chicago, 18751890: Workers, Labor Leaders, and the Labor Movement. - In: American Labor and Immigration History, 1877-1920s. Dirk Hoerder (Hg.). - Urbana, 1983, S, 156-176; Hartmut Keil und Heinz Ickstadt: Elemente einer deutschen Arbeiterkultur in Chicago zwischen 1880 und 1890. - In: Geschichte und Gesellschaft S (1979), H. l, S. 103-124. 9 Wilhelm Kosch: Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisches und Bibliographisches Handbuch. 2. Aufl., Bd. 3. - Bern 1956, S. 2307. 10 Ein Brief von H. W. Fabian an Karl Marx beweist sowohl Rosenbergs Anwesenheit in Frankfurt noch im Oktober 1880 als auch die bestehenden Verbindungen zwischen der Arbeiterbewegung in Deutschland und in den USA. Siehe H. W. Fabian an Marx, Frankfurt 11.10.1880. Marx-Engels Korrespondenz, Marx D 1907. Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam. 11 Vgl. Karl J. R. Arndt und May E. Olson: German-American Newspapers and Periodicals 1732-1955. History and Bibliography. - Heidelberg, 1961, S. 69. Arndt und Olson geben die Jahre 1880-1890 an, tatsächlich ging Rosenberg jedoch bereits 1884 nach New York. 12 Notiz in Sozialdemokrat (Zürich), 22.1.1885; Dr. W. L.Rosenberg, Erinnerungen aus der Frühzeit der socialistischen Bewegung in den Ver. Staaten. - In: Sonntagsblatt der New yorker Volks-Zeitung, 29.1.1928.

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geworden sein.123 Daß Karl Emil Franzos überdies auch als Autor bei der deutschamerikanischen Arbeiterbewegung bekannt war, zeigen Abdrucke seiner Werke im Chicagoer Vorboten.13 Weshalb wurde dann aber nicht schon in den frühen 80er Jahren ein Werk von Büchner im Vorboten oder im Sozialist, die im Feuilleton regelmäßig Literatur anboten (das Angebot reichte von der naturalistischen Avantgarde bis zum Heimatroman), vorgestellt? Und warum wählte man 1886 gerade Dantons Tod und nicht den Hessischen Landboten oder Woyzeck, die sich wohl für sozialistische Agitation ebenso anboten?14 Direkte Äußerungen der Redaktion des Sozialist, die Aufschluß über die Beweggründe zur Veröffentlichung des Stücks geben könnten, fehlen. Seine Einordnung in eine Reihe von Schriften zur Förderung und Verbreitung der sozialistischen Idee zeigt jedoch, daß Dantons Tod ein beachtlicher Propagandawert zugemessen wurde. Fraglich bleibt, wie dieser am Text begründet wurde. Auch über die Reaktionen, die das Stück bei den Lesern des Sozialist hervorrief, existieren keinerlei Belege; Leserbriefe oder kommentierende Einsendungen, die auf Dantons Tod Bezug nehmen, tauchen nicht auf, was möglicherweise auf das Fehlen einer geeigneten Spalte zurückzuführen ist. Wenn auch der Wert der Literatur als Propagandainstrument gerade in diesen Jahren verstärkt diskutiert und aufgewertet wurde, bleibt unklar, welche Erwartungen Dantons Tod bei den für die Öffentlichkeitsarbeit Verantwortlichen in der SAP erfüllte. Um so wichtiger erscheint es deshalb, die Veröffentlichung von Dantons Tod in den soziokulturellen Kontext der deutschamerikanischen Arbeiterbewegung der 80er Jahre zu stellen und zu berücksichtigen, welche kulturellen Traditionen, welche aktuellen Probleme und programmatischen Zielsetzungen zu Zeit des Abdrucks vorherrschten. II

1886, das Jahr der Haymarkettragödie, nimmt in der Geschichte der deutschamerikanischen Arbeiterbewegung einen besonderen Stellenwert ein. 12a Jan-Christoph Hauschild weist inzwischen auf ein von Rosenberg verfaßtes, einem Monolog aus Dantons Tod nachempfundenes Lied hin. Vgl. Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. - Königstein/Ts. 1985 (= Büchner-Studien, Bd. 2), S. 239 f., Anm. 22. 13 Der Textvergleich zeigt, daß sowohl der Abdruck im Sozialist als auch die New Yorker Ausgabe von Dantons Tod auf die Franzos-Ausgabe zurückgehen. Vgl. auch Ralph P. Rosenberg: Georg Büchner's Early Reception in America, S. 271; Karl Emil Franzos: Professor Hydra. - In: Die Fackel. Sonntagsausgabe der Chicagoer Arbeiter-Zeitung, 4. 4.1880; derselbe: Ein Kampf ums Recht. - In: Vorbote (Chicago), 29. 7. 1885. 14 Über den Hessischen Landboten als >Hausbibel< der deutschen sozialistischen Bewegung vgl. E. F. Hauch: The Reviviscence of Georg Büchner, S. 897, der allerdings keine Belege anführt. Vgl. auch Schanze: Büchners Spätrezeption, S. 341.

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Die Agitation für die Acht-Stunden-Bewegung, seit Jahren von den verschiedensten Gruppierungen der amerikanischen und deutschamerikanischen Arbeiterbewegung betrieben und ab Ende 1885 auch von der anarchistischsozialrevolutionären Richtung unterstützt, hatte sich Anfang 1886 zu einer Massenbewegung ausgeweitet, die die Öffentlichkeit in Unruhe versetzte.15 Zwar richteten sich die Hetzkampagnen seitens der bürgerlichen Presse und die Repressalien von Polizei und Behörden vor allem gegen die Sozialrevolutionäre, die schon ab Mitte der 70er Jahre >Volksmilizen< zum Schutz der republikanischen Grundrechte der Arbeiter ins Leben gerufen hatten und ab Anfang der 80er Jahre den Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung mit Gewalt propagierten. Dennoch wurde das Bombenattentat vom 4. Mai auf dem Chicagoer Haymarket, bei dem 5 Polizisten ums Leben kamen, von Polizei, Behörden und Presse als willkommener Anlaß zur Unterdrückung bzw. Diffamierung der Acht-Stunden-Bewegung und der sozialistischen Bewegung insgesamt genommen. Haymarket wurde als mißlungener Auftakt zur sozialen Revolution interpretiert.16 Die Gefahr der sozialen Revolution in den Vereinigten Staaten — so ließen zumindest die Berichterstatter der bürgerlichen Presse und die Anarchisten- und Sozialistenhetze durch die Polizei vermuten — schien nie so unmittelbar gewesen zu sein wie in den Monaten vor und nach Haymarket.17 In diesem Klima war es nur natürlich, daß die Arbeiterpresse — ob Sozialrevolutionär orientiert oder gemäßigt - sich ebenfalls mit dem Thema der Revolution auseinandersetzte. Wenn dies auch in den der SAP nahestehenden Blättern vor allem geschah, um sich von den Sozialrevolutionären zu distanzieren, stand die >soziale Revolution doch im Mittelpunkt der Debatten beider Richtungen. Daß die Trennungslinie zwischen diesen Richtungen trotz aller Abgrenzungsversuche nicht immer so scharf gezogen war, zeigt wiederum das Beispiel von Wilhelm Ludwig Rosenberg, der immerhin vier Jahre lang die Redaktion des mit den Sozialrevolutionären sympathisierenden Chicagoer Sonntagsblattes Die Fackel geleitet hatte, bevor er das Amt des Parteisekretärs der SAP in New York übernahm.18 In Bezug auf die Büchner-Veröffentlichung gewinnt dies an Bedeu15 Vgl. John R. Commons: History of Labour in the Untied States, Bd. 2 - New York 1951, S. 356-394; vgl. auch Henry David: The History of the Haymarket Affair: A Study in the American Social-Revolutionary and Labor Movements. - New York 1964, Kap. 3-5; 16 Vgl. Christine Heiß: German Radicals in Industrial America: The Lehr- und Wehr-Verein in Industrial Chicago. - In: German Workers in Industrial Chicago, 1850-1910: A Comparative Perspective. Hartmut Keil und John B. Jentz (Hg.). - De Kalb 111. 1983, S. 206-224; Dieselbe: Der Lehr- und Wehr-Verein von Chicago 1875-1887: Ein sozialgeschichtlicher Beitrag zur Radikalisierung deutscher Arbeiter in den USA. Hausarbeit zur Erlangung des Magistergrades, München 1981; Michael J. Schaak: Anarchy and Anarchists. (Repr. New York 1977), S. 139 ff. 17 Siehe Anmerkung 16. 18 Siehe Anmerkung 10; für die personellen Verbindungen zwischen den beiden Gruppen spricht auch die Tatsache, daß Josef Dietzgen, der ehemalige Redakteur des Sozialist, im Mai 1886 die Redaktion des Vorboten übernahm.

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tung, wenn man bedenkt, daß sich sowohl Sozialrevolutionäre als auch die gemäßigtere Gruppe um die SAP in eine Linie mit der Tradition radikalrepublikanischer Ideen des Vormärz stellten. Denn mit dem Rückgriff auf Ideale der Vormärzzeit zogen die deutschamerikanischen Sozialisten auch gleichzeitig eine Tradtionslinie von der amerikanischen Revolution - deren Werte sie allerdings im Amerika des 19. Jahrhunderts verraten sahen — über die Französische Revolution von 1789 bis zur Pariser Kommune.19 Diese geschichtlichen Ereignisse nahmen im kulturellen Leben der deutschamerikanischen Arbeiterbewegung einen großen Stellenwert ein. Alljährlich wurden im März Kommunefeiern — oft in Konkurrenz von Sozialrevolutionären und SAP — abgehalten. Neben politischen Reden wurden in Tableaux Vivants Szenen aus dem Befreiungskampfe des französischen Volkes dargestellt und ihre Bedeutung für die sozialistische Bewegung hervorgehoben.20 Erst diese fast kultartigen Beschwörungen der Jahre 1789 und 1870 lassen verstehen, warum im Jahre der vermeintlichen sozialen Revolution in Amerika von Seiten der deutschamerikanischen Sozialisten eine verstärkte Auseinandersetzung mit der ersten französischen Revolution einsetzte — zumal sich auch ihr hundertster Jahrestag näherte. Daß sich die Redaktion des Sozialist gerade 1886 dazu entschied, Dantons Tod zu veröffentlichen, muß in direktem Zusammenhang mit den Ereignissen des Jahres der Haymarkettragödie und ihrer durch das vorhandene kulturelle Raster gesteuerten Reflexion gesehen werden. III

Ein zur Zeit des Büchner-Abdrucks erschienenes Werk von Lawrence Gronlund, einem in Dänemark geborenen, jedoch englischsprachigen Theoretiker der sozialistischen Bewegung, mit dem Titel , Ira or Danton in the French 19 Besonders in der sozial-revolutionären Gruppe war eine starke Anbindung an Vormärzideale vorhanden. Die bewaffneten Gruppen waren zum Schutz der in der amerikanischen Verfassung garantierten Menschen- und Bürgerrechte gebildet worden, die Konstitution des bedeutendsten von ihnen, des Lehr- und Wehr-Vereins von Chicago, ähnelt in ihrer Zielsetzung verblüffend dem während der Revolutionsjahre 1848/49 in der Schweiz gegründeten Wehrbund Hilf Dir. Die in der Bewaffnungsfrage und in den Prozessen um die Legitimität bewaffneter Arbeitervereine in den USA geäußerten Verteidigungen und Stellungnahmen, in denen der Verein seine Bildung als Notwehrmaßnahme gegen Übergriffe seitens Polizei und Staatsmiliz erklärt und das Prinzip der Volksmiliz im Gegensatz zum stehenden Heer betont, sowie die Exerzierübungen ähneln gar der revolutionären Vorstellung und Praxis von Büchner selbst. Vgl. Christine Heiß: German Radicals in Industrial America..., S. 207 ff., S. 218 ff.; Thomas Michael Mayer: Büchner und Weidig - Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des »Hessischen Landboten«. - In: GB ////, S. 99 ff. 20 Vgl. Hartmut Keil und Heinz Ickstadt: Elemente einer deutschen Arbeiterkultur in Chicago. .., S. 103-124; Hartmut Keil und John B. Jentz: German Working Class Culture in Chi-

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Revolution verdeutlicht die Aktualität des Themas in diesem Jahr. Da sein Erscheinen einen Monat vor Dantons Tod im Sozialist angekündigt wurde, ist anzunehmen, daß Gronlunds Abhandlung (von der der Autor selbst behauptet, »daß [sie] unsere Sache weit mehr fördern wird als das kooperative Commonwealths zu dem Danton als eine Ergänzung zu betrachten sei, jemals vermöge, weil erste[res] eine größere Popularität gewinnen werde sowohl wegen [ihres] Gegenstandes, als wegen der nahenden hundertjährigen Feier der Revolution«)21 den Anstoß zur Veröffentlichung von Dantons Tod gegeben hat. In der Besprechung von Ira gab der Sozialist eine Zusammenfassung der wesentlichen Gedanken des Werkes, die auch in Bezug auf die mit der Büchner-Veröffentlichung verknüpfte Erwartungshaltung seitens der Redaktion bzw. des Herausgebers der Socialistic Library aufschlußreich erscheinen. Es hieß dort: »Über den Inhalt des Buches geht aus den Mitteilungen Gronlunds hervor, daß es die ganze französische Revolution umfassen und den Zusammenhang derselben mit der allgemeinen Kulturentwicklung der Menschheit und ihre Beziehung zu der bevorstehenden sozialen Revolution nachweisen will. Anknüpfend an den englischen Historiker John Morley, der von der französischen als >jener Revolution spricht, deren 5. Akt uns noch dunkel istfünften Akt das seit einem Monat in Fortsetzungen im Sozialist erschien. »Beim Wiederlesen des Georg Büchner'schen Trauerspiels >Danton's TodGeschichte der Revolutions war somit gleichzeitig Ausgangspunkt der Betrachtungen über das Wesen der kommenden Revolution und praktisches Mittel ihrer Vorbereitung. Eingebunden in den Kontext von Schriften, die »sich in kritisch wissenschaftlicher Weise mit der werdenden Arbeiterbewegung beschäftigen« oder »den allgemeinen Zweck der Volksaufklärung in sozialer, politischer und religiöser Hinsicht verfolgen«26, sollte Dantons Tod offensichtlich zur Volksbildung - Voraussetzung der sozialen Revolution und der neuen angestrebten Gesellschaftsordnung — beitragen. Was Gronlund schon für die Französische Revolution als bestimmende Eigenschaft hervorgehoben hatte, nämlich ihre Vorbereitung durch »Bücher und in den Köpfen«, wollte die SAP-Führung durch konkrete Verstärkung der Aufklärungsarbeit (und dazu gehörte die Erweiterung des Parteiorgans auf acht Seiten, die regelmäßige Herausgabe von Schriften in der Socialistic Library wie auch die Verbreitung von Flugblättern27) für die kommende soziale Revolution durchführen. Denn allein vom Grad der allgemeinen Volksbildung, der Einsicht in politische und ökonomische Zusammenhänge, der Desillusionierung der Arbeiterschaft über scheinbar freiheitliche, republikanische Staatsformen, die sich in der Geschichte als ebenso unterdrückend erwiesen hätten wie die Monarchie, hänge der Erfolg der kommenden Revolution ab. Zeitpunkt und Verlauf würden sich natürlich ergeben.28 Deutlich wurde im Artikel das Primat der Volksaufklärung und Bildung als revolutionärer Tätigkeit der SAP hervorgehoben, ebenso deutlich spricht daraus die Absage an revolutionäre Aktionen, wie sie die Gruppe der Sozialrevolutionäre vor Haymarket gefordert hatte. Es fällt auf, daß die Frage nach der Aussage von Büchners Stück bzw. seinem revolutionären Gehalt überhaupt nicht gestellt wurde. Sein Wert als revolutionäre Poesie< bestimmte sich vielmehr aus der Thematik und der ihm zugeschriebenen Objektivität und Geschichtstreue. Nicht eine poetische Aussage wurde gefordert oder gesucht, sondern der Lehrgehalt lag im historischen Ereignis selbst. Dantons Tod war für die SAP in erster Linie als geschichtliche Darstellung relevant. Der Begriff der revolutionären Poesie< reduzierte sich so auf die Aufbereitung eines historischen Ereignisses durch , dent Dichter — den Interpretationsrahmen lieferte der soziale und kulturelle Kontext, in den das Werk gestellt wurde. Kali Öutzkows Kritik von Dantons Tod aus dem Phönix, die sowohl in der Oehlerschen Ausgabe als auch im Sozialist abgedruckt wurde, mag dazu beigetragen haben, daß man Dantons Tod vor allem als Geschichtsquelle betrachtete. Sein fast wie eine Rechtfertigung des Stücks klingender Gedanke: »Unsere Jugend studiert die Revolution, weil sie die Freiheit liebt und 26 Schriftenvertrieb. - In: Sozialist, 2.1.1886. 27 An die Sektionen und Mitglieder der Soz. Arbeiter-Partei von Nord-Amerika. - In: Sozialist,2.1.1886. 28 S. Anm. 23 und 24. 257

doch die Fehler vermeiden möchte, die man in ihrem Dienste begehen kann«29 scheint auch den Betrachtungen über die Revolution als Leitgedanke zugrundezuliegen. Die Wertschätzung, die man der Literatur des Vormärz und Gutzkow als ihrem prominenten Vertreter entgegenbrachte30, erklärt sowohl den Einfluß, den sein Urteil immer noch auszuüben vermochte, als auch die redaktionelle Entscheidung, seine Kritik in beiden Veröffentlichungen zu übernehmen. Ralph Rosenberg hat sicherlich zu Recht auf die Publikumswirkung hingewiesen, die der Name Gutzkow noch in den 80er Jahren unter den Deutschamerikanern hervorrief, und daran erinnert, daß man sich deren wohl auch bewußt zu Propagandazwecken bediente. Denn die Schriftenreihe der Socialistic Library sollte nicht nur zur kulturellen Bildung der Mitglieder und Sympathisanten der sozialistischen Bewegung beitragen, sondern hatte auch das erklärte Ziel, »immer weitere Kreise [...) mit der Lehre des Sozialismus vertraut [zu] machen und dadurch allmählich [zu] gewinnen [.. .]«.31 Allerdings greift Ralph Rosenberg zu kurz, wenn er die Aufnahme von Dantons Tod in die Socialistic Library vor allem von diesem Gesichtspunkt her motiviert sieht.32 Eher als Gutzkows Ruhm könnte hier noch das Interesse der Emigranten an Stücken, die in Deutschland verboten waren, ausschlaggebend gewesen sein. Daß man Dantons Tod auf dem Index der verbotenen Schriften vermutete, zeigt folgende Richtigstellung, die ohne nähere Erklärungen im Briefkasten des Sozialist veröffentlicht wurde: ^Danton's Tod< ist in Deutschland nicht verboten. Das würden die deutschen Behörden auch schwerlich wagen.«33 Ohne die vorhandene Prädisposition für die Problematik der französischen Revolution unter den deutschamerikanischen Sozialisten und ihre Aktualisierung im Kontext der Sozialrevolutionären Stimmung im Jahre 1886 wäre die Wiederentdeckung von Dantons Tod durch die deutschamerikanischen Sozialisten jedoch kaum so früh erfolgt.

29 Karl Gutzkow über Danton's Tod. - In: Sozialist, 4. 9.1886; vgl. auch Ralph P. Rosenberg: Georg Büchners Early Reception..., S. 271. 30 Gutzkow zählte vor allem in den 50er und 60er Jahren zu den wiederholt aufgeführten Autoren im deutschamerikanischen Theaterbetrieb. Vgl. Henry A. Pochmann: German Culture in America. Philosophical and Literary Influence 2600-1900. - Madison 1957, S. 343 u. 454. Mit der zunehmenden Verbürgerlichung besonders der Deutschen der ersten Einwanderungswelle bzw. der Herausbildung eines deutschamerikanischen Mittelstandes hatte die Vormärztradition im bürgerlichen kommerziellen Kulturbetrieb zwar an Bedeutung verloren, der Name Gutzkow war jedoch immer noch geeignet, an die gemeinsamen radikaldemokratischen Ideale der Deutschamerikaner zu appellieren. Vgl. Christine Heiß: Kommerzielle deutsche Volksbühnen und deutsches Arbeitertheater in Chicago 1870-1910. - In: Amerikastudien, 2 (1984), S. 17 f. 31 S. Anmerkung 26. 32 Vgl. Ralph P. Rosenberg: Georg Büchner's Early Reception..., S. 271. 33 Briefkasten. Eingesandt von A. O., Chester. - In: Sozialist, 1. 1.1887. 258

IV Bei Überlegungen zur Verbreitung von Dantons Tod stellt sich die Frage, in welchem Maße das Stück unter den deutschamerikanischen Sozialisten nachweislich bekannt wurde und ob es daneben auch Hinweise auf eine über den sozialistischen Kulturkreis hinausgehende Rezeption gibt. Der Sozialist war mit einer Auflage von 2255 (die Zahl gilt für das IV. Quartal 1886, also den Zeitraum des Danton-Abdrucks)34 die größte deutsche Wochenschrift der sozialdemokratischen Bewegung in den Vereinigten Staaten. Ihre Verbreitung beschränkte sich nicht nur auf den Erscheinungsort New York; der Sozialist wurde überall dort vertrieben, wo eine Sektion der SAP bestand.35 Die Sektionen sorgten nicht nur für den Verkauf des Blattes, das als Publikationsorgan der Parteibeschlüsse den Mitgliedern unentbehrlich war, sondern sie hatten auch die Aufgabe, die von der Partei herausgegebenen Schriften in Umlauf zu bringen.36 Am 5. 2. 1887 berichtete das National-Exekutiv-Comite der SAP über den Erfolg der Broschürenliteratur im ersten Jahr. Die Einrichtung der Socialistic Library, so wurde betont, habe sich unter mehreren Gesichtspunkten als vorteilhaft erwiesen. Zum einen wegen des erleichterten Versands und der größeren Einheitlichkeit der Schriften, zum anderen, da nun die Verpflichtung bestünde, regelmäßig Schriften zu veröffentlichen, was die Wirksamkeit der Agitation erhöhe. Über den Verkauf wird berichtet: »Von den bis Ende November erschienenen elf Heften der Library sind im Ganzen 85 000 Exemplare gedruckt worden, von denen am Ende des Jahres über drei Viertel verkauft worden sind. Hierbei sind uns die Sektionen, mit geringen Ausnahmen, lobenswerth entgegengekommen, indem sie regulären Bücherbetrieb eingeführt haben, wohlerkennend, daß derselbe eine der größten Waffen unserer Agitation darbietet.« 37

Leider wurde nicht spezifiziert, ob alle Schriften in gleicher Auflage erschienen und in gleichem Maß verkauft wurden. Da Dantons Tod überdies als letzte Schrift des Jahres 1886 herauskam38, ist kaum anzunehmen, daß im Februar schon über 6000 Exemplare verkauft waren, wie es sich rein rechnerisch ergeben würde. Auffällig ist jedoch, daß die Auflage der Schriften wesentlich hoher war als die des Sozialist selbst. Auch wenn man beriicksich34 S. Jahresbericht des National-Exekutiv-Comites 1885-1886. H. Unsere Presse und Broschürenliteratur. - In: Sozialist, 29.1.1887. Vgl. auch Arndt und Olson: German American Newspapers..., S. 398. 35 Für eine Auflistung aller Sektionen der SAP vgl. Sozialist, 9.10.1886. 36 Vgl. Versammlungsbericht der Sektion Newark, Sozialist, 1.1.1887; Unsere Broschürenliteratur. - In: Sozialist, S. 2.1887. 37 Ebenda. 38 Für das Jahr 1887 liegt kein Verkaufsbericht vor. 259

tigt, daß sozialistische Zeitschriften oft in Arbeiterkneipen, deren Inhaber mit der Bewegung sympathisierten, auflagen, die Zahl der Leser also diejenige der Auflage weit überstieg, scheint die Broschürenliteratur einen breiteren Leserkreis erreicht zu haben. Weiter muß in Betracht gezogen werden, daß die Redaktionen der meisten deutschamerikanischen sozialistischen oder mit dem Sozialismus sympathisierenden Zeitschriften enge Kontakte zueinander unterhielten und daß Nachrichten, Einsendungen oder auch literarische Beiträge und Abdrucke oft von der einen oder anderen Zeitung übernommen wurden. Wenn auch kein weiterer Abdruck von Dantons Tod in deutschsprachigen Zeitungen ermittelt werden konnte, so wurde in diesen zumindest auf die Veröffentlichung im Sozialist hingewiesen. Ab Ende August 1886 warb z. B. die der SAP nahestehende New Yorker Volks-Zeitung in ihrem Sonntagsblatt (mit der beträchtlichen Auflagenstärke von 12.502 für 188639) für den Sozialist als »das wirksamste Propagandamittel für unsere Ideen«, und sie hob gleichzeitig hervor, »daß in der letzterschienenen Nummer die Redaktion des >Sozialist< die Veröffentlichung des kraftvollen, packenden Georg Büchner'schen Dramas begonnen hat, welches den Titel Danton's Tod führt und in mächtig wirkenden, genialen Zügen eine Epoche der großen französischen Revolution zu ergreifender Darstellung bringt.«40 In Bezug auf die Publikumswirkung muß darüberhinaus berücksichtigt werden, daß den deutschamerikanischen sozialistischen Zeitschriften während der Bismarckschen Ausnahmegesetze eine wichtige Funktion als Exilpresse zukam. Wenn auch der Sozialist selbst auf der Liste der verbotenen Schriften stand41, so weisen schon die engen Kontakte zwischen deutschamerikanischer Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie darauf hin, daß er dennoch gelesen wurde. Eine Anzeige im Zürcher Sozialdemokrat, der ebenfalls als Exilpresse fungierte, wirbt noch 1888 für die Büchnerausgabe der Socialistic Library.42 Es ist somit nicht auszuschließen, daß die Oehlersche Ausgabe die Wiederentdeckung Büchners in Deutschland beeinflußt hat.

Auch die Freidenker Publishing Co. dürfte durch die Socialistic Library auf Dantons Tod aufmerksam geworden sein. Dies lassen nicht nur die identische Aufmachung — gleiches Titelblatt, gleicher Preis -, sondern auch die Beziehungen von progressiven Freidenkern und Turnern zur sozialistischen 39 American Newspaper Catalogue (Edwin Alden & Bro., Cincinnati 1887). 40 Literarisches. - In: Sonntagsblatt der New Yorker Volks-Zeitung, 29. 8.1886. 41 Vgl. Ignaz Auer: Nach zehn Jahren. Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes. - London 1889, S. 338. 42 Notiz in: Der Sozialdemokrat, Zürich, 8. 4.1887 und 16.12.1888. 260

Bewegung vermuten.43 Ideologisch vereinte diese Gruppen vor allem das Erbe der Opposition gegen die reaktionäre Staatsgewalt im deutschen Vormärz und nach der Revolution von 1848, das Festhalten an republikanischen Werten und der Protest gegen deren Preisgabe im sich industrialisierenden Amerika der 70er und 80er Jahre. Dies schuf zumindest in kulturellen Fragen eine gemeinsame Basis zwischen deutschamerikanischen Freidenkern, Turnern und Sozialisten. Georg Büchners Dantons Tod wurde so ein Rezeptionskreis ermöglicht, der sicherlich über den der von der SAP herausgegebenen Schriften zur Förderung der sozialistischen Idee hinausging.44 Jedoch scheint das Interesse an Dantons Tod von Seiten der Freidenker und Turner eher dem Dichter des Vormärz gegolten zu haben als dem aktuellen, sozialpolitischen Kontext entsprungen zu sein. Ein für die Amerikanische Turnzeitung verfaßter, zweiseitiger Nachruf zum fünfzigjährigen Todestag Büchners, der sowohl vom Milwaukeer Freidenker als auch von der Fakkel übernommen wurde45, sah Büchners politisches Wirken und literarisches Werk ausschließlich im Rahmen der sozialpolitischen Verhältnisse der 30er Jahre in Deutschland. Auf der Einleitung zu den Nachgelassenen Schriften fußend, wurden Lebenslauf und Werke besprochen. Büchners >socialistische< Einstellung, die vor allem im Hessischen Landboten sichtbar werde, wird reduziert auf »sein warmes Herz für die Armen und Geknechteten«, und seinen »glühenden Haß gegen Willkür und Tyrannei.« Deutlich wird darauf hingewiesen, daß seine politische Haltung historisch gesehen werden müsse und für die zeitgenössischen Probleme keine Wirkungskraft besitze. So heißt es über die Sprache des Hessischen Landboten: »Man bedenke die Brutalität der Reaktion von damals, das Verzweifeln des Verfassers am Werte alles Bestehenden, den Umstand ferner, daß Büchner ein von unendlichem Mitleid erfüllter Gemütsmensch war, seinen Bildungsgang, seine Erfahrungen,

43 Die engen Verbindungen zwischen Freidenkern und Turnern zeigt allein schon die Tatsache, daß die Amerikanische Turnzeitung bis 1885 als Beilage des Freidenker erschien. Auch nach der Trennung stehen beide Organe unter der Redaktion von C. H. Boppe. Der Freidenker wiederum wirbt im Sozialist um Leserschaft mit ausdrücklichem Hinweis auf sein Interesse am Sozialismus. Vgl. Notiz in: Sozialist, 9.1.1886. Zur Ideologie der Freidenker s. a. Bettina Goldberg: Deutsch-amerikanische Freidenker in Milwaukee 1877-1890: Organisation und gesellschaftliche Orientierung. Hausarbeit der ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien. - Bochum 1982. 44 Der Name Büchner war zudem bei Freidenkern und Turnern nicht unbekannt. Schon 1872 hatte Ludwig Büchner die Vereinigten Staaten zu einer dreivierteljährigen Vortragsreise besucht, die hauptsächlich von Freien Gemeinden und Turnvereinen organisiert worden war. Seine Schriften wurden von der Freidenker Publishing Company vertrieben. Vgl. Heinrich Metzner: Geschichte des Turnerhundes. - Indianapolis 1874, S. 103; Ein Triumph des Materialismus. - In: Freidenker, 1.11.1872; Bücher und Schriften (von der Freidenker Publishing Company herausgegeben). - In: Amerikanische Turnzeitung, 31. 7.1887. 45 Zum fünfzigjährigen Todestag Georg Büchner*s. Von Chr. Tarnuzzer. - In: Amerikanische Turnzeitung, Freidenker, Fackel, 20. und 27.2.1887.

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mit seinen Lehren in Einklang stehend — und man kann das Leidenschaftlich Übertriebene einer solchen Sprache verstehen.«46

Dantons Tod wird zwar als dichterischer Höhepunkt Büchners bezeichnet, jedoch das Fehlen von »leitenden Grundgedanken und ethischer Tiefe« bemängelt — eine Kritik, die sich deutlich von der Preisung des Dramas als »höchstrevolutionäre Poesie« durch die Redaktion des Sozialist unterscheidet. So lassen sich zwei verschiedene Rezeptionsebenen von Dantons Tod in der deutschamerikanischen Leserschaft feststellen: Zum einen geschah der Rückgriff auf Büchner mit dem Ziel, sein Drama für parteipolitische Propagandazwecke nutzbar zu machen und es — ohne genauere Analyse und Interpretation — aufgrund der Thematik als revolutionäre Poesie< einzustufen. Zum anderen diente sein Werk dazu, nostalgisch an die Wurzeln der — unzureichend definierten — politischen Werte einer Gruppe zu erinnern, die sich unter dem Druck der sozialen Veränderungen im Amerika des 19. Jahrhunderts im Umbruch befanden bzw. sich zu verlieren drohten. In beiden Fällen jedoch entsprang das Interesse an Büchner der besonderen Situation der deutschen Emigranten in den USA, die frühsozialistisches und republikanisches Gedankengut eher bewahren konnten, als dies in Deutschland möglich war, und die dessen Verfall noch in den 80er und 90er Jahren bekämpften — oder, wie im Fall der SAP, mit modernem Sozialismus verknüpft sahen.

VI Da sich die kulturpolitischen Initiativen der SAP keineswegs nur auf den Schriftenvertrieb beschränkten, sondern bei Festlichkeiten wie Kommunefeiern, Sommerpicnics und anderen Anlässen (die einen wichtigen Bestandteil des kulturellen Lebens der organisierten Arbeiterschaft darstellten) auch die Aufführung von Theaterstücken vorsahen, muß die Frage gestellt werden, ob von Seiten der SAP der Versuch gemacht wurde, Dantons Tod zur Aufführung zu bringen.47 Politisches Arbeitertheater wurde in der Regel von sozialistischen Laiengruppen bestritten, doch führte in manchen Fällen ein hoher Qualitätsanspruch dazu, daß auch professionelle Truppen engagiert wurden.48 Trotz dieser einzelnen Bemühungen auch um technische Aufführungs46 Zum fünfzigjährigen Todestag Georg Büchner's. Schluß. - In: Freidenker, 27. 2.1887. 47 Zwar beschränkte sich der Theaterbesuch deutschamerikanischer Arbeiter im Zeitraum von 1870 bis zur Jahrhundertwende keineswegs nur auf Arbeiterfestlichkeiten, doch waren diese die Hauptanlässe, bei denen politisch bewußtes Arbeitertheater zur Aufführung gelangte. Vgl. Christine Heiß: Kommerzielle deutsche Volksbühnen..., S. 22 ff. 48 Vgl. die Aufführung von Wilhelm Ludwig Rosenbergs Tochter des Proletariers durch das Ensemble von MC Vickers zur Kommunefeier 1884 in Chicago, ebenda, S. 24.

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qualität stand natürlich die politische Aussage bzw. die Wirkung eines Stücks und dessen Lehr- oder auch Unterhaltungswert für die zuschauende Arbeiterschaft im Mittelpunkt. Dies führte oft dazu, daß Stücke, die größere Anforderungen an die Aufführungstechnik stellten, um des Inhalts und der immer noch erzielten Publikumswirkung willen verkürzt und mit unzureichenden schauspielerischen und technischen Mitteln gespielt wurden.49 Unter diesem Gesichtspunkt wäre also eine Aufführung des Stücks, ungeachtet der technischen Probleme, durchaus denkbar gewesen. Dennoch konnten für die dem Danton-Abdruck folgenden Jahre keine Hinweise auf eine Aufführung ermittelt werden. Zur Hundertjahrfeier der Französischen Revolution, die von allen Richtungen der Arbeiterbewegung in Amerika mit großem Aufwand begangen wurde, beschränkte man sich auf Tableaux Vivants, die Szenen der Revolution wiedergaben.50 Dantons Tod scheint demnach - wie auch schon die Klassifizierung des Dramas als Revolutionsgeschichte andeutet — eher als Lesedrama denn als ein zur Aufführung bestimmtes Stück bewertet worden zu sein. Was die Büchner-Rezeption durch Freidenker und Turner betrifft, muß aufgrund der verstreuten Information und der schwierigen Materiallage offenbleiben, ob in einem der zahlreichen Laientheatervereine eine Aufführung versucht wurde. Die eher zurückhaltende Einstufung Büchners und seines Stücks läßt jedoch eher das Gegenteil vermuten. Der einzige Hinweis auf eine geplante Aufführung stammt erst aus dem Jahre 1896 und ist nicht mehr auf die Rezeption der 80er Jahre zurückzuführen, sondern spiegelt die Entwicklungen im deutschen Theaterbetrieb wider. Im Rahmen des Versuches, in Chicago eine Freie Volksbühne nach dem Berliner Muster einzurichten, stellte man sich die Aufgabe, »besonders die in Deutschland verbotenen Stücke, z. B. Danton's Tod«51 aufzuführen — eine Initiative, die offenbar weniger durch eigenes Interesse als durch die Übernahme des Programms der Berliner Freien Volksbühne bestimmt war.52 Diese Pläne scheiterten jedoch schon am Mißerfolg der ersten Vorstellung, deren künstlerische Qualitäten von Presse und Publikum so scharf kritisiert wurden53, daß es gar nicht erst zu einer weiteren Vorstellung kam.

49 Vgl. den Aufführungszyklus von Gerhart Hauptmanns Die Weber durch die Most'sche Laientruppe in Chicago, ebenda, S. 22 und 25. 50 Vgl. Voranzeige und Bericht zur Hunderjahrfeier der französischen Revolution in: Sozialist, 20. und 27. 7.1889, Chicagoer Arbeiter-Zeitung, 15. 7.1889. 51 Freie Bühne. - In: Chicagoer Arbeiter-Zeitung, 8.11.1889. 52 Vgl. Goltschnigg: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte..., S. 44 f. 53 Freie Bühne Chicago. - In: Chicagoer Arbeiter-Zeitung, 5.12.1896. 263

DEBATTEN

Richard Thieberger (Nice):

Über Hubert Gerschs neue »Studienausgabe« von Büchners Lenz

l. Der Text Zwei Tatsachen, die unbestritten geblieben sind, erschweren die präzise Forschung am Text von Büchners Lenz. Dieses posthum erschienene Werk ist nicht vom Autor für den Druck vorbereitet worden, so daß die Herausgeber bis auf den heutigen Tag immer wieder versucht - ja fast gezwungen — sind, daran herumzubasteln. Nicht einmal das Manuskript der unfertigen Novelle, das dem Erstdruck als Vorlage diente, hat sich erhalten. Und wir wissen, daß dieses Manuskript seinerseits nur eine Abschrift, hergestellt von des verstorbenen Dichters Braut, eines ebenfalls verschollenen Büchner-Manuskripts war. Unter diesen Umständen kann sich niemand auf einen unanfechtbaren, authentischen und einwandfreien Text von Büchners Lenz berufen.1 Die zweite Schwierigkeit liegt in dem unfertigen Charakter des Werks. In welcher Ausgabe immer man Büchners Lenz liest (von Gutzkow bis Gersch), — es wird einem stets auffallen, daß die verschiedenen Stellen des Textes nicht in gleichem Maß ausgeführt sind. Niemand zweifelt daran, daß Büchner noch manches ausgearbeitet, auch da und dort einen Passus eingefügt hätte, bevor ihm das Manuskript als druckreif erschienen wäre. So wie die Novelle uns vorliegt, ist sie einem unfertigen Bild vergleichbar, an dem der Maler stellenweise bis zur letzten Retouche gelangt ist, wogegen andere Teile nur flüchtig skizziert sind. Da und dort plante Büchner eine genauere Ausführung. Es läßt sich auch nachweisen, daß er - zumindest an einer Stelle Einschübe vorsah.2 Die nie bestrittene Unfertigkeit des Ganzen hatte zur Folge, daß Büchners Lenz oft als Fragment bezeichnet wurde. Dieser Terminus ist mißverständ1 Vgl. Werner R. Lehmann: Textkritische Noten. Prolegomena zur Hamburger Büchner-Ausgabe. - Hamburg: Wegner 1967, S. 23 f.; Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe. Im Anhang: Johann Friedrich Oberlins Bericht »Herr L « in der Druckfassung »Der Dichter Lenz, im Steintale« durch August Stöber und Auszüge aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« über). M. R. Lenz. Hrsg. von Hubert Gersch. - Stuttgart 1984 (= Reclams UniversalBibliothek Nr. 8210), S. 58 ff. 2 S. unten unser Beispiel 18.

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lieh und wohl besser zu vermeiden. Für manche bedeutet er, daß der Schlußsatz (»So lebte er hin.«) die Dichtung keineswegs abschließen sollte. Diese Auffassung läßt sich nur schwer aufrechterhalten.3 Es ist nicht anzunehmen, daß Büchner eine Lenz-Biographie schreiben wollte, die bis zum obskuren Ende seines Helden geführt hätte. Mit der Beruhigung der Krise und dem endgültigen Eintritt des Wahnsinns war Büchners Interesse an Lenz erloschen. Fragmentarisch ist die Dichtung nur insofern, als der Autor ihr nicht die von ihm geplante endgültige Form verliehen hat. Allen Herausgebern, die versucht hatten, den vergessenen Text des zunächst vergessenen Dichters »lesbar« zu gestalten, d. h. möglichst publikumsnah zu edieren, haben strenge Kritiker Eigenmächtigkeit und unwissenschaftliches Vorgehen vorgeworfen. Immer nachdrücklicher ergab sich die Notwendigkeit einer historisch-kritischen Ausgabe, nicht nur des Lenz, sondern des Büchner'schen Gesamtwerks. Eine solche legte schließlich Werner R. Lehmann 1967 vor.4 Dem gegenüber hatte Reclams Universal-Bibliothek bisher an der überholten Textgestalt von Bergemanns Insel-Ausgabe festgehalten. Nun bietet sie eine »Studienausgabe«, besorgt von Hubert Gersch (1984). In seinem Nachwort stellt der Herausgeber die Behauptung auf: »Alle bisherigen Ausgaben des Lenz bieten einen in vielfältiger Hinsicht nicht-authentischen Text, einen Text, der so nicht von Büchner stammt. Anders gesagt: Einer der wichtigsten und schwierigsten Texte der modernen Erzählkunst war bisher nur in entstellter Form zugänglich.«5

Diese Behauptung ist auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. Daß alle Ausgaben in »vielfältiger Hinsicht einen nicht-authentischen Text« bieten, ist eine altbekannte Tatsache. Wie sollte das anders sein, da weder ein Manuskript des Autors noch die Druckvorlage (oder eine der Druckvorlagen, sofern Gutzkow und Ludwig Büchner auf Grund verschiedener Unterlagen ediert hätten) überliefert sind. Einen Text, der »so« von Büchner herrührt, kann niemand erstellen, auch Hubert Gersch nicht. Zur unbedingten Treue einer der ersten Ausgaben gegenüber ist kein moderner Herausgeber verpflichtet. Gersch hat wohl nicht unrecht mit der Behauptung, der Gutzkow'sche Erstdruck sei »von sehr hoher Authentizität«6. Doch »mustert« auch er »mit den Mitteln der Textkritik Verderbnisse aus«.7 So nimmt er »textkriti3 Vgl. Horst Oppel: Stand und Aufgaben der Büchner-Forschung. - In: Euphorion49 (1955), S. 98 f. 4 Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar (Hamburger Ausgabe). Von den vier angekündigten Bänden sind nur erschienen Bd 1: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, 1967; Bd 2: Vermischte Schriften und Briefe, 1971. Hier zitiert als HA I und HA II. 5 »Studienausgabe« (s. Anm. 1), S. 60. 6 Ebd., S. 59. 7 Ebd., S. 61.

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sehe Korrekturen des überlieferten, aufgrund von Schreibernachläßigkeiten und Leseirrtümern verderbten Wortlauts« vor und kennzeichnet sie durch Klammern. Ferner teilt er mit: »Unzweifelhafte Druckfehler sind stillschweigend beseitigt.« Schließlich »modernisiert« er den Text »unter Wahrung des Lautstandes«.8 Aus all dem ist ersichtlich, daß Gersch nicht anderen Prinzipien folgt als seine Vorgänger: er stellt einen ihm authentisch erscheinenden Text her, der natürlich »so« nicht von Büchner, sondern von Gersch stammt. Daß dies nach bestem Wissen und Gewissen geschah, soll nicht in Zweifel gezogen werden. Um sich ein eigenes Urteil zu bilden, empfiehlt es sich zunächst, die wesentlichen Unterschiede zwischen der Fassung Lehmanns, die von den meisten Büchner-Forschern lobend aufgenommen wurde, und der jetzt vorgelegten Fassung Gerschs zu untersuchen. Wir numerieren die Beispiele, um später darauf Bezug nehmen zu können. Lehmann (HA I)

Gersch (»Studienausgabe«)

D Lenz war wieder zu sich gekommen, das Lenz war wieder zu sich gekommen, das ganze Bewußtsein seiner Lage stand vor ganze Bewußtsein seiner Lage, es war ihm ihm, es war ihm wieder leicht [...] wieder leicht [...] (8,11 ff.) (81,29 ff.) 2) er verrichtete sein Baden [...] (83,7)

er verrichtete sein Bad [...] (9,35)

3) das neue Testament trat ihm hier so ent- das Neue Testament trat ihm hier so entgegen, und [hier notiert Lehmann: »Lük- gegen, und eines Morgens ging er hinaus. ke oder Textverderbnis«] Wie Oberlin Wie Oberlin ihm erzählte [...] (10,2 ff.) ihm erzählte [...] (83,10 f.) 4) wie ihn eine unsichtbare Hand (83,11 f.)

wie ihn eine unaufhaltsame Hand [...] (10,4 f.)

5) göttliche, zuckende Lippen bückten sich göttliche, zuckende Lippen bückten sich über ihm nieder (84,38 f.) über ihm aus (12,3 f.)

6)

Hier weg? Ich verstehe das nicht, mit den Weg? Ich verstehe das nicht, mit den zwei zwei Worten ist die Welt verhunzt. Worten ist die Welt verhunzt. (16,31 ff.) (89,3 f.) 7) was will mein Vater? Kann er mehr ge- was will mein Vater? kann er mir geben? ben? Unmöglich! (89,10 f.) Unmöglich! (17,3 f.) 8 Ebd., S. 62 f. 268

8) Die Welt war ihm helle gewesen, und er Die Welt war ihm helle gewesen, und an spürte an sich ein Regen und Wimmeln sich ein Regen und Wimmeln [...] [...](91,24 f.) (19,31 f.) 9) ein Kind in Fouday sey gestorben, das ein Kind in Fouday sei gestorben, [...] Friederike hieß, [...] (93,9) (21,26) 10) er warf sich nieder, er betete mit allem Jammer der Verzweiflung, wie er schwach und unglücklich sey, daß Gott ein Zeichen an ihm thue, und das Kind beleben möge; [...] (93,24 ff.)

er warf sich nieder, er betete mit allem Jammer der Verzweiflung, daß Gott ein Zeichen an ihm tue, und das Kind beleben möge, wie er schwach und unglücklich sei; [...] (22,6 ff.)

H) das Ungewisse Licht dehnte sich hinunter, das Ungewisse Licht dehnte sich hinunter, wo die weißen Steinmassen lagen, und der wo die weißen Steinmassen, und der HirnHimmel [...] (94,3 f.) mel [...] (22,25 ff.) 12) die Sünde wider den heiligen Geist stand die Sünde (in den) Heilige^) Geist vor ihm. (94,15 f.) stand vor ihm. (23,3 f.)

mbergeise (95,31)

Haberpfeife (24,26)

das ist sehr wichtig, wir wollen es unter- das ist sehr richtig, wir wollen es untersusuchen.[...] (96,16 f.) chen [...] (25,16) 15} Schulmeister Sebastian Scheidecker in Bei- Schulmeister in Bellefosse (25,28) lefosse (96,28)

Sebastian [...] fand aber heimlich Mittel, seinen Bruder von der Gefahr zu benachric|itigen, und nun hatte Lenz zwei Aufseher statt einen. (97,6 ff.)

Sebastian [...] fand aber heimlich Mittel, seine Brüder von der Gefahr zu benachrichtigen, und nun hatte Lenz zwei Aufseher statt einen. (26,11 ff.)

Er zog sie wacker herum (97,8 f.)

Er zog sie weiter herum (26,13 f.)

E| setzte sich und schreib einige Briefe, Er setzte sich und schrieb einige Briefe, gab sie sodann Oberlin mit der Bitte, eini- gab sie sodann Oberlin mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu setzen. Siehe die Briefe, ge Zeilen dazuzusetzen. (x-x) (27,5 ff.)

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-

di| p^elt, die er hatte nutzen wollten die Welt, die er hatte nutzen wollen (27,10 f.)

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20) Manchmal fühlte er einen unwiderstehlichen Drang, das Ding, das er gerade im Sinne hatte, auszuführen, und dann schnitt er entsetzliche Fratzen. (98,25 ff.)

Manchmal fühlte er einen unwiderstehlichen Drang, das Ding auszuführen, und dann schnitt er entsetzliche Fratzen, (28,1 ff.)

21) Nur mit der größten Mühe schlief er ein, Nur mit der größten Mühe schlief er ein, während er zuvor noch die schreckliche während er zuvor die noch schreckliche Leere zu füllen versucht hatte. (98,37 ff.) Leere zu füllen versucht hatte. (28,13 ff.) 22) Allmählig brachten ihn Oberlins Worte Allmählig brachten ihn Oberlins Worte dann zu sich (99,22 f.) denn zu sich (29,3 f.) 23) er lag fast nackt auf dem Bette und war er lag fast nackt auf dem Bette und war heftig bewegt. (100,11 f.) heftig. (29,33 f.) 24) über die Ebene hin am Fuße des Gebirges über die Ebene hin am Flusse des Gebirlag ein schimmerndes bläuliches Ge- ges lag ein schimmerndes bläuliches Gespinnst. (101,6 ff.) spinst. (30,33 f.)

Ein Vergleich zwischen den beiden Ausgaben ergibt auf den ersten Blick, daß Gersch und Lehmann die Orthographie auf verschiedene Weise normalisiert haben. Dieser hält sich konsequent an die alte »th«-Schreibung; Gersch tilgt sie. Auch bei »sey« und »seyn« entscheidet er sich für die moderne Schreibweise. Dagegen ist nichts zu einzuwenden, obwohl diese Schriftbilder »so« weder von Büchner noch von Gutzkow stammen. Auch bei ändern unwichtigen Einzelheiten wollen wir uns nicht aufhalten, wie z. B. Großschreibung (Alles, Niemand ...), s-Schreibung, Zusammensetzungen (z. B. »dazuzusetzen«), Apostroph (»in's«, »aufs« u. a. m.), Anführungszeichen und ähnliche, rein optische Varianten. Bei Beispiel 19 handelt es sich bei Lehmann um einen Druckfehler, den einzigen, den ich feststellen konnte, und der übrigens in der zweiten Auflage bereits korrigiert ist. In Beispiel 18 hat Lehmann eine Notiz Büchners aufgenommen, die — wie man mit Sicherheit behaupten kann — nicht für den Druck bestimmt war. Allerdings hatte sie Gutzkow mitgedruckt, als sei sie integrierender Bestandteil der Novelle. Briefe Lenzens standen Büchner zur Verfügung, und er hatte zweifellos die Absicht, Auszüge daraus für seinen Lenz zu verwenden. An der betreffenden Stelle eines unfertigen Manuskripts fand sich daher - gewissermaßen als Erinnerungszeichen - die Notiz »Siehe die Briefe.« Das ist keine Aufforderung an den Leser, sondern eine Gedächtnisstütze für den Autor. Diese Lücke im Text markiert Gersch einfach durch das Zeichen »(x—x)«. Darin ist ihm recht zu geben. Wir stellen immerhin fest, daß der Gutzkow270

treue Gersch hier vom Herausgeber des Erstdrucks abweicht, während der von ihm der Leichtfertigkeit bezichtigte Lehmann sich hier »historisch-kritisch« genau an Gutzkow hält. So Widersprüchliches zeitigen zuweilen derlei Kontroversen. Zu Beispiel 7 bemerkt Gersch: »In dem einen Fall >was will mein Vater? kann er mir geben?< (17,3 f.) wurde die Kleinschreibung von >kann< hergestellt, um die Abhängigkeit auch des zweiten Fragesatzes vom Fragewort >was< des ersten Satzes heutigen Lesern leichter nachvollziehbar zu machen.«9

In seinem beim Büchner-Symposium (Darmstadt, Juni 1981) vorgelegten Manuskript gibt Gersch folgende Erklärung dafür, daß er dem von Gutzkow gedruckten »mir« den Vorzug gibt gegenüber dem von Bergemann und Lehmann adoptierten »mehr«: »Die Frage Kann er mir geben? ist in ihrer historischen Erscheinungsform [? R. Th.] noch abhängig vom Interrogativpronomen was des vorangegangenen Fragesatzes was will mein Vater?. Sie ist also zu lesen im Sinne von >Was kann er mir geben?Unmöglich, daß ich hier weggehe und nach Haus zurückkehre !Lenz< ist - insgesamt gesehen - ein wissenschaftliches Trauerspiel. Vieles hat dazu geführt. Das Wichtigste vielleicht: die Unterordnung des überlieferten Textes unter die jeweilige editorische Interessenlage, sei sie persönlich karrieristisch oder verlagspolitisch motiviert, ist allemal historisch und gesellschaftlich bedingt. [...] Bei den sich wissenschaftlich gebenden Editionen verbanden sich dann die jeweilige zeitbedingte literarische oder literarhistorische Sichtweise mit dem Mangel an editorischer Professionalität und der damit einhergehenden Willkür in der Methodik zum Zweck der Bestätigung eines vorgefaßten oder ersehnten Büchner-Bildes. An diesem Punkt weist das Problem über den >Lenz< hinaus und deutet auf einen allgemeinen literaturwissenschaftlichen Obelstand. Edition schien und scheint immer eine besondere Disziplin des Fachs Dilettantismus zu sein.«39 Wenn »die Unterordnung des überlieferten Textes unter die jeweilige editorische Interessenlage, sei sie persönlich karrieristisch oder verlagspolitisch motiviert, [...] allemal historisch und gesellschaftlich bedingt« ist, so müßte das, da ja historische und gesellschaftliche Gesetze »allemal« gelten, auch auf die »Studienausgabe« des Lenz durch Hubert Gersch zutreffen. Weshalb man mit so kategorischen Formulierungen immer vorsichtig sein sollte.

38 Textkritische Noten (s. Anm. 1), S. 24. 39 Darmstädter Manuskript (s. Anm. 10), S. 101 f.

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Klaus Kanzog (München):

Faksimilieren, transkribieren, edieren Grundsätzliches zu Gerhard Schmids Ausgabe des Woyzeck

Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearbeitet von Gerhard Schmid. Faksimile / Transkription. [Mit] Kommentar [und] Lesartenverzeichnis. - Wiesbaden: Ludwig Reichert Verlag [dass. Leipzig: Edition Leipzig] 1981 (= Manu scripta. Faksimileausgaben literarischer Handschriften, Bd 1). 46 S. Faks. gefaltet; [IV], 46 S. lose; 67, 59 S. br. 2°, in Lw.mappe. DM 136.-

Neben den Reproduktionen mittelalterlicher Codices fanden stets auch faksimilierte Handschriften von Autoren aus der neueren Zeit ihre Interessenten. Sie waren und sind Wertobjekte eigener Art. Auf der einen Seite sichern sie den Überlieferungsträger, indem sie ihn vervielfältigen und vor Beschädigung und zwangsläufiger Abnutzung bewahren, auf der anderen Seite gehen von ihnen ästhetische und mythische Reize aus, die zu einem ähnlichen Fetischismus führen können, wie er vielfach im Autographenhandel zu beobachten ist.1 Neuere technische Verfahren und die Wahl des Papiers erlauben heute eine so täuschende Ähnlichkeit mit dem Original, daß man die Reproduktion vorsichtshalber mit dem Vermerk »Faksimile«2 versieht. Die Reproduktion ermöglicht einen schnelleren Einblick in das »Dokument« und ein engeres Verhältnis zum Autor, seiner Schrift, seinen Korrekturen, seiner Denk- und Arbeitsweise. Für einzelne Blätter und Briefe mag da noch Carl Dieschs Auffassung zutreffen, Faksimileausgaben moderner Dichterhandschriften dienten »in erster Linie bibliophilen Zwecken«3; bei der Reproduktion von Manuskripten einzelner Werke tritt der bibliophile Aspekt hinter dem dokumentarischen zurück, auch wenn die Reproduktionen, abgesehen von Bibliotheken, mehr von Liebhabern als von denen gekauft werden (und gekauft werden können), zu deren philologischem >Rüstzeug< sie gehören sollten.

1 Vgl. hierzu Klaus Kanzog: Edition und Engagement, ISO Jahre Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich von Kleists , Bd. 2. - Berlin, New York 1979, S. l ff. 2 So z. B. in den Faksimiledrucken des Schiller-Nationalmuseums in Marbach am Neckar seit 1969 (mit Faksimiledruck Nr. 14: Blatt aus den Entwürfen zu Fontanes Effi Briest), allerdings nicht konsequent auf allen Blättern. 3 Carl Diesen: Handschriften. - In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr, Bd. 1. - Berlin 1958, S. 618. 280

Aus der Perspektive des Herausgebers, der sich die dokumentierende Wiedergabe der Überlieferung eines Textes zum Ziel gesetzt hat, könnte die zusätzliche Reproduktion des handschriftlichen Oberlieferungsträgers überflüssig erscheinen, denn nach den Grundsätzen des dokumentierenden Edierens müssen die Überlieferungsverhältnisse, die graphischen und diplomatischen Eigenheiten der Manuskripte sowie die Variantentopologie des Textes rekonstruierbar sein. Hans Zeller, der durch seine Forderung nach einer solchen Rekonstruierbarkeit Mißverständnisse4 ausgelöst hatte, präzisierte seinen Standpunkt hinsichtlich der Beigabe fotomechanisch hergestellter Handschriftenabbildungen; sie soll die in der Druckwiedergabe enthaltenen deskriptiven Informationen »ergänzen« und »unterstützen«5. Dies war auch einer der Grundgedanken D. E. Sattlers für die Konzeption der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe; allerdings hatte Sattler zunächst nur die »Wiedergabe aller problematischen Handschriften« und die »Überprüfung des Wortlauts, der Textentstehung und des Textzusammenhangs«6 im Auge; inzwischen ist die Handschriftenreproduktion in dieser Ausgabe auch dort zu einem Grundsatz geworden, wo der handschriftliche Überlieferungsträger, wie im Falle der Reinschrift zu Hyperions Jugend7, keine schwierigen Entzifferungsund Zuordnungsprobleme aufwirft. Die Auffassung, Handschriften-Reproduktionen seien aussagekräftiger als textkritische Apparate, findet heute kaum noch Zustimmung8, aber der durch die Reproduktion zwangsläufig eintretende Informationsverlust ist jedem Textkritiker bewußt, so gering dieser Informationsverlust im einzelnen auch sein mag. Er tritt schon durch die Verkleinerung und Vergrößerung des Originals9 ein. Die Lagen der Bogen und Blätter eines Manuskriptes mögen 4 Vgl. zur Frage der »Rekonstruktion« Klaus Kanzog: Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists. Theorie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition. - München 1970, S. 22 f. 5 Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. - In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. v. Günter Martens u. Hans Zeller. - München 1971, S. 83 f. 6 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, frankfurter Ausgabe«. Hrsg. v. D. E. Sattler. Einleitungs-Band. - Frankfurt a. M. 1975, S. 18. 7 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, frankfurter Ausgaben Bd. 10: Hyperion l. Hrsg. v. Michael Knaupp und D. E. Sattler. - Frankfurt a. M. 1982, S. 125-178. 8 Auch Karl-Heinz Hahn, der zusammen mit Helmut Holtzhauer (Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur. — In: Forschen und Bilden. Mitteilungen aus d. Nationalen Forschungs- u. Gedenkstätten, H. l, 1966, S. Ib) vorschlug, Editionen gegebenenfalls auf die Photo-Reproduktion zu beschränken und die Dechiffrierung der Handschrift dem Leser zu überlassen, sieht die Notwendigkeit einer Modifizierung dieses Standpunkts, wofür gerade die vorliegende Woyzeck-Ausgabe in der von ihm herausgegebenen Reihe »Manu scripta« spricht. 9 Die Verkleinerung der Wiedergaben der Blätter aus dem Homburger Folioheft (im Hinblick auf die Buchnorm der Ausgabe) und der bewußte Verzicht auf den »unverhältnismäßig aufwendigen Lichtdruck« (»aus ökonomischen Gründen«) erschweren in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe stellenweise den Nachvollzug der Transkriptionen. Deshalb habe ich in einem Seminar auf Vergrößerungen aus dem Stuttgarter Hölderlin-Archiv zurückgegriffen.

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in der Handschriftenbeschreibung noch so exakt angegeben sein, der unmittelbare Umgang mit dem Original hat den Vorteil der Anschaulichkeit, der sich oft schon im ersten Augenblick des Ansichtigwerdens eines Bogenkonvoluts10 zeigt. Papier- und Wasserzeichenforschung bleiben nach wie vor auf die Originale angewiesen, wie alle Untersuchungen, deren Gegenstand die Materialität des Textes ist; das gilt nicht zuletzt für die Entzifferung komplizierter Stellenletzte WortLesen in Alternativem geweckt werden kann. Sie ist zugleich über Woyzeck hinaus für die Editionstechnik und die typologische Bestimmung von Editionen von grundsätzlicher Bedeutung. Typologisch gesehen gehört die WA zu den »Archiv-Ausgaben«. Sie versucht eine exakte Erfassung aller Textphänomene und eine Bestandsaufnahme der kontroversen Lesungen früherer Editionen und anderer Lesartenvorschläge. Sie verachtet jedoch — von »einigen wenigen Fällen« abgesehen — auf eine Begründung der eigenen Lesungen »im Vergleich mit anderen Ausgaben«. Ich habe diesen Begriff »Archiv-Ausgabe«, der gelegentlich als Herkunftsbezeichnung begegnet, in die editorische Terminologie einzuführen versucht. Hans Zeller, Siegfried Scheibe und Hans Joachim Kreutzer wollten mir darin nicht folgen. Aber der Einwand von Hans Zeller, eine ArchivAusgabe könne »bloß eine Arbeitsphase der Vorbereitung der historisch-kritischen Ausgabe« sein, und Siegfried Scheibe, der in ihr nur die »Voraussetzung dessen« sieht, »was eigentlich eine historisch-kritische Ausgabe sein Sott«14, entkräften nicht das zentrale Argument für die notwendige Trennung zwischen »Archiv-Ausgabe« und »Historisch-kritischer Ausgabe«, d. h. der >Urkundlichkeit< und einer darauf aufbauenden Wiedergabe der Texte. Die

13 Ansetzung der Sigle nach dem Vorschlag von Thomas Michael Mayer in dem Text+KritikSonderbänd Georg Büchner III (1981), S. 288. 14 Schon in den Prolegomena (vgl. Anm. 4) habe ich im Anschluß an die Ausführungen über das Phänomen »Archiv-Ausgabe« formuliert (S. 15-23): »Die Archivarisierung des Textmaterials kann immer nur Voraussetzung, niemals alleiniges Ziel der Edition sein. Das kritische Verhalten einem Text gegenüber beginnt bei der Archiv-Ausgabe mit der Beurteilung der Textzeugen und der notwendigen Verbesserung offenkundiger Fehler; aber schon durch die Überlegung, wie weit Generalisierungen der Orthographie zweckmäßig sind, wird ihr Aufgabenbereich verlassen. Trotz aller Vorsätze, das Dokumentarische der Texte zu erhalten, müssen geeignete Darbietungsformen für den zugrunde zu legenden Text und die dazugehörigen Varianten gefunden werden« (S. 23/24). Vgl. hierzu auch meine Ausführungen: Gespräche über die Prolegomena. Ein Resümee. - In: Hans Joachim Kreutzer: Überlieferung und Edition. - Heidelberg 1976 (= Beih. zum Euphorien 7), S. 116 ff. 283

Stärke der WA liegt in der >Urkundlichkeit< des Textbefundes, d. h. im Sichtbar- und Lesbärmachen der überlieferten Texte auf der Basis des graphischen und diplomatischen Befundes. Weitere Ziele kann und darf sich eine »Archiv-Ausgabe« nicht stecken. Das Phänomen der >Urkundlichkeit< tritt schon in den drei Grundstufen der WA, Faksimile, Transkription und Lesartenverzeichnis, klar hervor. Es genügt hier, Schmids Transkription der Szene H 1,1 mit der Wiedergabe dieser Szene durch Fritz Bergemann und Werner R. Lehmann zu vergleichen, um zu erkennen, daß Bergemann die paläographische Grundstufe übersprungen hat, obgleich Tilgungs- und Einführungszeichen nebst Fußnoten den Eindruck der >Korrektheit< erwecken, Lehmann aber, dessen Zeichentechnik bei der Wiedergabe der Handschriften in der Woyzeck-Phüolo&e einen großen Fortschritt bedeutete, dieser Grundstufe doch noch nicht nah genug ist. Für Bergemann ist es z. B. selbstverständlich, die erste Sprecherangabe zu vervollständigen und kursiv wiederzugeben: Marktschreier vor einer Bude. Gerhard Schmid transkribiert mit Wiedergabe der Unterstreichung: Marktschrei vor einer Bude. Lehmann ergänzt den Sprechernamen, setzt ihn in Kapitälchen und druckt die Ortsbezeichnung kursiv: MARKTSCHREI (ER) vor einer Bude. Diese Unterschiede mögen dem Leser minimal erscheinen, sie bringen aber die grundsätzliche Einstellung der Editoren zum Ausdruck: Bergemann und Lehmann wollen einen einwandfrei lesbaren Text bieten, wobei Lehmann Brüche in der Handschrift nicht unterschlägt; Schmid macht dort, wo Brüche vorliegen, diese auch sichtbar. Im vorliegenden Fall hält er freilich »Marktschrei« nicht für ein ergänzungsbedürftiges Wort; er verzichtet deshalb darauf, die Konjekturen von Bergemann und Lehmann im Lesartenverzeichnis zu dokumentieren, und er folgt hierin dem Grundsatz, im Lesartenverzeichnis von früheren Editoren nur »Abweichungen in der Lesung der Handschriften«, nicht aber »solche in der interpretatorischen Herstellung des Textes« zu notieren. Es ist im übrigen konsequent, wenn Schmid in seiner Transkription Streichungen Büchners nicht durch die konventionalisierte eckige Klammer (Bergemann verwandte noch die in der Klassischen Philologie übliche geschweifte Tilgungsklammer), sondern durch die viel augenfälligeren waagerechten Striche durch die getilgten Worte wiedergibt. Zur >Urkundlichkeit< gehört auch das Offenlegen unsicherer Lesungen sowie nicht entzifferter Buchstaben, Worte und Wortgruppen. »In Fällen, in denen der Befund nicht als ausreichend gesichert erscheint, wird die Transkription in kleinerem Schriftgrad wiedergegeben. [...] Sind mehrere Lesungen möglich, so werden sie nacheinander angeführt. Die Varianten Buchstaben, Buchstabengruppen oder Worte werden im Anschluß an den invarianten Befund mit senkrechten Strichen eingeleitet, voneinander getrennt und abgeschlossen. Die wahrscheinlichere Lesung steht vor der weniger wahrscheinlichen.« Zu den »Besonderheiten« zählt Schmid die »Fälle, bei denen sowohl die Lesung des vollständigen, entsprechend dem Textzusammenhang allein zutreffenden Wortes als auch ein anderer, nicht vollständiger Befund 284

möglich ist. Hier wird nur die vollständige Lösung wiedergegeben.«15 Zur Kennzeichnung der für die Woyzeck-Handschnh kontrahierten, nicht eindeutig aufzulösenden Buchstabengruppen innerhalb eines gesicherten Wortes wählt Schmid doppelte senkrechte Striche. Hat Schmid wirklich alle Problemstellen offengelegt? In der erwähnten Szene H 1,1 bietet die Transkription in Zeile 8 eine Replik, die in den Lesetexten aus inneren Gründen Woyzeck zugeschrieben wird; in H l erscheint Woyzeck sonst unter dem Namen Louis, hier liest Schmid: Soldlaltl. Im Lesarten Verzeichnis notiert er die Lesungen Bergemanns (Wck), Lehmanns (-f Wze), Egon Krauses und Mitsuaki Moris (iGlHlSoldat ansatzh.), daneben Bornscheuers Verzicht auf Entzifferung der Stelle. Mit diesen Angaben kann man sich nicht ganz zufrieden geben. Denn in der Ausgabe Egon Krauses wird präziser vermerkt: »Soldat./Unsicher, ansatzhaft; davor Ansatz wie verschriebenes G oder H und gekritzelter Kopf«. Bergemann ergänzt in der Fußnote: »Name nur vermutbar; dasteht vielleicht Wck mit Schnörkel. W[=Witkowski] hat Louis«. Die in der Transkription und im Lesartenverzeichnis vorgenommene Informationsverkürzung ist offenkundig. Während in der Handschrift an dieser Stelle ein schwer entwirrbarer Linien- und Zeichenkomplex sofort ins Auge fällt, liegt in der Transkription eine klare Entscheidung vor; die Probleme werden erst im Lesartenverzeichnis deutlich, aber nicht in der ganzen Tragweite. Zur Debatte stehen drei Namensansetzungen, von denen Schmid eine (Witkowskis »Louis«) unterdrückt. Für diese Unterdrückung gibt es allerdings einen triftigen Grund: bei dem von Witkowski eingesetzten Wort »Louis« handelt es sich um eine Konjektur, nicht um eine >LesungUrkundlichkeit< gehört nicht zuletzt die einwandfreie Siglierung der Überlieferungsträger. Schmid schließt sich hier der von Lehmann20 vorgenommenen Siglierung an, er löst das Problem aber auch paläographisch einwandfrei. Denn Grundlage für die Siglierung muß die Materialität der Überlieferungsträger sein; diese ist durch die Foliohandschrift, die Quarthandschrift und das Einzelblatt in Quartformat klar abzugrenzen; da bei der Foliohandschrift inhaltliche Kriterien hinzutreten, ist auch sie siglierbar. Die Woyzecfc-Forschung wird in Zukunft nur von dieser Basis aus operieren können: H l = Erste Entwurfsstufe (Foliohandschrift I l bis III l oben); H 2 =

17 »Zeichnungen und Zahlenberechnungen, die Büchner auf den Manuskriptseiten angebracht hat«, wurden von Gerhard Schmid grundsätzlich nicht berücksichtigt. Man muß an dieser Stelle also davon ausgehen, daß Schmid hier keine Schriftzeichen ausgebildet sieht. 18 Vgl. Hans Zeller: Befund und Deutung (s. Anm. 5) und: Struktur und Genese in der Editorik. Zur germanistischen und anglistischen Editionsforschung. - In: L/L/5 (1975), H. 197 20: Edition und Wirkung, S. 105-126. 19 Trotz aller Entzifferungsbemühungen bleiben noch immer einige Stellen unentziffert. Man kann sie an den Markierungen in der Transkription leicht erkennen, dennoch wäre es außerordentlich hilfreich gewesen, wenn der Bearbeiter sich entschlossen hätte, alle unentzifferten Stellen zu vergrößern und noch einmal, als einen geschlossenen Komplex, dem Leser vorzustellen. 20 Im Anschluß hieran ist zu sagen, daß Werner R. Lehmanns Textkritische Noten. Prolegomena zur Hamburger Büchner-Ausgabe (Hamburg 1967) komplementär zu Schmids Kommentar und Lesartenverzeichnis weiterhin hilfreich bleiben.

286

Zweite Entwurfsstufe (Foliohandschrift III l oben bis V 1); H 3,1 und H 3,2 = Einzelne Szenenentwürfe; H 4 = Letzte Entwurfsstufe. Hier wird der Siglenwirrwarr beseitigt, der jeden Leser schon in der Anfangsphase der Beschäftigung mit dem Werk entmutigen konnte. Man mag nun daran Anstoß nehmen, daß Schmid den Begriff »Entwurf« verwendet. Er wehrt damit zunächst einmal den problematischen Begriff »Fassung« ab21, der sich für die Beschreibung der Textgenese im Woyzeck schon längst als untauglich erwiesen hat22; die Frage, in welchen Grenzen und in welchem Umfang Texteinheiten als »Fassungen« verstanden werden können, läßt sich angesichts dieser Überlieferungslage nicht beantworten. Für die Verwendung des Begriffs »Entwurf« hingegen gibt es objektivierbare Ansatzpunkte. Sie liegen an den Nahtstellen, an denen sichtbar wird, welche Szenen in strukturell vergleichbare Szenen23 überführt wurden und welche Szenen Büchner »noch nicht endgültig als erledigt oder verworfen betrachtet hat« (Kommentarband, S. 47). Es ist Schmid auch hierin zuzustimmen, »daß die überlieferten Handschriften zu Büchners >Woyzeck< als Bestandteil einer zusammengehörigen Fassung betrachtet werden müssen, die über mehrere Stufen in einem kontinuierlichen, wenn auch mehrfach unterbrochenen Arbeitsprozeß entstanden ist« (Kommentarband, S. 52). Nur hier ist die Verwendung des Begriffes »Fassung« akzeptabel, während die Begriffe »Stufe« und »Arbeitsprozeß« lediglich heuristische Funkdon haben; man kann sich mit ihrer Hilfe Schreibvorgänge vorstellen, ist aber nicht in der Lage, den jeweiligen Textkorpus genau zu bestimmen. Klarer als durch textkritische Zeichen tritt der Befund in der paläographischen Grundschicht durch die Transkription hervor, in der die Schriftzüge Büchners lesbar in moderner Schrift erscheinen und Korrekturen sofort auffallen. Es ist zu wünschen, daß sich dieses Verfahren bei allen komplizierten Handschriften durchsetzt, vor allem aber dann, wenn das System der hier anzuwendenden textkritischen Zeichen die Sachverhalte zwar korrekt wie21 Hier sei auf die von Siegfried Scheibe gegebenen Definitionen der Begriffe »Text eines Werkes« und »Textfassung« in: Zeitschrift für Deutsche Philologie Wl (1982), Sonderheft: Probleme neugermanistischer Edition, S. 28-29, verwiesen. Scheibe versucht allerdings wiederum nicht, auch den Begriff »Entwurf« zu definieren; für Scheibe ist, wie schon Gerhard Schmid (Kommentarband, S. 53) bemerkt, »die Unterscheidung genetischer Stufen nach dem Gesichtspunkt der Voriäufigkeit oder Endgültigkeit offenbar ohne Bedeutung«. 22 Spätestens nach den Fassungs-Hypothesen von Wilfried Buch (Woyzeck. Passungen und Wandlungen. - Dortmund 1970) und den eigenwilligen Bezeichnungen »Mord-Fassung« (H 1,11-20), »Eifersüchte-Fassung« (H 1,1-10 und 21), »Grotesk-Fassung« (H 2) und »Leidens-Fassung« (H 4 mit H 3) dürfte klar geworden sein, daß solche Fassungskonstitutionen editorisch fragwürdig sind. 23 Mit Recht stellt G. Schmid (Kommentarband, S. 47) fest: »Die in H 4,14 aufgegriffenen Motivkorrespondenzen sind nicht in dem Sinn zu interpretieren, daß H 1,10 in H 4,14 aufgegangen wäre.« Wenn ich in meinem Schema (DV/5 47, 1973, S. 424) gleichwohl durch einen Pfeil eine Verbindung zwischen beiden Szenen hergestellt habe, dann kam es mir auf Verdeutlichung der topologischen Beziehung beider Szenen an.

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derzugeben vermag, aber den visuellen Eindruck, der für das schnelle Erfassen der Variantentopographie von elementarer Bedeutung ist, schwächt, wenn nicht gar zerstört. In einem Textkritik-Seminar haben wir schon 1965 am Beispiel von Hölderlins Ode Der Frieden ein editorisches Stufenverfahren erprobt, bei dem eine solche Transkription die erste Stufe bildete. Es stellte sich damals heraus, daß die von Hans Zeller für die Rekonstruktion der Textgenese der Gedichte C. F. Meyers eingesetzten Zeichen für die Rekonstruktion der Textgenese der Gedichte Hölderlins untauglich waren, d. h. man konnte sie zwar exakt verwenden, aber sie notierten nur die Positionen der Varianten, ohne der Optik zu dienen. Will man den Leser für komplizierte Handschriftenverhältnisse sensibilisieren, dann ist man auf die suggestive Vermittlung dieser Handschriftenverhältnisse angewiesen. Die Transkription erscheint mir hierfür das geeignete Mittel zu sein. Auch in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe wurden aus den Überlieferungsverhältnissen der Texte Hölderlins entsprechende Konsequenzen gezogen. Zur Suggestivität der >Urkundlichkeit< gehört auch die Faksimilierung selbst. Es war ein guter Gedanke, die Überlieferungsträger nicht nur in der Originalgröße, sondern zugleich auf einheitlichen großen Bogen wiederzugeben, die sich besser handhaben lassen als Blätter unterschiedlichen Formats. Vieles ist nun ganz gegenwärtig, was sonst in den Handschriftenbeschreibungen verlorenging: Büchners Randzeichnungen, die so entscheidenden Faltspuren, die Farbnuancen des Papiers, die Art der Texteinfügungen. Daß trotz des großen technischen Aufwandes, durch den manches Detail klarer als im Original zum Vorschein gebracht wurde, nicht alle Wünsche (vor allem nicht bei der Faksimilierung der Folioseiten) befriedigt werden konnten, haben schon Werner R. Lehmann24 und Thomas Michael Mayer25 in ihren Rezensionen bemerkt. Ein Text wie Büchners Woyzeck, mit Überlieferungsbedingungen, die die Konstitution einer >endgültigen< Fassung nicht zulassen, und eine Ausgabe wie die WA, die die Unmöglichkeit der Herstellung einer solchen Fassung demonstriert, werfen die Frage auf, ob nicht die Transkription zugleich auch die Edition sein müsse. Ich könnte mir eine Taschenbuchausgabe vorstellen, in der die WA, allerdings ohne die Faksimilierungen, dem Leser das editorische Textproblem und damit das Problem des Textes selbst schnell und billig vergegenwärtigt. Büchners Texttilgungen und Textunterstreichungen, die Besonderheiten der Niederschrift der Texte (mit den charakteristischen Dialektalendungen und Flexionsdetails) treten in der Transkription augenfälliger hervor, als sie in einer Textdarbietung mit diakritischen Zeichen den Blick auf sich ziehen würden. Durch eine weite Verbreitung dieser Transkription könnte vielen Lesern bewußt gemacht werden, daß der Woyzeck in viel stär-

24 Werner R. Lehmann in: Germanistik 23 (1982), S. 128 f. 25 Thomas Michael Mayer in: GB ///, S. 282-291. 288

kerem Maße noch als der Lenz kein > Werks sondern ein >Projekt< ist. >Komplizierte< Stellen in der Transkription können allerdings das Verständnis von vornherein blockieren. Als Beispiel sei hier nur die Transkription des Anfangs der Szene H 2,3 wiedergegeben: OeflentKchleM Platt. Buden. Lichter. Aher Mann. Kind da» Unit:

Auf der Weh ist kein Bestand Wir müssen alle sterbe, das ist uns wohlbekannt!

He! Hopsa! Arm /Mann, alte Mann! Arm Kind! J|n|u|ge Kind! -M- a. F]«t|uO|! Key Louisel, soll ich dich tragMenl? Ein Mensch muß ++ d. ++ ++ damit er ++ ++ ++ Weh! Schon Welt! AusrufleH.

An ei Bude: Meine He||rren||, niei Damen, hier jind zu seh|n|e| ++ astronomische Pferd und die keine |qK|anaillevoge|l|le|, sind Lieblig von alle Potentate Europas u. Mitgüe alle gelehrte Sodetiti-Mge-wUMg. d. Leut|«|H Alles, wi alt, wi viel KindM»), was für Krankhit, schOt Pistol los, stelk sich auf ei Bein. Alles Ezieh|u|n|, habe n ein viehische Vernunft, öde vielmehr eine ganze v||em||anftige Viehigkeit, ist kei riehdummes Indivdum wiel viel P|rH«m, d|e|.|s »«ehrliche Publiki .bgJMchneu -Keif» ++, H+. E· wid ·*, die raprasentation, das commen||cefiwi>||t vom commen||c*mcn||t wid sogkhen nehm sein Anfang.

Kein Dramaturg kann mit dieser Transkription etwas anfangen, und der Leser will in der Regel beim Lesen nicht ständig auf Hindernisse stoßen. Zudem muß er noch ständig das Lesartenverzeichnis zur Hand nehmen. Er erwartet von den Philologen, daß sie einen >lesbaren< Text bieten. Diese Erwartung richtete sich bisher stets auf einen in sich geschlossenen Text, den dje meisten Herausgeber auch boten. Alle diese Editionen waren Lese- und Bühnenfassungen, obgleich nur Werner R. Lehmann die dritte Stufe seiner Textkonstitution ausdrücklich so bezeichnete, und sie haben heute nur noch rezeptionsgeschichtlichen Wert. An dem zentralen Dogma der Woyzeck-Philologie besteht seit langem kein Zweifel mehr, und die WA hat den Sachverh^It erneut bekräftigt, den ich vor zehn Jahren in dem Satz zusammenfaßte: »Es gibt keinen >WoyzeckPartiturFaksimile, Transkription, Edition< vor Augen führt. Die Hochschullehrer sind aufgerufen, in ihren Lehrveranstaltungen zu Büchners Woyzeck nicht länger den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und irgendeine Leseausgabe zu empfehlen, sondern diese Ausgabe zur Pflichtlektüre zu machen.

33 Ich stütze mich hier auf die unveröffentlichte Münchner Magisterarbeit »Die juristischen und medizinischen Gutachten zu Mordfällen und zu Georg Buchners Woyzeck« (1979) von Georg Reuchlein, der das Problem in größerem Zusammenhang in seiner im Sommersemester 1984 an der Münchner Universität abgeschlossenen Dissertation Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur. Zur Entwicklung der Wahnsinnsthematik in der deutschen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts behandelt hat; vgl. den Teildruck: Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner. - Frankfurt a. M., Bern, New York 1985 (= Literatur und Psychologie 14). 294

Reinhold Grimm (Madison/Wise.):

Woyzecks Hundele und Wetzels alter Hut: Eine (fast überflüssige) Erwiderung

Der »renommierte«1, jedenfalls nicht unrenommierte Germanist Heinz Wetzel hat sich jüngst bemüßigt gefühlt, ein Aufsätzchen »Über eine Textstelle in Büchners Woyzeck« zu verfassen, das vom Herausgeber der »angesehenen« und im allgemeinen auch durchaus »achtbaren« Zeitschrift Euphorion mit geradezu atemberaubender Promptheit angenommen und zum Druck befördert wurde. Doch leider ist darin vom Gegenstand selber herzlich wenig die Rede, recht viel aber von mir, der ich Namen bisher taktvoll verschwiegen hatte. Wetzels angeblicher Beitrag läuft auf ein Breittreten dessen hinaus, was von ihm bereits früher versichert und von mir zweimal wortgetreu referiert worden war; seine aufgepfropfte Polemik hingegen, die übrigens gar nicht bloß mir allein gilt, trägt zur Sache nicht das geringste bei. Man könnte also das Ganze getrost auf sich beruhen lassen und dem Verfasser seine rhetorischen Fingerübungen gönnen. Nun beruft sich Wetzel jedoch außerdem auf »Solidität« und meint, »man könnte vielleicht auch von wissenschaftlicher Redlichkeit sprechen«. Tja, dieses müssen wir dann wohl (oder übel) tun. Es handelt sich bei der besagten Textstelle um folgenden, von Büchner später wieder gestrichenen Passus: »Das will ich dir sagen, ich hatt' en Hundele und das schnüffelte an ei [m] g[r]oßen Hut u. könnt nicht drauf und da hab' ich's ihm aus Gutmüthigkeit erleichtert und hab* ihn darauf gesetzt. [.. .]«2

Meine Anmerkungen dazu in einer Besprechung3 des von Gerhard Schmid edierten Woyzeck-Textes4, auf die sich Wetzel hauptsächlich bezieht, lauten (wobei ich alles Entbehrliche streiche): 1 Alle nicht eigens nachgewiesenen Zitate beziehen sich auf Heinz Wetzel: Vom Filzfetischismus kleiner Hunde. Ober eine Textstelle in Büchners Woyzeck. - In: Euphorion 77 (1983), S. 226-229. 2 Vgl. zum Text, den ich ziemlich normalisiert wiedergegeben habe, Lehmanns Ausgabe (HA, Bd. l, S. 348) und Schmids neue diplomatische Transkription (WA, S. 11, Z. 27 ff.). 3 Vgl. Monatshefte 74 (1982), S. 360-364. 4 S. oben Anm. 2.

295

»Was [...] geschieht hier eigentlich? Denn der Vorgang ist ja zweifellos [...] sonderbar genug. Ich schlug daher [...] schon vor Jahresfrist5 [...] unter Berufung auf eine Parallelstelle in Dantons Tod (»Auf der Gasse waren Hunde, eine Dogge und ein Bologneser Schooßhündlein, die quälten sich«) kurz entschlossen vor, statt >Hut< einfach >Hund< zu lesen, also für die unsinnige, auch unsinnig große und wie immer geformte Kopfbedeckung, die da offenbar mitten auf der Straße liegt und kleine Hunde zu Kletterübungen reizt, etwas Sinnvolles und Natürliches, eben einen großen Hund, einzusetzen. Büchner [...] habe die Liebe in jeglicher Gestalt dargestellt, vom grobschlächtigsten Sexus bis zur zartesten Herzensgüte und Fürsorge, und genau an dieser Stelle sei beides in einmaliger, für ihn höchst bezeichnender Weise vereint. Mag der Dichter auch eindeutig >Hut< geschrieben haben, erklärte ich: er hat >Hund< gemeint. Selbst auf Einsichtnahme in die Handschrift [...] verzichtete ich mit provozierender Unwissenschaftlichkeit und war gespannt, wie die Stubengelehrten Experten auf all das reagieren würden. Mit ihrer Welt- und Naturfremdheit gepaart - sit venia verbo — ist bekanntlich in der Regel noch ein gerüttelt Maß an zünftiger Prüderie ... [hier ist allerdings nichts ausgelassen, sondern es heißt nach einem Absatz weiter:] Leider muß vorläufig offenbleiben, ob Schmid [...] in diese Spielart editorischer, ja gemeinphilologischer Stickluft frischen Wind bringen möchte [...]. Dafür erhielt ich von einem liebenswerten Kollegen aus Kanada [...] folgende, in ihrer wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit unbezahlbare Zuschrift: >Übrigens habe ich in Weimar nachgesehen. Es war ein Hut, ganz eindeutig. Ein Veterinär-Psychiater sagte mir, Hunde, vor allem kleine, seien oft Filz-Fetischisten.< Das ist sehr hübsch [...]; und vermutlich hat der gelehrte Veterinär-Psychiater sogar recht. Indes wird meine These [...] dadurch keineswegs widerlegt, [...] sondern eher bekräftigt und [...] um eine ebenso interessante wie rare Erscheinungsform erweitert. Georg Büchner hätte demnach nicht nur [...] mit seiner Erzählung Lenz die modernsten Einblicke in das Wesen der Schizophrenie, sondern mit seinem Woyzeck zu allem Überfluß auch diejenigen der modernsten Tierpsychiatrie in das Wesen kleiner Hunde genial vorweggenommen!«

Kann man derlei, jeglichem Zank und Gezeter heiter abhold, gutmütiger, sozusagen erleichternder ausdrücken? Kann man höflicher sein? Ich fügte zuletzt — vorsichtig einschränkend, aber trotzdem nicht vorsichtig genug, wie sich zeigte — lediglich noch hinzu, daß und warum es mir »beileibe nicht so absolut sicher« scheine, ob denn an jener Stelle »wirklich eindeutig« Wetzels alter Hut stehe. Was geschah? Mein anonymer Kanadier, der sich in vielerlei Hinsicht angesprochen fühlte, reagierte so prompt wie bald danach sein Herausgeber in Deutschland, und obendrein mit einer Empörung, die nun in der Tat auf »Höflichkeit« weitgehend verzichtete, doch dafür desto weniger auf »schlaue Rednerkünste« (die Formulierung stammt ebenfalls von Seume). O ehrlicher Wilder und besserer Mensch! Solid, wie er ist, zitiert er mich zwar fleißig, doch nicht ohne passende Lücken; auch unterstellt er mir glatt, daß ich »partout« das Wort >Hund< lesen wolle (man vergleiche), ja behauptet sogar 5 Vgl. meinen Beitrag Coeur und Carreau. Über die Liebe bei Georg Büchner. - In: Gß ////, S. 299-326.

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forsch, daß Schmids Wiedergabe der üblichen Lesung von mir »nicht erwähnt« werde (man vergleiche abermals). Oder wie? Sollten wir am Ende nicht so sehr von mangelnder Solidität als vielmehr von nachzuholenden Elementarkenntnissen, etwa im Entziffern von Gedrucktem, sprechen müssen und von ganz einfachen Definitionen? Vorgeschlagen hatte ich ja ausdrücklich eine »Konjektur«6. Wetzel hantiert mit diesem Begriff in seiner Glosse zwar nicht weniger als fünfmal, aber der Sinn scheint ihm nicht geläufig. Deshalb zur Erinnerung: » K o n j e k t u r (lat. coniectura = Vermutung), in der Textkritik e. auf bloße Annahme des Herausgebers gegen den Befund der Oberlieferung gegründeter Vorschlag zur Berichtigung oder Ergänzung einer Lesart in schlecht überliefertem oder verderbtem Text [...], die e. bessere Sinnentsprechung versucht.«7

Das heißt: der Befund »Hut« in dem extrem skizzenhaften, von diversen Kürzeln und Schreibversehen durchsetzten Manuskript H2, den Schmids Archivausgabe — wiederum per definitionem — ohne jede »konjekturale Textkritik«8 wiedergibt, steht einem deutenden Vorschlag im Prinzip nicht mehr entgegen als beispielsweise wenige Zeilen zuvor die diplomatischen Transkriptionen »Indivdum« und »Publiki«9 ihrem Verständnis als >Individuum< und >PublikumLeonce und Lena< als subversive Kunst von Lienhard Wawrzyn bereits die Grundlage zu einer Interpretation dieses Dramas gelegt wird, die unserer Auffassung heute näher kommt als die vom Existentialismus her begründete Abwertung Benns. In seiner Analyse der politischen Theorie und Praxis Büchners ist Benns Buch denn auch durch die spätere Forschung überholt, vor allem durch Thomas Michael Mayers sehr viel präzisere historische Analyse der praktischen und theoretischen Situation, in der sich Büchner bewegte, und etwa durch Walter Grabs Forschungen zur demokratischen Tradition in Deutschland, vor allem durch sein Buch Ein Mann, der Marx Ideen gab. Wilhelm Schulz, Weggefährte Georg Büchners, Demokrat der Paulskirche (Düsseldorf 1979). Weiteres wichtiges Quellenmaterial findet sich auch bei Hans-Joachim Ruckhäberle: Frühproletarische Literatur. Die Flugschriften der deutschen Handwerksgesellenvereine in Paris 1832-1839 (Kronberg/Ts. 1977). Wie so häufig sind es nicht die zentralen Thesen eines Buches, die die Jahre überdauern, sondern die Erkenntnisse, die der Autor am Text machen mußte, um zu dieser These zu gelangen. Das Hauptverdienst dieses Bandes, den Margaret Jacobs als »das beste Buch, das wir in Englisch über Büchner haben«, bezeichnet hat (GLL 32,19787 79, S. 75), liegt heute, sieben Jahre nach seinem Erscheinen, kaum in seinem Versuch, Büchner an das Konzept des Camus'schen homme revoke anzugleichen, und ebensowenig in dem, was John Whiton als den »interessantesten Aspekt« von Benns Buch bezeichnet hat, nämlich in dem Gegensatz zwischen Marx und Büchner (etwas simplistisch sieht Whiton diesen Gegensatz einfach darin, daß Marx ein Optimist und Büchner ein Pessimist war). Jenseits der großen Thesen liegt nun der eigentliche Wert des Buches von Benn, eben jener Aspekt, der durch die fortschreitende Forschung noch nicht eingeholt wurde: die präzise Analyse des Gesamtwerks einschließlich der sonst oft übersehenen Notizen für seine Vorlesungen zur Philosophie und seiner medizinisch-fachlichen Arbeiten/Zwar übersieht Benn, wie fast alle Büchnerinterpreten aueh^ die wichtige und grundlegende Arbeit von Otto Döhner (Georg Büchners Naturauffassung. - Diss. Marburg 1967)$.weist aber auf die Nähe zu Goethe und Oken, andererseits auch auf seine Distanz zu Goethes Pantheismus hin. Zu Recht besteht Benn darauf, daß Büchner sich hier und in seinem Spinoza-Studium nirgendwo in die »unphilosophische« Position drängen läßt, etwas willkürlich zu deifizieren, was seiner Natur nach nicht vollkommen sein kann. So bringt er wieder zur Geltung, was bereits Gutzkow an Büchners Dichtung als das unerhört Neue empfand: den keineswegs kalten, aber leidenschaftslos sezierenden Blick des Naturwissenschaftlers. Allerdings ist auch Benn von dem Vorwurf nicht auszunehmen, den Wolfgang Proß der Büchnerforschung im allgemeinen macht, daß sie in ihrer »personalistischen Selbstbeschränkung« sich den Blick auf Büchners naturwissenschaftliche Tätigkeit in ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang habe verstellen lassen (v$. Aurora, 1980, S. 172). Überzeugend ist Benns Argumentation, wenn es um Büchners »Atheismus« und seine angebliche

327

Bekehrung zum Christentum auf dem Totenbett geht. Nicht nur besteht er zu Recht darauf, daß Büchners Philosophiestudium nicht völlig von Tennemann abhängig ist, sondern vor allem in der Auseinandersetzung mit Descartes und Spinoza auf eigenes Textstudium zurückgeht und zu eigenständigen kritischen Einsichten gelangt; er weist auch zu Recht jene Versuche zurück, die Büchners eindeutige Kritik an Spinozas Pantheismus als bloße gedankliche Übungen mißverstehen. Von solchem eingehenden Textstudium zeugt auch die Interpretation des literarischen Werks von Büchner. Auch wenn man gegen einzelne Interpretationen Einwände hat - und die häufen sich dort, wo das existentialistische Schema Büchner nur übergestülpt erscheint oder wo Büchner dazu benutzt wird, Marx und den Marxismus niederzuknüppeln —, kann man doch vor der präzisen philologischen Detailarbeit nur seine äußerste Hochachtung aussprechen. Einwände hat der Rezensent zum Beispiel bei der Interpretation von Leonce und Lena als »absurder« Komödie, auch wenn ich »absurde« Elemente in diesem Drama entdecken kann: Die Sinnlosigkeit und Langeweile dieses deutschen Duodezfürstenhofes zur allgemeinen zu erklären und sie etwa mit ähnlichen Motiven in Dantons Tod und Lenz einfach zu identifizieren, dürfte nicht im Sinn Büchners sein. Benn selbst äußert am Ende dieses Kapitels ähnliche Bedenken, wenn auch aus anderen Gründen. Will man Benns Buch gerecht beurteilen, muß man sich allerdings vergegenwärtigen, daß Benn die neueren Arbeiten zur Büchnerschen Textphilologie, vor allem die Korrekturen zum Lenz und die kritische Manuskriptausgabe des Woyzeck noch nicht vorlagen. Dadurch sind einzelne Vorschläge zur Anordnung und Chronologie des Woyzeck überholt, nicht aber die detaillierte Analyse des Dramas. Man könnte Benn zwar vorwerfen, er habe sich auch hier nicht an seine eigenen Grundsätze gehalten, so wenn er eine gestrichene Stelle aus H2,7 dazu benutzt, um H4 zu interpretieren. Zu Recht weist David G. Richards darauf hin, er benutze einerseits die Szene, in der der Doktor Woyzeck öffentlich lächerlich macht, verwerfe aber selbst die Szene für seine Rekonstruktion des Dramas (/EGP, 1980, S. 95). Ein wesentlicher Aspekt, den Benn, wie viele andere Büchnerkritiker, übersehen hat, ist der der Sexualität, obwohl Büchner sich gerade wegen seiner Darstellung der Sexualität schon seinen Eltern und seinen Zeitgenossen gegenüber verteidigen mußte, und obwohl bei der Drucklegung des Danton gerade die Verballhornung seiner Intentionen Büchners Ärger hervorrief. Dabei spielt die Sexualität nicht nur, wie Reinhold Grimm in seiner Kritik angemerkt hat (Educational Theatre Journal, 1977 [März], S. 127), als befreite Sexualität eine Rolle (Marion in Dantons Tod), sondern auch als problematische und gefährdende; die Verweigerung der Sexualität und die Ausbeutung der Sexualität bei den unteren Klassen zeigt sich vor allem im Danton als Dimension des lebenslangen Zappeins am Strick der Arbeit, die Repression der Sexualität und ihre quasi-religiöse und psychotische Verschiebung als Wurzel der geistigen Krankheit. Büchners Interesse an den unbewußten und verdrängten Elementen der menschlichen Psyche, die sich aus allen seinen literarischen Werken ablesen läßt, steht wohl durchaus im Kontext seiner medizinischen Studien (und hier wüßte man doch gern mehr über Büchners mögliche Lektüre von Cabanis und Magendie; vgl. S. 60 f.), aber wohl auch im Zusammenhang mit jener ungeheuer vielfältigen Zeitströmung, die Aufklärer und Romantiker um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erfaßte und die zu einer aufgeregten Diskussion über das Wesen des Bewußten und Unbewußten anhand der Konzeption des Nervenautomaten führte. Büchners Stellung in dem Gewirr von wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Bemühung um Fragen dieser Art auszumachen, bleibt immer noch eine Aufgabe. 328

Zu Recht weist Beim auf die wissenschaftlich höchst exakte Beschreibung der Schizophrenie im Lenz hin, die wohl ebenso sehr durch Büchners Studium der medizinischen Literatur wie durch seine dichterische Einfühlungskraft als auch durch eigene Erfahrung dissoziativer psychischer Zustände geprägt ist. Um so überraschender ist es, daß die in der Novelle angelegte Pointierung der Rolle der Familie als schizophrenogener Institution und der Rolle der Religion als symbolischem Kode psychotischer Zustände höchst beiläufig und ohne Folgen zur Sprache kommt. Gerade in diesem Zusammenhang, den Benn herstellen möchte, wäre eine sozialpsychologische Erläuterung des Pietismus und dessen Weiterwirkens bis in Büchners Gegenwart in Straßburg hilfreich gewesen. Neuere Forschungen zum historischen Hintergrund der OberlinGemeinde und über die Zusammenhänge des Straßburger Pietismus in der Zeit, als Büchner sich in dieser Stadt aufhielt, wären hier heranzuziehen. Solcher Kritik im einzelnen, zu der sich zum Teil notwendige Ergänzungen auf Grund der neueren Forschung fügen, steht dann doch die Bedeutung dieses Buches für die Büchnerforschung gegenüber. Angesichts der sensitiven und detaillierten Analyse des Gesamtwerkes und angesichts wertvoller und eigentlich erst noch zu erarbeitender Hinweise ist Hasselbachs Wertung kaum beizustimmen, Benns Buch führe über den referierten Stand der Forschung kaum hinaus (Monatshefte, 1978, S. 330). Als Beispiel dessen, was Benn leisten konnte, wenn ihm seine übergreifende Konstruktion nicht in den Weg kam, sei hier auf die äußerst ausgewogene Analyse der politischen und ethischen Motive Dantons hingewiesen, die weder, wie einige marxistische Analysen, die offenkundige Sympathie des Autors mit einer Gestalt leugnet, noch aber diese Sympathie wie Lehmann dazu benutzt, Büchners fortbestehende revolutionäre Weltanschauung zu leugnen. Solche Stellen einer durchaus über den damaligen Forschungsstand hinausgehenden Einsicht sind in Benns Buch häufig genug, daß man es immer noch als ein Standardwerk der Büchnerforschung empfehlen kann. Peter Hörn (Kapstadt)

Wucher mit Büchner Kritische Anmerkungen zur Büchner-Serie »von Professor Dr. Gerhard P. Knapp, The University of Utah, Salt Lake City«

Wer einen konkreten Beleg sucht für wissenschaftliche Ausmünzung des biblischen Bildes vom Knecht, der mit dem ihm anvertrauten Pfunde wuchert, sei auf die diversen Hervorbringungen Gerhard P. Knapps zu Leben, Werk und Wirkung Büchners während des letzten Jahrzehnts verwiesen. Nicht weniger als sechs größere Arbeiten wurden von dem in den Vereinigten Staaten lehrenden Germanisten und Komparatisten der Öffentlichkeit vorgelegt: 1) Georg Büchner. Eine kritische Einführung in die Forschung. — Frankfurt a. M. 1975 (= Fischer Athenäum Taschenbücher 2069). Sigel: Kl. 2) Georg Büchner. — Stuttgart 1977 (= Sammlung Metzler 159). Sigel: K2. 3} Georg Büchner: Gesammelte Werke. Auf der Grundlage der handschriftlichen Überlieferung und der Textzeugen neu herausgegeben sowie mit einem Nachwort, einer Zeittafel, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen versehen von 329

Professor Dr. Gerhard P. Knapp, The University of Utah, Salt Lake City. - München 1978 (= Goldmann Klassiker 7510). Inzwischen 4. Aufl. 1984. Sigel: K3. 4) Kommentierte Bibliographie zu Georg Büchner. - In: Georg Büchner IIU. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1979 (= Sonderband aus der Reihe text +kritik), S. 426-455; 2. Auflage 1982, S. 426-461. Sigel: K4. 5) Georg Büchner: Dantons Tod. - Frankfurt a. M., Berlin, München 1983 (= Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. Diesterweg 6392). Sigel: K5. 6) Georg Büchner. 2., neu bearbeitete Auflage. - Stuttgart 1984 (= Sammlung Metzler 159). Sigel: K6. Hinzu kommen noch drei einschlägige Aufsätze (vgl. K6: DT 55, DT 61 und LL 20). Fürwahr ein breites Angebot. Kein Zweifel, diese geballte, teilweise weitergeführte, aber ebenso sich häufig überlagernde Fortschreibung mit dem Schwerpunkt monographischer und bibliographischer Bilanzierung in relativ auflagenstarken Publikationen schlägt zu Buche. Die Knappsche Serie bedeutet, gewollt oder ungewollt, ein Stück Forschungspolitik in Sachen Büchner. Selbstverständlich ist gegen derartigen Eifer prinzipiell nichts einzuwenden. Allerdings werden dadurch auch Ansprüche gestellt, deren Berechtigung es zu prüfen gilt vor dem Hintergrund einer sich seit den siebziger Jahren Zug um Zug in ihren Grundlagen verändernden Büchner-Philologie. Mithin erhebt sich die Frage: Wie steht es um die >Pfunde< Knapps? Sein Erkenntnisinteresse ist den Vorbemerkungen abzulesen. Da heißt es zunächst einleuchtend: Die »kritische Einführung in die Forschung« solle dem Zweck dienen, »ein klärendes und sichtendes Innehalten« (Kl, 7) zu ermöglichen. Dementsprechend will die Gesamtdarstellung im Rahmen der Metzlerschen >Realien zur Literatur durch »eine optimale Balance von Sachinformation und Darstellung« die »Vermittlung von Fakten und Bezugspunkten für das weiterführende Forschen« (K2, V) leisten. Gewiß sind das vertretbare und nützliche Zielsetzungen, so daß es nur löblich gewesen wäre, wenn Knapp sich konsequent daran gehalten hätte. Das ist bedauerlicherweise nicht der Fall. Denn die praktische Einlösung der vom Verfasser bekundeten Maximen leidet von vornherein unter der gleichfalls von ihm vertretenen Absicht, daß er »die Präsentation auch eigener Arbeitsergebnisse dem Sachverhalt« für »angemessener« halte »als ein[en] Forschungsben'c/tf im engeren orthodoxen Sinn« (Kl, 8). Nichts gegen die Einbeziehung eigener Forschungsergebnisse. Sie darf indes nicht zur Richtschnur gemacht werden für die Präsentation damit zusammenhängender Resultate anderer Wissenschaftler; jedenfalls nicht dort, wo die Positionen anderer referiert werden. Wer die entsagungsvolle Mühe auf sich nimmt, den Stand eines Forschungsbereichs angemessen dokumentieren zu wollen, sollte unbedingt der Tugend positivistischer Objektivität den Vorzug geben vor subjektiven Belangen. Subjektivismus geht nämlich häufig einher mit einem mehr oder minder klaren Weltanschauungsverlangen. Die gebotene Zurückhaltung braucht den Berichterstatter selbstverständlich nicht daran zu hindern, im Anschluß daran seine Bewertung vorzunehmen. Hingegen ist es kein guter Stil, den >Kontrahenten< um seine Chance zu bringen oder — genau so schlimm - einen dem Rezensenten genehmen Beiträger ohne vorangegangene sachliche Begründung über den grünen Klee zu loben. Just diese Methode praktiziert leider Knapp. Zu was derlei führt, sei sogleich an konkreten Beispielen demonstriert. Zunächst der Fall vorschnell-unkritischen Lobes. Einigermaßen überraschend muß jedem Kenner der jüngsten Entwicklungen in der Büchner-Forschung die folgende Aussage vorkommen: »Zweifellos die bedeutendste

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Darstellung von Büchners Leben und Werk neueren Datums liefert [...] Friedrich Sengle. Bestechend wirkt hier die souveräne Behutsamkeit der Annäherung, die sich beharrlich dem Klischee verweigert und immer auf das Besondere bedacht bleibt, gerade deshalb aber den Autor ohne gewagte Verkürzungen glaubhaft in den größeren Zusammenhang des 19. Jahrhunderts einzubringen vermag. All das [...] ist Resultat eines langen Gelehrtenlebens und zugleich krönender Abschluß von Sengles Biedermeierzeit—Trilogie« (K6, 146). Mehr als eine letzten Endes vage Affirmation ist dem nicht zu entnehmen. Demgegenüber muß betont werden: Es schmälert nicht die in der Tat immense Leistung Sengles, wenn man im Büchner-Teil seines monumentalen Werkes über Die Biedermeierzeit nicht gerade den »krönenden Abschluß« sieht. Konzentrieren sich doch die dort vorgenommenen Bestimmungen in ihrem Kern auf die Betonung einer Büchner angeblich prägenden »jugendlichen Ambivalenz« (Sengle III, 274). Darauf kann man eigentlich nur mit der rhetorischen Frage reagieren: Sollen wir demnach im Unfertigen die Substanz dieses Ausnahmefalls unserer Literaturgeschichte sehen? Nunmehr zur a priori negativ-kritischen Variante des Knappschen Verfahrens. Sie trifft mit deutlicher Härte einige Kollegen, deren Arbeitsergebnisse von den seinigen erheblich abweichen. So wird etwa der anregende Ansatz Reinhold Grimms, Erotik und Sexualität endlich angemessen in die Interpretation der Werke Büchners einzubeziehen, leichtfertig als »ahistorische Annäherung« abgetan, »der es um handliche, scheinbar zeitgemäße Deutungsformeln zu tun ist«, und die darum »ihren Gegenstand verfehlt« (K6, 149). Doppelt befremdlich wirkt diese schroffe Abfertigung, hält man die kurze Zeit davor abgegebene diametrale Stellungnahme dagegen (vgl. K4, 2. Aufl. 458). Die Erklärung kann nur lauten: »Man merkt die Absicht, und man wird verstimmt«. — Noch mehr bemühter Zorn gilt indes den Arbeiten Thomas Michael Mayers. Lediglich dort, wo absolute Faktizität ihn dazu zwingt, läßt Knapp dessen Ergebnisse gelten. Wo immer aber es ihm möglich erscheint, versucht er ihm am Zeug zu flicken. Was dabei herauskommt, soll ein Randfall andeutend-stellvertretend zeigen. Gemeint ist die kontroverse Einschätzung der Jugendgedichte sowie der Eintragungen und Glossen aus den Schulheften Büchners. Mayer hatte diesen frühen Zeugnissen — ausdrücklich gegenüber den Auffassungen Knapps (K2,10) ·— »entscheidende Bedeutung« für »jede Beurteilung der Entwicklung des etwa 12- bis 17-jährigen« zugesprochen (GB ////, 335). Offenbar genügte das Knapp, um wie folgt vom Leder zu ziehen: »Büchners Gedichte sind nicht mehr und nicht weniger als typische Erzeugnisse heranwachsender [siel] Lyrik. Von Originalität kann hier kaum die Rede sein, auch nicht in Bezug auf die erhaltenen Marginalien und Glossen aus den Schulheften [...]. Beide sind von bedingtem biographischem Interesse. Die in neuester Zeit vertretene Behauptung, es handle sich hierbei um Dokumente >von entscheidender Bedeutung< (Th. M. Mayer [...]) wirkt peinlich überzogen« (K6,5). Knapps die Fakten verzerrende Argumentation zeugt eindeutig wider ihren Urheber. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, weil er nur wenige Seiten später hinsichtlich der gleichzeitig entstandenen Jugendschriften fordert, sie »stärker als bisher im Rahmen der Werkkontinuität zu sehen« (K6, 11), Der Widerspruch liegt auf der Hand. Auch wenn Knapp seine Texte über weite Strecken freihält von derartigen Reflexen persönlicher Sympathie oder Antipathie, beeinträchtigen diese Schwächen den Erkenntnisgewinn erheblich. Aber da ist noch mehr. Der zweite wunde Punkt hängt mit dem ersten eng zusammen, weil er sich wiederum methodisch auswirkt. Für Knapp »versteht« es »sich von selbst«, daß »eine Auskunft über die Validität des einzelnen Ansatzes und seiner Argumentation - so, wie der Berichtende sie beurteilt - ebenfalls 331

in den Bereich der Sachinformation fällt« (K4, 426). Wer so verfährt, sollte lieber nicht mehr die Zielsetzung einer »Balance von Sachinformation und Darstellung« für sich in Anspruch nehmen. Denn eine solche Verfahrensweise impliziert den bewußten Verzicht auf möglichst objektive Wiedergabe des anderen Standpunkts. Abermals begegnen wir dem bereits registrierten Weltanschauungsverlangen, der Weigerung, säuberlich zu trennen zwischen sachgerechter Darstellung und nachfolgender Einschätzung. Wie bei schlechten Zeitungen laufen demzufolge bei Knapp Information und Kommentar stellenweise ineinander. — Beispielsweise bringen ihn die von ihm als »sozialistisch« eingestuften Interpretationen von Lukäcs, Kresh und Poschmann auf geradezu abenteuerliche Gedanken. Seines Erachtens »läßt sich festhalten, daß Aspekte einer materialistischen Deutung, wenn sie textnah bleibt, zur Erhellung des Werks von außerordentlichem Wert sein können. Den ganzen literarischen Nachlaß Büchners als Ausdruck bzw. Vorläufer materialistischen Denkens erklären zu wollen, bedeutete allerdings, ihn ebenso mißzuverstehen, wie dies durch die Übertragung irgendeines anderen geschlossenen weltanschaulichen Konzepts geschehen muß. Gerade im Fall Büchner mußten ideologisch-philosophische Erklärungen bislang sich wieder und wieder als im Einzelfall nützliche Hilfskonstruktionen bewähren - mehr aber können sie kaum leisten. Als wesentliche Verstehensgrundlage bleibt letzten Endes nur eine Konstante: die Relation von Text und Rezipient« (Kl, 126). Gerhard Kurz hat in seiner Besprechung das Nötige hierzu gesagt (vgl. Archiv für dos Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 214. Bd., 129. Jg., 1977, S. 122). Bleibt nur hinzuzufügen, daß wir es bei Büchner mit den >Rezeptionsvorgaben< eines Verfechters kraß materialistischen Denkens zu tun haben. Knapp, der an anderer Stelle die »voll entwickelte materialistische Weltanschauung« und die »politisch-ökonomische Konzeption« (K6,43 u. 44) Büchners ins Feld führt, sollte sich damit abfinden, daß allein auf dieser Grundlage der tatsächlichen Vielstelligkeit des Werkzusammenhangs beizukommen ist. Jedenfalls läßt sich so der ihm offenbar unbehagliche Forschungsaspekt »Sozialismus« (Kl, 120 ff.) gewiß nicht erledigen. Schon in seiner 1976 erschienenen Besprechung von Kl formulierte Ludwig Fischer den Einwand, Knapps Darstellung komme immer wieder einer »gewaltsamen Anpassung an die Optik des Berichtenden« gleich (Moderna Sprak 70, 1976, H. 3, S. 266271; Zitat: S. 268). Daran hat sich offensichtlich in der Zwischenzeit nichts geändert. So muß es verstimmen, wenn Knapp in K6 die politischen Implikationen der existentiellen Krise Büchners 1833/34 zu bagatellisieren versucht (»... die tiefe Krise, die keineswegs ausschließlich politischer Natur [...] ist, sondern die gesamte Existenz des jungen Mannes betrifft, auch sein Verhältnis zur Braut [...]. Die Wurzeln von Büchners Zerrüttung reichen in die melancholische Seite [sie!] seines Charakters«; K6,16), obwohl er wenige Zeilen später den in dieser Hinsicht eindeutigen Brief an August Stöber vom 9. 12. 1833 (HA II, Nr. 14) selber zitiert. Beides hat sein Gewicht. Nicht ohne Grund betonte Thomas Michael Mayer, es gelte die »z. T. disparaten Elemente [des Ftfta//swtts-Briefes; d. V.] politisch u n d psychologisch zu verstehen« (GB I/II, 95). Sicherlich hat »die melancholische Seite« von Büchners Charakter seine damalige Depression mitgeprägt; doch berechtigt das nicht dazu, deswegen die politische Seite hintanzustellen. Direkt widersprüchlich wird die Knappsche Beurteilung, wenn er gleich auf der folgenden Seite dann zutreffend Büchners Entschlossenheit »zum revolutionären Handeln« (K6, 17) hervorhebt. Ähnlich ist die These Knapps von der »politischen Abstinenz« Büchners im Straßburger Exil einzuschätzen (K6, 21). Der radikaldemokratische Aktivist wurde doch nicht über Nacht zum Entsagenden. Wenn Verzicht auf politische Aktionen und Zu332

rückhaltung in der Öffentlichkeit mit politischer Abstinenz gleichzusetzen wären, müßte das Gros der Exilschriftsteller zwischen 1933 und 1945 einer solchen Haltung geziehen werden. Natürlich ging Büchners politische Arbeit weiter. Nachweislich traf er sich laufend mit republikanisch gesinnten Freunden, nicht zuletzt mit verschiedenen Emigranten auf der Durchreise. Übrigens belegen auch die Briefzeugnisse Büchners unveränderte Einstellung (vgl. HA II, Nr. 32, 38, 40, 43, 51). Daß er gegenüber Behörden, Polizei und Elternhaus politische Abstinenz vorschützte, darf nicht wundernehmen. Knapp hätte es sich besser versagt, diesen wirklich geklärten Punkt der Vita erneut in Frage zu stellen. Hinter alledem steckt erkennbar ein mühsam zurückgehaltenes Unbehagen an den revolutionären Umtrieben des hessischen >RadikalistenHamburger Ausgabe< (HA) Werner R. Lehmanns und durch die WoyzeckEditionsversuche von Krause und Bornscheuer, so haben ihn inzwischen offenbar die weiteren Ereignisse auf diesem Gebiet überholt. Zögert er doch nicht, seine für die Goldmann-Reihe 1978 vorgenommene Textzusammenstellung (K3) als »erste kommentierte Studienausgabe der Werke Büchners« auszuweisen, obwohl sie hauptsächlich auf der damals schon umstrittenen >Hamburger Ausgabe< fußt. Die ihm bekannten neueren Erkenntnisse zu den Textgrundlagen - die er zwar in K6 erwähnt, freilich nicht hinreichend in ihrer Bedeutung herausstellt (vgl. K6, 144 f.) - bleiben so gut wie ganz unberücksichtigt bei seiner >EditionForschung< aus ganzen zwei Artikeln (von N. A. Furness und Gerda E. Bell) sowie einem Feuilleton-Bericht Georg Hensels in der FAZ, der im übrigen in dem Lob endet: »Besser läßt sich französisches Brot in einem deutschen Ofen nicht backen« (FAZ, Nr. 42, 19. 2.1977). Die >Nachweise< der Forschung stehen noch aus. Damit nicht genug. Auch mit der positivistischen Grundlagenforschung im biographischen, philosophischen, wissenschaftlichen und politischen Bereich tut Knapp sich schwer. Statt eine möglichst neutrale Auflistung der verschiedenen Fakten zu versuchen - etwa durch Präsentation in den »Anmerkungen zur Forschungslage« (K6, 144 ff.) —, zieht er es vor, das, was ihm brauchbar erscheint, einfach dem eigenen Darstellungszusammenhang einzuverleiben. Dadurch werden die neuen Akzente ver-

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wischt oder zumindest undeutlich. Dem Leser wäre besser gedient gewesen mit einer sorgfältig gearbeiteten Faktensammlung zu Leben und Werk. Das erste Kapitel von K6 (i: Der Autor; S. 1-33) leidet besonders unter den bereits am Anfang kritisierten methodologischen oder, besser gesagt, forschungspolitischen Prämissen. Die angekündigte Neubearbeitung der ersten Auflage »im Hinblick auf den vermehrten Wissensstand« (K6, VIII) ist von den vorliegenden Resultaten her als mißlungen anzusehen. Man sieht: an Mängeln ist kein Mangel. Nicht wenige der Gesamtinterpretationen neueren Datums, vor allem diejenigen von Gerhard Jancke, Raimar St. Zons, Jan Thorn-Prikker, Cornelie Ueding, Hiltrud Gnüg und Henri Poschmann (Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. - Berlin, Weimar 1983) hätten einläßlichere Bemühungen verdient; nicht zuletzt deshalb, weil so, in Affinität wie Gegensatz, die individuellen und typischen Strukturen von Büchners Dichtung schärfer herausgearbeitet werden könnten. Lediglich dem Büchner-Kommentar Walter Hinderers wird derartige Aufmerksamkeit zuteil. Wenn Knapp im gleichen Zuge wenigstens die dort in der Vorbemerkung festgehaltenen Maximen übernommen hätte. Seine Arbeiten wären entschieden nutzbringender ausgefallen. Einen Fall für sich stellt das ganze zwei Seiten umfassende Kapitelchen über Büchners Nachwirkung dar (K6, 31-33). Obwohl von diesem Autor seit der Jahrhundertwende vielfältige Wirkungen ausgingen, werden die Etappen des Rezeptionsablaufs kaum skizziert, geschweige denn referiert. Selbst wenn man die ergänzenden Hinweise am Schluß der einzelnen Kapitel hinzunimmt, bleibt der Ertrag äußerst mager. Kein Wort von Gerhart Hauptmann, von Wedekind, von den Expressionisten (vor allem Georg Heym und Ernst Toller), von Brecht. Knapp umgeht das ausdrückHch mit der billigen Formel: »Auf die spätere enthusiastische Büchner-Rezeption durch die Dichtung selbst [sie!] [...] einzugehen ist hier nicht der Ort« (K6, 33). Wo anders als im Rahmen eines Bandes, der Auskunft zu geben verspricht »über Leben und Werk Georg Büchners« (K2, V), soll das geschehen? Schlimmer noch: die Rezeption in der Gegenwartsliteratur scheint in den Augen des Berichterstatters weithin auf die eher belanglosen Texte Peter Schneiders und Gaston Salvatores beschränkt zu sein (vgl. K6, 33 und 101). Die Namen Paul Celans, Volker Brauns oder Christa Wolfs bleiben ungenannt. Der Hinweis auf die bei Reclam erschienene Sammlung der Ansprachen der Büchner-Preisträger (K6, 33) macht das nicht wert. — Merkwürdig viel ist die Rede von den Vertonungen der Texte Büchners, überraschend wenig - nämlich gar nicht - von den Verfilmungen. Beliebigkeit allenthalben. Oder sind es fehlende Maßstäbe? Man muß diese Frage stellen angesichts der Tatsache, daß — wie erwähnt — unter der Lenz-Rezeption zwar die modisch-schicke Aufbereitung Peter Schneiders herausgehoben (laut Knapp ein »eindrucksvoller Text«; K6,101), Celans beziehungsvolles Gespräch im Gebirg dagegen ignoriert wird. Mit Einzelheiten sollte man am besten Zurückhaltung üben. Die Uraufführung von Dantons TW am 5.1.1902 fand nicht an den »Berliner Volksbühnen« statt (K5, 76 und K6, 47), sie wurde vielmehr von der »Neuen Freien Volksbühne Berlin« als Vereinsaufführung veranstaltet (vgl.: Strudthoff, Ingeborg: Die Rezeption Georg Büchners durch das deutsche Theater. - Berlin 1957, S. 39 u. 138). - Unter den Publikationen zum Hessischen Landboten fehlt Thomas Michael Mayers strikt darauf bezogene Studie von 1979. Sie ist abgeschoben unter die Rubrik »Zum politischen Denken«, wo sie unter der Signatur P 14 gut versteckt ist (K6,164). Die unmittelbar dazu gehörende kritische Rezension von Heinz Wetzel wird weder unter den Schriften zum Hessischen Landboten noch unter denen »Zum politischen Denken« geführt; sie firmiert als »Forschungsbericht« [sie!] unter der Signatur D 16 (K6,154). Ein Kommen-

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tar erübrigt sich. — Dagegen fehlt bei den >Forschungsberichten< - wie schon in Kl und 2 und deswegen von Kritikern moniert — in K6 immer noch ein Hinweis auf Hans Mayers wichtige Forschungsbilanz von 1960 (Georg Büchner und seine Zeit. Wiesbaden [1960], S. 441-477). Ebensowenig läßt sich Hans Mayers Rede über »Georg Büchner in unserer Zeit« finden (Nach Jahr und Tag. Reden 1945-1977. — Frankfurt/M. 1978, S. 199-224). Gerhard Schaubs Edition des Hessischen Landboten mit Kommentar ist nicht Band 2, sondern Band l der Hanser-Literaturkommentare (und bibliographisch besser unter der Rubrik >Reihe Hanser 202< aufgehoben) ... Man könnte lange so fortfahren. Nur zwei Dinge müssen unbedingt noch angesprochen werden: der Band zu Dantons Tod (K5) und die Gestaltung des Registers von K6. Zunächst zu K5. Beim Vergleich der dortigen bibliographischen Angaben mit denen in K6 springt ein auffallender Unterschied ins Auge. Die im Metzler-Band beiläufig eingeordnete Dramenanalyse von Alfred Behrmann und Joachim Wohlleben (K6, 83: DT 54) fehlt, obgleich 1980 veröffentlicht, in dem 1983 erschienenen Diesterweg-Bändchen. Das brauchte nicht sonderlich aufzufallen, denn man vermißt unter anderem gleichfalls die wichtigen Beiträge, die in K6 unter den Ziffern DT 36, 50, 53, 56, 57, 58, 63 und 64 verzeichnet sind. Und gar in beiden Bänden bleibt der rezeptionsästhetische Aufsatz von Volker Klotz: »Oberforderungen des Publikums durch Dantons Tod« (Dramaturgie des Publikums.- München 1976, S. 118-137) ebenso unberücksichtigt wie die für die DanfoH-mterpretation unentbehrlichen Reden von Paul Celan und Christa Wolf als Büchner-Preisträger. Demnach könnte man sich auch für K5 mit der Feststellung begnügen, offenbar sei eben nicht gerade sorgfältig gearbeitet worden. Indes scheinen die Dinge im Fall der Dramenanalyse von Behrmann und Wohlleben (Büchner: Dantons Tod. Eine Dramenanalyse.- Stuttgart 1980 [= LGW 47]; im folgenden: BW) etwas anders zu liegen. Zwar lieferte die mir als Mitherausgeber der Reihe genau vertraute Studie der beiden Berliner Kollegen Knapp für K5 ersichtlich eine ganze Reihe nicht unerheblicher Anregungen und Bestätigungen; trotzdem wurde sie in der Bibliographie von K5 aus unerfindlichen Gründen nicht erwähnt. Damit meine Sicht dieser Anlehnung nicht bloße Behauptung bleibt, seien wenigstens einige auffallende Punkte der Übereinstimmung aufgezählt. Nicht nur das Verzeichnis der historischen Personen (BW, 27-42; K5, 40 f.), die Angaben zur Quellenlage (BW, 43 ff.; K5,18) sowie die Untersuchungen zu einzelnen Figuren und Figurengruppen (BW, 136-161; K5, 57-62) liegen parallel, sondern auch die Analysen zur Struktur des Textes (BW, 75-136; K5, 25-39). Wie meines Wissens nirgends sonst werden Shakespeare und Grabbe unmittelbar hintereinander als Inspirationsquellen genannt (BW, 65 f.; K5, 52). Bisweilen ergeben sich fast wörtliche Entsprechungen (BW, 47: »Der Dramenhandlung liegen die historischen zwei Wochen vom 24. März bis 5. April 1794 zugrunde«; K5,23: »Dantons Tod umspannt die historischen Ereignisse von kaum zwei Wochen: den Zeitraum vom Fall Heberts bis zur Enthauptung Dantons und seiner Anhänger (24. März bis 5. April 1794)«; oder BW, 48 f.: »Das zitierte Quellenmaterial [...] zerfällt in die Bereiche zweier Sprachhaltungen. Es handelt sich einerseits um größere zusammenhängende Sequenzen aus off entlichen politischen Reden, andererseits um knappe, meist witzige Formulierungen* die privater Unterhaltung entstammen«; K5, 55 f.: »... Am häufigsten zitiert er auf dem Gebiet der >öffentlichen< Rede. [...] Beim Entwurf >privater< Dialoge und Monologe sowie der Volksszenen verläßt er sich dagegen weitgehend auf die eigene Schöpfung, obwohl er auch hier bisweilen in den Einzelheiten der Gespräche noch montiert«). Man sollte das nicht überbewerten. Nicht daß ich etwa damit erklären wollte, Knapp habe in K5 336

Behrmann/Wohlleben ausgeschrieben. Daß er deren Arbeit schon zur Zeit der Abfassung seiner eigenen Einführung gekannt hat, scheint mir auf der Hand zu liegen. Schwamm drüber! Der letzte Punkt betrifft das Register von K6. Es ist zweifach gegliedert: in einen Teil mit den »im Text genannten historischen Namen und Literaturwissenschaftlern« (K6, 169-173) und einen zweiten Teil mit den »im Text genannten Werken nach Verfassern« (K6, 174-177). Demnach sind die bibliographischen Angaben, obwohl in unzumutbarer Weise aufgegliedert und zerstückelt (vgl. K6, 45 f.; 80-84, 101 f., 118 f., 141 ff., 150-168), nicht im Register berücksichtigt. Der Benutzer verliert darum viel Zeit mit mühseligen Suchprozessen. Unter anderem führt der dargestellte Befund zu der grotesken Tatsache, daß beispielsweise die kleinen Aufsätze des Verfassers Knapp (DT 55 und 66, LL 20) im Register nicht auftauchen. Man muß sie selber auf den Seiten 83, 84 und 119 entdecken (ansonsten taucht der Name häufig genug auf; vgl. K6, 171). Bei dieser absurden Verfahrensart findet man also im Register zwar den verdienstvollen Herausgeber der Werke von Blanqui, Arno Münster (er soll auch dort bleiben!), der Autor selbst erscheint jedoch nur als »historischer Name«, nicht aber als »Verfasser« seiner Werke (vgl. K6, 169, 172 u. 174). Viele Verfasser lesenswerter Arbeiten und Aufsätze sind bibliographisch erfaßt, tauchen allerdings nur dann im Register auf, wenn sie zufällig irgendwo im Knappschen Text berücksichtigt werden. Das ist schlicht unsinnig. Überdies macht der Tatbestand den Gebrauch zur Qual. Bei einem als Einführung und Bilanz gedachten Buch kann man darin, milde ausgedrückt, nur Gleichgültigkeit gegenüber dem Käufer sehen. Spätestens hier hätten die Lektoren des Verlags eingreifen müssen. Einzig und allein darüber, daß es dazu nicht gekommen ist, kann sich der geduldige, freilich höchst unfroh gemachte JLeser am Ende noch wundern. Die Bilanz ist rasch gezogen: Knapp hat mit seinem Pfund äußerst schlecht gewuchert. Vor die Entscheidung gestellt, ihm entweder ein »ausgewogenes Urteil« zu bescheinigen (so Wolfgang Martens) oder aber »absolute Unzuverlässigkeit« (so Thomas Michael Mayer), könnte man zunächst einmal geneigt sein, es mit Gerhard Kurz zu halten und den Arbeiten das wenig erhebende Prädikat »von begrenztem Nutzen« zu geben. Denn zweifellos lassen längere Partien der Bücher immer wieder die vom Verfasser aufgewandte Mühe erkennen. Doch was nützt eine so deutlich zu relativierende Brauchbarkeit? Die Fülle der hier bloß angedeuteten Mängel spricht eine zu deutliche Sprache. Und das muß den Ausschlag geben. Gerade im Gedanken an gutgläubige Und lernbegierige Benutzer überwiegen Enttäuschung und Zorn. So sollte ein Wissenschaftler nicht mit seinen Lesern unispringen. Er hätte besser daran getan, zu handeln wie der dritte Knecht im biblischen Gleichnis, der sein Pfund im Schweißtuch behalten hat. Theo Bück (Aachen)

In den Krümeln gesucht Eine Replik auf die voranstehenden »diversen Hervorbringungen« Theo Bucks Im Georg Büchner Jahrbuch wird Wissenschaftsgeschichte gemacht. Wer dies noch nicht wußte, weiß es jetzt. Denn die Sammelrezension (sprich: summarische Exekution) von sechs wissenschaftlichen Arbeiten des selben Verfassers - Studien, deren

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gesamter Entstehungszeitraum gute elf Jahre umspannt - ist in der westlichen Welt ein wissenschaftsgeschichtliches Novum. Am ehesten erinnert das Verfahren noch an post-stalinistische Exorzismen in östlichen Nachbarländern. Den unbefangenen Leser mag dies verwirren. Der Eingeweihte weiß freilich Bescheid. Er weiß, daß Thomas Michael Mayer, Mitherausgeber dieses Jahrbuchs, in den vergangenen Jahren mit einer Reihe größerer Arbeiten ins erste Glied der Büchnerforschung aufgerückt ist. Er weiß auch, daß Mayers Polemiken gegen manche Forscher-Kollegen — von ihrer angelegentlichen Berechtigung in der Sache einmal abgesehen - in der Art vielfach zu wünschen übrig ließen. Dem Eingeweihten ist ferner nicht entgangen, daß der Verfasser dieser Replik mehrfach Zielpunkt dieser polemischen Ergüsse war. Über die sachliche Rechtfertigung dieser Attacken soll und kann an diesem Ort nicht gestritten werden. So weit so gut. Nun hat inzwischen der Verfasser in der zweiten, neu bearbeiteten Auflage seiner Büchner-Monographie in der Sammlung Metzler neben einem generellen Überblick der deutlich veränderten Forschungslage auch eine sachliche, stellenweise harte Auseinandersetzung mit den Thesen Mayers vorgelegt (vgl. K6; ich verwende im folgenden durchweg die Siglen Bucks). Diese Neuerscheinung, die übrigens in Fachkreisen bereits beachtliche positive Resonanz gefunden hat, ist somit der eigentliche, wenn auch uneingestandene Zielpunkt der Auslassungen Bucks. Sei es, um der Replik aus zweiter Hand mehr Gewicht zu verleihen, oder sei es, den lästigen Kritiker eines »ganz neuen« Büchnerbildes Mayerscher Couleur summa summarum nun endlich einmal auf der ganzen Linie zu disqualifizieren - Theo Bück, ein wahrhafter Ziethen aus dem Busch, geht nunmehr mit den gesammelten »diversen Hervorbringungen« des Verfassers ins Gericht. Man möchte, allein schon um dem von ihm so pompös ins Treffen geführten biblischen Gleichnis der »Pfunde« ein noch frivoleres Bild entgegenzusetzen, die Mär vom tapferen Schneiderlein bemühen. Aber der Vergleich überzeugt nicht. Sechse auf einen Streich werden mitnichten erledigt. Was sich als ambitiöses kritisches Unternehmen anläßt, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als peinliches Eigentor. Von Theo Bück, den man als Verfasser respektabler Studien zur neueren und neuen Literatur kennt, hätte man diese Fehlleistung nicht erwartet. Zum Schluß der — im Hinblick auf die schwerwiegende Kritik, die Bück an meinen Arbeiten vorträgt, sicherlich nicht ungebührlich langen — Präambel sei mir noch eine Frage erlaubt. Bück eröffnet seine Ausführungen mit einer Auflistung meiner größeren Arbeiten zu Büchner. Falls er etwa Versprengtes verpaßt hat, spricht das eher für seinen Großmut als für Nachlässigkeit. Und Rezensionen rezensieren wollte er nun doch nicht. Er gesteht mir zu: »Fürwahr ein breites Angebot.« Mehr noch: »Die Knappsche Serie [sie] bedeutet ein Stück Forschungspolitik in Sachen Büchner.« A propos Forschungspolitik drängt sich also bei alledem mir die Frage auf: Warum mußte partout ein relativer Neuankömmling in der Arena der Büchnerforschung sich der nicht unbeträchtlichen Mühe der Sichtung von gleich sechs größeren Arbeiten zum Thema unterziehen? Eingeweihte dürfen spekulieren. Theo Bück zählt immerhin zu den engeren Mitarbeitern von Heinz Ludwig Arnold. Und letzterer ist, das hat sich inzwischen herumgesprochen, der eigentliche »Entdecker« der epochalen BüchnerFunde Th. M. Mayers. Hier scheint sich der Kreis zu schließen: ein »Stück Forschungspolitik« auch dies? All diese Koinzidenzen könnten einen doch, in den Worten Mayers, »fast auf Gedanken bringen«. Konzertierte Aktionen, falls es sich um eine solche handeln sollte, sind weißgott »kein guter Stil« (Bück). Spekulationen dagegen sind zumeist nicht durch Belege zu erhärten. Also, um noch einmal mit Bück zu reden: Schwamm drüber! Zur Sache ist folgendes festzustellen. Das methodische Vorgehen der Kritik Bucks 338

ist von vornherein unzulässig. In der Absicht, die eine meiner Arbeiten gegen die andere auszuspielen, zitiert er wahllos aus Texten, deren chronologischer Abstand nicht nur die Vertiefung und — dies mag er mir immerhin zugestehen — die Reifung der wissenschaftlichen Positionen ihres Verfassers, sondern auch den Ertrag von elf ereignisreichen Jahren Büchnerforschung dokumentiert. Derart entsteht vielfach eine Zitatencollage, die Bück seinen eigenen Aachener Proseminaristen mit Sicherheit nicht durchgehen ließe. Dies sind also die methodischen Prämissen einer Kritik, die sich als sachlich und fundiert geriert. Ihr Erkenntnisinteresse, das an der Kontinuität wissenschaftlicher Entwicklung im einzelnen (d. . meiner Arbeiten) ebenso wie am größeren Hintergrund einer jeweils veränderten Forschungslage vollkommen vorbeigreift, geht einzig darauf aus, die wissenschaftliche Legitimität meiner Bemühungen zu schmälern. Am Ertrag dieser Arbeiten ist Bück dabei keineswegs gelegen. Ihn zu beurteilen macht er sich durchweg nicht die Mühe. Mehr noch: an keiner Stelle seiner Kritik erbringt er den Nachweis, daß er mit der Forschungslage und dem Forschungsgegenstand auch ö4ir hinreichend vertraut ist, um zu einer haltbaren Beurteilung der Substanz der von ihm kritisierten Studien zu gelangen. Folgen wir also, nolens volens, dem keineswegs wohlstrukturierten und stellenweise recht verworrenen Duktus seiner Auslassungen, um diese Bewertung im einzelnen zu erhalten. Ad eins. Da ist zunächst der Vorwurf des »Subjektivismus« im Verein mit »einem mehr oder minder klaren Weltanschauungsverlangen«, das die Argumentation meiner Arbeiten bestimme. Als Beweis hierfür muß zuvorderst mein im Jahr 1973 entstandener und erst 1975 veröffentlichter Forschungsbericht herhalten (Kl; die verlegerischen Kalamitäten, die für einen gewissen Mangel an Aktualität bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens verantwortlich zeichneten, interessieren heute niemand mehr). Nun ist es Weidlich bekannt, daß der Band kein Kapitel zum Hessischen Landboten enthält. Bück verweist auf diesen, per Ver/agswunsch zu erklärenden, bedauerlichen Mangel und hält mir in der Folge vor, daß ich der Flugschrift offenbar nicht »viel abzugewinnen vermag«. Ein unbefangener Blick auf meine neueren Arbeiten hätte ihn eines Besseren belehrt. Die Intention seiner Kritik liegt auf der Hand. Denn ein elf Jahre alter Edirschungsbericht (ich würde ihn heute mit Sicherheit anders schreiben), der in vielen D€*ailaspekten und in manchen seiner erkenntnistheoretischen Grundlagen inzwischen als überholt gelten muß, ist fürwahr fragwürdiges Beweismaterial für die pauschale Disqualifizierung eines Forschers. Hier wie an anderer Stelle (vgl. die Passagen Zum politischen Denken Büchners u. a. m.) ist Bück peinlich bemüht, meinen eigenen politischen Standort - den er nicht kennt - für eben jenes nebulöse »Weltanschauungs verlangen« verantwortlich zu machen, das er als die geheime Grundlage meines wissenschaftlichen Arbeitens sehen will. Solche Attacken ad hominem - dies muß offenbar immer wieder gesagt werden — haben die Büchnerforschung der letzten Jahrem Verruf gebracht. Sie gehören in den intellektuellen Flohzirkus, nicht aber in eine Debatte mit noch so minimalem, bescheidenem wissenschaftlichen Anspruch. Wenn '«^ Herrn Bück und seine tapferen Mitstreiter aber beruhigt, so sei hier ein für allemal erklärt, daß meine persönlichen politischen Anschauungen von denen Georg Büchners nicht wesentlich differieren. Daß es Bück bei seiner außerordentlich bemühten Eruierung meines vermeintlichen »Weltanschauungsverlangens« nicht gelungen ist, diesem Sachverhalt auf die Spur zu kommen, dürfte Beweis genug sein für die relative Äjektivität meiner wissenschaftlichen Beweisführung sowie für die weitgehende Mgütralität meiner Wertungskriterien. Ad zwei. Bück gesteht zwar zu, daß meine Arbeiten »über lange Strecken« unbela-

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stet seien von positivem oder negativem Befangensein, er behauptet allerdings, bisweilen sei ich nicht frei von »Reflexen persönlicher Sympathie oder Antipathie«. Wer wäre das schon. Aber daß diese »Reflexe« die Beweisführung meiner Studien entscheidend bestimmten, kann er wiederum nicht glaubhaft machen. Ein längeres Zitat aus K6 will den Nachweis meiner »Sympathie« für Friedrich Sengle liefern. Betrachtet man das Resume zu Sengle am Schluß des Bandes im Gesamtkontext der Studie, so wird sofort ersichtlich, daß es sich linear und folgerichtig aus runden zwei Dutzend Erwähnungen seiner Thesen entwickelt. Wieder wird aus dem Kontext zitiert, und zwar in einer Art und Weise, die »schlechten Zeitungen« (Bück) zu Gesicht steht, noch nicht einmal aber einem fortgeschrittenen Studenten, der etwas auf sich hält. Entsprechend flagrant auch Bucks Entstellung meiner Bewertung Sengles: absurd die Annahme, ich hielte sein Büchner-Kapitel für den krönenden Abschluß der Biedermeier-Trilogie überhaupt. Gemeint ist natürlich der dritte Band als ganzes. Hier, wie an einem guten Dutzend ähnlicher Fehlleistungen, erhebt sich die Frage, ob schlichtes Unbedarftsein am Werk ist oder bewußte Verdrehung. Was nun die mutmaßliche »Antipathie« angeht, kann Bück, wie sollte es anders sein, nur mit dem Beispiel meiner Bewertung der Thesen Th. M. Mayers aufwarten. Vorgehalten wird mir, daß ich Mayers Ergebnisse überall dort gelten lasse, wo »absolute Faktizität« mich dazu zwingt. Wo auch sonst? Ich wünschte mir, Theo Bück hätte meinen Ergebnissen den gleichen Respekt erwiesen. Was soll also das Gerede vom »Subjektivismus«? Ich kenne weder Herrn Mayer noch Herrn Sengle »persönlich« und weiß folglich nicht, wer von beiden mir der »sympathischere« wäre. Auch hier wird mit Mitteln gearbeitet, die bestenfalls im Grenzbezirk wissenschaftlicher Lauterkeit stehen. Vollends über Bord wirft Bück dann jede »Faktizität«, wenn er mir vorhält, mein vermeintliches »mühsam zurückgehaltenes Unbehagen an den revolutionären Umtrieben des hessischen >RadikalistenK7< geführt) gemäß der Maxime: »Am besten ist's auch hier, wenn ihr nur einen hört«. a) Zum Vorwurf einseitiger Einschätzungen (Motto: Die Windfahne oder: Vor Tische las man's anders):

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K7: »absurd die Annahme, ich hielte sein [Sengles; d. V.] Büchner-Kapitel für den krönenden Abschluß der Biedermeier-Trilogie überhaupt. Gemeint ist natürlich der dritte Band als ganzes«[!].

K6: »Zweifellos die bedeutendste Darstellung von Büchners Leben und Werk neueren Datums liefert [...] Friedrich Sengle. [Es folgen methodische Bestimmungen; d. V.] [...] All das [...] ist Resultat eines langen Gelehrtenlebens und zugleich krönender Abschluß von Sengles BiedermeierzeitTrilogie. Kein Büchnerforscher [...] wird die Resultate Sengles in Zukunft unberücksichtigt lassen können.« (146)

b) Zum Vorwurf widersprüchlicher Folgerungen (Motto: Reim dich, oder ich freß dich): K6: K7: »Eine halbwegs genaue Lektüre von K6 »Nichts ist bekannt von einer aktiven Behätte ihm [Bück; d. V.] [...] die peinliche teiligung Büchners am politischen Leben Paraphrase meiner eigenen Worte erspart, während seines zweiten Straßburger Aufdie ich gleich zitieren will. Daß sie ihm enthalts. Der politischen Abstinenz entunterlief, beweist die unfreiwillige Komik, spricht die Wiederaufnahme des Studiums mit der er hier weitoffene [!] Türen ein- und eine Konzentration auf die reine Narennt. Bück: >Der radikaldemokratische turwissenschaft.« (21) (Mein Monitum Aktivist wurde doch nicht über Nacht betraf die unterstellte »politische Abstizum Entsagenden.< Knapp: >[...] sein re- nenz«; d. V.). volutionäres Bewußtsein hat er [Büchner] »... auch wenn Büchner wirklich schlagdeswegen kaum über Nacht abgestreifte artig alle Hoffnung auf eine Veränderung der Verhältnisse im Großherzogtum auf(K6, 36). Zwei Seelen, ein Gedanke.« gegeben hätte (so unwahrscheinlich eine radikale Umkehr in seiner Einschätzung der Sachlage vor allem im Hinblick auf seine auch nach dem Gießener Fiasko weiter betriebenen Darmstädter Aktivitäten erscheinen muß), sein revolutionäres Bewußtsein hat er deswegen kaum über Nacht abgestreift.« (36) c) Zum Vorwurf ungenügender Information bei der sog. »Rezeptionsübersicht« (Motto: Aber fragt mich nur nicht wie): K7:

K6:

»Was erstere [die Rezeptionsübersicht; d. V.] angeht, sind zugegebenermaßen einige Lücken zu füllen. Dennoch: Hauptmann und Heym werden durchaus erwähnt« [sie!].

»Auf die spätere enthusiastische BüchnerRezeption durch die Dichtung selbst - an sie knüpfen sich Namen wie Gottfried Keller, Gerhart Hauptmann, Georg Heym und Kurt Tucholsky — einzugehen, ist hier nicht der Ort.« (33)

d) Zum Vorwurf unzulänglicher Information über wichtige Forschungsergebnisse (Motto: Aus nichts wird nichts):

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K7: »In 6 werden [...] die Arbeiten von Zons (sechsmal), Thorn-Prikker (sechsmal) und Ueding (fünfmal) reichlich hervorgehoben (kleine Korrektur: Zons wird sogar siebenmal »hervorgehoben«; d.V.).

K6: (Auflistung der reichlichen HervorhebungenZerrissenheit< (vgl. Zons, G 30; 323)« (67). Parenthese: »vgl. hierzu Zons, G 30; 483 ff.« (76). »Er [Büchner; d. V.] verzichtet so spektakulär auf jede Originalität< (Zons, G 30; 355)« (108;. Parenthese: »Zons, G 30; 382 nennt das Lustspiel zu Recht >Paradigma des ästhetischen AbsolutismusKunstgespräch< im Lenz; d. V.] als >Gradmesser von unentfremdetem Lebensideal und entfremdeter Erfahrungswirklichkeit< (Thorn-Prikker, D 15; 184) den Schlüssel zur Pathographie Lenzens« (91). Parenthese (zur kritischen Anlage des >KunstgesprächsMasochismus< (Thorn-Prikker, G 33; 78 f.)« (99). »Im Hinblick auf einzelne Texte [Büchners; d. V.] heranzuziehen sind unbedingt auch die Überblicke von Kim (D 13) und Thorn-Prikker (D 15)« (144). Parenthese: »vgl. das bei Ueding, DT 64 thematisierte Zusammenspiel von >erlebter< und >erlittener< Geschichte (59). Parenthese: »vgl. Ueding, H 55; 34 ff.« (64). Zitat von Ueding (abermals zum Phänomen der »erlittenen Geschichte«; d. V.) und Parenthese: »Ueding, DT 64; 222« (65). Parenthese: »vgl. die guten, aber zu einseitigen Studien von Jancke [...] und Ueding, H 55; 115 ff.« (100). (zu Zons, Thorn-Prikker, Ueding u. a.;

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d. V.): »Hervorzuheben unter den Gesamtdarstellungen und größeren Monographien der letzten Jahre sind (...) die englischsprachigen Studien von Benn (G 28) und Richards (G 31) sowie die Arbeiten von Thora-Prikker (G 33) und Ueding (H 55), die aus jeweils unterschiedlichem Blickpunkt einer vertretbaren Deutung zustreben. [...]« (Im Zusammenhang mit Janckes Gesamtdarstellung; d. V.): »Letztere erbringt, gemeinsam mit Zons (G 30), den Nachweis der jakobinischen bzw. postjakobinischen Tendenzen vor allem im Geschichtsdrama.« (147) (Statt eines Kommentars ein weiteres Zitat; d. V.): »Von hier aus dürfte sich dem Leser das beachtliche wissenschaftliche Umfeld von Tatsachen, Thesen und Versuchen relativ mühelos erschließen.« (VIII) Man könnte so fortfahren. Rund heraus: Mir fehlen dazu Zeit und Lust. ES IST GENUG! Überlassen wir Knapp dem Wust seiner beharrlich vertretenen Ungenauigkeiten. Was bleibt zu folgern? Der »poststalinistische Exorzist« - »Ziethen aus dem Busch« - »tapfere Schneider« — »relative Neuankömmling in der Arena der Büchnerforschung« — »teilweise sehr verworren sich Auslassende« — »Flohzirkus«-Vertreter - »Unbedarfte« oder »bewußt Verdrehende« - »bei der Vergabe der Pfunde vielleicht nicht dabei Gewesene« - »Krümelsucher« - derjenige, welcher »auszog, das Kritisieren zu lernen« - nun: er liegt k. o. am Boden. Der Verfasser hingegen denkt munter und vergnügt weiter. Dabei ist ihm unter anderem die folgende Formel beigefallen: Kl —> K6 = K7. Mit welchem Zahlen wert zwischen 0 und Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland< (>Der Salon