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Georg Büchner Jahrbuch 9 (1995-99) Für die Georg Büchner Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Büchner - Literatur und Geschichte des Vormärz am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der Philipps-Universität Marburg herausgegeben von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer

NIEMEYER

Redaktionsadresse: Georg Büchner Jahrbuch c/o Philipps-Universität Marburg. Fachbereich 09. Forschungsstelle Georg Büchner D-35032 Marburg/L. oder über Georg Büchner Gesellschaft Biegenstr. 36 D-35057 Marburg/L. Die Einsendung von Publikationen (Sonderdrucke wenn möglich in 2 Exemplaren) ist freundlich erbeten; von Beiträgen jedoch nur nach vorheriger Absprache und mit üblicher technischer Manuskripteinrichtung sowie mit bibliographischen und Zitat-Auszeichnungen entsprechend dem vorliegenden Band.

Gedruckt mit Unterstützung durch das Land Hessen, die Stadt Darmstadt und die Stadt Marburg Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Georg-Büchner-Jahrbuch l für die Georg-Büchner-Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Büchner - Literatur und Geschichte des Vormärz - am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der Philipps-Universität Marburg hrsg. - Tübingen: Niemeyer. [Bd.] 9. 1995-99 (2000) © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Umschlagmotiv: Georg Büchner Bleistiftzeichnung von August Hoffmann Umschlaggestaltung nach Entwürfen von Rambow, Lienemeyer und van de Sand Satz: epline, Kirchheim/Teck Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Geiger, Ammerbuch Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. ISBN 3-484-60404-2 ISSN 0722-3420

Inhalt Abkürzungen und Siglen

.................................

Georg Büchner: Albumblatt für Edouard Reuss. Mitgeteilt von Reinhard Pabst ...........................

VII l

Aufsätze Susanne Lehmann: Christian Garve - eine unbekannte Quelle zu Büchners »Kato«-Rede .............................. 7 Thomas Michael Mayer: Georg Büchners Situation im Elternhaus und der Anlaß seiner Flucht aus Darmstadt Anfang März 1835. . . 33 Matthias Gröbel: »Halberstadt in Dorheim weiß darum ...« Das Wetterauer Dorf Dorheim und die oberhessische Oppositionsbewegung zur Zeit von Weidig und Büchner ................ 93 Takanori Teraoka: Skepsis und Revolte als Grundzug von Nero und Danton's Tod. Zur thematisch-motivischen Affinität der Dramen Gutzkows und Büchners ............................... 155 Ariane Martin: Die Ereignisse vor dem 20. Januar 1778. Jacob Michael Reinhold Lenz* »religiöse Paroxismen« in Zürich und Emmendingen ................................... 173 Carolin Seling-Dietz: Büchners Lenz als Rekonstruktion eines Falls Rudolf Drux: »Holzpuppen«. Bemerkungen zu einer poetologischen >Kampfmetapher< bei Büchner und ihrer antiidealistischen Stoßrichtung .......................... ................. Mie Hanamoto: Das Kind als Schlüsselmotiv in Büchners Lenz . . . . Hilary P. Dannenberg: Die Dreidimensionalisierung des erzählten Raumes in Büchners Lenz .............................. Thomas Michael Mayer: Zur Datierung von Georg Büchners philosophischen Skripten und Woyzeck H3,l ................

237 254 263 281

Debatten Gerhard Friedrich: »... bei Gewittersturm und Hagel«. Zum Zusammentreffen von Georg Büchner und Alexis Muston im Juni 1834 in Straßburg ............................. Herbert Wender: Zur Genese des Lercz-Fragments. Eine Kritik an Burghard Dedners Rekonstruktionsversuch ................. Burghard Dedner: Zur Genese des Le^z-Fragments. Aus Anlaß von Herbert Wenders Kritik ............................... Herbert Wender: Gegründete Vermutungen? Eine Erwiderung auf Burghard Dedners Erwiderung .......................... Thomas Michael Mayer: Jan-Christoph Hauschilds BüchnerBiographie^). Einwendungen zu Methode, Ergebnissen und Forschungspolitik ....................................

333 350 371 378 382

V

Kleinere Beiträge und Glossen Udo Roth: Georg Büchners Woyzeck als medizinhistorisches Dokument Christian Schulz: »Links über die Lochschneise in dem Wäldchen, am rothen Kreuz«. Der Tatort in Woyzeck, sein Vorbild im >Bessunger Forst< und weitere Darmstädter Anregungen Lorenz Jäger: Andreas Ferschengelder trifft einen Gießener Studenten. Anmerkungen zu Hofmannsthal und Georg Büchner, zugleich zum Begriff der »Konservativen Revolution« Andreas Heckmann: Lenz und Wozzeck als Anregungen für die Soldatengeschichte Hugo von Hofmannsthals

503 520 538 549

Dokumente und Materialien Karoline Großenbach: Mitteilungen zu Georg Büchners Großvater Georg Reuss 1797-1803. Über Aktenbestände im Archiv des Psychiatrischen Krankenhauses Haina Thomas Michael Mayer: Nachtrag zum Protokoll der Straßburger Studentenverbindung >Eugenia< Ariane Martin: Eine unbekannte Teilabschrift von Oberlins Bericht Herr L durch August Stöber Ariane Martin und Eva-Maria Vering: Erinnerungen an das Steintal. Notizen von J. M. R. Lenz aus den letzten Lebensjahren Thomas Michael Mayer und Erika Gillmann: Ein unbekannter Nachrichtenzettel von Karl an Wilhelm Braubach über Weidig und1 Georei Peter Mesenhöller: Ernst Dieffenbach: Briefe aus dem Straßburger und Zürcher Exil 1833-1836. Eine Flüchtlingskorrespondenz aus dem Umkreis Georg Büchners (Teil 2)

649

Georg Büchner-Literatur 1989-1997/98 (mit Nachträgen) Zusammengestellt von Christian Schulz, Thomas Michael Mayer und Klaus Engels

741

Anschriften der Mitarbeiter

800

VI

569 607 612 617 657

Abkürzungen und Siglen B 1922; (1958)

Georg Büchners Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Fritz Bergemann. - Leipzig 1922; bzw. Georg Büchner: Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Neue, durchgesehene Ausgabe. Hrsg. von Fritz Bergemann. - Wiesbaden 1958 [oder andere Auflagen] Benn Maurice B. Benn: The Drama of Revolt. A Critical Study of Georg Büchner. - Cambridge [u. a.] 1976 [21979] Dedner: Burghard Dedner (Hrsg.): Der widerständige Klassiker. EinleiEinleitungen tungen zu Büchner vom Nachmärz bis zur Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 1990 (Büchner-Studien, Bd. 5) Dedner/ Burghard Dedner u. Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites InternaOesterle tionales Georg Büchner Symposium 1987. Referate. - Frankfurt a. M. 1990 (Büchner-Studien, Bd. 6) DT Georg Büchner: Danton's Tod. Entwurf einer Studienausgabe. [Hrsg.] von Thomas Michael Mayer. - In: Peter von Becker (Hrsg.): Georg Büchner: Dantons Tod. Kritische Studienausgabe des Originals mit Quellen, Aufsätzen und Materialien. - Frankfurt a. M.21985, S. 7-74 F Georg Büchner's Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe. Eingel, u. hrsg. von Karl Emil Franzos. - Frankfurt a. M. 1879 Fischer Heinz Fischer: Georg Büchner und Alexis Muston. Untersuchungen zu einem Büchner-Fund. - München 1987 GB I/II Georg Büchner I/II. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1979 pl982] (Sonderband aus der Reihe text + kritik) GB III Georg Büchner HL Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1981 (Sonderband aus der Reihe text + kritik) GBHK Georg Büchner an »Hund« und »Kater«. Unbekannte Briefe des Exils. Hrsg. von Erika Gillmann, Thomas Michael Mayer, Reinhard Pabst und Dieter Wolf. - Marburg 1993 GBJb Georg Büchner Jahrbuch GW Georg Büchner: Gesammelte Werke. Erstdrucke und Erstausgaben in Faksimiles. 10 Bändchen in Kassette. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. - Frankfurt a. M. 1987 HA Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. Hamburg [dann München] 1967 ff. [Hamburger bzw. HanserAusgabe] Hauschild Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue 1985 Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten Büchner-Briefen. - Königstein/Ts. 1985 (Büchner-Studien, Bd. 2) Hauschild Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Biographie. - Stutt1993 gart, Weimar 1993 Hinderer Walter Hinderer: Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. - München 1977

VII

HL Katalog Darmstadt

Katalog Düsseldorf

Katalog Marburg Lenz

LL

MA Marburger Denkschrift

Martens H. Mayer N Noellner

VIII

Gerhard Schaub: Georg Büchner/Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. - München 1976 (Reihe Hanser Literatur-Kommentare, Bd. 1) Georg Büchner 1813-1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Der Katalog [zur] Ausstellung Mathildenhöhe Darmstadt, 2. August bis 27. September 1987. Redaktion: Susanne Lehmann, Stephan Oettermann, Reinhard Pabst, Sibylle Spiegel. - Basel, Frankfurt a. M. 1987 Jan-Christoph Hauschild (Bearb.): Georg Büchner/ Bilder zu Leben und Werk. [Katalog der] Ausstellung des HeinrichHeine-Instituts zum 150. Todestag Georg Büchners am 19. Februar 1987. - Düsseldorf 1987 (Veröffentlichungen des Heinrich-Heine-Instituts) Georg Büchner. Leben, Werk, Zeit. Katalog [der] Ausstellung zum 150. Jahrestag des »Hessischen Landboten«. Unter Mitwirkung von Bettina Bischoff, Burghard Dedner [u. a.] bearb. von Thomas Michael Mayer. - Marburg 1985 [31987] Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe. Im Anhang: Johann Friedrich Oberlins Bericht »Herr L « in der Druckfassung »Der Dichter Lenz, im Steintale« durch August Stöber und Auszüge aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« über J. M. R. Lenz. Hrsg. von Hubert Gersch. - Stuttgart 1984 [21998] (Reclams Universal-Bibliothek 8210) Georg Büchner: Leonce und Lena. Ein Lustspiel. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. - In: Burghard Xtedbsvftr (Hrsg.): Gewg Bütkx&r: L&MK& Mad L&w. JKriJJj&he Studienausgabe, Beiträge zu Text und Quellen von Jörg Jochen Berns, Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer u. E. Theodor Voss. - Frankfurt a. M. 1987 (Büchner-Studien, Bd. 3), S. 7-87 Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. - München, Wien [desgl. München: dtv] 1988 Marburger Denkschrift über Voraussetzungen und Prinzipien einer Historisch-kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke und Schriften Georg Büchners. [Hrsg. von der] Forschungsstelle Georg Büchner - Literatur und Geschichte des Vormärz - im Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg und [der] Georg Büchner Gesellschaft. Erste Fassung. - Marburg/L. 1984 (als Manuskript gedruckt) Georg Büchner. Hrsg. von Wolf gang Martens. - Darmstadt 1965 P1973] (Wege der Forschung, Bd. LIII) Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. - Frankfurt a. M. 1972 [41980] (suhrkamp taschenbuch 58) Nachgelassene Schriften von Georg Büchner [Hrsg. von Ludwig Büchner]. - Frankfurt a. M. 1850 Friedrich Noellner: Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig 'Weidig [...].- Darmstadt 1844

P

Poschmann Victor WA Weidig

Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hrsg. von Henri Poschmann. Bd. 1: Dichtungen. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. - Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 84) Henri Poschmann: Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. - Berlin u. Weimar 1983 [31988] Karl Victor: Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft. Bern 1949 Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearb. von Gerhard Schrnid. - Leipzig [desgl. Wiesbaden] 1981 (Manu scripta, Bd. 1) Friedrich Ludwig Weidig: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Hans-Joachim Müller. - Darmstadt 1987 (Hessische Beiträge zur Deutschen Literatur)

IX

Georg Büchner Albumblatt für Edouard Reuss Mitgeteilt von Reinhard Pabst (Frankfurt a. M.)

Handschrift: Forschungsstelle Georg Büchner - Literatur und Geschichte des Vormärz am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der Philipps-Universität Marburg Erstdruck durch Reinhard Pabst, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 87, 12. April 1995, S. 35 (mit Abb.)* Abbflxfungsrechte: Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Frankfurt a. M. Repro: Dieter Mayer-Gürr, Marburg

Die ursprünglich an dieser Stelle vorgesehenen Erläuterungen, auf welche sich bereits einige Beiträge des vorliegenden Bandes beziehen, mußten auf Grund einer schweren Erkrankung des Verfassers und Auffinders der Handschrift, Reinhard Pabst, einstweilen leider entfallen (T.M. M.).

[Straßburg, 31. Juli 1833, Mittwoch] Ich bin weder witzig, noch verstehe ich mich auf allgemeine himmelblaue Stammbuch'smoral, ich sage Dir also nur herzliches Lebewohl lieber Eduard, und wünsche uns frohes Wiedersehen 5 Dein Georg Büchner. Straßburg d. 31. Juli 1833.

Zeuvenbeschreibung Ein loses Blatt, dickeres, festes, weißes Papier, gering vergilbt, gering flekkig, allseitiger Goldschnitt. Format (Höhe Breite): 100 166-166,5 mm. Stärke: 0,08-0,1 mm. Dunkelbraune Tinte mit feiner Feder. Variantenverzeichnis l witzig,] Komma unsicher l mich] korrigiert aus Ansatz zu mih 3 sage] überschrieben: wünsche 7 Georg] danach vermutlich kein Punkty sondern Tintenfleck Überlieferung Edouard Reuss (1804-1891) hinterließ das Stammbuch mit Büchners Eintrag seinem Sohn Rodolphe (1841-1924). Von ihm ging es an dessen Tochter Lucie Reuss (1877-1970) über, die es der einzigen Tochter ihres Bruders Edouard (1879-1915) vermachte. In ihrem Besitz wurde das Albumblatt am 15. März 1994 vom Verfasser bei Recherchen für den Band Georg Büchner. Leben und Werk in Texten und Bildern (insel taschenbuch 1626 [in Vorbereitung]) entdeckt. Durch Vermittlung des Verfassers und mit Genehmigung des französischen Kulturministeriums (Zertifikat No. 7438 vom 23. Juni 1995) konnte das Albumblatt nach seiner Erstveröffentlichung in der FAZ von der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen angekauft werden;1 seit August l Vgl. Thomas Wurzel (Redaktion): Kultur- und Initiativenbericht 199$. Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen. - Frankfurt a. M. 1996, S. 11 (mit Abb. des Albumblatts). - Für ihr Entgegenkommen und ihre Unterstützung schulde ich der Besitzerin des Reuss-Stammbuchs, die 1997 in ihrem 84. Lebensjahr verstor-

1995 befindet es sich als Dauerleihgabe an die Marburger Büchner-Forschungsstelle im Handschriftenmagazin der Universitätsbibliothek Marburg. Datierung 8 31. Juli 1833] Büchner trat noch am selben Tag, einem Mittwoch, um 20 Uhr von Kehl aus die Heimreise nach Darmstadt an. Vgl. August Stoebers Eintrag im Protokollbuch der »Eugenia«, Oberbronn Januar 1834: »Büchner verließ uns [...] im Juli« (GBJb 6, 1986/87, S.371); Eugene Boeckels Brief an Wilhelm Baum, Straßburg 30. Juli 1833: »Mon eher ami, tu auras sans doute appris que notre George part definitivement demain pour Darmstadt. II partira a huit heures du soir de Kehl, Stöber et moi nous Faccompaenons« (Handschrift: Teil-Nachlaß Baum, Handschriftenbestand der Abteilung Sondersammlungen der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle/Saale, Sign.: Yi 6 B VII 7; freundlicher Hinweis von Jean Rottf, Strasbourg); August Stoebers Brief an seinen Bruder Adolph in Metz, Straßburg 5. August 1833: »Büchner der dich noch grüßt [...] [ist] vorigen Mittwoch abgereist« (unveröffentlicht, Handschrift in französischem Privatbesitz); Büchners Brief an Edouard Reuss, Darmstadt 31. August 1833: »Ihr werdet mich doch über einem Monat [seit der Abreise, R. R] ohne Briefe nicht vergessen haben.« (MA, S. 283); Büchners Brief an August Stoeber, Darmstadt 9. Dezember 1833: »Seit ich Euch am Mittwoch Abend vor 5 Monaten zum letzten mal die Hände zum Kutschenschlag hinausstreckte, ist's mir als wären sie mir abgebrochen« (MA, S. 284).

ben ist, und dem Geschäftsführer der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Herrn Dr. Thomas Wurzel, besonderen Dank. Herzlich zu danken habe ich auch Ilona Pabst, Gustav Seibt und Frank Schirrmacher.

AUFSÄTZE

Christian Garve - eine unbekannte Quelle zu Büchners »Kato«-Rede Von Susanne Lehmann (Darmstadt)

Im Schulprogramm des Darmstädter Pädagogs für die Abschlußfeier des Sommersemesters 1830 wird Georg Büchner als erster Redner angekündigt: »Mittwoch den 29 September Morgens von 8 Uhr an wird der öffentliche Redeactus mit Begleitung durch Musik und Gesang in folgender Ordnung gehalten werden: [...] Carl Georg Büchner wird in einer teutschen Rede aen Cato von Utica zu rechtfertigen suchen.«

Damit dürfen sowohl der Anlaß der »Kato«-Rede als auch ihre Entstehung vor diesem Zeitpunkt als gesichert gelten.1 Es besteht kein Zweifel, daß Büchner eine solche Rede gehalten hat, da diese Feier tatsächlich stattfand2 und auch Büchners Schwester Luise das lebhaft in Erinnerung behaltene Ereignis ausführlich in dem autooiograpÄiscA ge/ärrjten Roman/ragment Ein Dickter* scMcfert. C/ncf daß es sich bei der überlieferten Handschrift um sein Vortragsmanuskript handelt, ist immerhin so gut wie sicher: Zum einen wird Büchner seine Rede nur einmal sauber abgeschrieben haben, nämlich dann als sie fertig war, d. h. vermutlich kurz vor dem 29. September - hätte es eine noch spätere Fassung gegeben, würde man entsprechende Überarbeitungsspuren, die die neuerliche Abschrift notwendig gemacht hätten, in dem überlieferten Manuskript wahrnehmen. Zum ändern ist davon auszugehen, daß die Angabe Ludwig 1 Siehe schon Max Zobel von Zabeltitz: Georg Büchner, sein Leben und sein Schaffen. - Berlin 1915 (= Bonner Forschungen, Bd. VIII), S. 17. 2 Anders als etwa der für den 7. April 1830 geplante Redeactus, der nach dem Tod des Großherzogs Ludewig I. am 6. April ausfallen mußte. 3 Luise Büchner: Ein Dichter. Novellen-Fragment. - In: Nachgelassene belletristische und vermischte Schriften in zwei Bänden von Luise Büchner [...]. Erster Band: Dramatisches, Erzählendes und Lyrisches. - Frankfurt a. M.: Sauerländer 1878, S. 179-262. (Nachdruck in Luise Büchner: Ein Dichter. Novellenfragment. Mit Georg Büchners Kato-Rede, Anmerkungen und Nachwort hrsg. von Anton Büchner. - Darmstadt 1965, S. 7-103.) Laut »Anm. des Herausgebers« (Ludwig Büchner) schrieb Luise Büchner das postum veröffentlichte Romanfragment 1848 als 27jährige. Vgl. aber zur Datierung Hauschild 1985, S. 354-357.

Büchners auf der ersten Seite der Handschrift grundsätzlich zutrifft, auch wenn er sich im Jahr irrte: »Rede zur Vertheidigung des C a t o von Utika, gehalten auf dem Gymnasial-Redeaktus in Darmstadt{,} (im)4 Herbst 1831.« Die zwei nachträglichen Faltungen sind ein zusätzliches Indiz: Der Schüler hat sein Redemanuskript klein gefaltet, um es für den Weg zur Schule in die Jackentasche stecken zu können. Schließlich weist auch das große Format der Reinschrift, das sich von sämtlichen anderen überlieferten Schülerschriften (auch von der Helden-Tod-Rede) unterscheidet, darauf hin, daß es sich um ein Vortragsmanuskript handelt.5 In aller Regel gingen die Actus-Reden der Selectaner aus zuvor verfaßten sogenannten »Ausarbeitungen«6 meistens des Latein- bzw. 4 (...) = Tilgung; (...) = nachträgliche Einfügung; Hervorhebungen bzw. Unterstreichungen der Handschrift werden durch S p e r r u n g wiedergegeben. Büchners Schülerschriften werden zitiert nach Georg Büchner: Schülerschriften. Differenzierte Umschrift von Eske Bockelmann. [Hrsg. von der Forschungsstelle Georg Büchner - Literatur und Geschichte des Vormärz - am Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg.] Als Manuskript, 4 Bände. Marburg 1989; im folgenden: Seh. 5 Die wenigenjgeringfügigen Fehler in der Handschrift sind kaum geeignet, dies zu widerlegen. Über die beim vermutlich letzten Abschreiben vor der Feier unterlaufenen Auslassungen kleiner Wörter: »daß man [an] einen K a t o nicht den Maaßstaab unsrer Zeit anlegen« (Seh 611.22f., M A, S. 28), »Noch leichter läßt sich [der] andre Einwurf [...]« (Sc^617.3, M A, S. 31), »So wahr auch dYese Behauptung klingt, so hört [sie] bey näherer Betrachtung doch ganz auf [...]« (Seh 619.5, MAy S. 33), »daß jede andre Handlungsart seinem ganzen Leben widersprochen [haben] würde« (Seh 618.17, M A, S. 32), hat Büchner, der die Rede wahrscheinlich nahezu auswendig wußte, hinweggelesen, sofern er das Manuskript abschließend überhaupt sorgfältig durchgeschaut hat. Die anderen Auffälligkeiten könnten ebenfalls Abschreibfehler sein oder auf einer durch den zeitgenössisch schwankenden Gebrauch bedingten grammatikalischen Unsicherheit des Schülers beruhen: »Unvermögen, sich in eine seinen heiligsten Rechten, seinen heiligsten Grundsätzen widersprechenden Lage zu finden« (Seh 619.15, MA, S. 33), oder »als hätte K a t o sich seinem, wenn auch unterjochtem Vaterlande, dennoch erhalten müssen« (Seh 617.3f., M A, S. 31), und schließlich »Wie fehlerhaft und beschränkt eine solche Beurtheilung sey, wird Niemanden entgehen« (Sc/?611.6f., M A, S. 27). Die Tatsache, daß die Passage, die Luise Büchner aus der Rede >zitiertsympathischeinseitigen< Veranlagungen) bei der moralischen (Selbst)Erziehung an seiner oder an der Vervollkommnung anderer, d. h. an der Ausbildung der weniger ausgeprägt vorhandenen charakterlichen Fähigkeiten arbeiten müsse. In diesem Zusammenhang kommt er auf Cato zu sprechen, den er als Beispiel für einen >männlichen< Charakter anführt: 20

Garve X, S. 208: »Es gicbt Menschen von weicherm Herzen: diese sind mehr verbunden einzelnen Personen beyzuspringen. Andre sind härter, obeleich redlich gesinnt: diese sind mehr verbunden fürs allgemeine Beste zu arbeiten. [...] die Stärke des Geistes, welche sie fähig macht, uneigennützig, unpartheyisch, patriotisch zu handeln, härtet sie zugleich gegen die Klagen andrer etwas ab, macht sie zugleich etwas rauher, selbst in der Hülfe welche sie leisten. So war Cato. Menschen von diesem Charakter sind mehr zu allgemeinen Diensten, gegen den Staat, als zu besondern Hülfsleistungen, gegen einzelne Nothleidende, verbunden.«

Seh 617.4-7, , S. 3l:36 »Es giebt Menschen, die ihrem größeren Charakter gemäß mehr zu allgemeinen großen Diensten für das Vaterland, als zu besondern Hülfsleistungen gegen einzelne Nothleidende verpflichtet sind. Ein solcher war K a t o.«

Diese Stelle zitiert Büchner in seiner Rede scheinbar zustimmend, tatsächlich aber eher >mißbräuchlichder letzte große Dienstweicheweibliche< Prinzip entgegensetzt, die »besondern Hülfsleistungen, gegen einzelne Nothleidende«, wird bei Büchner unmerklich umgemünzt in das, was Catos Kritiker verlangten, nämlich daß er »sich seinem, wenn auch unterjochtem Vaterlande« (Seh 617.3f., MA, S. 31) hätte erhalten müssen. Man braucht allerdings dieser kleinen und für den Gesamtzusammenhang nicht wesentlichen, im übrigen für niemanden im Publikum nachvollziehbaren Umdeutung keine hintergründige Absicht zu unterstellen. 36 Die Auszeichnungen (vgl. Anm. 12) innerhalb der Zitate aus Büchners Rede zeigen stets und ausschließlich deren Quellenabhängigkeit von Garves Philosophischen Anmerkungen und Abhandlungen. Vereinzelt werden auch Wörter ausgezeichnet, die ihre Entsprechung nicht im unmittelbar gegenübergestellten, sondern einem an anderer Stelle dieses Beitrags gedruckten Zitat haben.

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Auch die Stelle, an der Garve zugesteht, daß Catos Selbstmord wegen der Entschlossenheit und Tapferkeit, die sich in seiner Durchführung ausdrückten, »in den Augen tapferer Männer« (Garve X, S. 215) immerhin Hochachtung verdiene, um diese Tat anschließend aber dennoch zu verwerfen, erscheint bei Büchner wörtlich wieder, hier aber als letzter und gültigster Beweis von Catos »Beharrlichkeit bey dem [...], was er als wahr und recht erkannt hatte«, und damit als absolut notwendiger und konsequenter Schlußpunkt seines Lebens (s. u. S. 24 und Anm. 37). Nach der Unterscheidung zwischen den unveränderlichen, allgemeinverbindlichen moralischen Regeln und »denjenigen, welche mit den Modificationen der Natur abwechseln, und daher nur für diejenigen verbindlich sind, welche das Vermögen haben sie zu befolgen« (Garve X, S. 209), kommt Garve zu seiner zweiten Hauptfrage, die er direkt im Anschluß ohne Umschweife selbst beantwortet: Garve X, S. 209f.: »wie weit läßt sich eine Handlung dadurch rechtfertigen, daß sie dem besondern Charakter dieses Menschen gemäß gewesen ist? Wenn der Charakter selbst fehlerhaft war, so ist es die Handlung auch«.

Seh 618.19-23, MA9 S. 32f.: »so hat man doch noch einen andern, keineswegs leicht zu beseitigenden Einwurf gemacht; er heißt nämlich: >eine Handlung läßt sich nicht dadurch rechtfertigen, daß sie dem besondern Charakter eines Menschen gemäß gewesen ist. Wenn der Charakter selbst f e h l e r h a f t war, so ist es die Handlung auch. [...][nur< den Maßstab des individuellen Vermögens anlegt, kann man nicht gleichzeitig festsetzen, eine Handlung sei von vornherein immer dann fehlerhaft, wenn der Charakter selbst es sei - das hieße in der Konsequenz, j e d e menschliche Handlung, nicht nur ein Selbstmord. Garve verläßt hier die Aufgabe des Kommentars endgültig, selbst in dem weiten Sinne, in dem er sie begreift. Er moralisiert über das Problem des Selbstmords a n l ä ß l i c h von Ciceros Cato-Beispiel (dort eines unter mehreren und das einzige, bei dem Selbstmord die charakteristische Tat ist). Es geht ihm nicht darum - und er kann es auch nicht -, Ciceros Argument, jeder müsse nach seiner Natur handeln und folglich gebe es für verschiedene Charaktere auch verschiedene moralische Regeln (vgl. oben S. 17f.), zu widerlegen oder Schwachstellen darin aufzudecken, sondern nur darum, den freiwilliger^, überWteD Sdlxs&n&nd zu v&rw&rfe®. Man oarf bestimmt annehmen, daß Garve sich an Catos berühmtem »einseitigen« stoischen Charakter nicht gestoßen oder zumindest sich nicht darüber ausgelassen hätte, wenn der Römer nicht durch eigene Hand ums Leben gekommen wäre. Einerseits legt Garve fest, je »weiter der individuelle Charakter« »von dem allgemeinen Muster der menschlichen Vollkommenheit abweicht: desto weniger darf die bloße Uebereinstimmung der Handlung mit diesem Charakter, zum Beweise ihrer Rechtmäßigkeit dienen«, andererseits aber und im Widerspruch dazu, je »weniger die Handlung, bey einer schon gegebenen Anlage des Kopfes und Herzens, vermieden werden konnte; je weniger sich in dieser Anlage, überhaupt, oder für jetzt, ändern ließ: desto mehr ist sie zu entschuldigen« (Garve X, S. 210; vgl. Sc/?618.24f. und 616.5f., MA, S. 33 und 31). Hiernach untersucht er weiter, was im Falle des Selbstmords als moralisch zu beurteilender Handlung wichtig sei: ob der Charakter, aus dem er z. B. beim Cato hervorging, »gut, untadelhaft, vollkommen« sei (ebd.); ob er, wenn nicht, auch unverbesserlich sei; und ob diese Handlung bei einem solchen Charakter notwenig sei. Er versucht dann, die durchaus unterschiedlichen Urteile der antiken (griechischen und römischen) Philosophen und 23

Geschichtsschreiber aus deren Moral und Religion zu erklären: So lehnten die berühmten Philosophen den Selbstmord eher ab, während insbesondere die römischen Geschichtsschreiber ihn durchweg als eine Heldentat, als Beleg für römische Tugenden wie Mut und Freiheitsliebe rühmten. Außerdem habe die antike Moral nicht mit einem Jenseits und auch nicht mit Pflichten gegen Gott oder sich selbst, sondern nur gegen andere Menschen bzw. die Gesellschaft argumentiert (GarveX, S. 213). Garve erwähnt sogar voller Hochacntung die Charakterfestigkeit, mit der Cato für seine Grundsätze gekämpft (z. B. Garve X, S. 215), und den Mut, die Entschlossenheit, Ruhe und Besonnenheit, mit denen er seinen Selbstmord-Entschluß durchgeführt37 habe: Garve X, S. 214: Seh 619.18-20, MA, S. 33: »Wenige Menschen werden je ge- »Wenig Menschen werden je gefunden worden seyn, die den fanden worden seyn, die den EntEntschluß zu sterben, mit so Schluß zu sterben mit soviel viel Ruhe und Besonnenheit ha- Ruhe haben fassen, mit soviel Beben fassen, mit so viel Beharrlich- harrlichkeit haben ausführen keit ihn haben ausführen kön- können.« nen.« 37 Eigentlich ist es angesichts der übrigen eindeutigen Übernahmen und Zitate fast überflüssig zu erwähnen, doch findet sich in diesem Zusammenhang das sicherste Quellenindiz. Büchner schreibt den für den Leser mehrdeutigen bzw. unverständlichen Satz: »so ist doch dieß ewig und sicher wahr, daß grade der Umstand, daß Kato leben blieb und doch nicht zurückzog, d1al? grad'e ct'er CÄnstanxf c&r FAax nur noch großartiger macht.« (Seh 619.2l-24, MA, S. 33.) Wieso »leben blieb«? Und was oder wen zog er zurück, sich, seine Absicht, einen Gegenstand? Man vermißt das Objekt und vermutet einen Auslassungsfehler o. ä. Aber Büchner zitiert hier verkürzt die gleichlautende, ebenfalls etwas ungewöhnliche Formulierung der Quelle: »Cato lebte noch nach empfangener Wunde, und er zog nicht zurück. Wenn dieses in den Augen empfindlicher Personen schrecklich scheint: so kan es in den Augen tapferer Männer, nicht anders als groß scheinen.« (Garve X, S. 215.) Garve und Büchner meinen »das Schwert« (Scb 615.17 und 619.4, M A, S. 30 und 33; Garve X, S. 217), das Cato, der nicht sofort tot war, nicht aus der Wunde gezogen habe, um sich so doch noch zu retten. Der ungefähre Hergang von Catos Selbstmord in der berühmten Biographie des Plutarch war so bekannt und wurde überdies z. B. in den Schulbüchern immer wieder dargestellt, daß jeder Zögling einer Gelehrtenschule ihn kannte und dem Schüler Büchner die Mißverständfichkeit in seiner kurzen Andeutung nicht auffiel: »Aber kaum war Butas draußen, zog er das Schwert und stieß es sich unter der Brust in den Leib. [...] Sie fanden ihn in seinem Blute liegen, die Eingeweide hingen ihm größtenteils zum Leibe heraus, aber er lebte noch und hatte die Augen offen. [...] der Arzt [...] trat an ihn heran und versuchte, die Eingeweide, welche unverletzt geblieben waren, wieder an ihren Ort zu bringen und die Wunde zuzunähen. Da kehrte Cato, der sich ein wenig erholt hatte, das Bewußtsein zurück, er stieß den Arzt von sich, griff mit den Händen in die Wunde, zerriß die Eingeweide und starb.« (Zit. nach Plutarch: Grosse Griechen und Römer. Eingeleitet und übersetzt von Konrat Ziegler. Bd. IV. - Zürich, Stuttgart: Artemis 1957, S. 432 und 433; ähnlich bei Seneca: Ad Lualium epistttlae morales 111,24,8.)

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Doch trotz dieser zugestandenen großen Tugendhaftigkeit zweifelt Garve, ob »dieser Charakter wirklich so vollkommen« war (Garve X, S. 215). Wie bereits bemerkt, behauptet Cicero dies nicht, Garve suggeriert eine solche Behauptung nur, oewußt oder weil er ihn eben so versteht, und gelangt auf diese Weise zu dem angestrebten Ergebnis, daß es sich bei Cato »im Ganzen« um »eine einseitige Entwickelung der Natur« handele (ebd., S. 215f., vgl. Seh 618.23f., MA, S. 33), weil bei ihm »Empfindlichkeit des Herzens«, »Geschmeidigkeit des Verstandes« und »Bescheidenheit« »merklich zurück geblieben« seien. Dies kulminiert schließlich geradezu in einem politischen Bekenntnis zu absoluter Loyalität und Resignation in gegebene Verhältnisse. Wie sehr Büchner diese Haltung abstieß, ist an dem unterdrückten Feuereifer spürbar, mit dem er diesen »keineswegs leicht zu beseitigenden, Einwurf« (5c/?618.19f., MA, S. 32) zu widerlegen versucht und das »Gegentheil« behauptet: Garve X, S. 216: »Da es in allen Situationen des Lebens, unter allen Regierungsformen Menschen und gute Menschen giebt: so muß sich darinn leben, auch glüklich und tugendhaft leben lassen. Derjenige ist gewiß der vollkommenste, welcher ts versteht, in allen seine Rolle zu jprefenr; söwoni1 ein guter KepufefiDiese Steifigkeit des Verstandes, [..] die ihn hinderte, neue Grundätze bey veränderter Lage der Sadie anzunehmen; diese Unfähigleit sich in eine neue Form zu schicken, und in derselben ansändig zu handeln; das völlige

Seh 618.24-619.16, MA, S. 33: »>[...] Die Ursache, warum mit seinem Charakter die Handlung des Selbstmords übereinstimmte, lag nicht in seiner Vollkommenheit, sondern (sein) in seinen Fehlern. Es war nicht seine Stärke und sein Mut h, sondern sein Unvermögen sich in einer un~ gewofmten Lebensweise schicklich zu bewegen, welches ihm das Schwert in die Hand gab.[gut< - >böse< aufbaut, nicht d^JD (&&£&) ^Repubiika&eirs den (wntefdevickcen) >i/nterthanen der Monarchie< gegenüberstellen. Immerhin war er selbst ein solcher und sämtliche Menschen in seiner Umgebung ebenfalls. >Sein< Monarch residierte nur einige Hundert Schritte weit entfernt. Um eine kritische Anspielung auf die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu vermeiden, was in der Schule vorzutragen oder abzuliefern undenkbar war, mußte Büchner einen anderen Begriff für das negative Prinzip wählen: Vermutlich hat er nach einem Synonym für das Wort >Sklave< gesucht (das er - in Seh 614.4, 615.13, 17, 18, 21, 616.19, 617.9, MA, S. 29-32 passim - für die a n t i k e n Verhältnisse und auch für Cato selbst ohne Scheu ausgiebig verwendet), das aber über die Antike hinaus anwendbar war. Insbesondere an dieser Stelle wird anschaulich, in welches Dilemma der zeitgenössische Lateinschüler bei der Abfassung einer solchen republikanischem Rede zwangsläufig geriet. Einerseits zog sich durch die gesamte historisch-literarische Beschäftigung mit dem alten Rom der Kampf der Freiheit gegen die Unterdrückung wie ein roter Faden. Der Schüler lernte ständig, mit viel Pathos eine diffuse Idee von Freiheit sowie deren Helden hochzuleben gegenüber einer ebenso diffusen Vorstellung von Unterdrückung. Wenn auch Luise Büchners Romanfragment als biographische Quelle nur unter Vor27

behalt heranzuziehen ist, so dürfte doch die Darstellung der ihr durch die Brüder vermittelten Atmosphäre am Darmstädter Pädagog authentisch sein. Den liberalen (und bei ihr politisierten, als ehemaliger Burschenschafter der Demagogie verdächtigen) Geographielehrer40 läßt sie über Büchners Rede sagen, man habe »die griechisch-römischen Phrasen, die unser guter Director den Jungen eingeübt«, herausgehört, und Diltheys zustimmende Haltung zur »Kato«-Rede begründet sie: »Las er nicht täglich die Ciceronianischen und Demosthenischen Reden in seinem Studirzimmer, warum sollte sein classisch gebildeter Schüler nicht in einem Helden des Alterthums in gleicher Weise, mit demselben Schwung dieselbe Freiheit preisen, wie es dort auch geschah?«41 Bei historischen Vergleichen, wie sie vor allem im Rahmen der lateinischen Ausarbeitungen häufig angestellt und geübt wurden, lernten die Schüler, paradiematische Konstellationen wie die zwischen Cato und Caesar auf andere, ähnlich beschaffene historische Auseinandersetzungen zu übertragen. Eine Anwendung auf die aktuell bestehenden Machtverhältnisse bedeutete allerdings Hochverrat. Für einen loyalen Untertanen ergab sich hierdurch kein Problem, schließlich waren die modernen Monarchen >gutaufgeklärtIrreführune< der Studenten der 1830er Jahre erblickte (z.B. Frankfurter Wachensturm) und nicht zuletzt aus diesem Grund für eine weniger humanistische und mehr reale Pädagogik plädierte,43 haben ihr ältester Bruder und mit ihm vermutlich »gerade« die »Begabtesten« unter den Pädagog-Schülern bald die (besseren) Lehren aus der Geschichte gezogen und die inneren »Kämpfe« zugunsten einer politischen Durchsetzung und Anwendung ihrer Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit in der Wirklichkeit entschieden. 40 Vgl. Luise Büchner: Ein Dichter, s. Anm.3, S. 224. Anton Büchner, s. Anm. 3, S. 119, vermutet Dr. Ernst Theodor Pistor hinter dem von Luise Büchner als »Frosch« vorgestellten Geographielehrer (weil dieser der Hauptlehrer für Geographie war). Doch die Beschreibungen ehemaliger Pädagogschüler, Büchners Mitschrift aus dem Geographieunterricht sowie Pistors Publikationen passen nicht recht auf diese Figur. Möglicherweise ist das/ein Vorbild der seit dem SS 1830 mit dem Geographieunterricht in Tertia betraute Dr. Karl Ernst Wagner. 41 Luise Büchner: Ein Dichter, s. Anm. 3, S. 220 und 212. 42 Ebd., S. 203. 43 Durch den Mund des Geographielehrers, s. ebd., S. 221-223, 28

Mit Büchners Opposition gegen Garves politisch >gesinnungslose< Haltung geht eine grundlegende Differenz in der historischen Betrachtungsweise einher: Während Garve die historische Person Cato (moralisch) kritisiert, bedeutet dies für Büchner eine unerlaubte Anmaßung, und er >beschränkt< sich darauf, ihr Verhalten und ihre geschichtliche Funktion zu erklären. Er beruft sich von vornherein (vgl. Seh 611-612.17, MA, S. 27f.) auf eine historiographische Position, die es verbietet, vergangene Ereignisse und Zustände von einem anderen Standpunkt als dem der betrachteten Zeit aus zu beurteilen und zu bewerten.44 Diese scheinbar unparteiische Position ist nicht unproblematisch, insofern sie eine historische Analyse aus einer fortgeschrittenen Perspektive als unangemessen untersagt, doch trat der neue historistische Ansatz, dessen methodischer Kern das Verstehen durch Hineindenken und -fühlen war und der durch die Verbindung mit der überkommenen exemplarischen Geschichtsauffassung der Gesinnungsbildung mächtigen Auftrieb gab, dem Schüler überall in der jüngsten Geschichtsschreibung entgegen.45 Indem Büchner gleich zu Anfang seiner Rede selbstbewußt (und durchaus etwas altklug: »ist mir immer ein Räthsel geblieben«, Seh 612.5, MA, S. 2846) diesen Standpunkt bezieht, den er, vermutlich quellenabhängig, »subjectiv« nennt (Seh 612.2 und 10, AM, S. 28, vgl. auch seine Mitschüler-Rezension Seh 667, MA, S. 35), kann er bestimmte Argumente nach einer kurzen Erwähnung ganz ausbJ^endejv b&spjekw&se de® efarisiiiciseß Stetoslpteitkt frzw. »cfre neuere Moral« (Garve X, S. 214 und 219). Seh 612.13-17, MA, S. 28: »Dießem Grundsatze gemäß werde ich alle Einwürfe, wie z. B. >es ist nicht erlaubt sich das Leben zu nehmen, das man sich nicht selbst gegeben, oder >der Selbstmord ist ein Eingriff in die Rechte GottesEinwurf< stammt nicht notwendigerweise von Garve.

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und nur die zu widerlegen suchen, welche man K a t o vom Standpunkte des R ö m e r s aus machen könnte«.

von uns abhängt, eine Empörung gegen die Vorsehung, ein Eingriff in die Rechte des Schöpfers.«

Denn natürlich hat Büchner wahrgenommen, daß Garves Impuls zu diesem langen Cato/Selbstmord-Kommentar ein p r i n z i p i e l l e s Bestreiten der Berechtigung zum Selbstmord und in erster Linie christlich motiviert ist. Mit seinem >Historismus< bricht er dessen Argumenten gleich die Spitze ab (»Es ist ja doch ein ganz eigner Gedanke einen alten Römer nach dem Katechismus Kritisiren zu wollen.« Seh 612.6f., MA, S. 28). Und eine Diskussion über die Vollkommenheit (in Garves Sinne) oder Einseitigkeit von Catos Charakter wird damit ebenfalls hinfällig. Durch die alleinige Anerkennung und uneingeschränkte Zustimmung zu der moralphilosophischen Prämisse des Cicero, daß eine Handlung immer mit der Natur der handelnden Person übereinstimmen müsse, damit sie gut sei, sind alle Argumente in jener Richtung von vornherein entkräftet. Da Cato anerkanntermaßen das Muster stoischer Tugenden ist und seine Handlungen genau mit seiner Natur und den aus diesen Tugenden entspringenden Grundsätzen übereinstimmen, sind sie absolut angemessen und somit richtig. So ist auch konsequent, daß Büchner nicht den Akt des Selbstmords als übereinstimmend mit Catos Charakter rechtfertigt, sondern allein Catos B e w e g g r ü n d e : den VenWt von FrerAeit und Vaterhfid (S&b 63 4. J 4y MAr S, 3D: Motive; 615.1, 3, 7; 616.1, 5, MA, S. 30f. passim: Beweggrund; vgl. unten S. 32). Während Garve einen Selbstmord auf die Fehlerhaftigkeit des >ausführenden< Charakters zurückführt und diese Tat grundsätzlich verdammt, nach speziellen Motiven aber gar nicht fragt oder differenziert, betont Büchner mit seiner >subjectiven< Betrachtungsweise immer Catos Motivation.48 48 Er entwickelt daraus sogar eine gewisse Steigerung im Verlauf des ersten Teils seiner Rede: von den ganz niedrigen Motiven wie »Eitelkeit, Ruhmsucht, Halsstarrigkeit« (Scb 614.15f.) und »Feigheit« (Seh 614.18), die »man« (Seh 614.14) Cato unterstelle, über den »Stolz« (Seh 615.2, M A, S. 30), der zwar schon erhabener, aber noch immer nicht das höchste Motiv sei, bis hin zum Verlust des Vaterlandes und vor allem der Freiheit (was Büchner damit genau meint, dazu vgl. Seh 615.14f. und besonders 615.19-22, M A, S. 30 und 31: »Der Römer kannte nur eine Freiheit, sie war das Gesetz, dem er sich aus f r e i e r Ueberzeugung als n o t h w e n d i g fügte; diese Freiheit hatte Cäsar zerstört, Kato war Sclave, wenn er sich dem Gesetz der Willkühr beugte«). Dieser Verlust schließlich, als sozusagen >schönstes< Motiv, da es sich hier um die beiden zentralen Gedanken in Catos Leben handele, rechtfertigt Catos Selbstmord nicht nur, sondern läßt ihn als »Aufopferung« (Seh 617.15, M A, S. 32) geradezu in einem glänzenden Licht erscheinen. (Vgl. auch die MitschülerRezension Seh 673.7-11, MA, S. 37: »Die Behauptung, daß der welcher dem Vortheile seines Vaterlandes das Leben aufopfert kein eigentlicher Selbstmörder sey ist klar und bestimmt ausgesprochen und deutlich bewiesen«.)

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»Charakter« und »Grundsätze« sind die beiden Schlüsselbegriffe, mit denen Büchner in seiner Rede auffällig häufig, durchweg positiv, ja geradezu emphatisch argumentiert und die er wohl auch für seine eigene Person in Anspruch nahm. »Charakter« steht in der »Kato«Rede 13mal, »Grundsatz«/»Grundsätze« 12mal - es sind die beiden Worte, um die sich alles dreht. Er macht sich damit die Hauptbegriffe und -argumente der oben zitierten Cicero-Stelle zu eigen, in der es um Cato und seinen Selbstmord geht: Hier wird dessen Berechtigung zu diesem Schritt, der anderen nicht erlaubt gewesen sei, allein mit seinem »Stoischen«, »ernsten und festen Charakter« und seinen »strengen Grundsätzen« begründet. Beide Begriffe kommen in Garves Übersetzung in den wenigen Zeilen je zweimal vor womit die Wörter vita, mos, gravitas, propositum z.T. recht frei übertragen sind (s. o. Text und Anm. 34). Darüber hinaus muß die Forderung des Stoikers, jeder solle nach seiner eigenen Natur handeln, dem Schüler so sehr eingeleuchtet haben, daß er sich bei der Auseinandersetzung mit Garve auf die Diskussion dieses Grundsatzes erst glar nicht einläßt. Aus der Übereinstimmung mit den Prinzipien und der Argumentation Ciceros, nach Grundsätzen und in Einklang mit dem individuellen Charakter zu handeln, läßt sich sicher schließen, daß Büchner nicht nur Garves Philosophische Anmerkungen über Catos Selbstmord kannte, sondern auch den kommentierten Text selbst und mehr als nur die zitierte einschlägig SteiL· Zwar kr>mmeß die beiden Begriffe in Garves diesbezüglichen Anmerkungen auch vor, doch gerade die »Grundsätze«, von denen Cato niemals abgewichen sei, spielen hier nur eine untergeordnete Rolle und werden dabei so vehement um- und abgewertet (in Richtung Halsstarrigkeit), daß es ausgeschlossen werden kann, Büchner sei ausgerechnet durch diese Passage zu seiner entschiedenen Bewunderung für solches, insbesondere Catos Handeln nach festen und unverrückbaren Grundsätzen veranlaßt worden: »Sein Charakter, so wie ihn Cicero beschreibt, von einer ungreiflichen Festigkeit, machte es ihm unmöglich, seine Grundsätze, seine Geschäfte oder seine Verfahrungsart, zu ändern. [...] Er war standhaft im Guten, aber auch hartnäckig in Vorurtheilen, auch eigensinnig bey bloßen Formalitäten. Er hieng an gewissen Grundsätzen so feste, daß er sie auch alsdann nicht verließ, wenn sie falsch wurden. [...] Diese Steifigkeit des Verstandes, (wenn ich so sagen darf,) die ihn hinderte, neue Grundsätze bey veränderter Lage der Sache anzunehmen; diese Unfähigkeit sich in eine neue Form zu schicken, und in derselben anständig zu handeln [...]«(Garve X, S. 215,216 und 217, vgl. den Zusammenhang und Büchners Widerspruch oben S. 25).

Auch an der folgenden Stelle argumentiert er eindeutig mit Cicero (und mit Kenntnis von Ciceros Text) gegen Garve: 31

Seh 616.4-7, MA, S. 31: »Der Beweggrund, den ich seiner Handlung zu Grunde lege, stimmt mit seinem ganzen Charakter überein, ist seines ganzen Lebens würdig, und also der wahre.«

Cicero: »Wenn irgend etwas anständig ist: so ist es gewiß am meisten, Gleichheit in unsrer ganzen Auffuhrung, und Uebereinstimmung aller einzelnen Handlungen mit einander. Diese ist aber unmöglich zu erhalten, wenn wir fremde Charaktere nachahmen, unsern eigenen verlassen.« (Zit. nach GarveIX, S. 95.)

GarveX, S.210: »Je weiter der individuelle Charakter, von dem allgemeinen Muster der menschlichen Vollkommenheit abweicht: desto weniger darf die bloße Uebereinstimmung der Handlung mit diesem Charakter, zum Beweise ihrer Rechtmäßigkeit dienen.«

Eine letzte prägnante Wendung in allen drei Texten, die darauf hinweist, daß Büchner der antiken Quelle folgt, wurde schon erwähnt: Cicero verwendet mehrmals das Bild des Schauspielers, der stets nur solche Rollen spielen sollte, die seiner Persönlichkeit entsprechen, um damit sinnfällig zu machen, daß jeder Mensch seinem Charakter gemäß handeln solle. Ein Beispiel: »Wir aber haben von der Natur alle nur eine Rolle zu spielen bekommen« (zit. nach Garve IX, S. 82). Garve greift das Bild nur an einer einzigen Stelle b&iiäwfig auf, dreitä es ahes um: »Da es in allen Situationen des Lebens, unter allen Regierungsformen Menschen und gute Menschen giebt: so muß sich darinn leben, auch glüklich und tugendhaft leben lassen. Derjenige ist gewiß der vollkommenste, welcher es versteht, in allen seine Rolle zu spielen; sowohl ein guter Republicaner, als ein guter Unterthan der Monarchie zu seyn.« (GarveX, S. 216.)

Auf diese bemerkenswerte Stelle nimmt Büchner Bezug, wenn er schreibt: »Diesem Einwurf gemäß wird gefordert, daß Kato sich nicht allein in die Rolle des Republikaners, sondern auch in die des Dieners hätte fügen sollen.« (Seh 619.6-8, MA, S, 33, vgl. den Zusammenhang oben S. 25.)

Indem er fortfährt, daß er »glaube, daß das das große Erbtheil des Mannes sey, nur eine Rolle spielen, nur in einer Gestalt sich zeigen, nur in das, was er als wahr und recht erkannt hat, sich fügen zu können« (Seh 619.1 1 -13, M A, S. 33), verwendet Büchner das gleiche Bild mit einer hier besonders deutlichen und entschiedenen Empörung gegen die politische Zumutung, die Garves Forderung bedeutet. 32

Georg Büchners Situation im Elternhaus und der Anlaß seiner Flucht aus Darmstadt Anfang März 1835 Von Thomas Michael Mayer (Marburg)

Übersicht 1. Vorbemerkung

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2. Der »Konflikt« mit dem Vater [2.l.]1 Arbeiten »im Verborgenen«: 38 - [2.2.] >Vergatterung