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Georg Büchner Jahrbuch

7 (1988/89) Für die Georg Büchner Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Büchner — Literatur und Geschichte des Vormärz — am Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg herausgegeben von Thomas Michael Mayer

NIEMEYER

Redaktionsadresse: Georg Büchner Jahrbuch c/o Forschungsstelle Georg Büchner — Literatur und Geschichte des Vormärz — Am Grün 1; D-3550 Marburg/Lahn (Tel.: 0 64 21/28 41 82) oder über Georg Büchner Gesellschaft; Postfach 1530; D-3550 Marburg/Lahn Korrektur: Werner Weiland Die Einsendung von Publikationen (Sonderdrucke wenn möglich in 2 Exemplaren) ist freundlich erbeten; von Beiträgen jedoch nur nach vorheriger Absprache und mit üblicher technischer Manuskripteinrichtung sowie mit bibliographischen und Zitat-Auszeichnungen entsprechend dem vorliegenden Band.

Gedruckt mit Unterstützung durch das Land Hessen, die Stadt Darmstadt und die Stadt Marburg

Die Deutsche Bibliothek — CIP Einheitsaufnahme Georg-Büchner-Jahrbuch l für die Georg-Büchner-Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Büchner — Literatur und Geschichte des Vormärz — am Institut für Neuere Deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg hrsg. — Tübingen: Niemeyer. [Bd.] 7. 1988/89 (1991) Verl.-Wechsel © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Motiv: Georg Büchner im Oktober 1833 Bleistiftzeichnung von J.-B. Alexis Muston Umschlaggestaltung nach Entwürfen von Rambow, Lienemeyer und van de Sand Satz: Computersatz Bonn GmbH, Bonn Druck: Guide-Druck, Tübingen Einband: Heinrich Koch, Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. ISBN 3-484-60371-2 ISSN 0722-3420

Inhalt

Abkürzungen und Siglen

7

Georg Büchner: Shakespeare-, Goethe- und Folien-Zitate aus dem letzten Schulheft von 1831. Mitgeteilt von Thomas Michael Mayer

9

Aufsätze Friedrich Vollhardt: Straßburger Gottesbeweise. Adolph Stoebers Idees sur les rapports de Dieu a la Nature (1834) als Quelle der Religionskritik Georg Büchners 46 Ivan Nagel: Seuche, Vulkan, Überschwemmung: Saint-Just als Naturforscher 83 Inge Diersen: Büchners Lenz im Kontext der Entwicklung von Erzählprosa im 19. Jahrhundert 91 Hans H. Hiebel: Das Lächeln der Sphinx. Das Phantom des Überbaus und die Aussparung der Basis: Leerstellen in Büchners Leonce und Lena 126 Burghard Dedner: Die Handlung des Woyzeck: wechselnde Orte — »geschlossene Form« 144 Debatten Thomas Michael Mayer: Zu einigen neuen Lesungen und zur Frage des »Dialekts« in den Woyzecfc-Handschriften Eske Bockelmann: Von Büchners Handschrift oder Aufschluß, wie der Woyzeck zu edieren sei

172 219

Kleinere Beiträge und Glossen Markus Kuhnigk: Kometen, Sternkunde und Politik. Zur astronomischen Metaphorik in Georg Büchners iGsio-Rede Ingo Fellrath: »Der Freiheit eine Gasse!« Eine Stoff- und wirkungsgeschichtliche Anmerkung zu Dantons Tod Axel Kühnlenz: »Wie den Leuten die Natur so nahtrat...«. Ludwig Tiecks Der Runenberg als Quelle für Büchners Lenz Reinhard Pabst: Kurze Notiz zu Freiligrath und Büchner Ernst-Ullrich Pinkert: Schwedens »Marat« als Übersetzer von Dantons Tod. Zur ersten skandinavischen Büchner-Übersetzung (Malmö, 1889)

260 282 297 311 314

Walter Karbach: »Ich lebte geräuschlos dahin«. Erste Hinweise auf Büchners Bedeutung für Heinar Kipphardts Ästhetik und Werk Ulrich Kaufmann: »Noch immer rasiert Woyzeck seinen Hauptmann ...«. Zum Problem des Fragmentarischen bei Georg Büchner und Heiner Müller

322 329

Dokumente und Materialien Reinhard Pabst: Zwei unbekannte Berichte über die Hinrichtung Johann Christian Woyzecks Ursula Walter: Der Fall Woyzeck. Eine Quellen-Dokumentation. (Repertorium und vorläufiger Bericht) Jan-Christoph Hauschild: Büchners letzte Stunden. Ein unbekannter Brief von Wilhelm Baum Thomas Michael Mayer und Sigurd Rink: Das Inventar und die Versteigerung des Nachlasses von Friedrich Ludwig und Amalie Weidig Reinhard Pabst: Ein unbekannter Bericht Luise Büchners über die Zürcher Büchner-Feier 1875

338 351 381 383 410

Georg Büchner-Literatur 1988/89 (mit Nachträgen) Zusammengestellt von Christine Lietz und Thomas Michael Mayer

415

Georg Büchner auf dem Theater 1985/86-1988/89. Verzeichnis der Aufführungen und Kritiken Zusammengestellt von Marion Poppenborg

438

Anschriften der Mitarbeiter

467

Abkürzungen und Siglen

Benn F Fischer DT

GB I/H GB III GBJb GW HA Hauschild Hinderer HL Katalog Darmstadt Katalog Düsseldorf Katalog Marburg

Maurice B. Benn: The Drama of Revolt. A Critical Study of Georg Büchner. - Cambridge [u. a.] 1976 [21979] Georg Büchner's Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe. Eingel, u. hrsg. von Karl Emil Franzos. - Frankfurt a. M. 1879 Heinz Fischer: Georg Büchner und Alexis Muston. Untersuchungen zu einem Büchner-Fund. - München 1987 Georg Büchner: Danton's Tod. Entwurf einer Studienausgabe. [Hrsg.] von Thomas Michael Mayer. — In: Peter von Becker (Hrsg.): Georg Büchner: Dantons Tod. Kritische Studienausgabe des Originals mit Quellen, Aufsätzen und Materialien. — Frankfurt a. M. 21985, S. 7-74 Georg Büchner I/II. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1979 [21982] (= Sonderband aus der Reihe text + kritik) Georg Büchner III. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. — München 1981 (= Sonderband aus der Reihe text + kritik) Georg Büchner Jahrbuch Georg Büchner: Gesammelte Werke. Erstdrucke und Erstausgaben in Faksimiles. 10 Bändchen in Kassette. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. - Frankfurt a. M. 1987 Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. — Hamburg [dann München] 1967 ff. [Hamburger bzw. Hanser-Ausgabe] Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten Büchner-Briefen. Königstein/Ts. 1985 (= Büchner-Studien, Bd. 2) Walter Hinderer: Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. — München 1977 Gerhard Schaub: Georg Büchner/ Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. — München 1976 (= Reihe Hanser Literatur-Kommentare, Bd. 1) Georg Büchner 1813-1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Der Katalog [zur] Ausstellung Mathildenhöhe Darmstadt, 2. August bis 27. September 1987. Redaktion: Susanne Lehmann, Stephan Oettermann, Reinhard Pabst, Sibylle Spiegel. — Basel, Frankfurt a. M. 1987 Jan-Christoph Hauschild (Bearb.): Georg Büchner/Bilder zu Leben und Werk. [Katalog der] Ausstellung des Heinrich-Heine-Instituts zum 150. Todestag Georg Büchners am 19. Februar 1987. — Düsseldorf 1987 (= Veröffentlichungen des Heinrich-Heine-Instituts) Georg Büchner, Leben, Werk, Zeit. Katalog [der] Ausstellung zum 150. Jahrestag des »Hessischen Landboten«. Unter Mitwirkung von Bettina Bischoff, Burghard Dedner [u. a.] bearb. von Thomas Michael Mayer. - Marburg 1985 [31987]

Lenz

LL

MA Marburger Denkschrift

Martens H. Mayer N Nö Poschmann SW Victor WA Weidig WuB

Georg Büchner: Lenz, Studienausgabe. Im Anhang: Johann Friedrich Oberlins Bericht »Herr L « in der Druckfassung »Der Dichter Lenz, im Stein tale« durch August Stöber und Auszüge aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« über J. M. R. Lenz. Hrsg. von Hubert Gersch. - Stuttgart 1984 (= Reclams Universai-Bibliothek 8210) Georg Büchner: Leonce und Lena. Ein Lustspiel. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. — In: Burghard Dedner (Hrsg.): Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe, Beiträge zu Text und Quellen von Jörg Jochen Berns, Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer u. E. Theodor Voss. - Frankfurt a. M. 1987 (= Büchner-Studien, Bd. 3), S. 7-87 Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. München, Wien [desgl. München: dtv] 1988 Marburger Denkschrift über Voraussetzungen und Prinzipien einer Historisch-kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke und Schriften Georg Büchners. [Hrsg. von der] Forschungsstelle Georg Büchner - Literatur und Geschichte des Vormärz - im Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg und [der] Georg Büchner Gesellschaft. Erste Fassung. - Marburg/L. 1984 (Als Manuskript gedruckt) GeorgBüchner. Hrsg. von Wolfgang Martens. - Darmstadt 1965 [31973] (= Wege der Forschung, Bd. LIII) Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. - Frankfurt a. M. 1972 [41980] (= suhrkamp taschenbuch 58) Nachgelassene Schriften von Georg Büchner [Hrsg. von Ludwig Büchner]. - Frankfurt a. M. 1850 Friedrich Noellner: Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverrats eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig [...]. - Darmstadt 1844 Henri Poschmann: Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. - Berlin u. Weimar 1983 [31988] Georg Büchners Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Fritz Bergemann. - Leipzig 1922 Karl Victor: Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft. - Bern 1949 Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearb. von Gerhard Schmid. - Leipzig [desgl. Wiesbaden] 1981 (= Manu scripta, Bd. 1) Friedrich Ludwig Weidig: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Hans-Joachim Müller. — Darmstadt 1987 (= Hessische Beiträge zur Deutschen Literatur) Georg Büchner: Werke und Briefe. Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann. Kommentiert von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. — München, Wien [desgl. München: dtv] 1980

Georg Büchner

Shakespeare-, Goethe- und Folien-Zitate aus dem letzten Schulheft von 1831

W

65

70

75

Abbildung: Vorletzte Seite aus Büchners Schulheft zum Encyklopädie-Kurs im Frühjahr 1831 Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (Originalgröße 20,1 X 16,5 cm) Folgende Seite: Transkription der Grundschicht 10

w He d n vor* M^lb-n-lo* +++busch, t + + + f + *+ + + ++g+g Dich + + -» + + + du lebst weg eini+ +++···-···»····++ Barse werde nicht wärst, ++m wenn du mit d. Engelston eine ElUsonder^st^ich^+ennde ++nder auf fressen +++st++d w++++ nie die + Beh++++ie einh+*g+++*+lediges kriecht 5 ^ + + + + + + + + + + + ·'·+> + + + + + +++ (nicht) ^n ungeschehen. M++ + + + + + + + + + + + die Aristokraten) + + + + + + + + + + + + oder se++s —-—„ + „ + + + + + + t l ist + + +di+ + + f +^+ +++ + 4+++^ + + + ++ + + + + ++++ S+ +++ge du+ + + ++en n + + ++ +* +++++++++++++ ++ +-n-+^'*+-··^ ++ ++^ ++++ + ^++ ach neige, du Schmerzenreiche, d. (Antlitz) gnädig meiner Noth. Wie erkenn ich dein Treulieb vor d. ändern nun, an dem Muschelhut und Stab und den Sandelschuhn. Er ist lange todt u. hin, todt und hin Fräulein Mir zu Häupten ein Rasen grün. Ihm zu Füßen ein Stein. Ein Grabscheit und ein Spaten wohl samt einem Kittel aus Lein und oh eine Grube gar tief und hohl für solchen Gast muß seyn. Denn (traut) lieb Fränzel (ist) all meine Lust. Sie trugen ihn auf der Baiire bloß, leider ach leider und manche Thrän[e] fiel in Grabes Schooß, fahr wohl meine Taube + + + + + + + auf (morgen) (ist Sankt) Valentinstag wohl an der Zeit noch früh und ich ne Maid am Fensterschlag will seyn euer (Valen)tin Er war bereit, thät an sein Kleid, Thät auf die Kammerthür, ließ ein die Maid, die als ne Maid ging nimmer (mehr) (her)für. Bey unsrer Frau u. St Kathrin, o pfuy was soll das seyn, Ein junger Mann thut's wenn er kann, beym Himmel s'ist nicht fein Sie sprach eh ihr gescher/t mit mir gelobtet ihr mich zu frein, er sprach ich brach's auch nicht » wärst du (nicht) kommen herein. ( ) Mayenrose süßes Kind (Freiheit) «s» Mayenwonne, Braut meiner (Seele meiner) (Sonnen) Sonne. Es neigt ein Weidenbaum sich übern Bach u. zeigt im klaren Strom sein graues laub, mit welchem sie phantastisch Kränze wand aus Maaßlieb, Hahnfuß, Nesseln, Guckuksblumen Dort als sie aufklomm um ihr Uubgewinde, an den gesenkten Aesten aufzuhängen, Zerbrach ein fal(s)cher Zweig u. nieder fielen die rankenden Trophäen u. sie selbst ins weinende Gewässer. Ihre Kleider verbreiteten sich weit u. trugen sie Sirenengleich ein Weilchen noch empor, indeß sie Stellen alter Weisen sang [wie ein G abjals ob sie nicht die eigne Noth begriffe, wie ein Geschöpf geboren u. beg(a)bt für dieses Element, bis ihre Kleider die sich schwer getrunken, das arme Kind von ihren Melodieen hinunterzogen in d. sch(l)amm'gen Tod. ++s + + + + + + >-»·+ ++++ Sch++ge be++++ erh zu de* Zweifel an des Mondes Klarheit, zweifle ob lügen kann die Wahrheit nur an mei(ner) Liebe nicht. Mir stets im Herze(nsraume) so öde u. so traurig nur Flammen wild u. schaurig, stören den bangen Traum, wie dort wo sich die Eiskrystalle thürmen, oft Gluthen gräßlich schön zum Himmel stürmen, so stürmen ohne Meister im schaudernden Entzück(en) meine Geister [zweifle* ] [schl+g*] Er Wo die Bien — saug ich mich ein, bette mich in Mayglöcklein. Fliege mit d. Schwalben Reihn lustig hinterm Sommer drein — lustiglich, lustiglich leb ich nun gleich unter d. Blüthen, die hängen am Zweig... Ariel.

l 2 3 4 5 6 7g IQ l] 12 13 14 15 16 17 lS 19 20 2i 22 23 24 25 26 27 28 29 JO 31 32 33 34 35 36 37 35 39 4$ 41 42 43 44 45 46 47 48 49

11

50 Zu Lauterbach hast du dein Strumpf verlern Ohne Strumpf du kommst heim Drum geh nur 55 wieder nach Lauterbach Kauf dir zu dem einen noch ein ein

+ + +st+d++ng

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[Fahr wohl meine] [Taube]! [+ + + +ter] + + + und ++zukl++t Ich wandte di T H--l-de Seh wig Schon f++h+ zus unendliche Sonne Kann nie an den Tod mich gewöhn ich bi+ mit d. G+te vkt

12



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1 2 3 4 5 6 7 8 9 1111111111

+alles nicht O mon dieu Z-f-fchter

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Die vorstehende zeilengerechte Transkription der bislang mit Ausnahme des hessischen Volksliedes (am Rand Zeile 50-58) nicht entzifferten vorletzten Seite aus Büchners Schulheft zu Rektor Diltheys Encyklopädiekurs im Wintersemester 1830/311 konnte sich insbesondere zwei Hinweise Fritz Bergemanns zunutze machen. Bergemann, der 1922 auch das genannte Volkslied und andere Passagen der beiden vorausgehenden und der folgenden Seite(n) dieses Heftes erstmals veröffentlichte2, merkte zu der hier abgebildeten und entzifferten Seite 16 an: »aus dem wirren Gekritzel heben sich nur einzelne Worte hier und da lesbar ab, wieder aus Ophelias Wahnsinnssang z. B.«3 (das »wieder« erinnerte daran, daß Bergemann bereits auf der Seite 14 des Heftes zwei Strophen aus Ophelias Liedern in Hamlet IV,5 identifiziert hatte); außerdem las Bergemann auf derselben Seite 14 neben einer weiteren Strophe aus der

1 Das im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (Bestand 10, Büchner-Nachlaß, 27) aufbewahrte, von späterer Hand paginierte Heft bestand ursprünglich aus 6 ineinandergelegten Bogen, die etwas abweichend von Büchners späteren Arbeitsgewohnheiten (vgl. WA, Kommentar, S. 41, Anm. 92) aus 3 Foliobogen hergestellt wurden, und ist mit Faden gebunden. Das Heft enthält heute noch 17 beschriftete Seiten in folgenden Abschnitten: S. 1—3: »Von der Holzschneide-Kunst« (auch Kupferstich und Lithographie); S. 4—7: »Von der Mosaik«; S. 7—10: »Von der Archäologie der Literatur. § l Einleitung«, S. 11-14: »S 2 Orientalische Paläographie. Ueber die Semitischen Schriftarten«, S. 14: »Von der Aegyptischen Schrift« (nur die Kapitelüberschrift), S. 15: »Geschichte der Entzifferung der Hieroglyphen« und »Von der griechischen Paläographie« (nur die Kapitelüberschrift). — Abbildung und Transkription des Abschnitts über die Hieroglyphen s. Marburger Denkschrift, S. 69. S. 16 des Hefts ist die vorstehend abgebildete und transkribierte; S. 17, die letzte beschriftete Seite, enthält die von Bergemann (SW, S. 764; vgl. MA, S. 439) entzifferten Zeilen »O du gelehrte Bestie [...]« und die Strophe »Hier ruht ein junges Oechselein [...]« (vgl. noch unten Text und Anm. 49). Zu irgendeinem Zeitpunkt nach der Fadenheftung ist zwischen den heutigen Seiten 14 und 15 ein Blatt, nämlich der zu S. 5/6 des Heftes gehörende Teil des Bogens, herausgerissen worden. Es handelte sich also ursprünglich um vermutlich sechs >KritzelseitenPädagogs< vermischten und zur Politisierung ihres »geheimen Bundes« beitrugen, der nach Luise Büchners Schlüsselroman Ein Dichter »der Gemeinheit, der Unterdrückung und Knechtschaft auf ewig den Krieg erklärte«30: — neben der romantischen »Schwärmerei« für die »Natur« eine insbesondere für Büchner belegte >Bevorzugung< der »Volkspoesie«31, beides ausgedrückt in gemeinsamen Wanderungen und der Lektüre der Liedersammlungen Herders und Arnim/Brentanos32; — republikanisches Antikenpathos (»Römerpatriotismus«33), das bis an die äußersten Grenzen des schulrhetorisch Unverfänglichen ausgedehnt wurde34;

27 28 29 30 31 32 33

34 22

Byron gehört, nahe wie kaum eine andere; Ludwig Büchner könnte sich auf ihm vorliegende briefliche Äußerungen, mündliche Familientradition oder auch auf eine noch vorhandene, schon Georg zugängliche Ausgabe gestützt haben — immerhin erschien die 12-bändige, von Johann Valentin Adrian übersetzte Ausgabe der Sämmtlichen Werke Lord Byrons 1830 gerade bei J. D. Sauerländer, dem späteren Verleger von Dantons Tod (vgl. auch die Verlagswerbung im Erstdruck (GW, Bd. IV, S. [154]). Vgl. auch die Erläuterungen zu Z. 67—78, unten S. 41 f. Vgl. Büchners JGrto-Rede, HA II, S. 25, Z. 28, sowie die Analyse dieser Stelle und des folgenden Zitats durch Markus Kuhnigk (im vorliegenden Band, S. 278 ff.). HA II, S. 26. Zit. nach Katalog Marburg, S. 53. Wie Anm. 12. Ebd. — Auch durch Zitate aus beiden Sammlungen in Büchners Werk belegt. HA II, S. 21, Z. 23; vgl. Katalog Marburg, S. 56, Nr. 87; ebenfalls ein Beleg für Büchners eingehende Goethe-Kenntnisse. Vgl. Schaub: Schulrhetorik (s. oben Anm. 1), bes. S. 46-53.

— die Französische Revolution von 1789 (der »Freiheits-Kampf der Franken«35), die nach eingehender Lektüre36 vor allem für Büchner und Karl Minnigerode als Vorbild so dominierend wurde, daß sie »sich in der letzten Gymnasialzeit nur mit den Worten zu grüßen pflegten: Bon jour citoyen .. ,«37; — nicht zuletzt aber die Tradition des deutschen burschenschaftlichen Radikalismus, der um 1818/19 seinen poetischen Höhepunkt im sogenannten Großen Lied von Karl (und August Adolf Ludwig) Folien gefunden hatte. Das Zusammenfließen auch dieser Strömungen (mit Ausnahme des antiken Republikanismus, der nur die bereits veröffentlichten Schulaufsätze und -reden Büchners kennzeichnet38) läßt sich besonders eindrucksvoll anhand der vier Kritzelseiten verfolgen, auf denen der siebzehnjährige Büchner ganz zu Ende seiner Schulzeit — vielleicht, wenigstens teilweise, auch erst kurz danach39 — quasi in freier Assoziation und nicht für fremde Augen bestimmt noch einmal die verschiedensten Zitate aus Kerntexten des Arkanums niederschrieb.

35 HA II, S. 8, Z. 16. 36 Lektürespuren der Ddwtow-Quelle Unsere Zeit finden sich bereits in Büchners Schülerarbeiten; vgi. Ilona Broch: Drei Marginalien zu Georg Büchners Schülerschriften. — In: GBJb 5 (1985), S. 286-291, sowie Reinhard Pabst: Zwei Miszellen zu den Quellen von üantons Tod. - in: GBJb 6 (1986/87), S. 261-268, hier S. 262 ff. 37 Wie Anm. 8, hier S. 303. 38 Man mag darin einen weiteren Beleg ex negativo dafür sehen, daß es sich vor allem um ein unangreifbares Tarnungsfeld handelte. 39 Zwar scheinen sich einige der Glossen S. 15 bis 17 des Heftes (s. die Beispiele weiter unten, S. 25 f.) direkt auf den Unterricht oder auch dessen häusliche Rekapitulation zu beziehen. Andererseits ist schwer vorstellbar, daß ein Heft, mit solchen Notizen versehen, ganz in der Schule hätte entstehen oder jemals wieder in die Schule zurückgebracht werden können — hatte sich doch Rektor Dilthey schon im Osterprogramm 1828 des >Pädagogs< (S. 53 f. des bei Schaub, a. a. O., S. 122 gen. Titels), als ginge es just um einen solchen Fall, über »Menschen« beklagt, die »in dem Gesetz« (nämlich der Unterrichtsordnung) »eine unwürdige Fessel, in der Vorschrift eine Hemmung des eingebornen Genius, in dem Buchstaben eine kleinliche Sylbenstecherei, in der Uebung eine mechanische Abrichtung [erblicken]. Sie suchen jene vermeintliche Fessel durch Geniestreiche zu lösen, jene Hemmung durch abenteuerliche Sprünge zu überwältigen; sie suchen den Buchstaben als Knabenwerk wegzuwerfen und glauben jeder guten Uebung entwachsen zu sein. Unglücklich, wo dieser Wahn sich schon der Jugend bemächtigt! Leider gibt es allerwärts einige, zum Glück jedoch nur sehr wenige Schüler der Wissenschaften, welche ihren Ruhm in Albernheiten setzen, und Gesetz, Ordnung und Zucht wie Kerkermauern zu durchbrechen suchen, welche im Vertrauen auf das Sprüchwort: Verstand kommt nicht vor Jahren, mit geduldiger Ergebung der Zeit entgegenharren, wo das Licht der geistigen Offenbarung sie erleuchten werde, welche, weil sie vernommen haben, dass der Mensch Mehr reden als hören müsse, auch auf alle ihnen im

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Die freie Assoziation wird am deutlichsten am Sprung von Z. 44 »wo [...] die Eiskrystalle« zu Z. 46 »Wo die Bien«, vor allem aber an der kurzen Passage Zeile 29 f., denn hier springt der Text von »O Mayenrose« bei Shakespeare zu »O [...] Maienwonne« aus dem Großen Lied — von Laertes' Klage über den Wahnsinn seiner verlassenen Schwester zum Hymnus an die Freiheitsbraut. Anstelle des im unmittelbar vorangehenden Kontext des Großen Liedes angedeuteten blutigen Opfertodes für das »Vaterland«40 tritt dann sofort die Sequenz, die den Tod der Ophelia als eine Vereinigung mit dem ihr wesensverwandten Element des Wassers beschreibt. Insofern dürfte der Text, nicht nur an dieser Stelle, auch psychoanalytischen Auslegungen interessantes Material zu bieten haben. Dabei ginge es im übrigen, ohne daß ich dies hier weiter verfolgen will und kann41, nicht allein um die deutlich erotischen Gehalte und Konnotationen des Zitierten, sondern zugleich um eine gewisse, freilich auch alterstypische Ambiguität der Geschlechtsrollen, wie sie sich aus der Tatsache ergibt, daß nicht weniger als die Hälfte aller Zitate von den großen weiblichen Liebenden Ophelia und Gretchen stammt, ein weiteres von dem geschlechtslosen »Luftgeist« Ariel. Ob Büchner wußte, daß Ophelias »ich [...] will seyn euer Valentin« (Zeile 21 f.) entgegen einem fast zwingend naheliegenden Textverständnis keinen

Unterricht vorgelegte Fragen verstummen, und, weil Einige grosse Männer geworden sind, ohne Hefte zu schreiben, nun als Fraterculi Gigantum Hand und Feder schonend, wie Auscultanten, richtiger Maulaffen, figuriren, oder durch Schnitzbilder an den Wänden und Schriftzüge auf dem Papier, die nach Form und Inhalt dem Gewühl eines Rüssels in der Erde gleichen, ihren Beruf zum Studium der schönen Wissenschaften und freien Künste beurkunden.« — Auch insgesamt sieben pubertäre Unterschriftsübungen auf den Seiten 14, 15 und 17 des Heftes lassen eher an nichtschulische Situationen denken, in denen die Beschriftung erfolgte. Da der Duktus der Notate auf allen vier Kritzelseiten sehr unterschiedlich ist, handelte es sich mit Sicherheit um mehrere verschiedene, also nicht notwendig nur mit Diltheys paläographischem Unterricht zusammenhängende Anlässe. So können die letzten freien Seiten des zugleich letzten (überlieferten) Schulheftes ohne weiteres auch nach Ende der Schulzeit zuhause am Schreibtisch während der Vorbereitungen auf das Studium (vgl. Schaub, a. a. O., S. 55 f.) beschrieben worden sein. 40 Vgl. den Teildruck unten S. 30, Z. 13 f.; von Büchner S. 14 des Heftes zitiert. 41 Zu vergleichen wären immerhin, was die allgemeineren Voraussetzungen und Tendenzen der Altersphase betrifft, die >Klassiker< Erik H. Erikson: Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel [1968]. — Berlin, Wien 1981, und Louise J. Kaplan: Abschied von der Kindheit. Eine Studie über die Adoleszenz [1984]. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hilde Weller. — Stuttgart 1988; ferner: Peter Bios: Adoleszenz. Eine psychoanalytische Interpretation [1962], — Stuttgart 31983, und Mario Erdheim: Adoleszenz und Kulturentwicklung^ in: ders.: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. — Frankfurt a. M. 1984, S. 271-368. 24

Rollentausch bedeutet, sondern auf einen englischen Volksbrauch anspielt413, ist mehr als zweifelhaft. Der zwischen Zeile 26 und 27 etwa in der Mitte angebrachte Namenszug »Büchner« 41b — direkt unter jenem bereits erwähnten HamletZitat, dessen Vorlage auch in die Nacht/Straßen-Szene von Faust I eingegangen ist — verstärkt den schon durch die Zitataneinanderreihung als solche gegebenen Eindruck, daß alle denkbaren >Distanzen< zwischen dem Schreibenden und den entliehenen, »par coeur« kommenden Texten aufs äußerste geschwunden sind. Die namentliche Unterzeichnung eines ebenfalls sexualen Zitats (Beaumarchais' »Boire sans soif et faire Pamour en tout temps [...]«) findet sich auch auf der von Büchner Jahre später in Zürich bekritzelten »Inscriptions-Liste«42 — einem Dokument, das äußerlich (mit mehreren Profilzeichnungen wie auf der oben abgebildeten Heftseite immerhin einer) und nach der Schreibsituation mit den letzten Schulheftseiten sicher eng vergleichbar ist. Unmittelbarer Schreibanlaß jedenfalls dieser Hefteinträge war anscheinend, wie auch Bergemann schon urteilte, zunächst der Unmut des Schülers über die exotischen und trockenen philologischen Lehrstoffe.43 Dieser Unmut machte sich Luft in schriftlichen »Stoßseufzern«44 wie »s'ist gar so wichtig, wenns nur nicht so langweilig war. Philologs Schandvolk«, »o mon dieu / will denn die Zeit nicht verrinnen [...] die Welt ist stehn geblie-

41 a »Am Abende vor dem Valentinstage pflegten die jungen Landleute in England Loose zu ziehen, und ein solches hieß V a l e n t i n . Ihrer war eine gleiche Zahl für jedes Geschlecht, und man hielt es für eine Vorbedeutung, daß die Paare, welche einander durch das Loos zufielen, dereinst Mann und Frau werden würden.« — So die Erläuterung in der Büchner nicht vorliegenden Wiener Hamlet-Ausgabe (D2: dramatische Werke, Bd. 4, 1810, S. 132; s. oben Anm. 5). 41 b Vgl. oben S. 13, Z. 26a. — Die gesonderte Textdarstellung einer späteren Schicht mit abweichender Tinte und Feder wurde erst nach erneuter Prüfung des Originals während der Korrekturen möglich. Dabei bedeutet oben S. 13 der Exponent a im Zeilenzähler eine Position direkt unter der entsprechenden Zeile in der Grundschicht (vgl. oben S. 11). Durch diese nachträgliche Neubestimmung von Zwischenzeilen ergab sich auch der Ausfall einer ursprünglich angenommenen Zeile 9 in der Grundschicht. 42 Vgl., mit Abbildung: GBJb \ (1981), S. 214-220. 43 Dasselbe gilt auch für die Kritik, die Büchner im Sommersemester 1830 wiederum auf den beiden letzten Seiten eines anderen Heftes zu Diltheys Encyklopädiekurs niedergeschrieben hatte (s. oben Text u. Anm. 16). 44 So Bergemann, SW, S. 763, vgl. MA, S. 438. — Zumindest für eine (bislang unentzifferte) Notiz ist die Entstehung noch während des Unterrichts sehr wahrscheinlich zu machen, denn Büchner schreibt S. 15 des Heftes unterhalb des Abschnitts »Geschichte der Entzifferung der Hieroglyphen«: »Cher Jean Pollion Champollion« und korrigiert damit den Namen des Entzifferers der Hieroglyphen (Jean-Fran9ois Champollion), den er zuerst offenbar nach dem Gehör falsch wiedergegeben hatte.

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ben«, »Gelehrte Dungkaute45, wenn ich mir all das Zeug in den Hirnkasten jagen wollt«, »Dunnerwetterkeil nochmal. Pelasgische Buchstaben!«, »Donner u. Doria« (aus Schillers Fiesco, 1,5) und die oben Text u. Anm. 18 genannte Stelle aus Faust I, Wald und Höhle); alle Zitate aus S. 15 des in Rede stehenden Heftes. — Ferner: »O du gelehrte Bestie lambe me in podice. s'ist scheußlich, horribile dictu.« »Donner / Wetter«, »Gott sey gelobet / s'ist das letztemal.« »O Himmel erlöse« und bereits aus Hamlet 1,5: »o schaudervoll / höchst schaudervoll« (S. 17 des Heftes). »O mon dieu«, »s'hilft / nicht« und wiederholt »ich vergehe« (S. 16 des Heftes in jenen erst nachträglich entzifferten Überschreibungen — s. oben S. 13 —, mit denen Büchner den ursprünglichen Text der rechten oberen Heftseite bis fast ganz zur Unleserlichkeit wieder verdeckte).

Angesichts dieser >totenstehn gebliebenen< Zeit und Welt tragen die auf dem linken Rand von Seite 14 beginnenden Hamlet-Zitate (dort: »In jungen Tagen ich lieben thät [...]«, »Er ist lange todt und hin [...]« und »Wie erkenn ich dein Treulieb [. ..]« 46 ) neben dem Ausdruck pubertärer Erotik auch Züge dessen, was Büchner später im Lenz beschreibt, als dieser seinen Zustand der Erstarrung zu überwinden versucht: »Er sprach, er sang, er recitirte Stellen aus Shakespeare, er griff nach Allem, was sein Blut sonst hatte rascher fließen machen, er versuchte Alles, aber kalt, kalt.«47

Die Themen der Shakespeare-Zitate S. 16, soweit sie jetzt neu entziffert sind, kreisen um Liebe, Tod, den Wahnsinn der Ophelia und die ekstatische Naturverschmelzung47a des von Prospero endlich in die Freiheit entlassenen Luftgeists Ariel. Für ihre weitere Entschlüsselung bliebe zumal im Rahmen der zeitgenössischen Shakespeare-Rezeption noch >ein weites< Arbeitsfeld. Zwischen Burleske und >Memento mori< bewegen sich auch die Volksliedstrophe S. 16, Z. 50—58, und die vermutlich ebenfalls hessischen Verse S. 17:

45 Vgl. dazu im vorliegenden Band, S. 179, auch mit Fortsetzung des Zitats. 46 Vgl. SW, S. 762 f. bzw. MA, S. 439 f. 47 HA I, S. 82 f. 47a Ein ebenfalls adoleszenztypisches Phänomen, von Büchners Freund Wilhelm Schulz allerdings auch für die Jahre danach bezeugt: »Oft sehnte er [Büchner] sich aus der flachen Menschenwüste hinaus und hielt es für ein besseres Loos, als das ihm zugefallene, wenn er, als Beduine geboren, auf flinkem Rosse die sandige Wüste durchfliegen, wenn er die Natur in allen Adern fühlen durfte.« Zit. nach Walter Grab unter Mitarb. von T. M. Mayer: Georg Büchner und die Revolution von 1848. Der Büchner-Essay von Wilhelm Schulz aus dem Jahr 1851. Text und Kommentar. — Königstein/Ts. 1985 (= Büchner-Studien, Bd. 1), S. 65. 26

»Hier ruht ein junges Oechselein Dem Schreiner Ochs sein Söhnelein Der liebe Gott hat 48 gewollt Daß es ein Ochse werden sollt. Drum nahm er es aus dieser Welt Zu sich in's schöne Himmelszelt. Der Vater hat mit Vorbedacht Kind, Sarg u. Grabschrift selbst gemacht.«49

Etwas ausführlicher sollen hier lediglich noch die in der Forschung bislang zu wenig beachteten Zitate aus dem Großen Lied der Brüder Folien dokumentiert werden. Büchners Kenntnis dieses poetischen Manifests der >Unbedingten< war, nach den verstreuten Zitaten aus mehreren Teilen des Großen Lieds auf den Seiten 14 und 16 des Heftes zu urteilen, ersichtlich umfassend und einigermaßen genau. Ob einzelne Abweichungen gegenüber den beiden zeitgenössischen Drucken des Liedes (182950 bzw. 183O51) auf mündlicher Überlieferung, also auf »Zersingung«, oder wie bei den Shakespeare-Zitaten52 auf Gedächtnisunschärfen und/oder eigenen Veränderungen beruhen, wird kaum ganz zu klären sein. Es liegt jedoch nahe, daß Büchner zunächst durch einen seiner Darmstädter Mitschüler, möglicherweise Johann Jacob Koch, der 1834 ebenfalls zum Kreis der Gesellschaft der Menschenrechte< zählt, auf das Große Lied aufmerksam gemacht wurde und dann den ganzen Text dieses Lieder-Zyklus entweder direkt aus dem Druck von 1829 oder aus einer Abschrift von ihm kennenlernte.53 Jacob Koch (Darmstadt 15. 4. 1815 - Montpellier

48 In der Handschrift (vgl. Abb. Katalog Darmstadt, S. 81) als zeitgenössisch gebräuchliches Kürzel (Kreis mit Querstrich). 49 Ulrich Joost verdanke ich den Hinweis, daß Lichtenberg in seinem Brief an Sömmering aus Göttingen vom 12. 7. 1784 die Verse 2 und 3 mit leichten Abwandlungen zitiert. Auch Lichtenberg, von 1752 bis 1761 Schüler des Darmstädter Gymnasiums, könnte den später ohne Herkunftsnachweis als Marterl belegten Text bereits in Hessen kennengelernt haben (vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Hrsg. von Ulrich Joost und Albrecht Schöne. Bd. 2. - München 1985, S. 871 f.). 50 In: Wit, genannt von Dörring (Hrsg.): Mittheilungen aus den Memoiren des Satan. Dritter Theil. - Stuttgart: Franckh 1829, S. 246-266. Im folgenden: Dl. 51 In: Johannes Wit, genannt von Dörring: Fragmente aus meinem Leben und meiner Zeit. Erster Band. - Leipzig: Gräfe 1830, Anlage //, S. 429-448; dort, S. 429, als der gegenüber dem erstgenannten Druck »richtigere Abdruck« bezeichnet. Im folgenden: D2. 52 Vgl. oben Text u. Anm. 6. 53 Daß jedenfalls der (zweifelsfrei bessere, Lese-, nicht Hörfehler korrigierende) Druck D2 (s. Anm. 51) n i c h t Grundlage von Büchners Textkenntnis war, belegen die Textvarianten von D2 gegenüber Dl in Zeile 29, 33 und 106 des folgenden Teildrucks unten S. 29 ff. (vgl. auch noch unten Text u. Anm. 75 u. 76). Zwar ist nicht auszuschließen,

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21. 1. 1852) war der Sohn des Darmstädter Bäckers Adam Koch (ca. 1786-3. 6. 1827), der 1818/19 zu jenem »formlosen Verein« der >Darmstädter Schwarzen< gehört hatte, aus dem auch Wilhelm Schulz' Frag- und Antwortbüchlein hervorgegangen war.54 Überhaupt dürfte, da die >Darmstädter Schwarzen< einen der eindringlichsten Teile des Großen Lieds, nämlich den möglicherweise schon 1815 entstandenen Abschnitt »Viele Stimmen im Volke«55, 1819 während der Volksagitation im Zusammenhang mit Steuerverweigerungen im Odenwald als sog. »Odenwälder Bauernlied« zur Melodie von »God save the King«

daß diese Varianten älterer handschriftlicher Tradierung entsprachen oder sich auch durch Abschriften von D2 (dann allerdings eher einzeln und zufällig) hätten ergeben können; doch die in zwei Fällen spezifische und auch sonst große Übereinstimmung von Büchners Zitaten mit Di läßt den Schluß zu, daß selbst im Falle allein mündlicher Tradierung letztendlich Dl zugrunde lag, die Zeit einer eventuellen Zersingung mithin als nur ganz kurz anzusetzen wäre. 54 Vgl. Gß ////, S. 377; Walter Grab: Dr. Wilhelm Schulz aus Darmstadt. Weggefährte von Georg Büchner und Inspirator von Karl Marx. - Frankfurt a. M., Ölten, Wien 1987, S. 38 ff.; Erich Zimmermann: Für Freiheit und Recht! Der Kampf der Darmstädter Demokraten im Vormärz (1815—1848). Mit einem Quellenanhang. - Darmstadt 1987 (= Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission, N. F., Bd. 2), S. 19 ff., 200. 55 Abdruck bei Erich Zimmermann (s. unten Anm. 56, S. 450 f. mit Überlieferungsvarianten) sowie bei Grab/Friesel (s. unten Anm. 57, S. 73 f.). — Über die Entstehung und Verbreitung heißt es im lithographierten Bericht der [Mainzer] Central-UntersuchungsCommission über die llte Periode 1816—1819, 2. Abt., § 471: Die Versammlungen der Darmstädter Unbedingten« im Odenwald hätten »gewöhnlich mit einem fröhlichen Gelage [geendet], welches nicht nur bei der Untersuchung als Zweck derselben geltend gemacht, sondern auch dazu benutzt wurde, um bei offenen Thüren vor dem Landvolke Lieder von Körner anzustimmen, welche in den Jfahren] 1812 und 1813 geschrieben, und das Volk zur Erhebung gegen den Zwingherrn[-]Druck [und] zur Erkämpfung der Freiheit auffordernd, jetzt in der Zeit des tiefsten Friedens, und der befestigten Unabhängigkeit von Außen, nur mehr eine gegen das Innere gerichtete Deutung zuließen, dann aber auch das Lied: >Brüder so kann's nicht gehen< zu singen, welches einen Theil des s. g. >großen Gedichts« der Unbedingten ausmacht [...]. / Wenn, wie behauptet wird, das genannte Gedicht von den Brüdern Follenius herrührt, so würde auch jenes Lied denselben Ursprung haben, und dieses scheint durch eine Mittheilung bestätigt zu werden, welche August Follenius schon während seiner Anwesenheit zu Heidelberg im Jahr 1815 [...] einem seiner dortigen Vereins-Genossen, nach dessen Angabe dahin machte, daß dieses Lied zu Gießen von einem Studenten verfertiget worden, welcher einmal einen Zug Bauern Abends von der Arbeit nach Hause gehend, das bekannte Studenten[-]Lied: >Heil unserm Bunde Heil!« singen gehört. Dies habe in ihm den Gedanken geweckt: >das Volk, welches den Begriff eines deutschen Bundes zu fassen vermöge, dürfe nicht so geknechtet seyn, und müsse sich seiner mehr bewußt werden« — und in dieser Absicht habe er das Lied nach der Melodie jenes Studentenliedes, die bekanntlich mit der des God save the King übereinstimmt, gefertigt.« (Generallandesarchiv Karlsruhe, Abt. 233, Fasz. 1762). 28

verbreitet hatten56, auch der Rest des Liedes gerade unter den Darmstädter Radikalen gut tradiert gewesen sein. Weil kein verläßlicher Nachdruck des Großen Lieds vorliegt57, gebe ich hier im Unterschied zu den Shakespeare-Zitaten, die erst anschließend in den Erläuterungen ausschnittweise nachgewiesen werden, alle diejenigen Teile (mit nur zwei etwas größeren Kürzungen) wieder, aus denen Büchner auf den Seiten 14 und 16 des Heftes zitierte. Gegliedert ist der Zyklus in folgende Teile (Seitenzahlen nach dem — Büchners Zitaten näherstehenden — Druck von 1829): »Vorwort.« (S. 246-247) »Motto.« (247) »Stimmen aus dem Volke.« (248—251) »Viele Stimmen im Volke.« (251-252) »Der Tisch des Herrn in Nacht und Wald.« (252-255) »Abendmahlslied freier Freunde.« (255—259) »Neujahrslied freier Christen.« (259—266)

Die Teile, aus denen Büchner zitierte, lauten (ebenfalls nach dem Druck von 1829; Sperrungen sind solche des Originals, Kursive markieren die von Büchner wörtlich exakt zitierten Passagen, wodurch auch kleinere Abweichungen ersichtlich werden; wichtigere Varianten des Drucks von 1830 = D2 in den Fußnoten): » S t i m m e n aus dem Volke. Ein Alter sang aus tiefster Brust, In ihm war todt für hier der Hoffnung Lust, Er sang zur allerletzten Reise, Sich selber seine Grabesweise Langsam und schwer hüb also an der Greise: >Wenn Trug, Gewalt, Zwingherrnschaft58, Pfaffenthum >Des Lastergifts allmähPge Unterhölung >Das wohlgefeite, >Das gottgeweihte

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56 Vgl. E. Zimmermann (s. Anm. 54), S. 49, sowie ders.: Das Odenwälder Bauernlied von 1819. - In: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde N. F. 37 (1979), S. 447-453. 57 Den ausführlichsten Neudruck, jedoch mit zahlreichen Fehlern und Kontaminationen durchsetzt, bieten Walter Grab / Uwe Friesel: Noch ist Deutschland nicht verloren. Eine historisch-politische Analyse unterdrückter Lyrik von der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung. - München 1970, S. 70—80. 58 Zwingherrschaft D2.

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>Erzhaus der Menschheit, sein Urheiligthum >Die Volkesfreiheit59 zertrümmert, > Wenn Du mein wundes Vaterland verkümmert; >Dann sey mein Blut doch Deine letzte Oelung, >O Freiheit, Maienwonne, >Braut meiner Seele, meiner Sonnen Sonne, >Wenn Du von diesem Eiland >Des Weltenmeers >Entschwebst zum Weltenheiland! >Freiheit Du erstes Lächeln meines Mundes, >Mein Urbild und mein erst Gebet, >Das noch in meinem Herzen flammend steht, >In Deiner Kraft erfliegt die teutsche Jugend, >Die Sternenhöh' urteutscher Heldentugend, >Dich weiht als geistig Bannerkreuz des Bundes >Gott, der den Grund sieht unsers Herzensgrundes. >Ja wenn des Lebens erste Saamenkörner >Erblüht, erstorben sind zu neuem Saamen, >Dann greif ich freudig in den Kranz der Dornen6®, >Hell klingen mir die ew'gen Siegeshörner >Und Freiheit, Freiheit ist mein Amen Amen!< Doch es sungen Die Zungen61, Frisch, fröhlich und frei, Die muthigen Söhne der Turnerei', Sternaugen funkeln, Schwerdter sind bloß-. Laut schallet der Freiheit Drommetenstoß: Schmettr' heraus Aus der Brust Jugendbraus Schwerdgesaus Freiheitslust!

59 Volksfreiheit D2. 60 Dörner D2; wegen des Reims mit Z. 30 sicher die korrekte Version (s. auch unten Text u. Anm. 76). 61 Jungen D2; wegen der kontrastierenden Antwort der »Jungen« (der »muthigen Söhne der Turnerei« Z. 35) auf das vorhergehende Lied des »Alten« (Z. 2) mit Sicherheit die ursprüngliche Version; »Zungen« (Dl) wegen der naheliegenden Verwechslung von handschriftlich J und Z vermutlich ein Druckfehler, der allerdings auch auf älterer handschriftlicher Überlieferung beruhen könnte (s. auch unten Text u. Anm. 75).

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Der Tisch des H e r r n in N a c h t und Wald. Es zieht eine Schaar von Männern sich Herab zum dunkelen Haine, Beim dämmernden Fackelscheine. Still ist ihr Blick, aber schauerlich, Nachtschwarz ihr Gewand, einfältiglich, Nichts Glänzendes blickt Ihr an solchen Als den G l a n z von g e s c h l i f f e n e n Dolchen. Und dort wo die Tannen und Eichen im Rund Zum erhabenen Dome sich thürmen, Gottes Orgel brauset in Stürmen, Wie ein Altar aufsteiget der Felsengrund, Dort trat man zusammen zur Mitternachtsstund' Und hervor aus dem heiligen Kreise, Dumpf schauerlich tönte die Weise: Nacht und kein Stern! Zündet des Opfertods Kerzen Braust in die Segel der Herzen, Stürme des Herrn. Aus Nacht und Sturm Sproß eine Freiheitsrose; Weh in dem eignen Schooße Trug sie den Wurm.

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Freiheit ist todt, Überall bleiches Verderben, Feigheit und ewiges Sterben, Knechtschaft und Noth. Fluch und Geheul Wälzt sich im Volk, daß die Fürsten Selbst nach dem Herzblut ihm dürsten, Gott, sieh den Greuel62! Vaterland ächzt, Auf, auf ihr Adler der Rache, Horcht wie der tückische Drache Mordbrütend krächzt. Rachengel auf, Auf\ die Posaunen erklingen, Gräber und Särge zerspringen, Freiheit steht auf\

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62 Graul D2.

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Drum steh'n wir hier, Dir soll dies Leben gehören, Freiheitstod! Vater wir schwören Knieend bei Dir: Nie r u h t dies Schwerdt, Bis jene Fürsten und Väter Zwingherrn und Knecht und Verräther D e c k t N a c h t und Erd'!

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Und wie was da lebet und kreuchet und fleugt, Wenn der Donner des Höchsten erbrüllet, In tiefes Schweigen sich hüllet; So knie'n sie im stummen Danke gebeugt Vor dem, deß Gnad' uns zur Freiheit gezeugt, Bis zween Äelteste treten zusammen Und entzünden des Hochaltars Flammen. Und die Todtbrüder treten zum Altar hin, Zu empfahn in heiPger Entflammung, Was uns Heil bringt oder Verdammung. Mit dem König der Märt'rer Ein Blut und Ein Sinn, So nehmen die Märtyrerweihe sie hin, Und reih'n63 sich der ew'gen Erbarmung Mit Opfergesang und Umarmung. Abendmahlslied freier Freunde.

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Mir war's im Herzensraume So öde sonst und traurig64, Nur Flammen wild und schaurig Störten den bangen Traum-, Wie dort wo sich die Eiskristalle thürmen, Oft Gluthen gräßlich schön65 gen Himmel stürmen, So stürmten ohne Meister Im schauernden Entzücken meine Geister. Doch nun, wie Mondesnacht Bei lichtem Sterngewimmel, Ja wie ein Frühlingshimmel In milder Rosenpracht,

63 weih'n D2. 64 So öde sonst, so traurig D2; Büchners Text (s. oben S. 11, Z. 43) weicht hier, aber auch im vorhergehenden Vers, von beiden Drucken ab; durch das >und< dennoch etwas größere Nähe zu Dl. 65 gräßlich-schön D2.

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Als sängen die Gestirne mir entgegen, So tränkt ein güldner heil'ger Strahlenregen Des Herzens welke Pflanze. Was ist's mit diesen Klängen, diesem Glänze? Der Friede Gottes ruht In stiller Unschuld Feier, Hehr wie ein Jungfrau'nschleier, Mir nun 66 auf Herz und Muth; Der mir mit Herz und Muth;67 Den ich im Tod nur hoffte zu umarmen, Läßt lebend mich an seiner Brust erwarmen, Seit ich in seinem Blute Zerbrach den Tod und des Gewissens Ruthe. O Jesu, Liebster mein In Fleisch und Blut und Leben, Im höchsten Geisterstreben Bin ich nun ewig dein. Der du dem Urgeist, der das All gegründet, Die Menschheit hast durch Wort und That verbündet, Hast nun 68 für mich vergossen Dein Blut, und in dein Herz mich eingeschlossen. Wohl ist der Frühling schön, Ein Kindlein wach vom Schlummer, Ein Lächeln aus dem Kummer, — Der Herbst malt Wald und Höh'n, Das Äug' in Sehnsuchtsträumen halb geschlossen, In Farbenbildern malerisch69 ergossen, Doch all dies Freudenweben70 Ist dir ein Hauch; in dir wohnt ewig Leben. — Dir bist du, Mensch, entfloh'n, Ein Christus sollst du werden, Wie du ein Kind der Erden, War auch des Menschen Sohn. In deinem Seyn ist dir das Nichts vernichtet. Gott richtet dich, wie du dich selbst gerichtet; Gott ward d u r c h s i c h ; durch L i e b e Der M e n s c h , daß Er uns Ziel und Vorwurf bliebe.

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neu D2. Die anscheinend verderbte Z$ile fehlt D2. neu D2. schwärmerisch D2. Freudeweben D2.

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Zur außerordentlich strittigen Analyse des Großen Lieds, das als eine Art »Evangelium« und politisch-religiöses Glaubensbekenntnis der Jenaer >Unbedingten< zum Volksaufstand ebenso aufrief wie zur Rache an >Fürstenknechten< (und damit u. a. auch Karl Ludwig Sands Mord an Kotzebue gefühlsmäßig mitvorbereitete), kann hier nur auf die Beiträge von Hans-Georg Werner71 und Walter Grab72 sowie auf die dort angegebene Literatur verwiesen werden. Nach Grabs zusammenfassendem Urteil vermischten sich bereits im Gedicht der Brüder Folien ähnlich viele »verschiedene Traditionen« wie dann im Darmstädter Gymnasiastenzirkel: »Antike Maximen von der legitimen Beseitigung ungerechter Herrscher durch einzelne Volkshelden vermengen sich mit mittelalterlichen Legenden vom geheimen Femegericht; mystisch-okkulter Glaube mit puritanischen und asketischen Zutaten; ekstatisch-heidnische Wildheit in Ausdruck und Gebärde sowie religiöse Verzückung mit den Prinzipien der Französischen Revolution von der Notwendigkeit eines Volksstaats.«73

Damit sind denn wohl auch einige wesentliche Gründe der Attraktivität dieses Liedes für den Schülerbund bezeichnet. Büchner zitierte auf den Seiten 14 und 16 seines Heftes insgesamt sieben verschiedene Passagen aus dem Großen Lied. Der Wortlaut von Büchners Zitaten wird im folgenden in der vermutlichen Reihenfolge ihrer Niederschrift diplomatisch und zeilengerecht sowie mit Angabe der Position74 und mit Verweis auf die Zeilenzählung des obigen Lied-Teildrucks wiedergegeben: 1.) Heftseite 14, Hauptspalte, unteres Viertel, links beginnend: »Doch es sungen die Zungen75 Frisch, fröhlig u. frei Die muthigen Söhne der Turner Sternaugen funkeln die Schwerter sind bloß Laut schallet der Freiheit Drommetenstoß« (Vgl. Teildruck, Z: 32-37)

71 Geschichte des politischen Gedichts in Deutschland von 1815 bis 1840. - Berlin [DDR] 1969, S. 66-71. 72 Grab / Friesel (s. oben Anm. 57), S. 67-70, 80-84. 73 Ebd., S. 82. 74 Zum Vergleich mit der Abbildung in Katalog Marburg, S. 53 (links). 75 Die Lesung »Zungen« (so auch SW, S. 762) ist im Vergleich mit anderen auf den Seiten 14—17 des Heftes vorkommenden Buchstaben Z und J zweifelsfrei; vgl. auch oben Anm. 53 u. 61.

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2.) Direkt darunter, in der Mitte und mit spiralförmigen Linien bis fast zur Unleserlichkeit wieder getilgt: »[ Freiheit Mayenwonne,] [Braut meiner Seele, meiner Sonnen Sonne!]« (Vgl. Teildruck, Z. 15-16)

3.) Darunter, wieder links beginnend und mit waagrechten Strichen getilgt: »[So se Wenn die in meinem Vaterland verkümmert] [So sey mein Blut doch deine letzte Oehlung]«

(Vgl. Teildruck, Z. 13-14) 4.) Darunter, nur teilweise getilgt:

»[Dann greif ich freudig in] den Kranz der Dornen76 [Hell] klingen mir die ewigen Sigeshörner« (Vgl. Teildruck, Z. 29-30)

5.) Heftseite 14, linker Rand, 7. und 6. Zeile von unten, mit Spirallinien getilgt (die danach noch folgenden beiden Zeilen ganz bis zur Unleserlichkeit) : »[Und Freiheit, Freiheit] [sey mein Amen, Amen!]« (Vgl. Teildruck, Z. 31)

6.) Heftseite 14, Hauptspalte, unteres Viertel, in der Mitte — d. h. rechts neben Zitat 1.) — beginnend: »Auf die Posaunen erklingen, Gräber u. Särge zerspringen, Freiheit steht auf.« (Vgl. Teildruck, Z. 79-81)

7.) Heftseite 16, Hauptspalte, Zeile 29—30: Textwiedergabe oben S. 11. (Vgl. Teildruck, Z. 15-16; es handelt sich

um dasselbe Zitat wie unter Nr. 2.) 8.) Ebd., Zeile 42—45: Textwiedergabe oben S. 11. (Vgl. Teildruck, Z. 105-112).

Das Große Lied als ganzes genommen — das heißt im Vergleich mit der durchgehend blutrünstigen Militanz und mit dem gegen Ende immer stärker religiösen Pathos —, sind es noch relativ gemäßigte Verse, die sich Büchner in sein damit nichtsdestoweniger im Sinne des Rektors Dil-

76 Bergemann korrigierte seine ursprüngliche und zweifelsfrei zutreffende Lesung »Dornen« (SW, S. 763) ab 1958 deswegen zu »Dörner«, weil er einen entsprechenden Reim in »A. L. Pollens >Bundeslied< « entdeckt hatte (vgl. Büchner, 1965, S. 349; s. auch oben Text u. An m. 4). Ingo Fellrath verdanke ich den Hinweis, daß Bergemann dabei vermutlich A. L. Pollens Lied »Freundschafts- Erinnerungs- und Hoffnungsklänge« meinte, das zwar die Funktion eines »Bundesliedes« hatte, aber in Pollens Sammlung Freye Stimmen frischer Jugend (Jena 1819) nur unter dem angegebenen Titel gedruckt ist (dort S. 92) und den Reim »Kranz der Dörner /[...] Jubel der Hörner« enthält.

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they endgültig >frevelhaftesnichtoriginären< Seite des 17jährigen Schülers oder auch »Mulus« Büchner (d. h. des >Maulesels< zwischen Schüler und Student) mag Idiosynkrasien bestärken, wie sie schon seit Gründung dieses Jahrbuchs häufiger und auch jüngst wieder von Karl Eibl geäußert wurden. In seiner Besprechung von Jan-Christoph Hauschilds Büchner-Studien (1985; vgl. Arbitrium 7, 1989, H. l, S. 101 — 104) vergleicht Eibl die »positivistische Zwischenphase der Büchner-Forschung« mit dem »Reliquienkult« der frühen Goethe-Philologie und gibt der »Hoffnung« Ausdruck, »daß die Text- und Faktensicherung nächstens doch als abgeschlossen gelten kann« (dies angesichts der Tatsache, daß bislang weder eine kommentierte Historisch-kritische Ausgabe, noch auch nur ein Band mit den zahlreichen verstreuten Lebenszeugnissen vorliegt). Eibl warnt ferner davor, das »Terrain« der Forschung noch »künstlich [zu] erweitern um das personelle Umfeld [...] oder durch Regression zu den Schulaufgaben des Zwölfjährigen«. Denn — so der Kern von Eibls Ausführungen, auch wenn dies zunächst nur als Erklärung für die Versäumnisse der »offizielle[n] Literaturwissenschaft der positivistischen Ära« fungieren soll — man müsse »wohl gelegentlich in Erinnerung

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rufen [...]: Georg Büchner starb mit 23 Jahren und hinterließ an dichterischen Werken zwei Dramen, Fragmente eines weiteren Dramas und ein Erzählfragment: ohne diese Werke [sie!] wäre er recht belanglos, und alles andere, auch der Landbote, erhält nur von ihnen her Relevanz.« Dieser denkwürdige Satz allerdings würde sich, mutatis mutandis z. B. auf Goethe übertragen, etwa so anhören: Hätte Goethe nicht Götz (1771 bzw. '73), Clavigo ('74), Werther ('74) und den Urfaust ('74—'76) geschrieben, ja wäre er sogar noch vorher, nämlich in Büchners Alter Anfang 1773 gestorben, so wäre er eher >belanglos< und wären seine Mitschuldigen ('68), Leipziger Lieder ('69), Straßburger Gedichte und Thesen ('70/'71) von geringerer >Relevanz< geblieben. Nun hat er aber und ist eben nicht — und deshalb beschäftigen sich Literaturwissenschaft und biographischer Positivismus auch mit dem frühesten und jungen Goethe, und zwar vermutlich genau in dem Maße noch erheblich eingehender denn mit dem aus der hessischen Nachbarschaft kommenden Büchner, als auch das frühe Werk Goethes das fraglos >bedeutendem ist (wenngleich gegenüber Woyzeck vielleicht nicht so eindeutig). Die Forschung beschäftigt sich aber auch mit der Jugend anderer, älter als Büchner gewordener Autoren, bei denen die >Rangordnung< weniger gesichert erscheint. Doch ganz abgesehen hiervon, und auch noch abgesehen davon, daß die »Relevanz« des Hessischen Landboten insgesamt unabhängig von Büchners dichterischem Werk besteht: So richtig (aber auch selbstverständlich) Eibls Feststellung ist, daß es wichtigere und weniger wichtige Forschungsthemen und -ergebnisse gibt — dies allerdings sowohl auf dem Feld des quellenerschließenden Positivismus als auch auf dem der Werkdeutung —, so ungewöhnlich ist der adhortative Ton, mit dem hier einer schleunigen Beendigung (und das hieße einem Abbruch) jener »Text- und Faktensicherung« das Wort geredet wird, mit der es, wie die jüngeren ernstzunehmenden Publikationen zum Thema immer wieder erkennen lassen, wahrlich noch nicht allzuweit her ist, die indessen kontinuierlich Ergebnisse zeitigt - und die im übrigen auch prinzipiell gar nicht abschließbar ist. Solche Anregungen, mit dieser ganzen Forscherei nun aber bald (»nächstens«) Schluß zu machen, zumal der Autor, hätte er sein Werk nicht geschrieben, doch »recht belanglos« sei, erscheinen mir nicht nur allgemein wissenschaftspolitisch, sondern gerade auch im Vergleich mit anderen Teildisziplinen unseres Faches derart unüblich, ja befremdlich, daß sich zwangsläufig der Eindruck eines besonderen, eben vermutlich wissenschaftspolitischen Grundes einstellt. Eibls Satz über den ohne Werk »belanglosen« Dichter macht einfach in jeder denkbaren Hinsicht (auch für die Rechtfertigung früherer Unterlassungen) zu wenig Sinn, um nicht aufhorchen zu lassen. Zu erinnern wäre da noch etwa an Werner R. Lehmanns unwillkürliche Entgleisung, wonach die wissenschaftliche Diskussion der Verfasserschaft einzelner Landboten-Std\en »zwar nicht erforderlich« sei, sich »aber auch nicht verbieten« [!] lasse (W«ß, S. 569; vgl. dazu GBJb 5/1985, S. 14, Anm.) — und dies nachdem Lehmann seinerseits seine eigenen Hauptthesen eben auf die mit Sicherheit irrige Zuweisung einer ganz speziellen Stelle an Büchner gestützt hatte. Und zu erinnern wäre an zahlreiche weitere, jedoch eher publizistische und sachfremde Einwände, durch »Archivarbeit«, »Biographismus, Einflußforschung und Editionsphilologie« würde »das schmale Werk« Büchners letztendlich nur »verschüttet«. Warum sollte dies ausgerechnet für Büchner, nicht z.-B. ebenso für Hölderlin, Kleist, Heine gelten? In all diesen Zusammenhängen erhalten auch neuerliche und gleichzeitige Anregungen zweier Münchner Rezensenten der Büchner Jahrbücher 4 und 5, inskünftig

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die »Konzentration auf den einen Autor« aufzugeben (Jürgen Wertheimer, in: Arbitrium 6, 1988, H. l, S. 61 f.) oder aber den »Umfang« zu verringern (Walter Schmitz, in: Deutsche Bücher 18, 1988, S. 304), bestimmte Untertöne. Natürlich bleibt es Aufgabe der Forschung insgesamt (wie auch jedem einzelnen überlassen), die »Bedeutung« von Ergebnissen des biographischen, editorischen oder wirkungsgeschichtlichen Positivismus »zu hierarchisieren« und »eine nüchterne Einschätzung der Anteile des Wichtigen und des Belanglosen« vorzunehmen (Eibl); doch wer vermag jeweils schon zum Zeitpunkt der Erschließung von oder gar der Suche nach solchen Fakten einzuschätzen, welche Bedeutung sie etwa in anderen, noch unbekannten Zusammenhängen für dann doch wichtige Folgerungen (Datierungen z. B.) und vor allem für Fragestellungen haben könnten, die wir noch gar nicht überblicken? Insofern ist aller »Positivismus« in der Tat auch >dienende< Hilfswissenschaft, worunter die >textsichernde< Edition und die >faktensichernde< biographische Forschung jedoch zu den unabdingbaren Grundvoraussetzungen jeder methodischen Beschäftigung mit historischen Gegenständen zählen. Und daß die Biographie nicht nur zu den wesentlichen methodischen Voraussetzungen auch der werkdeutenden Literaturwissenschaft gehört, sondern daß sie ihrerseits auf möglichst frühe Zeugnisse angewiesen ist, darf sicher für mehr als eine Binsenweisheit gelten: es ist allen großen biographischen Leistungen etwa von Goethes Benvenuto Cellini bis hin zu Sartres >Flaubert< aufs deutlichste zu entnehmen, welche nämlich alle die Konstitutionsbedingungen ihrer thematisierten Person eben gerade aus dem »personellen Umfeld« und den »Einflüssen« (wozu auch die »Schulaufgaben« zählen) zu bestimmen versuchten — woraus denn auch sonst, wenn es sich um eine nicht mehr lebende Person handelt? Nur Tagebücher — und wo gäbe es erhaltene aus der Kindheit? — könnten vielleicht noch ergiebiger sein. Auch die Erforschung allgemeinerer und besonderer Bedingungen wie Gegebenheiten der humanistischen Schulbildung im Zeitraum unseres Themas ist (wie nicht nur, aber insbesondere Georg Jägers Arbeiten zeigen) eine hochergiebige und seriöse Aufgabe; und warum sollte das für die Erforschung eines ganz bestimmten, und zwar eines besonders reichhaltig überlieferten Fundus von Schülerskripten, der außerdem durch die Bedeutung und gute Dokumentation der Lehranstalt in den verschiedensten Hinsichten erschließbar ist, etwa weniger gelten? Im Fall Büchners — wo wir im übrigen über den Vater (noch) zu wenig, über die Mutter außer durch ihren Brief so gut wie nichts wissen — kommt als Besonderheit noch hinzu, daß das ganze eigentliche Werk< in einem Abstand von nur drei bis sechs Jahren gegenüber der Schulzeit entstand, die mögliche »Präsenz« der Bildungsstoffe und anderer -einflüsse also gerade hier sehr naheliegt und auch nachweisbar ist (vgl. Katalog Düsseldorf, S. 22). Und wenn die »Einflußforschung«, jedenfalls soweit sie über nebulöse >Parallelen< und >Anklänge< hinaus zu nachgewiesenen Fakten gelangt, seit jeher zu den probaten Methoden der Philologie zählt, warum sollte dies ausgerechnet für den seltenen Glücksfall nicht gelten, in dem sich solche Einflüsse schwarz auf weiß, z. T. säuberlich liniert, sehr früh, in den meisten Fällen aufs Halbjahr genau datier- und auf bekannte Lehrer bzw. Schulbücher zurückführbar wirklich belegen lassen? Die Vorwürfe der puren >Faktenhuberei< erscheinen mithin gerade im vorliegenden Fall besonders unangebracht. Wer auch immer, d. h. welcher Biograph, Historiker oder Texthermeneut, und was »er damit machen« wird (GBJb \l 1981, S. 252) — warten wir es einfach ab. T. M. M.

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AUFSÄTZE

Straßburger Gottesbeweise Adolph Stoebers Idees sur les rapports de Dieu ä la Nature (1834) als Quelle der Religionskritik Georg Büchners Von Friedrich Vollhardt (Hamburg)

Von einer theologischen Dissertation aus dem ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts verspricht sich der heutige Leser keine aufregende Lektüre, selbst wenn er sich bewußt ist, ein Dokument in den Händen zu halten, das ihm Aufschluß über das religiöse Zeitgespräch geben kann. Die Argumente einer damals noch einflußreichen theologischen Apologetik scheinen sich allein durch den zeitlichen Abstand erledigt zu haben, auch ohne daß man sich die einzelnen Stadien im Prozeß der Säkularisierung eines durch kirchliche Traditionen geprägten Denkens noch einmal eigens in Gedächtnis ruft. Spätestens mit Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) dürfte ja die ontotheologische Beweisführung in ihrer alten Form erloschen sein. Mit wechselndem Erfolg hat die Theologie sich danach der Transzendentalphilosophie anzupassen versucht und dabei allmählich ihr Gesicht verloren. Um so aufmerksamer wird man deshalb jene Sätze vermerken, mit denen der Verfasser auf dieses durch die Philosophie und Wissenschaft >entzauberte< Weltbild eingeht und ohne Umschweife erklärt, daß sich keine logische Schlußfolge mehr entwickeln lasse, welche die Existenz Gottes beweisen und so den verbreiteten Unglauben widerlegen könnte: »Disons meme qu'en general il n'est aucune preuve de l'existence de Dieu, qui puisse etre formulae en syllogisme et qui soit assez rigoureuse pour vaincre credulite.«1

l Louis-Adolphe Stoeber: Idees sur les rapports de Dieu ä la Nature et specialement sur la Revelation de Dieu dans la Nature. These presentee a la Paculte de Theologie Protestante de Strasbourg [...]. — Strasbourg 1834, S. 42. Seitenangaben aus der Abhandlung Stoebers erscheinen nach vorheriger Kennzeichnung im Text in runden Klammern ohne Sigle.

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Ein solches Resümee hätte man eher unter dem Philosophengespräch in Dantons Tod (III/l) erwartet als in der These von Ludwig Adolph Stoeber (1810—1892), einem Studienfreund Büchners aus dem Kreis der »Eugeniten«2. Den Theologen, angehenden Pfarrer und späteren Konsistoriumspräsidenten muß man sich demnach als einen Gesprächspartner vorstellen, für den jener auf den Deismus Voltaires gemünzte Spott aus der eben erwähnten Unterredung der Gefangenen im Luxemburg ( » P a y n e . [...] Wer einmal nichts hat als Verstand und ihn nicht einmal consequent zu gebrauchen weiß oder wagt, ist ein Stümper.«3) nicht zutraf; denn Stoeber argumentiert in seiner Promotionsschrift so »consequent«, daß Büchner ihr — und das mag bei einer an der Faculte de Theologie Protestante eingereichten Schrift auf den ersten Blick paradox erscheinen — sowohl die ins Absurde führenden Beweisgänge einer rationalistischen Theologie wie die Antinomien einer an Raum und Zeit gebundenen Schöpfung und ihres Ursprungs entnehmen — oder genauer gesagt: sie dort in einer bündigen Zusammenfassung nachlesen konnte. Und daß der Autor des Danton mit seinem Straßburger Kommilitonen über die Idees gesprochen, »wahrscheinlich auch ein Druckexemplar der ersten selbständigen Veröffentlichung seines Freundes erhalten«4 hat, darf als sicher gelten. Die Dissertation Stoebers gehört damit zu den wenigen authentischen Zeugnissen eines philosophischen Gedankenaustausches, an dem Büchner in einer noch näher zu bestimmenden Weise teilnahm. Anhand der von Stoeber benutzten Quellen lassen sich zudem einige der bisher nur durch inhaltliche Übereinstimmungen sowie eine zeitliche und sprachliche Nähe begründeten Annahmen über den philosophischen Kontext der Schriften Büchners bestätigen, während eine Reihe vager Motivzusammenhänge — die von einer assoziationsfreudigen Forschung über die gesamte abendländische Kulturgeschichte gespannt wurden — als für die h i s t o r i s c h e Interpretation des Werkes bedeutungslos aufgelöst werden können. Die Abhandlung Stoebers wirkt mitunter wie ein bedächtiger Kommentar zu den von Büchner nur ironisch oder provozierend gestellten Fragen, wobei sich Berührungspunkte vor allem in drei Bereichen ergeben: (1) bei der Kritik des nachkantischen Idealismus und seiner verschrobenen (»bizarre«) Terminologie; (2) in der Ablehnung einer

2 In der Straßburger Studentenverbindung >Eugenia< verkehrte Büchner seit dem November 1831. Zu den Gesprächsberichten und den einzelnen Mitgliedern der Verbindung vgl. die Untersuchungen von Thomas Michael Mayer, in: Gß ////, S. 41 ff. und 365 ff., und die Zusammenstellung der wichtigsten Daten bei Erich Zimmermann: Büchners Straßburger Freunde. Die Eugenia. — In: Katalog Darmstadt^ S. 132—135. 3 HA I, S. 48. Die Seiten verweise nach der Ausgabe von Werner R. Lehmann werden im folgenden im Text, nicht in den Anmerkungen gegeben. 4 GB ////, S. 377.

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physikotheologischen bzw. ideologischen Schöpfungslehre und (3) bei der Unterscheidung und logischen Prüfung der Argumente einer materialistischen, atheistischen und pantheistischen Naturauffassung. Auffallend oft wird dabei der Name Spinozas genannt, womit etwas über die Faszination gesagt ist, die für Stoeber wie für Büchner — bei diesem freilich offener und weniger ambivalent — von dem trotz aller Verehrung immer noch >ketzerischen< Philosophen ausgegangen sein muß. Im Hintergrund stand hier allerdings nicht das von den Theologen des 18. Jahrhunderts ins Monströse verzeichnete Bild des gefährlichen Atheisten5, sondern der von den Frühromantikern in ganz anderer Weise, aber nicht weniger häretisch als Überwinder des Vernunftpurismus rehabilitierte Denker der Gott-Natur. Spinoza wurde zum Inaugurator einer neuen unkirchlichen Religiosität, der »kontrasttypologische Schematismus hatte den Epochenschnitt überdauert.«6 Die folgende Darstellung hat dies zu berücksichtigen, da bei den in Straßburg zwischen Büchner und Stoeber verhandelten >letzten Dingen< sowohl die Rezeption spinozistischen Denkens wie die Beurteilung der zeitgenössischen Philosophie in einer Tradition steht, die am Ende des 18. Jahrhunderts ihren Ausgang von den Schriften Friedrich Heinrich Jacobis genommen hat.

L Der >Pantheismusstreit< und seine Wirkungen: Stufen der Rezeptionsgeschichte Spinozas zwischen 1785 und 1835 Büchners Spinoza-Exzerpte (HA II, S. 227—290) vermitteln den Eindruck einer sorgfältigen, an den Quellen orientierten Auseinandersetzung mit dem System des Philosophen. Die ihm vorliegende SpinozaAusgabe von H. E. G. Paulus (Opera quae supersunt omnia. 2 Bde. — Jena 1802/1803) hatte für ein solches Studium die besten Voraussetzungen geschaffen, in der Einleitung zum zweiten Band konnte Büchner sogar einen kritischen Literaturbericht zur Spinozaaneignung des 18. Jahrhunderts finden. Jacobi wird hier mit der überarbeiteten Fassung seiner an Mendelssohn gerichteten Briefe Ueber die Lehre des

5 »Der Augsburger Theologe Theophil Spitzel nannte ihn nur den >fleischgewordenen Satanas< und den >irreligiosissimus autorMaledictusPantheismusstreit< der achtziger Jahre8 für die philologische Edition der Schriften Spinozas — seine eigentliche Wiederentdeckung — nur noch indirekt von Bedeutung. Die Interpreten seiner Philosophie suchten jedoch Argumentationshilfen weiterhin bei der referierenden Darstellung in Jacobis »Spinozabüchlein«9. Nicht allein der Mangel an Zeit dürfte also den angehenden Privatdozenten dazu gebracht haben, bei seinen Anmerkungen zu den Lehrsätzen der Ethica weniger dem eigenen Urteil als den gängigen, vielfach wiederholten Einwänden der Spinozakritik zu folgen. Die Forschung hat sich der Untersuchung dieses Sachverhaltes bisher weitgehend entzogen. Wo etwas zu dem zeitgenössischen Umfeld der Spinoza-Studien Büchners zu sagen war, hat man die fehlenden Kenntnisse durch zwei einfache Erklärungen auszugleichen versucht. Entweder schrieb man dem Exzerpt ein hohes Maß an Originalität zu oder man versah es, vorsichtig pauschalisierend, mit dem Attribut des >Linksspinozismusbänglichenbleiernen< Zeit bemerkenswert genau eingefangen. Mit seiner Thematisierung der >Zerrissenheit< weist er auf Büchners >Lenz< voraus, steht er seinem Kritiker und Verspotter Heine, dem Dichter mit dem >zerrissenen Herzenpauvre< Lenz kontrastiert mit dem Glanz einer Welt, die Büchner mit leuchtenden Farben am Ende der Novelle im Panorama des Gebirges noch einmal ersteilte. >Eine unendliche Schönheit^ der Welt tritt dem Motiv mitmenschlicher Hilfe und mitmenschlichen Vertrauens, verkörpert in Oberlin, und dem Motiv der Liebe, namentlich durch die Friederike-Gestalt bezeichnet, zur Seite.« »Lenz kann seine Isolation nicht überwinden. Aber der Dichter Büchner umgreift die Antinomien des Lebens und affirmiert seine Schönheit. Der Wahnsinn des armen Lenz ist ein Einzelfall in einer Schöpfung, deren >unendliche Schönheit< Lenz preist, wenn er >sich ganz vergessen< hat.« (S. 39) Dazu Thorn-Prikker: Die »Verquickung von Formanalyse und affirmativem ideologischem Gehalt« sei »aufdringlich«. (»Ach die Wissenschaft, die Wissenschaft!« Bericht über die Forschungsliteratur zu Büchners »Lenz«. — In: Gß ///, S. 185.) Dem ist nichts hinzuzufügen. 23 Heide Eilert: Eduard Mörike: Maler Nolten (1832). — In: Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus (vgl. Anm. 7), S. 178.

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te gibt und die Fachliteratur dazu neigt, Büchner mehr Lektüre zuweisen zu wollen, als er auch bei größtem Leseeifer in seinem kurzen Leben, in dem er schließlich zur Hauptsache als Naturwissenschaftler arbeitete, hätte bewältigen können, soll hier davon ausgegangen werden, daß sich die Beziehung nicht durch Lektüre herstellte, sondern durch Berührungspunkte im Zeiterleben. Mörikes Maler Nolten ist ein Roman des »dunklen« Biedermeier, das sich — im Unterschied zur biedermeierlichen Idylle behüteter Häuslichkeit, wie sie sich auch in Teilen von Mörikes eigener Lyrik findet — dem Bedrückenden stellt, ein Roman der Restaurationsperiode, die mit 1830 ja nicht einfach zu Ende war, sondern sich mit den Tendenzen des Jungen Deutschland und des Vormärz überlagerte. Seine Helden, Nolten und dessen Freund, der Schauspieler Larkens, verfehlen ihren sozialen Ort nicht allein, weil sich ihnen äußere Hindernisse in den Weg stellen, das gilt allenfalls für Noltens Liebe zur Gräfin Konstanze. Innere Zerrissenheit und seelische Heimatlosigkeit lassen sie nirgends Fuß fassen, führen in der Beziehung zu Frauen zu Wankelmut und Unentschiedenheit, die an ihrer Fähigkeit zu lieben generell zweifeln läßt. Wahnsinn und Todesverfallenheit sind die Quittungen eines verfehlten Lebens. Diese zeichnen auch die Frauenfiguren, die Unheil erfahren und Unheil stiften. Die Erinnerungen der Büchnerschen Lenz-Figur an ein geliebtes und von ihm verlassenes Mädchen, seine wahnhaften Vorstellungen von ihrem Tod stehen Noltens schuldhafter Liebe zur Zigeunerin Elisabeth und zu dem Mädchen Agnes und Larkens' verhängnisvollem Rollenspiel näher als der Beziehung des historischen Lenz zu Friederike Brion.

Bei aller Aufmerksamkeit, die Mörikes Maler Nolten verdient — vorrangig unter thematischen Gesichtspunkten, auch wegen Ansätzen zu erzählerischer Innovation, worauf zurückzukommen sein wird —, der Roman gehört nicht gerade in die Sternstunden der Erzählkunst. Die sind überhaupt selten geworden. In der Zeit zwischen Restauration und Revolution wird zwar viel, aber überwiegend sehr schlecht erzählt. Erst in der nachrevolutionären Wende wird sich im Rahmen des programmatischen Realismus Erzählkultur mit hohem Standard neu konstituieren, und zwar — bei allen Wandlungen — dauerhaft. Das periodische Räsonieren über die Krise des Romans, über das Unmöglichwerden des Erzählens gehört zur Dauerhaftigkeit. Nach dem Ende der Kunstperiode aber ist Erzählen unsicher geworden. Die Fähigkeit, mittels Geschichtenerzählens eine fiktive Welt aufzubauen, in der der Leser seine eigene wiedererkennt oder ein Gegenbild zur eigenen, die ihn beruhigt oder aufregt, bestätigt oder herausfordert, 102

diese Fähigkeit, die sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts voll entfaltet und Prosa als anerkannte Kunstform hervorgebracht hatte, ist rar geworden, kein einziger Roman und nur wenige Erzählungen von Rang entstehen. In den 30er und 40er Jahren dominieren Texte, die, auch wenn sie als Erzähltexte ausgegeben werden, häufig nicht narrativ strukturiert sind oder innerhalb der Textentwicklung vom Narrativen wegführen oder sich auf andere Weise mit den Prosagenres verbinden, die zwischen Narration und Reflexion, zwischen Erzählen und Erörtern, zwischen Fiktivität und Authentizität angesiedelt sind und deren reiche Entwicklung den Vormärz kennzeichnet, so daß vielleicht die These aufgestellt werden kann, daß gerade die literarischen Innovationen des Vormärz das Entstehen von künstlerisch hochwertiger Erzählprosa behindern, es nur im Einzel- und Ausnahmefall ermöglichen. Die These sei durch die Andeutung einiger Beispiele illustriert. — Erzählprosa wird vom sogenannten Sittengemälde überlagert. Heines Rabbi von Bacherach beginnt mit der Erzählung einer außerordentlichen Begebenheit und mündet in ein historisches Sittengemälde, die Schilderung des Lebens im Frankfurter Ghetto, in dem sich die Geschichte des Rabbi und seiner Frau gewissermaßen verliert, die story löst sich im Sittenbild auf. Der in der Erzählhandlung exponierte Konflikt des Rabbi — um sein und seiner Frau Leben zu retten, läßt er seine Gemeinde im Stich - fällt unter den Tisch. Die Mehrzahl der Prosa der Droste ist Sittenschilderung von Land und Leuten aus Vergangenheit und Gegenwart; ihre Romane bleiben in den Anfängen stecken; ihre Judenbuche — der Titel ist nicht von ihr — gibt sich verschämt als »Sittengemälde aus dem gebirgigten Westphalen«, das Erzählen, die Narration wächst nur zögernd aus der sachprosaartigen Schilderung heraus, kehrt zwischendurch zu ihr zurück. Gotthelfs Romane und Erzählungen vermitteln Sittenbilder vom dörflichen Leben in der Schweiz, sind kulturgeschichtlich von dauerhafterem Interesse als literarisch (was natürlich nicht von einer so großartigen Erzählung wie der Schwarzen Spinne gilt). Weerths Romanfragment zeichnet über weite Strecken ein Bild vom Anbruch des industriellen Zeitalters am Rhein, während Handlung nur ansatzweise in Gang kommt und immer wieder stecken bleibt. — Erzählprosa tendiert zum Reisebild, das seinerseits ja auch für die Präsentation erzählter Geschichten offen ist. In den Flor entmischen Nächten nimmt Heine eine klassische Erzählsituation nach dem Muster von Tausend und eine Nacht als Rahmen: Maximilian erzählt der todkranken Maria Geschichten, um sie von ihren Leiden abzulenken. Diese Geschichten haben überwiegend den Charakter von Reisebildern, oft mit der für diese spezifischen, auch personellen, zeitgeschichtlichen Einbindung (Bellini, Paganini) und der Neigung zur Anekdote. Phantasie spielt als Mittel der Ironie, wird ihr freier 103

Lauf gelassen, entsteht eine sich in Traumgesichten auflösende Geschichte — die von Mademoiselle Laurence —, mit deren abruptem Abbruch auch die Florentinischen Nächte abbrechen. Die nach Art des Schelmenromans angelegten Memoiren des Herren von Schnabelewopski führen durch Stationen, die Reisebildern gleichen, die episodische Reihung weist eine fragmentarische Struktur auf. Die Memoiren brechen gerade mit einer stärker narrativen Begebenheit ab — der tragikomischen Geschichte vom kleinen Simson —, als sei es dem Autor nicht möglich, den angeschlagenen narrativen Ton durchzuhalten. — Erzählprosa ist didaktisch strukturiert: volkserzieherisch-didaktisch bei Gotthelf, aufklärerisch-didaktisch je nachdem in liberalem, demokratischem, sozialreformerischem Sinn bei den zahlreichen Zeitroman-Autoren der 30er und 40er Jahre, unter ihnen bei Weerth im Sinn der Marxschen ökonomischen und Klassenkampf-Theorie. — Erzählprosa neigt zur Satire und zum Pamphlet. Gutzkows Wally die Zweiflerin ist notdürftig romanhaft eingekleidete freigeistige Streitschrift. Immermanns Münchhausen ist außerhalb der OberhofHandlung literarisch-politische Satire, die nur dem eingeweihten Zeitgenossen verständlich war. Weerths Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben und sein Schnapphahnski sind Satiren im Sinne einer eigenständigen Gattung, in der das erzählerische Element funktioneil untergeordnet ist. Wenn Büchners Lenz sich so deutlich vom Niveau der zeitgenössischen Erzählprosa abhebt, so hat das sowohl in einer Weltsicht mit fortgeschrittensten Denkansätzen seine Ursache wie in einer ästhetischen Stringenz, die durch einen strukturell wie stilistisch ungewöhnlichen Formwillen entsteht. Formbewußtes Schreiben ist zeitgenössisch ein Sonderfall, denn Erzählprosa neigt nicht nur zur Gattungsauflösung, auch innerhalb der Gattung zeigt sie schwerfällige Komposition und ausufernden, unkonzentrierten Erzählstil, das gilt für Mörike wie für Immermann, von der Masse jungdeutscher und vormärzlicher Erzähler ganz zu schweigen. Vor allem der Roman, die erzählerische Großform, scheint keine Chance für Gelingen zu haben, während einige Novellen — wie Eichendorffs Schloß Durande oder Mörikes an Kleist gemahnende Lude Gelmeroth — Ausnahmen bilden, anders als Büchners Erzählung aber zugleich in eher konservativem Denken verwurzelt sind. Letzteres gilt auch für Stifter, dessen Erzählungen der 40er Jahre jedoch auf vielfältigere Art mit dem Zeitgeist verbunden sind und zugleich über ihn hinausweisen. In Büchners formbewußtem Schreiben verbinden sich traditionelle und neuartige Elemente auf widerspruchsvolle Weise. Es zielt sowohl auf die Herstellung eines ausgeglichenen, in sich gegliederten Erzählflusses, auf die Wahrung der Erzählkonvention also wie auf deren Aufhebung durch eine nach rückwärts weitgehend offene Kompo104

sition und durch in den Erzählfluß eingelagerte Seelen- und Naturbilder, die in ihrer Dynamik sprengend wirken und in relativer Handlungsunabhängigkeit ein Mosaik von Bildmotiven bilden, das einer fragmentarischen Struktur zuneigt, die sich auch in einer im Textverlauf zunehmenden Verselbständigung der Episoden und ihrer lockerer werdenden Reihung abzeichnet. Dabei läßt Büchners Impuls, über Lenz zu schreiben, die Art, wie er Gutzkows Interesse weckt, und dessen Reaktion bis hin zum Rahmentext für den Erstdruck zeittypisches Herangehen erkennen: Der Neuwert des Stoffes, die Befriedigung von Informationsbedürfnis steht im Zentrum.24 Die Ausführung jedoch ist ganz anders. Vom ersten Satz an wird der fiktionale Darbietungsmodus eingesetzt. Nicht allein die Bewegungsrichtung des Erzählens ist der in Oberlins Bericht entgegengesetzt, das Erzählen richtet sich sofort voll und voraussetzungslos auf die Figur, stellt sie in eine umgebende Natur, die nicht für sich, sondern nur mit Bezug auf die Figur da ist, es folgt einem äußeren und inneren Bewegungsvorgang, für den es keinen Zeugen, keinen Beobachter gibt, auch keinen Quasibeobachter in Gestalt eines sogenannten auktorialen Erzählers.25 Das Erzählen präsentiert sich aus sich heraus, ist sofort genau perspektiviert und fokalisiert, und das in einer Zeit, in der narrative Perspektivierung und Fokusbildung in der Regel nur erst wenig ausgebildet sind.2* Der sofort eindeutig fiktionale Ansatz führt in eine Geschichte hinein, in der die Korrespondenz von Anfang und Schluß einen deutlichen Akzent für einen in sich geschlossenen Handlungsaufbau setzt, dessen

24 Vgl. Büchners Brief an die Familie vom Oktober 1835 (II, 448) sowie Gutzkows Briefe an Büchner, besonders den vom September 1835 (II, 481). Auf ein sicherlich in erster Linie durch Goethes Dichtung und Wahrheit gewecktes biographisches Interesse des Vormärz-Publikums an Lenz — mit dessen Dichtung man wenig anfangen konnte —, nicht zuletzt am intimen biographischen Klatsch, ist nicht nur aus Gutzkows Rahmentexten zu schließen, sondern auch aus August Stöbers Publikationen. 1831 war (in mehreren Fortsetzungen im Morgenblatt für gebildete Stände) Der Dichter Lenz. Mittheilungen erschienen, 1839 veröffentlichte er in der Straßburger Zeitschrift Erwinia. Ein Blatt zur Unterhaltung und Belehrung seine erste Bearbeitung des Oberlin-Berichts, und schließlich war er Herausgeber von Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim (Basel 1842). 25 Ich verwende den Begriff, weil er sich in der erzähltheoretischen Debatte durchgesetzt hat, aber mit Vorbehalt, legt er doch die theoretisch falsche und für die Textinterpretation irreführende Gleichsetzung von auktorialem Erzähler (= überschauend vermittelnder Darbietungsinstanz) und Autor-Erzähler nahe. 26 Vgl. Franz K. Stanzeis Untersuchungen, die allerdings von der englischsprachigen Erzählprosa ausgehen. (Theorie des Erzählens. — Göttingen 31985, u. a. S. 26 f., und: Wandlungen des narrativen Diskurses in der Moderne. — In: Erzählung und Erzählforschung im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Rolf Kloepfer und Gisela Janetzke-Dillner. — Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1981, S. 371-383). 105

Gliederung in Handlungsphasen und in korrespondierende Handlungsteile von der Forschung herausgearbeitet worden ist und bei vielen Untersuchungen im Mittelpunkt steht.27 Zwischen der Wanderung nach Waldbach und der Fahrt von Waldbach weg untergliedert sich die Handlung in drei Hauptphasen. Die erste schildert Lenzens Leben bei Oberlin, die Versuche, in dessen Tätigkeitsbereich Fuß zu fassen. Die Anfälle von Sinnverwirrtheit treten zurück, er hält eine Predigt, im Gespräch mit Oberlin faßt er philosophische Überlegungen in klar geäußerte Gedanken, im Kunstgespräch, das zur Hauptsache ein Monolog ist, bringt er seine Kunstauffassung, die zugleich eine philosophische Position zum Leben umreißt, überlegen zum Ausdruck. Die Phase endet jäh mit der von Kaufmann übermittelten, Lenz in Panik versetzenden Aufforderung, zum Vater zurückzukehren, und Oberlins Abreise. Die zweite Phase handelt von ziellosem Umherstreifen, von Gesprächen mit Madame Oberlin über Erinnerungen an ein geliebtes Mädchen und von wahnhaft zielgerichteter Tätigkeit beim Versuch der Totenerweckung. Die letzte Phase, die mit Oberlins Rückkehr einsetzt, zeigt Lenz in zunehmender geistiger Verwirrung. Auf geheimnisvollem Wege glaubt er die Nachricht vom Tod des geliebten Mädchens empfangen zu haben, fühlt sich als dessen Mörder, im Gespräch mit Oberlin findet keine Kommunikation mehr statt, Oberlin ruft fremde Hilfe herbei, um den Kranken unter Kontrolle zu halten. Ihrem Umfang nach stehen die Handlungsphasen etwa im Verhältnis 5 : 3 : 4 zueinander. Die logischkausale Verknüpfung der Handlungsteüe lockert sich schon in der zweiten Phase merklich, in der dritten entfällt sie sogar partiell. Sowohl die hier ganz eng Oberlin folgenden Partien wie die originär Büchnerschen variieren die Thematik nur noch; die Handlung tritt auf der Stelle, ihre Teile werden weitgehend austauschbar. Das zweite Element des Handlungsaufbaus wird durch die Korrespondenz von Handlungsteilen gebildet, die auf motivische Querverbindungen innerhalb des Handlungsverlaufs verweist, auf ein Muster, das über dessen Linearität gelegt wird. Der Weg durchs Gebirg am Anfang führt zielgerichtet nach Waldbach, was der Leser allerdings erst im Nachhinein erfährt, als Lenz auf Menschen stößt und sich nach dem Weg erkundigt. Schon vor dem Eintritt in Oberlins Haus begrüßen ihn »Lichter« (S. 6), »Licht« strahlt von »ruhigen, stillen Gesichtern« aus, es wird ihm »leicht«; das Wohnzimmer bei Oberlin ist »heimlich«, auf einem »hellen Kindergesicht« scheint »alles Licht« zu ruhen, er selbst

27 Walter Hinderer gibt eine klare übersichtliche Darstellung des Handlungsaufbaus, auch in Verbindung mit der Darstellung der Positionen in der Forschungsliteratur. (Georg Büchner: Lenz (1839). — In: Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus [vgl. Anm. 7], S. 271 ff. und S. 280 f.).

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wird ruhig (S. 7). Und der Parallelvorgang: Nachdem er Oberlin bei dessen Abreise ein Stück begleitet hat, geht er nicht zielgerichtet zurück; er durchstreift »das Gebirg in verschiedenen Richtungen« (S. 17), ein großes Harmoniegefühl, verbunden mit dem Bildmotiv der Welle, ergreift ihn. Zufällig stößt er auf eine bewohnte Hütte, den Lichtschimmer muß er mühsam suchen, die »Lampe erhellte fast nur einen Punkt, ihr Licht fiel auf das bleiche Gesicht eines Mädchens«, das krank ist, von dessen Zügen dann in der Nacht »ein unheimlicher Glanz zu strahlen schien« (S. 18). In Oberlins Haus saß die Mutter »hinten im Schatten engelgleich stille« (S. 7), hier sitzt »im Dunkel« »ein altes Weib, das mit schnarrender Stimme aus einem Gesangbuch sang« (S. 18). Lenz wird weder freundlich noch unfreundlich aufgenommen, er bekommt Essen und eine Schlafstelle, aber es bleibt eine gespannte Atmosphäre, verstärkt durch den heimkommenden Mann mit »unruhigem verwirrtem Gesicht« (S. 18), der, wie Lenz am Morgen von Nachbarn erfährt, »im Rufe eines Heiligen« steht, und es wird ihm »unheimlich mit dem gewaltigen Menschen« (S. 19). Der erste Vorgang öffnet Lenz den Zugang zu Oberlins Welt, in der er zeitweilig heimisch wird, der zweite eröffnet eine Phase, in der ihn »eine unerbittliche Gewalt« »nach einem Abgrund« hinreißt (S. 19). Die bloße Gegenüberstellung nur der Szenen in den Häusern könnte zu einer einschichtigen Interpretation verleiten: Einmal tut sich ein Weg zur Gesundung auf, das andere Mal führt der Weg in den Abgrund der Krankheit. Deswegen wurde das davor stehende Harmonie- und Wellenmotiv einbezogen, das einer solchen Interpretation im Wege steht und dessen Bedeutung offenbar von der Szenenparallelität her nicht zu erschließen ist. Trotz der hier schon sichtbar werdenden Grenze des Verfahrens sollen weitere Korrespondenzen von Handlungsteilen und Situationen wenigstens angedeutet werden. Der zweifachen Epiphanie der Mutter in der ersten Handlungsphase — beim Gang durch den Lenz »heimlich« stimmenden, »heimliches Weihnachtsgefühl« erregenden Winterwald (S. 10) und in der Nacht nach der Predigt als Traum von ihrem Tod, der ihn »ruhig« macht und von Oberlin als ins religiöse Weltbild passend gebilligt wird (S. 12) — entsprechen die Erinnerungen an das »Frauenzimmer«, das geliebte Mädchen in der zweiten Handlungsphase (S. 20 f.), und in der dritten die wahnhafte Vorstellung ihres Todes, die irre Selbstbeschuldigung, ihr und auch seiner Mutter Mörder zu sein (S. 23 und 27). Der Predigt in der ersten Handlungsphase steht die versuchte Totenerweckung in der zweiten gegenüber. Aber schon wenn man Lenzens Reaktionen genauer vergleicht, tun sich Widerstände auf, in dem einen nur die gelungene, Gott zugewandte, soziale Integration bewirkende, in dem anderen "die gotteslästerliche, soziale Desintegration vorantreibende Handlung zu sehen. Die zumindest ihrem Verlauf nach gelungene Predigt versetzt ihn in eine Stimmung, die schlechterdings 107

nicht als Genugtuung einer frommen Seele über ein Gott wohlgefälliges Tun verstanden werden kann, in der er zwischen Extremen — äußerste Erregung durch Schmerz und Wollust, Selbstmitleid, schließlich bloßes Daliegen »ruhig und still und kalt« — hin und her gerissen wird (S. 12). Die Reaktion auf die mißglückte Totenerweckung bringt denselben Spannungsbogen vom ekstatischen Aufschwung — »Triumph-Gesang der Hölle«, Vorstellung der Vernichtung der Welt und ihres Schöpfers — zum In-sich-Zusammenfallen »kalt und unerschütterlich«, »leer und hohl« (S. 22). Auch hier zeigt sich, daß die Szenenkorrespondenz zwar eine Entwicklungsrichtung von »normalem« zu wahnhaftem Tun hin hervorhebt, die Szenen antithetisch gegenübergestellt sind, zugleich aber innertextual Kräfte wirken, die einer eindeutigen Bewertung als »positiv« und »negativ« entgegen stehen. Der Umstand, daß Büchner seinen Lenz offenbar sehr formbewußt erzählt, hat zusammen mit der von Gutzkow eingesetzten, jedoch kaum im Sinne der Gattungstheorie so zu verstehenden Bezeichnung als Novelle28 dazu geführt, daß in der Mehrzahl der Fachliteratur die Bestimmung als Novelle den Ansatz für die Interpretation gibt, zumal, wie deutlich bei Benno von Wiese zu erkennen, die Literaturwissenschaft sich nur schwer von der Vorstellung trennen kann, daß der Novellenbegriff mit einem Qualitätskriterium verbunden sei, sie also dem Zwang unterliegt, in einem guten Text eine Novelle erkennen zu müssen.29 Wie wenig die Erzählung auf diese Weise erschlossen werden kann, zeigt sich allein schon in der Unsicherheit, die Peripethie zu bestimmen, die es in einer Novelle ja geben muß. Die Entscheidung fällt bei den einen für das Kunstgespräch bzw. die Krise, die Kaufmanns Forderung in Lenz auslöst, bei anderen für die Szene in der Berghütte, wieder bei anderen für die Totenerweckungsszene. In der Regel ist damit die Neigung verbunden, in die erzählte Geschichte eine eindeutige Sinngebung hineinzulesen. Sie erscheint als Geschichte eines Verlustes: des gesunden Sinns, der Religion, der Fähigkeit zu sinnvollem Tun, zu mitmenschlichen Kontakten oder was immer, an dem der arme Lenz entweder selbst schuld ist, weil er die angebotene Hilfe (Oberlins, Kaufmanns, des Vaters) nicht annimmt, oder zu dem ihn ein feindliches Schicksal verdammt. Alle diese Interpretationsansätze können sich auf Textteile stützen und verfehlen doch den Text als Ganzes; bei ihnen geht die Geschichte »auf« und kann ins Weltbild des Interpreten eingeordnet werden. Gegen die Auffassung von Lenz als Novelle spricht zudem, daß von einem Autor wie 28 Zum jungdeutschen Novellenverständnis vgl. die Ausführungen von Henri Poschmann (Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. — Berlin und Weimar 1983, S. 172 ff.) 29 Vgl. z. B. Benno von Wiese, bei dem von »bloßen Erzählungen« die Rede ist (Einleitung zu: Die deutsche Novelle H. - Düsseldorf 1962, S. 22). 108

Büchner, der sich in seinen Stücken so konsequent der aristotelischen Dramaturgie entgegenstellt, logischerweise kaum eine Erzählung der streng geschlossenen Form zu erwarten ist, wie die Novelle sie darstellt. Hier setzt Gerhart Baumann bereits Ende der fünfziger Jahre an, der von einer »lockeren Fügung von in sich selbständigen Szenen, einer Dramatik des Parataktischen« spricht und »das Selbstherrliche des Augenblicks« hervorhebt.30 Im Vorfeld der Frage nach »offener« Schreibweise ist jedoch der nach der Art des Fragmentcharakters des Textes nachzugehen: was bloße Unfertigkeit und was strukturell bedingt ist und ob beides möglicherweise zusammenhängt. Auf der Grundlage der Arbeit für seine Edition plädiert Hubert Gersch entschieden für den Entwurfscharakter des Textes. Eine Reihe stilistischer Unfertigkeiten und Ungereimtheiten ist nicht von der Hand zu weisen, jedoch wird man in einigen Fällen kaum mit letzter Sicherheit entscheiden können, ob nicht doch bewußter Stilwille zu Grunde liegt.31 Die im Büchner-Text stehende Bemerkung »Siehe die Briefe« deutet Gersch sicherlich richtig als »arbeitstechnische Notiz« für die »geplante Einarbeitung von Lenz-Briefen«32, fraglich muß jedoch bleiben, ob Büchner, hätte er am Text weitergearbeitet, das Vorhaben tatsächlich ausgeführt hätte, denn die fiktional-narrative Prosa mit Dokumentation zu durchsetzen, würde in Richtung der zeitgenössisch beliebten Mischgenres führen, von denen sich zu entfernen, Büchners Gestaltungswille ansonsten zu erkennen gibt.

30 Baumann (vgl. Anm. 2), S. 169 und S. 170. An Baumanns Arbeit ist wichtig, daß er überhaupt auf den Gesichtspunkt der offenen Form und der strukturellen Nähe zu Büchners Dramen aufmerksam macht, während seine Argumentation in vielen Einzelheiten nicht haltbar ist. Er sieht über die Abfolge der Handlungsteile hinweg, stellt sie willkürlich nebeneinander, um dann für das Ganze behaupten zu können, was nur tendenziell für die späteren Handlungsteile gilt: »daß kausale Verbindungen ausgespart werden, bloße Vollzüge geboten sind« (S. 170). 31 Auf ein paar offensichtliche Unfertigkeiten sei hingewiesen. S. 9, 14—16 findet sich ein abrupter Wechsel der Erzählperspektive von Lenz auf Oberlin und wieder zurück, letzterer verbunden mit einem grammatisch falschen Einsatz des Personalpronomens. S. 10, 34 kommt Lenz offenbar im Haus in Oberlins Zimmer »hinunter«, war aber eben noch im Walde. An Gerschs Hauptbeispiel jedoch ist nur die unbegründete Wiederholung »und eines Morgens ging er hinaus« — »Er ging des Morgens hinaus« (S. 10, 3—4 und S. 10, 14) für den »Entwurfcharakter und das Unfertige des Textes« überzeugend, nicht aber, daß die dazwischen stehende »>wiet - als eine der Übertretungen der »Genie-Zeit« um so leichter abgetan werden, als innerhalb der Werke selbst sich die dann gattungsge-

Daß auch Goethe diese Konsequenz scheiternden Handelns nicht ganz fremd war, zeigt eine Stelle aus einem Brief an Lavater vom 6. 3. 1776, geschrieben knapp ein halbes Jahr nachdem er seine Tätigkeit in Weimar aufgenommen hatte und ein paar Wochen bevor Lenz dort eintraf: »Verlass dich — Ich bin nun ganz eingeschifft auf der Woge der Welt — voll entschlossen: zu entdecken, gewinnen, streiten, scheitern, oder mich mit aller Ladung in die Lufft zu sprengen.« (Weimarer Ausgabe, IV. Abtheilung, 3. Band, S. 37).

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schichtlich vorerst bestimmend bleibende Wende zum auktorialen Erzählen ankündigt: bei Lenz in der komplexen Anlage und in den Briefen der Honesta59, bei Goethe im Gestaltwandel des Herausgebers zum Erzähler, der in der 2. Fassung des Romans, die seit ihrem Erscheinen 1787 für das ganze 19. Jahrhundert Rezeptionsgrundlage war, gegenüber der 1. Fassung stark ausgebaut ist. Die bedeutsame erzählerische Neuerung in der Ich-Prosa des Sturm und Drang, deren Folgen erst mit dem vollen Einsatz des inneren Monologs in der Erzählprosa seit der Jahrhundertwende für den Ausbau der Gattungsmöglichkeiten Gewicht bekommen, spielt für das Erzählen im 19. Jahrhundert nur in Ausnahmefällen eine Rolle, zu denen Mörikes Maler Nolten gehört. Dieser schwerfällig aufgebaute, überwiegend konventionell auktorial erzählte Roman weist einige monologische Partien von erstaunlicher Modernität auf, die ihresgleichen suchen.60 Das ist

59 »Nicht wahr ich hab eine gute Anlage zur Romanschreiberin?« So Honesta im Waldbruder. Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm. - Leipzig 1987, Bd. 2, S. 406. 60 In vereinzelten monologischen Partien des Maler Nolten zeigt sich ein Übergang zu erlebter Rede, mit den erstaunlichsten Konsequenzen wohl in folgender: »Wüthend rennt er eine Strecke fort bis in die Gegend der verhängnisvollen Stelle, wo er stehen bleibt, [1] sich fragt, ob es Blendwerk, ob es Wirklichkeit gewesen, was hier vorgegangen? [2] Unmöglich schien es, daß noch so eben Constanze hier zwischen diesen Felsen gestanden, daß er sie [bei Mörike kursiv, I. D.J, sie selber in seinen Armen gehalten, ihren Busen an dem seinigen klopfen gehört. Wie kalt und theilnahmslos lag jetzt diese Finsterniß um ihn her, wie so gar nichts schienen diese rohen Massen von jener holden Gegenwart zu wissen, deren Gottheit noch so eben rings die Nacht purpurisch glühen machte! Hier klang das Rufen der Geliebten, hier fiel der Tropfe aus dem schönen Auge! [3] O läßt kein leiser Geisterton sich hören, der mir versichere: ja, hier war es, hier geschah's! Begreife denn dein Glück, ungläubig Herz! umfass', umspanne den vollen Gedanken, wenn du es kannst, denn ohne Grenzen ist dein Glück [...].« Eduard Mörike: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 3 (Maler Nolten). Hrsg. von Herbert Meyer. — Stuttgart 1967, S. 83. — Von dem mit [1] »sich fragt« eingeleiteten, in indirekter Rede stehenden Gedankenmonolog kündigt sich mit dem Übergang vom handlungsschildernden Präsens (das sich im Nolten häufiger findet) zum Präteritum der [2] Übergang zu »erlebter Rede« an, die mit »Wie kalt und teilnahmslos« voll da ist. Besonders erstaunlich ist dann der [3] Wechsel zur 1. und 2. Person, verbunden mit der Rückkehr zum Präsens, das jetzt das Präsens eines Monologs ist, der in seiner — hier übrigens stark lyrisch geprägten — Unmittelbarkeit zum inneren Monolog tendiert. — Auf anderem Wege versucht Gerhard Storz moderne Züge am Nolten auszumachen: Die »verschiedenen Perspektiven« des »allwissenden Erzählers« zeugten von einer »entwickelten Kunst des Erzählens«, die »weniger auf die Tradition der Gattung Roman weist als auf deren Zukunft« (Gerhard Storz: Maler Nolten. — In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85, 1966, S. 206 f.). Das scheint mir wenig überzeugend. Die Instabilität des auktorialen Erzählers im Nolten — mal gibt er sich allwissend, dann wieder stehen ihm nur einzelne Figuren offen, ist er auf Vermutungen angewiesen und geht vom Anschein aus oder gibt sich als Rechercheur, der einer Beweispflicht unterliegt — ist vielmehr zeittypisch für die Unsicherheit des Erzählens, insbesondere für die Unsicherheit im Umgang mit der Erzählperspektive.

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jedoch für die weitere Entwicklung der Erzählliteratur ohne Folgen geblieben. Büchner hingegen kommt, seit er um die Jahrhundertwende produktiv rezipiert wird, eine Mittlerstellung zwischen den Innovationen der Sturm und Drang-Zeit und der Moderne zu, und zwar indem er jene weiterführt: Er setzt die unmittelbare Subjektivität als Erzählen in der 3. Person ein, ohne jedoch sein Erzählen insgesamt auf diesen Modus festzulegen. Gerade jene Textpartien, in denen die innere Spannung der Figur und die Spannungsbögen des Ganzen ihre Höhepunkte haben, sind häufig aus dem Innern der Figur heraus erzählt, während die handlungsschildernden Partien, insbesondere die dem Oberlintext nahestehenden, meist überschauend oder neutral berichtend angelegt sind. Der absatzarme Erzählfluß, eine Interpunktion, die sehr häufig auf die Redekennzeichnung, besonders die Lenzsche, verzichtet — beides Textmerkmale, die erst in Gerschs Edition voll zur Geltung kommen —, die elliptischen Sätze, die Wort- und Wortkomplexwiederholungen erzeugen einen Wahrnehmungs-, Erlebens- und Empfindungsstrom, in dem Züge der modernen Bewußtseinsstromdarstellung vorgezeichnet sind. Wenn da abrupt »falsches Bewußtsein«, »verkehrte Wahrnehmung« hineinbricht - wie in den Sätzen, an denen die Modernität des Textes gerne festgemacht wird: »[...] war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte« (S. 5) und »er amüsierte sich, die Häuser auf die Dächer zu stellen« (S. 27) —, ist das nur die besonders auffällige Erscheinung eines Darstellungsverfahrens, das Bewußtseinsvorgänge erschließt, die bis dahin der künstlerischen Darstellung unzugänglich waren. Büchners Singularität und sein Wegbereitertum für die Moderne beruhen nicht auf Traditionslosigkeit und nicht auf mangelnder Beziehung zum Zeitgenössischen. Gerade indem er aufnimmt, anknüpft und verarbeitet, fällt ihm — so erscheint es aus dem literaturgeschichtlichen Rückblick — eine Vermittlerfunktion zu. Sturm und Drang-Erbe, gebrochen durch die Erfahrungen einer nachrevolutionären Epoche und problematisiert bis zum unversöhnlich Widersprüchlichen und Aussichtslosen; zeitgenössisches Lebensgefühl, Erbe aus der Sphäre von Biedermeier und Vormärz, radikalisiert und mit schonungslosem Zugriff auf die bittere Wahrheit, verschmelzen in einer literarischen Produktion, so schwergewichtig und kantig und spröde, daß sie den folgenden Jahrzehnten bürgerlicher Selbstsicherheit, Jahrzehnten, die literarisch im Zeichen eines eingeschränkten Realismus stehen, wie ein Stein im Magen liegt und erst unter gründlich veränderten Bedingungen bewundert und genutzt werden kann. Und da ist sie Sprengstoff und Ärgernis und Hoffnung bis zum heutigen Tag.

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Das Lächeln der Sphinx Das Phantom des Überbaus und die Aussparung der Basis: Leerstellen in Büchners Leonce und Lena Von Hans H. Hiebel (Graz)

»Und er stieß alsbald auf den Schatten, den man ihm gemeldet hatte; es war schwer, von ihm auf die Gestalt zu schließen, die ihn vorausschickte [.. ,].«1

Ist Leonce und Lena ein melancholisches romantisches Lustspiel oder eine politische Satire? Beides wohl, oder besser: keines von beidem, da die Ästhetik der Büchnerschen Komödie die gestellte Alternative transzendiert. Die Ambivalenz des Gehalts dieses Lustspiels führte, literarhistorisch gesehen, sozusagen ganz folgerichtig hinein in eine gewissermaßen >zweigleisige< Rezeptionsgeschichte2; in ihr schlägt sich die faktische Zwiespältigkeit des Stückes nieder. Als ein Beispiel möge uns hier die verschiedenartige Auslegung eines und desselben Interpreten dienen.

1 Ingeborg Bachmann: Das Lächeln der Sphinx. — In: Ingeborg Bachmann: Werke. Hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster. — München / Zürich 1982, S. 19-23, Zit. S. 19. 2 Zwei Rezeptionsstränge — ausgehend vom Heiter-Spielerischen einerseits, vom Satirischen andererseits — lassen sich ausmachen: A) Friedrich Gundolf: Romantiker. - Berlin 1930, S. 390 ff.; Gustav Beckers: Georg Büchners »Leonce und Lena«. Ein Lustspiel der Langeweile. — Heidelberg 1961; Jürgen Schröder: Georg Büchners >Leonce und LenaMonolog< andeutet: >Daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei. — Sie machen eine Welt für sich aus — sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll — eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der DingeLeonce und Lena< (s. Anm. 2), S. 46. 4 In Urteilen wie dem folgenden: »Büchners komische Ästhetisierung der politischen Welt ist ein aggressiv-polemischer Vorgang, der durch alle Verschleierungen hindurch die wahren Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse aufdecken will. [...] Dem komischen Urkontrast von Sein und Schein liegt bei Büchner immer der verheimlichte, kaschierte Gegensatz und Widerspruch zwischen Macht und Ohnmacht, Herr und Knecht, Freiheit und Unfreiheit zugrunde.« Jürgen Schröder: Nachwort (s. Anm. 2), S. 103. 5 Zitate aus Büchners Werken werden im fortlaufenden Text durch Angabe der Sigle »LL« (für die Kritische Studienausgabe von Leonce und Lena] bzw. durch Angabe des jeweiligen Bandes der Hamburger Ausgabe in römischen Ziffern kenntlich gemacht. 6 Der Begriff der Elision — im Sinne einer Auslassung eines Phonems bei Aufrechterhaltung seiner semantischen oder grammatikalischen Bedeutung, wird hier metaphorisch gebraucht und von der Linguistik auf die Poetik übertragen.

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ten« 7 einer im Dunkel bleibenden Gestalt. Dennoch verraten leicht übersehbare Indizien — sozusagen >Fehlleistungen< des manifesten Dramentextes - etwas von seinem verborgenen Gehalt: die Bauernszene, das Motto, die Fürstenkritik.8 Henri Poschmann hat auf dieses Problem hingewiesen: »So ruft das breitausgeführte Thema des Müßiggangs als Lebensform der Aristokraten, das, Überdruß und Langeweile erzeugend, die ganze Prinzenwelt durchdringt [...], gerade deshalb, weil es von der ideologiebildenden, genießenden Oberschicht so erfolgreich ins Vergessen gedrängt wird, den Gedanken an die Kehrseite und Bedingung des Müßiggangs hervor, die in Fronarbeit als Lebensform des die Gesellschaft erhaltenden Volkes besteht. Dieses Thema ist in der Theaterprinzenwelt tabu, denn es umschließt das Geheimnis der Grundlagen ihrer Existenz.«9

Im Hessischen Landboten heißt es: »Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag [...]. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag [...].« (II, 34, 36). Das dialektische Verhältnis von Arm und Reich, das die Flugschrift archäologisch aufdeckt, wird in Leonce und Lena gewissermaßen wieder zugedeckt und verschleiert; die Komödie führt uns nur den »langen Sonntag« des Reichen vor und verbirgt den »langen Werktag« des Armen sozusagen im Unbewußten des Textes. Entsprechend geht auch Büchners Begriff der »Comödie« weniger von der Literarhistorie als von der Realgeschichte aus: »Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen.« (II, 422). An anderer Stelle hieß es ähnlich: »Für eine politische Abhandlung habe ich keine Zeit mehr, es wäre auch nicht der Mühe werth, das Ganze ist doch nur eine Comödie. Der König und die Kammern regieren, und das Volk klatscht und bezahlt.« (II, 415) Büchner verwendet demnach »Comödie« im Sinne eines sarkastischen >GescÄ/cfeisFleisch des Bauern< geschnitten ist. Aber der kausale Zusammenhang des reziproken Verhältnisses ist in der Komödie ausgespart, elidiert. Büchners Chiasmen16 im Landboten reflektieren unermüdlich jenes reziproke Macht- und Eigentumsverhältnis von der Form eines >Blase-< oder >Wechselbalgs< bzw. einer >Schaukelauf Lücke< zu Hl geschrieben ist, läßt sich die Szene H l,3 (»Magreth allein«), in der sich bereits H4,4 (»Marie«) ankündigt, gut als intendierter Zwischenschritt denken.

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»Doktor. Hauptmann« (H2,6 u. 7). Mit dieser freilich ist die folgende Szene (H2,8) wiederum nach dem schon bekannten Prinzip verbunden. In H2,7 fragt der Hauptmann Woyzeck zunächst, ob er nicht schon »ein Haar aus ein Bart in seiner Schüssel gefunden« habe, und präzisiert diese Insinuation dann in Hinsicht auf den Bartträger — »Bart eins Sapeur, eins Unteroffizier, eins — eins Tambourmajor« — und in Hinsicht auf den Ort — »[...] muß nun auch nicht in de Suppe, aber wenn er sich eilt und um die Eck geht, so kann er vielleicht noch auf Paar Lippen eins finden [...]«. Soll heißen: Der Hauptmann hat auf seinem Spaziergang in unmittelbarer Nähe Marie und den Tambourmajor beim Küssen beobachtet, und Woyzeck braucht nur um die Ecke zu schauen, um dasselbe zu sehen. In der Tat geht Woyzeck bald darauf »mit breiten Schritten ab, erst langsam, dann immer schneller« und stellt in Szene H2,8 Marie zur Rede: »Hat er da gstande? da? da? Und so bei dir?« Den Platz, der ihm in der vorigen Szene beschrieben wurde, hat er jetzt im Laufschritt erreicht. Damit und mit einem wiederum nicht verknüpften Szenenentwurf endet der 2. Teilentwurf. Hauptfassung: Noch immer also mußte es in der Hauptfassung darum gehen, die »ersten skizzenhaften Entwürfe zu einer fortlaufenden Handlung auszugestalten.«19 Hier und da im Drama verstreute Hinweise erlauben die annähernde Feststellung der wohl von Büchner intendierten Handlungsfolge, die man sich übrigens kaum straff genug vorstellen kann. Anzunehmen ist zunächst, daß sich das Leben von Woyzeck und Marie, die ja in ihrer Kammer nicht über eigenes Licht verfügt (vgl. H2,2 und H4,2), nach den natürlichen Lichtverhältnissen regelt. Verständigen wir uns deshalb, um eine Vorstellung von der Länge der Tage zu erhalten, über die Jahreszeit, in der das Stück spielen soll.20 Auf die Frage, wie lang sie schon zusammen seien, erwidert Marie: »Um Pfingsten zwei Jahr« (Hl, 15), und aus Szene H l,20 läßt sich schließen, daß die Kinder im Teich schon »baden«, daß die sommerliche Jahreszeit, in der sie »nach Muscheln« tauchen, aber jedenfalls noch nicht begonnen hat. Die Vermutung, das Stück spiele Ende April oder Anfang Mai21 und die Sonne gehe zwischen sieben und acht Uhr unter und zwischen vier und fünf Uhr auf, scheint demnach wohl begründet. Über Woyzecks Tagesablauf wissen wir, daß er Marie abends und wohl auch morgens (vgl. 19 Bergemann 1958, S. 484; Bergemann 1968, S. 511. 20 Vgl. Patterson (s. oben Anm. 7), S. 115 ff. 21 Patterson, S. 118. Hierfür spricht auch der Hinweis auf den »Nachttau« (Hl,15), der im Hochsommer bekanntlich e'rst später fällt. Nicht verwertbar sind dagegen die in der Testamentsszene (H4,17) z. T. an den Rand geschriebenen unklaren Hinweise auf »heut« und Woyzecks Alter.

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H4,2 und die Ankündigung in H4,4: »Heut abend, Marie«) besucht. Zu seinen Dienstaufgaben gehören die Übernachtung in der Kaserne und der Aufenthalt in der Wachtstube, zu seinen weiteren Aufgaben der — doch wohl morgendliche — Besuch beim Hauptmann, den er rasiert, und — jedenfalls noch im 2. Teilentwurf — ein morgendlicher und abendlicher Termin bei dem Doktor (vgl. H2,6: »Ich muß ihm morgens u. Abends den Puls fühlen.«). Einen ersten Hinweis auf den Zusammenhang der Tage gibt Marie in H4,16 mit den Worten »der Franz ist nit gekomm, gestern nit, heut nit [. ..]«22. Aus Maries Bemerkung »Das brüht sich in der Sonne!« (H4,16) ergibt sich, daß diese Szene noch vor Sonnenuntergang — wohl am späten Nachmittag — spielt. Offenbar ist Woyzeck im Laufe des Tages — also zumindest zu seinem üblichen Morgenbesuch — nicht erschienen. »Gestern nit«: das kann entweder heißen, daß die letzte normale Begegnung (im Stück H4,4) zwei Tage oder daß sie mindestens einen Tag zurückliegt, daß Marie also nur ausdrückt, daß Woyzeck am vorigen Abend ausgeblieben sei, wobei sie sein Erscheinen am Morgen zuvor nicht mitrechnet. In diesem Falle — und ich wähle hier probeweise die straffestmögliche Handlungsfolge — füllt die Dramenhandlung bis H4,16 nicht mehr als 48 Stunden aus, im anderen Falle immerhin auch nur 24 Stunden mehr.23 Da man sich H4,16 und H4,17 (auch hier dürfte es sich, da die Kaserne wohl kaum beleuchtet ist, um eine Tagesszene handeln) gut als simultan und als unmittelbare Vorläufer von Hl,14 denken kann, läßt sich die gesamte Handlung, wenn man einen straffen Ablauf voraussetzt, folgendermaßen gliedern: H4,l bis H4,3: Abend des ersten Tages; H4,4 (Morgen) bis H4,13 (Nacht): zweiter Tag; H4,14 bis Schluß: dritter Tag.24 Gehen wir dies im einzelnen durch! Gegen die These, die Szene H4,4 spiele am Morgen nach dem Jahrmarktsbesuch, spricht eigentlich nur, daß H4,3 nicht ausgeführt ist, so daß die ersten Verführungsschritte aus den Teilentwürfen zu rekonstruieren sind. Aus ihnen ergibt sich als Minimum, daß Unteroffizier und Tambourmajor Marie abends noch folgen (H2,5: »Fort hinter drein«), als Maximum dagegen, daß der Verführer den subalternen Woyzeck gezwungen hat, sich davonzumachen 22 Vgl. Bergemann 1968, S. 659. 23 So Patterson (s. oben Anm. 7, S. 119), der Maries Zeitangabe extensiv auslegt, freilich mit dem unbefriedigenden Resultat, daß er für die Wirtshausszene H4,14 einen ganzen Tag ansetzen muß. 24 Bergemann 1968, S. 649, legt folgende Tageseinteilung fest: 1. Tag H4,l-3; 2. Tag H4,4 bis zur Eifersuchtsszene (H4,7; hier hinter die Szene »Straße. Hauptmann. Doktor« verschoben); 3. Tag »Wachtstube« (H4,10) bis Nacht; 4. Tag: »Hof des Doktors« (H3,l) und »Kasernenhof« (Hl,8) bis »Marie« (H4,16); 5. Tag Testamentsszene (H4,17) und Mordkomplex.

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(Hl,3: »Der andre hat ihm befohlen, und er hat gehn müsse [...].«). In beiden Fällen hätte sich Gelegenheit ergeben, Marie als Werbungsgeschenk das Paar Ohrringe zuzustecken, das sie am kommenden Morgen (H4,4) ausprobiert. Dieser Festlegung der Szene auf einen Morgen25 entspricht, daß sich Woyzeck am Ende auf »Heut abend« verabschiedet und sich dann auf den Rundgang seiner Arbeit macht. Dieser führt ihn zunächst zum Hauptmann, den er rasiert, dann zum Doktor, dem er seinen Urin abliefern muß. Alfons Glück26 vermutet, Woyzeck müsse seinen Urin in to to abliefern und trage deshalb »vielleicht eine Feldflasche am Gürtel [...]«. Dagegen spricht, daß Woyzeck dann nicht an eine Wand hätte urinieren müssen. Nehmen wir also als wahrscheinlicher an, daß Woyzeck feste Termine beim Doktor hat, darunter sicherlich einen Morgentermin, bei dem der Arzt eine Urinprobe, vielleicht auch den gesamten Morgenurin erhält. Dies erklärt die Enttäuschung des Arztes, daß diese Probe jetzt, nachdem Woyzeck »an die Wand gepißt« hat, ausfallen muß27, sowie seinen Versuch, dennoch Urin von der Versuchsperson zu erhalten (»geh' er einmal hinein u. probier er's«). Fügen wir noch hinzu, daß die Frage »Hat er schon seine Erbsen gegessen, Woyzeck?« (H4,8), wenn sie sich an jemanden richtet, der nichts als Erbsen essen darf, vor allem am Morgen oder Vormittag sinnvoll ist und daß — im zweiten Teilentwurf — in der auf die Doktorszene folgenden Straßenszene (H2,7) der Doktor dem Hauptmann einen »guten Morgen« wünscht, so daß die vorangegangene Szene wohl auch am Morgen spielt. Es ergibt sich also als recht sichere Vermutung: Woyzeck hat einen Morgentermin bei dem Doktor, dem er — abgesehen von der in H2,6 angekündigten Kontrolle des Pulses - seinen Urin abzuliefern hat. Kein Wunder also, daß er sich hetzt, wenn er zuvor noch den Hauptmann rasiert. Zwischen der Rasierszene (H4,5) und der Doktorszene (H4,8) geschieht nun etwas, was die tägliche Hetze unterbricht und was zugleich erklärt, warum Woyzeck »auf die Straß gepißt« hat, statt vertragsgemäß beim Doktor zu urinieren. Während Woyzeck den Haupt25 Daß Marie in dieser Szene das Kind zur Ruhe zu bringen sucht, ist kein Gegenargument. Wie sich aus der Zeitangabe in H l, 15 ergibt, ist das Kind höchstens 15 Monate alt. Daß Kinder in diesem Alter gegen sechs Uhr zur ersten Nahrungsaufnahme aufwachen, ist ebenso gewöhnlich wie ein folgender Versuch der Mutter, sie noch einmal zum Schlafen zu bringen. — Der am Ende von Maries erster Replik gestrichene Ansatz »Zu Mittag« ist ein zusätzliches Indiz dafür, daß der Autor sich beim Schreiben die Mittagszeit als noch bevorstehend dachte. 26 Der Menschenversuch: Die Rolle der Wissenschaft in Georg Büchners Woyzeck. — In: GBJb 5/1985, S. 144. 27 Falls die morgendliche Urinprobe fest zum Versuchsprogramm gehört, kann der Doktor die entstandene Schwierigkeit nicht einfach dadurch lösen, daß er Woyzeck auf einen späteren Termin bestellt.

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mann rasiert, hat der Tambourmajor sich mit Marie getroffen (H4,6), und Woyzeck hat zumindest so viel bemerkt, daß er sagen kann »Ich hab ihn gesehn«, und um nach der in H4,4 gezeigten Gleichmütigkeit nun doch eifersüchtig zu werden (H4,7), Weitere mögliche Andeutungen von seiten des Hauptmanns, die Büchner wahrscheinlich aus H2,7 in den nach H4,9 freigebliebenen Platz zu übernehmen plante, hätten die Eifersucht später noch verstärken können. In H4,10 erfahren wir, es sei »Sonntagsonnwetter«, es gebe »Musik vor der Stadt« und die »Weibsbilder« seien zum Tanzen gegangen. Die Szene spielt demnach an einem Feiertag28, vielleicht am frühen Nachmittag, und bildet mit den folgenden Szenen einen festen Zusammenhang. Woyzeck verläßt seinen Dienst, um sich Gewißheit zu verschaffen, beobachtet Marie und den Tambourmajor beim Tanzen (H4,ll), hat auf dem Rückweg in monologischer Situation Mordphantasien (H4,12), die in der folgenden Szene (H4,13) als nächtliche Alpträume wiederkehren. Sehr wahrscheinlich also, daß die Szenen H4,4 bis H4,13 die Ereignisse eines Tages darstellen sollen. Nichts spricht auch dagegen, für die Szenen H4,14 bis H4,17 einen halben Tag anzusetzen, der etwa mittags im Wirtshaus beginnt. Nachdem der Tambourmajor Woyzeck zusammengeschlagen hat (H4,14), kauft Woyzeck das Messer (H4,15), von dem er bereits geträumt hat (H4,13), und gibt seine Sachen weg (H4,17), während gleichzeitig Marie in der Bibel nach Trost sucht (H4,16). Daraufhin begibt sich Woyzeck zu Marie, um sie für den letzten Spaziergang abzuholen (H1.14). So ergibt sich — wie mir scheint: zwanglos — eine auf nicht viel mehr als 48 Stunden zusammengezogene Handlung. Vor allem philologische Argumente sprechen unbedingt für diese Deutung: sie respektiert ausnahmslos Büchners handschriftliche Entwürfe, sie macht Szenenumstellungen unnötig, und sie vermeidet — mit der selbstverständlichen Ausnahme derjenigen Stellen, wo Lücken dies nahelegen oder aufnötigen — Auffüllungen der Hauptfassung H4 durch Elemente aus den Teilentwürfen. Was spricht gegen die vorgeschlagene Interpretation? Einerseits — wie noch zu zeigen sein wird — das Paradigma der offenen Form; anderer-

28 Zu denken ist etwa an die örtlich gebundenen »Meß«-Festtage. Zu dieser Gelegenheit hat man offenbar den in der Stadt zuvor jedenfalls unbekannten Tambourmajor eingesetzt. In H2,2 lädt Woyzeck Marie »Heut abend auf die Meß« ein; die in H4,ll dargestellte Tanzszene findet offenbar am Nachmittag statt, was für einen normalen Werktag wohl ungewöhnlich wäre. — Andererseits läßt sich aus der Replik des Tambourmajors »Wenn ich am Sonntag erst den großen Federbusch hab' u. die weiße Handschuh [...]« (H4,6) schließen, daß der Sonntag erst noch bevorsteht.

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seits freilich auch eine Reihe von Überlegungen zu einzelnen Szenen, vor allem zur Kinderszene Hl,18, zur Eifersuchtsszene H4,7 und zu H3,l und H3,2. Diese Überlegungen sind zunächst zu referieren und zu beurteilen. Kinderszene Hl ,18: Bekanntlich hat Karl Emil Franzos, der erste Herausgeber, den Schluß der Woyzec&-Handlung dadurch verändert, daß er die Mordszene an einen Teich verlegte, in dem die Titelfigur am Ende ertrinkt. Damit wurde einerseits die Handlung geschlossen, andererseits aber der szenische Ablauf der Schlußsequenz geöffnet. In Hl läuft Woyzeck zweimal von Maries Leiche davon, weil Leute kommen; Franzos läßt ihn nach dem Mord ohne diese besondere Motivation >davonstürzenMarie. Woyzeckwie ein SchornsteinGeorg Büchner — 1988GespürDialekt< und Hochsprache ergeben würden (z. B. WA 3,16 f.: »ei großes breit Messer«), tilgte Lehmann die vollständige Endung »als Schreibversehen des Dichters« und qualifizierte das umgekehrte Verfahren Fritz Bergemanns, der hier durchaus vertretbar, jedenfalls alles andere als grundlos, die fehlenden Endungen ergänzt hatte, als eine >Stilisierungkei/ vielleicht keine; übernander/ vielleicht kontrahiert übereinander usw.) in den sog. »Lesarten«69 seiner Edition den zunächst — oder auch erst anschließend — formulierten Generalvorbehalt erheblich stärker ins Bewußtsein als Lehmann; doch die Entscheidungen im konstituierten Text selbst gleichen nicht nur in vieler Hinsicht den mundartlichen Präferenzen der >Hamburger AusgabeGehör< und eine demgemäß gelegentlich bis an die Grenze des Phonetischen gehende Schreibweise. Um nur einige Beispiele, und aus methodischen Gründen nur solche außerhalb des Woyzeck-Textes zu nennen: Als Schüler in regelrechter Dialekttranskription geübt80, verwendet Büchner sogar in

79 Ebd., S. 217. 80 Vermutlich im Wintersemester 1825/26 übertrug Büchner im Deutschunterricht bei Karl Baur Schillers »Kriegslied« Graf Eberhard der Greiner von Würtemberg ganz in hessischen (nicht, wie F, S. XXIII f. und SW, S. 767 angegeben, schwäbischen) Dialekt; die drei ersten Strophen lauten in Gegenüberstellung mit einem zeitgenössischen Druck:

Schiller: »Graf Eberhard der Greiner von Würtemberg. Kriegslied. Ihr - Ihr dort außen in der Welt Die Nasen eingespannt!

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Büchners Übertragung: Grof Ewerhod der Graner von Wertemberg Ehr — Ehr dort aßen in der Welt Die Nose angeschpant!

seinem Drama über die Französische Revolution nicht nur zwei Volkslieder in dezidiert südhessischem Dialekt81, sondern er nähert sich auch in einigen anderen Passagen der lautlichen Schreibung mundartlich-umgangssprachlicher Wendungen (z. B. Replik 5: »lieb Georg«82; 58: »unsere Suppen mit schmelzen«83; 311: »Wie kommt mir grad das in Kopf?«84; 597: »Halt euren Platz vor, um ein Mädel fährt man nit herum, immer in die Mitt' nein«85; 655: »[...] dacht' ich. Das war

Auch manchen Mann, auch manchen Ag manche Mann, ag manche Held, Held, Im Fride gut, un stork im Feld Im Frieden gut, und stark im Feld Gebor es Schwobeland. Gebar das Schwabenland. Prahlt nur mit Karl und Eduard, Mit Friedrich, Ludewig! Karl, Friedrich, Ludwig, Eduard Ist uns der Graf der Eberhard, Ein Wettersturm im Krieg.

81 82 83

84

85

Prolt nor mit Kai u Edewad Mit Fridrich, Ludwig! Kai, Fridrich, Ludwig, Edewad Es uns der Grof der Ewerhad E Werrerstorm im Krieg.

Und auch sein Bub', der Ulerich, Un ach sei Bub der Ullerich War gern, wo 's eisern klang; Wor gern, wo's asern klong Des Grafen Bub', der Ulerich, Des Grofe Bub der Ullerich, Kein Fußbreit rückwärts zog er sich, Ka Fußbrat ruckwerts zog er sich, Wenns drauf und drunter sprang.« Wanns druf un drunner sprung.« (Friedrichs von Schiller sämmtliche Werke. (Büchner-Nachlaß, Goethe- und Schillerßd. 1. - Stuttgart u. Tübingen 1822, Archiv Weimar; Nr. 17, p. 25) S. 121) Dabei ist im vorliegenden Zusammenhang sekundär, ob es sich um eine »selbständige Leistung« Büchners handelte oder ob diese Dialektversion, wie Bergemann annahm, »von dem Subkonrektor Baur [...] diktiert« wurde (SW, S. 767); zahlreiche Sofort- und Spätkorrekturen der Handschrift lassen erkennen, daß jedenfalls die entscheidende Umsetzung in das gewöhnliche Alphabet zur Aufgabe des 12jährigen Schülers gehörte, die er — passagenweise unterschiedlich — mit mehr oder weniger Erfolg bewältigte. DT, Repl. 66: »Die da liegen in der Erden, / Von de Wurm gefresse werden. [...]«; Repl. 658 u. 660: »Und wann ich harne geh / Scheint der Mond so scheeh / [ . . . ] Kerl wo bleibst so lang bey de Menscher?« Vgl. auch Repl. 265. In den beiden Drucken von 1835 zu »lieber Georg« geändert. in der Buchausgabe von 1835 zu »Suppen damit« ergänzt, von Büchner im Widmungsexemplar für Stöber wieder rückgängig gemacht (vgl. Georg Büchner: Dantons Tod. Faksimile der Erstausgabe von 1835 mit Büchners Korrekturen (Darmstädter Exemplar). Mit einem Nachwort hrsg. von Erich Zimmermann. — Darmstadt 1981, S. 23, orig. Pag. 17). Die Streichung des e ist in der Handschrift (p. 74) nicht mit letzter Sicherheit zu erkennen, 1835 aber anscheinend vom Setzer so verstanden worden, der andererseits den hier ebenfalls charakteristischen Ausfall des Artikels beseitigte: »Wie kommt mir grade das on den Kopf?« (GW, Bd. IV, S. 72); daß der Ausfall des Artikels auch poetisch durchaus möglich ist, zeigt Faust I, V. 2428: »setz' dich in Sessel!«. Der Apostroph steht H, p. 148, genau in der Mitte zwischen den beiden Wörtern, so daß nicht unterscheidbar ist, ob er den Ausfall des Endbuchstaben oder der Vorsilbe signalisiert; im Grunde ist beides gemeint. Vgl. zu dieser Stelle auch Gß J/J, S. 275.

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so ne Ahnung.« 86 ). Vor allem läßt die insgesamt sorgfältige DantonDruckvorlage — eine Reinschrift mit verschiedenen Korrektur- und Ergänzungsschichten87 — durchgehend erkennen, wie bedachtsam Büchner elidierte und nichtelidierte, apostrophierte und ausgeschriebene Formen, starke und schwache Flexionen jeweils unterschiedlichen Sprechern und Situationen zuweist (Volk, Dantonisten und >privaten< Situationen in der Regel die kürzeren, eher umgangssprachlichen; Jakobinern, öffentlicher und emphatischer Rede überwiegend die nichtelidierten und hochsprachlichen Wendungen). Auch die Tatsache, daß und wie häufig er gerade in dieser Hinsicht noch in beiden Richtungen sofort oder bei erneuter Durchsicht korrigierte88 (gelegentlich sogar hin und her89), bezeugt Büchners abwägende Sorgfalt und Bestimmtheit in solchen Fragen. Dies berechtigt zur grundsätzlichen Annahme, daß auch in den Woy££c&-Handschriften, die in noch ungleich höherem Maße tatsächlich eindeutig mundartlich-umgangssprachliche Züge aufweisen, alle in dieser Richtung irgend möglichen Schreibformen auch lautlich so intendiert, d. h. vom Autor >gehört< sein können. Das allerdings würde den Herausgeber zur weitestgehenden Respektierung derartiger Befunde verpflichten, und es rechtfertigt im Prinzip auch emendierte >Lese- und BühnentexteMünchner Ausgabe< gehen mit Zurückhaltung in diesen Punkten sogar noch weiter als der emendierte Text in der >Hamburger Ausgabe< von Werner R. Lehmann und als der (halb-)diplomatische Text von Egon Krause, die ja beide etwa gleichzeitig90 und als erste das ganze Ausmaß der (möglicherweise) mundartlichen Formen erkannt und als Problem der Textherstellung reflektiert haben. Auf der anderen Seite gibt es — in merkwürdigem Kontrast dazu und wiederum von der Schulzeit bis zum Woyzeck — ebenso viele Belege für Büchners extrem nachlässige Notierungen bzw. auch für rein schreib-

86 In den beiden Drucken von 1835 zu »eine Ahnung« ergänzt. 87 Darunter, offenkundig für den Setzer gedacht, häufige Nachziehungen oder Neuschreibungen undeutlicher Buchstaben. 88 Dies weit mehr, als in der vorliegenden Studienausgabe verzeichnet ist; vgl. immerhin DT, Repl. 17, 178, 220 f., 331, 468, 505, 515, 541, 543, 553, 561, 570, 612, 622 f. 89 So etwa, aus der Studienausgabe nicht erkennbar, H, p. 59, 150 u. 159 (in Repl. 221, 601 u. 637). 90 Krauses editorische Arbeiten waren schon vor Erscheinen von Lehmanns Ausgabe abgeschlossen (Woyzeck, s. oben Anm. 11, S. 22).

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ökonomisch bedingte Verkürzungen. Mit der von Eske Bockelmann jetzt in Marburg fertiggestellten Ersttranskription aller überlieferten Schülerskripten (neben griechischen und lateinischen Übersetzungen immerhin rund 500 Seiten in deutscher Sprache) hat sich die Vergleichsbasis zweifelsfrei nicht mundartlich intendierter Texte erheblich vergrößert. Die graphischen Befunde vor allem aus den letzten Schuljahren - und in Texten, die als eilige Mit- oder konzipierende Niederschriften sicher nicht für die Augen der Lehrer gedacht waren - gleichen in vieler Hinsicht den von Schmid im Woyzeck beschriebenen und dort in weiten Teilen strittigen Phänomenen. Für die im hochsprachlichen Textzusammenhang der Schülerskripten eindeutig geforderten Endungen -e, -r, -n, -er, -en, -em, -(e)re, -(e)ren, -(e)rem, -(e)ne, (e)r(e)n, -ner, -(e)nen, -nem usw. finden sich mit sämtlichen graphischen Zwischenstufen insbesondere die folgenden Abkürzungs- bzw. Kontraktionsformen: 1. vollständiger Ausfall (seltener); 2. abgesetztes Zeichen wie Punkt oder Komma, jedoch nicht — wie häufig nur bei u.[nd\ sowie beim bestimmten Artikel (d.[er] usw.) - als regulärer Abkürzungspunkt intendiert (seltener); 3. weniger als einstrichig auf- oder abwärts, vor allem an b, i, g, p und ^angehängter Ansatz eines Auf- oder Abstrichs (seltener); 4. einstrichig (Auf- und Abstrich), wie f ohne Punkt, a) genau in Schreibrichtung der Umgebung geneigt (seltener), b) im Auslauf etwas nach rechts gezogen (gelegentlich); 5. eineinhalbstrichig, wie sonst flüchtiges r oder e (Otter); 6. zweistrichig enger, wie e, a) in Schreibrichtung der Umgebung geneigt (gelegentlich), b) im Auslauf etwas nach rechts gezogen (öfter); 7. zweistrichig weiter, wie w, a) in Schreibrichtung der Umgebung geneigt (gelegentlich), b) im Auslauf etwas nach rechts gezogen (öfter); 8. zweieinhalbstrichig, d. h. wie Typ 4 a und 5 verbunden (gelegentlich); 9. dreistrichig, wie m (selten); 10. annähernd waagerechte, flache oder stärker gerundete Verschleifung, oft am Ende mit Bogen nach links hoch gezogen (häufig).

Analoge Formen 1-9 kommen auch im Wortinneren vor, wo sich außerdem besonders häufig Vokalausfälle finden, und zwar sowohl im Sinne flüchtiger Aneinanderschleifungen zweier Konsonanten wie etwa bei Vorsilben (z. B. »bsteht«, »Gstalten«) als auch im Sinne regelrechter Abkürzungen in sorgfältiger Schrift (so z. B. schon 1825: »Hpt u. Rsdnzstdt«91), wiederum jeweils mit den verschiedensten Zwischenstufen. 9l Vgl. auch weitere, ähnliche Kürzungen im Text über die Geographie Italiens in LL, S. 343-348 (mit Faksimile, S. 346 f.).

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All diese mithin früh ausgebildeten und festgelegten Schreibgewohnheiten finden sich auch später, je nach Textsorte mehr oder weniger häufig auftretend und nur insofern modifiziert, als die etwas pompösaufwendige Verschleifung des Typs 10 generell zugunsten der übrigen Kürzel zurücktritt, jedenfalls kaum noch mit dem hochgezogenen Bogen vorkommt. Etwa um die Entstehungszeit der Woyzeck-Handschriiten sind zwar die philosophischen Skripten92 und das Vortragsmanuskript der Probevorlesung^3 über weite Strecken relativ sorgfältig ausgeschrieben; gerade dasjenige Manuskript aber, das als eine erste (?) skizzenhafte Dialogniederschrift zumindest den Wbyzec&-Handschriften Hl und H2 am ehesten vergleichbar ist, der Entwurf zur Szene 111,1 des Lustspiels Leonce und Lena, der zudem auf derselben Papiersorte wie die Woyzec£-Quarthandschrift H4 geschrieben ist94, weist besonders viele Kürzel und Verschleifungen auf. Dieses insgesamt 193 Wörter umfassende Genfer Bruchstück H2,3 ist zweifelsfrei als nichtmundartlicher Text konzipiert, was sich nicht nur >intern< und aus den beiden späteren Drucken, sondern vor allem aus dem sorgfältigst geschriebenen Lustspiel-Bruchstück Hl95 erschließen läßt. Es liegt auch in mehreren leicht zugänglichen Abbildungen96 sowie einer diplomatischen Transkription97 vor und soll deshalb etwas näher betrachtet werden. Folgende Kontraktionen und Endungskürzel kommen vor (Worte in der Reihenfolge der Textniederschrift, fehlende oder defizient ausgedrückte Buchstaben kursiv, in Klammern der Hinweis auf Buchstabenausfall bzw. gelegentlich auch -verschleifung im Wortinneren = i, auf den Typus der Endungsform nach der oben gegebenen Einteilung, dabei Zwischenformen nacheinander mit Bindestrich, sowie der Hinweis auf mögliche = d bzw. wahrscheinliche = D Verwechslung mit dialektalen und umgangssprachlichen Endungen; nicht verzeichnet sind reguläre Abkürzungen mit Punkt sowie die Verschleif ungen »dß« und »sy« für »daß« und »sey«):

92 Vgl. die Abbildungen verschiedener Manuskriptseiten in: Katalog Marburg, S. 208; Katalog Darmstadt, S. 278 f.; Marburger Denkschrift, S. 162 u. 166 (vor allem auf der letzteren Seite mehrere der genannten Kürzel); Katalog Düsseldorf, S. 57; LL, S. 101. 93 Vgl. Abbildungen in: Marburger Denkschrift, S. 150, 152 u. 154. 94 Vgl. dazu LL, S. 94 f. 95 Vgl. die Transkription in LL, S. 18 ff.; das Bruchstück einer Reinschrift des Stückanfangs enthält im >Grundtext< keinerlei mundartliche Endungsformen, wohl aber — als reine Schriftphänomene — der flüchtige Randeinschub (vgl. ebd., S. 24 u. 98). 96 Die beste als (Farbfaksimile-)Beilage zum Katalog Georg Büchner (Darmstadt), zu S. 300, Nr. 741. - Basel, Frankfurt a. M. 1987. 12 ungez. S.; hier S. [11]; vgl. auch Katalog Düsseldorf, S. 55; LL, S. 71. 97 LL, S. 69 f., erster Apparat.

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Heirathe« (7a; d), heißt (i), Leben (7b-5; D), Liebe (3), sei« (1; d), lassen (10; d), die (3), Liebe (3), Lebe« (4b-5; d), Leben (6b-7b; D), Weißt (i), der (5-7b), Geringste (i; 10), groß (i), menschliche (i; 3—4a), Leben (3—5; D), kurz (i), liebe« (7b-6b; d), könne« (1; D) nur (l; d), denke (3), Wei« (1; D), la«ge (i), kei« (1; D), Me«sch (i), sei« (1; D), ga«zes (i), Lebe« (3; D), liebe« (3; D); Aber (3), weiß (i), sie (1), wie (1), sie (1), weiß (i), nur (1), sie (1), mich (i), wisse« (3; D), wie (1), sie (1), Leuten (7b; d), Vergnügen (i; 10), gönne« (1; d), mei«e« (i; 1; d), heilig (i), schöner (1), heih'ger (i; 1), machte« (i; verschrieben; 5), müßte (5; d); liegt (i), gewisser (i; 3; d), Me/«wng (i), ihne« (1; d), Sie (1), Blume (1; d), kaum (5), eiwe (1; D), geschloss«e (i; 7b—10; D), + -f-sochen (unleserlich), Morgenthau (i), Nachtewdes (i; unsichere Lesung), meinetwege (i; 4a; D), Wie (1), geh« (5; d), Pri«z (i), Minister (i), Ihrem (5—7b), Unaussprechliche« (i; l mit Komma oder 4a ohne Komma; d), Namlose« (3—4a; d), werden (i), möglich (i), wird (i), finde« (10; d), Mei« (1; D), Komme« (1; D).

76 Wörter also, d. h. weit mehr als ein Drittel aller Wörter des gesamten Textes, sind graphisch in irgendeiner Weise defizient notiert. In 15 Fällen wäre die Interpretation des Befundes als Dialektal- bzw. umgangssprachliche Endung grundsätzlich möglich, in weiteren 15 Fällen sogar naheliegend. Die bemerkenswerte Konsequenz ist, daß sich zumindest der ganze Textanfang, wenn man ähnliche Kontexte der Figurenrede wie im Woyzeck vorfände oder annähme, ohne weiteres in mundartlichumgangssprachlicher Tönung lesen ließe: > V a l e r i o . Heirathe?

P r i n z . Das heißt Lebe und Liebe eins sei lasse, daß die Liebe das Lebe ist und das Lebe die Liebe. Weißt du auch Valerio, daß auch der Geringste so groß ist, daß das menschliche Lebe viel zu kurz ist um ihn liebe zu könn? V a l e r i o . Ja, nu ich denke, daß d[e] Wei noch lange kei Mensch ist und daß man ihn doch sei ganzes Lebe liebe kann.
intern< nicht ganz so reibungslos >paßt< oder >funktioniert^ wie das über weite Dialogpassagen des Woyzeck-Textes in den vorliegenden emendierten Versionen der Fall ist; und dies ist sicher auch ein weiterer indirekter Beleg dafür, daß im Woyzeck tatsächlich häufiger mundartlich-umgangssprachliche Rede intendiert ist. Weil jedoch andererseits schon diese kurze Lustspiel-Dialogskizze so auffällig viele >hessische< Flexionsendungen und so viele markante Wortformen (ei, sei, kei, Wei, [m] ei) enthält, die spätestens seit Lehmanns Edition als charakteristisch für den Sprachstatus der Woyzeck-fragmente gelten, im Leonce und Lena-Entwurf aber nichts anderes als Schreibkürzel sind, ist doch ein hohes Maß an Skepsis jedenfalls gegenüber all jenen >DialektverleitenProbevorlesung< zumal die Wortendungen sorgfältiger ausgeschrieben sind, hat in erster Linie wohl mit der Textsorte und der kommunikativen Absicht zu tun. Soweit diese Manuskripte zum ablesenden Vortrag bestimmt waren", mußte es sich für den (stark kurzsichtigen) Referenten mit Sicherheit empfehlen, etwa möglichen Kasusverwechslungen u. dgl. vorzubeugen. In allen genannten Fällen sind aber auch noch kompliziertere Zusammenhänge zwischen Textinhalt und Schriftform denkbar. Es könnte nämlich sein, und man darf sogar annehmen, daß es eine fließende, nicht näher einzugrenzende Zone gibt, in der die graphische Verschleifung und Kürzung nicht allein schreibökonomisch bedingt ist, sondern — ohne direkt mundartlich intendiert zu sein — doch unteröder vorbewußt einem >innerenGehörstilisiertes< oder künstliches dialektales Lautbild entstehen lassen, als dies in

105 Immerhin steht z. B. in der Handschrift zu HA II, S. 164, Z. 31 (Cartesius) »kei« für »kein«; mehrere stark verkürzte Endungen auf -en etwa auch in den Handschriften zu HA II, S. 260-262 u. 372 f. 106 Der Kodierungsaufwand für die Endungskürzel etwa nach der oben S. 191 gegebenen Einteilung wäre bei Zugrundelegung aller überlieferten Büchner-Handschriften immens; doch vielleicht lassen sich wenigstens innerhalb der Woyzecfc-Handschriften einmal entsprechende Versuche unternehmen (s. dazu noch unten S. 215—217).

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den früheren Editionen in der umgekehrten Richtung eines (partiell) hochsprachlich normierten Textes der Fall war. In welchem Ausmaß und wo jeweils im einzelnen dies zutrifft, wird vielleicht weitgehend strittig bleiben, entzieht sich jedoch keineswegs textphilologisch und sprachwissenschaftlich begründeter Argumentation. Zumindest lassen sich die äußeren Markierungen dessen angeben, was im Woyzeck sicher mundartlich-umgangssprachlich beabsichtigt und was ebenso sicher als bloße graphische Verschleifung zu betrachten ist. Und dazwischen sollen anhand von Beispielen sowie auf einer Art Skala meiner (gegenwärtigen) Beurteilung von Wahrscheinlichkeiten einige Aspekte der künftig notwendigen Überlegungen skizziert werden. Um zunächst mit den rein graphischen Phänomenen zu beginnen, so darf unter den bislang in konstituierten Texten gedruckten Formen ganz sicher »wiß«107 (statt >weißbeyseySticherstickt< der gebückten Haltung Louis'/Woyzecks entsprechend erklären; doch die extrem flüchtige Notierung dieser ganzen Passage111, der unklare Befund schon von St (oder verschrieben S), von / und c ohnehin, die folgenden Befunde wie »Stiech«, mit denen der vorhergehende Ausfall geradezu wieder kompensiert wird112, und nicht zuletzt die eindeutigen Schreibungen »stich, stich« in der Übernahme H4,12 (WA 42,4 ff.) lassen eine solche Annahme als erheblich zu weit gegriffen erscheinen; und man sollte vermuten, daß sich Büchner, falls eine so außergewöhnliche Lautmalerei beabsichtigt war, dies dann auch im Konzept graphisch deutlicher notiert, eine solche Intention also zumindest punktuell den graphisch flüchtigen Duktus unterbrochen hätte.

107 Vgl. Woyzeck (P), S. 57, 60, 63 u. ö. 108 Z. B. Cartesius (HA II, S. 141, Z. 25 u. 27; S. 170, Z. 39, entsprechend Handschrift p. 10 u. 67). 109 Bei Niebergall »waahß« geschrieben. 110 Woyzeck (P), S. 53. 111 Vgl. WA 3,4. 112 Ein Vorgang, dem etwa die Verschreibungen »Nachthhau« und »Morgenhau« (WA 7,2 u. 6) umgekehrt entsprechen würden (vgl. auch Gß ///, S. 286).

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Außerdem gibt es gerade für regulär phonetisch-lautmalerische Formen in den Woyzeck-Handschnften kaum Indizien113; und wo nichthessische Dialektformen oder Akzente nachgeahmt werden (z. B. WA 1,7: »Man mackt Anfang«; 21,21: »beackte«114), ist das auch graphisch klarer ausgedrückt. Von der anderen Seite her sichtend und klassifizierend, ist der Bereich eindeutig (halb)mundartlicher115 und umgangssprachlicher Formen erheblich größer. Nach strengen Wertungskriterien, die mögliche Verwechslungen ausschließen, stehen hier an erster Stelle die bereits von Lehmann116 erwähnten Fälle, in denen Büchner hochsprachliche Formen gezielt korrigierte, so etwa »nicht« durch Streichung bzw. Überschreibung von ch zu »nit« (WA 1,22; 9,15; 45,20) oder »ist« zu »is« (22,12). Ebenso sicher intendiert, weil graphisch eindeutig von Verschleifungs- oder Kürzungsformen abgehoben, sind auch alle anderen Befunde von »is« (rundes Endungs-s), »nix« und — mit nur minimaler Einschränkung — »nit«, ferner die vielen apostrophierten Formen wie »s'ist«, »'ne« oder »n'e«, »n'aus« (5,13), »könnt'wie's< (emendiert), >zumachwenneinem< (Lehmanns und Poschmanns Lesung »eim«159 entspricht nicht dem Befund und ist halbdialektal160 >stilisiertin den Kopfin den Himmel·) bewegen; »ein Tisch« ist jedoch besonders wegen des in derselben Zeile folgenden graphischen Parallelbefundes »ein [...] dunkeln« insgesamt mehr als zweifelhaft (»ein dunkeln Gaß« ist auch mundartlich nicht möglich, und vielleicht sind die beiden zwischen »ein« und »dunkeln« stehenden Buchstaben doch, wie Poschmann es offenbar deutet, als zu weit nach rechts versetzte Endung noch zu »einer« zu lesen). Noch zweifelhafter ist bereits als solche die Form »ei«162, die hier auch noch graphisch extrem defizient ausgedrückt, d. h. mehr erschlossen als wirklich entziffert ist und in der Folge »ei großes« schlechterdings nicht intendiert sein kann — wie auf derselben Seite der Handschrift Hl,16 auch nicht in der Verbindung »jetzt brüllt es [sie!], als war der Himmel ei Rachen«. Dies wird gestützt durch die Tatsache, daß die ganze Passage ein etwas eindeutiger mundartlich-umgangssprachliches Indiz wie »is« gar nicht enthält, sondern dreimal »ist«, und das noch in der unmittelbaren Verbindung »es [nicht etwa apostrophiert in der bei Büchner zu erwartenden Form: »s'«] ist ei großes«.163 Des weiteren ist nicht nur einmal die Form »die Augen« unter >mundartlich phonetischen< Erwartungen »ein wenig irritierend«, wie Lehmann einräumt164, sondern keine drei Zeilen weiter in der Handschrift noch ein zweites mal sogar »zwischen den Augen«. Greifen wir, nur ganz hilfsweise, noch auf das Ende der vorausgehenden Seite der Handschrift und Louis' Satz zurück: »Es ist mir als wälzten sie sich in einem Meer von Blut« (Hl,5; vgl. WA 2,31 f.) — wogegen sich auf dieser Seite und der Seite, auf der Hl,7 geschrieben ist, außer »nix« (3,22 u. 33)165

159 HA I, S. 383, Z. 20; Woyzeck (P), S. 53; »eim« in beiden Ausgaben auch für den folgenden Befund »von ein Messe« (WA 3,28). 160 Vgl. oben Anm. 152 u. 131. 161 S. oben Text u. Anm. 84. 162 S. ebenfalls oben S. 200 ff. u. Anm. 152. 163 Häufiger im Woyzeck sind Belege für »s'ist« (WA 6,9; 7,19; 11,26; 23,18; 28,8; 28,23; 29,4; 40,1) gegenüber »s'is« (12,6, zwei mal); vgl. auch oben Anm. 117. 164 Textkritische Noten, S. 50, mit der weiteren Erläuterung, »die Äugen« lasse »sich aber ohne weiteres phonetisch ins Mundartliche transponieren; bei Niebergall [...] finden sich vergleichbare Fälle.« Dabei bleibt unklar, an welche Belege bei Niebergall gedacht ist, vor allem aber welchen Grund es zu einer solchen phonetischen Transponierung überhaupt geben sollte. 165 Vgl. dazu noch unten Text u. Anm. 184.

209

keine weiteren (sicheren) Indizien für eine Sprechweise der Figur finden, die in mundartlicher Richtung über die beschriebene Grundschicht von (poetisiert) umgangssprachlichen Elisionen hinausginge166 —, dann wird vollends klar, daß es sich bei Lehmanns dialektaler Kürzung um die Folge eines überwiegend textexternen, durch textinterne Trugschlüsse verstärkten Vorurteils und bei der generellen Zurückhaltung der späteren Studienausgaben um eine im doppelten Wortsinn >diplomatische< Unsicherheit handelt. Nicht die Flexion »großes« ist in allen erläuterten Zusammenhängen ein »Einsprengsel«, sondern umgekehrt: die beiden Wortbefunde »ei« und »breit« fallen eindeutig aus dem sprachlichen Kontext und sind daher (wie auch im Rahmen der Häufigkeit solcher Fälle in Büchners Konzeptschrift) als Schreibkürzel zu beurteilen. Die entscheidende Passage darf also, mit größter Wahrscheinlichkeit, allein so als konstituierter Text wiedergegeben werden, wie sie im wesentlichen bereits Bergemann emendiert hatte: >es ist ein großes breites Messer und das liegt auf einem Tisch am Fenster und ist in einer dunkeln Gaß und ein alter Mann sitzt dahinter. Und das Messer ist mir immer zwischen den Augen.Es zieht mir zwischen den [oder: die (f*)]168 Augen wie ein Messer.
reinen< Text«170 gar nicht weit genug gehen konnten. Dieser durch Werner R. Lehmanns Edition und seine Hinweise auf eine »mundartliche Phonetik« in punktuellen Vergleichen mit Niebergalls Datterich ausgelöste171 Forschungskonsens — seit längerem am krassesten von Gerhard P. Knapp vertreten, dem solche Verweise auf Niebergall nur »einen ersten Schritt in die richtige Richtung« bedeuten172 — beruht auf mehreren problematischen Voraussetzungen und verfehlt mit Sicherheit in der Beurteilung des Textstatus die Tatbestände um eine ganze Dimension. Insgesamt treffender erscheint demgegenüber eine ältere Beurteilung, obgleich sie noch auf Bergemanns Text beruhte. August Langen umreißt in seiner großangelegten Deutschen Sprachgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart die wesentlichen Elemente der >stark hervortretendem »Volkssprache« im Woyzeck folgendermaßen: »Das Volkslied [...], die Sprache des Volksmärchens, Sprichwörter, volkstümliche Formeln und Wendungen und die Mundart, die auch dem Revolutionsdrama eine deutliche Färbung gibt. Der Dialekt wird nicht rein geboten, und die Zahl spezifisch hessischer Wörter und Wendungen ist verhältnismäßig gering. Das meiste ist nur leichte, mundartliche und volkstümliche Tönung: verkürzte Formen, Apokope, unflektierte Adjektive u. ä.«173

In der Tat genügt ein beliebiger Blick in eines der beiden Stücke Niebergalls mit ihren durchwegs lautlichen Schreibungen auch aller Konjunktionen und Hilfsverben (z. B. »un« für und, »äwe« für eben, »awwer« für aber, »aach« für auch, »sinn« für sind, »hawwe« oder »howwe« für haben) und damit der Nachahmung der gesamten Dialekt>melodie< in Sätzen wie 170 Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. - Stuttgart 21984 (= Sammlung Metzler M 159), S. 126. 171 Zu Lehmanns eigener Wiederherstellung der Proportionen vgl. allerdings noch unten Text u. Anm. 193. 172 Knapp: Einführung (s. oben Anm. 117), S. 79, Anm. 48. Wo wäre dann das Ziel? Knapps wiederholter Hinweis darauf, daß »schwankende Lesarten« nur mit »genaue[r] Kenntnis« der hessischen Mundart als einer »Grundvoraussetzung« zu beurteilen seien (1984, s. oben Anm. 170, S. 126), ist berechtigt, übersieht jedoch weitere sprachgeschichtliche und nicht zuletzt paläographische »Grundvoraussetzungen«, ohne welche diese »Schritte« mit Sicherheit in die falsche Richtung gehen. 173 In: Deutsche Philologie im Aufriß. Hrsg. von Wolfgang Stammler. Bd. 1. — Berlin 2 1957, Sp. 1305 f. 211

»Jetz nemm ich en Schluck, [...] um mei nadihrliche Muth zu vadoppele, un dann fang ich mei Manch wer oh«174,

um sich den Abstand der Sprache im Woyzeck zur Phonetik der Mundartdichtung im engeren Sinn klarzumachen. Dieser Abstand bleibt ungemindert auch durch die Tatsache, daß eine ganze Reihe von Büchners Schreibungen mit denen Niebergalls übereinstimmen: so die — im Woyzeck allerdings z. T. fragwürdigen — Personalpronomina »mei«, »dei« und »sei«, dazu »is«, »nix«, »haus«175 und gelegentlich bei den oben quantitativ eingeschränkten Verb-Endungen auf -e und unflektierten Adjektiven, sofern sie von Niebergall nicht auch (wie häufig) im Wortinneren phonetisch behandelt sind. Der jeweils unterschiedliche Kontext bestimmt den Klang auch in solchen Fällen graphischer Übereinstimmung, und gerade für eine »mundartliche Phonetik« oder >mundartliche Tönungvolkstümlich< geworden, selbst wenn es dort natürlich zumal in oberdeutschen Überlieferungen stand. Ähnliches gilt — wenngleich z. T. weniger eindeutig — für eine ganze Reihe weiterer von Büchner verwendeter Formen wie z. B. »nix«184, »n'aus«185, »nein« 186 (WA 15,25 für: hinein), »drein«187 (WA 12,32; 37,5; vgl. DT, Repl. 191) und »is«188. Vor allem dürfen die häufigen >normalen< Apokopen, Synkopen und unflektierten Adjektive des Typs »Ich hab[...] Ruh«, »hör's«, »gehn« und »einzig Mädel«, die den Sprachstatus der Woyzec&-Fragmente wirklich bestimmen, nicht umstandslos der »Mundart« oder gar besonders der südhessischen zugerechnet werden; denn es handelt sich zugleich um ebenfalls >volkstümliche< Formen, die ihrerseits unter dem Einfluß von Mundart, Volkslied und -märchen im Drama und in der Prosa des Sturm und Drang wie der Romantik weit verbreitet sind189. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es geht mir mit diesen Bemerkungen, die vorläufig nicht mehr sein können als Hinweise auf im

181 Woyzeck (s. oben Anm. 11), S. 101, mit Verweis auf D Wb [XIII], 690 f. 182 So in dem Büchner bekannten (vgl. HA II, S. 449 f.) Band Alsa-Bilder. Vaterländische Sagen und Geschichten, mit Anmerkungen. Von den Brüdern August und Adolph Stöber. — Straßburg 1836, sowie im Elsässischen Volksbüchlein (s. oben Anm. 149). 183 Wunderhorn (s. oben Anm. 141), z.B. Bd. II, S. 83, 179, 293, 299, 377; Bd. III, S. 55 f., 60, 120 f., 181 ff., 327, 332 f., 336. 184 Ebenfalls im Elsässischen Volksbüchlein August Stöbers; vgl. auch DWb XIII, 718 u. 722. 185 WA 5,13; vgl. z. B. Wunderhorn, Bd. III, S. 275. 186 Vgl. Ein Sommernachtstraum (111,1). — In: Shakespeare's dramatische Werke, übersetzt von August Wilhelm Schlegel. Neue Auflage. Erster Theil. — Berlin 1821, S. 222: »in den Himmel 'nein« (derselbe Wortlaut WA 15,24 f.). 187 Vgl. z. B. Wunderhorn, Bd. I, S. 51, in dem Büchner besonders wichtigen »Erndtelied« (»Es ist ein Schnitter ...«, vgl. DT, Repl. 661). 188 Vgl. z. B. Wunderhorn, Bd. I, S. 377. 189 August Langen (s. oben Anm. 173) bietet dafür zahlreiche Beispiele, beginnend Sp. 1098 mit Lichtenbergs Parodie auf den »Böotischen Dialekt« der Frankfurter Gelehrten Anzeigen von 1772: »wolt's n't fress'n. Siehst's Genie? wies in Wolcken webt? Ob d's Genie siehst? Wenn d's nit siehst, host d'n Nosen nicht 's Genie z'riechen«; Sp. 1120 f. flexionslose Adjektive und Elisionen beim jungen Goethe, die dieser in den späteren Werkausgaben wieder normalisierte (Sp. 1157); Sp. 1131 volkstümliche Wortformen bei Lenz (»Dings«, »Zeugs«, »naus«, »nit«, »Menscher«) und Ausfall des ge-Präfix im Partizip Praeteritum ebenfalls bei Lenz (»gangen«, »kommen«, »blieben«); Sp. 1186 unflektierte Adjektive in der Romantik (»grimmig Gesicht«, »groß Unglück«); Sp. 1197 Apokopen und Elisionen in den beiden ersten Auflagen der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen.

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einzelnen noch ungeklärte Fragestellungen, keineswegs etwa darum, den Woyzeck-Tcxt als eine dramengeschichtlich beispiellose »Autopsie«190 auch und gerade der hessischen Verhältnisse im geringsten zu schmälern und ihn unmittelbar >volkstümlichen< Traditionen zuzuordnen. Der Abstand der Woyzeck-Fragmente von Sturm und Drang und Romantik ist auch sprachlich, durch die Häufigkeit und Funktion der genannten Formen, mindestens ebenso groß wie der zur Mundartdichtung. Aber es käme doch darauf an, zunächst die einzelnen Elemente als solche vorurteilslos zu situieren und auch den Abstand zu Formen und Ideologien des zeitgenössischen Dialektdramas (in Hessen Niebergall, Malß und Sauerwein191, im Elsaß Georg Daniel Arnold) wie der Mundartpoesie im allgemeinen nicht aus den Augen zu verlieren. Denn gerade dies würde die Brisanz des Textes als eine Diagnose des deutschen status quo, seine Verallgemeinerung und seine Wirkungsabsichten doch erheblich unterschätzen. Darüber mag zwar im allgemeinen wiederum ein gewisser Konsens bestanden haben und bestehen. So schrieb etwa Hans Winkler schon 1925, im Woyzeck sei der »Dialekt [...] nicht phonetisch getreu aufgezeichnet, er ist angedeutet, nicht naturalistisch kopiert (Hauptmann), ist auch nicht systematisch durchgeführt ([...] Niebergall).«192

Und auch Lehmann hielt 1967 fest: »im Unterschied zu Niebergall macht Büchner Kolorit und Atmosphäre lediglich durch Anklänge deutlich.«193

Aber der quantitative Aspekt (Lehmann: »Büchners Text ist [...] mundartlich koloriert, und zwar in viel stärkerem Maße, als bisher angenommen werden konnte«194) wirkt sich letztlich doch entscheidend auf den Sinn solcher Beurteilungen und damit vor allem auf die den Darstellern nahegelegte Bühnenaussprache aus. Nun gibt es zwischen den vier Handschriften, aber auch innerhalb der Rollentexte jeder einzelnen von ihnen, so viele eklatante Widersprüchlichkeiten gerade im Bereich der diese Bühnenaussprache lautlich mitprägenden Flexionsendungen, daß sich mit einiger Sicherheit schließen läßt: Büchner entwickelte diese (neue und selbstverständlich artifi190 Gutzkow an Büchner, 10. Juni 1836 (HA II, S. 490). 191 Vgl. zu einigen entsprechenden Grundimplikationen vor allem bei Malß und Niebergall: Volker Klotz: Bürgerliches Lachtheater. Komödie, Posse, Schwank, Operette. — München 1980 (= dtv Wissenschaft). 192 Winkler (s. oben Anm. 21), S. 219 f.

193 Textkritische Noten, S. 47. 194 Ebd.

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zielle) Sprache offenbar erst im Verlauf des Schreibens in diskontinuierlichen Versuchen, und für ihn selbst war die Festlegung der Sprachebene(n) im Arbeitsprozeß noch ebenso offen wie der Dialogverlauf und die Plazierung verschiedener Einzelszenen. Insofern ist es wohl grundsätzlich »nicht möglich, die im Entwurfsstadium steckengebliebene Arbeit des Autors nach dessen Intentionen zu Ende zu führen«,

wie Schmid feststellt195. Gleichwohl dürften die Arbeitsfelder deutlich geworden sein, auf denen sich eine größere Objektivierbarkeit von Einzelentscheidungen und damit doch eine Annäherung an die Autorintention auf den einzelnen Stufen des Entstehungsprozesses abzeichnet. Soweit es sich dabei um sprachwissenschaftliche Untersuchungsgebiete handelt, sind zugleich literaturhistorische Aufgaben gestellt, die eine erheblich breitere Befassung mit der handschriftlichen und typographischen Wiedergabe umgangssprachlicher bzw. volkstümlicher Textelemente in den für Büchner maßgeblichen Traditionsbereichen voraussetzen, als dies bislang der Fall war. Der südhessische Dialekt und insbesondere Niebergalls Transkriptionsgewohnheiten dürften hier, obgleich letztere zunächst auf derselben Darmstädter Schule und vom selben Lehrer (Karl Baur)196 angeregt worden sein könnten, nur noch eine begrenzte und, auf den größeren Teil der fraglichen Formen bezogen, eher kontrastive Bedeutung haben. Was die paläographisch-statistischen Untersuchungen an Büchners Handschriften betrifft, so würde ein umfassender und wirklich erfolgversprechender Vergleich aller hochsprachlichen Texte mit den Woyzec^-Manuskripten derart hohe (und gleichzeitige) Qualifikationen auf handschriftenkundlichem, sprachwissenschaftlich-grammatischem und sprachhistorischem Gebiet sowie in EDV und statistischer Methodik voraussetzen, daß seine Realisierung vorläufig kaum denkbar ist. Es blieben nämlich, um nur einige der nötigen Untersuchungsschritte zu skizzieren, im Anschluß an die ohnehin problematische normierte Basiserfassung im Grunde übergangsloser Befundstufen197 sowohl im Wortinneren als vor allem an Wortenden (und natürlich ihre jeweilige grammatische Bestimmung) etwa folgende Operationen zu bewältigen: Feststellung aller defizienten graphischen Befunde im einzelnen Wort und in verallgemeinerbaren Erscheinungsformen des graphischen wie des grammatischen Bereichs; Ermittlung aller hierbei mundartlich-umgangssprachlich äußerstenfalls möglichen Formen und Bestimmung der stati195 Probleme, S. 213. 196 Vgl. oben Anm. 80. 197 S. oben S. 191. 215

stischen Signifikanz (und all dies jeweils in wiederum nur annähernd klassifizierbar flüchtig, durchschnittlich bzw. sorgfältig geschriebenen Textabschnitten). Für die in den Woyzeck-Handschniten zusätzlich nötigen Untersuchungsschritte — Differenzierung zwischen Hl bis H4, nach Rollentext im einzelnen und nach sozialen Gruppen sowie nach den jeweiligen Redepartnern, immer mit Feststellung der zweifelsfreien, wahrscheinlichen oder möglichen mundartlich-umgangssprachlichen Formen bzw. der eindeutig schriftbedingten Phänomene — dürften bereits die Textmengen den statistischen Signifikanzbereich unterschreiten. Dennoch scheinen mir weitere einfachere und probeweise Versuchsanordnungen für >Auszählungen< schon innerhalb der WoyZ£c£-Texte selbst und in einer Richtung lohnend, wie das bereits oben für den Ausfall des n in Endungen auf -ein(e/en) unternommen wurde198. Relativ leicht und definitiv festzustellen wäre zunächst, wieviele zweifelsfreie, wahrscheinliche oder nur mögliche (also auch alternativ lesbare) mundartliche und umgangssprachliche Formen jeweils in Hl bis H4 vorkommen.199 Die Differenzierung nach Rollentexten einerseits und nach Graden der Abweichung von der Hochsprache (einfache, >poetische< oder umgangssprachliche Apokopen und Elisionen bzw. stärker mundartliche Elemente) andererseits wäre ebenso möglich. Gestützt auf die unstrittige generelle Textbeobachtung, daß das plebejische Personal und insbesondere die Titelfigur Louis/Woyzeck von Hl bis H4 in zunehmend kürzeren, grammatisch einfacheren Sätzen und mit beschränkterem Vokabular sprechen200 — was jedoch ebenfalls zu quantifizieren wäre —, müßten sich die Ergebnisse hinsichtlich der nur wahrscheinlichen und vor allem der alternativ lesbaren Befunde dann wenigstens in der Tendenz werten lassen. Zwar wäre nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen, daß kürzere Sätze und einfacheres Vokabular gelegentlich an die Stelle mundartlich-umgangssprachlicher Formen als solcher getreten sein könnten, doch als systematische, also auswertungserhebliche Verfahrensweise Büchners ist dies weder anzunehmen (eher das Gegenteil wäre der Fall), noch aus Einzelvergleichen entsprechend modifizierter Textübernahmen von Hl und H2 nach H4 zu ersehen.201 Deshalb dürfte sich wenig dagegen einwenden lassen, die bereits auf den ersten Blick erkennbare Tatsache der Abnahme zweifelhafter, z. T. alternativ lesbarer Endungsbefunde in H4 für Hl bis H3 mindestens in 198 Vgl. oben S. 200-202. 199 Schmids flüchtige Formulierung etwa (Probleme, S. 212), es treffe »nicht generell zu, daß solche [mundartlichen] Wendungen in der letzten Entwurfsstufe H4 weniger häufig auftreten als in den früheren [...] Hl und H2«, wäre dahingehend zu präzisieren, ob (und in welcher Relation zur betreffenden Textmenge) sie entweder häufiger, im gleichen Maße oder seltener auftreten. 200 Vgl. schon Winkler (s. oben Anm. 21), S. 65 ff., 223, 225 u. ö. 201 Vgl. etwa H2,l und 2 mit H4,l und 2; H2,8 mit H4,7.

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der Quote als Schreibkürzel zu veranschlagen, in der sie nachgewiesen werden kann. Als Gegenprobe könnte die jeweilige Quote zweifelhafter Endungen in allen flüchtiger bzw. sorgfältiger geschriebenen Passagen von Hl bis einschließlich H4 dienen, denn wenn und in dem Maße, in dem sich die Unterschiede hier als ähnlich groß erweisen sollten wie diejenigen zwischen Hl bis H3 auf der einen und H4 auf der anderen Seite (was zu erwarten ist), wäre der Schriftduktus doch als der entscheidende Faktor isolierbar. Wie weit es gelingen könnte, solche allgemeineren Erkenntnisse dann durch Auswertungen bestimmter Wort- und Schreibformen auch für die Emendation von Einzelstellen nutzbar zu machen, bliebe zu prüfen; doch mehr als eine stützende Funktion und mehr als eine quantitative Maßgabe für die in etwa anzusetzenden Emendationen dürfte das statistische Argument gegenüber den anderen Entscheidungsgründen wohl kaum darstellen. Daß die Emendation in der kritischen Ausgabe auch und gerade für die flüchtiger geschriebenen Handschriften Hl bis H3, also für die »extrem problematischen«202 Teile der Überlieferung notwendig ist, in denen die graphischen Befunde am wenigsten dem vom Autor intendierten Text entsprochen haben dürften, scheint mir im Unterschied zu Schmids Auffassung, wonach sich konjizierende Texteingriffe auf die für eine Lese- und Bühnenfassung infragekommenden Szenen (teile) beschränken könnten203, unabweisbar. Denn alle Überlegungen, die in Richtung auf eine Lese- und Bühnen-, d. h. eine kontaminierte Fassung der Handschriften-Fragmente gehen, gehören tatsächlich ebenso wenig in den Aufgabenbereich der Historisch-kritischen Ausgabe, wie es andererseits ihr vorrangigstes Ziel ist, die Textgenese und den intendierten Text aller Handschriften weitestmöglich zu ermitteln. Und hierbei ist weder die fragmentarische Überlieferung einer flüchtigen Konzeptniederschrift ein Hinderungsgrund (im Gegenteil, wenn man an die Editionen anderer schwer zu entziffernder und zu deutender Privataufzeichnungen von Lichtenberg über Nietzsche bis Robert Waiser denkt), noch macht es angesichts des plötzlichen Abbruchs von Büchners Arbeit am Text oder auch anderer Zufälligkeiten der Überlieferung einen Unterschied, ob Szenen aus Hl bis H3 für H4 bereits >verwertet< waren oder nicht. Schmids entscheidende Schlußfolgerung aber, daß sich für künftige Studienausgaben zwei getrennte und nach ihren Zwecken stärker differenzierte Textdarbietungen empfehlen204, entspricht den in der C. F. Meyer-Edition von Hans Zeller und in Sattlers Frankfurter Hölderlin-

202 Schmid: Probleme, S. 217. 203 Ebd., S. 223. 204 Ebd., S. 218. 217

Ausgabe, ansatzweise aber auch durch Lehmanns Darbietung einer befundnäheren Synopse205 und emendierter »Entstehungsstufen«206 des Woyzeck erreichten Standards von genetischen und konstituierten Textdarstellungen und kann daher mit bestimmten diakritischen Modifikationen, vor allem aber einschließlich ihrer Begründung für die kritische Ausgabe übernommen werden: denn danach ist es dem Editor erlaubt, »wo es notwendig und wissenschaftlich vertretbar erscheint, um so stärker in die [...] unfertige und vielfach unsichere Textüberlieferung ein [zu] greifen [...], je genauer er zugleich bei der gesonderten [...] Wiedergabe aller Entwurfsstufen den exakten handschriftlichen Befund bereitstellt.«207

205 HA I, S. 337-406. 206 Ebd., S. 143-181. 207 Schmid: Probleme, S. 221. 218

Von Büchners Handschrift oder Aufschluß, wie der Woyzeck zu edieren sei Von Eske Bockelmann (München)

Wenn es zur Wissenschaftlichkeit heute gehört, durch Auffinden neuer Aspekte, Fragestellungen und Problemfelder jenes unendliche Reflexionskontinuum zu bedienen, das zu sein einmal der Literatur selbst zugeschrieben wurde, dann geht dem vorliegenden Aufsatz Wissenschaftlichkeit ab. Er unternimmt es, an einem Problem, das sich bereits als Frage schlechter Unendlichkeit ^eingerichtet hat, nicht weiterzustricken, sondern es zu lösen; und setzt so einem wissenschaftlichen Fortschreiten, das wenn schon nicht zielstrebig, so doch in sicherer Kontinuität von einer älteren und richtigeren Auffassung der Sache weg und immer weiter weg geführt hat, ein Ende. Die Sache ist die zentrale Schwierigkeit, vor die sich die Editoren durch das Woyzeck-Manuskript gestellt sehen — neben derjenigen der Szenen-Anordnung — und die sicher unter den nicht wenigen eigentümlichen Schwierigkeiten in der Überlieferung von Büchners Werken die letzte entscheidende ist, deren Lösung aussteht; und die umso weniger zu lösen schien, je weiter sich die Editoren in sie vertieften. Sie wird die Frage des Dialekts genannt und ist die Frage, ob — als Beispiel — ein Satz Woyzecks so heißen muß, wie ihn etwa Henri Poschmann ediert: »Sehn Sie, so ein schön festen grauen Himmel, man könnte Lust bekomm, ein Kloben hineinzuschlage und sich daran zu hänge, nur wege des Gedankstricheis zwischen Ja und Nein«1

oder nicht doch so: Sehn Sie, so einen schönen festen grauen Himmel, man könnte Lust bekommen, einen Kloben hineinzuschlagen und sich daran zu hängen, nur wegen des Gedankenstrichels zwischen Ja und Nein. l Leipzig 1984, danach Frankfurt a. M. 1985; 2., leicht verbesserte Auflage (Georg Büchner: Woyzeck. Nach den Handschriften neu hergestellt und kommentiert von Henri Poschmann. - Frankfurt a. M. 21987 [= insel taschenbuch 846]); hier S. 79. Vgl. WA, 16,6 ff.

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Allgemeiner ist es also die Frage, ob oder inwieweit Wörter verkürzter Graphic eben solche sind oder aber intendiert verkürzte Wortformen, die sich von der vollen hochsprachlichen Form unterscheiden und mit denen Büchner Figuren und Situationen dialektal, umgangssprachlich oder in irgend anderer Weise eingefärbt hätte über das noch hinaus, was an nicht Hochsprachlichem sonst dem Manuskript eindeutig zu entnehmen ist. Bereits Bergemann geht an manchen der fraglichen Stellen mit solchen Wortformen um, die Editoren jüngerer Zeit jedoch haben nachgerade ihren Ehrgeiz darein gesetzt, es in der häufigen Verwendung jener Formen einander vorzutun. Ich will nicht verhehlen, daß auch unabhängig von aller Kenntnis der Handschrift Büchners, um die es hier gehen wird, ich solche Entscheidung für ausgemachten Unsinn erachte; daß mir das Kauderwelsch, das sie ergibt, daß mir ein Beispiel wie das zitierte genügen, um auszuschließen, Büchners sprachliche Sicherheit hätte sich bis zu solchem Gestoppel verleugnen können; daß ich es für eine Schandtat ansehe, ein solcherart geschundenes Deutsch als dasjenige eines der bedeutendsten Dramen zu veröffentlichen, dieses Deutsch Büchner zuzutrauen und durch die Edition ihm zuzumuten. In keiner anderen Sprache wohl ist, was Linguistik vorschnell den kompetenten Sprecher nennt, so wenig in der Sprache, daß in einem ihrer wichtigsten Zeugnisse sie über Jahrzehnte hinweg planmäßig entstellt werden kann, ohne daß die Nation, deren Teile schon vor ihrer Vereinigung in solch deplorabler Sprachferne sich einig waren, dagegen aufbegehrte. Die Schandtat wird vielmehr unter allgemeiner Anerkennung begangen von aufrecht und behutsam Denkenden, denen nur die Anforderungen des Wissenschaftsbetriebes die Besinnung und zumal die sprachliche geraubt haben können; bis zu einer Besinnungslosigkeit, die zwar keinen Widerstand gegen den Unsinn insgesamt, aber innerhalb dessen sogleich die subtilsten Präsuppositionen aufbringt, wie etwa die, Woyzeck würde in der einen Sekunde so ganz dialektal »wege« sprechen sollen und in der nächsten aber hochdeutsch unverkürztes »zwischen« — Büchner muß da äußerst fein abgwoge haben —, oder Woyzeck hätte nach des Autors Willen eben noch ein Wort wie »daran« klar durchartikuliert, um zwei Wörter weiter — nuancierteste Darstellung von Woyzecks Zerrisseheit — in den Dialekt zurückzufallen: »zu hänge«. Ein Blick in die Handschrift vollends muß für die Beurteilung solcher edito>rischer Leistung moralische Kategorien nahelegen; denn redlich kann es nicht heißen, zu schreiben: »ein Kloben hineinzuschlage«, wenn mam dafür zwar richtig kein Bedenken tragen muß, die zwei handschriftliclh klar gezogenen Bögen, die sich bei dem Verb zwischen hi— und —zu— finden, nicht nur als ein n zu lesen — »hinzuschlage« — sondern da:s Präfix zu »hinein« zu ergänzen; während es bei den verschliffenen Haiken zu Ende des unbestimmten Artikels und des Verbs ausgeschlossem sein soll, das eine Mal mehr als nur ein n — »ein« —, das andere Mail 220

mehr als nur ein e — »hineinzuschlage« — der Edition für fähig zu halten. Der Sicherheit hier, die Wörter zu verkürzen, widerspricht die Fraglosigkeit dort, die Verkürzung aufzuheben. Solchen Widerspruch nicht zu reflektieren, sondern auf ihm gar noch wissentlich Kauderwelsch zu fundieren, mag der Wissenschaft entsprechen; doch einer Wissenschaft demnach, in die selber »man könnte Lust bekomm, ein Kloben hineinzuschlage«. Es ist Thomas Michael Mayer zu danken, daß er in dem voranstehenden Aufsatz zur Frage des »Dialekts« in den Woyzeck-Handschriften den Stand dessen, was da zur Frage wurde, rekapituliert. Als Frage erkennt Mayer sie ganz so an, wie die Wissenschaft sie sich gestellt hat, mitsamt dem darin für aporetisch und eben fraglich Gesetzten als einem solchen. Gleichwohl versucht er, unter Anerkennung allerdings auch der üblichen Bewertung des handschriftlichen Befundes, dasjenige, was die Editoren daraus an Wortformen konstituiert haben, in seiner Plausibilität zu bewerten und weiters zu entscheiden, was immer bereits auf diese, besonders das mögliche edierte Ergebnis bewertende Weise zu entscheiden ist; und das ist nicht wenig. Es hat ihn bereits auch zur Kritik der letzten Editionspraxis und ihrer Neigung geführt, verkürzte Graphic als verkürzte Wortform zu nehmen. Doch zeigt eine Lesefassung, die er seitdem per occasionem vorlegen konnte, daß er, wiewohl dort nun schon einen großen Teil der unzulässig bisher verkürzten Wörter in der vollen Form wiedergebend, manchen seiner Überlegungen, die weiter reichen, als ihm offenbar lieb war, noch nicht recht vertrauen mochte. Es lautet bei ihm etwa: »Sehn Sie, so ein schönen festen grauen Himmel, man könnte Lust bekomm, ein Kloben hineinzuschlagen«2. Wenn so zwar bereits einem der Infinitive die volle Endung zurückerstattet ist, bleibt sie doch dem anderen und bleibt auch den Artikeln die ihre noch immer versagt, und diese dürfen noch immer nicht »einen« lauten. So zu verfahren, heißt zwar die Frequenz des Unsinns zu verringern, ihn jedoch insgesamt beizubehalten. Mayer gelangt jedenfalls zur Ansetzung eines Spektrums von Möglichkeiten, zwischen ganz sicher nur graphisch verkürzten Wörtern und ganz sicher dialektal oder umgangssprachlich verkürzten Wortformen. Diese beiden sicheren Pole aber können doch jeweils nur wenige Fälle unter sich sammeln; deren Hauptteil bleibt so weiterhin unbestimmt, im Sinne jener tiefen Aporie, in die sich die Editoren durch Büchners undeutliche Handschrift und handschriftliche Inkonsequenz gestürzt sehen, einer Aporie, die immer wieder und wie abschließend nun hinzunehmen beschrieben worden ist.

2 Georg Büchner: Woyzeck. Ein Dramenfragment. Lese- und Bühnenfassung. Eingerichtet von Thomas Michael Mayer. — In: Georg Büchner: Woyzeck. Gezeichnet von Dino Battaglia. - [Berlin] 1990, S. 24-59; hier S. 34. 221

Aber sie besteht nicht. Entsprungen ist sie einer Fehldeutung des handschriftlichen Befunds selbst. Diesem ist die Lösung des Problems abzunehmen, und nicht, wie vermutet war, durch mundartliche Studien ist sie zu erlangen. In der Aporie bleibt noch Mayers große Bemühung stecken, weil auch er den handschriftlichen Befund so anerkennt, wie ihn etwa Gerhard Schmid in seiner Transkription des Woyzeck-Manuskripts auffaßt. Anders nämlich, als Klaus Kanzog schon gerühmt hat, sind dort nicht, »statistisch auswertbar, die Phänomene«3 nun präsentiert. Unter dem Einfluß sicher auch der Dialektneigung der Editoren geht Schmids Transkription — und ich denke damit das große Verdienst dieser Ausgabe um nichts zu schmälern — gerade in der Darstellung der Wörter mit graphischer oder, um die andere Möglichkeit so zu nennen, grammatischer Defizienz entschieden fehl. Die Sicherheit, dies zu erkennen, beruht auf der Transkription der Schüler- und philosophischen Skripten Büchners, die ich für die historisch-kritische Ausgabe seiner Werke angefertigt habe. Beide Handschriftencorpora mit ihren insgesamt über eintausenddreihundert Seiten stellen den weitaus größten Anteil des handschriftlich Überlieferten Büchners dar. Rund eintausend Seiten, die davon in deutscher Sprache und Kurrentschrift geschrieben sind, bieten die sichere Grundlage, um Eigenarten von Büchners Schrift, angefangen mit den frühesten Schuljahren bis hinauf in enge zeitliche Nähe zum Woyzecfe-Manuskript, in ihrer Entwicklung zu verfolgen und sie zu beurteilen. Eine Eigenart vor allem ist es, die jene Verwirrung zu stiften imstande war, der sich die Dialektfrage in ihrer jetzigen Form verdankt. Allerdings hätten die Bestimmung jener Eigenart eindeutig genug zugelassen und gefordert und damit auch die spezifische Formung jener Frage ausschließen müssen bereits diejenigen Handschriften geringeren Umfangs, die bislang schon in Faksimile und differenzierter Umschrift veröffentlicht sind, nämlich die Bruchstücke aus Leonce und Lena und eben das Woyzeck-Manuskript selbst. Das werde ich knapp darlegen, um damit zugleich zu der Bestimmung jener Eigenart in Büchners Handschrift zu gelangen, an der das Problem und seine Lösung hängt. In der kritischen Studienausgabe von Leonce und Lena hat Mayer die handschriftlichen Bruchstücke in Faksimile und differenzierter Umschrift abgedruckt. Defiziente Wortformen finden sich auch in ihnen. Um sie darzustellen, verwendet Mayer zwei Arten der Auszeichnung, die Kursivierung und die Unterpunktion von Buchstaben. Nur seine Definition der ersteren aber legt deren Funktion, Defizienz in der Graphic abzubilden, offen dar:

3 Klaus Kanzog: Faksimilieren, transkribieren, edieren. Grundsätzliches zu Gerhard Schmids Ausgabe des Woyzeck. - In: GBJb 4 (1984), S. 280-294; hier S. 290. 222

»im handschriftlichen Befund nicht vorhandene Buchstaben sind dann in Kursiv ohne die Herausgeberklammern { ) eingesetzt, wenn ihr Fehlen [...] auf die flüchtige, stark abkürzende Niederschrift zurückzuführen ist und die Ergänzung aus dem Kontext und Büchners gewöhnlicher Schreibweise eindeutig erschlossen werden kann.« 4

Der Verzicht auf die Herausgeberklammern ist zwar hier nicht explizit, aber sachlich jedenfalls begründet nicht sowohl durch die störende Häufigkeit, mit der die Klammern sonst in manchen Passagen gesetzt werden müßten und das Schriftbild belasteten, als darin vor allem, daß Büchner ein Wort etwa wie »daß« geläufig ohne den Vokal schreibt, welcher folglich vom Herausgeber nicht eigentlich emendierend zu ergänzen ist, weil Büchner ihn fehlerhaft ausgelassen hätte: d(a)ß; sondern den Büchner, als würde er das Wort abkürzen, zwar als geschrieben und im Geschriebenen mitdenkt, aber nicht schriftlich ausführt. Solche gleichsam regulär in der Schreibung übergangenen Buchstaben haben einen grundsätzlich anderen 'Status als solche Buchstaben, die beim Schreiben ungewollt ausgefallen sind und vom Herausgeber auf Grund dessen ergänzt werden müssen. Die Unterscheidung nach kursiv ergänzten Buchstaben — »daß« — und solchen in spitzen Klammern ergänzten ist also der Sache, nämlich dem handschriftlichen Befund nach hoch vonnöten. Würden einheitlich alle fehlenden Buchstaben in die Klammern gesetzt, wäre die wichtige Unterscheidung nicht getroffen zwischen mitgedachten Buchstaben, die sich Büchner nur hinzuschreiben erspart, und den Buchstaben, die ausgefallen sind durch Versehen, Abbrechung oder ähnliches. Die Darstellungsform der Unterpunktion dagegen, anders als die der Kursivierung, verbirgt bei Mayer ihre wichtigste Funktion. Was sie bedeuten solle, heißt lakonisch: »unsichere Entzifferung«. Wie Mayer sie verwendet, beweist, daß sie hauptsächlich einem Phänomen graphischer Defizienz gilt; daß allerdings mit ihr zugleich der angemessenen Darstellung und zureichenden Reflexion des Phänomens ausgewichen, eine notwendige Unterscheidung entsprechend der zwischen den zwei Klassen fehlender Buchstaben versäumt ist. In der Transkription der handschriftlichen Bruchstücke von Leonce und Lena finden sich unterpungierte Buchstaben konzentriert in bestimmten Passagen, deren Schreibduktus im Manuskript von der ungewöhnlichen Akkuratesse abweicht, mit der Büchner im ersten großen Bruchstück allgemein seine Buchstaben gezogen hat; ungewöhnlich, gemessen etwa am Duktus in Schüler- und philosophischen Skripten. Eben diesem entspricht der in jenen Passagen, wo Mayer häufiger zur Unterpunktion greifen muß, so etwa in dem Randeinschub, der auf Seite 24 der Studienausgabe transkri4 LL, S. 11.

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biert ist. Sollte Büchner während der Niederschrift der ersten Seiten des Manuskripts noch vorgehabt haben, eine Reinschrift zu fertigen, sauber genug, um an die Jury des Preisausschreibens gesandt zu werden - und das wie gestochene Schriftbild spricht dafür —, dann muß er das Vorhaben in dem Moment spätestens aufgegeben haben, da er den großen Randeinschub notiert. Deshalb fällt er dort denn auch augenscheinlich zurück in seine übliche Art zu schreiben. In ihr ist jenes Phänomen geläufig, dem Mayer etwa so beizukommen versucht: Schmetterlinge. Das m, als unterpungiert, wäre demnach unsicher entziffert und stünde neben einem klar geschriebenen e. Der Blick ins Faksimile der Handschrift5 zeigt jedoch, daß die Stelle keineswegs undeutlich und schlecht entzifferbar geschrieben ist; zwischen den als solchen distinkt kenntlichen Buchstaben h und t sind klar und ohne Unsicherheit drei recht einheitliche Bögen gezogen — als Bögen bezeichne ich kurz jede Form des Auf- und Abstrichs, ob nun in scharfem Winkel gezogen oder zur Bogenform verschliffen. Ausschließlich aus Bögen dieser Art sind in der Kurrentschrift gebildet regulär die Buchstaben n und m, regelmäßig außerdem e, r und c, bei Büchner zuweilen auch a, i, o, u, v und w - insgesamt all diejenigen Buchstaben also, die nicht durch Ober- oder Unterlänge charakterisiert sind. Solche normalen, für sich genommen uncharakteristischen oder, um es forthin so zu nennen, unspezifischen Bögen nun stehen im Wort Schmetterlinge zwischen Schund —tt—, also an der Stelle des —me—. Nur eben, daß es lediglich drei Bögen sind statt der fünf, die erforderlich wären, um in der Kurrentschrift —me— vollständig auszuformen. Mayer löst diesen Befund so auf, als wäre das e klar für sich geschrieben, so daß folglich das m um zwei Bögen defizient wäre — oder wenigstens um einen, vorausgesetzt, das e könnte bereits mit einem Bogen komplett notiert sein, wie Mayer es im selben Wort etwa zwischen — tt— und —r\— ansetzt. Das m wäre demnach nicht etwa unsicher entziffert, sondern lediglich graphisch defizient. Es ist eindeutig zu erschließen, wenn auch eben graphisch nicht vollständig repräsentiert. Dies letztere allerdings nur unter der willkürlichen Vorgabe, vollständig repräsentiert wäre das e; die Graphic der drei Bögen läßt aber keine Trennung in die notwendig von ihnen repräsentierten Buchstaben -me- zu. Keiner von beiden ist distinkt ausgeformt. Mit derselben Willkür wie derjenigen der Notation —me— hätte Mayer notieren können: —me—, oder auch —me—, ausgeführtes m und eindeutig erschlossenes, aber fehlendes e; ohne daß jedoch eine dieser Alternativen den geringsten Vorzug vor der anderen hätte. Wenige Zeilen nach dem ersten Vorkommen des Wortes sieht die Notation eines weiteren so aus: Schmetterlinge. Dieses Mal also statt 5 LL, S. 22; auch in der Farbfaksimile-ßei/tfge zum Katalog Georg Büchner (Darmstadt), zu S. 300, Nr. 741. - Basel, Frankfurt a. M. 1987; hier p. 4. 224

—me— die Variante —me-. Die Handschrift weist diesmal zwischen Seh- und —tt— vier Bögen auf, wiederum deutlich und einheitlich gezogen. Auch daß sie für die Buchstaben —me— stehen, kann keinen Moment zweifelhaft sein. Mayer aber notiert hier das e durch den untergesetzten Punkt als »unsichere Entzifferung«. Sie ist es keineswegs — so wenig, wie ein a in »daß« unsicher ist. Nur kann hier nicht sicher entschieden werden, welche der vier Bögen, da sie ohne klare Absetzung aneinanderschließen, dem m und welche dem e zuzählen. Jede Zuweisung der Bögen an einen der beteiligten Buchstaben muß daher willkürlich sein; und so ist es auch Mayers Entscheidung, das m vollständig ausgeführt zu sehen und das e nicht. Die Bestimmung des Befundes kann richtig nur lauten: Die Buchstabenfolge -me- ist, eben als Folge, nicht graphisch vollständig ausgeführt. Keinem einzelnen der beiden Buchstaben —me— ist die graphische Defizienz — statt unsichere Entzifferbarkeit — zuzuweisen und anzulasten, sondern nur der sicher anzusetzenden Buchstabenfolge insgesamt. Wird der Status dieser Defizienz nicht erkannt, muß es zu einer so offenkundigen Widersprüchlichkeit kommen wie der, daß Mayer direkt nebeneinander unterpungierte und kursivierte Buchstaben notiert; so etwa in Zeile 11 im Wort Schmetterlinge selbst, so in derselben Zeile in »verhungern«, Zeile 12 in »über« und »ungeheuren«, Zeile 13 in »Blumen« oder Zeile 18 in »fressen«. Es bedeutete jeweils einen unsicher entzifferten — genauer: unsicher zuweisbaren — Buchstaben neben einem nicht ausgeführten, aber eindeutig erschlossenen Buchstaben. Eine solche Notation hält der Überlegung nicht stand. Denn wenn der eine Buchstabe unsicher entziffert ist, kann nicht der benachbarte eindeutig fehlen. Wenn eindeutig dieser fehlen würde, müßte ja gesichert sein, daß nicht er es ist, der sich in dem unsicher entzifferbaren Befund verbirgt. Die Unsicherheit im Befund hier schließt eben solche Sicherheit dort aus; also kann nicht angesetzt werden, daß es der als fehlend notierte Buchstabe sei, der fehle. Es könnte genausogut der andere, der als unsicher entzifferte Buchstabe sein. Denn daß der unsicher entziffert sei, heißt, daß er nicht graphisch eindeutig vorliegt, sondern eben von dem graphisch Ausgeführten repräsentiert wird, ohne als solcher, als dieser spezielle Buchstabe erkennbar zu sein. Ist er aber nicht als solcher erkennbar und ist außerdem neben ihm ein Buchstabe anzusetzen, der als fehlend ebenfalls notwendig nicht als der spezielle erkennbar ist, stehen zwei nicht als solche, nicht als sie selbst erkennbar ausgeführte Buchstaben nebeneinander, und ist es verfehlt, vom einen anzusetzen, er wäre durch den graphischen Befund gemeint, und vom anderen, er wäre es nicht. Umgekehrt, wenn der fehlende Buchstabe eindeutig erschlossen ist, muß es der andere Buchstabe auch sein, auf Grund des gleichen Rückschließens vom erschlossenen Wort auf die einzelnen Buchstaben, die das sicher zu lesende Wort bilden müssen. Folglich kann die Unsicherheit, die sich in der Unterpunk225

tion des einen Buchstabens so unzulänglich ausdrückt, nur heißen, daß unsicher ist, ob nicht etwa der andere, als fehlend kursivierte Buchstabe zu entziffern, wenn auch eben unsicher zu entziffern wäre; das hieße genauer: dem graphisch defizient Ausgeführten zuzuweisen. Beide, die von Mayer nebeneinander unterschiedlich notierten Buchstaben sind erschlossene Buchstaben und sicher erschlossen. Die Unsicherheit kann sich also nicht auf die Entzifferung und die Buchstaben als solche beziehen, sondern nur darauf, welcher von ihnen gar nicht und welcher defizient ausgeführt sein soll. Da aber die Unsicherheit bei einem der beteiligten Buchstaben jeweils genau die gleiche bei dem anderen oder den mehreren anderen notwendig impliziert, in streng symmetrischer Relation, dürfen beide und darf die Art der Wiedergabe beider nicht unterschieden sein: Beide Buchstaben haben denselben Status. Gerhard Schmid hatte dem so weit bereits Rechnung getragen, als er für seine Transkription des Woyzeck-Mianuskiipts eine weitere Notationsform einführte; das größere Textcorpus hat zwingender wohl solchen Reflex auf jene Eigenart von Büchners Hand nahegelegt, als es die wenigen Seiten der handschriftlichen Leonce und Le«#-Bruchstücke vermochten. Die Unterpunktion verwendete Mayer dort als verdeckte Notationsweise für graphisch defizient ausgeführte Buchstaben und Buchstabenfolgen. Diese, so sicher sie jeweils zu erschließen und anzusetzen sind, wurden damit nicht unterschieden von Buchstaben, die wirklich wegen undeutlicher Schrift, wegen Streichung oder Überschreibung nicht sicher entziffert werden können, wie es zumindest ja im Woyzeck-Manuskript oft genug der Fall ist und wahrscheinlich bleiben wird. Schmid hat dem handschriftlich Gegebenen abgelesen, daß mit der Notation bestimmter Buchstaben und Buchstabenfolgen als unsicher entziffert nicht allein auszukommen ist, und zwar eben in dem Fall, wo nicht Unsicherheit der Entzifferung vorliegt, sondern eine andere Unsicherheit, die jedoch auch Schmid nicht zureichend erkannt hat. Eine Unterscheidung wie diejenige Mayers innerhalb der Arten fehlender Buchstaben danach, ob sie für ausgefallen oder aber für gewollt unausgeführt und also mitgedacht gelten müssen, trifft Schmid notwendigerweise auch innerhalb der handschriftlich zwar nicht komplett fehlenden, aber jedenfalls nicht distinkt oder nicht komplett ausgeführten Buchstaben. Er führt zusätzlich zu seiner Notationsweise der unsicher entzifferbaren Buchstaben — bei ihm Petitsatz anstelle der Unterpunktion — eine dieser verwandte und doch von ihr unterschiedene ein, die er als Transkriptionsregel Nr. 14 so definiert: »14. Ist innerhalb eines gesicherten Wortbefundes eine kontrahierte Buchstabengruppe nicht eindeutig aufzulösen, so wird sie in doppelte senkrechte Striche gesetzt. Damit wird ausgedrückt, daß nicht alle zwischen den Strichen stehenden Buchstaben vorhanden sind, aber auch nicht bestimmt werden kann, welche von ihnen vorliegen. 226

Beispiel: 12,28 Kürass||ierre||gi||men||t|er|e| — Innerhalb des Wortes gibt es zwei Stellen, an denen nicht einzeln bestimmbare Buchstaben aus der Folge — ierre— bzw. —men— stehen. Außerdem sind am Ende des Wortes zwei variante Lesungen möglich.«6

Der Fall der Varianten Lesungen am Ende des Beispielwortes, von Schmid zwischen einfache senkrechte Striche gesetzt, bleibe hier vorerst außer Betracht, obgleich er sehr wohl mit dem anderen, den die doppelten senkrechten Striche notieren, in Verbindung steht. Die Definition, so unzureichend sie auch ist, gibt doch klar genug zu erkennen, daß sie eben jenen Fall reflektiert, dem Mayer mit der Kombination von unterpungierten und kursivierten Buchstaben beizukommen dachte und den er mit ihr jedoch verfehlte: Mehrere Buchstaben sind repräsentiert durch weniger Bögen, als sie regulär bedürften — das meint die »kontrahierte Buchstabengruppe« —, und zugleich ist doch gesichert, daß sie anzusetzen sind, weil das sicher identifizierte Wort sie erfordert. Mit Recht faßt Schmid die beteiligten Buchstaben in der Notation zu einer Gruppe zusammen, teilt sie dort also nicht danach auf, daß einer von ihnen sicher — wenn auch defizient — geschrieben wäre, während die anderen sicher fehlten. In der Definition jedoch geht er gleichwohl gerade davon aus; denn er teilt hier die Buchstabengruppe auf in ausgeführte und nicht ausgeführte Buchstaben, nur daß er eben eingesteht, die Entscheidung, welche ausgeführt seien und welche nicht, könne nicht gefällt werden. Das meint der Satz: »daß nicht alle zwischen den Strichen stehenden Buchstaben vorhanden sind, aber auch nicht bestimmt werden kann, welche von ihnen vorliegen.« Allein aber mit der impliziten Unterscheidung nach vorhandenen und nicht vorhandenen Buchstaben ist bereits eine Bestimmung gegeben; und diese steht im Widerspruch zu der anerkannten Unbestimmtheit des handschriftlichen Befunds. Denn wenn es heißt, an den durch doppelte Striche zu kennzeichnenden Stellen würden aus der sicher anzusetzenden Buchstabenfolge »nicht einzeln bestimmbare Buchstaben [...] stehen«, dann kann dort auch nicht bestimmbar sein, überhaupt daß einzelne Buchstaben vorhanden wären und daß einzelne andere nicht. Der Unbestimmbarkeit ist nicht definitorisch anzubefehlen, mit einem Mal vor der Bestimmung, es lägen einige Buchstaben vor und andere aber nicht, haltzumachen. Damit fällt die Unterscheidung. Sie ist unerhelltes Relikt des Zwangs, dem der Transkribierende unterliegt, das handschriftliche Kontinuum zeichenweise, also hauptsächlich buchstabenweise aufzulösen. Dieses Vorgehen sieht sich hier durchbrochen, da eine Folge handschriftlicher Bögen insgesamt eine ganze Folge von Buchstaben repräsentiert, so daß 6 WA, Kommentar, S. 67.

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eine handschriftlich notierte Einheit für eine Vielheit von Buchstaben steht. Schmid wird dem gerecht, indem er die »nicht einzeln bestimmbare[n] Buchstaben« zur Buchstabengruppe zusammenfaßt, verfehlt aber das Phänomen dadurch, daß er noch die zeichenweise Zuordnung mitschleppt in der Unterscheidung nach vorhandenen und nicht vorhandenen, nämlich dem handschriftlichen Befund zuzuweisenden und nicht zuzuweisenden Buchstaben. Gerade um nicht anzuerkennen, daß jenes Zuordnungsprinzip hier durchbrochen ist, begeht er den Fehler, nach vorhandenen und nicht vorhandenen Buchstaben zu unterscheiden, und dies obwohl er im selben Moment die Unmöglichkeit der Unterscheidung anerkennen muß. Er nimmt den Widerspruch hin, um an jenem Prinzip festzuhalten; in dem Widerspruch aber zerfällt es ihm unter den Händen. Dazu, das Bewußtsein davon zu vermeiden, dient auch die uneindeutige Formulierung des Falles, daß »eine kontrahierte Buchstabengruppe nicht eindeutig aufzulösen« sei. Aufzulösen ist sie sehr wohl eindeutig und genau in dem Sinn, wie Mayer von den kursiv zu ergänzenden Buchstaben schreibt, daß sie »eindeutig erschlossen werden« können. Aber die Buchstaben, in welche das handschriftlich Notierte eindeutig aufzulösen ist, wie etwa in die Folge — ierre— oder —men— in Schmids Beispiel, sie sind nicht einzeln einzelnen Bestandteilen des kontrahiertem handschriftlichen Befunds zuzuordnen, und nur insofern auch »nicht eindeutig«: nicht eindeutig zuzuordnen, nämlich nicht sich fügend der einzelzeichenweise verfahrenden Zuordnung des handschriftlich Ausgeführten zu den von ihm repräsentierten Buchstaben. Das aber genau bedeutet auch, daß dieses Zuordnungsprinzip als ein Prinzip durchbrochen ist. Was sich in den Mängeln von Schmids Definition niederschlägt, die mangelnde Einsicht in das Phänomen, führt auch dazu, daß Schmid die eingeführte Notationsform der doppelten senkrechten Striche noch nicht einmal seiner Definition entsprechend anwendet. Zwei Wörter vor demjenigen etwa, das er in der Definition als Beispiel anführt, hat er in der Transkription das Wort notiert: Fortpf | n | a | z (WA, 12,28). Die Funktion der einfachen senkrechten Striche ist dabei so definiert: »13. Sind mehrere Lesungen möglich, so werden sie nacheinander angeführt. Die Varianten Buchstaben, Buchstabengruppen oder Worte werden im Anschluß an den invarianten Befund mit senkrechten Strichen eingeleitet, voneinander getrennt und abgeschlossen. Die wahrscheinlichere Lesung steht vor der weniger wahrscheinlichen. « 7

Das Notierte ist also zu lesen: Fortpfnz oder — weniger wahrscheinlich — Fortpfaz. Man wird nicht eben behaupten wollen, damit bereits einen 7 WA, Kommentar, S. 66.

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gesicherten Wortbefund in Händen zu haben, mit dessen Kategorie Sclhmid in seiner anderen Definition doch umgeht. Das Wort, das laut Sclhmid geschrieben sei entweder als Fortpfnz oder als Fortpfaz, ist aber du:rch den Zusammenhang gesichert als Fortpflanzen, nämlich durch dem Zusammenhang: ein Weibsbild ... zum Fortpflanzen von Kürassierregimentern. Die zwei Bögen, die das Manuskript in dem Wort zwischen —pf— und —z aufweist — unter der Voraussetzung, das z wäre in seiner äußersten Schwundstufe geschrieben; sonst läge zwischen —pf— und ihm nur ein einziger Bogen —, diese Bögen sind unspezifisch genug, da:ß Schmid verschiedene Buchstaben ansetzen kann, n oder a, die er deshalb aber auch, eben weil die Bögen unspezifisch gezogen sind, nicht diesen abgelesen, sondern aus den sicher dort anzusetzenden Buchstaben —lan— ausgewählt hat. Damit aber liegt genau das vor, was Schmids Definition einen gesicherten Wortbefund nennt, innerhalb dessen »eine kontrahierte Buchstabengruppe nicht eindeutig aufzulösen ist«; und er müßte notieren: Fortpf || lan 11 z - die Endung -en, als vollständig fehlend, wird in Schmids Transkription ja nicht, kursiv etwa, ergänzt. Im Wort Kürass||ierre||gi||men||t|er|e| ist die erste kontrahierte Buchstabengruppe handschriftlich durch drei Bögen repräsentiert, und nichts zeichnet die zwei Bögen in »Fortpf|n|a|z« zwischen —pf— und -z aus, daß sie nicht ebenfalls als Kontraktion zu lesen wären. Wenn drei Bögen für die Buchstaben — ierre— stehen können, wenn zwei Bögen für die Buchstaben —men — ; wenn für die Buchstaben —me— im Wort Schmetterling einmal drei und einmal vier Bögen stehen können, dann kann nicht von den zwei Bögen zwischen —pf— und —z dekretiert werden, sie könnten nicht für -lan— oder, falls man für den Moment die Aufnahme eines Buchstabens mit Oberlänge wie das l in eine kontrahierte Buchstabengruppe ausschließen wollte, jedenfalls für —an— stehen, sondern sie müßten ein Einzelbuchstabe sein, damit dann »Fortpfnz« oder »Fortpfaz« gelesen werden dürfe, wo »Fortpflanzen« stehen muß. Ebenso verbietet sich, was Schmid am Ende derselben Zeile, in der sein Beispielwort zu Regel Nr. 14 steht, gegen das darin Erkannte verstoßend transkribiert: »Tambmajor« (WA, 12,28). Dort wäre nach Schmid zwischen — b— und — j— sicher — ma— zu lesen. Geschrieben sind aber nur vier gleichmäßige Bögen, denen nicht im mindesten diese spezifischen Buchstaben abzulesen sind. Wenn aber das anzusetzende Wort zweifellos »Tambourmajor« lautet und zwischen —b— und —j — unspezifische Bögen verlaufen, kann nur Willkür beschließen, daß nicht wieder der Fall wie in den »Kürassierregimentern« liege und nicht also zu notieren sei: Tamb 11 ourma 11 jor. Die vier Bögen aber stehen als ganze für die sicher anzusetzenden Buchstaben —ourma— zwischen den distinkt ausgeformten Buchstaben —b— und — j —; dies ist der Befund. Ein entsprechender Fehler, Verstoß wiederum gegen die Definition der sogenannten kontrahierten Buchstabengruppe, unterläuft Schmid 229

sogar bereits in dem Beispielwort selbst, an dem er das Definierte aufzeigt, nämlich bei der Notation von dessen Endung: Kürass||ierre 11 gi 11 men 1111 er | e |. Er setzt an, es wären diese beiden Lesungen des Geschriebenen möglich: Kürassierregimenter / Kürassierregimente; im Zusammenhang: zum Fortpflanzen von Kürassierregimenter / zum Fortpflanzen von Kürassierregimente. Die Endung, nach dem —t—, ist in der Handschrift durch einen äußerst kleinen ersten Bogen und einen nur nach unten abfallenden zweiten Bogen ausgeführt. Wenn nun laut Schmid dieser Befund entweder als —er oder aber als — e zu lesen sei, ist damit notwendig gesetzt, daß die geschriebenen Bögen nicht »eindeutig aufzulösen« sind, daß — um es genauer zu formulieren — sie nicht distinkt einzelnen Buchstaben zuzuweisen, nicht als diese einzeln zu identifizieren sind. Dann aber ist es eine grobe Verzeichnung des Befunds, zu tun, als könnte nur entweder —er oder —e gelesen werden; und es ist vor allem ein Verstoß gegen die Einsicht, daß bei Büchner unspezifische Bögen für eine ganze Folge von Buchstaben stehen können, die sich im Einzelnen aus dem Zusammenhang ergibt. Im selben Wort hat Schmid zweimal dies Phänomen als solches notiert, noch vor dem —t— die Buchstabenfolge —men— zwei handschriftlichen Bögen entnommen; aber direkt nach demselben —t— soll das streng Entsprechende, nämlich daß zwei undistinkte Bögen für die richtig anzusetzende Buchstabenfolge, hier — ern, stehen, ausgeschlossen sein. Das ist eine illegitime Setzung. Den Schein von Objektivität kann sie annehmen nur, weil Schmid bei der Endung nichts anderes tut, als die, wie er sie nennt, möglichen Lesungen auszurechnen: Sowohl e als auch r können bei Büchner einstrichig vorkommen; zwei Bögen liegen vor, also könnten sie — allerdings nur in logisch unzulässiger Umkehrung der Relation, wie ich noch darlegen werde — ein e und ein r sein; aber weil e auch zweistrichig vorkommt, könnten die Bögen auch nur zusammen ein e sein. Aus diesen beiden Alternativen ergibt sich notiert: | er | e |. Als numerisches Verfahren hat das den Anschein von Exaktheit und enträt ihr zugleich doch vollständig. Denn zweistrichig wäre etwa ja auch der Buchstabe n, auch a kommt bei Büchner zweistrichig vor, ebenso m, o, das r selbst, u, v und w. Alle diese müßten also numerisch in möglichen Lesungen berücksichtigt werden. Schmid nimmt sie aber in die Auswahl seiner Alternativlesungen | er | e | natürlich nicht mit auf. Er hat dort aber e und r, die an jener Stelle bei angestrengtestem Willen nicht distinkt zu lesen sind, aus der Endung ausgewählt, die er damit implizit als erschlossene anerkennt und die richtig lautet: —ern. Wenn jedoch diese vollständige und richtige Endung erst den Rechtsgrund für die anzusetzende Auswahl der möglichen Lesungen abgibt, dann ist es ein klarer Fehler, ihr im selben Moment den Status, Rechtsgrund des Anzusetzenden zu sein, wieder abzuerkennen, indem man ausschließt, sie könne als solche, nämlich vollständig anzusetzen sein — was ja nach dem Phänomen, das Schmid im 230

selben Wort zweimal schon anerkannt hat, ohne weiteres möglich ist. Schmid schließt das aber aus, wenn er zwei falsche Endungen zu den einzig möglichen Lesungen erklärt. Wollte man nach dem gleichen Verfahren auch die kontrahierten Folgen — ierre— und —men— im Wortinnern, einmal drei, einmal zwei handschriftliche Bögen, behandeln, also gleich dem Verfahren Schmids bei »Fortpf |n|a|z, dann würde sich etwa ergeben: Kürass|ie|ir|irr|iee|ire|rre|gi|m|e|n|en|t. Das ist nicht nur unhandlich^ sondern falsch; aber nicht falscher als Schmids Verfahren bei der Endung | er | e |. Es ist aber dieses exakt auch das Verfahren der Editoren, nach dem sie die verkürzten Wortformen erhalten und ihren Kunstdialekt. Der Umgang mit der Notationsweise für alternativ mögliche Lesungen — wo sie sich nicht auf insgesamt uneindeutig identifizierbare Wörter bezieht — schließt im übrigen streng genommen das aus, was Schmid als den mit den Doppelstrichen zu notierenden Fall definiert. Denn dort geht Schmid ja davon aus, daß bestimmte Buchstaben zwar »vorhanden sind, aber [...] nicht bestimmt werden kann, welche von ihnen vorliegen.« Er geht damit aus von verschiedenen, Varianten Möglichkeiten vorliegender Buchstaben oder Buchstabenkombinationen. Das aber wäre nichts anderes als der Fall der »Varianten Buchstaben, Buchstabengruppen«, die Schmid auffaßt, als wären »mehrere Lesungen möglich«. Demnach wäre die Notation mit den Doppelstrichen überflüssig, bloße inhaltliche Wiederholung dessen, was auch durch die Liste der Varianten möglichen Lesungen, nur eben unhandlicher notiert wird. Umgekehrt verbietet sich in solchen Fällen das Verfahren der Varianten Lesungen, wenn einmal der besondere Status jener Buchstaben erkannt und anerkannt ist, die Schmid zwischen die Doppelstriche setzt. Nach seiner unzureichenden Definition ist deren Status noch mit dem der Varianten, nämlich unsicheren Lesungen konfundiert. Faßt man die Definition genauer so, wie ich es aus der Kritik ihrer Widersprüche hergeleitet habe, kann aber in einem Fall wie der Endung des Wortes Kürassierregimentern nicht mehr von Varianz möglicher Lesungen die Rede sein. Was in Schmids Definition die Formulierung des »gesicherten Wortbefundes« meint, ist eben die Form Kürassierregimentern. Und es ist also an drei Stellen des Wortes Buchstaben der Status zuzusprechen: repräsentiert zu sein durch eine Folge unspezifischer Bögen, denen sie als gleichwohl sicher erschlossene Buchstaben nicht distinkt zuzuordnen sind. Schmid hätte also notwendig notieren müssen: Kürass 11 ierre 11 gi 11 men 11 t||ern||.

Wer in der Art, wie die drei Notationsfehler innerhalb einer einzigen Zeile der Schmidschen Transkription hier nach der Logik des von Schmid selbst verzeichneten Phänomens zurechtgerückt wurden, das ganze Manuskript des Woyzeck überprüfen wollte, würde finden, daß damit zahllose Fälle berührt sind, auf der Manuskriptseite 12 allein be231

reits etwa einhundert. Und er würde vor allem finden, daß damit genau auch die Fälle berührt sind, aus denen die Editoren ihre Art Lehre vorn Dialekt im Woyzeck zusammengeflickt haben. In den Zeilen 31 und 32 sind bei Schmid etwa für die Wörter oder, hinunter und hinter die Transkriptionen notiert: öde, h||inun||te, hinte. Was Schmid jeweils als uneingeschränkt zu entzifferndes, eindeutiges Schluß-e notiert, ist einmal nur ein kurzer waagerecht verlaufender Strich von der Mitte des d aus, einmal dasselbe vom unteren Ende des t, einmal bloßer Auf- und Abstrich nach dem t. Man kann also jedesmal allenfalls sagen, es liege ein Bogen vor; keinesfalls ist das von Schmid notierte Schluß-e in irgendeinem der drei Fälle distinkt zu lesen. Aber wenn es selbst jeweils zwei Bögen wären, die eher noch als die tatsächlich geschriebenen Bruchstücke von Bögen ein e regulär ausformen könnten: solange sie nicht distinkt zum e ausgeformt sind, dürfte nicht von der vollständigen Form der sicher anzusetzenden Wörter — oder, hinunter, hinter — abgewichen werden, so als gäbe es bei Büchner nicht die Möglichkeit, daß eine beliebig geringe Anzahl unspezifischer Bögen für eine beliebig große Zahl von Buchstaben steht. Wenn Schmid hier als Wortende e notiert, verfälscht er den Befund: als wäre hier notwendig e geschrieben. Genausogut hätte er dann die Kürassierregimenter etwa als Kürassmginter notieren müssen, weil nach Kürass— drei und nach — gi- zwei Bögen folgen; seine Notation des »Tambmajor« ist von diesem Schlag. Falsch ist der Befund ebenso gefaßt und so, wie die Editoren ihn mißbrauchen, wenn Schmid in der Zeile 31 zweimal notiert »ein«, wo einmal die Form »einen« — »in einen Ziehbrunnen« —, einmal die Form »einem« — »zu einem Schornstein hinunter« — verlangt wäre. Beidemale besteht das Wort handschriftlich aus drei Bögen, auf deren mittlerem ein Punkt gesetzt ist. Also mag der erste Bogen als e aufgefaßt werden, der zweite als i; aber wie der dritte aufzufassen ist, kann nicht bestimmt werden; keinesfalls jedoch als eindeutiges n. Wenn aber seine Zuweisung unsicher ist, muß angesetzt werden, daß der unspezifische Bogen für die Endung insgesamt steht; Schmid müßte ei||nen|| und ei||nem|| transkribieren. Die scheinbare Zurückhaltung, die er übt, ist das glatte Gegenteil; ist nichts Geringeres als ein schwerer editorischer Eingriff, bzw. begründet einen solchen. Denn nicht n ist notiert, sondern ein unbestimmter Bogen, der aufzulösen ist nach dem, was Schmid den gesicherten Wortbefund nennt. Die Editoren aber nehmen dies Unbestimmte als das, was ihnen paßt. Lehmann und Bornscheuer etwa schreiben hier: »in ein Ziehbrunn«; aber: »zu eim Schornstein«. Der graphische Befund zwar ist verkürzt, aber eben in der Weise aufzulösen, wie solche Kontraktionen regulär aufzulösen sind. Die Editoren geben dagegen eine verkürzte Wortform, die aber in der Wahl des in der Verkürzung liegenden Buchstabens — einmal n, einmal m — sich in nichts auf den handschriftlichen Befund stützen kann. Daher ist diese verkürzte Wort232

form ein schwerer editorischer Ein- und Fehlgriff und nicht etwa behutsames Abwägen des Befunds; ist sie dessen grobe Mißkennung. Die Willkür, die solchen Eingriff kennzeichnet und die lachhaft offenbar wird, wenn der gleiche handschriftliche Befund einmal zu »ein«, einmal zu »eim« verballhornt wird, sie ist begründet in der Inkonsequenz, die ich an Schmids Transkription auf gewiesen habe: daß in manchen Fällen die verkürzte Graphic richtig zur vollen Buchstabengruppe ergänzt wird, in anderen Fällen aber ohne Recht genommen als ein beliebig aus jener ausgewähltes Einzelzeichen. In der Edition führt solche Inkonsequenz ständig zu den läppischsten Widersprüchen. Ich greife nur ein Beispiel aus den Hunderten heraus — mit ihnen befaßt sich bereits Mayers Aufsatz. Im Manuskript des Woyzeck steht Seite 42, Zeile 20 f. der Satz: »Du mußt Schnaps trinken und Pulver drin, das schneidet das Fieber.« Die Endungen der Wörter trinken, Pulver und Fieber sind handschriftlich jeweils nur als rudimentäre Striche ausgeführt. Das Verbum edieren Lehmann, Bornscheuer, Poschmann in der Form »trinke«, nehmen dort die verkürzte Graphic also als verkürzte Wortform, während es ihnen keine Schwierigkeiten bereitet, aus der verkürzten Graphic der Wörter Pulver und Fieber, die sie richtig als solche edieren, die vollständige Endung herauszulesen. Was sich als feines Bedenken des Befundes gibt, ist in Wahrheit nicht einmal mehr nur bedenklich, sondern ist mutwillige Verhunzung der Sprache. Wenn der Befund einmal, wie verkürzt auch immer, nicht das Ansetzen der richtigen Endung verhindert — wie bei »Pulver« und »Fieber« —, darf nicht das andere Mal der gleiche Befund als sicher und absichtsvoll verkürzt notierte Wortendung genommen werden. Das beliebige Changieren darin, verkürzte Graphic einmal als solche zu nehmen und im nächsten Moment als zwingend klar notierte verkürzte Wortform, zahllose Male vollzogen, ergibt aber das grausige Mischmasch aus Hochdeutsch, Umgangssprache und einem rechten Kunstdialekt, das den Woyzeck in den neueren Editionen entstellt. Dabei ist die editorisch geforderte Konsequenz ohne Zögern so zu benennen: Wenn auch nur in den wenigen Fällen, wo es Schmid durch seine Notation mit den doppelten senkrechten Strichen tut, zu erkennen und anzuerkennen ist, daß in Büchners Handschrift unspezifische Bögen der Art, wie sie auch jeden einzelnen Buchstaben ohne Ober- und Unterlänge formen können, für eine ganze Buchstabenfolge stehen, deren einzelne Buchstaben nicht von den Bögen distinkt ausgeformt sind und nicht ihnen distinkt zugeordnet werden können, dann darf nirgends mehr, wo in der Handschrift solche Bögen vorliegen, der gleiche Fall ausgeschlossen werden. Daß aber solcher Fall anzuerkennen ist und häufiger noch als bei Schmid verzeichnet, steht nach dem Dargelegten außer Frage. Und er liegt nicht allein im Woyzeck vor, sondern auch in den übrigen Manuskripten Büchners; und zwar dort einige tausend Mal. 233

In Büchners Schuler- und philosophischen Skripten nämlich gehört das Phänomen der graphischen Defizienz zum Allergeläufigsten, und jedesmal steht ohne allen Zweifel fest, daß die vollständige hochdeutsch notwendige Buchstabenfolge erschlossen und angesetzt werden muß, weil Büchner sie mitgedacht hat. Denn selbst die Woyzeck-Editoren werden nicht vermuten wollen, Büchner hätte den Erdkunde-Unterricht auf Hessisch mitgeschrieben, hätte Cicero in die Umgangssprache übersetzt, Descartes mundartlich referiert, Spinoza in dialektal verkürztes Deutsch gebracht und Tennemanns Philosophiegeschichte beim Exzerpieren rasch hessisch eingefärbt. Doch bevor ich das bislang Hergeleitete durch die Aufschlüsse aus Schüler- und philosophischen Skripten weiter absichere, sei noch einmal festgehalten, daß bereits allein aus den Befunden der Leonce und Lena- und Woyzeck-Manuskripte und aus den Widersprüchen, in die sich deren falsche Beurteilung verwickeln muß, sicher bestimmt ist, daß jene unspezifischen Bögen, welche die Editoren zur Verkürzung von Wortformen nutzen, regulär als Repräsentanz der vollständigen Buchstabenfolge gelten müssen und also editorisch aufgelöst werden in alle die Buchstaben, die zur vollen Wortform notwendig sind. Ich werde diese Buchstaben, welche in jenen Bögen nicht distinkt ausgeführt, aber von Büchner gemeint sind, im folgenden verschliffene nennen. Anhand der Schülerskripten, Zeugnissen von Büchners Hand aus seinem zwölften bis siebzehnten Lebensjahr, läßt sich die Genese jener Schreibgewohnheit aufs schönste verfolgen; ich zitiere diese Skripten im folgenden nach dem Seiten- und zeilengetreu transkribierten Exemplar, das ich an der Marburger Forschungsstelle Georg Büchner erstellt habe. Büchners Hefte sind vor allem in den ersten Jahren kalligraphisch genau geschrieben, bevor sie sich bis gegen Ende seiner Schulzeit im Schreibstil bereits den wüsteren Passagen des Woyzecfe-Manuskripts annähern. Als Vorläufer der Buchstabenverschleifung können Versehen gelten, wie sie Büchner bereits im allerfrühesten Heft unterlaufen, das sicher noch vor seiner Zeit im Darmstädter Pädagog liegt. So heißt es dort von der Kresse, sie habe »einen dünnen Stengel« (14.4 f.), und Büchner zieht in dem Adjektiv nach dem vierfachen Auf- und Abstrich des Doppel- statt der notwendigen Folge weiterer vier Bögen für — en lediglich deren zwei, ein Versehen, das in der Kurrentschrift nahe genug liegt und nicht ferner als das komplementäre, etwa ein n auch einmal mit drei Bögen zu ziehen (42.1). Im Geographieheft aus dem Jahr 1825 ist Zürich erwähnt, »mit einträglichen Fabriken« (50.5), wobei die Adjektivendung nach dem h ebenfalls nur aus zwei Bögen besteht; die Woyzeck-Editoren würden »mit einträgliche Fabriken« schreiben. Was aber hier noch vereinzeltes Versehen, Verschreiben ist, beginnt schon in einem etwas späteren Teil des Geographieheftes, über Asien, etwas Systematisches anzunehmen. Auf Seite 110 ist zweimal am Zeilenschluß und einmal innerhalb 234

der Zeile die Endung eines Wortes, die aus den Buchstaben e mit r oder n gebildet ist, nur durch zwei bzw. im zweiten Fall nur durch einen Bogen repräsentiert. Ich notiere diese Wörter nach der Konvention, die ich für die Transkription der Schülerskripten festgelegt habe, nämlich die verschliffenen Buchstaben einfach petit zu setzen, ohne weitere Klammern oder Striche: aber, unter=/j och ten, Landschaften. Wer es den Woyzeck-Editoren nachmachen wollte, könnte mit ebenso viel Recht, wie diese bei der Notation ihrer speziellen Dialekt- oder umgangssprachlichen Formen haben, lesen: abe, untejochten, Landschafte. Der Grund der graphischen Verkürzung der ohne jeden Zweifel hochdeutsch vollständig gemeinten Formen ist hier aber offensichtlich der, daß Büchner am Ende der Zeile — Büchners Hefte haben bis zuletzt in aller Regel einen säuberlich gezogenen oder gefalteten, jedenfalls nach Möglichkeit beim Schreiben eingehaltenen Rand — in Bedrängnis gerät mit dem verbleibenden Platz und deswegen das zu schreibende Wort an seinem Ende verkürzt, indem er eine geringere Anzahl unspezifischer Bögen für die ganze Endung einstehen läßt. Büchner führt also die Endung nicht säuberlich aus, sondern verschleift sie zu einer Art Kürzel. Solche Verschleifung aus Raumnot vor dem Zeilenende wandert dann im Verlauf des Heftes bald auch von der Endung ins Wortinnere, so daß etwa das Wort entstanden auch die mittleren Buchstaben nur verschliffen zu einem ein/igen Bogen trägt (113.4). Bald erstreckt sich die Verschleifung schon auch über eine größere Anzahl von Buchstaben: kleinerer (120.13: »Eine Menge größerer und kleinerer Inseln«), in zwei Bögen, oder betrifft auch in der Endung Buchstaben zwischen distinkt geformten: Zusammensetzung (148.14), in einem Bogen. Lange aber ist das Phänomen gebunden an die Platzbedrängnis in der Zeile; ich notiere Beispiele, wo jeweils am Zeilenende Buchstaben zu zwei Bögen verschliffen sind: Präsidentschaften (116.8), niedergelassen (120.7), opferten (168.8), welchem (168.11), welcher (168.13), belagert (191.1), Spartaner (191.27), gefangen (192.1), Messenier (192.6). Einmal, in der sauberen Abschrift eines Schiller-Gedichtes, erzwingt es auch die Überlänge einer Zeile, daß Büchner abkürzt und verschleift: nach langem verderbl/chem Streit (151.19). Auch, wo er ein Wort über der Zeile einfügt, bei beengtem Raum, hilft das Mittel: derselben (167.17). Lange bleibt die Verschleifung solches Mittel zum Zweck, verschiedentlich im Wortinnern: eigentlich (228.2), zusammengesetzt (232.24), Verkürzung (244.10); weitere Buchstaben ergreifend: Haar (238.21); und zuweilen gar im lateinischen, einem sonst der empfindlichen Flexionsendungen wegen vor Verschleifung gefeiten Wortbestand: celerrime (285.28). 1828 aber Büchner ist inzwischen in Prima — emanzipiert sich die Verschleifung langsam vom Zeilenende; -so in einem Heft zur Geschichte Roms: Lucanienser (293.10), während (301.21); und beginnt habitualisiert zu werden: zerstört (298.9,18, 304.18). Noch sind Verschleifungen von so 235

rigider Art die Ausnahme: auswandern (304.18), zwischen —s— und —d— und als Endung jeweils zwei Bögen; angewiesen (304.19), zwischen — g— und —s— ein Bogen, Endung zwei Bögen; die Eingeborenen (333.2), drei Bögen. Im Verlauf aber dieses Geschichtshefts steigt dann die Frequenz kontinuierlich an, so daß zunächst etwa auf eine Seite mit vierundzwanzig Zeilen zwölf Verschleifungen kommen, zuletzt jedoch gar auf manchen Seiten die Zahl der Verschleifungen die der Zeilen übersteigt. In den Heften der obersten Klassenstufe, der Selecta, die Büchner ab Wintersemester 1829 besucht, ist dies das konstante Bild. Einen Eindruck davon können Manuskriptseiten aus den Schülerskripten geben, die in dem Büchner gewidmeten Insel-Almanack und dem Katalog zur Marburger Büchner-Ausstellung abgebildet sind.8 Ich nenne daraus-einige Wörter mit Buchstabenverschleifungen; im Almanach Seite 24 auf der unteren Abbildung: genügen (Z. 4), eingedrungenen (Z. 6), Erläuterungen (Z. 9), Verstand (Z. 10), geprießenen (Z. 16); im Katalog Seite 53 links: worden (Z. 5), Semitischen die (Z. 8), entstanden (Z. 12), worden (Z. 16); rechts etwa: Entzifferung (Z. 3). Zwar schlägt sich Büchners Bemühung, bei einem Neuansatz — von Heft, Kapitel oder bloß Abschnitt — sauberer zu schreiben, immer wieder in der geringeren Häufigkeit von Verschleifungen nieder, doch stellen sie sich regelmäßig nach kurzer Frist und zuweilen recht rapide wieder ein. Verschliffen werden schließlich fast alle Buchstaben des Alphabets: a c d e f g h i l m n o p r s t u v w ä ü; es fehlen also nur b, j, k, q, x, y, z, ß und ö. Die längste Folge von Buchstaben, die von den verschleifenden Bögen repräsentiert wird, zählt auf acht: elfenbeinernen (584.2); sieben sind es in »Alterthum« (577.14). Diejenige Buchstabenfolge, die den Woyzeck-Editoren beliebtester Gegenstand der Verkürzung ist, sie findet sich mit Abstand am häufigsten verschliffen: die Folge —en—, in rund eintausend Fällen. Fünfhundertmal ist die Folge —er— verschliffen. Es folgen, mit einer Frequenz zwischen einhundert und zwanzig: nen, ren, ern, em, ei, an, ne, re, ere, ie, un. Insgesamt sind über zweihundert unterschiedliche Buchstabenfolgen in Verschleifungen notiert. Ihre einzelnen Vorkommen zählen auf rund zweieinhalbtausend. Die philosophischen Skripten belegen, daß sich damit die Eigenart des Verschleifens in Büchners Handschrift fest, habituell eingerichtet hatte. Obwohl diese Skripten, die immerhin Grundlage für Büchners Vorlesungen zur Philosophie sein sollten, insgesamt sehr sauber und klar geschrieben sind, gehören die verschilffenen, also nicht als solche lesbaren Buchstaben zum gewöhnlichen Schriftbild. Ich mache kurz die denjenigen zu den Schülerskripten entsprechenden Angaben: Es kom8 Insel-Almanach auf das Jahr 1987. Georg Büchner. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. - Frankfurt a.M. 1987, S. 24; Katalog Marburg, S. 53.

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men in Verschleifungen zu stehen alle Buchstaben des Alphabets außer j, k, und y. Die Folge —er— ist weit über dreitausendmal, die Folge —en— über zweitausendmal verschliffen. Des weiteren, mit einer Frequenz zwischen vierhundert und einhundert — bis zwanzig zu gehen, hieße die Liste zu sehr verlängern —: ne, re, nen, ere, ern, eren, ie, ei, ren, me, or. Insgesamt sind über dreihundert unterschiedliche Folgen verschliffen. Einzelne Vorkommen sind es weit über zehntausend. Dem, der nach der Transkription erst der Schülerskripten, dann der philosophischen Skripten wieder in die Transkription und Editionen des Woyzeck Einblick nimmt, dem wird man nunmehr nachfühlen können, wie tief absurd deren letzte Jahrzehnte ihn anmuten müssen, und daß er darüber die Versuchung spürt, wenn schon Büchner keiner war, jedenfalls selber Nihilist zu werden, zernichtet vom Fatalismus der Wissenschaftsgeschichte, und aufrecht erhalten nur durch die Hoffnung, diesem Abschnitt von ihr selber das Fatum zu sprechen: als Atropos, die den Faden abschneidet. Um einen Eindruck davon zu geben, wie notwendig dabei und wie sicher die Verschleifungen, jene unspezifischen Bögen, in Buchstabenfolgen aufzulösen sind und nicht etwa in beliebig ausgewählte Einzelbuchstaben, gebe ich je eine kurze, ganz durchschnittliche Passage aus den Skripten zu Descartes, zu Spinoza und zur griechischen Philosophie wieder. Und zwar notiere ich überall dort, wo handschriftliche Bögen nicht distinkt zu Buchstaben geformt sind, eine bloße Wellenlinie. Außerdem lasse ich diejenigen Buchstaben, die im. Manuskript vollständig fehlen, ebenfalls weg; diese fehlenden Buchstaben sind ja für die Edition des Woyzeck von kaum geringerer Bedeutung als die verschilffenen. Es mag sich durch solche Beispiele in etwa auch ein Bild davon geben, wie Büchner schreibt.

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Wollte man einwerfen, aus d. Umstände, dß ich keinen B~g ohne That denken kan, folgt doch nicht, dß ich Bg und That als ig~dwie existirend denken müße, so antwortet Cartesius, freilich folgt nicht daraus, dß Bg od~ That igendwie existiren müßten, sond~ nur, dß d. Bg ohne That nicht gedacht wden köne u. umgekehrt; u. weil ich Gott nicht and~s als sy~d denken kan, folgt, dß das Dasyn von Gott nicht getrent w~den köne und dß er also existire (Cartesius, p.15; entspricht HA II, S. 144,8-15) Giebt man ei~l Spinoza die U~dlichk~t der Subst~z zu, so ~ß man auch das Ueb~g~ zugstehen, d~ße U~dlichk~t beruht ab~ auf der 5 Prop, nämlich darauf, dß es keine 2 gleichen Subst~z~ gäbe, w~l man sie nicht vonei~d~ unt~scheiden köne, weil sie dan indem sie sich gg~seitig begr~zen in Eins zusarnenfließen würden. (Spinoza, p.59; entspricht HA II, S. 247,14-19)

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waren die Elemente bloß in dem Unendlichen enthalten, und da aus d—ßem, sein— Unv—and—hk—t halb—, nichts in sie übgeh— und sie nicht in es zu~ckkh~ könten, so müßt— sie nothwdg—s— selbst, wenigste—s de— Zeit mch, unendlich syn. Sollte Anaximand—s [Unvgäglighk—t] Unv—and—lichk— nicht wohl Unv—gä—glichkeit ausdrü—k—. (Griechische Philosophie, p.8; entspricht HA II, S. 304,37-305,1)

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Daß ergänzt werden muß, ist keine Sekunde fraglich; wie geläufig das Phänomen, ist unübersehbar. Auf wenige Eigenheiten nur sei eingegangen. Im ersten Abschnitt schreibt Büchner »freilich«, wenige Zeilen nach dem Zitierten das gleiche Wort »f~lich«, ein Wechsel, der belegt, daß Büchner nicht etwa planmäßig die Buchstaben im gleichen Kontext verschleift; er tut es hier, schreibt aber dort aus. Entsprechendes ist zu sehen an dem Wort U~dlichk~t im zweiten Abschnitt und dem »Unendlichen« im dritten Abschnitt, und in diesem außerdem an den unterschiedlichen Ausformungen des Wortes Unveränderlichkeit und ebenso denen des Wortes Unvergänglichkeit. Das Nebeneinander von »zu~ckkh~« und »könten« gehört zu dem typischen Fall auch im Woyzeck, wo die gleiche Endung in engster Nachbarschaft einmal verschliffen ist, einmal nicht. Die Editoren läsen »zurückkehre könnten« und würden wieder einmal einen der differenzierten Sprachebenen-Wechsel Büchners ansetzen. Die Schwundstufe »Bg« für den »Begriff« zeigt Büchners Technik, dort, wo ihm das Gemeinte klar ist, auch in extremer Weise, hier durch Buchstabenauslassung, abzukürzen; zu transkribieren wäre so: »Begriff«. Wie nahe beieinander dabei Verschleifung und Auslassung von Buchstaben liegen, belegt Büchners Wechsel zwischen »B—g« in der ersten und »Bg« in der zweiten Zeile des Gzrtesms-Abschnitts, bei welchem ersteren er das sonst ausgelassene e zwischen B— und —g noch durch einen es andeutenden Bogen repräsentiert. Habituelle Buchstabenauslassungen zeigen »dß« für »daß« und die zu y verkürzte Verbindung —ey— in »syend« oder »Dasyn«. Nicht anders etwa schreibt Büchner das Wort »bey« meist »by«. Im zweiten Abschnitt erscheint einer der Klassiker der Woyzeck-Misere, das »einmal«, das mit Vorliebe in der faulen Kompromißform — die Verschleifung weist an den verschiedenen Stellen unterschiedlich viele Bögen auf — »eimal« für konstituierbar gehalten wurde. Wie sehr die Verschleifungen zuweilen das Entziffern von Wörtern überhaupt erschweren, belegt schließlich der Umstand, daß Lehmann das Wort Unveränderlichkeit bei dessen erstem Vorkommen im dritten Abschnitt, in der Form »Unv~änd~-hk~-t«, zu »Unendlichkeit« verlesen hat und damit Büchner wie an so mancher anderen Stelle — bislang unvermerkt — unterstellt, philosophischen Unsinn geschrieben zu haben. Zum Vergleich folge hier nun in derselben Weise notiert wie die Abschnitte aus den philosophischen Skripten einer aus dem Woyzeck-Manuskript: 16,1—8. Haupt— K—l, will er —schoß, will — Pa— Kugel v— d— Kopf hab —r —sticht —h mit s— Äug—, und ich m— es gut ihm, weil er ein gut— Mensch ist Wzk, ein gut— Mensch. Doct— Gesihts—kln starr, gspant, zuweil— hüpf—d, Haltg aufg—ht gspant. Wzk. Ich geh! Es ist viel möglich. Der Mensch! es ist viel —glich. Wir hab— schön Wetter H. Hauptman Sehn, s— so ei— schö—, fest— g—uen Himel, man 240

könte Lust bekom, ei~ Klob~ hi~zuschl~g~ und sich daran zu häng—, nur wg~ des Gedankst~ch~s zwisch~ Ja, und ~ Zwei besondere Fälle der Notation will ich darin erläutern. Zunächst die vier Formen in der Replik des Hauptmanns: ~, ~h, s~, m~. Aufzulösen sind sie in: ein, mich, seinen, meine — dies letztere möglich auch in der gebräuchlich apokopierten Verbform »mein«. Jeweils ist dort über den Bögen, die nicht bestimmt einem Buchstaben zuzuordnen sind — es sind der Reihe nach drei, vier, zwei und ein Bogen — ein i-Punkt gesetzt, dessen Zuordnung wiederum zu einem der Bögen, der damit als i identifiziert wäre, nicht zu entscheiden ist. Es ist durch den Punkt zwar gewiß, daß Büchner ein i als geschrieben mitdenkt, aber dies i bleibt nichtdistinkter Bestandteil jener Bögen, die als verschliffen trotzdem noch sicher genug in die notwendigen Buchstaben aufzulösen sind., Das »ein« etwa, schon regulär nur aus unspezifischen Bögen zu schreiben, ist hier wie auch sonst oft im Woyzeck eine so wenig in sich klar unterschiedene Folge von Strichen, daß trotz der naheliegenden Annahme, das e sei von den ersten beiden Bögen bedeutet, nicht zu sagen ist, ob der dritte das i sein soll oder doch bereits der zweite, und wo folglich das n beginne oder ob es überhaupt geschrieben sei: Das ganze Wort also besteht aus einer Verschleifung, deren Bedeutung aber, gesichert auch durch den wenngleich frei darüber gesetzten i-Punkt, der Zusammenhang ohne Zweifel als den unbestimmten Artikel ergibt, als die drei Buchstaben ein. Bei »mich« wäre man auch wohl versucht, die ersten drei Bögen als m zu lesen, und sicher begann Büchner diese Bögen auch zu schreiben, indem er das m als den ersten Buchstaben im Sinn hatte. Dennoch ist durch die Fortführung der Bögen nicht von Büchner distinkt ausgeformt und ist nun also nicht zu entscheiden, ob der vierte dann das i oder bereits das c sein soll; und weil doch der i-Punkt gesetzt ist, muß deshalb für den letzteren Fall auch offengelassen werden, ob nicht das i bereits etwa als der dritte Bogen zählt. Die Unbestimmtheit der Bögenfolge zwingt, sie als verschilffene zu klassifizieren: mich. Von den vier Bögen, die das »m~« für »meine« formen, sind die ersten drei klar genug vom vierten abgetrennt, um als m distinkt zu sein. Dennoch darf der vierte Bogen hier nicht als i genommen werden, wie Schmid es tut: »mi«; denn obgleich über jenem der i-Punkt schwebt, kann der hier nur besagen, daß innerhalb der Buchstabenfolge, die Büchner in einen Bogen verkürzt hat, ein i enthalten und mitgedacht ist: meine. Entsprechend kann ein u-Haken über unspezifischen Bögen liegen und zwar anzeigen, daß zu den in ihnen verschliffenen Buchstaben ein u gehört, aber dennoch nicht zweien der Bögen eindeutig zuweisbar sein; so etwa in dem notierten Spinoza-Abschnitt bei dem Wort ~ß/muß. Zu erläutern ist als andere Besonderheit der Fall, daß wie schon bei »B~g« für »Begri/jf« die Verschleifungsnotation nicht mehrere, sondern

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nur einen Buchstaben umfaßt; so etwa auch in der Stammsilbe des Verbs »hi~zuschl~g~«, aufzulösen in »hineinzuschlagen«. Zwischen —l— und —g— ist eine Verschleifung notiert, obwohl sie nur in einen einzelnen Buchstaben aufgelöst wird. Bisher aber war ausschließlich von Fällen die Rede, wo Büchner eine ganze Folge von Buchstaben verkürzt. Allerdings kann die Verkürzung sehr wohl ja auch einzelne Buchstaben betreffen. Die Buchstaben l und g sind beide distinkt ausgeformt, und zwischen ihnen aber nur ein ganz nackter Bogen gezogen, den man als a nicht erkennt, sondern in genau derselben Weise erschließt wie sonst die Buchstabenfolgen, die Büchner verschleift. So wenig man diesen Fall beim Lesen der Handschrift als auffällig vermerkt, eben weil nur ein einziger Buchstabe erschlossen werden muß, welcher dank der Redundanz der Sprache sich in der Regel ohne weitere Überlegung wie von selbst ergibt, so häufig müßte man den Fall doch verzeichnen, wollte man ihn wirklich streng nehmen. Auch nämlich bei den Stammvokalen etwa in »Kugel«, wo immerhin noch der u-Haken zur Identifikation hilft, in »Kopf« oder in »hab« wäre es zu rechtfertigen, sie in einer differenzierten Umschrift, weil sie nicht eigentlich distinkt ausgeformt sind, sondern von unspezifischen Bögen bloß repräsentiert, petit wiederzugeben und damit der Verschleifung gleichzusetzen. Büchner hat sich hier, genauso eben wie bei ganzen Folgen von Buchstaben, lediglich das vollständige Ausführen des leicht zu erschließenden Buchstabens erspart. Das aber heißt nicht, daß von nun an ein einzelner Bogen, wie er an jener Stelle das a repräsentiert, als distinktes Zeichen für a genommen werden dürfe. Sondern als nicht-distinkt ist er Platzhalter für eine Buchstabenfolge oder für einen einzelnen Buchstaben, als welcher eben auch ein a rangieren kann. Zwar kann jeweils, durch die distinkte Umgebung erst eindeutig, ein Buchstabe wie das a durch einen einzelnen Strich ausgeführt sein. Das aber darf keinesfalls logisch umgekehrt werden zu dem Schluß, daß ein einzelner Strich immer jeweils Ausführung eines ganzen Buchstabens sein könne. Die Verweisfunktion ist nur in dieser einen Richtung zulässig: vom graphischen Zeichen auf die gemeinten Buchstaben; nicht aber von den gemeinten Buchstaben auf das graphische Zeichen, als wären sie wirklich wie in einer distinkten Kürzel darin eindeutig gefaßt. Diese Asymmetrie der Relation ist von größter Bedeutung; denn eben sie ist mißachtet etwa in Schmids Ausrechnen der Endungsbuchstaben von den Kürassierregiment | er | e | und ebenso in derjenigen der Buchstaben in den verkürzten Wortformen, deren sich die Editoren so häufig bedienen. Für eine differenzierte Umschrift dürfte allerdings ohne Gefahr die Konvention festgelegt werden, daß man geläufig defizient geschriebene Einzelbuchstaben — etwa einstrichiges e —, wenn sie also einzeln zwischen distinkt geschriebenen anderen Buchstaben stehen, nicht eigens durch Petitsatz als verschliffen einstuft oder kennzeichnet. 242

Eine Verkürzung wie die des Buchstaben a ist dabei natürlich aufs engste verwandt mit dem kompletten Ausfall eines oder auch von mehreren Buchstaben. Nur daß Büchner das eine Mal überhaupt noch, wenn auch unvollständig, graphisch etwas anstelle des ausgeführten Buchstabens notiert, das andere Mal nicht; so in engster Nachbarschaft bei seiner Schreibung »wg~« für »wegen«. Der fehlende Buchstabe e und die verschilffenen Buchstaben — en haben insofern den gleichen Status: nämlich von Büchner mitgedacht zu sein und sicher zu ergänzen. Es sei deshalb noch angegeben, wie es in Schüler- und philosophischen Skripten mit dieser Art fehlender Buchstaben sich verhält. Aus dem Alphabet kommen sämtliche Buchstaben in Auslassungen vor außer j, q und ß, und zudem außer v und in den Schülerskripten bzw. ö in den philosophischen Skripten. Die längste Folge ausgelassener Buchstaben umfaßt dort sechs, hier fünf. Am häufigsten ist jeweils einfaches e ausgelassen, dort über sechshundert-, hier über dreitausendvierhundertmal. Es folgt einfaches n, mit rund zweihundertfünfzig und rund eintausendfünfzig Auslassungen, und weiter, als die nächsten zehn in der Reihenfolge der Häufigkeit, mit der sie ausgelassen werden: r, i, a, en, ei, un, er, au, u, c in den Schülerskripten; a, r, er, ie, en, i, c, un, ni, ri in den philosophischen Skripten. Die Zahl unterschiedlicher Buchstaben oder Buchstabenfolgen in Auslassung beträgt dort über einhundertzehn, hier nur fünfundachtzig; die Summe der Einzelvorkommen dort über zweitausendzweihundert, hier jedoch über siebentausenddreihundert. Büchner hat also in den späteren Jahren einen engeren Kanon von Auslassungen entwickelt, der dafür umso stärker habitualisiert ist.9 Wenn man folglich nach der Technik, die sich an den umfassenden Corpora jener Skripten als unabdingbar notwendig erweist, das oben wiedergegebene Stück aus dem Woyzeck auflöst und ergänzt, ergibt sich dieses Bild:

9 In den philosophischen Skripten verhalten sich Auslassungen im Wortinnern zu solchen am Ende eines Wortes wie 40:1, Verschleifungen nur etwa wie 1,2:1; für Defizienz allgemein ergibt sich ein Verhältnis von 2,6:1. Das Ungleichgewicht bei den Buchstabenauslassungen ist sicher durch die hohe terminologische Redundanz der dort verwandten philosophischen Sprache und durch die daraus folgende Neigung bedingt, den Wortkörper abzukürzen. In den handschriftlichen Bruchstücken aus Leonce und Lena beträgt aas Verhältnis der Defizienz allgemein 1,3:1, während Mayer für die von ihm analysierte Manuskriptseite aus Leonce und Lena oben, S. 207, ein Verhältnis von 1:2 nennt. Die Diskrepanz zwischen beiden Verhältniszahlen, die bleibt, auch wenn die defizienten Formen, die Mayer auflistet, genau nur ein Verhältnis von 1:1,6 ergeben, erklärt sich damit, daß er die Vorkommen von »dß« und »sy« nicht in die Liste und auch nicht in die Rechnung aufgenommen hat und daß er eben verschiedentlich noch Verschleifungen im Wortinnern aufgrund der anderen Bewertung des Befunds übergangen hat. 243

H a u p tmann Kerl, will er erschoßt« (werden), will (er) ein Paar Kugelw vor den Kopf haben er ersticht mich mit seinen Augen, und ich meine es gut (mit) ihm, weil er ein guter Mensch ist Woyzeck, ein guter Mensch. Doctor Gesichtsmuskeln starr, gespant, zuweilen hüpfend, Haltwwg aufgerichtet gespant. W o y z e c k . Ich geh! Es ist viel möglich. Der Mensch! es ist viel möglich. Wir haben schön Wetter H.(err) Hauptman Sehn, sie so einen schönen, festen grauen Himel, man könte Lust bekomew, einen Kloben hineinzuschlagen und sich daran zu hängen, nur wegen des Gedankenstricheis zwischen Ja, und nein

Poschmann etwa macht daraus dies: » H A U P T M A N N : Kerl, will Er erschoß, will [Er] ein Paar Kugeln vor den Kopf haben? Er ersticht mich mit Sei Auge, und ich mein es gut [mit] Ihm, weil Er ein guter Mensch ist Woyzeck, ein guter Mensch. D O C T O R : Gesichtsmuskeln starr, gespannt, zuweilen hüpfend, Haltung aufgerichtet gespannt. W O Y Z E C K : Ich geh! Es ist viel möglich. Der Mensch! Es ist viel möglich. Wir habe schön Wetter Herr Hauptmann. Sehn Sie, so ein schön festen grauen Himmel, man könnte Lust bekomm, ein Kloben hineinzuschlage und sich daran zu hänge, nur wege des Gedankstricheis zwischen Ja und Nein« 10

Fast möchte man sich den Kommentar ersparen. Zwei vollständige Wörter ergänzt er, läßt aber ein drittes weg; und das um Erhaltung der so kostbaren Redewendung willen: »will Er erschoß?« Noch Mayer erscheint sie so zwingend, daß er sie ediert. An den sechzehn Stellen, wo Büchner Buchstaben nicht ausgeführt hat, ergänzt Poschmann dreizehnmal das Notwendige, dreimal aber dann doch nicht. Achtunddreißigmal weist die Handschrift in der Passage Verschleifung auf. Achtundzwanzigmal löst Poschmann sie zur vollen Buchstabenfolge auf — mit Recht, und wie sollte er jeweils auch nicht —, aber zehnmal läßt er es dann sein und setzt dafür frei gewählte und ausgezählte Buchstaben, die ihm die gewünschte Wortform ergeben; so daß es zu der nunmehr, wie ich hoffe, klassischen Sequenz kommt: »ein schön festen grauen Himmel«. An diesem wird sich kein Blau halten können. Die Willkür im Umgang mit dem handschriftlichen Befund und damit seine verfälschende Wiedergabe ist offenbar. Der Sinn der Verfälschung konnte nur sein, Büchner zu einem frühen Arno Schmidt zu machen, der die Wörter in der Art ihrer Aussprache notiert und somit eine Art Aussprache-Partitur für die Schauspieler des Woyzeck liefert. Nur, wie unbeholfen hätte sich Büchner dann angestellt, daß er hier sozusagen >ein'n schön'n< notiert, aber dann — obwohl es seine Verschleifung auch dort hergeben würde — leider nicht >fest'ngrau'nbekomm'm< ansetzen soll — hier ist übrigens auch äußerst wichtig, daß Büchner das Doppel-m als m, als m mit Geminationsstrich, nicht als zwei m notiert hat; diese Schreibweise dürfte deshalb in einer differenzierten Umschrift keinesfalls wie bei Schmid in die Doppelbuchstaben aufgelöst werden —, warum dann laut Poschmann nicht >Klob'nzwisch'nberücksichtigenBuchstabentreue< festhalten zu können und es weiter zugrunde zu legen, muß er auf die Notation von Alternativen kommen: Es sei entweder der eine oder der andere oder ein weiterer Buchstabe repräsentiert. Dies Schmids Regel Nr. 13: »Sind mehrere Lesungen möglich, so werden sie nacheinander angeführt.« Innerhalb der Alternativen ordnet Schmid maximal jedem einzelnen Bogen einen Buchstaben zu, also bei zweistrichigem Befund etwa | e | er |: entweder zweistrichiges e oder einstrichiges e mit einstrichigem r. Damit bleibt das Prinzip der Buchstabentreue zwar dem Buchstaben nach — unter Mißachtung der oben erwähnten Relationsasymmetrie - eingehalten, seinem Gehalt nach aber ist es bereits gebrochen. Denn die Relation 1:1 zwischen Zeichen und Buchstaben ist darin so erweitert, daß bereits ein einzelner Bogen als Zeichen gilt und damit einen Buchstaben eindeutig wiedergeben soll. Die Wahlmöglichkeiten der alternativen Lesungen aber besagen für sich bereits, daß nicht mehr zu entscheiden ist, ob erst die Verbindung zweier Bögen das eine, ganze Zeichen ist oder bereits jeder einzelne der zwei Bögen ein ganzes, für sich abgetrenntes Zeichen, dem ein ganzer Buchstabe korreliert. Wenn folglich diese Integrität des Zeichens nicht mehr gegeben ist, unabdingbare Voraussetzung eines Prinzips, das Zeichen und gemeinte Buchstaben 1:1 korreliert, dann wird das Prinzip nicht mehr mit Recht beibehalten; es gilt nicht mehr. Aber nicht allein Regel Nr. l, die das Prinzip aufstellt, ist mit Regel Nr. 13 durchbrochen, sondern ebenso verliert bereits Regel Nr. 2 ihren Sinn. Denn die zwei in der Handschrift aufeinanderfolgenden Bögen des genannten Beispiels | e | er |, die in der zweiten Alternative ja jeweils für sich einen Buchstaben bedeuten sollen, können nicht mehr laut Regel Nr. 2 als Ansatz zu einem Buchstaben legitimiert werden, eben weil nicht auf den Ansatz zu einem Buchstaben ein weiterer Ansatz direkt folgen kann, ohne daß der erstere Ansatz, sollte er denn seinen Namen mit Recht tragen, hätte zum vollen Buchstaben ausgeführt werden müssen. Beide Striche wären, als —er gefaßt, unmöglich anders denn als vollständige Einzelzeichen zu klassifizieren, nicht als bloße Ansätze zu ihnen. Und also dürfte Regel Nr. 2 nicht angewandt und die beiden Striche nicht jeweils als einzelner voller Buchstabe genommen werden; sondern notwendig als Verschleifung: im Fall von den Kürassierregiment | e | er | für die komplette Endung — ern. Die nächste Einsicht aber, zu welcher Büchners Handschrift zwingt, ist unweigerlich die, daß es die Fälle der Verschleifung gibt, wo jene Relation l: l endlich und bei aller Mühe nicht mehr zu halten ist; wo eine 248

Anzahl von Bögen auch rechnerisch nicht mehr für einzelne der Buchstaben genommen werden kann, die Büchner an der Stelle gemeint haben muß. Schmid erkennt das implizit mit seiner Regel Nr. 14 von den kontrahierten Buchstabengruppen an. Zwar versucht er selbst dort ja noch durch die Unterscheidung nach vorhandenen, aber nicht erkennbaren, und nach nicht vorhandenen und folglich nicht erkennbaren Buchstaben jenes Prinzip aufrecht zu erhalten; da aber, wie ich gezeigt habe, diese Unterscheidung nicht zu halten ist, so auch endgültig nicht mehr jenes Prinzip zu setzen, um dessentwillen Schmid die unhaltbare Unterscheidung traf. Das aber heißt nicht weniger, als daß mit jenem Prinzip die tragende Voraussetzung auch der übrigen Regeln nicht mehr gilt; daß die Verfahren, welche jene Regeln festhalten, von einer ungültigen Voraussetzung ausgehen; daß sie selber ungültig sind und also das Ergebnis, die Notationen, zu denen sie führen, falsch. Bei distinkt ausgeformten Buchstaben in der Handschrift zwar ergibt sich natürlich gar nicht erst das Problem, für das die Regeln jeweils formuliert wurden; dort ergibt das Prinzip sich gewissermaßen von selbst. Falsch aber wird es, wo jene distinkten Buchstaben, seine wichtigste Voraussetzung, nicht mehr gegeben sind. Sie sind es aber gerade nicht in den neuralgischen Fällen, für welche die Regeln Nr. 2, 13 und 14 eigens erdacht waren und die nun, ohne ihre Voraussetzung, hinfällig sind — Nr. 14 hinfällig nur in ihrer Unterscheidung nach vorhandenen und nicht vorhandenen Buchstaben. Die verkürzten Wortformen der Editoren beruhen auf diesem logischen Irrtum. Bereits Regel Nr. 2 erkennt mit den bloß im Ansatz ausgeführten Buchstaben die Existenz der nicht distinkt ausgeformten an und damit dasjenige, was in Regel Nr. 14 zur offenen Preisgabe desjenigen Prinzips führt, auf dem sie, Regel Nr. 2, und ebenso die Regel von den alternativ möglichen Lesungen jedenfalls in Schmids Transkription beruht. Schmid nicht und keiner der Editoren vollzieht diese unausweichliche Konsequenz logisch nach, so zwingend sie ist. Schmid verfährt in seiner Transkription so, als würde in den hier berührten Regeln eine Hierarchie herrschen; als könnte die Regel Nr. 2 logisch über Regel Nr. 13 und diese logisch über Regel Nr. 14 stehen. Denn er setzt jeweils so weit nur irgend möglich an, es läge ein bestimmter Einzelbuchstabe vor; gelingt dies nicht mehr, setzt er die Variantenlösung an; und erst wenn sich auch diese endgültig verbietet, greift er zuletzt zu der Notation der kontrahierten Buchstabengruppe, also genauer zu der angemessenen der verschliffenen Buchstaben. Schmid ahmt so die logische Genese der Regeln, von denen jeweils eine als Erweiterung der vorhergehenden erscheint, in der Anwendung ihres Geltungsbereichs nach, als hätte wirklich Regel Nr. 14 als logisch letzte auch den kleinsten Geltungsbereich. Das ist ein naheliegender, aber gleichwohl schwerer Fehlschluß. Die Geltung von Regel Nr. 14 schließt wie gesagt ein, daß das Prinzip, das den Regeln Nr. 2 und 13 zugrunde liegt, nicht mehr un249

durchbrochen gilt; es kann also nicht mehr als Voraussetzung des transkribierenden Verfahrens fungieren. Folglich darf man es in keinem Fall mehr, wo Buchstaben nicht distinkt ausgeformt sind, voraussetzen; folglich nicht die genetisch frühere Regel, in der das Prinzip noch gesetzt ist, als die logisch höhere anwenden; folglich keine transkriptorische oder editorische Entscheidung mehr darauf gründen. Es ist ein eklatanter Irrtum zu glauben, man könnte vor jedem Einzelfall erst entscheiden, ob man bei ihm nach dem Prinzip verfahren wolle oder nicht. Nichts anderes aber tun die Editoren. Es zu tun, was dann zur Auffassung von Einzelbögen als Einzelbuchstaben und zu den unseligen verkürzten Wortformen führt, heißt dem vorkritischen Glauben anhängen, man könnte den logischen Konsequenzen aus einer Erkenntnis — hier derjenigen der Existenz nicht distinkt ausgeformter Buchstaben und Buchstabengruppen — einfach definitorisch Einhalt gebieten: bis hierhin wäre es der Erkenntnis erlaubt zu gelten, aber bis in jene Konsequenz hinein dann nicht mehr. In der Philosophie ist das als Denkfehler schon lange bekannt. Wenn aber Schmid den logischen Fehler in seiner Transkription jedenfalls mit einiger Konsequenz, eben in den meisten Fällen unter konsequenter Beachtung jener ungültigen Hierarchie anwenden kann und etwa notieren: mit allgem 11 vem 11 ünftige Zustand (36,6 f.), dann sind die Editoren hier wie so oft gezwungen, den Befund: mit allgemein vernünftigem Zustand — das v darf nicht in die Verschleifung gezogen werden, weil es in der Handschrift distinkt erkennbar ist — auch richtig zu edieren: mit allgemein vernünftigem Zustand. Umso widervernünftiger ist es bei ihnen, wenn sie Schmids Fehler, ohne Recht die l:l-Relation als Prinzip sich vorzugeben, ganz beliebig und sporadisch und nur eben dort begehen, wo es ihnen in ihr grausiges sprachliches Bild vom Woyzeck paßt. Denn weitaus häufiger als Schmid an den Stellen, wo er die doppelten senkrechten Striche setzt, müssen sie jenes Prinzip und recht eigentlich unablässig durchbrechen, um einen annehmbaren Wortlaut zu erhalten. Ein Prinzip aber, das man sich vor jedem Einzelfall erst entschließt anzuwenden oder nicht, ist kein Prinzip. Es ist ein Vorwand. Die Maxime der Woyzeck-Ediuon kann also nur lauten: Büchners verkürzte Graphic muß grundsätzlich zum vollen Wortlaut ergänzt werden. Und zwar sowohl wenn die zu ergänzenden Buchstaben überhaupt keine graphische Repräsentanz haben — wenn also bei dem Wort daß zwischen den distinkt ausgeformten Buchstaben d und ß allenfalls der Verbindungsstrich verläuft, aber keine irgendwie über diesen hinausgehende graphische Form: der Fall von Mayers kursiv ergänzten Buchstaben —; als auch wenn die zu ergänzenden Buchstaben in einer, vom kleinsten Haken bis zu einer größeren Folge von Bögen reichenden Form repräsentiert sind, einer Form allerdings, die keinen Buchstaben distinkt bildet. Diese Verschleifung der Buchstaben ist gegeben überall 250

dort, wo Büchners Graphic keine eindeutige Zuweisung zu einem, und wenn selbst als Einzelbuchstabe genommen defektiven Zeichen zuläßt. Leicht zu fassen ist sie jeweils im Wortinnern, wo sie zwischen zwei distinkten Buchstaben liegt, schwieriger an den Worträndern, vor allem an den, wie die Büchner-Philologie traurig erwiesen hat, so gefährdeten Endungen; denn dort jeweils wird die Verschleifung nur auf einer Seite von einem distinkten Buchstaben begrenzt. Schließlich aber gibt es noch den Fall, wo ein ganzes Wort verschliffen geschrieben ist; vornehmlich sind das die Formen, in allen Kasus und Genera, des unbestimmten Artikels »ein«. Der ist oft nur aus drei unspezifischen Bögen gezogen, über denen ein i-Punkt sitzt. Wörter wie die Possessivpronomina mein, dein, sein in all ihren Formen, oder ebenso »kein«, behandelt Büchner entsprechend, nur daß dort eben der erste Buchstabe jeweils distinkt ausgeformt ist — bis auf das m in »mein«, das auch in die Verschleifung geraten kann, wie Schmid bei einem ähnlichen Fall einmal richtig notiert hat: ||mic||h (14,9). Alle Notationen, bei Schmid oder den Editoren, wie: mi, mei, di, dei, si, sei oder kei sind Verkennungen, eben zu Unrecht nach jenem Prinzip zeichenweise verfahrende Ausrechnungen der verschliffenen Bögen als Einzelbuchstaben. Der i-Punkt trägt zu dem Irrtum in solchen Fällen bei. Entsprechend etwa bei dem, was Poschmann buchstäblich als »wißt« ediert für »weißt« und was in einer bloßen Transkription korrekt so zu notieren wäre: weißt oder weißt — je nachdem, ob das w distinkt zu lesen wäre oder nicht. Es wird nach der Kritik der vorliegenden Transkriptionen nicht verfehlt sein, wenn ich in knappem Exkurs meinesteils nun Regeln formuliere, nach denen Büchners Handschrift, was das hier berührte Problem betrifft, angemessen transkribiert wird. Petit gesetzt würden als verschliffene: Buchstaben, die von Büchner graphisch nicht distinkt ausgeführt, aber aufgrund des Zusammenhangs als von Büchner gemeinte anzusetzen sind. Die Bestandteile des graphischen Befunds an der Stelle dieser anzusetzenden Buchstaben können nicht jeweils einem von ihnen eindeutig zugeordnet werden. Gehören die so anzusetzenden Buchstaben zu denjenigen des Alphabets, die regulär oder zumindest bei Büchner häufig aus unspezifischen Bögen gezogen werden — a, c, e, i, m, n, o, r, u, v, w —, so bedeutet bei einer Kombination aus ihnen ihre Wiedergabe in petit, daß zumindest ein Bogen weniger vorliegt, als ihre vollständige graphische Ausführung selbst in unspezifischen Bögen verlangte.

Folgende Konventionen, die ich jetzt nicht eigens kommentiere, könnten anschließen: Wenn von jenen Buchstaben ein für sich nicht distinkt, hier also defizient ausgeführter Buchstabe einzeln zwischen distinkt ausgeführten anderen oder aber 251

zwischen einem solchen und einer der Wortgrenzen anzusetzen ist, so wird er nicht petit wiedergegeben; dies gilt auch von Kombinationen aus einem jener Buchstaben mit einem der regulär einstrichigen Buchstaben c oder i. Folgt ein d, g, p, q, x, y oder z, dessen Ansatz in unspezifischen Bögen gezogen ist, auf einen jener Buchstaben, wird nur dieser für den Fall petit wiedergegeben, daß er nicht-distinkt in jenen Ansatz übergeht oder daß unentscheidbar ist, ob er in jenen Ansatz verschliffen ist oder überhaupt fehlt. Ist ein Buchstabe sonst einzeln petit wiedergegeben, bedeutet dies allgemein seine graphisch stark defiziente Schreibung durch Büchner.

Kursiv gesetzt würden: Buchstaben, die ohne überhaupt graphisch repräsentiert zu sein, dennoch aufgrund des Zusammenhangs als von Büchner gemeinte und als solche anzusetzen sind, die er für leicht ergänzbar abkürzend ausgelassen hat.

In spitzen Klammern schließlich: vom Herausgeber konjizierend ergänzte Buchstaben, deren Auslassung auf ein Versehen Büchners zurückzuführen ist.

Auch die Notation von Alternativlesungen, wenn diese nicht selber im einzelnen auf die Weise ausgerechnet werden, wie es Schmid tat, bleibt sinnvoll anzuwenden. Denn wenn selbst die verschliffenen Buchstaben jetzt nicht mehr zum Vorwand genommen werden dürfen, um Wörter beliebig zu verkürzen, so kann doch verschiedentlich unsicher sein, was nun die vollständige Form sei, nach welcher die verschliffenen Buchstaben ergänzt und erschlossen werden müssen. Schon etwa in der zitierten Passage aus Woyzeck könnte der Imperativ »Sehn Sie« seiner graphischen Fassung nach auch als »Sehen Sie« gelesen werden, die beiden Schlußbögen also entweder als reguläres n oder aber als Verschleifung für die vollere Endung: Seh | n | en | Sie. Beide Endungen benützt Büchner geläufig, auch bei entsprechenden Infinitiv- und den Pluralformen der ersten und dritten Person. Im Manuskript zu Danton's Tod, wo Büchner im übrigen klares Bewußtsein von seiner Gewohnheit, Buchstaben zu verschleifen, dadurch beweist, daß er immer wieder Wörter, in denen er für die Anforderungen einer Druckvorlage zu rigide verschliffen hatte, mit distinkten Buchstaben verbessert — so schreibt er in Replik 172 auf p. 45 zunächst »meine« in der Form, die Schmid im Woyzeck als »mi« transkribieren würde, und ebenso verschliffen auch »wird«, streicht die zwei Wörter aber dann aus und wiederholt sie jeweils darüber unverschliffen in klarer Schrift —, im Manuskript zu Danton's Tod schreibt Büchner in der Replik 653 auf p. 163: »ich will schreien, daß erschrocken Alles stehn bleibt«, und einige Zeilen später: »die Wolken ziehn«, wo er direkt hinter das h ein e einfügt: ziehen. 252

Auch diese Einfügung könnte verdeutlichende Korrektur einer verschliffenen Endung sein, so daß vorher bereits der Befund gewesen wäre: ziehen; da jedoch die Verschleifung in zwei Bögen gezogen war, so lange noch mit bloßem —n zu verwechseln. Folglich liegt auch bei dem Infinitiv »stehn« nahe, Büchner habe die beiden Schlußbögen, die dabei als —n gelesen werden, als die Verschleifung en gedacht. Daß er sie nicht korrigierte wie bei »ziehn«, fällt kaum ins Gewicht, da er die allermeisten der nicht wenigen Verschleifungen im Manuskript zu Danton's Tod nicht verdeutlichend korrigiert hat. Allerdings kommen Formen wie »ziehn« auch aufs klarste geschrieben so geläufig vor, daß es sich verbietet, die Elision des e auszuschließen. In der differenzierten Umschrift immerhin könnten die alternativen Möglichkeiten angezeigt werden: steh|n|en|. Wenn nun bei Verschleifung auch grundsätzlich die volle Form angesetzt wird, heben sich also doch keineswegs alle Fälle der Unsicherheit auf. Die aber bleiben, sind als Fälle genau einzugrenzen und zu bestimmen; und sie ergeben, gemessen an der Menge falscher Wortformen, wie sie im Moment noch die Woyzeck-Ediuontn durchsetzen, eine geringe Anzahl. Daß aber solche Fälle der Unsicherheit überhaupt bleiben, ist nicht dem Verfahren anzulasten, sondern Büchners verschiedentlich ja bis zur Unleserlichkeit nachlässiger Schrift. Ihre Folge, Unsicherheit in jenen Fällen, tritt bei diesem Verfahren nur klarer zu Tage und wird nicht mehr von den lavierenden Editoreingriffen verschleiert und verzeichnet; und damit, als eingestandene und klar begrenzte, tut sie dem Wortlaut des Dramas entschieden geringeren Eintrag als jede vorgebliche Sicherheit, mit der ein Editor zu einer nach Belieben und auf Grund logischer Fehler verkürzten Wortform greift. Es sind möglich die folgenden drei Fälle, in denen die Ergänzung von Buchstaben unsicher sein muß: Erstens, wenn die innerhalb eines Wortes distinkt geschriebenen Buchstaben nicht Anhalt genug geben, um das anzusetzende Wort insgesamt und damit die nicht als solche lesbaren Buchstaben sicher zu erschließen, vorausgesetzt, das Wort erschließt sich nicht insgesamt aus dem syntaktischen und semantischen Zusammenhang. Zweitens, wenn innerhalb eines sicher erschlossenen Wortes unspezifische Bögen — wie stets bei diesen Überlegungen: nach den Möglichkeiten von Wortbildung und Syntax und nach Büchners Gebrauch — in unterschiedlichen Versionen zu übersetzen sind in Buchstaben, eingeschlossen den Fall, für den das »steh|n|en|« bereits ein Beispiel war, daß jene Bögen sowohl Buchstaben vollständig formen können und dabei sich eine verkürzt mögliche Form ergibt, als auch daß die Bögen als Verschleifung für eine vollere Endung stehen können. Drittens, wenn sowohl eine elidierte oder apokopierte als auch vollständige Form möglich ist, also unsicher, ob etwa eine fehlende Endung ergänzt werden muß oder nicht. 253

Der erste Fall ist nichts als die immer wieder einzugestehende Unleserlichkeit eines handschriftlichen Passus; berühmt etwa die Stelle Seite 33,18 des Manuskripts, wo Schmid notiert: »M++ s++ A++«, und die »Mit dießen Augen«, »Mußt sterben Luder« oder »Wirst sehen lernen« gelesen wurde; also keines der Wörter im mindesten sicher erschlossen. Zu dem zweiten Fall von Unsicherheit gehört es, ob bei einem Befund »and~« in entsprechendem Zusammenhang anzusetzen ist: anderen, andren oder ändern. Alle drei Formen kommen bei Büchner in klarer Ausformung vor, könnten also in der verschilffenen angesetzt werden; außerdem ist hier wie auch bei den Verb-Endungen des Typus »steh|n|en|« sogar die Möglichkeit einzuschließen, daß dem Autor selbst, als er das Wort notierte, nicht eine der möglichen Endungen spezifisch im Sinn war. Eine differenzierte Umschrift dürfte solchen Fall von Unsicherheit lösen, indem sie notiert: anderen, also die vollste Form, weil diese, petit gesetzt, zu erkennen gibt, daß die Endung handschriftlich nicht distinkt gegeben ist und folglich notwendig auch als »andren« oder »ändern« aufgefaßt werden kann. Eine Edition jedoch wird sich hier zu entscheiden haben, und zwar vielleicht nach Büchners vorwiegender Schreibung für »ändern«. Zu solchem Fall unsicherer Ergänzung gehört auch, wenn ein Befund wie »mit d~ Sünd~« (8,30) dem Zusammenhang nach sowohl aufgelöst werden kann: »mit deinen Sünden«, als möglicherweise auch: »mit deiner Sünde«. Wären — was an dieser Stelle jedoch nicht der Fall ist — nach dem d des Substantivs zwei der unspezifischen Bögen gezogen, dann hätten sie im Fall der ersteren Lesung den Status einer Verschleifung, im Fall der letzteren jedoch nicht, da sie das Schluß-e vollständig ausformten. Häufiger wird die dritte Frage sich ergeben, ob sprachlich mögliche Elisionen oder Apokopen nur dem Bereich von Büchners üblichen handschriftlichen Verkürzungen zurechnen, oder aber als apokopierte Wortform zu konstituieren sind. In dem oben zitierten Abschnitt liegt das letztere nahe bei Woyzecks Worten: »Ich geh!« Fraglich kann dagegen eine Apokope wie diejenige sein, welche Poschmann in den Worten des Hauptmanns vornimmt: »ich mein es gut mit ihm«. Dort ist selbst nach der illegitimen Interpretation des Befunds nur »mi« geschrieben, richtig notiert aber »meine« oder »mein« — »~« —, vier Bögen, über deren letzten beiden ein i-Punkt schwebt. Solche graphische Defizienz darf nun keinesfalls auch nur als Indiz für eine grammatische Defizienz des Wortes genommen werden. Zwar ist die apokopierte Form »mein« nach vergleichbaren Verbformen, wie sie in den Repliken des Hauptmanns erscheinen, und schon gar vor vokalisch anlautendem Folgewort sehr wohl möglich. Jedoch nur die Plausibilität dieser Wortform für sich kann ihre Konstitution begründen, nicht die graphisch verkürzte Ausformung kann sie nahelegen. Beide Arten der Verkürzung sind streng 254

gegeneinander neutral, die grammatische — »mein'« — darf sich in nichts auf die graphische berufen. Zwar ergibt sich die Unsicherheit und die Notwendigkeit, zwischen »meine« und »mein« zu entscheiden, erst aus der Verschleifung, aber zu treffen ist die Entscheidung unabhängig von ihr, nur nach Kriterien des im weitesten Sinn sprachlichen Zusammenhangs; und der allerdings schließt die Möglichkeit der Apokope hier ein. So nahe aber verschiedentlich die apokopierten Formen auch zu liegen scheinen und so häufig sie ja auch in zweifelsfreien Fällen bei Büchner verwendet sind, so muß doch bedacht werden, zum einen, daß Büchner immer wieder und unsystematisch auch in den Schüler- und philosophischen Skripten ganze Endungen wegläßt, und daß zum anderen er in jener Passage, wo Poschmann den Woyzeck Lust »bekomm« lassen will, doch immerhin clare et distincte »könnte« schreibt, obwohl man sich, wenn auch keinesfalls »bekomm«, hier ohne weiteres »könnt« vorstellen könnte. Daß Büchner in Passagen wie dieser, wo keiner der Editoren umhin konnte, an irgendeiner Stelle dem angebeteten Dialekt zu opfern, eine sprachlich ohne Anstoß zu apokopierende Endung ausschreibt, dies muß in dieser ernsthaft bestehenden editorischen Frage von Gewicht sein. Wie in allen Fällen der unsicheren Ergänzung ist auch hier die eingeschliffene Gewohnheit aus Jahrzehnten entsprechender Editionspraxis und Lektüre als äußerst wirksam zugunsten der stärker verkürzten Formen zu befürchten und zu bedenken. Eine Fchllcsung im Woyzeck^ die ich bei dieser Gelegenheit berichtigen kann, scheint mir dafür ein gutes Beispiel abzugeben. Seite 1,13 notiert Schmid: »ist Professor an uns | e | er | re | Uni 11 ver 11 sität«. Dem Pronomen hat er alle Endungen angehängt, die bereits auch einmal von den Editoren tatsächlich verwendet wurden; Mayer ediert hier: unsrer. Zu lesen ist aber ohne jeden Zweifel: mehreren. Und demnach muß es auch heißen: Universitäten; Büchner hat die Endung in dieser ohnehin sehr flüchtig geschriebenen Passage einfach ganz ausfallen lassen. Die Editoren, gebannt von dem endungslosen Substantiv, verlasen einer nach dem anderen das vorangehende Wort, unwillkürlich wohl. Geschrieben sind zuerst, ohne jede Andeutung eines u-Hakens, vier unspezifische Bögen, die allerdings nach zwei und zwei aufgeteilt scheinen und somit eine Auffassung als zwei zweistrichige Buchstaben, wie es u und n sind, nahelegen; darauf folgend ein Buchstabe zwar mit Ober- und Unterlänge, jedoch nicht ein s, sondern eindeutig ein h: Nur dieses beginnt bei Büchner mit dem Aufstrich zur Oberlänge, wie es der Buchstabe in dieser Stelle des Manuskripts tut; das lange s dagegen mit dem Abstrich zur Unterlänge — die Lesung einer Form von »unser« ist also ausgeschlossen. Das Wort schließt mit einer recht typischen Verschleifungsendung in zwei Bögen, aus denen Schmid und die Editoren — Mayer ausgenommen — wieder die verschiedenen Endungen ausgerechnet haben. Eine solche graphische Form, aufs knappste wie255

dergegeben: ~h~, steht in den philosophischen Skripten mehrfach für das Wort, das eben auch hier zu lesen ist, »mehreren«, und das die Editoren wohl deswegen gehindert waren zu lesen, weil es den Plural des Substantivs und damit die Ergänzung der handschriftlich fehlenden Endung — en nach sich zieht. Direkt vorher lesen sie demnach auch: von alle gelehrte Societät. Ich brauche nicht mehr auszuführen, was davon zu halten ist. In den drei grundsätzlich so bestimmten Fällen von Unsicherheit müssen endlich nun solche Überlegungen eintreten, wie sie Mayer in seinem Aufsatz bereits entwickelt hat, das Abwägen des im Zusammenhang sprachlich Möglichen — im engeren Zusammenhang der einzelnen Stelle, dem weiteren des bei Büchner sicher Belegbaren und dem allgemeinen der poetischen Sprache zu Büchners Zeit, in welchen sehr wohl eine Art des Kunstdialekts, aber eines von demjenigen wohl unterschiedenen zu rechnen ist, den die Editoren aus den Buchstabenverschleifungen konstruiert haben. Immer jedoch muß solchem Abwägen des sprachlichen Zusammenhangs das genaueste dessen vorangehen, was der graphische Befund nach dem hier Dargelegten ergibt; und das führt schon sehr weit. Genaue Listen, die ich noch bereitstellen werde zu den Verschleifungen und Buchstabenauslassungen in Schüler- und philosophischen Skripten wie auch zu denen im Manuskript von D union's Tod, werden dabei Einzelnes noch genauer zu entscheiden helfen. An keiner der Stellen aber, die der sicheren Definition der verschliffenen Buchstaben unterliegen, ist das Prinzip der sogenannten Buchstabentreue vorzugeben, wie es etwa Schmid getan hat. Was er konsequent, die Editoren inkonsequent nach diesem Prinzip verzeichnen, verzeichnet den Befund. Wenn Schmids Transkription immerhin konsequente Verzeichnung des Befunds nach Grundsätzen ist, so die der Editoren beliebige nach Gutdünken. Was sie an unzähligen Stellen gezwungenermaßen tun, aber dann an manchen anderen Stellen wieder nicht, die notwendigen Buchstaben ergänzen, das muß im Woyzeck grundsätzlich getan werden. Daß die Editoren es zuweilen nicht tun und dann die verkürzten Wörter setzen, gründet nicht im Befund; davon spricht deutlich auch die von Edition zu Edition beliebig wechselnde Auswahl an Wortverkürzungen. Das lustige Endungen-Raten, dem ich hiermit ein Ende setze, konnte sich rechtfertigen nur in einer von außen kommenden Vorentscheidung: Es müsse Dialekt sein im Woyzeck. Aber weil diese nicht im handschriftlichen Befund gründet, ist das Verfahren, die Dialektformen dann in der Handschrift aufzusuchen und daraus wiederum den Dialektstatus abzuleiten, nichts als der offensichtlichste Zirkelschluß. Ein Einwand nur, der sich gegen das grundsätzliche Ergänzen zu den vollen Wortformen machen ließe, sei zuletzt noch vorweggenommen: Wenn der Woyzeck nun also — horribile dictu — ein hauptsächlich deutsch geschriebenes Stück werden soll, dann platzten doch die unmißverständlich dialektal notierten Formen aus diesem Geschlossenen stö256

rend und uneinheitlich heraus; man würde ihm die nun doch nachweisbare dialektale und umgangssprachliche Färbung nehmen zugunsten einer geglätteten Sprache. Dagegen sage ich: Wenn der Woyzeck in einem, jedenfalls was jene Verkürzungen betrifft, geschlossen hochdeutschen Gewand auftritt, geht nichts tatsächlich an Dialekt, Umgangssprache oder Mundart verloren von dem, was Büchner ja immer wieder deutlich notiert hat und was er durch Wortwahl, Wortstellung und Syntax fähig war, davon aufs genaueste hörbar zu machen. Auch sind die einzelnen Wortformen, die zu jener Färbung beitragen, zum großen Teil gar nicht diejenigen, in denen Buchstaben nach dem hier hergeleiteten Verfahren zu ergänzen sind: 'ne, nix, nit, is; ebenso die Wörter, die auf Grund ihrer metrischen Bindung in den Liederstrophen in einer vom Hochdeutschen abweichenden Form als intendiert gesichert sind. Und diese Formen alle platzen um nichts mehr heraus, als es entsprechende bereits in Danton's Tod tun, dem aber deshalb niemand noch sonst überall verkürzte Formen zu implantieren wagte, obgleich Verschleifungen es in dessen Handschrift ebenfalls — aber ebenfalls scheinbar nur — ermöglichen würden. Eine Passage im Woyzeck allerdings gibt es, wo Büchner im relativ saubersten Schriftduktus jene Wortformen geschrieben zu haben scheint, welche die Editoren, wo nur immer es sonst anging, im ganzen übrigen Stück aufsuchten, und die insofern tatsächlich aus dem Ton der übrigen Szenen herausfällt. Es ist das Gespräch zwischen Margreth und Marie, Szene 4,2, im Aianuskript Seite 24,16 bis 25,4. Sollten hier, wo der Zusammenhang recht frei von-sicherer graphischer Verkürzung ist und außerdem selbst so sehr einander ähnliche Buchstaben wie n und e distinkt voneinander ausgeformt sind, von Büchner aber auch wirklich die verkürzten Formen gemeint sein, es änderte nichts am Status der Verschleifungen und seinen Konsequenzen für die Edition. Denn Verschleifungen lägen hier, wo disunite Buchstaben geschrieben wären, demnach gar nicht vor. Es wäre ohne weiteres denkbar, daß Büchner einmal solche Dialektformen, gerade bei dieser Art des Nachbarinnen-Gezänks, notiert und ausprobiert hätte. Betrachtet man aber den graphischen Zusammenhang genau, ist doch auch hier zu erkennen, daß von Eindeutigkeit der Formen nicht ganz die Rede sein kann; daß auch in dieser Passage unmißverständliche Verschleifungen und Auslassungen vorkommen: Margreth (24,16); daß die Pluralform »Ihre Auge« neben der anderen »ihr Auge« zu stehen käme, was gezieltes Verkürzen durch Büchner zweifelhaft macht; daß eine Form »wollen« neben einer verkürzten wie »verkaufe« stünde. Dennoch bleibt die Annahme möglich, daß Büchner bei Niederschrift jener Passage das Gezänk hessisch gefärbt im Ohr hat und deswegen unwillkürlich manche Wörter entsprechend, und wie es seiner Art zu schreiben ja ohnedies naheliegt, verkürzt. Aber eben unwillkürlich, nicht systematisch und mit Absicht, da sonst die genannten Inkonsequenzen auf engstem Raum sich nicht hät257

ten ergeben können. Sollte aber selbst diese Passage dialektal intendiert sein und würde sie demnach als Einzelfall aus einem konsequenter hochdeutschen Woyzeck herausplatzen, könnte doch keinesfalls gelten, daß man folglich, wo nur immer es der handschriftliche Befund dank Undeutlichkeit hergibt und man es fertigbringt, Wörter verkürzen müsse oder auch nur dürfe. Denn das setzte voraus, der Woyzeck läge bereits als Integrum, als von Büchner abgeschlossene Einheit vor. Man weiß, daß das nicht eben der Fall ist. Folglich könnte eine solche Inkonsequenz im Großen, das sogenannte Herausplatzen etwa der einen dialektal gefärbten Szene, nicht im mindesten bedeuten, daß das hier hergeleitete editorische Verfahren an solcher Inkonsequenz die Schuld trage und daß also zur Schaffung des Integrum über alle Szenen hinweg alle nur möglichen weiteren Wortverkürzungen wahrzunehmen, zu edieren seien. Man darf das Integrum beim vorliegenden Zustand des Woyzecfe-Manuskripts nicht voraussetzen, um es dann durch editorische Eingriffe erst anzustreben. Nicht das Integrum der Stil- und Spracheinheit ist bei einem unabgeschlossenen Stück zu beachten; aber es ist unbedingt zu beachten das Integrum, das Büchners Schreibgewohnheiten darstellen. Doch wäre nun selbst so zu verfahren, wie es sich in Wahrheit verbietet; wäre wirklich durch Mißkennung des handschriftlichen Befunds eine integrale Schicht der dialektalen oder sonst verkürzten Wortformen anzustreben; müßte wirklich mit allem editorischen Eifer jeder handschriftlichen Form, die es erlaubt, die Bedeutung einer Wortverkürzung beigebracht werden; wäre also wirklich so zu verfahren, wie es die Editoren jüngerer Zeit tun: man erhielte einen Wortlaut, aus dem, weil er noch immer vorwiegend hochdeutsch verliefe, desintegriert und lachhaft versprengt jene Wortformen allerdings und wirklich dies machten: herausplatzen. Sie tun es in allen heute vorliegenden Editionen. Selbst wenn man ihre Anzahl auf ein moderates Quantum reduziert, wie dies Mayer in seiner Gelegenheitsedition gemacht hat: was er an solchen Formen, nur um solche nicht überhaupt aufzugeben, stehen läßt, steht verbindungslos und vereinzelt, steht recht eigentlich dumm herum. Man tut dem Woyzeck nichts Gutes damit, nur deshalb, weil es die Wissenschaft nun einmal aufgebracht und dann daran weitergestrickt hat und weitergestrickt, an einer Sprachschicht festzuhalten, die man nur auf Grund eines logischen Fehlers in der Beurteilung des handschriftlichen Befunds hatte vermuten und schlecht genug zurechtkonstruieren können. Man tut Büchners Drama vielmehr einen großen Dienst, wenn man jene krätzige Schicht abkratzt. Denn wenn das Drama vorführt, wie im Namen der Wissenschaft der Mann Woyzeck geschunden wird, so das Schicksal des Dramas, wie im Namen der Wissenschaft die Sprache des Woyzeck geschunden wurde. Mag Wissenschaft etwas von ihrer Schuld dadurch abtragen, daß sie wenigstens diese letzteren Wundmale sich schließen läßt. 258

KLEINERE BEITRÄGE UND GLOSSEN

Kometen, Sternkunde und Politik Zur astronomischen Metaphorik in Georg Büchners Von Markus Kuhnigk ( Seiter s/Ts.)

I Als Georg Büchner am 29. September 1830 anläßlich eines öffentlichen Redeakts des Darmstädter Gymnasiums den Freitod Katos von Utika mit viel Verve verteidigte, befanden sich die im Gefolge der Juli-Revolution ausgebrochenen Aufstände in Oberhessen gerade auf ihrem Höhepunkt. Doch trotz dieser akuten Beunruhigung durch das Zeitgeschehen bemerkte offenbar kaum einer unter Büchners Zuhörern an seiner Rede auch nur irgend etwas, das politisch als Ausdruck eines oppositionellen oder gar revolutionären Geistes erschienen wäre.1 Diese Reaktion der Gleichgültigkeit und Ungerührtheit des damaligen Publikums mag uns im nachhinein leicht als begriffsstutzig erscheinen, ist aber auf den zweiten Blick alles andere als unverständlich. Bedenkt man die Zeitumstände, so muß die unaufgeregte auditive Rezeption vielmehr genau den Effekt darstellen, den Büchner in der Konzeption seiner Rede ganz bewußt angestrebt haben dürfte. So wirkt auch aus heutiger Sicht die Ktfio-Rede gegenüber dem ungefähr ein Jahr zuvor entstandenen Panegyrikus auf den Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer nicht zufällig in der Schärfe ihrer Formulierungen zurückgenommen und politisch entradikalisiert. Büchner wußte sehr wohl, daß jene auf die Französische Revolution gemünzten Worte vom »blutige [n] aber gerechte [n] Vertilgungs-Kampfe« oder die nicht minder deutlichen über »die Greuel [...], die Jahrhunderte hindurch schändliche Despoten an der leidenden Menschheit verübten«2, zum Zeitpunkt einer unweit Darmstadts noch stattfindenden Insurrektion nicht so ohne weiteres wiederholbar waren. Gerade weil er insgeheim auch »über seine Gegenwart« und »die Unfreiheit seines Zeitalters«3 1 Vgl. Luise Büchner: Ein Dichter. Novellenfragment. Mit Georg Büchners Kato-Rede. — Darmstadt 1965, S. 24-45. 2 MA, S. 18. 3 Gerhard Schaub: Georg Büchner und die Schulrhetorik. — Bern u. Frankfurt/M. 1975, S. 47.

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sprechen wollte, mußte er sich notgedrungen mäßigen und politisch allzu Verfängliches vermeiden. So bedient er sich einer rhetorischen Strategie, die ihm erlaubt, harmlos zu erscheinen und doch gleichzeitig seinen Standpunkt zu vertreten,, ohne sich desavouieren zu müssen. Denjenigen, die von ihm nichts »als eine Stilübung, eine schöne rhetorische Probe«4 erwarten, liefert er völlig unverdächtig das gewünschte Ergebnis oratorischer Kunstfertigkeit,, denen aber, die ihn zu verstehen vermögen, übermittelt er — gut verborgen hinter der Fassade figürlicher Sprache — eine politische Botschaft. Dieser Technik des Euphemismus, der »indirekten, verdeckten Redeweise«5 dient dabei unter den von Büchner angewandten rhetorischen Kunstmitteln vor allem der Gebrauch einer großen Anzahl von Metaphern. Wie die gesamte Rede als solche schon von metaphorischer Struktur ist, indem sie insgeheim das Freiheitspostulat Katos auf die Gegenwart projiziert, so sind es auch im Detail vornehmlich Metaphern, die innerhalb der Rede die Chiffren eines durchgängigen konspirativen Codes bilden. Besonders interessant in dieser Hinsicht ist die von der Forschung bisher wenig beachtete Verwendung einer astronomischen Metaphorik in der Einleitung der Rede.6 Wie schon in der Helden-Tod-Rede spricht Büchner dort von den großen Männern, »die es wagt[en] einzugreifen in den Gang der Weltgeschichte«, als von »Meteoren«, die »aus dem Dunkel des menschlichen Elends und Verderbens hervorstrahlcn«7; anders aber als noch ein Jahr zuvor führt er nun die Parallelisierung der großen historischen Persönlichkeiten mit bestimmten astronomischen Erscheinungen noch weiter aus: »Solche Männer, die [...] sich zu erheben, sich Unvergänglichkeit zu erkämpfen wagten, solche Männer sind es, die gleich Meteoren aus dem Dunkel des menschlichen Elends und Verderbens hervorstrahlen. Sie durchkreuzen wie Kometen die Bahn der Jahrhunderte; so wenig die Sternkunde den Einfluß der einen, ebenso wenig kann die Politik den der ändern berechnen. In ihrem exzentrischen Laufe scheinen sie nur Irrbahnen zu beschreiben, bis die großen Wirkungen dieser Phänomene beweisen, daß ihre Erscheinung lange vorher durch jene Vorsehung angeordnet war, deren Gesetze eben so unerforschlich, als unabänderlich sind.«8

4 Luise Büchner, a. a. O., S. 44. 5 Schaub, S. 48. 6 Als erster wies m. W. Klaus Jeziorkowski im Zusammenhang mit der »exzentrischen Bahn« Hölderlins am 8. 11. 1984 in seiner Vorlesung über Büchner auf eine besondere Bedeutung dieser Metaphorik hin. 7 MA, S. 27. 8 Ebd.

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Diese explizit Sternkunde und Politik, Astronomie und Geschichte verbindende Metaphorik verdient nun ganz bestimmt die besondere Beachtung der Forschung, darf man doch gerade hinter ihr jene tiefere Bedeutung vermuten, die den ersten Rezipienten von Büchners Rede noch entgehen mußte. Dies ist um so wahrscheinlicher, als gerade der von Büchner verwendete Fachterminus der Exzentrizität zur Charakterisierung der Kometenbahn nicht zum ersten Mal als Metapher in einem signifikanten politischen Kontext benutzt wird. Genau das, was Büchner nämlich in dem Vergleich zwischen dem »exzentrischen Laufe« der Kometen und dem Gang der großen »Männer« anspricht, ist bereits in ähnlicher Weise bei Hölderlin in der bekannten Formel von der »exzentrischen Bahn« vorgebildet. Mit ihrer Hilfe hatte der Dichter in der Vorrede des Tfe#/zWissensrepertoiresStoff< in die Feder diktiert haben, was er dann später für die Ausarbeitung seines Lehrbuchs übernahm.15 Man darf also annehmen, daß der folgende, in voller Länge zitierte Abschnitt über Kometen aus dem Lehrbuch den Informationsgehalt von Büchners Schulwissen widerspiegelt: »§. 39. 3. Kometen. Die Kometen oder Haarsterne gleichen meistentheils einer starken Dunstmasse, in deren Mitte man einen mehr oder weniger dichteren Kern erblickt, der eine runde planetenähnliche, aber nicht immer scharf begränzte Gestalt hat. Bei vielen derselben dehnt sich die neblichte Hülle in einen langen, der Sonne allzeit abgekehrten Schweif aus. Um diese, als ihren einen Brennpunkt, bewegen sie sich in so langen elliptischen Bahnen (Parabeln), daß wohl die meisten nur nach Jahrhunderten ihren Umlauf vollenden können. Wenn sie der Sonne am nächsten sind, bewegen sie sich am schnellsten; daher bleiben sie uns selten einige Monate sichtbar. Die Zahl der bis jetzt beobachteten beläuft sich auf ungefähr 400.

Anmerk. 1. Von einigen Kometen hat man die Zeit ihres Wiedererscheinens genau bestimmt. So erscheint z. B. der sogenannte Halleysche Komet, der 1531, 1607, 1682 und 1759 beobachtet wurde, alle 75 Vz Jahre, und wird 1835 wieder sichtbar seyn; und Enke's Komet vollendet seinen Umlauf in 1207 Tagen. — Merkwürdig ist auch der Komet, welcher 1680 erschien, weil er der größte und der Sonne am nächsten war; und der von 1811, dessen Bahn sehr groß seyn muß, weil er in 40 Tagen 27 Millionen Meilen zurücklegt. Man glaubt, daß dieser erst nach 3000 Jahren wieder in die Sonnennähe zurückkehre. Anmerk. 2. In älteren Zeiten hielt man die Kometen für bloße Lichterscheinungen und für Vorboten großer Unglücksfälle. Die neuere Astronomie bringt uns von ihnen richtigere Begriffe bei; nur der Abergläubische hält sie noch für Zeichen des Kriegs, der Pest und Hungersnoth, oder fürchtet von ihnen die Zerstörung der Welt.«16

14 Schaub, S. 60. 15 Vgl. E. Theodor Voss: Arkadien in Büchners Leonce u. Lena. — In: Burghard Dedner (Hrsg.): Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe, Beiträge zu Text und Quellen [ . . . ] . - Frankfurt a. M. 1987 (= Büchner-Studien, Bd. 3), S. 342 f. 16 Ernst Theodor Pistor: Lehrbuch der Naturwissenschaft für die Jugend. — Darmstadt 1830, S. 33. 264

Diese im Original dreißig Zeilen stellen aber sicher nicht alles dar, was Büchner über Kometen gewußt hat. So betont er etwa in der Kato-Rede schon den »exzentrischen Lauf« der Kometen, ein Merkmal, das im Lehrbuch zwar der Sache nach, nicht aber als Terminus begegnet. Alles deutet darauf hin, daß Büchner auch außerhalb der Schule astronomische Kenntnisse aufnahm. Zumindest die Kometen waren anläßlich ihrer häufigen Erscheinungen in den Jahren vor 1830 allenthalben Tagesgespräch und konnten der Aufmerksamkeit des schon früh naturwissenschaftlich Interessierten schwerlich entgehen, So sorgte etwa um 1828 das für 1832 angekündigte Wiedererscheinen des Bielaschen Kometen, dessen Bahn allen Prognosen nach in einem Punkt die Ebene der Erdbahn durchschneiden sollte, in der Presse für öffentliches Aufsehen. Wegen der theoretisch möglichen Kollision des Kometen mit der Erde äußerte man Befürchtungen über einen bevorstehenden Weltuntergang, machte Vorschläge zur Eindämmung der zu erwartenden Schäden, wie z. B. die Gründung einer »Kometen-Versicherungsanstalt«, oder aber versuchte durch Aufklärung über die Natur des Kometen und seinen Bahnverlauf, der »Kometenfurcht« entgegenzuwirken.17 Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen erschien im Darmstädter Montags-Blatt, einer der üblichen Wochenzeitungen »für Freunde gebildeter Unterhaltung«, zwischen dem 30. Juni und 4. August eine Artikelserie zum stets aktuellen Thema, die in sechs Fortsetzungen der Reihe nach ausführlich über Größe, Gestalt, den Bahn verlauf und die physische Beschaffenheit der Kometen sowie über die Geschichte ihrer Erforschung Auskunft gab. Vielleicht hat der Vater oder die Mutter Büchners das Blatt abonniert und so dem Sohn Gelegenheit verschafft, sich ebenfalls zu informieren. Genauso gut kann Büchner aber auch an anderer Stelle über Kometen gelesen haben, berichteten doch alle Zeitschriften und Magazine, die etwas auf sich hielten, regelmäßig und mehr oder weniger immer wieder dasselbe über die dauerhaft interessierende Himmelserscheinung. Die wichtigsten, metaphorisch verwertbaren Merkmale und Eigenschaften der Kometen, die Büchner bei der Konsultation solcher Quellen kennengelernt haben wird, seien zur Information der weniger Fachkundigen hier im folgenden stichwortartig aufgeführt: (1) Die Bahnen der Kometen sind elliptisch, d. h. geschlossen, aber ex centrum positum. In einem der Brennpunkte der Ellipse steht die Sonne.18 (2) Dabei handelt es sich oftmals um sehr langgestreckte Ellipsen, zu deren Umlauf die Kometen mitunter mehrere Tausend Jahre benötigen. Ihre Bahnen reichen auf diese Weise bis in andere Sonnensysteme hinein.19 17 Vgl. Montags-Blatt. Für Freunde gebildeter Unterhaltung Nr. 18 (Darmstadt, am 22. 6. 1828) 18 Vgl. Montags-Blatt Nr. 20.

19 Ebd.

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(3) Die Kometen sind somit die einzigen Himmelskörper des Sonnensystems, die mittelbar durch ihren Bahnverlauf und ihre Zusammensetzung Informationen über unbekannte Teile des Alls zu geben vermögen.20 (4) Wie auf alle Himmelskörper, so wirken auch auf den Kometen zwei Kräfte ein: eine geradlinig und gleichförmig ins Unendliche strebende Tangentialkraft und eine durch das Zentralgestirn bewirkte zentripetale Anziehungskraft.21 (5) Die Bewegung entlang der exzentrischen Bahn ist nicht gleichförmig, sondern nimmt zu dem der Sonne näher liegenden Scheitelpunkt der Ellipse zu und an der entgegengesetzten Stelle ab.22 (6) Die Gestalt des Kometen ist je nach Bahnpunkt verschieden: In Sonnennähe wird der Kern unscharf, während der Schweif an Länge zunimmt; bei wachsender Entfernung von der Sonne dagegen wird der Kern deutlicher, und der Schweif verschwindet.23 (7) Während alle Planeten im Tierkreise oder in dessen Nähe von Wrest nach Ost um die Sonne laufen, bewegen sich die Kometen nach allen Richtungen, auch gegen die Ordnung der Zeichen.24 (8) Seit Halley läßt sich prinzipiell die Widerkunft jedes bekannten Kometen prognostizieren. Die Genauigkeit solcher Vorhersagen leidet aber unter dem Umstand, daß Kometen durch größere Himmelskörper von ihrer Bahnrichtung abgelenkt werden können.25 Daß diese sämtlichen Merkmale des astronomischen Gegenstandes geradezu prädestiniert waren, um auf den Lebensweg bestimmter menschlicher Charaktere oder die Entwicklung der Menschheit insgesamt übertragen zu werden, hat Jean Paul zumindest für die erste dieser beiden Möglichkeiten geradezu beispielhaft vorgeführt. So erklärt er in der Vorrede seines Romans Der Komet den Titel des Buches mit der besonderen Veranlagung seines Helden, indem er dessen Natur in allen ihren Äußerungsformen virtuos als die eines Kometen ausweist: »Ich hätte daher, um seine Ähnlichkeit mit einem Kometen darzustellen, der bekanntlich sich im Himmel unmäßig bald vergrössert, bald verkleinert — sich ebenso stark bald erhitzt, bald erkältet — der auf seiner Bahn oft geradezu der Bahn der Wandelsterne zuwiderläuft, ja imstande ist, von Mitternacht nach Mittag zu gehen — und der oft zweien Herrinnen oder Sonnen dient und von einer zur ändern schweift — ich hätte, sag' ich, um die Ähnlichkeit mit einem Kometen zu beweisen, nichts nötig, als bloß die Geschichte des Helden selber vorzuführen.«26

20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd.

23 Ebd., Nr. 21. 24 Ebd., Nr. 20. 25 Ebd. 26 Jean Paul: Werke. - München 1975, Bd. 6, S. 568. 266

Ill Fragt man nach einer literarischen Tradition der politisch verstandenen Kometenmetaphorik, die als Vorbild für Büchners oder schon Hölderlins Verwendung der Metapher gelten könnte, so wird man danach nicht in allzu ferner Vergangenheit suchen dürfen. Zwar fanden Kometen schon früh Eingang in die Literatur, die Rolle aber, die sie dort zu spielen hatten, war meist weniger die einer Metapher als die eines leibhaftigen Zeichens von unguter Vorbedeutung. Diese im Aberglauben lange verankerte Vorstellung des Kometen als Menetekel ist uns dabei in ihrer literarischen Präsentation vor allem durch Shakespeare gegenwärtig. In diesem Sinn ist von ihnen im Hamlet ausdrücklich als »Zeichen grauser Dinge«, als »Boten« des Schicksals die Rede, die das »Vorspiel der Entscheidung, die sich naht«, an den Himmel malen.27 Besonders gebräuchlich aber sind die »feurgeschweifte[n] Sterne«28, um im Trauerspiel den unmittelbar bevorstehenden Sturz großer Herren aus nicht minder großer Fallhöhe anzuzeigen. Der dies belegende Vers in Julius Caesar (»Kometen sieht man nicht, wenn Bettler sterben«29) ist geradezu zum geflügelten Wort geworden und dient der Sache nach auch zu Büchners Zeit als Teil einer lebendigen literarischen Tradition noch als Vorbild. Exemplarisch dafür ist etwa Grabbe, der in seinem Herzog Gothland den letzlichen Untergang der Titcifigur samt seiner Angehörigen durch die Erscheinung eines Kometen präludieren läßt, der »blutäugig-funkelnd, flammenhaar-umweht [...] der Welt Entsetzliches verkündet«.30 Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts ist aber vom Kometen in ganz neuer Weise die Rede. Erst mit dem Verschwinden abergläubischer Vorstellungen und ihrer Ersetzung durch naturwissenschaftliche Kenntnisse avanciert er in Literatur, Philosophie und Publizistik zum herausragenden Modellfall einer geistesgeschichtlichen Umwälzung: Seine Erwähnung dient nicht mehr dazu, das Publikum das Gruseln zu lehren, sondern verleiht einem siegesfrohen aufklärerischen Frohlocken gebührenden Ausdruck: »Diese so lange unbekannten Feuer, die der Schrecken der Welt und das Hindernis der Philosophie waren, [...] sind endlich von Newton an den rechten Platz gestellt worden.«31

27 28 29 30 31

Shakespeares Dramatische Werke. - Zürich 1979, Bd. l, S. 109. Ebd., S. 108. Ebd., Bd. 3, S. 33. C. D. Grabbe: Werke. - Berlin u. Weimar 1987, Bd. l, S. 29 f. Voltaire: Philosophische Briefe. - Frankfurt a. M. 1985, S. 68. 267

Überall beginnt man nun diesen »rechten Platz« der Kometen innerhalb einer Astronomie zu sehen, der es auf der Grundlage der Newtonschen >Himmelsmechanik< in der Person von Edmond Halley gelungen war, die exzentrische Bahn eines Kometen zum ersten Mal zu berechnen und seine Wiederkehr vorauszusagen. Durch diesen wissenschaftlichen Vorgang werden die ehemaligen Wundersterne auch außerhalb astronomischer Fachzirkel endgültig zu rein physikalischen Phänomenen deklariert und nicht mehr so sehr in ihrer Rolle als Zeichen in Anspruch genommen. Weil sie »zu den Zeiten der Unwissenheit« dazu gedient hatten, »als ungewohnte Schreckbilder dem Pöbel eingebildete Schicksale zu verkündigen«32, können sie nun gewissermaßen in der >Bedeutungsrichtung< umgedreht und ihrerseits als Gegenstände der Verkündigung propagiert werden. Als jene Himmelserscheinungen, die vormals auf unvorhergesehenen Bahnen »in hoher Glorie prophetisch dräuend durch die Welt« zogen33, erleben sie vor dem Hintergrund der neu entdeckten Gesetze der Kometenbahnbestimmung im Bewußtsein des 18. Jahrhunderts allenthalben einen deutlichen Verlust an Ansehen und Prestige. Durch die Möglichkeit ihrer Prognostizierbarkeit verlieren sie mit der Potenz des Schreckenerregenden auch ihre bis dahin übliche Hochschätzung in der Literatur. Noch der skurrile Hobbyastronom in Tiecks Vogelscheuche kann sich nicht enthalten, den lange zurückliegenden Sieg der Astronomie über die Irrsterne in ein triumphierend abfälliges Urteil zu kleiden: »[W]ir kennen diese Burschen, die unsern Vorfahren so große Schrecken erregten, fast persönlich und halten sie jetzt geringe.«34

In solchen Worten spiegelt sich nicht nur die anhaltene Befriedigung und Genugtuung über jene durch Newton und Halley begründete »prototypische [...] Leistung [...] der Aufklärung«35, die die Prophetien des Himmels durch die Prognosen der Naturwissenschaftler ersetzte; der überhebliche Ton gegenüber dem Kometen ist vielmehr auch ein Indiz für dessen neue geistesgeschichtliche Funktion, mit der er den Part des kosmischen Prügelknaben übernimmt. Der Name »Komet« wird entsprechend dieser pejorativen Tendenz zum Synonym für fast alles, was auch außerhalb astronomischer Zusammenhänge geringschätzig beur-

32 Immanuel Kant: Werke in 12 Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. - Frankfurt a. M. 1968, Bd. l, S. 295. 33 E. T. A. Hoffmann: Poetische Werke. - Berlin 1958, Bd. 5, S. 326. 34 Tiecks Werke. Hrsg. von Claus Friedrich Köpp. - Berlin und Weimar 1985, Bd. 2, S. 15. 35 Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. - Frankfurt a. M. 1981, Bd. 3, S. 642. 268

teilt wurde. So figuriert der exzentrische Himmelskörper als »Schwindler« und »Anfänger«36, als »Umtriebler im weiten Himmelsraume«37, der durch seine »innere Haltlosigkeit«38 nur »schwache eigene Energie der fremden entgegensetzt«39 und so »in wilden Bahnen, in seltsam verzogenen Kurven« 40 , um die Sonne taumelt, um mit seiner Exzentrizität, dem »vornehmste[n] Unterscheidungszeichen der Kometen«41, »das Siegel [seiner] tiefen Abkunft« 42 als deutlichen Beleg für eine subordinierte Stellung im Weltraum mit sich herumzutragen. Besonders ausgeprägt ist diese Art der Kometenschelte in Kants früher Kosmogonie, der Allgemeinein] Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Zu einem Zeitpunkt, da sich der Astronom Johann Heinrich Lambert aus wissenschaftlichem Interesse ausgesucht gern den Kometen widmete, findet Kant in seinem astronomischen Hauptwerk für sie nur unfreundliche Worte. Das, was den Kometen für Lambert gerade so attraktiv machte, nämlich die vielen ungeklärten Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten seiner Erscheinung, nahm ihm Kant als Unfähigkeit zur Domestikation übel.43 Die fehlende »geometrische Genauigkeit«44, das, was er die »gesetzlose Freiheit der Kometen« nennt45, erscheint ihm nicht als Grund, diese zu den priviligierten Forschungsgegenständen zu zählen, sondern veranlaßt ihn, sie zu den »Mängeljn] der Natur« 46 zu rechnen. Was Kant den »unvollkommene[n] Glieder[n]« der Schöpfung vor allem ankreidet, ist die Differenz zwischen ihrem extravaganten und aufsehenerregenden Auftreten und ihrer völligen Funktionslosigkeit unter teleologischen Gesichtspunkten. Sämtliche Gründe, die man »mit großer Kühnheit ersonnen« hat, um etwa den »Nutzen der so großen Exzentrizität« der Kometenbahnen zu sichern, erscheinen ihm so als gänzlich fragwürdig. Selbst die wenigen »Vorteile«, die der sonst so gepriesene Newton zur Ehrenrettung der Kometen anführt, haben in Kants Augen »nicht die mindeste Wahrscheinlichkeit« für sich und können bestenfalls »zu einigefm] Vorwande eines Zweckes dienen«.47 Das einzige, was für die Existenz der Kometen spricht und Kant davor be36 Tieck, S. 15 f. 37 Montags-Blatt Nr. 19. 38 G. W. F. Hegel: Werke. Hrsg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. — Frankfurt a. M. 1986, Bd. 9, S. 129. 39 Joseph Görres: Gesammelte Schriften. Hrsg. im Auftrage der Görres-Gesellschaft von Wilhelm Schellberg. - Köln 1928, Bd. 3, S. 27. 40 Ebd., S. 28. 41 Kant, Bd. l, S. 295. 42 Görres, S. 28. 43 Vgl. H. Blumenberg, Bd. 3, S. 641 ff. 44 Kant, Bd. l, S. 362. 45 Ebd., S. 296. 46 Ebd., S. 362. 47 Kant, Bd. 2, S. 714.

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wahrt, den göttlichen Welterbauer einer Kritik zu unterziehen, liegt in ihrer Möglichkeit, als »Zeichen des Überflusses« die »Mannigfaltigkeit« einer Schöpfung zu illustrieren, die sich in »ihre[m] Umfang von der Vollkommenheit bis zum Nichts«48 erstreckt. Als einem »Nichts« obliegt den Kometen die Aufgabe, durch ihre absolute Überflüssigkeit und Nutzlosigkeit die verschwenderische Ausstattung eines Naturinterieurs zu demonstrieren, die der »Offenbarung der Allmacht«49 den gebührenden Ausdruck verleiht. Kants geradezu moralisierende Betrachtungsweise, die gegenüber einer Naturerscheinung alles andere als angebracht wirkt, wird verständlich, wenn man bedenkt, welches Phänomen der Geistesgeschichte in Kants Augen dem der Kometen in der Sternenwelt analog erscheinen konnte. Wirft man einen Blick auf bestimmte Äußerungen Kants über das Genie und den Geniekult, wird schlagartig klar, weshalb er den exzentrischen Himmelskörpern so wenig Neigung entgegenbringen kann. Was Kant nämlich an den Kometen abstößt - ihre Nutzlosigkeit, ihre Irregularität, ihr orginelles, Aufmerksamkeit erheischendes Erscheinungsbild —, stellt gewissermaßen nur die augenfällige Verkörperung dessen dar, was er an den »Genieaffen«50 seiner Zeit so heftig kritisiert. Ohne daß er selber auf die Parallelität der Erscheinungen ausdrücklich verweist, erscheint Kants Kometenschelte wie ein Reflex seiner Ablehnung der »Geniemänner«51. Was ihn 1765 in einem astronomischen Zusammenhang an den Kometen stört, ist im Grunde genommen genau das, was er 1790 und später in einer ganz anderen Frage an denen auszusetzen hat, die sich, bildlich gesehen, wie Kometen verhalten. So orientiert er die Beschreibung der selbsternannten Genieapostel, die er als »Gaukler, die um sich so viel Dunst verbreite[n]«52, verdächtigt, immer schon unwillkürlich an der Vorstellung des Kometen, der mit seiner milchig-weißen Hülle und dem langgestreckten Schweif ja der Prototyp eines großen Produzenten von Dunst< ist53; tadelt er den Hang der Orginalgenies, »sich vom Schulzwange aller Regeln los[zu]sagen«54, statt am »Stecken und Stabe der Erfahrung daher [zu] schrei ten« und keine »Unordnung zu stifte[n]«55, scheint der Vergleich mit der »gesetzlosen Freiheit« der Kometen gegenwärtig. Den Kometen verübelt Kant ihr genialisches Gehabe und den Genies ihre kometarische Art. Beiden scheint etwas gemeinsam, was dem pflichtgestrengen Königsberger als 48 49 50 51 52 53 54 55

Ebd., Bd. l, S. 363. Ebd. Ebd., Bd. 12, S. 545. Ebd. Ebd., Bd. 10, S. 246. Tieck, a. a. O. Kant, Bd. 10, S. 245. Ebd., Bd. 12, S. 545.

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Scharlatanerie, als ein dem Schein huldigendes Wesen vorkommen konnte. Obwohl Kant als versierter Astronom um die Harmlosigkeit der Kometen weiß und die Gesetzmäßigkeiten ihrer nur scheinbar willkürlichen Bahnen kennt, läßt sein Mißtrauen gegenüber dem allzu Schillernden kein mildes Urteil zu. Und obwohl er es ist, der als erster das Genie als ein Subjekt beschreibt, daß sich nicht Regeln unterwirft, sondern »der Kunst die Regel gibt«56, ist er es auch, der im Anbetracht kometarischer Übertreibungen die »Geniemänner« wieder in die Schranken der Konventionen verweist. Genau diese Ablehnung einer schrankenlosen Freiheit der Genies in einem gedanklich-assoziativen Zusammenhang mit einem negativen Kometenbild findet sich auch beim klassischen Goethe. In seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit, wo er mit Akribie den retrospektiven Widerruf der genieästhetischen Anschauungen seiner Sturm und DrangPeriode betreibt, schildert er seinen ehemaligen literarischen Bundesgenossen J.M.R. Lenz als Repräsentanten eines Genie-Syndroms, das von allen Übeln der Kometen infiziert ist57. In einem flink zusammengebastelten Psychogramm stilisiert er Lenz im nachhinein zu einem Wirrkopf, der — wie ein Irrstern am Himmel — konzeptionslos und unmotiviert dahingetrieben sei und ziellose Betriebsamkeit mit konzentrierter Produktivität verwechselt habe. Indem Goethe Lenz mit der zentralen kometarisdhcii Eigenschaft, der Neigung zum Ausschweifenden und Zerfliessenden, ausstattet, präsentiert er den ehemaligen Jugendgefährten in der ganzen »Umschweife seines Lebensganges«58 als einen in willkürlichen »Kreuz- und Querbewegungen«59 befangenen Sonderling mit dem Hang zu »weitschweifigen Abenteuer[n]«60, der seinen fast einzigen Vorzug, nämlich »die Ausschweifungen und Auswüchse des Shakspeareschen Genies [...] empfinden und nach[...]bilden« zu können61, nur einer unaufhaltsam in die Irre führenden charakterlichen Disposition verdankt. Nach Goethes Überzeugung erscheint auch Lenzens Werk gerade so wie sein Leben ganz von der Veranlagung zur Exzentrizität bestimmt. Ungefähr das, was der klassizistisch argumentierende Winckelmann bereits Jahrzehnte vorher an solchen exzentrischen Künstlern kritisiert hatte, welche »eine Seele in ihren Figuren« verlangten, »die wie ein Komet aus ihrem Kreise weichet«62, macht der zum Klassiker aufgestiegene 56 57 58 59 60 61 62

Ebd., Bd. 10, S. 241. Vgl. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. - Hamburg 1960, Bd. 10, S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., Bd. 9, S. 495. Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. — Stuttgart 1982, S. 21.

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Goethe nun auch Lenz zum Vorwurf, indem er dessen Produktionen jede »kunstgemäße [...] Fassung«63 abspricht und sie als bloße Zufallsergebnisse eines »formlosen Seh weifen [s]«64 bezeichnet, das sich »grenzenlos im einzelnen verfloß«65. Nur konsequent erscheint so Goethes zusammenfassendes Urteil, das seine Ansichten über einen »seltsamen Menschen« auf den ihnen inhärenten astronomischen Begriff bringt: »Lenz jedoch, als ein vorübergehendes Meteor, zog nur augenblicklich über den Horizont der deutschen Literatur hin und verschwand plötzlich, ohne im Leben eine Spur zurückzulassen«.66

Nicht uninteressant ist es, daß Goethe mit dieser und ähnlichen Äußerungen67 nicht nur die Lenzrezeption maßgeblich beeinflußte, sondern spätere Urteile über das Genie überhaupt präformierte.68 Um 1855 heißt es etwa in der Biographie von Karl Ziegler über Grabbe: »[E]s schien bisweilen, als ob er sich manche[n] Abschweifungen aus der gewöhnlichen Bahn [...] mit Bewußtsein hingäbe, [...] sei's weil er sie für ein Zeichen genialer Kraft hielt, sei's weil er mit ihnen die tragische Größe eines gefallenen Sterns verband. [...] Und man muß bekennen, daß sich die Genialität sehr gern mit einem wunderlichen exzentrischen Wesen verbindet. [...] Solche Wunderlichkeit [hat] ihre großen Gefahren, [...] wenn nämlich das Exzentrische zu stark wird und nicht beherrscht werden kann, indem es dann in gänzliche Formlosigkeit ausartet und sich und die Welt verliert.«69

In der jeweiligen Übereinstimmung der Urteile Kants und Goethes über Genie und Komet, zwei völlig verschiedene Gegenstände, wird nun deutlich, daß beide im 18. Jahrhundert weithin einem gemeinsamen Kriterium der Bewertung unterliegen, das sie zu Fallbeispielen eines einzigen übergreifenden Motivs macht. Der exzentrische Himmelskörper, 63 64 65 66 67

Goethe, Bd. 10, S. 10. Ebd. Ebd. Ebd., S. 12. Von Kleist spricht Goethe als von einem »unerfreuliche[n] Meteor eines neuen Literatur-Himmels« (zitiert nach: Günter Blöcker: Heinrich von Kleist oder Das absolute Ich. - Frankfurt a. M. 1983, S. 79). 68 Heine schreibt über die literarischen Kometen anläßlich der Betrachtung der »Sterne unserer Literatur«: »Jene Kometen, die man dort oben manchmal wie Mänaden des Himmels, mit aufgelöstem Strahlenhaar, umherschweifen sieht, das sind vielleicht liederliche Sterne, die am Ende sich reuig und devot in einen obskuren Winkel des Firmaments verkriechen und die Sonne hassen.« (Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Klaus Briegleb. — Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1981, Bd. 5, S. 436 f.). 69 Karl Ziegler: Grabbe s Leben und Charakter. - Hamburg 1855, S. 26 u. 28. 272

der durch seine disharmonische Bahn die ewigen Weltharmonien des Alls stört und das mit überdurchschnittlichen Eigenschaften begabte Genie, das als Dichter die Literatur oder als Held die Geschichte in Unordnung bringt, liegen außerhalb ihrer jeweiligen gegenständlichen Bedeutung als gleichrangige Phänomene einer >moralischen Welt< auf ein und derselben Ebene. Geradezu ein Symptom der Zeit ist es, daß man bei Kant oder Goethe die über Kometen geäußerten Ansichten ohne weiteres auch als Stellungnahmen zur Geniefrage lesen kann und umgekehrt die Beiträge zum Genie als Aussagen zum Kometenphänomen betrachten darf. Wer um 1800 ein negatives Verhältnis zu genialischen Neuerern in Literatur und Weltgeschichte pflegt, mag offensichtlich auch die Kometen nicht, und wer die ausschweifende Regellosigkeit der Kometen schätzt, bringt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch den verschiedenen Genies Sympathien entgegen. Diese Gleichwertigkeit der Vorstellungsbereiche des Kometarischen und Genialischen führt, wie wir gesehen haben, so weit, daß derjenige, der ihre Bedeutungen gebraucht, selbst ohne bewußte Absicht ihre Konnotationen permanent zum Konfligieren und Konfluenzieren bringt. In diesem Zusammentreffen der Bedeutungsfelder offenbart sich eine semantische Struktur, die als latente Metaphorik ohne jede Kontrolle durch das Bewußtsein mühelos die richtigen Bedeutungsglieder zusammenbringt. Ihr reibungsloses Funktionieren erklärt sich durch den ihr innewohnenden einfachsten metaphorischen Mechanismus, dessen Prinzip die Proportionalitätsanalogie ist. Danach sind Komet und Genie deshalb solch passende Stellvertreter des jeweils anderen, weil das Verhältnis, in dem das Genie zur Menschheit steht, dem des Kometen gegenüber den übrigen Himmelskörpern entspricht (Genie : Menschheit = Komet : Gesamtheit der Himmelskörper). Aufgrund dieser Evidenz der Komet-Genie-Beziehung finden sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts neben den unbewußten >Verwechslungen< zunehmend gerade in politischen und historischen Kontexten ganz gezielte Verwendungen von Kometenmetaphorik. Gerade in literarisch inspirierten Überlegungen innerhalb der Geschichtsphilosophie, die als noch junge Disziplin für Metaphern besonders aufgeschlossen war, werden Kometenmetaphern als Modelle zur Beschreibung und Erklärung historischer Gestalten und Prozesse aufgegriffen. Charakteristisch für diese neue Funktion der Kometen ist dabei die meist positive Bewertung vormals geschmähter Kometeneigenschaften, die nun in ihrer metaphorischen Inanspruchnahme vergleichbare Umbewertungen historischer Erscheinungen veranschaulichen sollen: Ein neues Bild der Geschichte führt zu einer neuen Bewertung des Kometen und eine neue Bewertung der Kometen zu einem neuen Bild der Geschichte. In seinem ersten Entwurf zu einer Geschichtsphilosophie spricht Herder 1774 vom großen Geist der Veränderung als von demjenigen 273

kometarischer Naturen, die nicht »nach der Gemeinregel jeder mittelmäßigen Seele gemeßen werden« dürften.70 Die nämlich, »durch d[ie] das Schicksal Veränderung bewürkt«, betrachtet er wie die Kometen als »Ausnahmen höherer Gattung«, die »alles Merkwürdige der Welt« durch ihr Handeln verantworten.71 Denn: »Die graden Linien gehen nur immer gerade fort, würden alles auf der Stelle laßen! wenn nicht die Gottheit auch ausserordentliche Menschen, Kometen, in die Sphären der ruhigen Sonnenbahn würfe, fallen und im tiefsten Falle sich wieder erheben Hesse, wohin kein Auge der Erde sie verfolget.«72

Wie man hier leicht sehen kann, ist die Irregularität der angesprochenen Phänomene Brennpunkt der Herderschen Kometenmetaphorik. Die »außerordentlichen Menschen« werden deshalb so gut Kometen vergleichbar, weil sie wie diese im buchstäblichen Sinn außerordentlich, d. h. außer der Ordnung sind. Indem Herder die Veränderung als positive historische Kategorie begreift, erscheint ihm das regellose Gebaren nicht — wie Kant und Goethe — als Zeichen der Disziplinlosigkeit, sondern als notwendiges Verhalten von Menschen, die den Prozeß der Geschichte vorantreiben. Deren Veränderungswille legitimiert jede noch so exzentrische Abweichung von der »Gemeinregel« und begründet wie später auch bei Hegel einen anderen Maßstab der Beurteilung. Noch zustimmender bewertet aus dem gleichen Grund Karl Philipp Moritz das exzentrische Wesen der großen Tätergestalten73. Für ihn hat die Exzentrizität als Eigenschaft geschichtsmächtig handelnder Personen jeden Beigeschmack des Unerlaubten oder Ungehörigen verloren und wird im Gegenteil gerade zum trefflichsten Ausdruck einer Freiheit, die im Kampf gegen die Schwerfälligkeit des Gewöhnlichen den vollkommenen Menschen hervorbringt. Höchstens die Durchschnittlichkeit der »Tagelöhner«74, nicht aber mehr die Exzentrizität der um jeden Preis Handelnden bedarf bei ihm der Rechtfertigung: »Fühlst du ein unüberwindliches Streben nach etwas Großem in dir, so darf ich dir nicht erst sagen, daß du diesem Streben freien Lauf lassen sollst, eben so wenig, wie ich es dem Strome erst verstatten darf, daß er Dämme durchbricht.75

70 71 72 73

J. G. Herder: Sämmtliche Werke. Hrsg. von B. Suphan. - Berlin 1891, Bd. 5, S. 583 f. Ebd. Ebd., S. 584. Karl Philipp Moritz: Schriften zur Ästhetik und Poetik. Hrsg. von Hans Joachim Schrimpf. - Tübingen 1962, S. 50 f. 74 Ebd., S. 51. 75 Ebd., S. 52. 274

Wer dieser Regung nach bestimmender Tätigkeit aber nicht nachgibt, dem ist nach Moritz »ein großer Plan mißlungen« und ein »verstimmtes Leben«76 gewiß. Denn: »Nur der ist unglücklich, der noch nicht in seinem Gleise ist; es sey nun das gewöhnliche oder excentrische.«77 Etwas weniger enthusiasmiert feiert Jean Paul die aus dem geregelten Lauf der Dinge herausfallenden »Menschen-Kometen«78. Doch auch er sieht in ihrer Unberechenbarkeit, die »leichter auf Jahrtausende die Gestalt des Sternenhimmels als die der Erde weissagen« läßt79, eine bestaunenswürdige »Freiheit des Einzelnen«, die sich »Gesetze und Bahnen wählen und wühlen, und auf Jahrhunderte die Welt irren oder segnen und der Nemesis trotzen« kann.80 Aber Willkürlichkeit ist für Jean Paul nicht schon immer Ausdruck positiven Geschichtswillens; vielmehr erscheint ihm — ähnlich wie Kant und Goethe — das Tun mancher Helden mitunter als das genialer Störenfriede, die dem Gang der Vorsehung nur für eine Zeitlang eine andere Richtung geben: »[S]olchen Menschen-Kometen läßt die reiche Natur ihr Stören aller Bahnen zu; denn sie ist mit geistigen und physischen Gesetzen bewaffnet genug, um damit — freilich mit Zeitverlust — [...] die Schwankungen der Freiheit wieder mit der Regel auszugleichen.«81

Einen weiteren neuen Akzent der Kometenmetaphorik bringt Novalis ins Spiel. Jn Glauben und Wissen steht das beschweifte Gestirn bei ihm nicht allein für die Verhaltensweisen revolutionärer Individuen, sondern figuriert gleichsam als das Sinnbild der gesamten Französischen Revolution: »Die alte Hypothese, daß die Kometen die Revolutionsfackeln des Weltsystems wären, gilt gewiß für eine andre Art von Cometen, die periodisch das geistige Weltsystem revolutiniren und verjüngen. Der geistige Astronom bemerkt längst den Einfluß eines solchen Cometen auf einen beträchtlichen Theil des geistigen Planeten, den wir die Menschheit nennen. Mächtige Überschwemmungen, Veränderungen der Klimate, Schwankungen des Schwerpunkts, allgemeine Tendenz zum Zerfließen, sonderbare Meteore sind die Symptome dieser heftigen Incitation, deren Folge den Inhalt eines neuen Weltalters ausmachen wird.«82

76 Ebd. 77 Ebd. 78 79 80 81 82

Jean Paul: Sämmtliche Werke. Band XXXIII. - Berlin 1827, S. 7. Ebd. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Novalis: Schriften. Hrsg. von Paul Kiuckhohn und Richard Samuel, Bd. 2. - Stuttgart 1960, S. 489 f.

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Etwas von diesem »Inhalt eines neuen Weltalters« ist sicherlich durch die von den Revolutionären angestrebte Staatsform abgedeckt. Die aber hat Görres etwa zu gleicher Zeit wie Novalis ebenfalls im Rekurs auf das Kometenschema illustriert. Anläßlich einer bildlichen Darstellung verschiedener Staatsformen durch Kegelschnitte schreibt er jedenfalls der Ellipse als der dem Bahnverlauf der meisten Kometen entsprechenden geometrischen Figur die republikanische Verfassung zu. Die herausragende Eigenschaft der Kometen, die Exzentrizität, aber ist ihm dabei Kriterium und Gradmesser der Demokratie: »Die Exzentrizität ist hier mehr oder minder beträchtlich, nachdem sie mehr oder minder in die demokratische [Staatsform] übergeht«.83

IV Nach Durchsicht der Tradition der Kometenmetaphorik und des Bildungshintergrundes des Schülers Georg Büchner dürfte zweierlei deutlich geworden sein: Büchner verfügte mit hoher Wahrscheinlichkeit über recht detaillierte astronomische Kenntnisse, die eine reflektierte und differenzierte Metaphernbildung erlaubten; und er orientierte sich, was den politischen Kontext der astronomischen Metaphern angeht, möglicherweise an dem einen oder anderen Vorbild. Offen ist die Frage, welchen Stellenwert er selber seinen aufs Politische zielenden Metaphern in der Ktfio-Rede beimaß: Gebrauchte er sie nur am Rande, als Ausfüller oder als Signale des Protestes, oder verband er mit ihnen ein wohlüberlegtes Konzept seiner historischen und politischen Einsichten? Will man diese Frage beantworten, so reicht es nicht, allein den erkennbaren Sinn der angesprochenen Metaphern in Büchners Verwendung zu ergründen; notwendig ist vor allem eine genauere Bestimmung ihres systematischen Ortes innerhalb des Redetextes. In formaler Hinsicht bereitet dies natürlich keine Probleme. Die hier betroffene Passage mit dem gehäuften Auftreten astronomischer Termini gehört nach einem von Büchner beachteten rhetorischen Schema ganz eindeutig der Disposition an. Sie ist Teil eines Redeabschnitts, der nach antikem Vorbild »den Hörer wohlwollend, gespannt und aufnahmebereit«84 machen soll, d. h. gemessen am eigentlichen Redeziel nur strategische Bedeutung hat. Verstünde man aber nun tatsächlich Büchners Einleitung in diesem Sinne als bloße Einstimmung, dann dürfte man jenen Politik und Sternkunde verbindenden Sätzen kein allzu großes inhaltliches Gewicht 83 J. Görres: Ausgewählte Werke. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Bd. 1. — Freiburg, Basel, Wien 1978, S. 26. 84 Quintilian, zitiert nach Schaub, S. 39.

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beimessen. Die astronomischen Vergleiche wären nur dazu da, die Neugierde der Zuhörer zu wecken und nicht, um bereits einem zentralen Anliegen des Redners Ausdruck zu verleihen. Thema wäre allein Kato — und die Verteidigung seines Selbstmordes einziges Redeziel. Doch wie die Forschungen Gerhard Schaubs zur Schulrhetorik gezeigt haben, ist diese Einschätzung nicht haltbar. Danach ist Kato zwar der im Vordergrund stehende Gegenstand der Rede, aber die Auseinandersetzung mit ihm ist letzlich nicht Zweck des Unternehmens. Redet Büchner über Kato, so geht es ihm nicht vordergründig um Leben und Sterben des römischen Staatsmannes, sondern anhand von dessen Biographie urn ein allgemeines Thema, das die Einleitung entwickelt und der Hauptteil am Paradigma veranschaulicht. Entsprechend einer alten Rhetoriktradition dient Kato in Büchners Konzeption nur als »exemplum« bzw. als »Beispielfigur«, d. h. »als Beleg für das in der Einleitung Ausgeführte«85. Das übergreifende Thema der Rede könnte man nun im Ideal der »Aufopferungsbereitschaft des Menschen für Vaterland und Freiheit« sehen86, also in der Behandlung jener Tugenden, die Kato in der Tat wie kein zweiter verkörpert und die auch im Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer schon Gegenstand der Rede waren. Aber wie die Einleitung der Kato-Rede mit der über die Pforzheimer nur bis zu einem bestimmten Punkt identisch ist, nämlich genau bis zu jener Stelle, wo Büchner die neuen astronomischen Metaphern einführt, so gibt es auch im Thematischen eine entsprechende Differenz. Hatte sich Büchner in der Helden-Tod-Rede noch darauf beschränkt, diejenigen ganz selbstverständlich zu feiern, die unter Mißachtung ihres eigenen Lebens für die hehren Ideale kämpften, so sieht er sich in der Kato-Rede offenbar genötigt, seine Position des Heldenlobs zu verteidigen: Das Freiheitspathos, das in der früheren Rede noch ungetrübt schien, wird rechtfertigungsbedürftig. Nimmt man nun Schaubs schlüssige These von der Konzeption Katos als Beispielfigur ernst, so läßt sich die apologetische Wende von der Helden-Tod-Redt zur Kato-Rede schlechterdings nicht mehr allein durch die Notwendigkeit einer argumentativen Widerlegung christlicher Einwände gegen den Selbstmord Katos erklären. Wie die Person, so muß auch der Selbstmord — obwohl der als solcher schon ein Lieblingsthema Büchners ist — unbedingt exemplarisch für etwas stehen, das auch bei anderen »Helden der Vergangenheit oder Gegenwart«87 der Verteidigung bedarf, mag es sich dabei auch um etwas ganz anderes und schwererwiegendes als einen Freitod handeln. 85 Schaub, S. 38. 86 Ebd. 87 MA, S. 27. 277

Was Büchner verteidigt, ist weder die Tat eines Einzelnen noch eine einzelne Tat, sondern in einem weiteren Sinne das, was er in der astronomischen Passage seiner Einleitung die Exzentrizität nennt. Indem er die großen Männer, die »Riesen«88 der Geschichte, mit Kometen vergleicht, die »[i]n ihrem exzentrischen Laufe [...] nur Irrbahnen zu beschreiben« scheinen, in Wahrheit aber doch einem Wink der »Vorsehung« folgen, formuliert er in metaphorischer Form den Ansatz eines Themas, bei dem es um die positive Darstellung scheinbar irregulärer Phänomene, die Rechtfertigung bestimmter Gestalten der Geschichte geht, die »wie Kometen die Bahn der Jahrhunderte« durchkreuzen.89 Danach dürfte ein Zentralgestirn der Historiographie wie Caesar, der »glückliche Katilina«90, in Büchners Apologie genauso ausgeschlossen sein wie stillschweigend die beiden Totengräber der Französischen Revolution, Napoleon und Lafayette, während ein Latour d'Auvergne91 und ein Jean Marie Roland92 oder die in den Schülerschriften nirgends genannten Protagonisten des »Freiheits-Kampf[es] der Franken«93, nämlich Danton, Robespierre und St. Just vermutlich genau jenem Heldentypus angehören, an den Büchner bei der Beschreibung seiner >Menschen-Kometen< gedacht hat.94 Daß Büchner in der Ktfto-Rede nicht schlichtweg die Mächtigen der Geschichte und ihre »Paradegäule« meint, sondern die Opponenten der Macht im Auge hat, dafür ist die ganze Tradition der politischen Kometenmetaphorik Beleg. In faktisch allen der im letzten Abschnitt dargelegten Beispiele steht der Komet mit seinen besonderen Merkmalen für die Schematisierung der beiden großen Parameter politischen Fortschritts, nämlich für die Freiheit und für die Veränderung. Die Kometen repräsentieren einerseits die »Freiheit des Einzelnen«, die sich gegenüber dem normalen Geschieh tsverlauf »entgegengesetzte Gesetze und Bahnen wähl[t]«95. Und sie verkörpern andererseits die Wirkungen der Freiheit auf die Geschichte, nämlich die durch die >Menschen-Kometen< angekündigten oder ausgelösten Revolutionen und Reformationen bestehender Verhältnisse. In diesem Sinn eines »Ausdruck[s] der vis centrifuga« macht sich Büchner die Kometenmetapher als Chiffre einer »symbolischen Natur-

Ebd. Ebd. Ebd., S. 29. Ebd., S. 18. Ebd., S. 36. Ebd., S. 18. Vgl. zu diesem Zusammenhang Herbert Wenders Thesen; in: Wuppertaler Büchner Tage. Hrsg. von den Wuppertaler Bühnen. Februar 1988, S. 35 f. 95 Jean Paul: Sämtliche Werke, a. a. O., S. 6.

88 89 90 91 92 93 94

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Wissenschaft«96 zunutze. Dabei gelingt ihm die Mobilisierung ihres kritischen Potentials durch die Betonung nicht allein der Regellosigkeit, sondern des Doppelcharakters von Unberechenbarkeit und Gesetzmäßigkeit. Hatte Jean Paul noch das Wirken der >Menschen-Kometen< auch als willkürliches Moment im Geschichtsverlauf gedeutet, das dem eigentlich vorgesehenen Gang der Entwicklung entgegensteht, so sieht Büchner im Unvorhersehbaren des Phänomens zugleich die »Vorsehung« am Werk. In zutreffender Anlehnung an astronomische Verhältnisse interpretiert er das scheinbare Irrlaufen der Kometen der Geschichte als unausweichliches Wirken »eben so unerforschlich[er], als unabänderlich [er]«97 Gesetzmäßigkeiten und stellt den von ihm beschworenen Typus des Helden wie dessen astronomisches Pendant zwischen Freiheit und Notwendigkeit: Die heroische Lebensbahn, die in exzentrischer Rückung vom Gewöhnlichen abweicht, erscheint so trotz eines unvorhersehbaren Verlaufs als Ausdruck geschichtlicher Notwendigkeit. Mit diesem Gedanken, der die Freiheit der großen Individuen relativiert, werden diese nun in Verfolgung einer Rechtfertigungsabsicht von ihrer Verantwortlichkeit entlastet: Wer etwas tut, was im Plan der Geschichte ohnehin vorgesehen war, muß danach für die Ergebnisse seines Handelns nicht in gleicher Weise haften wie derjenige, der über das Motiv seiner Entscheidung einschließlich sämtlicher ihrer Folgen frei gebietet. Die großen Helden mögen in ihrer Exzentrizität tun, was sie nur wollen, sie sind schon immer gerechtfertigt, wenn ihre »großen Wirkungen [...] beweisen, daß ihre Erscheinung lange vorher durch [die] Vorsehung angeordnet war« 98 . Die Kategorie der geschichtlichen Notwendigkeit legitimiert so bei Büchner weniger eine prinzipielle extraordinäre Maßlosigkeit der »Gigant [en] unter Pygmäen«99 oder eine anmaßende Verachtung alles Gewöhnlichen; sie verteidigt vielmehr die Exzentrizität als Inbegriff unorthodoxen, revolutionären Tuns, das wie die ungebärdige Natur selbst, die dem politischen Genie die Regel gibt, nicht darauf verpflichtet werden kann, sich an den Maßregeln des Status quo auszurichten. Auf die Spitze getrieben wird diese Argumentation im bisher hier unberücksichtigten zweiten Abschnitt der Rede. In drei anaphorisch aneinandergereihten rhetorischen Fragen offenbart sich dort, was Büchner eigentlich unter exzentrischem Verhalten subsumiert, wenn er dieses an den großen Männern verteidigt: 96 So Ernst Meyer in der Diskussion um Goethes Metamorphose der Pflanzen; zitiert nach Walter Brednow: Symbol und Symbolik in der Biologie Goethes. — In: Goethe-Jahrbuch 83 (1966), S. 243. 97 MA, S. 27. 98 Ebd. 99 Ebd., S. 29. 279

»Wer will dem Adler die Bahn vorschreiben, wenn er die Schwingen entfaltet und stürmischen Plug's sich zu den Sternen erhebt? Wer will die zerknickten Blumen zählen, wenn der Sturm über die Erde braust und die Nebel zerreißt, die dumpfbrütend über dem Leben liegen? Wer will nach den Meinungen und Motiven eines Kindes wägen und verdammen, wenn Ungeheures geschieht, wo es sich um Ungeheures handelt?100

In diesen Sätzen wird überdeutlich, was in der Kato-Rede in die apologetische Richtung treibt. Büchner muß in die Rolle des Verteidigers schlüpfen, weil er die großen Freiheitskämpfer der Geschichte nicht nur für die Ideale ihres Tuns belobigen, sondern die unausweichlichen Folgen ihres Handelns, die unter Umständen gewaltsamen Begleiterscheinungen der von ihnen bewirkten Revolutionen als unumgängliche Übel politischer Praxis legitimieren will. So zählen die »zerknickten Blumen« nichts angesichts der großen Veränderung, werden die Verdammungsurteile über die, welche die Reibungsverluste historischen Fortschritts veranlassen, als Kinderei zurückgewiesen und das »Ungeheure«, mit dem man die sogenannten Schrecken der Französischen Revolution assoziieren mag, als angemessener Ausdruck eines monumentalen historischen Ereignisses in Anspruch genommen. In der Stoßrichtung solcher Argumentation und der Form ihrer metaphorischen Einkleidung zeigt sich Büchner der Naturmetaphorik des Jakobinismus101 und dem anschaulichen Geschichtsdenken Herders verpflichtet. Die Vorstellung von den im Sturmwind der Geschichte »zerknickten Blumen« scheint jedenfalls abhängig von einem geschiehtsphilosophischen Modell, nach dem der sich »krümmende [...] Schlangenweg [...] der Vorsehung«102, der »über Millionen Leichname zum Ziel«103 geht, »leicht umher spielende Äste« nicht schont, sondern »mitten im Sonnenstrale verdorren« läßt, weil diese »in der Hand der Vorsehung [nur] Werkzeug« sind.104 Wichtiger aber als die Frage, von wem sich Büchner in seinen Naturmetaphern beeinflußt zeigt, ist die Tatsache, daß in ihnen etwas zum Ausdruck kommt, was an die großen Naturanalogien der St. Just-Rede im Danton erinnert.105 Was der siebzehnjährige Schüler 1830 am Red-

100 Ebd., S. 28. 101 Vgl. Hans-Wolf Jäger: Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz. — Stuttgart 1971, S. 79 ff. 102 Herder, Bd. 5, S. 575. 103 Ebd., S. 576. 104 Ebd., S. 575. 105 Es ist darauf hinzuweisen, daß manche Wendungen der St. Just-Rede ebenfalls eine zumindest mittelbare gedankliche Beeinflussung Büchners durch Herder wahrscheinlich erscheinen lassen. So ist beispielsweise St. Justs Wort vom »Strom der Revolution«, der »bei jedem Absatz bei jeder neuen Krümmung seine Leichen ausstößt« (MA,

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nerpult selber tatsächlich ausgesprochen hat, scheint in der metaphorischen Form und im geschichtsphilosophischen Inhalt vergleichbar mit dem, was der Dichter des Danton St. Just im Nationalkonvent sagen läßt. Auch wenn der Appell der Ktfio-Rede, angesichts des geschichtlichen Fortschritts nicht die »zerknickten Blumen« zu zählen, noch ein größeres Stück von St. Justs Ansicht entfernt erscheint, zum Wohle der »[Umgestaltung der moralischen Natur [...] der Menschheit [...] durch Blut gehen [zu] dürfen«106, besteht die Differenz zwischen beiden Äußerungen doch mehr durch die unterschiedliche Zuspitzung der Formulierung als durch die begründete Sache. Von der Kato-Rede her stellt sich daher noch einmal die Frage nach Büchners Stellung zur St. Just-Rede. Aufgrund der Parallelität von Schülerrede und Dramen text fällt es tatsächlich »schwer zu glauben, Büchner habe solche Metaphern [wie die des St. Just] und die darin zum Ausdruck kommende Geschichtsauffassung schlechthin verworfen.«107 Die Kdtfo-Rede vielmehr beweist, daß die Naturmetaphern für Büchner eine fruchtbare Hilfskonstruktion waren, um die sich widersprechenden Aspekte des Gesetzlichen und Chaotischen in der Geschichte theoretisch in den Griff zu bekommen. Wenn er davon spricht, daß die Kometen der Politik nach langen Perioden scheinbar sinnlosen Irrlaufens plötzlich große Wirkungen entfalten können, so drückt sich darin die Hoffnung aus, daß auch in solchen Phänomenen, die dies in ihrer chaotischen Struktur gar nicht vermuten lassen, jene geschichtliche Notwendigkeit wirksam ist, die letztlich den Gang politischen und sozialen Fortschritts vorantreibt. Und wenn er historische »Ereignisse und ihre Wirkungen nicht [danach] beurteilen [will], wie sie äußerlich sich darstellen«, sondern nach »ihre[m] inneren tiefen Sinn«108 fragt, so tut er dies in dem Bewußtsein, daß sich der Fortschritt mitunter hinter der Maske der Katastrophen verbirgt. S. 104), vergleichbar mit Herders Vorstellung vom sich »krümmenden Schlangenwege der Vorsehung« (Herder, s. Anm. 70, Bd. 5, S. 575) und dem Gang der Geschichte als »Sturz eines Wildwassers von den Gebürgen« (Herder, Bd. 14, S. 232), mit »Klippe[n]«, an denen »viele zu Grunde gehen« (Herder, Bd. 5, S. 574) und »Fußtritte[n] und Steilhöhen, auf denen wenige wandeln können« (ebd., S. 575). Überhaupt ist der »Strom« ein von Herder gern gebrauchtes Bild für die Verdeutlichung seiner Überzeugung, daß der Geschichte trotz all ihrer blutigen Verluste ein Sinn innewohnt: »Das Samenkorn aus der Asche des Guten ging in der Zukunft desto schöner hervor und mit Blut befeuchtet, stieg es meistens zur unverwelklichen Krone. Das Maschienenwerk der Revolution irret mich also nicht mehr: es ist unserem Geschlecht so nöthig, wie dem Strom seine Wogen, damit er nicht ein stehender Sumpf werde.« (Herder, Bd. 13, S. 353). 106 MA, S. 104. 107 Herbert Wender: Georg Büchners Bild der Großen Revolution. Zu den Quellen von Danton's Tod. - Frankfurt a. M. 1988 (= Büchner-Studien, Bd. 4), S. 177. 108 , S. 28. 281

»Der Freiheit eine Gasse!« Eine Stoff- und wirkungsgeschichtliche Anmerkung zu Dantons Tod Von Ingo Fellrath (Tours)

In Büchners Drama Dantons Tod spricht der Souffleur Simon vor der Festnahme Dantons unter anderem folgende Sätze: »Ich werde vorangehn, Bürger. Der Freiheit eine Gasse! Sorgt für mein Weib! [...] Vorwärts Bürger, Ihr werdet Euch um das Vaterland verdient machen.«1

Zu dieser Stelle vermerken die gängigen Werkausgaben entweder gar keinen Kommentar2 oder sie begnügen sich mit ziemlich unzureichenden Angaben. Der Kommentator der Hanser-Ausgabe stellt lediglich fest, daß der Satz »Der Freiheit eine Gasse!« bei deutschen Freiheitsdichtern (Max von Schenkendorf, Theodor Körner, Georg Herwegh) nachweisbar ist.3 Auch die spezielleren Untersuchungen und Erläuterungen zu Dantons Tod bieten für diese Stelle nur wenig mehr. Der Büchner-Kommentar von Walter Hinderer4 zitiert ausführlich Angaben aus dem Büchmann zu Schenkendorfs Gedicht Schill. Eine Geisterstimme, zu Körners Aufruf von 1813 und zu Herweghs Gedicht Der Freiheit eine Gasse von 1841. Daneben verweist er auf eine Parallele bei Seneca dem Jüngeren, der zum Selbstmord des Cato Uticensis äußerte: »Una manu latam libertati viam faciet« (»Mit einer Hand wird er der Freiheit eine Bahn schaffen«). Dazu ist die Quelle falsch angegeben. Eine Abhandlung mit dem Titel De period, hat Seneca nicht verfaßt, sondern dieser Satz steht in De providentia (2, 10), dem ersten Stück der Dialogi. Vermutlich übernahm Hinderer hier die Ausführungen Helbigs, der ebenfalls eine Ausgabe des Büchmann heranzog, auf die Beschäftigung 1 DT, S. 46 f. 2 Dies ist der Fall in folgenden Ausgaben: Georg Büchner: Gesammelte Werke. Hrsg. v. G. P. Knapp. — München 51986. (= Goldmann Klassiker 7510).— Georg Büchner: Werke. Ausgew. u. eingel. v. Henri Poschmann. - Berlin-Weimar 51980 (= Bibliothek deutscher Klassiker). — Georg Büchner: Werke und Briefe. Hrsg. v. Fritz Bergemann. — Frankfurt/Main 131979. 3 WuB. Benutzt wurde die Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft. — Darmstadt 31984, S. 354. 4 Hinderer, S. 108. 282

Büchners mit Cato Uticensis hinwies (wobei ihm beim Abschreiben der Fehler unterlaufen ist) und die Gedichte Schenkendorfs und Körners als mögliche Quellen namhaft machte.5 Der Danton-Kommentar von Jansen begnügt sich mit dem Hinweis auf Körners Aufruf.6 Sonstige Spezialstudien, etwa die von Behrmann und Wohlleben7 oder die von Sieß8, erläutern die Stelle überhaupt nicht. Den spärlichen Kommentaren haftet ein bemerkenswertes Manko an: sie greifen zu kurz, indem sie sich darauf beschränken, in erster Linie ein Körner-Zitat auszumachen. Besagte Stelle muß in einem erweiterten Zusammenhang untersucht werden, und zwar so, wie sie eingangs zitiert ist. Alle vier Sätze gehören zusammen. Sie beziehen sich auf Arnold Winkelried (dessen Name in den Erläuterungen noch nicht einmal fällt) und stellen in nuce die sog. Winkelried-Episode dar. Daß auch Körner darauf anspielt, wird klar, wenn man den vorangehenden Vers aus dem Aufruf hinzunimmt: »Drück' dir den Speer in's treue Herz hinein: Der Freiheit eine Gasse!«9

Auch Körner hat hier bloß einen Stoff aufgegriffen und in Form einer Anspielung in sein Gedicht eingearbeitet, eben weil seine Aktualisierung zur Zeit der Befreiungskriege sichtlich einem Bedürfnis entsprach. Er steht mitten in einer Tradition, deren literatur- und wirk ungsgesch i ehrlicher Ablauf einmal, zumindest summarisch, nachgezeichnet werden muß. Die Winkelried-Episode soll sich in der Schlacht bei Sempach 1386 abgespielt haben, als ein Heer der Eidgenossen den schwergepanzerten Rittern des Herzogs Leopold III. von Österreich gegenüber stand. Ein Mann aus Unterwaiden soll sich der lanzenstarrenden Phalanx entgegengestürzt und eine Bresche ermöglicht haben, in die seine Waffengefährten eindrangen und infolgedessen den Sieg errangen. Diese heroische Waffentat erscheint zuerst in Schweizer Chroniken des 15. und 16. Jahrhunderts, ohne daß der Name Winkelried erwähnt wird. Erst in der Chronik des Gilg Tschudi von 1564 wird der Held Arnold Winkel5 Louis Ferdinand Heibig: Das Geschichtsdrama Georg Büchners. Zitatprobleme und historische Wahrheit in »Dantons Tod«. - Bern, Frankfurt/M. 1973, S. 124. - Heibig benützte Büchmann: Geflügelte Worte. - Berlin 311964, in der die Quelle S. 291 korrekt mit De provid. angegeben ist. 6 Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner. Dantons Tod. Hrsg. v. Josef Jansen. — Stuttgart 1986 (= Reclams ÜB 8104), S. 29. 7 Alfred Behrmann und Joachim Wohlleben: Büchner: Dantons Tod. Eine Dramenanalyse. - Stuttgart 1980. 8 Jürgen Sieß: Zitat und Kontext. Eine Studie zu den Dramen »Dantons Tod« und »Leonce und Lena«. — Göppingen 1975. 9 Theodor Körner's sämmtliche Werke. Hrsg. v. Karl Streckfuß. — Berlin 1861, S. 17.

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ried genannt. Tschudi benutzte das Schlachtjahrzeitbuch von S tans, in dem ein Arnoldt Winkellriedt aus Unterwaiden unter den bei Sempach Gefallenen aufgeführt wird. Er nahm auch in seine Chronik das Sempacher Lied eines gewissen Halbsuter aus Luzern auf10, der in 66 Strophen den Hergang der Schlacht beschrieb. Die Strophen 27, 28 und 29 beziehen sich auf Winkelried, der namentlich auftritt: ein Winkelried der seit he! >wend ir's geniessen lan min arme kind und frowen, so wil ich ein frevel bstan. Trüwen lieben eidtgenossen, min leben verlür ich mitt. Si hand ir Ordnung gslossen: wir mögends in brechen nitt. He! ich will ein inbruch han: das wellend ir min gschlechte in ewig geniessen lan.< Hiemit do tätt er fassen ein Arm voll spiess behend: den sinen macht er ein gassen; sin leben hat ein end. t·..].« 11

Dies ist die erste literarische Darstellung der Winkelried-Tat, auf der alle nachfolgenden fußen. Ihre Historizität hat in der Forschung zu Kontroversen Anlaß gegeben12, aber das. wissenschaftliche Für und Wider tat der Popularität der Gestalt keinesfalls Abbruch, denn sie inkarnierte den unbändigen Schweizer Freiheitswillen und den dazu gehörigen Opfermut. Sie erhielt eo ipso neben Teil einen festen Platz im eidgenössischen Pantheon. Die Autorität eines Johannes von Müller verlieh ihr früh den Schein von Authentizität, indem er die Episode in seine Geschichte der Schweizer Eidgenossenschaft aufnahm: 10 Benutzt wurde Th. von Liebenau: Die Schlacht bei Sempach. Gedenkbuch zur 5. Säkularfeier. Im Auftrag des hohen Regierungsrats des Kantons Luzern verfaßt. — Luzern 1886, S. 91 f., 345, 448. 11 Ebd., S. 363. — Halbsuters Lied tauchte in einem sehr entstellten Auszug in Des Knaben Wunderhorn auf. Vgl. dazu Ernst Ludwig Rochholz: Eidgenössische Liederchronik. — Bern 1835, S. 50 u. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesammelt von L. Achim und [sie] Arnim und Clemens Brentano. Vollständige Ausgabe nach dem Text der Erstausgabe von 1806/1808. - München [1966], S. 238 ff. 12 Siehe den Artikel »Winkelried« in: Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz. Bd. 7. - Neuenburg 1934, S. 551: »Die von der Pseudokritik des 19. Jahrh. angegriffene Episode wird durch die neuere Forschung wieder glaubwürdig in den Rahmen des Schlachthergangs gerückt.«

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»Diesen Augenblick banger Unschlüssigkeit entschied ein Mann vom Lande Unterwaiden, Arnold Struthan von Winkelried Ritter; er sprach zu seinen Kriegsgesellen, >Ich will euch eine Gasse machenSorget für mein Weib und für meine Kinder; treue liebe Eidgenossen, gedenket meines GeschlechtsIch will euch eine Gasse machen, Eidgenossen! sorgt für mein Weib und meine Kinder!< umfieng einen ganzen Arm voll Spieße, und

13 Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft Anderes Buch. Von dem Aufblühen der ewigen Bünde. Durch Johannes Müller. Zweyter Theil. — Leipzig 1786, S. 438 f. 14 Ludwig Maria Kaiser: Arnold von Winkelried oder die Schlacht bei Sempach. Ein eidsgenössisches Trauerspiel in fünf Aufzügen. — Zürich 1792. — Zu Kaiser siehe Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz. Bd. 4. — Neuenburg 1927, S. 438. 15 Kaiser: Arnold von Winkelried, S. 89 16 Ebd., S. 90.

17 Johann Jakob Hottinger: Arnold von Winkelried, ein vaterländisches Schauspiel in vier Aufzügen. — In: Deutsche Schaubühne oder dramatische Bibliothek der neuesten LustSchau-Sing- und Trauerspiele. Bd. I. — Augsburg u. Leipzig o. J. (Bleistiftvermerk im Exemplar der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: 1812). — Schweizer Ausgabe: Jh. Jak. Hottinger: Arnold von Winkelried. Schauspiel in vier Aufzügen. — Winterthur 1810. 285

drückte sie kräftig zu Boden; dabei ward er niedergestochen, aber wir schnell in die Lücke f...].« 1 8

Ende des 18. Jahrhunderts nahm sich Friedrich Lehne, ein deutscher Jakobiner, den Stoff vor und besang die Schlacht bei Sempach in einem Gedicht von 22 Strophen. Die entscheidende Stelle lautet bei ihm so: »Da trat ein Held in dieser Noth, Kühn aus der Schaar der Freyen; Als Retter aller sich dem Tod Für's Vaterland zu weihen. Wohlan! es preiße laut mein Lied, Den tapfern Arnold Winkelriedl >Ich öffne, Brüder! euch die Bahn! Ertönt aus seinem Munde; Nur nehmt euch meiner Kinder an, Und tröstet Kunigunde! Verflucht sey, der nun zagt und flieht! Vergeßt nicht Arnold Winkelriedl[Für die Freiheit eine Gasse!< Dacht' ein Held in Todesmuth.«26

1813, im Jahr der preußischen Erhebung, taucht er in zwei weiteren Gedichten namentlich auf: »Noch kämpft der Leonide, Noch schallt die Hermannsschlacht, Der Fall der Winkelriede Uebt wieder seine Macht.«27 »Ein Held für alle Zeiten Fiel Arnold Winkelried.«28

Es ist anzunehmen, daß Körner in seinem 1813 verfaßten Aufruf das von Schenkendorf vorformulierte »Für die Freiheit eine Gasse!« übernommen und auf die prägnante, schlagwortartige Formel »Der Freiheit eine Gasse!« gebracht hat. In dieser Form fand sie Aufnahme in Büchmanns Zitatenschatz, was als Maßstab eines gewissen Bekanntheitsund Beliebtheitsgrades gelten kann. Mit dem Ende der Freiheitskriege hörte die Wirkung der Kriegslyrik keineswegs auf, im Gegenteil, sie erlebte eigentlich erst im Nachhinein den Höhepunkt ihrer Popularität, was besonders für Körners Lieder zutrifft.29 Die Studentenschaft, in erster Linie die Burschenschaft, erging sich in grenzenlosem Enthusiasmus für den deutschen Tyrtäus und nahm seine Lieder quasi geschlossen, neben zahlreichen von Arndt und Schenkendorf, in ihre Kommersbücher auf, wo sie sich jahrzehntelang hielten.30 So mancher Student, der eine dichterische Ader verspürte, reimte im Stile Körners.31 Max von Schenkendorfs Gedichte. Hrsg. v. A. Hagen. - Stuttgart 31862, S. 29. Studenten-Kriegslied., a. a. O., S. 143. An die Schweiz^ a. a. O., S. 157. Begeisterung für Körner herrschte wohl auch im Weidigkreis, der die erste Strophe des Bundeslieds vor der Schlacht als Code benutzte (Katalog Marburg, S. 154). 30 Von den 33 Liedern, aus denen die Sammlung Leyer und Schwert besteht, finden sich noch zehn, zum Teil unter verändertem Titel, sowie zwei aus dem Nachtrag im Allgemeinen Deutschen Commersbuch (Lahr 1858), dem beliebtesten Kommersbuch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. — Noch nach der Jahrhundertwende konnte 26 27 28 29

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In den Liedern, die nach der Gründung der Allgemeinen deutschen Burschenschaft (1818) entstanden, wurde auch die kunterbunte Heldenverehrung weiter gepflegt, gelegentlich in ganzen Zyklen, in denen Winkelried genannt wird.32 In den Kommersbüchern, durch die ein burschenschaftlich angehauchter Geist weht, finden sich Gedichte auf ihn, oder er wird zumindest erwähnt. Ein gutes Beispiel ist das Kommersbuch Lieder teutscher Jugend33, das ein Gedicht von Eugen Bardili mit dem Titel Arnold Winkelried enthält. Darin heißt es: »>Dem Schwert der Genossen erkämpf ich die Gasse, Die Gattin und Kinder, wenn ich erblasse, Befehl' ich dem sorgenden Vaterland.EugeniaPhantasus< und begann mit dem warmen Interesse, der enthusiastischen Freude der Jugend Mutter und Schwester die Zaubermärchen des genialen Dichters vorzulesen.« 2 Im folgenden soll nachgewiesen werden, daß eines dieser »Zaubermärchen«, die — zunächst 1802, dann im Rahmen des Phantasus und der Schriften veröffentlichte — frühromantische Novelle Der Runenberg, die Konzeption des Büchnerschen Lenz strukturell und inhaltlich maßgeblich beeinflußt hat. Dieser These wird im Hinblick auf die für beide Texte zentrale Funktion der Gottesdienstdarstellungen sowie der Natur als Medium psychopathologischer Prozesse nachgegangen. 1 Zum Verhältnis Büchner - Tieck vgl. Friedrich Gundolf: Georg Büchner. - In: Martens, S. 82-97; Paul Landau: Lenz. - In: ebd., S. 32-49, insbes. S. 38 f.; Heinz Lipmann: Georg Büchner und die Romantik. - München 1923, passim; Rudolf Majut: Studien um Büchner. Untersuchungen zur Geschichte der problematischen Natur. — Berlin 1932, pass.; Kurt Voss: Büchners »Lenz«. Gehalt und Formgebung. - Berlin 1922, pass.; Hans Winkler: Georg Büchners »Woyzeck«. - Greifswald 1925, S. 138 u. 171. Philologisch konkretere Befunde bieten folgende neuere Arbeiten: Benn, passim u. insbes. S. 210; MA, S. 547; Burghard Dedner: Legitimationen des Schreckens in Georg Büchners Revolutionsdrama. — In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 343-380, insbes. S. 359-362; Ingrid Oesterle: Verbale Präsenz und poetische Rücknahme des literarischen Schauers. Nachweise zur ästhetischen Vermitteltheit des Fatalismusproblems in Georg Büchners Woyzeck. - In: GBJb 3 (1983), S. 168-199. 2 Luise Büchner: Ein Dichter. Novellenfragment. Mit Georg Büchners Kato-Rede, Anmerkungen und Nachwort hrsg. von Anton Büchner. - Darmstadt o. J., S. 67; zu Büchners Tieck-Lektüre vgl. zudem Gß ////, S. 83 u. 386.

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I Ludwig Tiecks von der Forschung gelegentlich als »Wahnsinns-Märchen« etikettierte Novellen3 zeichnen sich im Hinblick auf das für die Romantik topische Thema der »Seelenlandschaft« durch eine avancierte »poetisch-psychologische Diktion« und eine singuläre Konzeption des Psychischen in seiner Beziehung zur Natur aus4, die nicht allein ästhetische Maßstäbe gesetzt, sondern »eine entscheidende [...] Stufe >moderner< Psychologie überschritten« hat, indem sie »zwar nicht über die Begrifflichkeiten zeitgenössischer und heutiger Psychologie verfügte, [...] aber nichtsdestoweniger durch die Korrelation bestimmter Symbolkomplexe im Akt der Verlandschaftung der Seele diesen Theoriebildungen auf spezifische Weise Vorschub leistete.«5 Büchners Rückgriff auf Tieck, dessen poetisches Modell »verlandschafteter« Psyche in die Naturbilder und vornehmlich in die Exposition der Ltfwz-Erzählung einfließt, liegt im besonderen Fall des Runenberg bereits aufgrund der großen Affinität der Fabel zur Chronologie des Oberlin-Berichtes nahe. Abstrahiert man von der Märchenhandlung, in die der Pathologisierungsprozeß des Tieckschen Protagonisten eingebettet ist, so liest sich dessen »Anamnese« geradezu wie eine Strukturskizze von Lenz. Seelisch »verstrickt [...] in seltsamen Vorstellungen und Wünschen« 6 , vor der Enge und »wiederkehrenden Gewöhnlichkeit« des Daseins7 sowie den Forderungen des Vaters fliehend, gerät Christian, der Held der Erzählung, auf einer Odyssee durch monströse Gebirgslandschaften in psychische Verwirrung und endet schließlich — nach dem scheiternden Versuch, in dörflicher Abgeschiedenheit und unter einfachen Menschen ein »neues Leben« zu beginnen8 — in Wahnsinn und Gottlosigkeit. Im Kontext von Büchners subjektivierender Bearbeitung des biographischen Faktenmaterials über den »unglücklichen Poeten«9 ist ein thematisch wie strukturell weitreichender Rekurs auf Tiecks Novelle für jene Predigtszene festzustellen, die in ihrer Komplexität über die lapidaren Andeutungen der Hauptquelle weit hinausgeht10: 3 Vgl. Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Bd. 3: Frühromantik. - Leipzig 1940, S. 463, zit. nach Hanne Castein (Hrsg.): Ludwig Tieck. Der blonde Eckbert. Der Runenberg. Erläuterungen und Dokumente. — Stuttgart 1987, S. 21. 4 Vgl. Gerburg Garmann: Die Traumlandschaften Ludwig Tiecks: Traumreise und Individuationsprozeß aus romantischer Perspektive. — Opladen 1989, S. 213 u. ff., sowie Hanne Castein (Hrsg.), a. a. O., S. 25 f., 36-38, 65 ff. 5 Gerburg Garmann, a. a. O., S. 213. 6 Vgl. Ludwig Tieck's Schriften. Bd. 4. - Berlin 1828, S. 217. Ich zitiere aus dem Runenberg auch im folgenden nach dieser Ausgabe. 7 Vgl. ebd., S. 214. 8 Vgl. ebd., S. 218. 9 , S. 310 (Brief vom Oktober 1835). 10 Vgl. die Synopse in HA, Bd. l, S. 444-447. 298

Tieck »Gegen Mittag stand er über einem Dorfe, aus dessen Hütte eine [sie!] friedlicher Rauch in die Höhe stieg, Kinder spielten auf einem grünen Platze festtäglich geputzt, und aus der kleinen Kirche erscholl der Orgel&Azwg und das Singen der Gemeine. Alles ergriff ihn mit unbeschreiblich süßer Wehmuth, alles rührte in so herzlich, daß er weinen mußte. Die engen Gärten, die kleinen Hütten mit ihren rauchenden Schornsteinen, die gerade abgetheilten Kornfelder erinnerten ihn an die Bedürftigkeit des armen Menschengeschlechts, an seine Abhängigkeit vom freundlichen Erdboden, dessen Milde es sich vertrauen muß; dabei erfüllte der Gesang und der Ton der Orgel sein Herz mit einer nie gefühlten Frömmigkeit. Seine Empfindungen und Wünsche der Nacht erschienen ihm ruchlos und frevelhaft, er wollte sich wieder kindlich, bedürftig und demüthig an die Menschen wie an seine Brüder schließen, und sich von den gottlosen Gefühlen und Vorsätzen entfernen. Reizend und anlockend dünkte ihm die Ebene mit dem kleinen Fluß, der sich in mannichfaltigen Krümmungen um Wiesen und Gärten schmiegte; mit Furcht gedachte er an seinen Aufenthalt in dem einsamen Gebirge und zwischen den wüsten Steinen, er sehnte sich, in diesem friedlichen Dorfe wohnen zu dürfen, und trat mit diesen Empfindungen in die menschenerfüllte Kirche. Der Gesang war eben beendigt und der Priester hatte seine Predigt begonnen [...l.« 11

Büchner »Lenz stand oben, wie die Glocke läutete und die Kirchengänger, die Weiber und Mädchen in ihrer ernsten schwarzen Tracht, das weiße gefaltete Schnupftuch auf dem Gesangbuche und den Rosmarinzweig von den verschiedenen Seiten die schmalen Pfade zwischen den Felsen herauf und herab kamen. Ein Sonnenblick lag manchmal über dem Tal, die laue Luft regte sich langsam, die Landschaft schwamm im Duft, fernes Geläute, es war als löste sich alles in eine harmonische Welle auf. Auf dem kleinen Kirchhof war der Schnee weg, dunkles Moos unter den schwarzen Kreuzen, ein verspäteter Rosenstrauch lehnte an der Kirchhofmauer, verspätete Blumen dazu unter dem Moos hervor, manchmal Sonne, dann wieder dunkel. Die Kirche fing an, die Menschenstimmen begegneten sich im reinen hellen Klang-, ein Eindruck, als schaue man in reines durchsichtiges Bergwasser. Der Gesang verhallte, Lenz sprach, er war schüchtern, unter den Tönen hatte sein Starrkrampf sich ganz gelegt, sein ganzer Schmerz wachte jetzt auf, und legte sich in sein Herz. Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. Er sprach einfach mit den Leuten, sie litten alle mit ihm, und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müdgeweinte Augen Schlaf, und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnissen gequälte Sein, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte.«12

Oberlins stich wortgebende Notiz — »Hr. L... hielt auf der Kanzel eine schöne Predigt, nur mit etwas zu vieler Erschrockenheit«13 — wird in 1l Tieck, a. a. O., S. 226, Hervorhebungen von mir, A. K. 12 Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe [...] Hrsg. von Hubert Gersch. — Stuttgart 1984, S. 11. Hervorhebungen von mir. Ich zitiere Lenz im folgenden nach dieser Ausgabe. 13 Büchner, a. a. O., S. 37.

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Büchners Vergegenwärtigung des Geschehens in Anlehnung an den Runenberg fiktional ausgestaltet, wobei sich die Übernahmen keineswegs auf isolierte motivisch-metaphorische Reminiszenzen beschränken, sondern komplexe Strukturelemente miteinbeziehen, die auf eine Orientierung auch an dem kontextuellen Gefüge der literarischen Vorlage schließen lassen. So impliziert die Situierung des Protagonisten »oben«, über der feiertäglichen Szenerie14, daß der noch Außenstehende — von außen, aus dem »Gebirg« Gekommene — in einer Distanz erscheint, die der Individuationsproblematik entspricht und zugleich, indem sie eine Kontrastfunktion erfüllt, auf die Integration in die Gemeinde vorbereitet. Beide Darstellungen ähneln sich auch im Fortgang darin, daß sie den Ankömmling unter dem Eindruck des Gottesdienstes in einer Körpersprache der Rührung und Erweichung zeigen, die zu der vorangegangenen Beobachterhaltung in Opposition steht: »Er beugte sich weinend, als der Priester endlich den Segen sprach, er fühlte sich bei den heiligen Worten wie von einer unsichtbaren Gewalt durchdrungen

Büchner gestaltet die kathartische Erschütterung psychologisch vieldeutiger und gegenüber Tiecks kausaler Zuordnung zur religiösen Handlung immanenter als inneren Vorgang, behält jedoch die in der Märchennovelle vorgegebene gestisch-psychosomatische Charakterisierung bei: »Da rauschte die Quelle, Ströme brachen aus seinen Augen, er krümmte sich in sich, es zuckten seine Glieder, es war ihm als müsse er sich auflösen, er konnte kein Ende finden der Wollust; endlich dämmerte es in ihm, er empfand ein leises tiefes Mitleid in sich selbst, er weinte über sich, sein Haupt sank auf die Brust «16

Erotische Qualitäten, wie sie die zu höchster Intensität gesteigerten Affektsensationen Lenz' aufweisen, kennzeichnen den Zustand religiöser Euphorie auch im Runenberg. Dort werden die Verheißungen christlicher Nächstenliebe sinnlich verstärkt durch »ein junges Mädchen«, das, »dicht neben der Kanzel« sitzend, die frommen Gefühle des 14 Interferenzen, wie sie durch die widersprüchliche — möglicherweise den realen landschaftlichen Gegebenheiten geschuldete — topographische Angabe im Kontext entstehen: »die Kirche lag neben am Berg hinauf, auf einem Vorsprung« (Büchner, a. a. O., S. 11), stützen m. E. die These, daß es sich im folgenden um eine noch nicht vollständig integrierte Montage handelt. 15 Tieck, a. a. O., S. 227. 16 Büchner, a. a. O., S. 12. 300

Protagonisten festigt17 — ein Umstand, der dessen Bekehrung angesichts der sexuellen Verlockungen durch die Runenberg-Hexe überhaupt nur einigermaßen nachvollziehbar werden läßt. Indem er auf den bei Tieck hervorgehobenen emotionalen Aspekt des religiösen Erlebens zurückgreift18, einschließlich der dafür konstitutiven sinnlichen Reize wie Musik, Landschaft und menschliche Nähe19, kann Büchner zugleich an die darin angelegte Kontrastkonstellation anknüpfen, die sich aus dem Kontext ergibt. Konfrontiert mit den »wüsten Steinen« des Gebirges, die in der Märchennovelle für die Monstrosität, die destruktiven Potenzen einer menschenfeindlichen und gottlosen Natur stehen, droht dem Subjekt die Petrifizierung seiner Gefühlsfähigkeit, sein »Herz [muß] versteinern«20 und zu einer >metallischen< Kälte erstarren, die synonym ist mit dem Verlust von »Liebe und Gottesfurcht«21. In Büchners realistische Psychologie geht diese mythisierende Darstellung insoweit ein, als auch für Lenz das Gebirge zur Vergegenständlichung seiner Leidens- und Entfremdungserfahrungen, zum Schauplatz atheistischen Erschauderns und emotionaler Paralyse wird. Wenn Lenz, aller metaphysischen Illusionen ledig, »kalt und gleichgültig« geworden, zwanghaft lachen muß22, so

17 Vgl. Ticck, a. a. O., S. 227. Es ist kennzeichnend für Büchners realistische Verfahrensweise, daß die bei Tieck personifizierten und im Kontrast von rationaler und phantastischer Erzählebene vergegenständlichten psychologischen Konstellationen in die immanenten Ambivalenzen psychopathologischer Subjektivität integriert werden. Büchner verbindet die im Runenberg unterschiedlichen Sphären zugeordneten Schichten der Psyche, deren verdrängte Potentiale sich dort dem Subjekt in autonomer Gestalt gegenüberstellen (in der erotischen Hexe verkörpern bzw. »verdinglichen« sich die verbotenen Affekte und Wünsche, vgl. ebd., S. 222 ff. u. S. 229 f. sowie zu den hier als »mächtig« charakterisierten »Gliedern« der Frau — Büchner, a. a. O., S. 5, Z. 15). 18 Der Inhalt der Predigt — bei Büchner wird ein Text überhaupt nicht gegeben — bleibt für die Initiation der religiösen Euphorie auch bei Tieck marginal. Die in indirekter Rede wiedergegebene Ansprache des Pfarrers bekräftigt lediglich rationalisierend die bereits zuvor erfolgte Bekehrung. Vgl. Tieck, a. a. O., S. 226 f. (s. auch unten Anm. 19). 19 Vgl. auch Büchners Brief an die Familie vom Januar 1833: »[...] Auf Weihnachten ging ich Morgens um vier Uhr in die Frühmette ins Münster. Das düstere Gewölbe mit seinen Säulen, die Rose und die farbigen Scheiben und die kniende Menge waren nur halb vom Lampenschein erleuchtet. Der Gesang des unsichtbaren Chores schien über dem Chor und dem Altare zu schweben und den vollen Tönen der gewaltigen Orgel zu antworten. Ich bin kein Katholik und kümmerte mich wenig um das Schellen und Knien der buntscheckigen Pfaffen, aber der Gesang allein machte mehr Eindruck auf mich, als die faden, ewig wiederkehrenden Phrasen unserer meisten Geistlichen [...].« MA, S. 277. 20 Vgl. Tieck, a. a. O., S. 240. 21 Vgl. ebd., S. 235.

22 Vgl. Büchner, a. a. O., S. 20 und 22.

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korrespondiert dies mit der automatenhaften »Lustigkeit«, die bei Tieck eine defizitäre, pathologisierte Affektlage anzeigt23. Konstituierendes Moment des unglücklichen Bewußtseins, welches den religiösen Resozialisierungsversuch schließlich scheitern läßt, ist die Omnipräsenz des Leidens, die für Lenz zur Negation eines Gottes führt, der nicht rettend interveniert. Dem entspricht im Runenberg jenes verhängnisvolle Wissen um »das Unglück der ganzen Erde«24, das in der Predigtszene als »die Bedürftigkeit des armen Menschengeschlechts« thematisch wird, die der Protagonist in seiner religiösen Euphorie affirmativ umzudeuten, d. h. in die >brüderliche< Kollektivität der Gemeinde zu überführen versucht. Dieses — bei ihm auch sonst wichtige — Thema nimmt Büchner hier mit dem Motiv des »von materiellen Bedürfnissen gequälten Seins« auf. Im Mittelpunkt der gottesdienstlichen Kommunikation steht dabei das solidarische Miteinander-Leiden, das »gen Himmel leiten« der kollektivierten Schmerzen. Jene »unbeschreiblich süße Wehmuth«, die Tiecks Protagonist zugleich als »eine nie gefühlte Frömmigkeit« empfindet, geht sowohl in die Diktion des Büchnerschen Rekurses ein als auch in die dort radikalisierten Ambivalenzen einer zwischen »Schmerz« und »Wollust« changierenden Befindlichkeit. Die »zurücknehmende Umdeutung« des Religiösen25, wie sie in Lenz' Schmerz-Emphase insofern angelegt ist, als der Schmerz immer wieder und immer nur auf die fühlende Subjektivität zurückverweist und derart seine transzendente Interpretation subversiv unterläuft 26 , erlangt im un23 »Wie sehr mußte er daher erstaunen, als ihn an einem Abend Elisabeth beiseit nahm und unter Thränen erzählte, wie sie ihren Mann nicht mehr verstehe, er spreche so irre, vorzüglich des Nachts, er träume schwer, gehe oft im Schlafe lange in der Stube herum, ohne es zu wissen, und erzähle wunderbare Dinge, vor denen sie schaudern müsse. Am schrecklichsten sei ihr seine Lustigkeit am Tage, denn sein Lachen sei so wild und frech, sein Blick irre und fremd.« (Tieck, a. a. O., S. 235) »[...] und der Alte mußte sich jezt ebenfalls vor der Lustigkeit des Sohnes entsetzen, denn sie dünkte ihm ganz fremdartig, und als wenn ein andres Wesen aus ihm, wie aus einer Maschine, unbeholfen und ungeschickt heraus spiele.« (Ebd., S. 237 f.). 24 »[...] ich erinnere mich ganz deutlich, daß mir eine Pflanze zuerst das Unglück der ganzen Erde bekannt gemacht hat, seitdem verstehe ich erst die Seufzer und Klagen, die allenthalben in der ganzen Natur vernehmbar sind, wenn man nur darauf hören will; in den Pflanzen, Krautern, Blumen und Bäumen regt und bewegt sich schmerzhaft nur eine große Wunde, sie sind der Leichnam vormaliger herrlicher Steinwelten, sie bieten unserm Auge die schrecklichste Verwesung dar.« (Ebd., S. 237). 25 Vgl. Heinrich Anz: »Leiden sey all mein Gewinnst«. Zur Aufnahme und Kritik christlicher Leidenstheologie bei Georg Büchner. - In: GBJb l (1981), S. 160-168, hier S. 164. 26 Die von Anz nachgewiesene kontrafaktorische Umdeutung der »heiligen Schmerzen« und des »Verlangens nach Leiden«, »welches nun eine Belebung und Steigerung des Sichfühlens bedeutet, die Sehnsucht nach der >Wollust des Schmerzesprofanierend< 27 in die Unmittelbarkeit eines versöhnten Subjekt-NaturVerhältnisses übersetzt, wie es ihm im Steintal noch gegeben scheint: »[...] alte vergangne Hoffnungen gingen in ihm auf; das Neue Testament trat ihm hier so entgegen, und eines Morgens ging er hinaus. Wie Oberiin ihm erzählte, wie ihn eine unaufhaltsame Hand auf der Brücke gehalten hätte, wie auf der Höhe ein Glanz seine Augen geblendet hätte, wie er eine Stimme gehört hätte, wie es in der Nacht mit ihm gesprochen, und wie Gott so ganz bei ihm eingekehrt, daß er kindlich seine Lose aus der Tasche holte, um zu wissen, was er tun sollte, dieser Glaube, dieser ewige Himmel im Leben, dies Sein in Gott; jetzt erst ging ihm die Heilige Schrift auf. Wie den Leuten die Natur so nahtrat, alles in himmlischen Mysterien; aber nicht gewaltsam majestätisch, sondern noch vertraut!« 28 Während die romantische Utopie einer idyllisch-friedfertigen Natur bei Tieck in krassem Gegensatz zur Dämonie der durch die RunenbergZauberin allegorisch verkörperten Steinwelt steht, integriert Büchner, dabei wiederum mit Bezug auf Tieck29, das »Unheimliche« in das myaus dem Phantasus: »Die Fülle des Lebens, ein gesundes kräftiges Gefühl des Daseins bedarf selbst einer gewissen Trauer, um die Lust desto inniger zu empfinden f...]. Was ist es nur, fing Clara nach einiger Zeit wieder an, das uns in der Heiligkeit des Schmerzes oft wie im Triumph hoch, hoch hinauf hebt, und das uns, möcht' ich doch fast sagen, mit der Angst eines Jubilicrens befällt, eines tiefen Mitleidcns, einer so innigen Liebe, eines solchen Gefühls, das wir nicht nennen können, sondern daß wir nur gleich in Tränen untergehn und sterben möchten? [...] Das Leben möchte brechen vor Lust und Schmerz [...]. Wer nicht auf diese Weise, sagte Friedrich, das Evangelium lesen kann, der sollte es nie lesen wollen, denn was kann er anders dort finden, als die höchste Liebe und ihre heiligen Schmerzen?« Ludwig Tieck: Phantasus. Schriften, Bd. 6. Hrsg. von Manfred Frank. — Frankfurt a. M. 1985, S. 81 ff. Das Thema des Lustgewinns im Schmerz läßt sich auch in seiner polemisch-satirischen Variante, wie sie Büchner in Dantons Tod und Leonce und Lena entwickelt, auf Tieck zurückführen. Im Revolutionsdrama wird das Martyrium sensual istisch umgedeutet, wenn Danton sagt: »Es gibt nur Epicuräer und zwar grobe und feine, Christus war der feinste«; in der Komödie sind es Rosettas Tränen, die als »Ein feiner Epikuräismus« aufgefaßt werden (vgl. MA, S. 86 u. 167). In diesem Sinne auch Tieck: William Lovell. Hrsg. von Walter Münz. — Stuttgart 1986, S. 125: »Keiner, als Du Eduard, kennt so gut den seltsamen Hang meiner Seele, bei fröhlichen Gegenständen irgend einen traurigen, melancholischen Zug aufzusuchen und ihn unvermerkt in das lachende Gemälde zu schieben; dies würzt die Wollust durch den Kontrast noch feiner, die Freude wird gemildert, aber ihre Wärme durchdringt uns um so inniger; es sind die Ruinen, die der Maler in seine muntre Landschaft wirft, um den Effekt zu erhöhen. Dieser Art von feinstem Epikuräismus habe ich manche Stunden zu danken, die zu den schönsten meines Lebens gehören [...].« 27 Vgl. Büchner, a. a. O., S. 29. 28 Ebd., S. 10. 29 Büchner kontaminiert biblische und eher heidnisch-naturreligiöse Mythizismen des Köhler- und Aberglaubens, womit er die bei Tieck getrennten Sphären christlicher

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thisierte Bild der Natur. Die über die synthetisierenden religiösen Bilder hergestellten versöhnlichen Empfindungen sind psychologisch zwiespältig, denn »unaufhaltsame« Geisterhände und körperlose »Stimmen« bergen auch den Schrecken in sich30, und das »Weihnachtsgefühl«, das Lenz in einer friedlichen Winterlandschaft empfindet, hat zur Voraussetzung, daß die grauenerregenden »Flächen und Linien« vom Schnee verdeckt sind31. Erfolgt die pessimistische Negation der romantischen Utopie in Tiecks Märchen dadurch, daß das Happy End des traditionellen Volksmärchens sabotierend vorweggenommen wird, die monströsen Naturmächte über die Idylle siegen, so sind die pathologischen Potenzen in den Büchnerschen Landschaften stets präsent. Auch in der Kirchenszene werden die latent bedrohlichen Stimmungen der Natur lediglich abgedämpft, sanfter schattiert, jedoch nicht aufgehoben; die Empfindung der »Harmonie« ist durch das düstere Kolorit des nassen Mooses, der Kreuze, durch »verspätete« Blumen und den Wechsel von Dunkelheit und Licht mit einem Firnis von Melancholie überzogen. Dieser psychologischen Mehrdeutigkeit der Landschaft entspricht Lenz' widersprüchliche Affektlage — die permanent drohende Pathologisierung des Geschehens kündigt sich über innere und äußere Signale zugleich an. Daß auch diese für Büchners Erzählung so signifikante Verknüpfung von Psyche und Natur wesentliche Impulse aus der Auseinandersetzung mit Tieck bezieht, soll im folgenden dargelegt werden. Gläubigkeit und dämonischer Geisterwelt integriert. An die zitierte Passage gemahnen die Empfindungen des Tieckschen Helden im Bereich des Dämonischen: »zuweilen war, nachdem der Schimmer ihm entgegen spiegelte, der Jüngling schmerzhaft geblendet, dann wieder besänftigten grüne und blau spielende Scheine sein Auge [...]. In seinem Innern hatte sich ein Abgrund von Gestalten und Wohllaut, von Sehnsucht und Wollust aufgethan, Schaaren von beflügelten Tönen und wehmüthigen und freudigen Melodien zogen durch sein Gemüth, das bis auf den Grund bewegt war: er sah eine Welt von Schmerz und Hoffnung in sich aufgehen [...]« (Tieck, a. a. O., S. 224). 30 »Er erzählte, wie er eine Stimme im Gebirge gehört, und dann über den Tälern ein Wetterleuchten gesehen habe, auch habe es ihn angefaßt und er habe damit gerungen wie Jakob.« Büchner, a. a. O., S. 18. 31 Vgl. Büchner, a. a. O., S. 10. Auch hier ein deutlicher Rekurs auf Tieck: William LovelL - Stuttgart 1986, S. 548 f.: Tieck »Ein wüster Rauch lag auf den fernen Bergen, und eine grauenvolle Dämmerung machte die tiefen Abgründe noch furchtbarer. Mit gewaltigem Schrecken ergriff mich das Gefühl der Einsamkeit, es war, als wenn mich die Gebirge umher mit entsetzlichen Tönen anredeten; ich ward scheu, als ich die großen Wolkenmassen so frech am Himmel über mir hängen sah.«

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Büchner »[...] die einförmigen gewaltigen Flächen und Linien, von denen es ihm manchmal war, als ob sie ihn mit gewaltigen Tönen anredeten, waren verhüllt [...].«

II »[...] selbst die schönste Gegend hat Gespenster, die durch unser Herz schreiten, sie kann so seltsame Ahndungen, so verwirrte Schatten durch unsre Phantasie jagen, daß wir ihr entfliehen, und uns in das Getümmel der Welt hinein retten möchten.«32

In das Psychogramm des Büchnerschen Lenz fließt mit dem Problem der Entfremdung von der Natur ein zentrales Thema Tiecks mit ein, das in der Rahmenerzählung des Phantasus poetologisch reflektiert wird. Das Unheimliche der Natur, wie es in der psychologischen Vieldeutigkeit ihrer Phänomene und Stimmungen zum Ausdruck gelangt, wird ästhetisch erfahrbar im Medium des Märchens — für Tieck als mimetische Kategorie stets »Naturmärchen«33 —, worin sich der »poetische Wahnsinn«34 artikuliert. Konfrontiert mit der Natur, vornehmlich mit der anarchisch-unbeherrschten des Gebirges35, empfindet das Subjekt die hinter dem Vitalen lauernde »Leere«, das »Chaos«36, aus dem die Gespenster zu schreiten drohen, die es — gewissermaßen präventiv — phantasiert. Indem das Märchen also die schreckenerregenden Seiten der Natur und die mit diesen korrespondierenden Zustände psychischer Entgrenzung — »Traum« und »Wahnsinn« 37 — in ästhetisch kontrollierter Form reproduziert, wird das Irrationale, das Chaos mit phantastischen »Gestalten bevölkerft]« 38 , die das Unfaßbare faßlich werden lassen. im Runettberg — insofern unterscheidet sich die Novelle von anderen, »das Seltsamste und das Gewöhnliche« stärker »vermischenden« Märchen Tiecks39 — lassen sich zwei Erzählebenen erkennen, deren eine, der Märchensphäre zugehörige, der Perspektive des Protagonisten entspricht, der in »allen Pflanzen und Krautern« nurmehr die »Gespenster« sieht40, deren andere stärker durch die aufgeklärte Sicht des Autors geprägt ist. Dementsprechend erfolgt die Thematisierung des NaturPsyche-Problems von differierenden Standpunkten aus, die im Hinblick 32 Ludwig Tieck: Phantasus. Schriften, Bd. 6. Hrsg. von Manfred Frank. - Frankfurt a. M. 1985, S. 112. 33 Vgl. ebd., S. 113. 34 Vgl. ebd. 35 »Die Berge und Felsen sind das greifbarste >Nicht-Ich< der Romantik.« Friedrich Gundolf: Ludwig Tieck. - In: Wulf Segebrecht (Hrsg.): Ludwig Tieck. - Darmstadt 1976 (= Wege der Forschung 368), S. 238. 36 Vgl. Phantasus, a. a. O., S. 113. 37 Vgl. Der Runenberg, a. a. O., S. 225. 38 Vgl. Phantasus, a. a. O., S. 113.. 39 Vgl. Paul Gerhard Klussmann: Die Zweideutigkeit des Wirklichen in Ludwig Tiecks Märchennovellen. - In: Wulf Segebrecht (Hrsg.), a. a. O., S. 352-385. 40 Vgl. Tieck: Der Runenberg, a. a. O., S. 235. 305

auf die in Lenz praktizierte »Verschränkung von psychogen befindlicher Figurensicht und rational befindender Autorensicht«41 von Interesse sind42. In der folgenden Schilderung alpiner »Waldeinsamkeit« wird jener für Tiecks Novellen charakteristische Vorgang einer »Verlandschaftung der Seele«43 auf deutlich distanzierte, auktorial kontrollierte Weise dargestellt: »Nachmittags befand ich mich schon unter den vielgeliebten Bergen, und wie ein Trunkner ging ich, stand dann eine Weile, schaute rückwärts, und berauschte mich in allen mir fremden und doch so wohlbekannten Gegenständen. Bald verlor ich die Ebene hinter mir aus dem Gesichte, die Waldströme rauschten mir entgegen, Buchen und Eichen brausten mit bewegtem Laube von steilen Abhängen herunter; mein Weg führte mich schwindlichten Abgründen vorüber, blaue Berge standen groß und ehrwürdig im Hintergrunde. Eine neue Welt war mir aufgeschlossen, ich wurde nicht müde.«44

In diesem retrospektiv-reflektierenden Bericht bleibt die Ansicht der Landschaft eingebunden in den rationalisierenden — hier offensichtlich identischen — Autor- und Erzählerkommentar, der die Phänomene der >Trunkenheit< und >rauschhaften< Verfremdung der Umwelt als solche zu werten weiß. Die Pathologisierung des Geschehens zeigt sich dahingegen in der Trennung der Perspektiven an, die dadurch erfolgt, daß der Autor durch den Wechsel in die dritte Person narrative Distanz einnimmt und derart die sukzessive Verbindung von Psyche und Natur signalisiert: »Seine Schritte waren wie beflügelt, sein Herz klopfte, er fühlte eine so große Freudigkeit in seinem Innern, daß sie zu einer Angst empor wuchs. — Er kam in Gegenden, in denen er nie gewesen war, die Felsen wurden steiler, das Grün verlor sich, die kahlen Wände riefen ihn wie mit zürnenden Stimmen an, und ein einsam klagender Wind jagte ihn vor sich her. So eilte er ohne Stillstand fort, und kam spät nach Mitternacht auf einen schmalen Fußsteig, der hart an einem Abgrunde hinlief. Er achtete nicht auf die Tiefe, die unter ihm gähnte und ihn zu verschlingen drohte, so sehr spornten ihn irre Vorstellungen und unverständliche Wünsche.«45 41 Vgl. Poschmann, S. 166. 42 Technisch kann sich Büchner für den Eingang seiner Erzählung, der Lenz' Gang durchs »Gebirg« als unmittelbare Amalgamierung von Psyche und Natur einsetzen läßt, gleichfalls an Tiecks Novellenbeginn orientieren, mit dem der Leser zugleich ins »innerste Gebirge« und in das Innere des Protagonisten versetzt wird, der, seine Situation reflektierend, die Stimmungen der umgebenden Natur in sich aufnimmt. Vgl. Tieck: Runenberg, a. a. O., S. 214. 43 Vgl. Gerburg Garmann, a. a. O. (s. oben Anm. 4), S. 11 und pass. 44 Tieck, a. a. O., S. 219 f. 45 Ebd., S. 221 f. 306

Büchner knüpft an solche Modelle der »Verlandschaftung« in der von Poschmann konstatierten Weise an, daß die »sachliche Erzählhaltung des Autors, die deutlich zur Form des Berichts tendiert, keinen Zweifel am Wirklichkeitsstatus des Erzählten aufkommen« läßt46. Er orientiert sich hierbei einerseits an Details der Symptomatik — so heißt es etwa auch über den durchs Gebirge irrenden Lenz: »Müdigkeit spürte er keine« — und setzt diese andererseits, wo sie bei Tieck kommentierend diagnostiziert wird, technisch um in eine »trunkene« Optik, in Lenz' dynamisierte, der rastlosen Motorik und dem Rhythmus der Landschaft mimetisch angepaßte Naturwahrnehmung, dabei in der Diktion und in den topographischen Requisiten häufig auf die Vorlage zurückgreifend: »[...] Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. [...] Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine [...]; er meinte, er müsse alles mit ein paar Schritten ausmessen können. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden [.. .]«.47

Hier sprechen die Phänomene der Natur und der Psyche aus und für sich selbst.48 Tiecks Interpretation seines Protagonisten als getrieben von »irren Vorstellungen« würde in Büchners Text beispielsweise lauten: »nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.«49 Der Zurücknahme auktorialer Rationalisierungen, zugunsten erhöhter Autonomie und Unmittelbarkeit des Dargestellten, entspricht die 46 Vgl. Poschmann, S. 166. 47 Büchner, a. a. O., S. 5. 48 Eine »realistische« Übersetzung des Dämonischen in die psychologischen Ambivalenzen der Landschaft erfolgt bei Tieck beispielsweise im Lovell, a. a. O., S. 122: »Oben auf dem Berge gab uns die Natur einen wunderbaren Anblick. Wie ein Chaos lag die Gegend, so weit wir sie erkennen konnten, vor uns, ein dichter Nebel hatte sich um die Berge gewickelt, und durch die Täler schlich ein finstrer Dampf; Wolken und Felsen, die das Auge nicht voneinander unterscheiden konnte, standen in verworrenen Haufen durcheinander; ein finstrer Himmel brütete über den grauen, ineinanderfließenden Gestalten. Itzt brach vom Morgen her durch die dämmernde Verwirrung ein schräger, roter Strahl, hundertfarbige Scheine zuckten durch die Nebel und flimmerten in mannigfaltigen Regenbogen, die Berge erhielten Umrisse und wie Feuerkugeln standen ihre Gipfel über dem sinkenden Nebel.« Die Kontraste von Licht, Konturiertheit und Dämmerung, Nebel, Gewölk etc. gehören auch in Lenz zum psychologischen Instrumentarium: »Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch«, a. a. O., S. 5, Z. 7 ff.; »und alle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten«, ebd., S. 6, Z. 3 f. 49 A. a. O., S. 5.

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Streichung der Märchenhandlung, die das Pathologische ästhetisierend ausgrenzt, womit sich das von Ingrid Oesterle für Woyzeck nachgewiesene realistische Prinzip einer »Entliterarisierung« von Schauermotiven50 auch für den Prosatext bestätigen läßt. Augenfällig wird diese Vorgehensweise am folgenden Rekurs auf den Runenberg, mit dem die Kopfgeburten der Stille, die im Märchen in phantastischer Gestalt auftreten, einem psychologischen Deutungszusammenhang zugeführt werden: Tieck » [ . . . ] war die Sonne tiefer gesunken und breite Schatten fielen durch das enge Thal. Eine kühlende Dämmerung schlich über den Boden weg, und nur noch die Wipfel der Bäume, wie die runden Bergspitzen waren vom Schein des Abends vergoldet. Christians Gemüth ward immer trübseliger, er mochte nicht nach seinem Vogelheerde zurück kehren, und dennoch mochte er nicht bleiben; es dünkte ihm so einsam und er sehnte sich nach Menschen. [...] Indem es finstrer wurde, und der Bach lauter rauschte, und das Geflügel der Nacht seine irre Wanderung mit umschweifendem Fluge begann, saß er noch immer mißvergnügt und in sich versunken; er hätte weinen mögen, und er war durchaus unentschlossen, was er thun und vornehmen solle. Gedankenlos zog er eine hervorragende Wurzel aus der Erde, und plötzlich hörte er erschreckend ein dumpfes Winseln im Boden, das sich unterirdisch in klagenden Tönen fortzog, und erst in der Ferne wehmüthig verscholl. Der Ton durchdrang sein innerstes Herz, er ergriff ihn, als wenn er unvermuthet die Wunde berührt habe, an der der sterbende Leichnam der Natur in Schmerzen verscheiden wolle. Er sprang auf und wollte entfliehen, denn er hatte wohl ehemals von der seltsamen Alrunenwurzel gehört, die beim Ausreißen so herzdurchschneidende Klagetöne von sich gebe, daß der Mensch von ihrem Gewinsel wahnsinnig werden müsse. «51 308

Büchner »Es war gegen Abend ruhiger geworden; das Gewölk lag fest und unbeweglich am Himmel, so weit der Blick reichte, nichts als Gipfel, von denen sich breite Flächen hinabzogen, und alles so still, grau, dämmernd-, es wurde ihm entsetzlich einsam, er war allein, ganz allein, er wollte mit sich sprechen, aber er konnte, er wagte kaum zu atmen, das Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er mußte sich niedersetzen; es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren, er riß sich auf und flog den Abhang hinunter. Es war finster geworden, Himmel und Erde verschmolzen in eins. Es war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm.« 52

Büchners Tieck-Paraphrase — auch strukturell, in ihrer narrativen Situierung und Funktion auf die Vorlage bezogen53 — erfolgt zunächst in deutlicher Parallelführung zur Handlung im Runenberg. Atmosphärische Gegebenheiten und emotionale Reaktion stimmen überein — der Kausalzusammenhang von einbrechender Nacht und Einsamkeitsgefühlen ist psychologisch unmittelbar schlüssig. Während die im Tieck-Zitat ausgesparte Passage von Büchner als redundant behandelt wird — hier unterbrechen eingeschobene Reflexionen den vorgeführten Prozeß zunehmender seelischer Determination durch die Außenwelt54 —, setzt der Rekurs dort wieder ein, wo das Geschehen im Runenberg in die Schauermotivik der Märchenhandlung umschlägt. Büchner überträgt die pathologische Symptomatik, die bei Tieck im Kontext des Phantastischen steht, in die Phantasmen einer schizoiden Persönlichkeit. Derart werden die unterirdisch klagenden Töne< der Alraune in die hypersensibilisierte Wahrnehmung des kranken Lenz übersetzt, der die eigenen körperlichen Regungen als dröhnenden Widerhall aus dem Erdinneren empfindet55. Diese Technik der Transformation bewahrt die — begrifflich nicht aufhebbare — Funktion des Schauermotivs als poetischer Vergegenwärtigung psychogener Phänomene, wobei die Mythisierung und Ästhetisierung des Dargestellten zugunsten einer funktionalen Verwendung des literarischen Mittels zurückgenommen wird. Daß dieses Verfahren des >entpoetisierten< Gebrauches poetischer Bilder einen Zugewinn an psychologischer Realitätsanalyse und somit an Realismus bedeutet, wird evident auch dort, wo Büchner dem paranoiden Fluchtimpuls, der bei Tieck innerhalb des mythischen Deutungszusammenhangs >rationalisiert< und auf eine unglaubliche Ursache zurückgeführt wird, eine personifizierende Metapher für den Wahnsinn zuordnen kann, ohne daß dies den Realitätsstatus des Erzählten schmälert56.

50 51 52 53

Vgl. Ingrid Oesterle, a. a. O. (s. oben Anm. 1). Tieck, a. a. O., S. 215 ff. Hervorhebungen von mir, A. K. Büchner, a. a. O., S. 6. Hervorhebungen von mir. Ebenso wie die oben zitierten Naturdarstellungen greift Büchner diese Sequenz für die vom Oberlin-Bericht unabhängigen Passagen zu Beginn seiner Erzählung auf. Vgl. die Synopse in HA, Bd. l, S. 436-439, u. insbes. S. 438, Z. 1-15, mit S. 439, Z. 1-15. 54 Vgl. Tieck, a. a. O., S. 216. 55 Vgl. auch Georg Büchner: Woyzeck. [Hrsg.] von Henri Poschmann. — Frankfurt a. M. 1985, S. 53 (Teilentwurf I, Szene 1,6): »[...] Was spricht da? Da unten aus dem Boden hervor, ganz leise was, was. [...] und immer lauter und jetzt brüllt es, als war der Himmel ei Rachen [...]. Das zischt und wimmert und donnert.« Zum Schauermotiv des »hohlen Bodens« in Woyzeck vgl. auch I. Oesterle, a. a. O., S. 192 f. 56 Vgl. auch Georg Büchner: Lenz·) a. a. O., S. 9: »Aber nur solange das Licht im Tale lag, war es ihm erträglich; gegen Abend befiel ihn eine sonderbare Angst, er hätte der

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Das gleiche gilt für das an anderer Stelle in Lenz aufgegriffene Phänomen des Stimmen-Hörens, dessen pathognostischer Charakter sich aus dem Kontext unmittelbar erschließt: »[...] sehn Sie, Herr Pfarrer, wenn ich das nur nicht mehr hören müßte mir wäre geholfen. >Was denn, mein Lieber?< Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt, seit ich in dem stillen Tal bin, hör' ich's immer, es läßt mich nicht schlafen, ja Herr Pfarrer, wenn ich wieder einmal schlafen könnte.«^

Die angeführten Beispiele einer kritisch-produktiven Aneignung Tieckscher Motive durch Büchner bestätigen in bezug auf den Romantiker Gerschs Feststellung, daß »Büchners Erzähl-Projekt [...] nicht einfach eine literarische Umsetzung des Oberlin-Berichts« ist, »sondern eine umfassend die Tradition reflektierende und transzendierende Umschaffung und Neuschaffung.«58 Während Tiecks Schauerbilder den Grenzübertritt in die Sphäre des poetischen Scheins, ins Reservat des »Märchens« signalisieren, wohin die irrationalen Potenzen des Subjekts ästhetisch verbannt werden, gibt Büchner diese — einem normativen Vernunftbegriff verpflichtete — Hierarchisierung der Realitätsebenen auf, indem er die Metaphern des Wahnsinns zum adäquaten Ausdruck einer spezifischen Wirklichkeitserfahrung und zum Medium eines unglücklichen Bewußtseins avancieren läßt, das sich nunmehr autonom, in seiner e i g e n e n Sprache, auszusprechen vermag.

Sonne nachlaufen mögen; wie die Gegenstände nach und nach schattiger wurden, kam ihm alles so traumartig, so zuwider vor, es kam ihm die Angst an wie Kindern, die im Dunkeln schlafen; es war ihm als sei er blind; jetzt wuchs sie, der Alp des Wahnsinns setzte sich zu seinen Füßen, der rettungslose Gedanke, als sei alles nur sein Traum, öffnete sich vor ihm [...].« 57 Ebd., S. 30. Vgl. auch Dantons Tod, MA, S. 98: »Und soll ich nicht zittern, wenn so die Wände plaudern? Wenn mein Leib so zerschellt ist, daß meine Gedanken unstät, umirrend mit den Lippen der Steine reden? Das ist seltsam.« Vgl. Woyzeck, a. a. O., S. 75 (Teilentwurf II, Szene 6): »[...] Höre Sie nichts? + -l- + + als die Welt spricht, sehen Sie die lange Linien, und es ist als ob es einem mit fürchterlicher Stimme anredete.« (S. auch oben Anm. 31). 58 In: Georg Büchner: Lenz, a. a. O., S. 72.

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Kurze Notiz zu Freiligrath und Büchner Von Reinhard Pabst (Frankfurt a. M.)

Früher noch als Hebbel, der Ende Oktober 1839 auf den Phönix-Druck von Danton's Tod stieß1, und Herwegh, dessen allererste Erwähnung Büchners (in einem bislang unveröffentlichten Brief) Ende August 1839 datiert2, wurde Ferdinand Freiligrath auf den Autor von Danton s Tod3 aufmerksam. Am 21. Februar 1839 schreibt er in einem Brief an Büchners »dubiosen« 4 Darmstädter Bekannten, den Schriftsteller und Übersetzer Heinrich Kün(t)zel (1810-1873)5: »[...] O, diese Hunde von Kritikern 6 , die den Zwiespalt der Muse mit dem Leben nicht kennen, u. in vornehmer Selbstgefälligkeit auf die Zuckungen herabsehen, in denen man sich zwischen dem Rufe der Inspiration u. der Misere des Alltags abmartern muß. - Burns, Byron, Hölderlin, Günther, Grabbe, Chatterton, Stagnelius7, Büchner — was nenn' ich sie alle, die ich bald in einem längern

1 Vgl. Hauschild, S. 179 ff. 2 Freundlicher Hinweis von Frau Ingrid Pepperle, Berlin. 3 Freiligrath, Übersetzerkollege Büchners bei der Sauerländer-Ausgabe von Victor Hugo's sämmtlichefn] Werke[n], besaß sowohl die Erstausgabe von Danton's Tod (1835) als auch die Nachgelassenen Schriften von Georg Büchner (1850). Vgl. Hauschild, S. 203, Anm. 166a, und Karl-Alexander Hellfaier: Die Bibliothek Ferdinand Freiligraths. — Detmold 1976. 4 Gß ////, S. 371. 5 Zu Friedrich (nicht: Johann [Hauschild, S. 356, Anm. 25]) Heinrich Kün(t)zel, der seit 1838 mit Freiligrath in Kontakt stand, vgl. Büchners Brief vom 24. August 1832 an die Brüder Stöber (»kenne ich persönlich«, »sehr gebilde[t]« [MA, S. 276]); Walther Fischer: Des Darmstädter Schriftstellers Johann Heinrich Künzel (1810-1873) Beziehungen zu England. - Gießen 1939; Werner R. Lehmann / Thomas Michael Mayer: Ein unbekannter Brief Georg Büchners. Mit biographischen Miszellen aus dem Nachlaß der Gebrüder Stoeber. - In: Euphorion 70 (1976), S. 177 ff. 6 Anspielung auf (Goethe: Kenner und Künstler): »Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent«, von Freiligrath am I.Januar 1839 in einem Brief an Wolfgang Müller zitiert. Vgl. Wilhelm Buchner: Ferdinand Freiligrath. Ein Dichterleben in Briefen. Bd. 1. — Lahr 1882, S. 297. 7 Erik Johan Stagnelius (1793-1823), schwedischer Lyriker und Dramatiker. Zum zeitgenössischen Stagnelius-Bild s. den biographischen Artikel im Brockhaus (Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon. Bd. 10. — Leipzig 81836, S. 597 f.).

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Gedichte vorführen will8, daß doch Wunden da sind, darein die Ungläubigen ihre Finger legen können?9 — [.. ,]«10

Auf welchen Quellen und Vorstellungen Freiligraths Büchner-Kenntnis beruhte — sein Interesse scheint besonders der Biographie des »zu früh gestorbenen Genies«11 gegolten zu haben —, und ob er auch Büchners Werke produktiv rezipierte, soll im Rahmen weiterer Recherchen geprüft werden. Daß u. a. Kün(t)zel ein >Informant< Freiligraths gewesen sein könnte, ist durchaus denkbar12; Büchner kam vor allem im Som-

8 Dieser Plan wurde nicht realisiert (vgl. Maria Deventer: Freiligraths Fragmente. Ein Beitrag zur Kenntnis des Dichters und seines Schaffens. - Quakenbrück 1931 [Phil. Diss. Münster 1929], S. 53). Jedoch hat Freiligrath sicher nicht von ungefähr Georg Herweghs Gedichtzyklus Zum Andenken an Georg Büchner, den Verfasser von Danton3s Tod (1841) in die von ihm herausgegebene — und von Hauschild (S. 230) übersehene — Anthologie Dichtung und Dichter (Dessau 1854, S. 733—738) aufgenommen. Freiligrath war seit 1845 mit Wilhelm und Caroline Schulz eng befreundet (vgl. Walter Grab: Dr. Wilhelm Schulz aus Darmstadt. Weggefährte von Georg Büchner und Inspirator von Karl Marx. - Frankfurt/Main, Ölten, Wien 1987, S. 310 ff.), deren persönliche Erinnerungen an Büchner Herwegh in seinen drei Gedichten verwertete. 9 Vgl. Johannes 20, 24-29. 10 Zit. nach der Handschrift in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt (Nachlaß Künzel, 2/II/143). Vollständiger, wenngleich nicht immer korrekter Erstdruck des Briefes in: Buchner, s. Anm. 6, S. 298—300 (die hier wiedergegebene Passage: S. 300). 11 Gutzkow in der Vorbemerkung zum Erstdruck des Lewz-Fragments im Telegraph, Januar 1839 (GW, Bd. 8, S. 34). 12 Jan-Christoph Hauschild hält es sogar für möglich, daß Kün(t)zel auch Heine en passant von Büchner berichtet haben könnte (ders.: Büchnery Gutzkow ... und Heine. Spätfolgen einer »Namenskameradschaft«. - In: Heine-Jahrbuch 1987, S. 227). Kün(t)zel lebte vom Frühjahr 1837 bis Ende Januar 1838 in Paris, wo er sich mit Heine befreundete. Zum Verhältnis Kün(t)zel/Heine vgl. Heines Briefe vom 18. März 1838 an Kün(t)zel (»Seyen Sie überzeugt, daß ich an wenige Landsleute mit so großer Freude denke, wie an Sie, lieber Künzel! Bewahren Sie mir Ihre liebreiche Gesinnung.«) und vom 8. Juli 1838 an Stephanie Du-Motet (über Kün(t)zel: »[...] si vous le voyez dites lui que je I'aime beaucoup«). In: Heinrich Heine: Säkularausgabe (HSA). Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique Paris. Bd. 21. — Berlin / Paris 1970, S. 262 und 282. Ferner: Michael Werner (Hrsg.): Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen. Bd. 1. 1797-1846. - Hamburg 1973, S. 366 f. (Resümee der Erinnerungen Kün(t)zels an Heine, 1842) und S. 372 (Brief Ludwig Wihls an Kün(t)zel, 15. April 1838: »[...] [Heine] meint es sehr gut mit dir.«). — Zum Kreis um Heine in Paris gehörte noch ein weiterer Büchner-Bekannter, der Darmstädter Lithograph Christian Schüler (geb. 1811). Der Bruder des Frankfurter Wachenstürmers Ernst Schüler war im Herbst/Winter 1834 in das — nicht zustandegekommene — Projekt des Kaufs einer Druckerpresse miteinbezogen, mit der die Darmstädter Sektion der Gesellschaft der Menschenrechte< die Flugschriftenagitation fortsetzen wollte (vgl. Adolf Schmidt: Aus den Kreisen des Jungen Deutschlands. — In: Zeitschrift für Bücherfreunde^ 4. Jg., 1. Hälfte, Heft 4, 1912, S. 111; Katalog Darmstadt, S. 184).

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mer 1833, nach seiner Rückkehr aus Straßburg, gelegentlich mit ihm zusammen.13 Allerdings lassen Büchners ironische Bemerkungen über das enervierende »ästhetische Geschlapp« des »H. Dr. H. K.«, der »schon alle mögliche poetische Accouchierstühle probiert« habe (Brief an August Stöber; Darmstadt, 9. Dezember 1833)14, deutlich erkennen, wie distanziert das Verhältnis zwischen beiden war.15

13 Dies geht aus zwei Briefen von Büchners Jugendfreund Friedrich Zimmermann und von Kün(t)zel hervor. Am 5. August 1833 bittet Zimmermann von Gießen aus Kün(t)zel in Darmstadt (wo dieser als »Accessist« an der Hofbibliothek beschäftigt war): »Grüße Büchner recht herzlich. Ich freue mich gar sehr, die Ferien wieder bei ihm sein zu können.« (Handschrift in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Nachlaß Künzel 2/II/431; freundlicher Hinweis von Jan-Christoph Hauschild, Düsseldorf). Am 24. Oktober 1833 teilt Kün(t)zel den Stöbers mit: »Büchner ist nach Giesen abgereist.« (Zit. nach Lehmann/Mayer, s. Anm. 5, S. 179). 14 MA, S. 284. Die »poetischejnj Accouchierstühle« beziehen sich auf die diversen Zeitungen und Zeitschriften, in denen Kün(t)zel publizierte (seine gesammelten Gedichte erschienen als Fliegende Blätter Frankfurt a. M. 1839; ein Exemplar mit handschriftlich gewidmeten »deutschen Grüßen« [HSA, Bd. 26, S. 27] des Verfassers hat sich in Heines Nachlaßbibliothek erhalten). Zugleich spielt Büchner damit auf Jean Pauls Flegeljahre an: »[Walt] sah sich bereichert und berühmt und wochenlang auf dem poetischen Geburtsstuhl« (Stuttgart 1978 [= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 77], S. 101). Büchners erneute Lektüre von »Jean Paul's Romane[n]« im Herbst 1833 in Gießen — sie gehörten dort »zu seinem vertrautesten geistigen Umgange« — ist durch Georg Zimmermann belegt (GBJb 5/1985, S. 336). 15 Vgl. dazu auch Thomas Michael Mayer: Ein Brief Adolph Stöbers an Georg Büchner. - In: GBJb 1/1981, S. 191.

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Schwedens »Marat« als Übersetzer von Dantons Tod Zur ersten skandinavischen Büchner-Übersetzung (Malmö, 1889) Von Ernst-Ullrich Pinkert (Aalborg)

Axel Danielssons schwedische Danton-Übersetzung von 1889 wurde von der Forschung bislang nicht registriert, obwohl sie 1949 in einer Hamburger Zeitung (ganz knapp) erwähnt wurde1. In Per Erik Wahlunds Nachwort zu seiner eigenen späteren Danton-Übersetzung von 1963, der einzigen, die in Schweden in Buchform veröffentlicht wurde, fehlt jeder Hinweis auf Danielssons Übersetzung2, der Büchners Drama in der Ausgabe von Franzos zugrundelag3. Das Drama erschien in der Zeit vom 2. 3. bis zum 20. 6. 1889 in 21 Fortsetzungen in der sozialdemokratischen Zeitung Ar betet (Die Arbeit), die von Axel Danielsson in Malmö 1887 mit der Unterstützung der sich formierenden schwedischen Arbeiterbewegung gegründet worden war4. 1 Walter A. Berendsohn: Georg Büchner in Schweden. — In: Hamburger Echo, 12. 11. 1949. Auch in seinem 1950 in der Stockholmer Zeitschrift Ord och Bild erschienenen Artikel Georg Büchner (S. 251—257) verwendet Berendsohn nur einen einzigen Satz auf die Übersetzung Danielssons. — Den Hinweis auf Berendsohns Artikel verdanke ich Lars Fremmelev, Vestbjerg. 2 Georg Büchner: Dantons död. — Översättning, kommentar och efterskrift av Per Erik Wahlund. - Stockholm 1963. (Nachwort des Übersetzers: S. 109-123). 3 Die von Jan-Christoph Hauschild herausgearbeiteten Charakteristika von Franzos' Danton-Fassung treffen im wesentlichen auf Dantons död zu. Vgl. Hauschild, S. 124 ff. — Trotz einzelner falsch übersetzter Wörter, einiger stilistisch blasser Repliken und Passagen, denen die Mehrdeutigkeit von Büchners Wortspielen fehlt, ist Dantons död durchaus als eine gelungene Übersetzung anzusehen. 4 Dantons död. Ett drama i tre akter af Georg Büchner. Öfversatt af A. D- . - (Auch wenn der Name des Übersetzers nicht ausgeschrieben ist, so bezeichnet »A. D- .« ohne jeden Zweifel Axel Danielsson, dessen Name an jedem Tag im Kopf der Zeitung zu finden ist und auch sonst in den verschiedensten Zusammenhängen in Erscheinung tritt). — Die 21 Fortsetzungen von Dantons död sind in den folgenden Nummern von Arbetet abgedruckt: I.Akt: Nr. 26-27, 29, 31, 33, 35, 39; 2. Akt: Nr. 41, 45, 47, 50, 52; 3. Akt: Nr. 53, 56, 59-60, 64-65, 68, 71, 73. (Sämtliche Übersetzungen aus dem Schwedischen: E. U. P.). — Arbetet erschien damals dreimal pro Woche, umfaßte in der Regel 4 Seiten, Auflage: ca. 3 000. Die 21 Fortsetzungen von Dantons död verteilen sich folgendermaßen: Dienstag (4x), Donnerstag (3x), Samstag (14x).

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Stolz präsentiert Arbetet sich im Untertitel als »Organ der klassenbewußten Arbeiterbewegung«. Dieses Klassenbewußtsein prägt vor allem die Artikel Axel Danielssons, der sich als Chefredakteur in jeder Ausgabe zu Worte meldet und der zu den Mitbegründern der schwedischen Sozialdemokratie gehört; die Bedeutung des damals Fünfundzwanzigjährigen für die schwedische Arbeiterbewegung kann wohl nur mit der des jungen August Bebel in den 60er Jahren für die deutsche Arbeiterbewegung verglichen werden. Danielssons Klassenbewußtsein, seine Solidarität mit den Notleidenden und nicht zuletzt seine an Marx geschulte Rhetorik kommen u. a. in einem Artikel zum Ausdruck, den er am 9. 3. 1889 in Arbetet n e b e n der dritten Folge seiner D^wiow-Übersetzung veröffentlichte; hier heißt es unter Bezug auf die Lage der Arbeitslosen: »Etwas muß [...] geschehen, denn wenn die Reichen nicht die Arbeitslosigkeit aus der Welt schaffen, dann müssen die Arbeitslosen die Reichen aus der Welt schaffen.« Danielsson zeichnet diesen Artikel nicht mit eigenem Namen, sondern verwendet hier ein Pseudonym: »Marat«\ In der Periode des Erscheinens von Dantons död bedient er sich dieses nicht zuletzt für die Zielsetzung der Übersetzung höchst aussagekräftigen Pseudonyms noch mehrfach5. — »Marat« ist keine historische Maske, hinter der Danielsson sich v e r s t e c k t , sondern ein Pseudonym, mit dem er die politische Blick- und Stoßrichtung seines Schreibens symbolisch unterstreicht. Über die Identität von »Marat« und Danielsson konnte es weder seitens der Leser noch der Justiz den geringsten Zweifel geben. Schon in der ersten Nummer von Arbetet bedient sich Danielsson 1887 dieses Pseudonyms, — und wenn er in seinem Buch Aus der Welt des Kapitals ein Jahr später aus dieser Ausgabe einleitend zitiert6, so macht er aufs neue deutlich, daß »Marat« eine Rolle ist, die ihn nicht unkenntlich, sondern im Rahmen eines historisch-politischen Zusammenhangs k e n n t l i c h machen sollte, der weit über nationale Grenzen hinausgreift. Mehrfach wird in der Zeitung darauf angespielt, daß »Marat« niemand anders als der Chefredakteur ist; dies geschieht z. B. am 23. 3. 1889 in der Rubrik Gratulationsannoncer, wo in einer chiffrierten kurzen Anzeige in großen Lettern »Marat!« zum Axel-Namenstag »die besten Glückwünsche« ausgesprochen werden. Vor allem >Marat< ist wohl der Anlaß dafür, daß Arbetet von bürgerlichen Zeitungen als das »unflätigste Blatt Schwedens« beschimpft wird. Axel Danielsson, der 1863 in der Provinz Värmland geboren wurde, hatte als Sohn eines kinderreichen Sägewerkarbeiters eigentlich nicht damit rechnen können, das Gymnasium zu besuchen. Durch die Unter5 24. 4., 4. 5., 11. 5. (hier zwei »Marat«-Artikel), 8. 6. 1889. 6 Axel Danielsson: Ur kapitalets verld. Socialismen i skizzer. — Malmö 1888, S. 5.

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Stützung von Freunden der Familie, die auf seine Begabung aufmerksam geworden waren, wurde ihm das jedoch ermöglicht. 1881 machte er in Falun Abitur, mußte seine breit angelegten, wenig zielgerichteten Studien an der Universität Uppsala jedoch nach anderthalb Jahren aus finanziellen Gründen abbrechen. Danielsson zog nach Stockholm, wo er hoffte, als freier Schriftsteller sein Auskommen zu finden. Das mißlang. — (Eine seiner frühen Novellen, Armen, som ville blive hufvud, in der er die reaktionäre Devise »Schuster, bleib bei deinem Leisten!« in revolutionärer Weise umdeutet, sollte später in Ar betet [8. 6. 1889] direkt neben einer Folge von Danielssons Danton-Übersetzung veröffentlicht werden.) 1885 wurde Danielsson schließlich von August Palm für die Stockholmer Arbeiterzeitung Social-Demokraten als redaktioneller Mitarbeiter angeworben; in diesem Jahr veröffentlichte er hier u. a. seine Übersetzung des Kommunistischen Manifests, die (wie später Dantons död) als Fortsetzungsserie erschien! August Palm (1849—1922) war der erste Agitator der schwedischen Arbeiterbewegung, Ende 1881 organisierte er die erste öffentliche sozialdemokratische Versammlung, 1882 gründete er in Malmö die Zeitung Folkviljan, die bis zu seiner Übersiedelung nach Stockholm im Jahre 1885 existierte, wo er alsbald die erwähnte Zeitung Social-Demokraten gründete. Er wurde deren erster Chefredakteur, verließ sie jedoch schon Ende 1886 nach Spannungen in der sich entwickelnden Sozialdemokratie. Zusammen mit Hjalmar Branting leitete Danielsson jetzt den Social-Demokraten^ zog aber 1887 nach Malmö, wo er als Vierundzwanzigjähriger die Zeitung Arbetet gründete und bis zu seinem Tode (29. 12. 1899) leitete. Über ein Jahrzehnt lang waren Danielsson und Branting die unbestrittenen Führer der schwedischen Sozialdemokratie. Hjalmar Branting (1860—1925), dessen gemäßigteren politischen Positionen sich Danielsson im Laufe der 90er Jahre annäherte, zog 1897 als erster Sozialdemokrat in den schwedischen Reichstag ein; 1920 leitete er die erste rein sozialdemokratische Regierung, 1921 erhielt er den Friedensnobelpreis. In der schwedischen Literatur über Axel Danielsson fehlt der Name Büchner, die Übersetzung Dantons död wird nicht erwähnt7. Das über7 Vgl. Axel Danielsson: Om den svenska revolutionen. Inledning och urval av Per-Olov Zennström. — Stockholm 1972; Urval av Axel Danielssons skrifter. Med Levnadsteckning och karaktäristik av Bengt Lidforss. — Malmö 1908; Rickard Lindström: Axel Danielsson. — Stockholm 1950; Alvar Alsterdal: Brandsyn i samhället. Axel Danielsson 1863-1899. - Malmö [1964]; Per-Olov Zennström: Axel Danielsson: en biografi. [Stockholm] 1983; Christer Persson: Marx, Danielsson, vi. — In: Marx i Sverige. 100 är med Marx i svensk historia, vetenskap och politik. Redigerad av Lars Vikström. — Stockholm 1983. 316

rascht schon deshalb, weil Leben und Schreiben Danielssons gerade im Jahre 1889 besonders intensiv untersucht worden sind. In diesem Jahr, in dem sich — im April — die schwedische Sozialdemokratie als Partei konstituierte, — saß er nämlich in Malmö im Gefängnis. »Marat« war im Sommer 1888 u. a. wegen seiner unverhohlenen Justizkritik zu eineinhalb Jahren Haftstrafe verurteilt worden; in der Zeit vom 2. August 1888 bis 1. Februar 1890 leitete er Arbetet vom Gefängnis aus8. Man muß deshalb wohl davon ausgehen, daß auch die Danton-Übersetzung im Gefängnis entstand. Es gibt im ersten Halbjahr 1889 in Arbetet neben der Übersetzung drei knappe Hinweise auf Büchner. Der erste ist mit Die Redaktion gezeichnet, die beiden ändern sind unsigniert; alle drei dürften aus Danielssons Feder stammen. Der erste Hinweis auf Büchner findet sich am 26. 1. 1889 in einer längeren Aufforderung der Redaktion An unsere Leser, Arbetet zu abonnieren, um die weitere Existenz der jungen Zeitung zu sichern, die als »das gemeinsame Eigentum der Arbeiter« charakterisiert wird. Die Redaktion verspricht, man werde besonders in einer Zeit, in der der Chefredakteur eingesperrt sei, keine Mühe scheuen, damit die Zeitung ihrer »Funktion als Führerin und Aufklärerin der Arbeiterklasse« inhaltlich gerecht werden könne. In diesem Kontext werden drei »literarische Vorhaben« der Zeitung vorgestellt, mit denen die versprochene besondere Kraftanstrengung der Redaktion unterstrichen werden soll. Eines dieser Projekte ist die Veröffentlichung von Dantons död, das zweite ist eine Auseinandersetzung »Marats« mit der Französischen Revolution. Fünf Wochen vor Veröffentlichung der ersten Folge von Dantons död wird jedoch nicht enthüllt, daß niemand anders als »Marat« selbst der Büchner-Übersetzer ist. Der Kontext des ersten Hinweises auf Büchners Drama macht deutlich, daß die schwedische Übersetzung eng mit der Funktion der Zeitung als »Führerin der Arbeiterklasse« verbunden wird und daß Büchners Drama die Funktion revolutionärer Aufklärung zukommt. Die Tatsache, daß der Danton-Übersetzer die Französische Revolution auch noch in einer Artikelserie behandelt, unterstreicht, wie wichtig für Axel Danielsson diese Ereignisse als Inspirationsquelle und als Spiegel der Gegenwart waren. Das Nebeneinander von Büchners Drama und gegenwartsbezogener Revolutionsberichterstattung läßt deutlich erkennen, Axel Danielssons Gang ins Gefängnis vollzog sich nicht im Verborgenen, Hunderte von Menschen gaben ihm das Geleit;-zuerst waren es »etwa 20 Personen, die Axel Danielsson zum Gefängnis begleiteten. Aber als sie ankamen, sahen sie, daß mindestens l 000 Menschen vor dem Gefängnis versammelt waren. Es wurde ein Triumphzug.« Vgl. Rickard Lindström: Axel Danielsson, a. a. O., S. 73.

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daß Dantons död 100 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille vom Übersetzer und Chefredakteur nicht nur als Drama der Revolution, sondern als ein revolutionäres Drama angesehen wurde, das unmittelbar in den Dienst der sich formierenden schwedischen Arbeiterbewegung gestellt werden konnte. In dieser Vorankündigung heißt es zuerst über Büchners »tragisches Schauspiel Dantons Tod«, darin werden »einige der großartigsten Augenblicke der Französischen Revolution stilistisch glänzend und mit dramatischer Kraft geschildert«. Direkt danach folgt eine knappe Auseinandersetzung mit »Marat« — Danielssons Artikeln über die Französische Revolution: »Eine dritte Überraschung ist eine aus M a r a t s Feder stammende Darstellung des Gesamtverlaufs dieser Revolution, ihrer Ursachen, der von ihr angestrebten, aber nicht erreichten Ziele und des Erbes, das ihre großen Männer uns hinterlassen haben — des Sozialismus.«

In diesem Kontext kommt Dantons död zweifellos die Funktion zu, die Revolution mit den von ihr »angestrebten, aber nicht erreichten Zielen« literarisch sichtbar zu machen. Für Büchner hatte Dantons Tod gewiß keine agitatorische Dimension, — eine Parteinahme Danielssons für die eine oder andere Seite, für Robespierre oder Danton, wäre im Zuge der sozialdemokratischen Agitation denn auch eine Vergewaltigung des Textes gewesen. Wenn man aber Robespierre u n d Danton auf unterschiedliche Weise sowohl die »angestrebten«, als auch die »nicht erreichten Ziele« der Revolution verkörpern sieht, die man in der Gegenwart verwirklichen will, dann kann man das Stück durchaus in der Gegenwart agitatorisch einsetzen, ohne den Absichten des Autors Gewalt anzutun. In diesem Kontext ist Büchners Drama sogar ein Teil des in Ar betet angesprochenen »Erbes«, das die »großen Männer« der Revolution »hinterlassen« haben. Der zweite Hinweis auf Büchner findet sich am 2. 3. 1889 direkt neben dem Abdruck der ersten Danton-Folge, dort heißt es unter Bezug auf die Vorankündigung vom 26. Januar: >»Dantons Tod»durch den Scharfrichter Johann Nicolaus Körzinger auf einen Hieb enthauptet< « (Schreiben vom 22. 7. 1988). Demnach gilt das 1712 »gestiftete]« und 1873 von den Fabrikbesitzern Julius und Lfcuis Gebhardt dem damaligen Museum des Vereins für die Geschichte Leipzigs geschenkte Richtschwert der Scharfrichterfamilie Gebhardt — die Klinge »zeigt in den Blutrinnen [...] beiderseits die Worte >Soli Deo GloriaWoyzeck-Schwert< wird es noch heute in der ständigen Schausammlung des Leipziger stadtgeschichtlichen Museums gezeigt (Abb. bei Kurzwelly, a. a. O., Tafel 4 [gegenüber S. 283], und bei Grebenstein, a. a. O., S. 89). 18 Exakt diesen Moment hat Christian Gottfried Heinrich Geißler (1770—1844) in seiner 1920 von Fritz Bergemann (s. oben Anm, 7, gegenüber S. 248) erstveröffentlichten und seitdem vielfach nachgedruckten Federlithographie festgehalten (vergrößerte Reproduktion in: Georg Büchner. Dargestellt von Herbert Schnierle. — Salzburg 1980, S. 18 f.): deutlich erkennbar Woyzecks Niederknien auf einem Bein und seine beim Beten vorgestreckten Arme — Clarus erinnert sich noch 1825, daß der Delinquent sein letztes Gebet unter »sehr lebhaften Gestikulationen verrichtete« (HA I, S. 537). Auch die »Rathsdiener in Harnisch, Sturmhaube und Piken« sind, ebenso wie die Geistlichen, die »unten am Schaffot [blieben]« (GBJb 4/1984, S. 319), akribisch genau wiedergegeben. 19 Clarus berichtet, Woyzeck habe »bis zum letzten Augenblick [...] auf Begnadigung« gehofft, »weshalb er auch das [...] Gebet [...] absichtlich zu verlängern schien« (HA I, S. 537). 20 Dieser Schilderung widersprechen in auffälliger Weise Clarus' (HA I, S. 537: »sehr schwache[r] Sprung des Blutes«) und Anschütz' (GBJb 4/1984, S. 319: »Das Blut strömte nicht hoch empor«) Beobachtungen.

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Volkshaufen. Der Meister machte seine Referenz, Rumpf u Kopf rollten in das hohle Schaffet hinunter u das Spectakulum mundi war vorüber. Woyzecks letzte Worte auf dem Schaff o t21 Vater, ich komme. Ja, mein himmlischer Vater, du rufst mich. Dein gnädiger Wille geschehe. Dank, herzlicher Dank, Preis u Ehre sei dir, Allerbarmer, daß du bei aller Schuld dennoch liebreich auf mich blickst und mich würdigest, dein zu sein. Dank sei dir, daß du nach so vielen ausgestandenen Leiden Thränen trocknest, davon ich dir manche Nacht weinte / Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände. Dir lebe ich, dir sterbe ich. Dein bin ich todt u lebendig. Amen! Herr hilf lass Alles wohl gelingen. Das erhielt ich von meinem Wirthe. Der Tachygraph22 ist mir unbekannt; doch scheinen einzelne aufgefangene Floskeln für die Ächtheit zu sprechen. Die Männer loben seine Standfestigkeit, die Besen23 seinen [...] fetten Rücken. Niese hat nicht nur den äußeren Ablauf der »Execution« vom 27. August 1824 minuziös in sein Tagebuch notiert24, sondern seine Eindrücke überdies — ein Dutzend Jahre vor Büchners Woyzeck — in einem literarischen Text verarbeitet. 1824/25 schrieb er über die >Demagogenverfolgungen< nach den Karlsbader Beschlüssen das Drama Die Akademiker ( » [ . . . ] die deutschen Ideale vegetieren in Köpenick«); seine Veröffentlichung scheiterte freilich an der Zensur. Eine Hinrichtungsszene darin, in der die Hauptfigur, der Student Robert, auf dem Leipziger Marktplatz öffentlich enthauptet (!) wird — faßt Elisabeth Frenzel, die das

21 Hans Mayers Dokumentation (s. oben Anm. 6, S. 142) enthält eine als Flugblatt gedruckte Fassung des Gebets (Faksimile im Katalog Darmstadt, S. 322). Woyzeck hatte dieses »von ihm selbst aufgesetzt[e] Gebet, um es auf dem Schaffet laut zu halten, noch am Morgen der Hinrichtung auswendig gelernt« (HA I, S. 537). 22 Schnellschreiber. 23 Studentischer Ausdruck für: Mädchen (DWb, Bd. l, Sp. 1615). 24 Nieses am 21. März 1823 begonnenes und im März 1827 abgebrochenes Tagebuch befindet sich heute im Besitz seiner Urenkelin Elisabeth Frenzel. Frau Prof. Dr. Frenzel danke ich für das von ihr zur Verfügung gestellte Porträt Nieses und für zahlreiche Auskünfte, insbesondere aber für die bereitwillig überlassenen Fotokopien der betr. Tagebuchseiten und die freundlich gewährte Druckerlaubnis sehr herzlich. Bereits 1948 hat sie unter ihrem Geburtsnamen Lüttig-Niese den Auszug über die Hinrichtung Woyzecks aus dem Tagebuch ihres Urgroßvaters zum ersten Mal veröffentlicht (Der Fall Woyzeck. — In: Berliner Hefte für geistiges Leben, 3. Jg., 1. Halbj., Heft l [Januar] 1948, S. 92—94; der hier vorgelegte Text konnte gegenüber diesem Erstdruck an mehreren Stellen nach dem Manuskript verbessert und ergänzt werden). Der Beitrag wurde von der Büchner-Forschung jedoch über vierzig Jahre lang übersehen - obwohl er sogar in Werner Schlicks äußerst mangelhafter internationaler Bibliographie des Georg Büchner-Schrifttum[s] bis 1965 (Hildesheim 1968, S. 116, Nr. 326) aufgeführt ist.

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Manuskript in den 50er Jahren im Archiv von Schulpforta einsehen konnte, in einer seinerzeit erstellten Inhaltsübersicht zusammen —, »spiegelt zweifellos das im Falle Woyzeck Erlebte wider.«25

25 Keinerlei schriftliche Spuren hat die Hinrichtung Woyzecks indes bei Karl Immermann hinterlassen: auch der Kriminalrichter aus Magdeburg scheint sich nämlich am 27. August 1824 unter den Zuschauern auf dem Leipziger Marktplatz befunden zu haben. Auf seiner »Reise [...] in das Sächsische« (Ders.: Briefe. Textkritische und kommentierte Ausgabe [.../. Hrsg. v. Peter Hasubek. Bd. 1. - München / Wien 1978, S. 488) traf Immermann, »v[on] Weimar« kommend, am Abend des 24. August in Leipzig ein, wo er im Hotel de Prusse abstieg (»Thorzettel vom [...] Ranstädter Thor« im Leipziger Tageblatt Nr. 56, 25. August 1824, S. 228). Wann genau er seine Reise fortsetzte, läßt sich offenbar nicht mehr feststellen; daß er ausgerechnet noch vor der Hinrichtung Woyzecks Leipzig wieder verlassen haben sollte, halte ich für ziemlich unwahrscheinlich, zumal ihm die tagelangen »Zurüstungen zu dem ernsten Schauspiel« (!) (Predigt [...], s. Anm. l, ebd.) doch kaum verborgen geblieben sein dürften.

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Der Fall Woyzeck Eine Quellen-Dokumentation (Repertorium und vorläufiger Bericht)3 Von Ursula Walter (Leipzig)

Der 150. Todestag Georg Büchners war der Anlaß, erneut nach historischen Quellen zum Leben der Titelfigur von Büchners Drama Woyzeck zu forschen. Der 41jährige Woyzeck hatte bekanntlich am 2. Juni 1821 seine um fünf Jahre ältere Geliebte Johanna Christiana Woost, Witwe des 1813 verstorbenen Chirurgen Julius Friedrich Woost, in der Sandgasse in Leipzig (Abb. 1) erstochen. Das Motiv des Mordes war krankhafte Eifersucht, die den körperlich und seelisch heruntergekommenen ehemaligen Perückenmacher beherrschte und peinigte. Zur Person Woyzecks sei nur kurz folgendes erinnert: Johann Christian Woyzeck wurde am 3. Januar 1780 in Leipzig geboren; getauft wurde er am 6. Januar dieses Jahres in der Nikolaikirche (vgl. unten Dokument Nr. 3). Er war das zweite Kind des in Cochez (Volhynien / Wolynien) geborenen und nach Leipzig ausgewanderten Friseurs katholischen Glaubens Stephan Maichrewsky Woyetz. Seine Mutter war die älteste Tochter des »gewesenen Schafners bey der Freyberger Kutsche«, Joh. Gottfried Irmisch. Sie hieß Maria Rosina, starb bereits 1788 und hinterließ fünf kleine Kinder (Nrn. 2 und 4). Der Vater heiratete ein zweites Mal (Nr. 4) und starb dann auch schon 1793. Woyzeck erlernte den Beruf des Perückenmachers, hatte es aber schwer, Arbeit in diesem Beruf zu finden. So übernahm er häufig Gelegenheitsarbeiten, war Diener oder Friseur, illuminierte aber auch Kupferstiche und war zwischen Der vorliegende Beitrag setzt — mit zahlreichen inzwischen neu aufgetauchten Quellen fast verdoppelt — eine erst Anfang 1989 veröffentlichte Dokumentation fort, die auch mehrere Abbildungen enthält (Walter, s. unten im Literatur- und Siglenverzeichnis). Thomas Michael Mayer, Reinhard Pabst und Gerhard Schmid danke ich herzlich für das engagierte Interesse, das sie dieser Arbeit entgegengebracht haben, sowie für viele wertvolle Ergänzungen und Hinweise. — Bereits das gegenwärtig vorliegende Material, das sich durch weitere laufende Nachforschungen sicher noch um das eine oder andere Stück ergänzen läßt, legte es nahe, auch hier zugunsten einer vollständigen Verzeichnung und kurzer Beschreibungen in der Regel auf größere Auszüge oder gar vollständige Transkriptionen zu verzichten. Dies soll erst in einer geplanten, auch ausführlicher kommentierten Publikation geschehen.

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1806 und 1818 in verschiedenen Kriegsdiensten. Als Stationen seines unruhigen Lebens erscheinen u. a. die Städte Dessau, Berlin, Breslau, Wittenberg und Stralsund. Verarmt und arbeitslos kam Woyzeck am 1. Dezember 1818 nach Leipzig zurück, um hier sein unstetes Leben weiter zu führen. Aus Geldmangel konnte er sich nur die bescheidensten Unterkünfte 1 leisten, und oft teilte er nicht nur das Zimmer, sondern auch die ärmliche Lagerstätte mit anderen. Seine Mitbewohner hatten wohl bemerkt, daß Woyzeck ein verstörter, kranker Mensch war, und er hatte ihnen mit seinen Halluzinationen Angst eingejagt. Da sie aber später, beim Prozeß, meinten, sie würden dem Verurteilten mit dem Aussprechen dieser Ansicht schaden, verheimlichten sie alle Krankheitssymptome. Damit erreichten sie aus Unkenntnis der Situation das Gegenteil. In den Tagen vor dem Mord hatte Woyzeck überhaupt kein Quartier. Er nächtigte im Freien und lebte von Almosen. Seine Geliebte, Frau Woost, war ihm untreu geworden, und als er ihr am Abend des 2. Juni 1821 begegnete, erstach er sie im Affekt. Er wurde noch in der Nähe des Tatorts gefaßt und gestand den Mord. Der Prozeß dauerte über drei Jahre. Erst am 27. August 1824 wurde Woyzeck auf dem Marktplatz zu Leipzig hingerichtet. Es war übrigens die letzte öffentliche Hinrichtung, die hier stattfand. Die Verhandlungen hatten so lange gedauert, weil sehr schnell die Zurechnungsfähigkeit des Täters angezweifelt wurde. Die Tatsache des Mordes war von Anfang an eindeutig; Woyzeck konnte — und wollte - sie in keiner Phase des Prozesses ableugnen. Aber die Verteidiger ahnten, daß der Angeklagte ein geistig kranker Mensch war, und wollten deshalb bei der übergeordneten Instanz in Dresden die Todes- in eine Zuchthausstrafe umwandeln lassen. Durch immer neue Untersuchungen konnte der Prozeß zwar verzögert werden, eine Änderung zum positiven wurde aber letztendlich nicht erreicht. Die Problematik des Prozesses erregte das Interesse breiter Kreise. Die medizinisch-psychologischen Fragen, um die ein heftiger Gutachterstreit entstanden war, regten schließlich den Mediziner Büchner zu seinem Drama Woyzeck an.

Von den 10 Schlafstellen, die Woyzeck zwischen Dezember 1818 und dem Z.Juni 1821 innehatte, lassen sich nur zwei im Adreßbuch nachweisen. Vom Februar 1819 bis zum Juni 1820 logierte er bei der Stiefmutter seiner Geliebten, der Witwe Knobloch, die im Hause des Gelbgießers Warnecke wohnte. Im Adreßbuch von 1820 wird nun ein Gelbgießer Rudolph Warnecke in der Nikolaistr., Nr. 738 (= Nähe Brühl), aufgeführt. Als Woyzecks letzte Wirtin wird die Wittigin im Schwarzen Brett genannt. Dieses Schwarze Brett (= Großes Fürstenkolleg) gehörte zu den universitätseigenen Gebäuden in der Ritterstraße (zu anderen Wohnungen vgl. auch Nr. 5 sowie Abb. 2).

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Abb. 1: Der Tatort: Sandgasse (später: Ulrichsgasse, Seeburgstraße) Postkarte, Leipzig: Verlag Max Nierth 1904, aus der Serie: »Das alte Leipzig« Blick zur Stadtmitte, d. h. auf die südliche Straßenseite; die Wohnung der Frau Woost dürfte etwa in der Bildmitte gelegen haben.

Büchner hat die historischen Fakten frei bearbeitet; von den tatsächlichen Vorgängen in Leipzig zwischen 1821 und 1824 kannte er nur das in den Gutachten Veröffentlichte. Aber wichtig sind diese Ereignisse in ihrer Reihenfolge wohl, zeigen sie uns doch, wie man gerade in dieser Zeit anfing, sich Gedanken um derartige Fälle und ihre Folgen zu machen. So sollen in diesem Bericht die historischen Dokumente im Mittelpunkt stehen und die Geschehnisse lebendig werden lassen, die reichlich drei Jahre die Gemüter erhitzten. Bei der Suche nach diesen Dokumenten bestätigte es sich, daß die eigentlichen Leipziger Prozeßakten, wie Hans Winkler schon 1925 vermutet hatte, »wahrscheinlich verloren«2 sind. Weder im Stadtarchiv noch im Staatsarchiv Leipzig sind Bestände bekannt, die vom Titel her eindeutig auf den Kriminalfall Woyzeck hinweisen. 2 Hans Winkler: Georg Büchners »Woyzeck«. - Greifswald 1925, S. 91, Anm. 6. 353

Im Museum für Geschichte der Stadt Leipzig werden allerdings verschiedene »Sachzeugen« aufbewahrt, die in enger Verbindung mit dem Vorgang vor rund 165 Jahren stehen. Außerdem gibt im Stadtarchiv Leipzig eine »Acta Die Reparirung des hohen Gerichts oder Galgens ingl. des Rabensteins, wie auch Die Vorstellung derer zum Tode Verurtheilten in der Rathsstube betr.« näheren Aufschluß über die Hinrichtung selbst und entpuppt sich als interessante >Hintergrundschilderung< eines tragischen Vorgangs. Die Schriftstükke sind meist von der Hand des Leipziger Ober-Stadtschreibers Gottlob Wilhelm Werner geschrieben worden und enthalten protokollartig genaue Anweisungen, wie die Hinrichtung in allen Phasen vorzubereiten sei. Dabei ist aufschlußreich, daß das erste Schreiben (Nr. 26) vom November 1822 stammt, daß man zu dieser Zeit also noch den 13. November 1822 als den Tag der Hinrichtung annahm. Da die Bögen meist nur halbseitig beschrieben sind, konnten auf die zweite, leere Hälfte dann im August 1824 die veränderten Modalitäten der verzögerten Hinrichtung oder andere »Vollzugsmeldungen« von Aufträgen o. ä. geschrieben werden, Beim Kirchenbuchamt Leipzig wurden der Taufeintrag Woyzecks sowie die Einträge der beiden Eheschließungen des Vaters Woyzeck (die zweite ist deshalb interessant, weil sie eine Wohnung nennt!) ausfindig gemacht. Aus der Universitätsbibliothek Leipzig wurde noch der Besitz eines Briefes bekannt, in dem die Hinrichtung von einem Augenzeugen, einem Studenten, beschrieben wird (Nr. 81). Den umfangreichsten Bestand bewahrt jedoch das Staatsarchiv Dresden auf. Ein Aktenstück der Landesregierung, das den Zeitraum vom 9. Mai 1822 bis zum 10. September 1824 umfaßt, enthält 28 Schriftstücke auf 76 Blatt, von denen die Blätter 24, 27, 33, 45, 46, 68, 69, 70, 74 ff. unbeschrieben sind. — 10 der Schriftstücke wurden vom Kriminalamt Leipzig verfaßt. Es sind also Ausfertigungen mit Unterschriften und Siegel, an die Landesregierung in Dresden gerichtet. 10 sind an das Kriminalamt Leipzig adressiert. Dabei handelt es sich um Entwürfe der Ausfertigungen, die von der Landesregierung nach Leipzig abgesandt worden waren (und die nicht erhalten sind). Die restlichen 8 sind abschriftlich überlieferte Schriftstücke, die zwischen dem König3 und seinen Zentralbehörden gewechselt wurden. — Ein zweites, wichtiges Aktenstück (Nr. 12) stammt aus dem Nachlaß des Königs Friedrich

3 Friedrich August L, der Gerechte, geb. 23. Dezember 1750 in Dresden, gestorben ebendort am 5. Mai 1827; war ab 1763 Kurfürst von Sachsen, ab 1806 König von Sachsen.

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August II.4 Das Konvolut besteht aus 32 beidseitig beschriebenen, unterschiedlich großen Blättern. Leider sind diese Aufzeichnungen undatiert, sie dürften jedoch vor Juli 1822 entstanden sein (s. Nrn. 14 und 15). Der nachmalige Friedrich August II. war zur Zeit des Prozesses noch nicht an der Regierung. Er hatte aber offensichtlich an den Debatten im sächsischen »Geheimen Rath« teilgenommen, sich seine Notizen gemacht und fühlte sich bewogen, dem König seine abweichende Meinung vorzutragen. Die Gedanken, die er dazu entwickelt, sind hochinteressant. Sie zeigen, wie intensiv sich der spätere König mit den Problemen der Staatsführung und Rechtssprechung auseinandersetzte und daß ihn das »Strafrecht des Staates« sehr beschäftigte. — Die Blätter 1 — 17 sind im Oktav-Format und erscheinen wie flüchtige Nach- oder Niederschriften. Ab Blatt 18 ist das Format größer und die Handschrift ordentlicher; das Schriftstück könnte der Entwurf zum »Vortrag an Ew. Majestät« sein, der Erörterungen grundsätzlicher Rechtsfragen enthält. Da diese Dresdener Unterlagen (Landesreg. Loc. 31130 und Nachlaß des Königs) erst mit dem 9. Mai 1822 einsetzen (Nr. 9), ergab sich zunächst eine bedauerliche Lücke. Der Verlauf des Prozesses bis zur Verkündigung des — zweiten — Todesurteils am 29. Februar 18225 war aktenmäßig nicht zu belegen. Unmittelbar vor Drucklegung des vorliegenden Beitrags wurden jedoch im Staatsarchiv Dresden zwei weitere Aktenbände des Königlichen Kabinetts gefunden, die später in den Bestand des Sächsischen Justizministeriums übergegangen sind und Schriftstücke zum Fall Woyzeck enthalten (Just. Min. Nr. 739, Bd 5 u. 6). Dabei handelt es sich meist um die Ausfertigungen der bisher nur in »beglaubigten Abschriften« bzw. Entwürfen bekannten Dokumente. Vor allem aber fanden sich in den Akten des Justizministeriums doch noch Abschriften aller drei Todesurteile gegen Woyzeck aus den Jahren 1821, 1822 und 1823 (Nrn. 7, 8 und 33). In einer sehr gestrafften Form (Kurztitel bzw. Überschrift, Ort, Datum, Standort und Umfang) sind auch diese jüngst aufgefundenen Akten noch in die Quellendokumentation eingearbeitet worden. Einer geplanten größeren Veröffentlichung soll die kommentierte Transkription aller hier verzeichneten Dokumente vorbehalten bleiben.

4 Friedrich August II., geb. 18. Mai 1797 in Dresden, gest. 9. August 1854-in Brennbühel/ Tirol; war der Neffe Friedrich Augusts L; ab 1830 Mitregent König Antons, nach dessen Tod 1836 König von Sachsen. In seine Regentenzeit fallen bedeutende Veränderungen in den Bereichen Justiz und Verwaltung. 5 Diese Datumsangabe beruht offensichtlich auf einem alten Irrtum. Da 1822 kein Schaltjahr war, gab es keinen 29. Februar; das Todesurteil ist also entweder vom 28. Februar oder 1. März 1822. 355

Im folgenden beschreibenden Repertorium werden also die wichtigsten neuen Aktenfunde, aber auch die bereits bekannten Dokumente zum Fall Woyzeck — ab Nr. 2 in chronologischer Reihenfolge — aufgeführt. Laufende Nummern, deren Datierung und entsprechende Einordnung unsicher sind, erscheinen in eckigen Klammern. [1.]

Porträt von Johann Christian Woyzeck. »I. C. WOYZECK. geboren in Leipzig Ano 1780. n. d. Nat. Gezeichnet.« Anonyme Federlithographie, um 1824. 22,5 x 16 cm. Museum für Geschichte der Stadt Leipzig (im folgenden: Museum). Abbildungen (u. a. in): Johann, S. 118; Bornscheuer, S. 57; Katalog Marburg, S. 240; Katalog Düsseldorf, S. 63; Katalog Darmstadt, S. 315; Walter, S. 34.*

2.

Trauungseintrag der Eltern im Kirchenbuch der Nikolaikirche Leipzig am 6. Januar 1778. Vater: Stephan Maichrewsky Woyetz, geb. in Cochez in Volhynien; Friseur; gest. 1793. Mutter: Maria Rosina Irmisch, älteste Tochter des Joh. Gottfried Irmisch, »gewesener Schafner bey der Freyberger Kutsche«; gest. 1788. Kirchenbuchamt des Evang.-Luth. Kirchgemeindeverbandes Leipzig (im folgenden: Kirchenbuchamt). Abbildung: Walter, S. 36.

3.

Taufeintrag von Johann Christian Woyzeck im Kirchenbuch der Nikolaikirche Leipzig am 6. Januar 1780. Paten: Christian Döring Johanna Christiana Hasse Gottfried Hildebrand. Kirchenbuchamt. Dem Leipziger Adreßbuch von 1780 ist zu entnehmen, daß ein Christian Friedrich Döring »Copist der Steuercreditbuchhalterey« war und »auf der Petersstraße in Rosencranzens Hause« wohnte. Ein Johann Christian Hasse war Knopfmacher und wohnte »auf der Haynstraße im Großen Joachimsthale«. Gottfried Hildebrand (er soll Schneidermeister sein) erscheint nicht im Adreßbuch. Abbildung: Walter, S. 37.

4.

Aufgebots-Protokoll der zweiten Ehe des Vaters unterm 2. Weihnachtsfeiertag 1789 und Trauungseintrag vom 21. Januar 1790. Kirchenbuchamt. Die zweite Frau war Johanna Sophia Geier, älteste Tochter des Hufund Waffenschmiedemeisters Otto Friedrich Geier aus Lißa bei Delitzsch, wo die Trauung am 21. Januar 1790 stattfand.

6 Zu den abgekürzt zitierten Titeln vgl. unten S. 380 das Literatur- und Siglenverzeichnis.

356

In dem Protokoll wird angegeben, daß der Friseur Woyzeck in der »Hällischen G[asse] bey dem Bäcker« wohnte. Leider gibt es dazu keine Bestätigung im Adreßbuch; es wird auch kein Bäcker in der Hällischen Gasse angeführt. Aus Eintragungen im Kirchenbuchamt Leipzig lassen sich sechs Kinder des Friseurs »Stephan Maigresky Woizeck« (so wird er 1789/90 aufgeführt) nachweisen: Johann Stephan Ludwig getauft am 5. April 1778; Johann Christian getauft am 6. Januar 1780; Charlotte Wilhelmina getauft am 14. Januar 1782; Heinrich Gottfried getauft am 23. März 1784; Friedrich Christian getauft am 13. April 1787; Stephan Ludwig getauft am 26. September 1793. 5.

Zwei Eintragungen im Meldebuch des Polizeiamts Leipzig. 16. December] [18J18 [und] 2. December] 1820. Stadtarchiv Leipzig. Erstdruck: H. Mayer, S. 141.

6.

Bekanntmachung Nr. 23. (Druckblatt). »Vom 2. bis zum S.Juni [1821] sind allhier in Leipzig begraben worden. [•••l

Montags, den 4. Juni. [...] Eine Frau 46 Vi Jahr, Julius Friedrich Woost's, der Chirurgie Beflißnen Witwe, welche am 2. Juni Abends nach 9 Uhr in ihrer Wohnung ermordet worden ist, auf der Sandgasse.« Museum. Abbildung: Walter, S. 38. Der Vollzähligkeit halber seien hier alle aus zeitgenössischen Publikationen bekannten Daten7 eingefügt, die die Lücke der Aktenüberlieferung ausfüllen können: 2. Juni 1821

3. Juni 1821

Der 41jährige Friseur Johann Christian Woyzeck ersticht seine 46jährige Geliebte Johanna Christiane Woost geb. Otto in der Sandgasse in Leipzig. Der Täter wird in der Nähe des Tatorts8 gefaßt und ist geständig. Ein früherer Hauswirt Woyzecks verständigt den Leipziger Privatgelehrten Dr. Bergk9, daß er von Woyzecks Wahnvorstellungen wisse. Daraufhin veranlaßt Bergk, daß am

7 Vgl. auch Bornscheuer, S. 58 ff. 8 Vgl. Curiöse Gespräche (s. unten Nr. 84), S. 19 f., sowie im vorstehenden Beitrag von Reinhard Pabst Anm. 8. 9 Dr. Johann Adam Bergk, geb. 1769 in Hainichen, gest. 27. Oktober 1834 in Leipzig; lebte als Privatgelehrter in Leipzig.

357

358

9. Juni 1821 16. Aug. 1821 23. Aug. 1821

in der Nürnberger Zeitung Der Korrespondent von und für Deutschland eine »Nachricht über den Gemüthszustand des Inquisiten« erscheint10. Die erste Verteidigungsschrift wird von dem Verteidiger, dem Handels-Actuar Philipp Heinrich Friedrich Hansel, eingereicht. Hansel beantragt eine gerichtsärztliche Untersuchung.

10 Neudruck im vorstehenden Beitrag von Reinhard Pabst, Anm. 9.

Abb. 2 (S. 358): Grundriss von Leipzig Gezeichnet von G. Benj. Meißner (1797-1804) (Aus: Taschenbuch für Fremde in Leipzig [...]. 3. verb. Aufl. — Leipzig: Herzog 1808) Auf diesem Plan, der zwar schon aus dem Jahre 1804 stammt, können alle Straßen, Plätze und Gebäude gut erkannt werden, die bei dem Prozeß Woyzeck eine Rolle spielten: Sandgasse, Funkenburg, Hällische Gasse, Markt, Nikolaikirche u. a. Museum für Geschichte der Stadt Leipzig. (7) — Marktplatz, wo die Hinrichtung stattfand.

© = Rathaus. © = Sandgasse; Nr. 919 — Hier wohnte die Woostin zur (Unter-?)Miete bei Johanne Sophie Wognitz; hier wurde sie ermordet. Wird 1799 so beschrieben: »schmale Gasse, unansehnliche Häuser«. (Später: Seeburgstr. 26). @ = Hainstraße; Nr. 211. Gasthof zur Goldenen Gans; schon 1799: unansehnlich und schlecht gebaut... (Später: Hainstr. 31 bzw. Brühl 2 oder Fleischergasse 1; Tuchhalle). © = Ranstädter Steinweg; Nr. 1028. (Später: Nr. 27). © = Nikolaistr.; Nr. 738. — Gehörte dem (Roth- und) Gelbgießer Rudolph Warnecke (s. Anm. 1). (Später: Nikolaistr. 36). © = Hällische Gasse; Nr. 458, Gasthof »Halber Mond«. Vermutlich die älteste Wohnung Woyzecks. (Später: Hallische Gasse 5, zuletzt Meßhaus Union). ® = Schwarzes Brett; gehörte zum Großen Fürstenkolleg, Ritterstraße. Universitätseigenes Gebäude. Nrn. 4—8: Woyzecks Wohnungen in Leipzig, die sich durch Polizeimeldebücher (s. Dok. Nr. 5) nachweisen lassen. Heute existiert keines dieser Gebäude mehr, auch die Sandgasse, Nr. 919, nicht.

359

24. Aug. 1821 16. Sept. 1821

11. Okt. 1821 3. Dez. 1821 29. Febr. 1822 29. April 1822

Hofrat Dr. Johann Christian August Clarus11 erhält den Auftrag, ein Gutachten zu erstellen. Nach fünf Gesprächen (26., 28., 29. August; 3. und 4. September) schreibt Clarus sein gerichtsärztliches Gutachten, welches er am 20. September 1821 einreicht. Das erste Urteil (»Strafe durchs Schwerdt«) wird verkündet. Die Verteidigung erhebt Einspruch. Ein zweites Urteil bestätigt die Todesstrafe. Woyzeck bittet durch seinen zweiten Verteidiger, Dr. Kupfer, die »Todesstrafe in Zuchthausstrafe zu verwandeln«.

7.

»Entscheidungs-Gründe.« [Leipzig], ohne Datumsangabe [11. Oktober 1821]. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd. 5; Bl. 208-215. Abschrift der Urteilsbegründung des Leipziger Schöppenstuhls für das erste Todesurteil gegen Woyzeck vom 11. Oktober 1821. Anlage zu Nr. 14.

8.

»Zweifels- und Entscheidungs-Gründe Johann Christian Woycecken betreffend.« Leipzig, ohne Datumsangabe [29. Februar 1822]. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 5; BL 202-207. Abschrift des im Namen von »Ordinarius, Senior und andere[nj Doctores der Juristen-Facultät in der Universität Leipzig« gefällten zweiten Urteils vom 29. Februar (s. oben Anm. 5) 1822 gegen Woyzeck, welches das Todesurteil des Leipziger Schöppenstuhls vom 11. Oktober 1821 (s. Nr. 7) bestätigt. Anlage zu Nr. 12.

9.

Bericht des vereinigten Kriminalamtes der Stadt Leipzig an die Landesregierung. Leipzig, 9. Mai 1822. Unterschrift: D. Johann A. Otto Gehler12, Criminalrichter. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; BL 1—4. Die Schilderung des Falles läßt erkennen, daß ein Schriftwechsel vorausgegangen sein muß. — Das Leipziger Kriminalamt teilt mit, daß der Verteidiger ein medizinisches Gutachten durch den Stadtphysikus beantragt hatte. Dabei wurde festgestellt, daß Woyzeck zwar manchmal

11 Dr. Johann Christian August Clarus, geb. am 5. November 1774, gest. am 13. Juli 1854; war Ordentl. Prof. d. Medizin an der Universität Leipzig und Königl. Sachs. Hofrat. 12 D.Johann August Otto Gehler, geb. am 16. Juni 1762, gest. am 22. August 1822 in Leipzig; war Königl. Sachs. Hofrat und Kriminalrichter in Leipzig.

360

verwirrt und gedankenlos sei, daß dies aber seine Zurechnungsfähigkeit nicht beeinträchtige. — Der Verteidiger bittet nun mit der »beygefügten«, jedoch nicht erhaltenen »Originalsupplik« in Woyzecks Namen darum, die »Strafe des Schwerdts« in Zuchthausstrafe zu verwandeln. Damit wird der Antrag vom 29. April 1822 der nächst höheren Instanz bekannt gegeben. 10.

Bericht der Landesregierung an den Geheimen Rat, Dresden, 5. Juni 1822. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 5-19. Entwurf. Dieses umfangreiche Aktenstück ist ein Entwurf der Sachs. Landesregierung mit vielen Randbemerkungen, Streichungen und Änderungen zu einem Vortrag, der den Fall Woyzeck erneut darstellen soll. Blatt 7/8 enthält einen kurzen Lebenslauf Woyzecks, auf Blatt 12 ff. wird das nach den Verfahrensregeln wiederholte Geständnis des Mörders in Form von Frage und Antwort wiedergegeben: »Gabt ihr der verwittw. Woostin in dem Hausflur ihres Wohnhauses mehrere Stiche? — Antw. Ja. Gabt ihr derselben diese Stiche mit dem bey der Arretur in euern Händen befindlichen Dolche? Antw. Ja. Wohin gabt ihr derselben diese Stiche? — Antw. Von vorne in die Brust. In welcher Absicht brachtet ihr der verwittweten Woost diese Stiche bey? Antw. Wahrscheinlich hat sie mir etwas gesagt, wodurch ich in Zorn gerathen bin, da habe ich darauf los gestochen. Gabt ihr derselben die Stiche, um dieselbe zu ermorden? — Der Inquisit behauptet in der Antwort auf diesen Artikel, sich gar nichts dabey gedacht zu haben, erwiderte aber, als ihm das bey der summarischen Vernehmung bereits in dieser Hinsicht bejahend abgelegte Geständniß vorgehalten ward: >nun so schreiben sie es so, allein sie wollen die Wahrheit wissen und da muß ich ihnen sagen, daß ich mir gar nichts dabey dachte, ich stach nur so zu.< In welcher Absicht habt ihr den Dolch, als ihr ihn vom Drechsler zurückempfinget, zu euch gesteckt und bey euch behalten? — Antw. Ich muß die Absicht gehabt haben, die Woost zu erstechen. Habt ihr nach eurer Verhaftung in der Militair Hauptwache geäußert, >Gott gebe nur, daß die Woost tod ist; sie hat es um mich verdient!< Antw. Die Worte >Gott gebe nur, daß sie tod sey,< habe ich gesagt — ob ich auch hinzugesetzt habe, >sie hat es um mich verdient,< kann ich nicht sagen.«

11.

»Allerunterthänigster Vortrag. Das Gesuch Johann Christian Woyzecks um Begnadigung von der ihm wegen Mordes zuerkannten Todesstrafe betreffend.« Bericht der Landesregierung an den Geheimen Rat. 361

Dresden, 5. Juni 1822. Ausfertigung von Nr. 10 als Anlage zu Nr. 14. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 5; Bl. 178-201. Blatt 194—196 referiert die von Woyzecks Verteidiger nach dem ersten Urteil vorgetragenen Gründe (3. Dezember 1821): Hansel »prüft in der von ihm übergebenen Defension nochmals die Frage, ob das, was Inquisit gethan, nach Grundsätzen des Criminalrechts ihm völlig zugerechnet werden könne? In dieser Hinsicht berührt der Defensor nochmals den geistigen Zustand des Inquisiten und urtheilt [...] auf die mindere Zurechnungsfähigkeit de[s]selben. Der Inquisit gehöre zu den Menschen, welche das Schicksal gleichsam in ein feindliches Leben hinausgestoßen habe. Er sey ohne Heymath und Obdach gewesen, alles, was er sich vorgenommen, um sich ein besseres Loos zu bereiten, sey ihm fehlgeschlagen und er habe daher nicht gewußt, wo er Nahrung hernehmen solle; das Leben sey ihm daher gleichgültig worden. Freymüthig habe er die Aeußerung gethan, >ich habe mich lange geplagt, um mir durchzuhelfen; ich habe gearbeitet, nichts hat mir geholfen, ich bin immer tiefer herabgekommen, mag es mir auch gehen, wie es wolle, ich mache mir nichts daraus. Ich sehe wohl ein, daß es mir den Kopf kosten kann, ich ertrage aber dieses Schicksal, weil ich einmal sterben muß.< Diese Aeußerungen, schließt der Vertheidiger, setzten einen sehr zerrütteten Seelenzustand voraus und glaubt den Zustand des Inquisiten mit dem Nahmen Manie belegen zu dürfen.« [12.] Sondervotum des Prinzen Friedrich August, des späteren Königs Friedrich August II., über den Fall Woyzeck. Ohne Orts- und Datumsangabe, vermutlich vor Juli 1822; keine Unterschrift. Eigenhänd. Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Nachlaß König Friedrich August II., Nr. 50. Teilabbildung: Walter, S. 58. Das Aktenstück umfaßt 32 numerierte Blätter. Davon sind die ersten 17 oktav-, die folgenden quartformatig. Geschrieben hat es der Neffe Friedrich Augusts L, der spätere König Friedrich August II. Im ersten Teil der Niederschriften, die offensichtlich zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, kommt zum Ausdruck, daß sich der Autor intensiv mit der Problematik des Falles, vor allem mit der umstrittenen Zurechnungsfähigkeit des Mörders beschäftigt hat. Der zweite Teil ist der Entwurf einer Vorlage für »Ew. Majestät«, also für den König, der interessante Passagen über das Strafrecht des Staates enthält. Der Schreiber kommt dabei zu folgenden Schlußfolgerungen: »[...] an der Stelle, wohin mich Ew. Majestät gesetzt haben, ist es meine Pflicht, unabhängig von den bestehenden Gesetzen, Höchstderselben meine Ansicht offen darzulegen, um so mehr, da es hier auf keinen Rechtsspruch, sondern auf Gnade ankömmt; und Gnade ja schon ihrem Begriff nach über den Gesetzen erhaben ist. [...] Diese Grundsätze nun auch auf den Staat angewandt, was folgt daraus? 1. Das [sie!] der Staat berechtigt sey, zukünftige Gefahren für seine Glieder durch Zwang abzuwenden, 362

2. Daß aber dieser Zwang sich nur so weit erstrecken dürfe, als nöthig sey, um jene Gefahr abzuwenden.« Und weiter heißt es: »[...] Zweitens [ist] es aber auch ein geringeres Unglück, wenn hundert Schuldige mit dem Leben durchkommen, als wenn ein Einziger Unschuldiger ums Leben gebracht wird. Denn die nachtheiligen Folgen die aus jenem möglicherweise für den Staat entstehen können, sind allerdings ein Unglück, aber dieses ist Unrecht. Jenes Unglück ist entfernt und ungewiß-, das Unrecht aber gewiß. Ich halte es daher für meine Pflicht, hier meine Ueberzeugung frey auszusprechen, daß ich im gegenwärtigen Fall Bedenken trage, dem Gutachten der Landes Regierung beizutreten.« Abschließend wird vorgeschlagen, Woyzeck in eine »Versorgungsanstalt zu bringen, und der Pflege eines geschickten Arztes und Seelsorgers anzuempfehlen« oder ihn »in eine Strafanstalt bringen zu lassen«. [113.] Sondervotum des Prinzen Friedrich August, des späteren Königs Friedrich August II. Ohne Orts- und Datumsangabe, vermutlich Anfang Juli 1822. Überarbeitete Ausfertigung von Nr. 12 als Anlage zu Nr. 14. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 5; Bl. 220-254. 1(4.

»Allerunterthänigster Vortrag. Das Gesuch Johann Christian Woyzecks, um Begnadigung von der ihm wegen Mordes zuerkannten Todesstrafe betr.« Bericht des Geheimen Rats an König Friedrich August I. Dresden, 10. Juli 1822. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 5; BL 172-175. Ablehnende Stellungnahme.

115.

»Allerunterthänigstes Inserat.« Stellungsnahme des Geheimen Rats. Dresden, 20. Juli 1822. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 5; Bl. 216-217. Bezieht sich - vorsichtig ablehnend — auf die Ausführungen des Prinzen Friedrich August (Nrn. 12, 13).

116.

»Decret [des Königs Friedrich August L] an den Geheimen Rath. Das Begnadigungs-Gesuch des Inquisiten Woyzeck betr.« Pillnitz, 10. August 1822. Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 5; Bl. 256. Ablehnung des Gnadengesuchs und des Aufschubs der Vollstreckung des Todesurteils.

117.

Beglaubigte Abschrift des Dekretes an den Geheimen Rat (Nr. 16). Pillnitz, 10. August 1822. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 20.

118.

Reskript der Landesregierung an das vereinigte Kriminalamt Leipzig. Dresden, 26. August 1822.

363

Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 21. Woyzecks Gnadengesuch wird abgelehnt. Das Todesurteil ist beschlossen, und aus Leipzig wird nun der Bericht des Vollzugs erwartet. 19.

Bericht des vereinigten Kriminalamtes Leipzig an die Landesregierung. Leipzig, 4. September 1822. Unterschrift: D. Gottfried Wilhelm Hermann 13 , Vicecriminalrichter. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bi. 22. Man bittet, daß Woyzeck nochmals Einspruch erheben darf. Sein Verteidiger soll wieder der Handelsgerichts-Actuarius Hansel sein.

20.

Reskript der Landesregierung an das vereinigte Kriminalamt Leipzig. Dresden, 9. September 1822. Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 23. Dem vorigen Gesuch wird zugestimmt.

21.

»An die Landesregierung. Den Inquisiten Woyzeck betr.« Reskript des Königs Friedrich August I. Pillnitz, 14. September 1822. Entwurf, gezeichnet von: Friedrich August, Detlev Graf von Einsiedel 14 und D. Karl Christian Kohlschütter15. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 5; Bl. 258. Ein Begnadigungsgesuch Hansels wird zurückgeschickt. Der König bleibt bei seinem Dekret vom 10. August (Nr. 16).

22.

Beglaubigte Abschrift des Reskripts des Königs an die Landesregierung (Nr. 21). Pillnitz, 14. September 1822. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 25. Abbildung: Walter, S. 41.

23.

Reskript der Landesregierung an das vereinigte Kriminalamt Leipzig. Dresden, 19. September 1822. Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 26.

13 Nach Gehlers Tod im August 1822 unterschrieb zunächst der Vicekriminalrichter und Oberhofgerichtsadvokat D. Gottfried Wilhelm Hermann die Schriftstücke, später dann der Kriminalrichter Dr. Christian Adolf Deutrich. 14 Detlev Graf von Einsiedel, geb. am 12. Oktober 1773 in Wolkenburg, gest. am 20. März 1861; war sächsischer Cabinetsminister. 15 D. Karl Christian Kohlschütter, geb. am 14. Juni 1764 in Dresden, gest. am 9. Februar 1837 ebendort; war sächsischer geheimer Cabinetsrath.

364

Die Unterlagen werden nach Leipzig gesandt. Dabei wird betont, daß die getroffenen Entschließungen durch diese sowie die der beiden vorherigen Schreiben nicht aufgehoben worden sind. 24.

Bericht des vereinigten Kriminalamtes Leipzig an die Landesregierung. Leipzig, 20. Oktober 1822. Unterschrift: D. Gottfried Wilhelm Hermann, Vicecriminalrichter. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 28—31. Enthält einen Vorschlag über die geplanten Unternehmungen. »Ew. Königl. Majestät« wird gefragt und um eine Entscheidung gebeten, ob Clarus allein oder gemeinsam mit Heinroth16 oder einem anderen Arzt die Untersuchungen vornehmen soll und ob alles der medizinischen Fakultät Leipzig zur Begutachtung übergeben wird. Es sollen auch die Geistlichen, die Woyzeck besuchen, nach ihren Eindrücken gefragt werden.

25.

Reskript der Landesregierung an das vereinigte Kriminalamt Leipzig. Dresden, 28. Oktober 1822. Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 32. Abbildung: Walter, S. 42. Dieser Entwurf, wieder mit vielen Änderungen, bestätigt das vorherige Schreiben und drückt aus, daß sich der König nicht bemüßigt fühlt, seine Meinung zu ändern. Er ist auch nicht damit einverstanden, daß von der medizinischen Fakultät ein Gutachten eingeholt wird.

[26.! »Notizen, die auf den 13ten Novbr 1822 von dem vereinigten Criminal Gericht angesetzte Hinrichtung des Delinquenten, Woyzeck, und was dießfalls Seiten des Stadtmagistrats anzuordnen ist betr.« Leipzig, ohne Datumsangabe, wohl vor dem 6. November 1822, aber mit Ergänzungen vom August 1824. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 213—219 der »Acta ...«. Den mehrseitigen Notizen sind ausführliche Anweisungen angeschlossen, welche Berufsgruppen bzw. Bevölkerungskreise bei der Hinrichtung zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit zur Verfügung zu stehen und welche Verpflichtungen sie an den verschiedenen Stellen zu übernehmen haben. [27.]

»Gassen-Meister.« Leipzig, November 1822. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 230 der »Acta ...«. Namentliche Aufzählung der Gassenmeister.

16 D.Johann Christian August Heinroth, geb. am 17.Januar 1773 in Leipzig, gest. am 26. Oktober 1843 ebendort; war Ordentl. Prof. d. Medizin an der Universität Leipzig.

365

28.

»Registratura« (Aktenvermerk). Leipzig, 6. November 1822. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 220—222 der »Acta ...«. Betr. Zuständigkeitsfragen.

29.

Bericht des vereinigten Kriminalamtes Leipzig an die Landesregierung. Leipzig, 6. November 1822. Unterschrift: Dr. Adolf Deutrich17, Criminalrichter. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 34—37. Dieser ausführliche Bericht über einen Brief von Dr. Bergk, den dieser an Hansel richtete und der die Zurechnungsfähigkeit des Delinquenten begründet anzweifelt, bringt alles wieder in Bewegung. Der Überbringer des Schreibens, das leider nicht überliefert wurde, ist der Zeitungsträger Johann Gottlob Haase, bei dem Woyzeck im Sommer 1820 einige Monate »in Bettstelle [...] gelegen« hat. Haase, der selbst vernommen wurde, berichtet, daß Woyzeck mehrmals nachts, aber auch am Tage zu ihm gekommen sei und gesagt habe, »es zupfe an seinem Bette, es leide ihn nicht oben und er wisse, daß dieses seinen Tod zu bedeuten habe«. Nach der Ermordung der Woostin sei Haase dann zu Dr. Bergk gegangen und habe gemeint, »daß Woyzeck unmöglich gescheut seyn könne«. Die Vollstreckung des Urteils wird erneut hinausgeschoben. Im Bericht wird wiederholt betont, daß Woyzeck nach wie vor im Glauben sei, daß er hingerichtet werde, und von den Bemühungen zu seiner Rettung nichts wisse.

30.

»Allerdurchlauchtigster ...« (Abschrift von Nr. 29). Leipzig, 6. November 1822. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 5; Bl. 15-16.

31.

Aktenvermerk über Vorladungen. Leipzig, 9. Nov. 1822 Stadtarchiv Leipzig; Bl. 231—235 der »Acta ...«. Vertreter verschiedener Gewerbe (Gassenmeister, Rathsthorschreiber u. a.) werden vorgeladen und über ihre Ordnungsfunktionen bei der bevorstehenden Hinrichtung instruiert.

32.

Reskript der Landesregierung an das vereinigte Kriminalamt Leipzig. Dresden, 9. November 1822. Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 38. Die Zeugen sollen nochmals verhört und danach vereidigt werden. Woyzecks Betragen während seines Leipziger Aufenthaltes sei erneut zu

17 Dr. Christian Adolf Deutrich, geb. am 23. Dezember 1783 in Leipzig, gest. am 23. Dezember 1839 ebendort; war Kriminalrichter und von 1831 bis 1839 Bürgermeister von Leipzig.

366

überprüfen, soweit es nicht schon geschehen ist. Danach sollen, die Ergebnisse dem Physikus (also Clarus) vorgelegt und nach dessen Beurteilung nach Dresden geschickt werden. Damit ist die Vollstreckung des Todesurteils ausgesetzt, und das Verfahren wird neu eröffnet. 33.

»Entscheidungsgründe.« [Leipzig], ohne Datumsangabe [4. Oktober 1823]. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 5; Bl. 17-26. Abschrift des Urteils des Leipziger Schöppenstuhls, das sich u. a. auf das zweite Clarus-Gutachten bezieht, die erneute Verteidigungsschrift vom 7. Januar 1823 zurückweist, die Einholung eines Gutachtens der Leipziger medizinischen Fakultät ablehnt und das Todesurteil gegen Woyzeck bestätigt.

34.

Bericht des vereinigten Kriminalamtes Leipzig an die Landesregierung. Leipzig, 4. Oktober 1823. Unterschrift: Dr. Adolf Deutrich, Criminalrichter. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 39. Im Laufe der vergangenen Monate wurden Erkundigungen zu Woyzecks Betragen eingezogen und diese dem Stadtphysikus sowie dem Schöppenstuhle vorgetragen. Die daraus resultierenden Akten werden mit diesem Schreiben dem König übersandt.

35.

Reskript der Landesregierung an das vereinigte Kriminalamt Leipzig. Dresden, 22. Oktober 1823. Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 40. Mit diesem Brief werden Unterlagen zurückgeschickt. Diese sind jedoch in Leipzig nicht erhalten.

36.

Bericht des vereinigten Kriminalamtes Leipzig an die Landesregierung. Leipzig, 10. November 1823. Unterschrift: Dr. Adolf Deutrich, Criminalrichter. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 41-44. Abbildung (Adresse und letzte Seite): Walter, S. 43 f. Auf Grund der Akten reichen Verteidiger und Inquisit eine »unterthänigste Supplik« (= Bittgesuch) ein. Sie verlangen erneut ein Gutachten der medizinischen Fakultät und erwarten, daß auch aus Woyzecks Militärzeit Urteile über seinen Geisteszustand angehört würden. Das könnte nach Meinung des Verteidigers Hansel noch nachgeholt werden. Das Kriminalamt nimmt allerdings an, daß diese Untersuchungen schwierig durchzuführen wären. Der Verteidiger spricht gegen die Todesstrafe; sein Gesuch wiederholt: »[...] daß Inquisit bereits schon die Todesangst ausgestanden habe, und er als ein nach den Zeugnissen der Geistlichen reuiger Sünder Ew. Königl. Majestät Gnade nicht unwürdig erscheine«. 367

37.

Bericht der Landesregierung an den Geheimen Rat. Dresden, 25. November 1823. Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 48-53. Dieser Entwurf, mit Änderungen und Streichungen versehen, enthält eine Zusammenfassung des Prozesses bis zum neuesten Stand. Die Landesregierung votiert gegen eine Begnadigung.

38.

»Allerunterthänigster Vortrag. Den zum Tode verurtheilten Johann Christian Woyzeck betr.« Bericht der Landesregierung an den Geheimen Rat. Dresden, 25. November 1823. Ausfertigung von Nr. 37 als Anlage zu Nr. 39. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 5; Bl. 7-14.

39.

»Allerunterthänigster Vortrag. Den zum Tode verurtheilten Inquisit Johann Christian Woyzeck betr.« Bericht des Geheimen Rates an König Friedrich August I. Dresden, 23. Dezember 1823. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 5; Bl. 1-4. Der Geheime Rat schließt sich im wesentlichen dem Votum der Landesregierung (Nrn. 37 u. 38) an, doch Prinz Friedrich August bekräftigt noch einmal seine abweichende Ansicht (vgl. Nrn. 12 u. 13), in der ihn das erneute Verfahren »nur bestärken« könne; auch von Globig moniert, daß entgegen Art. 149 der Peinlichen Halsgerichts-Ordnung »bey der letzten Exploration dem D. Clarus nicht noch ein zweyter Arzt f . . . ] zugegeben worden« sei.

40.

»Decret [des Königs Friedrich August L] an den Geheimen Rath. Den zum Tode verurtheilten Inquisit Woyzeck betr.« Dresden, 10. Januar 1824. Entwurf, gezeichnet von: Friedrich August, Graf von Einsiedel und D. Carl Christian Kohlschütter. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 5; Bl. 27-28. Der König möchte doch ein fachliches Gutachten der medizinischen Fakultät Leipzig zuziehen.

41.

Beglaubigte Abschrift des Dekretes an den Geheimen Rat (Nr. 40). Dresden, 10. Januar 1824. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 54—55.

[42.] Übersendungsnotiz ohne Angabe von Ort und Datum; enthält eine »Specification der [...] [laut Anordnung vom 10. Januar 1824] [...] zurückzugebenden Akten und Beilagen«. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 47. 43. 368

Reskript der Landesregierung an das vereinigte Kriminalamt Leipzig. Dresden, 23. Januar 1824.

Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 56. Die medizinischen Untersuchungen sollen weitergeführt werden. 44.

Bericht des vereinigten Kriminalamtes Leipzig an die Landesregierung. Leipzig, 27. April 1824. Unterschrift: D. Gottf. Wilh. Hermann, Vicecriminalrichter. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 57-60. Enthält einen Bericht über die Aussagen der sechs Personen, die in Stralsund mit Woyzeck in Verbindung standen. Die Protokolle der Befragungen werden angeführt; aus allen geht hervor, daß die sechs Befragten an »Wutzig« (wie Woyzeck in Stralsund genannt wurde!) keine »Verstandesverrückung« wahrgenommen hätten. Er habe viel getrunken, aber von Erscheinungen wisse man nichts. Allerdings wird ausgesagt, daß er öfter »niedergeschlagen« gewesen sei. Außerdem wird das Gutachten der medizinischen Fakultät angeführt, welches das von Clarus bestätigt. Es kommt zum Ausdruck, daß Woyzeck vor, bei und nach der Mordtat nicht gestört gewesen sei: Er habe sich nicht »im Zustand einer Seelenstörung« befunden.

45.

Bericht der Landesregierung an den Geheimen Rat. Dresden, 25. Mai 1824. Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 61—62. Dieser Bericht der Landesregierung über die vorhergegangenen Untersuchungen enthält wieder viele Änderungen und Zusätze. Er gipfelt in dem Ausspruch, daß durch die Zeugen in Stralsund (s. Nr. 44) und durch das Gutachten der Leipziger medizinischen Fakultät »die Zurechnungsfähigkeit des Inquisiten nicht nur nicht in neue Zweifel sondern vielmehr in noch helleres Licht gestellt worden ist.«

46.

»Allerunterthänigster Vortrag. Den zum Tode verurtheilten Woyzeck betr.« Bericht der Landesregierung an den Geheimen Rat. Dresden, 25. Mai 1824. Ausfertigung von Nr. 45 als Anlage zu Nr. 47. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 6; Bl. 191-193.

47.

»Allerunterthänigster Vortrag. Den Inquisit Johann Christian Woyzeck betr.« Bericht des Geheimen Rates an König Friedrich August I. Dresden, 12. Juni 1824. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd 6; Bl. 189. Der Geheime Rat bestätigt seine früheren Stellungnahmen zum Todesurteil gegen Woyzeck, nachdem das Gutachten der Leipziger medizinischen Fakultät die Gutachten Clarus' gebilligt hat. 369

48.

»Decret [des Königs Friedrich August L] an den Geheimen Rath. Den Inquisiten, Woyzeck, betr.« Pillnitz, 26. Juni 1824. Entwurf, gezeichnet von: Friedrich August, Graf von Einsiedel und D. C. C. Kohlschütter Staatsarchiv Dresden; Just. Min. Nr. 739, Bd. 6; Bl. 195. Es bleibt bei dem Todesurteil: »[...] lassen Sr. Königl. Majestät bei der auf die Begnadigungs-Gesuche des Inquisiten unterm 10. August 1822 und unterm 10. Januar 1824 wiederholt gefaßten höchsten Entschließung es bewenden«. Die Landesregierung hat das weitere anzuordnen.

49.

Beglaubigte Abschrift des Dekretes an den Geheimen Rat (Nr. 48). Pillnitz, 26. Juni 1824. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 63.

50.

Reskript der Landesregierung an das vereinigte Kriminalamt Leipzig. Dresden, 12. Juli 1824. Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 64. »[...] der dem Woyzeck zuerkannten Strafe soll gebührend nachgegangen werden [...].«

51.

Bericht des vereinigten Kriminalamtes Leipzig an die Landesregierung. Leipzig, 3. August 1824. Unterschrift: D. Gottfried Wilhelm Hermann, Vicecriminalrichter. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 65 — 66. Es wird versucht, den Prozeß doch noch weiter zu führen; der Verteidiger erhebt Einspruch.

52.

Reskript der Landesregierung an das vereinigte Kriminalamt Leipzig. Dresden, 10. August 1824. Entwurf. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 67. »[...] Der Vollstreckung der Strafe soll gebührend nachgegangen werden.«

53.

Schreiben des Kriminalrichters Dr. Deutrich an den Stadt-Magistrat zu Leipzig. Ausfertigung. Leipzig, 16. August 1824. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 236 der »Acta ...«. Deutrich schlägt den 27. August 1824 als Tag der Hinrichtung vor.

[54.] Clarus, Johann Christian August, D.: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen. — Leipzig: Gerhard Fleischer 1824. VIII, 60 S. 8°. Museum; Universitätsbibliothek Göttingen; Bayer. Staatsbibliothek München.

370

Das Vorwort ist datiert »Leipzig, den 16ten August 1824« (S. VIII). Abb. des Titelblatts: Katalog Darmstadt, S. 318. 55.

»Registratura« (Aktenvermerk). Leipzig, 18. August 1824. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 237 u. 238 der »Acta ...«. Das vom Ober-Stadtschreiber Gottlob Wilhelm Werner geschriebene Protokoll hält fest, wie die »Notizen« vom November 1822 (vgl. Nr. 26) aktualisiert werden müssen.

56.

»Registratura« (Aktenvermerk). Leipzig, 19. August 1824. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 239 der »Acta ...«. »Da der Delinquent Johann Christian Woyzeck nunmehro wirklich hingerichtet, und die Execution auf dem Marktplatze vorgenommen werden soll«, wird nochmals aufgeführt, wie die »Notizen« (Nr. 26) verändert werden sollen. Dabei findet sich auch folgender Satz: »Bey dem 4. Punkt ist zu bemerken, daß die Ausgabe der Billets an die Zuschauer durch die Rathsstube verfügt und besorgt worden«.

57.

Fragen zu Sicherheit und Ordnung (Aktenvermerke). Leipzig, 20., 21. und 23. August 1824. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 259—265 der »Acta ...«. Ähnlicher Vorgang wie Nr. 31 und 59.

58.

»Registratura« (Aktenvermerk). Leipzig, 21. August 1824. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 240 u. 241 der »Acta ...«. Protokoll einer Ratssitzung, bei der die Annahme von Deutrichs Terminvorschlag beschlossen wird: »So wie Sie, hochgeehrtester Herr Criminal Richter, die Güte haben werden, das, auf dem Saale unsers Rathhauses zu veranstaltende peinliche Halsgericht zu halten, und sodann die Vollstreckung der Todesstrafe anzuordnen, so wird auch der Magistrat das ihm dabey unmittelbar zukommende zu beachten nicht unterlassen. Gebe Gott, daß unsere Stadt in Zukunft auf lange Zeit, wo möglich auf immer, mit einem gleichen schreckensvollen Ereignisse verschont bleibe.«

[59.] »Notanda Die Hinrichtung am 27ten Aug. 1824. betr.« (Aktenvermerk). Ohne Orts- und Datumsangabe. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 245-246 der »Acta ...«. Es werden nochmals Anweisungen gegeben und strengste Sicherheitsmaßnahmen angeordnet. Man spürt, daß den Schreibern die Schwere des Ereignisses bewußt ist und daß sie dem Vollzug mit Unruhe entgegen sehen. Wieder werden alle Berufsgruppen aufgefordert, ihre Pflichten zur Wahrung von Ruhe und Sicherheit zu erfüllen. Zusätzlich wird verfügt: »Frauenzimmer sollen gar nicht auf das Rathhaus gelassen werden, auch in die Expeditionen nicht.«

371

[60.] [Kleines Verzeichnis, an welchen Stellen des Rathauses Stadtsoldaten stehen, und ihre Anzahl (insgesamt 16 Mann).] Leipzig, August 1824. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 252 der »Acta ...«. [61.] »Die Besetzung der innern und äußern Thore in Leipzig vom StadtMilitair [...].« Leipzig, August 1824. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 255 der »Acta ...«. [62.] »1. Die Polizeiwache versammelt sich um 4 Uhr [...]« [es folgen weitere Aufzählungen]. Leipzig, August 1824. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 256—257 der »Acta ...«. [63.] Teil des Grundrisses vom Saal im Leipziger Rathaus mit Einzeichnung des Richterstuhles und von Sitzplätzen. Leipzig, August 1824. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 258 der »Acta ...«. Vgl. Nrn. 66-69 sowie die Abb.

64.

372

Ratsverordnung (Druckblatt). Leipzig, 23. August 1824. Museum; Goethe- und Schiller-Archiv Weimar.

»Nächst bevorstehenden Freytag den Sieben und Zwanzigsten des Monats August, wird auf hiesigem Markte, der zum Tode verurtheilte Delinquent, Johann Christian Woyzeck hingerichtet werden. [...]« Die Bevölkerung wird aufgefordert, »Ruhe und Ordnung« zu bewahren. l Blatt, beidseitig bedruckt, 4°. Abbildung: Katalog Marburg, S. 243; Katalog Darmstadt, S. 320; Walter, S. 46 f. Neudruck: MA, S. 602 f. Der handschriftliche Entwurf zu dieser Verordnung liegt bei den Schriftstücken des Stadtarchivs; er enthält noch den Vermerk zur Höhe der Druckauflage: »2 500 Exempl.« (»Acta ...«, Bl. 242-244). 65.

Aller gnädigst privilegirtes Leipziger Tageblatt. Leipzig 1824.18 Nr. 56, vom 25. August 1824. Auf 'S. l u. 2: Kurzer Lebensbericht (»Ueber den Mörder Woyzeck und sein Verbrechen.«). Nr. 57, vom 26. August 1824. Auf S. l, 2, 3, 4: Fortsetzung des Berichtes. Museum; Hessische Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt. Neudruck im voranstehenden Beitrag von Reinhard Pabst.

66.

Einlaßkarte:

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2

auf üera M Oh die kleine Mathkaust hur Bis s p ä t e s t e n s halb Neun Uhr Vormittags fcen &7* S t t u g t t f t

824*

18 Außer dem Leipziger Tageblatt wurden auch noch die Leipziger Zeitung und das Leipziger Intelligenz-Blatt nach Hinweisen auf den Fall Woyzeck durchgesehen. Während in der Leipziger Zeitung wenigstens die Ankündigung zweier Schriften (Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit f . . . ] und Curiöse Gespräche-, s. Nrn. 54 u. 84) sowie eine kurze Nachricht vom vollzogenen Urteil erscheinen, nimmt das Intelligenz-Blatt keine Notiz vom Prozeß und seinen Problemen.

373

[Leipzig, vor dem 27. August 1824.] Stadtarchiv Leipzig; Bl. 248 der »Acta ...«. Offenbar nicht für die allgemeine Öffentlichkeit, sondern nur für die besonders Berechtigten zum Zugang in die Ratsstube und den Rathaussaal (s, Nrn. 63, 67-69) bestimmt. 67.

Handschriftliches Protokollbuch: »Nachrichten, Die Hegung des hochnothpeinlichen Halsgerichts und darauf erfolgende Executiones betr.« Museum. Abbildung des Titelblatts: Katalog Darmstadt, S. 323; des Textes zu Woyzeck: Walter, S. 49-51. Erstdruck des Eintrags zu Woyzeck: T. M. Mayer; weiterer Nachdruck: MA, S. 605 f. Darin u. a.: »Den 27. August 1824 wurde Johann Christian Woydocok, mit dem Schwerdte vom Leben zum Todte gebracht [...]«. Es folgt eine Beschreibung der Zeremonie. 2 1/2 S. 4°. Der Name des Delinquenten wird sehr unterschiedlich geschrieben. Wir lasen Woyetz, Woizeck, Woicek, und nun, nach seinem Tode, wird etwas ganz anderes daraus: Woydocok.

68.

»Registratura« (Aktenvermerk). Leipzig, 27. August 1824. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 266-268 der »Acta ...«. Ober-Stadtschreiber Werner berichtet ausführlich über die Anwesenden und den Verlauf der Ereignisse im Rathaus, die der Hinrichtung Woyzecks vorausgingen (s. auch Nr. 67), sowie über das Geleit Woyzecks zum Schafott.

69.

Kurze Zusammenfassung und Bestätigung der Hinrichtung; mit Siegel, bestätigte Abschrift (Kurzprotokoll mit Verweis auf Nr. 70). Leipzig, 27. August 1824. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 275 der »Acta ...«. Dabei wird erwähnt, daß Johann Nikolaus Körzinger der Scharfrichter war. 19

19 Auch laut Bericht des Leipziger Kriminalamtes vom 29. 8. 1824 (Nr. 79) sowie einer eigenen Anzeige (Nr. 80) ist Woyzeck von Johann Nicolaus (oder: Andreas?) Körzinger enthauptet worden, und nicht von dem Leipziger Scharfrichter Friedrich Gebhardt, dessen Richtschwert im Museum für Geschichte der Stadt Leipzig aufbewahrt wird. — Weder im Leipziger Adreßbuch noch im Kirchenbuchamt läßt sich ein Joh. Nie. Körzinger nachweisen. Ob er mit der sächsischen Scharfrichterfamilie des Johann Andreas Körzinger verwandt ist, konnte noch nicht ermittelt werden, ist aber zu vermuten; vgl. dazu Johann Glenzdorf / Fritz Treichel: Henker, Schinder und arme Sünder. — Bad Münster am Deister 1970, Bd. l, S. 470.

374

70.

»Hegung des peinlichen Halsgerichts des vereinigten CriminalAmts der Stadt Leipzig, welches über Johann Christian Woyceck wegen verübten Mordes vor seiner Hinrichtung am 27. August 1824 gehalten worden ist.« (Protokoll). Leipzig, [27. August 1824]. Stadtarchiv Leipzig; Bl. 269—274 der »Acta ...«. Darin findet sich die Wiedergabe des folgenden Wortwechsels: » CriminalRichter: Gerichtsfrohn, lasset den Inquisiten vorführen. Nachdem der Inquisit vorgeführt ist: Johann Christian Woyceck, ich frage Dich vor diesem öffentlich gehegten peinlichen Halsgericht, hast Du am 2ten Juny 1821. Johannen Christianen Woostin mit einem dolchähnlichen Instrument, welches Du bey Dir geführt, mehrere Stiche in die Brust beygebracht? Ja! Bist Du dieser That nochmals geständig? Ja! So höre Dein Urtheil: Dieweil Du Johann Christian Woyceck vor diesem öffentlich gehegten Halsgericht bekennst, daß Du am 2ten Juny 1821 Johannen Christianen Woostin mit einem dolchähnlichen Instrument, welches Du bey Dir geführt, mehrere Stiche in die Brust beygebracht, woran dieselbe alsbald verstorben, so erkenne ich Dr. Christian Adolph Deutrich, als verordneter CriminalRichter der Stadt Leipzig, auf gesprochene Urthel und ergangene höchste Befehle für Recht: daß Du wegen dieses an Johannen Christianen Woostin begangenen Mordes, deßen Du geständig, mit dem Schwerdte vom Leben zum Tode zu richten und zu strafen. Von Rechts Wegen. Der Criminal Richter bricht den Stab und wirft die Stücke vor sich auf die Erde und spricht: Der Stab ist Dir gebrochen. Gerichtsfrohn, rufet den Scharfrichter.«

[71.] Abrechnung über das Frühstück der Geistlichen bei Woyzecks Hinrichtung. »Bei der Execution den 27. August 1824. 3 Thlr. 6 gr. Frühstück für die Herren Geistlichen [...]«. Handschriftliches Einzelblatt, 1824. 4°. Museum. Abbildung: Katalog Darmstadt, S. 323; Walter, S. 52. Erstdruck: H. Mayer, S. 142. 72.

Tagebucheintrag von Ernst Anschütz (1780—1861). Leipzig, 27. August 1824. Beschreibung der Hinrichtung Woyzecks. Handschrift in Privatbesitz.

375

Erstdruck durch Max Christian Wegner (Privatdruck Leipzig 1924). Faksimile: Deutsches Literaturarchiv Marbach. Nachdrucke: Dorsch / Hauschild, S. 319; Katalog Marburg, S. 242; Katalog Darmstadt, S. 321; MA, S. 603 f. 73.

Tagebucheintrag von Karl Eduard Niese (1804-1882). Leipzig, 27. August 1824. Beschreibung der Hinrichtung Woyzecks. Handschrift in Privatbesitz. Fotokopie: Forschungsstelle Georg Büchner Marburg. Erstdruck: Lüttig-Niese. Neudruck im voranstehenden Beitrag von Reinhard Pabst.

74.

Allergnädigst privilegirtes Leipziger Tageblatt. Leipzig 1824. Nr. 59, vom 28. August 1824. Auf S. [1]: Bericht von der Exekution. Nr. 60, vom 29. August 1824. Auf S. 247 [= S. 3]: Kurze Todesmeldung. Museum. Neudruck von Nr. 59 im voranstehenden Beitrag von Reinhard Pabst.

75.

Bericht des vereinigten Kriminalamtes Leipzig an die Landesregierung. Leipzig, 28. August 1824. Unterschrift: Dr. Adolf Deutrich, Criminalrichter. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 71. Abbildung (S. 1): Walter, S. 54. Meldung des vollstreckten Urteils: »Ew: Königl. Majestät zeigen wir hierdurch unterthänigst an, daß gestrigen Tages der Inquisit, Johann Christian Woyceck, auf dem Markte enthauptet worden ist und daß hierbey sich durchaus kein Unglücksfall zugetragen hat, noch irgend eine Störung der öffentlichen Sicherheit vorgefallen ist.«

[76.] Federlithographie von Christian Gottfried Heinrich Geißler (1770 bis 1844): »I. C. Woyzeck. Geht seinnen Tode als reuevoller Christ entgegen, auf dem Marktplatze zu Leipzig, den 27. August 1824.« 19,5 X 24,5 cm. Museum. Abbildungen (u.a. in): Johann, S. 120 f.; Bornscheuer, S. 61; Katalog Marburg, S. 242; Katalog Darmstadt, S. 321; Walter, S. 53. [77.] »Den 27.ten August 1824. -« Der Gerichtsdiener Engelhardt (?), der mit anderen Woyzeck auf das Schafott begleitete. Anonyme zeitgenössische Darstellung. Laut Johann, S. 119, vor 1958: Museum; dort jedoch nicht nachweisbar. 376

Abbildung: Johann, S. 119; auch im voranstehenden Beitrag von Reinhard Pabst. [77a.] [Woyzecks letzte Worte]. Handschrift verschollen. Erstdruck durch Max Christian Wegner (Privatdruck Leipzig 1924). Faksimile: Deutsches Literaturarchiv Marbach. Nachdrucke: Dorsch / Hauschild, S. 322 f.; Katalog Marburg, S. 240 f.; Katalog D sseldorf, S. 65 (jeweils mit Abbildungen); M A, S. 604. [78.] Einblattdruck. Woyzecks letzte Worte. [Leipzig 1824] 8°. Museum. Abbildung: Katalog Darmstadt, S. 322; Walter, S. 48. Neudruck: H. Mayer, S. 142. 79.

Bericht des vereinigten Kriminalamtes Leipzig an die Landesregierung. Leipzig, 29. August 1824. Unterschrift: Dr. Adolf Deutrich, Criminalrichter. Ausfertigung. Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 72. Abbildung: Walter, S. 56 f. Die Meldung des vollstreckten Urteils wird wiederholt: »[...] durch den Scharfrichter Johann Nicolaus K rzinger auf einen Hieb enthauptet

[...]«·

80.

Allergn digst privilegirtes Leipziger Tageblatt. Leipzig 1824. Nr. 62, vom 31. August 1824. Auf S. 256 [= S. 4]: Danksagung des Scharfrichters.

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Brief von Alexander Karl Hermann Braun an seinen Vater. Leipzig, 1. September 1824. »Lieber Vater! Du wirst mir verzeihen, wenn ich Dir lange nicht geschrieben habe, doch eigentlich was h tte ich Dir schreiben gesollt? Neuigkeiten giebt es nicht

377

[...] Am Freytage vor 8 Tagen wurde hier auf dem Markte Einer geköpft; ich stand sehr nahe und habe es also sehr deutlich gesehn, den Studenten war ein besonderer Platz angewießen, um sie herum stände Cavallerie, die das herandrängende Volk abwehrte; der Kopf fiel auf einen Streich, der Cadaver sollte galbanisirt werden, D. Clarus aber, der auf der Hinrichtung bestand, weil er erklärte, daß keineswegs der Delinquent, wie man vorgab, Anfälle von Wahnsinn habe, gab das Experiment nicht zu, weil leicht das Gehirn dabey verlezt werden könnte. Doch kam der Körper auf die Anatomie, wurde hier secirt, und es ergab sich, was jener behauptet hatte, nähmlich daß der Delinquent in allen Theilen des Körpers vollkommen gesund gewesen war. Ich habe ihn auch auf der Anatomie gesehn, nicht lange nach der Hinrichtung. Es war in Leipzig seit 34 Jahren keiner hingerichtet worden. [...] Dein Dir stets gehorsamer Sohn Leipzig d. 1. Sept. 1824« Universitätsbibliothek Leipzig. Abbildung: Walter, S. 60 f. Braun, geb. 10. Mai 1807 in Flauen, gest. 24. März 1868 in Flauen, studierte 1824 in Leipzig Jura. In den Jahren 1845 — 1849 war er als sächsischer Staatsmann tätig. [82.] Krüger, Gustav, M.: Predigt am eilften Sonntage nach Trinitatis zwei Tage nach der Hinrichtung des Mörders Woyceck gehalten. - Leipzig: C. H. Reclam 1824. 23 S. 8°. Museum. Abbildung des Titelblatts: Katalog Darmstadt, S. 324. Neudruck (Auszüge): H. Mayer, S. 142 f. 83.

Reskript der Landesregierung an den Stadtrat zu Leipzig. Dresden, 10. September 1824. Entwurf. »Die Übernahme von Defensionen [= Verteidigungen] seitens der Rathsactuarien in den bei dem vereinigten Criminalamte anhängigen Untersuchungen betr. [...].« Staatsarchiv Dresden; Landesreg. Loc. 31130; Bl. 73.

[84.] Curiöse Gespräche zwischen Prohaska} ]onas und den [siel] Friseur Woyceck. Nebst Woycecks vollständiger Lebensbeschreibung und dessen lehrreichen Abschiedsworten von seinen Freunden und Bekannten. — Leipzig: In Com. bei P. Fr. Vogel 1824. 21 S. 8°. Museum. Abbildung des Titelblatts: Katalog Darmstadt, S. 324. Neudruck (Auszug): H. Mayer, S. 144-146. 85.

378

Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung. September 1824. Num. 180 und 181, Sp. 473-480, 481-484. 4°. D. F.: [Rezension von] Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit... Nr. 54).

(s. oben

In seinem ausführlichen, mit Zitaten durchsetzten Referat des zweiten Gutachtens von Clarus stimmt der Rezensent »gänzlich den Hauptansichten und dem Urtheile des Vfs. bey« (Sp. 478) und geht in der Ablehnung der Annahme einer »körperliche[n] Anlage« sogar noch über diesen hinaus. Im Unterschied dazu beurteilt er das erste Clarus-Gutachten, das in dem Band allerdings nur kurz erwähnt ist, als »übereilt und oberflächlich«, weil es »die früheren Lebensverhältnisse des Inquisiten« nicht berücksichtigt habe (Sp. 481 ff.). [86.] Verzeichniß der in dem zurückgelegten 1824sten Jahre in Leipzig Getrauten, Gehörnen und Verstorbenen. (Druckblatt), l S. gr. 8°. Fast am Ende steht der Satz: »Der Einwohner Woyceck wurde als Delinquent, wegen einer am 2. Juny 1821 verübten Mordthat, am 27. August mit dem Schwerdte enthauptet.« Museum. Abbildung: Walter, S. 62. [87.] Marc, C. M., Dr.: War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? Enthaltend eine Beleuchtung der Schrift des Herrn Hof rath Dr. Clarus: »Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Joh. Christ. Woyzeck nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen«. — Bamberg: J. C. Dresch 1825. [VIII], 80 S. 8°. Museum; Bayer. Staatsbibliothek München. Neudruck (Auszüge): H. Mayer, S. 138 f. [88.] Heinroth, Johann Christian August, D.: Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hof rath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift: War der am 27. August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder J. C. Woyzeck zurechnungsfähig? — Leipzig: C. H. F. Hartmann 1825. [II], 69 S. 8°. Museum; Universitätsbibliothek Tübingen. [89.] Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen von Dr. Johann Christian August Clarus [...]. — In: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. Hrsg. von Adolph Henke [...]. Viertes Ergänzungsheft. — Erlangen: Palm und Enke 1825. IV, 316 S., 8°; hier S. 1-97. Nachdruck von Nr. 54. Universitätsbibliothek Marburg. Vollständige Neudrucke: H. Mayer, S. 75-126; HA, Bd. l, S. 487-537. [90.] Früheres Gutachten des Herrn Hofrath Dr. Clarus über den Gemüthszustand des Mörders Joh. Christ. Woyzeck, erstattet am 16. Sept. 1821. Nebst einem Vorworte des Herausgebers. — In: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. Hrsg. von Adolph Henke [...]. Fünftes Ergänzungsheft. — Erlangen: Palm und Enke 1826. [II], IV, 328 S., 8°; hier S. 129-149. Universitätsbibliothek Marburg.

379

Vollständige Neudrucke: H. Mayer, S. 126-137; HA, Bd. l, S. 538 bis 549. Das erste Clarus-Gutachten wird aufgrund der Kritik in Nr. 85 veröffentlicht. [91.] Dr. C. M. Marc, K. B. Physikus zu Bamberg, an Herrn Dr. und Professor ]. C. A. Heinroth in Leipzig, als Sachwalter des Herrn Hof rath es Dr. Clarus. Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders ]. C. Woyzeck betreffend. — Bamberg: J. C. Dresch 1826. 84 S. 8°. Museum.

Literatur- und Siglenverzeichnis Bornscheuer = Georg Büchner. Woyzeck. Erläuterungen und Dokumente. Hrsg. von Lothar Bornscheuer. — Stuttgart 1972. Dorsch/Hauschild = Nikolaus Dorsch/Jan-Christoph Hauschild: Clarus und Woyzeck. Bilder des Hofrats und des Delinquenten. - In: GBJb 4 (1984), S. 317 bis 323. Glück, Alfons: Der historische Woyzeck. — In: Katalog Darmstadt, S. 314 bis 324. Johann = Georg Büchner in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Ernst Johann. - Hamburg 1958 (= rowohlts monographien, Bd. 18). Kirchenbuchamt = Kirchenbuchamt des Evang.-Luther. Kirchgemeindeverbandes Leipzig. Lüttig-Niese = Elisabeth Lüttig-Niese: Der Fall Woyzeck. — In: Berliner Hefte für geistiges Leben 3 (1948), H. l, S. 92-94. H. Mayer = Hans Mayer: Georg Büchner: Woyzeck. Vollständiger Text und Paralipomena. Dokumentation. — Frankfurt/M., Berlin 1963 (= Dichtung und Wirklichkeit, Bd. 11). T. M. Mayer = Thomas Michael Mayer: Ein unbekanntes Dokument zur Hinrichtung Johann Christian Woyzecks. - In: GB]b 5 (1985), S. 347 f. Museum = Museum für Geschichte der Stadt Leipzig. Reihlen, Wolfgang: Woyzeck. — In: Leipziger Kohlender 1948 (September / Oktober) [mit 3 Federzeichnungen von Max Schwimmer]. Walter = Ursula Walter: ... der Vollstreckung der Strafe soll gebührend nachgegangen werden ... Eine Quellen-Dokumentation zum Prozeß des Johann Christian Woyzeck. — In: Leipzig. Aus Vergangenheit und Gegenwart. Beiträge zur Stadtgeschichte 6. [Hrsg. von Klaus Sohl]. - Leipzig 1989, S. 34-65 [mit zahlr. Abb.].

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Büchners letzte Stunden Ein unbekannter Brief von Wilhelm Baum Mitgeteilt von Jan-Christoph Hauschild (Düsseldorf)

[Adresse:]

Monsieur Monsieur Eugene Boeckel Docteur en Medecine Hotel de PEtoile quai Sr. Michel N«. 13. ä Paris.

Gestern, mein Lieber, wollte ich Dir noch spät schreiben daß unser Büchner, Dein u mein Büchner uns schon vorangegangen seye uns jenseits die Stätte zu bereiten - daß er, denn ich muß es deutlich sagen sonst glaubst, verstehst Du es nicht, glaubst Du es nicht — daß er gestorben seye. Doch ich that vielleicht wohl daran denn heute kann ich doch daß wenigstens melden daß er noch am Rande des Grabes liegt — welch ein Trost u doch ein Trost! Vorgestern 19 Febr. hatten ihn die Aertzte noch aufgegeben, wie sie etwa am 15 Febr. ihm nur noch 24 Stunden zu leben gaben. Vor etwa 10 Tagen kam die Nachricht hier an daß er krank liege, sogleich darauf schrieb er wieder aber durch fremde Hand u nur mit einigen wirren Zeilen von seiner Hand, u das ganze noch unterschrieben. Sogleich reißt die Madm. Jaegle mit der Wittwe des verstorbenen Pfarrer Schmidt ab nach Zürich, darf anfangs gar nicht einmal zu ihm, denn er lag, an einem Nerven u Faulfieber in dem schrecklichsten u beständigsten Delirium; endlich geht Schoenlein mit ihr an sein Bette, nach langem Anstarren, da mildert sich sein großer verwirrter Blick, u die krampfhaft verzogenene [!] Miene gestaltet sich zu einem leisen Lächlen — er erkennt sie — einen Augenblick u sinkt wieder in das gräßlichste Delirium zurück. Darauf in dem Wahnsinn der Krankheit dichtet er, stößt er einen begeisterten religiösen Gesang heraus, der mit den Worten schloß: Ja durch Schmerzen dringt man zu Gott! u dann wieder Geistesnacht u Delirium u Raserey. Den Trost hat die Unglückliche daß er von ihr zum erstenmal in der 381

ganzen Krankheit zuerst eine Messerspitze voll Confiture von ihr angenommen u auch jetz einige Löffel voll Brühe oder Medizin. Heute 20 Febr. kam ein Brief von ihr: er ist noch nicht tod, aber die Aerttze [!] haben ihn aufgegeben. Schönlein hat ihn aufgegeben, aber er ist nicht schlimmer, welch ein Trost, u doch ein Trost! Sie die Arme, sie ist gefaßt, sie betet, so schreibt sie, ach, beten, das kann Sie allein, ach vielleicht wird Gott das Flehen des armen armen Kindes vernehmen, vielleicht wird er auch unser Flehen vernehmen — Sein Wille geschehe!, sein Wille ist das allein heilige u gute, wir aber, wir verstehens nicht, wir glaubens fest. Jetz da der Mond mir so hell auf dieß Blatt scheint daß ich fast ohne Licht schreiben könnte, jetz scheint er vielleicht schon auf seine blasse, schöne Leiche, u. sie kniet bey ihm u wünscht, o gewiß, auch eine Leiche zu seyn. Denn wahrlich, was hat sie an ihm gehabt — doch ich rede in Verwirrung, er lebte noch, u er kann noch leben — aber wer fürchtet nicht wenn eine solche Blume bedroht ist. Wer soll nicht zerrissen werden, selbst wenn er sich selbst vergißt u nur in die Seele des armen Mädchens sieht, in dieses Chaos des Leidens. Hat er geendigt nun so muß ich aus dem Grunde meines Herzens sagen, für ihn, wohl ihm! ja wohl ihm! bleibt er wohl uns! auf jeden Fall wollen wir ihn wiedersehen — dieß glaubst Du u das glaubt Dein B [Straßburg,] 20 Febr. 1837. Anmerkungen: Handschrift im Besitz der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle, Signatur Yi 6 B II, 8. Wilhelm Baum (1809-1878): bedeutender prot. Theologe des Elsaß, zum Zeitpunkt des Briefs Pfarrer an St. Thomae in Straßburg. Büchner schenkte ihm 1835 ein Exemplar von Danton's Tod. Eugene (Eugen) Boeckel (1811 — 1896), Mediziner, Verwandter Baums, zum Zeitpunkt des Briefs auf einer Studienreise durch Europa. Wie Baum Straßburger Freund und Briefpartner Büchners. Madm. Jaegle: Büchners Straßburger Verlobte (1810-1880). Wittwe Schmidt: vermutlich Margareta Salome Schmidt geb. Lichtenberger. Schoenlein: Johann Lucas Schönlein (1793 — 1864), berühmter Kliniker, seit 1833 Professor für Pathologie in Zürich, Büchners behandelnder Arzt, später Leibarzt Friedrich Wilhelms IV. er ist noch nicht tod: Büchner starb Sonntag den 19. Februar 1837 und wurde zwei Tage später auf dem Krautgarten-Friedhof beerdigt.

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Das Inventar und die Versteigerung des Nachlasses von Friedrich Ludwig und Amalie Weidig Mitgeteilt von Thomas Michael Mayer (Marburg) und Sigurd Rink (Usingen)

Als Friedrich Ludwig Weidig, der Mitverfasser des Hessischen Landboten, am 23. Februar 1837 im Darmstädter Gefängnis zu Tode kam, war er gerade 46 Jahre alt geworden. Seine Frau Amalie, geb. Hofmann, die er im Januar 1827 geheiratet und von der auch Büchner sich so »enchantirt« gezeigt hatte1, war 40, ein Sohn, Wilhelm, 8 und die erst während Weidigs Haft geborene Tochter Amalie eineinhalb Jahre. Weidigs Frau hielt sich seit der Verhaftung ihres Mannes überwiegend nicht mehr in Obergleen, sondern bei ihrem Bruder, Landrichter Gustav Hofmann in Friedberg, aber auch bei anderen Verwandten und l N, S. 16; vgl. Burgharcl Dedner (Hrsg.): Der widerständige Klassiker. Einleitungen zu Büchner vom Nachmärz bis zur Weimarer Republik. — Frankfurt a. M. 1990 (= Büchner-Studien, Bd. 5), S. 115: Büchner »verlor sein natürliches Ungestüm, wenn sie [Amalie Weidig] dazu kam, und ward zahm, wie ein Hirsch, wenn er Musik hört« (aus einem nicht mehr erhaltenen Brief August Beckers an Karl Gutzkow, vor März 1842). Becker selbst bezeichnet Amalie Weidig in diesem Brief sehr konventionell als ein »überaus herrlichejs] Geschöpf«, an anderer Stelle (Nö, S. 315) nennt er sie »in einem ebenso ausgezeichneten Grade geistreich als tugendhaft und bescheiden«. Belegt ist, daß Amalie Weidig in Butzbach und Obergleen unentgeltlichen Mädchenunterricht erteilte und auch anderen Schülern ihres-Mannes Klavierstunden gab (vgl. Karl Buchner: Friedrich Ludwig Weidig. — In: Die Männer des Volks, dargestellt von Freunden des Volks. Hrsg. von Eduard Duller. Bd. 7. — Frankfurt a. M.: Meidinger 1849 [im folgenden zit. als Buchner, 1849], S. 1-64, hier S. 9; Katalog Marburg, S. 128). Gerade wenn sie es nach Beckers Aussage für übertrieben gehalten haben mag, daß Weidig »fast sein gesamtes Vermögen den polnischen Flüchtlingen geschenkt habe« (Nö, S. 315), ist ihr Engagement im Vorstand des »Wetterauer Frauen-Vereins für gastliche Pflege polnischer Patrioten« zwischen Januar 1832 und April 1833 bemerkenswert, das nicht nur natürlich ihre Mitwissenschaft und Billigung, sondern Unterstützung auch der politischen Ziele ihres Mannes einschließlich der Planung des Frankfurter Wachensturms erkennen läßt (vgl. Untersuchungsberichte zur republikanischen Bewegung in Hessen 1831 — 1834. Hrsg. von Reinhard Görisch und Thomas Michael Mayer. — Frankfurt a. M. 1982, S. 357 u. 366; Weidig, S. 591-594). Während der beiden Haftzeiten Weidigs (21. Mai bis 10. Juli 1833 und ab 24. April 1835) koordinierte seine Frau u. a. mit einer Verfassungsbeschwerde beim Landtag in Darmstadt und mit zahlreichen Eingaben bei den Gerichten seine juristische, politische und publizistische Verteidigung (vgl. Nö, S. 349, 353, 454 u. ö.; Weidig, S. 388, 391 u. 393; Buchner, 1849, S. 12 f.). 383

Freunden in Hungen und Lieh auf.2 Alle ihre Versuche, Weidig im Arresthaus in Darmstadt zu besuchen, scheiterten an den Behörden, die auch den Briefwechsel stark behinderten und ab Herbst 1836 ganz unterbanden.3 Nach dem Tod ihres Mannes bezog Amalie Weidig zunächst eine Mietwohnung in Hungen, dem Wohnort ebenfalls eines ihrer Brüder. Dort bemühte sie sich darum, Weidigs hinterlassene Gedichte und Predigten in einem Friedberger Verlag zu veröffentlichen.4 Die vorbereitete Druckvorlage mit Abschriften der Gedichte und den Originalhandschriften der Predigten wurde von der Zensur dem Ministerium in Darmstadt eingereicht und dort konfisziert, so daß Amalie Weidig erneute Abschriften anfertigen mußte und der Band durch Vermittlung Karl Buchners erst 1838 und außerhalb des Großherzogtums Hessen erscheinen konnte.5 Während zwei Brüder Weidigs, der Revierförster Karl Weidig und Landgerichtsassessor Wilhelm Weidig, unterstützt von einem Schwager Weidigs, dem Darmstädter Advokaten Theodor Reh, die näheren Umstände seines Todes in der Haft aufzudekken versuchten, was ihnen dann selbst langjährige und ruinöse Verleumdungsverfahren eintrug6, verhandelte Amalie Weidig mit der Darmstädter Justiz um »die Herausgabe der hinterlassenen Effekten« 7 ihres

2 Vgl. Karl Buchner: Amalie Weidig. Eine biographische Skizze. — In: Mitternachtzeitung für gebildete Leser, Braunschweig, 14 (1839), No 130 und 132, 13. und 16. August, S. 1038-40, 1052-54, hier S. 1052. - In Friedberg wurde am 31. Juli 1835 auch die Tochter Amalie Friedegard geboren (Gcburtsprotocoll, in: Weidig, S. 635 f.). 3 Nö, S. 447-533 passim, bes. S. 521 ff., 528; vgl. auch Weidig, S. 492-494, 152 f., 342 u. 641. Konnte Amalie Weidig ihren Mann während der Friedberger Haftzeit im April und Mai 1835 noch besuchen, so wurde ihr in Darmstadt sogar ein Sichtkontakt vom Hof des Arresthauses aus verweigert, während man nur die beiden Kinder mit einer Amme, die den Säugling trug, zu ihm ließ (Weidig, S. 152). 4 Wie Anm. 2; vgl. auch die folgende Anm. 5 Reliquien D. Friedrich Ludwig Weidig's, gewesenen Pfarrers in Obergleen im Großherzogthume Hessen. Zum Besten der Wittwe Weidig's herausgegeben von einigen Freunden. - Mannheim: Hoff 1838 (Faksimile in: Weidig, S. 125-260). Das Vorwort Karl Buchners, der auch Nachrufe auf Georg Büchner und Weidig veröffentlicht hatte (vgl. GBJb 6 [1986/87], S. 296-302), wurde erst für diese Mannheimer Ausgabe verfaßt (vgl. Wilhelm Diehl: Weidigs Reliquien. - In: Hessische Chronik 8 [1919], S. 123-125, sowie Weidig, S. 468-470). 6 Vgl. [Wilhelm Schulz]: Der Tod des Pfarrers Dr. Friedrich Ludwig Weidig. Ein actenmäßiger und urkundlich belegter Beitrag zur Beurtheilung des geheimen Strafprozesses und der politischen Zustände Deutschlands. — Zürich und Winterthur 1843 (Reprint Leipzig 1975), S. 106-124, Anhang S. 29-31, 47-60; Nö, S. 645-678; Wilhelm Schulz und Carl Welcker: Geheime Inquisition, Censur und Kabinetsjustiz im verderblichen Bunde. Schlußverhandlung mit vielen neuen Aktenstücken über den Prozeß Weidig. — Carlsruhe 1845, S. 191-216, 251-259; Friedrich Noellner: Die Kritik des gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer Weidig. Ein Beitrag zur Charakteristik der politischen Parteien und der Rechtszustände Deutschlands nebst actenmäßigen Belegen. — Braunschweig 1845, S. 131-162. 7 Karl Buchner (s. Anm. 2), S. 1053. 384

Mannes, d. h. seiner persönlichen Habseligkeiten, Kleider und einiger Bücher. Dies wurde ihr solange prinzipiell verweigert, bis die Familie auch noch die 1837 entstandenen Kosten für die Reinigung der Zelle Weidigs erstattet hatte.8 Danach erhielt sie — schon an ihren letzten Wohnort Gießen, wohin sie Anfang Mai 1839 zur Miete bei Kaufmann Münch gezogen war, um ihrem jetzt 10-jährigen Sohn eine angemessene Schulausbildung zu ermöglichen — zunächst eine Asservatenliste und anschließend lediglich die Kleider zugeschickt; alles übrige wurde in Darmstadt aus »polizeilichen Rücksichten«9 einbehalten. »Diese letzten Verhandlungen«, schreibt weiter ihr Biograph Karl Buchner, »hatten Amalien Weidig sehr angegriffen. Schon das mitgetheilte Verzeichniß der Effekten ihres Mannes war ihr bis zu Brustkrämpfen schädlich gewesen; die Effekten selbst sah sie nicht mehr. Bald entwickelte sich ihr Zustand zu einem Nervenfieber. In ihren fast anhaltenden Delirien waren Kerker, Ketten etc. und ihr Mann die Ideen, welche sie beherrschten. Die Krankheit hatte nicht unüberwindlich geschienen, doch war bei dem durch die Erlebnisse der vergangenen Jahre zerrütteten Nervensysteme und bei dem Mangel an Kräften gleich Alles zu befürchten.« 10

Amalie Weidig starb in Gießen schon am 28. Juni 183911 zweiundvierzigjährig und hatte damit ihren Mann nur um wenig mehr als zwei Jahre überlebt. Über die persönlichen Verhältnisse dieser vernichteten Republikanerfamilie können wir uns nun aus bislang unbekannten Akten des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt 12 ein. besonders anschauliches Bild machen, denn sie enthalten vollständige, detaillierte Nachlaßverzeichnisse einschließlich Schätz- und Zuschlagpreisen der Versteigerung von Ende September 1839. Diese Verzeichnisse des gesamten privaten Besitzes ergänzen das 1987 von Hans-Joachim Müller veröffentlichte Inventarium der Butzbacher Rektoratsgebäude aus dem Jahr 182713, das einen geradezu photo8 9 10 11

Schulz: Tod Weidigs (s. Anm. 6), S. 130 f. Buchner, 1849, S. 45. Karl Buchner (s. Anm. 2), S. 1053; vgl. Schulz: Tod Weidigs, S. 131. Sterbprotocoli, in: Weidig, S. 664 f.; in der Todesanzeige ihrer Geschwister (Großherzoglich Hessische Zeitung, 1839, S. 1105) ist die Rede von »langer verzehrender Sehnsucht, ihren Gatten im Reiche des Lichts wiederzufinden«, und von »der schweren Last, die ihr Leben zerdrückte.« 12 Heutige Signatur: Abt. G. 28 [Gerichtsakten] Homberg/Ohm Nr. F 234. Alte Aktendeckel (blau, außen): Acten Gr. Landgericht Homberg. Vormundschafts-Acten über die Kinder des Gr. Pfarrers Weidig. Obergleen; (weiß, innen): Acten des Großherzoglich Hessischen Hofgerichts der Provinz Oberhessen. Abtheilung Verlassenschaf ten. Ort Obergleen. Landgerichts Bezirk Homberg. In Sachen den Nachlaß der Wittwe des Gr. Pfarrers Weidig zu Obergleen und die Vormundschaft über deren Kinder betr. (1839-1848) [1856]. - 1986 aufgefunden von Sigurd Rink. 13 Weidig, S. 414-424. 385

graphisch genauen Rundgang durch jenes »Rektorhäuschen« erlaubt, in dem Weidig bis zu seiner Heirat 1827 mehrere Jahre lang selbst gelebt und auch unterrichtet hatte14. Ähnlich erlaubt das im folgenden gedruckte Nachlaßinventar jetzt einen vergegenwärtigenden Blick in alle Räume, Kasten und Schränke der Familie, d. h. auf Alltagsumstände, wie sie im wesentlichen — einige Erbstücke abgerechnet15 — bereits für Butzbach und sicher für Obergleen anzunehmen sind. Folgt man der Numerierung des am 26. und 27. September 1839 in insgesamt nur vier Stunden von Hofgerichtssekretär Stürz und dem Schätzer Aron Ziegelstein aufgenommenen Originalinventars16 durch wenigstens ein Wohnzimmer (entsprechend etwa den ursprünglichen Nummern 1—6), Schlaf- und Ankleidezimmer (7—28), Küche und Speisekammer (30—105), Kammer oder Flur (106—111), Kinderzimmer (112—135), Kammer- und/oder Flurschränke (136—269), so ergibt sich zunächst der Eindruck eines durchaus mittelständisch gehobenen, wenn auch keineswegs üppigen Wohlstandes. Dabei belaufen sich die (durch Schätzungen nicht ganz exakt, doch im Vergleich mit den erzielten Versteigerungserlösen annähernd realistisch ermittelten) Sachwerte mit ca. l 050 Gulden nur auf knapp das Doppelte etwa des Jahresgehalts von rund 600 Gulden, das Weidig bei seinem Amtsantritt als Rektor der Butzbacher Lateinschule im Dezember 1826 bezog17. 14 Zu den verschiedenen Wohnungen Weidigs in Butzbach vgl. Dieter Wolf: Wo wohnte eigentlich F. L. Weidig? - In: Butzbacher Zeitung, 31. 1. 1987, S. 7 f., sowie Wcidig, S. 517 u. 424, und Katalog Marburg, S. 131. 15 Vgl. unten Anm. 19. 16 Die Numerierung dieses ursprünglichen, bereits mit den Schätzpreisen versehenen Inventars (wie Anm. 12, Fasz. 9; 16 S.) ist in unserem Abdruck des späteren, nach Sachgruppen geordneten Verzeichnisses vom Dezember 1839 jeweils in eckigen Klammern hinter den einzelnen Gegenständen eingeschaltet. 17 Nö, S. 291. Da dieses Gehalt, wie bei mehreren anderen Berufen auch, z. T. noch aus Naturalien bestand (vgl. Werner Meyrahn: Bisher unbekannte Orteile über F. L. Weidigs Schultätigkeit in Butzbach. - In: Wetterauer Geschichtsblätter 17 [1968], S. 81—90, hier S. 83 f.; Weidig, S. 396 ff.), aber auch wegen weiterer gravierender Unterschiede in den Budgetproportionen, sind Vergleiche mit gegenwärtigen Verhältnissen allerdings kaum möglich. Zu zeitgenössischen Vergleichsgehältern und -preisen s. Gß ////, S. 425, Anm. 16; Katalog Darmstadt, S. 67; Michael Werner: Genius und Geldsack. Zum Problem des Schriftstellerberufs bei Heinrich Heine. - Hamburg 1978 (= Heine-Studien); und, mit zahlreichen Daten speziell zu Friedberg/Wetterau: Die Wetterau. Beiträge zur Kultur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte einer Landschaft. Hrsg. von der Kreissparkasse Friedberg. - Friedberg 1983, bes. S. 57-61, 384 f., 458. Danach reichte die Einkommensskala in Hessen etwa von den 3 Vz Gulden Wochenverdienst eines ländlichen Tagelöhners (um 1835) über die Jahresverdienste von 60 Gulden (Nachtwächter, um 1840), 150 Gulden (Schuhmacher- und Schneidermeister, um 1840), 400 bis 670 Gulden (der Arzt Ernst Büchner, Georg B.s Vater, zwischen 1821 und 1824), 403 Gulden (Lehrer, 1836), 500 Gulden (Stadtpfarrer), 650 Gulden (Stadtschulrektor, beide Friedberg, um 1840), 800 Gulden (Justus Liebig als ord. Prof. in Gießen 1825-1833 bzw. 1250 Gulden 1835) bis zu 1200-2000 Gulden 386

Auffällig demgegenüber, und auch im Gegensatz zu den übereinstimmenden Berichten über Weidigs finanzielle Verhältnisse18 stehend, ist der hohe Anteil der »Activausstände« (Abt. 10) — d. h. der angelegten bzw. privat verliehenen Gelder (4 630 Gulden) — mit rund vier Fünfteln des Gesamt-Nachlaßwertes von insgesamt 5 653 Gulden, der damit immerhin fast dem Zehnfachen von Weidigs Jahresgehalt entspricht. Zur Erklärung dieser ungewöhnlichen Relation von etwa eins zu vier zwischen Sachwerten und Geldvermögen ist einmal damit zu rechnen, daß Weidig von seinen im November 1831 bzw. Januar 1835 gestorbenen Eltern, also erst kurz vor seiner Verhaftung, etwas geerbt hat19 und daß auch seine Frau als Tochter eines Regierungsrats einen gewissen finanziellen Hintergrund gehabt haben dürfte. Vor allem aber spricht die Anlage größerer Beträge in Höhe von insgesamt mindestens 2 100, wahrscheinlich sogar 3 080 Gulden gerade im Zeitraum von Mai 1837 bis Mai 183920 für besondere Maßnahmen der ganzen Familie und zumal politischer Freunde21 zur Existenzsicherung der Witwe und ihrer beiden Kinder. Das bestätigt ausdrücklich auch Karl Buchner, der berichtet, »Freunde, welche sie zusammenlegten«, hätten »für [...] die ausgebliebene Summe aus der Gothaer Lebensversicherungsbank [...] [ge]sorgt«, die »im vorliegenden Fall«, d. h. dem offiziell behaupteten und bescheinigten >Selbstmord< Weidigs, »statutenmäßig nicht bezahlt«

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(Hofgerichrsrnr je nach Dienstnlter, um 1834) bzw. 3 000 Gulden für den Vater von Karl Minnigerode, den Hofgerichtspräsidenten Ludwig M. (um 1834). So war allen Freunden und zuletzt auch den Behörden auffällig, welche Beträge Weidig als »ein mittelloser Mann« (Schulz: Tod Weidigs, S. 67 f.), der zudem »bei der Eintreibung seiner Besoldungstheile mit der größten Uneigennützigkeit verfahre und Unvermögenden oft die Zahlung erlasse« (Nö, S. 293), dennoch für die verschiedensten politischen, pädagogischen und sozial >wohlthätigen< Zwecke privat aufwendete (vgl. auch oben Anm. l, sowie u. a. Nö, S. 296, 298, 300 u. 315); dies sei »nur durch die äußerste Einschränkung«, »die allergrößte Bedürfnißlosigkeit« bzw. »durch die Einfachheit und Ordnung des Weidig'schen Haushalts« möglich gewesen (Schulz: Tod Weidigs, S. 57 u. 67; Reliquien, in: Weidig, S. 140). Vgl. Weidig, S. 565 u. 597. Weidigs Vater, der eines der »Herrschaftlichen Häuser« in Butzbach bewohnt hatte (ebd., S. 512), starb am 16. Januar 1835. Die »Auflösung des elterlichen Hauses« im Januar/Februar 1835 ist ausdrücklich belegt (vgl. Reliquien, in: Weidig, S. 151), und laut einer Art Nachlaßabrechnung in der Sammlung Grünewald, Lahr (vgl. Weidig, S. 10), von der uns nur eine unvollständige Kopie der Abt. »C. Vertheilung des Ueberschusses, unter Aufrechnung der erhaltenen Gegenstände« vorliegt, fand vom 3. bis 5. Februar 1835 auch eine Versteigerung statt. Doch scheint nach derselben Quelle auf jedes der fünf Geschwister (vgl. auch Weidig, S. 510) nur ein Erbe von jeweils 158 Gulden in bar entfallen zu sein. Vgl. die datierten Geldanlagen unter Nr. 2, 4, 5, 6, 9 und 10 in Abt. 10 (Activausstände) des hier abgedruckten Inventariums; daß auch die nicht datierten Anlagen von 800 bzw. 180 Gulden (Nr. 7 und 8) in diesen Zeitraum fallen, ist zu vermuten. So erschienen die Reliquien (s. oben Anm. 5) 1838 in zwei Auflagen zu einem Preis von 48 Kreuzern ja ausdrücklich zur Unterstützung Amalie Weidigs.

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worden war.22 Dieses Zeugnis belegt also nicht nur, daß Weidig — abgesehen von einer seit 1824 nicht angetasteten Reserve von l 000 Gulden23 — selbst zu Lebzeiten keineswegs über die im Nachlaß genannten größeren Summen verfügte, sondern es führt vor allem vor Augen, daß er während seines politisch gefährdeten Lebens und angesichts einer zu erwartenden »Pension aus der geistlichen Wittwenkasse« von jährlich nur knapp 100 Gulden24 eine Vorsorge getroffen hatte, die dann allerdings mit äußerster institutioneller Konsequenz seinen Hinterbliebenen auch noch entzogen wurde und stattdessen als politischer Solidarbeitrag aufgebracht werden mußte. Um wenigstens kursorisch und ohne nähere Vergleichsstudien auf weitere mögliche Besonderheiten des Nachlasses aufmerksam zu machen, so dürfte zwar die große Anzahl von Geschirr, Tischtüchern, Servietten sowie Bettzeug einer zeitgenössisch normalen bürgerlichen Aussteuer und Bevorratung entsprechen, aber z. B. nicht weniger als 13 »mit Rohr geflochtene Stühle« (Abt. 5 / Nr. 4) sprechen auch bei einem — traditionell offenen — protestantischen Pfarrhaushalt vielleicht doch für jene ebenso gesellige wie konspirative Gastlichkeit des Ehepaars, die durch andere Dokumente vielfach belegt ist.25 Das fast vollständige Fehlen von Büchern, Noten usw. dürfte sich wie auch die Tatsache, daß keinerlei persönliche Schriftstücke erwähnt werden (das ursprüngliche Inventar spricht lediglich von einer Durchsicht der offenbar finanziellen »Papiere der Verstorbenen« am Abend des 27. September 1839), vermutlich nur durch einen direkten Zugriff der Verwandten, insbesondere der schon Anfang Juli designierten Vormünder der beiden Kinder, Landrichter Hofmann und Revierförster Karl Weidig, erklären lassen, die bis 1. Juli 1839 »in der Wohnung der Verstorbenen anwesend gewesen« waren.26 — Daß Amalie Weidig »ein roth seidenes Unterkleid«

22 Buchner, 1849, S. 44; dagegen ist der von Buchner angegebene Grund, daß auf diese Weise Amalie Weidig weiterhin die »Todesari« ihres Mannes hätte »verheimlicht« werden können, angesichts der zahlreichen Pressemeldungen (so berichtete die Großherzoglich Hessische Zeitung schon am 26. Februar 1837, Weidig habe »sich [...] selbst entleibt«; vgl. Katalog Marburg [21986], S. 262, Nr. 349) und angesichts der öffentlichen Diskussion über den Fall ganz unwahrscheinlich. Auch aufgrund der Verfahren gegen ihre beiden Schwäger (s. oben Text u. Anm. 6) hatte Amalie Weidig sicher mehr als die auch von Buchner eingeräumte »bestimmte Ahnung« oder »halbe Kenntniß«. 23 Vgl. Inventarium, Abt. 10, Nr. 1. 24 Ebd., Nr. 13. 25 Vgl. Nö, S. 287—322: »Singunterricht in seiner Wohnung« (S. 292); Versammlungen junger Leute »in seinem Hause« (293); »sehr gastfrei« (315); »ein paar alte Bauern« zu Besuch (GB ////, S. 210); häufiger Übernachtungen Gießener Studenten (August Becker, Nö, S. 431). 26 Wie Anm. 12, Fasz. [27], p. 1.

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(6/18) besaß, soll schließlich nicht aus Pikanterie, sondern deshalb erwähnt werden, weil Weidigs asketische Auffassungen27 und seine bekannten Vorbehalte gegen einen Luxus wie Gustav Clemms »rot gefütterten Mantel«28 sicher nicht zu eng privat gesehen werden dürfen. — Das Inventar des Nachlasses vermittelt insgesamt das Bild eines biedermeierlich gediegenen, praktischen und fürsorglich-wohlgeordneten Hausstandes mit nur wenig ländlichem Einschlag. Die Auflösung dieses Hausstandes erfolgte, nachdem die Wohnung am 1. Juli 1839 vollständig versiegelt worden war und der Bruder Weidigs, der Hornberger Revierförster Karl Weidig (geb. 1793), und seine Frau Karoline als selbst kinderloses Ehepaar die Vormundschaft über die beiden Waisen de facto allein übernommen hatten29, binnen nur zweier Tage. Am 26. September 1839 wurden morgens von 9 bis 12 Uhr die Nummern 1 — 187 des Nachlasses inventarisiert und taxiert, am selben Nachmittag von 14 bis 17 Uhr bereits die ersten 101 Posten (abweichend von der Reihenfolge der Inventaraufnahme) gegen sofortige Barzahlung versteigert. Am 27. September wurde die Versteigerung vormittags von 9 bis 12 Uhr mit den Posten 102—204 fortgesetzt, von 13 bis 14 Uhr der Rest (Nrn 188-269) inventarisiert30 und nachmittags von 14 bis 17 Uhr versteigert (Posten 205—334). Zwei Tage später wurden »mit Einwilligung der beiden designierten Vormünder« noch einige »aus Versehen nicht versteigerte Mobilien« etwa zum Schätzpreis dem Taxator Aron Ziegelstein und dem »Ausrufer« Marcus Lob überlassen (Posten 335-354). Von der Versteigerung ausgenommen wurden 71 Inventarnummern, für die ein gesondertes, am 27. September angefertigtes »Verzeichniß derjenigen Gegenstände welche aus dem Nachlaß [...] für die Kinder aufbewahrt werden« existiert.31 Diese unmittelbaren Erbstücke der Kin-

27 Vgl. Gß ////, S. 218 f. - August Becker bemerkt dabei jedoch ausdrücklich, Weidig habe, »wenigstens in seinem äußeren Benehmen, nichts von einem Weltverbesserer, Kannegießer, Tugendhelden u. dgl. an sich« gehabt (Nö, S. 315).

28 Vgl. Gß ////, S. 122.

29 D. h. die Kinder wohnten anscheinend beide bei ihrem »Ehrenvormund« in Homberg/ Ohm (vgl. auch Weidig, S. 511 u. 537), während Landrichter Hofmann in Friedberg als eigentlicher juristischer Vormund vor allem für die finanziellen Dinge wie die jährlich streng eingeforderte »Curatel«-Abrechnung zuständig wurde. — Der tatsächliche Aufenthalt der Kinder geht aus den Akten nicht ganz eindeutig hervor, und Wilhelm Weidigs überlieferter Stammbucheintrag von 1845 (Weidig, S. 667 f.) könnte auch während eines Besuches in Homberg verfaßt worden sein. Karl Buchner berichtet (1849, S. 45), der Sohn Wilhelm sei zu Gustav Hof mann — zu dieser Zeit Kabinetsrat in Braunfels —, die Tochter Amalie zu Karl Weidig nach Homberg gekommen. 30 Nicht aufklären ließ sich der Umstand, daß danach mehrere Stücke (so vor allem in Abt. 8: Bettung) noch vor ihrer Inventarisierung und Taxierung versteigert worden wären. 31 Wie Anm. 12, Fasz. 11. 389

der, die den Vormündern zur Verwahrung übergeben wurden, sind im Abdruck des Inventars jeweils in der vierten Spalte durch ein besonderes Zeichen ( x ) markiert.32 Die dritte und vierte Spalte unserer Dokumentation enthält außerdem, soweit sich die Angaben der Versteigerungsliste mehr oder weniger eindeutig auf das Nachlaßinventar beziehen ließen33, die Zuschlagpreise und die Namen der Ersteigerer im einzelnen.

32 Nicht auf das ursprüngliche Inventar bezogen sich in der Liste dieser Erbstücke Nr. 70: »eine Bettdecke drei Kissen und ein Pfühl« sowie Nr. 71: »eine silberne Uhr welche nicht im Inventar steht und sich bei Hofg. Rath Groos zur Abgabe an den Curanden [also den jetzigen Pflegesohn] Wilhelm befindet.« 33 Nicht möglich war dies bei folgenden versteigerten Gegenständen (jeweils mit lfd. Nr. der Versteigerung / Zuschlagpreis in Gulden, Kreuzern): l Biegeleisen Rost und zwei Stähl (3/0,35); 3 Biegelplättchen mit Rost (4/0,34); l Zapfenbiegeleisen (5/0,2); l ] /2 Pfd. Gewicht mit einem Kasten (6/0,8); l Diegel (8/0,36); l leeres Fäßchen (16/0,2); l Kästchen mit Handwerkszeug (17/0,11); l Schachtel mit Lappen (23/0,8); l ditto (24/0,31); l ditto (25/0,36); l Kästchen mit Lappen (26/0,36); l ditto mit einem Schachspiel (27/0,12); l ditto mit allerhand (28/0,23); l ditto (29/0,26); l ditto (30/ 0,2); l Fäßchen mit allerhand (31/0,17); l Säckchen mit Waschklammern (33/0,4); l Pappdeckelkästchen (36/0,12); l Arbeitsbeutel (37/0,7); l Schachtel mit allerhand (38/ 0,13); l Kistchen mit allerhand (39/0,7); l Mehlständer mit Kochlöffel (40/0,6); l Bratkroppen (43/0,29); l Praesentirteller (44/0,10); l Kästchen (46/0,15); l Schachtel mit altem Hut (47/0,29); l Schachtel (48/0,6); l ditto (49/0,12); l Kohlenpfanne (54/0,3); l Kaffeemühle (61/0,16); 2 kleine Säcke (68/0,10); l irdene Pfanne u. l Schaumlöffel (69/0,4); Stücke von einem Meßinstrument (70/0,3); l Mangholz (71/0,1); l Spül-, l Hack- u. l Speckbrett (73/0,12); l Aschentuch etc. (75/0,53); Zeug zu einem Unterbett/ Zwilch (86/3,0); l Couvert u. l Kissenüberzug (87/1,0); l Biegelbrett (90/0,20); 2 Kehrbesen (91/0,14); l Kuchenschie[b]er (95/0,10); l Backtrog (96/0,6); l Säckchen mit Mehl etc. (105/0,36); l Leuchter u. l Henkelkorb (107/0,4); l Büttchen (109/0,19); l Fäßchen (110/0,9); 3 Zuber (112/0,26); 2 Nachtgeschirre (113/0,33); l zinnern Nachttopf (115/0,24); 2 Strohdecken (116/0,15); l Parthie Kaffeetassen (124/0,19); 2 porz. Salatschüsseln (125/0,47); 2 Krüge (129/0,8); 2 Crystallgläser (134/2,2); 9 Weingläser (137/1,-); 2 porz. Milchkännchen (158/1,31); l blechern Dintenfaß (167/0,12); l lakirtes Obstkörbchen (174/0,21); l Säbel (180/0,40); l Waschseil (181/3,7); 3 Bürsten (189/0,7); l Pfühlüberzug (202/0,10); l Treppenthür (206/0,15); l Parthie altes Holz (207/0,16); l Verschlag (208/0,20); l ditto (209/0,15); l Rechentafel (212/0,1); l Gieskännchen (213/0,25); l Kasten (214/0,13); l Fäßchen (215/0,4); l Trockengestell (216/0,9); 2 Verschlage (217/0,37); l ditto (218/0,29); altes Gehölz (219/0,12); 2 Krüge u. l Stock (220/0,15); l Rehfellchen (221/0,25); l Lampe (222/0,49); l alter Koffer (223/0,26); l alter verbrochener [silberner] Löffel (232/1,30); l zinnerne Platte (237/ 1,40); l Gemüsschüssel (246/1,14); 16 Handtücher (267-270/2,30); 2 Fenstervorhänge (282/1,3); 2 Schachteln mit Lappen (293/0,19); l Körbchen pp. (298/1,-); l Korb mit Bücher (299/1,14); 3 Fenstervorhänge (301/0,58); l Korb mit Werg (308/?); l Bettlade (310/0,46); l ditto (312/6,39); l Paar Reithosen (313/1,1); 6 Handtücher (317/0,44); Allerhand (324/0,18); l Tischplatt[e] (325/0,20); l Waschschüssel (3347 0,5); 2 Körbe (336/0,24); l ditto (337/0,12); l Notenpult (341/0,10); l grüner Vorhang (344/0,8); 2 alte weiße Vorhänge (345/0,12); l Säckchen mit gedorrten Bohnen (346/0,6); 2 alte Kämm (350/0,2); l Körbchen u. l Briefbeschwerer (351/0,16); 2 Vorhänge mit 3 Vorhangstangen (351 b/0,12); l Schüsselbänkchen (352/0,10); l Wasserbank (353/0,6).

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An der zuvor »gehörig bekannt gemachten« Versteigerung beteiligten sich überwiegend wohl Gießener Bürger für ihren privaten Bedarf, einen großen Teil der Zuschläge erhielten jedoch offenbar Händler, darunter mehrere jüdische34, wie sich aus der folgenden alphabetischen Zusammenstellung aller Ersteigerer ergibt (jeweils mit Anzahl / Gesamtsumme der betreffenden Zuschläge in gerundeten Guldenbeträgen): Kaufmann Appel (1/0). - Madam Appel (3/5). - Madam Bach (1/0,5). Schneider Bach (3/2). - G. Becker (37/66). - Abraham Beifuß (2/5). - Hr. Biermann (2/8). - Ziegeler [?] Braun (1/3). - Karl Brück (3/9). - Schneider Brück (3/3). - Lithograph Brühl (2/2). - Wernhard Dietz (5/10). - Hr. Eif (2/2). Hirsch Elkan (2/7). - Johannes Frech (1/0,5). - Frau Gail (2/3). - Ludwig Gail (l/l). - Christoph Gebhard (3/3). - Schreiner Henkelmann (11/13). - Heinemann Herrmann (7/9). — Heßler (2/1). — Landrichter [Gustav] Hof(f)mann [Amalie Weidigs Bruder] (2/3). - Sch.[?] Hüter (l/l). - Karl Junker (3/1). Phil. Kattrein (3/3). - Herz Katz (von Fetzberg) (3/4). - Jakob Hein.[?] Kaufmann (25/24). — Salomon Kaufmann Worms (12/35). — Seligmann K[aufmann] Worms (3/118). - Ludw. Koch (1/3). - Buchbinder Kühn (2/1). - Wittwe Kühn (Dan. Kühns Wittwe) (8/7). - Fuhrmann Konrad Leng (8/7). - Hr. Lehrmund (3/0,5). — Markus (Marcus) Lob [»Ausrufer« (der Versteigerung?)] (27/18). - Wittwe Loos (1/0,5). - Frau Lotze (2/6). - Christoph Mailänder (5/4). - Chr. Marx (l/l). - Regine Marx (von Großenlinden) (6/2). Alex. Meier (l/l). - Ferd. Meier (5/20). - Meier Rothenberger (12/10). - Meier Süßkind (2/18). - Phil. Möser (2/2). - Christian Motz (1/0). - Elisabetha Müller (1/0). - Martin Müller (2/2). - Schneider Müller (l/l). - Kaufmann Münch [Amalie Weidigs Vermieter] (2/7). - Gärtner Nicolai (1/2). - Kl[?]wärtcr Nicolai (1/0,5). - Schuhmacher Nolte(n) [Noltin?] (8/19). - Chr. Pfaff (2/0,5). - Fuhrmann Pfaff (2/8). - Lehrer Rosenthal (9/6). - Mos. Rothenberger (2/3). - Jakob Schäfer (1/0). - Justus Schiefer (l/l). - Lenhard Schmidt (2/12). - Schuhmacher Sensfelder (2/2). — Jungfer Stenger (4/4). — Katarina Stenger (9/7). - Jud Süßkind (1/0,5). - Elis. Schwalb (1/6). - Jak. Thomas (3/ 9). - Salomon Vogel (25/15). - Konrad Vogt (1/0,5). - Revierförster [Karl] Weidig [Amalie Weidigs Schwager] (8/13). - Elis. Wittich (1/0). - Aron Ziegelstein [der Schätzer des Nachlasses] (25/26). Der Erlös der Versteigerung in Höhe von 601 Gulden und 26 Kreuzern wurde offenbar dem Vermögen der Kinder zugeschlagen, mit dessen Verwaltung und jährlicher Abrechnung die beiden Vormündei 34 Eine Beschreibung des »verachteten und mißhandelten Stande[s] der niedrigen Handels Juden« oder »Trödeljuden« im Gießen dieser Zeit gibt Carl Vogt (Aus meinem Leben Erinnerungen und Rückblicke. - Stuttgart 1896, bes. S. 10 f., 33—36): ein »gehetzte und geplagtes Volk, mißhandelt von den Studenten, verhöhnt von der Straßenjugend verachtet von den Bürgern und doch jedermann unentbehrlich bei großen und kleinei Geschäften«, wobei ausdrücklich die Namen Süßkind und Lob (»des allen Studentei bekannten Kleiderhändlers«) erwähnt sind. — Als Reflex dieses Milieus kann auch di sog. >Messerkaufszene< in Büchners Woyzeck (H4,15: »Woyzeck. Der Jude«) gelten.

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nach den vorliegenden Akten noch viel Arbeit hatten. Anscheinend bei verschiedenen Gemeinden angelegt, summierte sich das Vermögen der Kinder, die beide unverheiratet und bis zu ihrem Tod in Homberg/ Ohm im Hause ihrer Pflegeeltern wohnen blieben35, zusammen mit den bereits vorhandenen Kapitalien bis Mitte der 1850er-Jahre auf insgesamt fast 11 000 Gulden.36 Es werden also letztendlich weniger materielle Probleme gewesen sein, die ihnen zusetzten. Doch auch zu dieser Beurteilung des Nachlasses wie der unveränderten Haltung der Behörden kann noch ein Vorfall aus dem Jahr 1844 beitragen. Der Bürgermeister von Butzbach, Küchel, veröffentlichte im April dieses Jahres im Intelligenzblatt für die Provinz Oberhessen, nachdem ähnliche Sammlungen in »neuester Zeit« auch an anderen Orten Hessens für die Kinder Weidigs stattgefunden hatten, einen Spendenaufruf an »die Bewohner Butzbachs und der Umgegend«, in dem sicher nicht ohne jeden tatsächlichen Grund die Rede davon war, daß »des Hinterlassenden [Weidig] Vermögen weder zur genügenden Ausbildung seines Sohnes hinreicht, noch der Tochter Subsistenz für die Zukunft sichert.« Der Kreisrat von Friedberg, wo das Intelligenzblatt erschien, wurde daraufhin vom Darmstädter Ministerium des Innern und der Justiz für die Erteilung der Druckerlaubnis getadelt, und als Küchel dann eine Anzeige über die eingegangenen Spenden im Frankfurter Journal einrücken lassen wollte, wurde selbst dies von der nachbarlichen Zensur noch verhindert.37

35 Wilhelm Weidig, der schon nach dem Urteil seiner Mutter von 1839 »viel Freude und Geschick zur Erlernung der Sprachen, aber gar wenig mechanische Fertigkeit« besaß (Brief Amalie Weidigs, zit. nach Karl Buchner, s. oben Anm. 2, S. 1053), studierte in Gießen vor allem romanische Philologie. Erhalten haben sich handschriftliche Ausarbeitungen zu einer größeren (ExamensP)Arbeit über Rousseau (französische und deutsche Texte eines fragmentarischen ersten Kapitels in der Sammlung Grünewald, Lahr, s. oben Anm. 19). Er war dann (vorübergehend?) »Privatlehrer zu Gießen« und starb in Homberg »in dem Hause seines verstorbenen Oheims Revierförster Weidig in Pflege seiner einzigen leiblichen Schwester Amalie Weidig am 26. December 1884« (Sterb-Protokoll, in: Weidig, S. 679); Amalie Weidig starb ebenfalls ledig am 23. 2. 1906 in Homberg (Beerdigungs-Register, in: ebd., S. 681). 36 »Theilungsplan zu Auseinandersetzung des Vermögens der Kinder des Pfarrer Weidig in Obergleen«, wie Anm. 12, Fasz. [14], (1853-1855). 37 Schulz/Welcker: Geheime Inquisition (s. oben Anm. 6), S. 72 f., 230 f.

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Λ1

Ein unbekannter Bericht Luise Büchners über die Zürcher Büchner-Feier 1875 Mitgeteilt von Reinhard Pabst (Frankfurt a. M.)

Nicht erst mit dem Fragment eines Schlüssel-Romans Ein Dichter (um 1865)1 hat Luise Büchner versucht, die »trübsten und durch Nichts ganz zu zerstreuenden Schatten« zu bannen, die »das traurige Schicksal und der jähe Tod ihres ältesten Bruders G e o r g , des genialen Dichters und radikalen Politikers, an dem sie als Kind mit innigster Liebe hing, [...] in ihr erstes Jugendalter und damit auch zum Theil in ihr ganzes späteres Leben [warfen]«2. Schon ihre allererste literarische Veröffentlichung, die nur mit den Namensinitialen L. B. gezeichnete Novelle Die kleine Hand (1855)3, ist so »harmlos« nicht, wie ihr Großneffe Anton Büchner4 behauptete: sie kann als >Vorstudie< zu Ein Dichter gelesen werden5 und folgt an einigen Stellen unverkennbar Ludwig Büchners biographischer Einleitung zu den fünf Jahre zuvor erschienenen Nachgelassene[n] Schriften von Georg Büchner6. Luise Büchner, in der das »Andenken« ihres ältesten Bruders »stets [...] lebendig [blieb! durch die Erzählungen der Eltern und der älteren

1 Postum erschienen in: Nachgelassene belletristische und vermischte Schriften in zwei Bänden von Luise Büchner. [Hrsg. v. Ludwig Büchner]. Bd. 1. — Frankfurt a. M.: Sauerländer 1878, S. 181-262. Zur Datierung vgl. Hauschild, S. 354 ff. 2 [Ludwig Büchner:] Biografie. — In: ebd., S. VII. 3 In: Morgenblatt für gebildete Leser Nr. 35 (26. August 1855), S. [817]-826; Nr. 36 (2. September 1855), S. [841]-849. 4 Vgl. von dems.: Die Familie Büchner. Georg Büchners Vorfahren, Ehern und Geschwister. - Darmstadt 1963, S. 48. 5 Vgl. z. B. die wörtlichen Parallelen zwischen der Beschreibung des jungen, »schwärmerische[n]« (S. 842) Botanik-Professors Gustav Weiden in Die kleine Hand (S. 819: »Schlank gebaut, die Stirne von hellbraunen Locken umflogen, in den stillen, blauen Augen ein träumerisches Hinstarren, der kleine weiche Mund oft von einem ernsten Lächeln umschwebt: so verrieth sein ganzes Aeußere auf den ersten Blick den tiefsinnigen Mann [...].«) und der des rebellischen Oberschülers Ludwig Brandeis in Ein Dichter (S. 209: »schlanke [...] Gestalt«, »weiche[rj Mund«, und vor allem: daß er »[gerne] wie träumerisch vor sich hinstarrte«!). 6 Ludwig Büchners Bemerkung über Georg, »[s]ein inniges, fast schwärmerisches Zusammenleben mit der Natur [...] spricht nicht minder für die Weichheit seiner Seele« (N, S. 46) hat Luise Büchner folgendermaßen variiert: »gerade sein tiefer Sinn für die Natur macht ihn zu dem weichen und liebenswürdigen Menschen« (S. 823).

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Geschwister«7, hat auch an der am 4. Juli 1875 in Zürich anläßlich der Exhumierung des Leichnams Büchners und »seiner Umbettung in ein s c h ö n e r e s Grab auf dem Zürichberg« 8 veranstalteten Gedenkfeier teilgenommen — worüber der folgende Bericht Auskunft gibt: »Eine Feier stillen, heiligen Angedenkens war es, die mich Anfang Juli in Gesellschaft meiner Brüder in die schöne Schweizerstadt am Zürichsee führte. Dort ruhten seit mehr als dreißig Jahren die sterblichen Ueberreste meines ältesten theuren Bruders Georg in einer Erde, die ihm nicht leicht ward, denn sie deckte die Hülle eines Verbannten, verbannt, weil er sein Vaterland zu heiß geliebt, und den frühe der Tod dahinraffte, fern von Eltern, Geschwistern und Freunden. Welche reiche Hoffnungen mit ihm, dem Dichter von: D an t o n ' s Tod, dem reichbegabten Naturforscher, für die Welt dahingegangen sind, ist zur Genüge bekannt; was aber er, der Aelteste den nachstrebenden Geschwistern geworden wäre, wie er auch in einer Schwester den Bildungs- und Schaffensdrang schon frühe würde anerkannt und gefördert haben, dies läßt sich den Beraubten vielleicht zum Theile nachfühlen, so wie sie es selbst ein Lebensalter lang oft auf das Schmerzlichste empfunden haben und noch empfinden. Unsere Krone fehlt uns! Mit diesem schmerzlich-bitteren, so häufig aufsteigenden Gefühle standen wir, nun selbst schon seit lange fertige Menschen, auch an jenem Sonntagnachmittag auf dem Züriberge, wo dem Bruder hoch oben unter der deutschen Linde von den deutschen Freunden und der Genossenschaft deutscher Studirenden9 in Zürich, eine neue Ruhestätte war ausgewählt worden, da die erste nicht länger unangetastet bleiben konnte. Dort ruht jetzt sein Staub, Angesichts der ewigen Alpen, wie des weiten, prachtvollen See-Panorama's, und seinen Stein, der Herwegh's Worte trägt: >Ein unvollendet Lied, sinkt er in's Grab Der Verse schönsten nimmt er mit hinab !< umwehen des Himmels und der Freiheit heilig reine Lüfte. Es war für uns ein zweiter Schmerz, daß G e o r g H e r w e g h, der einst dem Bruder in seinem schönsten und schwungvollsten Gedichte: An G e o r g B ü c h n e r 1 0 , schon seit Jahren ein unvergängliches Monument gesetzt hatte, daß auch ihn bereits die kühle Erde deckte, und er diese Stunde nicht gemeinschaftlich mit uns erleben konnte. Aber zwischen der Schaar der stattlichen jungen Männer, die so treu das Andenken an einen Todten fortpflanzten, standen andere hartgeprüfte und bewährte Freiheitshelden, — dort Gottfried Kinkel, hier neben mir, im Schmuck

7 F, S. 458. Nach der Familienüberlieferung «stand« Mathilde Büchner (1815-1888 [vgl. Katalog Darmstadt, S. 19]), die später ihrer ebenfalls unverheirateten Schwester Luise den Haushalt führte, Georg »besonders nahe« (briefliche Mitteilung von Ludwig Büchners Schwiegertochter Marie an Franz Theodor Csokor; Darmstadt, 8. Mai 1928 [im Besitz von Frau Elli Edschmid, Darmstadt, der ich für die freundlich gewährte Einsichtnahme sehr herzlich danke]). 8 Hauschild, S. 11; ausführlich dazu: ebd., S. 427-442. 9 Recte: Gesellschaft Deutscher Studierender in Zürich< (vgl. Hauschild, S. 431). 10 Recte: Zum Andenken an Georg Büchner, den Verfasser von Danton's Tod [1841] (vgl. Hauschild, S. 198 ff.). 411

der silberweißen Haare, Adolph Wislicenus — und als ich meinen thränenfeuchten Kranz von Lorbeer, Myrthen und Rosen, dem Schmucke der Jugend und des Dichters, auf das Denkmal vor mir niederlegte, dachte ich wehmuthsvollen Sinnes, wie dem feurigen und empfindungsvollen Herzen meines Bruders durch seinen Tod eine lange Reihe der schmerzlichsten Erfahrungen und Täuschungen erspart geblieben sind und wie ihn leicht ein noch härteres Loos des Märtyrerthums möchte getroffen haben, wenn er Deutschlands schwere Kämpfe ferner mitgemacht. — « n

Das früheste bekannte Foto des Zürichberges mit Büchners Grab Aufnahme: Breitinger, Juli 1895 Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

Ebenso unbekannt wie dieser Bericht war bisher die Tatsache, daß in Darmstadt am 10. Juli 1875 »Max Anspach12 auf der Wochenversammlung der Turngemeinde einen Vortrag über G e o r g B ü c h n e r ' s

11 Luise Büchner: Eine Woche in Zürich [Auszug]. — In: Der Frauen-Anwalt. Organ des Verbandes deutscher Frauenbildungs- und Erwerbvereine. Hrsg. v. Jenny Hirsch. 7. Jg. 1876, S. [1] f. 12 Der Textilkaufmann Max Anspach (1846-1919) war 1. »Redewart« der 1846 gegründeten Turngemeinde Darmstadt (freundliche Mitteilung von Peter Berninger, Stadtarchiv Darmstadt). 412

Leben und Wirken« hielt, »an welchen Hr. Dr. Louis Büchner13 einen Bericht über die bei Beseitigung des alten Friedhofs zu Zürich nothwendig gewordene Uebertragung der sterblichen Ueberreste des Dichters von >Dantons Tod< auf den Germaniahügel am Zürichberg« anfügte14. (Bis zur ersten Aufführung von Dantons Tod in Darmstadt mußten freilich noch 50 Jahre vergehen.15)

13 Ludwig Büchner war von 1863 bis 1894 1. »Sprecher« (Vorsitzender) der Turngemeinde. 14 Darmstädter Täglicher Anzeiger Nr. 159, 10. Juli 1875, S. [2]. 15 Vgl. Katalog Darmstadt, S. 407.

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Georg Büchner-Literatur 1988/89 (mit Nachträgen) Zusammengestellt von Christine Lietz und Thomas Michael Mayer

1.

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Primärliteratur a) Werkausgaben b) Einzelausgaben, Texte in Anthologien c) Übersetzungen Sekundärliteratur a) Monographien und Aufsätze b) Weitere publizistische Beiträge Allgemeinere Literatur mit Büchner-Erwähnungen oder -Bezügen Rezensionen älterer Titel Forschungsinstitutionen Leben und Werk in den Medien Verschiedene Veranstaltungen Der Georg-Büchner-Preis und Wirkung in der Gegenwart

S. 415 S. 415 S. 416 S. 416 S. 417 S. 417 S. 427 S. 428 S. 429 S. 431 S. 431 S. 433 S. 435

Niicht nach Autopsie beschriebene Titel sind mit (*) gekennzeichnet. 1. PRIMÄRLITERATUR a) Werkausgaben Biüchner, Georg: Werke. Illustriert von Bruce Waldman. — Ottobrunn bei München: Franklin Bibliothek 1984. [VIII], 197 S. [Text nach der »Hamburger Ausgabe«] Biüchner, Georg: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler. — München: Hanser 1988. 772 S. Dass. auch: München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988 (= dtv klassik 2202). 770 S. Biüchner, Georg: Werke und Briefe. Hrsg. und mit einem Vorwort von Franz Josef Görtz. Mit einem Nachwort von Friedrich Dürrenmatt. — Zürich: Diogenes 1988 (= Diogenes Taschenbücher 21656; detebe-Klassiker). 336 S. [Texte modernisiert nach der »Hamburger Ausgabe«, »Woyzeck« nach Henri Poschmann] Biüchner, Georg: Gesammelte Werke [...]. — München: Goldmann 1978 [s. GBJb 1/1981, S. 320], 6. Aufl.: April 1988.

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Büchner, Georg: Gesammelte Werke. Zusammengestellt von T. von Sosnosky. — Essen: Phaidon 1988 (= Klassiker-Bibliothek Phaidon). 377 S. [Dichtungen, Übersetzungen, Der hessische Landbote; Textfassungen überwiegend nach Bergemann] Dass. auch: Stuttgart: Weltbild Bücherdienst o. J. [1989] (= Bibliothek der Weltliteratur. Deutsche Klassiker) b) Einzelausgaben, Texte in Anthologien Büchner, Georg: Dantons Tod. Mit fünfzehn Federzeichnungen von Leo Leonhard. - Darmstadt: H. L. Schlapp 1988. 140 S. (*) [ISBN 3877040209 (Normalausgabe), 17 (Vorzugsausgabe), 25 (Mappe)] [Büchner, Georg]: Dantons Tod. [Untersuchung]. Texte / zusammenfassende Beurteilung / Erläuterungen / Aufsätze. Hrsg. u. verfaßt von Whang-Chin Kim. Anhang: Briefe. Der Hessische Landbote. Handschriften. Bilder. Zeittafel. Auswahlbibliographie. — Daejeon / Korea: Chang Hak Sa 1988. 271 S. [Fotomechan. Nachdruck des Textes der »Hamburger Ausgabe«; Erläuterungen auf Koreanisch; Nachdrucke von Whang-Chin Kim: Kritische Betrachtungen [...], 1980 (s. GBJb 1/1981, S. 323), und ders.: Georg Büchner als Kontrapunktiker [...], 1981 (s. GBJb 4/1984, S. 373); Anhang: Nachdrucke auf deutsch] Büchner, Georg: Woyzeck. Edited by John Guthrie. — Oxford, New York: Basil Blackwell 1988 (= Blackwell German Texts). [II], XXXVI, 53 S. [nur dt. Text (nach Poschmann, 1984), Einleitung und Erläuterungen in engl.] Rez.: David Horton, in: The Modern Language Review 84 (1989), S. 789 f. [engl.] Büchner, Georg: Der hessische Landbote. Erste Botschaft. Darmstadt, im Juli 1834. — In: Günther Tetzer (Hrsg.): Das Lesebuch der Deutschen. — München: Heyne 1988, S. 334-345 Mattenklott, Gert / Hannelore Schlaffer / Heinz Schlaffer (Hrsg.): Deutsche Briefe 1750-1950. - Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 1988. 797 S. [Drei Briefe von u. an Büchner: S. 26 f., 420 f., 348 f.] c) Übersetzungen Büchner, Georg: Damon's Death. Leonce and Lena. Woyzeck. Translated with an introduction by Victor Price. — Oxford, New York: Oxford University Press 1988 (= The World's Classics). XXVI, 136 S. Büchner, Georg: CEuvres completes, inedits et lettres. Edition publiee sous la direction de Bernard Lortholary. Traductions nouvelles, presentations et notes de Jean-Louis Besson, Jean Jourdheuil, Jean-Pierre Lefebvre, Bernard Lortholary, Gerard Raulet et Robert Simon. — Paris: Editions du Seuil 1988 (= Collection »Le Don des Langues«). 653 S. Rez.: Claude Roy, in: le nouvel Observateur, No. 1247, 6. 10. 1988, S. 13 f. - Marie-Victoire Nantet, in: La Quinzaine litteraire (1988), H. 518, S. 19 f. [Büchner, Georg]: Woyzeck. — In: Ewans, Michael [s. unten 2.a)], S. 35—71 [engl. Übers, von Michael Ewans nach der »Hamburger Ausgabe«]

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Büchner, Georg: Woyzeck [franz.]. Traduction et adaptation Daniel Benoin. — Paris: Actes Sud - Papiers 1988. 45 S. Büchner, Georg: Woyzeck. Traduzione di Claudio Magris a cura di Hermann Darowin con testo tedesco a fronte. — Venezia: Marsilio Editori 1988 (= Letteratura universale Marsilio. Gli elfi. Collana di classici tedeschi). 174 S. [deutscher Text und Übersetzung nach der »Hamburger Ausgabe«] 2. SEKUNDÄRLITERATUR a) Monographien und Aufsätze Abels, Norbert: Gegenwelt und Brennspiegel. Aspekte parabolischer Formen im Werk Büchners. — In: Arnold Petersen (Hrsg.): Georg Büchner: Leonce und Lena, 1989, S. 54-76 Andersen, Elin: Büchner, die Liebe und Shakespeare. — In: Bohnen, Klaus / Pinkert, Ernst-Ulirich (Hrsg.): Georg Büchner im interkulturellen Dialog, 1988, S. 153-175 Andersen, Elin: Büchner, kaerligheden og Shakespeare. — In: Arsberetning 1987. [Hrsg. vom] Institut for Dramaturg!. — Aarhus: Universitätsverlag 1988, S. 5-27 Angelis, Enrico de: Sui principi costruttivi del teatro di Georg Büchner. — In: Studi tedesci, Napoli, Istituto universitario Orientale 31, 1-2 (1988), S. 7-59 Arend, Angelika: Zum »ästhetischen Programm« eines jung Verstorbenen. Georg Büchner im Licht eines Vergleichs mit Gottfried Benn. — In: Seminar 24 (1988), S. 209-220 Arendt, Dieter: Georg Büchner über Jakob Michael Reinhold Lenz oder: »die idealistische Periode fing damals an«. — In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 309-332 Arendt, Dieter und Oesterle, Günter: Georg Büchner als Medizinstudent und Revolutionär in Gießen oder »eine hohle Mittelmäßigkeit in allem«. — In: Bohnen, Klaus / Pinkert, Ernst-Ullrich (Hrsg.): Georg Büchner im interkulturellen Dialog, 1988, S. 19-50 Arnsberg, Gad: Der dornige Pfad zur Revolution. Der Büchner/Weidig-Kreis und die württembergischen Verschwörer. — In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 84-109 Balkanyi, Magdolna: Die Büchner-Rezeption in Ungarn. — In: Germanistisches Jahrbuch DDR - UVR 7 (1988). - Budapest: Lektorat für deutsche Sprache und Literatur beim Kultur- und Informationszentrum der DDR 1988, S. 68-81 Bark, Joachim: Bibelsprache in Büchners Dramen. Stellenkommentar und interpretatorische Hinweise. — In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 476—505 Battafarano, Italo Michele: Der Traum der Revolution: Wilhelm Zimmermanns Masaniello (1833) und Georg Büchners Dantons Tod (1835). — In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 203-222

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Baumgaertel, Gerhard: Hans Erich Nossack und Georg Büchner: Der Hessische Landbote. — In: Carleton Germanic papers 16 (1988), S. 1 — 11 Beckers, Gustav: Bemerkungen zum Büchner-Bild der Büchner-Preisträger. — In: Bohnen, Klaus / Pinkert, Ernst-Ullrich (Hrsg.): Georg Büchner im interkulturellen Dialog, 1988, S. 216-238 Bockelmann, Eske: Worunter Leonce leidet und Lenas Einspruch. — In: Arnold Petersen (Hrsg.): Georg Büchner: Leonce und Lena, 1989, S. 16-39 Böhme, Helmut: Vom rückwärts gerichteten Fortschritt: Hessen im Vormärz und Büchner. — In: Büchner. Zeit, Geist, Zeit-Genossen [...], 1989, S. 9 — 72 Böschenstein, Bernhard: Furchtbares Pars pro toto. Im Umkreis von Celans >MeridianMelancholie und Langeweile< in Georg Büchners Leonce und Lena [korean. mit dt. Zusammenfassung]. — In: Koreanische Büchner-Gesellschaft [Hrsg.]: Büchner und Moderne Literatur, 1988 (Nr. 1), S. 11-34

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Kim, Whang-Chin: Das Wesen der Dichtung Georg Büchners und die Idee der Demokratie - Begegnung und Analyse - [korean. mit dt. Zusammenfassung]. — In: Koreanische Büchner-Gesellschaft [Hrsg.]: Büchner und Moderne Literatur, 1988 (Nr. 1), S. 99-129. Kim, Whang-Chin: Begegnung moderner Dichter mit Georg Büchner. Das Beispiel der Georg Büchner-Preis-Rede von Friedrich Dürrenmatt [korean. mit dt. Zusf.]. — In: Koreanische Büchner-Gesellschaft [Hrsg.]: Büchner und Moderne Literatur, 1989 (Nr. 2), S. 165-179 Kinne, Norbert: Lektürehilfen. Georg Büchner: »Woyzeck«. - Stuttgart: Klett 1988. 117 S. Kohlenbach, Margarete: Puppen und Helden. Zum Fatalismusglauben in Georg Büchners Revolutionsdrarna. — In: Germanisch-romanische Monatsschrift, N. F. 38 (1988), S. 395-410 Koljazin, V. F.: »Vojcek« G. Bjuchnera v kontekste teatraPnych idej 1970-ch godov. — In: AktuaPnye voprosy iskusstva socialisticeskich stran. — Moskva 1986, S. 74—101 [G. Büchners »Woyzeck« im Kontext von Theaterideen der 1970er Jahre] Koreanische Büchner-Gesellschaft [Hrsg.]: Büchner und Moderne Literatur. [Korean. mit dt. Zusammenfassungen]. Redaktionelles Beratungskomitee: Whang-Chin Kim, Syng-Sup Vom [u. a.]. - [Südkorea] 1988 (Nr. 1). 251 S. Koreanische Büchner-Gesellschaft [Hrsg.]: Büchner und Moderne Literatur. [Korean. mit dt. Zusammenfassungen]. Redaktionelles Beratungskomitee: Whang-Chin Kim, Syng-Sup Vom [u. a.]. - [Südkorea] 1989 (Nr. 2). 323 S. Kroger, Wolfgang: Georg Büchner — Anmerkungen zur Aktualität des vor 150 Jahren verstorbenen Revolutionärs und Dichters. — In: Koreanische BüchnerGesellschaft [Hrsg.]: Büchner und Moderne Literatur, 1988 (Nr. 1), S,. 1S-42. Kubitschek, Peter: Die tödliche Stille der verkehrten Welt — Zu Georg Büchners »Lenz«. — In: Werner, Hans-Georg (Hrsg.): Studien zu Georg Büchner, 1988, S. 86-104, 302-306 Lamberechts, Luc: Georg Büchners »Leonce und Lena«. Illusionsloses Lustspiel über ein Theater der Illusionen. — In: Studia Germanica Gandensia 8 (1986), S. 108-123 Lamberechts, Luc: Georg Büchners Woyzeck en de enscenering door Daniel Benoin. - In: Documenta 7 (1989), H. l, S. 5-24 Lange, Thomas: » . . . f ü r die Schule überhaupt geeignet«? Georg Büchner in Lehrplan und Wirklichkeit des Deutschunterrichts. — In: Büchner. Zeit, Geist, Zeit-Genossen [...], 1989, S. 225-253 Larsen, Svend Erik: Die Macht der Machtlosen. Über Lenz und Woyzeck. — In: Bohnen, Klaus / Pinkert, Ernst-Ullrich (Hrsg.): Georg Büchner im interkulturellen Dialog, 1988, S. 176-194 Levesque, Paul: The Sentence of Death and the Execution of Wit in Georg Büchner's Dantons Tod. - In: The German Quarterly 62 (1989), S. 85-95 Loch, Rudolf: Georg Büchner. Das Leben eines Frühvollendeten. Biografie. — Berlin [DDR]: Verlag Neues Leben 1988. 361, [VI] S. [mit Abb.] Masanetz, Michael: »Sein Werk in unseren Händen«. »Dantons Tod«, in Literaturwissenschaft und Theaterkritik der DDR. — In: Weimarer Beiträge 35 (1989), S. 1850-1873 423

Meier, Albert: Dantons Tod in der Tradition des Politischen Trauerspiels. — In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 132-145 Michelsen, Peter: Das Leid im Werk Georg Büchners. — In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1989), S. 281-307 Morikawa, Shinichiro: Büchners Revolutionsgedanke in Japan und in der DDR. - In: Zeitschrift für Germanistik 9 (1988), S. 70-73 Müller, Gerhard: »Affenkomödie« oder Georg Büchner als Musikdramatiker. — In: Werner, Hans-Georg (Hrsg.): Studien zu Georg Büchner, 1988, S. 241-257, 335 f. Müller, Harro: »Man arbeitet heuzutag alles in Menschenfleisch.« Anmerkungen zu Büchners »Dantons Tod« und ein knapper Seitenblick auf Grabbes »Napoleon oder Die hundert Tage«. — In: Grabbe-Jahrbuch 7 (1988), S. 78-88 Oesterle, Günter / Ingrid Oesterle: Büchner, (Karl) Georg. - In: Walther Killy (Hrsg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 2. — Gütersloh, München: Berteismann Lexikon Verlag 1989, S. 287-291 und »Bildkapitel« S. 225-240 [vgl. ebd., S. 291 f. Gernot Böhme über Ludwig Büchner und Farideh Akashe-Böhme über Luise Büchner] Opitz, Alfred: »Zimmer mit Spiegeln überall«. Zur Revolutions-Metaphorik bei Weitzel, Borne, Heine und Büchner. — In: Bohnen, Klaus / Pinkert, Ernst-Ullrich (Hrsg.): Georg Büchner im interkulturellen Dialog, 1988, S. 72-98 Petersen, Arnold (Hrsg.): Georg Büchner: Leonce und Lena, ein Lustspiel. [Programmheft Nr. 15 der Spielzeit 1988/89]. - Mannheim: Nationaltheater Mannheim 1989, [II], 78 S., mit Abb. Pinkert, Ernst-Ullrich: Georg Büchner im interkulturellen Dialog — und Anmerkungen zur ersten skandinavischen Büchner-Übersetzung, Malmö 1889. — In: Bohnen, Klaus / Pinkert, Ernst-Ullrich (Hrsg.): Georg Büchner im interkulturellen Dialog, 1988, S. 7-18 Pinkert, Ernst-Ullrich: »Den poetiske virknings faedreland er overnationalt«. Georg Büchners Woyzeck i Danmark. — In: Kultur, identitet og kommunikation. [Hrsg. von] Hans Jörn Nielsen. — Aalborg: Aalborg Universitetsforlag 1988, S. 107-119 Pinkert, Ernst-Ullrich: Georg Büchner und Heinrich Heine. — Aalborg: Institut for sprog og internationale kulturstudier 1989 (= Arbejdspapirer, 9). 38 S. Pinkert, Ernst-Ullrich: »Von geträumtem Makkaroni wird man nicht satt«. Leonce und Lena und Heine. — In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 399-422 Pinkert, Ernst-Ullrich: Dantons död i Sverige, 1889. Axel Danielsson, Büchner och den franska revolutionen. — In: Arbetarhistoria. Meddelande fran Arbetarrörelsens Arkiv och Bibliotek 13 (1989), Nr. 49-50, S. 9-15 [mit Abb.] Pohjola, Riita: The final scene that Büchner never wrote. — In: Books from Finland, Helsinki 23 (1989), No. 1, S. 33 f. Poschmann, Henri: »Wer das lesen könnt« — Zur Sprache natürlicher Zeichen im »Woyzeck«. — In: Werner, Hans-Georg (Hrsg.): Studien zu Georg Büchner, 1988, S. 193-206, 330 f. Poschmann, Henri: Büchner ein Klassiker? — In: Literarische Klassik. Hrsg. von 424

Hans-Joachim Simm. — Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 (= suhrkamp taschenbuch materialien 2084), S. 438-448 Poschmann, Henri: Büchner ein Klassiker? — In: Büchner. Zeit, Geist, Zeit-Genossen [...], 1989, S. 73-88 Poschmann, Henri: Textgeschichte als Lesergeschichte. Zur Entzifferung der »Woyzeck«-Handschriften. - In: Weimarer Beiträge 35 (1989), S. 1796 bis 1805 Poschmann, Henri: »Wer das lesen könnt«. Zur Sprache natürlicher Zeichen im Woyzeck. - In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 441—452 Promies, Wolfgang: Der Hessische Landbote. Reflektionen über einen ungemeinen Mythos. - In: Büchner. Zeit, Geist, Zeit-Genossen [...], 1989, S. 89 - 104 Röche, Mark W.: Die Selbstaufhebung des Antiidealismus in Büchners Lenz. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 107 (1988), Sonderheft, S. 136-147 Rollfinke, Dieter and Jacqueline: »Unideal Nature«. — In: dies.: The Call of Human Nature. The Role of Scatology in Modern German Literature. — Amherst: The Univ. of Massachusetts Press 1986, S. 77 ff., 209 ff. [u. ö.] Rez.: Alan F. Keele, in: German Studies Review 10 (1987), S. 337 f. [engl.] Rothe, Wolfgang: Georg Büchner: Dantons Tod. — In: W. R.: Deutsche Revolutionsdramatik seit Goethe. — Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989. XII, 331 S., hier S. 45-64, 264-269 Ryu, Jong-Yung: Marionettenhafte Menschenbilder in den Dramen G. Büchners [korean.]. — In: Koreanische Büchner-Gesellschaft [Hrsg.]: Büchner und Moderne Literatur, 1988 (Nr. 1), S. 81-97 Sagmo, Ivar: Zur Büchner-Rezeption in Norwegen. — In: Bohnen, Klaus / Pinkert, Ernst-Ullrich (Hrsg.): Georg Büchner im interkulturellen Dialog, 1988, S. 117-126 Schmid, Gerhard: Probleme der Textkonstituierung bei Büchners »Woyzeck«. — In: Werner, Hans-Georg (Hrsg.): Studien zu Georg Büchner, 1988, S. 207-226, 331-334 Schmidt, Henry J.: Frauen, Tod und Revolution in den Schlußszenen von Büchners Dantons Tod. — In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 286—305 Schramm, Engelbert: Flucht in die Naturforschung? Büchners medizinische und naturphilosophische Schriften. — In: Büchner. Zeit, Geist, Zeit-Genossen [...], 1989, S. 117-138 Selge, Martin: Kaltblütig. Jacques-Louis David aus der Sicht von Büchners Danton. — In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 245—264 Steinbach, Dietrich: Geschichte als Drama. Georg Büchner: Dantons Tod. Heiner Müller: Germania Tod in Berlin. Friedrich Schiller: Wallenstein. Stuttgart: Klett 1988 (= Anregungen für den Literaturunterricht). 51 S. Taylor, Rodney: History and the Transcendence of Subjectivity in Büchner's Robespierre. - In: Neophilologus 72 (1988), S. 82-96 Taylor, Rodney: History and the Paradoxes of Metaphysics in Dantons Tod. — Phil. Diss. The University of Utah 1989. VIII, 224 S. Druck: New York, Bern, Frankfurt a. M., Paris: Peter Lang 1990 (= American University Studies, Series V, Philosophy, Bd. 100). [X], 267 S. 425

Thieberger, Richard: »Dantons Tod« und seine französischen Quellen: Eine historische und sprachliche Betrachtung. - In: Büchner. Zeit, Geist, ZeitGenossen [...], 1989, S. 105-116 Thieberger, Richard: Poetologische Probleme beim Übersetzen von Dramen. Zu Büchners Dantons Tod und Hochwäiders Der öffentliche Ankläger. — In: Poetik und Geschichte. Viktor Zmegäc zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Dieter Borchmeyer. - Tübingen: Niemeyer 1989, S. 441-449 Tieder, Irene: Inaction, sexe et folie. La legende revolutionnaire eclatee en Allemagne. — In: Croisille, Christian u. Jean Ehrard (Hrsg.): La Legende de la Revolution. Actes du colloque international de Clermond-Ferrand (juin 1986). - Clermond-Ferrand: Editions Adosa 1988, S. 299-309 [S. 300-308 über »Dantons Tod«] Vollhardt, Friedrich: Das Problem der >Selbsterhaltung< im literarischen Werk und in den philosophischen Nachlaßschriften Georg Büchners. — In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 17—36 Wender, Herbert: Georg Büchners Bild der Großen Revolution. Zu den Quellen von Danton's Tod. - Frankfurt a. M.: Athenäum 1988 (= Büchner-Studien, Bd. 4). 275 S. Rez.: Gonthier-Louis Fink, in: Germanistik 30 (1989), S. 168 Wender, Herbert: Anspielungen auf das zeitgenössische Kunstgeschehen in Danton's Tod. — In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 223—244 Werner, Hans-Georg: »Dantons Tod«. Im Zwang der Geschichte. — In: H.-G. W.: (Hrsg.): Studien zu Georg Büchner, 1988, S. 7-85, 299-301 Werner, Hans-Georg (Hrsg.): Studien zu Georg Büchner. - Berlin u. Weimar: Aufbau-Verlag im. 34$ S. Rez.: Lothar Ehrlich, in: Weimarer Beiträge 35 (1989), S. 1908-1911 Werner, Hans-Georg: Büchners aufrührerischer Materialismus. Zur geistigen Struktur von »Dantons Tod«. - In: Weimarer Beiträge 35 (1989), S. 1765-1779 Winter, Ilse: Ein Beitrag zur Büchnerrezeption in der DDR. — In: Carleton Germanic Papers, Ottawa, 16 (1988), S. 47-60 Wittkowski, Wolfgang: Sein oder Nichtsein. Zum Streit um die religiöse Büchnerdeutung. - In: Wolfgang Frühwald und Alberto Martino (Hrsg.): Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700-1848). Festschrift für Wolfgang Martens zum 65. Geburtstag. — Tübingen: Niemeyer 1989 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 24), S. 429-450 Wohlfahrt, Thomas: Georg Büchners Lustspiel »Leonce und Lena«: Kunstform und Gehalt. - In: Werner, Hans-Georg (Hrsg.): Studien zu Georg Büchner, 1988, S. 105-146,306-316 Wülfing, Wulf: »Autopsie«. Bemerkungen zum »Selbst-Schauen« in Texten Georg Büchners. - In: Weimarer Beiträge 35 (1989), S. 1780-1795 Wülfing, Wulf: »Ich werde, du wirst, er wird.« Zu Georg Büchners >witziger< Rhetorik im Kontext der Vormärzliteratur. — In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 455-475

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Wuppertaler Büchner Tage. Zum 150. Todestag von Georg Büchner am 19. Februar 1987. 19. bis 22. Februar 1987 im Schauspielhaus. Dokumentation!:] Aufführungen, Seminare, Podiumsdiskussion. Redaktion: Lothar Schwab. [...] Seminare, Podiumsdiskussion mit Burghard Dedner, Jan-Christoph Hauschild, Herbert Wender, Ulrich Greiff, Jochen Schmidt. — Wuppertal: Wuppertaler Bühnen 1988. 138 S. Yamamoto, Atsuro: Woyzeck als ein (vulnerabler) Mensch [Japan, mit dt. Zusf.]. — In: Sprache und Kultur. Hrsg. vom Deutschen Seminar an der Fremdsprachenuniversität Osaka/Japan 22 (1989), S. 55-80 Yom, Syng-Sup: Der Begriff des Spiels bei Büchner. — In: Dogilmunhak, Seoul, (1988), H. 40, S. 94-118 (*) Yom, Syng-Sup: Ein Vergleich von G. Büchners »Dantons Tod« und P. Weiss' »Marat / Sade«: Reflexionen über die Ideologie [korean. mit dt. Zusammenfassung]. - In: Koreanische Büchner-Gesellschaft [Hrsg.]: Büchner und Moderne Literatur, 1988 (Nr. 1), S. 43-55 Zeller, Rosmarie: Dantons Tod und die Poetik des Geschichtsdramas. — In: Dedner, Burghard und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium, 1990, S. 146-174

b) Weitere publizistische Beiträge Archipov, Ju[rij Ivanovic]: Kak vazno byt' sovremennym. - In: Moskau: Teatr. God izd, Moskau 50 (1987), Nr. 4, S. 135-139 [Wie wichtig ist es, zeitgemäß zu sein? (zur Bochumer »Leonce und Lena «-Inszenierung von Claus Peymann)] Böttcher, Kurt / Herbert Greiner-Mai / Kurt Krolop [Hrsg.]: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. - Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1987. 651 S. [zu Büchner S. 68-70] Höpcke, Klaus: Georg Büchners »Einvernahme«? - In: Die Weltbühne 83 (1988), H. 13, 29.3, S. 385-388 Jens, Walter: das Wort Erbarmen. - In: Die Zeit, Nr. 9, 24. 2. 1989, S. 56 [Dankrede zur Verleihung des »Alternativen Büchnerpreises«] Kaufmann, Ulrich: Schwerer Weg zu Georg Büchner. Annäherung an einen revolutionären Dichter. - In: Wochenpost, Berlin [DDR], 35 (1988), Nr. 44, 4. 11., S. 14 Kaufmann, Ulrich: Die Magenfrage in Büchners Lustspiel. Zur »Leonce und Lena «-Aufführung während der Konferenz. — In: Schmigalla, Hans (Hrsg.): Französische Revolution und deutsche Literatur. Eine Herausforderung an unser Geschichts- und Zeitverständnis. Zentrale wissenschaftliche Konferenz für Studenten und junge Wissenschaftler am 14. und 15. Juni 1988 in Jena. — Jena: Friedrich-Schiller-Universität 1989, S. 198-200 Kott, Jan: Caesar at the Bastille. Translated by Jadwiga Kosicka. - In: The New York Review, Review of Books, 12. 10. 1989, S. 40-42 Kott, Jan: Die Guillotine als tragischer Held. Über »Dantons Tod« von Büchner. - In: Lettre International 14 (Sommer 1989). [4 S. ohne Paginierung]

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Pohjola, Riitta: »Missä on huominen jonka näimme eilen«. Heiner Müllerin dialogi kuolleitten kanssa [finn.] - In: Parnasso 28 (1988), H. 5, S. 285-291 [u. a. zu Büchner] Razum, Hannes: Die verlorene Revolution. Anmerkungen zu Büchners »Danton«. - In: lutherische monatshefte 28 (1989), H. 2, S. 61-63 Schanovsky, Hugo: Georg Büchner im Portrait (Teil l[—3]). — In: Oberhessische Presse, Beilage Texte und Zeichen, 22. 10. 1988, S. 13; 5. 11. 1988, S. 6; 12. 11. 1988, S. 8 »Wie sterblich sind Klassiker?« Podiumsdiskussion zum 150. Todestag von Georg Büchner. Teilnehmer: Helmut Böhme, Burghard Dedner, Fritz Deppert, Thomas Michael Mayer, Wolfgang Promies. — In: Büchner. Zeit, Geist, ZeitGenossen [...], 1989, S. 265-294

3. ALLGEMEINERE LITERATUR MIT BÜCHNER-ERWÄHNUNGEN ODER-BEZÜGEN Angress, Ruth K.: Wunsch- und Angstbilder. Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. — In: Internationaler Germanisten-Kongreß in Göttingen. Ansprachen, Plenarvorträge, Berichte. Hrsg. von Albrecht Schöne. - Tübingen: Niemeyer 1986 (= Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985. Kontroversen, alte und neue, Band 1), S. 84-96 [S. 84 f. zu »Woyzeck«] [dass. auch u. d. T.: Die Leiche unterm Tisch: Jüdische Gestalten aus der deutsdhen Literatur äes neunzehnten Jährhunderts. — In: Neue Sammlung 26 (1986), S. 216-229] Bahr, Ehrhard (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur. Kontinuität und Veränderung. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 2: Von der Aufklärung bis zum Vormärz. Unter Mitarbeit von Wulf Köpke, Klaus Peter, Hinrich C. Seeba, Wolfgang Wittkowski. - Tübingen: Francke Verlag 1988 (= VTB, 1464). 340 S. [S. 428-430: »Karl Gutzkow und Georg Büchner«] Böhme, Gernot: Ludwig Büchner. — In: Büchner. Zeit, Geist, Zeit-Genossen [...], 1989, S. 255-264 Cowen, Roy C.: Das deutsche Drama im 19. Jahrhundert. - Stuttgart: Metzler 1988 (= Sammlung Metzler, Bd. 247). VI, 236 S. [S. 79-88: Büchner] Franz, Eckhart G.: Im Kampf um neue Formen. Das Großherzogtum Hessen und seine Hauptstadt zur Zeit Georg Büchners. — In: Büchner. Zeit, Geist, ZeitGenossen [...], 1989, S. 139-162 Grab, Walter: Ernst Ludwig Koseritz, Wilhelm Schulz und Leopold Eichelberg: Revolutionäre Demokraten im Umkreis Georg Büchners. - In: Büchner. Zeit, Geist, Zeit-Genossen [...], 1989, S. 163-195 Knapp, Gerhard P.: Der Mythos des Schreckens. Maximilien Robespierre als Motiv in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. — In: Harro Zimmermann (Hrsg.): Schreckensmythen — Hoffnungsbilder. Die Französische Revolution in der deutschen Literatur. — Frankfurt a. M.: Athenäum 1989, S. 174-221 [S. 178-181 zu »Dantons Tod«] 428

Saalfeld, Lerke von/Dietrich Kreidt/Friedrich Rothe: Georg Büchner. — In: dies.: Geschichte der Deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München: Droemer Knaur 1989, S. 406-412 Subiotto, Arrigo V.: Makers of 19th-century culture. 1800—1914. - London: Routledge & Kegan Paul 1985 [zu Büchner S. 84-86] Tüll, Stephan: Die soziale Frage im Spannungsfeld von Spätaufklärung und Vormärz. — Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris: Peter Lang 1988 (= Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie, Bd. 5). [VIII], 153 S. [S. 106-111: Georg Büchner] Walter, Ursula: ... der Vollstreckung der Strafe soll gebührend nachgegangen werden ... Eine Quellen-Dokumentation zum Prozeß des Johann Christian Woyzeck. — In: Leipzig. Aus Vergangenheit und Gegenwart. Beiträge zur Stadtgeschichte 6. [Hrsg. von Klaus Sohl]. — Leipzig: VEB Fachbuchverlag 1989, S. 34-65 [mit Abb.]

4. REZENSIONEN ÄLTERER TITEL Betten, Anne: Sprachrealismus im deutschen Drama der siebziger Jahre (1985) Rez.: Gotthard Lerchner, in: Zeitschrift für Germanistik 9 (1988), S. 486-489 Bräuning-Oktavio, Hermann: Georg Büchners Flucht und Ende (1987) Rez.: Heinrich Keil, in: Archiv f. hess. Geschichte u. Altertumskunde, N. F. 46 (1988), S. 460-462 Büchner, Georg: Woyzeck. Nach den Handschriften neu hergestellt und kommentiert von Henri Poschmann (1984) Rez.: Theo Bück, in: Germanistik 30 (1989), S. 452 Büchner in Britain (1987) Rez.: T. M. Holmes, in: Modern Language Review 83 (1988), S. 240 f. [engl.] Dedner, Burghard (Hrsg.): Georg Büchner: Leonce und Lena (1987) Rez.: Walter Schmitz, in: Deutsche Bücher 18 (1988), S. 300, 302 f. - Jürgen Schröder, in: Germanistik 30 (1989), S. 166 f. - Lothar Ehrlich, in: Deutsche Literaturzeitung 109 (1988), Sp. 676-679. - T. M. Holmes, in: The Modern Language Review 85 (1990), S. 255-257 [engl.]. - Gerhard P. Knapp, in: Seminar 25 (1989), S. 269 f. [engl.]. - David G. Richards, in: The German Quarterly 61 (1988), S. 583-585 [engl.] Drux, Rudolf: Marionette Mensch. Ein Metaphernkomplex von Hoffmann bis Büchner (1986) Rez.: Michael Perraudin, in: Heine-Jahrbuch 27 (1988), S. 191 f. - Walter Schmitz, in: Deutsche Bücher 18 (1988), S. 305-307 Fischer, Heinz: Georg Büchner und Alexis Muston. Untersuchungen zu einem Büchner-Fund (1987) Rez.: Jürgen Schröder, in: Germanistik 29 (1988), S. 464 f. - Reinhoid Grimm, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 80 (1988), S. 233-236. - Walter Schmitz, in: Deutsche Bücher 18 (1988), S. 300 f.

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Georg Büchnerjahrbuch 4 (1984) Rez.: Lothar Ehrlich, in: Deutsche Literaturzeitung 109 (1988), S. 510 f. Jürgen Wertheimer, in: Arbitrium 6 (1988), S. 58—62. — Walter Schmitz, in: Deutsche Bücher 18 (1988), S. 301-305 Georg Büchnerjahrbuch 5 (1985) Rez.: Lothar Ehrlich, in: Deutsche Literaturzeitung 109 (1988), S. 510 f. Jürgen Wertheimer, in: Arbitrium 6 (1988), S. 58-62. — Walter Schmitz, in: Deutsche Bücher 18 (1988), S. 301-305 Georg Büchner. Leben, Werk, Zeit [...] 1985 (21986) Rez.: Thomas Krafft, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 38 (1988), S. 364 f. Georg Büchner. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler 1813-1837 (1987) Rez.: Julian Hilton, in: Germanistik 29 (1988), S. 951 f. - Walter Schmitz, in: Deutsche Bücher 18 (1988), S. 300 f. - Thomas Krafft, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 38 (1988), S. 365 f. - Michael Wettengel, in: Nassauische Annalen 99 (1988), S. 333 f. Grab, Walter, unter Mitarbeit von Thomas Michael Mayer: Georg Büchner und die Revolution von 1848 (1985) Rez.: Dieter Sevin, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 80 (1988), S. 236-238. - H. J. Pott, in: AUMLA 70 (1989), S. 421 f. [engl.] Grab, Walter: Dr. Wilhelm Schulz (1987) Rez.: Kurt Holzapfel, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 37 (1989), S. 764. - Peter Goldammer, in: Weimarer Beiträge 35 (1989), S. 1911-1914. - Manfred Köhler, in: Nassauische Annalen 100 (1989), S. 401 f. - Cornelia Foerster, in: Historische Zeitschrift 247 (1988), S. 712 f. Grimm,, Reinhold: Love,, Lust, ana Rebellion. 0-98 \ Rez.: David Horton, in: The Modern Language Review 83 (1988), S. 249 f. [engl.]. - David G. Richards, in: The Germanic Review 63 (1988), S. 150-152 [engl.]. - Wolfgang Wittkowski, in: Seminar 25 (1989), S. 67-71 Guthrie, John: Lenz and Büchner (1984) Rez.: Jürgen Schröder, in: Germanistik 30 (1989), S. 724 f. Hasselbach, Karlheinz: Georg Büchner. Lenz (1986) Rez.: Thomas R. Nadar, in: Monatshefte 81 (1989), S. 127. - Gerhard P. Knapp, in: South Atlantic Review 54 (1989), S. 131-133 [engl.]. - Tiiu V. Laane, in: South Central Review 5 (1988), H. 2, S. 122-124 [engl.] Hauschiid, Jan-Christoph: Georg Büchner (1985) Rez.: Inge Diersen, in: Weimarer Beiträge 34 (1988), S. 171-174. - Harald Schmidt, in: Germanisch-romanische Monatsschrift, N. F. 38 (1988), S. 224—228. — Dieter Sevin, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 80 (1988), S. 236-238. - Karl Eibl, in: Arbitrium 7 (1989), S. 101-104. - H. J. Pott, in: AUMLA 70 (1989), S. 422-424 [engl.]. - Louis F. Heibig, in: German Studies Review 11 (1988), S. 146 f. Wolfgang Martens, in: Germanistik 30 (1989), S. 734 Hauschild, Jan-Christoph (Bearb.): Georg Büchner / Bilder zu Leben und Werk (1987) Rez.: Walter Schmitz, in: Deutsche Bücher 18 (1988), S. 300. - Thomas Krafft, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 38 (1988), S. 365 430

Mahlendorf, Ursula R.: Georg Büchner's Lenz (1985) Rez.: Francis Michael Sharp, in: The Germanic Review 63 (1988), Nr. l, S. 49 Mayer, Thomas Michael (Hrsg.): Insel-Almanach auf das Jahr 1987. Georg Büchner (1987) Rez.: Walter Schmilz, in: Deutsche Bücher 18 (1988), S. 301 Poschmann, Henri: Büchner und Gutzkow — eine verhinderte Begegnung (1985) Rez.: Bernd Kortländer, in: Heine-Jahrbuch 27 (1988), S. 213 f. Reuchlein, Georg: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur (1986) Rez.: Gertrud Lehnert-Rodiek, in: arcadia 23 (1988), S. 193-195. - Wolfgang Paulsen, in: Germanistik 30 (1989), S. 83 Roche, Marc William: Dynamic Stillness (1987) Rez.: John Simons, in: Colloquia Germanica 22 (1989), H. 2, S. 162 f. [engl.]. - Jeffrey L. Sammons, in: Monatshefte für deutschen Unterich t, deutsche Sprache und Literatur 81 (1989), S. 256-258 [engl.]. - Gisela Benda, in: Heine-Jahrbuch 28 (1989), S. 239-241 Thieberger, Richard: Georg Büchner: Lenz (1985) Rez.: Heinz Fischer, in: Germanistik 29 (1988), S. 952 Wikander: The play of truth and state (1986) Rez.: Roger Nicholls, in: Comparative Literature, Eugene, Or. 40 (1988), S. 276-279 [engl.j

5. FORSCHUNGSINSTITUTIONEN Forschungsstelle Georg Büchner, Marburg Mayer, Thomas Michael: Georg-Büchner-Forschung in Marburg. Ein Bericht über die Arbeiten der Forschungsstelle. — In: alma mater philippina. [Hrsg. vom] Marburger Universitätsbund e. V., Sommersemester 1988. — [Marburg 1988], S. 1—5 [mit einem unbekannten Porträt von Büchners Mutter Caroline, geb. Reuß] 6. LEBEN UND WERK IN DEN MEDIEN a) Filme Georg Büchner: Dantons Tod. Regie: Roberto Ciulli. Filmregie: Hans-Peter Clahsen. Theater an der Ruhr. Film-Theater-Trailer. Produktion: Morgenrath-Filmproduktion, Berlin (West), BRD 1987; Farbe (Länge 8.37 Minuten. Uraufführung 14. Januar 1988, Cine Factory Mühlheim a. d. Ruhr)

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b) Fernsehen Thomas Steinke: »Lieb' Georg«. Das kurze Leben des Georg Büchner. Szenarium Regie: Konrad Herrmann. Hauptdarsteller: Georg Büchner: Ulrich Mühe [auch Interviews mit Volker Braun, Friedrich Dürrenmatt, Heiner Müller] Fernsehen der DDR, 1. Programm, 15. November 1988 (ursprünglich angesetzt für 16. 10. 1988, 21.25-22.45 Uhr, dann verschoben) Rez.: Volker Müller, in: Neues Deutschland, 19./20. 11. 1988, S. 4. - Chl., in: Thüringer Tageblatt, Nr. 254, 27. 10. 1988 [zur Absetzung]. - Vgl. auch Stephan Hermlin, in: Der Spiegel, Nr. 6, 6. 2. 1989, S. 75 u. 77 Georg Büchner: Dantons Tod. Drama Regie: Jürgen Flimm, Hamburg 1976 (s. GBJb 1/1981, S. 333) Zweites Deutsches Fernsehen, 17. 7. 1989, 22.45-0.55 Uhr Werner Herzog: Woyzeck (1979, s. GBJb 4/1984, S. 389) Zweites Deutsches Fernsehen, 18. 5. 1988, 23.25-0.45 Georg Büchner: Woyzeck. Regie: Rudolf Noelte. [Erstsendung 9. 10. 1966]. Hauptdarsteller: Woyzeck: Hans Christian Blech Zweites Deutsches Fernsehen, 27. 1. 1988 c) Hörfunk (ohne die Sendungen von Opern nach Büchner) Georg Büchner: Dantons Tod. Hörspielfassung von Norbert Schaeffer (Buch und Regie). Hauptdarsteller: Danton: Udo Samel. Desmoulins: Mathias Haase. Robespierre: Irieäridn T&af! Traetorms. 'bt. Just: T/irich 'Noefhen Süddeutscher Rundfunk, Saarländischer Rundfunk, Südwestfunk, Hessischer Rundfunk, jeweils 2. Progr., 13. 7. 1989, 20.30 Uhr; Bayerischer Rundfunk, 2. Progr. 14. 7. 1989, 22.05 Uhr; Norddeutscher Rundfunk, 3. Progr., 15. 7. 1989, 16.05 Uhr Woyzeck und Wozzeck. Büchners Schauspiel und Alban Bergs Oper in Schnitten und Überschneidungen: [Erstsendung 14. 2. 1987, s. GBJb 6 (1986/87), Georg Büchner-Literatur 1985-1987: 6. c): »Bauet der Freiheit Haus«] Hessischer Rundfunk, 2. Progr., 1. 4. 1988, 16.00-18.35 Uhr d) Schallplatten Georg Büchner[:] »Ich habe darüber meine eigenen Gedanken ...« Eine Collage aus Briefen, Dichtungen und Dokumenten gestaltet von Hans Bräunlich. Musik: Jürgen Ecke. Regie: Fritz Göhler. 2 Langspielplatten 30 cm. — Berlin [DDR]: VEB Deutsche Schallplatten [1988] [Stereo 8 65 409/410] Helmut Griem spricht Georg Büchner. [Aufnahme von 1968]. — Teidec compact disc CD 8.44003 bzw. Band-Cassette MC 4.44003 (= Serie »LesArt«) [1988] (*)

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7. VERSCHIEDENE VERANSTALTUNGEN a) Wissenschaftliche Kolloquien Internationales Wissenschaftliches Kolloquium »Georg Büchner — 1988«. Veranstalter: Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte. Club der Kulturschaffenden »Johannes R. Becher«, Berlin [DDR], 1.-3. November 1988 Rez.: Eike Middell, in: Neues Deutschland, 5J6. 11. 1988, S. 4. - BZ, in: Berliner Zeitung, Berlin [DDR], 1. 11. 1988. - Sibylle Wirsing, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 271, 21. 11. 1988, S. 27 Malende, Christine: Internationales wissenschaftliches Kolloquim »Georg Büchner - 1988«. - In: Weimarer Beiträge 35 (1989), S. 1887-1894 (Protokollband in Vorbereitung) Convegno »Georg Büchner. Poesia e drammaturgia«. Veranstalter: Goethe-Institut Mailand in Zusammenarbeit mit Universitä degli Studi Milano, Instituto di Germanistia, und I. S. U. Instituto per il Diritto allo Studio Universitario dell'Universita degli Studi. Universitä degli Studi, Milano, 23. November 1988 (Protokollband in Vorbereitung) The Theatre of Georg Büchner. A Conference. Veranstalter: Department of Drama and Theatre Arts, Department of German Studies, University of Birmingham, mit Unterstützung durch das Goethe-Institut. Lucas Institute, Birmingham, GB, 5.-7. Mai 1989 Vorträge von John Reddick: »Dantons Tod«. - Terence M. Holmes: Rags, riches and nudity: the social costume drama of Büchner's »Dantons Tod«. — U'irza'Detii 7>oa: 'buc'iinci andi bcxuafi pc/i/ucb. \4ciJtjfetJi Üfrruu&nr. T'swwi'iR, »ein neues geistiges Leben«: Büchner and the »Volk«. — Julian Hilton. - Richard Littlejohns: »God's creation, born anew every minute«: dramatic form in Büchner's work. — Michael Patterson: »Woyzeck«: problems of performance style. — Stephen Lowe: »Woyzeck«: a playwright's view. — Aufführungen von »Dantons Tod« (Regie: Brian Crow) und »Woyzeck« (Regie: Phyllida Lloyd) b) Andere Veranstaltungen Goethe-Institut Mailand: Georg Büchner: Vita, opere, epoca [Rahmenprogramm zum Kongreß »Georg Büchner. Poesia e drammaturgia« (s. oben 7. a)] 11. 11. 1988: Henning Brockhaus: »Viaggio d'inverno«. Lettura da »Lenz« di Georg Büchner. 21.-24. 11. 1988: Büchner-Filme (Herbst, Moorse, Herzog, Herbrich) G. Büchner. 175. Geburtstag — 20 Jahre Georg-Büchner-Gymnasium. Veranstalter: Georg-Büchner-Gymnasium Seelze-Letter. 15.—28. Oktober 1988 und 3.-10. März 1989 Ausstellung (»Georg Büchner, Leben, Werk, Zeit«), Vorträge (von Jan-Christoph Hauschild und Rolf Herkenrath), Lesungen, Film (Warneke), Aufführung der Theater-AG und der Rock-AG: »Georg Büchner — eine Collage« Rez.: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20. 10. 1988 und 20. 3. 1989

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Vgl.: Materialien zu: Georg Büchner (1813 — 1837), zus. gest. von A. Krumbein-Thum, L. Menk, W. Obermaier, H. Thum. — Seelze-Letter: Georg-Büchner-Gymnasium, September 1988. [II], 38 S. [vervielf.]; Moin! extra: Georg Büchner. Schülermagazin im Georg-Büchner-Gymnasium Seelze. — O. O., o. J. [Sept./Okt. 1987]. 16 S.; Dokumentation zur Georg-Büchner-Woche 1988/89. Hrsg.: Georg-Büchner-Gymnasium Seelze. Redaktion: Horst Thum [u. a.]. - O. O., o. J. [Seelze-Letter 1989]. 74 S. [vervielf.]. Georg Büchner — Der Revolutionär. Tagung der Evangelischen Akademie Nordelbien. Leitung: Thomas Bütow. Evangelische Akademie Bad Segeberg, 13.-15.Mai 1988 Le Programme. Bicentenaire de la Revolution Fra^aise. 2e edition. — O. O., o. J. [Paris, Neuilly/Seine: Mission du Bicentenaire de la Revolution Fra^aise et des Droits de PHomme et du Citoyen / Mundoprint 1989]. [II], 315 S. [zu Büchner: S. 39 (Inszenierung von »La Mort de Danton« durch Klaus Michael Grüber), 162 (2 Veranstaltungen in Colmar), 190 (Gottfried von Einem: »La mort de Danton«), 209 (Ausstellung in Avignon), 245 (Aufführung von »Dantons Tod« in Karlsruhe), 261 (Aufführung von »La morte de Danton« in Parma), 263 (Aufführung von »La mort de Danton« in Luxemburg), 264 (desgl. in Oslo), 290 (desgl. in Caracas, Venezuela, und in Bujumbura, Burundi)] c) Vorträge (Auswahl) Hauschild, Jan-Christoph: Neudatierung und Neubewertung von Georg Büchners >FatalismusWoyzeckWoyzeck-Inszenierung< [zu 6 Pastellen W. Gotheins zu »Woyzeck«}. - In: Werner Gothein 1890-1968. Retrospektive. Katalog zur Ausstellung in der Städtischen Galerie Villingen-Schwenningen, 19. Februar-12. März 1989. - O. O., o. J. [Villingen-Schwenningen 1989], S. 13-26 [mit 6 färb. Abb.] Müller, Christian: Woyzeck. Wozzeck. — Darmstadt: Verlag der Georg Büchner Buchhandlung 1988. [32] S. [Grafiken aus dem Büchner-Projekt 1987 der Fachhochschule Darmstadt, s. GBJb 6 (1986/87), S. 449 f.; Vorwort von J(ürgen) S(chneider)]

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Georg Büchner auf dem Theater 1985/86-1988/89 Verzeichnis der Aufführungen und Kritiken Zusammengestellt von Marion Poppenborg (Saarbrücken) a) Büchners Stücke in Theaterinszenierungen DANTONS TOD LEONCE UND LENA WOYZECK b) Stücke über Büchner und Adaptationen seiner Werke c) Opern nach Büchner

S. S. S. S. S. S.

439 439 444 451 456 461

Die folgenden Angaben sind sicher bei weitem nicht vollständig, vor allem was die Aufführungen außerhalb des deutschsprachigen Raums betrifft. Hier besonders wäre die Georg Büchner Gesellschaft, die ein Archiv von Programmheften, Kritiken, Fotos und anderen Materialien zu den Inszenierungen anlegt, auf Einsendungen der Bühnen selbst und auf Nachrichten ihrer ausländischen Mitglieder bzw. der Leser dieses Jahrbuchs angewiesen (per Adresse der Bearbeiterin: Richard-Wagner-Str. 78, D-6600 Saarbrücken). Innerhalb der Systematik Wozzeck