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Georg Büchner Jahrbuch

6 (1986/87) Für die Georg Büchner Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Büchner — Literatur und Geschichte des Vormärz — am Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg herausgegeben von Thomas Michael Mayer

HAIN

Redaktionsadresse: Georg Büchner Jahrbuch c/o Forschungsstelle Georg Büchner — Literatur und Geschichte des Vormärz — Am Grün 1; D-3550 Marburg/Lahn (Tel.: 0 64 21/28 41 82) oder über Georg Büchner Gesellschaft; Postfach 1530; D-3550 Marburg/Lahn Korrektur: Werner Weiland Die Einsendung von Publikationen (Sonderdrucke wenn möglich in 2 Exemplaren) ist freundlich erbeten; von Beiträgen jedoch nur nach vorheriger Absprache und mit üblicher technischer Manuskripteinrichtung sowie mit bibliographischen und Zitat-Auszeichnungen entsprechend dem vorliegenden Band.

Gedruckt mit Unterstützung durch das Land Hessen, die Stadt Darmstadt und die Stadt Marburg

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Georg-Büchner-Jahrbuch / Für d. Georg-Büchner-Gcs. u. d. Forsch u ngsstelle Georg Büchner, Literatur u. Geschichte d. Vormärz, am Inst, für Neuere dt. Literatur d. Philipps-Univ. Marburg hrsg. - Frankfurt am Main: Erscheint jährlich. 6 (1986/87)

© 1990 by Verlag Anton Hain Meiscnheim GmbH, Frankfurt am Main Motiv: Georg Büchner im Polenrock Undatierte Bleistiftzeichnung von H. A. V. Hoffmann Umschlaggestaltung nach Entwürfen von Rambow, Lienemeyer und van de Sand Satz: Computersatz Bonn GmbH, Bonn Druck und Einband: Poeschel & Schulz-Schomburgk, Eschwege Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vertrags, der Rundfunksendung sowie der fotomechanischen Wiedergabe, auch einzelner Teile. Printed in Germany ISBN 3-445-08901-9

Inhalt

Abkürzungen und Siglen

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Aufsätze Ulrich Oevermann: Eugene Delacroix — biographische Konstellation und künstlerisches Handeln Terence M. Holmes: Georg Büchners »Fatalismus« als Voraussetzung seiner Revolutionsstrategie Rosmarie Zeller: Büchner und das Drama der französischen Romantik Burghard Dedner: Georg Büchner: Dantons Tod. Zur Rekonstruktion der Entstehung anhand der Quellen Verarbeitung Thomas Michael Mayer: »An die Laterne!« Eine unbekannte >Quellenmontage< in Dantons Tod (1,2) Gerhard Schmid: Der Nachlaß Georg Büchners im Goetheund Schiller-Archiv Weimar. Überlegungen zur Bedeutung von Dichterhandschriften für Textedition und literaturwissenschaftliche Forschung

12 59 73 106 132

159

Debatten Gerhard Schaub: Der melancholische Revolutionär. Georg Büchner alias Jacques Lucius Thomas Michael Mayer: Lebte Büchner in Straßburg 1835 »ein halbes Jahr lang im Verborgenen«? Hans Zeller: Zur kritischen Studienausgabe von Leonce und Lena Winfried Woesler: Die Textgestaltung von Büchners Leonce und Lena Georg Reuchlein: »Alles hohl«. Replik auf Friedhelm Auhuber

174 194 206 216 233

Kleinere Beiträge und Glossen Jan-Christoph Hauschild: Büchners Wohnungen in Gießen. Eine Kritik Philipp H. Geiß: Büchners Wohnungen in Gießen. Eine Rekonstruktion Reinhard Pabst: Zwei Miszellen zu den Quellen von Dantons Tod

250 253 261 5

Riitta Pohjola: »September!« Weitere Ergänzungen zu den Danton-Quellen Hans-Joachim Lope: »Fama«/»Farne« und kein Ende. Neue Randbemerkungen zur »Vorrede« von Büchners Leonce und Lena Elvira Steppacher: Büchners »Doctor« und Jean Pauls »Dr. Sphex«. Gedanken zu einer literarischen Quelle des Woyzeck Erich Zimmermann: Karl Buchners Nachrufe auf Büchner und Weidig Susanne Lehmann: Der Brand im Haus der Büchners 1851. Zur Überlieferung des Darmstädter Büchner-Nachlasses Ernst-Ullrich Pinkert: Nachtrag zu Rudi Dutschkes Büchner-Zahl-Essay

269 276 280 296 303 314

Dokumente und Materialien Reinhard Pabst: Zu Büchners Konfirmation im Mai 1828. Ein unbekanntes Lebenszeugnis Thomas Michael Mayer: Das Protokoll der Straßburger Studentenverbindung >Eugenia< Manfred Köhler: »Und setzet ihr nicht das Leben ein ...«. Das Stammbuch Heinrich Ferbers 1835-1836

393

Georg Büchner-Literatur 1985-1987 (mit Nachträgen) Zusammengestellt von Christine Lietz, Thomas Michael Mayer und Kristina Stockmann

407

Anschriften der Mitarbeiter

457

318 324

Abkürzungen und Siglen Benn F Fischer DT

GB I/H GB /// GBJb GW HA

Hauschild

Hinderer HL

Jancke Katalog Darmstadt

Maurice B. Benn: The Drama of Revolt. A Critical Study of Georg Büchner. - Cambridge [u. a.] 1976 [21979] Georg Büchner's Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe. Eingel, u. hrsg. von Karl Emil Franzos. — Frankfurt a. M. 1879 Heinz Fischer: Georg Büchner und Alexis Muston. Untersuchungen zu einem Büchner-Fund. — München 1987 Georg Büchner: Danton's Tod. Entwurf einer Studienausgabe. [Hrsg.] von Thomas Michael Mayer. — In: Peter von Becker (Hrsg.): Dantons Tod. Kritische Studienausgabe des Originals mit Quellen, Aufsätzen und Materialien. — Frankfurt a. M. 21985, S. 7-74 Georg Büchner ////. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. — München 1979 [21982] (= Sonderband aus der Reihe text + kritik) Georg Büchner III. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. — München 1981 (= Sonderband aus der Reihe text -l- kritik) Georg Büchner Jahrbuch Georg Büchner: Gesammelte Werke. Erstdrucke und Erstausgaben in Faksimiles. 10 Bändchen in Kassette. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. — Frankfurt a. M. 1987 Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. — Hamburg [dann München] 1967 ff. [Hamburger bzw. Hanser-Ausgabe] Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten Büchner-Briefen. — Königstein/Ts. 1985 (= BüchnerStudien, Bd. 2) Walter Hinderer: Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. - München 1977 Gerhard Schaub: Georg Büchner l Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. — München 1976 (= Reihe Hanser Literatur-Kommentare, Bd. 1) Gerhard Jancke: Georg Büchner. Genese und Aktualität seines Werkes. Einführung in das Gesamtwerk. — Kronberg/Ts. 1975 [31979] Georg Büchner 1813-1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Der Katalog [zur] Ausstellung Mathildenhöhe Darmstadt, 2. August bis 27. September 1987. Redaktion: Susanne Lehmann, Stephan Oettermann, Reinhard Pabst, Sibylle Spiegel. - Basel, Frankfurt a. M. 1987

Katalog Düsseldorf

Katalog Marburg

Lenz

LL

MA

Marburger Denkschrift

Martens H. Mayer N Nö

Poschmann

Jan-Christoph Hauschild (Bearb.): Georg Büchner/Bilder zu Leben und Werk. [Katalog der] Ausstellung des HeinrichHeine-Instituts zum 150. Todestag Georg Büchners am 19. Februar 1987. - Düsseldorf 1987 (= Veröffentlichungen des Heinrich-Heine-Instituts) Georg Büchner, Leben, Werk, Zeit. Katalog [der] Ausstellung zum 150. Jahrestag des »Hessischen Landboten«. Unter Mitwirkung von Bettina Bischoff, Burghard Dedner [u. a.] bearb. von Thomas Michael Mayer. — Marburg 1985 P1987] Georg Büchner: Lenz, Studienausgabe. Im Anhang: Johann Friedrich Oberlins Bericht »Herr L. ...« in der Druckfassung »Der Dichter Lenz, im Steintale« durch August Stöber und Auszüge aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« über J. M. R. Lenz. Hrsg. von Hubert Gersch. - Stuttgart 1984 (= Reclams Universal-Bibliothek 8210) Georg Büchner: Leonce und Lena. Ein Lustspiel. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. — In: Burghard Dedner (Hrsg.): Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe, Beiträge zu Text und Quellen von Jörg Jochen Berns, Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer u. E. Theodor Voss. — Frankfurt a. M. 1987 (= Büchner-Studien, Bd. 3), S. 7-87 Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. — München, Wien [desgl. München: dtv] 1988 Marburger Denkschrift über Voraussetzungen und Prinzipien einer Historisch-kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke und Schriften Georg Büchners. [Hrsg. von der] Forschungsstelle Georg Büchner — Literatur und Geschichte des Vormärz — im Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg und [der] Georg Büchner Gesellschaft. Erste Fassung. — Marburg/L. 1984 (Als Manuskript gedruckt) Georg Büchner. Hrsg. von Wolfgang Martens. — Darmstadt 1965 [31973] (= Wege der Forschung, Bd. LIII) Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. — Frankfurt a. M. 1972 [41980] (= suhrkamp taschenbuch 58) Nachgelassene Schriften von Georg Büchner [Hrsg. von Ludwig Büchner]. — Frankfurt a. M. 1850 Friedrich Noellner: Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverrats eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig [ . . . ] . — Darmstadt 1844 Henri Poschmann: Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. — Berlin u. Weimar 1983 [-M988]

SW Victor WA Weidig WuB

Georg Büchners Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Fritz Bergemann. — Leipzig 1922 Karl Vietor: Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft. - Bern 1949 Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearb. von Gerhard Schmid. — Leipzig [desgl. Wiesbaden] 1981 (= Manu scripta, Bd. 1) Friedrich Ludwig Weidig: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Hans-Joachim Müller. — Darmstadt 1987 (= Hessische Beiträge zur Deutschen Literatur) Georg Büchner: Werke und Briefe. Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann. Kommentiert von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. — München, Wien [desgl. München: dtv] 1980

AUFSÄTZE

Eugene Delacroix — biographische Konstellation und künstlerisches Handeln51" Von Ulrich Oevermann (Frankfurt a. M.)

Einleitung: Imagination und Ausdrucksgestalt Am 22. Juni 1863, knapp acht Wochen vor seinem Tode und schon auf dem Krankenlager, schreibt Delacroix die angemerkte Feststellung1 als letzte Eintragung in sein Tagebuch. In eigentümlichem Kontrast zur körperlichen Schwäche und zur Empfindung der Todesnähe schwingt darin wohl die innere Erhöhung nach, die der Maler nach der schwer umkämpften Vollendung seines letzten großen, den ganzen Reichtum seiner künstlerischen Erfahrungen integrierenden Werkes, der Ausmalung der Engelskapelle in der Kathedrale von St. Sulpice in Paris, erlebt hat. Was sonst könnte eine so vermeintlich einfache, lakonisch-lapidare Feststellung am Ende eines so produktiven, in sich abgeschlossenen Schaffens motivieren, als daß darin eine für wesentlich gehaltene Errungenschaft zum Ausdruck kommen soll. Wohl kaum will Delacroix uns in dieser Bemerkung zur bloßen Feier seiner Bilder, zu ihrem hedonistischen Kunstgenuß einladen, so als ob es um einen Augenschmaus festlichen Schmuckes, üppiger Formen und leuchtender Farben ginge.2 Wohl soll das gelungene bildnerische Werk * Der Aufsatz wurde ursprünglich 1987 als Beitrag zum Katalog der Ausstellung von Delacroix-Werken auf Papier im Stadel in Frankfurt a. M. (1987) geschrieben, fügte sich aber nicht in dessen Zusammenhang. Die vielen Zitate aus Delacroix' Schriften, die methodisch als Belegstellen der Interpretation dienen, waren ursprünglich als Marginalien parallel zum Text gedacnt. Die Übersetzung der Belegstellen besorgte der Autor. 1 »Das erste Verdienst eines Bildes ist es, dem Auge ein Fest zu sein. Das bedeutet nicht, daß es darin keine (Begründetheit) Vernunft geben muß: es ist viel mehr wie mit den schönsten Versen — alle Vernunft verhindert nicht, daß sie schlecht sind, wenn sie das Ohr beleidigen. Man sagt: Gehör haben; nicht alle Augen sind dazu geeignet, die Feinheiten der Malerei zu genießen. Viele haben ein falsches oder träges Auge; sie sehen (auf dem Bild) wörtlich die Gegenstände, aber nicht das Köstliche.« (Journal, 22. Juni 1863). 2 »Die Literaten tun so, als ob Ohr und Auge in der Musik und in der Malerei genießen wie der Gaumen beim Essen und Trinken« (Journal, 17. Januar 1854).

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als eigenständiges sinnliches Ereignis dagegen verteidigt werden, in gegenständlich-erzählerischer Entzifferung banalisiert und in philosophisch-begriffssprachlicher Auslegung zu falscher Würde gebracht zu werden.3 Aber diese Eigenständigkeit des Kunstwerks in seiner sinnlichen Präsenz als solcher kann sich nicht aus dem bloßen Sinnenreiz ergeben. Hinter dem Auge, dem das gelungene Werk ein Fest ist, steht ein lebendiges Subjekt, in Delacroix' eigenen Worten: eine Seele, die empfindet und erinnert, ein Geist, der gestaltet und ausdrückt. Delacroix will uns in seiner scheinbar so trivialen Feststellung darauf hinweisen, daß die Autonomie des Kunstwerks die eigenständige Form der sinnlichen Erkenntnis sowohl beim Künstler als auch beim Betrachter zur Voraussetzung hat. Die sinnliche Erkenntnis eröffnet in dem Maße einen autonomen Zugang zur erfahrbaren Welt, in dem sie sich von der begrifflichen Erkenntnis der Umgangssprache und der Wissenschaft emanzipiert hat.4 Das gelungene, autonome Kunstwerk stellt die Kommunikation zwischen dem sinnlich erkennenden Geist des Künstlers und dem aufmerksamen, seine Sinne öffnenden Betrachter her.5'6 Dieser Grundgedanke einer Kunst, die nicht nur auf triviale Weise autonom ist, weil sie gesellschaftlich so eingeschätzt und typisiert wird, sondern die es substantiell, aufgrund der spezifischen Verbindung von stofflicher Textur und Ausdruck der inneren Realität des Künstlers ist, bewegte Delacroix, wenn auch noch nicht klar ausformuliert, von Anfang an und bis an sein Lebensende.7^8

* * / . . . / aber vor einem Gemälde oder einer Sinfonie, die man mit Worten beschreiben soll, wird man zwar leicht eine allgemeine Idee angeben, unter der der Leser verstehen wird, was ihm beliebt, aber man wird nie wirklich eine genaue Vorstellung von dieser Sinfonie oder diesem Gemälde vermitteln. Man muß sehen, was für die Augen gemacht ist; man muß hören, was für die Ohren gemacht ist.« (Journal, 21. Mai 1853). 4 »Der Gelehrte ist wie der Eunuch, der sich anschaut, wie die Kinder gemacht werden, etc.« (Journal, Supplement, S. 841). 5 »In der Malerei ist es der Geist, der zum Geiste spricht, und nicht die Wissenschaft, die zur Wissenschaft spricht« (CEuvres litteraires, I, S. 17). 6 »Ich habe mir schon hundert Male gesagt, daß die Malerei, d. h. die Malerei stofflich gesehen, nur der Vorwand, die Brücke zwischen dem Geist des Malers und dem des Betrachters ist.« {Journal, 18. Juli 1850). 7 »Wenn ich ein schönes Bild gemacht habe, habe ich nicht einen Gedanken geschrieben. So sagen sie. Wie sind sie doch einfältig! Sie nehmen der Malerei alle ihre Vorzüge. Der Schriftsteller sagt fast alles, damit er verstanden wird. In der Malerei baut er [der Künstler, U. O.] sich wie eine geheimnisvolle Brücke zwischen der Seele der Figuren und der des Betrachters auf. Er sieht die Figuren in ihrer äußeren Natur, aber er denkt sie im Inneren, wahres Denken, das allen Menschen gemeinsam ist: das einige verkörpern, in dem sie es in Worte fassen: aber dabei sein zartes Wesen schon verändernd. Auch werden die groben Geister

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In dieser Einsicht ist das Neue der autonomen Kunst der Romantik im Kern enthalten. Es steht dahinter das Prinzip, daß im Kunstwerk das einzigartige Leben des Künstlers gesteigert seinen gültigen Ausdruck findet und sich als Allgemeines darin mitteilt.9 Delacroix ist diesem Prinzip methodisch explizit gefolgt, wenn er als Schriftsteller sich Werk und Leben der alten Meister vergegenwärtigte und darin sein eigenes Selbstverständnis als Künstler reflektierte.10 So wurde in der Romantik eine schon immer geltende Struktureigenschaft künstlerischen Handelns reflexiv ins Bewußtsein gehoben. Mit Delacroix ist der Künstler nicht mehr naturwüchsig die je individuelle Variation der in Religion, Mythologie, Literatur und Geschichte überlieferten Stoffe oder der Thematisierung eher von Schriftstellern als von Musikern oder Malern berührt. Die Kunst des Malers ist für das menschliche Herz um so inniger, desto stofflicher sie zur Erscheinung kommt; denn in ihr, wie in der äußeren Natur, ist die Aufteilung in das, was endlich ist, und das, was unendlich ist, ganz einfach gegeben, unendlich, das bedeutet das, was die Seele in den Gegenständen, die nur die Sinne treffen, von dem findet, was sie innerlich berührt.« (Journal, 8. Oktober 1822). 8 »Man denkt daß die Malerei eine materielle Kunst ist, weil man nur mit den Augen des Leibes diese Linien, diese Figuren, diese Farben sieht. Unglücklich für den, der in einem schönen Bild nur eine genaue Vorstellung sieht, und Unglück für das Bild, das einem zur Imagination befähigten Menschen nichts zeigt, was über das vollendet Ausgeführte ninausgeht. Das Verdienst eines Bildes liegt im Unbestimmbaren: das ist genau das, was sich der Genauigkeit entzieht: es ist mit einem Worte das, was die Seele den Linien und Farben hinzugefügt hat, damit sie zu ihr gelangen. Die Linie, die Farbe, in ihrer präzisen Bedeutung, sind die groben Worte einer groben Leinwand, womit die Italiener schrieben, um daraus ihre Musik zu sticken. Die Malerei ist von allen Künsten zweifellos diejenige, die unter der Hand eines vulgären Künstlers am ehesten einen rein stofflichen Anschein gibt, sie ist aber auch, das möchte ich stark machen, diejenige Kunst, die ein großer Künstler am weitesten hin zu jenen dunklen Quellen unserer erhabensten Gemütsbewegungen führt, wovon wir jene geheimnisvollen Erschütterungen empfangen, die unsere Seele, in gewisser Weise von den irdischen Fesseln befreit und in den Zustand zurückgezogen, der ein Höchstmaß an Immaterialität darstellt, fast ohne davon ein Bewußtsein zu haben, empfängt.« (Journal, Supplement, ohne Datum, S. 850 f.). 9 »Es ist also viel wichtiger für den Künstler, sich dem Ideal anzunähern, das er in sich trägt und das ihm eigen ist, als es, wie kraftvoll auch immer, beim vorübergehenden Ideal zu belassen, das die Natur darstellen mag, und sie zeigt durchaus solche Seiten; aber noch einen Schritt weiter, dann ist es dieser bestimmte Mensch, der sie darin sieht, und nicht der Durchschnittsmensch, Beweis dafür, daß es seine Imagination ist, die das Schöne erzeugt, und zwar genau deshalb, weil er seinem Genius folgt.« (Journal, 12. Oktober 1853). 10 »Das Leben von Poussin spiegelt sich in seinen Werken; es befindet sich in einem vollendeten Einklang mit der Schönheit und dem Adel seiner Erfindungen. [...] Wichtig wäre also in einer Geschichte von Poussin, nicht einige kleine Details zusammenzustellen, die anderen Biographen möglicherweise entgangen sind, sondern, wenn es möglich ist, lebendiger die Lehren und die Moral herauszuheben, die auf natürliche Weise daraus hervorgehen.« ((Euvres litteraires, II; Le Poussin [1853], S. 57). 14

von äußerer Realität, sei es Natur, Zeitgeschichte oder Alltagsleben. All das wird ihm vielmehr zum Material für den bewußt ins eigene Innere gerichteten Blick. Die innere Realität des Künstlers wird bewußt zum Brennpunkt11, in dem die bildnerischen Traditionen radikal subjektiv neu organisiert werden, nicht beliebig, sondern als Ergebnis eines Wiedererkennens der Sache durch den Erinnerungsschatz der eigenen Lebensgeschichte hindurch. Die gesamte Ikonographie der vorausgehenden Geschichte der Kunst steht zur Disposition der Selbstthematisierung. Delacroix muß sich keineswegs — undialektisch — von ihr distanzieren, um modern zu sein, er eignet sie sich vielmehr produktiv im Kampf um seine künstlerische Autonomie in ganzer Breite an. Er kann so einerseits kontinuierlich an die Tradition und die geliebten alten Meister anschließen, sich in ihre Phalanx einreihen, und andererseits als radikaler Neuerer — diskontinuierlich — mit dem Vorausgehenden brechen. Damit beginnt auf erhöhter Stufenleiter der Prozeß der Erneuerung der Kunst in Gestalt der professionsethischen Verpflichtung einer Avantgarde zur Innovation. Dieser Schritt war so radikal und kühn, daß nicht nur die Kunst zum gültigen Ausdruck des Lebens, sondern darüberhinaus das Leben selbst zur Kunst, die Lebenspraxis zum künstlerischen Handeln wurde.12 Diese letzte Steigerungsform war strukturell auf die Dauer zum Scheitern verurteilt, weil auch das Leben des Künstlers, so praxisabgewandt es seinen Inhalten nach in der vereinseitigten Selbstthematisierung auch immer13 sein mochte, in der sozialen Realität den Praxiszwängen nicht 11

»Das Heraufkommen der Romantik bezeichnet das Ende einer Periode der Abdankung und der Abwesenheit des Ich, das reduziert wurde auf eine Stelle, auf die eine vorfabrizierte Wahrheit angewendet werden konnte [...]. Die Romantik rehabilitiert das substantielle Subjekt; die Wahrheit spricht sich in der ersten Person aus.« (G. Gusdorf: L'homme romantique. — Paris: Payot 1984, S. 28, 42 f.). 12 »Köstlicher Spaziergang. Materiell leben heißt nicht leben; seit drei oder vier Tagen, die ich hier bin, damit beschäftigt, mich einzumieten, irgendetwas zum Essen zu haben, den Arzt aufzusuchen, ein Glas Wasser an der Quelle zu erhalten, ich bin eine wahre Maschine. Ich lebe nicht; ich verfüge nicht über meinen Geist: der Ort ist ausgesprochen schön, und er sagt mir nichts. Ich mache Spaziergänge, die für ein geistiges Leben >un esprit< köstlich wären, die aber nur Erstreckung für einen Leib und Beine sind, die sich auf ein Abenteuer begeben. Welche Scham für meine unsterbliche Seele! Ihre ganze Fassungskraft ist nur mit Streitereien mit meinem Wirt über ein Bett gefüllt, in dem ich vielleicht schlafen könnte [...]. Die Mehrzahl der Menschheit rührt dieses Leben. Aber da sie ja das Leben des Geistes nicht kennt, fühlt sie sich um nichts beraubt in diesen Randzonen, in denen sie vegetiert, dem Tier näher als dem menschlichen Wesen.« (Reflexion in Bad Ems, 14. Juli 1850; abgedruckt in: CEuvres litteraires, I, S. 99 f.). 13 »Der Dandy muß danach streben, ohne Unterbrechung erhaben zu sein; leben und schlafen muß er vor einem Spiegel« (Baudelaire: Mon cceur mis ä nu. — In: CEuvres completes, I, S. 678).

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enthoben war und als eine besondere Form von Praxis historisch erst etabliert werden mußte. Aber sie war in dieser Überdehnung nötig, weil die Autonomie des Künstlers in der Phase des Übergangs zur Moderne sich anders nicht hätte ausformen können. So gesehen war sie einfach ein Selbststilisierungspreis der Anstrengung, die dieser schmerzhafte Schritt erforderte. Im Handeln des romantischen Künstlers wird stellvertretend die Autonomie der Lebenspraxis überhaupt auf exemplarische Weise für die Zukunft ausgefaltet: Die Produktion des autonomen Kunstwerks vollzieht sich grundsätzlich offen14, ins Unvorhersehbare. Sie ist dennoch nicht beliebig, sondern hat sich an den universellen Prinzipien der Gültigkeit der Ausdrucksgestalt zu bemessen. Erfolg und Scheitern liegen hier, wie in der krisenhaften, lebenspraktischen Entscheidungssituation, eng beieinander. Das Gelingen in der Produktion des Neuen kann nur der Bereitschaft abgerungen sein, sich radikal der Möglichkeit des Scheiterns auszusetzen und mit dem Ungewissen Ausgang nicht zu kokettieren. Für Delacroix hat sich die Einnahme dieser Stellung zur künstlerischen Produktion schmerzhaft und ambivalent vollzogen, als Qual und als Lust zugleich.15 Eine entsprechende Einstellung lag seiner Künstlerbiographie von Anfang an zugrunde und bestimmte ihren weiteren Gang, beginnend als offene Spannung zwischen Antrieb und Gestaltungsdisziplin, die sich immer mehr zur Synthese der Vollendung verdichtet. Angetrieben wurde er vom Andrängen einer Flut von Bildern aus dem Inneren im wörtlich zu nehmenden Prozeß des »Imaginierens«. Die Seele (Päme) ist die Instanz, die von den Eindrücken der inneren Realität, den Erinnerungen bzw. Erinnerungsspuren geradezu überschwemmt wird, und der Geist (resprit) kann sie, denen Delacroix sich offen aussetzt, nicht genügend bewältigen.16

14 »Die Ausführung muß in der Malerei immer etwas von der Improvisation haben, und darin vor allem liegt die hauptsächliche Differenz zur Ausführung des Schauspielers. Die Ausführung des Malers wird nur schön sein unter der Bedingung, daß er es sich vorbehält, sich ein wenig hinzugeben und gehenzulassen, im 15Tun zu finden, usw.« (Journal, 27. Januar 1847). »Aber solange meine Imagination meine Qual und meine Lust zugleich sein wird, was schert mich, ob ich Güter habe oder nicht? Das ist eine Sorge, aber sicher nicht die größte.« (Journal, 6. Juni 1824). 16 »Es gibt in mir etwas, das oft viel stärker ist als mein Körper, oft auch von ihm ermuntert wird. Es gibt Leute, bei denen der Einfluß des Inneren fast gar nicht vorhanden ist. Ich finde ihn bei mir heftiger als den anderen (des Körpers). Ohne ihn würde ich zugrundegehen; aber er wird mich verzehren (ohne Zweifel spreche ich von der Imagination, die mich beherrscht und mich leitet).« (Journal, 8. Oktober 1822).

16

Hier entstehen für den jungen Künstler Delacroix zwei schmerzhafte Probleme als Folge der künstlerisch gesteigerten Anschauung der inneren Realität seiner selbst. Das eine betrifft die soziale Isolierung, die aus der Imagination folgt. Je mehr seine Seele sich den Eindrücken aus dem inneren Strom des Imaginierens öffnet, je weiter die innere Wahrnehmung in die schwankenden Seelengründe hinabsteigt, desto weiter entfernt sie sich in ihrer gesteigerten Subjektivität vom anderen. Wie soll sein Ich sich in dem, was es als beherrschend empfindet, dem anderen gegenüber noch verständlich machen? Wie soll es im anderen sich wiederfinden, vom anderen verstanden werden können? — Das zweite Problem besteht in der Schwierigkeit, die flüchtigen, drängenden Bilder der Imagination gültig in eine bildnerische Sprache so umzugießen, daß die Seele sie wiedererkennen kann. Beide Probleme fließen am Ende zusammen, denn wenn der richtige bildnerische Ausdruck schnell und prägnant gefunden ist, dann kann auch die verwandte Seele des anderen die geheimnisvolle innere Realität erkennen, die in der Imagination des Künstlers auftauchte, und den Künstler nicht nur als Künstler, sondern als ganzen Menschen verstehen. Sich dem anderen gegenüber verständlich zu machen — als soziales Problem — und die angemessene bildnerische Sprache zu finden — als künstlerisches Problem —, verschmelzen bei Delacroix auf eine für die Romantik charakteristische Weise. Kunst und soziale Praxis fallen ineins. 17 17

»Das Ergebnis meiner Tagesbeschäftigung ist immer dasselbe: ein unendliches Verlangen nach etwas, das man niemals erlangt; eine Leere, die man nicht füllen kann, ein extremer Anreiz, auf jede erdenkliche Weise zu schaffen, so gut wie möglich gegen die Zeit, die uns fortreißt, und die Vergnügungen, die einen Schleier über unsere Seele werfen, anzukämpfen; fast immer auch eine Art philosophischer Ruhe, die auf das Leiden vorbereitet und über das Belanglose hinausführt. Aber es ist die Imagination, die uns vielleicht selbst dort noch täuscht; beim kleinsten unerwarteten Ereignis, fast immer: aus mit der Philosophie. Ich möchte gerne meine Seele mit der eines anderen in Gleichklang bringen [>identifierIch zittere vor den Gefahren, denen mich mein Mut aussetzen wird.La CaraLa CaraDer Kaiser hat seinen Sturz der Tatsache zu verdanken, daß das Volk nicht mehr mitmachen wollteDas Volk wollte den König; nein, die Freiheit; nein, die Vernunft; nein, die Religion; nein, die englische Verfassung; nein, den AbsolutismusNein, nichts von alledem, sondern nur Ruhe!Kehr dich zu deiner Lehre, / Die will, daß, je vollkommener ein Sein, / Sich seine Lust- und Schmerzempfindung mehreMassaker von ChiosDon Quichotte< mehr und andere deiner unwürdigen Sachen. Sammle dich von Grund auf vor deiner Malerei und denke nur an Dante. Dort ist, was ich immer in mir gefühlt habe.« (Journal, 7. Mai 1824).

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In schneller Folge schreitet Delacroix nun bis zum »Tod des Sardanapal« (1828), weiter gefaßt: bis zur Marokko-Reise 1832, das 1822 grundsätzlich eroberte Terrain ab. In denkbar stark kontrastierenden ikonographischen Traditionen variiert er letztlich immer wieder das Thema der gesteigerten Autonomie des unvoreingenommenen Blicks, so daß die gestalteten Einzelfiguren gleichermaßen identifikatorisch die Formel der geistesaristokratisch gesteigerten Autonomie wie die gesteigerte Ambivalenz von Sog des Abgrunds und Standhaftigkeit im Hinschauen repräsentieren: Tasso im Irrenhaus, die Hinrichtung des stolzen Marino Faliero, die dialektische Komplementarität von Mephisto und Faust, von Giaour und Hassan, Don Quichote in seinem Haushalt, der türkische Offizier in den »Massakern von Chios« ziehen sinnlich-bildnerisch den Betrachter in den Bann dieser Thematik, die in ihrer strukturellen Allgemeinheit vielleicht noch am schlagendsten deutlich wird in der Gleichzeitigkeit von oberflächlicher Verschiedenheit und tiefenstruktureller Ähnlichkeit des »Christus am Ölberg« von 1824—27 und des »Sardanapal« von 1827—28. Wohl nie zuvor ist Christus in der schweren Stunde am Vorabend des Karfreitages in der Spannung zwischen göttlichem Auftrag und irdischem Leid als eine so autonome, stolze Gestalt gesehen worden, die die Zuwendung der auf einem Lichtstrahl vom Himmel herniederfahrenden, an Schönheit kaum zu überbietenden Todesengel mit einer Einhalt gebietenden Geste von sich weist, während sie in sich gekehrt nach unten blickt. In einer eigenwilligen Auslegung der Textstelle des Lukas, des einzigen unter den Evangelisten, der in dieser Situation einen Engel erscheinen läßt, wird dennoch die autonomiestiftende Bedeutung der Christusfigur stimmig und sehr modern bestimmt. Ganz ähnlich stoisch blickt Sardanapal, der von einer Revolte hoffnungslos bedrängte assyrische Herrscher, im leichten Gewand von seinem auf einem Scheiterhaufen errichteten Lager auf die versammelten Schätze, die bald ein Raub der Flammen sein werden, und auf das grausig-blutige Geschehen, in dem die üppigen, nackten Frauen seines Harems von den Eunuchen massakriert werden, damit ihnen der noch grausamere Verbrennungstod erspart bleibt. Neues Testament und Lord Byron, wie weit liegt das moralisch einerseits auseinander, und wie nahe rücken ihre Gehalte unter dem Gesichtspunkt des inneren Kampfes um das authentische Leben in der Sichtweise von Delacroix zusammen. Obwohl Delacroix von der Wörtlichkeit der Byron'schen, Goethe gewidmeten und von diesem geschätzten Tragödie, in der die bis dahin nur negativ als unmoralisch, prinzipienlos und verweichlicht bewertete Figur des Sardanapal zum hedonistisch provozierenden, durchblickenden, die Hohlheit tradierter ethischer Prinzipien bloß legenden Pazifisten umgewertet wird, erheblich abweicht, trifft dieses Stilleben, blutige Dramatik und üppige Erotik spannungsvoll vereinigende Bild in seiner 39

Sinnstruktur jene des Byron'schen Werks ungeahnt prägnant.45 Als disziplinierte Hemmungslosigkeit läßt sich formelhaft bezeichnen, was in der Tragödie wie im Bild zentral zum Ausdruck gebracht wird und worin zugleich ein Topos der Romantik und ein Prinzip des künstlerischen Handelns zur Geltung kommt. Sardanapal ist eine Gestalt, in der der romantische Künstler in seiner schmerzvoll ausgetragenen Autonomisierung sich identifikatorisch reflektiert.46 Für Delacroix war der »Tod des Sardanapal« zugleich das Werk, in dem die erste stürmische Phase der Eroberung der neuen Struktur zu einem Abschluß kommt und die Radikalisierung sich vollzieht, die zum einen die Trennung der Routiniers der »romantischen Schule« von Delacroix befördert47, zum anderen in dieser Gleichzeitigkeit von Polarisierung und Steigerung die Ausgangskonstellation für neue Synthesen schafft, den nächsten großen Schritt auf der »anderen Reise« aus sich heraustreibt. 45

Sardanapal: »Der Mann ist von zu strenger Denkungsart. Hart, doch erhaben wie der Fels und frei Von jedem Flecken des gemeinen Staubs. Ich bin von weichrem Ton, mit Blumen ganz Durchwebt. Wie aber unser Stoff, muß auch Das sein, was aus ihm kommt. Wenn diesmal ich Geirrt, kam's aus dem Grund, wo Irrtum Am Leichtesten sich zeugt, aus dem Gefühl Das ich zu nennen nicht vermag: es kommt Mir oft wie Schmerz, manchmal wie Lust auch vor. Es ist als ob ein Geist hier innen saß Und zählt' des Herzens Schläge, doch beschleunigt* Sie nicht, und stellte Fragen mir, wie sie Mich Sterbliche zu fragen nie gewagt, Selbst Baal nicht, der orakelhafte Gott [...].« (Byron: Sardanapal, 2. Akt, 1. Auftritt. — In: Lord Byron: Sämtliche Werke. München: Winkler 1978, 3. Bd., S. 233). 46 »Eine kleine Bibliothek, einige gute Weine und noch einiges andere Gute. Der Rest ist, wie mein alter Freund Sardanapal sagt, keinen Strohhalm wert. Adieu, adieu. Schreib mir [...].« (Corresp., I, S. 214; an Soulier am 11. März 1828). — In Anspielung auf den im Byron'schen Text (»Sardanapal, / der König, Anacyndraxes' Sohn. / Erbaut' in einem Tag Anchialus / Und Tarsus einst. Iß, trink und lieb! Der Rest / Ist keinen Heller wert«. Byron: Sardanapal, 1. Akt, 2. Auftritt. — In: Sämtliche Werke, III, S. 199) erwähnten, historisch sinneemäß überlieferten Ausspruch Sardanapals, von dem Aristoteles gesagt haben soll, daß er des Grabmals eines Schweines unwürdig sei. 47 »Ich bin Ihnen dankbar für das, was Sie mir Liebenswürdiges über das Sujet des Sardanapal gesagt haben. Ich konnte noch nicht hingehen [zur Ausstellung der Galerie Martinet, wo das Bild zum ersten Mal wieder zu sehen war, U. O.]. Das Bild ist auf dem Salon von 1828 ausgestellt worden. Es wurde mit nur einer Stimme Mehrheit angenommen. Es hat alle Welt abgestoßen und selbst meine Freunde empört.« (Corresp., IV, S. 300; an Ph. Burty am 24. Januar 1862).

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Das Alterswerk in St. Sulpice: Mehrfach reflexive Ausdrucksgestalt von Biographie und künstlerischem Handeln Wechseln wir nun den Blickwinkel und betrachten, welches Ende für Delacroix die »andere Reise« genommen hat, inwieweit die verwegene Programmatik des Beginns seiner Künstlerbiographie eingelöst worden ist. Das letzte große, geradezu apotheotische Werk ist zweifellos die Ausmalung der Engelskapelle von St. Sulpice mit »Jakobs Kampf mit dem Engel« und »Heliodor wird aus dem Tempel vertrieben«. Schon 1847 ist von einem entsprechenden Auftrag die Rede, erst im Juli 1861, zwei Jahre vor seinem Tode, ist das Werk vollendet. Nach dem ersten Auftrag kommt die Revolution von 1848 und eine ganz neue Administration. 1849 wird der Auftrag erneuert und konkretisiert. Aber Verwaltung und Kirche kooperieren nicht gut, letztere scheint an Delacroix kein großes Interesse gehabt zu haben. Mit Recht hat sie in ihm wohl alles andere als einen gläubigen Christen erkannt. Bis 1850 geht Delacroix davon aus, daß er die Taufkapelle erhält. Erst als er die thematisch passenden Entwürfe schon abgeschlossen hat, erfährt er, daß ihm die Engelskapelle zugeteilt ist. Die Vorarbeiten ziehen sich schleppend dahin. Da sind zuvor noch die Apollo-Galerie und der Salon de la Paix, Aufträge, die ihn zwar später erreichen, die aber zeitlichen Vorrang haben, weil sie für große, repräsentative Profanbauten in Paris gedacht sind und daher einen offiziellen Charakter haben, gewissermaßen Staatsaktionen darstellen. Dagegen gilt der Kirchenauftrag zwar auch für ein öffentliches Gebäude, aber doch einen Ort der Zurückgezogenheit, zumal St. Sulpice im damals wenig repräsentativen alten Viertel von St. Germain-des-Pres liegt und nicht zu den ganz bedeutenden Kirchen von Paris gehört. Dann ist Delacroix nach Beendigung der großen Aufträge im Louvre und im Hotel de Ville erschöpft, die tuberkulöse Kehlkopfentzündung schwächt ihn immer mehr, 1857 und 1858 fällt er praktisch wegen Krankheit aus.48 1854 und 1855 hat er alle Hände mit der Vorbereitung der für seine Reputation wichtigen Einzelschau auf der Weltausstellung zu tun. Der Ausmalung von St. Sulpice geht also eine für Delacroix ganz ungewöhnlich lange Inkubationszeit voraus. Man hat den Eindruck, daß 48 »Da ich gewöhnlich kränklich bin, habe ich (auf Zerstreuungen) vollständig verzichtet, und ich verbringe meine Abende sehr oft in meiner Ofenecke. Die Illusionen entfernen sich eine nach der anderen; eine einzige bleibt nur, richtiger: es ist keine Illusion, es ist ein wirkliches Vergnügen; das einzige, in das sich keine Bitterkeit mischt; es ist die Arbeit.« (Corresp., IV, S. 62; an Soulier wahrscheinlich am 14. Dezember 1858).

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er Mitte der fünfziger Jahre bereitwillig alle möglichen Hinderungsgründe akzeptiert. Aber ganz allmählich tastet er sich an die Aufgabe heran, die in ihm rumort. Ab Juli 1855 spricht er im Tagebuch und in Briefen nicht mehr von »St. Sulpice«, sondern von »l'eglise« und »mon travail«, als ob ihm die Aufgabe schon vertraut wäre. Ganz unvermittelt trägt er am 25. April 1857, an einer Stelle, die zugleich eine inhaltliche Zäsur bedeutet, ein kurzes Fragment aus der Jakobserzählung wörtlich in sein Tagebuch ein, so, als ob er sich den Splitter eines Traumes notierte. Ende 1857 verläßt er das seit 1844 bewohnte, mondäne Viertel nahe St. Lazare und nimmt Wohnung und Atelier, von einem ruhigen, abgeschirmten Garten umgeben, im ruhigen, durch alte Bausubstanz geprägten, von Handwerkern und Ladenbesitzern bewohnten, ans Mittelalter erinnernden St. Germain-des-Pres, an der place de Furstenberg, gleich unterhalb der Kathedrale von St. Germain-des-Pres und nur fünf Minuten Fußweg von St. Sulpice entfernt. Es ist, als ob er die Aufgabe wie eine Kampfstätte zögernd umkreist, dann ihr wie einer Beute immer näher rückt, bis sie ihn schließlich ganz gefangen nimmt. Oder anders herum: als ob diese Aufgabe einen Sog auf ihn ausübt, dem er sich, unsicher, zunächst entzieht, auf den hin er dann aber zunehmend sein ganzes übriges Leben organisiert. Darin spiegelt sich, daß für ihn, vielleicht ohne daß er es am Anfang richtig wußte, die Aufgabe einen ungewöhnlich hohen Anspruch stellte, so daß daraus das eigentliche Spätwerk wurde. Erst 1859 geht es mit plötzlichem Enthusiasmus los. Wie sehr St. Sulpice Delacroix in den letzten Jahren vor der Vollendung beschäftigt hat, wird in der Korrespondenz deutlicher als im Tagebuch. Außer dem »Massaker von Ghios« ist kein Werk in seiner Entstehung in Delacroix' Schriften so gut dokumentiert wie dieses. Damit ein Eindruck von der Entwicklung entsteht, werden die Dokumente zur Endphase der Werkgenese in der zeitlichen Reihenfolge belassen und hintereinander gedruckt.49"61 Auf einmal arbeitet der zuvor kränkliche Delacroix mit ungeahnten Kräften. Ab September 1860 fährt er — fast das moderne 49

»Ihrem Brief fehlt es nicht an Mitteln der Verführung [de Schwiter lädt Delacroix zu einer Italien-Reise ein, U. O.], aber er richtet sich an einen Menschen, der gegenwärtig derartig festgehalten ist, daß er beim besten Willen nicht abreisen kann. Meine Arbeit in St. Sulpice befindet sich in der interessantesten Phase, und die allergrößten Interessen halten mich dazu an, so früh wie möglich fertig zu werden.« (Corresp., IV, S. 173; an de Schwiter am 30. April 1860). 50 »Es ist nicht das Wetter, das mich hindert, das liebste von allen Vorhaben, denen ich Gestalt gegeben habe, auszuführen [...]« (gemeint ist St. Sulpice). (Corresp., IV, S. 188; an Lamey am 13. August 1860). 51 »Von Arbeit keine Spur, und es sind jetzt schon drei Monate, daß das anhält und daß ich keinen Pinsel angerührt habe, während die wahrheitsliebenden Zeitungen mich eine Arbeit vollenden lassen, die der Alptraum meiner Tage ge42

Leben eines pendelnden Arbeiters führend — täglich in aller Frühe mit der Eisenbahn von Champrosay aus seinem Landhaus nach Paris und arbeitet dort bis etwa 15 Uhr. Er legt sich schon gegen 20 Uhr schlafen worden ist und die ich wahrscheinlich niemals zuende bringen werde.« (Corresp., IV, S. 197; an Berryer am 11. September 1860). »[...] viele Übel kommen von der Langeweile und der Leere. Die Notwendigkeit, ohne Unterlaß das Haus verlassen zu müssen und vor allem dabei ein Ziel zu haben, ist ein Heilmittel für tausend Krankheiten.« (Corresp., IV, S. 199; an Mme. de Forget am 23. September 1860). 5 ·* (Nachdem er eine Einladung aufs Land abgelehnt hat:) »Aber man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist, und das ist es durch die unaufhörliche Nacht hindurch, die sich gegen mein Durchhaltevermögen verschworen zu haben scheint, um mich in dien Wagons erfrieren zu lassen und mir das Licht zu nehmen, während ich arbeite. Ich fürchte nichts außer einer Erkältung, die ein ernstes Hindernis wäre; von einem solchen Hinderungsgrund abgesehen werde ich fortfahren, solange es eben geht und nicht nachgeben, denn mein Schwung nimmt zu und die Müdigkeit der ersten Tage verflüchtigt sich. Ich schwöre Ihnen, ich renne zu meiner Kirche mit einem Feuer, das wir früher entfachten, wenn es darum ging, an ganz andere Orte zu laufen.« (Corresp., IV, S. 204; an Berryer am 14. Oktober 1860). 54 »Hätten Sie geglaubt, daß es einem Menschen, der so schwer in Bewegung zu setzen ist wie ich, möglich wäre, zweieinhalb Monate lang morgens um 5 Uhr aufzustehen, um durch Schlamm und Kälte hindurch sich auf die Eisenbahn zu begeben, um sich dann vier oder fünf Stunden auf seinen Gerüsten mit seiner Malerei einzuschließen?« (Corresp., IV, S. 218 f.; an Berryer am 4. Dezember 1860). ss »Ich bin immer noch tief in meine Arbeit versunken. Ich lebe in Paris wie im tiefsten Sibirien; ich sehe niemanden, weder Abendgesellschaften, noch Abendessen, noch Besuche; ich gewinne darüber an Gesundheit, die mein einziges Mittel ist, ans Ende zu gelangen. Wann werde ich fertig sein? Sie wissen, was das heißt: das Ende eines Werkes. Alles in allem gewinnt es jeden Tag und, wenn Gott will, werde ich nicht zögern, mein Denkmal [sie!] zu signieren [...]. Ich bin erfreut über Ihre gute Gesundheit. Die meinige verdanke ich gewiß der Bewegung, die ich mir verschaffe, und der Gewohnheit, die ich angenommen habe, nämlich bei jedem Wetter hinauszugehen. Ich fröstele viel weniger und fühle mich dabei wohl [...].« (Corresp., IV, S. 221; an Lamey am 26. Dezember 1860). 56 »Ich habe dieses Jahr begonnen, indem ich meine Kirchenarbeit wie gewöhnlich fortgesetzt habe; Besuche habe ich nur per Karten gemacht, die mich nicht ablenken, und ich war den ganzen Tag arbeiten; glückliches Leben! Himmlischer Ausgleich für meine gewollte Einsamkeit! Brüder, Väter, Verwandte aller Grade, Freunde streiten und verachten sich in ihrem Zusammenleben mehr oder weniger mit falschen Worten. Die Malerei quält mich und martert mich in Wahrheit auf tausenderlei Art, wie die anspruchsvollste Geliebte; seit vier Monaten entfliehe ich beim Morgengrauen und laufe zu dieser betörenden Arbeit, wie auf den Spuren der allersüisesten Geliebten; was mir von Ferne als leicht zu überwinden erschien, zeigt sich von schrecklichen und unaufhörlichen Schwierigkeiten. Aber woher kommt es, daß dieser ewige Kampf, statt mich zusammenbrechen zu lassen, mich erhebt, statt mich zu entmutigen mich tröstet und meine Mußestunden erfüllt, wenn ich ihn verlassen habe? Glücklicher Ausgleich für das, was die schönen Jahre mit sich genommen haben; edler Einsatz der wertvol-

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und steht um 5 Uhr auf. Die Pariser Gesellschaft scheint für ihn nicht mehr zu existieren, seine alte Freundin Mme. de Forget bekommt ihn kaum mehr zu sehen. Ab November muß er nach Paris gehen, um sich vor einer Erkältung auf der täglichen An- und Abfahrt zu schützen. Aber er arbeitet den ganzen Winter in der feuchten und kalten Kirche durch, fast 10 Monate ohne Unterbrechung. Überall lobt er, der sonst vorsichtig für den warmen Ofen als Vorbeugung gegen Erkältungen plädiert, die heilsame Wirkung von körperlicher Anstrengung und Spaziergängen an der frischen Luft, selbst in der Kälte. Am erstaunlichsten ist, wie gesund er sich nun fühlt. Dieser euphorische Zustand der Symptomlosigkeit ist keinesfalls der Grund für das len Augenblicke des Alters, das mich schon von tausend Seiten belagert, aber das mir dennoch die Kraft noch läßt, die Schmerzen des Körpers und die Qualen der Seele zu überwinden.« (Journal, I.Januar 1861). 57 »Ich stehe in der Morgendämmerung auf, ich rasiere mich gar nicht mehr; beenden fordert ein Herz aus Stahl. Ich muß alles auf eine Karte setzen, und ich stoße auf Schwierigkeiten, wo ich durchaus keine erwartet habe. Um dieses Leben durchhalten zu können, gehe ich früh schlafen, ohne irgendetwas zu unternehmen, das meinen Vorsatz stören könnte, und werde in meiner Entschlossenheit, mich aller Vergnügungen zu berauben, an allererster Stelle desjenigen, die zu treffen, die ich liebe, nur durch die Hoffnung auf das Gelingen aufrechterhalten. Ich glaube, ich werde darüber sterben; in solchen Augenblikken wird einem die eigene Schwäche deutlich, und wie sehr das, was der Mensch ein fertiges oder vollendetes Werks nennt, Unfertiges, Unvollständiges und unmöglich zu Vollendendes enthält.« (Corresp., IV, S. 230; an Berryer am 15. Januar 1861). 58 »Sie haben die Güte gehabt, bei mir vorbeizuschauen und man wird Ihnen gesagt haben, vor welchen Wagen ich mich seit fünf Monaten gespannt habe. Ich mache große Fortschritte, aber ich führe ein Mönchsleben. Das einzige Abendessen außer Haus hat mich krank gemacht. Es ist die Arbeit eines Galeerensträflings: ich habe große Unmöglichkeiten mit der Wachsmalerei versucht, die schwer zu beherrschen ist.« (Corresp., IV, S. 241 f.; an Baron Rivet, einen Bekannten aus der Jugend, am 23. Februar 1861). 59 »Ich sende Dir diese Zeile in aller Eile und kehre auf meine Galeere zurück. Ich hoffe mit Gottes Hilfe davon bald erlöst zu sein.« (Corresp., IV, S. 249; an L. Guillemardet am 22. Mai 1861). 60 »Es scheint mir, wie Ihnen, als ob unsere Arbeit [in St. Sulpice, U. O.] schon vor langer Zeit aufgehört hat. Ich habe die enormen Qualen, die sie mir auferlegt hat, vergessen: ich bin wie die Ameise, die nach der Zerstörung ihrer Arbeiten bereit ist, sich wieder an die Arbeit zu machen. Der Vergleich ist nicht richtig, was die Wirkung meines Einsatzes anbetrifft, und insgesamt kann ich mich nicht beklagen. [...] vielleicht werden wir uns wieder zu unseren Sitzungen voller Enttäuschungen und Hoffnungen zusammenfinden, wenn die Administration mir hold ist.« (Corresp., IV, S. 278; an Andrieu, den langjährigen Mitarbeiter, am 17. Oktober 1861). 61 »Ich denke oft an unsere Sitzungen in der Kirche, wie der Gefangene, der, wieder in Freiheit, sich zuweilen nach dem Kommißbrot sehnt, das er zwischen den vier Mauern gegessen hat.« (Corresp., IV, S. 291; an Andrieu am 15. Dezember 1861).

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enthusiastische Arbeiten, sondern umgekehrt die Folge des jugendlichen Feuereifers, mit dem er nun, nach der langen Anlaufzeit, zu Werke geht. Er verjüngt sich in jeder Hinsicht. Mit Wohlgefallen betrachtet er Frauen, seine Malerei ist wieder sein Ein und Alles und seine eigentliche Mätresse. Die Themen der romantischen frühen Phase stellen sich wieder ein. Im Tagebuch notiert er sich das Vorhaben, aus Tausend und einer Nacht Themen zu malen, Ende 1860 ist er brennend daran interessiert, daß die »Dante-Barke« nicht verfällt und restauriert wird, der »Sardanapal« wird wieder ausgestellt, Pläne zu einer Italien-Reise mit dem Jugendfreund de Schwiter beschäftigen ihn. Er arbeitet bis zur Erschöpfung, und seine Eintragungen im Tagebuch wie seine Briefe geben zu erkennen, daß er kaum sonst in seinem Leben eine so glückliche, erfüllte Phase des Schaffens erlebt hat. Das Licht im Tunnel der langen inneren Vorbereitung wird immer heller, und die letzte euphorische Phase scheint bestimmt gewesen zu sein von der Vorerwartung einer glücklichen, erfolgreichen Vollendung. Sein längster Mitarbeiter Andrieu berichtet, daß er in St. Sulpice auf dem Gerüst häufig bei Arbeitsbeginn ein bis zwei Flaschen Rotwein getrunken hat, um sich in Schwung zu bringen. Lange kämpft er mit dem Kirchenvorstand, der ihn während der Messen nicht arbeiten lassen will, wie er das gern möchte, weil ihn die Musik so inspiriert. So viel zu den bezeichnenden Begleitumständen bei der Entstehung dieses Spätwerks. Was war es nun, das diese enormen Energien freisetzen konnte? Es muß mit dem Werk selbst, seinem Bedeutungsgehalt etwas zu tun haben, denn der bloß abstrakte Umstand eines vergleichsweise großen, späten Auftrages allein kann solche Wirkung nicht haben. Vielmehr muß ein glückliches Zusammentreffen günstiger Bedingungen vorgelegen haben. Daraus kann hier nur ein zentraler Punkt herausgegriffen werden. Aus dem Tagebuch geht hervor, daß Delacroix sich, nach der Wahl zum Institutsmitglied verstärkt, Gedanken über seinen Nachruhm und die Stellung seines Werkes in der Geschichte der Kunst macht.62*63 Die Ausmalung von St. Sulpice gerät in den Sog dieser Frage.64 62

»Vielleicht stimmt es, daß die Begabung mitten in der allgemeinen Gleichgültigkeit nicht alle ihre Früchte trägt: damit stimmt überein, daß ich für das wenige, das ich gemacht habe, tausend Male mehr Energie entfalten mußte als diese Raphael und diese Rubens, die sich nur der überraschten, jedoch zur Bewunderung bereiten Welt zeigen mußten, um mit Ermutigung und Beifall überhäuft zu werden.« (Journal, 28. August 1854). 63 »Wenn der Geist nicht verschwindet, warum haben die Schöpfungen der großen Seelen nicht an diesem Privileg teil? Ein schönes Werk scheint einen Teil des Genies seines Autors zu enthalten. Dieses schöne Bild, das stofflich ist, ist nur schön, weil es stofflich ist, ist nur schön, weil es durch einen bestimmten Atem belebt ist, dem es nicht besser gelingt, es vor der Zerstörung zu bewahren, 45

Verschiedene Vorbilder sind im Spiel. Der »Heliodor« nimmt >explizit< Bezug auf Raphaels gleichnamiges Fresko in den Stanzen des Vatikan, das Deckenbild lehnt sich eng an das entsprechende RaphaelBild im Louvre an, und der Jakobskampf verweist in der Komposition auf den »Heiligen Petrus« von Tizian. Aber dennoch unterscheidet sich, wie die beiden Wandbilder Delacroix zur Kunstentwicklung in Beziehung setzen. Der »Heliodor« ist eher das Bild, mit dem er sich gewollt in die Reihe der großen Freskenmaler einordnet. Als das gewissermaßen offiziellere Werk trägt es auch die Signatur Delacroix*" für die ganze Kapelle. Dagegen kann man den »Jakobskampf«, der Delacroix thematisch schon länger beschäftigt hat, als das eher biographische, private Bild bezeichnen, in dem er sich zusätzlich noch als »Idealist« mit dem Realismus der zeitgenössischen Landschaftsmalerei implizite auseinandersetzt. Die Wahl des Themas ist überraschend. In der ikonographischen Tradition ist es, sieht man von dem bekannten Berliner Rembrandt-Bild zu demselben Thema ab, vorher ohne Bedeutung. Hätte Delacroix einen Bezug zum Thema »Engel« wegen der Widmung der auszumalenden Kapelle herstellen wollen, dann hätten ihm zahllose thematische Vorbilder mit Engeln aus der Geschichte der Malerei zur Verfügung gestanden, nur nicht dieses. Selbst aus der Jakobsgeschichte hätte er ein ikonographisch tradiertes Thema mit Engeln: die Himmelsleiter in Jakobs Traum, wählen können. Stellt man das alles in Rechnung, dann bleibt nur die Deutung, daß die Themenwahl eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit der biographischen Situation generell oder speziell zur Zeit der Entstehung des Werkes haben muß und daß wir von der Vermutung eines besonderen Passungsverhältnisses zwischen der Sinnstruktur des Jakobskampfes und dem, was Delacroix in diesem ihm wichtigen und innerlich lange vorbereiteten Werk ausdrücken wollte, ausgehen können. wie unserer erbärmlichen Seele, unseren schwächlichen Körper überdauern zu lassen.« (Journal, 31. Januar 1860). 64 »Das [die Apollo-Kuppel, U. O.] ist eine sehr bedeutende Arbeit, die am schönsten Platz der Welt, neben schönen Kompositionen von Lebrun angebracht sein wird. Sie sehen, da kann man leicht ausgleiten, und man muß sich gut festhalten. Ich komme in der Arbeit jetzt voran. Dadurch ist natürlich die andere aufgeschoben, um so mehr, als mich der Winter aus St. Sulpice verjagt hätte. Diese letztere Arbeit macht mir großen Spaß: Was ich in der Kapelle ausführen muß, sind zwei große Sujets, die sich gegenüber liegen, mit einem Deckenbild und Ornamenten. Das eine Thema ist >Heliodor wird aus dem Tempel gejagtKampf Jakobs mit dem Engels und die Decke schließlich: Erzengel Michael besiegt den Bösenein Engel·, U. O.) rang mit ihm, bis das Morgengrauen aufzog. Als er sah, daß er ihn nicht übermochte, rührte er an seine Hüftpfanne, und Jaakobs Hüftpfanne verrenkte sich, wie er mit ihm rang. Dann sprach er: Entlasse mich, denn das Morgengrauen ist aufgezogen. Er aber sprach: Ich entlasse dich nicht, du habest mich denn gesegnet. Da sprach er zu ihm: Was ist dein Name? Und er sprach: Jaakob. Da sprach er: Nicht Jaakob werde dein Name gesprochen, sondern Jißrael, Fechter Gottes, denn du fichtst mit Gottheit und mit Menschheit und übermagst. Da fragte Jaakob, er sprach: Vermelde doch deinen Namen! Er aber sprach: Warum denn fragst du nach meinem Namen! Und er segnete ihn dort. Jaakob rief den Namen des Ortes: Pniel, Gottesantlitz, denn: Ich habe Gott gesehen, Antlitz zu Antlitz, und meine Seele ist errettet. Die Sonne strahlte ihm auf, als er an Pniel vorüber war, aber er hinkte an seiner Hüfte.« (Genesis 32, 23—32, zitiert nach: Die fünf Bücher der Weisung. Übersetzt von M. Buber u. F. Rosenzweig. — Heidelberg: Lambert 1981, 10. Auflaee). 67 »Mit wem werde ich über den unvergleichlichen Genius [gemeint ist Chopin, U. O.] sprechen, um den der Himmel die Erde beneidet hat [sie!], und von dem ich oft träume [sie!], nicht mehr imstande, ihn in dieser Welt zu sehen noch seine göttlichen Akkorde zu hören.« (Corresp., IV, S. 227; an den Grafen Grzymala am 7. Januar 1861).

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Jakobs über den Engel logisch impliziert. Dieser muß nämlich zu dem magisch wirkenden, nicht-empirischen Mittel des Schlages auf die Hüfte greifen, als es Tag wird. Offensichtlich kann er der hellen irdischen Wirklichkeit nicht standhalten, und: er ist nicht nur ein Abgesandter des Himmels, des Lichtes, sondern auch, in sich ambivalent und mehrdeutig, ein Abgesandter der Finsternis, der Nacht. Diese Ambivalenz muß Delacroix sehr entgegengekommen sein, verschlüsselt sie doch die für ihn kennzeichnende polare Komplementarität von Abgrund und Göttlichkeit, von Finsternis und Licht, von Erhaben-Vereinseitigt und Vollendet-Harmonisch.673 Der Kampf ist somit auch eine innere Auseinandersetzung zwischen der methodisch kontrollierten rationalen Gestaltung und dem Andrängenden der Imagination, zwischen Spontaneität und Disziplin. In dem Maße, in dem man diesen Kampf besteht, gelangt man — wiederum durch Polarität und Steigerung — zur Synthese des gelungenen Werkes. Natürlich ist andererseits, mit Bezug auf die überirdischen, magischen Kräfte, der Engel dem Jakob überlegen, aber im Verlaufe des Kampfes erweist sich diese Überlegenheit als eine, von der sich Jakob emanzipieren kann: seine Autonomie steigert sich in dem Maße, in dem er sich auf seine irdischen Kräfte verläßt und in ihrem Gebrauch die Abhängigkeit vom Magischen abstreift. Dieser relativen Überlegenheit in der neu gewonnenen Autonomie des Jakob trägt der Engel in gewisser Weise dadurch Rechnung, daß er um Entlassung bittet. Jakob stellt daraufhin eine Bedingung, und darin spiegelt sich die Widersprüchlichkeit der magischen Handlung des Engels als Ausfluß göttlicher Allmacht und Eingeständnis irdischer Schwäche Jakob gegenüber: Erst wenn er vom Engel gesegnet worden ist, und das heißt: wenn er sich für sein weiteres Handeln in eine Ungewisse Zukunft hinein des göttlichen Wohlwollens, also des Vertrauens darauf, die richtige Entscheidung treffen zu werden, gewiß sein kann, wird er den Engel entlassen. In der Stärke seiner Forderung erkennt Jakob zugleich die überlegene Kraft des göttlichen Segens an, aber indem er sie einfordern kann, gewinnt er, strukturell selbstwidersprüchlich, in der Anerkennung der Überlegenheit des Göttlichen zugleich ein weiteres Stück Unabhängigkeit davon, also Autonomie. Den Segen des Göttlichen als Belohnung für den bestandenen Bewährungskampf zu empfangen, bedeutet: die Kraft des Göttlichen, also die Schöpferkraft, die Kraft der Sublimierung, verinnerlicht zu haben. Die Transformation, die durch den bestandenen Kampf in der Bildungsgeschichte des Jakob und seines Stammes sich vollzieht, schlägt 67a

Diese polare Komplementarität hat Baudelaire bei Delacroix fasziniert. Er nimmt sie u. a. als »Spleen et Ideal« in den Fleurs du Mal auf.

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sich sinnfällig in der Unibenennung, als Bestandteil des göttlichen Segens, nieder. Erst jetzt, am Ende der letzten großen Bewährung, ist die Weissagung erfüllt, daß entgegen den üblichen Erbschaftsregelungen der Stamm des Jüngeren gegenüber dem des Älteren der Überlegene und Erwählte sein wird. Jakob heißt jetzt Israel und ist von nun an der erwählte, charismatische Führer des auserwählten Volkes Israel. Jakob empfindet diese Transformation als Errettung seiner Seele, sie wurde ihm zuteil im dialogischen, gleichrangigen Gegenüber zum Göttlichen. Als Zeichen dieser Erhöhung trägt er — in einer dialektischen Figur — das aus dem erhöhenden Kampf resultierende Stigma; auf das künstlerische Handeln Delacroix' übertragen: jenes Stigma des außerhalb der gesellschaftlichen Praxis stehenden autonomen Künstlers, der bei Baudelaire in der Metapher des Albatros erscheint: Hoch in den Lüften ist er ein überlegener Flieger, außerhalb seiner Sphäre, d. h. außerhalb der Produktion gelungener Werke, auf dem Schiff der Seeleute, d. h. der normalen Praxis, wirkt er nur grotesk, stigmatisiert, der Lächerlichkeit preisgegeben.68 »Jakobs Kampf mit dem Engel« ist in mehrfacher Hinsicht eine gültige Ausdrucksgestalt und ein Gleichnis des künstlerischen Handelns und der Lebensgeschichte von Delacroix. Einige Bezüge zwischen Inhalt des Bildes und Leben von Delacroix wurden schon angeführt. Die Verbindungslinien sollten noch deutlicher ausgezogen werden. 1. Dem Bewährungskampf des Jakob entspricht der heroische, lange vorbereitete, ebenso gefürchtete wie gesuchte Kampf um das Gelingen des Werkes, den Delacroix bezeichnenderweise anläßlich dieser Thematik in St. Sulpice führt. »Jakobs Kampf mit dem Engel« drückt in einer eigentümlichen Selbst-Reflexivität den Prozeß aus, der zu seiner Entstehung führte. 2. Das Gelingen dieses Kampfes erhöht Delacroix ganz konkret. Er streift während dieses Kampfes seine körperliche Schwäche ab, entwikkelt im Kampfe wieder jugendliche Kraft und kann standhalten. 68

»Der erste Stachel, der ihm, ganz jung [gemeint ist Lord Byron, U. O.], einen großen Ehrgeiz ins Herz setzte, war seine Mißbildung. Er hat selbst mit deutlicher Anspielung auf seine eigenen Gefühle gesagt: >Die Unförmigkeit ist gewagt (dreist). Es gehört zu ihrem Wesen, mit der Seele und dem Herzen die Menschheit zu überragen und sich der Menge gleich zu machen, ja sich sogar über sie zu stellen. In ihrem hinkenden Gang liegt ein Ansporn, der sie antreibt, den anderen zu überbieten, und in jenen Dingen, die allen frei stehen, strebt sie danach, das auszugleichen, was eine rabenmütterliche Natur in der Kindheit vorenthalten hat.< - Ich erinnere mich, noch ganz klein, etwas Ähnliches erfahren zu haben. Ich hielt mich sehr lange in mehreren Hinsichten für benachteiligt und mißraten. Meine dürre Erscheinung, mein gelber Teint, meine augenscheinliche Schwäche, bis hin zur Form meiner Nase; heute denke ich mit Lachen daran.« (CEuvres litteraires, I, S. 95).

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3. So wie Jakob im Kampf mit dem Engel dem Göttlichen standhält und es dadurch erringt, so leistet Delacroix in St. Sulpice einen letzten Kampf auf dem Wege der Sublimierung unter den Ansprüchen der autonomen Kunst und eignet sich mit dem Erfolg das Sublime an. — In den Wandbildern gelangt Delacroix zum Gipfel seiner koloristischen Errungenschaften in der Beherrschung des Reflexkolorits (vor allem durch Lasuren), der Farbendivision in der »flochetage« der kurzen Pinselhiebe, der Ausnutzung des Gesetzes der Komplementarität der Farben und der Erhöhung der inneren Leuchtkraft der Farbe durch die Technik, flüssiges Wachs nicht erst als Firnis, sondern schon als Malmittel zu benutzen. 4. So wie Jakob in diesem Kampf eine letzte große Bewährung bestand auf dem langen Wege der Ausbildung der auserwählten Führerschaft eines erwählten Volkes, so kann sich Delacroix am Ende seines Lebens, wenn er sich in die Ahnenreihe der idealen Gemeinschaft der Künstler einordnen will, sagen, daß er der auserwählte Führer ist, der die erwählte Gemeinschaft der autonomen Künstler in die Moderne geführt hat. Für sich selbst hat er damit erfüllt, was er sich mit dem Initialwerk der »Dante-Barke« im Gleichnis der »anderen Reise« des Dante kühn und risikovoll aufgegeben hatte: die Erkenntnis des Göttlichen, des Sublimen, so wie Jakob von sich sagen konnte, er habe Gott von Antlitz zu Antlitz gesehen. Er hat damit auch jenen Grad der gesteigerten Autonomie erreicht, den er in einer Reflexion über die Strukturlogik des künstlerischen Handelns Mozart, ihn damit gleichsam in die Gemeinschaft der autonomen Künstler nachträglich aufnehmend, in den Mund gelegt hatte.69 5. Der erfolgreiche Bewährungskampf ist zugleich eine Metapher für den erfolgreich bestandenen Kampf der Ablösung aus der Abhängigkeit von der verführerischen symbiotischen Beziehung, die unserer Deutung nach die biographische Anfangskonstellation der Entwicklung von Delacroix prägte. Jakob, als gläubiger Mensch vom Schöpfergotte abhängig und ihm ergeben, befreit sich im Kampfe aus dieser Symbiose (der Engel auf dem Bilde von St. Sulpice wirkt auf eine eigentümliche Weise geschlechtsambivalent) und tritt in den Dialog mit dem zuvor symbiotischen Partner ein. Delacroix erhöht in der gelungenen, sinnlich präsenten Exemplifizierung des Prinzips der autonomen Kunst zugleich seine eigene personale Autonomie durch den Abschluß der sublimierenden Reflexion seiner biographischen Anfangsbedingungen. 69

»Mozart hätte von sich selbst sagen können, und hätte es wahrscheinlich in einem weniger schwülstigen Stil getan: Ich bin der Meister meiner selbst ebenso wie des Universums. Auf den Wagen seiner Improvisation gestiegen und Apoll gleich, hält er auf dem Höhepunkt seiner Karriere ebenso wie an ihrem Anfang und an ihrem Ende die Zügel seiner Renner mit fester Hand und teilt überall das Licht aus.« (Journal, 26. Oktober 1853).

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Diese erstaunlichen Entsprechungen werden noch dichter, wenn man, was hier nur andeutungsweise geschehen kann, die Vorgeschichte des Kampfes mit dem Engel hinzunimmt. Er findet ja kurz vor der Rückkehr Jakobs ins Land seiner Väter und kurz vor der Versöhnung mit seinem Bruder Esau statt, den er 20 Jahre lang nicht gesehen hat und dem er, in einem von der Mutter eingeleiteten Täuschungsakt gegenüber dem sterbenden blinden Vater Isaak, auf nicht mehr rückgängig zu machende Weise den väterlichen Segen des Erstgeborenen geraubt hatte. Vor der Rache Esaus, des erbitterten, früher geborenen Zwillingsbruders, wollte Rebekka ihren Lieblingssohn retten und schickte ihn ins Land ihres Bruders Laban. Dort mußte Jakob durch Geschick, List und Zähigkeit sich mehrfach bewähren. Viel länger als erwartet, 20 Jahre, dauerte es, bis er ins Land der Väter zurückkehren konnte — mit der Frau, die er wünschte, und den Herden, die er zu seiner Unabhängigkeit und, damit die ursprüngliche Weissagung sich erfüllte, erwerben mußte. Die Analogie zu Delacroix' Biographie liegt auf der Hand: So wie Esau, der Erstgeborene, der Kräftigere, Wildere, als Jäger Umherstreifende der eigentliche Erbe der Väter war, so schienen ursprünglich in der Familie Delacroix die körperlich gesünderen, die militärische Laufbahn einschlagenden Brüder dazu prädestiniert, die Familientradition der republikanisch-revolutionären Elite fortzusetzen. Aber es war am Ende das wie Jakob schwächliche Muttersöhnchen Eugene, dem ganz entgegen der Tradition, gewissermaßen mit der »List der Vernunft« des Weltgeistes, die »charismatische Führerschaft« oblag. Wichtiger noch als diese Entsprechung ist die Parallele hinsichtlich des allgemeinen Modells, das dem Geschehen der Jakobsgeschichte zugrundeliegt. Am Anfang steht eine göttliche Weissagung70: Entgegen der Tradition wird der Ältere dem Jüngeren dienen und das Volk des Jüngeren wird dem anderen überlegen sein, d. h. der jüngere wird das auserwählte Volk führen. Diese Weissagung wird zunächst durch eine verwerfliche List erfüllt. Damit das Verwerfliche getilgt wird, muß Jakob in einer langen Sequenz von Bewährungen durch Klugheit, Disziplin und Ausdauer das Vorgegebene mit außergewöhnlichen Eigenleistungen füllen, zuletzt im Kampfe mit dem Engel. Seine charismatischen 70 »Es war auch ein Verrückter, der mein Horoskop gezogen hat: Ein Kindermädchen führte mich auf einem Spaziergang an der Hand, als er uns anhielt. Sie versucht, ihm auszuweichen, aber der Verrückte hält sie zurück, prüft mich wiederholte Male aufmerksam Gesichtszug für Gesichtszug und sagt dann: >Dieses Kind wird ein berühmter Mann werden; aber sein Leben wird eines der mühevollsten und geplagtesten sein, das man sich vorstellen kann, ständig Widersprüchen ausgesetzt^ Sie sehen es ja: Ich arbeite und ich werde immer noch abgelehnt. So war es also doch die Vorherbestimmtheit.« (Silvestre, 1856, S. 60 f.).

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Führerqualitäten sind also nicht das Ergebnis magischer Ausstattung, sondern zäher, Autonomie erzeugender persönlicher Leistungen. Was Jakob leistet, ist letztlich nichts anderes als die Erfüllung des Grundmodells von Autonomie: die Selbsterzeugung von Strukturen in der schöpferischen, Neues erzeugenden Leistung. Damit ist der Jakob des Alten Testamentes zugleich ein Modell des allgemeinen Prozesses der gesellschaftlichen Rationalisierung, der am Ende zur Moderne führt. Delacroix' aus künstlerischer Produktion bestehende Biographie fügt sich diesem Modell nahtlos ein, und auch das kommt im Werk von St. Sulpice zum Ausdruck: Der Weissagung der Überlegenheit und ihrer vorläufigen Erfüllung durch etwas, das der Autonomie widerspricht, entspricht die Situation des überfürsorglich verwöhnten, kränklichen Kindes, das als Nachzügler ganz ohne eigenes Verdienst die Ehre der Familie wiederherstellt. Diese vorgegebene, ambivalente Herausgehobenheit muß durch Eigenleistung gefüllt werden. Erst im Kampf um diese Eigenleistung kann die Ablösung aus der Symbiose, der Erwerb der Autonomie gelingen und zugleich die Weissagung, die Ursprungsprophetie der Verwöhnung, sich wirklich erfüllen. Diese Eigenleistung hat Delacroix überreich erbracht und entsprechend hat er die ursprüngliche Prophezeiung substantiell auf seiner »anderen Reise« erfüllt — nicht nur durch das überwältigende Werk, sondern auch durch die Strukturlogik des autonomen künstlerischen Handelns, die sich in ihm exemplarisch als ein allgemeines Modell der charismatisch-künstlerischen Produktion von Neuem, Unvorhersehbarem ausgebildet hat.71 Delacroix realisiert so für die bildende Kunst exemplarisch die universalgeschichtliche Logik der Rationalisierung, wie sie auch in der Figur des Jakob modeilhaft vorliegt: Neues, Altes Überwindendes wird dadurch produziert, daß ein prophetisches Versprechen, eine Weissagung oder ein fester Bewährungsglaube — der tatsächlichen Entwicklung weit vorauseilend — die Verpflichtung hoher Ansprüche setzen und auf die Dauer durch außergewöhnliche Eigenleistungen erfüllt werden müssen, die widrigen Umständen mit Disziplin und Beharrlichkeit abgerungen werden. Aber Disziplin allein treibt diesen innovierenden Ratio71

»Die Sehnsucht nach Ruhm ist ein erhabener Instinkt, der nur denen gegeben ist, die auch dazu ausersehen sind, Ruhm zu erlangen. Das Streben nach einer leeren Reputation, die nur der Eitelkeit schmeichelt, ist etwas ganz anderes. Die Begeisterung nährt sich selbst. Zweifellos vermag das Votum der Menge zu schmeicheln, aber es gewährt nicht jene göttliche Trunkenheit, die bei den großen Seelen ihre Quelle im sicheren Gefühl ihrer eigenen Kraft hat. Ganz sicher haben alle großen Menschen ihre Herrschaft (ihr Reich) vorausgeahnt und im voraus innerlich den Platz eingenommen, den ihnen die Nachwelt erst später wirklich eingeräumt hat. Wie sollte man denn anders diese Kühnheit in der Erfindung erklären können.« (CEuvres litteraires, I, S. 123). 53

nalisierungsprozeß nicht voran. Was dazu in widersprüchlicher Spannung steht, das rauschhafte Vorgefühl und die beseligende Vorahnung der Größe, die sich in der bedingungslosen Hingabe an die Sache selbst einstellen, der göttliche Rausch, dem auch durch Kirchenmusik und Rotwein nachgeholfen werden kann72, gehört als Komplement notwendig dazu: die widersprüchliche Einheit ist — disziplinierte Hemmungslosigkeit. Am Ende seiner Lebensreise hat Delacroix tatsächlich die Gewißheit, an das Erhabene, das Göttliche herangereicht zu haben, dadurch, daß er sich in St. Sulpice noch einmal radikal der Möglichkeit des Scheiterns ausgesetzt und diese letzte Bewährung bestanden, ein gesteigertes Gelingen erreicht hat. »Gott ist in uns«, kann er danach sagen73; und das ist nicht etwa das Bekenntnis eines Alternden, der nach einer stürmischen und sündigen Jugend pharisäerhaft in den Schoß einer früher sardanapalesk verlästerten Gottgläubigkeit und offiziellen Religiosität zurückgekehrt ist, sondern viel mehr die Erfahrungssumme des konsequenten Künstlers, der wie Dante in der Sublimierungsreise der der Wahrhaftigkeit der Selbsterfahrung gehorchenden künstlerischen Produktion an sein Ziel gekommen ist und nun feststellen kann, daß die in der gesteigerten Kunstproduktion sich eröffnende sinnliche Erkenntnis zugleich 72

»Wie kommt es, daß bestimmte Menschen, und ich gehöre zu ihnen, in einer Halbtrunkenheit eine plötzliche Hellsichtigkeit erreichen, die in vielen Fällen jener ihres ruhigen Zustandes weit überlegen ist? Wenn ich in einem solchen Zustand eine Seite wiederlese, an der ich vorher nichts auszusetzen hatte, sehe ich darin sofort, ohne Verzögerung, unpassende Worte, schlechte Wendungen, und ich verbessere sie mit einer extremen Leichtigkeit. Bei einem Bild dasselbe: die Unebenheiten, die Ungeschicklichkeiten springen mir sofort ins Auge; ich beurteile meine Malerei dann, als ob ich ein anderer als ich selbst wäre. — So auch in der Kindheit, in der die Organe, so scheint es, noch unvollkommen sind; so auch beim Opiumesser, der für den Menschen mit kaltem Blut ein wahrer Verrückter ist, und so schließlich auch bei dem, der mehr als gewöhnlich zu Mittag gegessen hat und den wir in einer wichtigen Angelegenheit nicht um Rat fragen würden.« (Journal, Supplement, 22. Mai nach 1846, S. 877). 73 »Gott ist in uns: es ist diese innere Präsenz, die uns das Schöne bewundern läßt, die uns erfreut, wenn wir Gutes getan haben, und uns darüber tröstet, nicht das (äußere Glück) der Bösartigen zu teilen. Sie ist es zweifellos, die in den genialen Menschen die Inspiration entstehen läßt und die sie beim Anblick ihrer eigenen Produktionen in Wallung bringt. Es gibt Menschen von Tugend ebenso wie Menschen mit Genie; die einen wie die anderen werden von Gott inspiriert und begünstigt. [...] Es gibt also vom ewigen Wesen Bevorzugte. Das Unglück, das sich oft, und zu oft, mit diesen großen Herzen zu verbinden scheint, läßt sie glücklicherweise nicht auf ihrer kurzen Fahrt untergehen: Der Anblick der Bösen, vollgestopft mit den Geschenken des Glücks, darf sie keineswegs mutlos werden lassen; was sage ich? sie werden oft dadurch getröstet, daß sie die Sorgen, die Schrecken sehen, die die bösen Wesen belagern, ihnen ihre Reichtümer vergällen. Sie erleben häufig deren Seelenqual, noch in diesem Leben. Ihnen ist die innere Befriedigung, der göttlichen Inspiration zu gehorchen, eine hinreichende Belohnung [...].« (Journal, 12. Oktober 1862). 54

die Verinnerlichung des Göttlichen, der Logik der charismatischen Schöpferkraft bedeutet. So ist der Ausruf »Gott ist in uns«, der hier und da als Beweis einer späten inneren Bekehrung gelesen worden ist, gerade das Gegenteil frommer und demütiger Gottgläubigkeit: Ausdruck einer sich mit Delacroix in der Malerei vollendenden Säkularisierung der Religion, wie sie auf allen anderen Gebieten der Modernisierung sich gleichermaßen vollzieht. Damit steht die im Alter intensiver werdende Bearbeitung religiöser Stoffe keinesfalls im Widerspruch, denn für Delacroix enthalten sie jene universellen Gehalte authentischen Lebens, wie er sie in der Literatur, der Mythologie und den Äußerungen fremder Kulturen ebenso erkennen kann. Mit sicherer Intuition hat er in der jüdisch-christlichen Religionstradition die Basis des universalgeschichtlichen Prozesses der Rationalisierung erkannt, aus dem die Autonomisierung des Individuums und auch der Kunst hervorgeht. Daß ausgerechnet in einer Kirche das Werk entsteht, das Delacroix zu diesem in sich rationalen Endpunkt seiner Entwicklung bringt und in dem zugleich als Ausweis seiner charismatischen Führerschaft eine bedeutende Entwicklungsstufe der bildenden Kunst überhaupt markiert wird, ist nur scheinbar paradox: es ist mit Notwendigkeit Ausdruck der Dialektik des Rationalisierungsprozesses selbst, der immer eine religiöse Basis hatte. Zugleich signalisiert die Zurückgezogenheit des großen Alterswerkes in der Kirche von St. Sulpice, im Kontrast zu den großen repräsentativen Wanddekorationen vorher, den Graben, der inzwischen aufgebrochen ist zwischen der autonomen Kunst und der Kulturindustrie als dem degenerierten Bastard derselben allgemeinen Entwicklung. Im »Jakobskampf« von St. Sulpice liegt nicht ein Endpunkt des Gelingens in Gestalt einer blutleeren, bewegungslosen Harmonie vor. In der Formel der künstlerischen Innovation, von der die Rede war, weist das Werk zugleich über sich selbst hinaus, indem es die widersprüchliche Einheit von Vollendung, die exemplarisch in jedem gelungenen Werk aufscheint, und Unerreichbarkeit des Ideals, in dessen Namen der Künstler »dient« und dem er trotz der Unerreichbarkeit nachstreben muß, anschaulich macht. Der Jakobskampf, so wie Delacroix ihn ins Bild setzt, ist selbst beides zugleich: Gleichgewicht und Schwanken, Lösung und Auflösung, Stillstand und Bewegung. In zweifacher Hinsicht liegt diese Dialektik der Bewegung vor: Zum einen war für Delacroix' eigenen Kampf in St. Sulpice der Ausgang ungewiß. Indem er den Kampf für ein großes Werk, das ihn an die Seite der alten Meister der Freskenmalerei stellen sollte, noch einmal aufnahm, stellte er das Vorausgehende noch einmal in Frage.74 74 »In der Morgenröte einer Begabung gibt es etwas zugleich Naives und Kühnes, das an die Gnaden der Kindheit erinnert und auch an dessen glückliche

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Im Inhalt des Bildes stellt sich Jakob ebenfalls einem Ungewissen Kampf. Der Mann bzw. Engel, der ihm in der Finsternis der Nacht begegnete, gab sich ja nicht zu erkennen. Jakob konnte nicht von vornherein wissen, daß er sich mit dem am Ende den Segen spendenden Vertreter der Göttlichkeit auseinanderzusetzen hatte. Ebensogut konnte es sich um einen Dämon der Finsternis handeln. Der Kampf mußte also in der Erwartung der Möglichkeit des Schlimmsten furchtlos aufgenommen werden. Erst dadurch konnte das Göttliche in Erfahrung gebracht und angeeignet werden. Das heißt aber: dieser Kampf ist niemals zuende, er muß immer weiter geführt werden, nur dadurch erreicht das irdische Leben in der Leistung für das Allgemeine, die Gesellschaft und die Geschichte im übertragenen Sinne Unsterblichkeit.

Schlußbetrachtung: Delacroix' Biographieverlauf als Gesetzlichkeit einer Strukturtransformation In dieser Gleichzeitigkeit von Öffnung und Schließung schafft sich das dramatische, nach der Logik des offenen Kampfes verlaufende Künstlerleben Delacroix' gleichsam ein gelungenes Schlußbild, in dem sich das latente Programm der »Dante-Barke« erfüllt. Zwischen Anfangs- und Endstation der künstlerischen Biographie im engeren Sinne vollzieht sich die Entwicklung konsequent von der äußersten, zu stürmischem Suchen antreibenden Spannung von Leidenschaft und Disziplin, Aktualität und Erinnerung am Anfang über jene von Perfektion und einseitiger Erhabenheit, Skizze und ausgearbeitetem Werk bis zur Synthese in St. Sulpice. Diese Entwicklung ist gepaart mit zunehmendem Rückzug auf sich selbst, auf die Tradition und aus dem Treiben der zeitgenössischen Gesellschaft heraus.75 Marokko war die erste deutlich Sorglosigkeit über Konventionen, von denen die fertigen Menschen beherrscht werden. Deshalb ist die Kühnheit um so erstaunlicher, die die berühmten Meister in einer fortgeschrittenen Phase ihrer Laufbahn entfalten. Kühn zu sein, wenn man eine Vergangenheit hat, die in Frage zu stellen ist, ist das größte Zeichen von75 Stärke.« (Journal, 1. März 1859). »Die Zerstreuungen hier [Delacroix hält sich in Ante (Marne), der Heimat seines Vaters, auf, U. O.] machen aus mir einen anderen Menschen: Ich denke kaum an die Malerei. Dafür freue ich mich an allem, was ich hier sehe, ich bin hier auf dem wirklichen Lande. Champrosay ist ein Dorf aus der komischen Oper: man sieht dort nur Eleganz oder Bauern, die aussehen, als ob sie sich in der Kulisse zurecht gemacht haben; selbst die Natur erscheint dort geschminkt; ich kann all diese von den Parisern arrangierten Gärtchen und Häuschen nicht ausstehen [...]. Hier, mitten auf dem Lande, sehe ich wirkliche Männer, Frauen, Kühe; all das berührt mich zart und vermittelt mir Empfindungen, die den Kleinbürgern und den Künstlern der Stadt unbekannt sind [...].« (Corresp., IV, S. 336; an Duchesse Colonna de Castiglione am 23. September 1862). 56

markierte Station dieses Rückzugs, dem die Aufrichtung einer inneren, authentischen Welt proportional entspricht, die schwere Krankheit von 1842 eine weitere, die beunruhigende Erfahrung der Revolution von 1848, die seine innere geistige Beteiligung mehr forderte, als er sich zugestehen wollte, und der er die Serie der Blumenbilder entgegensetzte, war eine dritte deutliche, und die Absorption in St. Sulpice schließlich die letzte Markierung in diesem kontinuierlichen Prozeß, dessen Entwicklungsgesetzlichkeit biographisch schon in der Logik jenes künstlerischen Handelns vorlag, das in der »Dante-Barke« sich objektivierte. So bedingen sich in Delacroix die Gleichförmigkeit der von Anfang an gegebenen Strukturlogik autonomen künstlerischen Handelns und das daraus angetriebene Fortschreiten und Verändern einander. Das jeweils Weiterführende ist das Ergebnis der Reflexion des Vorangehenden. Und da das Gesetz der Reflexion im Vorangehenden grundsätzlich schon wirkte, ist sein Ergebnis im Nachfolgenden eine Selbst-Steigerung. Die Goetheschen Eigenschaften der Metamorphose: Polarisierung und Steigerung, lassen sich in der Sache bei Delacroix gleichermaßen nachweisen. Dieser gestaltförmige Transformationsprozeß führt zu zunehmender Verdichtung, so als ob jedes nachfolgende Einzelwerk, in dem Maße, in dem es an dramatischer Spannungsausprägung verliert, an Masse und Substanz gewinnt. Das Tagebuch dokumentiert diesen Prozeß besonders eindrücklich. Von vornherein als Reflexion des künstlerischen Handelns im Medium der bildenden Kunst und als Ausdruck künstlerischen Handelns in der Ausdrucksmaterialität der Sprache angelegt, arbeitet es dieselben Grundthemen immer wieder, mit zunehmender Verdichtung durch. 1857, als massiv die Ausarbeitung der Stichwörter für das Dictionnaire einsetzt, nimmt Delacroix ständig Bezug auf vorausgehende Tageseintragungen und arbeitet sie bewußt ein — äußerer Ausdruck reflektierender Bewegung. Hatte er früher sich die Spontaneität des sprachlichen Ausdrucks, den er nur bei Vermeidung der diskursiven Überleitungen und logischen Verknüpfungen einer Abhandlung oder welcher Form eines in sich geschlossenen sprachlichen Werkes auch immer erhalten zu können glaubte, in der von Tag zu Tag unverbunden durchgeführten, sich selbst genügsamen Eintragung gesichert, war er also diachronisch verfahren, so benutzt er jetzt zunehmend das zeitlose lexikalische Stichwort als organisierendes, die Lebendigkeit und Unmittelbarkeit des Denkens sicherndes Element formal wie eine Tageseintragung: immer wenn ihm zu einem bestimmten Stichwort etwas einfällt, gleich an welchem Tage, dann fügt er den Gedanken dem entsprechenden Stichwort hinzu. Die zeitliche Gliederung des Tagebuches wird so durchbrochen, aber die Unmittelbarkeit des sprachlichen Ausdrucks bleibt erhalten. Zwar hat Delacroix dieses Prinzip im späteren Tagebuch nicht streng durchgehalten, aber dennoch läßt sich daran ablesen, wie sein Denken 57

in sich reflexiv verfährt und die identischen Grundgedanken und elementaren Strukturen immer wieder aufnimmt und auf neue Weise durcharbeitet, dieselben Themen auf immer neuen, sich erweiternden Stufen variiert, von der spannungsvollen Dynamik des Beginns zur in sich ruhenden Gestalt des Wachsens selbst gelangt, die Diachronie des anfänglichen spontanen Geschehens in die Synchronie der beherrschten Gesetzlichkeit überführt.

Abgekürzt zitierte Literatur Baudelaire: (Euvres completes = Ch. Baudelaire: (Euvres completes. Tome I et II. Ed. par C. Pichois. — Paris: Gallimard 1975 (Bibliotheque de la Pleiade). Corresp. = Correspondance generale de Eugene Delacroix, publ. par A. Joubin. 5 Bde. - Paris: Plon 1935-38. Göttliche Komödie = Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. — München dtv 2 1982 (übersetzt v. W. G. Hertz). Journal = E. Delacroix: journal, 1822—1863. Ed. rev. par R. La bo u rette. Paris: Plon 1980. Lettres intimes — E. Delacroix: Lettres intimes. Correspondance inedite, publ. par A. Dupont. — Paris: Gallimard 51954. (Euvres litteraires = E. Delacroix: (Euvres litteraires. Tome I et II. - Paris: Bibliotheque Dionysienne61923. Silvestre, 1856 = Th. Silvestre: Histoire des artistes vivants. 3 3 $ et etrangers. - Paris: E. Blanchard o. J. [1856].

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Georg Büchners »Fatalismus« als Voraussetzung seiner Revolutionsstrategie Von Terence M. Holmes (Swansea)

Eines der hartnäckigsten und umstrittensten Probleme der Büchner-Forschung ist wohl die Frage des Verhältnisses — oder des Mißverhältnisses — zwischen dem sogenannten »Fatalismus«-Brief und dem gleich darauf erfolgten Beginn der politischen Tätigkeit Büchners. In jenem Brief vom März 1834 erklärt Büchner seiner Braut gegenüber, er habe sich nach seinem Studium der Französischen Revolution »wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte« gefühlt; den erschütternden Gedanken versucht er sich folgendermaßen zurechtzulegen: »Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Aergerniß kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Könnte ich aber dies kalte und gemarterte Herz an deine Brust legen!« 1

Diese düsteren, hoffnungslos anmutenden Worte fallen aber zeitlich fast genau mit dem Anfang von Büchners politischem Aktivismus zusammen, mit der Gründung seiner konspirativen Gesellschaft der Menschenrechte< und dem Entwurf des Hessischen Landboten. Vielleicht war es sogar in derselben Woche, als ihm seine Lektüre über die Französische Revolution diesen Einblick in die grausame Zwangsläufigkeit des historischen Geschehens eröffnete, daß er sich ernstlich und tatkräftig daran machte, eine deutsche Revolution vorzubereiten.2 Diesen anscheinend äußerst inkonsequenten Übergang bezeichnet Maurice B. Benn als »the

1 HA II, S. 425 f. 2 T. M. Mayer: Büchner-Chronik. - In: Gß ////, S. 372-374.

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most extraordinary paradox in Büchner's life« 3 . Zunächst möchte ich einige der Theorien diskutieren, die von der Forschung zur Erklärung des vermeintlichen Widerspruchs angeboten worden sind. Im Anschluß daran werde ich versuchen, eine theoretische Kongruenz, eine gedankliche Kontinuität zwischen dem »Fatalismus«-Brief und dem politischen Handeln aufzuzeigen; herauszuarbeiten, wie das im Brief angelegte Geschichtsmodell zur Bestimmung der politischen Verfahrensweise Büchners wesentlich beigetragen hat. Ich werde den »Fatalismus«-Brief als den eigentlichen Schlüssel zum Verständnis der Zielstrebigkeit betrachten, mit der Büchner von diesem Augenblick an seine besondere revolutionäre Strategie verfolgte. Benn vertritt die Ansicht, das »Fatalismus«-Erlebnis habe deshalb die Hoffnungen Büchners nicht zerstört, weil dieser glaubte, der »Fatalismus der Geschichte« könne sich unter Umständen auch positiv auswirken. Büchner habe einfach nicht gewußt, ob die deutsche Revolution erfolgreich oder tragisch verlaufen würde, und habe deswegen unschlüssig zwischen Hoffnung und Verzweiflung geschwankt — »wavered uncertainly between hope and despair«4. Er hätte sich also in der Praxis nach seiner Hoffnung auf die Revolution gerichtet, ohne aber seine ebenso stark empfundene Verzweiflung an der Revolution überwinden zu können. Die Erörterung Benns läuft demnach nur auf die Zuspitzung des Paradoxons hinaus. Auch Heinz Wetzel betont ein >heftiges Schwanken Büchners zwischen unvereinbaren Positionen, sieht das aber als Reflex des unmittelbar bevorstehenden Engagements. Büchner habe vor seinem eigenen Vorhaben gezweifelt und gezaudert, »weil bei der Annäherung an eine bestimmte Position deren Mängel sichtbarer hervortreten« 5 . Dies beantwortet aber nicht die Frage, warum Büchner angesichts solcher Zweifel seinen Entschluß nicht rückgängig machte. Die »Mängel«, die da hervortraten, waren nämlich alles andere als nebensächlich. Büchner bedrängte, um Wetzel selbst zu zitieren, kein »vorübergehendes, schnell überwundenes Problem«6, sondern »eine umfassende existentielle Krise«7, die »ausdrücklich aus der Einsicht in den Determinismus der historischen Abläufe abgeleitet« war8. Wenn Büchner in der Tat von dem Gedanken überwältigt war, daß der blutige und chaotische Gang der Revolution absolut unvermeidbar sei, dann handelt es sich nicht mehr um bloße »Mängel« einer »bestimmte[n] Position«, um lediglich retardierende Skrupel hinsichtlich bestimmter politischer Ab3 4 5 6 7 8 60

Benn, S. 14. Ebd., S. 18-19. Ein Büchnerbild der siebziger Jahre. - In: Gß ///, S. 257. Ebd. Ebd., S. 255. Ebd., S. 254.

sichten oder Methoden; es handelt sich vielmehr um eine absolute Gewißheit, die jeden revolutionären Optimismus vernichten mußte. Wetzel zufolge hat Büchner versucht, eine Revolution in gerade dem Augenblick zu entfesseln, als er von deren notwendig tragischem Ausgang überzeugt war. Wenn man die Sache von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, so wird es schwer, dem Urteil Werner R. Lehmanns zu widerstehen, daß Büchners Arbeit am Hessischen Landboten »eine heroisch glaubenslose Anstrengung, der Versuch einer kritischen Selbstverleugnung« war, »die sich vorbehaltlos dem Stil- und Denkgesetz, dem Gattungszwang der Agitatorik« fügte.9 Mit anderen Worten, das politische Engagement Büchners zeugt von einer monströsen Unverantwortlichkeit seinen eigenen tiefsten Einsichten gegenüber. Es sieht aus, als habe er versucht, durch ein fieberhaftes politisches Treiben seine authentische Erkenntnis der Aussichtslosigkeit gerade eines solchen Unternehmens zu übertäuben. Diese Interpretation sollte man nicht deshalb verwerfen, weil sie für Büchner so ungünstig ausfällt. Wenn aber Büchners »Fatalismus«-Begriff selbst anders zu deuten wäre, so käme man vielleicht zu einer anderen Auffassung von seiner Reaktion auf dieses Erlebnis. Eben das versucht Thomas Michael Mayer, indem er Büchners »Fatalismus« dem von den französischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts verwendeten Begriff der »fatalite« oder des »fatalisme« gleichsetzt, der eine Notwendigkeit bezeichnet, die nicht metaphysisch gegeben wäre, sondern aus der Verkettung von Ursachen und Wirkungen im materiellen Leben hervorgeht.10 Mayer weist darauf hin, daß die von Büchner zum Studium der Französischen Revolution benutzten Historiker Thiers und Mignet als Repräsentanten einer »ecole fataliste« galten, weil sie das Ergebnis der Revolution, den Sieg der Bourgeoisie, in diesem Sinn als fatalistisch darstellten.'' War diese Auffassung der Französischen Revolution für bürgerliche Ideologen wie Thiers und Mignet durchaus befriedigend, so wirkte sie um so deprimierender auf die Demokraten, besonders da dieselbe »fatalite« den Verlauf der neuen französischen Revolution vom Jahre 1830 zu beherrschen schien, insofern die Hoffnungen des Volkes nach dieser von ihm allein vollbrachten Umwälzung vereitelt wurden und die Bourgeoisie den Sieg davontrug. Mayer zitiert aus der Rede Blanquis vom 2. Februar 1832, um diesen Zusammenhang zu belegen:

9 Prolegomena zu einer historisch-kritischen Büchner-Ausgabe. — In: Gratulatio. Festschrift für Christian Wegner. —Hamburg 1963, S. 210. 10 Büchner und Weidig — Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. — In: Gß ////, S. 86-88. 11 Ebd., S. 89 f.

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»Par quelle fatalite, cette revolution faite par le peuple seul et qui devait marquer la fin du regime exclusif de la bourgeoisie ainsi que Pavenement des interets et de la puissance populaire, n'a-t-elle eu d'autre resultat que d'etablir le despotisme de la classe moyenne, d'aggraver la misere des ouvriers et des paysans et de plonger la France un peu plus avant dans la boue?« 12

Das sind die Worte, die nach Ansicht Mayers »die authentische Parallele zu diesem Kern des >Fatalismuswie zernichtet< primär unter eben diesem >gräßlichen Fatalismus der Geschichte< «,13 Eine solche Deutung ist aber auch nicht gerade geeignet, die Kluft zwischen »Fatalismus« und Engagement zu überbrükken. Nur der Inhalt dieser Diskontinuität ist dadurch geändert, die Entwicklung selbst bleibt nach wie vor problematisch. Mayers These impliziert nämlich, daß Büchner eine Revolution in Gang -zu setzen trachtete, die mit fatalistischer Notwendigkeit zur Diktatur der Bourgeoisie hätte führen müssen. Wenn das »Fatalismus«-Modell nur auf den Sieg der Bourgeoisie anzuwenden war, dann konnte Büchner keineswegs daraus Impulse für seine eigene politische Richtung gewinnen. Der »despotisme de la classe moyenne« wäre der einzige sichere, vom historischen »Fatalismus« verbürgte Ausgang der Revolution; die Aussicht auf eine demokratische Weiterentwicklung über diesen Punkt hinaus wäre doch eine bloß voluntaristische Perspektive im Vergleich mit dem »unabwendbare[n]Le bronze qui doit former la statue de la liberte est en pleine fusion. Si nous manquons le moment de le couler, it nous devorera tous!< « (S. 97) - Dantons Tod: Replik 32. » V e r g n i a u d . II Ics devorera! — Et notre gloire, ä nous, sera d'avoir mieux aime mourir leurs victimes que leurs complices.« (S. 97) — » D a n t o n . Ich will lieber guillotinirt werden, als guilloriniren Insscn.« (Replik 221). » V e r g n i a u d . La revolution est comme Saturne. Elle devorera tous ses enfants.« (S. 76) - Danton: Replik 158. » V e r g n i a u d . [...] Les Peliades, qui ecorgerent leur vieux pere pour le rajeunir, etoient d'habiles republicaines. Elles savoient le secret des revolutions.« Es bleibt nach Vergniaud nur der Tod (S. 85). Wenn man diese Stelle mit der falschen Anwendung des Bildes durch Büchners St. Just vergleicht (Replik 370), scheint mir Büchners Ironie deutlich zu werden. » V e r g n i a u d . |.. ,| Quand la statue de Pygmalion füt animee d'un souffle de Venus, les hommes tomberent ä ses pieds et reconnurent qu'elle etoit belle; mais Rousseau meme ne lui a prete que le sentiment confus d'une personnalite sterile [...] et la mythologie Pa si bicn senti qu'elle n'a pas daigne la rendre mere.« (S. 82) — Danton: Replik 285. An mehreren Stellen wird der Henker Samson genannt (S. 19, 59, 159) wie in Dantons Tod. Saint-Just wird als Vertreter von Sparta, Robespierre als Diktator dargestellt: »pour Saint-Just, un monde organise comme la petite et grossiere municipalite de Sparte (...], une dictature pour Robespierre« (S. 118). Das Ideal der Girondisten ist dagegen die Poesie: »La divinite qui preside aux creations sociales [...], c'est la nymphe du poete et la fee du romancier.« (S. 83 f.). 69 »Les Girondins etoient les grandes figures historiques de mon enfance, les heros de la premiere tragedie qui eüt frappe mes regards. [...] Je les lisois, je les relisois, je les

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Was die Wahl der dargestellten Situation betrifft, so scheint mir Nodiers Konzept näher mit dem von Büchner als mit dem Vitets zusammenzuhängen, indem sowohl Nodier wie Büchner eine Situation wählen, die wegen der Nähe der Hinrichtung einen stark emotionalen Wert hat.70 In beiden Texten liegt der Akzent auf einer Episode der Revolutionsgeschichte, wo die Würfel schon gefallen sind, wo der Tod unausweichlich ist. Nodier schreibt: »II n'y avoit pour eux ni appel en cassation ni recours en grace; il n'y avoit pour eux ni combat a soutenir ni victoire ä rever; il n'y avoit que la guillotine et le bourreau.« 70a Es ist, als ob Büchner die Idee dieser Situation noch dadurch verstärkt hätte, daß er als Helden den passiven Danton wählte, der keine Lust mehr hat, für sein Leben zu kämpfen. Danton trägt übrigens offensichtlich Züge von Vergniaud, den Nodier im Anhang zum Banquet des Girondins in einer Abhandlung über die Eloquence revolutionnaire auf folgende Weise schildert: »Vergniaud s'est trouve rarement sur le terrain de la polemique. Insouciant par caractere, et peut-etre par sagesse, il aima mieux faire le sacrifice de sä vie que de la disputer. [...] Au mois cPavril 1793 Robespierre Paccuse de moderation, et la moderation est un grief qui empörte la peine de mort.« 71 Es folgt dann die Verteidigungsrede von Vergniaud, die Nodier kommentiert: »Le discours, d'ailleurs peu remarquable, trahit Pabattement de Vergniaud, mur avant le temps pour la mort, ä force d'apathie et de

apprenois par coeur. ( . . . ) je m'accoutumai ä vivre en imagination au milieu d'cux, ä les observer dans le repos de la solitude, ä les ecouter dans la chaleur des debats. Je finis par me trouver quelquefois plus savant sur leur existence interieure que la memoire de leurs propres enfants, dont plusieurs sont devenus mes amis.« (Die Girondisten waren die großen historischen Figuren meiner Kindheit, die Helden der ersten Tragödie, die ich sah. [.. .1 Ich las und las sie wieder und lernte sie auswendig. [...] ich gewöhnte mich daran, in meiner Phantasie unter ihnen zu leben, sie in der Ruhe ihrer Einsamkeit zu beobachten, ihnen bei den hitzigen Debatten zuzuhören. Ich war manchmal über ihr Innenleben besser informiert als das Gedächtnis ihrer eigenen Kinder, von denen mehrere meine Freunde geworden sind.) Le dernier banquet, S. 16 f. 70 Diese Wahl der Situation wird besonders deutlich, wenn man sie mit dem Robespierre von Anicet-Bourgeois und Francis vergleicht; siehe dazu unten. 70a (Es gab für sie weder die Möglichkeit der Appellation noch der Begnadigung; es gab keinen Kampf und keinen Sieg mehr; es gab nur noch das Schafott und den Henker.) Le dernier banquet, S. 12. 71 (Vergniaud begab sich selten aufs Feld der Polemik. Seinem Charakter nach unbesorgt, vielleicht auch aus Weisheit, zog er es vor, sein Leben zu opfern statt darum zu streiten, f . . . ] Im April 1793 klagt ihn Robespierre der Mäßigung an, und dies ist ein Vergehen, welches die Todesstrafe nach sich zieht.) Le dernier banquet, S. 233.

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paresse.«72 Sein »caractere dominant« sei wie derjenige aller Genies, die einer Epoche der Dekadenz oder der Erneuerung angehören, jener einer »melancolie douce et timide, qui n'aspire qu'ä la solitude reveuse du desert, ou au sommeil tranquille du tombeau.« 73 »C'est une creature de volupte, de dedain et d'oubli, qui a Pinstinct du courage, et qui n'en a pas Pelan. [...] malheureusement, on peut dire de lui ce que SaintJust disoit de Danton: Vergniaud dormoit.«7*

Diese Charakterzüge passen alle auf Danton, wobei Büchner sie breit darstellt und für sein dramaturgisches Konzept nutzt, was bei Nodier keineswegs der Fall ist. Nodier bewundert die rhetorischen Fähigkeiten von Vergniaud: »Voilä ce que Vergniaud affectoit pardessus toutes choses: les cornparaisons tirees des scenes naturelles qui s'adressent ä tout le monde, et les allusions aux souvenirs consacrees de la mythologie et de l'histoire.«75 An einer ändern Stelle hebt er Vergniauds poetische Fähigkeiten gegenüber der Strenge der üblichen Diskussion hervor: »C'est comme un hymne d'Apollon, apporte de la Grece par Iphigenie, et chante inutilement aux fetes sanglantes de Tauride.«76 Nicht nur die Anspielungen auf die griechische Mythologie, sondern überhaupt die poetischen Fähigkeiten Vergniauds gleichen denen von Danton mit seiner Vorliebe für Vergleiche, wenn sie auch oft aus weniger pathetischen Bereichen stammen, weil Büchner das Prinzip der Ironisierung des Ernsten durchgehend anwendet.77 Was Nodier über die Zusammenstellung seiner Figuren sagt, kann auch für Dantons Tod gelten:

72 (Die wenig bedeutende Rede verrät die Niedergeschlagenheit von Vergniaud, welcher vorzeitig wegen Apathie und Faulheit reif für den Tod war.) Le dernier banquet, S. 235. 73 (Sein bestimmender Charakter sei jener einer »sanften und schüchternen Melancholie, die sich nach der träumerischen Einsamkeit der Wüste oder dem Schlaf des Grabes sehnt.«) Le dernier banquet, S. 240. 74 (Er ist ein Geschöpf der Wollust, der Verachtung und des Vergessens, welches den Instinkt des Mutes, aber nicht die Kraft dazu hat. f . . . ] Man kann leider von ihm sagen, was Saint-Just von Danton sagte: Vergniaud schlief.) Le dernier banquet, S. 243. 75 (Vergniaud liebte vor allem die Vergleiche, welche aus Naturszenen stammten und alle angehen und die Anspielungen auf die Mythologie und die Geschichte.) Le dernier banquet, S. 235 f. 76 (Das war wie ein Hymnus von Apollo, den Iphigenie aus Griechenland mitgebracht hatte und der umsonst bei den blutigen Festen der Taurer gesungen wurde.) Le dernier banquet, S. 241. 77 Nodier berichtet, daß Vergniaud in seiner Verteidigungsrede die Erzählung seines Lebens und seiner Verdienste ausgebreitet habe (S. 239), wohl ähnlich wie es Danton in den Repliken 436 und 438 in jenen Passagen tut, die nicht aus den historischen Quellen

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»Imaginez-vous que Pelite du genre humain etoit representee la, dans une salle de la Conciergerie; le noble et le plebeien, le prelat et Thomme de guerre, le poete et le tribun, le spiritualiste epris de ses esperances et Tincredule dupe de son savoir.«78

Dieses Prinzip hat Büchner besonders in den Szenen im Luxemburg und in der Conciergerie angewandt. Es entspricht dem schon in anderer Hinsicht festgestellten Streben nach Darstellung einer Totalität. Die Reflexionen von Nodier darüber, was das Thema interessant macht, scheinen mir auch für Büchner relevant zu sein. Man darf ja nicht vergessen, daß Büchner aus dem immensen historischen Material Elemente auswählen mußte, von denen er sich irgendeinen Erfolg beim Leser versprach. Nodier schreibt über die Qualitäten seines Themas, er habe dieses schon lange bearbeiten wollen: »Cest qu'il n'existoit rien, selon moi, de plus magnifique dans toutes les histoires du temps passe que ce banquet des martyrs de la liberte qui devisent entre eux de leur republique cherie, de sä grandeur et de sä chute; des destinees eventuelles d'un pays abandonne aux Barbares, et sans doute reserve a la tyrannic; des roles passagers qu'ils ont joues sur le grand theatre de la revolution, et qui va tragiquement finir sur un echafaud, mais qu'agrandit au-delä de toute proportion Papproche d'une mort eclatante; et puis qui, ramenes par une resipiscence grave et sublime ä reflechir sur Tessence meme de leur äme, consomment cette veillee glorieuse ä s'interroger et ä discourir sur l'immortalite, avec autant de liberte d'esprit qu'ils l'auroient fait sous les voütes du Portique ou les ombrages d'Academus.«79

Während Büchner seine Dialoge nach Hugos Prinzip, daß alles Große auch seine lächerliche Seite habe, gestaltet, hat Nodier eine starke Neigung zum Pathetischen wie seine Ausdrücke »tragiquement« und »une mort eclatante« zeigen. Trotz dieser Unterschiede sind aber die Themen, die Büchner aus der Fülle des geschichtlichen Materials auswählt, diesel78 (Stellen Sie sich vor, daß die Elite des Menschengeschlechts dort versammelt war, in einem Saal der Conciergerie, der Edelmann und der Plebejer, der Geistliche und der Soldat, der Dichter und der Volkstribun, der Gläubige voller Hoffnung und der Ungläubige, Opfer seines Wissens.) Le dernier banquet, S. 11 f. 79 (Meiner Ansicht nach gab es nichts Großartigeres in der ganzen Geschichte als dieses Bankett der Märtyrer der Freiheit, welche über ihre geliebte Republik, deren Größe und Untergang diskutieren; über die Schicksale eines Landes, welches den Barbaren überlassen wird und welches zweifellos der Tyrannei verfällt; über die vergänglichen Rollen, welche sie in diesem großen Theater der Revolution gespielt haben, welches auf dem Schafott endet, welches aber den nahen und glänzenden Tod überproportional vergrößert; und die durch eine große Reue dazu geführt werden, über das Wesen ihrer Seele nachzudenken und diesen ruhmvollen Abend damit zuzubringen, über die Unsterblichkeit zu diskutieren mit derselben Freiheit des Geistes, wie sie sie in den Wandelhallen oder im Schatten von Academus gezeigt hätten.) Le dernier banquet, S. 10 f.

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ben: es ist die Rede von der Rolle Dantons und der Dantonisten in der Revolution (v. a. III, 4), von der Zukunft der Republik (v. a. I, l und Replik 610), und schließlich finden Gespräche über die Existenz Gottes und über den Tod statt. Diese Art von Gesprächen, welche unbestreitbar einen großen Reiz von Büchners Drama ausmachen, finden sich weder in den auf Handlung und Spannung ausgerichteten Dramen eines V. Hugo oder A. Dumas noch in den Scenes historiques von Vitet, in welchen Aktionen dominieren, ganz zu schweigen von den deutschen Geschichtsdramen. Ein Kennzeichen der von Nodier dargestellten Gespräche ist die geistreiche Ausdrucksweise, die ja in Büchners Drama die Dantonisten vor den Anhängern Robespierres auszeichnet. Ich gebe ein Beispiel für viele. Vergniaud ist der Auffassung, daß die Revolution schließlich das ganze Volk verschlingen werde: »B r i sso t. Quel jour as-tu attendu pour nous devoiler cette pensee effrayante? V e r g n i a u d . Sais-tu a quel jour Brutus etoit arrive, quand il s'ape^ut que la vertu n'etoit qu'un nom? G e n s o n n e . Est-ce a cela que se bornent les revelations de ton esprit familier? Gracchus egorge dans le bois sacre jeta de la poussiere vers le ciel, et de cette poussiere naquit Marius qui ecrasa Porgueil des patriciens. [...] V e r g n i a u d . Des republiques qui bätissent la monarchic; des monarchies qui bätissent la republique; et le chaos apres.«80 Wie Hugo und Vitet läßt sich auch Nodier die rührenden Szenen, die durch den bevorstehenden Tod hervorgerufen werden, nicht entgehen. Es ist offenbar umso wichtiger, diese menschliche Seite der Revolutionäre zu zeigen, als ihnen ja gewissermaßen das Blut an den Fingern klebt. Schon gleich zu Beginn von Nodiers Text findet eine Abschiedsszene

80 ( B r i s so t. Bis zu welchem Tag hast du gewartet, um uns diesen schrecklichen Gedanken mitzuteilen. V e r g n i a u d . Weißt du, welches der Tag war, an dem Brutus erkannte, daß die Tugend nur ein Name war? G e n s o n n e . Sind das die Offenbarungen deines Geistes? Der im heiligen Wald ermordete Gracchus warf Staub zum Himmel auf und aus diesem wurde Marius geboren, der den Hochmut der Patrizier zermalmte. [...] V e r g n i a u d . Republiken, die die Monarchie aufrichten; Monarchien, die die Republik aufbauen; und nachher das Chaos.) Le dernier banquet, S. 85 f. Vgl. auch die folgenden Wortspiele: Eine Reflexion von Vergniaud über eine mögliche Wiederkunft nach dem Tod kommentiert Ducos: »Vergniaud aborde ici une grande question, mais il ne l'a pas tranchee. M a i n v i e 11 e: Tu es bien presse, Ducos! La guillotine la tranchera tout-äPheure!« (S. 122). — »Pourquoi, repondit Duprat, cette couchette n'en vaudroit-elle pas une autre, si eile avoit un oreiller? / — Tu me fais la, reprit Mainvielle [...], la plus sötte question que tu aies faites de ta vie! A quoi serviroit un oreiller quand on n'a plus de tete?« (S. 166) (Vergniaud behandelt eine große Frage, aber er hat sie nicht gelöst [tranche]. M a i n v i e l l e : Du hast es eilig Ducos! Die Guillotine wird sie bald lösen, [trancher = schneiden]. — Warum ist dieses Lager nicht ebensogut als ein anderes, wenn es nur ein Kopfkissen hätte, meinte Duprat. — Du stellst [...] die dümmste Frage, die du je gestellt hast, antwortete Mainvielle. Wozu dient ein Kopfkissen, wenn man keinen Kopf mehr hat?)

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zwischen dem Diener Baptiste und seinem Herrn Duprat statt, welche den Journalisten Carra zum Ausruf veranlaßt: »Monsieur Burke, monsieur Dupan, vous avez beau dire [...] ce ne sont pas la des hommes de sang!«80a Diese Seite der Revolutionäre kommt besonders in den Abschiedsszenen zum Ausdruck, von denen ich drei herausheben möchte. Vergniaud, der, wie dargestellt, Büchners Danton gleicht, graviert den Namen seiner Geliebten Adele und seinen eigenen in seine Uhr, die er ihr dann überbringen läßt81, auch verfügt er über Gift, das er aber nicht einnimmt, weil es nicht für alle ausreicht. Als sich Duchätel die Haare schneiden läßt, fällt ein Blumenstrauß mit einem Billet zu seinen Füßen, in dem ihm Cecile ihre Liebe versichert und ihm sagt, daß sie auch bald hingerichtet wird.82 Auf dem Schafott gibt es schließlich eine letzte Abschiedsszene zwischen den beiden sich als Brüder verstehenden Revolutionären Boyer-Fonfrede und Ducos. Während in Dantons Tod die Diskussionsszenen gegenüber Nodiers Text gekürzt sind, sind diese Abschiedsszenen, weil Büchner die Frauen selbständig auftreten läßt, ausgebaut. Dies zeigt, daß Büchner keineswegs auf eine emotionale Wirkung verzichten wollte. Auch sind es ja gerade diese Szenen, die die Dantonisten gegenüber den Anhängern von Robespierre sympathisch machen, zu denen z. B. der Bürger Dumas gehört, der seine privaten Probleme mit Hilfe der Guillotine löst. Betreffen die Parallelen zwischen Hugos und Vitets Dramen vor allem die Darstellungsweise, so sind jene zwischen Nodier und Büchner vor allem thematischer Art. Die Sicht auf die Revolutionäre scheint mir eine sehr ähnliche zu sein. Es geht mir aber mit dem Nachweis dieser Parallelen nicht darum, irgendeiner Einflußphilologie zu huldigen und Büchners Originalität bzw. Nicht-Originalität zu belegen. Mein methodischer Ansatz ist ein ganz anderer: wenn man Büchners Text verläßlich und das heißt für mich historisch interpretieren will, muß man den zeitgenössischen Kontext rekonstruieren, in dem Büchners Drama steht. Zu diesem Kontext gehören selbstverständlich auch die Vorstellungen der Zeit über die Französische Revolution und die Revolutionäre. Die Büchner-Interpretation hat sich, scheint mir, zu lange mit Büchner als einer singulären Erscheinung befaßt und hat vieles als Sicht Büchners inter-

80a (Herr Burke, Herr Dupan, sie haben gut reden ( . . . ) das sind keine Blutmenschen!) Nodier: Le dernier banquet, S. 65. 81 Le dernier banquet, S. 155. Nodier versieht die Passage mit einer Anmerkung, in der er darauf hinweist, daß die rührende Geschichte in allen Sammlungen enthalten sei. 82 »Mon coeur a partage votre amour, eher Duchätel. [...] Aujourd'hui vous subissez votre arret, je ^ois mon acte d'accusation, et vous ne me precede?, que de quelques jours au lit nuptial.« (Mein Herz hat Ihre Liebe geteilt, lieber Duchätel. [...| Heute werden Sie den Tod erleiden, und ich erhalte die Anklageakte, Sie gehen mir nur einige Tage im Ehebett voran.) (Le dernier banquet, S. 160).

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pretiert, was zum kulturellen Wissen seiner Zeit gehört. Es scheint mir daher angebracht, mit solchen Untersuchungen etwas Gegensteuer zu geben und zu zeigen, inwiefern Büchner an den allgemeinen Vorstellungen seiner Zeit partizipiert, inwiefern Büchner ein Zeitgenosse seiner Zeit war. Ich wende mich zu diesem Zweck noch einem letzten Text zu, welcher vom Thema her die engste Verwandtschaft mit Dantons Tod aufweist, nämlich dem Robespierre von Anicet-Bourgeois und Francis (Cornu). 4.3. Robespierre ou le 9 Thermidor Das Drama wurde am 16. Dezember 1830 in Paris aufgeführt, erschien 1831 im Druck und bereits 1832 in deutscher Übersetzung.83 Die beiden Autoren waren erfolgreiche Theaterschriftsteller, 1830 erschien auch ein >Napoleon< von ihnen, im übrigen haben sie aber eher Boulevardstücke geschrieben. Daß das Stück sogleich in deutscher Übersetzung erschien, deutet auf das Interesse hin, das solche Darstellungen der Revolution offenbar hatten. Das Stück ist, wie der Rezensent in den Blättern für literarische Unterhaltung treffend bemerkt, nach dem Prinzip der Scenes historiques gebaut. Robespierre spielt darin keineswegs die Hauptrolle, er tritt nur in wenigen Szenen auf, ist aber in seiner Macht sozusagen ständig anwesend. Die Charakterisierung von Robespierre scheint mir denn auch im Zusammenhang mit Büchners Danton der interessanteste Aspekt dieses Dramas zu sein.84 Robespierre wird dargestellt als ein finsterer Mann, der Schrecken einflößt85; er heißt zwar an mehreren Stellen »Pincorruptible«, aber immer mehr entpuppt er sich auch als Tyrann. Am Ende stellt sein Coiffeur fest: «l'incorruptible n'etoit qu'un tyran.« 86 Robespierre ist von den »devotes« umgeben, welche in ihm den »nouveau redempteur de Phumanite«, »l'envoye de PEtre-Supreme« verehren. 83 Vgl. Anm. 5. 84 Es gibt einige kleinere Parallelen, die wohl mit dem gemeinsamen Quellenmaterial zusammenhängen; so tritt der Vergleich mit Saturn hier auch auf, jedoch von einem Aristokraten gesprochen: »Eh! mon eher, cette liberte dont vous parlez tous, est comme Saturne, eile devorera ses enfans.« (Robespierre, S. 6) Es finden Szenen in der Conciergerie statt. Die revolutionäre Namengebung und der revolutionäre Sprachgebrauch werden erwähnt und manchmal auch kritisiert: »La revolution m'a baptise Brutus«, sagt der Coiffeur von Robespierre, der dann in der Folge zugleich eine entscheidende Rolle beim Sturz Robespierres spielt (S. 9). Cincinnatus, der Sohn von Robespierres Portier, beklagt sich über seinen römischen Namen (S. 23). An mehreren Stellen wird der revolutionäre Sprachgebrauch des Duzens thematisiert. 85 Schon ganz am Anfang wird Robespierre von Loizerolles, einem Kämpfer für die Freiheit, als »sombre Maximilien Robespierre« charakterisiert, den er nicht antreffen wolle: »je craindrais de ne pas cacher ä cet homme Phorreur qu'il m'inspire!« (S. 7) 86 Robespierre, S. 84. Ein anderer Beleg für »l'incorruptible« S. 28.

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Dieser Charakterzug wird aber durch eine Bemerkung Saint-Justs sogleich kritisiert, die Alten sind in ihrer grenzenlosen Verehrung lächerlich gemacht. Im Laufe des Stücks wird immer deutlicher, daß Robespierre aus rein egoistischen Motiven handelt, was besonders in jenem Gespräch deutlich wird, in dem ihn seine Schwester warnt. Robespierre hatte als einfacher Advokat in Arras keine Zukunft, die Revolution hat ihm diese Zukunft eröffnet.87 Marie, seine Schwester, zeichnet ihn als Inkarnation des Schreckens: »Tu t'abuses, Maximilian, si tu crois fonder un regne durable sur la terreur que ton nom inspire ... [...] aie done la force d'un republicain, abdique un odieux pouvoir! ... Quitte la France oü le nom Robespierre restera grave en caracteres sanglans .. ,« 88

Die Szene gleicht derjenigen Büchners zwischen Danton und Robespierre (I, 6), was die Entlarvung von Robespierre betrifft, und wie bei Büchner folgt auch bei Anicet-Bourgeois und Francis ein Monolog von Robespierre, der seine Angst ausdrückt89 und damit auf eine gewisse Verlo87 » R o b e s p i e r r e . Souviens-toi que, simple avocat ä Arras, mon avenir etait borne. Mon pere nous laissant seuls et sans fortune, alia cacher ses derniers jours dans les deserts de PAmerique. La revolution m'ouvrait une route dangereuse.« ( R o b e s p i e r r e . Erinnere dich, daß ich als kleiner Advokat in Arras keine Zukunft hatte. Mein Vater, der uns allein und ohne Vermögen ließ, versteckte sich in den Wüsten von Amerika. Die Revolution eröffnete mir einen gefährlichen Weg.) (Robespierre, S. 33) 88 (Du täuschst dich, Maximilien, wenn du glaubst, du könnest eine dauerhafte Herrschaft auf dem Schrecken aufbauen, der mit deinem Namen verbunden ist... ( . . . ) Zeige die Kraft des Republikaners, danke ab.' ... Verlasse Frankreich, wo der Name Robespierre immer mit blutigen Buchstaben geschrieben werden wird.) Robespierre, S. 33. 89 Da der Text nicht leicht zugänglich ist, gebe ich hier Ausschnitte aus dem Monolog: »La folle! ... eile n'est pas de notre sang ... Malgre moi, pourtant cette scene m'a emue [...]. Allons, allons ... chassons toute pensee pusillanime.« Er findet dann einen Brief, der ihn warnt, wenn er weitere Listen für Hinrichtungen unterschreibe, werde er selbst sterben. »Ah! mon Dieu, la nuit on pourrait venir, m'assassiner! ... Mais non, tout est bien ferme... ces tapisseries ne cachent point de portes derobees ... Pourtant, comment se fait i l . . . ah! je ne veux plus etre seul ici, mon frere y viendra; mes nuits d'ailleurs deviennent affreuses ... je crois toujours entendre Barnave, Boyer, Fonfrede et Vergniaud, surtout, cet intarissable Vergniaud qui me poursuivait sans reläche de sä terrible eloquence ... le souvenir du 31 octobre est toujours present ä ma pensee ... Ces tetes hideuses roulent sans cesse autour de moi.. et le sang des Girondins fume encore tous mes pieds ... Carrat l'a dit ä Samson, en montant sur Pechafaud: »Robespierre y viendra!!< ... Samson! ... Ce nom me fait trembler... si jamais sa main ...« (Die Verrückte! ... sie ist nicht von unserem B l u t . . . Trotzdem, diese Szene hat mich aufgewühlt [...]. Los, los ... weg mit diesen kleinmütigen Gedanken. [...] Oh! Mein Gott! Man könnte in der Nacht kommen und mich ermorden! ... Nein, alles ist gut abgeschlossen ... hinter diesen Tapeten gibt es keine Geheimtüren ... Dennoch, wie kommt es ... ah! Ich will nicht mehr allein hier bleiben, mein Bruder soll herkommen; meine Nächte sind schrecklich ... ich glaube immer Barnave, Boyer, Fonfrede, Vergniaud zu hören,

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genheit hinweist, die ja der Büchnersche Danton Robespierre vorwirft. Anicet-Bourgeois und Francis gehen bei der Entlarvung von Robespierre viel deutlicher vor, der Leser bzw. Zuschauer ist keinen Augenblick im Zweifel, was er von ihm zu halten hat. Gerade diese sehr einfache Darstellungsweise macht das Drama für die Büchner-Forschung interessant, denn es gibt sicher das Bild Robespierres so wieder, wie es dem in den Köpfen der Zuschauer entsprach. Deswegen findet der Rezensent der Blätter für literarische Unterhaltung »die Gestalt des »Unbestechlichen« gut«, » die Bluthunde Couthon, Just, Fougier-Tinville [...] kräftig.«90 Wenn Büchner in seinem Drama Robespierre positiv hätte zeichnen wollen, wie es neustens einige Germanisten behaupten91, hätte er zu ganz anderen Mitteln greifen müssen, um das in den Köpfen der Zeitgenossen bestehende Bild zu korrigieren. Daß er dies nicht getan hat, zeigen die Rezensionen, die alle die Verhältnisse treffend dargestellt finden. Daß Büchner den Aspekt »Schreckensherrschaft«, mit dem die Französische Revolution in den Köpfen seiner Leser verbunden war, ebenfalls dargestellt hat, geht aus den Hinrichtungsszenen hervor. Der Vergleich mit den beiden Revolutionsdramen von Nodier und AnicetBourgeois zeigt, daß Büchner ein Bild der Französischen Revolution vermittelte, welches einem breiteren Konsens entsprach.

5. Schluß Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß Büchners Drama nicht zum Gattungssystem der Tragödie, sondern zu dem der »historischen Bilder« gehört, welche im Frankreich der Zwanziger und Dreißiger Jahre großen Erfolg hatten. Wenn Büchner die Dramentheorie der französischen Romantiker befolgt, so kann man zugleich sagen, daß er sie so konsequent anwendet wie keiner der französischen Romantiker, besonders auch was die Ironisierung und Relativierung von Werten betrifft. Daß die Tugend / Laster-Thematik in Dantons Tod einen so breiten Raum einnimmt, scheint mir auf Büchners Auseinandersetzung vor allem dieser unerschöpfliche Vergniaud, der mich mit seiner Beredsamkeit unerbittlich verfolgte ... die Erinnerung an den 31. Oktober ist immer da ... Diese scheußlichen Köpfe rollen immer um mich ... und das Blut der Girondisten raucht noch unter meinen Rissen ... Carrat hat zu Samson gesagt, als er auf das Schafott stieg: »Robespierre wird auch kommen!!« ... Samson! ... Dieser Name läßt mich erschrecken ... wenn jemals seine Hand ...) (Robespierre S. 34). — Nebenbei sei noch auf den bemerkenswerten Versuch hingewiesen, das Abbrechen und Stocken der Gedanken wiederzugeben. 90 Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 145, Mai 1833. 91 Zu dieser Umdeutung siehe Th. M. Mayer (GB ////, S. 109), mit dessen Urteil ich völlig übereinstimme.

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mit Hugo hinzuweisen, denn in den besprochenen Revolutionsdramen spielt dieser Aspekt keine Rolle. Dies wiederum scheint mir darauf hinzudeuten, daß es Büchner nicht einfach darum ging, die Französische Revolution darzustellen, sondern daß er zugleich die Form des Dramas erneuern wollte, genauso wie Grabbe. Eine solche Vermutung scheint im Widerspruch zu Büchners Brief vom 28. Juli 1835 an die Eltern zu stehen, wo er sich als »Geschichtschreiber« scheinbar ohne ästhetische Absichten definiert. Wenn man aber sieht, wie die Revolution des Theaters in Frankreich über eine Konzeption des Geschichtsdramas erfolgte, welches sich als treue Wiedergabe der Geschichte verstand, löst sich dieser scheinbare Widerspruch auf. Nur wenn man den Kontext des französischen Dramas in Betracht zieht, kann man Büchners ästhetische Konzeption verstehen.

Abgekürzt zitierte Literatur Anicet-Bourgeois et Francis (Cornu) 1831: Robespierre ou le 9 Thermidor. Drame en trois actes. — Paris. Bück, Theo 1990: »Die Majestät des Absurden«. Zum Zusammenhang des Schlusses in Victor Hugos Marion de Lorme und Georg Büchners Dantons Tod. — In: Burghard Dedner und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium 1987. Referate. - Meisenheim, Frankfurt a. M. 1990 (= Büchner-Studien, Bd. 6), S. 265-285. Dittmer, Adolphe et Hygyn-Auguste Cave: Malet ou la conspiration sous Vemp'ire. — In: dies.: Les soirees de Neuilly. Esquisses dramatiques et historiques. Publiees par M. de Fongeray. — Paris 1828. Dumas Alexandre: Napoleon Bonaparte ou trente ans de Vhistoire de France. Drame en six actes. — In: A. Dumas: Thoätre complet. Nouvelle edition, Bd. 2. - Paris 1873. Grabbe, Christian Dietrich: Werke. Hrsg. von R. C. Cowen. 3 Bde. — München 1975. Hugo, Victor: Theatre complet. 2 Bde. — Paris 1963 (=Bibliotheque de la Pleiade 166-170). Marsan, Jules: La bataille romantique. 2 Bde. — Paris 1912. Mayer, Thomas Michael 1979: Büchner und Weidig — Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des »Hessischen Landboten«. - In: GB ////, S. 16-298. Nodier, Charles: Le dernier banquet des Girondins. Etüde historique suivide Recherches sur Peloquence revolutionnaire. — In: Ch. N.: (Euvres completes^ Bd. 7. - Paris 1833. Remusat, Charles de 1857: Critiques et etudes litteraires ou Passe et present. 2 Bde. - Paris. 104

Ubersfeld, Anne 1974: Le roi et le bouffon. Etudes sur le theatre de Victor Hugo de 1830 1839. - Paris. Vitet, Louis (Ludovic): La Ligue. Scenes historiques. 2 Bde. — Paris 1844. Zeller, Rosmarie 1974: Das Prinzip der Äquivalenz bei Büchner. Untersuchungen zur Komposition von Dantons Tod und Leonce und Lena. — In: Sprachkunst S (1974), S. 211-230. Zeller, Rosmarie 1990: Dantons Tod und die Poetik des Geschichtsdramas. — In: Dedner u. Oesterle (Hrsg., s. oben: Bück), S. 146-174.

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Georg Büchner: Dantons Tod Zur Rekonstruktion der Entstehung anhand der Quellenverarbeitung Von Burghard Dedner (Marburg)

Vielleicht ist es gerade der bekannten desolaten Überlieferungslage zu verdanken, daß wir uns auf Georg Büchners Schreib- und Arbeitsverfahren gelegentlich einen Vers machen können. Das gilt zumindest für das in dieser Hinsicht aufschlußreichste Beispiel: die Arbeiten am Woyzeck. Frühere Beschreibungsversuche präzisierend, hat Gerhard Schmid über die Woyzeck-Handschniten geurteilt, sie stellten »Etappen eines zusammenhängenden Arbeitsprozesses dar, in dessen Verlauf nacheinander zwei verschiedene Teile des Stückes entworfen wurden.« »In Hl hat Büchner in einer ersten, den gesamten äußeren Handlungsablauf umgreifenden Aufzeichnung ein Drama von Eifersucht und Mord entworfen, wie er es den als Quellen dienenden Mordfällen entnehmen konnte. [...] H2 ergänzt [...] vor allem bestimmte in Hl fehlende Teile aus dem Beginn der dramatischen Handlung.« 1 Große Teile der »ersten Entwurfsstufe« (Hl) und der »zweiten Entwurfsstufe« (H2) fließen auf der »letzten Entwurfsstufe« (H4) zusammen und werden »mit neu entworfenen Szenen zu einer voll durchkomponierten Handlungsfolge verknüpft«. 2 Bei den anderen Werken, für die keine Entwurfshandschriften vorliegen, werden Hypothesen zur Entstehungsgeschichte dadurch ermöglicht, daß Büchner sich während seiner Arbeiten stets an historischem und statistischem Material oder auch an poetischen Texten orientiert hat: beim Hessischen Landboten an Wagners Statistischtopographisch-historische[r] Beschreibung des Großherzogthums Hessen, bei der Le^z-Erzählung am Bericht des Pfarrers Oberlin, im Falle von Leonce und Lena an Brentanos Ponce de Leon und Mussets Fantasio, bei Dantons Tod schließlich an historiographischen Quellen zur Französischen Revolution. Ich werde im folgenden versuchen, in Anlehnung an die für Woyzeck gewonnenen Ergebnisse und auf der Grundlage bekannter oder er1 WA, Kommentar, S. 51 f. 2 Ebda., S. 52.

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schließbarer Daten zur Quellenverarbeitung in Dantons Tod Büchners Arbeit an dem Revolutionsdrama zu rekonstruieren. Dieser Versuch führt — und zwar speziell zum ersten Teil des Dramas — Überlegungen weiter, die Thomas Michael Mayer 1981 begonnen3 und wie sie Herbert Wender in seiner eben erschienenen Arbeit über Georg Büchners Bild der Großen Revolution4 vor allem für die letzten beiden Akte des Dramas vorgelegt hat. Die Rekonstruktion basiert auf den systematischen Recherchen zur Handschrift und zu den Quellen von Dantons Tod, die die Forschungsstelle Georg Büchner derzeit für die historischkritische Ausgabe von Büchners Werken und Schriften anstellt. Speziell macht sich der Versuch folgende Daten und Indizien zunutze: 1. die bekannten, von Anna Jaspers5 nachgewiesenen Ausleihdaten, und dabei speziell die Information, daß Büchner vom 1. bis 5. Oktober 1834 Thiers' Histoire de la Revolution fran^aise und vom 17. bis 19. Dezember 1834 Louis-Sebastien Merciers Le Nouveau Paris und das biographische Lexikon Galerie historique6 aus der Darmstädter Hofbibliothek ausgeliehen hat, Werke also, deren Spuren deutlich im Text erkennbar sind. 2. Georg Büchners briefliche Mitteilung, er habe das Drama »in höchstens fünf Wochen« geschrieben, eine Aussage, die im wörtlichen Sinne stimmen könnte, wenn wir sie auf die zwischen Oktober und Februar verwendeten >Arbeitstage< beziehen, die aber nur dann wirklich glaubwürdig ist, wenn wir darunter den Beginn der Arbeit an der Reinschrift und Druckvorlage (H) um Mitte Januar 1835 verstehen. 3. Indizien auf der Ebene dieser D0w£o«-Handschrift, und zwar a) eine letzte, am schon fertigen Manuskript vorgenommene Erweiterung in Szene I, l, die wohl durch die Lektüre von Heines nach Anfang Februar ausgelieferter Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland angeregt wurde7; b) im Zuge der Niederschrift erfolgte Einfügungen von Textelementen aus Galerie historique, aus Merciers Le Nouveau Paris, aus dem 7. und möglicherweise auch dem 8. Band von Charles Nodiers OEuvres comple3 Thomas Michael Mayer: Zw einer Textvariante in Ludwig Büchners Danton-Druck von 1850. - In: GBJb l (1981), S. 222 f.; vgl. auch ders. in: LL, S. 120, Anm. 116. 4 Herbert Wender: Georg Büchners Bild der Großen Revolution. Zu den Quellen von Dänton's Tod.— Frankfurt a. M. 1988 (= Büchner-Studien, Bd. 4), vor allem S. 94-100, 143. 5 Georg Büchners Trauerspiel »Dantons Tod«. — Phil. Diss. Marburg (masch.) 1918, S. 15 f. 6 Von Thiers benutzte Büchner wohl nur den Band 6, von Galerie historique anscheinend nur den Band IV, der die Artikel »Danton« und »Desmoulins« enthält. 7 Vgl. Thomas Michael Mayer: Büchner-Chronik. - In: Gß ////, S. 390 ff.; vgl. auch ebda., S. 123.

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tes8, aus dem Supplementheft V von Unsere Zeit sowie möglicherweise aus einer noch nicht bekannten Ergänzungsquelle9. Im Umkreis dieser Einfügungen weist die Handschrift Schreib- und Formulierungsunsicherheiten auf, die in einigen Fällen von einfachen Verschreibungen oder auch von bloßen stilistischen Verbesserungen während des Abschreibens deutlich unterscheidbar sind. 4. Inhaltliche und sprachliche Indizien, dabei speziell a) der Unterschied zwischen >privaten< und historischen, d. h. zugleich auch zwischen >imaginierten< und quellenabhängigen Textelementen, b) der Integrationsgrad quellenabhängiger Textelemente, wobei zu unterscheiden ist zwischen völliger Integration (Verschmelzung) auf der einen, bloßer An- oder Einfügung — gelegentlich mit Einbußen für die Textlogik — auf der anderen Seite. Als Beurteilungsregel ergibt sich: Verschmelzungen deuten auf eine relativ frühe, An- und Einfügungen auf eine relativ späte Stufe der Entstehung; solche Hinzufügungen verbunden mit Schreibunsicherheiten auf der Ebene der Handschrift und eventuellen Einbußen an Textlogik lassen vermuten, daß die Integration erst bei der Niederschrift der überlieferten Druckvorlage H erfolgte. Auf der Grundlage dieser Daten und Indizien seien folgende hypothetische Textstufen zur Diskussion gestellt: L Erste Entwurfsstufe: Der erste Entwurf zu Dantons Tod basiert auf Thiers' historischer Darstellung; er wurde während oder gleich nach der Ausleihzeit (1. bis 5. Oktober) geschrieben und dürfte der WoyzeckHandschrift Hl geglichen haben. II. Zweite Entwurfsstufe: Büchner erweitert den ersten Entwurf, indem er ihn mit Quellenteilen aus Unsere Zeit (nur Hauptreihe) verschmilzt.10 III. Dritte Entwurfsstufe: die so entstandenen historisch fundierten Szenenkerne werden umrahmt von Szenenelementen >privaten< Inhalts. Denkbar ist, daß Büchner zu diesem Zweck entweder eine zweite parallele Folge privater Teilszenen entwirft oder daß er Manuskriptlücken, 8 12 Bde. - Paris 1832-1837. Bd. VII (1833) enthält als wahrscheinliche Quellen die Teile Le Dernier Banquet des Girondins; Etüde historique. Suivie de Recherches sur VEloquence revolutionnaire, Bd. VIII (1833) die Souvenirs et portraits. Zur Diskussion dieser von ihm entdeckten Quelle vgl. Wender, S. 25-42 und passim. 9 Zur Ergänzungsquelle vgl. Thomas Michael Mayer: Zur Revision der Quellen für Dantons Tod von Georg Büchner. - In: Studi germanici N. S. 7 (1969), S. 287-336, besonders S. 314, 9 (1971), S. 232 f., und Wender, S. 14-20, 143-146. 10 Während Textteile aus dem Supplementheft V zu Unsere Zeit noch als nachträgliche Anfügungen erkennbar sind, erscheinen die Übernahmen aus den verschiedenen Bänden der Hauptreihe von unsere Zeit sämtlich in gleicher Weise integriert.

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die er auf der zweiten Entwurfsstufe — ähnlich wie in der WoyzeckHandschrift H4 — offen ließ, jetzt füllt. Das so entstandene Manuskript — evtl. zwei Parallelmanuskripte — war bereits vor der Ausleihe von Galerie historique und Mercier abgeschlossen. Es entsprach vor allem im ersten Teil des Dramas weitgehend der endgültigen Reinschrift. IV. Erweiterungsstufen 11 : Weitere durch die Lektüre von Galerie historique, Mercier, Nodier, Unsere Zeit, Supplement-Heft Nro. V, sowie die noch unbekannte Ergänzungsquelle angeregte Textelemente werden beim Verfertigen der Reinschrift endgültig dem schon ausformulierten Text angefügt. Analog zur »Erweiterungsstufe« Woyzeck-H3 und zu Leonce und Lena H2,3 dürfte Büchner zu diesem Zeitpunkt einige zusätzliche Szenen konzipiert haben, so die Szenen III, 8 (Fouquier, Amar, Vouland) und IV, 2 (Dumas, ein Bürger), vielleicht aber auch die Szene III, 3. V. Reinschrift H mit den dort nachweisbaren Überarbeitungsstufen.

Erste Entwurfsstufe Die komplexe Gestalt von Dantons Tod ist die Summe isolierbarer Elemente, die der Autor in einem überraschend simplen, gelegentlich fast mechanischen Additions- und Montageverfahren zusammengefügt hat. Unterscheidbar sind zunächst Szenenteile >privaten< und Szenenteile politischen Inhalts. Jene sind in aller Regel erfunden 12 , diese orientieren sich an historiographischen Quellen. Sie bilden zugleich das Gerüst einer Handlung, die - zurückprojiziert auf die realhistorische Zeit — mit der Hinrichtung der Dantonisten am J.April 1794 endet und deren dritte Szene Elemente einer politischen Debatte enthält, die Thiers auf den 29. März datiert.13 Auf der ersten Entwurfsstufe des Woyzeck hat Büchner die Handlung als Abfolge einer sich zum Mord steigernden Eifersuchtspassion notiert. Wir können vermuten, daß Büchner die Arbeit an Dantons Tod ebenfalls mit einer Skizze des Handlungsablaufs begann, zumal der Bekanntheitsgrad der Ereignisse hier kein Abweichen von den historischen Daten erlaubte.

11 Vgl. den analogen von Henri Poschmann (Georg Büchner: Woyzeck. — Frankfurt/M. 1985, S. 134-137 und 140-146) zur Kennzeichnung der Woyz^-Handschrift »H3« (bei Poschmann »H4«) eingeführten Begriff »Ergänzungsentwurf«. 12 Zwar tauchen Hinweise auf Dantons »Lasterhaftigkeit« sowie auf die ihn bestimmende Haltung der Langeweile gelegentlich in den Quellen auf, dennoch wird man nicht sagen können, diese Teile seien in erster Linie durch das Studium historischer Quellen inspiriert. 13 Zu Wenders (S. 212) abweichender Datierung s. unten Anm. 25.

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Für die Tage vom 1. bis 5. Oktober 1834 hatte Büchner Thiers' Histoire de la Revolution franqaise ausgeliehen14, womit offenbar die Arbeit an Dantons Tod begann. Da eine zweite Ausleihe dieses Werkes nicht nachweisbar ist und da Büchner sich durch einen außerordentlich umsichtigen, professionellen Umgang mit Texten auszeichnet, so können wir annehmen, daß er an diesen Tagen alle für ihn wichtigen, bei Thiers enthaltenen Daten und Textelemente niederschrieb. Auch haben von den früheren Arbeiten zu diesem Fragenkomplex bereits die von Zöllner15, Behrmann/Wohlleben16 und zuletzt Wender17 übereinstimmend die These vertreten, daß Büchner zumindest in der Anordnung seiner Szenen Thiers' Darstellung folge und daß diese also — in stärkerem Maße als das zur Büchnerschen Familienlektüre gehörige18 Kompendium Unsere Zeit — die primäre Konzeptionsquelle des Dramas sei. Anhand von Thiers konnte Büchner folgende Handlungsfolge und Szenenkerne notieren: Thiers 166 ff.: Camille Desmoulins' publizistische Offensive (Szene I, 1), Thiers 171 ff.: Volksunruhen Anfang März (Szene I, 2), Thiers 196 f.: Brief der Lyoner nach dem Hebertistenprozeß und Robespierres Antwort im Jakobinerclub (Szene I, 3), Thiers 198: Innensicht auf die Robespierristen (Teil von Szene I, 6), Thiers 200 f.: Innensicht der Dantonisten (Szenen I, 5 und II, 1), Thiers 203: Wortwechsel Legendre — Collot (Szenen I, 3 und I, 4), Thiers 204 f.: Legendres Antrag auf Anhörung der Verhafteten vor dem Konvent und Robespierres Rede (Szene II, 7), Thiers 211 ff.: Die Dantonisten im Luxembourg-Gefängnis (Szene

11 1 19 l »* ' Thiers 211—215: Die Dantonisten in der Conciergerie (Szene IV, 5)



, Thiers 215: Manipulation der Geschworenen (Szene III, 2), Thiers 217-222 und 226-229: Gerichtsszenen (III, 4 und III, 9)21, Thiers 222 ff.: Dillons sog. Verschwörung (Szene III, 5, mit Wirkung auf III, 6), Thiers 229 f.: Hinrichtung (IV, 7). 14 Anna Jaspers (s. Anm. 5), S. 15 f. 15 Bernd Zöllner: Büchners Drama »Dantons Tod« und das Menschen- und Geschichtsbild in den Revolutionsgeschichten von Thiers und Mignet. — Phil. Diss. Kiel 1972, S. 64-67. 16 Alfred Behrmann und Joachim Wohlleben: Büchner: Dantons Tod. Eine Dramenanalyse. - Stuttgart 1980, S. 47 f. 17 Wender, S. 101 ff. u. ö. 18 So Wilhelm Büchners Mitteilung im Brief an Karl Emil Franzos vom 23. Dezember 1878 (in: SW, S. 638). 19 Zu Szene III, 3 s. unten S. 129 f. 20 Die Conciergerie-Szenen III, 7 und IV, 3 sind nach der angegebenen Unterscheidung >privaten< Inhalts und zeigen keine Spuren aus Thiers. 21 Vor allem zu diesen letzten Handlungsteilen vgl. Wender, S. 131 ff.

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In den ersten zwei Akten sind demnach die Szenenkerne I, l bis I, 5, ein Teil von I, 6 (insbesondere Repliken 191 ff.), H, l und II, 7 von Thiers abhängig. Die Liste zeigt, daß der Dramatiker Büchner sich im wesentlichen an die in Thiers vorgegebene Reihenfolge hält. Nur zwei Abweichungen fallen auf. In Szene I, 3 faßt Büchner unter dem Thema >antidantonistische Offensive im Jakobinerclub< zwei zeitlich getrennte Episoden zusammen: Robespierres Stellungnahme zu den Beschwerden der Lyoner Jakobiner vom 21. März und die von Thiers auf den 29. März datierte Verhandlung der Gerüchte von der drohenden Entfernung der Büsten Marats und Chaliers. Diese Straffung mußte sich dem Dramatiker um so mehr anbieten, als beide Episoden am selben Ort vorfielen. Auf der anderen Seite verteilt Büchner Details, die Thiers zusammenfassend unter der Rubrik >Zustand der dantonistischen Fraktion vor der Verhaftung< referiert, auf die Szenen I, 5 (Repl. 146 ff.) und II, l (Repl. 221 und 228). Zählt man dazu noch die thematisch gleiche, jedoch nicht von Thiers angeregte Szene II, 3 hinzu, in der Danton vom Verhaftungsbeschluß der Ausschüsse erfährt, so ergibt sich für diesen thematischen Zusammenhang die dramatische Steigerung: a) die Dantonisten nach Beginn der gegen sie gerichteten Offensive, b) nach der Unterredung Robespierre — Danton, c) nach Bekanntwerden des Verhaftungsbeschlusses. Da Thiers von einer späten Unterredung Dantons und Robespierres nichts berichtet, liegt es nahe, nicht nur den ersten Teil der Szene I, 6, sondern auch deren jetzige Plazierung im Drama einer schon auf der Lektüre von Unsere Zeit beruhenden zweiten Entwurfsstufe zuzuschreiben. Auf Grundlage von Thiers dürfte sich an dieser Stelle folgende szenische Reihenfolge ergeben haben: I, 3 und I, 4 auf der Basis von Thiers 196 f. und 202 f., i, 6 (Repl. 185 ff.) auf der Basis von Thiers 198 (Inncnsicht der Robcspierristen), I, 5 und II, l auf der Basis von Thiers 200-202 (Innensicht der Dantonisten). Für die These, daß der historische Kern von I, 5 und II, l sich einer gemeinsamen Stelle bei Thiers verdankt, sprechen zwei weitere Beobachtungen. Der Refrain von Dantons Repliken, sein »Sie werden's nicht wagen«, taucht an den beiden entscheidenden Stellen der Szenen I, 5 (Repl. 158) und II, l (Repl. 228) auf, und der diesen Kernsatz umgebende Kontext ist in beiden Fällen ein und derselben Passage bei Thiers entnommen22. Eliminiert man außerdem die bei Thiers nicht überlieferte 22 Vgl. Thiers 201 f.: »Je le sais, disait Danton, ils veulent m'arreter! ... Mais non, ajoutait-il, ils n'oseront pas. — D'ailleurs que pouvait-il faire?« Gibt der zuerst zitierte Satz die Vorlage für den Kern von Replik 158, so liefern die auf die anschließende Frage folgenden Deliberationen des Historikers Thiers wesentliche Stichworte für die Replik 221 (»Les cordeliers f . . . ] « , »La convention [...]«, »Sur quelle force s'appuyer?«, Über-

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Zusammenkunft der beiden Politiker, so ergibt sich für die Handlungsfolge der ersten zwei Akte der überraschend kurze Zeitraum von zwei Tagen. Den Wortwechsel Legendres und Collots, an den sich das nächtliche Gespräch Robespierres und Saint-Justs (I, 6) unmittelbar anschließen könnte23, datiert Thiers auf den 29. März, die Sitzung der Ausschüsse — zeitlich parallel zu denken zu den Szenen II, l und H, 3 — auf den 30. März, die Verhaftung Dantons auf die Nacht zum 31. März.24 Erst die Szene, die die Zusammenkunft Robespierres und Dantons darstellt und die Unsere Zeit (Bd. XII, 92) übrigens auf den Morgen des 30. März, Büchner — vermutlich aufgrund der schon vorhandenen Konzeption für den zweiten Teil der Szene — auf den Abend legt, erweitert den zeitlichen Ablauf und gibt dem Stück zugleich den Schein der »offenen Form«.25 Mit der Verlegung der Unterredung auf den Abend nimmt Büchner freilich in Kauf, daß — gegenläufig zur sonst straffen Handlung — zwischen I, 5 und I, 6 ein >leerer< Tag vergeht.26 Schon diese auf früher Stufe erfolgende Einfügung der dramatisch wichtigen und wirkungsvollen Konfrontation der politischen Antagonisten führt demnach zu Einbußen in der Textlogik. Die in der Reinschrift nachweisbaren Zitatspuren aus Thiers erlauben es im übrigen, diese zusammenfassenden Aussagen zu präzisieren:

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legungen zur Abhängigkeit des »genie revolutionnaire« von schon bestehenden politischen Kräften) sowie für die Repliken 228 (»Emporte-t-on [...] sä patrie ä la semelle de ses sow//'ers?«; »[il] se repetait: Ils noseront pas.») und 230 (»sä parcsse«). - Vgl. auch die ausführlichen Belegstellen und Überlegungen bei Wender, S. 119—121. Auf Robespierres Frage (Replik 208) »Hast du die Anklage bereit?« antwortet SaintJust: »Es macht sich leicht. Du hast die Andeutungen bey den Jacobincrn gemacht.« Das dürfte heißen, Saint-Just hatte noch keine Zeit zur Abfassung der Anklageschrift, werde sich jedoch inhaltlich auf Robespierres Rede im Jacobinerclub (Szene I, 3) stützen. Nach I, 3 ergeben sich damit zwei implizite Handlungsstränge: Saint-Just sucht nach einem Gespräch mit den übrigen Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses Robespierre auf; Paris begibt sich nach einer Unterredung mit Robespierre zu Danton (Replik 155). Galerie bistorique (S. 118) verlegt die entscheidende Sitzung der Ausschüsse fälschlich auf den 29., die Mitteilung des Verhaftungsbeschlusses durch Dantons Freund Paris auf den 30. März. Büchner übernimmt zwar damit zusammenhängende Informationen aus Galerie historique (vgl. Repl. 182—184), hält sich aber an das durch Thiers vorgegebene, durch UZ modifizierte zeitliche Schema. Zum zeitlichen Ablauf des Dramas auf der Grundlage von Thiers' Bericht vgl. Wender, S. 211 —219. Wender zählt die Tage zurück vom jour fixe der Verhaftung der Dantonisten (II, 6 = Nacht vom 30. zum 31. März). So ergibt sich — abweichend von Thiers — für die Szene I, 3 der 28. März, eben weil Büchner aufgrund von UZ einen Tag einschob. Möglicherweise ließ Gutzkow (Georg Büchner: Danton's Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft. — Frankfurt a. M. 1835, S. 44) den 2. Akt deshalb mit der Unterredung Danton — Robespierre beginnen, weil er dieser Schwäche im Dramenaufbau abhelfen wollte.

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Szene /, l: In den Kernrepliken (Repl. 18—23) zitiert Büchner eine bei Thiers wiedergegebene Passage aus Camille Desmoulins' Zeitschrift Le Vieux Cordelier (Thiers 168). Es folgt der Hinweis auf die dantonistische Forderung, einen »Gnadenausschuß« einzurichten (Thiers 119), und auf die dantonistischen »Staatsgrundsätze«, die das robespierristische Grundsatzprogramm konterkarieren. Zwar wird dieses bei Thiers (S. 163) nur kurz, in l/Z (Bd. XII, 22—56) dagegen sehr ausführlich referiert; dennoch dürfte an dieser Stelle Thiers die Konzeption zunächst bestimmt haben, da der terminus technicus »Staatsgrundsätze« dem Begriff »principe du gouvernement« (Thiers 163) nachgebildet scheint, der sich in UZ nicht findet. Replik 19 (»Wir waren im Irrthum«) schließlich entspricht einer szenischen Situation, die die Hinrichtung der Hebertisten bereits vor einigen Tagen voraussetzt27, und beruht insofern auf Passagen bei Thiers (S. 194 und 196), die von den Hoffnungen der Gemäßigten auf das Ende der Terreur berichten. Szene /, 2: Die zweite Szene enthält wiederum einen in diesem Falle an Shakespeares Dramentechnik geschulten Rahmen (Repl. 35—56 und Repl. 84-90) und einen politischen Kern. Überleitungsteile im Kernbereich, der nach dem Prinzip sich ausweitender Öffentlichkeit angelegt ist, sind die Redeteile »Was giebts denn?« / »Was giebt's da [...]?« (Repl. 50 und Repl. 72). Die eigentlich politische Argumentation beginnt in Replik 57 mit einer weitläufigen Anspielung auf den Virginiaund Lucretia-Stoff28 und der aus der zeitgenössischen politischen Diskussion ableitbaren Frage, warum die Armen die Aggression gegen sich selbst wenden.29 Streicht man aus dem verbleibenden Szenenkern die als Einschub aus l/Z zu deutende Laternisierungsszene30 (Repliken 61-71), so erhält man einen stringenten, gegen die Revolutionsregierung gerichteten Argunientationsduktus, der aus der Analyse in Replik 57 eine praktische Konsequenz zieht: das Volk erklärt sich wiederum zum unmittelbaren und einzigen Träger der politischen Gewalt und setzt damit die politische Ordnung der Jakobinerdiktatur außer Kraft. Thiers zufolge war die Drohung der >unmittelbaren Demokratie< der Anlaß für den Hebertistenprozeß. 27 Vgl. Wender, S. 116 und 211-218. 28 Möglicherweise auch mit einer Anspielung auf die Heine-Kritik Bornes in: Briefe aus Paris, Nr. 109 (25. Februar 1833). Während Borne sich dort vorstellt, eine Revolution könne entstehen, wenn »ein Schneider den blutigen Dolch aus dem Herzen einer entehrten jungen Nähterin« zieht, zeigt Büchner als möglichen Auslöser einer Revolte nicht die »entehrte Nähterin*, sondern die zur Prostitution verdammte junge Frau. 29 Vgl. Thomas Michael Mayer (DT, S. 73, Anm. 5), der auf die sprachliche Nähe dieser Replik zum Hessischen Landboten hinweist. - In Replik 58 ist der Teilsatz »das sind Wölfe« wohl von Mercier (II, 160) abhängig. Die übrigen Teile der Replik dürften allerdings schon vor der Mercier-Lektüre konzipiert worden sein. 30 Vgl. dazu im vorliegenden Band S. 132-158.

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Im unmittelbaren Anschluß an die in Szene I, l (nach Thiers 168) wiedergegebene publizistische Offensive Camilles berichtet Thiers (S. 171 ff.) von einer plötzlich gegen Anfang März 1794 in den Hallen und einigen anderen Vierteln spürbaren Volksagitation und der jakobinischen Reaktion auf diese politische Bedrohung. Die Sektion Marat habe erklärt, daß das Volk sich erhebe, bis Nahrung und Freiheit garantiert seien; die Cordeliers hätten die Gesetze verhüllt und damit einen Akt vollzogen, der bis dahin immer revolutionäre Volksbewegungen eingeleitet habe. Büchners Replik 79 dürfte die szenische Umsetzung dieser symbolischen Aktion sein. Mit einer Wendung des Blicks hin zum Wohlfahrtsausschuß berichtet Thiers weiter, Collot habe im Jakobinerclub die Agitatoren angegriffen, die das Volk anstacheln wollten, sich gegenseitig totzuschlagen31, und er habe dann mit dem Auftrag, »diese verirrten Brüder zurückzubringen« 32 , vor den Cordeliers geredet und diesen klargemacht, daß die Revolutionäre sich nicht entzweien dürften, sondern »im Gegenteil eine einzige Familie bilden müßten« (Thiers 180). Hier liegt der mögliche szenische Kern der Repliken 82 und 83, die Büchner jedoch später aus anderen sprachlichen Elementen der Jakobinerrhetorik zusammensetzt.33 Szene /, 3: Im Handlungskern der dritten Szene, welche die der Verhaftung Dantons unmittelbar vorausgehende propagandistische Initiative der Regierung gegen die Moderierten darstellt, hat Büchner zwei bei Thiers getrennt plazierte historische Episoden zusammengefügt. Die Hoffnungen der »friedlichen Bürger« (»citoyens paisibles«) auf Mäßigung der Terreur, so berichtet Thiers (S. 196)34, habe die Jakobiner aus Lyon zu einem besorgten Brief an die Pariser Jakobiner veranlaßt, den Robespierre im Jakobinerclub vorgetragen und kommentiert habe. Elemente aus diesem Brief und aus Robespierres anschließender Rede 31 Thiers 175 f.: »On veut faire de nous des soldats de Cadmus; on veut nous immoler par la main les uns des autres.« 32 Thiers 178: »Collot est charge d'aller, au nom des jacobins, fraterniser avec les cordeliers, et ramener ces freres egares par de perfides suggestions.« 33 Hierzu gehören verschiedene Zitate aus Reden Robespierres und Billauds sowie Bibelanspielungen, die teils durch die in Replik 81 wiedergegebenen Berichte über MessiasStilisierungen Robespierres (Thiers 358), teils aber auch durch Äußerungen von Collot im Zusammenhang mit dem Kampf gegen das gegeilrevolutionäre Lyon (s. unten S. 119 f.) inspiriert sein dürften. Immerhin hat sich in den letzten Sätzen »Kommt mit zu den Jacobinern. Eure Brüder werden euch ihre Arme öffnen« noch ein Rest der aus Thiers entnommenen Anregungen erhalten. — Zu Überlegungen Anlaß geben kann der Satz »Aber Volk deine Streiche dürfen deinen eignen Leib nicht verwunden«, weil er in der Replik 182, die von späterer Lektüre der Galerie historique abhängig ist, noch einmal aufgenommen wird. Ist dieser Redeteil später in Replik 82 eingefügt, oder hat er umgekehrt die Ergänzung der Replik 182 mit veranlaßt? 34 Vgl. auch Thiers 202: »hommes paisibles«. Beide Stellen ausführlich bei Wender, S. 252 f.

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finden sich in.Replik 9l35 und 99.36 In diese erste Redesequenz eingeschoben ist als zweite (Repliken 93 bis 96) der von Thiers (S. 203) berichtete Wortwechsel zwischen Legendre und Collot, der am Vorabend jener Sitzung der Ausschüsse stattfand, auf der Dantons Verhaftung beschlossen wurde. Für wie zentral auch Büchner diesen Wortwechsel hielt, zeigt sich an dessen Ausstrahlung in die Repliken 102 ff., in denen das Fehlverhalten des »ungeschickten Legendre« (Thiers 203) noch einmal kommentiert wird, sowie in die Repliken 148, 152 und 156 und in den Texteinschub auf der letzten Überarbeitungsstufe in Replik 23, der die Rede von den »Heiligen Marat und Chalier« wiederum aufgreift. Neben den eben skizzierten, von Thiers übernommenen und in der endgültigen Fassung noch deutlich erkennbaren Textblöcken, Szenenkonstellationen und Zitaten weisen weitere Spuren vor allem in den Szenen I, 2 und I, 3 darauf hin, daß Büchners erster Entwurf noch weitere aus Thiers stammende Elemente enthielt. Hierzu gehören vor allem verstreute Begriffe und Informationen in der Replik 9937 sowie möglicherweise Hinweise auf die Geschichte Lyons in Replik 91. Szene I, 6: Den Raum zwischen der ersten (Brief der Lyoner, S. 196) und der zweiten (Collots Kontroverse mit Legendre vom 29. März, S. 203), die Verhaftung unmittelbar vorbereitenden Initiative der Robespierristen füllt Thiers, indem er teils in wörtlicher Rede, teils in einfühlsamer Reflexion die politischen Überlegungen und Handlungsmöglichkeiten der beiden Gegner referiert.38 In beiden Fällen sind zögernde Anführer umgeben von ihrer sie zur Aktion drängenden Gruppe. Die wenigen eigentlichen Handlungsmomente — die Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses ringen Robespierre an einem nicht bekannten Termin die Zustimmung zur Verhaftung Dämons ab (Thiers 203 f.; Repl. 192 ff.); Gerüchte über die bevorstehende Verhaftung; gemeinsame Freunde Dantons und Robespierres suchen zu vermitteln (Thiers 200; vgl. Repl. 155) — sind in die reflektierenden Passagen eingeschoben. Die geringsten Verwertungsspuren zeigen die bei Thiers (S. 197—199) in personaler Innenperspektive wiedergegebenen Überlegungen Robespierres zu den Vorteilen, die Dantons Hinrichtung bringen würde. 35 36 37 38

Hinweise auf den »Patrioten Gaillard« und den »Dolch des Cato«. Beginnend mit: »Aber was liegt den Fremden daran [...]«. S. unten S. 120-122. Da im 1. Akt von Dantons Tod Lacroix die Rolle eines Kommentators übernimmt, könnte man vermuten, daß ein Teil der Reflexionen des Historikers in Lacroix' Repliken wieder auftaucht. Lacroix' zentraler Hinweis auf die durch das Volkselend hervorgerufene politische Dynamik (Repl. 157) findet sich bei Thiers in dieser Form jedoch gerade nicht.

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Thiers nennt hier unter anderem Robespierres Wunsch, sich vom Vorwurf der Mäßigung zu reinigen und seine »Reputation« (»Energie« und »Tugend«) zu bewahren, seine Sorge, die Stützung des nicht mehr populären Danton würde auch ihn gefährden, seinen Wunsch, sich als einziger großer Revolutionsführer zu etablieren, und schließlich das Mißtrauen, das Danton als Chef einer oppositionellen Clique und durch sein Verhalten (als Zensor und Lachender, in drohender und verachtender Miene, durch seinen Sinn für politische Slogans) bei Robespierre erregt habe. Szenen /, 5 und H, 1: Stärker verwertet sind dagegen die Passagen, die das Geschehen aus der Sicht der Dantonisten reflektieren (Thiers 201 f.). Hierher gehören die schon genannten Vermittlungsversuche und der Bericht von Robespierres zweideutiger Reaktion (Repl. 155), die Bemühungen der Dantonisten, Danton zum Handeln zu bewegen39 (Repl. 218, im Wortlaut abhängig von UZ), in Replik 160 und 161 der Hinweis auf Dantons »Namen« und schließlich vor allem Dantons Reaktionen auf diese Bemühungen (vor allem Repl. 158 und 228). Dantons Frage: »Uebrigens, auf was sich stützen?« (Repl. 22l)40, der Nachweis, daß an Flucht nicht zu denken war (Repl. 228), der Gedanke, daß ein »revolutionäres Genie« nicht etwa inexistente Kräfte schaffe, sondern nur schon bestehende Kräfte lenke (vgl. Repl. 221: »Wir haben nicht die Revolution [...] gemacht.«), und die Überlegungen, daß Danton die Volksgunst schon verloren hatte (Repl. 159), daß er sich auf die revolutionären Institutionen — Thiers nennt an dieser Stelle die Cordeliers, die Jakobiner, den Konvent, Büchner fügt den »Gemeinderath« (Repl. 221) hinzu — nicht mehr stützen könne und daß er deshalb im Bewußtsein seiner Ohnmacht handlungsunfähig geworden sei: all dies ist bei Thiers vorgebildet. Der Handlungsverlauf der folgenden Szenen orientiert sich an Unsere Zeit\ jedoch setzt die primäre Abhängigkeit von Thiers als Konzeptionsquelle mit H, 7 wieder ein und bestimmt dann auch — wie Wender ausführlich gezeigt hat41 — die Darstellung des Gerichtsverfahrens.

Zweite Entwurfsstufe Da eine zweite Entleihung von Thiers nicht nachweisbar ist, müssen wir annehmen, daß Büchner seine Exzerpte aus dieser Quelle am 5. Okto39 Wobei die Begriffe »paresse« und »front revolutionnaire« (beide Thiers 201) im Dramentext (Replik 191 und 230) wieder auftauchen. 40 Bei Thiers (S. 201) als Erzählerreflexion: »D'ailleurs que pouvait-il faire? [ . . . ] Sur quelle force s'appuyer?« 41 Wender, S. 131 ff.

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her, und zwar vielleicht schon in Form einer ersten Folge von dialogisierten Szenenentwürfen, abgeschlossen hatte. In diese arbeitet er in einem nächsten Schritt Elemente aus dem Quellenkompendium Unsere Zeit ein, und zwar in Form teils inhaltlicher und sprachlicher Anreicherungen, teils zusätzlicher Handlungsteile. Unsere Zeit ist demnach sowohl als Stoff- und Textquelle als auch als sekundäre Strukturquelle einzuschätzen. An Unsere Zeit orientiert sind vor allem der Beginn von I, 6, die Zusammenkunft Robespierres und Dantons, von der Thiers nicht berichtet42, und der Handlungsverlauf der Szenen II, 3 und II, 4 mit den in Unsere Zeit überlieferten Elementen: Danton erfährt von der drohenden Verhaftung (II, 3; UZ XII, 123)43, begibt sich auf die Flucht und kehrt um (II, 4; UZ XII, 92)44. Das Kompendium Unsere Zeit war im Hause zugänglich, sein Inhalt war Georg Büchner seit der Schulzeit von abendlichen Vorlesungen im Familienkreis vertraut. Die hieraus schon folgende Vermutung, daß Büchner auf dieses Werk — und zwar auf dessen verschiedene Bände — während des gesamten Schreibprozesses kontinuierlich zurückgriff, müßte sich nach der anfangs genannten Regel45 in der Weise auswirken, daß bei Übernahmen aus UZ das von völliger Integration bis zu Anund Einfügungen mit Schreibunsicherheit reichende Spektrum der Überarbeitung deutlich wird. Tatsächlich jedoch wirken fast alle Übernahmen aus den Bänden der Hauptreihe von UZ in gleicher Weise integriert. Auf späten Einschub könnte etwa die nur anfügende Verknüpfung in Replik 19 deuten. Nachdem Philippeau vermutet hat, man habe die Hebertisten guillotiniert, »weil sie nicht systematisch genug verfuhren«, fügt er als weiteren Gedanken den in UZ (XII, 60) als Ausspruch Ronsins wiedergegebenen Nachsatz hinzu: »vielleicht auch weil die Decemvirn sich verloren glaubten wenn es nur eine Woche Männer gegeben hätte, die man mehr fürchtete, als sie.« Späterer Einschub könnte nach den angegebenen Kriterien auch die »Laternisierungssequenz« in Szene I, 2 sein, die neben dem Schinderhannes-Lied insbesondere Elemente aus den Bänden I und V von Unsere Zeit enthält.46 Formulierungsunsicher42 UZ XII, 92 legt die Unterredung auf einen Zeitpunkt unmittelbar vor dem Verhaftungsbeschluß; Galerie historique (S. 117) datiert weniger bestimmt: »apres l'arrestation de Fabre d'ßglantines«. 43 Einzelheiten dazu (Repl. 294) übernimmt Büchner auf der letzten Entwurfsstufe aus Galerie historique. 44 Dort heißt es: »Danton irrte den ganzen Tag unentschlossen umher. Schon war er auf dem Wege, um sich an einen Zufluchtsort zu begeben [...]; aber er kehrte wieder um«. 45 S. oben S. 108. 46 Im Bd. l (S. 509) fand Büchner die witzige Replik eines mit dem Tode Bedrohten »Ihr werdet deßhalb doch nicht heller sehen wie jetzt«, im Band V (S. 116 f.) die Anekdote,

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heiten sind jedoch in beiden Fällen nicht feststellbar, wenn man von der Spätkorrektur »gäbe« zu »gegeben hätte« (vgl. DT, S. 16) absieht. Auch die naheliegende Vermutung, Entlehnungen aus dem für Büchner wichtigen t/Z-Band XII seien sorgfältiger eingearbeitet als die aus anderen Bänden, läßt sich nicht belegen. Andererseits fällt an entscheidenden Stellen auf, daß der Text fernliegende Elemente aus den verschiedensten Teilen von Unsere Zeit und Thiers ineinander verschmilzt, ohne daß in der Handschrift Schreibunsicherheiten oder im Inhalt Brüche feststellbar wären. Solche komplizierten Einschmelzungen muß der Autor auf einer frühen Arbeitsstufe vorgenommen haben. Zu Replik 22 f.: Zitat-Spuren im dantonistischen Programm in Szene I, l (erste Stufe der Handschrift) beruhen auf Elementen, die UZ (XII, 118 — 120) als wesentliche Elemente der »Danton'schefn] Verschwörung« präsentiert. Dantons »Ehrgeiz« (UZ XII, 120; vgl. Repl. 33, 1. Stufe) sei es gewesen, »in den Schooß des Convents alle diejenigen Mitglieder zurückzurufen, welche daraus verstoßen waren« (UZ XII, 118) und »die Revolution durch eine republikanische Regierung [zu] beendigen, welche mächtig genug wäre, einer Verbindung der Freiheit und Ordnung ewige Dauer zu geben« (UZ XII, 120).47 Auf der ersten Stufe der Handschrift entspricht dem folgender Text: » C a m i 11 e. Wir müssen vorwärts, morgen greif ich sie geradezu an, dann einen entschlossenen Angriff im Convent! der Gnadenausschuß muß durchgesetzt, die ausgestoßnen Deputirten müssen wieder aufgenommen werden. Die Revolution ist in das Stadium der Reorganisation gelangt. Die Revolution muß aufhören und die Republik muß anfangen. In unseren Staatsgrundsätzen muß [.. .]«.48

Zu Replik 91 l Lyon-Komplex: Bereits im ersten, auf Thiers basierenden Entwurf bildete ein Brief der Lyoner Jakobiner einen der beiden Handlungskerne der Szene I, 3. Thiers berichtet, vor allem im RhoneDepartement, wo Ronsin Schrecken verbreitet hatte, habe die »classe moyenne et paisible«49 den Hebertistenprozeß als Signal für das Ende der Terreur betrachtet; andererseits habe eben dies den Unmut der »Patrioten« hervorgerufen und diese zu der brieflichen Mitteilung an die daß »Ein junger Mensch«, den man als »Aristokraten« mit der Drohung »An die Laterne mit ihm!« bedrängt hatte, sich mit einem »Schnupftuch ( . . . ) den Staub und Sand von seinen Schuhsohlen« abgewischt habe. Vgl. im vorliegenden Band S. 134 f. 47 UZ gibt hier in der zusammenfassenden Charakterisierung Dantons und seines Programms bereits eine Stoffsammlung. 48 H, p. 6 und 11 (vgl. das Faksimile in DT, S. 16 und 21). 49 Thiers 196.

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Pariser Jakobiner veranlaßt, daß sie sich, falls man ihnen nicht Hilfe und Ermunterung zuteil werden lasse, in Lyon nicht länger würden halten können. So wird die Stadt Lyon von neuem zum Indikator für die Stärke der Revolution. Schneller als in Paris wird sich in Lyon entscheiden, ob die jakobinische Diktatur überdauern kann oder ob der französische Staat das »Stadium der Reorganisation« (Repl. 22), d. h. der verfassungsmäßigen Konsolidierung, erreichen werde. Wie auch in anderen Punkten des Dramenbeginns nutzt Büchner die Replik des Lyoners Bürgers zugleich zur historischen Retrospektive, die mit der Wendung: »Habt Ihr vergessen [...]?« eingeleitet wird.50 Die hierfür nötigen Informationen — Bruchstücke der gegen Lyon gerichteten Jakobinerrhetorik — konnte Büchner dem 6. Band von Thiers' Revolutionsgeschichte oder aber dem 10. und 11. Band von Unsere Zeit entnehmen. Deren gemeinsames Zentrum ist das Bild vom »revolutionäre[n] Strom« (Repl. 91) der Rhone, der die in den Fluß geworfenen Leichen der »Aristokraten« bis ins Mittelmeer und bis nach Toulon führen werde.51 Da Unsere Zeit oft entweder unmittelbar auf Thiers oder aber auf beiden gemeinsame Quellen zurückgeht, lassen sich die Quelleneinflüsse nicht strikt trennen. Jedoch scheint sicher, daß in Repl. 91 ein ursprüngliches Thiers-Exzerpt durch UZ-Lektüre überlagert wird. Diese Vermutung wird dadurch bekräftigt, daß Zitatspuren aus dem in UZ ausgebreiteten Lyon-Komplex sich auch an anderen Stellen des Dramas finden, und zwar stets dort, wo Büchner den Ton radikaler Jakobinerrhetorik wiederzugeben sucht. So scheint mir Saint-Justs Bild vom »Strom der Revolution«, der »bey jedem Absatz bey jeder neuen Krümmung seine Leichen ausstößt« (Repl. 370), mitangeregt durch UZ X, 81 f. - »Gegen das Jahr 1791 schien Lyon der Revolution noch fremd zu seyn; sie schien ihm ein reißender Strom, den es zwar nicht abzuleiten suchte, der es aber auch nicht mit sich fortriß.« — und UZ XI, 18, wo es über die in die Rhone geworfenen Opfer der Terreur heißt: »Der Fluß warf eine Menge dieser Leichname aus [...].« - Eine weitere Spur aus diesem thematischen Komplex findet sich in der Äußerung Collots in Repl. 492: »[...] die Majestät des Volks wird ihnen [...] unter Donner und Blitz erscheinen und sie in Asche verwandeln.«52 Von Collot, der die Strafexpedition gegen Lyon geleitet hatte und der als Zeuge extremer Rhetorik vorzugsweise zitiert wird, überliefert UZ (XI, 22 und 25) die Aussprüche, er habe »die Thätigkeit einer republikani50 Vgl. auch Replik 99, wo die Retrospektive mit den Worten: »Ich habe es Euch schon einmal gesagt« eingeleitet wird. 51 Bei Thiers heißt es: »que le Rhone aurait roule leurs cadavres jusqu'ä Toulon« (S. 33); »charger le Rhone de cadavres« (S. 106). In ÖZ X, 85, und UZ XI, 16 und 18, finden sich ähnliche Bilder. 52 Die Annäherung an das Semele-Bild dürfte Büchners Zusatz sein.

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sehen Justiz belebt, welche niederschlagen muß, wie der Blitzstrahl und nichts als Asche zurücklassen darf [...]« sowie: »Nur die Explosion einer Mine und die verzehrende Schnelligkeit der Flamme können die Allmacht des Volks ausdrücken« und der »Wille« des Volkes müsse die »Wirkung des Blitzstrahls [...] hervorbringen.« Zugleich wirken diese Bilder der Jakobinerrhetorik und -metaphorik von ihrem ursprünglichen Ort — Retrospektive auf Lyon — zurück in die vorangehende Szene, die die Reaktion der Jakobiner auf Volksbewegungen darstellt. Hierher gehört neben dem Satz Robespierres »Im Namen des Gesetzes!« (Repl. 76; s. UZ XI, 13, dort Collot) vor allem wiederum die Donner- und Blitzmetapher in Replik 82: »Volk du bist groß. Du offenbarst dich unter Blitzstrahlen und Donnerschlägen«, die an Collots Satz: »Ich bin unwillig, [...] daß die Rache des Vaterlandes so still und finster ist; mit Blitzeshelle und Donnerschlägen muß es seine Feinde zernichten.« (UZ XI, 16) anklingt.53 An all diesen Stellen zeigt die Handschrift entweder keine Schreibunsicherheiten oder nur Korrekturen stilistischer Art wie etwa die Umwandlung des ungeschickten »Lyoner« in »Brüder von Lyon« (Repl. 91). Zu Replik 99: Büchner orientiert sich für Robespierres Rede im »Jakobinerclubb« weitgehend an der in UZ ausführlich wiedergegebenen programmatischen Rede, die der historische Robespierre am 5. Februar 1794 im Konvent gehalten hatte. Den Duktus dieser Rede konnte er freilich nur zum Teil übernehmen. Zur Regierungsrhetorik dieser Monate hatte gehört, die zwei abweichenden oppositionellen Fraktionen, die Ultrarevolutionäre und die Gemäßigten, als Flügel derselben Oppositionsbewegung darzustellen, die beiden >Abweichler< also möglichst in einem Atemzug zu nennen. Büchners Robespierre handelt einzelne Blökke getrennt ab: zunächst kurz die Ultrarevolutionäre, dann die Gemäßigten. Diese wiederum verfolgen zwei Strategien: sie suchen dem Volk einerseits seine »Waffe« (»Schrecken«), andererseits seine »Kraft« (»Tugend«) zu rauben.54 Das erste zeige sich in der Forderung des Gnaden-

53 Eine mögliche Anregung für die Repliken 206 (Robespierre »auf seinem Kalvarienberge zwischen den beyden Schachern Couthon u[nd] Collot, auf dem er opfert und nicht geopfert wird.«) und 213 (»Blutmessias, der opfert und nicht geopfert wird«) gibt UZ XI, 13 f,: »Die Zerstörung der Stadt und die Hinrichtungen der Bürger wurden als eben so viele Opfer dargestellt, welche man den Manen der guten Patrioten \...] darbrachte [...]. Collot d'Herbois erscheint als Hoherpriester bei dem Feste des vergötterten Ungeheuers fd. i. Chalier] und der Tyger — weint!« 54 Anstelle der in Replik 99 durchgeführten Unterscheidung Waffe = Schrecken und Kraft = Tugend hatte der historische Robespierre (L/Z XII, 34 f.) in terminologischer Anlehnung an Montesquieu zwischen »Triebfeder der Volksregierung im Frieden« (= »Tugend«) und »Triebfeder der Volksregierung in einer Revolution« (= »zugleich die Tugend und der Schrecken«) unterschieden.

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ausschusses, das zweite in Luxus und Korruption.55 In den zunächst präsentierten Angriffen auf die Ultrarevolutionäre stützt sich der Dramentext teils auf — in UZ überlieferte56 — Äußerungen Robespierres und Fouquiers, teils aber auch auf — von Thiers wiedergegebene — publizistische Angriffe Camille Desmoulins', so etwa auf dessen Vorwurf, die Hebertisten suchten die »erprobtesten Patrioten [...] bey Seite zu werfen« (Replik 99)57. Der Angriff auf die Strategie der Moderierten, das Volk zu entwaffnen, folgt fast durchwegs den in UZ überlieferten Worten des historischen Robespierre über »die Triebfeder der Volksregierung«. 58 In dem Angriff auf die Strategie der Korrupten, der den letzten Teil der Rede darstellt und zu dessen Beginn die Handschrift übrigens deutliche Formulierungsunsicherheiten aufweist, finden sich neben einzelnen Reminiszenzen aus Unsere Zeit vor allem Spuren aus früheren Berichten von Thiers über die Angriffe der Jakobiner auf die Gruppe um Julien de Toulouse und Camille Desmoulins.59 Die von den Quellen abweichende Neuordnung der politischen Argumente und die Tatsache, daß Replik 99 Spuren aus sehr verschiedenen und z. T. weit auseinanderliegenden Passagen von Thiers und Unsere Zeit60 aufweist, lassen vermuten, daß Büchner für diese Replik eine nach inhaltlichen Gesichtspunkten geordnete Stoffsammlung auf der Grundlage von Thiers und UZ verwendet hat. Die Tatsache, daß eine derartige Streuung für Übernahmen aus Unsere Zeit üblich, für Übernahmen aus Thiers dagegen eher untypisch ist61, deutet noch einmal auf 55 Bei Thiers (S. 4 und S. 182) finden sich Hinweise auf die Unterscheidung zwischen Ultrarevolutionären, Gemäßigten und Korrupten. 56 Der 'zitatträchcigo Teil beginnt mit der Anlehnung an eine Redewendung Saint-Justs (UZ XII, 73: »Ich habe es gesagt und ich wiederhole es«); es folgen Zitate aus Robespierres Rede vom 5. 2. 1794 (UZ XII, 41); danach Zitate u. a. aus UZ XII, 81, 44 f., 87. 57 Bei Thiers (S. 112): »renverser et depasser les revolutionnaires les plus eprouves.« 58 Die Abweichungen verschärfen Robespierres »terreur«-Begriff, wie Büchners Robespierre insgesamt den radikaleren Jakobinern Collot und Billaud dadurch angenähert wird, daß Büchner Robespierres Begründung des Tugendbegriffs ausspart. — Die Spur einer bei Thiers (S. 181) wiedergegebenen Rede Saint-Justs zeigt sich in dem Wort »entnervt«. 59 Thiers, S. 4 und 131; vgl. auch Wender, S. 161. 60 Der von der Büchner-Forschungsstelle derzeit vorbereitete Quellenband zu Dantons Tod wird den Umfang der Quellenbezüge über das in der Studienausgabe DT und bei Wender Vorgelegte erheblich vermehren. 61 Ein mögliches Beispiel für dieses im Umgang mit Thiers' Text >untypische< Verfahren ist Replik 91, in der Büchner Passagen aus Thiers (S. 32 und 106—109) verwendet. Thiers, S. 32, gibt den Inhalt eines von Ronsin verfaßten Anschlags wieder, in dem es heißt, die mehrheitlich rebellischen Lyoner seien vor Jahresende vernichtet und die Rhone werde ihre Kadaver bis nach Toulon gewälzt haben. Thiers, S. 106, berichtet von der im selben Zusammenhang geäußerten Forderung Collots, »die Rhone mit Leichen [der Lyoner] anzufüllen«. Thiers, S. 107, berichtet vom Tode Gaillards.

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die unterschiedliche Verwendung beider Quellen hin. Thiers liefert im ganzen die szenische Struktur62, Unsere Zeit das für Erweiterungen und Präzisierungen nötige stoffliche und sprachliche Material. Beides ist untrennbar miteinander verschmolzen.

Dritte Entwurfsstufe Die Feststellung, daß als Kern der dramatischen Szenen im Zweifelsfall stets die historischen Teile anzusehen sind, ist nicht nur ein Erkenntnisregulativ für die Entstehungsgeschichte; diese Tatsache ist auch an der endgültigen Gestalt des Dramas noch ablesbar. Abgesehen von der schwer einzuordnenden Straßenszene II, 2 und der >Rüpelszene< II, 6 enthalten die beiden ersten Akte von Dantons Tod zwei Szenen >nurprivaten< Inhalts (II, 4 und II, 5) und zwei Szenen >nur-politischen< Inhalts, die Szene im Jakobinerclub (I, 3) und die Konventsszene (II, 7). In den übrigen Szenen umklammern Repliken privaten Inhalts die an historiographischen Quellen orientierten Szenenteile. Beide stehen ihrer Struktur nach im Verhältnis von Kern und Rahmen. >Privat< in diesem Sinne sind im ersten Akt etwa die Repliken 1-16 und 31—34 der Szene I, l, die Repliken 35-56 (Simon-Weib-Bürger) und 84-90 (SimonWeib) der Szene I, 2, die Repliken 113 f. mit der Frage »Wo ist Danton?« der Szene I, 4 und die Repliken 115 — 145 sowie 170—172 der Marionszene I, 5. Büchner — so kann man mit ästhetisch orientiertem Erkenntnisinteresse an diesen Beobachtungen ablesen - ist erstaunlich wenig um Integration und Verschleifung der Textteile bemüht, er stellt heterogene Blöcke nebeneinander. In entstehungsgeschichtlicher Hinsicht führen die gleichen Beobachtungen zu dem Schluß, daß Büchner entweder in die Lücken eines >historiographischen< und in der Replikenanordnung schon fertigen Entwurfs >privateprivaten< Szenen keine Informationen haben, erlauben es uns das überlieferte Manuskript und die Ausleihdaten, aus den Szenenkernen Schichten abzutragen, die offenbar nachträgliche Einschübe in einen schon fertigen Text darstellen. a) Späteste Schicht (nach Heine-Lektüre): Im Februar 1835 hat Büchner, offenbar aufgrund der Lektüre von Heines Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland6*^ in die erste Szene Elemente einmontiert, die die jetzigen Repliken 20, 21, 22 und 23 teils stark veränderten, teils erst entstehen ließen.65 Vor diesem nachträglichen Einschub, also auf der ersten Stufe, hatte die endgültige Reinschrift (H) der Szene I, l folgenden Szenenkern: auf Camille Desmoulins' Hinweis auf Sokrates (Repl. 18) und Philippeaus Antwort (Repl. 19) folgte eine längere Replik, in der Camille die dantonistischen »Staatsgrundsätze« entwickelte und mit der Aufforderung an Danton, »den Angriff im Convent« zu machen, endete. b) Späte Schicht (nach Lektüre von Mercier und Galerie historique): Eine zweite abtragbare Schicht ergibt sich aus dem Nachweis, daß Büchner vom 17. bis 19. Dezember 1834 aus der Darmstädrer Hofbibliothek Merciers Le Nouveau Paris und Galerie historique entlieh. Zu weiteren Werken, von denen sich Zitatspuren im Text finden, zum 7. und 8. Band von Charles Nodiers (Euvres completes und zu dem möglicherweise in Büchners Haus vorhandenen Supplementheft V zu Unsere Zeit, sind derartige Daten nicht überliefert. Bisher nicht erklärte Zitatspuren lassen darüber hinaus die Verwendung mindestens einer weiteren Quelle vermuten. Die Einarbeitungstechnik ist bei den Zitatspuren aus all diesen Werken durchaus vergleichbar, so daß sie hier zusammen behandelt werden können. Entsprechende Spuren finden sich an ver64 Vgl. Thomas Michael Mayer: Büchner-Chronik - In: Gß ////, S. 390 ff. 65 Vgl. auch Gß ////, S. 123, sowie das Faksimile der betr. Seiten in DT, S. 16 ff. - Die Einfügung wirkt sich darüber hinaus auch auf Replik 18 (Einfügung von »klassischen« und »Nimm einmal unsere Guillotinenromantik dagegen«) und eventuell auf Replik 213 aus. — Auch die Repliken 493—504 und 625 sind in einer letzten Überarbeitung in eine »Arbeitslücke nachgetragen« (vgl. DT [219851, S. 59 und 69).

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schiedenen Stellen des Dramas, und zwar in jedem Falle in der Form kürzerer Zusätze oder Einschübe, die sich meist ohne empfindliche Störung des Szenenduktus aus dem Text streichen lassen. Zugleich ist als eigentliches Indiz für Anfügungen auf der Ebene der Reinschrift festzustellen, daß das erhaltene Manuskript in der Nachbarschaft dieser Einfügungen Formulierungsunsicherheiten oder Überleitungsfloskeln aufweist. Dies sei an einigen Beispielen gezeigt. Repliken l bis 16: Thiers' Bericht (S. 186 f. und 195) konnte Büchner entnehmen, daß der Dantonist Herault-Sechelles bereits vor Beginn des Hebertistenprozesses, nämlich am 17. März, verhaftet worden war. Dem entspricht sowohl die Szene III, l, in der sich Herault in einer Weise, als sei ihm die Gefängnissituation bereits vertraut, an der »Katechisation« Chaumettes beteiligt, als auch die Replikenfolge 18 bis 23 auf der ersten Stufe der Reinschrift, auf der Herault noch nicht mit eigenen Repliken beteiligt ist. Auf der zweiten Stufe der Reinschrift notiert Büchner am Rand (vgl. DT, S. 16) die jetzige Replik 20, die er zunächst Herault, dann doch wieder Camille und schließlich auf der dritten Stufe (ebda., S. 17) endgültig Herault zuschreibt. Die jetzige von Herault vorgetragene Replik 22 wird in dieser Form erst auf der 3. Stufe notiert, und zwar zum Teil aufgrund von Textelementen, die auf der ersten Stufe der Handschrift Desmoulins hatte sprechen sollen. Offenbar wird hier bei der Abfassung der Druckvorlage ein Sprecher hinzugefügt, den die frühere Konzeption quellengemäß erst im Luxembourg-Gefängnis hätte auftreten lassen. Warum diese Änderung? Nodier (VII, 59) erwähnt die »voluptueuses soirees d'Herault-Sechelles, de Quinette et de Danton« mit einigen Damen und gibt Büchner damit das Stichwort, mit dessen Hilfe er die gesellschaftliche Situation der ersten Szene imaginiert. Zentral hierfür sind vor allem die Kartenspielrepliken l, 6—9, 13 — 16, während der Dialog zwischen Julie und Danton nicht situationsspezifisch ist. Der damit sich ergebenden Hypothese, daß es sich bei den Kartenspielrepliken um Ergebnisse der Erweiterungsstufe handelt, entspricht die Handschrift, die in den komplizierteren Repliken l und 16 erhebliche Formulierungsunsicherheiten aufweist. Replik 23: Büchner konnte Galerie historique entnehmen, daß die Dantonisten Danton die Rolle zugewiesen hatten, die Offensive mit einem Angriff im Konvent zu eröffnen.66 Der Schluß von Replik 23 »Danton du 67 wirst den Angriff im Convent machen« ist daher als nachträglicher Einschub zu deuten, was zugleich die im Manuskript

66 Galerie historique, S. 118: Man habe Danton bestürmt, »de monter, des le lendemain, ä la tribune, et d'y denoncer Robespierre et le comite du salut public.« 67 In Sofortkorrektur gestrichen. Vgl. DT, S. 20 (Faksimile von H, p. 10).

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noch erkennbare Korrektur erklärt. Auf der ersten Stufe der Reinschrift hatte Camille Desmoulins auf Philippeaus spätere Replik 19 zunächst geantwortet: »Wir müssen vorwärts, morgen greif ich sie geradezu an, dann einen entschlossenen Angriff im Convent! der Gnadenausschuß muß durchgesetzt, die ausgestoßenen Deputirten müssen wieder aufgenommen werden [. ..]«. 68 Und seine lange Replik, die Elemente der endgültigen Repliken 21, 22 und 23 enthielt, endete in der unmittelbaren Vorlage für diese Reinschrift vermutlich noch mit dem Satz »Wir werden den Leuten, welche über die nackten Schultern der allerliebsten Sünderin Frankreich den Nonnenschleier werfen wollen, auf die Finger schlagen.« Darauf konnte sich zwanglos Dantons Replik »Ich werde, du wirst, er wird« anschließen (Hervorhebungen von mir), wobei Danton freilich mit seinem resignierten Konjugieren nicht den Angriff im Konvent, sondern — einleuchtender — Camilles Euphorismen ironisch abgefertigt und zugleich dessen »allerliebste[r] Sünderin« Frankreich seine »alten Weiber« rhetorisch entgegengesetzt hatte. Der durch Galerie historique motivierte Einschub »Danton du mußt den Angriff im Convent machen« (so schon in der ersten Stufe der Reinschrift H, p. 12 zwischen Camilles »auf die Finger schlagen« und Dantons »Ich werde, du wirst« überliefert) wiederholte dagegen nicht nur in dramatisch ungeschickter Form den bereits zu Anfang der Replik erfolgten Vorsatz »dann einen entschlossenen Angriff im Convent«; er nahm vor allem der folgenden Replik Dantons das ursprüngliche Stichwort, das Büchner dann auf der letzten Stufe der Reinschrift (H, p. 10) in der Sofortkorrektur »du wirst« wiederherstellte. Replik 27: In den Recherches sur Eloquence revolutionnaire exponiert Nodier den Begriff »die ehrlichen Leute« (»honnetes gens«), um Robespierres politische Instinktlosigkeit am Neunten Thcrmidor ironisch zu kommentieren: Robespierre habe sich im Kampf gegen die thermidorianische Partei an die »honnetes gens« gewandt oder genauer: »vers une autre partie de Passemblee, pure, mais mobile et meticuleuse, qui renfermoit beaucoup de vertus privees et peu de forces politiques«69. Die Bedeutung des Terminus »honnetes gens« schwankt bei Nodier zwischen der Charakterisierung des philiströsen Sozialtypus derer, die ihren Geschäften nachgehen wollen70, und der Bezeichnung des »marais«, der mittleren Fraktion im Konvent. Büchner übernimmt diese doppelte Bedeutung des Begriffs. Philippeau schlägt also in der wohl 68 Ebda., S. 16 (Faksimile von H, p. 6). 69 (Euvres completes, Bd. VII, S. 282. Allgemeiner noch S. 283: »Un chef de parti qui n'a plus de ressources que dans le devouement et Penergie de ce qu'on appelle les honnetes gens, doit s'envejopper de son manteau et se brüler la cervelle.« 70 Diesen Aspekt, den Nodier später (VII, 305) akzentuiert und den Danton in Replik 28 aufnimmt, betont Wender, S. 120, Anm. 41.

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von Nodier abhängigen Replik 27 vor, Danton solle bei dem »Angriff im Convent« die mittlere Konventionsfraktion für die Ziele der Dantonisten gewinnen. Die vorangehende, zu den »ehrlichen Leuten« überleitende Replik zeigt ebenso wie die folgende Formulierungsunsicherheiten auf der Ebene der Handschrift. Replik 32: das Zitat aus Galerie historique »die Statue der Freiheit ist noch nicht gegossen [...]« ist sowohl durch die quasi-szenische Überleitung »Zwischen Thür und Angel will ich euch 71 prophezeien [...]« als auch durch das zunächst doppelte »noch« als Einschub erkennbar; der Fortgang — »die Finger dabey verbrennen« — wirkt sich auf die folgende Replik aus, in der Büchner ein in UZ (XII, 120) überliefertes Motiv — »Ehrgeiz« Dantons — streicht und einen sprachlichen Anschluß (»die Finger davon lassen«) vorzieht. Als Quelle für den Hinweis auf die noch nicht gegossene Statue der Freiheit kommen Galerie historique oder Nodiers Werke in Frage.72 Replik 58: Hier unterbricht der wohl auf die Lektüre Merciers (II, 160) zurückgehende kleine Einschub »das sind Wölfe!« das übrige einfache rhetorische Schema der Replik. Replik 158: Den bei Thiers überlieferten Text »Je le sais, disait Danton, ils veulent m'arreter! ... Mais non, ajoutait-il, ils n'oseront pas« 73 ergänzt Büchner durch das auf Galerie historique (S. 118) zurückgehende »nach einigem Besinnen« (»apres un moment de reflexion«). Das am Rand eingefügte »Doch« anstelle des vielleicht anläßlich der Ergänzung irrtümlich ausgefallenen, bei Thiers verzeichneten »aber nein« sucht den Übergang zu schaffen. Replik 161: Den Hinweis auf die »Section der rothen Mütze« konnte Büchner Mercier (VI, 5) entnehmen; dieser Hinweis und die folgende — im Manuskript sprachlich noch nicht ganz sichere74 — Witz-Allegorie unterbricht den klareren Anschluß von Replik 161 (»Für das Volk sind Schwäche und Mäßigung eins. Es schlägt die Nachzügler todt.«) zu Replik 162 (»Sehr wahr, und außerdem — das Volk ist wie ein Kind, es muß Alles zerbrechen [...]«). Repliken 182 bis 184: Der Einschub aus Galerie historique (S. 117) (»unsere Streiche müssen [...]« bis »[...] wir müssen uns zeigen!«) steht

71 In H gestrichen. 72 Galerie historique, Bd. IV, S. 115: »mais la statue de la liberte n'est pas encore fondue; si vous ne surveillez le fourneau, vous serez tous brüles.« — Nodier: (Euvres completes, Bd. VII, S. 97: »Vous rappelez-vous la menaqante prophetic de Danton? >Le bronze qui doit former la statue de la liberte est en pleine fusion. Si nous manquons le moment de la couler, il nous devorera tous!< — Vgl. Wender, S. 34. 73 Thiers 201; in Galerie historique (S. 118) in der Form »Ils n'oseraient.« 74 Sofortkorrektur: »Danton« / »der Mann des September«; Spätkorrektur: »ist« /

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am Ende einer szenischen Sequenz und wird eingeleitet durch die Überleitungsfloskel » Uebrigens «. Repliken 206 bis 208: Am Ende von Replik 206 beginnt eine Reihe von durch Schreibunsicherheit gekennzeichneten Einfügungen. Aus Galerie historique stammt vermutlich: »>er trägt seinen Kopf wie eine Monstranz.< St. J u s t . Ich will ihn den seinigen wie St. Denis tragen machen.«75 Von Nodier oder von Mercier konnte Büchner sowohl den Hinweis auf Robespierres krampfhafte Fingerbewegungen76 wie die ironischen Attacken auf Barrere77 übernehmen, soweit er diese nicht schon aus Thiers kannte.78 Die Einfügungen enden in einem >Medizinerwitz< (»hippocratische[s] Gesicht«, »sich [...] zu Leichen setzen«), dessen Einleitung (» Wer kann was dafür? Das ist so seine Gabe [...]«) in der Reinschrift genetisch unsicher ist und stilistisch nicht Desmoulins' schriftstellerischem Niveau entspricht. — Eliminiert man diese Einfügungen, so erhält man eine — hinsichtlich der Textlogik — klarere Folge von Repliken, die auch ohne die zuletzt noch nötigen Ergänzungen der Regieanweisungen (»liest«; »liest weiter«) auskam. Robespierre — so könnte der ursprüngliche Text gelautet haben — liest Camilles gegen ihn gerichtete publizistische Attacke und kommentiert unmittelbar: »Also auch du Camille?« Den Inhalt der Attacke konnte Büchner freilich nicht den Quellen entnehmen, da weder Thiers noch Unsere Zeit von persönlichen Angriffen Desmoulins' auf Robespierre berichten. Hier ließ sich Büchner möglicherweise durch das für den Collot/LyonKomplex zentrale Motiv des religiösen Opfers79 anregen. 75 Galerie historique, S. 191: Desmoulins habe im Vieux Cordelier über Saint-Just geschrieben » »qu'il porrnir sä rere comme tin Sr-Sacrament:< et St-Just. qui entendait mal la plaisanterie, avait repondu: >Je lui ferai porter la sienne comme St-Denis.< « — Nodier (VII, 68) überliefert Desmoulins' Formulierung, aber nicht Saint-Justs Antwort. 76 Nodier VII, 266: »au tressaillement de ses doigts qui jouent sur la planche de la tribune comme sur les touches d'une epinette«; Mercier I, 113: »et Papotre Robespierre, avec ses mains seches et arides et des mouvemens convulsifs, se cramponna ä la tribune |.. ,|«. — Die hier gegenüber der Studienausgabe DT abweichenden Seitenzahlen aller Mcrcier-Zitate erklären sich daraus, daß die Büchner-Forschungsstelle inzwischen auf die auch von Büchner benützte Ausgabe zurückgreifen kann (6 Bde. — Paris: Fuchs, Pougens, Cramer [1797]; Exemplare in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz sowie in der Landesbibliothek Stuttgart); zur Paginierung des Exemplars der Darmstädter Hofbibliothek vgl. Mayer: Zur Revision (s. Anm. 9), 1969, S. 323 (Bd. I: XXXVIII, 220 S.). 77 Nodier VII, 341: »Pendant quc la guillotine battoit monnoie sur la place de la Revolution, suivant l'epouvantable expression de Porateur le plus fleuri de la Montagne f . . . ] « ; S. 307: »Barrere ( . . . ] veuve de Robespierre«. — Mercier II, 133: »Nous ne parlerons pas de Pexpression de Barrere: Battre monnoie sur la place de la Revolution.« 78 Thiers, S. 130, überliefert als Zitat aus dem Vieux Cordelier: »Mais toi, mon eher Barrere, |...] si je voulais fouiller le vieux sac [ . . . ] « . — Zu den möglichen Quellenbezügen dieser Replik vgl. auch Wender, S. 145, Anm. 131. 79 S. oben S. 119 f. 127

Repl. 294: Büchner streicht den Unsere Zeit (XII, 123) zitierenden Satz Dantons »Sie wollen meinen Kopf.«, um zunächst das an Galerie historique (S. 118) angelehnte Zitat »Der Wohlfahrtsausschuß hat meine Verhaftung beschlossen [...]« einzufügen und dann mit dem früheren Text fortzufahren. Replik 310: Der vermutlich durch Galerie historique (S. 188) angeregte Hinweis auf Desmoulins' und Robespierres Schulkameradschaft steht am Anfang der Replik; die folgenden zwei Sätze zeigen auf nur drei Zeilen wiederholte Formulierungsansätze und eine Wortersetzung (»allein« / »einsam«) in der Konsequenz des dann gefundenen Textes. Repl. 370: Möglicher Nodier-Lektüre können sich die Anspielungen auf Moses und die Peliaden zum Abschluß von Saint-Justs großer Konventsrede verdanken.80 Die mythologischen Anspielungen der letzten Sätze unterscheiden sich inhaltlich von der übrigen Rede, in der der Naturwissenschaft und der Logik (»Wir schließen schnell und einfach«) entnommene Bilder dominieren. Repliken 544 bis 555: Wie Wender81 nachgewiesen hat, geht die Szene IV, 2 (»Dumas, ein Bürger«) auf Lektüre von Nodier zurück. Da die Reinschrift keine Unsicherheiten zeigt, wurde die gesamte Szene vermutlich — analog zu den in Woyzeck-H3 notierten Szenen — getrennt von der letzten Entwurfsstufe skizziert. Nicht nur sind die Übernahmen aus Unsere Zeit Supplement-Heft Nro. V denen aus Mercier, Nodier und Galerie historique vergleichbar, auffälliges Indiz für gemeinsame späte Einarbeitung ist auch die Tatsache, daß Quellenspuren aus diesen drei Werken sich gelegentlich mischen. In Replik 602 etwa gelangen Angaben aus dem Supplement-Heft ( » L u c i le [.. .1 setzt sich auf einen Stein f . . .l« 82 ) und Galerie historique (»[.. .1 unter die Fenster«83) gemeinsam in eine Szenenanweisung, und Replik 80 In relativ engem Zusammenhang verweist Nodier (VII, 83) anläßlich der oft diskutierten Frage, ob man ein altes Volk revolutionieren (d. h. »verjüngen«) könne, zunächst auf Moses und dann ironisch auf die Peliaden, die das Geheimnis der Revolution gekannt hätten: bei der Geburt eines Volkes helfe das Opfer eines Menschen, »mais quand ce peuple a vieilli, le gouffre de Curtius ne se referme que sur le peuple tout entier«. (VII, 85). Zur Einschätzung der Mythologeme vgl. zuletzt Wender, S. 183-189 und 191—207. Wender (S. 197) zufolge läßt Nodier den Sprecher Vergniaud mit dem zuletzt zitierten Satz »zu der resignierten Einsicht« gelangen, »daß bei der Revolutionierung einer alten Gesellschaft ein ganzes Volk geopfert werden muß«, eine Einsicht, die Büchners Saint-Just wenn auch ohne Resignation ebenfalls vertrete. Das Zitat sagt jedoch: »das ganze Volk«, was eindeutig dem auch sonst in der zeitgenössischen Revolutionsdiskussion belegbaren Gedanken entspricht, daß Revolutionen bei »alten Völkern« zu nichts als zur totalen Selbstvernichtung führen. 81 S. 36-42. 82 UZ Supplement-Heft V, 61 f.: »Die Wittwe Hebert und die Wittwe Camille-Desmoulins [...] saßen oft im Hofe der Conciergierie auf demselben Steine |...]«. 83 Galerie historique^ S. 191: »sous les fenetres«.

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391 ist wahrscheinlich aus einem Nodier- (»Dogge mit Taubenflügeln« 84 ) und einem Mercier-Zitat (»böser Genius« 85 ) zusammengesetzt. Für die wohl von der Lektüre des Supplementheftes abhängigen Repliken 614 bis 618 gilt wiederum, daß sie sich ohne Störung der Textlogik eliminieren ließen und daß der Beginn von Replik 619 (»Meinetwegen, was geht mich das an?«) wie eine Überleitungsphrase wirkt, während die Repliken 613 und der zweite Absatz von Replik 619 einen unmittelbaren Zusammenhang bilden. In Replik 621 schließlich führt der vom Supplementheft angeregte Satz »Das sind Phrasen für die Nachwelt« 86 zur Störung der wohl zunächst geplanten sarkastischen Sequenz »Wir stanken bey Lebzeiten schon hinlänglich. «, deren zweiten Satz Büchner dann streicht.87 Die Beobachtungen legen zugleich nahe, bei Zitaten, die dem »Entwurf einer Studienausgabe« (DT) zufolge aus der auch nach Wenders Ansicht noch unbekannten »Ergänzungsquelle« stammen, späten Einschub zu vermuten. Einschub wären demnach z. B. die Repliken 106 und 107, so daß an Legendres Satz in Replik 105 »Ich begreife nicht.« direkt Replik 108 mit der Frage angeschlossen hätte: »Wen glaubst du denn, daß Robespierre mit dem Catilina gemeint habe?« Aufgrund der Quellenlage läßt sich vermuten, daß Thiers für Szene III, 8 eine erste Anregung gab, die Büchner später auf der Basis einer weiteren Quelle ausführte 88 , während die Szene IV, 2 wohl erst auf der Ebene der Erweiterungsstufe konzipiert wurde. Auch für die Szene III, 3 ist diese späte Konzeption in Erwägung zu ziehen. Sowohl die einleitenden Angaben zum Ort (»Das Luxemburg. Ein Corridor«) und zum Auftreten Dantons (»auf und ab gehend«) als auch die abschließenden Sätze in den Repliken 426 und 428 dürfte Büchner Galerie historique verdanken, denn eine Szene, die den Korridor des Luxembourg-Gefangnisses zum Schauplatz hat, ist weder auf Thiers noch auf Unsere Zeit zurückführbar 89 . Dem widerspricht auf den ersten Blick, daß sowohl die Repliken 423 bis 426 Elemente enthalten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Thiers und UZ angeregt sind. Selbst Merciers bekannte Teil-Replik »Geht einmal Euren Phrasen nach« dürfte angeregt sein durch Thiers' inhaltlich ähnliche, Lacroix' Erstaunen kommentierende Erzählerreflexion: »et c'est une pour les hommes qui, poursuivant 84 85 86 87

Nodier VIII, 190: »Un dogue coiffe d'ailes de pigeon«; vgl. Wender, S. 171. Mercier I, S. XX. Vgl. UZ Supplement-Heft V, 62. Vgl. dazu auch Wenders (S. 73) plausible Annahme, Dantons Sitzposition am Fenster sei angeregt durch Quellen, denen zufolge Danton seine letzten Aussprüche aus seiner Zelle heraus für die »Öffentlichkeit* der in der Conciergerie Inhaftierten gesprochen habe. 88 Vgl. Wender, S. 97. 89 Vgl. Wender, S. 76 f. und 146.

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un but politique, ne se figurent pas assez les souffrances individuelles des victimes, et semblent ne pas y croire parce qu'ils ne les voient pas.«90 Beide Replikenkomplexe werden von allen Quellen übereinstimmend dem Conciergerie-Gefängnis zugeordnet; sie sind bei Thiers etwa in der Nachbarschaft von Aussprüchen Dantons plaziert, die Büchner im übrigen in der letzten Conciergerie-Szene (IV, 5) verarbeitet hat. Vermutlich lag dem Autor zu diesem letzten Teil des Dramas vor Beginn der Reinschrift ein Notizenkonvolut vor, in dem die Repliken 423—426 (soweit von Thiers und UZ abhängig) im Conciergerie-Teil plaziert waren. Die in Galerie historique (S. 118) enthaltene Information über Gespräche Dantons im »Corridor« des Luxembourg zusammen mit der unter dem Lektüre-Eindruck sich formenden Gestalt Merciers ließen den Autor vermutlich nachträglich die Szene III, 3 entwerfen, die er dann mit >Conciergerie-Material< anfüllte. Diese Neuordnung hat insofern auch Schwächen, als sie Lacroix' Erstaunen über das Elend der Inhaftierten von dem richtigen Ort, den überfüllten Kellern der Conciergerie, umlenkt an den falschen Ort, das vergleichsweise komfortable Luxembourg-Gefängnis. Ich erhoffe mir von diesen — in etlichen Punkten sicher noch differenzierbaren — Thesen zugleich Anstöße für philologische Diskussionen etwa über die Entstehungsgeschichte von Leonce und Lena, von Woyzeck oder selbst des Lews-Textes, aber auch für Fragen, die die ästhetische Qualität dieser Werke betreffen. So wäre etwa — gerade um dem negativen Beigeschmack entgegenzuwirken, der durch den Nachweis von gelegentlich sogar »mechanischer« Montage entstehen könnte über das paradoxe Verhältnis von »realistischer Sprache« auf der Ebene des fertigen Textes und Montage auf der Ebene des Schreibprozesses nachzudenken. Bekanntlich gewinnt das klassizistische Drama die rhetorische Geschlossenheit und den Kunstcharakter seiner Diktion durch sorgsame Verschleifung und Umwandlung der verwendeten Elemente. Umgekehrt dürfte der Eindruck des nicht literarisch Vorgeprägten, den Dantons Tod hervorruft, gerade auch auf Büchners spezifischem Verfahren der Quellenverarbeitung beruhen. Von den modernistischen Verfahrensweisen des 20. Jahrhunderts, die die Künstlichkeit der Texte durch den pointierten Hinweis auf die unterschiedliche Herkunft des montierten Materials eigens hervorheben, ist Büchner ebensoweit entfernt wie von einer Technik, die gerade jede auf die Heterogenität des Materials und die Mühe des Schreibprozesses deutende Spur sorgfältig tilgt. Von der klassizistischen Poetik aus geurteilt, sind Überleitungs90 Thiers 214; vgl. schon Wender, S. 155. — Freilich ist in diesen Repliken die ursprüngliche Thiers-Anregung durch spätere Quellen überlagert, im einen Falle durch das Supplement-Heft, im anderen Falle durch Galerie historique.

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floskeln wie »übrigens« oder »und außerdem« (Repl. 162) zweifellos Regelverstöße. Da der Autor Büchner den Figuren, »deren Gelenke bey jedem Schritt in fünffüßigen Jamben krachen« (Repl. 285), gerade mißtraute, dürften ihm diese >Regelverstöße< freilich gerade als Gewinn an mimetischer Qualität erschienen sein. Textgenetisch deutet die Überleitungsfloskel auf Quellenmontage; auf der Ebene des fertigen Textes entspricht sie dem Realitätspostulat von Kunst dadurch, daß sie die nur als künstlerische Norm begründbare Einheit der Person und ihrer Aussagen zerstört. An deren Stelle tritt — realitätsgerecht — der mäandrische Fluß der Gedanken und die logisch nicht immer stimmige Vielfalt der Motivationen. Mehrdeutig, schwer voraussagbar und fluktuierend werden damit zugleich auch die Motivations- und Motivzusammenhänge im gesamten Dramentext. Am Beispiel der ersten Szene sei dies abschließend kurz demonstriert. Kern der Szene — so vermute ich — ist ein auf Thiers und UZ beruhendes historisches Referat. An dieses lagert Büchner in verschiedenen Überarbeitungs- und Erweiterungsstufen weiteres, die Deutung jeweils modifizierendes Material an: Elemente aus Heines sensualistischem Programm oder Reminiszenzen an ästhetisch-naturwissenschaftliche Theoreme von Diderot und Goethe gehören hierzu ebenso wie der den ersten Szenenteil bestimmende Melancholiekomplex. Die Szene beginnt mit der Situation des Kartenspiels und endet mit einem Ausspruch Heraults, der Danton zum Spieler, zu einem »bloß zum Zeitvertreib« Handelnden erklärt. Diese offenbar der letzten Erweiterungsstufe angehörende Replik 91 ersetzt den in der Handschrift noch festgehaltenen Hinweis auf Dantons »Ehrgeiz« (Repl. 33: »Laßt ihn, glaubt ihr «), der vermutlich UZ (XII, 120) entnommen ist und also schon einer frühen Konzeptionsstufe angehörte. Wie aber verhält sich dieses neue Bild vom »Spieler« Danton zu dem früheren, das Danton als Ehrgeizigen, oder zu dem anderen, das ihn als derzeitigen Melancholiker zeichnet? Es führt nicht unbedingt eine bessere, sondern wohl nur eine andere Deutungsperspektive ein. Allgemeiner gesagt: die Einarbeitung von Quellen, in denen kontroverse Überlieferungen und Deutungen sich artikulieren, vermehrt das Bedeutungsspektrum der Figuren, Handlungen und Situationen und präsentiert zugleich die Personen in der offenen Lage derer, die geschichtlich handeln, ohne das Ergebnis oder auch nur ihr eigenes späteres Urteil über ihr derzeitiges Handeln zu kennen. Vielleicht meinte Büchner ebendies, als er vom Dramatiker sagte, er mache »vergangene Zeiten wieder aufleben«. 92 91 Die Handschrift (H, p. 13) zeigt, daß der Randeinschub »er könne die Finger davon lassen« und die letzte am unteren Seitenrand befindliche Replik von Szene I, l wahrscheinlich in einem Zusammenhang geschrieben wurden. 92 Brief an die Familie vom 28. Juli 1835 (HA II, 444).

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»An die Laterne!« Eine unbekannte >Quellenmontage< in Dantons Tod (1,2) Von Thomas Michael Mayer (Marburg)

Was der in der Forschung zu Büchners Revolutionsdrama häufig etwas leger gebrauchte Begriff der Quellen- oder Zitatmontage1 im Einzelfall genauer bedeuten könnte, soll ein besonders aufschlußreiches Beispiel belegen, das im Zusammenhang der Arbeiten am Quellenband 2 und am Kommentar der historisch-kritischen Ausgabe von Dantons Tod entdeckt wurde. Zu den wenigen bislang als eindeutig quellenabhängig bekannten Passagen in der >Gassengeistesgegenwärtige< und dadurch lebensrettende Antwort eines »jungen Menschen« auf die Drohung des Volkes, ihn »an die Laterne« zu hängen: »ihr werdet deßwegen nicht heller sehen!« (Replik 69)·*. 1 Vgl. etwa Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. — Stuttgart 21984, S. 50 ff. - Der irreführend mit literarischen und anderen künstlerischen Verfahren der Moderne konnotierte Begriff »Montage« sollte zumindest nicht mehr für die einfache wörtliche und situationsgerechte Entlehnung von Quellentexren gebraucht werden, wie sie sowohl im deutschen Geschichtsdrama vor Büchner durchaus üblich, als vor allem in der zeitgenössischen Dramatik Frankreichs geradezu programmatisch war (vgl. den Beitrag von Rosmarie Zeller im vorliegenden Band, S. 73 — 105, sowie Herbert Wender: Georg Büchners Bild der Großen Revolution. Zu den Quellen von Danton's Tod. — Frankfurt a. M. 1988 [= Büchner-Studien, Bd 4], S. 149-152 u. ö.). Alfred Behrmann und Joachim Wohlleben (Büchner: Dantons Tod. Eine Dramenanalyse. — Stuttgart 1980, hier S. 49 ff.) definieren »Montage« bereits genauer als Kombination von »Zitatfetzen« aus unterschiedlichen Quellenkontexten. 2 Vgl. Marburger Denkschrift, S. 90—98. Für Ermittlungen und Hinweise, die in den vorliegenden Beitrag eingegangen sind, danke ich allen Mitarbeitern der Marburger Büchner-Forschungsstelle, namentlich Ute Luckhardt, die auch den hier entscheidenden, von allen Quellenforschern bislang übersehenen Beleg einer Laternisierungsdrohung aus dem Sommer 1792 (s. unten S. 134 f., mittlere Spalte) sowie eine ganze Reihe weiterer Parallelen entdeckt hat. Insgesamt wird der Dtfwtow-Quellenband der kritischen Ausgabe die wörtlichen und sinngemäßen Entlehnungen Büchners gegenüber den Nachweisen der Studienausgabe DT noch einmal um etwa ein gutes Zehntel erweitern. 3 DT, S. 24; nach T. M. Mayer: Zur Revision der Quellen für Dantons Tod von Georg Büchner. — In: Studi gerrnanici, n. s. 7 (1969), S. 317; unter den Marginalien der Ausgabe DT ist für den wiederholten Ruf »An die Laterne!« wenigstens zu Replik 68 der Verweis auf dieselbe Quelle, den ersten Band von UZ (S. 509), zu ergänzen.

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A. Behrmann und J. Wohlleben haben das aus »einer vom DantonistenKapitel entlegenen Stelle«, und zwar aus dem ersten Band der deutschen Hauptquelle Unsere Zeit (UZ) stammende Zitat — die Handlungszeit des Dramas ist bekanntlich erst im 12. Band geschildert — als Beispiel für Büchners »zweckvoll filterndes und raffendes Gedächtnis« sowie für seine Fähigkeit angeführt, »ironisch kombinierend« über »pointierte Äußerungen [...] aus dem Strom der Historikerepik« zu verfügen; »[n]ur im weitesten Sinn« sei »der Zusammenhang in der Quelle« mit demjenigen in Büchners Stück vergleichbar, »und auch das nur atmosphärisch: die drohende Menge zeigt sich für die kaltblütige Schlagfertigkeit ihres Opfers empfänglich.«4 In der Tat wäre allein die Übertragung des im folgenden Paralleldruck S. 135 links wiedergegebenen Vorfalls aus der Anfangsphase der Revolution auf Ende März 1794 und die Verwandlung des in der Quelle charakterisierten Abbe Jean-Siffrey Maury (1746-1817) in einen »jungen Menschen« ein deutlicher Beleg für Büchners detaillierte Kenntnis des gesamten Revolutionsverlaufs vor allem aus der in der Familie seit seiner Schulzeit »vielfach [...] abends vorgelesen [en]« [7Z5, aber auch für seine freie und doch treffende Verwendung charakteristischer Episoden, Aussprüche und Redewendungen6. Doch Büchners Szene liegt — wie zumal die Personenbezeichnung »Junger Mensch« und die mit Replik 70 wörtlich übernommene Reaktion der »Umstehenden« (»Bravo, bravo!«) außer Zweifel stellen — neben anderen Vorlagen insbesondere eine weitere Stelle aus UZ zugrunde, an der ebenfalls über eine drohende >Laternisierung< und Lebensrettung durch »Geistesgegenwart«7 berichtet wird (im Paralleldruck jeweils mittlere Spalte). Auch dieser Vorfall gegen Ende Juli/ Anfang August 1792, den der 5. Band von Unsere Zeit im Kapitel »Vor4 Behrmann/Wohlleben (s. Anm. 1), S. 51. 5 Brief Wilhelm Büchners an Karl Emil Franzos, 23. 12.1878, in: SW, S. 638. - Daß sich schon in Büchners Schulaufsätzen Quellenspuren aus ÖZ finden, haben Ilona Broch (Drei Marginalien zu Georg Büchners Schülerschriften. - In: GBJb 5 [19851, S. 286 ff.) und Reinhard Pabst (im vorliegenden Band, S. 261 ff.) gezeigt. Herbert Wenders Erwägung (s. Anm. l, hier S. 31), daß zu den direkten D^«io«-Quellen möglicherweise nur die entscheidenden Bände von Thiers (Bd. VI) und UZ (Bd. XII) zu zählen seien, dürfte für Thiers zutreffen, gilt aber für UZ mit Sicherheit nicht. 6 Auf Büchners offenbar genaue Kenntnis etwa der »Redeformeln der revolutionären Institutionen« bzw. der »Offizialsprache des Konvents« hat Herbert Wender jüngst hingewiesen (a. a. O., S. 126 u. 99), wobei im Drama Formeln wie »In Betracht daß« (Repl. 524; entspricht »Considerant que«) oder auch »Ich verlange das Wort« (Repl. 97; entspricht »Je demande la parole«) gegenüber den jeweils unmittelbar zugrundeliegenden Quellen, wo sie sich an diesen Stellen nicht finden, sogar gewissermaßen historisierend ergänzt sind. 7 So UZ, Bd. I, S. 508 (s. Paralleldruck links) über den Abbe Maury; »außerordentliche Gegenwart des Geistes« auch in der im folgenden erwähnten dritten Lebensrettungsepisode (ÜZ, Bd. VI, S. 8; s. unten Text und Anm. 19).

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[UZ, Bd. V, S. 116 f.:] Allein in dem Garten spazieren zu gehen, konnte sie [Marie Antoinette; T.M.M.] ohne Lebensgefahr nicht mehr wagen. Zweimal hatte sie einen solchen Versuch gemacht, war aber durch das Geschrei, die Verhöhnungen und Drohungen des Volkes genöthigt worden, schnell wieder umzukehren. — Ein junger Mensch, der, die angehefteten Warnungen, nicht in den »verpesteten Garten von Coblenz« zu gehen, nicht achtend, dennoch sich dahin begeben hatte, wurde sogleich mit dem Geschrei: »Ha! sehet einen Verschwomen! Einen verpesteten Aristokraten! An die Laterne mit ihm/« begrüßt. Er aber kam schnell wieder zurück, entschuldigte sich mit Unwissenheit, [UZ, Suppl. V, S. 26:] Gnädiger Herr Jakobizog seine Schuhe aus, nahm sein Schnupftuch ner, sagte ich [der Verhaftete Riouffe; T.M.M.] aus der Tasche, zu ihm, Sie, die mit einer rothen Mütze gekrönt sind [...]. Er erwiederte mir ganz trocken, daß es keine gnädigen Herren mehr gebe. [UZ, Bd. VII, S. 161:] Die Gleichheit wurde zu dieser Zeit von den Jakobinern so weit getrieben, daß sie sogar das Wort Herr (Monsieur) abschafften und statt desselben das Wort Bürger (Citoyen) einführten. 134

[DT, S. 24; Repl. 61-71:] (ALLE schreien: todtgeschlage, todtgeschlage! Einige schleppen einen jungen Menschen herbey)

EINIGE STIMMEN: Er hat ein Schnupftuchl ein Aristocrat! an die Laterne! an die Laterne! 2. BÜRGER. Was? er schneuzt sich die Nase nicht mit den Fingern? An die Laterne! (Eine Laterne wird herunter gelassen.)

JÜNGER MENSCH. Ach meine Herrenl 2. BÜRGER. Esgiebt hier keine Herrenl An die Laterne! EINIGE singen: Die da liegen in der Erden, Von de Wurm gefresse werden. Besser hangen in der Luft, Als verfaulen in der Gruft!

[UZ, Bd. I, S. 508 f.:] Als Abgeordneter bei den Generalstaaten widmete er [der Abbe Maury; T. M. M.] sich muthig der Vertheidigung seines Ordens. Die sogenannte Orleans'sche Partei hatte ihn nach dem 14. Juli auf die Proscriptions-Listen gesetzt. Hierdurch erschreckt, flüchtete er nach Flandern, wurde zu Peronne fest gehalten und bedroht, vom Volk ermordet zu werden; der Muth einiger MunicipalitätsOfficiere dieser Stadt, und besonders seine Geistesgegenwart, retteten ihm das Leben. - Die Nationalversammlung forderte ihn zurück, und er kam, um auPs Neue allen Gefahren zu trotzen [. . .]. Niemand hat mehr wie er den Gefahren des Pöbels und der Aufrührer getrotzt. Er ging ruhigen Schrittes mitten durch die aufgebrachtesten und tobendsten Haufen, und beantwortete mit der größten Kaltblütigkeit, und oft sehr witzig, ihre schrecklichen Drohungen. Eines Tages als man ihm zurief: »An die Laterne mit dir, du Despotenknecht/« drehte er sich um und sagte: »Ihr werdet deßhalb doch nicht heller sehen wie jetzt. « Das Volk lachte und ließ ihn ruhig seiner Wege gehen. —

wischte damit den Staub und Sand von seinen Schuhsohlen ab, und wurde nun unter dem lauten Geschrei: »Bravol bravo! Es lebe der gute Bürger!« im Triumphe davongetragen.

JÜNGER MENSCH. Erbarmen! 3. BÜRGER. Nur ein Spielen mit einer Hanflocke um den Hals! S'ist nur ein Augenblick, wir sind barmherziger als ihr. Unser Leben ist der Mord durch Arbeit, wir hängen 60 Jahre lang am Strick und zapplen, aber wir werden uns losschneiden. An die Laterne! JUNGER MENSCH. Meinetwegen, ihr werdet deswegen nicht heller sehenl DIE UMSTEHENDEN: Bravo, bravo! EINIGE STIMMEN: Laßt ihn laufen/ (er entwischt.)

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bereitungen zu dem auf den 10. August 1792 festgesetzten allgemeinen Sturm des königlichen Schlosses« beschreibt, ist zeitlich entlegen und noch mehr als die Maury-Episode mit einer bestimmten historischen Situation verknüpft. Der »junge Mensch« nämlich, dem Büchner die Worte des Abbe in den Mund legt oder auch in dessen Gestalt er diesen verwandelt, stolperte wirklich an einem besonderen Ort zwischen die Parteien. In der explosiven Endkrise der konstitutionellen Monarchie hatte sich der Konflikt zwischen den Parisern und der seit ihrer gescheiterten Flucht im Tuilerien-Schloß isolierten und sich verschanzenden königlichen Familie so zugespitzt, daß nach der antiroyalistischen Massendemonstration des 20. Juni 1792 eine beiderseitig bewachte »Demarcationslinie« am Rand des Palastgartens gezogen wurde.8 Zunächst grenzten königliche Wachen jenen Bereich der Tuilerien ab, in dem Ludwig XVI., Marie Antoinette (die »Oesterreicherin«9) und ihr Hof nun quasi exterritorial auf den militärischen Entsatz durch die im geheimen herbeigerufenen österreichischen und preußischen Interventionstruppen warteten. Dann deklarierte die schon durch das wiederholte königliche Veto und die Entlassung der Girondeminister am 13. Juni in die Defensive gedrängte Nationalversammlung, die am Hof einen regelrechten »österreichischen Ausschuß« für die allgemeine Konterrevolution wirken sah10 und »das Vaterland in Gefahr« erkannte, ihrerseits die angrenzende Terrasse ihres Sitzungssaales (»Terrasse der Feuillants«) zum »National«- bzw. »öffentliche[n] Gemeingut« 11 . Und als in Paris am 28. Juli das berüchtigte »Manifest des Herzogs von Braunschweig« bekannt wurde 12 , das (im gesellschaftlichen und strategischen Hauptquartier der französischen Emigranten in Koblenz verfaßt) die Stadt mit der »militärischen Execution und gänzlichen Zerstörung« 13 bedrohte, zogen die Sansculotten selbst eine Grenze zwischen der französischen Nationalterrasse und dem >österreichischen< Königsgarten: »Auf der Stelle bemächtigte sich das Volk seines neuen Eigenthums, allein es untersagte sich selbst den Eingang in den übrigen Theil des Gartens und zog eine 8 Eine ausführliche Beschreibung der Umstände bei [Konrad Engelbert Oelsnerj: Luzifer oder gereinigte Beiträge zur Geschichte der Französischen Revolution. 2. Theil. — o. O. 1799 (= Scriptor Reprints, KronbergfTs. 1977), S. 30-43; Briefe vom 27. Juli und 4. August 1792. 9 L/Z, Bd. V, S. 116. 10 Vgl. UZ, Bd. IV, S. 349 ff. und 361. 11 UZ, Bd. V, S. 116 und 66. 12 So jedenfalls UZ, Bd. IV, S. 83; vgl. Oelsner, a. a. O., S. 39. Zum »Manifest« des Oberbefehlshabers der preußisch-österreichischen Interventionstruppcn, das tatsächlich aus dem Kreis der in Koblenz ebenfalls angetretenen Armee französischer Emigranten unter dem Prinzen Conde lanciert worden war, vgl. UZ, Bd. V, S. 69, 75 ff. und 93. 13 UZ, Bd. V, S. 81.

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dreifache [dreifarbige] 14 Schnur längs der Terrasse, welche zwischen dieser und dem Garten als Gränzlinie diente. An diese Schnur wurden nun mehrere Warnungstafeln geheftet, auf denen unter ändern geschrieben stand: >Hütet euch vor dem schwarzen Wald; Weg nach Coblenz; verpesteter Hof u. s. w.< « l 5

Diese Warnschilder nun anscheinend wirklich arglos übersehend, geriet der »junge Mensch« in Feindesgebiet und Lebensgefahr; er rettete sich durch eine Geste, deren >Geistesgegenwart< nicht nur den Autor von Unsere Zeit spürbar beeindruckte, sondern die ganz ähnlich und offenbar nach derselben Quelle auch Ludwig Borne im 12. Abschnitt (Der Garten der Tuilerien) seiner zuerst 1822/23 veröffentlichten Schilderungen aus Paris hervorgehoben hat: »Die |...] Terrasse führt die Straße Tivoli entlang, und heißt die Terrasse Feuillans, weil bis zur Revolution das Kloster der Feuillans da gestanden, in diesem Kloster hatte die National-Versammlung ihre Sitzungen. Zu jener Zeit, vor der Hinrichtung des Königs, beliebte es dem Volksmuthwillen, jene Terrasse mit einer dreifarbigen Schnur von dem übrigen Garten abzustecken, und er nannte sie le pays national^ zum Unterschiede des pays de Coblence. Wehe dem Bürger, der im pays de Coblence spazieren ging, er wurde für einen Aristokraten angesehen und mißhandelt. Ein junger Mann, dem diese geographische Eintheilung noch unbekannt war, stieg in das Koblenzer Land hinab. Zusammeniauf, wüthendes Geschrei, Verderben drohende Geberden. Da merkte der Unwissende was er begangen, kehrte zurück, zog seine Schuhe aus, und wischte den Staub von den Sohlen. Jubel, Beifallklatschen, und der Jüngling wurde im Triumphe fortgeführt. 16

Unsere Zeit nannte allerdings auch das für Büchners Dramatisierung auf eine frappante Weise sicher mitentscheidende Requisit dieser Geste, das »Schnupftuch«, mit dem der »junge Mensch« seine Sohlen abwischte. Die aus den Kursivsetzungen aller wörtlichen Parallelen in unserer Synopse ersichtliche nahtlose »Verschmelzung« 17 zweier verschiedener von UZ geschilderter Episoden und Personen scheint bereits für sich genommen, noch bevor man weitere literarische und historische Quellen berücksichtigt, als ein im kleinen genau überschaubares Fallbeispiel spezifische Züge von Büchners dramatischer Phantasie zu verdeutlichen, die sich vielleicht annähernd als eine »synthetische« oder kombinatorische Schreibweise bezeichnen ließen.18 14 Vgl. UZ, Bd. V, S. 116 und 204, sowie das folgende Borne-Zitat (Text u. Anm. 16). 15 UZ, Bd. V, S. 66 f. 16 Erstdruck 1823 im Morgenblatt für gebildete Stände (Nrn. 122-124); hier zit. nach Ludwig Börne's Gesammelte Schriften. Bd. 5. - Hamburg 21840, S. 94 f. 17 Zur entstehungsgeschichtlichen Bedeutung vgl. den Beitrag von Burghard Dedner im vorliegenden Band, S. 106-131, hier S. 108. 18 Vgl. (auch zu anderen Beispielen in Dantons Tod und Woyzeck) Katalog Marburg

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Zunächst ist unverkennbar, daß Büchner ein gewissermaßen affektives Interesse gerade an den von der liberalen Revolutionshistoriographie häufiger überlieferten Lebensrettungs-Geschichten hatte. Die Thiers folgende Luxembourg-Szene (Dantons Tod, 111,5), in der der Denunziant Laflotte darüber mit sich rechtet: »Was ist's denn, wenn ich auf eine Leiche trete um aus dem Grab zu klettern?« (Repl. 457), belegt dies ebenso wie Replik 479 mit der Wahl »zwischen einem Guillotinenbrett und dem Bett eines Jacobiners«, was auf von UZ (Bd. XII, S. 14—18) fast lüstern geschilderte Vorfälle zurückgeht. Und noch eine dritte dieser deutlich kolportageartig berichteten Episoden hat Büchner neben der Rettung des Abbe Maury und des »jungen Menschen« mit wörtlichen Entlehnungen in sein Drama übernommen; sie soll sich nach Unsere Zeit während der Septembertage von 1792 ereignet haben: unsere Zeit: »Ein Schriftsteller, Namens D u p l a i n e d e S t . A l b i n e , der in der Abtei gefangen saß, rettete sich durch eine außerordentliche Gegenwart des Geistes. Als die Thüre des Kerkers, in welchem er nebst ändern Gefangenen sich befand, eingesprengt wurde, kam er, mit einem Messer in der Hand, bis an den eindringenden Haufen des Volks. Schnell wandte er sich jetzt um, eilte in das Gefängniß zurück, von dem Pöbel begleitet, stieß einem unglücklichen gefangenen Priester das Messer in die Brust, drängte sich nachher durch den Haufen der Mörder, der ihn für ihres Gleichen hielt, durch, eilte nach seiner Wohnung, und fiel ohnmächtig nieder als er in dieselbe eintrat.« 19

Dantons Tod (Replik 505): »B a r r ere. (allein.)

[...] Als die Septembriseurs in die Gefängnisse drangen, faßt ein Gefangner sein Messer, er drängt sich unter die Mörder, er stößt es in die Brust eines Priesters, er ist gerettetl Wer kann was dawider haben?«

(21986), S. 196 f. u. 244 f. Alfons Glück hat ähnliches an der »Mischperson« des Doctors im Woyzeck gezeigt, in die zugleich — unterschiedlich gewichtete - Züge des gutachtenden Staatsmediziners Clarus und der Gießener Professoren Wilbrand und Liebig eingegangen sind; vgl. neben den betr. Aufsätzen im GBJb 5 (1985), S. 139—182, und im Katalog Darmstadt, S. 314—332, jetzt auch Alfons Glück: Woyzeck — Clarus — Büchner (Umrisse). — In: Burghard Dedner und Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium 1987. Referate. — Meisenheim, Frankfurt a. M. 1990 (= Büchner-Studien, Bd. 6), S. 435. Daß außer diesen drei historischen Personen für die Doctorfigur auch noch literarische Vorlagen mitgedacht waren, belegt Elvira Steppacher (im vorliegenden Band, S. 280 ff.). 19 UZ, Bd. VI, S. 8, aus dem Kapitel »Die Septembermorde. (Fortsetzung.)«.

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Gleich drei solche Szenen also, die — in den Bänden I, V und VI von UZ berichtet - aus insgesamt rund 6 000 Seiten dieser Quelle20 herausgelöst in Büchners Drama eingehen. Dabei mußte die letztgenannte Septemberszene an ihrem historischen Ort belassen und als rückerinnernde Reflexion der Dramenfigur Barrere gestaltet werden, die auf diese nicht unproblematische Weise als jakobinisches Pendant zu Laflotte ihr »Gewissen« zu entlasten versucht.21 Auch die besonderen Umstände der Gefährdung und Selbstrettung des »jungen Menschen« waren weder in die Handlungszeit des Stückes übertragbar, noch wären sie als stumme Aktion mit komplizierten Voraussetzungen (darunter schriftlichen »Warnungstafeln«) überhaupt bühnenwirksam dramatisierbar gewesen. Die >Laternisierung< als solche allerdings, von der dieser »junge Mensch« 1792 ebenso wie der Abbe Maury im Jahr 1789 bedroht war, galt vom Bastillesturm bis zum Ende der Terreur neben der Pike als das Mittel der revolutionären Volksgewalt. Auf zahlreichen zeitgenössi20 Bde I—XII bei meist jeweils 512 Kleinoktavseiten pro Band. 21 Offensichtlich ist die Parallele zwischen Barreres (Selbst-)Rechtfertigung seiner Position im Wohlfahrtsausschuß (Repl. 505: »Komm mein Gewissen, [...] da ist Futter. [Ursprünglich: Komm mein Gewissen, wir vertragen uns noch ganz gut.] (...) der Tod war mir gewiß.«) und Laflottes Rechtfertigung seiner Denunziation (Repl. 459 u. 461: »Man bekommt Gewissensbisse [...). Nein! Der Schmerz ist die einzige Sünde [...], ich werde tugendhaft bleiben.«). - Auch wenn allen fünf Fällen - Abbe Maury, »junger Mensch«, Laflotte (vgl. Thiers, Bd. VI, S. 223: »Le lache Laflotte, croyant obtenir la vie et la liberte en denon9ant un complot«), Saint Albine im September 1792 und Barrere (nur in Büchners Stück) — zunächst die »Rettung« des eigenen Lebens gemeinsam ist, so bestehen doch große Unterschiede hinsichtlich der Mittel und der moralischen Konsequenzen, denn im Unterschied zu den beiden erstgenannten Fällen 'klettert« der Selbsterhaltungstrieb in den drei anderen wirklich über >LeichenSelbsterhaltung< im literarischen Werk und in den philosophischen Nachlaßschriften Georg Büchners. — In: Dedner und Oesterle (Hrsg.), a. a. O., S. 17-36; sowie Hans-Georg Werner: Der aufrührerische Materialismus. Zur Struktur von Büchners dichterischem Weltbild. Referat auf dem »Internationalen wissenschaftlichen Kolloquium »Georg Büchner - 1988Opfer< sollte jedoch, was im übrigen der historischen Ablösung der sansculottischen durch die jakobinische Terreur wiederum entspricht, auf der Straße gerade nicht zu Schaden kommen. Büchners Interesse an LebensrettungsEpisoden verband sich, nach der ganzen Anlage dieser Stelle zu schließen, vielmehr mit der Absicht, in der zweiten Expositionsszene seines Dramas die Situation und die Mentalität des Pariser Volks in der akuten Versorgungskrise des ausgehenden Winters 1793/9425 darzustellen, und zwar im Gegensatz sowohl zum Luxus und zu den Programmen der Moderierten (Szene 1,1) als auch zu Ideologie und politischer Praxis der robespierristischen Jakobiner26. Für diese Darstellungsziele wirklich geeignet war nun aber offenbar weder die Tuilerienepisode aus dem Jahr 1792 noch die Person des ultrakonservativen Abbe und späteren Kardinals Maury, der als Sohn eines Schuhmachers und ehemals »armer Geistlicher« durch Beziehungen »in den Besitz einer herrlichen Abtei gekommen« war und von dem UZ weiter den zynischen Ausspruch überlieferte: »Ich werde, die Revolution bekämpfend, umkommen, oder den Cardinalshut erhalten.« 27 Abgesehen davon, daß die Quelle außer offenbar seiner persönlichen Bekanntheit keinen dramatisierbaren Anlaß für Maurys Bredouille bot, war der entscheidende ihm zugeschriebene Satz »Ihr werdet [...] nicht heller sehen« (bzw. als Frage: »Y verrez-vous plus clair?«), auch wenn er 22 Vgl. Kaiithg Darmstadt, S. 229-231; weitere Abbildungen sowohl der historisch belegten Aktionen gegen Foulon und Bertier sowie den Bäcker 8 (alle Herbst 1789), als auch von Beispielen der Symbolik in der revolutionären Ikonographie bei Michel Vovelle: La Revolution fra^aise. Images et redt 1789-1799. - Paris 1987, Bd. l, S. 187 f.; Bd. 2, S. 17, 144, 149, 204 (»Les Fripons craignent les reverberes«!) u. 323. 23 Vgl. UZ, Bd. I, S. 402; im vorliegenden Zusammenhang zit. bei Burghard Dedner: Legitimationen des Schreckens in Georg Büchners Revolutionsdrama. — In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 343-380, hier S. 350. 24 Auch Büchners Quellen berichten danach keine solchen Vorfälle mehr. 25 Von der Quelle Thiers (Bd. VI, S. 171 ff.) etwas näher angedeutet; vgl. den Beitrag von Burghard Dedner oben im vorliegenden Band, S. 110 und 114. Eine weitere ausführliche Schilderung der ökonomischen Misere im Herbst 1793 findet sich UZ, Bd. X, S. 470-78 (übersetzt aus Thiers, Bd. V, S. 432-40); vgl. auch das Kapitel »Grande disette« (Winter 1793/4) in Merciers Le Nouveau Paris (Bd. III, S. 80-92). 26 Vgl. dazu ausführlicher Gß ////, S. 110-115. 27 UZ, Bd. I, S. 507 f. Die etwas über zwei Seiten umfassende Charakterisierung Maurys findet sich im Kapitel »Topographisch-strategische Beschreibung des Saals der [National-]Versammlung« (S. 495—515), wo er unter den »Deputirte(nl der rechten Seite« neben Cazales als einer der »zwei vorzüglichsten Redner« hervorgehoben ist. - Zum verbreiteten Volksspott gegen Maury vgl. Vovelle (s. oben Anm. 22), Bd. 2, S. 32 f.

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tatsächlich so gefallen sein sollte, sozusagen für seine Verhältnisse zu gut, weil zu sozial bedacht. Und wirklich charakteristisch für die Volksmentalität des Jahres II der Republik, die mit dem schließlichen Sturm auf das Tuilerienschloß am 10. August 1792 begann, waren natürlich nicht mehr Abgrenzungskonflikte mit dem Hof, sondern eben jene militant egalitären Züge der Gesinnung und des einfachen Lebensstils, wie sie sich u. a. in den Anredeformen (»Bürger« und das Duzen), in äußeren Symbolen (rote Mütze) oder in Beschlagnahme und Verteilung von Kleidungsstücken und Lebensmitteln ausdrückten, die über das pro Person mindestens Benötigte deutlich hinausgingen.28 Dies war Büchner sicher nicht nur aus den wenigen Andeutungen seiner unmittelbaren Danton-Quellen29 bekannt, sondern auch aus den ständig auf die Große Revolution bezogenen politischen Diskussionen im Frankreich der Julimonarchie. Im Versuch historischer Konkretisierung dürfte auch der Grund dafür liegen, daß und wie sich die lokale »Demarcationslinie«, die der »junge Mensch« der Quelle 1792 überschritt, in Büchners Stück gewissermaßen in eine soziale Klassenschranke verwandelte. Nur noch Auslöser für einen Assoziationsblitz, aber dennoch von der Quelle zweifelsfrei vorgegeben ist das »Schnupftuch«, das der junge Mensch dort gerade zu patriotischer Rechtfertigung gebrauchte, während es ihn jetzt im Stück als »Aristocrat« verdächtig macht, der sich nicht wie das Volk »die Nase mit den Fingern« schneuzt (Repl. 63). Zu einer solchen Identifizierung war es kaum nötig, daß Büchner etwa im 7. Band von UZ dem Bericht über eine Sektionsversammlung entnehmen konnte, wie ein Redner »sich die Nase |...] mit der Hand, wie die Bettler« putzte (S. 158); der Verfasser des Hessischen Landboten^ der mit Schärfe die »zierlichen Kleider« wie die »eigne Sprache« der Reichen vermerkte30 und in dessen 28 Vgl. Albert Soboul: Französische Revolution und Volksbewegung: die Sansculotten. Die Sektionen von Paris im Jahre //. Bearb. u. hrsg. von Walter Markov. — Frankfurt a. M. 1978 (= edition suhrkamp 960; zuerst: Les Sans-culottes [...], Teil II. - Paris 1958; Berlin/DDR 1962), hier besonders S. 70 ff. und 276 ff.; ferner, auch zu anderen Aspekten: George Rüde: Die Massen in der Französischen Revolution. — München 1961; Richard Cobb: Terreur et Subsistances 1793-1795. - Paris 1965. 29 Vgl. etwa zu den Anredeformen noch unten Anm. 97 sowie Mercier: Le Nouveau Paris, Bd. II, S. 181 ff., und UZ, Bd. VII, S. 165: Wenn Robespierre »in dem Nationalconvente das Wort >Herr< dem Namen irgend eines Mannes beisetzte, so galt dies eben so viel, als ein vorläufiges Todesurtheil«; ebd., S. 161, vgl. in der Synopse S. 134 links; das dort aus Platzgründen gekürzte Zitat lautet weiter: »Der Nationalconvent selbst nahm diese Veränderung an. Auch die Anrede Ihr und Sie wurde abgeschafft; die Franzosen fingen an, sich untereinander zu dutzen, und glaubten dadurch einen großen Schritt zur republikanischen Vollkommenheit gethan zu haben.« Zur Kleiderfrage vgl. u. a. im UZ-Hauptband XII, S. 16: »Wer an Sonntagen sich in bessern Kleidern sehen ließ, wurde verhaftet«. 30 HA II, S. 34. 141

Lustspiel Leonce und Lena sich die Bauern jedenfalls so lange »die Nasen nicht mit den Fingern« schneuzen dürfen, bis »das hohe Paar« zur dynastischen Hochzeit vorbeigefahren ist (111,2), wird diesen Unterschied auch so gekannt haben.

Damit biographisch ganz beim Autor, seinen politischen (aber auch poetologischen) Auffassungen und Voraussetzungen angelangt, lassen sich die Konstitutionsbedingungen der Szene noch erheblich erweitern, die dramatische Aufgabenstellung und ihre Gestaltung im einzelnen noch näher beschreiben. Nicht von ungefähr finden sich auch in Briefen Büchners, ein Jahr vor und unmittelbar nach der Entstehung von Dantons Tod, Laternisierungsphantasien: »Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu d[en] Laternen.« (An August Stöber, 9. Dezember 1833)31 »[...] Sie sollen noch erleben, zu was ein Deutscher nicht fähig ist, wenn er Hunger hat. Ich wollte, es ginge der ganzen Nation wie mir. Wenn es einmal ein Mißjahr gibt, worin nur der Hanf geräth! Das sollte lustig gehen [...].« (An Gutzkow, März 1835)'2

Das sind, was schon der Ton der Formulierungen erschließen läßt, auf die Person des Briefschreibers bezogen sicher symbolische, nicht unmittelbar gegenständliche Absichten, aber gerade vor dem Hintergrund zahlreicher weiterer Äußerungen zur revolutionären Gewalt33 doch keine oberflächlichen Bilder. »Ich gewöhnte mein Auge ans Blut, aber ich bin kein Guillotinenmesser«, schreibt Büchner im Januar 1834 im Brief über das Studium der französischen Revolutionsgeschichte34; und 1835 an Gutzkow: »Die ganze Revolution hat sich schon in Liberale und Absolutisten getheilt und muß von der ungebildeten und armen Klasse 31 32 33 34

Ebd., S. 422. Ebd., S. 436. Vgl. dazu GB ////, S. 98 f. HA II, S. 426. - Zu der insbesondere durch historische Wetterdaten (außergewöhnlicher Frühlingseinbruch im Dezember/Januar 1833/34), aber auch durch andere Überlegungen insgesamt zweifelsfrei gesicherten Neudatierung von Büchners >Fatalismusentfesselte< Volksaufstände beschrieben38 und das >Auffressen< vor Augen führten, ganz anders berührt haben als die meisten seiner Zeitgenossen39. Vor allem die aus zahlreichen, in erster Linie französischen Revolutionsgeschichten, Erinnerungen und anderen Quellen kompilierte Populärdarstellung Unsere Zeit enthält eine lange Reihe besonders eindringlicher und detaillierter Schilderungen von »Excessen« des »Pöbels«. Aus dem ersten Jahr der Revolution noch mit einem gewissen Verständnis für »das gemißhandelte, unterdrückte, ausgehungerte, und dadurch zum höchsten Zorn gereizte Volk« 40 beschrieben, werden solche Darstellungen aus dem Jahr 1792 (Sturm des königlichen Schlosses41 und Septembermorde42) immer schauriger und dem Genre der Heftchenreihe gemäß selbst immer blutrünstiger. Und schon Büchners Formulierung »Ich gewöhnte mein Auge ans Blut, aber« belegt, daß es auch für ihn, den selbst Gebildeten und >feineren Genüssen< Aufgeschlossenen43, vermutlich Ambivalenzen in diesem Punkt gegeben hat.44 Dem auffälligen Interesse an Lebensrettungsepisoden dürfte also auch ein Moment individueller Bedrohung und Bestürzung entsprochen haben. Darüber hinaus zeigt die 35 HA II,S.441.

36 D. h. seit der 'Eugenia--Sirzung vom 28. Juni 1832 (s. im vorliegenden Band, S. 368). 37 HA II, S. 455. 38 Dazu gehörte im übrigen auch Ludwig Tiecks große Novelle Der Aufruhr in den Cevennen, die Büchner im September 1834 gelesen hat (vgl. Gß ////, S. 386). 39 Bezeichnend für die gleichzeitige Konstellation unter den Linken in dieser Frage sind etwa Heines überwiegend skeptische, sogar angstbetonte Stellungnahmen zur Terreur (vgl. — neben vielen anderen Zeugnissen — vor allem Ludolf Wienbargs Bericht über einen Besuch bei Heine, den im Oktober 1830 nach der Lektüre von Mignets Revolutionsgeschichte Vorstellungen der Guillotine und der »heulendefn] Volksmeute« quälten; Gespräche mit Heine. Ges. u. hrsg. von H. H. Houben. — Potsdam 21948, S. 193), während Borne in seinen Studien über Geschichte und Menschen der Französischen Revolution (1834 ff.) gerade die »Ausgelassenheit« und »Anarchie« des Volkes als heilsam gegen »Unterwürfigkeit« und »Knechttum« betrachtete (Sämtliche Schriften. Neu bearb. u. hrsg. von Inge u. Peter Rippmann. Bd. 2. — Düsseldorf 1964, S. 1104 f.). 40 UZ, Bd. I, S. 309; vgl., mit weiteren ausführlichen Belegen zu diesem Thema, Dedner (s. oben Anm. 23), S. 350-353, hier S. 352, Anm. 24. 41 Vgl. UZ, Bd. V, S. 199 ff., 222 ff. u. 227 ff. 42 UZ, Bd. V, S. 465 bis Bd. VI, S. 32 - eine einzige Kette von »Gräuelthaten«. 43 So der enge Freund Wilhelm Schulz 1851, vgl. Gß ////, S. 8. 44 Dies hat zuletzt Jost Hermand in seinem Beitrag zum Streit um Leonce und Lena (GBJb 3/1983, S. 115 ff.) hervorgehoben.

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merkwürdige Erwägung des späteren Briefes an Gutzkow: »Jede Parthei, welche diese Hebel [materielles Elend und religiösen Fanatismus] anzusetzen versteht, wird siegen«45, wofür sich schon 1832 und 1834 Ansätze und Parallelen erkennen lassen46, daß Büchner durchaus auch mit der Möglichkeit demagogischer Irreführungen der »großen Klasse« rechnete. Dem Text der weiteren Dramenszene sind alle diese Momente tief eingeschrieben: erstens und überwiegend dasjenige des Massenhungers und seiner mobilisierenden Wirkung in den agitatorischen Reden des Ersten und Dritten Bürgers (Repl. 57, 58 u. 68), die den Ausbeutungsmetaphern und der revolutionären Rhetorik des Hessischen Landboten sehr nahe stehen47; dann das Moment der Bedrohung im >Kippen< der agitatorischen Argumente (»ergo«) 48 , im nur eben noch abgewendeten Lynchakt und seiner zunächst ausschließlichen Begründung mit zivilisatorischen Unterschieden (»lesen und schreiben«, »Schnupftuch«), aber auch in den historisch belegten Vorstellungen gerade der militantesten Sansculotten, erst eine weitere Steigerung der Terreur werde »dem Volk die Backen [...] roth« machen (Repl. 73 u. 74)49; und das Moment 45 HA II, S. 455. 46 Vgl. dazu unten im vorliegenden Band, S. 388 (Anm. 224 zum Protokoll der >Eugeniagesetzlichen< Terreur (Repl. 76—79) von geradezu historiographischer Scharfsicht (vgl. dazu auch Gß ////, S. 110-115).

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demagogischer Ausnützung des »Hebels« schließlich im Auftritt Robespierres (ab Repl. 71). Ein derart komplexes Darstellungsprogramm — oder auch ein an allen greifbaren Quellen sich jeweils selbst vergewisserndes Problembewußtsein50 —, wie war dies im ersten Stück eines gerade 21jährigen Autors überhaupt dramaturgisch-gestaltend umzusetzen? Hier müssen wir bei Büchner nach Hilfen nicht weit suchen, denn seit seiner Schulzeit51 war Shakespeare52 das erste, in- und auswendig befolgte »Ideal« 53 , das zweifellos auch zur Dramatisierung der beiden L/Z-Berichte bzw. zu ihrer szenischen Umrahmung beigetragen hat. In der großen Forum-Szene 111,2 von Julius Cäsar findet sich zunächst ein Modell für den in Dantons Tod der Laternisierungssequenz folgenden Auftritt Robespierres: Marcus Antonius zwischen den aufgebrachten Bürgern, die er zur Rache für Cäsars Ermordung aufwiegelt, aber auch in Schranken zu halten sucht. » Z w e y t e r B ü r g e r . Wir wollen Rache! Rache! Auf und sucht! Sengt brennt! schlagt! mordet! laßt nicht Einen leben! A n t o n i u s . Seyd ruhig, meine Bürger!54 50 Dieses hermeneutische Verfahren gilt nicht nur für Dantons Tod und Woyzeck (vgl. Gß ////, bes. S. 134, 390 u. 413 ff.), sondern auch für die »traditionsprüfende Schreibmethodik« und die »darstellerische Reflexion von Materialien der Geschichte« im Lenz (vgl. Hubert Gerschs Nachwort in: Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe [...].Stuttgart 1984, bes. S. 74). 51 Vgl. die Quellennachweise Fritz Bergemanns zu einigen der Schulheftnotizen Büchners (in: Georg Büchner: Werke und Briefe. Mit einem Nachwort von Fritz Bergemann. — München: dtv 1965, S. 227 f.) sowie die Briefe von Luck und Fr. Zimmermann an Franzos (ebd., S. 300—303). — S. auch meinen Beitrag über Büchners ShakespeareZiisic in GDJh 7 (1988/89), S. 9 ff. 52 Vgl., in den späteren Werkkommentaren noch immer nicht genügend berücksichtigt, Heinrich Vogeley: Georg Büchner und Shakespeare. — Phil. Diss. Marburg 1934 (S. 4—13: Zusammenfassung der biographischen Zeugnisse; S. 29—51: Werkparallelen). Speziell zu den Einflüssen Shakespeares auf Dantons Tod vgl. vor allem Josef Jansen: Georg Büchner. Dantons Tod. Erläuterungen und Dokumente. — Stuttgart 1969, S. 86-90; Behrmann/Wohlleben (s. oben Anm. 1), S. 168-172 u. passim (s. Register); sowie zuletzt Inge Lise Rasmussen Pin: Tracce dei drammi di Shakespeare nel Dantons Tod. - In: Studi germanici, n. s. 17-18 (1979-1980) [1983], S. 179-193 (ohne Kenntnis der zuvor genannten Titel, d. h. mit vielen bereits erwähnten Belegen, zahlreichen Irrtümern, aber auch einigen neuen, einleuchtenden Parallelstellen). — Die vorliegenden Kommentierungen (Hinderer, WuB) und die neuere Forschungsliteratur lassen gerade zum Verhältnis Büchner/Shakespeare das Phänomen der »Erkenntnisver schüttung« erkennen (vgl. Marburger Denkschrift, S. 53). Die Einflüsse der Schlegel/ Tieck-Übersetzungen auf das Werk Büchners dürfen weder im Bereich der wörtlichen Entlehnungen noch vor allem in den motivischen, szenischen, figurativen und formalen Aspekten als ausreichend geklärt gelten; vgl. jetzt auch den Beitrag zu den DantonQuellen von Reinhard Pabst unten im vorliegenden Band, S. 265, Anm. 19. 53 N, S. 18. Vgl. Büchners Briefaussagen (HA II, S. 435, 444 u. 463). 54 Vgl. auch die Volksszene »Platz in Brüssel« (11,1) in Goethes Egmont, welcher der Auftritt von Büchners Robespierre noch näher steht: »(Egmont tritt auf mit Begleitung)

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E r s t e r B ü r g e r . Still da! Hört den edlen Antonius! Z w e y t e r B ü r g e r . Wir wollen ihn hören, wir wollen ihm folgen, wir wollen für ihn sterben! A n t o n i u s . Ihr guten lieben Freund', ich muß euch nicht Hinreißen zu des Aufruhrs wilden Sturm [.. .].« 55 In der folgenden Szene 111,3 (»Eine Straße«) wird dann »der Poet« Cinna durch zufällige Namensgleichheit mit einem der bekannten Verschworenen gegen Cäsar Opfer der von Antonius aufgehetzten Menge: » ( B ü r g e r kommen.) E r s t e r B ü r g e r . Wie ist euer Nähme? Z w e y t e r B ü r g e r . Wo geht ihr hin? D r i t t e r B ü r g e r . Wo wohnt ihr?

M

C i n n a. [...] ich wohne beym Kapitol. D r i t t e r B ü r g e r . Euer Nähme, Herr! ehrlich! C i n n a . Ehrlich, mein Nähme ist Cinna. E r s t e r B ü r g e r . Reißt ihn in Stücke! Er ist ein Verschworner. C i n n a . Ich bin Cinna der Poet! Ich bin Cinna der Poet! V i e r t e r B ü r g e r . Zerreißt ihn für seine schlechten Verse! Zerreißt ihn für seine schlechten Verse! C i ri n a. Ich bin nicht Cinna der Verschworne. V i e r t e r B ü r g e r . Es thut nichts! sein Nähme ist Cinna; reißt ihm den Namen aus dem Herzen, und laßt ihn laufen. 56 D r i t t e r B ü r g e r . Zerreißt ihn! zerreißt ihn! Kommt Brände! Heda, Feuerbrände! Zum Brutus! Zum Cassius! Steckt alles in Brand! Ihr zu des Decius Hause! Ihr zu des Casca! Ihr zu des Ligarius! Fort! kommt! (Alle ab.)« 57 Mehrere auffallende wörtliche und situative Parallelen finden sich auch, worauf bereits Paul Landau 58 und Heinrich Vogeley59 hingewie-

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59

Egmont. Ruhig! Ruhig, Leute! Was gibt's? Ruhe! Bringt sie auseinander!« (s. DT, Repl. 36a, 72 und 99, letzter Absatz). Weitere Parallelbelege bei Reinhold Grimm: »Dantons Tod« — ein Gegenentwurf zu Goethes »Egraowf«? — In: GRM, N. F. 33 (1983), S. 424-457, hier S. 429. Shakspeare's dramatische Werke, übersetzt von August Wilhelm Schlegel. Zweyter Theil. Neue Auflage. - Berlin: Reimer 1822, S. 95. Die wörtliche Parallele zu DT Repl. 71 ist alles andere als eine sinngemäße (s. noch unten Text u. Anm. 81 u. 82). Wie Anm. 55, S. 101. Den Hinweis auf die Stelle verdanke ich Alfons Glück. Vogeley hatte (a. a. O., S. 31 u. 42) nur Julius Cäsar 111,2 mit dem »Wankelmut« des Volkes in Dantons Tod 111,10 in Verbindung gebracht (s. dazu noch unten Text u. Anm. 88). Georg Büchners Gesammelte Schriften. Hrsg. von Paul Landau. Bd. 1. - Berlin 1909, S. 80; vgl. Burghard Dedner (Hrsg.): Der widerständige Klassiker. Einleitungen zu Büchner vom Nachmärz bis zur Weimarer Republik. — Frankfurt a. M. 1989 (= Büchner-Studien, Bd. 5), S. 289. A. a. O., S. 31 (Synopse ohne Gegenüberstellungen im einzelnen).

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sen haben, in den Jack Cade-Szenen im 4. Akt von König Heinrich VI. (Zweiter Teil). Sie betreffen vor allem die in Dantons Tod der Aufgreifung des »jungen Menschen« vorausgehenden und folgenden Repliken 50 und 72 (»Was giebts [...]?«), 57-60 und 74 ff., d. h. das charakteristische »ergo« des Ersten Bürgers, sein wiederholt aufgenommenes »todtgeschlagen« und besonders seinen Satz »Todtgeschlagen, wer lesen und schreiben kann!«: » J o h [ann Holland]. [...] der Gerber von Wingham. — G e o r g [Bevis]. Der soll das Fell unsrer Feinde kriegen, um Hundsleder daraus zu machen.60 [--•l

J o h . Und Smith, der Leinweber, G e o r g . Ergo61 ist ihr Lebensfaden abgehaspelt.

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C a d e . [...] Nun, was giebt's?62 wen habt ihr da? (Es kommen Leute, die den S c h r e i b e r von Chatham vorführen) 63 S m i t h . Den Schreiber von Chatham: er kann lesen und schreiben, und Rechnungen aufsetzen. C a d e . O abscheulich! S m i t h . Wir ertappten ihn dabey, daß er den Jungen ihre Exempel durchsah. C a d e . Das ist mir ein Bösewicht! S m i t h . Er hat ein Buch in der Tasche, da sind rothe Buchstaben drin. C a d e . Ja, dann ist er gewiß ein Beschwörer. M ä r t (en). Ja, er kann auch Verschreibungen machen und Kanzleyschrift schreiben. C a d e . Es thut mir leid; der Mann ist, bey meiner Ehre, ein hübscher Mann 64 ; wenn ich ihn nicht schuldig finde, so soll er nicht sterben.- Komm her, Bursch, ich muß dich verhören. Wie ist dein Name? S c h r e i b [erj. Emanuel. M ä r t [ e n ] . Das pflegen sie an die Spitze der offenen Sendschreiben zu setzen.— Es wird euch schlimm ergehn. C a d e . Laßt mich allein machen. Pflegst du deinen Namen auszuschreiben, oder hast du ein Zeichen dafür wie ein ehrlicher schlichter Mann? Seh r e i b [er]. Gott sey Dank, Herr, ich bin so gut erzogen, daß ich meinen Namen schreiben kann. 60 Vgl. Dantons Tod, Repl. 58: »Wir wollen ihnen die Haut von den Schenkeln ziehen und uns Hosen draus machen«; dazu allerdings noch unten Text u. Anm. 75. 61 Vgl. noch unten Text u. Anm. 78. 62 Vgl. vor allem zu DT Repl. 72 auch oben Anm. 54. 63 Vgl. DT Repl. 61 a: »Einige schleppen einen jungen Menschen herbey«. S. auch noch unten Anm. 95. 64 Vgl. Dantons Tod (IV,8; Repl. 654): »1. W e i b . Ein hübscher Mann, der Herault.« Zwar ist Heraults Aussehen (und der Wortlaut DT Repl. 200: »Ein schöner Kopf.«) historisch belegt, doch es muß hier auch Egmont (11,1: » Z i m m e r m e i s t e r . Ein schöner Herr!«) wegen der bei Goethe unmittelbar folgenden Parallele zu DT Repl. 655 f. mitgedacht gewesen sein (vgl. Grimm, s. oben Anm. 54, S. 430 f.).

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A l l e . Er hat bekannt: fort mit ihm! Er ist ein Schelm und ein Verräther. Cade. Fort mit ihm, sage ich! hängt ihn mit seiner Feder und Dintenfaß um den Hals. (Einige mit dem Schreiber ab. [.. .])« 65 » B o t e . Mylord, ein Fang, ein Fang! [ . . . ] (Georg B e v i s kommt mit Lord S a y ) Cade. Gut, er soll zehnmal [...] geköpft werden. |...] Du hast höchst verrätherischer Weise die Jugend des Reiches verderbet, indem du eine lateinische Schule errichtet [...]. Du hast Friedensrichter angestellt, daß sie arme Leute vor sich rufen über Dinge, worauf sie nicht im Stande sind zu antworten. Du hast sie ferner gefangen gesetzt, und weil sie nicht lesen konnten, hast du sie hängen lassen, da sie doch bloß aus dem Grunde am meisten verdienten zu leben. Du reitest auf einer Decke, nicht wahr? Say. Nun, was thäte das? Cade. Ey, du solltest dein Pferd keinen Mantel tragen lassen, derweil ehrlichere Leute als du in Wams und Hosen gehn. M ä r t [ e n ] . Und im bloßen Hemde arbeiten obendrein; wie ich selbst zum Beyspiel, der ich ein Metzger bin. Say. Ihr Männer von Kent, — M ä r t [en]. Was sagt ihr von Kent? Say. Nichts als dies: es ist bona terra, mala gens. Cade. Fort mit ihm! fort mit ihm! Er spricht Latein. [ . . . )

i...]

C a d e . Ich fühle Mitleiden in mir mit seinen Worten, aber ich will es im Zaum halten; er soll sterben, und war' es nur, weil er so gut für sein Leben spricht. [...] Geht, schafft ihn fort, sage ich, und schlagt ihm gleich den Kopf ab |.. .|. (Einige ab mit Lord S a y ) « 6 6 »(Getümmel. C a d e mit seinem Gesindel tritt auf) C a d e . Die Fischerstraße herauf! die Sankt Magnus Ecke hinunter! Todtgeschlagen! In die Themse geworfen!« 67 Diese Szenen Shakespeares haben nicht nur"'Büchners Dialogtechnik mit Sicherheit beeinflußt, sondern sie waren offenbar selbst Stoff des Dialogs und der szenischen Phantasie. Sie könnten also Büchners Idee einer Dramatisierung ähnlicher Situationen erst veranlaßt oder doch mit bestärkt haben. Und erst zusammen mit Shakespeares Szenen läßt sich die verschlungene Kompliziertheit und Bedingtheit der quellenabhängigen Textgenese annähernd ermessen. Der Vergleich mit Shakespeare 65 Shakspeare's dramatische Werke. Uebersetzt von August Wilhelm von Schlegel, ergänzt und erläutert von Ludwig Tieck. Zweyter Theil. — Berlin: Reimer 1825, S. 236 u. 238 f. (Szene IV,2); vgl. Rasmussen Pin, a. a. O., S. 181. 66 Ebd., S. 245 f. u. 248 (Szene IV,7). 67 Ebd., S. 249 (Szene IV,8); vgl. Rasmussen Pin, S. 192 u. 181. 148

verdeutlicht in Übereinstimmungen wie Differenzen aber auch den Sinn der Danton-Szene und Büchners Darstellungsabsichten. Die Cade-Szenen, in denen Shakespeare seinerseits Elemente der historischen Revolte von 1450 mit solchen des Bauernaufstandes unter Wat Taylor von 1381 verknüpfte 68 , sind neben entsprechenden Passagen der Römerdramen 69 die in seinem Gesamtwerk umfänglichsten, für seine Sicht- und Darstellungsweise aufschlußreichsten Beschreibungen von Volksaufruhr. 70 Selbstverständlich mehr als die oben gegebenen Auszüge erkennen lassen, sind im Zweiten Teil von Heinrich VI. die Ursachen des Aufstandes im Rahmen des >Spiels der Mächtigen< entfaltet und erscheint der >strudelköpfige< Kenter Tuchmacher und »Rebell« Cade71, nachdem ihn seine Anhänger verlassen haben, auch als eine tragische Figur, deren Revolte einerseits nur im Interesse des auf den Thron prätendierenden Herzogs von York angezettelt ist, andererseits auch — sofern sie darüber hinausgeht — an internen Widersprüchen72 scheitert. Doch auch wenn etwa sogar Züge wie »das Ressentiment gegen alle Gebildeten« ihre Gründe in historischer Erbitterung der Plebejer über »die Privilegierung der Lesekundigen vor Gericht« gehabt haben mögen73, überwiegen doch in Shakespeares Szenen selbst die negativen, erschreckenden Züge. Demgegenüber verstärkt Büchner auch dort, wo er an ein so krasses Bild wie das »Leder« von der Haut der »Feinde« anknüpft 74 (wobei auch noch apokryphe Quellen zur Französischen Revolution mitgewirkt haben könnten 75 ), im engeren Dialogzusammenhang die Elemente der Ausbeutungsanalyse. Büchner hebt den Ersten 68 Vgl., auch zum folgenden: Anselm Schlösser: Shakespeare. Analysen und Interpretationen. - Berlin u. Weimar 1977, S. 122-127 u. 472-481, hier S. 122. 69 Vor allem: Julius Cäsar 111,2 u. 3; Coriolan 1,1; 11,2 u. 3; 111,1 u. 3; IV,3 u. 5. Vgl. unten Anm. 76. 70 Vgl. dazu neben Schlösser, a. a. O., S. 472 ff., auch ders.: Zur Präge >Volk und Mob< bei Shakespeare. — In: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 4 (1956), S. 148 — 171; Brents Stirling: The Populace in Shakespeare. — New York 1949; und vor allem die Analyse des Dramatikers Heiner Müller: Die Gestaltung des Volkes in Shakespeares Historiendramen, untersucht am Beispiel Heinrichs VI. — In: Shakespeare Jahrbuch 106 (1970), S. 127-175. 71 Vgl. 111,1 und das Personenverzeichnis. 72 Zu Cades Schwanken zwischen utopischer Gütergemeinschaft und eigenen Adelsallüren sowie zu seinen Anhängern vgl. Schlösser, a. a. O., S. 474 ff.; Heiner Müller, a. a. O., S. 156 ff. 73 Schlösser, S. 123; Müller, S. 166 f.; vgl. oben Text zu Anm. 66. 74 S. oben Text zu Anm. 60. 75 Vgl. die Belege bei Wender (s. oben Anm. l, S. 21) für in der zeitgenössischen Revolutionsgeschichtsschreibung verbreitete Berichte über eine Gerberei in Meudon, in der aus den Häuten Guillotinierter Hosenleder gemacht worden sei; vgl. Comte de Montgaillard fd. i. Maurice-Jacques Roques]: Histoire de France depuis la fin du regne de Louis XVI jusquä Vannee 1825 \...}. 9 Bde.- Paris: Moutardier 1827, Bd. 4, S. 290, Anm.

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und Dritten seiner »Bürger« in dieser Hinsicht nicht nur weit über die kruden Auslassungen des Cade-Haufens und selbst den beredtesten »Ersten Bürger« in der Eingangsszene des Coriolan76, sondern noch über das historische Niveau des Jahres II auf die Ebene des Hessischen Landboten und der eigenen neobabouvistischen Theorie.77 Noch stärker von Shakespeare abhängig, ihm nur nachgebildet, sind alle Momente des Umschlags der Volkserregung in Blindwut: das zusätzlich von Hamlet (V,l)78 abhängige »ergo« und die Attacke auf alle, die »lesen und schreiben« können, was sich tatsächlich wie aus der Vorlage in Büchners Szene >hineinkopiertDoppelrolle< des Archivars als Mittler zur Nutzung der ihm anvertrauten Quellen wie als deren bevorzugter, speziell qualifizierter Nutzer vielseitige Erfahrungen machen können. Ich war längere Zeit in einem großen Staatsarchiv tätig, wo ich Bestände von staatlichen Zentralbehörden und politischen Parteien wie auch Nachlässe von Politikern und Wissenschaftlern zu betreuen hatte. Die zweite Hälfte meiner Berufsjahre wurde und wird bestimmt durch die Arbeit in einem Literaturarchiv, dem Goethe- und Schiller-Archiv, also durch Konzentration auf archivarische, editorische und literaturwissenschaftliche Arbeiten an Nachlässen literarisch und künstlerisch tätiger Persönlichkeiten. Hier ist nun in aller Kürze etwas über dieses Archiv zu sagen.3 Entstanden im Jahre 1885 auf der Grundlage einer testamentarischen Bestimmung des letzten Goethe-Enkels, ist das Goethe- und Schiller-Archiv bereits in der ersten Phase seiner Entwicklung, in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg, wesentlich über seinen Ausgangspunkt, das persönliche Archiv Goethes, hinausgewachsen. Weitsichtige Literaturwissenschaftler, die seine Geschicke in dieser Zeit zu lenken hatten, faßten sehr frühzeitig das Ziel ins Auge, ein umfassendes Literaturarchiv für die gesamte deutschsprachige Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts zu schaffen. So waren um 1920 bereits etwa 35 Nachlässe hier konzentriert. Wenn darunter auch nicht wenige Persönlichkeiten der Weimarer Klassik waren — Schiller, Herder, Wieland wären hier ebenso zu nennen wie eine Anzahl von Freunden und Kontaktpersonen der Weimarer >Größen< —, so hatten sich doch auch schon Vertreter der nachklassischen Literatur eingefunden, waren u. a. größere Nachlässe von Freiligrath, Hebbel, Immermann, Mörike und Fritz Reuter erworben worden. Diese Entwicklung konnte — mit manchen Hemmnissen und Schwierigkeiten in der Zeit der Weimarer Republik und den Jahren des Faschismus, auf die hier nicht im einzelnen einzugehen ist — weitergeführt werden. Sie fand vor allem seit 1954, als die Weimarer Klassikinstitute 3 Vgl. Gerhard Schmid: 100 Jahre Goethe- und Schiller-Archiv. - In: Goethe Jahrbuch 102(1985), S. 251-264.

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unter dem gemeinsamen Dach der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur zusammengefaßt und personell wie sachlich großzügig ausgebaut wurden, eine zielbewußte Fortsetzung. Im Ergebnis befinden sich heute etwa 130 Nachlässe von Dichtern, Schriftstellern, bildenden Künstlern, Philosophen und Gelehrten im Goethe- und Schiller-Archiv; dazu noch eine Anzahl von Verlagsarchiven und Beständen literarischer oder künstlerischer Gesellschaften und Vereinigungen. Zu diesen Beständen zählt auch der Nachlaß Georg Büchners. Er gelangte im Jahre 1924 hierher, und zwar als Schenkung Anton Kippenbergs, des Inhabers des Insel-Verlages, der diesen Nachlaß 1918 aus dem Besitz der Nachkommen des Bruders Ludwig Büchner als Quellengrundlage für die Büchner-Gesamtausgabe seines Verlages erworben hatte. Nachdem diese erschienen war, gab Kippenberg den Nachlaß nach Weimar, da er selbst, getreu seinem Wahlspruch »Einen verehren«, seine persönlichen Sammlungen allein auf Goethe konzentriert hatte. Im Goethe- und Schiller-Archiv wird man diesen Zuwachs damals wohl als eine vergleichsweise geringe, quantitativ wie qualitativ nicht sehr bedeutende Erwerbung betrachtet haben. In der Tat mochte er sich mit seinem Umfang von zwei Kästen schon rein äußerlich mehr als bescheiden ausnehmen neben den 480 Kästen des Goethe-Archivs oder den 78 Kästen des Schiller-Bestandes, den 18 Kästen des Immermannund immer noch 6 Kästen des Hebbel-Nachlasses. Aber auch inhaltlich erschien die Erwerbung dem Hausherrn am Ilmufer und seinen zwei oder drei Mitarbeitern vermutlich nicht sehr bemerkenswert. War doch gerade auf der Grundlage dieses Nachlasses die ebengenannte, von Fritz Bergemann bearbeitete historisch-kritische Büchner-Gesamtausgabe veröffentlicht worden; und man teilte im Goethe- und Schiller-Archiv weitgehend die zu dieser Zeit in der >Zunft< noch verbreitete Auffassung, daß damit die handschriftlichen Quellen >ausgewertet< seien, also ihren Quellenwert verloren hätten und nur noch als Beweismittel für feststehende Thesen, im übrigen als verehrungswürdige Reliquien, als Erinnerungs- und Ausstellungsstücke von Bedeutung seien. So sah es auch Anton Kippenberg, der als Vertreter der Goethe-Gesellschaft zum Verwaltungsrat des Goethe- und Schiller-Archivs gehörte und dem Archiv noch manche weitere Schenkung übergeben oder vermittelt hat. In allen Fällen geschah dies unter der Vorstellung, daß es um die Sicherstellung musealer Reliquien ginge. Das zeigt sich auch in der zeitweiligen Zusatzbezeichnung des Goethe- und Schiller-Archivs als »Autographenmuseum der klassischen Zeit«, die auf Kippenbergs Vorschlag eingeführt wurde. Man muß heute feststellen, daß das Archiv damit in einer Zeit finanzieller und anderer Schwierigkeiten noch zusätzlich mit einer grundsätzlichen Fehlorientierung in seiner Aufgabenstellung belastet wurde. 161

Bei dem geringen Umfang des ins Goethe- und Schiller-Archiv gelangten Nachlasses von Georg Büchner spielt natürlich eine Rolle, daß es sich um den Niederschlag eines sehr kurzen, mit 23 }/2 Jahren abgebrochenen Lebens handelt. Aber es müssen nach Büchners Tod auch erhebliche Verluste eingetreten sein, denn Büchner selbst hat, wie sich aus mancherlei Anzeichen schließen läßt, seine Manuskripte und Briefschaften offensichtlich recht sorgfältig aufbewahrt. Er gehörte nicht zu den Dichtern, die geneigt sind, den >Wust verblichner Schrift ins FeuerDornröschenschlafsausgewertet< sein, völlig abwegig ist. Grundsätzlich kann dieser 6 Vgl. Hauschild, S. 84-87. 163

Vorstellung entgegengehalten werden, was Goethe einmal in der Geschichte der Farbenlehre formuliert hat: »Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unsern Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genösse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen läßt. Eben so ist es in den Wissenschaften.« 7

Daß diese Feststellung auch für die Literaturgeschichtsschreibung und ihr Verhältnis zu den Dichterhandschriften zutrifft, bedarf keines Nachweises, wenn auch gelegentlich einer Rückbesinnung und Vergewisserung. Aber wir brauchen gar nicht so hoch zu greifen. Die Tatsache, daß die gleichen Quellen von neuen inhaltlichen Gesichtspunkten aus immer neu zu befragen sind, ist nur die eine Seite. Die andere ist, daß uns viele Quellen in einer sehr spröden, oft sehr verschlüsselten Gestalt entgegentreten, daß sich manche wesentliche Aussagen hinter Eigenschaften und Merkmalen der äußeren und inneren Form verbergen, für deren Entschlüsselung spezielle Kenntnisse und Erfahrungen notwendig und immer neue und vertiefte Anstrengungen zu unternehmen sind. Hier geht es zunächst einmal ganz elementar um Probleme der Entzifferung von Handschriften, die im Gegensatz zu weit verbreiteter Praxis und Meinung nicht immer mit mehr oder weniger Kombinationsgabe zu lösen sind, bei deren Lösung vielmehr eine solide paläographische Ausbildung und entsprechende Übung im Umgang mit Schriften unterschiedlicher Zeiten vonnötcn ist. Informationen von entscheidender Bedeutung verbergen sich u. U. in Art und Format des Papiers, in der Beschriftungsweise, in den Bogen- und Heftungszusammenhängen. Von dem Befund der Schrift und des Papiers ausgehend ergeben sich zuweilen wichtige Gesichtspunkte zur Beurteilung des Entstehungsprozesses einer Handschrift, zu ihrer Einordnung in den Entstehungsgang eines Textes. Bei all diesen Fragen ist gerade der Archivar als Spezialist gefragt und angesprochen, kann gerade er seine Kenntnisse mit Nutzen einbringen. Und deshalb möchte ich nun hier von meinen ganz persönlichen Erfahrungen im Umgang mit dem Nachlaß Georg Büchners berichten. Wenn es, wie eingangs gesagt, Aufgabe des Archivars ist, Archivalien zu erschließen und die dazu notwendigen Verzeichnisse und sonstigen Hilfsmittel zu schaffen, so gerät er dabei in ein Dilemma. Er darf bei der ihm aufgetragenen Arbeit nur so weit in seinen jeweiligen Arbeitsgegen7 Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. 6. Bd. - Weimar 1957, S. 149.

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stand eindringen, wie es erforderlich ist, um die zum Zugriff, zum Auffinden benötigten Angaben zu ermitteln und in den entsprechenden Archivverzeichnissen zu fixieren. Wenn er sich in dieser Weise mit Manuskripten, Korrespondenzen, Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen von literarisch tätigen Persönlichkeiten beschäftigt, wird er dabei immer erkennen können, welche Bedeutung das eine oder andere Stück für die Forschung hat, für welches Thema es von Interesse ist. Täglich kann der Archivar kleine oder größere Entdeckungen in dieser Richtung machen. Aber es bleiben ihm nicht die Zeit und die Gelegenheit, die entsprechenden Themen selbst aufzugreifen. Er muß zum nächsten und übernächsten Objekt weiterschreiten, und so ergeben sich gewisse >Verhaltungen< und Frustrationen. Es gibt unter Archivaren eine Redewendung, in der das in drastischer Form zum Ausdruck kommt: Der Archivar ist dazu da, den Ochsen das Futter freßgerecht aufzustecken, darf aber selbst nicht an die Futterkrippe heran. Nun, um im Bild zu bleiben und zu einem anderen Sprichwort überzuwechseln: Der Archivar gehört andererseits selbst zu den Ochsen, denen man, da sie die nützliche Arbeit des Dreschens verrichten, das Maul nicht verbieten kann. Gerade wenn er sein Metier liebt und versteht, wird er es sich nicht verbieten lassen: Zum einen, weil er weiß, daß er, um der Forschung mit seiner Arbeit dienen zu können, selbst auch in der Forschung stehen, ihre Interessen und Probleme aus eigener Erfahrung kennen muß. Zum anderen, weil gerade er, wie schon gesagt, in besonderem Maße über Spezialkenntnisse und Erfahrungen verfügt, die für die allseitige Auswertung von archivalischen Quellen unentbehrlich oder zumindest nützlich sind. Und schließlich, weil er sich auf Dauer nicht der Faszination entziehen kann, die von den täglich durch seine Hände gehenden Dokumenten vergangener menschlicher Existenz ausgehen; weil er es bei bestimmten Manuskripten einfach nicht aushält, sie ungenutzt in den Regalen des Archivmagazins und den Rubriken der Verzeichnisse und Karteien verschwinden zu sehen oder sie anderen, Glücklicheren zu überlassen; weil er selbst an dem Abenteuer teilnehmen möchte, auf das man sich einläßt, wenn man analysierend an solche Dokumente der Vergangenheit herangeht, die Zusammenhänge ihrer Entstehung erschließt, in die Geheimnisse ihrer Verschlüsselung eindringt und sie für uns heute zum Sprechen zu bringen versucht. So war es jedenfalls für mich, als ich mich der Aufgabe zu stellen hatte, für den handschriftlichen Nachlaß Georg Büchners im Goetheund Schiller-Archiv, der nur durch ein provisorisches Verzeichnis erschlossen war, eine abschließende archivarische Bearbeitung vorzunehmen. Für diese Arbeit stand nicht sehr viel Zeit zur Verfügung, und es konnte nicht die Aufgabe sein, dabei ungeklärte Probleme der BüchnerForschung aufzugreifen und zu lösen. Neben dem Nachlaß Büchners warteten und warten fast hundert weitere kleinere und größere Bestän165

de, für die es ebenfalls nur vorläufige Verzeichnisse gibt, auf eine endgültige, allen Anforderungen genügende Erschließung. Daß unter diesen Umständen die Kräfte des kleinen zur Verfügung stehenden Teams sehr genau eingeteilt werden müssen, versteht sich von selbst. Der einzelne muß immer wieder persönliche Interessen zurückstecken und Einsicht in die Notwendigkeit des Verzichts beweisen. Und doch gibt es dann Augenblicke, wo sich ein Forschungsgegenstand, ein Thema so nachdrücklich bemerkbar macht, daß man sich ihm nicht mehr entziehen kann, daß man bereit ist, andere Interessen zurückzustellen und alle freie Zeit ihm zu widmen. Für mich wurden die Woyzecfc-Fragmente zu einem solchen Gegenstand. Je mehr ich mich mit den vorliegenden Ausgaben und der anwachsenden Spezialliteratur befaßte, um so mehr reizte es mich, hier einen weiterführenden Versuch zu unternehmen. Ich fühlte mich herausgefordert, diesen faszinierenden, an vielen Stellen kontrovers gedeuteten und insgesamt in seiner Struktur strittigen Text besser, genauer, zutreffender zu erfassen, um auf dieser Grundlage dann vielleicht etwas mehr Licht in das verwirrende Spiel der Meinungen über den Zusammenhang der einzelnen Fragmente und die geplante Szenenfolge zu bringen. Diesem Interesse kam eine konservatorische Notwendigkeit entgegen: Die Woyzecfe-Handschriften, vor allem die auf Foliobogen von schlechtem, dünnem Konzeptpapier geschriebenen ersten Entwürfe, befanden und befinden sich in einem so bedrohlichen Erhaltungszustand, daß sie der Benutzung, die doch ständig zunahm, nicht mehr länger ausgesetzt werden konnten. So wurde aus dieser Sorge und dem persönlichen Anliegen des >auf der Lauer liegendem interessierten Bearbeiters der Plan einer Faksimileausgabe geboren. Ihre erste Aufgabe sollte es sein, die Originale so weitgehend wie möglich für die Benutzung zu ersetzen. Da den Faksimiles natürlich eine Transkription beizugeben war, konnte diese Gelegenheit genutzt werden, um in einer zweiten Zielstellung dasjenige nachzuholen, was bei allen bisherigen Editionen entweder ganz versäumt oder inkonsequent und unzureichend geleistet worden war: nämlich erst einmal bis ins kleinste Detail zu ermitteln und zusammenhängend wiederzugeben, was denn nun wirklich auf diesen wenigen Blättern — es sind nicht mehr als 23 —, die seit Jahrzehnten so viel Kopfzerbrechen verursachen, geschrieben steht. Denn dies schien der entscheidende Mangel aller bisherigen Editionen und eine wesentliche Ursache mancher Kontroversen zu sein: daß man den zweiten oder gar dritten Schritt vor dem ersten getan hatte, indem man versuchte, die in jeder Hinsicht flüchtige und unfertige Niederschrift in eine editionsmäßige, mehr oder weniger normierte Wiedergabe umzusetzen, bevor sie richtig entziffert war. Was demgegenüber zunächst benötigt wurde, war genau das, was Klaus Kanzog mit einem Ausdruck, der mir durchaus treffend erscheint, als »Archivausgabe« 166

bezeichnet hat.8 Das war und ist, wie ich behaupten möchte, eine Notwendigkeit für fast jedes Werk, das nicht in einer vom Autor abgeschlossenen und veröffentlichten Textgestalt vorliegt, und im Falle der Woyzeck-Handschrihen war dieser erste Editionsschritt noch nicht in der erforderlichen Konsequenz getan. Ich will jetzt nicht auf Einzelheiten der Arbeit an der Faksimileausgabe eingehen. Natürlich gab es da Momente plötzlicher Inspiration, in denen sich eine immer und immer wieder vergeblich >belagerte< unklare Textstelle mit einem Schlage dem Verständnis erschloß. Es gab Augenblicke, in denen hinter flüchtigen, offensichtlich in hektischer Eile niedergeschriebenen Zeilen ein faszinierendes Bild des über diese Zeilen gebeugten Dichters aufzutauchen schien. Aber jeder, der solche Arbeit an handschriftlich überlieferten Texten schon einmal geleistet hat, wird bestätigen, daß dies zunächst und in erster Linie eine Sache hartnäckiger, kontinuierlicher Anstrengung, eine alle geistigen Kräfte anspannende Herausforderung, und in ihrer Gleichförmigkeit doch auch wieder fast eine langweilige, jedenfalls ermüdende Angelegenheit ist. Im Falle des Woyzeck hatte ich dabei zwei günstige Vorbedingungen, ohne die die Transkription sicher nicht in der jetzigen Form hätte vorgelegt werden können: Zum einen lagen bereits eine Vielzahl von Entzifferungsversuchen in früheren Ausgaben vor, wenn sie auch durch Normierungen unterschiedlichen Grades schon >verfremdet< waren. Diese Vorleistungen bildeten natürlich eine Gefahr, insofern sie keinen unvoreingenommenen Blick mehr zuließen. Sie erleichterten aber auch die Entzifferung; es wäre sicher nicht möglich gewesen, sozusagen in einem Schritt von einer unbekannten, unentzifferten Handschrift zu einer befriedigenden Transkription zu kommen. Zum anderen hatte ich als Mitarbeiter des Archivs, in dem der Nachlaß Büchners verwahrt wird, den unschätzbaren Vorteil, die Woyzeck-Handschriiten ständig zur Verfügung zu haben. Ich brauchte nicht bei einem zeitlich beschränkten Archivbesuch Tag für Tag von früh bis abends die Zeit voll zu nutzen, um über den Manuskripten zu >brütenJakobinische< und >Jacqueske< im weiteren Sinne des Wortes). Unter den vielen Formeln und Bezeichnungen, mit denen man Büchner bisher gerecht zu werden versuchte, ist die des melancholischen Revolutionär gewiß nicht die unpassendste. Jacques oder der melancholische Revolutionär: Mit dieser Formel ist sowohl der Revolutionär und politische Flugschriftsteller als auch der Dichter Büchner nicht schlecht charakterisiert. Zum Nachnamen Lucius: In seiner Besprechung der Darmstädter Büchner-Ausstellung des Jahres 1987 äußert Rolf Michaelis die Vermutung, Büchner könnte sich bei der Flucht nach Straßburg >Jacques Lucius< genannt haben »in Erinnerung an den am Sturm auf die Frankfurter Wache beteiligten Studenten Bernhard Licius, dem kurz zuvor die Flucht gelungen war« 21 . Nachdem der Aschaffenburger Student B. Lizius (auch Licius) am 31. Oktober 1833 aus dem Frankfurter Gefängnis geflohen war, wurden von der hessischen Oppositionsbewegung LiziusBilder verkauft und Spottverse auf den Gefängniswächter des Entflohenen (Schnitzspahn) in Umlauf gebracht: »Jetzt Schnitzspahn streck' die 19 Vgl. hierzu E. Theodor Voss: Arkadien in Büchners Leonce und Lena. — In: Burghard Dedner (Hrsg.): Georg Büchner. Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe, Beiträge zu Text und Quellen von Jörg Jochen Berns, Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer und E.Theodor Voss.— Frankfurt a. M. 1987 (= Büchner-Studien, Bd. 3), S. 368-372. 20 Zur Thematik der Melancholie bei Büchner vgl. etwa: Ludwig Völker (s. Anm. 17), S. 118 — 137; Hiltrud Gnüg: Melancholie-Problematik in Alfred de Mussets Fantasio und Georg Büchners Leonce und Lena. — In: Zeitschrift für deutsche Philologie 103 (1984), S. 194-211. 21 Rolf Michaelis: Von Revolution und holdem Biergenuß. Kann man Literatur inszenieren, ein Leben begehbar machen? — In: Die Zeit, Nr. 35, 21. August 1987, S. 30.

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Beine aus / Die Falle offen, fort die Maus! / O Polizei, wie viel Verdruß / Macht dir der Studio Lizius!«22 Büchner — seit August 1833 wieder in Hessen-Darmstadt lebend — hatte vermutlich Kenntnis von der geglückten Flucht des Studenten Lizius. Ob er sich freilich eineinhalb Jahre nach diesem Vorfall noch an den Namen des Studenten erinnerte, ist fraglich. Außerdem: Warum hat er sich — gesetzt den Fall, er erinnerte sich — dann nicht >LiziusLucius< genannt? Um den Namen, der womöglich auf den Fahndungslisten der Behörden stand, so zu verfremden, daß er Büchner bei Paßkontrollen nicht in Schwierigkeiten brachte? Da aber selbst die vokalisch leicht variierte Namensform >Lucius< statt >Lizius< als Deckname für einen politischen Flüchtling immer noch riskant war, halte ich es für unwahrscheinlich, daß der Deckname >Lucius< — von der Intention des Namengebers her gesehen — etwas mit dem entflohenen Studenten Lizius zu tun hat. Bei der Suche nach der Herkunft des Namens Lucius könnte man — gewitzt durch den Melancholiker Jaques — bei Shakespeare nachschlagen, in dessen Dramen es in der Tat vier Figuren gibt, die Lucius heißen. Es sind dies: 1. ein Diener des Brutus in Julius Caesar (II, 1); 2. einer der vier Söhne des Titus Andronicus in Shakespeares gleichnamigem Drama; 3. einer der fünf Diener von Timons Gläubigern in Timon of Athens-, und 4. der General des römischen Heeres, Caius Lucius, in Cymbeline. Diese vier dramatis personae sind freilich ausgesprochene Rand- bzw. Nebenfiguren, bei denen sich schwerlich eine Beziehung oder gar Affinität zu Büchner nachweisen läßt, die ihn hätte zur Wahl des Namens Lucius veranlassen können. Um das Dunkel um die Herkunft und den Sinn des Namens Lucius — wie ich hoffe — bis zum Nachweis des Gegenteils aufzuhellen, hier meine These zur Erklärung des zweiten Bestandteils von Büchners Deckname: Büchner — oder wer immer ihm den Tarnnamen gegeben hat — spielt mit dem Namen Lucius bewußt und absichtlich auf das Pränomen des legendären Begründers der römischen Republik und des Consulats, auf Lucius lunius Brutus an, den älteren Brutus also, den man nicht mit dem jüngeren Marcus lunius Brutus (85—42 v. Chr.), dem Caesarmörder, verwechseln darf. Lucius lunius Brutus soll um 510 v. Chr. den letzten römischen König Tarquinius Superbus vertrieben, d. h. Rom von der Königsherrschaft befreit und zugleich die republikanische Freiheit und das Konsulat in Rom etabliert haben. Als Führer der Revolution gegen die Königsherrschaft wird er erster Konsul in Rom. Aus dem

22 Vgl. \Jntersuchungsberichte zur republikanischen Bewegung in Hessen 1831 — 1834. Hrsg. von Reinhard Görisch und Thomas Michael Mayer. — Frankfurt a. M. 1982, S. 369, sowie Katalog Marburg, S. 109 f.

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apokryphen älteren Brutus, dem »konsularischen Ahnherrn der plebeischen Gens lunia«, »ist im Wandel der Jahrhunderte eine der lebendigsten Gestalten der römischen Legende«23 geworden. Als erster Held der römischen Revolutionssage fungiert Brutus traditionell als Prototyp des antiken Republikaners und Revolutionärs. An der Legendenbildung um den ersten römischen Konsul und Republikaner sind vor allem noch die beiden folgenden Motive beteiligt: Erstens das Motiv der Härte und Unerbittlichkeit gegen die eigene Familie — die republikanische Gesinnung über alles andere stellend, läßt Brutus seine beiden Söhne wegen antirepublikanischer Umtriebe hinrichten —, und zweitens der — einen würdigen Abschluß seiner politischen Laufbahn bildende — Heldentod des Brutus, der bei den kriegerischen Auseinandersetzungen um die Restauration der Königsherrschaft im Zweikampf mit seinem Vetter Aruns Tarquinius, den beide Streiter nicht überlebten, den Tod gefunden haben soll. Lucius lunius Brutus: Republikaner und Revolutionär; von äußerst strenger, kompromißloser republikanischer Gesinnung, die ihn das Wohl der Republik selbst über seine Vatergefühle stellen läßt; Republikaner bis zum letzten Atemzug, er stirbt den Heldentod im Kampf um die Verteidigung der Republik — welchem Kenner der Gymnasialschriften Büchners fielen hier nicht seine beiden Schülerreden ein, die Lobrede auf den Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer und die judiziale Rede zur Verteidigung des Cato von Utika mit ihrem Freiheitspathos, mit ihrem Lobpreis des Frei- bzw. Heldentodes für die Sache der »Freiheit«, des »Vaterlandes« und — unausgesprochen — der Republik, mit dem Lob Catos als eines tugendhaften, freiheitsliebenden, prinzipienstrengen Römers, der — wie der ältere Brutus — in seinem Leben und Sterben keine familiären Rücksichten walten läßt. Brutus hätte — ebenso wie Cato von Utika — ein gutes exemplum, eine gute Beispielfigur abgegeben für die heroische Aufopferungsbereitschaft des Menschen für die Sache der Republik und der Freiheit, denn er opfert seine Söhne im Dienste der Republik, und er" stirbt als Republikaner im Kampf gegen die Wiedereinsetzung der Könige. Der ältere Brutus paßt durchaus in die Reihe jener heroischen, vorbildlichen »Männer« der »Vorwelt«, die nach den Einleitungen von Büchners Schülerreden »sich Unvergänglichkeit zu erkämpfen wagten«, die »gleich Meteoren aus dem Dunkel des menschlichen Elends und Verderbens hervorstrahlen« 24 und die für den Schüler Büchner wichtige 23 Artikel »Lucius lunius Brutusunser< Lucius lunius Brutus, wie man im Register der BüchnerAusgaben von Fritz Bergemann seit 1922 nachlesen kann. Nicht nur dem Schüler, auch dem Verfasser von Dantons Tod war der ältere Brutus eine wohlvertraute geschichtliche bzw. legendäre Figur, die Büchner in zwei Repliken seines Revolutionsdramas zu Vergleichen und Anspielungen heranzieht. So bemerkt Paris, ein Freund Dantons, von Robespierre, er suche »eine Miene zu machen, wie Brutus, der seine Söhne opfert« 27 ; ein Vergleich, den Büchner seiner Hauptquelle, der Geschichtskompilation Unsere Zeit, entnommen hat.28 Und der skrupellose Zyniker Dumas benutzt den älteren Brutus und sein heroisches, die eigenen Söhne nicht schonendes Opfer für das republikanische Staatswohl29 als Vorwand für eine »brutale Umwertung des Geschichtsmodells. Während Brutus seine Söhne liebt und sie dennoch höheren politischen Zielen opferte, reicht Dumas seine ungeliebte Ehefrau der Guillotine dar.« 30 Kann man aus den beiden Brutus-Stellen in Dantons Tod weder auf ein negatives noch auf ein positives Brutus-Bild Büchners schließen — dazu sind die zwei Repliken zu sehr kontextVgl. M A, S. 17. Vgl. WitB, S. 435. - Der Fehler ist jetzt berichtigt in: MA, S. 422. MA, S. 84 (Dantons Tod I, 5). Vgl. DT, S. 33. Vgl. MA, S. 122 (Dantons Tod IV, 2): » B ü r g e r . [...] Du hast ein Weib. D u m a s . Ich werde bald eins gehabt haben. [...] Das Revolutionstribunal wird unsere Ehescheidung aussprechen, die Guillotine wird uns von Tisch und Bett trennen. B ü r g e r . Du bist ein Ungeheuer! D u m a s . Schwachkopf! du bewunderst Brutus? B ü r g e r . Von ganzer Seele. D u m a s . Muß man denn gerade römischer Konsul sein und sein Haupt mit der Toga verhüllen können um sein Liebstes dem Vaterlande zu opfern? Ich werde mir die Augen mit dem Ärmel meines roten Fracks abwischen, das ist der ganze Unterschied.« 30 Behrmann / Wohlleben (s. Anm. 11), S. 127.

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und figurenbezogen, und außerdem ist der auf Robespierre gemünzte Brutus-Vergleich aus Büchners Hauptquelle übernommen —, so stellt der in der Schülerrede erwähnte Brutus für Büchner eine überaus positive Beispielfigur dar, ein exemplum römisch-republikanischer virtus. Wie alle Gebildeten des 19. Jahrhunderts kannte Büchner Lucius lunius Brutus, den >Vater< der römischen Republik, von der Gymnasialzeit her, genauer: aus dem Geschichts- und Lateinunterricht des Darmstädter Gymnasiums und zwar wohl hauptsächlich aus dem großen Geschiehtswerk des römischen Historiographen Titus Livius (59 v. Chr. —17 n. Chr.), der in seiner Römischen Geschichte (Ab urbe condita) eine ausführliche Lebensbeschreibung des älteren Brutus gibt (vgl. bes. Buch l, Kap. 56-60 sowie Buch 2, Kap. 3-7). In der Schulzeit Büchners gehörte Livius zur obligatorischen Lektüre im Lateinunterricht der Primen31, und für seine nicht erhaltene Abschlußrede, eine fiktive Rede des Menenius Agrippa an das römische Volk auf dem heiligen Berge, hat Büchner mit Sicherheit eine Episode aus Livius' Römischer Geschichte (2. Buch, Kap. 32, 8 — 12) als Quelle benutzt.32 Wenn nicht im Latein Unterricht bei der obligatorischen oder privaten Lektüre des Livius — im Verzeichnis der im Sommersemester 1828 in der Prima behandelten Lehrgegenstände ist nur das 21. Buch der Römischen Geschichte des Livius angeführt 33 —, so ist Büchner zweifellos im Geschichtsunterricht der Prima auf den älteren Brutus gestoßen, denn im Sommersemester 1828 war »römische Geschichte« von den Anfängen »bis zur Zerstörung Karthago's«34 (146 v. Chr.) der Hauptlehrgegenstand im Fach Geschichte. Im folgenden Semester wurde — mit ebenfalls drei Wochenstunden — der Unterricht in der römischen (und nicht-römischen) Geschichte chronologisch fortgesetzt: »von der Mitte des 2ten Jahrhunderts vor Christo bis auf den Anfang des 9ten Jahrhunderts nach Christo.«35 Im zeitlichen und thematischen Zusammenhang mit dem Unterricht in römischer Geschichte hat Büchner im Schuljahr 1828/29 eine ausführliche, 36 Blätter umfassende, wohl hauptsächlich aus Aufzeichnungen und Diktatmitschriften bestehende Geschichte Roms verfaßt, die im Weimarer Büchner-Nachlaß erhalten ist und in der sich folgende Passage über den älteren Brutus findet:

31 Vgl. Gerhard Schaub: Georg Büchner und die Schulrhetorik. Untersuchungen und Quellen zu seinen Schülerarbeiten. — Bern, Frankfurt a. M. 1975 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 3), S. 34, 61. 32 Vgl. ebd., S. 34. 33 Vgl. ebd., S. 61. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. ebd., S. 62. 182

»Septus der Sohn d.[es] Tarquinius schändete d.[ie] edle Lucretia, Gattinn seines Vetters Collatinus. Lucretia wollte diese Schmach nicht überleben, sie rief ihre Verwandten und unter ihnen d.[en] muthigen Brutus, der um d.[es] argwöhnigen Tarquinius Nachstellu[n]g[e]n zu [entjgehen sich blödsinnig stellte, und ermordete sich vor ihren Augen. Alle schwur[e]n Rache, d.[ie] Leiche wurde öffentl[i]ch ausgestellt, Brutus reizte das Volk, es verlangte Tarquinius solle abgesetzt und vertrieben werden, der Senat beschloß die Abschaffung des Königthums und Tarquinius wurde mit seiner ganzen Familie vertrieben.«36

Daß unter freiheitlich-republikanisch gesinnten Schülern und Studenten der Vormärzzeit — wie übrigens bereits unter Sympathisanten und Anhängern der Französischen Revolution — Gestalten des römischen Republikanertums besonders beliebt und gefragt waren, versteht sich von selbst und ließe sich vielfach belegen. Büchner gehörte bekanntlich einem im Frühjahr 1828 gebildeten »Primanerzirkel« von Darmstädter Pennälern an, die sich »in der letzten Gymnasialzeit« mit dem republikanischen Gruß der Französischen Revolution »Bon jour, citoyen ...« zu begrüßen pflegten.37 Bedenkt man die Vorliebe und Sympathie jugendlicher Revolutionäre und Radikaldemokraten der Vorjuli- und Vormärz-Zeit für römische Republikaner und Freiheitshelden, so spricht einiges für die Möglichkeit, ja, die Wahrscheinlichkeit, daß sich Büchner, »dieser so feurige u so streng republicanisch gesinnte deutsche Patriot«38, der >seinen< Brutus kannte, den Nachnamen des von ihm bei der Flucht benutzten Decknamens nach dem Vornamen des ersten römischen Republikaners, des legendären Lucius lunius Brutus, gegeben hat. Die Wahl des Vorstatt des Nachnamens (Lucius statt Brutus) dürfte vor allem aus Gründen der besseren, unauffälligeren Tarnung erfolgt sein. Der Name Brutus wäre in der Restaurationszeit ein zu auffälliger, politisch verdächtiger Deckname gewesen, er hätte unweigerlich Assoziationen an den Caesarmörder und/oder den Begründer der Republik ausgelöst, er hätte die Paßkontrolleure wahrscheinlich Verdacht schöpfen lassen und dem Träger eines prononciert republikanischen Namens unnötigerweise Schwierigkeiten bereitet. Mit dem Namen Lucius dagegen war man. all dieser Probleme ledig: er ist politisch unverdächtig und unvorbelastet, er ist keiner bestimmten Gestalt der römischen Antike eindeutig zuzuordnen — auch der Philo36 S. 24 f. der Handschrift. Für die Transkription danke ich Eske Bockelmann (BüchnerForschungsstelle Marburg). Vgl. auch Marburger Denkschrift, S. 64. 37 Vgl. hierzu Katalog Marburg, S. 56 f., sowie SW, S. 631. 38 Charakterisierung Büchners im Protokollbuch der Straßburger Studentenverbindung 'Eugenia« unter dem Datum des 5. Juli 1832; zitiert nach: Insel-Almanach auf das Jahr 1987. Georg Büchner. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. - Frankfurt a. M. 1987, S. 35.

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soph und Dichter Seneca beispielsweise hat den Vornamen Lucius —, und daher ist er auch nicht ohne weiteres auf den älteren Brutus beziehbar, jedenfalls nicht für Polizisten, Grenz- und Zollbeamte. Für Büchner dagegen, wie überhaupt für humanistisch gebildete Oppositionelle der republikanischen Bewegung, dürfte das Pränomen Lucius ein deutlicher Fingerzeig auf den älteren Brutus gewesen sein; für sie hatte der Name Lucius wohl etwas von einem Kassiber: wer Lucius sagte, meinte den älteren Brutus. Alles in allem läßt sich zu Büchners Decknamen sagen: Die Namen Jacques und Lucius waren Büchner von der Schulzeit her geläufig — Jacques bzw. Jaques aus der Lektüre Shakespeares39 (vielleicht auch aus Denis Diderots Roman Jacques le fataliste et son maitre40) und Lucius lunius Brutus aus dem Unterricht in römischer Geschichte. Shakespeares Jaques wie auch der ältere Brutus spielen in Büchners Werk eine Rolle: Der Melancholiker Jaques aus der Komödie Wie es euch gefällt liefert Büchner das Motto zum ersten Akt seines Lustspiels Leonce und Lena, und der Begründer der römischen Republik wird in einer Schülerrede und in Dantons Tod dreimal namentlich erwähnt. Sowohl zu den literarischen Figuren des Shakespeareschen Jaques und des Diderotschen Jacques le fataliste (falls er dessen gleichnamigen Roman kannte) als auch zur legendären Gestalt des Lucius lunius Brutus hat Büchner wahrscheinlich eine mehr oder weniger starke Affinität gehabt. Mit den

39 Dem Schüler Büchner wird von zwei ehemaligen Schulkameraden (Ludwig Wilhelm Luck und Friedrich Zimmermann) große »Begeisterung für Shakespeare« bescheinigt; vgl. SW, S. 629-631,774. 40 Thomas Michael Mayer hat darauf hingewiesen, daß Diderots Roman Jacques le fataliste »mindestens zum Bildungshintergrund Büchners gehört haben« dürfte (T. M. Mayer: Büchner und Weidig — Prühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des »Hessischen Landboten«. — In: Gß ////, S. 79; vgl. auch ebd., S. 87, 149, Anm. 426). Daß Büchner Diderot gelesen hat, ist aus verschiedenen Gründen durchaus möglich, ja wahrscheinlich: er kannte sich in der französischen Literatur des 18. und beginnenden 19. Jahrhundert gut aus; ihm war nachweislich jener Roman bekannt, der von entscheidendem Einfluß auf Diderots Jacques le fataliste war: Laurence Sternes Tristram Shandy (vgl. M A, S. 171; Leonce und Lena l, 3: » L e o n c e . [...] O Shandy, alter Shandy, wer mir deine Uhr schenkte!«); eine Parallelstelle im Lenz deutet darauf hin (vgl. Gß ////, S. 77 f.), daß Büchner wahrscheinlich Goethes Übersetzung und Kommentierung von Diderots Versuch über die Mahlerey gelesen hat. — Außerdem und vor allem: Das in Diderots Roman behandelte, bereits im Titel angesprochene Problem des Determinismus bzw. Indeterminismus und des Fatalismus mußte Büchner interessieren. Daß bei der Auseinandersetzung zwischen dem »fatalistischen« Diener Jaques, der die Willensfreiheit des Menschen leugnet, und dessen Herrn, der sich zur Freiheit des Willens bekennt, ohne sie im Leben in Anspruch zu nehmen, Büchner eher die Partei des Dieners als die des Herrn ergriffen hätte, steht bei seiner >deterministischen< Weltanschauung außer Frage. Überhaupt hätte ihn an Diderots Roman gewiß die mit starken sozialkritischen Akzenten versehene Darstellung des Herr-Knecht-Verhältnisses fasziniert.

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erwähnten Gestalten konnte Büchner sympathisieren, vielleicht sogar in mancher Hinsicht sich identifizieren. Einschränkend muß jedoch gesagt werden, daß der Büchner der Jahre 1834/35, d. h. der Verfasser von Dantons Tod und der politische Flüchtling, antike Heroen wie Cato von Utika, Mucius Scaevola und den älteren Brutus nicht mehr kritiklos adorierte, daß es ihm in dieser Zeit »nicht mehr« — wie dem Schüler — einfiel, sich »vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte [...] zu bücken« 403 . Brutus war für den nach Frankreich fliehenden Büchner keine idealisierte, heroisierte Gestalt der Geschichte bzw. Legende mehr, wohl aber noch immer so etwas wie der Inbegriff des antiken Republikaners, dessen Vornamen er sich aus republikanischer Sympathie durchaus als Tarnnamen für den gefälschten Paß zugelegt haben könnte. Jacques Lucius ist ein Name, der zu Büchner paßt, der auf ihn gemünzt zu sein scheint, den er sich selbst — aufgrund seiner Bildungsgeschichte, seiner »Anlagen zur Schwermuth« 41 und seiner republikanisch-revolutionären Gesinnung — ohne weiteres hätte geben können, ein Name, den freilich auch ein guter Bekannter oder Freund Büchners für den politischen Flüchtling hätte finden können. Und selbst dann, wenn es sich herausstellen sollte, daß man Büchner den Paß eines elsässischen Weinkellners (sommelier) namens Jacques Lucius verschafft hat42, so hätte man damit für ihn — Zufall oder nicht — einen Tarnnamen gefunden, der ihn auf vielfältige und treffliche Weise zu charakterisieren vermag. Wenn sich Büchner aber den französisch-römischen Decknamen Jacques Lucius selbst zugelegt hat, so hätte er mit dieser >sprechenden< Namenwahl unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß er Anfang März 1835 nicht als resignierter Revolutionär oder gar als Renegat nach Frankreich geflohen ist, sondern als ausgesprochen pfiffiger, sich zugleich tarnender wie versteckt offenbarender, melancholischer Republikaner und Revolutionär. Immer vorausgesetzt, Büchner hat sich selbst Jacques Lucius genannt: der Deckname wäre ein prägnantes und aufschlußreiches Selbstporträt des Dichters und Revolutionärs.

40a MA, S. 288 (Brief an die Braut, »um den 9.-12. März 1834«). 41 Nach dem biographischen Bericht seines Bruders Ludwig hat Büchner von sich selbst gesagt, er »habe Anlagen zur Schwermuth« (N, S. 4). 42 Auf diese — noch weiter zu überprüfende — Möglichkeit, wie Büchner zu seinem Decknamen gekommen sein könnte, hat mich freundlicherweise Jan-Christoph Hauschild hingewiesen.

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Exkurs: Ein antiker Bronzekopf, der sogenannte Brutus — Die Bedeutung des älteren Brutus in der Französischen Revolution Im Palazzo dei Conservator! in den Capitolinischen Museen in Rom befindet sich seit langem eine antike Bronzebüste, die Lucius lunius Brutus darstellt bzw. darstellen soll. Die Höhe des Kopfes beträgt 32 cm, die des Kopfes zusammen mit der — neuzeitlichen — Büste 69 cm. Der antike Bronzekopf gilt nicht nur als »das bedeutendste Porträt« der italisch-römischen Porträtplastik, sondern auch als »eine der größten Leistungen der Porträtkunst aller Zeiten«43. Als Entstehungszeit des unter dem Einfluß griechischer Porträtplastiken entstandenen Kopfes wird neuerdings die erste Hälfte des dritten Jahrhunderts vor Chr. angesetzt, eine Epoche, in der die Römer nach der Besetzung von Tarent (272 vor Chr.) »zum erstenmal mit einer Fülle griechischer Kunstwerke bekannt wurden«44. Der eindrucksvolle >BrutusBrutus< 1564 der Stadt Rom vermachte. Seit Ende des 16. Jahrhunderts wurde der Bronzekopf auf dem Kapitol und seit 1627 in der Sala della Lupa des Konservatorenpalastes aufbewahrt, in dem er noch heute in der Sala dei Trionfi zu sehen ist. Allerdings gab es, was die Präsenz des Porträtkopfes im Konservatorenpalast angeht, eine politisch interessante und brisante Unterbrechung, ist er doch 1797 durch Napoleon nach Paris entführt worden, wo er bis 1815 verblieb. Zur Berühmtheit und Popularität des Bronzekopfes hat gewiß der Umstand viel beigetragen, daß man ihn schon früh — so bereits Aldrovandi in dem ersten gedruckten Hinweis auf die Porträtbüste — mit der legendären Gestalt des ersten römischen Konsuls und Republikaners, mit Lucius lunius Brutus identifizierte. Zu dieser Identifizierung haben vor allem folgende Momente Anlaß gegeben: der besondere Gesichtsausdruck des Bronzekopfes mit seiner Ernsthaftigkeit, Charakterfestigkeit, Standfestigkeit und Entschlossenheit — all dies Wesenszüge, die gut zu dem ernsten und strengen Charakterbild passen, das man sich seit jeher von dem älteren Brutus, dem exemplum alter römisch-republikanischer Tugenden gemacht hat; die Ähnlichkeit des Porträtkopfes mit antiken Münzbildnis-

43 Guido Kaschnitz von Weinberg: Das Schöpferische in der römischen Kunst. Römische Kunst 1. Hrsg. von Helga von Heintze. — Reinbek bei Hamburg 1961 (= rde 134), S. 114. 44 Wolfgang Heibig: Führer durch die öffentlichen Sammlungen klassischer Altertümer in Rom. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. hrsg. von Hermine Speier. Bd. 2. — Tübingen 1966, S. 270. 45 Vgl. hierzu und zum folgenden: Francis Haskell and Nicholas Penny: Taste and the Antique. The Lure of Classical Sculpture 1500— 1900. — New Haven and London 1981, S. 163 f.

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Abbildungen aus: Maja Sprenger und Gilda Bertolini: Die Etrusker. Kunst und Geschichte. Aufnahmen von Max und Albert Hirmer. — München 1977, Tafeln 252 und 253. Fotos: Dr. Klaus-Peter Goethert, Trier. sen, »die ein späterer Angehöriger der Familie, der Caesarmörder M.[arcus] lunius Brutus, von seinem Ahnherrn«, dem älteren Brutus, »hatte prägen lassen (59 und 43/2 vor Chr.)« 46 ; und Plutarchs Biographie des jüngeren Brutus, in der zu lesen ist (vgl. Leben des Brutus, 1), daß die alten Römer dem älteren Brutus auf dem Kapitol ein bronzenes Standbild mit gezogenem Schwert inmitten der Könige errichtet hätten; wohl aufgrund dieses Berichts hat man zu Beginn des 17. Jahrhunderts vermutet, daß der kapitolinische Bronzekopf ein Fragment jener von Plutarch bezeugten, den älteren Brutus darstellenden Bronzestatue sein könnte. Interessant ist übrigens auch die Bemerkung Plutarchs, daß der jüngere Brutus nicht zuletzt durch die Statue des älteren Brutus, an die Freunde des ersteren diverse an die Gestalt des Begründers der römischen Republik gemahnende Inschriften angebracht hatten, zum Mord an Caesar motiviert und animiert worden sei (vgl. Plutarch: Leben des Brutus^ 9). Obwohl Johann Joachim Winckelmann hinsichtlich der Identität des Kopfes gewisse Vorbehalte angedeutet hatte47, wurde der Bronzekopf doch im allgemeinen als ein Bildnis des Lucius lunius Brutus betrachtet. Dies jedenfalls gilt für die Zeit bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, und auch im 20. Jahrhundert vertreten noch einige Kunsthistoriker die Ansicht, daß der Kopf durchaus ein idealisiertes Porträt des älteren Brutus sein könnte. Da man jedoch die Frage der Identität des 46 Heibig (s. Anm. 44), S. 269. 47 Vgl. Haskell / Penny (s. Anm. 45), S. 164.

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Kopfes nie zweifelsfrei wird klären können, hat man sich in der neueren kunstgeschichtlichen und archäologischen Forschung angewöhnt, den kapitolinischen Bronzekopf als »sogenannten Brutus« zu bezeichnen bzw. ihn als >Brutus< in Anführungszeichen zu titulieren. Für die Zeitgenossen der Französischen Revolution und der Vormärzzeit freilich stellte der Bronzekopf fraglos den Begründer der römischen Republik dar. Wie kaum einer anderen antiken Porträtplastik haftete >unserem< Bronzekopf als dem vermeintlichen Porträt eines der ganz Großen der römischen Geschichte in der Zeit der Französischen Revolutionen von 1789 und 1830 ein hoher Affektions- und ein nicht zu unterschätzender politischer Symbolwert an. So hoch auch die künstlerische Qualität und die Ausdruckskraft des kapitolinischen Bronzekopfes sowie seine Bedeutung für die Entwicklung der italischrömischen Porträtplastik zweifellos einzuschätzen sind: ohne seine frühe und bis ins 19. Jahrhundert hinein kaum ernsthaft in Zweifel gezogene Identifizierung mit dem Ur- und Vorbild des römischen Republikaners hätte der bronzene Porträtkopf schwerlich jene Berühmtheit und Wertschätzung erlangt, die ihm im Laufe der Jahrhunderte zuteil geworden sind. Dies gilt auf besondere Weise für die Zeit der großen Französischen Revolution, in welcher der >BrutusBrutusBrutus< gekommen, indem man den Bronzekopf — zusammen mit einer buntgemischten Reihe von Herrschern, Priesterinnen, Musen und Faunen - im

48 Vgl. ebd., S. 109, 164. 49 Vgl. ebd., S. 164.

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Römischen Saal des Musee Central des Arts ausstellte.50 Der zweite Friede von Paris (30. November 1815) verpflichtete Frankreich zur Rückgabe der unter Napoleon geraubten Kunstschätze, und so kam der >BrutusVermarktung< mit Brutus-Karten, Brutus-Buttons und Brutus-Medaillons kann es nicht wundernehmen, daß der ältere Brutus auch als Namensgeber und Namenspatron herhalten mußte: Eine 50 Vgl. ebd. 51 Zu dieser Büste und ihrer Verwendung im Konvent vgl. Robert L. Herbert: David, Voltaire, Brutus and the French Revolution. An Essay in Art and Politics. — London 1972 (= Art in Context), S. 90 f., 97 f. 52 Wenn Lacroix in Dantons Tod (II, 1) seinen Freund Danton auffordert, er solle zu seiner wirksamen, aggressiven Verteidigung die »Tyrannei der Dezemvirn« anklagen, »von Dolchen« sprechen und »Brutus« anrufen, so ist auch mit diesem Brutus trotz der erwähnten »Dolche« wohl nicht der jüngere, d. h. der Caesarmörder Brutus (vgl. WuB, S. 353 sowie MA, S. 508), sondern der ältere Lucius lunius Brutus gemeint. Dies jedenfalls läßt sich angesichts der Bedeutung von Brutus-Büsten im Nationalkonvent und im Revolutionstribunal vermuten. — Die Brutus-Stelle der ersten Szene des zweiten Aktes hat Büchner der Hauptquelle seines Dramas, der Geschichtskompilation Unsere Zeit, entnommen (vgl. DT, S. 38 f). 53 Vgl. Herbert (s. Anm. 51), S. 104 f. 54 Vgl. ebd., S. 105-107.

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der 48 Sektionen von Paris hieß Section de Brutus; viele Dörfer und Stadtgemeinden .nahmen Brutus als neuen Namen an; zahlreiche Patrioten änderten ihre Namen in Brutus; und allein in der Pariser Region wurden mehr als dreihundert neugeborene Kinder unter dem ersten Rufnamen Brutus registriert.55 Alles in allem kann man sagen: In der Französischen Revolution, besonders in den Jahren 1793/94, ist es zu einem regelrechten, von staatlicher und jakobinischer Seite geförderten Brutus-Kult gekommen, der das öffentliche und auch das private56 Leben in fast allen Bereichen prägte. Die dominierende Position, die Marat unter den zeitgenössischen Freiheitshelden zukam, hatte Brutus unter den klassisch-antiken Beispielfiguren (exempla) der Freiheits- und Vaterlandsliebe inne.57 Im Pantheon der Heroen der Französischen Revolution figurierte Brutus auf einem der prominenten Plätze. Das berühmteste und bedeutendste der von dem kapitolinischen >BrutusBrutusrepublikanisches< Sujet zunächst (1789) seltsamerweise kaum, dann aber bald umso deutlicher erkannt wurde60, ist erstmals 1789 und ein zweites Mal 1791 auf dem Pariser Salon ausgestellt worden, wo es bei der letzteren Präsentation mit Begeisterung aufgenommen wurde. 55 Vgl. ebd., S. 105, 107. — Zur Mode der Revolutionszeit, französische Namen durch römische zu ersetzen, vgl. auch Dantons Tod (II, 2): » E i n B ü r g e r . Meine gute Jaqueline, ich wollte sagen Corn, wollt' ich C o r / S i m o n . Cornelia, Bürger, Cornelia.« (MA, S. 92 f.). 56 Es existiert ein von einem unbekannten Künstler gemaltes Porträt, das Mirabeau am Schreibtisch sitzend zeigt. Auf dem Tisch steht eine Brutus-Büste, und an der Wand hinter Mirabeau, der sich offensichtlich mit dem älteren Brutus identifizierte, hängt eine Version von Davids Brutus-Gemälde; vgl. Herbert (s. Anm. 51), S. 73 f. 57 Neben und nach Brutus war Mucius Scaevola der einzige patriotische Held der römischen Geschichtsiegende, der in der Französischen Revolution wenigstens annähernd an die Popularität des älteren Brutus heranreichte (vgl. Herbert, S. 103). Nicht zufällig sind Brutus und Scaevola die einzigen beiden römischen — und antiken — Heroen, nach denen sich in Paris revolutionäre Sektionen ihre Namen gegeben haben. — Wenn Büchner in seiner Schülerrede auf den Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer »Scävola und Brutus« in einem Atem nennt (MA, S. 17), so ist dies ein schlagender Beleg dafür, daß die Heldenverehrung des Schülers Büchner maßgeblich auf den Heroenkult zurückgeht, den französische Revolutionäre mit römischen Freiheitshelden getrieben haben. 58 Vgl. Herbert (s. Anm. 51), S. 31, Abb. 16. 59 Vgl. ebd., S. 31, 76 f. 60 Vgl. ebd., S. 51 ff.

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Sowohl Davids Brutus-Gemälde als auch die in seinem Besitz befindliche Kopie der kapitolinischen >BrutusBrutuskannte Davids Brutus-Gemälde, jedermann im Publikum verstand auf Anhieb die theatralische Absicht dieses Inszenierungseinfalls: der Maler des Ölbildes sollte auf diese Weise in der Öffentlichkeit geehrt werden, gewissermaßen im Angesicht der Nation. Es war wie ein Nationalfeiertag, der durch einmütigen Applaus noch gesteigert und überhöht wurde.< 62 In den folgenden Aufführungen des Stückes wurde aus diesem >tableau vivant< ein regulärer Epilog mit einer neuen Bühnenanweisung: »Vier Liktoren tragen den Leichnam des Titus über die Bühne. Brutus laßt sich in einen Lehnstuhl sinken. Der Vorhang fällt.« 63 Was das 1730/31 uraufgeführte und erstmals gedruckte Brutus-Drama von Voltaire angeht, das über weite Strecken ein Dialog zwischen Tyrannei (den Tarquiniern) und Freiheit (Brutus) ist, so fand das Stück im vorrevolutionären Frankreich wenig Anklang, erfreute sich dann aber in der >heroischen< Anfangsphasc der Revolution aufgrund der spektakulären Reprise vom November 1790 vorübergehend großer Beliebtheit beim Publikum, vor allem wegen des republikanischen Stoffes und der sich anbietenden politischen Aktualisierbarkeit seiner Thematik. Nach dem Sturz Robespierres und der Jakobiner, als man Theaterstücke unterdrückte, die zu vehement einen rigorosen Republikanismus propagierten, wurde Voltaires Brutus aus dem Repertoire der Bühnen verdrängt.64 Zwar gab es noch vereinzelt Aufführungen der Tragödie — die letzte fand 1799 statt — bis zur Errichtung des Konsulats durch Napoleon (Ende 1799), aber danach verschwand die »piece de combat« von den Pariser Bühnen. Napoleon, der Erste Konsul und Alleinherrscher über Frankreich, hatte kein Interesse, ein Thea61 Zu dieser ßrw/ws-Inszenierung vgl. ebd., S. 77 f., sowie Kenneth N. McKee: Voltaires Brutus during the French Revolution. — In: Modern Language Notes 56 (1941), S. 102. 62 Vgl. Herbert (s. Anm. 51), S. 77 f., der den Text der Theaterkritik in Englisch wiedergibt, aus dem ich hier frei ins Deutsche übersetzt habe. 63 Ebd., S. 78. 64 Vgl. hierzu und zum Folgenden McKee (s. Anm. 61), S. 105 f. sowie Herbert (s. Anm. 51), S. 115.

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terstück zu protegieren, das sich dezidiert gegen Machtmißbrauch und den willkürlichen Umgang mit der Macht wendet. Solange Napoleon an der Macht war, hat er keine Aufführung des Brutus von Voltaire in der Öffentlichkeit erlaubt. Das >Schicksal< des Brutus-Dramas in der Zeit der Französischen Revolution, des Konsulats und der Kaiserherrschaft Napoleons ist also durchaus mit dem des kapitolinischen >BrutusBrutusBrutusBrutusBrutusMonsieur Lucius< war damit beendet.«5

So sehr Hauschilds Funden — und seinen oben mit eingeflossenen Mitteilungen dazu — die neue Fragestellung zu danken ist, so stark bezweifle ich auf der anderen Seite die Folgerung, Büchner habe mehr als das erste halbe, ja fast dreiviertel Jahr seiner Straßburger Emigrationszeit wirklich und regelrecht »im Verborgenen« gelebt. Nun wissen wir zwar seit Charles Andlers Veröffentlichung der Briefe Karl Gutzkows an Büchner aus den Jahren 1835 und 18366, d. h. insbesondere aus den Adressen der zwischen Mai und Dezember 1835 nach Straßburg gerichteten Briefe, daß es irgendeine Relation Büchner/»Lucius« gegeben haben muß, eine reale, eine fiktive — wie Gerhard Schaub jetzt vor allem argumentiert — oder — ein weniger wahrscheinlicher Zufall — eine aus beiden Anteilen gemischte. Es bleibt Jan-Christoph Hauschild vorbehalten, hier anhand weiterer Quellen und Überlegungen eine stimmige Klärung zu erzielen. Doch gerade die genannten Briefadressen scheinen mir in jedem Fall gegen eine Existenz »im Verborgenen« zu sprechen. Gutzkow adressierte seine Briefe an Büchner im fraglichen Zeitraum wie folgt: 1.) 17. März 1835: 2.) 7. April 1835: 3.) 12. Mai 1835:

4.) 23. Juli 1835: 5.) 28. August 1835: 6.) 28. September 1835:

7.) 4. Dezember 1835: 8.) 6. Februar 1836:

»Herrn Georg Büchner / in / Straßburg« [o(hne) P(ost)st(empel)] »Herrn Georg Büchner« [o. Pst.\ »Herrn Georg Büchner / p. A. / a Mr. / Mr. Lucius / / Strasbourg / Rue Guillaume N" 66 // franco« \Pst.: »MANNHEIM 13 [?| / 5 / PP / STRASBOURG M/Mai/l 835-| »Herrn G. Büchner« [o. Pst.] »A Monsie[u]r / Mons. George Büchner / ä / Straßbourg / Rue Guillaume / N° 66 Chez Mr. / Lucius //Fr.« [Pst.: »PP / PL«] »A Mr. Georg Büchner / p. A. Mr. Lucius / Straßburg / Rue Guillaume / Nr66 // franco« [Pst.: »FRANKFURT 28. / Sept. / 1835 / II / AED / ALLEMAGNE / PAR / STRASBOURG / PP / STRASBOURG 30/Sept.«] »Ä Mr. Georg Büchner / P addr. / ä Mr. Lucius / Rue Guillaume N° 66 / ä / Straßbourg« [Pst.: »MANNHEIM 4/12 / STRASBOURG 6/DEC.«] »Herrn G. Büchner« [o. Pst.]

5 Katalog Düsseldorf, S. 51; desgl. Katalog Darmstadt, S. 33. 6 Charles Andler: Briefe Gutzkows an Georg Büchner und dessen Braut. — In: Euphorion 4 (1897), 3. Erg.heft, S. 181-193.

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9.) 10. Juni 1836:

»Herrn Georg Büchner / in / Straßburg / Im Rebstock // frey« \Pst.: »PP / FRANKFURT 10./JUN./ 1836«].8

Von diesen Briefen sind die Nrn l, 2, 4 und 8 ersichtlich nicht oder nur als Einlagen in anderen Sendungen durch die Post gelaufen, also vertraulicher übermittelt worden. Die komplett adressierten und postalisch abgefertigten, mithin unter möglichen Geheimhaltungsaspekten in Deutschland wie in Frankreich heikleren Briefe (Nrn 3, 5—7) aber weisen durch die Angabe >Georg Büchner / p(er) A(dresse) Lucius< auf die u. U. zu verschleiernden Zusammenhänge geradezu demonstrativ hin und hätten — im Falle der deshalb in Straßburg fast zwingend naheliegenden Aufdeckung eines illegalen Status — auch noch die Jaegles in der Rue (Saint) Guillaume in Schwierigkeiten gebracht. Hätte Büchner tatsächlich vor den Straßburger Behörden »im Verborgenen« gelebt (unter dem Namen bzw. in der Identität des Jacques »Lutzius«/Lucius und ob an der Place St. Pierre oder auch in der Rue St. Guillaume), so hätte er Gutzkow zweifellos anweisen müssen, seine Briefe ausschließlich an Mr. Lucius zu adressieren; und falls Gutzkow hier — wieder einmal 9 — zunächst nicht richtig begriffen hätte, so wäre es Büchner von Mai bis Dezember 1835 sicher gelungen, ihm das Erforderliche unmißverständlich auszudrücken. Es ist offenkundig — und war auch begründet 10 —, daß Büchner den deutschen Post- und anderen Behörden so wenig Hinweise wie möglich auf seinen jeweils genauen Aufenthalt liefern wollte 11 . Und auch in 8 Überprüft anhand von Kopien der Originale im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv. 9 Wie schon Anfang März 1835, vgl. Gß ////, S. 394. 10 Nämlich wegen der Gefahr, daß die hessische Regierung »besonders«, d. h. namentlich, Büchners Ausweisung aus dem Grenzdepartement ins französische Landesinnere verlangen würde; vgl. HA II, 439, Z. 26-440, 7; 442, 7 ff. u. 25 ff; 447, 13 ff., sowie noch unten Text u. Anm. 29 u. 45. 11 Diese Vorsichtsmaßregel ist aus der gesamten Korrespondenz Büchners mit deutschen Partnern (und auch noch im Jahr 1836) erkennbar. Den Eltern schreibt er etwa im August 1835: »Sprengt übrigens immerhin aus, ich sei nach Zürich gegangen; da ihr seit längerer Zeit keine Briefe von mir durch die Post erhalten habt, so kann die Polizei unmöglich mit Bestimmtheit wissen, wo ich mich aufhalte [.. .j« (HA II, 445; ähnlich schon 440, 7). In dem besonders problematischen Brief an Gutzkow in das Mannheimer Gefängnis (um Anfang Januar 1836) ist die ursprünglich niedergeschriebene neue Adresse bei Weinhändler Siegfried zur Unleserlichkeit getilgt und selbst eine namentliche Unterschrift vermieden (vgl. Katalog Marburg, S. 213). Auch Boeckel schreibt im Januar und Mai 1836, um Büchner »Unannehmlichkeiten zu ersparen« (HA II, 483, 12), aus Göttingen bzw. Wien seine Briefe unter Couvert nur an »Mademoiselle / Mademoiselle Jägle / chez Monsieur son pcre, pasteur de Peglise St. Guillaume / a / Strasbourg. // Frankreich.« (16. Januar; fast gleichlautend auch am 15. Mai). Erst der Wiener Brief Boeckels vom 18. Juni 1836, wie die beiden vorigen durch Poststempel als gelaufen erkennbar, trägt die offene Adresse »Monsieur / G. Büchner, doct. philosoph. / chez

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Straßburg lag ihm sicher nicht daran, sonderlich auf sich aufmerksam zu machen. Jede, vor allem eine in der geschilderten Weise mißglückte Tarnung aber hätte gerade dort das Gegenteil bewirkt. Das ganze Problem birgt demnach mehrere Aspekte: solche der grundsätzlichen Opportunität von Maßregeln einerseits, aber auch solche ihrer mehr oder weniger zu erwartenden Folgen und Nebenwirkungen andererseits — und dies jeweils unterschiedlich in Deutschland und in Straßburg. Es mag sein, daß die Koordination dieser verschiedenen Gesichtspunkte für Büchner wirklich nicht immer und in jedem Einzelfall völlig widerspruchsfrei lösbar war. Ein Mindestmaß an Rationalität sollten wir jedoch voraussetzen dürfen. Nun liegt auf der Hand, daß sich mit Hauschilds Funden und Schaubs Erklärung noch eine ganze Reihe ungelöster Fragen zu grundlegenden Sachverhalten wie auch einzelnen Motiven verbindet. Um nur einige dieser Fragen einschließlich der sich aus ihnen ergebenden Widersprüchlichkeiten zu nennen: — Wir wissen tatsächlich nicht mit ausreichender Sicherheit, wo Büchner von März bis Dezember 1835 wohnte. Bislang sprach eigentlich nichts gegen die Rue St. Guillaume, Gutzkows Adressen legten diesen Aufenthalt sogar nahe, der damit allerdings kein geheimer gewesen wäre. Doch konnte Büchner nach Eröffnung des Verlöbnisses mit Minna Jaegle zumindest gegenüber deren Vater (April 1834) l2 überhaupt wieder in das »Überzwerge Zimmer« im Hause der Jaegles ziehen, oder ging das gar nicht bzw. allenfalls vorübergehend? 13 Die Rue St. Guillaume lag überdies im östlichen Bezirk der Stadt (Canton Est), der aus noch näher zu erläuternden Gründen im Vergleich mit dem Canton Sud für politische Flüchtlinge weniger günstige Bedingungen hot. Dieselben ungünstigeren Bedingungen (und zwar sowohl für den unbehelligten Verbleib in der Stadt als erst recht für ein Leben »im Verborgenen«) gab es jedoch auch im Canton Nord, zu dem die Place St. Pierre gehörte. Und hätte Büchner hier gewohnt, wie hätte sich das mit der Existenz eines wirklichen Jacques Lutzius vereinbaren lassen?14 Um von finanziellen ErwäMons. Siegfried, marchand d. vins / pres des douanes / ä / Strasbourg. // Roy. d. France.« (Diese Adresse ist allerdings durch drei auffällige Federstriche — vom Empfänger? — wieder durchgestrichen worden; alle Originale in der Zentralbibliothek Zürich.) 12 Zu den Folgen vgl. Hauschild, S. 325 u. 338. 13 Vgl. Gß ////, S. 395. — Könnte es (insbesondere auf Straßburg bezogen) auch mit solchen >sittlichen< Gründen zu tun haben, wenn in Gutzkows Adressen nicht etwa >Büchner, p. A. Jaegle« stehen durfte, oder sollten (insbesondere auf Deutschland bezogen) die Jaegles einfach nicht in Verbindung mit dem steckbrieflich Gesuchten gebracht werden? 14 Oder hätte — ein anderer Erklärungsversuch — zwischen Büchner und Lutzius ein Wohnungs>tausch< stattgefunden, Büchner also an der Place St. Pierre, Lutzius in der Rue St. Guillaume gelebt? Auch dies würde, Illegalität vorausgesetzt, Gutzkows Adressen nicht erklären helfen (vgl. auch noch unten Anm. 26).

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gungen gar nicht zu reden: Der Aufenthalt in einem angesehenen Pfarrerhaus wäre diesen Schwierigkeiten sicher vorzuziehen gewesen; vor allem aber, da dies wahrscheinlich aus >sittlichen< Gründen nicht ging, ein baldiger, wenigstens provisorischer Unterschlupf im Canton Sud, wo der zuständige Polizeikommissär Jonathan Pfister den politischen Flüchtlingen besonders wohlgesonnen war und wohin Büchner dann im Dezember auch tatsächlich zog. (Entsprach dieser Umzug nur einer verspäteten Einsicht in die genannten Bedingungen, oder hing er auch mit dem Beginn von Büchners »Vorarbeiten« - Präparationen — für die >Abhandlung über das Nervensystem der Barbe< zusammen, den Wilhelm Schulz auf »Dezember 1835« datierte 15 ?) Wenn der Umzug in die im Canton Sud gelegene Rue de la Douane und die verspätete Meldung also auch mit den Gegebenheiten der Bezirke zu tun gehabt haben könnten, wie erklärt sich Büchners falsche Angabe, er sei erst am I.Oktober 1835 nach Straßburg gekommen, im Vergleich mit dem Führungszeugnis eben des Polizeikommissärs Pfister vom 21. September 1836, in dem es heißt, Büchner sei >in den Melderegistern als wohnhaft in hiesiger Stadt seit achtzehn Monaten< 16 (also zutreffend seit März 1835) geführt? Naheliegend ist sicher, daß Büchner auch Pfister zunächst nicht unbedingt mit einer neunmonatigen Meldeverzögerung überfordern wollte, doch die später notwendige (?) Bereinigung war ebenfalls kaum ohne Risiko. Der Tatsache, daß die Meldung des im Canton Nord wohnenden »Jacques Lutzius« in den von Hauschild eingesehenen »Registres du population« (Archives de la Ville de Strasbourg) 1835 unter Nr. 754 erfolgte, diejenige Büchners im Canton Sud vom 9. Dezember 1835 unter Nr. 4152, ließe sich entnehmen, daß es nur ein einziges Melderegister für die ganze Stadt gab und nicht jeweils besondere für die vier Cantone. Wenn dies zutrifft: wie war für den seinerseits unter administrativem Druck von oben stehenden Pfister selbst dann im September 1836 eine solche >frisierende< Auslegung der Unterlagen möglich? Wenn es aber doch gesonderte Register gegeben haben sollte (die eventuell später nur archivaJisch vereinigt wurden), so könnte es u. U. auch eine nur noch nicht entdeckte frühere Meldung Büchners z. B. im Canton Est gegeben haben — was allerdings mit seiner Angabe des Ankunftsdatums erst mit 1. Oktober 1835 in Widerspruch kommen dürfte. Oder ist nicht doch an irgendeiner Stelle mit bislang unbekannten Besonderheiten der Registratur oder gar mit Schreib- oder Leseirrtümern zu rechnen? Reichen der zeitlich in Frage kommende Einreise-/Meldetermin 12. März 1835 und die lautliche Namensgleichheit des Jacques »Lutzius« mit dem ohne Vornamen bezeichneten »Mr. Lucius« der Briefadressen zu der von Hauschild angenommenen Deckungsgleichheit? Wenn schon Verschleierungen, warum hätte Büchner dann an Gutzkow nicht den >ordentlich< in Paß und Register eingetragenen Namen weitergegeben (der auf der Meldebehörde kaum nach dem Gehör aufgenommen worden sein dürfte)? Darauf die vor allem entscheidende Frage: Gab es die Person des Weinkellners Lutzius verbürgt und tatsächlich? D. h. läßt sich seine Existenz auch 15 Nachruf von 1837, vgl. GW, Bd. 9. 16 Vgl. Hauschild, S. 396, Anm. 79; Abbildung und Übersetzung: Katalog Marburg, S. 210.

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vorher und nachher (also in Oberhausbergen und in Winterthur) belegen? In diesem Falle, so Hauschilds These, habe er Büchner im Zuge der 1835 auch von anderen hessen-darmstädtischen Flüchtlingen wie Wilhelm Schulz und Hermann Wiener genützten »Flüchtlings-Schnellpost«, die gerade von einem liberalen Wormser Weinhändler ihren Ausgang nahm und im Straßburger Emigrantenlokal »Zum Tiefen Keller« endete17, nur seinen Paß zur Verfügung gestellt. Dann aber würde sich zum einen die bereits berührte Frage nach der Möglichkeit der Existenz zweier Personen in Straßburg unter ein und demselben Namen und mit demselben Ausweis erheben — und wären zum anderen auch Schaubs Namenserklärungen hinfällig. Oder war »Jacques Lutzius« ein fiktiver Name für einen unter den Flüchtlingen zirkulierenden falschen Paß, einen Paß also, der Ende 1835/Anfang 1836 von Büchner an einen anderen weitergegeben wurde, der damit dann nach Winterthur ausreisen konnte? In diesem Fall würde sich zum einen die Frage stellen, wann und von wem dieser Name erfunden wurde (an einen Hals über Kopf Flüchtigen wie Büchner selbst wäre hier wohl am wenigsten zu denken); und weiter bliebe u. a. erklärungsbedürftig, woher die, wenn auch nicht für den Grenzübertritt, so vermutlich doch für die reguläre Meldung benötigte, >Legende< zu beschaffen war, warum sie ausgerechnet für den Intellektuellen (mit entsprechendem Umgang) Büchner auf einen (Wein-)Kellner — im älteren Sinne von Kellerbeschließer — lautete, wie diese Legende im Alltag so lange aufrechtzuerhalten gewesen wäre, und dies zumal — und warum? — im Canton Nord. Und was machte schließlich, da jedenfalls mit Behörden diesseits wie jenseits des Rheins kaum gut spaßen war, die doppelte Nennung Büchner/Lucius gerade auf den Briefen Gutzkows (im Vergleich mit denen Boeckels18) im Falle einer wirklichen Tarnung jeweils in Deutschland und Straßburg für einen Sinn?

Doch auch ohne Klärung dieser Fragen im Detail sprechen die sonst überlieferten Zeugnisse und allgemeinere Erwägungen gegen Hauschilds These. 1835 boten weder die relativ gut bekannten Bedingungen für deutsche Flüchtlinge in Straßburg 19 noch auch Büchners Person im besonderen einen zureichenden Grund für gefährliche Versteckspiele. Im Gegenteil. Der rechtliche und tatsächliche Status der Flüchtlinge in 17 Vgl. Jan-Christoph Hauschild: Hermann Wieners Lebenserinnerungen aus dem Jahr 1895. Ein Flüchtlingsschicksal aus dem Kreis von Georg Büchners »Gesellschaft der Mcnschenrechte«. - In: Archiv für hessische Geschichte u. Altertumskunde, N. F. 44 (1986), S. 363-406, hier S. 384 f. 18 S. oben Anm. 11. 19 Vgl. insbesondere Otto Wiltberger: Die deutschen politischen Flüchtlinge in Strassburg von 1830—1849. — Berlin u. Leipzig 1910, S. 60—74. Zu weiteren Hintergründen vgl. Jacques Grandjonc: Les emigres allemands sous la Monarchie de Juillet. Documents de surveillance policiere 1833 — Fevrier 1848. — In: Etudes Germaniques I, 1972 (= Publications universitaires des Lettres et Sciences humaines d'Aix-en-Provence), S. 115-258.

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Straßburg war zwar halblegal — sie hielten sich, wie Büchner selbst im Juni 1835 schrieb, ohne »gesetzlichen Schutz, [...] eigentlich gegen das Gesetz hier auf«, waren »nur geduldet und somit ganz der Willkür des Präfekten20 überlassen« 21 . Präfekt und Bürgermeister betrieben auch seit dem Frankfurter Wachensturm von 1833 und verstärkt wieder im Sommer 1835 eine strengere Kontrolle und Überwachung aller Flüchtlinge durch die Straßburger Bezirks-Polizeikommissäre22. Und diese Kontrolle fand, wenn auch mit unterschiedlichen Methoden und Meldewegen, in allen Straßburger Bezirken zweifellos statt: im östlichen und nördlichen mit Hilfe normaler Geheimagenten23, effektiv und mit Meldung an den Präfekten, während im südlichen der Kommissär Pfister solche Meldungen nach oben eher unterdrückte, aber doch selbst besonderen Wert darauf legte, »die Spreu von dem Weizen zu sondern« 24 , d. h. »Strolche und Gauner« 25 , die sich als Flüchtlinge tarnten, zu identifizieren; dies tat er sogar in Absprache und mit Hilfe von Agenten aus den Reihen der Emigranten. Eine erfolgreiche Tarnung über mehr als ein halbes Jahr hinweg dürfte also in keinem Bezirk möglich gewesen sein26, zumal Büchner schon seit März 1835 ständigen Kontakt mit den 20 Choppin d'Arnouville; zu dessen mehr restriktiver Flüchtlingspolitik im Sommer 1835 vgl. auch Carl Vogt: Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke. - Stuttgart 1896, S. 150 f., 153 f. 21 HA II, 439. Die seit Juni 1832 geltenden Bestimmungen wiesen den politischen Flüchtlingen in der Regel einen Aufenthalt 20 Meilen von der Grenze entfernt im Landesinneren zu (vgl. Wiltberger, a. a. O., S. 68 f., 53 ff. u. o.). 22 Der Erlaß des Bürgermeisters vom 17. April 1833 bestimmte, daß »jeder Einwohner die Beherbergung eines Fremden auch nur für eine Nacht anzeigen mußte« (Wiltberger, S. 71); Vogt berichtet für Sommer 1835, »daß der Präfekt alle ihm untergebenen Polizeikommissäre unter Androhung augenblicklicher Dienstentlassung in Pflicht genommen habe, jeden Flüchtling ihm anzuzeigen« (Vogt, s. Anm. 20, S. 152; danach Wiltberger, S. 72, der auch eine Anweisung des Pariser Ministeriums vom 26. Mai 1835 zitiert, wonach beim »geringste[n| Zeichen von Unruhe« unter den Flüchtlingen »mit Nachdruck gegen sie vorgegangen werden müsse«; S. 73). 23 Wiltberger, S. 71. 24 So der im Mai 1835 nach Straßburg geflüchtete Hermann Wiener, Mitglied der Darmstädter »Gesellschaft der Menschen recht«; vgl. Hauschild, a.a.O. (s. oben Anm. 17), S. 386. 25 So Carl Vogt (a. a. O., S. 152), der übereinstimmend mit Wiener noch weitere Details zu Pfisters Sonderrolle gegenüber dem Präfekten und für die deutschen Flüchtlinge berichtet. Daß Pfister zwar den deutschen politischen Flüchtlingen freundlich gesonnen, doch gleichwohl Polizist der Julimonarchie war, zeigt auch sein gleichzeitiges, weniger entgegenkommendes Vorgehen gegen die Straßburger Republikaner der »Droits de Phomme< und des »Cercle patriotique« (vgl. Felix Ponteil: L'Opposition politique ä Strasbourg sous la Monarchie de Juillet (1830-1848). - [ColmarJ 1932, bes. S. 383, 396, 426, 434 u. 438). 26 Es mag einige Gegenbeispiele wie etwa das des Gießener Flüchtlings Ernst Dieffenbach geben, der sich als Teilnehmer am Frankfurter Wachensturm tatsächlich von August 1833 bis Anfang 1834 illegal und unter dem falschen Namen eines stud. med. »Hof(f)mann« in Straßburg aufhielt; doch auch Dieffenbach wurde von Beginn seiner

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anderen Flüchtlingen hatte27. Und bereits der Versuch hätte das Ausweisungsrisiko unverhältnismäßig erhöht. Dies um so mehr, als tatsächliche Ausweisungen, d. h. Abschiebungen ins Landesinnere, zwingend nur in Fällen stattfanden, in denen die deutschen Behörden dies auf diplomatischem Wege namentlich verlangten — so bei Büchners Freund Wilhelm Schulz, der deshalb im Juni 1835 Straßburg verlassen mußte, wo er »ganz zurückgezogen gelebt« und »sich ganz ruhig verhalten« hatte28. In diesem Fall eines >besonderen< Ausweisungsbegehrens von hessischer Seite, wie es Büchner nicht ohne Grund auch für sich selbst befürchtete29, bot wohl auch der Canton Sud keinen Schutz. In allen anderen Fällen blieb es der »Willkür des Präfekten« und das hieß auch dem unterschiedlichen Ermessen seiner Kommissäre überlassen, Flüchtlinge etwa »auf die Bemühungen einheimischer Freunde oder auf Grund ärztlicher Atteste«30 hin zu dulden oder sie abzuschieben. Nach Hermann Wieners wahrscheinlich noch zu niedrig gegriffener Angabe hielten sich im Sommer 1835 immerhin »etwa 25 deutsche Flüchtlinge in Strasburg« 31 in dieser Weise »geduldet« auf. Damit ließe sich, sprächen nicht die bereits genannten Gründe — inkonsequente Handhabung der Adressen einerseits und Überwachungseffizienz andererseits - dagegen, immer noch die Argumentation vertreten, Büchner habe, eben weil und solange er mit einem Ausweisungsbegehren rechnete, gewissermaßen auf eine riskante >Nummer Sichersehr fürchtete« (442, 7) und mit »nachtheiligefn] Folgen« rechnete (447, 14); desgl. Briefe vom 10. Juni bis 17. August 1835. Wiltberger, S. 71. Hauschild: Wiener (s. oben Anm. 17), S. 386.

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Anführen ließe sich in dieser Hinsicht etwa, daß Büchner am 16. Juli 1835 an seine Eltern schrieb: »Ich lebe hier ganz unangefochten; es ist zwar vor einiger Zeit ein Rescript [d. h. ein höheres amtliches Schreiben mit Verordnungscharakter32] von Gießen gekommen, die Polizei scheint aber keine Notiz davon genommen zu haben.« 33 Und erst dann, Anfang August ebenfalls an die Eltern: man habe ihm »auf besondere Verwendung eine Sicherheitskarte versprochen«, sofern er »einen Geburts(nicht Heimat-) Schein vorweisen«34 könne. Doch wie ließ sich aus der gänzlichen Illegalität überhaupt nach einer Sicherheitskarte sondieren? Hauschilds Annahmen steht allein schon die Tatsache entgegen, daß die Freunde, mit denen Büchner 1835 in Straßburg sofort und anscheinend anstandslos verkehrte (insbesondere die Flüchtlinge Wilhelm Schulz, Wiener35, Vogt36 und die Einheimischen Boeckel, Baum, Reuss sowie nicht zuletzt die Verlobte Minna Jaegle), weder in den überlieferten eigenen Zeugnissen noch etwa in Mitteilungen an den Biographen Ludwig Büchner jemals auch nur eine Andeutung gemacht haben, die einen doch relativ spektakulären Umstand wie neunmonatige Illegalität hätte erkennen lassen. Auch die wichtigsten Korrespondenzpartner, d. h. die Mutter, die doch auch hätte instruiert werden müssen, und Gutzkow, wußten hiervon offenbar nichts37. Vor allem aber deuten bereits seit April 1835 alle Briefe Büchners an die Eltern, selbst wenn man wiederholte summarische Versicherungen wie das »Ich lebe hier ganz unangefochten« 38 als Teil einer Beruhigungsstrategie39 verbucht, zweifelsfrei auf seine Absicht und entsprechende Schritte hin, sich durch Wiederaufnahme des »Studium[sl« 4() bzw. der »Studien« 41 , durch eigene Einkünfte 42 und durch förderliche

32 Daß sich dieses Schreiben besonders gegen Büchner richtete (etwa mit Einlage des Steckbriefs vom Juni 1835), ist ganz unwahrscheinlich. 33 HA II, 442. 34 Ebd., 445. 35 Ebd., 440, 10. 36 Ebd., 445, 23. 37 Gutzkows Briefen an Büchner ist auch 1835 nichts in dieser Richtung zu entnehmen, im Nachruf von 1837 heißt es sogar: »das Exil, für Andre eine Plage, war Wohlthat für ihn« (GW, Bd. 9, S. 337). 38 HA II, 442, 25; ebenso 445, 16. 39 Vgl. GBJb 2 (1982), S. 249-280, bes. S. 264-266. 40 9. März 1835: »Ich werde das Studium der medicinisch-philosophischen Wissenschaften mit der größten Anstrengung betreiben [...]« (HA II, 436; vgl. 448, 31). 41 20. April 1835: »ich bin entschlossen, meinen Studienplan nicht aufzugeben« (ebd., 438); 20. Sept. 1835: »habe ich doch meiner Studien halber die Verpflichtung zu regelmäßigen Beiträgen [für Gutzkows Deutsche Revue] abgelehnt« (448). 42 Vgl. HA II, 437, 35; 448, 8; selbst wenn Büchner die sich bietende Gelegenheit für »ein regelmäßiges Einkommen« hier gerade seiner »Studien halber« abgelehnt haben will, ist der Gesichtspunkt als solcher auch im Zusammenhang mit Bestrebungen der französi-

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Kontakte eine legale Position zu sichern. Wir wissen zwar nicht, ob sich Büchner 1835 in Straßburg tatsächlich wieder immatrikuliert hat (für das Studium der Medizin hätte er im übrigen als regulärer Flüchtling eine Gebührenbefreiung erhalten können43), verschiedene Anhaltspunkte sprechen sogar dagegen44. Doch sicher ist, daß er die früheren wissenschaftlichen Beziehungen in zweierlei Hinsicht und ganz selbstverständlich wieder anknüpfte: um günstigere Arbeitsbedingungen zu erlangen und damit zugleich seinen Status zu festigen. So ist zwischen Juni und August dreimal in den Briefen die Rede von »Protection«45, »besondere[r] Verwendung«46 bzw. ausdrücklich davon, er sei sich »der Verwendung der Professoren Lauth, Duvernoy und des Doctor [Theodore] Boeckel's gewiß, die sämmtlich mit dem Präfecten gut stehen.«47 Und Ludwig Büchner bestätigt, vermutlich anhand weiterer nicht veröffentlichter Briefpassagen und zumindest für einen etwas späteren Zeitpunkt: »Der berühmte Lauth und Düvernoy, Professor der Zoologie, leisteten ihm für diese Studien [über vergleichende Anatomie] allen Vorschub, und machten ihm den Gebrauch der Stadtbibliothek sowohl, als einiger bedeutender Privatbibliotheken möglich.«48 Es bleiben zwar nach wie vor Fragen offen, vor allem was die tatsächliche Wohnung Büchners zwischen März und Dezember 1835, seine späte Meldung, die Angabe eines falschen Ankunftsdatums und die merkwürdigen Adressen der Gutzkow-Briefe betrifft. Doch eine einfache Erklärung könnte — versuchsweise — so lauten: Büchner hatte von März bis Dezember gar keine eigene feste Bleibe, sondern er arbeitete in der Rue St. Guillaume, in Bibliotheken oder bei Freunden wie z. B. dem Ehepaar Schulz; er schlief in größeren oder kleineren Abständen wechselnd ebenfalls bei Freunden und zögerte seine reguläre Anmeldung, ohne sich dadurch im strengeren Sinn >illegal< zu fühlen oder zu verhalten, immer wieder und solange hinaus, bis er entweder der Polizei aus irgendeinem zufälligen Grund auffallen würde oder für sich selbst ein »besonders« gegen ihn gerichtetes Ausweisungsbegehren nicht mehr

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sehen Behörden zu sehen, die finanzielle Unterstützung der Flüchtlinge seit Herbst 1834 zu reduzieren (vgl. Wiltberger, bes. S. 63 f.). Daß Büchner allerdings zu diesen »unterstützten« Flüchtlingen zählte, für die besondere Bestimmungen galten (vgl. ebd., S. 66 ff.), ist unwahrscheinlich, bliebe jedoch zu prüfen. Wiltberger, S. 63, Anm. 3. So die bekannte Abwendung von der >praktischen MedizinBüchner, p. A. Lucius, Rue Guillaume< ließe sich unter diesen Voraussetzungen, wie bereits angedeutet, zugleich aus mehreren Gründen erklären: sie hätte einmal dem vermutlich nicht nur häufigsten und regelmäßigsten, sondern in jeder Hinsicht vertraulichsten Aufenthaltsort Büchners entsprochen, d. h. die Post erreichte ihn so am schnellsten und sichersten; der Pfarrer Jaegle und seine Tochter, die ihrerseits durch die >Zwischenschaltung< eines dritten Namens sowohl vor >sittlichen< als auch politischen Problemen etwas abgeschirmt wurden 51 , waren in jedem Fall — selbst in dem eines Ausweisungsbegehrens — die solidere und verläßlichere Adresse als etwa andere deutsche Flüchtlinge, um gegenüber den Behörden glaubhafte tatsächliche oder hinhaltende Erklärungen abzugeben, Büchner unverzüglich über alles Wichtige zu informieren, ihn ggf. zu warnen und ihm dadurch einen sachlichen oder zumindest zeitlichen Manövrierraum zu verschaffen — also auch ihn wiederum so >abzuschirmenGesetzlichkeit< bis zu äußersten Grenzen zu nutzen verstand5-*, habe dieses Prinzip dann ausgerechnet als Emigrant im bürgerlichen Frankreich außer acht gelassen. Dem an Büchners eigener — und zutreffender — Beurteilung orientierten Einwand, daß der Status der Flüchtlinge in Straßburg gerade ein >gesetzlich< gesicherter nicht war, ließe sich entgegenhalten: er war aber auch (versteht sich: bei Unauffälligkeit »in politischer wie in moralischer Hinsicht« 54 ) wieder nicht so ungesichert, daß ein Flüchtling auf die Idee kommen konnte, die >Strenge des Gesetzes< ohne einen zwingenden Anlaß durch Untertauchen von sich aus noch herauszufordern. Und selbst mit dem für Büchner gefährlichsten Anlaß, einer Demarche der Darmstädter Behörden, drohte keineswegs die Auslieferung an du Thil und Georgi, sondern äußerstenfalls, wie z. B. im Falle von Caroline und Wilhelm Schulz, ein Umzug etwa nach Oberbronn nordwestlich Straßburgs in die Nähe des Freundes Stoeber — oder vielleicht auch das Risiko und die Alltagsbelastungen einer Illegalität, für die es dann wenigstens einen Grund gegeben hätte.

53 Vgl. Büchners Briefe an die Eltern über sein Verhalten gegenüber dem Gießener Universitätsrichter Georgi Anfang August 1834 (HA II, 430-433; dazu GBJb 2/1982, bes. S. 268-272, Gß ////, S. 384). 54 Dies wurde Büchner dann auch von Pfister zumindest bescheinigt (s. oben Anm. 16).

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Hans Zeller (Freiburg/Schweiz):

Zur kritischen Studienausgabe von Leonce und Lena *

Die als »kritische Studienausgaben« bezeichneten Einzeleditionen von Werken Büchners, die die künftige Marburger historisch-kritische Ausgabe vorbereiten, erscheinen in regelmäßigen Abständen. Jedes der bisher publizierten Werke (Danton^ Lenz) bietet seine eigenen textologischen Probleme. Die Editoren antworten darauf mit entsprechend verschieden angelegten Ausgaben, die sie der Diskussion der Liebhaber und Fachleute anheimgeben. Beim Lustspiel Leonce und Lena besteht das Hauptproblem darin, daß (abgesehen von ein paar weiteren Stellen) nur die erste Szene zuverlässig überliefert ist (nämlich als Autograph einer wohl als Reinschrift begonnenen, in Entwurfscharakter übergehenden Handschrift Hl, die das Werk in einem frühen Entwicklungsstadium zeigt). Im übrigen ist das gesamte Lustspiel in seiner dreiaktigen Fassung doppelt, aber nur in der Bearbeitung zweier verschiedener postumer Herausgeber überliefert: 1. Als Gutzkows Abdruck des Stücks in der Zeitschrift Telegraph für Deutschland 1838 (Zeugensigle ;'). Gutzkow ersetzt in drei der vier Szenen des ersten Akts Büchners Text zum Teil durch Inhaltsangaben und streicht höchstwahrscheinlich ihm aus politischen und moralischen Gründen anstößig erscheinende Stellen oder mildert sie ab. 2. In Ludwig Büchners Ausgabe der Nachgelassenen Schriften seines Bruders, 1850 (Zeugensigle N). Ludwig Büchner redigierte den Text, wenn er in sexueller, politischer oder sprachlichstilistischer Hinsicht Anstoß nahm. Abgesehen davon, daß / und N in der ersten Szene in einer Weise voneinander differieren, daß sie offensichtlich zwei verschiedene Fassungen wiedergeben, gibt es auch in den übrigen, besser übereinstimmenden Szenen eine Anzahl Varianten, die es ohne weiteres als möglich erscheinen lassen, daß den Herausgebern Gutzkow und L. Büchner zwei Fassungen vorlagen. Weil ihre Bearbeitungstendenzen einander ähnlich Georg Büchner: Leonce und Lena. Ein Lustspiel. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. — In: Burghard Dedner (Hrsg.): Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe, Beiträge zu Text und Quellen von Jörg Jochen Berns, Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer und E. Theodor Voss. — Frankfurt a. M. 1987 (= Büchner-Studien, Bd. 3), S. 7-153.

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sind, lassen die Varianten des überlieferten Textes nicht sicher erkennen, ob und welches gegebenenfalls Büchners Originaltext, welches der Ersatztext ist. Für alle in / nicht weggelassenen, dort bloß referierten Passagen bestehen darum für die Varianten zwischen ; und N prinzipiell drei Möglichkeiten: 1. Die eine Variante ist Büchners originaler Text, die andere die der Bearbeitung; bzw. N (Autorvariante und Herausgebervariante). 2. Beide Bearbeiter haben den originalen Text verlassen, weil er ihnen aus irgendeinem Grunde unpassend schien (Herausgebervarianten). 3. Beide Varianten sind original: sie repräsentieren zwei verschiedene Bearbeitungsstadien oder Fassungen des Lustspiels (Autorvarianten). Die eine oder die andere Möglichkeit ist an gewissen Stellen mehr oder weniger wahrscheinlich zu machen, zum Beispiel wenn ein Zeuge eine sprachliche Form zeigt, die nicht für Büchner, aber für einen der Herausgeber oder eine der beteiligten Offizinen charakteristisch ist. Sonst aber sind diese Probleme systematisch nicht lösbar; wieso sich dies so verhält, ist noch zu zeigen. Aufgrund von Zeugnissen sieht sich der Herausgeber Thomas Michael Mayer zu den Annahmen berechtigt, daß / auf einer erschlossenen Abschrift h des Lustspiels von der Hand von Büchners Braut Minna Jaegle beruhte, N dagegen auf einer von h höchst wahrscheinlich unabhängigen Kopie von Büchners Schwester Luise. Natürlich haben bereits diese beiden Abschreiberinnen bei ihrer Transkription der schwer lesbaren Büchnerschen Handschrift zur Textüberfremdung beigetragen. Die Frage, welches die Vorlagen dieser Abschriften waren, behandelt Mayer mit der größten Zurückhaltung in einem Kapitel »Erwägungen zum Stemma« (S. 126 — 147). W. R. Lehmann (1967) hatte angenommen, im Gegensatz zu F. Bergemann (1922), daß / und N ab I 2 ein und dieselbe Fassung repräsentieren. Mayer hält diese Auffassung nicht für unmöglich, aber für weniger wahrscheinlich als die These, die Zeugen entsprächen im ganzen zwei verschiedenen Fassungen. Wenn schon die erste Szene in zwei verschiedenen Fassungen auf die Herausgeber gelangte, und zwar, wie es scheint, auf ganz verschiedenen Wegen, die Mayer zu rekonstruieren sucht, so ist es wahrscheinlich, daß es sich auch mit dem Rest des Werks so verhält. Darauf deutet auch die relativ große Anzahl von neutralen Varianten, d. h. von Varianten, die sich nicht mit den von Mayer analysierten Bearbeitungstendenzen der beiden Herausgeber in Zusammenhang bringen lassen, wie z. B. die Variante 65,12 »Todtenlied« (/") vs. »Sterbelied« (N). (Eine Liste solcher Stellen S. 143.) Trotzdem hält Mayer dafür, daß die Mehrzahl der über 150 Wortlautvarianten ab I 2 nicht auf Büchner, sondern auf die beiden Herausgeber zurückgeht (S. 146 f.). Mayer entwickelt die Hypothese, daß Büchner seiner Braut ein in den 207

September/ Oktober 1836 zu datierendes Arbeitsmanuskript HUI überlassen und eine (autographe?) Reinschrift als Druckvorlage und/oder für eine geplante Überarbeitung nach Zürich mitgenommen habe (HIV). Die dreiaktige Fassung HIII wäre nach der ein- oder zweiaktigen Wettbewerbsfassung (Juni 1836) anzusetzen und könnte die Vorlage von Minnas Abschrift h bilden. Die wohl in Zürich vorgenommene Überarbeitung der Reinschrift HIV könnte sich auf die erste Szene beschränkt haben, dürfte sich aber, so Mayers These, in wesentlich geringerem Maße auch auf die weiteren Szenen erstreckt haben. Mayer kann die beobachteten Textverhältnisse und die Zeugnisse miteinander in Übereinstimmung bringen durch die Annahme, HIV sei von Minna an die Familie Büchner in Darmstadt gegeben worden und habe dort die Vorlage für Luise Büchners Abschrift gebildet, die ihrerseits von Ludwig Büchner N zugrunde gelegt wurde. Es bleibt hervorzuheben, daß Mayer die Frage des Stemmas als noch ungelöst betrachtet und die Leser und Kritiker um die Mitarbeit an diesem Problem bittet. Gutzkows Herausgeberpraxis kann Mayer anhand von Danton9s Tod durch Vergleich von Gutzkows zwei Ausgaben mit dem erhaltenen Autograph feststellen (S. 106 ff.), ebenso Ludwig Büchners Verfahrensweise anhand mehrerer Texte in den Nachgelassenen Schriften, vor allem wiederum Danton (S. 114 ff.; 142). Es zeigt sich, daß beide Herausgeber gegen erotische und politische Anspielungen eingeschritten sind, wobei Gutzkow im Bereich des frivolen Witzes besonders empfindlich gewesen zu sein scheint und Ludwig Büchner eine besonders ängstliche politische Zensur ausgeübt haben dürfte. Dazu kommen weitere Eingriffe — stilistische, grammatische, orthographische, interpunktorische —, so daß alle Ebenen des Textes betroffen sind. Mayer ist (wie Lehmann) der Auffassung, Ludwig Büchner (N) habe häufiger und empfindlicher in den Text eingegriffen als Gutzkow (;'). Wenn die Herausgeber Lehmann und Mayer trotzdem nicht selten N die Präferenz vor / geben, so rührt dies daher, daß / oft kürzt und referiert, vielleicht auch daher, so fügt Mayer hinzu, daß der N zugrundeliegende Text auf einer späteren (»besseren«?) Fassung beruht (S. 143), ich werde darauf zurückkommen. Wenn sich bei / und N deutliche Tendenzen der Bearbeitung ausmachen lassen, heißt dies nicht, daß es dazu nicht auch immer wieder gravierende Gegenbeispiele gäbe. Ein wesentlicher Grund, weshalb die Textkritik und die ihr zugrundeliegende Stemmafrage hier so heikle, methodisch nicht lösbare Probleme bieten (S. 140), liegt darin, daß die Überlieferungsvarianten, soweit es sich um solche handelt, auf willkürliche und zum Teil widersprüchliche Weise entstanden sind. Th. M. Mayer versteht seine Studienausgabe »zugleich [als] Zwischenergebnis und Arbeitsmittel dieser nach wie vor ungeklärten textkritischen Fragestellungen« (S. 150) und nennt zwei Ziele, die sie verfolgt: Sie will 1. »alle Textzeugen anschaulich dokumentieren«, ohne 208

ihre Lesbarkeit zu gefährden, und 2. sollen »die einer Studienausgabe angemessenen editorischen Entscheidungen im Text selbst getroffen oder doch signalisiert werden« (S. 9). Die Ausgabe realisiert beide Zielsetzungen, ganz besonders die erste, so meine ich, in überzeugender Weise. Es sind höchstens einige geringfügige Vorbehalte anzubringen. Keineswegs teile ich die Befürchtung des Herausgebers (S. 152), der »typographisch zerrissene Text« erschwere die Lektüre. Die nebst; und N durch eine Handschrift in verschiedenen Entwicklungsstadien überlieferte, stark variierende Szene I l wird spaltenweise in Paralleldruck dargeboten, der Rest des Werks in einer so einfachen wie leistungsfähigen Synopse, so, daß der Text, so weit er; wiedergibt, in Garamond Antiqua erscheint, wo er N wiedergibt, in halbfetter Grotesk. Wo in beiden Zeugen verschiedene Wörter stehen, erscheinen sie im Text in diesen beiden Schriften übereinander, durch einen Bruchstrich getrennt. Varianten der Interpunktion und der Schreibweise werden nur im Apparat am Fuß der Seite verzeichnet (Beispiel S. 33): Z w e i t e r K a m m e r d i e n e r . Eure Majestät wollten sich an etwas , . j. t. Tl_ Taschentuch knüpfen , erinnern, als sie diesen vKnopf n—r- zu T—rrS— geruhten. r m Ihr -=-r Schnupftuch

knöpfen °

P e t e r . (Läuft auf und ab.) Was? Was?

5

r» j· \ Ja, das j ist · » s, das j ·ist's. A* - f* Ich wollte mich an mein P e t e r . /c (Freudig) Volk erinnern! v . ,. .^ . . . , _ Kommen cSie meine Herren! Gehnc Sie symmetrisch. Ist es 10 nicht sehr heiß? Nehmen Sie doch auch Ihre Schnupftücher und wischen Sie sich das Gesicht.

9 ist's, das ist's] ist's ; symetrisch ;

10 Sie] Sie, N

3 etwas] Etwas N Gchn] Gehen N

4 Ihr] ihr N symmetrisch]

Wortdifferenzen im doppelt überlieferten Text stehen also über und unter dem Bruchstrich, Übereinstimmung der Wörter beider Zeugen erscheint als Antiqua in der Zeile und führt damit Mayers Entscheidung vor Augen, dem Text generell den weniger überfremdeten Teildruck / zugrundezulegen, im Wortlaut wie in der Schreibweise und der Inter209

punktion. (Die Varianten in den »accidentals« gehen wohl größtenteils auf die hausinternen Vorschriften der beteiligten Druckereien zurück, namentlich die von N.) Z. 4 und 11 bieten eventuell das Beispiel einer widersprüchlichen Zensur von ;, in dem das königliche »Schnupftuch«, das in der Vorlage gestanden haben könnte, zum »Taschentuch« verbessert wurde, die »Schnupftücher« der königlichen Umgebung, die der König immerhin nennt, jedoch stehen blieben. (»Schnupftuch« blieb auch 32,13 und 16 stehen.) Z. 9 f. zeigt, daß Mehrtext in / und in N verschieden wiedergegeben wird. Obwohl bei Büchner auch mit Kürzungen zu rechnen ist, wie das Beispiel des Danton lehrt (S. 146), dürfte es sich in den Zeugen /' und N in der Regel um Streichungen der beiden Herausgeber handeln. Wo / aussetzt, wird N in der Zeile in Grotesk wiedergegeben (nur durch N überlieferter Text, z. B. das zweite »das ist's«) 1 ; wo N aussetzt, wird / in Antiqua über dem Bruchstrich wiedergegeben (nur durch; überlieferter Text), z. B. der Satz »Ich wollte mich an mein Volk erinnern!«. Der Pfeil vor diesem Satz weist durch seine Richtung »auf den vermutlich originalen, weniger korrumpierten« Text, hier also auf ;'. Der Satz wurde, so gibt der Herausgeber zu erkennen, vermutlich von Ludwig Büchner in N gestrichen. Wo der Pfeil vor dem Bruchstrich fehlt, »schien eine solche Beurteilung nicht möglich« (S. 11), z.B. in Fällen wie »knüpfen/knöpfen«. In der letzten Szene heißt es von einem Teil der die Hochzeitsfeierlichkeit schon zu lange erwartenden Gäste (S. 74): Die Won zwölf Unschuldigen den zwölf Unschuldigen ist Keine, die nicht das horizontale Verhalten dem i r =-. r— in ihren weißen Kleidchen aus wie ersenkrechten vorzöge. Sie sehen 10 schöpfte Seidenhasen

Der abwärts weisende Pfeil gibt dem Text von N den Vorzug vor /, der die Anzüglichkeit beseitigt haben dürfte. Dieser zweite Pfeil kann aber auch bedeuten, daß die Variation nicht auf die Herausgeber, sondern auf Büchners Überarbeitung zurückgeht. Dies möchte der Fall sein bei der ersten der beiden folgenden Stellen vom Schluß des Lustspiels (S. 87, Z. 2 f.):

Gestalten um musikalische Kehlen, klassische j Leiber j , eine, wo möglich, bequeme ,. . n und Yl-r— ^-s—-— ^ . Religion. eme kommde ° l Eine Ausnahme wird dort gemacht, wo in N eigenmächtige Textzusätze stehen könnten; diese erscheinen in der Form Grotesk-

210

N hat hier »kommende Religion!«. Das Fremdwort ist durch ein Zeugnis aus Zürich belegt, danach der im Text markierte und im Fußnotenapparat ausgewiesene Eingriff des Herausgebers Mayer. Auch sonst sind die zugunsten von N gegen /' getroffenen punktuellen Entscheidungen des Herausgebers im Text auf analoge Weise behandelt, also stets signalisiert (s. o. 33,10 »symmetrisch«). Der Herausgeber erreicht durch diese einfachen Maßnahmen tatsächlich eine vollständige und sinnfällige Dokumentierung der Überlieferung bis zum letzten Buchstaben und Satzzeichen. (Die typographischen Varianten werden zum Teil generell behandelt, zum Teil im Fußnotenapparat nachgewiesen.) Seine Stellungnahmen sind zurückhaltend und (bis auf einen Punkt) deutlich. Die Darstellung hat die hohen editorischen Tugenden der Einfachheit und Sinnfälligkeit, belastet also das Gedächtnis des Benutzers in minimster Weise und veranlaßt diesen gleichsam von selbst, sich die Überlieferung klar zu machen. Meine Änderungsvorschläge beziehen sich darum auf Nebendinge. Ein solcher Punkt ist 1. die doppelte Bedeutung des abwärts gerichteten Pfeils, wie sie im letzten Textbeispiel vorgeführt wurde. Der Leser kann aus der Textdarbietung nicht erkennen, daß der Herausgeber seiner Auffassung zufolge (Liste S. 143) mit den Pfeilen an der Stelle 87,2 f. zwei Büchnersche Varianten bezeichnet, an der folgenden Stelle 55,6 f., wo Leonce sein »Ideal eines Frauenzimmers« beschreibt, jedoch die obere Variante (/') offenbar für eine Herausgebervariante hält (denn er nennt sie in der Liste S. 143 nicht): . ... , ... , , aber dumm. c. Sie ist unendlich schon l— ... , r-rs— Y und unendlich geistlos.

Ist der Sinn dieser zusammenfassenden Behandlung eventuell der, daß der Herausgeber den späteren Text, die Veränderung des Autors, für eine Verbesserung hält? Aber Autorvarianten sind kategoriell so verschieden von Herausgebereingriffen, daß man sie nicht mit dem gleichen Zeichen indizieren sollte, wenn man schon in der Lage ist, eine Liste der ersteren zu geben.2 Der Pfeil in der Funktion »Autorvarianten« könnte z. B. durch eine kurze vertikale Linie oder einen sowohl aufwärts wie abwärts weisenden Pfeil vor dem Bruchstrich ersetzt werden. 2. Bei den Klammern würde sich wohl der bereits weithin übliche editorische Gebrauch empfehlen. Mayers Ausgabe verwendet (wie üblich) 2 Wenn die mit einem Abwärtspfeil versehene Stelle 61,6 auf S. 152, Anm. 211, den Stellen zugeordnet wird, wo vielleicht beide Herausgeber einen für sie »neuralgischen Wortlaut« verharmlost haben, so besagt der Pfeil hier offenbar, daß der Text unter dem Bruchstrich (N) dem Original näher steht als der Text darüber (/).

211

die [aufrechte Eckklammer] für Tilgung in der Handschrift, die /kursive Eckklammer/ für Tilgung von Text in der Handschrift durch den Herausgeber; bei gedruckten Zeugen steht die sowohl für Konjektur und Textergänzung als auch (wenn sie leer ist) für Tilgung durch den Herausgeber (S. 11). Den beiden Bedeutungen gemeinsam ist der konjekturale Charakter. Aber das unterschiedliche Verfahren bei handschriftlichen und gedruckten Zeugen in bezug auf die Texttilgung durch den Herausgeber ist unnötig, und die doppelte Bedeutung von konjekturaler Ergänzung und Tilgung der sonst für Textergänzung reservierten Spitzklammer befremdet. Besser schiene mir die Verwendung von [nnnl Texttilgung im Zeugen , [nnn] Texttilgung des Herausgebers Textergänzung des Herausgebers < > nicht eindeutig ergänzbare Textlücke. Erläuternde Zusätze könnten in kursiver Schrift in kursiven runden Klammern erscheinen; damit erstreckt sich der Gegensatz zwischen aufrechter Schrift = Text und Kursiver = Kommentar konsequent auf die Klammern. Der hier empfohlene Gebrauch entspricht übrigens den Empfehlungen der internationalen »Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition«, soweit sie sich damit befaßt hat. Die von Mayer eingesetzte Abstufung der verschiedenen editorischen Mittel zur differenzierenden Bezeichnung der vermutlichen Nähe zweier Varianten zum originalen Text nähme dann diese Gestalt an: / : l grciscn großen

Zeichen:

l

Bedeutung:

extrem pro N

großen

:

greisen großen neutral

:

t

6rcisen großen

.

greisen / /

extrem pro /".

Die leere kursive Eckklammer bedeutet in dieser Ausgabe, daß der überlieferte Text als Autortext überhaupt nicht in Frage kommt, wie zum Beispiel 50,9 das referierende »klagt sie« oder 38,7 »sagt er«. 3. Der Fußnotenapparat in der gegenwärtigen Form ist leicht lesbar, zum Teil auch deswegen, weil er mit dem edierten Text gewisse Redundanzen aufweist. Entlastungen dieses Apparats bieten sich besonders an, wo er Typographisches und Orthographisches, das sich häufig wiederholt, an den Einzelstellen mitteilt: solches könnte (mit seinen Ausnahmen) praktischerweise in der generellen Beschreibung der Zeugen behandelt werden (Sperrung von Szenenüberschriften, Antiqua inmitten von Fraktur, ei/ey u. ä., s. S. 151, Anm. 208). 4. Wie bereits vorgeführt, erscheint Text von / in normaler Antiqua, Text von N in halbfetter Groteskschrift, im Nacheinander wie im Übereinander. Dies wirkt wie eine Hervorhebung von N gegenüber / und 212

steht dadurch im Widerspruch zur textkritischen Beurteilung der beiden Zeugen in ihrem Verhältnis zueinander und zu Mayers Entscheidung, dem Text generell / zugrunde zu legen. Der Benutzer muß also die beiden Schriften gegen den typographischen Strich lesen. Der minderbewertete Zeuge N erhält typographisch das Übergewicht über den bevorzugten Zeugen /'. Das kann einen abgelenkten Leser verwirren. Wenn es sich aus technischen Gründen wirklich nicht anders machen läßt, wäre eine Umkehrung der Bedeutung bzw. des Gebrauchs vorzuziehen. Da die beiden Schriften aber ohnehin typographisch schlecht aufeinander abgestimmt sind, sollten zwei Schriften (bzw. drei Schriften, wenn man die Handschriften in I l berücksichtigt) gewählt werden, die sich — auch in der Interpunktion, was nicht ganz einfach ist — genügend unterscheiden und doch zusammenpassen und dabei dem textkritischen Gewicht der Zeugen jedenfalls nicht widersprechen. 5. Mayer vertritt S. 151 die Auffassung, die von ihm gewählte Art der synoptischen Darstellung wäre in der künftigen historisch-kritischen Ausgabe nur zulässig, wenn der Nachweis gelänge, daß / und N dieselbe Fassung vertreten. »Umgekehrt würde sich beim Nachweis zweier verschiedener Fassungen die Kontamination ganz verbieten.« Selbstverständlich ist die Kontamination zweier Fassungen unzulässig. Man braucht jedoch Mayers Synopse von; und N keineswegs als Kontamination und ihr Ergebnis nicht als »Mischtext« (S. 151) zu betrachten. Es ist seit Jahrzehnten üblich, mehrere Fassungen auf analoge Weise synoptisch darzustellen. (Die Verwischung beginnt erst dort, wo mit dem gleichen Zeichen sowohl die Herausgebervariante von der vermutlichen Autorvariante unterschieden wie die Richtung der autoritären Textentwicklung bezeichnet wird.) Für den Fall, daß bei der Ausarbeitung der historisch-kritischen Ausgabe weder der Nachweis einer einzigen noch der zweier verschiedener Fassungen gelingt, ist die vorliegende Darstellung als Synopse zweier Zeugen zu bezeichnen, die möglicherweise zwei Fassungen repräsentieren. Dies wäre hervorzuheben, um den Leser bzw. den Zitierenden davor zu warnen, nach Gutdünken bald dem einen, bald dem ändern Zeugen zu folgen. Die Verwendung der Pfeile wäre, wenn man der gegebenen Empfehlung folgen will, in jedem Fall auf die vorgeschlagene Bedeutung zu beschränken: sie gäbe dann bei vermuteter Varianz der Überlieferung an, welche Lesart nach Auffassung des Herausgebers (mehr) Vertrauen verdient. Ich teile nicht den Standpunkt Mayers (S. 151), in einer historisch-kritischen Ausgabe habe sich der Herausgeber solcher Stellungnahmen zu enthalten. Der in solchem Maße zur Mitarbeit aufgerufene Benutzer wird es zu schätzen wissen, die Auffassung des Fachmanns zu erfahren. Angesichts der methodisch vielleicht nicht zu lösenden Probleme und der höchst schwierigen, einander vielfach widersprechenden Situationen ist die Stellungnahme des Herausgebers umso willkommener, als sie ja auch ignoriert werden kann. 213

6. Der von mir andernorts erhobene Einwand, Mayers Ausgabe biete keinen zitierbaren edierten Text, trägt der Tatsache nicht Rechnung, daß die Frage ungelöst ist, ob ; und N zwei verschiedene Fassungen repräsentieren, und noch weniger der Auffassung Mayers, daß hier eher zwei als nur eine Fassung vorliegen. Der Leser, der dieser Auffassung zustimmt (es war auch die Auffassung F. Bergemanns), muß zwischen ; und N wählen. Nimmt er dagegen (wie z. B. W. R. Lehmann) an, es handle sich nur um eine Fassung, so kann er entweder zwischen der einen oder der ändern Überlieferung wählen oder er kann den durch Pfeile ausgedrückten Andeutungen des Herausgebers folgen und die als autornäher bezeichnete Variante zitieren. In der Annahme, die Überlieferung ab Szene I 2 vertrete nur eine Fassung, hatte W. R. Lehmann in der Hamburger Ausgabe 1967 einen Text hergestellt, der im Prinzip den vollständigeren Text N von Fall zu Fall durch / eklektisch verbesserte, ein widersprüchliches Verfahren, wie Mayer bemerkt, da auch Lehmann / für den autornäheren Zeugen hält. Abgesehen von dieser Inkonsequenz und den Ungenauigkeiten, Versehen und Willkürlichkeiten, die Mayer der Hamburger Ausgabe nachweist (S. 149 f.), hat dieses Verfahren den Nachteil, daß es den Benutzer in zahllosen textkritisch nicht einwandfrei lösbaren Situationen vor ein Fait accompli stellt. Lehmann selbst bezeichnete den Text als »ein in allen Überlieferungsschichten mit Korruptelen stark durchsetztes Gebilde« und faßte seine Erwägungen zum Stemma in dem Satz zusammen: »Fragen über Fragen, die sich nie eindeutig werden beantworten lassen.«3 Eine Darstellungsweise wie die Lehmanns, die in einfacheren Fällen angebracht sein mag, trägt den Schwierigkeiten der vorliegenden Überlieferung nicht Rechnung und würde sie in einer historisch-kritischen Ausgabe in unzulässiger Weise vereinfachen, vertuschen, übergehen. Ein drittes Verfahren (zu dem sich Mayer für verpflichtet hielte, wenn der Nachweis zweier Fassungen gelänge) bestünde darin, die beiden Zeugen; und N nicht synoptisch darzustellen, sondern im Paralleldruck (nebeneinander) wiederzugeben, wobei Varianz gegeneinander in geeigneter Weise typographisch zu markieren wäre. Diesem Verfahren gegenüber halte ich die von Mayer vorgelegte Darstellung (auch für die Annahme oder den Nachweis zweier Fassungen) für überlegen, für praktischer und leistungsfähiger, weil sie die gesamte Überlieferung mit ihren Entstellungen wirklich vor Augen führt. Sie bedeutet nur für den eine Gefahr, der die Problematik vergißt. Mayer selbst faßt S. 150 f. die Vorteile seiner Darstellung in einer Weise zusammen, der ich lebhaft 3 W. R. Lehmann: Textkritische Noten. Prolegomena zur Hamburger Büchner-Ausgabe. - Hamburg 1967, S. 30 u. 28.

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zustimme: Sie macht die von Gutzkow und L. Büchner [unterlassene »>Ruine< des Textes als das vielleicht unmittelbarste Zeugnis einer zeitgenössischen Wirkungsgeschichte« auf einen Blick erkennbar, ebenso den Textbestand, der in beiden Zeugen gemeinsam und übereinstimmend überliefert ist und dem dadurch eine relative Sicherheit gegenüber dem nur einfach (besonders in N) überlieferten Text zukommt. Die gewählte Darstellung bietet alle Vorteile der Einheit von ediertem Text und Apparat. Der synoptische Text stellt selbst fast alle Varianten dar, insbesondere alle Varianten des Wortlauts; er entlastet damit den Apparat am Fuß jeder Seite und erleichtert das intensive Studium der schwer verderbten Überlieferung, von deren »Heilung« in diesem Falle abzusehen ist. Insbesondere für den Fall, daß die Diskussion über das Stemma bis zur historisch-kritischen Ausgabe nicht zu neuen, gesicherteren Ergebnissen gelangt, halte ich die Darstellung der vorgelegten Studienausgabe mit den angegebenen Vorbehalten auch der künftigen Ausgabe für angemessen.

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Winfried Woesler (Osnabrück):

Die Textgestaltung von Büchners Leonce und Lena1

Aufgabe Thomas Michael Mayer nennt in seinem Beitrag in Burghard Dedners Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe, Beiträge zu Text und Quellen2 die Textkritik des Lustspiels Leonce und Lena »eine der wichtigsten noch ungelösten Fragen der Büchner-Edition« (S. 89). Er versteht seinen Beitrag als »eine Zwischenbilanz« und überschreibt ihn »Vorläufige Bemerkungen zur Textkritik von Leonce und Lena«. Als Resümee teilt Mayer »zwei Appelle« mit (S. 152). Uns interessiert hier allein der erste. Dieser »richtet sich an die Editionstheoretiker und -praktiker nicht zuletzt außerhalb der Büchner-Forschung - in der Hoffnung, daß sie das ausgebreitete Material und die Argumente kritisch prüfen und damit die noch ausstehende Klärung des Stemmas befördern« (S. 152). Da sowohl ein Mundum Büchners als auch ein autorisierter Druck fehlen, geht es um die beiden bisher als überlieferungsrelevant erkannten nichtautorisierten postumen Drucke d 1 und d 2 : Kann einer allein Textgrundlage der Historisch-kritischen Ausgabe sein, kann es überwiegend einer allein sein, oder muß jeder von beiden bei der Textkonstitution herangezogen werden, und zwar in welchem Maße? Oder schließlich (und das ist das meistdiskutierte Problem der »Vorläufigen Bemerkungen zur Textkritik von Leonce und Lena« in der Studienausgabe): geht etwa jeder der beiden Drucke auf ein eigenes Mundum bzw. auf eine von zwei verschiedenen, zeitlich voneinander getrennten Text1 Vorliegender Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Referates, das auf einer Arbeitskonferenz der Marburger Forschungsstelle Georg Büchner am 21. 9. 1988 gehalten wurde. Er wäre nicht möglich gewesen ohne das sorgfältig ausgebreitete Forschungsmaterial in der zu Beginn dieses Beitrags genannten Publikation. Kritik und freundliche Hinweise, insbesondere von Thomas Michael Mayer, sind in der vorliegenden Fassung bereits berücksichtigt. 2 Frankfurt am Main 1987 (= Büchner-Studien, Bd. 3), S. 89-153. In demselben Band: Georg Büchner: Leonce und Lena. Ein Lustspiel. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Thomas Michael Mayer, S. 7—87.

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stufen ein und desselben Manuskriptes zurück, und wäre damit die ganze Fragestellung verfehlt? Bliebe dann nur eine Art Parallelwiedergabe von d 1 und d2, wie sie in der Studienausgabe vorgelegt wurde? Oder stellt sich nicht die Aufgabe, in jedem Fall die letzte Werkstufe Büchners — sei es des einen Büchnermanuskriptes, sei es, falls es zwei Büchnermanuskripte gab, die jüngste der beiden — annähernd zu erschließen?

Überlieferung Die Überlieferung des Lustspiels ist mehrfach dargestellt worden, zuletzt in der Studienausgabe, S. 92—126. 3 Die manchmal verwirrend wirkende Argumentation der Büchner-Forschung mag zu einem kleinen Teil auch mit der bisher üblichen chaotischen Siglenverwendung für die Überlieferungsträger zusammenhängen. So wird z. B. der eine postume Druck mit / bezeichnet, der zweite mit N und ein überlieferungsgeschichtlich irrelevanter Nachdruck von / mit M. Gegen sprechende Siglen wäre nichts einzuwenden, aber schon etwas gegen die unsystematische Verwendung von Groß- und Kleinbuchstaben. Lediglich die Entwurfbruchstücke, die allerdings für das vorliegende Problem fast unwichtig sind, werden wie üblich mit H plus fortlaufendem Exponenten als H 1 , H2, H3 bezeichnet. Die verlorenen, d. h. erschlossenen Reinschriften oder Zwischenreinschriften sind deshalb schwer zu bezeichnen, weil man nicht weiß, wie viele es deren gab. Mindestens von zweien, möglicherweise aber auch mehreren, ist auszugehen. Sie seien hier hypothetisch mit H x bzw. H x , Hv, H* bezeichnet. Fine oder mehrere dieser verlorenen Reinschriften bzw. Zwischenreinschriften bildeten letztlich die Vorlage für die beiden bereits erwähnten unautorisierten postumen Drucke: 1. den Teildruck durch Gutzkow 1838 im Telegraph für Deutschland, früher /', im folgenden d 1 genannt; 2. den Abdruck in den Nachgelassenen Schriften 1850 durch Ludwig Büchner, früher N, im folgenden d2 genannt. 2 d bietet »ca. ein Viertel mehr Textmasse« (S. 92) als d 1 . Davon entfällt der weitaus größere Teil auf den ersten Akt, in dem Gutzkow oft referierend zusammenfaßt. Von Beginn des zweiten Aktes an — wenn man die diesbezüglichen Differenzen jeweils grob summiert — bietet einerseits d 1 gegenüber d2 ca. 14 Zeilen Plustext, andererseits d2 gegenüber d 1 ca. 19 Zeilen Plustext; zählt man nicht die Zeilen, sondern die entsprechenden Stellen, so ergibt sich ein ähnliches Bild: 12 Plustextstellen in d 1 und 14 Plustextstellen in d2. 3 Zuvor siehe besonders Werner R. Lehmann: Textkritische Noten. Prolegomena zur Hamburger Büchner-Ausgabe. — Hamburg 1967.

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Ein Sonderproblem soll erst später diskutiert werden: die Überlieferung der Szene I, 1. Wenn im folgenden also zunächst abgekürzt von der Überlieferung von Leonce und Lena die Rede ist, ist der Text ab I, 2 gemeint. Um den Wert von d 1 und d2 zu ermitteln, wäre es nützlich, die Entstehungsgeschichte der beiden Drucke zu kennen. Diese ist zum Teil erhellt: beide beruhen auf Abschriften, d1 auf einer verschollenen Abschrift Wilhelmine Jaegles (W) und d2 höchstwahrscheinlich auf einer verschollenen Abschrift Luise Büchners (h L ). Beide Herausgeber, Gutzkow und Ludwig Büchner, haben den Text redigiert. Die darüber hinausgehende Annahme, d2 stamme — soweit möglich — von d 1 ab, hält Mayer auf Grund mehrerer Indizien im Detail (S. 126, Anm. 137) zu Recht für ausgeschlossen. (Unter der Voraussetzung der Richtigkeit der im vorliegenden Beitrag geäußerten These darf in diesem Zusammenhang auch auf die offensichtliche Verlesung der handschriftlichen Vorlage in d2 im letzten Satz des Stückes verwiesen werden: d2 hat kommende Religion, was auf ein handschriftliches kommode Religion verweist, da d 1 an dieser Stelle bequeme Religion hat.) Wichtigste Voraussetzung für die Textgestaltung ist nun die Lösung der Frage, ob die Abschriften hJ und hL auf ein und dieselbe Büchnerhandschrift zurückgehen (Schema I) oder ob jeder Abschrift eine andere Büchnerhandschrift zugrunde liegt (Schema II, 1) bzw. — das wäre textkritisch von gleichem Belang — ob jede Abschrift auf eine unterschiedliche Arbeitsstufe ein und desselben Manuskriptes zurückgeht (Schema II, 2). Graphisch bedeutet das die Entscheidung zwischen Schema I und II. Schema I

Gutzkows Redaktion

Ludwig Büchners Redaktion d2 218

Schema II, l H*

Hx

W

Gutzkows Redaktion

Ludwig Büchners Redaktion

d1

Schema II, 2

Büchners "Bearbeitung

hi l Gutzkows Redaktion

Ludwig Büchners Redaktion d2

Es ist auch erwogen worden, ob Ludwig Büchner nicht vielleicht die Abschrift Jaegles benutzte (S. 126). Dem steht die dezidierte Stelle eines Briefes von Ludwig Büchner an Franzos gegenüber, in dem er eindeutig seine Schwester als Abschreiberin bezeichnet hat (S. 114), und aus dem Kontext der Briefstelle ist eigentlich nicht anzunehmen, daß Luise Büchner die Abschrift Jaegles noch einmal abgeschrieben hat (vgl. S. 134); trotzdem soll auch dieses 3. Schema gezeichnet werden: 219

Schema III

Gutzkows Redaktion I1

d

Ludwig Büchners Redaktion d2

Bei den folgenden Überlegungen zur Textgestaltung wird das Schema III vernachlässigt, da es — was die Auswirkungen auf die Editionspraxis angeht — sich so gut wie gar nicht von Schema I unterscheidet.

Zum Methodischen An dieser Stelle ist es notwendig, einige editionswissenschaftliche Grundregeln ins Gedächtnis zu rufen. Ich bitte mir diese Schulmeistere! zu verzeihen, aber nur bei äußerster Stringenz der Methode sind in diesem diffizilen Fall überhaupt Ergebnisse zu erwarten. Ich erlaube mir dabei, die Dinge auf den entscheidenden Punkt zuzuspitzen. Wobei ich nicht unterstelle, im Prinzip sei das Mayer nicht klar — er drückt sich S. 151 präzise und korrekt aus —, nur dann ist die sogenannte »pragmatische Lösung dieses textkritischen Dilemmas« (S. 151) nicht vertretbar. Es geht um die Unterscheidung von Entstehungs- und Überlieferungsvarianten. Dort, wo — wie bei antiker und durchweg auch bei mittelalterlicher Überlieferung — das Original verloren ist und dessen Text über mehrere Überiieferungsträger, von denen die meisten verloren sind, von denen manchmal lediglich ein einziger existiert, nur noch in verderbter Form erhalten ist, sprechen wir im Hinblick auf das unbekannte Original von den Textdifferenzen als Überlieferungsvarianten. Der Editor mag — um mit einem Bilde Beißners zu sprechen — der Überlieferung wie einem Fluß aufwärts mit einem Schiff in Richtung Quelle folgen — erreichen wird er sie nie. Die Altphilologie pflegt für alle Überiieferungsträger die Abhängigkeit und den Grad ihrer Verwandtschaft untereinander festzustellen, so daß schließlich ein Stemma aufgestellt 220

werden kann. Ich will hier nicht die Gründe aufzählen, die einen antiken Text im Laufe der Zeit verschlechterten, sondern sofort zu Büchner zurückkehren. Schema I enthält ein Stemma, Schema II enthält zwei Stemmata. Die »ideale« Aufgabe des Editors lautet: Aus jedem der beiden Drucke d 1 und d 2 sind rückschreitend 1. alle Druckfehler, 2. alle Eingriffe des Korrektors und des Herausgebers und 3. alle Abschreibfehler zu entfernen. Trifft Schema I zu, suchen wir e i n e Textfassung, trifft aber Schema II zu, gibt es zwei entweder etwas weiter oder sehr eng beieinander liegende Autorfassungen des Textes. Wenn aus methodischen Gründen zunächst davon abgesehen wird, daß d 1 erhebliche Lücken enthält, so ergibt sich aus Schema I für den Editor einer Historisch-kritischen Ausgabe, daß er keinen der beiden Drucke zugrunde legen darf, sondern von Fall zu Fall entscheiden muß, welche Textvariante einer Stelle er für echt, welche er für falsch hält. Hier versucht er, wie ein altphilologischer Editor die Überlieferung bis zur Quelle zurückzuverfolgen — und er wird ihr erheblich näher kommen als je ein altphilologischer Editor der von ihm gesuchten. Ist aber Schema II richtig, dann stehen — wie gesagt - am Schluß zwei Fassungen, und es wäre ein philologischer Kardinalfehler, diese beiden Fassungen zu kontaminieren. Wenn — um noch einmal auf die Überlieferungsverhältnisse antiker Texte zu verweisen — anzunehmen wäre, daß auf Seneca selbst zwei unterschiedliche antike Versionen seiner Tragödien zurückgehen, dann dürfte niemand die Varianten vermengen; das gleiche gälte für Walther von der Vogelweide, wenn es von einem Lied allem Anschein nach zwei unterschiedliche Autorversionen gäbe. Bei Büchner würde man ohne Zögern die letzte von ihm erstellte Fassung als die maßgebliche bezeichnen und daher zum Ziel des philologischen Bemühens machen. Die vorliegende Studienausgabe tendiert in der editorischen Erörterung dazu, für jeden Druck eine separate Autorfassung anzunehmen. Mayer räumt zwar ein, daß »die Autorvarianz zwischen den Vorlagen« für d 1 und d2 »erheblich zu niedrig sein dürfte, um zwei stärker divergierende autographe Fassungen annehmen zu lassen« (S. 131), aber er möchte die Existenz zweier Fassungen doch »mit einiger Wahrscheinlichkeit« annehmen (S. 126), und an einer anderen Stelle sagt er unter der heute allgemein akzeptierten Voraussetzung, daß die Szene I, l in d1 und d2 auf zwei verschiedenen Autorfassungen beruht: »dann steigt die Wahrscheinlichkeit, daß auch für den Rest des Stückes zwei Fassungen vorlagen, also schon aus den beschriebenen äußerlichen Überlieferungsgründen« (S. 133). 221

Trotz dieser Annahme zweier Fassungen scheint mir die Textdarbietung dazu zu neigen, so zu tun, als gäbe es nur eine Fassung, als könne man — boshaft formuliert — aus beiden Büchnerfassungen eine ideale Büchnerfassung konstruieren. Anlaß zu dieser überspitzten Bemerkung sind die sogenannten Lesehilfen: gemeint sind Pfeile, mit denen der Herausgeber bei Varianz der beiden Drucke »auf den vermutlich originalen, weniger korrumpierten oder [...] möglicherweise von Büchner selbst bei Überarbeitung geänderten Text« hinweist (S. 11, vgl. S. 141). Das hätte man sicher auch optisch gern differenzierter: was denn »vermutlich originaler«, »weniger korrumpierter« oder »möglicherweise von Büchner selbst [...] geänderter Text« ist. Es kommt eben darauf an, was man will: Will man die eine, beiden Drucken gemeinsame Autorfassung finden, oder will man zwei Autorfassungen, eine für jeden der beiden Drucke finden, wobei die Vorlage für d2 ein »möglicherweise von Büchner selbst [...] geänderter Text« wäre. Zum Glück erweist sich das, was sich zunächst methodisch ärgerlich liest, im einzelnen als gar nicht so schlecht, sogar recht brauchbar.

Eine oder zwei Autorfassungen? Die beiden Drucke liegen sehr eng beieinander. Mayer konstatiert »weit über 150 Varianten des Wortlauts« (S. 143).4 Das ist vergleichsweise erstaunlich wenig. Und keineswegs alle Varianten können für die Behauptung, daß d1 und d2 zwei verschiedene Autorfassungen zugrunde liegen, gleiche Relevanz haben. Auszuklammern ist, meiner Meinung nach, aus der folgenden Diskussion zunächst der Plustext in d2 und der etwas geringere in d 1 — der gleichwohl aufgeführt wird. In vielen dieser Fälle steht nämlich fest, daß die Herausgeber nach ihrem Gusto Kürzungen oder Interpolationen vorgenommen haben. Die umfangreicheren Plustextstellen in d2 hat die Studienausgabe in die Zeile (in Groteskschrift) integriert, und zwar deshalb, weil kaum Zweifel besteht, daß dieser Plustext von Büchner stammt und von Gutzkow gestrichen wurde. Daneben gibt es weitere, meist weniger umfangreiche Plustextstellen in d2, welche die Studienausgabe überwiegend ebenfalls in die Zeile setzt, bei denen ich eine Streichung Gutzkows oder auch eine Interpolation Ludwig Büchners für wahrscheinlich halte. Es handelt sich um die folgenden Stellen: 4 Orthographie- und Interpunktionsvarianten werden von mir im folgenden nicht berücksichtigt, da die Herausgeber, aber auch die Druckereien, im 19. Jahrhundert in dieser Hinsicht frei und uneinheitlich verfahren sind. Aus diesem Grunde werden auch im folgenden Satzzeichen am Anfang und am Ende von Varianten nicht mitzitiert.

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33,9 das /si's 43,9-44,2 Präsident bis zurücktritt 44,7 von Pipi 44,18 f. ein bis bekommt 45,1 Apropos 45,11 f. Er bis erinnern 45,15 Soll bis gingen 45,16 — 18 Du bis erzeugt 46,10-14 allein bis 4c/7 50,10 arme, hilflose 54,14 Em Jfeösf/icher Einfall 58,12 so 59,5 nur 59,9 f. die bis *i#fe 59,16 sie bis Geburtsschmerzen 60,5 gefo w«d 63,11 «wd 66,11 mir 68,12 doc/7 70,1 Dummkopf 73,9 He 73,16-18 W/r bis Köpfe 74,8 f. ;sf bis Sie (damit zusammenhängend 74.7 f. Die d 1 Vow de» d2) 75,6 auch 75,9 die Dardanellen und 78,11 gtfwz 81,3 ewe 81,4—7 Sie bis hinunterzugehen 83,3 vom Reiche Popo 83,3 t/ora Reiche Pipi 83,4 l?a&eft 84.8 ich muß lachen 84,11 ewd/icJ; 85,3 Der bis heraushelfen

Bei einigen der vorstehenden Fälle (54,14, 58,12, 59,5, 63,11, 75,6, 78,11, 83,4, 84,11) setzt die Studienausgabe den Plustext unter den Bruchstrich, einmal (59,5) verwendet sie zusätzlich einen auf d1 verweisenden Pfeil (|); der Editor gibt in diesen Fällen zu erkennen, daß es sich auch aus seiner Sicht um Stellen handelt, bei denen es sich besonders begründen läßt, daß »eigenmächtige Hinzufügungen« von Ludwig Büchner vorliegen könnten (S. l O).5 Die folgenden — vergleichsweise wenigen — Plustextstellen in d 1 gehen meiner Auffassung nach ebenfalls nicht auf Kürzungen durch den Autor, sondern auf Hinzufügungen Gutzkows oder — in den meisten Fällen — auf Streichungen Ludwig Büchners zurück. Durch die auf den d^Text verweisenden Pfeile (f ) bringt der Herausgeber der Studienausgabe zum Ausdruck, daß auch er gerade die letztere Möglichkeit sieht.6 Es handelt sich um die Fälle: 32,6 fast nackt 32,9 pfui 32,9 davorn 33,9 r. Ich bis erinnern 38,9 daraus 44,18 an bis Tafel 59,6 f. daß bis Füßen 59,8 irgend 59,8 fürstlichen 63,2 dorthin 65,1 f. O bis Er 65,8-10 kommen bis Ach 66,13 f. Meine bis daran 67,16 so 73,4 mit den Fingern 74,12—75,3 ZubisCeremonienmeister 75,12 Also 78,10 zwölf 79,1 noch 81,15 legend 83,9 das 84,16 jetzt bis noch 5 In einem Fall (74,8 f.) setzt die Studienausgabe den Plustext unter den Bruchstrich und verweist durch einen Pfeil (J) auf d2. In der weiteren Diskussion hat Thomas Michael Mayer die Auffassung vertreten, daß alle die aufgeführten Varianten mit Plustext in d 2 möglicherweise vom Autor stammen könnten; in einigen Fällen (44,7, 46,10—14, 59,5, 59,9 f., 66,11, 68,12, 70,1, 73,16-18, 75,9, 83,3, 83,3) sei dies weniger wahrscheinlich, aber keineswegs auszuschließen, 6 In drei Fällen (38,9, 63,2, 79,1) steht in der Studienausgabe kein Pfeil; hier ergab die weitere Diskussion, daß Mayer der Meinung ist, diese Varianten könnten vom Autor stammen (außerdem auch die Fälle 44,18, 65,1 f., 65,8-10, 66,13, 83,9, 84,16 sowie - weniger wahrscheinlich - 59,6 f., 59,8 irgend, 67,16, 74,12-75,3, 78,10, 81,15), das hieße, Büchner hätte bei seiner Überarbeitung hier gestrichen (vgl. auch S. 143, 146),

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In drei Fällen von Plustext in d 1 zeigt die Studienausgabe durch über den Bruchstrich gesetzte spitze Klammern an, daß Mayer mit einer Hinzufügung Gutzkows rechnet (S. 107): 56,11 verkauften 56.10 < >) 58,5

56,11 denn bis sie (damit zusammenhängend zur Bezahlung gegebenen

Sieht man von all den Fällen einmal ab, in denen d2 oder d 1 Plustext bieten — diese Fälle abzuziehen dürfte sowohl wegen der Kürzungstendenz Gutzkows als auch wegen der Interpolationstendenz Ludwig Büchners überwiegend richtig sein -, dann bleiben etwa 110 Fälle, in denen der Wortlaut der postumen Drucke voneinander abweicht. Abziehen müßte man von diesen verbleibenden Fällen noch die meisten der 22 Fälle, in denen Sprecherbezeichnungen oder Bühnenanweisungen differieren (32,17, 34,8, 46,9, 56,14, 56,15, 64,15 f., 68,4, 73,10, 73,12, 73,14, 74,1, 76,7, 76,15, 77,3, 78,3, 78,8, 82,3, 82,4, 84,4, 84,5, 84,6, 84,7). Hier haben sich - wie auch auf dem letzten Kolloquium der »Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition« über Probleme der Dramenedition 1988 in Berlin diskutiert wurde — Autoren und Herausgeber immer größere Freiheiten gestattet; sie behandelten diese Anweisungen im Vergleich zum Bühnentext als Nebentext.7 Ferner müßte man die Fälle abrechnen, wo zwei Varianten wegen ihrer Gleichartigkeit und Nähe zueinander eigentlich nur e i n e darstellen, etwa die zweimalige Ersetzung von draußen (d 1 ) durch da außen (d 2 ) in den Zeilen 64,13 f., außerdem: 37,10/12 glühen l blühen d 1 glühn l ne d 1 keinen l keinen d 2 62,1—3 den l müden l müden d 2 72,8/12 86,7 f. giebt und die l wir d 1 gibt, und

blühn d 2 57,4 keine l keifür müde l müde l müde d 1 müdaß l daß d 1 damit l damit d 2 wir d 2

Darüber hinaus sind die Fälle abzuziehen, wo die Varianten nur minimal differieren und offensichtlich durch Abschreibe- oder Lesefehler bzw. durch Druckereigewohnheiten entstanden sind, z. B. 46,15, wenn d 1 ein unsinniges lästige statt des richtigen lustige d2 bietet. Solche Fälle erörtert Mayer S. 134-136. Mit großer Wahrscheinlichkeit wären demnach noch folgende Fälle auszuscheiden: 37.11 schläft fünfzig

wilden d2 d2

d1

milden d2 48,12 schluft (Setzerfehler) 54,3 stünde d 1 stände d 2 80,15 fünfzig 81,10 Studium d 1 Stadium d2;

d1 d1

7 Auch Mayer weist darauf hin (S. 140, Anm. 191), will jedoch im Einzelfall nicht ausschließen, daß auch Varianten dieser Gruppe möglicherweise (46,9, 56,14, 82,3, 82,4 weniger wahrscheinlich) auf den Autor zurückgehen.

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mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch folgende Fälle8: 32,13 Ha d 1 He d 2 33,4 knüpfen d 1 knöpfen d2 1 2 44,8 Ihro d Ihre d 44,14 Abzugsgruben d 1 Abzugsgrä2 1 ben d 48,14 vom d von d 2 59,1