214 31 26MB
German Pages 256 Year 1982
ISSN 0075-8663
Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig BAND XXXIII
AKADEMIE-VERLAGBERLIN 1981
Nuba-Mädchen aus Fungor (Südost-Kordofan) mit Schmucknarben am ockerbemalten Körper. Die Bemalung kennzeichnet sie als Verlobte (Sirre). Foto: L O T H A B STEHT.
ISSN 0075-8663
JAHRBUCH DES MUSEUMS FÜR VÖLKERKUNDE ZU LEIPZIG BAND
XXXIII
H E R A U S G E G E B E N VOM D I R E K T O R
A K A D E M I E - V E R L A G
1981
B E R L I N
Redaktion:
ROLF KEUSCHE
Die Autoren sind für den Inhalt ihrer Abhandlungen selbst verantwortlich. Redaktionsschluß : 8. November 1978
Karten:
H A N S THOMAS; E V A WIESAUER
Fotos : Museum für Völkerkunde Leipzig, Archiv ; H A N S HIMMELHEBER; LOTHAR STEIN; E R I K A TAUBE; E V A WIESAUER;
Ministry of Information & Culture of the Democratic Republic of Sudan
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen © Museum für Völkerkunde zu Leipzig 1981 Erschienen im Akademie-Verlag, 1080 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Lizenznummer: 202 . 100/148/81 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen • 5590 Bestellnummer: 753 671 8 (2085/11/19) • LSV 0705 Printed in GDR DDR 3 5 , - M
Inhaltsübersicht
Leipzig Zum Gedenken an den Völkerkundler
R O L F SCHWARZER,
EDUARD ERKES
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Budapest W a s sind B a u e r n ? E i n e U n t e r s u c h u n g über die Widersprüche von P r o d u k tion u n d K o n s u m t i o n im vorkapitalistischen E u r o p a
12
Leningrad Materialien z u m S c h a m a n e n t u m der südlichen Tuwiner
36
Markkleeberg Notizen z u m Schamanismus bei den Tuwinern des Cengel-sum (Westmongolei) (Mit 7 Abbildungen auf Tafel I - V I I )
43
Leipzig Die R e g i b ä t . Zur politischen u n d sozialen E n t w i c k l u n g eines nomadischen E t h n o s in der W e s t s a h a r a (Mit 1 K a r t e )
70
Heidelberg Steinmauer u n d Steinmunition bei einer vorgeschichtlichen Siedlung in Nordost-Liberia (Mit 12 Abbildungen auf Tafel V I I I - X I I I )
86
Leipzig E t h n o g r a p h i s c h e Sammelreise nach K o r d o f a n u n d D a r f u r , 1973 (Mit 1 K a r t e , 12 Abbildungen auf Tafel X I V - X X I u n d farbigem Frontispiz)
91
TAMÄS HOFFMANN,
V E R A PAVLOVNA D'JAKONOVA,
ERIKA TAUBE,
WOLF-DIETER SEIWERT,
HANS HIMMELHEBER,
LOTHAR STEIN,
EVA WIESAUER, W i e n
Dekortechniken an Holzobjekten der ostafrikanischen K ü s t e (Mit 1 K a r t e u n d 23 Abbildungen auf Tafel X X I I - X X X I )
101
Leipzig Soziale S t r u k t u r e n u n d ethnische Verhältnisse im zentralen H o c h l a n d von P a p u a - N e u g u i n e a
118
Berlin Über das mythologische Geschichtsbewußtsein der australischen Urgesellschaft
170
Leipzig Mythische Darstellung u n d historische R e a l i t ä t in den Überlieferungen der Shawnee-Indianer
204
BARBARA T R E I D E ,
ERNST HOFFMANN,
LOTHAR DRÄGER,
Anschriften der Mitarbeiter dieses B a n d e s
217
EDUARD
ERKES
Zum Gedenken an den Völkerkundler Von
R O L F SCHWARZER,
EDUARD ERKES
Leipzig
Darum betrachtete er auch nicht . . . die Sprache als einen isolierten Faktor, der aus sich selbst begriffen werden muß, sondern als ein Teilgebiet der allgemeinen Kulturgeschichte, das zu seinem vollen Verständnis die Kenntnis der Geschichte und Kultur der Völker voraussetzt, mit deren Sprachen man sich beschäftigt. E R K E S ü b e r v . D. GABELENTZ
Am 2 3 . 1 . 1 9 8 1 jährt sich zum 9 0 . Male der Geburtstag von Prof. Dr. E D U A R D E R K E S . Über seine Bedeutung als Universitätsprofessor und Inhaber des Lehrstuhles für Sinologie ist schon viel geschrieben worden, aber daß er auch und sogar in erster Linie Völkerkundler war, ist wohl weniger bekannt. Als ein frühes Zeugnis dafür findet sich im Archiv des Museums für Völkerkunde zu Leipzig die Kopie eines Schreibens von Prof. W E U L E an den R a t der Stadt vom 1 8 . 3 . 1 9 1 3 , in dem es unter anderem heißt: „Einen guten Kenner des Chinesischen haben wir nun in Herrn cand. ethn. sinol. Erkes gefunden, einem Schüler von Prof. Conrady, der unmittelbar vor der Promotion steht und der seit Mitte Dezember 1912 bei uns als Volontär gearbeitet hat. Erkes hat mit dem 1. 1. 1913 versuchsweise die Bearbeitung der gesamten asiatischen Abteilung übernommen und er hat, wie sich schon heute sagen läßt, ebensoviel Befähigung wie Geschick und Eifer zu der schwierigen Sache. Da Erkes sich der Museumslaufbahn widmen will, glaube ich aus all diesen Gründen nichts besseres t u n zu können als ihn zur Einstellung als wissenschaftlichen Hilfsarbeiter vorzuschlagen." Daraus geht hervor, daß E R K E S bereits vor Abschluß seiner Studien, anfangs als unbezahlter Volontär, am Museum tätig war. Seit dem 1. 4. 1913 stand er dann a m Museum in städtischen Diensten. Er hatte „von 1910 bis 1913 an den Universitäten Bonn und Leipzig Ethnologie, Geschichte und Sprachwissenschaften, besonders Chinesisch" studiert. Später schrieb er über diese Zeit: „.. . mir selbst ist es als Student noch verdacht worden, daß ich mir neben dem Chinesischen Völkerkunde und Universalgeschichte als Nebenfächer wählte, statt noch einige andere orientalische Sprachen hinzuzunehmen. Diese Tendenzen, die Linguistik auf sich selbst zu beschränken, sind auch heute noch nicht ausgestorben, und ich habe selbst immer noch mit ihnen zu kämpfen." Weiterhin ist daraus seine erklärte Absicht zu entnehmen, die Museumslaufbahn einzuschlagen. In einer Schrift von Prof. W E U L E „Vom Kerbstock zum Alphabet" aus dem Jahre 1915 ist eine Darstellung „Entwicklung und Ausgestaltung der Wortschrift in China" abgedruckt, die der Museumssinologe Dr. E R K E S für eine Ausstellung geschaffen hatte. Seit Dezember 1913 finden wir ihn, als „Assistent am Museum für Völkerkunde" geführt, auch in der Liste der Mitglieder des Vereins für Völkerkunde, die im „Jahrbuch des Städtischen Museums für Völkerkunde zu Leipzig", Band 5
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ROLF SCHWABZER
(1913) abgedruckt ist, das auch einen Beitrag von EBKES über „Ahnenbilder und buddhistische Skulpturen aus Altchina" enthält. Über seine Vortragstätigkeit in dem genannten Verein informiert nachstehende Aufstellung: 28. 1. 1914, Chinesischer A b e n d : P e k i n g i m W a n d e l der Zeiten. Mit Lichtbildern. 25. 11. 1914: Zur Geschichte und Charakteristik der J a p a n e r 17. 1. 1917: D a s M o n g o l e n t u m i m Stillen Ozean 26. 4. 1918: D i e B e z i e h u n g e n der Chinesen z u m A b e n d l a n d e 18. 10. 1918: D e m o n s t r a t i o n einer B a t a k - S a m m l u n g m i t kurzer, aber vollständiger Ü b e r sicht über die K u l t u r dieses V o l k e s 11. 12. 1918: Speise u n d Trank bei den Chinesen 19. 1 . 1 9 2 3 : D e r B u d d h i s m u s u n d seine Götterdarstellungen 16. 11. 1923: E s t l a n d und die E s t e n . E r g e b n i s s e einer Forschungsreise i m J a h r e 1923. Mit Lichtbildern. A u s s t e l l u n g v o n Aquarellen u n d V o r f ü h r u n g v o n estnischen K o s t ü m e n . 16. 1. 1925: D a s altchinesische T h e a t e r 13. 11. 1929: D a s chinesische T h e a t e r 25. 1. 1933: Chinesisches L e b e n in P e k i n g
Man ersieht aus ihr die Vielfalt der Themen, denen er sich widmete, jedoch nicht, mit wie kurzer Vorbereitungszeit von manchmal nur zwei bis drei Wochen er einsprang, wenn ein anderer Referent verhindert war. Dem Verein für Völkerkunde führte er auch manches neue Mitglied zu, darunter solche prominenten Namen wie Bruno Schindler oder Dr. Karl Seidenstücker, aber auch seine Schwester Valeria Erkes, nachmals Frau Dr. Wutschka. Am 1. 7. 1921 wurde der wissenschaftliche Hilfsarbeiter Dr. EBKES zum Kustos beim Museum für Völkerkunde befördert. Ihm unterstanden die Abteilungen Asien und Europa. Vom 25. März bis Ende April 1922 fand eine Ausstellung über den Ahnenkult statt, die er anläßlich der Fünfzigjahrfeier des Museums bearbeitet und zu der er auch den Ausstellungsführer geschrieben hatte. Vom 15. 7. bis zum 27. 10. 1923 hielt er sich zu volkskundlichen Studien in Estland auf. Von dort brachte er fünf komplette Frauentrachten aus verschiedenen Gebieten mit (Aktenstück Nr. 1923/18, Inventar-Nr. Eu 6192-6224). Seine Frau nahm an dieser Reise teil und schuf Aquarelle von Bauweise und Volksleben der Esten. Bei der 47. Versammlung der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft in Halle vom 1. bis 6. August 1925 hielt er zwei Vorträge über „Menschenopfer und Kannibalismus im alten China" und über„Chinesisch-amerikanischeMythenparallelen". Im „Jahrbuch des Städtischen Museums für Völkerkunde zu Leipzig", Band 8 (1922) führt das Mitgliederverzeichnis des Vereins für Völkerkunde EBKES als Kustos und Privatdozent. Bereits 1919/20 hatte er zusammen mit Dr. Sarfert einen Winterkursus über die materielle und die geistige Kultur der Völker gehalten; außerdem wird im Jahrbuch Band 9 (erschienen 1928 für den Berichtszeitraum 1922—25) seine dreijährige Lehrtätigkeit an der Leipziger Volkshochschule (über Themen der allgemeinen Völkerkunde) erwähnt. Dort ist auch schon die Rede von seiner Dozententätigkeit an der Leipziger Universität, an der er dann ab März 1928 als au ßerordentlicher Professor für Sinologie wirkte.
Zum Gedenken an Eduard Erkes
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I n diese Zeit fällt der Umzug des Museums in das neue Gebäude am Johannisplatz. Noch vor der offiziellen Eröffnung fand vom 22. 5. 1928 bis zum 6. 1. 1929 eine Ausstellung „Afrika — Ostafrika" statt, zu der E R K E S den Ausstellungsführer verfaßt hatte; und aus seiner Feder stammte auch der Museumsführer „Das Museum für Völkerkunde zu Leipzig. Seine Geschichte, seine Aufgaben und Einrichtungen nebst vorläufigem Führer durch die Sammlungen", der den Teilnehmern der Eröffnungsfeier am 30. 9. 1929 überreicht wurde. Bis Dezember 1929 waren von der Abteilung Asien die Untergruppen Vorderindien, Persien, Tibet, Buddhismus mit japanischem Tempel, China mit Gruppe Religion sowie Hinterindien wieder aufgestellt worden, bis Dezember 1930 die Abteilung China komplett, bis Februar 1931 folgten Bali und Java, im Juli 1931 die Götterhalle und bis Dezember 1932 die Ostmolukken und die Kleinen Sunda-Inseln. Dazwischen erfolgte, „nachdem die chinesische Abteilung aufgestellt war und sich herausgestellt hatte, daß eine weitere Aufstellung der übrigen Teile der Asiatischen Abteilung auf absehbare Zeit hin nicht möglich sein würde", von August 1931 bis Mitte September 1932 eine Beurlaubung des Kustos Prof. Dr. E B K E S ZU religionswissenschaftlichen Studien nach China. Dort lebte er wie ein Chinese unter Chinesen und wurde von ihnen für einen Landsmann gehalten, selbst dann, wenn er Deutsch sprach — dann allerdings für einen Bewohner einer südlichen Provinz. Er brachte bei seiner Rückkehr eine große Sammlung von Gegenständen des täglichen Lebens mit, die die Bestände des Museums ergänzte und bereicherte (Aktenstück Nr. 1932/30, InventarNr. OAs 14149-14483). Geplant war noch die Aufstellung der Schausammlungen Japan, Korea, Mongolei, Sibirien sowie der Europa-Abteilung, da erfolgte die Machtergreifung durch den Faschismus am 30. 1. 1933. In den Personalakten des Museums findet sich die Kopie eines Schreibens vom 16. 10. 1933 folgenden Wortlauts: „Durch Verfügung des Herrn Reichsstatthalters in Sachsen ist der Kustos am Museum für Völkerkunde Prof. Dr. Eduard Erkes auf Grund von § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 in der Fassung des Änderungsgesetzes v o m 22. 9. 1933 unter dem 30. September d. J. aus dem Dienste der Stadt Leipzig entlassen worden. Prof. Dr. Erkes erhält seine bisherigen Bezüge noch bis zum 31. Januar 1934 weiter. Wegen des Ruhegehaltes wird noch besonders Mitteilung gegeben. I. A. Dr. Dietze, Stadtrechtsrat"
Der erwähnte Paragraph sah vor, daß nur — im Sinne der faschistischen Machthaber — politisch zuverlässige Personen im Beamtenstand verbleiben durften. Den Kustos Prof. Dr. E R K E S vom Museum zu trennen bedeutete jedoch, das Museum von E R K E S ZU trennen; dies geht hervor aus seiner Stellenbewertung in Verbindung mit einer „Meldung an das Personalamt über Veränderungen im Arbeitsplan" vom 24. 2. 1934, worin es heißt: „Stellenbewertung — Meldung Prof. Dr. Eduard Erkes, Kustos und Abteilungsleiter — zu streichen Arbeitsgebiet: Verantwortliche Leitung der Abteilung Asien — Direktor Prof. Dr. Krause Inventarisation und Etikettierung dieser Abteilung — fällt aus Stellvertretende Leitung der Abteilung Europa — Kustos Dr. Richter
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R O L F SCHWARZER
Inventarisierung und Etikettierung dieser Abteilung — Kustos Dr. Richter Verwaltung der Bibliothek — Kustos Dr. Damm Leitung der Buchbinderei — Kustos Dr. D a m m Wissenschaftliche Bearbeitung von Sonderausstellungen, Veröffentlichungen — fällt aus"
Weiter heißt es in der Meldung: „Solange ein Fachmann für asiatische Völkerkunde fehlt, kann in der Abteilung Asien nur der bisherige Zustand aufrechterhalten werden. Irgendwelche wissenschaftliche Bearbeitung, Inventarisation und Etikettierung in dieser Abteilung, sowie die wissenschaftliche Bearbeitung von einschlägigen Sonderausstellungen und Veröffentlichungen kann ebensowenig erfolgen wie das Erteilen wissenschaftlicher Auskünfte und die Beratung über asiatische Völker- und Kulturverhältnisse, da hierzu besondere Fach- und Sprachkenntnisse nötig sind, die nur ein Spezialist besitzen kann. Solange ein solcher Fachmann fehlt, müssen alle diese Arbeiten ausfallen. gez. Krause" E R K E S selbst schreibt später über diese Zeit in einen Fragebogen der Sowjetischen Militäradministration: „Seit 1919 gehörte ich der SPD an, für die ich mich in wissenschaftlichen Vorträgen und Beiträgen zu Zeitungen und Zeitschriften vielfach betätigte. Im September 1933 wurde ich deshalb abgesetzt und lebte seither in Leipzig in Pension. . . . Durch die NSDAP wurde ich während der ganzen Dauer ihrer Herrschaft an jeder öffentlichen wissenschaftlichen Betätigung verhindert, auch wurde meine Mitarbeit von den wissenschaftlichen Zeitschriften ,Asia Major' und ,Sinica' aus politischen Gründen zurückgewiesen. . . . Meine Ehefrau, die als Künstlerin 12 Jahre lang von der Reichskulturkammer an der Ausübung ihres Berufes verhindert wurde, hat . . . stets im gleichen Sinne wie ich gewirkt. . . . I m Mai 1945 wurde ich wieder in mein Lehramt als Universitätsprofessor eingesetzt und am 28. Juni 1945 wieder an das Museum für Völkerkunde berufen und mit dessen kommissarischer Leitung beauftragt." Seine Stellenbewertung sah nun folgendes vor: Art der Tätigkeit: kommissarischer Direktor Arbeitsgebiet: Verantwortliche Leitung und Verwaltung des Museums; Leitung der derzeitigen laufenden Arbeiten zur Wiederherstellung der Bibliothek, der Archive und der eventuellen Rückführung und Wiederaufstellung der Sammlungen ; Leitung der eurasiatischen Abteilung; Leitung der vom Museum zu haltenden Vorträge und sonstigen Veranstaltungen; Leitung der Zusammenarbeit des Museums mit der Universität und den übrigen wissenschaftlichen und sonstigen Körperschaften. I n dieser Zeit waren große Teile des Museums und der Sammlungen zerstört, und die Hauptarbeit bestand in der Bergung von Objekten aus dem Brandschutt. Prof. E K K E S erwies sich als ein Aktivist der ersten Stunde im wahrsten Sinne des Wortes. Das geht auch aus seiner Antwort auf ein „Rundschreiben wegen Ausübung von Nebentätigkeiten" aus dem Jahre 1947 hervor, in der es heißt: „Ich übe nach wie vor meine Tätigkeit als Universitätsprofessor und stellvertretender Direktor des Ethnologischen Instituts der Universität und des Seminars für Vor- und Frühgeschichte der Universität aus. Ebenso bin ich weiterhin als wissenschaftlicher und politischer Schriftsteller tätig und halte auch Vorträge in wissenschaftlichen Gesellschaften und Kreisen."
Z u m Gedenken an E d u a r d Erkes
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Alle diese Tätigkeiten übte er ohne Vergütung aus. Aber bald darauf lesen wir in einem Schreiben E R K E S ' an das Personalamt der Stadt Leipzig vom 19.3.1947: „Zum 1. April d. J . bin ich als etatsmäßiger Professor an die Philosophische F a k u l t ä t der Universität Leipzig berufen worden und nehme auf Wunsch der Sächsischen Landesregierung und der Universität meine Tätigkeit sogleich im vollen Umfange auf. Ich bin daher genötigt, die bisher von mir ausgeübte Tätigkeit als kommissarischer Direktor des Städtischen Museums f ü r Völkerkunde niederzulegen und bitte zum 1. April u m meine Entlassung aus dem Dienst der Stadt Leipzig . . . " So schied E R K E S a m 31. 3. 1947 aus dem Museum aus, blieb ihm jedoch verbunden. Dr. M A R T I N P I A S E K , einer seiner Schüler, erinnert sich: „Professor Erkes machte nicht H a l t an den Grenzen seines eigentlichen Fachgebietes, der Sinologie, und öffnete auch seinen Schülern die Augen f ü r die großen Zusammenhänge. Als Beispiel möchte ich hier die Übungen erwähnen, die Prof. E R K E S 1947—48 im Leipziger Völkerkundemuseum über die alten Kulturen Ostasiens abhielt. Mit der Verbindung zwischen Sinologie und chinesischer Paläographie einerseits und der Völkerkunde andererseits setzte E d u a r d Erkes die Lehrmethode seines Lehrers August Conrady fort. Wenn wir uns damals morgens im Völkerkundemuseum unter einem Standbild Buddhas zu den Referaten und Aussprachen zusammenfanden, erfaßte uns o f t eine feierliche Stimmung. . . . Dabei waren diese Übungen nicht etwa lebensfremde Träumereien, sondern sie sind von großer Bedeutung f ü r die weltanschaulichen K ä m p f e der Gegenwart. Das zeigen die Lehren von E d u a r d Erkes über die dialektische Philosophie der alten Chinesen." Aber nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Sprachwissenschaft lehrte Erkes dialektisches Denken. E s war seine Grundauffassung, daß „Ethnologie und Geschichte . . . mit der Linguistik H a n d in H a n d gehen" müssen und m a n letztere nicht losgelöst von den anderen behandeln dürfe. Dieses sein Grundprinzip vermittelte er auch in Theorie u n d Praxis seinen Schülern. Am Museum f ü r Völkerkunde zu Leipzig wurde seine Tradition durch seinen Schüler Dr. Walter Böttger weitergef ü h r t u n d trug reiche Früchte. Der 90. Geburtstag von Prof. Dr. E D U A R D E R K E S veranlaßt uns erneut, dieses hervorragenden Wissenschaftlers und Antifaschisten zu gedenken.
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ROLF SCHWARZER
Nachträge zum „Verzeichnis der Arbeiten EDUARD ERKES"* Peking im Wandel der Zeiten. I n : Erde, Jahrgang 11, Heft 2 (Februar 1914). Chinas religiöse Entwicklung im Zusammenhang mit seiner Geschichte. I n : Ostasiatische Zeitschrift 4, Heft 1/2, S. 58-66. Berlin 1915. Entwicklung und Ausgestaltung der Wortschrift in China. I n : WEULE, Vom Kerbstock zum Alphabet — Urformen der Schrift. Stuttgart 1915. Der Totemismus bei den Chinesen und ihren Nachbarvölkern. I n : Ostasiatische Zeitschrift 6. Berlin 1918. Führer durch die Sonderausstellung „Ahnenkult" März—April 1922. Hrsg. vom Museum für Völkerkunde Leipzig, 2 S., 1922. China und das Christentum. I n : Proletarische Heimstunden, Zeitschrift für proletarische Literatur, Kunst, Aufklärung und Unterhaltung, 1. Jahrgang 1923, S. 152—156 und S. 183—190. Verlagsanstalt für proletarische Freidenker, Leipzig. Besprechung zu: EILDERMANN, Urkommunismus und Urreligion. I n : Werkland, IV, 3 (1924), S. 247-252. Novejsaja nemeckaja literatura o kitajskom iskusstve. Perevod s rukopisi. Sonderdruck o. 0., o. J., S. 285-291. Se erh pu wang. I n : Asia Major III, 2 (1926), S. 156-159. Daraufhin „A Note to Erkes' Paper" by H. H. Dubs in Asia Major III, 2 (1926), S. 159-161, von Erkes erwidert unter dem Titel „A Note on Dubs' Note in Asia Major III, 2". Dieser Titel ist im „Verzeichnis . . ." nicht richtig angegeben. Östasiens Fornkultur. Bemyndigad översettning fran tyska originalet av Axel Nihlen. I n : Orientens Forntidskultur av V. Thomsen, D. Andersen, E. Lehmann, A. Christensen, E. Erkes, H. 0 . Lange, K. L. Tallqvist o. F. Buhl. Redig. avA. Friis. Bd. I, S. 197-299. P. A. Norstedt & Söners Förlag. Stockholm 1927/29. Der chinesische Drache. I n : Kosmos — Handweiser für Naturfreunde, hrsg. vom Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde, Stuttgart, 25. Jahrgang 1928, S. 54—56, 61. Führer durch die Ausstellung „Afrika — Ostafrika", veranstaltet vom Museum für Völkerkunde. Museum für Länderkunde, Leipzig 1928, 24 S. Das Museum für Völkerkunde zu Leipzig. Seine Geschichte, seine Aufgaben und Einrichtungen nebst vorläufigem Führer durch die Sammlungen. Hrsg. von der Direktion. 20 S., 4 Grundrisse. Leipzig 1929. Emil Krebs I n : Litterae Orientales, Nr. 46, April 1931, S. 13-14. Eine chinesische Liebestragödie. I n : Das Buch der Liebe, Volk und Buch Verlag, Leipzig 1946, S. 323-329. Die chinesische Geschichte als dialektischer Prozeß. I n : Einheit, Jahrgang 2, 1947, Heft 2, S. 136-149. Rassetheorien und Völkerkunde. I n : Aufbau, 3. Jahrgang 1947, Heft 10, S. 227-235. Besprechung zu: Historisch-philologische Veröffentlichungen der Academia Sinica, Band 11, 12, 16 (1947). I n : Sinologica, 2 (1950), Nr. 4, S. 310-312. Besprechung zu: FAIRBANK, JOHN KING, and Liu KWANG-CHING, Modern China. A Bibliographical Guide to Chinese Works 1898-1937. Cambridge, Mass., 1950. I n : Sinologica, 3 (1951), Nr. 1, S. 68. * Veröffentlicht in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, 9. Jahrgang 1959/60, Gesellschafts-und Sprachwissenschaftliche Reihe, H e f t 4, S. 661—665.
Zum Gedenken an Eduard Erkes
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Kono Bairei, Vögel und Blumen — Japanische Meisterholzschnitte. Mit einer kunstsoziologischen Einführung von Prof. Dr. Eduard Erkes. Verlag Ernst Wunderlich. Leipzig 1952. Zur Reform der chinesischen Schrift. I n : Sprachpflege, Jahrgang 5, 1956, Nr. 3, S. 24-25. Besprechung zu: E C K A B D T , Unter dem Odongbaum. Der Lange Marsch. Übersetzung eines Gedichts von Mao Tse-tung. I n : A. Lückenhaus, Mao Tse-tung, Berlin 1958, S. 34. Dämonologie in China als Vorstufe wissenschaftlicher Erkenntnis. I n : Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe, 11, 1962, S. 417-420. Der Gelehrte und die Gegenwart. Manuskript Nr. 28b am Ostasiatischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig.
Was sind Bauern? Eine Untersuchung über die Widersprüche von Produktion und im vorkapitalistischen Europa
Von
TAMÄS HOFFMANN,
Konsumtion
Budapest
In den letzten zwei Jahrzehnten wurde ziemlich viel über das Bauerntum geschrieben. Viele haben Antwort auf die Frage nach dem Schicksal der Bauern gesucht. Und viele mußten eine Erklärung finden für das Problem, das vor allem die Bauern selbst beschäftigt: was wird mit ihnen in unserem von der Technik so maßgeblich bestimmten Zeitalter? Die wissenschaftliche Literatur, die sich mit der Bauernfrage beschäftigt, hat ökonomische und politische Aspekte. Ein bedeutender Teil dieser Schriften fand Anwendung bei der Ausarbeitung von Strategien der marxistischen Parteien. Ihre Thesen gewinnen in der dritten Welt immer an Einfluß, da sich die marxistische Theorie in unserer Zeit auch in diesem gesellschaftlichen Medium dynamisch verbreitet. Die Überlegungen, von denen hier die Rede ist, sind in der bürgerlichen theoretischen Literatur der Fachgebiete Anthropologie und Dorfsoziologie gegenwärtig weit weniger populär. Die Anfänge dieser Literatur reichen weit ins vorige Jahrhundert zurück. Und obwohl sich der gesellschaftliche Fortschritt objektiv anders durchgesetzt hat, als es sich die frühen Theoretiker der Anthropologie und Dorfsoziologie vorgestellt hatten, haben die heutigen Vertreter dieser Disziplinen das Gedankensystem ihrer Vorgänger nicht wesentlich erweitert. Nichtsdestoweniger haben sie eine Reihe wichtiger Erkenntnisse gewonnen, auf deren Nutzbarmachung die marxistische Wissenschaft nicht verzichten kann. In der vorliegenden Studie versuche ich, einige wichtige Feststellungen zusammenzufassen, die helfen können, die geschichtliche Stellung der bäuerlichen Gesellschaft zu verstehen. Damit wird auf indirekte Weise auch die Lage der Bauern im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution beleuchtet. Keinen eingehenden Beweis verlangt wahrscheinlich die Feststellung, daß die moderne bürgerliche Literatur der Dorfsoziologie und Anthropologie schon längst andere Probleme behandelt, als ihre wissenschaftsgeschichtlichen Vorgänger im 19. Jahrhundert. 1 Bemerkenswert ist auch, daß die Untersuchungen R O B E R T R E D F I E L D S 1
Einige charakteristische Zusammenfassungen (mit weiterführender Literatur) : P e a s a n t Society. A. Reader. E d i t e d b y J A C K M. P O T T E R , M A Y N . D I A Z , G E O R G E M . F O S T E R . Boston 1 9 6 7 . — P e a s a n t s and P e a s a n t Societies. Selected Readings. E d i t e d b y T E O D O R S H A N I N . (Penguin Book). H a r m o n d s w o r t h 1 9 7 1 . — R E D F I E L D , R O B E R T , P e a s a n t Society and Culture. Chicago 1 9 5 6 . — W O L F , E R I C , Peasants. Englewood Cliffs, N . J . 1 9 6 6 . — G O D E L I E R , M A U R I C E , Sur les sociétés préoapitalistes. Paris 1 9 7 0 . — M E N D R A S , H E N R I , Sociétés paysannes. Paris 1 9 7 6 . — H I L T O N , R . L., The English P e a s a n t r y in t h e L a t e r Middle Ages. Oxford 1 9 7 5 . — P O W E L L , J O H N D Ü N O A N , On Defining P e a s a n t s and Peas-
W a s sind B a u e r n ?
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über die „Folk culture" in Yucatân das Modell für die fachwissenschaftliche Beurteilung der dritten Welt geliefert haben — obwohl die Feststellungen R E D F I E L D S schon von der zeitgenössischen Kritik bei weitem nicht widerspruchslos aufgenommen wurden. 2 Seit einem Menschenalter etwa ist die wissenschaftliche Erforschung der Bauernfrage durch Pragmatismus ersetzt worden. Es interessiert die meisten dieser Forscher nicht mehr, durch welche Voraussetzungen die sozialen Probleme und materiellen Konflikte der Bauern verursacht wurden, sondern nur noch die Möglichkeiten, wie diese Lage zu verändern sei. So können wir uns bei ihnen informieren über die ungenügenden Erträge der Landwirtschaft, über die demographische Explosion, über die mit Umweltschäden verbundenen Probleme, über die jegliche Marktstrategie entbehrende Bewirtschaftung in den frühen Kolonialländern, kurz : über eine Menge von den Fragen, die eine unverzügliche Abhilfe fordern. 3 Es ist auffallend, daß diese Wissenschaftler sich einer sozialistischen Lösung des Bauernproblems gegenüber außerordentlich gleichgültig oder abweisend zeigen. J a , man könnte ihren Pragmatismus sogar damit charakterisieren, daß gerade die Furcht vor den Bauernbewegungen ihr wirksamster Antrieb ist, und daß sie mehr oder weniger bewußt Strategien entwickeln, die die marxistische Lösung der Bauernfrage offensichtlich nicht zu beschleunigen, sondern zu verzögern trachten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß auch der Ahistorismus dieser Autoren auf dieselben Grundlagen zurückzuführen ist. Denn schließlich haben wir es hier mit einer Position zu tun, die — im Gegensatz zum Marxismus — die geschichtliche Analyse der Situationen immer vermissen läßt. Allerdings unterscheidet sich die literarische Tätigkeit der Vertreter des Pragmatismus nicht nur von der marxistischer Wissenschaftler. Sie trennt sich auch von den Schriften der Theoretiker der Bauernfrage aus dem vorigen Jahrhundert. Zu jener Zeit wurden nämlich die einschlägigen Werke durch die Bestrebung ins Leben gerufen, eine historische Erklärung des Bauernproblems zu geben. Die historisierende Erklärung dieses Problems lautete im vorigen Jahrhundert ungefähr so, daß die gesamte Gesellschaft — mit Ausnahme der Bauern — „verdorben" sei und ihr Verfallsprozeß nur durch die Bauernschaft aufgehalten werden könne. Der Bauer, der die positiven Traditionen der Vergangenheit in sich verkörpere, sei in der Lage, dem Untergang zu widerstehen, die Modernisierung aufzuhalten und all das zu konservieren, was gesunde menschliche Gegebenheit sei. a n t Society. P e a s a n t S t u d i e s N e w s l e t t e r . 1972, p p . 94—99. — M O O R E , M I C K , O n D e f i n ing P e a s a n t s . P e a s a n t S t u d i e s N e w s l e t t e r . 1972, p p . 156—158. — S C H E N D E L V A N , WILLEM, P e a s a n t s as C u l t i v a t o r s ? P r o b l e m s of D e f i n i t i o n . P e a s a n t N e w s l e t t e r . 1976 (V/2.), p p . 16—17. — W E N S K U S , I I . , J A N K U H N , H . , G H I N D A , K . , (Hrsg.), W o r t u n d Begriff „ B a u e r " . A b h a n d l u n g e n d e r A k a d e m i e d e r W i s s e n s c h a f t e n in G ö t t i n g e n . Philolog i s c h - H i s t o r i s c h e K l a s s e 3/89. G ö t t i n g e n 1975. - Vgl. R E D F I E L D , R O B E R T , T e p o z t l â n . Chicago 1930; F o l k C u l t u r e of Y u c a t a n . Chicago 1941. — E G G A N , F R E D , O n e H u n d r e d Y e a r s of E t h n o l o g y a n d Social A n t h r o p o l o g y . I n : O n e H u n d r e d Y e a r s of A n t h r o p o l o g y . ( E d . J . C. BSEW) C a m b r i d g e , Mass. 1968, p p . 138ff. — H A R R I S , M A R V I N , T h e R i s e of A n t h r o p o l o g i c a l T h e o r y . A H i s t o r y of T h e o r i e s of C u l t u r e . N e w Y o r k 1968, p p . 192—193. — P O I R I E R , J E A N , H i s t o i r e d e l a p e n s é e e t h n o l o gique. I n : E t h n o l o g i e g é n é r a l e ( E d . JEAN POIRIER). P a r i s 1968, p . 89. Subsistence Agriculture and Economic Development. E d i t e d b y C L I F T O N , R . W H A R T O N , JR. Chicago 1969.
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Freilich ist das eine völlig romantische und ahistorische Erklärung trotz ihres historisierenden Anscheins. Nichtsdestoweniger ist sie in all jenen geschichtlichen Analysen des vorigen Jahrhunderts aufzufinden, die im Zusammenhang mit der Bauernfrage verfaßt wurden. 4 Wenn wir diesen Gedankengang ganz zu Ende denken, werden wir uns darauf besinnen müssen, daß das geschichtliche Modell des Bauernproblems nach ethischen Überlegungen entworfen wurde. Diesen Überlegungen zufolge unterscheidet sich die Dorfgemeinschaft wesentlich von der städtischen Zusammenballung der modernen Gesellschaft. I n der Dorfgemeinschaft nämlich beruhte die Zusammengehörigkeit der Menschen nicht auf Organisation, nicht auf gegenseitiger materieller Abhängigkeit der sozialen Schichten, nicht auf Gleichheit oder Ungleichheit ihrer Interessen, sondern auf Verwandtschafts- und Blutsbindungen, also den natürlichen Beziehungen ihrer Abstammung. I m Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit verwirklichen und reproduzieren sie die Einheit ihrer Gesellschaft, dieses Medium, das für die Selbstverwirklichung des Menschen mehr geeignet ist als alles andere. (Denn es ist ja ein „natürliches" Medium!) Bei der Prägung des Begriffs der Dorfgemeinschaft stand — ob in England, Deutschland oder Rußland — immer die Absicht im Vordergrund, die Eigenheiten des Dorfes und des Bauern als ursprüngliche und direkt aus der menschlichen Natur abzuleitende Eigenschaften herauszustellen. Zu dieser Zeit kümmerte man sich noch nicht viel darum, daß die angeblich charakteristischen Eigenschaften der Dorfgemeinschaft meistens bei den Bewohnern des feudalen Dorfes, überwiegend den Leibeigenen, aber nicht den eigentlichen beobachtet worden waren. Man bemerkte noch nicht, daß es sich bei diesen Zügen um charakteristische Eigenschaften einer beträchtlich großen sozialen Gruppe innerhalb der feudalen Gesellschaft handelte; und deshalb dachte man auch noch nicht daran, daß der Ursprung dieser Züge nicht in der menschlichen Natur, sondern in den Gesetzmäßigkeiten der feudalen Gesellschaft und ihrer Institutionen gefunden werden könne und müsse. Mögen sich aber die Experten des Bauernproblems aus dem vorigen Jahrhundert geirrt haben oder nicht, es ist nicht zu leugnen, daß hinter ihren Gedankengängen ein wesentliches intellektuelles Erlebnis stand: die erschütterte gesellschaftliche Stellung des Bauerntums. Sie bemerkten nämlich, daß die ökonomischen Interessen 4
Z. B. :
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der Gesamtgesellschaft die Bauern mehr und mehr von den Bedingungen ihrer Existenz, vom Boden, trennten. Es wurde für sie offenbar, daß sich die traditionelle Einheit von Produktion und Verbrauch gelöst hatte und der bäuerliche Betrieb den familiären Charakter seiner Wirtschaft und Haushaltung verlor. Immer mehr Tatsachen bewiesen, daß zwischen dem patrimonialen oder gesellschaftlichen System der Produktion einerseits und des Verbrauchs andererseits Widersprüche bestanden, und daß sie zur Katastrophe der Bauern führten. Jeder konnte sich davon überzeugen, daß die als Großbetrieb organisierte mechanische Produktion immer mehr an die Stelle der schöpferischen Handwerkerarbeit trat. An diesen Beispielen ließ sich deutlich erkennen, wie die moderne Zivilisation an die Stelle der traditionellen Gesellschaft rückte. 5 Es ist ganz klar, daß die Chronisten der Bauernfrage im vorigen Jahrhundert diesen Prozeß von kontinentalem — und später von Weltausmaß — noch nicht übersehen konnten. Zu dieser Zeit stellte man sich Geschichte im nationalen Rahmen vor, und die Illusionen der romantischen Lösung der Bauernfrage haben die nationalen Schranken dieser Auffassung nur befestigt. Nichtsdestoweniger kam diese Ideologie doch so allgemein in Mode, daß wir ihre Spuren auch im allgemeinen wissenschaftlichen Denken unserer Tage noch feststellen können. Denn schließlich schreibt man noch immer deutsche oder englische Bauerngeschichte und der Ethnograph (oder Volkskundler) beschäftigt sich z. B. mit den bei den slawischen Völkern entwickelten Zügen der Familienorganisation. Auf der anderen Seite nimmt die „pragmatische" Literatur nun fast ausschließlich die Existenz der „dritten Welt" zur Kenntnis. Darin spielt die europäische Bauernschaft keine Rolle mehr. Höchstens erscheint einmal eine Detailstudie vom Rande des Kontinents, über eine Gemeinde in Südeuropa, in Irland oder allenfalls noch in Skandinavien. Aber ihre Verfasser halten die geschichtliche Annäherung an ihre Probleme nicht für notwendig. Das hat wiederum zur Folge, daß die vielen Forschungsergebnisse, die im Laufe der historischen Behandlung der Bauernfrage entstanden sind, ungenutzt bleiben. Weder in den Teilen noch im Ganzen werden die Erfahrungen verwertet, die in Zusammenhang mit der Entstehung und Entwicklung der europäischen Gesellschaften — als geschichtliche Analyse — in verschiedenen Wissenschaftsbereichen zur Verfügung stehen. Es ist bezeichnend für die Situation, daß noch das von R O B B E T R E D F I E L D entworfene Modell zu einer Theorie der Bauerngemeinschaft in der „dritten Welt" im Grunde genommen so aussieht, wie es F E R D I N A N D T Ö N N I E S bereits vor drei Generationen schuf, der damals aber die Erfahrungen aus Untersuchungen über europäische Gesellschaften verallgemeinerte. Es ist ferner bezeichnend, daß keinerlei Schlußfolgerungen aus diesem Sachverhalt gezogen werden. Anscheinend wird auch kein Versuch unternommen, die Probleme der früheren Geschichte Europas mit denen der geschichtlichen Umwandlung in der „dritten Welt" zu verknüpfen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ein solcher Schritt in erster Linie 5
GRIGG, D . B., T h e A g r i e u l t u r a l S y s t e m s of t h e W o r l d . ALI E v o l u t i o n a r y A p p r o a c h . C a m b r i d g e 1974. p p . 152ff. — NOILHAN, HENRI, H i s t o i r e de 1'agricuJture a l'ère i n d u s t r i e l l e . P a r i s 1965, pp. 0 2 3 f f . ( L ' A g r i c u l t u r e a t r a v e r s les ages. V.) — Vgl. n o c h THOBNEB, B . , u n d K E R B L A Y , B . i n : CHAYANOV. A . V . , T h e T h e o r y o f P e a s a n t E c o n o m y .
Homewood,
JH. 1966, p p . X J — L X X V . — W e i t e r e L i t e r a t u r u. a. i n : FBAUENDOBFEB, H., I d e e n g e s e h i c b t e d e r A g r a r w i r t s c h a f t u n d A g r a r p o l i t i k . M ü n c h e n 1958, I—II.
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in solchen Gesellschaften ausgeführt werden könnte, in denen die Bauernfrage soeben gelöst wurde, wo also die Geschichte im Denken der Intellektuellen mit den Erfahrungen der selbst erlebten Ereignisse verschmilzt. Spät wurde man auf die Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände aufmerksam, also auf die künstlich geschaffene Gegenstandswelt der Bauern, die sie umgibt und die ihrer Lebensweise einen Rahmen verleiht. Viel später als auf ihre geistigen Schöpfungen, auf die Volkslieder und Volksmärchen, also auf alle diese künstlerischen Werte, die die Bauern in ihrem erzwungenen Analphabetentum schufen, und mit denen sie ihre Bildungs- und ästhetischen Bedürfnisse befriedigten. Obwohl die durch das Studium der materiellen Kultur aufgespeicherten Erfahrungen noch nicht die Schaffung eines umfassenden Gesamtbildes erlauben, ermöglichen sie doch eine Klassifizierung der von den Menschen geschaffenen Gegenstandswelt. Man kann die Gegenstände in zwei großen Gruppen unterbringen. Sie entsprechen einmal der Sphäre der Produktion und zum anderen der des Verbrauchs. Vor allem also sondern wir die Werkzeuge, Arbeits- und Produktionsmittel in der Ausstattung der Bauernwirtschaften und -haushalte aus, und zweitens unterscheiden wir davon die Gruppe der Gebrauchsgegenstände und -güter. 6 Die Verfertiger von Nachlaßinventaren haben die in den Haushaltungen auffindbaren Geräte und Güter häufig registriert und in verschiedene Gruppen eingeteilt. Ihr Ziel war natürlich nichts anderes als eine gerechte Abwicklung der Erbschaftsprozesse. Wenn wir dagegen eine Klassifikation vornehmen, weil wir theoretisch unterscheiden wollen, so müssen wir verallgemeinern. Wir müssen uns vor allem darüber klar werden, daß auch die Verbrauchsgüter in gewissem Sinne Produktionsmittel sind. Ein Pflug oder eine Hacke ist z. B. nur ein Produktionsmittel, ebenso ein Hammer, mit dem der Tischler arbeitet. Wenn aber der Bauer die Werkzeuge seiner Wirtschaft mit einem ebensolchen Hammer repariert, so können wir das Gerät in diesem Beispiel eigentlich nur als Verbrauchsmittel ansehen, obwohl die mit ihm verrichtete Arbeit im Grunde genommen der Reproduktion des Bauern dient. Ebenso sind Möbel der Wohngebäude ebenfalls Gebrauchsgüter, wenn wir ihnen auch letzten Endes — hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Nutzbarmachung — eine dem vorigen Handwerkszeug ähnliche Bestimmung zuschreiben müssen. N u n haben wir allerdings als Grundlage einer solchen Klassifikation die primären Funktionen anzusehen. Erschwert wird die Unterscheidung dadurch, daß Produktion und Verbrauch nur in den Stammesgesellschaften in Übereinstimmung sind. Die Zivilisation unterscheidet sich dagegen von ihren geschichtlichen Voraussetzungen gerade darin, daß — infolge Arbeitsteilung und entwickelter Organisation der Distribution — Widersprüche zwischen Produktion und Konsumtion bestehen. Um die Lage zu klären, müssen wir also die Werkzeuge klassifizieren. Wir könnten danach gliedern, welche Geräte in der Haushaltung des Bauern hergestellt wurden, welches Gerät oder Werkzeug die bäuerliche Hausindustrie serienmäßig hergestellt und auf den Markt gebracht hat, und schließlich, was vom Handwerker erzeugt 6
Bevorzugtes Einteilungsprinzip ist im allgemeinen die Kulturgeschichte u n d die Sprachwissenschaft. Vlg. Arbeit u n d Gerät in volkskundlicher D o k u m e n t a t i o n . Tagungsbericht der Kommission f ü r Arbeits- u n d Geräteforschung der Deutschen Gesellschaft f ü r Volksk u n d e Schleswig, 5—8. April 1967. Hrsg. von W . HANSEN. Münster 1969.
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wurde. Die materielle Kultur wäre demzufolge nach den 'Berufszweigen bzw. der in dieser Gesellschaft bestehenden Arbeitsteilung zu systematisieren. Dadurch ließe sich aufklären, unter welchen Betriebsbedingungen, d. h. auf welcher Stufe der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Produktions- oder Konsumtionsmittel hergestellt wurden. Einige — nur abstrakt entworfene — Beispiele sollen dieses Prinzip verdeutlichen: I n den Stammesgesellschaften waren es meist nur einige selten vorkommende Rohmaterialien, wie- Steine, Mineralien, Muscheln usw., auf deren Grundlage es zum Austausch von Produkten kam. Wahrscheinlich gehen die Haupthandelswege des frühen Europa auf den Salzhandel der „barbarischen" Stämme des Neolithikums zurück; und es ist nicht möglich, daß man die Lieferungen aus den mittelalterlichen Salzgruben — obwohl deren Nutzung bereits monopolisiert war — von der tausendjährigen Bahn noch immer nicht abzulenken brauchte. Ein anderes Beispiel: Nachdem man in der Laubwaldzone ein Drittel des Urwaldgebietes gerodet und in Ackerland verwandelt hatte, war das Volk der baumarmen Dörfer mit der Zeit auf die Holzgabeln, Rechen, Tröge, Löffel, kurz: auf eine Menge von Holzgeräten angewiesen, die ihre Ahnen noch selber schnitzen konnten. Aufgrund der Holzarmut bestimmter Gebiete wurden sie nun in den waldreichen Dörfern hergestellt und in der „toten" Saison der landwirtschaftlichen Arbeit in ferne Gegenden gebracht. Und schließlich: Der mit einem Radgestell zusammengeknebelte Pflug, der die Flur der mittelalterlichen Dörfer vollständig veränderte, erhielt seine zweckmäßigste Form als Ergebnis einer ziemlich verwickelten Produktionskooperation. Seine zunächst unter Tage geförderten und später in Hammerwerken bearbeiteten Eisenteile erhielten ihre letzte Form in der Schmiede. Das Radgestell des Pfluges wurde vom Wagner hergestellt — und zwar mit Hilfe solcher Methoden und Geräte, die zu den Erfindungen des Frühmittelalters gehören. Der Pflug selbst wurde nach wie vor von einem Bauern mit geübter Hand in einer 1000 Jahre alten Zimmermannstechnik geschnitzt. Auch die bäuerliche Hausindustrie in waldreichen Gebieten produzierte Pflüge im Umkreis des Marktes, aber die Eisenteile und das Radgestell wurden an der Gebrauchsstelle in der Werkstätte eines Handwerkers hergestellt. Mit diesem relativ arbeitsteiligen Produktionsprozeß kann man die Herstellung der Festtracht entsprechend den in den letzten Jahrhunderten verbreiteten Moden vergleichen. Mit ihren in Fabriken oder Manufakturen erzeugten Textilien, den Borten, der Verschnürung, mit den von Metallarbeitern hergestellten Knöpfen und schließlich mit dem Nähen des ganzen Kleides in der Schneiderwerkstätte ist sie sogar Beispiel für eine noch beträchtlich verwickeitere Organisation der gesellschaftlichen Produktion. Freilich zeichnet sich dadurch nicht nur die Organisation der Produktion ab, sondern — im Zusammenhang mit der Analyse der Produkte — auch der Verwertungsprozeß, als dessen Ergebnis der Bauer Verbraucher des Produkts wird. Es stellt sich also gleichzeitig heraus, welche Beziehungen zwischen der Bauernwirtschaft (und dem Bauernhaushalt) und den Betrieben bestehen, die ihre Verbrauchsgegenstände, ihre Ausstattung herstellen — und die nahezu die ganze Organisation der gesellschaftlichen Arbeitsteilung einschließen. Das ideale Verfahren wäre natürlich, wenn wir einzelne Haushalte analysieren könnten, wenn wir imstande wären, die Methoden der Statistik in Anwendung zu bringen und mit ihrer Hilfe di^ objektivierten geschichtlichen Unterschiede der einzelnen 2 Jahrbuch des Museums für Völkerkunde, Bd. XXXIII
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Haushaltungen zu demonstrieren. Wenn man Angaben über die in verschiedenen Zeitaltern arbeitenden Wirtschaften nebeneinander stellen könnte! Aber leider, solche Untersuchungen sind nicht durchzuführen, weil die Quellenlage das unmöglich macht. Wir müssen uns damit zufrieden geben, hypothetische Modelle zu schaffen und sie miteinander zu vergleichen. In Verbindung damit müssen wir von einigen Annahmen ausgehen: Die erste steht mit der absoluten Chronologie der Landwirtschaft in Zusammenhang. Die Geschichte des Pflanzenanbaus und der Viehzucht ist annähernd 10000 Jahre alt; das sind ungefähr 2—3% des Zeitraumes, in dem der Mensch auf unserem Planeten eine aktive Rolle spielte. Diese an sich kurze Zeit ist in jeder Hinsicht als Prüfstein der Anpassungsfähigkeit des Menschen zu bezeichnen; Bodenbau und Viehzucht konnten zwar nicht in allen Regionen unserer Erde Fuß fassen — so daß große Flächen ungenutzt blieben —, aber die Spuren einer agrarischen Bewirtschaftung sind, mit Ausnahme der Polarzone, doch in fast allen Klimagebieten nachweisbar. Das bedeutet aber, daß sich der Mensch an sehr verschiedene ökologische Gegebenheiten anpassen mußte. Dementsprechend lassen sich verschiedene Typen der Landwirtschaft (mehr oder weniger ursprünglichen Charakters) unterscheiden, und diese Typen charakterisieren eigentlich bis zum heutigen Tag die spezifischen Gegebenheiten des Anbaus in den landwirtschaftlichen Zonen unserer Erde. Die andere Bemerkung steht mit den in der Landwirtschaft verwendeten „Energiequellen11 in Verbindung. Die meisten Arbeitsprozesse werden von Menschen verrichtet; die landwirtschaftliche Arbeit ist ursprünglich Handarbeit. Weil aber die Bodenbearbeitung seit ungefähr 5000 Jahren zum Teil durch das Zugvieh (meistens das Rind) verrichtet wurde, konnte das Gebiet der landwirtschaftlichen Kultivierung beträchtlich ausgedehnt werden. Allerdings erreichte diese Form der Anwendung von „Energie" nur einen Teil aller landwirtschaftlich erschlossenen Gebiete. Sie gelangte längst nicht an die Grenzen, die der mit Hacke und Grabstock arbeitende Mensch einst gezogen hatte — obwohl die europäische Kolonisierung in den letzten drei Jahrhunderten beträchtliche Territorien hinzueroberte. Es ist nicht unmöglich, daß eine Chronik der Wirtschaftsgeschichte dieser 10000 Jahre für jeden Kontinent ein Kapitel vom gleichen Umfang erfordern würde. Die in den letzten Jahrzehnten intensiver gewordene Untersuchung der Funde aus Südwestasien hat uns zwar davon überzeugt, daß sich der Anbau der Gramineen — also der Nutzpflanzen mit dem kleinsten Ertrag — im Laufe von etwa drei Jahrtausenden mit der Haltung einiger Nutztiere (in erster Linie Schaf, Ziege und Rind) verband. Aber das auf diese Weise zustande gekommene Modell der Wirtschaft bedeutete doch noch keine wirtschaftliche Verbindung von Ackerbau und Viehzucht. Andererseits führten die hier erzielten Erfolge zur weiteren Verbreitung der Landwirtschaft. Sie fand Eingang in Europa, in Nordafrika, später entlang der einstigen Flußtäler der Sahara auch in Westafrika; sie drang durch das Niltal nach Süden (in Richtung auf die östlichen Küsten) vor, gelangte ferner in den indischen Subkontinent, in den Fernen Osten, — vor allem in die Flußtäler Chinas — und durch Südostasien auch nach Ozeanien. Andererseits kam es zu einer „Interferenz" durch die Ausbreitung von Nutzpflanzen aus den lokalen Domestikations-Zentren. Nicht überall können wir diese in zwei Richtungen verlaufenden geschichtlichen Bewegungen deutlich auseinanderhalten.
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Jedenfalls kann es als sicher gelten, daß sich dieser Prozeß ausschließlich zwischen dem fünften und dem ersten Jahrtausend v. u. Z. abgespielt hat und damit so gut wie vollständig außerhalb des Gesichtskreises der Geschichtsschreibung der Zivilisation liegt. Andererseits können wir auch darüber keine Zweifel hegen, daß es infolge dieses Prozesses in einigen Gebieten — vor allem in den Flußtälern mit Schwemmböden — zu ziemlich großen Bevölkerungskonzentrationen gekommen ist. Es kann wohl als sicher angenommen werden, daß diese Diffusion, die als mehr oder weniger kontinuierlicher Prozeß Eurasien und Afrika erfaßte und eine eigentümliche Fortsetzung in Ozeaniens Inselwelt erfuhr, nicht mit der Kultivierung von Nutzpflanzen in Mittel- und Südamerika zusammenhängt. Mit einem absoluten Zeitmaß gemessen, reicht die Entwicklung in Amerika nicht in so tiefe Schichten zurück wie in der „Alten Welt". Insgesamt kann man mit etwa siebentausend Jahren rechnen, obwohl viele nicht kontrollierbare Hypothesen die Beurteilung erschweren. Der wirtschaftliche Fortschritt in der „Neuen Welt" unterschied sich von den auf der anderen Hälfte der Erde erreichten Erfolgen vor allem dadurch, daß er sich nicht gleichzeitig auf eine entwickelte Viehzucht stützen konnte und dadurch die Möglichkeit ausschloß, die Feldwirtschaft voll auszunutzen. Ob wir die Kartoffelknollen, ob wir die Maiskolben betrachten — diese Pflanzen versprachen einen viel höheren Ertrag als die altweltlichen Getreidepflanzen, und es scheint, daß sie eine ausreichende Grundlage bildeten, um die Menschen vom Hunger zu befreien, ja sogar, um — in bestimmten Gebieten — die demographische Revolution möglich zu machen. Es scheint also, daß die Entstehung und die traditionelle Entwicklung der Landwirtschaft Alternativen für den gesellschaftlichen Fortschritt anbot. Die Menschen folgten verschiedenen Richtungen, indem sie mit ihrer Arbeit unterschiedliche Lebensformen und Kulturen ausbildeten. Unter ihnen wurde die auf dem Anbau der Getreidepflanzen und auf der Zucht von Schaf, Ziege und Rind beruhende Wirtschaft der wichtigste Zweig, die Entwicklungsrichtung, die vom Nahen Osten nach Europa führte und — am Berührungspunkt dieser beiden Großregionen — das Gebäude der antiken Zivilisation materiell begründete. Es ist interessant, daß die im ersten Jahrtausend v. u. Z. erfolgten Veränderungen auf dem Gebiet der Landwirtschaft, der Ausrüstung und Ausstattung der Bauernwirtschaften und bäuerlichen Haushalte eine bis heute wirkende Spur hinterlassen haben, daß sich im Altertum grundlegende technologische und ökonomische Entwicklungen vollzogen, die die Bevölkerung des Kontinents bis heute im wesentlichen unverändert bewahrt hat. Wenn wir die Instrumente und Methoden der Bodenbearbeitung ins Auge fassen, ist nicht zu übersehen, daß die symmetrischen (meistens mit Sohle versehenen) Pflüge, die Hacken und zum Teil auch die Spaten ihre Gestalt nicht nur im Mittelmeergebiet, sondern auch in großen Teilen des Balkans und im Gebiet des Pontus nördlich vom Schwarzen Meer zwei Jahrtausende hindurch bewahrt haben. 7 7
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H A U D B I C O U B T , A . G . , D E L M A B B E , M. J . - B B . , L ' h o m m e et la charrue a travers le monde. Paris 1955, pp. 25ff. — P O D W I N S K A , Z., Technika uprawy roli w Polsce sredniewiecznejWroclaw-Warszawa-Krakow 1962, pp. 4 5 f f . — H E N S E L , W., Die Slawen im frühen Mittelalter. Berlin 1965, pp. 2—95. — B A L A S S A , I . , A Z eke és szântâs törtenete Magyarorszâgon. Budapest 1973, pp. 56—167.
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Die beim Ernten des Getreides verwendeten Sicheln (und kurzen Sensen), die als archäologische Funde geborgen wurden, zeigen eine annähernd gleiche Leistung wie Exemplare, die in ethnographischen Sammlungen enthalten sind. Eine Anbauerfahrung von ungefähr zwei Jahrtausenden hat ihren Gebrauch in der Waldregion von Osteuropa standardisiert. Die Methoden des Drusches des geernteten Getreides in Südeuropa und der Pontischen Ebene weisen uns in eine noch fernere Vergangenheit zurück. Sie sind ältere Belege für technologische Impulse, die vom Nahen Osten ausgingen, mit deren Hilfe man dort die Nahrungsmittelreserven für die explosionsartige Bevölkerungsentwicklung der Bronzezeit geschaffen hat. Gleichzeitig sind die Dreschschlitten und die Dreschwalzen — für den Erforscher der Geschichte der Technik — beredte Beispiele für die Unterschiede im technologischen Fortschritt der Industrie und der Landwirtschaft. Diese Geräte haben nämlich schon vor ungefähr fünf Jahrtausenden die relative Zurückgebliebenheit der Landwirtschaft in Europa erwiesen. Denn die Hersteller der Dreschschlitten fügten mit Steinklingen besetzte Bretterplanken zusammen, als bereits eine Bronze-Industrie im Entstehen war. Anderswo koppelte man Steinwalzen zusammen und schuf auf diese Weise Dreschkarren, die von Rindern oder Eseln geschleppt wurden. Auch die Römer waren sich über den orientalischen Ursprung dieser Geräte im klaren. Sie nannten sie plostellum punicum, d. h. den „Karren der Punier". 8 Ein weiterer Beleg für diese Unterschiede einerseits, das Beharrungsvermögen andererseits ist, daß unsere ackerbauenden Ahnen mit den erwähnten Geräten und Methoden ihr tägliches Brot auch in solchen Regionen erzeugt haben, wo das Klima, die Vegetation und die ökologischen Gegebenheiten des Bodens von den Bedingungen in den Gebieten des Entstehens und der ursprünglichen Verwendung dieser Erfindungen vollständig abweichen. Denn während das südliche Europa für die Weiterführung der orientalischen Traditionen verhältnismäßig günstige Bedingungen bietet und die Naturbedingungen die Adaptation der Ökonomie des Nahen Ostens einigermaßen erleichtern, erinnert die Taiga von Ost- und Nordeuropa in keiner Weise an den sonnigen Süden. Die Instrumente der Landwirtschaft zeigen nichtsdestoweniger eine auffallende Übereinstimmung mit den im Süden vorkommenden, die auch nicht mit dem südeuropäischen Ursprung der Bevölkerung erklärt werden kann. W i r müssen die Lösung anderswo suchen. Es scheint, die Übereinstimmungen beweisen letzten Endes die außerordentliche Flexibilität der ackerbauenden Menschen, die Anpassungsfähigkeit, die vielleicht eine der hauptsächlichsten Voraussetzungen für den Fortbestand unserer Spezies war. Wenn man z. B. in der Geschichte des Gemüse- und Obstanbaus nach Übereinstimmungen und Parallelerscheinungen sucht, wird man bald feststellen, daß es in der östlichen und nördlichen Waldzone einerseits und der südlichen Küstenlandschaft andererseits Unterschiede gab, obwohl sich die wichtigsten landwirtschaftlichen Produktionsmethoden und -geräte in beiden Regionen kaum voneinander unterschieden. Beträchtlich sind die Unterschiede auch in der Viehzucht. Vielleicht sind sie es deswegen, weil der Ackerbau im Süden mehr auf der Kultivierung von Gartenpflanzen (Obst, Wein) beruhte, während der Getreideanbau eine untergeordnete Rolle spielte. Dementsprechend bevorzugte man Hülsenfrüchte und Halmfrüchte mit kurzer Vegetationsdauer. Man hielt eher Ziege und Schaf als Rind und (das später akklimatisierte) Pferd. Dieses Viehzuchtsystem kann seinen eigentümlichen Charakter dem Umstand 8
TROTZIG, D., Slagan och andra tröskredskap. Stockholm 1943.
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verdanken, daß es im Süden nie gelang, den — auf der Gartenkultur beruhenden — Feldbau mit der Viehzucht zu verknüpfen. Demzufolge war es auch nicht erforderlich, die Futtergrundlage in der Nachbarschaft der Siedlungen herzustellen. Dieser Umstand mag in der Geschichte der Transhumance wenigstens ebenso entscheidend gewesen sein wie die orographischen Gegebenheiten. Bestimmend war außerdem der Umstand, daß es schon im Altertum Städte in den Agrarregionen Südeuropas gab, die u. a. auch Märkte für Gartengewächse und Obst oder für Wolle, Milchprodukte und Fleisch waren. I n der Zone der Nadelwälder dagegen, wo sich die Landwirtschaft nur durch die ununterbrochene Zerstörung der ursprünglichen Pflanzendecke, also mit Hilfe einer durchaus extensiven Raubwirtschaft erhalten konnte, mußte man/ die Viehzucht zwangsweise auf Futterwirtschaft gründen. Auf den Lichtungen der Wälder Osteuropas und in den durch Rodung entstandenen Agrarlandschaften West- und Mitteleuropas weideten Rinder und Pferde. Fast drei bis vier Jahrtausende hindurch bildeten die Urwaldgebiete ein schwer zu überwindendes Hindernis für alle technischen Experimente und Verbesserungen, keinesfalls ein begünstigendes, den gesellschaftlichen Fortschritt und den ökonomischen Wohlstand förderndes Medium. Daher rührt der merkwürdige, individuelle Charakter der hier verwendeten Agrar- und Zootechnik und die Isoliertheit der Wirtschaften. Die ursprüngliche Agrikultur der Laubwaldzone weist also — wenn wir die Gesamtheit der hier verwendeten Methoden und Erfahrungen betrachten — viel mehr eigentümliche Züge auf als die der früher charakterisierten Erdgebiete. 9 Dies zeugt jedenfalls von lokaler Entwicklung, davon, daß auch eigene Initiativen und Impulse den gesellschaftlichen Mechanismus von Entdeckung und Erfindung in Bewegung setzten. I m Früh- und Hochmittelalter bereicherten die Völker des atlantischen Europa die Bereiche der mechanischen Technologie, der Biochemie und der angewandten Biologie mit neuen Entdeckungen. Anfänge sind schon gegen Ende der prähistorischen Zeit — größtenteils noch im 1. J t . v. u. Z. — nachweisbar, zu einer Zeit also, da sich die eisenzeitliche Anbaukultur im südlichen und östlichen Streifen des Kontinents stabilisierte. Demgegenüber setzten sich Neuerungen in der Bewirtschaftung in West- und Mitteleuropa durch, die zunächst keineswegs spektakulär erscheinen, deren Auswirkungen aber nichtsdestoweniger anderthalb Jahrtausende hindurch spürbar geblieben sind. Vor allem veränderte sich die Technologie der Bodenbestellung. Mehr und mehr ging man dazu über, den Boden mit schweren, asymmetrischen Pflügen aufzubrechen. Man erkannte, daß man durch Aufreißen der Furchen überflüssige Bodenfeuchtigkeit verdunsten kann, die — zusammen mit den urtümlichen Geräten — im atlantischen Europa fast zwei Jahrtausende hindurch das schwerste Hindernis für eine einträgliche Bewirtschaftung bildete. Um eine reiche Ernte zu erhalten, pflügte man den Boden mehrmals, nicht selten wurde er auch als Weide verwendet. Das weist darauf hin, daß die Kulturregion noch eine kleine Insel im Ozean des Waldes bildete. Andererseits entstanden aus diesem Notstand auch gewisse Vorteile. 9
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Die intensive Kultivierung, die Verknüpfung von Viehzucht und Ackerbau waren Errungensehaften, die der Wirtschaft des Dorfes im regenreichen Westeuropa ein gleichmäßiges Wachstum sicherten. Obwohl es also gelang, die Bewirtschaftung zu stabilisieren, konnte der Hungerzustand nicht völlig überwunden werden. Aber es standen bestimmt mehr Kalorien zur Verfügung als früher, was sowohl einen Anstieg des Lebensniveaus als auch eine Bevölkerungsvermehrung zur Folge hatte. 1 0 Wir können als sicher annehmen, daß die dadurch erreichte Zunahme an lebendiger Arbeit ein mindestens ebenso bedeutender Faktor war wie die verbesserte Technik. Wir müssen aber nicht glauben, daß die Bauern in der Laubwald-Region nicht mehr über bedeutsame Reserven an urbarem Land verfügten. Das Zusammenspiel aller vorhandenen Umstände führte zu der Entdeckung, daß die von den Kulturpflanzen dem Boden entzogene Nährkraft zurückgewonnen werden kann, wenn der Acker von Zeit zu Zeit brach liegt und als Weide genutzt wird und wenn man eine zweckmäßige Fruchtwechselfolge anwendet. 1 1 Die als ein System funktionierende Gesamtheit aller dieser Leistungen war in anderen Gegenden des Kontinents vollständig unbekannt, und auch im atlantischen Europa hatte sie noch nach Einführung der eisenzeitlichen Technologie beinahe ein Jahrtausend auf sich warten lassen. Anfangs fehlten die Betriebsbedingungen. Erst seit der Karolingerzeit gelang es, die bis dahin fehlenden Bedingungen, den Betrieb von optimalem Ausmaß, zu sichern. Es ist sehr wesentlich, daß diese Veränderung keine technologische, sondern eine betriebsorganisatorische und gesellschaftliche Neuerung war, und ferner, daß das hier angewandte System mit der bäuerlichen Bewirtschaftung ursprünglich nichts zu tun hatte. Später aber wurde dieses Beispiel zur Grundlage für die Organisation der Produktion des Leibeigenendorfes. Alle Anzeichen weisen darauf hin, daß es auf Initiative der Grundherren in den Leibeigenendörfern eingeführt worden ist. Indem die zunächst nur auf den Gutsherrschaften erprobten Produktionsmethoden und Regulative auch bei der Bewirtschaftung des Bodens in den Dörfern Eingang fanden, wurde auch die mehr oder weniger unorganisierte bäuerliche Wirtschaft in ein ziemlich einheitliches System gebracht. Dieser Prozeß bestimmte im wesentlichen die Geschichte West- und Mitteleuropas vom 10. bis 15. J h . Aber in der Zone der Nadelwälder kam es nicht zu diesen Veränderungen. Sobald der Boden erschöpft war und die Ernten abnahmen, wurde erneut Wald gerodet. Da die natürliche Vegetation eine jede verlassene Parzelle schnell wieder bedeckte, wurde die Gewinnung neuen Ackerbodens zu einer fast ständigen Aufgabe. Auf diese Weise wurde die zur Verfügung stehende Arbeitskraft sehr konzentriert für Arbeiten eingesetzt, die nicht dem Anbau selbst, sondern der Schaffung von Vorbedingungen für den Anbau dienten. Das Bestreben, die mit Axt und Feuer abgeholzten Lichtungen in Ackerland zu verwandeln, hat letzten Endes eine extensive Raubwirtschaft zur Folge gehabt. Man verschwendete das Holz, und auch die menschliche Arbeitskraft konnte nicht effektiv genutzt werden. Ein solches extensives System konnte nur bestehen, weil bebaubares Land in Überfluß vorhanden war und der Wald noch das Vielfache des Kulturlandes bedeckte, 12 so daß die Landwirtschaft über sehr große Reserven ver10
VAN BATH, S., The Agrarian History of Western Europe. London 1963,pp. 54—76. " OKWIN, C. S., Open Fields. Oxford 1954 (2nd edition). " SIGAUT, F., L'agriculture et le feu. Paris-La Haye 1975, pp. 18ff. - DARBY, H. C., The Clearing of the Woodland in Europe. In: Man's Role in Changing the Face of the Earth.
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fügte. Erst gegen Ende des 1. Jahrtausends u. Z. (als bebaute und unbebaute Gebiete in annähernd gleichem Verhältnis standen) erzwang der Mangel an unerschlossenen Landreserven eine Stabilisierung der Landwirtschaft und eröffnete dadurch auch neue Perspektiven für die Gesellschaft. Als primäre Ursache dieser Veränderungen können agrotechnische Neuerungen (in erster Linie bei der Kultivierung des Bodens) genannt werden, auch mag der mehr als ausreichend vorhandene Niederschlag eine Rolle gespielt haben. So verdrängte also das Kulturland die ursprüngliche Vegetation im atlantischen und später auch im mittleren Europa, und schon im Mittelalter kam es auf den nährstoffarmen ehemaligen Ackerböden nur selten zu erneuter Bewaldung. Grundlage der Viehzucht wurde darum im Westen (später auch in anderen Gebieten), wo „die offenen Felder" (d. h. die Gewannen) die charakteristische Wirtschaftsfläche geworden waren, ebenfalls der ausgerodete Wald, also der Acker oder die Wiese. Der Futterbedarf einerseits und die Intensivierung der Landbestellung andererseits führten eine Form der Wirtschaft herbei, durch die Viehzucht mit Pflanzenbau enger verknüpft wurde als in jeder anderen Kombination. Andererseits förderte die intensive Kultivierung die Pflege von Polykulturen, die Einhaltung zweckmäßiger Fruchtfolgen und das Experimentieren zur Erlangung einer großen Fruchtbarkeit des Bodens. 13 Obgleich diese Veränderungen keineswegs rasch aufeinander folgten, legte ihre langsame Akkumulation schließlich den Grund zur feudalen Wirtschaft. Diese Agrarrevolution schuf die Funktionsbasis für die auf dem Dorf und den Leistungen des Bauern beruhende gesellschaftlich-wirtschaftliche Formation. Diese Basis unterschied sich in jeder Hinsicht von den — ebenfalls auf den Agrarleistungen beruhenden — gesellschaftlichen Strukturen'anderer Teile des Kontinents. Das feudale Dorf reproduzierte sich ohne Zweifel selbst. Es erweiterte seine Substanz auch; denn es erwies sich als so expansiv, daß es während des 13.—15. Jhs. in beträchtlichen Teilen von Ost-Mitteleuropa den Feudalismus stärkte, der sich vorher nur auf das sporadisch bestehende gutsherrliche Betriebsnetz, die königliche Verwaltung und das Steuersystem der Städte stützte. Seine ursprüngliche Organisation, das Dorf, war zwar ein ziemlich konservatives, geschlossenes System, doch sorgten die anfangs noch beträchtlichen Unterschiede zwischen den Leistungen der Dörfer für einen gewissen Ausgleich. Die selbstregelnde Fähigkeit seiner Wirtschaft war für das Funktionieren des Dorfes entscheidend. Die konservative Gleichmacherei beendete den kontinuierlichen Hungerzustand und beeinflußte wirksam die Bevölkerungszunahme. Das Dorf wurde mit seiner Reproduktion auf erweiterter Stufenfolge zur demographischen Grundlage der feudalen Gesellschaft. Seine starre und eigensinnige Anhänglichkeit an Gewohnheiten, Traditionen und Regeln, also die vollständige Unfähigkeit, seinen Rahmen zu erweitern, förderte notwendigerweise das Wegströmen des darin entstandenen Bevölkerungsüberflusses — und damit die Ausdehnung des Systems selbst. Die in die Städte und vor allem in neu zu erschließende Gebiet e auswandernden Bauern sicherten die allmähli( E d . THOMAS JB., W . L., C h i c a g o 1956, p p . 1 8 3 - 2 1 6 ) . - SMITH, R . E . F . , T h e origins of f a r m i n g in R u s s i a . P a r i s - L a H a y e 1959, p p . 51—72, 121—138. — KRASHOV, JTJ. A . , R a n 43
nee zemledelie i zivotnovodstvo v lesnoj polose vostocnoj Evropy. Moskva 1971. EVANS, E. E., The Ecology of Peasant Life in Western Europe. In: Man's Role . . ., pp. 217—239. — PFEIFER, G., The Quality of Peasant Living in Central Europe. In: Man's Role . . ., pp. 240—277. — ANDREAE, B., Betiiebsformen in der Landwirtschaft. Stuttg a r t 1964, p p . 8 4 - 1 3 3 .
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che Verbreitung des auf den Leistungen des Dorfes beruhenden gesellschaftlichen Systems, des Feudalismus, die Ausbreitung bestimmter Techniken und Fachkenntnisse.14 Sämtliche epochemachenden Veränderungen sind Leistungen der bäuerlichen Wirtschaft. 15 W i r geraten aber in eine schwierige Lage, wenn wir die Ursache des technologischen Fortschritts und der Produktionssteigerung darin sehen wollen, daß die Form der Geräte vollkommener, die objektivierten, versachlichten Faktoren der Produktivkräfte zweckmäßiger wurden. W i r sind uns ferner darüber im klaren, daß die ethnische Herkunft oder die kulturellen Verbindungen der die Geräte gebrauchenden oder herstellenden Menschen keine Erklärung liefern können, so daß auch die Hoffnungen der kulturhistorisch orientierten Ethnographen unerfüllt bleiben müssen. Die Veränderungen in den genannten zwei Jahrtausenden wurden nämlich nicht durch wesentliche Unterschiede zwischen den Variantender Geräte und Instrumente hervorgerufen — und ebensowenig durch die ethnische Herkunft und die kulturellen Beziehungen der sie erschaffenden Menschen. Die Schwierigkeit der Lösung des Problems steckt eben in der Auffindung der Zusammenhänge zwischen Technologie, sozialen Einrichtungen und Interessen, die den Handlungen der Menschen zugrunde liegen. Nun ist aber charakteristisch, daß die überwiegende Mehrzahl der für die Wirtschaft nötigen Geräte überall aus Holz hergestellt wurde, und zwar größtenteils im Rahmen der bäuerlichen Hausindustrie, in der winterlichen, der für die landwirtschaftlichen Arbeiten „toten" Saison. Die Aufeinanderfolge der Generationen standardisierte die bei der Herstellung angewandte Technologie, und es scheint sehr wahrscheinlich, daß die Mehrzahl der Methoden viel älter ist als die geschichtlich bekannten Leistungen der mittelalterlichen Bauern. Die Entwicklungen reichen weit in die Gesellschaften der Eisenzeit zurück, in das Medium, das wir letzten Endes als den Ausgangspunkt der bäuerlichen und zivilisatorischen Alternativen in der europäischen Geschichte bezeichnen. Indem diese Gesellschaften auf billige Weise Eisenerz erlangen konnten, haben sie außerordentlich bedeutsame wirtschaftliche Neuerungen eingeführt. Das Instrumenteninventar wurde nun durch Eisenbestandteile ergänzt. Randbeschlagene Holzspaten, Pflugscharen, Pflugmesser, hie und da die wieder zu schärfende Schneidfläche der Sensen, Eisengabeln und Hacken bedeuteten historische Neuerungen, durch die die Wirksamkeit des Geräteinventars beträchtlich gesteigert wurde. Mit diesen Verbesserungen mußten sich allerdings die Landwirtschaft und die bäuerliche Haushaltung zufriedengeben. Die Zahl der mit Eisenteilen versehenen Geräte hat sich nicht mehr wesentlich erweitert, und während des ganzen Mittelalters wurden in den Millionen von dörflichen Wirtschaften unseres Kontinents auch keine neuen Produktionsinstrumente entwickelt. Auch daran änderte sich nichts, daß der Handwerker (mei14
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ABEL, W., Deutsche Agrargeschichte. I I . Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1962, pp. 26-33. - DTTBY, G., Histoire de la France rurale. I I . : LA ROY LADUEIE, E., L'âge classique des paysans. Paris 1975, pp. 108ff. — BRAUDEL, F., Civilisation matérielle et capitalisme. Paris 1967. I, 74-76. JONAS, W. (Hrsg.), Die Produktivkräfte in der Geschichte. 1. Berlin 1969. P A B A I N , O . , The Evolution of Agricultural Technique. In: The Cambridge Economic History. Cambridge 1942. I, pp. 118—168. — HIELSCHER, K., Fragen zu den Arbeitsgeräten der Bauern im Mittelalter. ZAA. 1969, pp. 6—43. — SCHWARZ, D. W . H., Sachgüter und Lebensformen. Einführung in die materielle Kulturgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Berlin 1970, pp. 129-180.
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stens der Schmied) lediglich einen Bestandteil des Gerätes herstellte, während sich die Zusammenstellung des E n d p r o d u k t s weiterhin in der Wirtschaft des Bauern vollzog. Wir könnten die Beispiele noch weiter vermehren, doch wird das k a u m notwendig sein. Das Gesagte beweist zur Genüge die Feststellung, daß wir den Problemen weder durch eine Analyse der Formenwelt der materiellen K u l t u r noch der kartographischen Erfassung ihrer regionalen Verschiedenheiten näher kommen. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit vielmehr darauf lenken, wie sich das grundlegende Instrumenteninvent a r durch solche Requisiten ergänzte, die von Handwerkern erfunden wurden und die somit auf die lebhafter werdenden Verbindungen der Bauernwirtschaft bzw. des Dorfhandwerks ein Licht werfen. Denn die Karren, Wagen und Kutschen, die verschiedenen Geräte der Bespannung, die Mechanismen zur Bearbeitung von Lebensmitteln (z. B. Ölpressen, Weinpressen) oder die Wannen, die Fässer, die Steinbecken u n d andere Sachen weisen weit über den Kreis der Bauern Wirtschaft hinaus. 1 6 E s ist bemerkenswert, wie f r ü h das Instrumentarium der landwirtschaftlichen Technologie den H ö h e p u n k t an Zweckmäßigkeit der Form erreicht hat (nämlich bestimmt schon im Frühmittelalter) und wie schwer industrielle Erfindungen Eingang im bäuerlichen Sektor fanden. E s genügt, in irgendeinem Band der Hausväter-Literatur des 17. J h s . zu blättern, u m zu sehen, in wie hohem Maße das Handwerksprodukt noch immer Gegenstand des Experimentierens ist. Selbst einer so gemeinnützigen Erfindung wie dem Trittwebstuhl war ein ziemlich mäßiger Erfolg beschieden. E r wurde aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst in der mit Recht b e r ü h m t e n städtischen Tuchindustrie des mittelalterlichen Westeuropa angewendet. Die neue Maschine h a t die Arbeitsintensität offensichtlich erhöht, denn sie funktionierte ja, indem sie gleichzeitig H ä n d e und Füße des Arbeitenden beanspruchte. Dieses Tempo war aber f ü r die Bauern nicht erforderlich. Obwohl dieser Mechanismus (theoretisch) auch in den Bauernwirtschaften anwendbar gewesen wäre, konnte sich die Maschine in den letzten 500 J a h r e n nicht einmal über die H ä l f t e des Kontinents ausbreiten. 1 7 Andererseits konnte aber in allen Bauernwirtschaften, wo dieses Instrument bereits Anwendung fand (und mit ihm andere, ebenfalls von den Manufakturen stammende Erfindungen, wie z. B. Rocken und Spinnrad), das traditionelle Gleichgewicht der Wirtschaft nicht mehr erhalten werden. Die Arbeitsgänge des Spinnens und Webens verrichtete m a n nicht mehr unter dem Zwang der Selbstversorgung, sondern in der Hoffnung, die P r o d u k t e umsetzen zu können. Die Erfordernisse der effektiveren Technologie lösten die jahrtausendealte bäuerliche Autarkie direkt im Interesse der Erreichung dieses Zieles ab. Schließlich ist ja das Hausgewerbe eine Industrie u n d nicht bloß ein die elementaren Bedürfnisse einer Familie deckender Zeitvertreib. Die praktischen Maschinen konnten in erster Linie dort eingesetzt werden, wo während der Wintersaison regelmäßig viel Zeit zur Verfügung stand. D a m a n sie aber dort anwendete, wo die Zeit zum ökonomischen F a k t o r geworden war, in der bäuerlichen Hausindustrie, konnte sich die Wirtschaft — durch die sich ständig vermehrenden P r o d u k t e — in den Mechanismus des Marktes einschalten. Die hergestellten Waren konnten die Einkommenslücken der bäuerlichen Haushalte zeitweilig schließen. Die 16
BERG, Gr., Sledges and Wheeled Vehicles. Stockholm 1935. — DION, F., Histoire de la
vigne et du vin en France des origins au XIX e siecle. Paris 1959, pp. 95ff. PUTSCHKE, W., Sachtypologie der Landfahrzeuge. Berlin, New York 1971. 17
DERBY, T . K./WILLIAMS, T . I . , A S h o r t H i s t o r y of T e c h n o l o g y . O x f o r d 1 9 6 0 , p p . 9 6 f f .
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Wirtschaft war wieder rentabel geworden; die durch die ungünstigen Produktionsbedingungen und durch die Agrikultur der zerstückelten Parzellen verursachten Nachteile wurden ausgeglichen. Damit fiel ein bis dahin bestehendes Hemmnis des Fortschritts weg. Diese Veränderung hat in der Kulturgeschichte die Neugestaltung der Mode und der Bedürfnisse ermöglicht. Die die städtische Technologie adaptierende bäuerliche Hausindustrie erschien nämlich mit solchen Produkten auf dem Markt, die den Produkten der städtischen Industrie nachgeahmt waren. Damit nährten sie — gewollt oder ungewollt — die historische Illusion (auch bei den Verbrauchern), daß durch die Mode auch die Unterschiede zwischen Stadt und Land nach und nach verringert würden. Dieses Problem führt uns notwendigerweise von dem Gebiet der direkt produzierenden und konsumierenden Gesellschaft in die vielfältige, verwickelte Welt des Marktmechanismus. Hier wurden das Leben und die Konsumtionssitten der Bauern durch neue Gesetze geregelt. Die Schwierigkeit der Untersuchung liegt darin, daß es nicht leicht ist, festzustellen, wie sich diese Gebräuche (qualitativ und quantitativ) veränderten. Eine augenscheinliche Änderung ist vor allem bei den Bauernhäusern zu beobachten, obwohl wir durch die Architekturgeschichte zu der Annahme geführt werden, daß die Wohnungen der Agrarbevölkerung des Kontinents nicht nach einheitlichen Bauprinzipien gestaltet wurden. So können die Zeichen der epochemachenden Umwandlungen auch nicht überall als Polgen der gleichen Ursachen entdeckt werden. Die Dorfarchitektur konnte sich nie von den Bedingungen ihrer Umgebung unabhängig machen. Was die Baumaterialien betrifft, waren die Gebräuche bereits im neolithischen Europa unterschiedlich, 18 und die so entstandenen Grenzen haben sich bis zur Industrialisierung in unserer Epoche kaum verändert. Auch die übrigen Eigenschaften der Gebäude wurden weitgehend durch den Konservativismus der Notwendigkeit bestimmt. Das Baumaterial bestimmte die statische Beschaffenheit der Häuser, die architektonische Struktur und die Schönheit ihrer Formen, die das Interesse der modernen Baukünstler mit Recht erregt hat. Der so erzwungene Materialismus war die Ursache, daß die Dorfarchitektur als konkreter Beweis für die Anpassungsfähigkeit des Menschen zu erfassen ist, trotz aller Unterschiede des Grundrisses und der unterschiedlichen Dimensionen der Gebäude. Somit wird die Aufmerksamkeit erneut auf die Gesetze der Bewirtschaftung des Betriebes bzw. des Bauernhaushalts gelenkt. Es scheint, als ob die Dorfgebäude ursprünglich Zubehör dieses Verbrauchsmechanismus gewesen sind, an dem man klar erkennen kann, wie der Mensch seine ökologische Umgebung eroberte. Waren im Mittelmeergebiet Steine als Baumaterial beliebt, so erwies sich in der Zone der Laubwälder die Bauweise mit Balkenfachwerk als ökonomischste Form. Für den Osten und Norden war die Blockbautechnik typisch, und in den Steppen Südosteuropas wurden häufig Grubenwohnungen errichtet. Auch andere Unterschiede lassen sich nachweisen. Für das „atlantische Europa" z. B . war charakteristisch, daß Menschen, Tiere und Erntegut in einem Gebäude untergebracht wurden. Deshalb wurden große, durch Scheidemauern gegliederte Hallen erbaut, was die ganze Konstruktion statisch so gefestigt hat, daß ihre Maße auch ohne Schwierigkeiten erweitert werden 18
S C H L E T T E , F . , Die ältesten Haus- und Siedlungsformen des Menschen. EthnographischArchäologische Forschungen, vol. V, Berlin 1958. — WEISS, R . , Häuser und Landschaften der Schweiz. Zürich 1959, pp. 35—43.
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konnten. I n Osteuropa wurden neben den Wohnungen besondere Gebäude errichtet, die vorwiegend zum Schutz des Ernteertrages bestimmt waren, aber wie Wohnhäuser beheizt wurden. Solche Schutzmaßnahmen erschienen im Süden als überflüssig. Leider wissen wir sehr wenig von den Verhältnissen zwischen Stadt und Land im Altertum; deshalb können wir nicht sicher ermitteln, welchen Einfluß die städtische Architektur auf die dörfliche ausübte. I n den Städten war der Bau der Gebäude nicht mehr Aufgabe der Familien, sondern der Handwerksmeister bzw. der Ingenieure. Vom Balkan bis zur Iberischen Halbinsel sind mehrstöckige Häuser ziemlich häufig. Es ist aber noch ungeklärt, wann sich dieser Baustil unter der Dorfbevölkerung verbreitete; und unklar ist auch, wie das Fachwissen erlangt wurde, das Voraussetzung für die Nachahmung städtischer Vorbilder war. 19 Es ist aber unbestreitbar, daß das Klima überall ein so wichtiger Faktor war, daß die Form, die Anordnung und der Grundriß der Gebäude davon beeinflußt blieben. Darauf kam es vor allem an : daß die Gebäude am zweckmäßigsten den elementaren Umweltbedingungen angepaßt waren. So läßt sich also auf diesem Gebiet eine gewisse Ähnlichkeit mit den Methoden der Bewirtschaftung feststellen. Anscheinend ist die Dorfbevölkerung auch nicht wesentlich über die Grenzen hinausgegangen, die ihnen durch die elementaren Faktoren gesetzt wurden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie zu dieser Leistung auch nicht aus eigener K r a f t fähig waren. Trotzdem wurden gegen Ende des Mittelalters viele Dörfer umgebaut, und das neue Dorfbild war schon dem der Stadt ähnlich. Ein neuer Abschnitt in der Geschichte der Volksarchitektur begann entlang der Handelsstraßen, die Südeuropa (vor allem Italien) mit dem „atlantischen" Europa verbanden. Die in den Städten sich mehrenden Maurer, Zimmerleute und Bautischler bauten auch in den Dörfern mehrstöckige Häuser, und diejenigen, die in den Städten keine Auftraggeber fanden, konnten in den Dörfern arbeiten. Der bis dahin aus eigener K r a f t und Erfahrung bauende Dorfbewohner wurde nämlich — sofern er seine Produkte auf den Märkten absetzen konnte — so wohlhabend, daß er der neuen Mode folgen konnte. So zeigt sich am Beispiel des Dorfes, auf wie wenig Hindernisse die Urbanisierung in der spätmittelalterlichen, noch ziemlich konservativen Gesellschaft der Bauern gestoßen ist. Nachdem aber die Meister auch dort Auftraggeber gefunden hatten, wo bis dahin der bäuerliche Zusammenschluß und nicht die Arbeitsteilung der Gesellschaft die Leistuni gen regulierte, entstand eine völlig neue Lage. Die dörfliche Mode der neuen Architektur schien dadurch konserviert zu werden, daß die Nachfrage nach der Arbeit der Baumeister nicht nachließ, sondern im Gegenteil immer mehr stieg. Nicht nur in den großen gesellschaftlichen Bewegungen des 16., sondern auch im dunklen Zeitalter des nächsten Jahrhunderts entstanden neue Bauten in den Dörfern. J a , es scheint fast so, als ob die Veränderungen und Verbesserungen in der ländlichen Architektur weitgehend mit den Jahrzehnten großer wirtschaftlicher Not und Kriegsverwüstung zusammenfielen. Sowohl das äußere Bild, als auch die innere Welt der 19 W D V k : 6 5 - 6 9 . , 3 3 2 - 3 3 . -
B R A U D E L , F . , C i v i l i s a t i o n . . ., p p . 2 0 4 - 2 1 1 . -
CHAUNU, P .
Le b â t i m e n t d a n s l'économie traditionelle. I n : Le B â t i m e n t — E n q u ê t e d'histoire économique XIV e —XIX e siecles. Paris-La H a y e 1971, pp. 9 - 3 2 . — SCHEPERS, J . , Mittelmeerländische Einflüsse in der Bau- und W o h n k u l t u r des westlichen Mitteleuropa. I n : Vier J a h r z e h n t e Hausforschung. Beiträge zur Baugeschichte in Nordwest-Europa. Sennes t a d t 1973, p p . 121—135. — SCHWARZ, G., Allgemeine Siedlungsgeographie. Berlin 1966 (3. A u f l . ) , p p . 8 1 - 1 0 7 .
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Dörfer änderte sich als Folge der von den Städten ausgehenden Wirkungen. Die Tätigkeit der Baumeister in den Dörfern hatte zur Folge, daß die gesellschaftliche Organisation des Bauens im ganzen Dorf — nach den Kirchen und Schlössern auch beim Bauernhaus — weiterentwickelt wurde. Diese Bautätigkeit unterschied sich von der bisherigen bäuerlichen Bauorganisation dadurch, daß die Arbeit von Fachhandwerkern geleitet wurde, während die durchschnittlichen Baukenntnisse der Bauern zur Hilfsarbeit degradiert wurden. 20 Es war allerdings nicht einfach so, daß die in der Stadt gebräuchlichen Schmuckelemente sich durch die Tätigkeit der Handwerker nun auch in den Dörfern verbreiteten. Die Kulturgeschichte weiß von viel mehr Veränderungen. In den größeren Gebäuden wurden viele, der städtischen Bequemlichkeit dienende Heizungsvorrichtungen und (eingebaute oder bewegbare) Möbel untergebracht. Nicht nur die Ausmaße der Gebäude wuchsen also, sondern auch ihr Komfort. Die Umgebung der Bauern wurde durch die nach städtischen, also bürgerlichen Heimen gestaltete Wohnkultur bequemer. Aber auch das bequemere, vollkommen umgestaltete bäuerliche Heim diente der Befriedigung derselben Bedürfnisse, denen das alte Bauernhaus genügt hatte. Die grundlegende Existenzbedingung der Bauern blieb weiterhin der Boden. Er hielt Tiere, lagerte seinen Ernteertrag zu Hause und lebte mit seinem Vieh zusammen. Deshalb mußten die Baumeister eine solche architektonische Lösung finden, die alle diese Gebäudeteile weiterhin so miteinander verband, daß die vielfältigen Funktionen des Wohnens und Wirtschaftens (Lagerung des Ertrages, des Futters, der Ausrüstung sowie Unterkunft des Viehs) gelöst werden konnten. Da die Bauern in dem eben beschriebenen Prozeß immer mehr zu Auftraggebern oder Konsumenten wurden, kamen immer mehr Produkte in ihren Besitz, die sie nicht selbst produzierten, sondern nur noch benutzten. Ihre Wohnungen wiesen also die unverkennbaren Zeichen der Veränderung auf, die sich in ihrer wirtschaftlichen Lage vollzogen hatten. Da die Mehrzahl der älteren Möbel als überflüssig angesehen wurde, läßt sich die ursprüngliche Wohnkultur aus den zufällig erhalten gebliebenen Einzelstücken — die heute ängstlich gehütete Kunstgegenstände der Museen des Kontinents sind — nur annähernd rekonstruieren. Ehe die Tischlerprodukte in Mode kamen, also eigentlich vom Neolithikum bis zum Mittelalter, wurde die Möblierung der Bauernhäuser (wie auch die Konstruktion des Gebäudes) mit Zimmermannstechnik gefertigt. Ob als bäuerliches Hauswerk oder als häusliches „Basteln", in beiden Fällen war die Bauernwirtschaft die ursprüngliche Werkstätte der Herstellung des Mobiliars. Der neuen Mode folgend wurde — nach dem Vorbild von Aristokratie und Bürgertum — auch der Bauer . Besteller der Möbelindustrie. Es ist durchaus nicht unwesentlich, daß dieser Prozeß erst ziemlich spät eintrat, und daß die Wohnkultur der Bauern, die immerhin 9 / 10 der Gesellschaft ausmachten, erst seit einigen Jahrhunderten in den Zustand kam, daß die Folgen der großen gesellschaftlichen Arbeitsteilung erkennbar wurden. I n seinen Ausmaßen, in seiner Bequemlichkeit und in der Gefälligkeit seiner Ausstattung ist das neue Heim über die Wohnung der Ahnen hinausgewachsen. Alle seine neuen Züge hat es den Handwerkern zu verdanken, und letzten Endes ist es nicht dank der Kreativität des Dorfes, sondern der Stadt zu dem geworden, was 20
Vgl. VAN DER VEN, F., Sozialgeschichte der Arbeit. München 1972. II, pp. 138-152.
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es ist. Gerade aus diesen, die eigene K r a f t und die Begrenztheit des Dorfes übersteigenden Leistungen ergab sich, daß sich nur eine verhältnismäßig kleine vermögende Schicht die hochentwickelte spätmittelalterliche Architektur und Wohnkultur zu eigen machen konnte. Obwohl diese Neuigkeiten also in erster Linie zum Leben der Reichen gehörten, eroberte die Mode doch immer breitere Massen. E s standen „Hausgemeinschaften" unter einem Dach — ursprünglich Kollektive miteinander verwandter Familien —, die schon durch den Zwang der Gewohnheit u n d der vier Wände zusammengehalten wurden. 2 1 Ihre Lebensgemeinschaft funktionierte, weil sie in ökonomischer Hinsicht aufeinander angewiesen waren. Auf diese Weise wurde die neue Mode in der Dorfarchit e k t u r weiter verbreitet. Nach den erhaltenen Bauwerken zu schließen, wurden immer mehr und immer geräumigere Häuser errichtet, während alte Gebäude ziemlich oft umgebaut und erweitert oder verlängert worden sind. Die Einrichtungen unterscheiden sich vor allem durch ihre Fertigungstechnik von den Gegenständen der älteren Wohnungseinrichtung. Die Tischler fertigen das Mobiliar nämlich aus gesägten Brettern und nicht aus den mit Keilen gespaltenen, mit dem Beil zugeschlagenen und schließlich mit Messern geschnitzten Holzteilen, wie es zuvor auf dem ganzen Kontinent üblich war. 2 2 Das gesägte Brett wurde auch nicht vom Tischler hergestellt. Es waren Sägemühlen in Betrieb, die das gefällte Holz, also den Rohstoff, in Werkstätten verarbeiteten u n d — wie die anderen von Wasserkraft getriebenen Maschinen des Mittelalters — meist Eigentum des Gutsherrn waren. Der Tischler arbeitete mit diesem Halbfertigprodukt; sein hauptsächlichstes Gerät war der Hobel, der zwar schon in den römischen Werkstätten entwickelt worden ist, sich aber in den f ü r das europäische Dorf arbeitenden Tischlerwerkstätten erst in den letzten dreihundert J a h r e n verbreitet hat. Bestrebung dieses Handwerkers war meistens, die Oberfläche seiner Waren auch zu bemalen und sie außerdem mit Pflanzenornamenten und anderen Mustern zu schmücken. Unser Tischlermeister war also nicht — wie sein Zimmermannsarbeit verrichtender Vorgänger — gezwungen, Stammholz zu spalten, Planken zuzuschnitzen und schließlich sein Erzeugnis mit Zapfen und N u t e n zusammenzufügen. I m Gegenteil, da er mit Halbfabrikaten arbeitete, konnte er in den industriell entwickelten Gegenden auch eine Vielzahl von Holzteilen, die auf der Drehbank bearbeitet waren, verwenden und sie auf mannigfaltige Weise in die Bestandteile der einzelnen Möbelstücke einfügen. Man bildete neue Formenelemente durch verschiedene Kombination von Bretterstücken und gedrechselten Holzstangen und, was vielleicht noch wichtiger war: Die Holzindustrie produzierte ihre Erzeugnisse mit einer bis dahin nicht gekannten Schnelligkeit. Der Tischler konnte — durch die Verwendung von Halbfertigprodukten— 21
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Schon in der rechtsgeschichtlichen und rechtssoziologischen Fachliteratur der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat man seine verschiedenen Manifestationen beschrieben. Vgl. Laveleye, £., Das Eigentum und seine primitiven Formen. Budapest 1898. II, pp. 215—255. Neuerdings: Badek, K. S., Rechtsformen und Schichten der Liegenschaftsnutzung im mittelalterlichen Dorf. Wien 1973, pp. 243ff. — Kbamer, K. S., Das Haus als geistiges Kraftfeld im Gefüge der alten Volkskultur. RhwZVk., 1964. pp. 30—43. Gebhard, T., Primitivmöbel. In: Arbeit und Volksleben. Deutscher Volkskundekongreß 1965 in Marburg. Göttingen 1967, pp. 198—206. (Veröffentlichungen des Instituts für mitteleuropäische Volksforschung an der Philipps-Universität Marburg-Lahn. Bd. 4) — Ritz, G. M., Alte bemalte Bauernmöbel. Europa. München 1970.
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wesentlich mehr Möbel herstellen als seine Vorfahren, die mit Zimmermannstechnik gearbeitet hatten und die alle Arbeitsphasen allein ausführen mußten. Er konnte durch die Serienfertigung verwirklichen, was in der Zimmermannsarbeit nur selten und nur bei den einfachsten Werkstücken gelungen ist. Das Tischlerprodukt trug in jedem einzelnen Fall das Zeichen industrieller Herkunft. Demzufolge wurden die Stücke in die bäuerliche Wohnkultur eingefügt, indem sie zunächst als Waren vertrieben und erworben wurden. Waren müssen, wenn sie Konsumgüter sind, wie eben z. B. Möbel, gefällig sein. Deshalb wurde das aus Weichholz zusammengefügte Mobiliar nicht mit Schnitzereien verziert, sondern mit gemalten Mustern versehen. Zum Teil sollten diese Muster die Illusion eines edlen Stoffes erwecken, und außerdem wurden so auch die natürlichen Fehler des Holzes verborgen. Die Waren, deren Verkäuflichkeit auf diese Weise verbessert wurde, konnten leichter abgesetzt werden und vertraten gerade durch ihr Äußeres eine ganz neue, bis dahin noch nicht gekannte Qualität, die mehr und mehr das bäuerliche Leben erfaßte. (So war eine Umwelt entstanden, die nicht mehr allein vom Dorf, sondern von der ganzen Gesellschaft geschaffen worden ist.) Die neuen Gegenstände sind nicht einfach mehr Treffpunkte von Zweckmäßigkeit und Schönheit; sie entsprechen neuen Werten oder Wertvorstellungen. Durch die in den Konsumtionsgewohnheiten eingetretenen Veränderungen hatten sich die Modevorstellungen der nebeneinander wohnenden Schichten und Klassen angeglichen. In diesem neuen Medium war der Modeanspruch der Gebrauchsgüter geradezu berufen, Unterschiede auszugleichen oder zu verdecken, die durch die Differenzierung der Gesellschaft nach Besitz und Lebensweise entstanden waren. Die neue dörfliche Einrichtung ist an sich keine einfach zweckmäßige Ausstattung. Sie ist aufs engste verbunden mit dem spezifischen Wertsystem, das Vermögen zum Ausdruck bringt und den gesellschaftlichen Status hervorhebt. Das modische Mobiliar mußte nämlich die Illusion schaffen, als ob das bäuerliche Haus mit seinem Prunk sich wirklich an die Heime der reichen Bürger der Städte, der Patrizier und Aristrokaten anschließen könnte. Ob das nun Schein oder Wirklichkeit war, jedenfalls hat diese Veränderung des bäuerlichen Alltags alle Schichten der Gesellschaft miteinander verbunden. Es ist sehr wichtig, daß das infolge der Ansprüche der Dörfer (konkret: der Bauern) erfolgte. Mit anderen Worten: der Warenumsatz brachte den größten Markt der gesellschaftlichen Konsumtion, das Dorf, in Bewegung. Es kam nun auch häufiger vor, daß der Bauer, der landwirtschaftliche Produkte erarbeitete, nicht nur Arbeitsmittel, sondern auch industriell hergestellte Konsumgüter kaufte, die seiner Bequemlichkeit oder seinen tatsächlichen und vermeintlichen gesellschaftlichen Bedürfnissen dienten. Bis dahin wurden diese Sachen vorwiegend von den Konsumenten selbst hergestellt. Allenfalls hatten sich einige Dörfer, die sich in'landwirtschaftlich sehr ungünstig gelegenen Regionen befanden, auf die Herstellung von Holzgeräten, einfachen Möbeln oder einfachem Geschirr spezialisiert. Jetzt wandten sich die Konsumenten aber bevorzugt an den wirklichen Vertreter der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, den Handwerker, und gingen mit ihm mehr oder weniger regelmäßige Beziehungen ein. Auf diese Weise gelangten die Waren — nicht die Handwerker selbst — in landwirtschaftliche Gebiete, die oft sehr weit von den Zentren der Zivilisation entfernt lagen.'Es ist nicht nebensächlich, daß die bis dahin so ferne Welt der Patrizier und Aristokraten durch die städtischen Modeartikel den Bauern nähergebracht wurde. Und es ist — unter dem Gesichtspunkt unseres Themas — auch wichtig, daß dieses
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Verhältnis in den verschiedenen Landschaften Europas ziemlich stark gesellschaftlich motiviert gewesen ist. I m mittleren Osteuropa war es z. B. Sitte geworden, sogenannte „gute Stuben" einzurichten. 23 Zu diesem Zweck wurden die Wohnhäuser der Bauern mit einem zusätzlichen Raum ausgestattet; aber dieses Zimmer hatte keine praktische Funktion. Es wurde von vornherein als Beweisstück des gesellschaftlichen Ansehens betrachtet, und obwohl es gefällig eingerichtet war, diente es nicht Wohnzwecken. Im Gegenteil: hier wurden alle Werte untergebracht, die nicht angelegt werden konnten. Der augenscheinliche Zweck dieser Anhäufung von Möbeln, Wohntextilien und anderen Requisiten wird offensichtlich, wenn wir in Betracht ziehen, daß man diese Requisitenkammer den Verwandten und Bekannten bei festlichen Gelegenheiten vorführte. Dadurch wurde die Wohnungseinrichtung zu einem Mittel, das Vermögen zur Schau zu stellen. Auf diese Weise erlangte das Zurschaustellen oder Vortäuschen von Wohlhabenheit eigentlich eine selbständige Funktion in der Wohnung. Die Wohnkultur fügte sich keineswegs mehr an ihre geschichtlichen Voraussetzungen an. Sie konnte die Tradition nicht mehr organisch ergänzen, wie wir es im Aufeinanderangewiesensein der alten Baukunst und Möblierung oder in deren allmählichen quantitativen Zunahme bzw. ihrer qualitativen Veränderung im „atlantischen Europa" (wo die Urbanisation die Regionen des Argrarlebens tiefer durchdrang) feststellen können. Auch das ist kein unwesentlicher Faktor, daß bäuerlicher Fleiß und Handarbeit während der Wintersaison in dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle gespielt haben. Die Handarbeit — besonders die Geschicklichkeit der Frauen — hat die Wohnung sozusagen „angezogen". Es ist möglich, daß auch Veränderungen in der Garderobe dadurch in Gang gebracht wurden. Die Kleidung war nämlich ein geeigneteres Mittel als alles andere, zu demonstrieren, daß jeder gleich ist, wenn das Äußere gleich erscheint. Die Garderobe ließ sich im Laufe der Zeit in zwei Gruppen einteilen. Die eine bildeten die Arbeitskleider, die von der Tradition vor allem konserviert wurden. Diese Kleidung war sowohl dem Material und dem Schnitt nach, wie auch hinsichtlich ihrer bewunderungswürdigen Anpassung an die klimatischen Gegebenheiten ein dauerhafter Beweis dörflicher Autarkie. 24 Ihre jeweiligen Verbreitungsgebiete werden sich vermutlich schon vor dem Zustandekommen der großen gesellschaftlichen Arbeitsteilung der Zivilisation ausgebildet haben, und daran konnten weder die Stadt, noch die sich aus der gesellschaftlichen Schichtung ergebenden neuen Verhaltensmuster viel ändern. Anders verhielt es sich mit der Tracht der feierlichen Gelegenheiten, der Feste, also der zweiten großen Gruppe. Die Hauptfunktion dieser Festtrachten war nämlich, daß die Kleidung den Reichtum des Eigentümers unter Beweis stellen sollte. Obgleich diese Funktion der geschmückten Kleidung uralt ist, haben sich die Mittel der Verwirklichung im Laufe der letzten vier bis fünf Jahrhunderte gänzlich verändert. Man verwendete nämlich in den Zieraten, später auch in den Stoffen dieser Festtrachten, immer mehr städtische (also von 2:1
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HOFFMANN, T., B â t i m e n t s traditioneis d a n s la Hongrie rurale. I n : Ethnologie et histoire. Forces productives et problèmes de transition. Paris 1975, p. 518. KOSENFELD, H.-P., Wort- u n d Sachstudien. Berlin 1958. (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des I n s t i t u t s f ü r Deutsche Sprache u n d Literat u r . Bd. 9).
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Tamas Hoifmann
der Industrie herrührende) Produkte. Schließlieh wurde selbst die Herstellung dieser Kleidungsstücke (oder sogar ganzer Kollektionen) Aufgabe der Handwerker. In diesem Bereich war also die Bedeutung der Industrie viel größer, als es sich im Bereich der Alltagstracht feststellen läßt. Hier blieb die Herstellung im Rahmen der Familie und war für den eigenen Bedarf bestimmt. Die Versuche, durch gesellschaftliche Regelungen der Mode und „Putzsucht" Einhalt zu gebieten, richten sich darum auch ausschließlich gegen die sonntägliche Tracht der Dorfbevölkerung. Allerdings blieben kirchliche Gleichnisse und behördliche Strenge wirkungslos, sobald sich das Bewußtsein durchgesetzt hatte: „Kleider machen Leute". Es hat den Anschein, als ob das Dorf und die künstlich geschaffene Umgebung der Bauern eine ziemlich zusammengesetzte und regional differenzierte „Requisitenkammer" der Geschichte der Bevölkerung des Kontinents war. Dank der Wissenschaft sind diese Requisiten zugleich Beweise, nämlich handgreifliche Beweise des jeweiligen Grades der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Das primäre Inventar an Produktionsinstrumenten reicht nämlich zum Teil weit über die Grenzen bäuerlicher Findigkeit und bäuerlichen Ideenreichtums hinaus. Teilweise sind diese Geräte bereits Produkte „industrieller" Erfindungsgabe und die Erfinder waren nicht etwa Vertreter des Dorfes, sondern der Stadt. Der Gebrauch dieser Werkzeuge auf dem Lande ist also selbst schon kennzeichnend für die Verwirklichung der großen gesellschaftlichen Arbeitsteilung. In dieser Hinsicht sind die Erfindungen und ihre gesellschaftliche Nutzbarmachung zwei ganz unterschiedliche Dinge, die historisch sehr weit auseinanderfallen. Die Arbeitsinstrumente der städtischen Werkstätten des Altertums gelangten ungefähr nach einem Jahrtausend in die Bauernwirtschaft und ergänzten damit die mittelalterliche Ausrüstung, die in ihrem Grundbestand — sofern es die Werkzeuge betrifft — bereits in den eisenzeitlichen Dörfern nachweisbar ist. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Ansammlung von effektiven Produktionsinstrumenten schließlich diese Bauernwirtschaft geprägt hat, die gleichsam Ergänzung oder geschichtliche Reproduktion der Wirtschaft des Gutsherrn und vor allem der — ein internationales Netz bildenden — Klöster war. Letzten Endes ist das Bauerndorf, das sich aus einzelnen Grundstücken zusammensetzt, auf unserem Kontinent nicht älter alsein Jahrtausend, und seine allmähliche Expansion hielt bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts an, übrigens ohne sich überall voll durchzusetzen. Die Entwicklung der Produktivkräfte, die sich in der Einheit von gesellschaftlichen Verbindungen und Interessengegenständen vollzog, war dagegen am Ende des Mittelalters bereits abgeschlossen. Von da an ist mit effektiveren Technologien, die etwa die ökonomische Struktur der Gesellschaft weitergebracht hätten, nicht mehr zu rechnen. Wenn aber die Produktivität der dörflichen Arbeit nicht mehr das Ergebnis der Vervollkommnung der Geräte, sondern der effektiveren, rationelleren und intensiveren Wirtschaftsführung gewesen ist, dann sind die Faktoren, die zur Anhebung des Niveaus geführt haben, in der Effektivität des Betriebes und in den gesellschaftlichen Leistungen der Gesamtgesellschaft zu suchen. Wenn auch die technologische Vervollkommnung der Produktionsinstrumente beendet war, so hatte doch die technologische Verbesserung der Ausrüstung in den Bauernwirtschaften noch keineswegs ihren Abschluß erreicht. Fast das Gegenteil ist der Fall! Die Veränderungen treten lediglich auf dem Gebiet der Konsumtion,
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des Gebäudebestandes, der Wohnungseinrichtung und der Kleidung auf; und überall sind sie auf einen gemeinsamen Faktor zurückzuführen, nämlich das Gewerbe, insbesondere das städtische Gewerbe — die Industrie. Die Produkte des städtischen Handwerks kommen (dank des immer weiter ausgebauten Marktnetzes) als Waren ins Dorf zum bäuerlichen Verbraucher. Diese Veränderungen stellen die wichtigste Phase des Prozesses dar, als dessen Ergebnis das Warenverhältnis in der ganzen Gesellschaft vorherrschend wurde und eine neue gesellschaftliche Situation entstand, in der sich Industrie und Landwirtschaft als Konsument und Produzent wechselseitig ergänzen konnten. Es wird nichts Neues gesagt, wenn ich darauf hinweise, daß dieser Prozeß nur für Europa charakteristisch war 2 5 und nicht für die Völker anderer Kontinente. Die Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land bzw. die sie verbindenden Austauschbeziehungen, die dem Verhalten der europäischen Bauern auch einen spezifischen Charakter verliehen, sind nur für Europa typisch geworden. Da sie sich aber als so wichtig erwiesen haben, muß ihre welthistorische Bedeutung hervorgehoben werden. Man könnte sagen, daß dieser Widerspruch zwischen Stadt und Land, der auf der handwerklichen Produktion beruhte, in Europa (und ausschließlich in Europa) entstand. Während das Dorf die Produktion der Lebens- und Arbeitsmittel (im Rahmen der Familienarbeit) übernahm, setzte die Stadt den Mechanismus der industriellen Produktion (in gesellschaftlichem Ausmaß) in Bewegung. Der Gegensatz zwischen familiärer und gesellschaftlicher Produktion verwirklichte sich in derii eigentümlichen Marktmechanismus, der den Umsatz von Waren allgemein zur Geltung brachte und alle menschlichen Werte durch das Warenverhältnis nutzbar und vergleichbar machte. Die Bauernwirtschaft und der Bauernhaushalt haben diesen Widerspruch, der als historischer Widerspruch die große gesellschaftliche Arbeitsteilung verkörpert, natürlich nicht überlebt, sonden sie sind unter der Spannung zerbrochen. Das erfolgte aber aus rein ökonomischen Gründen. Verständlich ist auch, daß die Verflechtung von familiärer Produktion und gesellschaftlicher Konsumtion, von dörflicher Landwirtschaft und städtischer Industrie bzw. die Durchsetzung dieser, die gegensätzlichen Pole verbindenden Warenbeziehung sich in den einzelnen Landschaften unterschiedlich entwickelt hat . Dadurch, daß die Industrie ursprünglich innerhalb der Stadtmauer zu Hause war, wurde die durch den Warenumsatz geschaffene neue Sphäre der modischen Gebrauchsgüter und Gewohnheiten mit den urbanisierten Gegenden Europas identisch. Bemerkenswert ist, daß die neue Art des bäuerlichen Lebens und das neue Dorfbild nicht in den Gebieten entstanden, in denen die großen geschichtlichen Leistungen der Agrikultur erreicht wurden, sondern in ganz anderen. Das urbanisierte Dorf bildete sich in der zwischen Nord-Italien und dem „atlantischen" Europa gelegenen Zone gegen Ende des Mittelalters heraus. Mit dieser gesellschaftlichen Leistung von großer Tragweite war natürlich ein Modell gegeben, das auch in anderen Teilen des Kontinents nach2:
> Vgl. P o l a n y i , K., T h e Great T r a n s f o r m a t i o n . T h e Political a n d E c o n o m i c Origins of Our Time. B o s t o n 1968 (9TH edition). — D a l t o n , CT., E c o n o m i c A n t h r o p o l o g y a n d Develo p m e n t . E s s a y s on Tribal and P e a s a n t E c o n o m i e s . N e w Y o r k 1 9 7 1 , p p . 1 6 7 — 1 9 2 . — P k y o b , F . , The Origins of t h e E c o n o m y . A C o m p a r a t i v e S t u d y of D i s t r i b u t i o n in P r i m i t i v e a n d P e a s a n t Economies. N e w Y o r k , San Francisco, L o n d o n 1977.
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TAMÂS HOFFMANN
geahmt wurde. Aber weder die Zone seiner Herausbildung noch die späteren Zentren seiner Wiederholung fielen mit den primären Zentren der landwirtschaftlichen Produktivkräfte zusammen. Die Urbanisierung des Dorfes war ein langsamer, ungefähr 500 Jahre umfassender Prozeß. Produktion und Konsumtion, Landwirtschaft und Industrie wurden von unterschiedlichen Faktoren zu effektiverer Leistung angetrieben. Da die Interessen von Landwirtschaft und Industrie nicht identisch waren, wirkten diese Wirtschaftszweige in unterschiedlichen Zeitphasen auf das Leben des Dorfes ein. Die zweifache Herkunft der Lebensweise des Dorfes und der Bauern — und die „Phasenverschiebung" dieser Kombination — kann in dem urbanisierten Dorf noch erkannt werden. Die landwirtschaftlichen Zonen decken sich auch heute noch mit den Bereichen, die als eigenständige Leistung der traditionellen dörflichen Produktivkräfte (vor Einwirkung der Stadt auf das Land) entstanden. Andererseits stimmt aber dieses — in Auseinandersetzung mit der Natur historisch entstandene — Verhältnis in keiner Weise mit dem Konsumtionsverhalten der Menschen in den ländlichen Gebieten überein. Denn dieses Verhalten hat seine Wurzeln nicht in den Leistungen des Dorfes, sondern in denen, die von der Stadt diktiert wurden. Aber wie auch immer die geschichtliche und geographische Kombination dieser Beziehungen im Einzelfall gewesen sein mag, man vergesse nicht, daß diese sehr unterschiedlichen Einflüsse schließlich in einem Punkt zusammentrafen, nämlich in der Wirtschaft der Bauernfamilie und ihrem Haushalt. Die bäuerliche Lebensweise trug also in sich auch die Züge ihres Gegensatzes, der städtischen Lebensweise. Mit anderen Worten: die neue Lebensweise der Bauern wurde durch Faktoren ergänzt, die von Anfang an aus- der Verschiedenheit von Dorf und Stadt entstanden waren 26 . Die Gesamtheit dieser Züge hat auf dem Kontinent historisch und regional unterschiedliche Konfigurationen hervorgebracht. Daraus resultiert vor allem die Verschiedenheit des Bauerntums und die Verschiedenheit der historischen Alternativen beim Verschwinden der Bauernschaft. Das Kulturniveau der bäuerlichen Lebensweise hing immer mehr von der Versorgung mit Industrieartikeln ab; die historische Lage der Bauern war also durch den industriellen Hintergrund bestimmt. Die industrielle Entwicklung wiederum wurde wesentlich dadurch beeinflußt, daß durch ihr Wachstum die Bedeutung der Landwirtschaft zurückging und die gesellschaftliche Stellung der Bauern gemindert war. Es ist gewiß, daß nach den großen Veränderungen am Ende des Mittelalters der Bauer in der Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte unseres Kontinents eher die Rolle des Katalysators als des Initiators gespielt hat. Die gegenständlichen Bedingungen seiner Lebensweise wurden immer weniger von ihm selbst und immer mehr durch einen verwickelten Warenmechanismus gesichert. Es ist nicht zu bestreiten, daß dadurch das europäische Bauerntum zu einem spezifischen und „untypischen" Fall wurde, — wenn man es mit den Verhältnissen in anderen Kontinenten vergleicht. Das hier dargestellte Modell ist natürlich in verschiedenen Gebieten des Kontinents in unterschiedlicher Reife und Entwick26
KAUFMANN, G. (Hrsg.), S t a d t - L a n d - B e z i e h u n g e n . G ö t t i n g e n 1975. — PLANCK,U./ZICHE, J., L a n d - u n d Agrarsoziologie. S t u t t g a r t 1979. — WIEGELMANN, G. (Hrsg.), K u l t u r e l l e S t a d t - L a n d - B e z i e h u n g e n in d e r N e u z e i t . M ü n s t e r 1978.
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lung verwirklicht worden. Aus diesen Abwandlungen und Entwicklungshemmungen ergeben sich seine landschaftlichen Varianten. Obwohl die Literatur, die der europäischen Bauernschaft gewidmet wurde, sich gerade auf Grund des zuletzt genannten Faktors herausbildete, bedürfen einige der dort zu findenden Feststellungen der Korrektur. Nicht, weil die Bauerngemeinschaft glorifiziert wurde, und nicht, weil diese Gemeinschaft dem großen Ganzen, der Gesellschaft gegenübergestellt wurde, sondern weil das wichtige gesellschaftliche Moment, die Konfrontation von Gemeinschaft und Gesellschaft innerhalb der bäuerlichen Lebensweise, vergessen worden ist. Wenn wir aber die bäuerliche Lebensweise als kulturelle Leistung der im Dorf lebenden Menschen selbst auffassen und untersuchen, stoßen wir unvermeidlich auf die historischen Hindernisse im Prozeß der „Selbstverwirklichung" des Bauern. Die — wenn auch skizzenhafte — Darstellung dieses Hauptkonflikts habe ich als die eigentliche Aufgabe meiner Studie angesehen. Vielleicht kann noch eine weitere Bemerkung gewagt werden: Dieser große Konflikt der Bauern war nicht nur ein äußerer gesellschaftlicher Faktor. Vielmehr haben die Widersprüche der Interessen und Beziehungen auch die geschichtliche Figur des Bauern von innen bewegt. Deshalb geht ihre Bedeutung — gerade wegen der negativen Folgen — über die ökonomischen und sozialen Interessengegensätze, die das Verhalten der Bauern gegenüber den Gutsherrn bestimmten, weit hinaus Diese Einsicht mahnt uns, die antifeudale, antikapitalistische Interpretation der Bauernfrage, die in der politischen Praxis schließlich zur demokratischen Bodenreform geführt hat, nur als Versuch zur Lösung eines TeiTproblems (wenn es sich auch um einen sehr wichtigen Teil handelt) zu erkennen.
Materialien zum Schamanentum der südlichen Tuwiner Von
V E R A PAVLOVITA D ' J A K O N O V A ,
Leningrad
Das Schamanentum der Tuwiner erregt bis in die jüngste Zeit die Aufmerksamkeit der Ethnographen. Aber so intensiv die Bemühungen der Wissenschaftler in bezug auf dieses wichtige Problem bisher auch waren, so sind doch seine Besonderheiten in Zusammenhang mit den lokalen ethnischen Gruppen der Tuwiner bis heute nicht aufgeklärt. I n dem vorliegenden Bericht beziehen wir uns auf die in der vorrevolutionären und sowjetischen Literatur noch völlig unaufgehellte Frage nach einer der Kategorien der tuwinischen Schamanen. Das Material zu diesem Problem wurde von uns 1971 unter den südlichen Gruppen der Tuwiner gesammelt. Informationen dieser Art kann man heute in Tuwa nur anhand der Erinnerungen von Angehörigen der älteren Generation erhalten. Es gibt in der Gegenwart keine Schamanen mehr und auch nur noch sehr wenige Leute, die über die alten schamanistischen Glaubensvorstellungen Bescheid wissen könnten; und der Jugend liegen jegliche religiöse Vorurteile überhaupt fern. Bekanntlich wurden die Schamanen bei den Tuwinern in zwei Kategorien eingeteilt — in starke (oder große) und schwache (oder kleine). Eine solche Einteilung hatte weder etwas mit dem Charakter des Schamane-Werdens zu tun, noch mit den Besonderheiten der Bekleidung und der Attribute. Diese Einteilung hing nach den volkstümlichen Erklärungen vor allem von den realen Möglichkeiten des Schamanen selbst ab — von Nachfolge (Kontinuität), Wohlstand, Autorität, physischen Eigenschaften usw. Bei den südlichen Tuwinern gab es neben dieser Einteilung aber noch eine andere Kategorie von Schamanen, die sich von den beiden oben genannten unterschied und „himmlische Schamanen" (tengri böö) genannt wurde. Bei der gentilen Gruppe (Sippe) der Öoodu haben sich viele Erinnerungen an die Existenz von Schamanen aus der Kategorie der tengri böö erhalten, unter denen die Nachrichten über einen Schamanen dieser Gruppe namens Jambyl einen besonderen Rang haben. Nach der Vorstellung der südlichen Tuwiner sind die Umstände, wie man ein solcher „himmlischer Schamane" wird, mit einer Legende verbunden, nach der sich vor etwa 100 Jahren ein Schamane, der ein Jäger war, in die Taiga aufmachte. Während er jagte, erblickte er am Himmel einen großen Regenbogen. Diesen Regenbogen betrachtend, bemerkte er, wie irgend etwas aus ihm herausfiel. Er ritt zu dieser Stelle und entdeckte einen bronzenen Spiegel (toi') und ein metallisches kegelförmiges Röhrchen (xolbuk), die auf der Erde lagen. Auf der einen Seite dieses Spiegels befanden sich reliefartige Darstellungen, die den Jahreszyklus nach dem zwölfjährigen Mondkalender zeigten, und dazu noch 99 erhabene Pünktchen, die die Treppe symbolisierten, auf der der Schamane während des Schamanisierens emporsteigt. Wie aus besagter Legende
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ersichtlich ist, vollzieht sich das Zum-Schamanen-Werden in dieser Kategorie mit Hilfe eines Regenbogens, eines Bronzespiegels und metallischer Anhängsel. In bezug auf die Bekleidung eines solchen Schamanen kann folgendes gesagt werden: Das Gewand 1 wurde für ihn aus Fellen des wilden Rens, mit dem Haarkleid nach innen, angefertigt, in der Art einer kurzen offenen Joppe (russ. kurtka), die mit ledernen Schnüren geschlossen wurde. Am Rückenteil des Gewandes wurden drei metallene Scheiben befestigt — je eine über den Schulterblättern, die dritte zwischen diesen beiden. Diese Scheiben bedeuteten: Sonne, Mond, Stern. An jeder dieser Scheiben waren je drei kegelförmige Röhrchen angehängt. Nach dem Volksglauben versetzten diese Anhängsel die Schamanen während des Schamanisierens durch ihren Klang in gute Stimmung, und gleichzeitig waren sie ein Symbol für die Freundschaft mit böön (der Schamanengabe). Außerdem galten sie als die Bewaffnung des Schamanen, mit der er schießen konnte. Neben den beschriebenen metallischen Anhängseln befestigte man am Schamanengewand mittels metallischer Ringe auch drei Bündel von Anhängseln aus Stoff. Zwei solcher Bündel wurden an die Seitennaht (links und rechts) angenäht und eine auf dem Rücken (in allen drei Fällen in Höhe der Taille). Jedes dieser Bündel bestand aus neun geflochtenen Schnüren (mancak) und der Darstellung von Schlangen. A n dem mittleren, auf dem Rücken befestigten Bündel war die Schlangendarstellung mit neun Köpfen gearbeitet. Jede geflochtene Schnur bedeutete irgendeinen Baum (z. B. eine Lärche) oder irgendeinen Berg. Die neunköpfige Schlange wurde als sehr starke, mächtige Schlange gedeutet, die eine giftige Zunge und neun Köpfe hat, gleichzeitig aber symbolisierte sie durch sich selbst auch neun verschiedene Schlangen, deren jede für sich in ihrer Zunge ein besonderes Gift hatte. Während des Schamanisierens mußte der Schamane alle diese Arten von Anhängseln an seiner Kleidung loben. Der Kopfputz des tengri böö wurde aus schwarzem Stoff in der Art einer kleinen K a p p e mit ovalem Boden genäht. Auf die Vorderseite des Kopfputzes stickte man mit weißem Faden Ziegen wolle die Konturen eines Gesichts. Manchmal wurden die Gesichtszüge nicht mit Faden, sondern mit Kaurischnecken ausgeführt. Dabei kennzeichnete man drei Augen. Die Notwendigkeit der Darstellung eines dritten Auges auf dem Kopfputz wurde damit begründet, daß dieses das Auge des böö sei, d. h. seine Begabung zum Schamanisieren, zur Hypnoseanzeige. Oben an der K a p p e nähte man zu beiden Seiten eine Darstellung des Wacholders (arc) an, die mit grünen Fäden auf Stoff gestickt war. In der Mitte befand sich eine gestickte Abbildung des Schamanenbaums (Zirbelkiefer). Dazwischen befestigte man Uhufedern. Nach Meinung der Tuwiner wiesen die Zirbelkiefer und der Wacholder am Kopfputz der Schamanen der genannten Kategorie darauf hin, daß die Schamanen sich dort finden, wo Zirbelkiefern wachsen, d. h. an einem sehr reinen Ort, wo auch der Wacholder gedeiht. — Eine Kappe in einer
1
Bei den südlichen Tuwinern hat das Schamanenkostüm (Gewand, Kappe, Stiefel) insgesamt die gemeinsame Bezeichnung cemsik. Nach Mitteilung unserer Informanten symbolisiert cemsik die W a f f e n und die natürliche K r a f t des Schamanen, ohne die er nicht schamanisieren kann. Sie stellen sich vor, daß dieses cemsik vom Hilfsgeist (ongut) „kommt". Außerdem benennt man das Schamanenkostüm auch mit der Terminologie der Alltagskleidung, aber unter Hinzufügung des Wortes „Schamanen-". (Die gewöhnliche Mütze heißt zum Beispiel malga [ < m o n g . malgaj], demnach heißt der Schamanenkopfputz böögijn malga, usw.)
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solchen Ausführung hatten nur die himmlischen Schamanen. Für diese Schamanen gab es auch spezielle Stiefel, die ebenfalls aus dem Fell des wilden Rens hergestellt wurden, mit der Haarseite nach innen. An den Stiefelschaft nähte man nicht sehr lange, geflochtene Schnüre (mancak), und über dem Spann führte man Stickereien aus dem Winterhaar des Rens aus. Die Trommel (xengrik) unterschied sich bei den Schamanen dieser Kategorie von den Trommeln anderer Schamanen nur durch die Zahl der metallischen Anhängsel, die an der Querstange an Klammern aus Draht befestigt waren. Über den hölzernen Rahmen der Trommel zog man die bearbeitete Haut einer Maralhirschkuh. Von außen wurde das Trommelfell mit roter Farbe bemalt, aber innen trug es eine Zeichnung — die Figur einer Hirschkuh mit einem auf ihr sitzenden Schamanen. Am Griff (nuruuna jaz) der Trommel wurde ein Muster in der Form einer kleinen Fichte eingeschnitzt. Ein solches Muster war nicht einfach eine Verzierung, sondern symbolisierte die Wirbelsäule des Tieres. Die horizontale Querstange {bij, wörtl. „Körper") der Trommel wurde aus Holz angefertigt und stand für den Körper der Maralhirschkuh, aber ohne Wirbelsäule. Auf der rechten und linken Hälfte der Trommelquerstange hingen an einer beweglichen metallischen Klammer Anhängsel von zweierlei Art. Die einen waren von der Art der offenen kegelförmigen Röhrchen (xolbuk), die anderen in der Art einer gewundenen Stange mit einem rhombenförmig abgeflachten Ende (xurul sum). Bei den himmlischen Schamanen gab es von jeder der beiden Arten 18 solcher Anhängsel, je neun auf jeder Seite der Querstange, die spitzen, kegelförmigen wurden mit den rhombenförmigen zusammengenommen. Die kleinen metallischen Klammern mit ihren Anhängseln interpretierte man als Pfeile und Bogen (Waffen) des Schamanen, die an den Flanken der Maralhirschkuh herabhingen. Die Bewaffnung galt als Ersatz, falls dem Schamanen die „Waffen" nicht genügen sollten, die er an seiner Kleidung trug. Man muß unterstreichen, daß die Trommel hier insgesamt als ein ganzes, lebendiges Tier aufgefaßt wurde — im gegebenen Falle als Maralhirschkuh. Eine solche Deutung der Trommel drückte sich auch in der Bezeichnung der verschiedenen Details aus, die von den Tuwinern als einzelne Körperteile angesehen wurden. Während der Schamanen-Seancen vollführte der Schamane auf der Maralhirschkuh wie auf einem Pferd Reisen auf eigenen Wegen. Unabdingbare kultische Attribute bei allen tuwinischen Schamanen waren die eren (bei den südlichen Tuwinern wurden sie ongut [pl. von ongon] genannt) — das waren Hilfsgeister der Schamanen in der Form anthropomorpher und zoomorpher Darstellungen. 2 Die Anzahl solcher Hilfsgeister wurde bei den Schamanen durch die Tradition geregelt. Manchmal aber konnte die Zahl infolge individueller Praktiken des einen oder anderen Schamanen auch vergrössert werden. Bei den südtuwinischen Schamanen gab es eine bestimmte Menge von ongut {eren). Wir wollen sie hier nicht genauer betrachten, da für die Kategorie von Schamanen, von der hier die Rede ist, nur ein kultisches Attribut charakteristisch ist, das einen Hilfsgeist verkörpert — der Bronze-Spiegel (toV ongut). Nach den Vorstellungen der südlichen Tuwiner waren die Bronze-Spiegel bei anderen Schamanen nicht immer "echt", weil sie von örtlichen Schmieden hergestellt waren, wohingegen die tengri böö ihre Spiegel vom Himmel bekamen. Während der Schamanen-Seancen, die die tengri böö nur zur Nachtzeit veranstalteten, half das toi' ongut dem Schamanen, sich 2
D. K. ZELENIN, K u l ' t ongonov v Sibiri (Ongon-Kult in Sibirien), Moskau/Leningrad 1936, S. 6.
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die ganze Zeit in der Luft aufzuhalten, ohne die Erde zu berühren, und den Himmel zu erreichen. Und da ja auf dem Spiegel die 99 erhabenen Pünktchen waren, die Stufen darstellten, konnte der Schamane mit Hilfe des Spiegels in den Himmel gelangen. Die südlichen Tuwiner glaubten, daß der erste der 99 Punkte von der Erde aus beginnt und jede Stufe einem Schritt des Schamanen entspricht. Die 99 Stufen sind aber gleichzeitig auch die 99 Luftschichten, und nur ein himmlischer Schamane vermochte es, diese zu durchdringen. Die anderen Schamanen jedoch konnten sich nicht um eine Stufe erheben, selbst wenn sie ein toi' ongut besaßen. In bezug auf diese Kategorie von Schamanen existierte ein Volksglauben, der von ihrer Wiedergeburt erzählt. Über den himmlischen Schamanen Jambyl Coodu gibt es bis heute die Überlieferung, daß man ihn auf einem sehr niedrig über dem Boden stehenden Holzgestell (sor) beisetzte, von dem er sich im Verlaufe von sieben Tagen angeblich etwas erhob. Vor seinem Tode hatte Jambyl Coodu seinen einzigen Sohn gebeten, am siebenten Tag nach seinem Ableben zu ihm zu kommen. Als der Sohn zu der Stelle kam, wo der Vater beigesetzt worden war, und unter der Anlage das rituelle Feuer (san) legte, da sah er, daß sein Vater angetan war mit der Schamanenkleidung (gewöhnlich wurden die Kleidung des Schamanen und seine Attribute draußen aufgehängt oder vom beigesetzten Leichnam gesondert abgelegt). 3 Sein Körper war warm, er hielt die Trommel in der Hand, und sie erdröhnte. Aber zu diesem Zeitpunkt erschien plötzlich ein Hund, und der Schamane warf die Trommel auf die Feuerstelle des san und starb. Wenn an diesem Tag kein Hund zum Bestattungsplatz des Schamanen gekommen wäre, so hätte sich Jambyl Coodu über alle 99 Stufen zum Himmel erheben können, und von dort wäre er wieder auf die Erde zurückgekehrt. Das hier kurz dargelegte Material über die Kategorie der himmlischen Schamanen ist für die Untersuchung der religiösen Vorstellungen der Tuwiner unter vergleichendem historisch-ethnographischem Aspekt von besonderem Interesse. Wie aus dem Gesagten ersichtlich wird, hat sich im Schamanentum der südlichen Tuwiner, das lange schon Einflüsse durch die Mongolen erfahren hat, neben der mongolischen Terminologie in einer Reihe von Fällen auch eine türkische Grundlage erhalten. So werden zum Beispiel die Anhängsel am Schamanenkostüm mancak genannt. Was die Frage nach der Art und Weise betrifft, wie man ein Schamane der genannten Kategorie wird, so ist es nicht uninteressant, an F. K O N S Materialien 4 von anderen tuwinischen Gruppen zu erinnern, in denen die Legende vom Einzug der Seele eines verstorbenen Schamanen mit Hilfe eines Regenbogens in den 16jährigen Knaben Sagdyr vorkommt, der in der Folgezeit zu einem mächtigen Schamanen wurde. Wie das Material von den südlichen Tuwinern zeigt, besteht Übereinstimmung mit den Fakten, die F. KON aufzeichnete. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß die Merkmale für das Erscheinen der Schamanengabe hier nicht mit dem Moment des Einzugs der Seele eines verstorbenen Schamanen in einen anderen Menschen verbunden sind. Das trifft für Kategorien von Schamanen zu, die seinerzeit bei den südlichen Tuwinern existierten. Besonders interessant sind die Vorstellungen der Tuwiner, die die Trommel als ein lebendes Wesen in Gestalt einer Maralhirschkuh charakterisieren; und bemerkenswert 3
4
pogrebal'nom obrjade tuvincev (Zum Bestattungsritus der Tuwiner). In: Trudy Tuvinskoj kompleksnoj archeologo-etnografiöeskoj ekspedicii, t. II, Moskau/Leningrad 1966. F. KON, Za pjat'desjat let (Durch 50 Jahre), t. 3 - 4 , Moskau 1936, S. 44f. V . P . D'JAKONOVA, O
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ist auch der Umstand, daß ihr Rahmen als Erdkugel verstanden wird. I n diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß man bei der Herstellung der Trommeln bei einer ganzen Reihe südsibirischer Völker diese mit Fell des Maralhirsches, des Elchs oder der Bergziege bezog; man war der Meinung, daß sie nach dem Ritus der Belebung 3 zu einem Pferd wurde. Offensichtlich muß man hier zwei Etappen in der Entwicklung dieser Vorstellungen sehen: die frühere, in der die Trommel das Tier blieb, aus deren Fell man sie anfertigte, und eine spätere, in der man begann, sie etwas anders zu deuten.6 Ähnliche Vorstellungen über die Trommel finden sich auch im Schamanentum der Keten, wo die Trommel das Reittier des Schamanen ist und die auf ihr befindlichen Zeichnungen das Universum bedeuten. 7 Die Abgrenzung dieser Kategorie von Schamanen durch die südlichen Tuwiner hängt zweifellos mit komplizierten und ziemlich viele verschiedene Elemente enthaltenden ethno-kulturellen Komponenten zusammen. Es ist interessant, daß im Schamanentum der Alar-Burjaten eine ebensolche Kategorie von Schamanen bekannt ist, die man auch tengri bö nennt. 8 In den Stammbäumen der altaischen Schamanen und Schamanirmen, die A . V. A N O C H I N im Jahre 1910 aufzeichnete, findet sich interessanterweise die Erwähnung eines Schamanen namens Sanzak, der wegen seiner K r a f t als Schamane in den alkys (Segenssprüchen) Sohn des Himmels „mäH, äpi yjiH oder teneri u l y " genannt wurde. 9 Dennoch trugen — nach anderen Schamanenstammbäumen zu urteilen — nicht alle, die vergöttlichte Vorfahren und Stärke besaßen, eine solche Bezeichnung, obwohl einige von ihnen zweifellos mit himmlischen Schutzgeistern in Beziehung standen und in ihren Schamanen-Seancen in den Himmel „gelangten", was — nebenbei gesagt — auch für das Schamanentum der zentralen und westlichen Tuwiner zutrifft. Das Interesse, das dieses Material von den südlichen Tuwinern ohne allen Zweifel verdient, wird durch die historischen Informationen über den Schamanismus bei den alten Mongolen und ihren Nachbarn, den Wald-Urianchajern, noch bestätigt. W i e R A S I D - A D - D I N vermerkt, gab es bei den Wald-Uriankat (oder Wald-Urianchajern) eine „unzählbare Menge von Schamanen (kam)", i 0 und gleichzeitig wird von ihm ein interessanter Fakt vom Sohn eines der Vertrauten Tschinggis-Chans angeführt, den „die Mongolen Teb-Tengri" nannten.11 Dieser Teb-Tengri war, wie aus der Chronik L. P. POTAPOV, Obrjad oiivlenija bubna u tjurkojazyönych plemjon Altaja (Die Zeremonie der Belebung der Trommel bei den turksprachigen Stämmen des Altai), =Trudy Instituta etnografii, novaja serija, 1.1, Moskau/Leningrad 1947; S. J. VAJNSTEJN", Tuvincy-Todiincy (Die Todsha-Tuwiner), Moskau 1961, S. 183. 6 An Hand von sejano-altaischem Material wurde diese Frage speziell von L. P . P O T A P O V behandelt. Siehe L . P. POTAPOV, Sledy totemistiöeskich predstavlenij u altajcev (Spuren totemistischerVorstellungen bei den Altaiern). In: Sovetskaja etnografija 1935, No. 4—5; ders.: Oöerki narodnogo byta tuvincev (Abriß der Lebensweise des tuwinischen Volkes), Moskau 1969, S. 353 und 356. 7 Persönliche Mitteilung von E. A . Alekseenko. 8 G. N. POTANIN, Oöerki severo-zapadnoj Mongolii (Skizzen aus der Nordwest-Mongolei), St. Petersburg 1883, vyp. IV, S. 68. 9 A. V. ANOCHIN, Materialy po samanstvu altajcev (Materialien zum Schamanismus der Altaier). In: Sbornik MAE, t. IV, 2, Leningrad 1924, S. 123. 10 RASID-AD-DIN, Sbornikletopisej (Chroniken-Sammlung), t. I,kn. I, Moskau 1952, S. 157. 11 A. a. 0., S. 167. 5
Schamanentum der südlichen Tuwiner
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hervorgeht, zweifellos ein Schamane und konnte — nach den Bemerkungen des Chronisten — Geheimnisse aufdecken, zukünftige Ereignisse vorhersagen, mit Gott ¿prechen und den Himmel besuchen. Von diesen historischen Angaben ausgehend kann man annehmen, daß die genannte Kategorie von Schamanen unter den Mongolen und möglicherweise auch unter den historischen Vorfahren der Tuwiner, den Wald-Urianchajern, schon am Ende des 13. bzw. am Anfang des 14. Jhs. bekannt war. Keinen Zweifel läßt auch der Umstand, daß schon in jener Zeit besondere Schamanenkategorien existierten, an die sich Erinnerungen bei den südlichen Tuwinern, den Burjaten und den Altaiern erhalten haben. Es ist nicht uninteressant, festzustellen, daß die genannte Kategorie von Schamanen im südlichen Tuwa vor allem hohen Beamten und Feudalen der tuwinischen Gesellschaft diente. So erinnert man sich hinsichtlich Jambyl Öoodu's einer Episode, die ein bezeichnendes Licht auf den Kreis seiner „Klienten" wirft. Einst wurde der Amban-nojon in Ulan-Bator in das Haus des Bogdo-chaan eingeladen. Das Zeichen der Macht (otuk), das der Amban-nojon vergessen hatte, wurde von der Frau des Bogdo-chaan in einem Kästchen versteckt und mit einem Schloß abgesichert. Bei seiner Ankunft zu Hause erinnerte sich der Amban-nojon daran. Dieses otuk war ein sehr schöner, nicht sehr großer „Sultan", d. h. ein Busch aus den Federn des Vogels Oguz, der mit Halbedelstein-Perlen verziert war und sich am Kopfputz des Amban-nojon befestigen ließ. Man glaubte, daß das otuk während der Gebete den Segen für den Nojon und seine Umgebung vermehre. Der verwirrte Nojon wandte sich an Jambyl Öoodu, und der schamanisierte drei Nächte lang. Weiter wird erzählt, daß als Folge dieses Schamanisierens das otuk wieder in den Besitz des Amban-nojon zurückkehrte. Als eine Besonderheit der genannten Kategorie von Schamanen gilt auch, daß sie keinen Schamanenbaum hatten. W i e auf Grund ethnographischen Materials von anderen Gruppen der Tuwiner bekannt ist und wie auch aus dem von uns in Süd-Tuwa aufgezeichneten Material hervorgeht, gab es bei allen Schamanen Bäume, die verehrt wurden (xam yjas, bei den südlichen böön mod). Fast in ganz Tuwa war die Lärche ein solcher Baum, bei den östlichen Tuwinern nach Mitteilung von S. J. VAJNSTEJN die Zirbelkiefer oder die Fichte. 12 Diese Bäume hatten unbedingt einen „Herrn", zu ihnen beteten auch die Schamanen selbst, und die einfachen Leute verehrten sie. Bei den Schamanen der südlichen Tuwiner vererbte sich der Schamanenbaum in verwandtschaftlicher Linie. Aber die himmlischen Schamanen hatten eben keine solchen Bäume, obwohl die Darstellung der Zirbelkiefer auf ihrem Kopfputz zu sehen war. G. N . POTANIN teilt mit, daß es bei den Todsha-Schamanen (Ost-Tuwa) zwei Arten gab, wobei die „guten" Schamanen vom Himmel, die „schlechten" vom Baum (xam yjas) abstammten. 13 Allem Anschein nach teilt G. N . POTANIN die Kategorien der Schamanen nach der Art ihrer SchamanenWerdung und K r a f t ein (starke, große und schwache, kleine), die mit der verschiedenartigen Herkunft ihrer Schamanengabe zusammenhingen. Auf Grund der angeführten Angaben zu den Schamanen aus Todsha könnte man annehmen, daß auch bei den südlichen Tuwinern die genannte Kategorie von Schamanen keine eigenen Schamanenbäume gehabt haben wird. 12
S. J. VAJN§TEJN, Tuvincy-Todzincy (Die Todsha-Tuwiner), Moskau/Leningrad 1961.
13
G. N. POTANIN, Oöerki severo-zapadnoj Mongolii (Skizzen aus der Nordwest-Mongolei), vyp. IV, St. Petersburg 1883, S. 63.
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VERA P . D'JAEONOVA
Das Problem des tuwinischen Schamanismus ist, wie wir zu zeigen versuchten, kompliziert und widersprüchlich. Eine gründliche Materialsammlung von den einzelnen ethnischen Gruppen der Tuwiner kann bei entsprechender vergleichender Analyse in Zukunft dazu beitragen, die historischen Wurzeln des tuwinischen Schamanentums aufzuklären. Übersetzung von E .
TAUBE
Notizen zum Schamanismus bei den Tuwinern des Cengel-sum (Westmongolei) Von
EBIKA TAUBE,
Markkleeberg
(Mit 7 Abbildungen auf Tafel I - V I I )
Der Schamanismus stellt kein einheitliches Phänomen dar, sondern existiert in verschieden abgestuften Formen mit oft starker lokaler Prägung. 1 Die Notwendigkeit, als Voraussetzung für die Erforschung von Ursprung und Bedeutung des Schamanismus als Gesamterscheinung auch das Material lokaler ethnischer Gruppen zu erfassen und bereitzustellen und darauf aufbauende Detailuntersuchungen (Terminologie, Attribute u. a.) durchzuführen, ist bereits vielfach betont worden. 2 M I R C E A E L I A D E schlußfolgert auf Grund seiner Untersuchungen zu diesem Problemkreis, daß wir es beim Schamanismus, wie er bei den nomadischen Völkern Südsibiriens und Zentralasiens bis in unser Jahrhundert hinein anzutreffen war, mit der klassischen Form dieses religiösen Phänomens zu tun haben. 3 Diese „klassische Form", die entwickeltste Form des Schamanismus, konnte sich in Südsibirien aus verschiedenen Gründen herausbilden, vor allem, weil sich bei den hier in Kontakt mit den Klassengesellschaften des Ostens und deren Religionen lebenden Völkern die Auflösung der gentilen Verhältnisse früher und schneller als in anderen Teilen Sibiriens, besonders Nordsibiriens, vollzogen hat, wodurch die Entwicklung des allgemeinen Schamanentums der Gentilordnung zum professionellen Schamanentum gefördert wurde/ 1 I n diesem Zusammenhang ist der Schamanismus der zu den südsibirischen Türkvölkern gehörenden Tuwiner von großem Interesse. Auf dem von ihnen bewohnten Territorium vollzieht sich der Übergang von der Taiga- zur Gebirgssteppenzone, so daß hier die Voraussetzungen für eine auf Jagd und Viehhaltung beruhende Lebensweise gegeben sind. Dieser geographischen Situation entsprechend existierten zu Beginn des 20. Jhs. in diesem Gebiet — heute Tuwinische ASSR — drei wirtschaftlich-kulturelle Typen: 1. der der Jäger und Rentierzüchter der Gebirgstaigazone, 2. der der nomadischen Viehzüchter der Gebirgssteppenzone, 3. der der nomadischen und halbnomadischen J ä ger und Viehzüchter der Gebirgstaiga- und Steppenzone. 5 Diese spezifischenBedingungen und Gegebenheiten sind nicht ohne Belang für den tuwinischen Schamanismus und für seine Bedeutung im Gesamtzusammenhang der Erforschung des Schamanismus. Denn „. . . ethnology and the study ofreligionare not only a sort of historical account, in which the primary objective is the question of origin and development. Equally important in research is the functionalistic view-point which when weinvestigate detailshelpsusnot to lose sight of thestructuralunity. All our efforts would be in vain if we were not able to 1 R Ä N K , S . 16. 2
Zum Beispiel RANK, S. 21.
3 ELIADE, S. 2 4 8 , 2 6 1 f. ^ VAJNSTEJN 1 9 6 4 , S . 10. 5 VAJNSTEJN 1 9 7 2 , S. 8 - 1 0 .
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ERIKA TAUBE
place shamanism in a functional relationship with human existence in its widest sense, that is, with its social-economic system and religious ideas. Without such a holoistic view of matter, the question of origin and development is left floating in a theoretical vacuum, lacking any contact with reality". 6 Sowjetische Ethnographen haben in den vergangenen Jahrzehnten umfangreiches Material über das Schamanentum der Tuwiner in ihrer Gesamtheit wie auch von lokalen Gruppen gesammelt, bekanntgemacht und ausgewertet. 7 Angeregt von diesen Arbeiten, insbesondere von V. P. D ' J A K O N O V A S „Materialy po samanstvu juznych tuvincev" aus dem Jahre 1971 und S. I. V A J N S T E J N S „Eine Schamanen-Seance bei den östlichen Tuwinern", 8 der er im Sommer 1963 am Ufer des Tere-chöl in der Tuwinischen ASSR beiwohnte, möchte ich — unter dem Vorbehalt, daß ich für diese Thematik keineswegs kompetent bin — meine Aufzeichnungen über einige schamanistische Vorstellungen und Praktiken vorlegen, die ich bei den Tuwinern des Cengel-sum (Bajan Ölgij-Aimak der MVR), also bei einer Gruppe der westlichen Tuwiner, in den Sommern der Jahre 1966, 1967 und 1969 angefertigt habe.« Obwohl der Lamaismus auch in den Altai vorgedrungen war, also auch das Gebiet erfaßt hatte, das heute den äußersten Westen der MVR ausmacht und in dem der außer von Kasachen auch von etwa zweieinhalbtausend Tuwinern bewohnte Cengelsuni liegt, hat er die schamanistischen Vorstellungen, die er dort vorfand, nicht verdrängen können — trotz massiver Verfolgung der Schamanen, die in Massenverbrennungen ihren Höhepunkt fand. Über eine große Aktion gegen die Schamanen der Westmongolei am Anfang unseres Jahrhunderts wird beispielsweise folgendes überliefert : Der Lamaismus hatte in diesem westlichen Teil der Mongolei keine starke Position gewinnen können. 10 Als der letzte Bogdo Gegen (auch mong. sochor bogdo, „blinder Bogdo", genannt) an die Macht gelangt war, kam es daher zu heftigen Repressalien gegenüber den Schamanen. So wurden unter dem Lama Dambazancan (auch Dambijzancan, Dambijzaa, 2aa-lam, im Volksmund auch mong. chojor temeet lam, „Lama mit zwei Kamelen", genannt, weil er mit zwei Kamelen durch die westmongolischen Gebiete zog), der als äußerst reaktionär galt, 11 in einem Drachen-Jahr (1904) 16 (nach anderen Aussagen 18) tuwinische Schamanen in das Gebiet des heutigen Delüün-sum des Bajan-Ölgij-Aimak geholt; man hatte dort die großen, d. h. stärksten und bekanntesten Schamanen aus sieben Choschuunen der Chomdu-Richtung (des Gebiets am 6 RÄNK, S. 21. 7
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VAJNÄTBJN 1 9 6 1 , S. 1 6 1 - 1 9 5 ; ders. 1 9 6 4 ; D'JAKONOVA 1 9 7 3 ; dies. 1 9 7 5 ; POTAPOV 1969, S. 3 4 6 - 3 8 5 ; v e r g l . a u c h POTAPOV 1977. D'JAKONOVA 1 9 7 1 ; VAJNSTEJN 1 9 7 7 .
Ergänzende Informationen über schamanistisches Gedankengut findet sich in einigen weiteren Arbeiten der Verfasserin (TAUBE 1970, 1972, 1974a, 1974b, 1977b). Eine analoge Feststellung trifft POTAPOV (1969, S. 361) in bezug auf die übrigen Tuwiner. Vgl. die Stellung des Christentums bei den Tofa (Karagassen) im vorigen Jahrhundert (DIÖSZEGI 1963, S. 262).
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Sein N a m e gilt heute in der MVR als eine Art S y n o n y m für Grausamkeit. Uber die Liquidierung D a m b a i a n c a n s mit seiner Bande durch die junge Volksmacht — auf persönliche Anweisung Süchbaatars — und damit seine moralische Verurteilung berichtet der mongolische Film Iieend, n' („In seinem [Raubtier-]Bau", 1977 [?]), zu dem der Historiker &. Nacagdorz das Szenarium schrieb; vgl. auch VEIT 1973.
Schamanismus im Cengel-sum
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Ober- und Mittellauf des Flusses Chovd) zusammengetrieben. 12 Dann soll hier ein großes Feuer angelegt worden sein, durch welches die Schamanen hindurchgehen mußten. Es wird gesagt, daß zwei von ihnen trotz mehrfacher Tortur dem Feuer widerstanden und überhaupt keinen Schaden erlitten hätten. An diesem Schauspiel mußte die tuwinische Bevölkerung teilnehmen, die dazu ihre Heimatgebiete zu verlassen und noch den Winter in Delüün zu verbringen hatte. Erst im darauffolgenden Sommer durfte sie wieder in ihre Weidegebiete am Oberlauf des Chovd zurückkehren. 13 Schon seit der Mitte unseres Jahrhunderts spielt der Schamanismus unter den Tuwinern im östlichen Altai (im Cengel-sum des Bajan-Ölgij-Aimak) keine Rolle mehr. Dennoch lassen sich im Alltagsbrauchtum bis heute Relikte schamanistischen Gedankenguts feststellen, und während meiner Feldarbeit unter diesen Tuwinern konnte ich auch noch einige Personen treffen, die früher als Schamanen gewirkt hatten. Die folgenden Notizen beruhen nur zu einem Teil auf eigenen Beobachtungen, und diese betreffen in erster Linie Vorstellungen, die in verschiedenen Alltagsbräuchen ihren Ausdruck finden. Zum größeren Teil liegen ihnen Aussagen von Informanten zugrunde, die sich vor allem auf die Schamanen selbst und ihre Tätigkeit beziehen und auf den Erinnerungen der Informanten basieren. 14 Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß diese Aufzeichnungen nicht vollständig sein können, da das konkrete Erlebnis im allgemeinen mindestens 15 Jahre zurücklag und die Gewährsleute sich damals zum Teil noch im Kindesalter befanden. Von einigen noch lebenden, aber natürlich nicht mehr praktizierenden Schamanen konnten wir auch einige Tonbandaufnahmen von Schamanengesängen machen. Anläßlich eines Empfangs bei der Aimaks- und Parteileitung in Ölgij hatte ich auf meine Bitte hin die Erlaubnis zu Aufnahmen von Schamanengesängen erhalten, falls sich dazu Gelegenheit böte. Das erschien mir wichtig, um meinen Gewährsleuten eventuelle Unannehmlichkeiten zu ersparen. Trotz dieser Absicherung waren jedoch von vier ehemaligen Schamaninnen nur zwei ältere Frauen bereit zum Vortrag. Darüber hinaus trafen wir auch mit einem ehemaligen männlichen Schamanen zusammen, von dem wir einen Gesang aufzeichneten. 15 12
Die Schamanen der A l d a j - R i c h t u n g sind in A l d a j (heute A-shan in der V R China) versammelt u n d v e r b r a n n t worden; die „ A l d a j - R i c h t u n g " ist das Gebiet, das nach einer alten Einteilung des Bajan-Ölgij-Aimak südlich von Syrgalyg liegt, d. h. südlich der Gebirgskette des mongolischen Altai, die heute die mongolisch-chinesische Grenze bildet. 1;! Den Grund f ü r die weite E n t f e r n u n g von ihren Weidegebieten sehen die Tuwiner in einer politischen Machenschaft. Hier die mündliche Überlieferung: E i n Mandschu-Fürst, der den Titel Chev-Amban f ü h r t e u n d der letzte Vertreter der Mandschu-Herrschaft mit Sitz in Chovd war, m a c h t e das Gebiet a m Oberlauf des Chovd (darunter den Bereich des heutigen Cengel-sum) und das Gebiet Altai dem kasachischen F ü r s t e n S ü k ü r b e j z u m Geschenk, n a c h d e m dieser ihm 1000 Liang Silber gegeben h a t t e . Bis dahin h a t t e n die Kasachen (sechs Sumun des Stammes Seriksi u n d ein Teil des S t a m m e s der zwölf Xerej) in dieser Gegend keine H e i m a t , pachteten aber b e s t i m m t e Gebiete als Winterweiden. N a c h diesen Ereignissen m u ß t e n die Tuwiner einige der bisher von ihnen bewohnten Täler aufgeben. E s wird erzählt, der tuwinische T a m g a in B a r u u n - B e j s h a b e sich beim Kaiser (Ezen. Chaan) in Peking beschwert, woraufhin der Chev-Amban nach Peking beordert u n d d o r t geköpft worden sei. 14 Wesentliche I n f o r m a t i o n e n verdanke ich unserem F r e u n d Cinagijn Galsan (tuwin. N a m e S y n a k b a j n y q Dzuruguvä), ein gebürtiger Tuwiner, der das Tuwinische des Cengelsum als Muttersprache spricht und mich auf allen meinen Reisen dorthin begleitete. ir ' Allerdings soll auch Dölön, ein weiterer meiner Märchenerzähler (1967 70 J a h r e alt), der
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ERIKA
TAUBE
Die ältere der beiden Frauen, die früher als Schamaninnen tätig waren, F r a u Ajüs, war, als wir im Sommer 1966 mit ihr zusammentrafen, 65 J a h r e alt; sie ist im Winter von 1966 verstorben. I n Anspielung auf ihre Schamanentätigkeit trug sie den Spitznamen Sazynbaj, „die Religionsreiche" (zusammengesetzt aus mong. sasin, „Religion", und tuwin. baj, „reich", einer häufigen Namensendung). F r a u Pürvü, die — in einem Maus-Jahr (1912) geboren — 1966 nach tuwinischer Zählung 55 J a h r e alt war (die neun Monate im Mutterleib werden als erstes J a h r gerechnet), war als Mädchen von 17 J a h r e n Schamanin geworden. Sie erzählte uns, daß sie schon als Fünfzehnjährige „erkrankte" (siehe unten S. 47). Als dieser Zustand anhielt, weihte ihr Vater, selbst ein Schamane, sie ein (gurlün xamny bastär). Sie begann zu schamanisieren. Die Gesänge und Zeremonien erlernte sie von ihrem Vater. — Als sie heiratete, holte sie der ältere Bruder ihres Bräutigams von ihren Eltern ab. Als sie aus der Tür der elterlichen J u r t e trat, riefen die Zurückbleibenden „xuraj, xuraj..." (eine Segen bewirkende Formel). Dabei hielten sie Gefäße mit Milch in ihren Händen, die sie kreisförmig vor sich von links nach rechts bewegten (xurajlär), also entsprechend der Bewegung der Sonne. Hinter der Braut her wurde die Trommel aus der J u r t e getragen und auf einen weißen Stier (wohl das ydyk, siehe unten S. 48) geladen. Beim E m p f a n g im Ail des Bräutigams breitete man vor der J u r t e 10 Klafter lang weißen Filz aus. Der einzige Mann, dem wir begegneten, der mit Sicherheit früher auch als Schamane gewirkt hatte, war Bajynburäd. Als wir ihn im Sommer 1966 zum ersten Male trafen, war er 63 J a h r e alt; er ist im Winter 1967/1968 gestorben. An meiner Sammlung cengel-tuwinischer Schamanengesänge ist er nur mit einem Gesang beteiligt, gehört aber ansonsten zu meinen besten und fündigsten Erzählern. I n den Sommern 1966 und 1967 trug er uns mehrere umfangreiche Reckenmärchen vor. l u Wegen seines großen Repertoires und der Qualität seines Vortrags konzentrierten wir uns bei der Begegnung mit ihm — meinem damaligen Anliegen entsprechend — ganz auf das Erfassen erzählender Volksdichtung. Allerdings fügte er eben, als er am 28. 8. 1967 den Gesang des Reckenmärchens Par sökar a'ttyg Pavyldaj mergen („Pavyldaj mergen mit dem leopardenscheckigen Pferd") beendet hatte, noch einen Schamanengesang an, einen Lobpreis auf den Altai ( A l d a j maktär), den wir ebenfalls auf Tonband aufnahmen. Die Tätigkeit des Schamanen setzt eine gewisse dichterische Begabung voraus. I m Verlaufe einer Seance trägt der Schamane ja mehrere Gesänge vor und schildert dabei u. a. mit verschiedenen Liedern, Lauten und Gebärden auch seine Reise ins Jenseits. 1 7 Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich unter den Schamanen (auch bei anderen Völkern Sibiriens) gute Erzähler finden und daß diese gelegentlich das Vortragen von Dichtung (Lieder, Märchen, Sagen u. ä.) zum Zwecke der Unterhaltung zu ihren Aufgaben zählen, 18 wie das offensichtlich auch bei B a j y n b u r ä d der Fall war. früher eine Zeitlang ein „weltlicher" (d.h. nicht im Kloster lebender) Lama war, sich gelegentlich als Schamane betätigt haben. )G Von ihm stammen eine Reckenmärchen-Trilogie, die sich zusammensetzt aus den Teilen (i) Xara Bürul Düzümel, (2) Buga Dzaryn Buktug Giris (eine Variante davon ist publiziert in T A U B E 1978a, S. 121—125) und (3) SarygOaldar, ferner Varianten der Reckenmärchen Par sökar a'ttyg Pavyldaj mergen (Variantenin T A U B E 1977 a,¡S. 7—21,und 1978a, S. 50-63) und Bögen Sagän Tölaj (Varianten in T A U B E 1977a, S. 24-29, und 1978a, S. 97-120; vgl. auch T A U B E 1978b). " HABVA, S. 555. N I O B A D Z E , S. 97ff.
Schamanismus im Cengel-sum
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Die Person Bajynburäds verdient aber noch unter einem weiteren Aspekt besondere Beachtung. Neben seiner Tätigkeit als Hirt der Genossenschaft Altajn orgil („Gipfel des Altai") und als Jäger betrieb er auch das Schmiedehandwerk. Er hatte zu diesem Zwecke nicht weit vom Zentrum des Cengel-sum nahe dem Ufer des Chovd-Flusses neben seiner J u r t e eine Hütte, die ihm als Werkstatt diente und in der er wohl vor allem Hufeisen und Hufnägel herstellte. Als wir ihn 1967 aufsuchten, trafen wir ihn gerade bei Schmiedearbeiten an. (Leider habe ich diesem Umstand damals kaum Beachtung geschenkt, auch ahnte ich nicht, daß wir Bajynburäd in jenem Sommer zum letzten Mal sehen sollten.) — Bereits in Arbeiten russischer Gelehrter wurde mehrfach auf die Beziehung zwischen Schamanentum und Schmiedehandwerk hingewiesen, die zuletzt der japanische Wissenschaftler M. M O E I betont hat, der die These vertritt, daß die staatliche Autorität der türkischen Khagane sich auf den zauberisch-magischen Einfluß der das Schmiedehandwerk beherrschenden Schamanen (russ. samany-kuznecy) stützte. 19 Das heißt, die durch Bajynburäd verkörperte Einheit SchamaneSchmied ist eine bereits für die 2. Hälfte des 1. J t n. d. Ztr. belegte Erscheinung. Der Schamane heißt bei den Cengel-Tuwinern xam. Dieses Wort entspricht der allgemeinsten Bezeichnung des Schamanen bei den altai-türkischen Völkern (bei manchen auch kam); es ist in dieser Bedeutung bereits in dem uigurischen Kudatku bilik aus dem Jahre 1069 belegt. 20 — Die Aussagen, wie man zum Schamanen wird (xam bolur), stimmen mit den Angaben S. I . V A J N S T E J N S und V. D I Ö S Z E G I S von den östlichen Tuwinern und auch weitgehend mit Berichten von anderen sibirischen Völkern überein. 21 Junge Menschen werden von der sogenannten „Schamanenkrankheit" (guruk) befallen — ein Zeichen dafür, daß ein Geist das Schamane-Werden des Betroffenen wünscht. Bei Mädchen geschieht das zwischen dem 10. und 15. Lebensjahr, bei Jungen im allgemeinen ein paar Jahre später. Das sind natürlich keine absoluten Werte. In neuerer Zeit hatte sich das Alter etwas hinausgeschoben. So wurde mir von einem Mädchen erzählt, das mit 20 Jahren „erkrankte" (gurlür, < guruk), und ich kenne eine junge Frau, die zur Zeit der „Erkrankung" bereits über 20 war und die etwa von ihrem 25. Lebensjahr an für immer geistesgestört war, „weil man sie nicht rechtzeitig zur Schamanin gemacht hatte". 2 2 Die Erkrankten bekommen Anfälle, Krämpfe, verlieren das Bewußtsein, schreien, singen und sprechen in Versen. Sie laufen von zu Hause fort und bleiben oft längere Zeit weg. 23 Später können sie sich auf nichts mehr besinnen, was in dieser Zeit mit ihnen vorgegangen ist. Dieser Zustand kann Monate, in einzelnen Fällen auch Jahre dauern. Der Glaube, daß den künftigen Schamanen die Gesänge, die sie später singen, bereits in dieser Phase einkommen, 24 ist der einzige Hinweis auf die Umstände der Initiation durch den Schutzgeist bzw. Haupthilfsgeist 19
M. MORI: Politiceskaja struktura drevnego gosudarstva koöevnikov Mongolii ([Vortrag auf.dem] X I I I . Mezdunarodnyj Kongress istoriceskich nauk), Moskau 1970, S. 1 (zitiert nach D ' J A K O N O V A 1973, S . 2 2 2 ) . Die Kombination Schamane-Jäger-Schmied erwähnt auch P O T A P O V 1969, S . 348.
20 H A B V A , S . 4 4 9 .
S. 3 0 ; ders. 1 9 6 3 , S. 3 5 9 - 3 6 1 ; D I Ö S Z E G I 1 9 5 9 . S. 56f. — Die gleiche Bezeichnung guruk trägt auch eine Krankheit, die mit ähnlichen Symptomen — Krämpfe und kreiselnde Bewegungen, bei denen der Kopf auf eine Seite gedrückt wird — bei jungen Schafen vorkommt.
21
VAJNSTEJN 1977,
22
NIORADZE,
23 N I O K A D Z E , S . 5 5 ; V A J N S T E J N 1 9 7 7 , S . 3 0 , u . a .
24
NIOBADZE, S. 58.
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ERIKA TAUBE
(dzajän), über die von vielen anderen Völkern wesentlich konkretere Vorstellungen berichtet werden (Tod und Wiederbelebung der vom Körper abwesenden Seele). 25 Wenn die Zeit der Anfälle vorüber ist, d. h. wenn die Berufung durch einen Geist vom K a n d i d a t e n akzeptiert wurde, können diese jungen Leute zu Schamanen gemacht werden. Sie bekommen zunächst die Schamanenkleider (xamny-q edik xevi, wörtl. „Stiefel und Kleid des Schamanen"), d a n n die Trommel (dürjgiir) und das übrige Zubehör — Schlegel (orva) und Tücherbündel (savyd). Bei seinen ersten Auftritten mußte dem Neuling ein alter Schamane oder eine alte Schamanin „zur Seite stehen" (bastär, wörtl. „voranstehen, die Führung haben"), die ihn in die schamanistischen Praktiken einführten. Man kannte also eine Art Lehrzeit. Der neue Schamane bekam n u n ein eigenes Reittier ( y d y k ) — ein Pferd, das man weihte (ydyktär oder aryglär) und das von n u n a n von anderen, insbesondere von Frauen, weder geritten noch auch nur berührt werden durfte. Geschah das doch einmal, mußte diese Entweihung durch neue Zeremonien wieder ausgelöscht werden. 26 Einem solchen geweihten Tier wurde die Mähne nicht geschnitten, und m a n flocht bunte Bänder (dzalama oder dzalbyr)27 in das Mähnenhaar. Da der ganze Komplex der Schamanenweihe mit seinen zahlreichen Varianten innerhalb des Gesamt-Schamanismus den Eindruck einer peripheren und sekundären Entwicklung m a c h t 2 8 — das ganze Zeremoniell war dazu angetan, die Position des Schamanen zu stärken und zu untermauern, was mit der Institution des Berufsschamanentums von grundlegendem Interesse werden mußte —, könnten die relativ spärlichen Informationen dazu von den Cengel-Tuwinern darauf hindeuten, daß die bei ihnen ausgeprägte Form des Schamanismus keine sehr späte Entwicklungsstufe repräsentiert. Wenn ein Schamane starb, brachte m a n mit ihm zusammen auch seine Kleider und seine Trommel fort. Früher sollen die Leichname der Schamanen — wie es auch von sibirischen Völkern bekannt ist — auf Bäumen, wohl vor allem Lärchen, ausgesetzt worden sein. Auf dem linken Ufer des Chovd (tuwin. Xomdu) gegenüber dem heutigen Cengel-Zentrum ist das Flußtal auf einer weiten Fläche von Weidengebüsch und hohen Lärchen bestanden. Eine der dort stehenden alten Lärchen soll ein solcher „Scham a n e n b a u m " (xam yjazy) gewesen sein. F r a u P ü r v ü unterscheidet 3 Kategorien von Schamanen: 1. Xarademiq xamy („Schamane des schwarzen Himmels"), 2. Aryg söktürj xamy („Schamane der reinen Knochen"), 3. Sagystyr] xamy („Schamane des Gedankens", d. h. etwa „aus eigenem Willen"). E s scheint, daß diese Einteilung sich darauf bezieht, wodurch der betreffende Mensch zum Schamanen wird, auf welche Weise oder woher er seinen Hilfsgeist oder seine Hilfsgeister übernimmt. Frau P ü r v ü rechnet sich selbst zur ersten Gruppe, mit dem Hinweis darauf, daß sie ihren „Geist" (zu verstehen ist darunter ihre Schamanengabe) direkt von ihrem Vater übernommen habe. Bei diesen „vom Himmel bestimmten" 25 26
HOFFMANN, S. 116—119 u n d die d o r t zitierte L i t e r a t u r . D a s gleiche gilt f ü r g e w e i h t e Tiere (ydyk) ü b e r h a u p t (TAUBE 1972, S. 135; vgl. a u c h POTAPOV 1969, S. 366F.).
27
U n t e r dzalama v e r s t e h t m a n i m a l l g e m e i n e n Stoff streifen, die e i n f a c h v o n e i n e m S t ü c k Stoff a b g e r i s s e n w u r d e n ; dzalbyr sind (nach d e r A r t des S c h a s c h l y k - S p i e ß e n s ) auf eine S c h n u r g e f ä d e l t e b u n t e S t o f f s t ü c k e , wie m a n sie a u c h g e w e i h t e n Tieren u m den H a l s h ä n g t .
28
HOFFMANN, S. 1 2 0 ; FINDEISEN, S. 6 6 ; VAJDA, S. 468.
S c h a m a n i s m u s i m Cengel-sum
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Schamanen haben wir es demnach offensichtlich mit erblichem Schamanentum zu tun. — In Frau Pürvüs Gesängen taucht immer wieder ein Passus auf, durch den betont wird, daß sie einem Ruf zufolge schamanisiere: Sagyzymnan salym salgan bo geldim de dzajännarym,
gylbädym uzunnan silerge xaläm, oj.
„Aus meinen Gedanken heraus t a t ich es nicht, aus einem vom Himmel bestimmten Grund kam ich jetzt zu Euch, meine Schicksalsgeister, mein Xalak29 — o h ! "
Die Schamanen der zweiten Gruppe sind — nach Frau Pürvüs Auskunft — „von Geburt an" Schamane. Das dürfen wir wohl so verstehen, daß diese Menschen für ihre Schamanengabe — für ihre Fähigkeit der Kontaktnahme mit Geistern — keines Vorgängers, keines Mittlers bedürfen. Sie sind von Natur aus dafür prädestiniert. Für die dritte Gruppe scheint es charakteristisch zu sein, daß es im Ermessen des Betreffenden selbst liegt, ob er Schamane wird oder nicht; in erster Linie scheint hier der eigene Wille und nicht eine besondere psychische Disposition für das SchamaneWerden bestimmend zu sein. 30 Möglicherweise haben wir es hier mit einer Erscheinung zu tun, die einer frühen Stufe des Schamanismus entspricht, als nämlich (in der Gentilordnung) „die Funktionen des Schamanen von fast jedem Mitglied der Sippe ausgeübt wurden", 31 wo also ziemlich viele zu schamanisieren vermochten. 32 — Es gibt ein Sprichwort unter den Tuwinern von Cengel, das auf den Anteil des Willens, auf die innere Bereitschaft des einzelnen, anspielt. Es lautet: Gortbäza bätyr bolur, yjatbäza xam bolur.
„Wenn man sich nicht fürchtet, wird man ein Recke, wenn man sich nicht schämt, wird man ein Schamane."
Zu dieser dritten Gruppe soll Frau Ajüs gehört haben. Sie habe nach dem Tode ihres Schwiegervaters, also keines Blutsverwandten, dessen Geist übernommen. Auch in dieser Gruppe kann demnach die Tradition eine gewisse Rolle spielen, sie ist aber hier — im Gegensatz zur ersten Gruppe — offenbar nicht zwingend. Vielleicht liegt hierin auch eine Erklärung f ü r das unterschiedliche Verhalten der beiden Frauen zu dem, was mit ihrem früheren Schamanentum verbunden war. 33 Die Gesänge der Schamanen dieser drei Gruppen sollen dem Inhalt nach gleich sein, in Wortlaut und Melodie aber variieren. Selbst bei dem einzelnen Schamanen wechseln die Melodien, abhängig vom Inhalt der Lieder. — Hier seien ein paar Bemerkungen über die Schamanengesänge, die ich auf Tonband aufnehmen konnte, 3 ' 1 und über einige Begleitumstände unserer Aufzeichnungsarbeit eingeschoben. Frau Ajüs war, als wir sie am 19. 7. 1966 in ihrer J u r t e aufsuchten, ohne viele D a s W o r t xalak h a t liier die B e d e u t u n g „ F r e u n d , ( S c h i c k s a l s - ) G e f ä h r t e , (Leidens-)Geriosse". W FINDEISEN, S. 47. VAJNSTEJN 1964, S. 10. 3
- Bei d e n T u w i n e r n des C e n g e l - s u m h a b e n sich a u c h auf a n d e r e n Gebieten a r c h a i s c h e Züge im L e b e n der G e m e i n s c h a f t e r h a l t e n (siehe u n t e n S. 62; T A U B E 1977 b). Siehe u n t e n S. 52. — Z u d e n K a t e g o r i e n d e r S c h a m a n e n (nach d e r A r t u n d Weise i h r e r S c h a m a n e n - W e r d u n g ) v g l . F I N D E I S E N , S. 4 8 f.
D i e - P u b l i k a t i o n dieser Gesänge soll in einer s p ä t e r e n A r b e i t erfolgen. 4
Jahrbuch des Museums für Völkerkunde, Bd. X X X I I I
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Umstände bereit, uns etwas vorzutragen. Vier Wochen später, am 19.8.1966, zeichneten wir von ihr folgende Gesänge auf: 1. Ak godan dözü („Geist 35 des weißen Schneehasen"), 2. Saryg gyzyl toluglug, saryg anaj tajyglyg („Der ein gelb-rotes Substitut hat, der ein gelbes Zicklein als geweihtes Tier hat"), 36 3. Sünezin gygyrar (,,[Zurück]rufen der Seele") 37 verbunden mit einem Gargys („Fluch"), 4. Abschied von den Geistern (ohne tuwinische Bezeichnung). Ihre Gesänge qualifizierte sie als xara ijikten, „von der schwarzen Seite", d. h. von der weltlichen bzw. nicht-lamaistischen Seite. Damit wollte sie wohl die „Echtheit" ihrer Texte unterstreichen und darauf hinweisen, daß sie keine lamaistischen Zutaten enthalten, wie sie häufig — um auf Grund der Repressalien durch die lamaistische Kirche den schamanistischen Charakter zu verschleiern, d. h. als „Tarnung" des eigentlichen Gedankenguts — in die schamanistischen Gesänge aufgenommen worden sein mögen. 38 Vielleicht bezeichnet das Attribut xara ijikten aber auch nur den schamanistischen Gesang im Gegensatz zu einem lamaistischen Gebet oder einer lamaistischen Anrufung. Oder sollte hier Schwarz im Gegensatz zu Weiß stehen — entsprechend der häufigen Trennung in schwarze und weiße Schamanen, 39 die allerdings sonst in den Aussagen meiner Informanten keine Rolle spielte? Bei unserer ersten Begegnung erfuhren wir von Frau Ajüs, daß sie von dem Schamanenzubehör — Kleidung, Trommel usw. — nichts mehr besaß. Sie bot aber an, uns zu zeigen, wie ein Schamane „tanzt" (böldenir, „walzen", „sich im Kreise drehen"). Wir stimmten erfreut zu, und sie begann sich umzuziehen: Sie legte ihr Alltagskleid ab, das heute übliche Gewand, das in Schnitt und Ausführung ganz dem mon:l5 36
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Die Grundbedeutung von dös ist „Ursprung, Wurzel". Tolug wird erklärt als „Ersatz, Substitut in Gefahr, speziell f ü r jdn., der von bösen Geistern b e d r o h t ist"; nach R A D L O F F ( I I I / l , Sp. 1197) heißen so „die an der vorderen Seite der J u r t e , an der Götterstelle, an einem Strick aufgehängten 5, 7 oder 9 Kleidungsstücke oder Tierfelle". Es muß sich dabei u m eine Analogie zu dem Aufhängen von Dingen bei der Weihe des Herdfeuers (siehe unten S. 55) handeln, die alle etwas Bestimmtes vertreten. — tajyg (einmal in den Schamanentexten in gleicher Position als tajyl vorkommend: saryg anaj tajyldyg) konnte mir nicht erklärt werden. Es scheint sich um ein dem Geist geweihtes Tier zu handeln, vergleichbar dem ydyk. Zu vergleichen ist R A D L O F F I I I / l , Sp. 820: kas. tajvui „s. verbeugen" (zum Zeremoniell des ydyklär gehört ja die „Verneigung" des ydyk, siehe S. 56); tel. tajusfya „Opfertier"; vgl. ferner alttürk. tajiy „glatt" (direkt oder übertragen [also auch etwa „gefährlich"]); uigur. tajuk „glatt, gefährlich". — Der Wechsel tajyg — tajyl deutet darauf hin, daß diesen geweihten Tieren eine schützende Funktion z u k o m m t ( = gefährlich f ü r böse Geister). Vor Beginn dieses Gesangs gähnte F r a u Ajüs kräftig und laut — so auffällig, daß es bei der schriftlichen Fixierung des Textes vermerkt wurde; man denkt dabei an die Vorstellung, d a ß beim Gähnen Geister in den Menschen eindringen. Unter den Gesängen von F r a u P ü r v ü ist zum Beispiel einer, der sich an „sieben L a m a s " (dzedi lam) richtet, siehe unten S. 52. Diese Vorstellungen gingen nach H O F F M A N N wahrscheinlich von den Türkvölkern des Altaigebiets u n d den J a k u t e n aus; sie beruhen möglicherweise auf dem Dualismus iranischer Religionen, vermutlich durch Vermittlung des M.anichäismus, „dessen Wirkung im Abakan-Gebiet O . Maenchen-Helfen aus Felsbildern nachgewiesen h a t " ( H O F F M A N N , S. 102).
Schamanismus im Cengel-sum
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golischen Deel gleicht (tuwin. lav[a\$ak, „Sommerausführung des Obergewands"). Darunter trug sie eine weite blaue Hose, deren Beinlinge in den Stiefeln steckten, und über derselben aus dem gleichen blauen Stoff eine weite Bluse, die am Hals mit vor allem rotem Stoff und Paspeln bordürenartig in der Weise des früher üblichen tuwinischen Kleides für unverheiratete Mädchen verziert war. N u n zog sie sich das alte tuwinische Frauenkleid an, das ich nur noch in einzelnen Exemplaren vorfand. 4 0 So angetan brachte Frau Ajüs nun ein Bündel verschiedenfarbiger Tücher {Savyd) zum Vorschein, die an den Zipfeln wie feine Quaste zusammengebunden waren. Es handelte sich um Tücher in den Farben Rot, Blau, Grün, Gelb und Weiß, wobei jede Farbe in zwei verschiedenen Tönen, einem helleren und einem dunkleren, vertreten war. 41 Jede der Farben soll für einen bestimmten Geist stehen. Dieses Tücherbündel (mit dem der Schamane zum Beispiel einen Kranken schlägt) 42 wird im allgemeinen nicht unter den Attributen des Schamanen aufgezählt. DIÖSZEGI berichtet von „Tüchern" bei den Tofa (Karagassen). Er erwähnt, daß solche „Tücher" als Stoffanhängsel am Kleid der Tofa-Schamanen so gut wie gar nicht vorkämen, daß er sie nur einmal an den beiden Seiten eines Schamanenmantels aus der Sippe Aq Öoydu gesehen habe, hier als calyyn, „Flügel", bezeichnet. 43 Den bildlichen Vergleich dieses Tücherbündels mit einem Flügel finden wir auch in einem der Gesänge von Frau P ü r v ü : zalgyn ala mandzäm aj, „(wie) Flügel mein buntes Tücherbündel — ei". Bei den Cengel-Tuwinern muß das Tücherbündel als selbstständiges Attribut wie Trommel und Schlegel angesehen werden, und in gleicher Weise (nicht als Anhängsel am Kleid) dürfte es auch den Tofa bekannt gewesen sein; denn einem künftigen Tofa-Schamanen „sagt der Geist, daß er zuerst einen Mantel, dann eine Kopfbedeckung, als drittes die Schamanenstiefel und als viertes die Tücher machen lassen solle". 44 — I n den von uns aufgezeichneten Schamanengesängen taucht der Terminus savyd nicht auf, dagegen kommt mehrfach der Ausdruck ala mandzak, „bunte mandzak", vor, der sich auf dieses Tücherbündel bezieht ; 45 die verbreitetere Bedeutung von mandzak ist „Schnur, Kordel", wie sie zum Beispiel an der Kopfbedeckung getragen wurde und worauf auch die Bezeichnung eines Teils der Cengel-Tuwiner als Gök Mondzak („[die eine] blaue Schnur [an der Mütze tragenden Leute]") zurückgehen soll. Frau Ajüs nahm den Herddeckel ab, warf etwas getrockneten Wacholder (artys) — der übrigens in keiner J u r t e zu fehlen scheint — ins Feuer und schwenkte (alastär 40
Dieses nur im Cengel-sum in wenigen Exemplaren erhaltene Kleid, das durch einen angesetzten geriehenen Rock, eingesetzte bauschige Ärmel mit schmalen gestreiften Manschetten, einen breiten gefältelten weißen Kragen und reiche bunte Verzierung am vorderen Oberteil charakterisiert ist (ähnlich dem von VJATKINA, ris. 19 v, publizierten diabetischen Frauenkleid), trugen noch drei ältere Frauen im Alltag, sonst sieht man es an einzelnen alten Frauen lediglich bei festlichen Anlässen. Ein Aufsatz speziell zur tuwinischen Kleidung ist in Vorbereitung; zum Mädchenkleid s. TAUBE 1970, S. 87. 41 In seiner originalen Ausführung hatte das Tücherbündel (savyd) einen festen, peitschenähnlichen Griff. Frau Ajüs hatte ihr savyd vermutlich behelfsmäßig neu zusammengestellt, nachdem sie ihre Schamanenausrüstung vernichtet hatte. « Siehe unten S. 60; vgl. NIORADZE, S. 93. 43
DIÖSZEGI 1 9 6 3 , S . 3 1 7 u n d s e i n e A b b . 2 u n d 7.
44
A. a. O., S. 270.
45
B e i VAJNSTEJN 1 9 6 1 , S. 1 8 3 , 1 8 5 , u n d DIÖSZEGI 1 9 6 3 ( p a s s i m ) i s t mandzak
nung der Rollenstreifen am Schamanenkostüm. 4»
die Bezeich-
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oder aryglär, wörtl. „reinigen") das Tücherbündel einige Zeit über dem aufsteigenden Rauch. 4 0 Danach wedelte sie damit noch heftig vor der Türöffnung hin und her. N u n t r a t sie vor die J u r t e , die linke H a n d mit einem Rosenkranz auf dem Rücken, mit der Rechten wieder das Tücherbündel schwenkend. Dabei bewegte sie sich rhythmisch hin und her. Dann begann sie zu singen (xamnär). Da ich im ersten J a h r meiner Feldforschungen in Cengel nur ein vom Stromnetz abhängiges Tonbandgerät bei mir hatte, konnte dieser Gesang nicht aufgenommen werden. Frau Ajüs's Bewegungen wurden heftiger, in bestimmten Abständen drehte sie sich mit gesenktem Kopf mehrmals im Kreis (böldenir), und immer mehr steigerte sich dabei die Intensität und die Schnelligkeit ihrer Bewegungen (Abb. 1—4). — Als F r a u Ajüs Gesang und Tanz beendet hatte, blies sie zum Zwecke der Beschwörung (ürer oder ürüp dzajar) zweimal auf das Tücherbündel. 4 7 Bei diesem Tanz wie auch später bei ihrem Vortrag f ü r die Tonbandaufzeichnungen am 19. 8. 1966 gewann man den Eindruck, daß Frau Ajüs diesen Dingen heute sehr unbefangen gegenübersteht, und daß sie das Ganze wohl nur als eine Art Schauspielerei auffaßte. Ganz anders war es mit Frau Pürvü, mit der wir uns am 2. 9. 1966 im Zentrum des Cengel-sum im Kulturhaus trafen. Hier bestand die Möglichkeit, das Tonbandgerät mit Strom zu versorgen, der übrigens eigens f ü r unsere Aufnahmen erzeugt wurde. Die Umgebung war in dem kleinen Nebenraum des Kulturhauses ziemlich nüchtern, 4 8 erinnerte also nicht im geringsten an das einst übliche Milieu beim Schamanisieren (xamnär). — Frau P ü r v ü begann mit 1. Xamnyrj algyzy („Segensspruch des Schamanen"); daran schloß sich an das 2. Dzajän gygyrar („Rufen des Schicksalsgeistes"). Dieser zweite Teil wird auch als Dzedi lam, „Sieben Lamas", bezeichnet; er galt als stärkster Gesang Frau Pürvüs. Ich halte es daher f ü r unwahrscheinlich, daß hier ein lamaistischer Text übernommen wurde, und nehme vielmehr an, daß es sich lediglich um eine lamaistische Maskierung handelt. Diese „sieben L a m a s " werden auch als dzedi taiqgyt sarym, „meine sieben tangutischen (tibetischen) Gelben", angesprochen, was an eine Anrede in einem v o n K a t a n o v aufgezeichneten sojotischen ( = tuwinischen) Schamanengesang erinnert: cädy saryy culbustarym, „meine sieben gelben culbus".v) — Frau P ü r v ü sang mit geschlossenen Augen. 50 Bei dem Lied, mit dem der Geist gelobt wird, der zu Hilfe kommen soll (dzajän, auch göldzün), unterbrach sie sich aller p a a r Verse. Sie veränderte sich dabei zusehends. Zunächst fiel mir eine zunehmende Rötung ihres Gesichts auf, dann begann sie zu schwitzen, wischte sich öfters mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht, und schließlich fing sie am ganzen Körper an zu 40
47
48
Dieser Art der Reinigung, d. h. der vorbeugenden B e k ä m p f u n g von möglichen Übeln, begegnen wir auch im Alltagsbrauchtum, z. B. bei K l e i d u n g s s t ü c k e n (insbesondere v o n Kindern, T A U B E 1970, S. 87). Vgl. das Beblasen v o n Spielknöcheln, v o m Köder b e i m Angeln usw. (TAUBE 1972, S. 127f.). Näheres dazu in T A U B E 1978a, S. 332.
'>'•> K A T A N O V 1 9 0 7 , S . 5 1 u n d 4 7 ; v g l . D I Ö S Z E G I 1 9 5 9 , S . 50
270.
Bei Bajynburäd war dies ebenfalls zu beobachten (wie es bei Frau Ajüs war, entzieht sich meiner Erinnerung; notiert habe ich es nicht). A u c h während des echten Schamanisierens sollen die Schamanen die A u g e n geschlossen halten, wie es auch V A J N S T E J N (1977, S. 33) v o n den östlichen Tuwinern mitteilt.
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zittern. Sie machte insgesamt den Eindruck eines stark fiebernden Menschen. Ich machte mir Sorgen um sie, und als sie wieder einmal abbrach, unterbrach ich sie und schlug ihr vor, eine Pause einzulegen und etwas zu essen. Wir gingen in die benachbarte Gaststätte zum Mittagessen. Während wir dort saßen, wurde Frau Pürvü langsam wieder ruhiger, ihr Gesicht nahm allmählich sein normales Aussehen an. Sie sagte jetzt, daß es ihr angst geworden sei, der Geist könne wirklich kommen. Wir sprachen von allem möglichen, nur nicht von unseren Aufnahmen. Ich war von dem Erlebnis etwas betroffen und eigentlich entschlossen, es damit sein Bewenden haben zu lassen. Nach etwa zwei Stunden erklärte sie jedoch von sich aus, sie wolle nun weitersingen. So setzten wir die Aufnahme fort. Es folgten nun 3. AI: yodan dözürn („Weißer Schneehase — mein Geist"; auch als Dzajän algyzy, „Schicksalsgeist-Segensspruch", bezeichnet), 4. Siinezin gygyrar („[Zurückjrufen der Seele"), 5. Erlikbejnir) uräzy („Gesang/Melodie des Erlikbej"), 6. A'dys dar) a'tty („Der Morgen graut" — ein Gesang, mit dem der Hilfsgeist aufgefordert wird, sich zu verabschieden), 7. Dzajän („Der vom Schicksal Bestimmte" oder „Schicksalsgeist" — dies seien WTorte, die der Geist selbst spricht), 8. Aldaj maktär („Lobpreis des Altai"). Als Probe von Frau Pürvüs Gesängen mögen hier der Text und der Versuch einer Übersetzung des kurzen Abschieds vom Hilfsgeist folgen. 51 A'dys dar] cCttyj än Aj dzürémni saldan än. Ala gusgas dzirgidi Amdy bolsun xaläm. Saryg dar¡y a'ttyj än Saj gusgas dzirgidi Sarjnä börgüm saldan än. Saj örümnü tanyjym Dzastarymny sanäjym Adymny gicéjim Dün dzoruktug uluzum
„Der Morgen graut doch, laß doch nun mein rundes Herz los! Die vielfarbigen Vögel zwitschern (schon), jetzt sei's genug, mein Xalak!52 Die gelbe Dämmerung bricht doch an, unzählige Vögel zwitschern (schon). Meine mit Federn besetzte Mütze laß doch los! Meine vielen Freunde will ich (wieder)erkennen. Meine Kleinen will ich zählen. Um meinen Namen will ich mich bemühen. Meine Leute, die nachts um die Wege sind ( = die nachts zu tun haben),
51
Die Bereitstellung der Texte ist nicht ganz einfach: Eine Schwierigkeit kommt schon daher, daß beide Vortragende kein vollständiges Gebiß mehr hatten. Selbst unser Freund Galsaii, der mir die erste Nachschrift der Texte vom Tonband abnahm, hatte manchmal Schwierigkeiten, einzelne Wörter zu verstehen, und mußte stellenweise Lücken lassen. Ein Versuch von 1967, solche Lücken zu schließen, indem wir den T e x t F r a u Pürvü vorlasen (Frau Ajüs war bereits verstorben) in der Annahme, die fehlenden Wörter fänden sich an, erwies sich als erfolglos. — Eine weitere Schwierigkeit besteht in dem veralteten, nicht der Alltagssprache angehörenden Wortschatz — ein Umstand, der die Übersetzung tuwinischer folkloristischer Texte überhaupt erschwert, da die Wörterbücher einen nur zu oft im Stich lassen, und der sich bei den Schamanengesängen, die vieler Vorteile der Märchentexte entbehren (klarer K o n t e x t , Parallelismen, Vergleichsmöglichkeiten mit Varianten usw.), potenziert.
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E t w a „Freund, (Schicksals-)Gefährte, (Leidens-)Genosse" (wie auf S. 49).
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Dünde dar¡da dzerjgëri . . Dürjgürümnür¡ diivünni Gurgadyjym saldan än Dzumurgamny sanäjym Al diiirëmni saldan än.
zwischen Tag und Nacht. . . 5 3 Meiner Trommel Boden will ich trocknen, laß mich doch! Meine Eier 5 4 will ich zählen — laß doch nun mein Herz los!"
Die wesentlichen Elemente des Schamanengesangs während einer normalen, d. h. nicht besonders schwierigen Séance entsprechen wohl etwa dem, was Frau Pürvü uns vorgetragen hat. 5 5 — Nach dem Rufen des Geistes (Xamnyr) gygyrgazy oder Dzajän gygyrar), vielleicht auch erst nach dem unter Punkt 3 angeführten Gesang, in dem der Schamane etwas über sich selbst und über seine Beziehung zu dem Hilfsgeist auszusagen scheint, der also vielleicht den Charakter einer Legitimation des Schamanen gegenüber seinem Hilfsgeist hat, wird die Information des Geistes über die Angelegenheit, um deretwillen er gerufen wurde, eingeschoben, die natürlich von Fall zu Fall verschieden ist. In der Zwiesprache mit den Geistern gebraucht der Schamane sogenannte „Teufelswörter" (azanyrj sözü, „Wörter, die nur die Geister verstehen"), vor allem in der Anrede, zum Beispiel Xalak, Da{d)taj. Die Anrede Dzajän („Schicksalsgeist") bezieht sich höchstwahrscheinlich auf den Schutz- bzw. Haupthilfsgeist des Schamanen, der ihn auch auserwählt hat. Dieser Ausdruck dzajän kommt im Märchen häufig für den vom Schicksal bestimmten Partner vor, der auf den Abenteuerzügen des Helden immer eine positive, hilfreiche Rolle spielt. 56 Daß die Berufung auch durch mehrere Geister erfolgen kann, dafür spricht die Pluralform dzajännar, die häufig in der Anrede verwendet wird. — Die Vorstellungen von den Geistern, mit denen die Schamanen umgehen, und von den Geistern überhaupt, orientieren sich — abgesehen von ihrer äußeren Erscheinungsform — stark am Menschen und an menschlicher Art : Sie brauchen Speise und Trank, 5 7 sie rauchen, 58 und sie sind mit der Fähigkeit zur 53
F ü r dün dzoruktug uluzurn gibt es zwei Möglichkeiten der Interpretation : E s könnten darunter die Geister verstanden werden — den allgemein verbreiteten Vorstellungen von der N a c h t als der aktiven Zeit der Geister entsprechend. E s könnten aber auch konkrete Personen aus der Familie oder Umgebung der Schamanin gemeint sein, die in irgendwelchen Angelegenheiten nachts draußen sind (etwa bei den Herden). Die Bedeutung von dzerjgëri ist auch Galsan unbekannt. Das E n d e der Zeile war unverständlich ; analog zu den vorangehenden und folgenden Versen wäre eine Voluntativform anzunehmen — im ersten Fall der Interpretation vielleicht im Sinne von „. . . will ich entlassen", im zweiten e t w a : „. . . will ich wiederfinden".
54
„ E i e r " : hier Synonym für „Kinder".
53
Vgl. die A b f o l g e der G e s ä n g e bei HARVA, S. 5 4 4 .
56
K ö n n t e das Verhältnis Schamane — Schutzgeist — zumindest in manchen Fällen — als ein sexuelles oder eheliches aufzufassen sein ? Vgl. dazu eine Mitteilung von den Golden, wo a m Lager des „erkrankten" Schamanen-Kandidaten ein schöner weiblicher Alinenschutzgeist (anami) erscheint, der den neuen Schamanen lehren will und mit ihm ein Liebesverhältnis eingeht (Eliade, S. 81 f., nach Sternberg), oder den ausgesprochen sexuellen Charakter des Flugerlebnisses des Schamanen bei den Australiern (HOFFMANN, S. 123). Weitere Hinweise dazu und zur Andersgeschlechtigkeit des Schutzgeistes bei HOFFMANN, S. 114 u n d FINDEISEN, S. 46.
«
Vgl. die B e s c h a f f e n h e i t der O p f e r g a b e n (TAUBE 1 9 7 2 , S.
6 8 Siehe unten S. 60.
123ff.).
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sinnlichen Wahrnehmung ausgestattet, können also zum Beispiel durch F a r b e n (Rot als abwehrende Farbe) oder unangenehme Gerüche 5 9 ferngehalten oder vertrieben werden. Außerdem sind sie täuschbar, zum Beispiel durch das Wechseln der Richtung oder des Namens. 6 0 Ebenso wird diese menschliche Art deutlich durch die Weise, wie der Schamane mit den Geistern umgeht und wie man überhaupt mit ihnen fertig zu werden versucht. — Die Schamanengesänge lassen darauf schließen, daß die Schutzu'nd Hilfsgeister wohl vorwiegend in Tiergestalt in Erscheinung t r e t e n : 6 1 „mein Schwarzer aus dem Westen, mein Adler-Schwarzer. . .", „weißer Schneehase, mein Geist. . .", „grauer Schneehase, mein Geist. . ," 6 2 — Nicht sicher bin ich, ob m a n in den folgenden Formulierungen einen Hinweis auf Ahnengeister als Schutzgeister sehen darf: Erlik oran tanännan ezim siler da(d)tajym Oder: Aza erlikke tanyglyg xamnap olur xalagym
„Der Ihr doch das Erlik-I^&nd kennengelernt I h r mein Gefährte, mein Da(d)taj\"
habt,
„Der du dem bösen Geist Erlik bekannt bist, schamanisiere doch weiter, mein Xalakl"
Möglicherweise f ü h r t eine gründlichere Untersuchung der von uns gesammelten Schamanengesänge zu einem anderen Ergebnis, auf den ersten Blick jedoch geben diese Texte Hinweise darauf, daß die Schutz- oder Hilfsgeister der Schamanen sogenannte „Herrengeister" 6 3 (z. B. Ortsgottheiten) seien. Der Altai, dessen Lob nicht n u r vom Schamanen, sondern beispielsweise auch vom Märchenerzähler gesungen wird, dem das erste morgendliche Opfer galt und dessen Name dankbar oder Schutz heischend in entsprechenden Wendungen viele Male im Laufe eines Tages genannt wird, ist f ü r die Cengel-Tuwiner eine oberste, allen Schutz und Segen spendende Gottheit im Sinne einer nährenden und schützenden „Mutter Heimat", er k a n n also eigentlich nicht als Schutzgeist eines einzelnen in Betracht gezogen werden. I m Lobpreis des Altai werden zwar auch allerhand andere Ortsgottheiten gelobt und gepriesen, die in diesem Zusammenhang aber alle als eine zum Altai gehörige Einheit aufgefaßt werden sollten: dieser Gesang steht also wohl etwas außerhalb der Gesamtheit der als Mittel des direkten K o n t a k t s mit hilfreichen Geistern zu betrachtenden Schamanengesänge. Die Anlässe, aus denen m a n einen Schamanen rief, waren recht mannigfaltig. Beispielsweise gehörte dazu die Weihe des Herdfeuers: 6 4 Die alten offenen Herdgestelle (ozuk) bestanden aus vier senkrechten Eisenstäben (ozukturj bazy) und vier u m diese herumführenden Eisenbändern (ozukturj guru). Zu Beginn der Weihezeremonie wird ein Hammel geschlachtet. Mit seinem D ü n n d a r m (söjündii) werden die vier • 59 Zum Beispiel bei der Durchführung eines xerjsi (siehe unten S. 58). 6° Siehe S . 59 und Anm. 72; vgl. auch V A J N S T E J N 1977, S. 3 3 ; T A U B E 1970, S . 87; 1974a, S. 590 ff. usw. 61 H O F F M A N N , S. 127ff. 62 Vielleicht ist im Hinblick hierauf von Interesse, daß der Hase als das edelste Wild gilt. 63 D I Ö S Z E G I 1 9 6 3 , S . 64
269.
Das folgende nach T A U B E 1972, S. 135f. (da diese Publikation nicht allgemein zugänglich sein dürfte). Ausführliche Angaben über die Weihe des Herdfeuers bei den sowjetischen Tuwinern gibt P O T A P O V 1969, S. 365.
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K ö p f e (bas) des Herdgestells umwickelt. Auf diese spießt man obenauf Stücke vom Fettschwanz (uza), an die Fußenden setzt man kleine Grasstücke, auf denen Rauchopfer (sarj) aus Wacholder und den „kostbaren Speisen" 65 (dezi) abgebrannt werden. Nachdem das Herdgestell auf diese Weise gereinigt und für die Weihe bereitet worden ist, entfacht man das Herdfeuer. Wacholder und „kostbare Speisen" werden hineingeworfen. Das Hammelfett tropft von den Spitzen (bas) der senkrechten Eisenstäbe, so daß es zischt und sprüht. Nun wird von allen Dingen, die man im Leben braucht, von der Kleidung, dem Sattel, der Wiege, den Nahrungsmitteln usw., ein Stück — als pars pro toto — auf einen Strick aufgereiht (dizer). Dieser Strick mit den einzelnen Symbolen heißt dzele (vgl. mong. zel, „ausgespannter Strick zum Anpflocken der Jungtiere"). Er wird über dem Herdfeuer rings um die Rauchöffnung aufgehängt. Böse Geister, die sich etwa darin versteckt halten, müssen nun die Jurte verlassen, da sie den Rauch des Wacholderfeuers nicht vertragen. Schließlich trägt man einen Eimer, in dem sich die gekochten Innereien (izin) mit dem Dickdarm (xyjma) befinden und der mit der Haut des geschlachteten Hammels bedeckt ist, im Uhrzeigersinn vor sich her um den Herd, indem man xuraj, xuraj ruft. Diesen Teil der Weihe nennt man dalalga alyr. — Man glaubte, daß es zwei Arten von Herdfeuern (ot) gibt: ruhige Feuer (dzäsot) und unruhige (doksun ot). Ein Schamane,- mitunter auch einer, der eine Ausbildung in einem lamaistischen Kloster erhalten und mindestens den gelin-Rang (tibet. dge-slon) erreicht hat, stellt nun fest (es ist mir nicht bekannt, an Hand welcher Kriterien), um was für eine Feuergottheit es sich im speziellen Falle handelt. Danach wird eines der zu diesem Zwecke bereitgehaltenen Tiere geweiht (ydyktär). Für ein ruhiges Herdfeuer wählt man ein weißes Schaf mit gelbem Kopf (saryg bastyg ak xoj), für ein unruhiges Herdfeuer eine gelbe Ziege (saryg öskü) als ydyk. Diesem Tier werden rote, weiße und gelbe Bänder um den Hals geschlungen. Dann macht man ihm mit Butter, Rahm (öreme) oder anderem „Weißen" Striche auf die Nase, den Rücken entlang, auf das Brustbein und auf die vier Füße. Anschließend packt man das Tier von hinten bei den Vorderfüßen, legt diese aneinander und bewegt seinen Vorderkörper ein paar Mal gegen den Herd gerichtet auf und ab, so als ob es sich vor dem Herdfeuer verneige. Zum Schluß führt man es einige Male von links nach rechts im Uhrzeigersinn um die Herdstelle herum. — Diese geweihten Tiere dürfen nicht geschlachtet oder weggegeben werden. Wenn ein ydyk alt und schwach wird, wenn es stirbt oder gestohlen worden ist, kann die Weihe auf ein anderes, jenem ähnliches Tier übertragen werden. Man brennt dazu ein Rauchopfer am Herd ab und verfährt im übrigen wie eben beschrieben. Als eine Aufgabe der Schamanen vom Naryn-Fluß nennt POTAPOV06 das Weihen eines seter (ein einer Viehherde geweihtes Tier) für verschiedene Arten von orjgut (abgebildete oder auf andere Weise dargestellte Hilfsgeister). Dieser Brauch ist mir von den Cengel-Tuwinern nicht bekannt, es gibt aber einen indirekten Hinweis darauf: POTAPOV beschreibt eine solche Abbildung — das toc' orjgut — als ein quadratisches Stück Filz, das mit schwarzem Stoff überzogen, auf das mit weißen Wollfäden eine menschliche Figur gestickt und a n ' dessen unteren Rand Bändchen genäht wurden. In einer Herde sahen wir einen weißen Ziegenbock, der an Bändern wie 65
Unter den „kostbaren Speisen" versteht man Milch und Milchprodukte (Milch selbst wird allerdings nicht auf das Rauchopfer gegossen).
«6 POTAPOV 1969, S. 365.
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an einer K e t t e ein ganz ähnliches Ding am Halse trug. Es handelte sich ebenfalls um ein fast quadratisches textiles Gebilde, allerdings mit weißem Stoff bezogen, das mit roten, gelben und grünen Wollfäden in der Art von Wattstepperei bestickt war. Da ich wußte, daß es sich um ein geweihtes Tier handelte, ging es nicht an, daß ich es berührte; ich nahm an, das Anhängsel könnte in Art eines übersteppten Beutels mit irgendeiner Füllung (etwa getrocknetem Wacholder) versehen sein. Erst später begegnete mir P O T A P O V S Beschreibung, und nach deren Lektüre zweifle ich nicht daran, daß es sich um ein bezogenes Stück Filz der erwähnten Art handelt. Seine Bezeichnung bei den Cengel-Tuwinern ist mir nicht bekannt, auch weiß ich nicht, wann, unter welchen Umständen und zu welchem Zweck die Weihe durchgeführt wurde. Handelt es sich bei seinem Träger um ein der Herde geweihtes Tier (bei den übrigen Tuwinern als seter bekannt), 67 das nun als deren „ H e r r " gilt, oder vielleicht um ein ydyk für das Herdfeuer? Des weiteren hatte der Schamane für Familien oder auch für einzelne Menschen günstige oder ungünstige Tage und Richtungen zu ermitteln. Man glaubte, daß jede Familie bestimmte ungünstige Tage, sogenannte „Verbotstage" {serlig xün, -< serler, „verbieten"), habe. An einem solchen Tag durfte man nichts aus der Jurte hinausgehen, vor allem nicht Salz, Tee, Vieh, Feuer (auch nicht in Gestalt von Streichhölzern). I m allgemeinen ist der Austausch zwischen den Jurten eines Ails sehr frei und rege, an solchen Verbotstagen wurde aber weder etwas verschenkt noch verborgt. In manchen Familien beachtet man diese Tage auch heute noch sehr streng.68 — Ebenso gibt es kritische Richtungen (serlig dzük oder hak dzük, „verbotene" oder „schlechte Richtung"), die je nach Aufenthaltsort und Situation wechseln. Als zum Beispiel unser Freund Galsan als K i n d einmal krank war, durfte er nicht nach Westen gehen. Dieses Verbot bezieht sich jedoch nur auf das unmittelbare Sich-Entfernen von der Jurte. W e m es untersagt war, nach Westen zu gehen, der konnte also zunächst in östlicher oder einer anderen Richtung die Jurte und den Jurtenplatz (xonas) verlassen und sich dann nach einer Entfernung von einigen hundert Metern durchaus nach Westen wenden. War in der Jurte jemand krank, so verließ man diese generell nicht in der schlechten Richtung. — Auch beim Wegtragen eines Verstorbenen mußte die Richtung durch den Schamanen bestimmt werden. Die günstigen Tage (eki xün, bolur xün) und Richtungen (eki dzük) wurden für freudige Ereignisse ermittelt — für Hochzeit, Kindsfest (das wenige Tage nach der Geburt eines Kindes gefeiert wird), ersten Haarschnitt, Errichten einer neuen Jurte, überhaupt für alle Ereignisse innerhalb einer Familie, die festlich begangen wurden, außerdem aber auch für alle wichtigeren Vorhaben (Reisen, Nomadisieren, d. h. Wechsel der Weideplätze und die damit verbundene Verlegung des Jurtenplatzes, u. ä.) und Arbeiten (Schafschur, Kastrierfest, 69 Filzbereitung usw.). Ein allgemein beliebter Termin
A. a. O., S. 366—368; vgl. RAMSTEDT, S. 327a: setr „heilig, geweiht; geweihtes Opfervieh" (dagegen Luvsandendev, S. 378b: seter „lenty, privesivaemye k skotu, posvjasöjormomu ducham"!). 68 Nach einer brieflichen Information von Professor L. P. POTAPOV (Leningrad 5. 3. 1978) war der Glaube an solche Verbotstage bei den Altaiern sehr verbreitet und wurde vor allem gegen Ende des abnehmenden Mondes (also vor dem Neumond), besonders beim Kastrieren von Vieh oder .bei der Geburt eines Kindes, beachtet . f'9 Dieses Pest ist beschrieben in TAUBE 1974b. 67
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f ü r solche Anlässe war der Neumondstag (ajnyrj dZäzy) oder der 2. bis 5. Tag des Mondmonats, d. h. die Tage nach der Nacht, in welcher der Mond nicht zu sehen ist. 70 Ähnlich wie die ungünstigen Richtungen bezogen sich auch die günstigen nur auf die unmittelbare Umgebung der J u r t e oder des Ail, auf die erste Wegstrecke, wenn man in angenehmer Angelegenheit die J u r t e verließ, oder auf die letzte Wegstrecke, wenn etwas in die J u r t e oder den Ail gebracht wurde (z. B. eine Braut, neuerworbenes Vieh oder neue Gegenstände). Als beispielsweise ein Bräutigam seine Braut aus einem südöstlich gelegenen Gebiet heimführte, ritt ihm sein Bruder bis in eine Entfernung von etwa 2—3 Kilometern entgegen und geleitete das junge P a a r in einem Bogen so, daß sie — wie es der Schamane empfohlen h a t t e — aus der Richtung des Sonnenaufgangs in den Ail des Bräutigams kamen. — I m übrigen scheinen die Schamanen auf solchen Familienfesten keine Funktion gehabt zu haben. I n den Bereich der hier genannten Praktiken und Vorstellungen gehört ein weiterer schamanistischer Brauch, der als gajündürer, „das Verdammte hinausgehen lassen", auch als gajga ündürer oder gajlär, „in die Verdammnis hinausgehen lassen", bezeichnet wird. Zeigte sich in einer Familie irgend etwas Schlechtes, etwa Streit oder K r a n k heit, so suchte m a n die Ursache in einem oder in mehreren Gegenständen, die in der letzten Zeit in die J u r t e gekommen waren, die also das Übel mitgebracht haben konnten. Der Schamane h a t t e herauszufinden, um welche Gegenstände es sich handelte, damit sie aus der J u r t e entfernt werden konnten. Bevor man sie hinausschaffte, f ü h r t e man manchmal ein kleines Zeremoniell aus, das xerjsi genannt wurde: Man ließ etwas F e t t auf dem heißen Herddeckel zerlaufen und streute Mehl darauf. Unter dem auf diese Weise entstehenden schlechten Geruch trug man die unseligen Gegenstände hinaus, auch dies wieder in der Richtung, die der Schamane dafür bestimmt hatte. Mitunter war das Übel in der J u r t e oder auf dem Jurtenplatz (xonas) nicht an einen Gegenstand gebunden, sondern — wie der Schamane zeigte — durch einen bösen Geist (bak dzive) eingeführt worden, der — wie alle bösen Geister — durch die L u f t gekommen war und sich nun in der J u r t e aufhielt oder — bei Krankheiten — in einen Menschen eingegangen war (dies konnte auch geschehen sein, als sich jener im Freien aufhielt). I n diesem Falle formte man aus Teig Figürchen von etwa 10 bis 15 cm Länge, denen m a n die Gestalt dieses bösen Geistes gab, wie ihn der Schamane beschrieben hatte. D a n n vollführte man ein xerjsi, und in dem stinkenden Rauch bewegte man die Figürchen drei oder sieben Mal im Kreis, wobei der Kranke ebensooft in den Rauch spuckte. Anschließend schaffte man diese „Abbilder der bösen Geister" (dzazal) unter den oben genannten Umständen (siehe gajga ündürer) aus der J u r t e und vom Jurtenplatz. Das Auftreten einer Krankheit gehörte zu den häufigsten Anlässen, zu denen m a n einen Schamanen benötigte. Die Tuwiner glaubten, daß hierbei entweder eine der Seelen des Menschen seinen Körper verlassen habe oder daß ein böser Geist in den K r a n k e n eingedrungen sei (bak dzive siegen, < sirjger „eindringen"). Dem Schamanen oblag es, festzustellen, welche der beiden Möglichkeiten im jeweiligen Falle in Betracht kam, und dementsprechend die Seele zu finden und zurückzurufen 7 1 oder den Krankheitsdämon zu vertreiben. Als Heilmittel oder als vorbeugende Maßnahme nach erfolgter Heilung konnte zum Beispiel die Änderung des Namens vom Schamanen 70
Ähnlich der früher bei uns verbreitete Glaube an positive Einflüsse der zunehmenden Phase des Mondes.
71 P O T A P O V 1 9 6 4 , S . 3 4 8 F . ; H O F F M A N N , S . 1 2 1 .
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verordnet werden 7 2 — wohl damit der vertriebene böse Geist den betreffenden Menschen nicht wiederfände. Viele Schutzbräuche der Cengel-Tuwiner beruhen auf Täuschungsmanövern ähnlicher Art. 7 3 Abschließend möchte ich die Beschreibung einer Schamanen-Séance (xamnâr) anläßlich einer E r k r a n k u n g geben, wie sie unserem Freund Galsan aus seiner Kindheit in Erinnerung geblieben ist: 7 4 Eine Schamanin (in diesem Falle F r a u P ü r v ü , Galsans Tante) wurde gerufen und kam bei Einbruch der Dunkelheit. Daß der Schamane im allgemeinen nachts bzw. nicht vor E i n t r i t t der Dunkelheit schamanisiert, wird von fast allen Völkern berichtet : Da „im Totenreich (und m a n darf das vielleicht ausdehnen auf jenseitige Welten überhaupt — E. T.) im Gegensatz zum Diesseits die N a c h t die gewöhnliche Schaffenszeit ist, k a n n sich auch der Schamane nur nachts den Geistern nahen". 7 5 Nur in äußerst ernsten, kritischen Fällen hielten Schamanen — wie es heißt — auch am Tage eine Séance ab ; dann verdunkelte m a n aber auf jeden Fall die J u r t e , indem man den Dachfilz (örege) über die Rauchöffnung zog (örege dyrtar). — Die Familienangehörigen saßen im Halbkreis auf dem Boden der J u r t e — o f t sind auch andere Ailbewohner anwesend — in Gebetshaltung, d. h. mit leicht nach oben gekehrten, zum Zusammenlegen bereiten Handflächen (züzüktenir, eigentlich „gläubig sein"). I m hinteren Teil der J u r t e , dem dör (Ehrenplatz gegenüber der Tür), wurde ein Rauchopfer abgebrannt, vor allem wohl aus getrocknetem Wacholder (artys). Möglicherweise benutzte man dafür auch noch andere Pflanzen. Bei einem R i t t durch das Gebirge war mir eine bläulich-violett blühende Blume gezeigt worden, die m a n als „Schamanenblume" (xarn dzecek) bezeichnete, weil sie die Schamanen beim Schamanisieren verwendeten. I n einem Schamanengesang wird sie unter dem N a m e n dzojgan in Zusammenhang mit dem Rauchopfer (sarj) erwähnt, zusammen mit einer anderen Pflanze garjga (vielleicht sowj.-tuwin. karjgy, „eine Wermutart"). Der Blütenkopf ist kleeähnlich, sie wird etwa 12—18 cm hoch, und wir fanden sie in einem normal warmen Sommer in der letzten Juliwoche und im August; es scheint sich u m eine Thymian-Art zu handeln, möglicherweise den Helf-Thymian (Thymus serpyllum L.), von dem bekannt ist, daß er bei den Sojoten ( = Sojon/Sojan), B u r j a t e n u n d anderen sibirischen Völkern während des Schamanisierens gebraucht wird, indem m a n ihn mit Wacholder und anderen pflanzlichen Substanzen verbrennt und so einen narkotisierenden Rauch erzeugt. 7 6 — Die Schamanin stand im dör, dem Rauch72
V A J N S T E J N 1961, S. 192. — Ich selbst kenne ein Mädchen, dessen Name nach längerem Kränkeln geändert wurde (sie erhielt einen Jungennamen); außerdem wurde für sie ein altes tuwinisches Mädchenkleid genäht, das sonst heute nicht mehr getragen wird (vgl. TAUBE 1970, S.
7
3 TAUBE 1970 und
74
75
87). 1 9 7 4 a.
Die folgenden Aufzeichnungen machte ich bei einem Gespräch mit Galsan am 2. 3. 1966 in unserem Haus bei Leipzig — kurze Zeit nachdem ich begonnen hatte, mich tuwinischen Problemen zuzuwenden, und noch vor meiner ersten Reise in die MVR und zu den dort lebenden Tuwinern. Galsan war damals 23 Jahre alt und Student der Germanistik in Leipzig. Bei seinem Bericht hatte er ein bestimmtes Ereignis etwa aus dem Jahre 1949 im Auge, aber seine Erinnerungen insgesamt beruhen natürlich auf mehrmaligem Erleben. H A R V A , S. 559; vgl. V A J N S T E J N 1961, S. 189; ders. 1977, S. 32; eine ganze Anzahl von Schutzbräuchen bezieht sich auf das Verhalten von Kindern in der Dämmerung oder in der Nacht ( T A U B E 1970, S. 88).
™ BALÄZS, S. 6 8 ; HOFFMANN, S.
123.
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ERIKA
TAUBE
opfer zugewandt. Sie begann zu singen über die Welt und ihre Schönheit, und lobte so den Altai und seine Geister. Dann rief sie ihren Hilfsgeist bzw. ihre Hilfsgeister (göldzüni/göldzünneri).'77 Dabei bewegte sie sich leicht hin und her, fing an, sich zu drehen, und schlug den Kranken, der in der Mitte der Jurte saß, mit dem peitschenähnlichen savyd, jenem Bündel bunter Bänder oder Tücher mit festem Griff, auf Rücken und Schultern (savyttär). Als der Geist gekommen war, begann sie zu rauchen (tamykl&r) — oder umgekehrt: Daran, daß sie rauchte, erka.nnten die Umsitzenden, daß der Geist gekommen sein mußte. Es heißt, daß der Schamane zunächst mit dem Geist — wie es auch unter Menschen üblich ist — die Begrüßungspfeife raucht (tamijklazyr, wörtl. „miteinander rauchen"). 78 — Die Schamanin saß jetzt, den Anwesenden den Rücken zugewandt und mit dem Gesicht zum dör, und sang. Mit der rechten Hand wedelte sie mit dem savyd, die Linke hatte sie auf den Rücken gelegt. Dies war für einen aus der Familie, der ihr zur Hand ging, das Zeichen: Er legte ihr die angerauchte Pfeife in die Hand, die sie nun ziemlich oft — bis zu zehnmal — aufrauchte. Dieses Zeremoniell hat nicht nur eine rituelle Bedeutung: Der starke Tabakgenuß — möglicherweise wurde dem Tabak noch anderes (a:am dzeiek ?) zugesetzt — begünstigt den erwünschten Trancezustand. 7!) — Die Schamanin war nun ohne Bewußtsein. Sie sang jetzt gewissermaßen im Dialog ihre eigene Rede und die des Geistes. Zunächst waren es Begrüßungsworte, Erkundigungen nach der Reise usw. Der Geist seinerseits erkundigte sich, ob hier alles in Ordnung sei. Nun wurde die wichtigste Frage, den Kranken betreffend, gestellt (göldzünnerin surär)-, später konnten auch andere der Anwesenden Fragen an den Geist richten. — Der Geist beginnt nun, die Krankheitsursache zu suchen. Er wendet sich dabei dem Kranken zu, den die Schamanin nun wieder leicht mit dem savyd schlägt. Ist der Krankheitsdämon (aza, gös, auch aza gös) entdeckt, wird er vertrieben. Dabei jagt ihn der Schamane häufig mehrmals um den Herd (vgl. das mehrmalige Kreisen des Substituts im Rauch über dem Herd, xerjsini desgindirer) und dann zur J u r t e hinaus. — Bei dieser Vertreibung des bösen Geistes konnte es dazu kommen, daß der Schamane den Herd umfaßt oder „sich mit Glut wäscht" (gösten/göske dzunar oder ottan/otka dzunar, „sich mit/in Glut bzw. Feuer waschen"), jedoch ohne sich dabei zu verbrennen; Galsan merkte hierzu a n : „Meine Eltern waren froh, daß unsere Tante ruhig war ( = daß sie einen ruhigen Hilfsgeist hatte), so etwas kam bei ihr nicht vor." — Mitunter reichte man der Schamanin auch eine Schüssel Milch, die sie sich unter lautem Geschrei über Gesicht und Brust schwappte. In dem Gesang vom weißen Schneehasen von Frau Pürvü heißt es dazu: Gyzyrak gattyrj dzemi xebtig gyzyr benir] siidü xebtig 77
78
„Die wie der Saft der jungen Beere, die wie die Milch der nicht-tragenden Stute ist,
E s ist nicht ganz klar, ob der Terminus göldzün den in den Schamanengesängen mit dzajän, „Schicksal(sgeist)", angesprochenen und wohl als Schutz- und Haupthilfsgeist des Schamanen zu begreifenden Geist einschließt oder ob er sich nur auf weitere Hilfsgeister bezieht, die der Schamane als Beistand r u f e n kann. F ü r die erste Möglichkeit d ü r f t e der Ausdruck göldzünnerin surär sprechen, d a es im allgemeinen zuerst der Schutzgeist sein d ü r f t e , den der Schamane u m die Ursache eines Übels befragt. Vielleicht ist dzajän auch nichts anderes als der N a m e , m i t d e m der Schamane seinen Schutzgeist anredet. Auch dieses Detail l ä ß t erkennen, d a ß sich die Vorstellungen von den Geisterwesen a m menschlichen Vorbild orientieren (siehe vorn S. 5 4 f . ) .
™ BALÄZS, S.
67.
Schamanismus im Cengel-sum
gyjsä ak serdzimimnen xörem dzajyp a.lajym.
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mit (dieser) meiner . . . weißen Opfermilch will ich meine Brust erfrischen (wörtl. übergießen)!"
Der Kranke muß auch selbst Gebete (dzalbarylga) sprechen (dzalbaryr, auch dzalbarar). Galsan erinnert sich, daß ihn seine Mutter zum Hersagen der Gebete bewegte, indem sie ihm Kinderspiele ins Gedächtnis rief. Damals kam die Schamanin einige Wochen lang beinahe täglich aus einer Entfernung von etwa 15 Kilometern. — Die Austreibung des Krankheitsdämons konnte auch mit der oben beschriebenen Verbannung des Substituts einhergehen (siehe oben S. 58). — Der Kranke wurde nun mehrmals gewaschen. Dem Wasser setzte man zerstoßene Wacholderbeeren zu, oder man bereitete einen Sud, indem man Wacholderzweige auskochte. Zuletzt wusch man vier Stellen des Körpers: die beiden Ellenbogen und die beiden Knie. Das geschah vor dem Herd. Am unteren Rande des Herdes legte man zuvor drei weiße Steine zurecht, die gewaschen und zum Glühen gebracht worden waren. Beim Waschen tropfte viel von dem Wasser mit Wacholderzusatz auf diese Steine, so daß es stark dampfte und zischte. Damit wurde zweifellos ein Inhalationseffekt erzielt, und da das Ganze in unmittelbarer Nähe des warmen Herdes vor sich ging, war auch einigermaßen gewährleistet, daß sich der Kranke keine Erkältung zuzog. 80 Das Wasser und die Steine mußte später ein Familienangehöriger (in unserem Falle Galsans Vater) hinaustragen, und auch dafür gab der Schamane wieder die Richtung an. — Am Ende rief die Schamanin ihre Seele zurück, der Schutzgeist bzw. die Hilfsgeister wurden reichlich gelobt und verabschiedet, und als letztes der Altai gepriesen. Nach Beendigung der Schamanen-Seance dankte man dem Schamanen, wie es bis heute gegenüber allen denen üblich ist, die etwas Schwieriges oder auch Unangenehmes verrichtet haben, so z. B. gegenüber dem Arzt, der Nabelmutter (nach einer Entbindung) oder dem Kastrierer. 8 1 Man schenkt irgend etwas „Weißes" — ein Stück weißen Stoff (bös) oder weißen Filz (gidis), mitunter auch etwas von den „weißen Speisen" (ak dzem, Milchprodukte), in erster Linie aber wohl Branntwein (aragy), dazu ein Stück Vieh oder Geld. Das „Weiße" hat eine positive, segenspendende Bedeutung, und indem man so des Schamanen Heinde „weiß macht" (xol agartyr), will man — abgesehen von dem materiellen Wert, der teilweise jedoch sehr gering ist — für ihn einen Segen bewirken. — Es kann also bei den Cengel-Tuwinern wohl kaum von einer echten Bezahlung des Schamanen die Rede sein und damit auch nicht von der generellen Möglichkeit einer Bereicherung der Schamanen, die die ökonomische Grundlage für eine sozial bevorzugte Sonderstellung hätte abgeben oder gar zu einer klassenmäßigen Differenzierung hätte führen können 82 — Ausnahmen mögen auch hier die Regel bestätigt haben. Dieser trotz des Ansehens, das sie in der Gemeinschaft genossen, „normale" soziale Status der Schamanen bei den Tuwinern von Cengel in der Vergangenheit — ihnen oblagen im Alltag die gleichen Pflichten wie der Masse der einfachen 80
Diese A r t d e r H e i l b e h a n d l u n g ( W a s c h e n m i t W a c h o l d e r s u d ü b e r g l ü h e n d e n S t e i n e n ) h a b e ich selbst noch an einein k r a n k e n S ä u g l i n g b e o b a c h t e t . Vgl. die B e d e u t u n g g l ü h e n d e r S t e i n e bei s k y t h i s c h e n R e i n i g u n g s r i t e n , die ä h n l i c h a u c h bei a n d e r e n sibirischen Völk e r n üblich w a r e n u n d die wohl wie diese s c h a m a n i s t i s c h e n C h a r a k t e r h a t t e n (BALÄZS, S. 71 f.).
si TAUBE 1 9 7 0 , S. 8 2 ; 1 9 7 4 b , S. 4 4 9 , 4 5 1 . 82
Vgl. HARVA, S. 561 (über sibirische S c h a m a n e n ) .
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tuwinischen Bevölkerung (alle im Zusammenhang mit Viehhaltung und Jagd anfallenden Arbeiten), und häufig gehörten gerade sie zu den ärmeren und ärmsten Kreisen 83 — läßt sich vermutlich damit erklären, daß das Schamanentum hier zum Zeitpunkt des Beginns seiner Auflösung nach dem Sieg der Volksmacht in der Mongolei noch nicht seine höchste Entwicklungsstufe erreicht hatte. — W i e die Rolle Frau Pürvüs innerhalb ihrer Verwandtschaft vermuten läßt (offenbar übte in ihrem Verwandtenkreis im allgemeinen nur sie die Funktion und Aufgaben des Schamanen aus), war der Schamane bei den Cengel-Tuwinern möglicherweise noch wesentlich Schamane für seine Sippe. Angesichts der bis heute zu beobachtenden traditionellen Bedeutung der Sippe, z. B. auch des Gemeinschaftseigentums eines relativ großen Verwandtenkreises, wäre der „ L o h n " des Schamanen letztlich sowieso „in der Familie geblieben" — vielleicht erklärt dies (abgesehen davon, daß viele seiner Klienten selbst sehr arm waren) den relativ bescheidenen Wert des Entgelts. — Der Schamanismus bei den Cengel-Tuwinern scheint somit noch Elemente des Übergangs vom Schamanismus der Gentilordnung zu dem einer mehr oder weniger entwickelten feudalen Klassengesellschaft enthalten zu haben, d. h. die Schamanen bewahrten dort noch einzelne Züge des Familien- oder Sippen-Schamanismus,84 waren noch keine Berufsschamanen.— POTAPOV schreibt, daß die Schamanen bei den Tuwinern wie auch bei benachbarten Völkern des sajano-altaischen Berglandes keine völligen Monopolisten waren, sondern daß auch die gewöhnlichen Leute Beziehungen zu den Geistern pflogen. 85 Diese Feststellung trifft auch voll auf die Tuwiner von Cengel zu, deren Alltagsbrauchtum (Tagesablauf, Jagd, Kinderschutz u. ä.) hinlänglich Beispiele dafür bietet und damit Spuren früher Zustände bewahrt. Auch auf anderen Gebieten der geistigen und materiellen Kultur sowie der sozialökonomischen Beziehungen haben sich bei den Tuwinern des Cengel-sum archaische Relikte länger erhalten als auf dem Territorium, das heute die Tuwinische A S S R bildet. 86 Hierzu gehört vermutlich auch, daß bei den Cengel-Tuwinern weibliche Schamanen offenbar bis zuletzt eine sehr große Rolle gespielt haben, während ja für das spätere Berufsschamanentum der Vorrang des männlichen Schamanen von vielen Forschern betont wird. 87 Mir waren auf die Frage nach ehemaligen Schamanen fast ausschließlich Frauen genannt worden, die in ihrer Funktion als Schamanin mit dem gleichen Terminus (xam) wie männliche Schamanen bezeichnet wurden, also anders als ihre Kolleginnen bei den Mongolen, Burjaten, Jakuten, Kirgisen und einigen anderen altaitürkischen Völkern. 88 — Nicht uninteressant ist schließlich in diesem Zusammen83
Vgl. auch NIORADZE, S. 86 f. — Wäre das Schamanenamt ein „einträglicher Posten", würde das Sichtbarwerden der Berufung sicher allgemein positiv aufgenommen. Dagegen ist bekannt, daß viele Eltern sich zunächst sträubten, ihr Kind Schamane werden zu lassen.
8/'
NIORADZE, S. 49; POTAPOV (1964, S. 348) spricht v o n rodovye
85
POTAPOV 1964, S . 349.
samany.
80 Vergleiche z. B. die Besonderheiten bei der gemeinschaftlichen Jagd (TAUBE 1977b, S. 81 ff., spez. S. 48) und der Kleidung (siehe vorn Anm. 40). 87
So z. B . NIORADZE, S. 53.
88
HOFFMAOT S. 100. — Ich halte aber — dem tuwinischen Sprachgebrauch entsprechend — im Bedarfsfall eine Differenzierung in xam asgyjak, „Schamanen-Alter", und xam xöcun „Schamanen-Alte", für sehr wahrscheinlich (analog dem männlichen xam asnaq und dem weiblichen xam qornuq der Tofa) — wobei den Wörtern asgyjak und xöcun keinerlei un-
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hang, daß es unter den bei den sowjetischen Tuwinern gesammelten Märchen auch antischamanistische Stücke gibt (allerdings könnten sie jüngeren Ursprungs sein), in denen zum Beispiel die Habgier und Betrügerei eines Schamanen bloßgestellt werden, daß sich dagegen in unserem Material aus dem Cengel-sum kein Beispiel dieser Art findet, während antilamaistische Haltungen darin durchaus zum Ausdruck kommen. 89 Dagegen widerspiegelt die erzählende Volksdichtung der Cengel-Tuwiner sehr genau die schamanistischen Vorstellungen, z. B. die Einteilung des Universums in drei Welten 9 0 — (1) die von Gurbustu/Gurmustu-xaan beherrschte obere Welt, (2) die von vielerlei Geistern — vor allem bösen — erfüllte mittlere Welt, in der die Menschen leben, und schließlich (3) die nach ihrem Herrscher Erlik (Erlik-xaan, Erlikbej, Erlik-lovun-xaan) benannte untere, d. h. unterirdische Welt (Erliktirj orany, „Land des Erlik") — und vieles andere. 91 I m Cengel-sum gibt es heute keine authentische Schamanenausrüstung mehr. Als man jedoch im Sommer 1969 im Sumun-Zentrum ein Ethnographisches Kabinett einrichtete, beschränkte man sich nicht auf das Zusammentragen noch vorhandener ethnographischer Objekte, sondern ließ auch traditionelle Gegenstände (Kleidungsstücke usw.) als Ausstellungsobjekte von erfahrenen Leuten anfertigen. So wurde unter anderem auch ein Schamanenkostüm gearbeitet, wobei ehemalige Schamanen aktiv oder beratend mitwirkten. Dabei wurden allerdings manche Details in einem anderen Material ausgeführt, z. B. wurden die Kaurischnecken (dzirves) an der Mütze durch weiße Knöpfe ersetzt. Zu dem reich ausgestatteten Gewand gehört eine mit Uhufedern besetzte Mütze (xam börgü oder xamnär bört),'n eine Trommel (düiqgür) und ein mit Fell überzogener Schlegel (orva). Es wird dabei beachtet, daß kein Teil der Schamanenausrüstung vom Kamel stammt, da dieses Tier als unrein gilt. — Als ich im Sommer 1969 von fünf Wochen Feldforschungen ins Zentrum des Cengel-sum zurückkam, hatte ich leider nur flüchtig Gelegenheit, dieses kurz zuvor eröffnete Ethnographische Kabinett zu besichtigen. Wir waren nach einem Tagesritt am Abend des 14. 7. im Zentrum angekommen und mußten am nächsten Tage nach Ölgij weiterfahren. Am Morgen vor unserer Abreise aus Cengel, als wir auf das Auto warteten, konnte ich das Schamanenkostüm noch fotografieren; Galsan hatte es angezogen, und ich machte eine Reihe von
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ehrerbietiger Beigeschmack anhängt, wie es bei den deutschen Wörtern „Alter" und „Alte" der Fall sein kann. P O T A P O V 1969, S. 350f. V A J N S T E J N 1 9 6 4 , S . 1 ; P O T A P O V 1 9 6 9 , S . 347f. T A U B E 1974a, S. 595 f. — Die Widerspiegelung schamanistischen Gedankenguts in der Volksdichtung der Cengel-Tuwiner soll in einer speziell diesem Thema gewidmeten Arbeit behandelt werden. Der von P O T A N I N berichtete Terminus abugulda für die Kopfbedeckung der „ChovdTuwiner" ist mir nie begegnet (POTANIN, G. N.: Ocerki severo-zapadnoj Mongolii, Bd. II, St. Petersburg 1881, S. 82; von D I Ö S Z E G I 1962, S. 185, Anm. 154 [vgl. auch S. 149], mit mongol. abagaldai, „Maske", zusammengestellt). Allderdings sind die „Chovd-Tuwiner" (wie aus seinen Angaben und seiner Reiseroute sowie aus der Karte bei D I Ö S Z E G I ZU schließen ist) nicht mit den Cengel-Tuwinern identisch, die bereits zur Zeit von P O T A N I N S Reisen in ihrem heutigen Gebiet nomadisierten, d. h. wesentlich weiter westlich als P O T A N I N S Route, nämlich bis zum Tavan-Bogd-Massiv und zu beiden Seiten des von diesem nach Südosten sich erstreckenden Gebirgszuges, auf dem heute die Grenze zur VR China verläuft, also unmittelbar um das Quellgebiet des Chovd, um die beiden Chovd-Seen und den gesamten Oberlauf dieses Flusses.
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Farbaufnahmen auf dem Platz vor dem Ethnographischen Kabinett (Abb. 5—7). — Allgemein kann man sagen, daß diese nachgearbeitete Schamanentracht offenbar in die Gruppe des einen Vogel symbolisierenden Typs gehört, wie die deutlich sichtbaren „Ohren" aus den Federn eines Uhus (der als gefährlich für böse Geister gilt) an der Kopfbedeckung ausweisen — ein Typ, der bei den Türkvölkern des sajano-altaischen Gebiets überwiegt. Die Trommel zeigt einen anthropomorphen Griff mit einem Kopf, wie er unter anderem für die Trommeln der südlichen Altaier charakteristisch ist.93 Aus gegebenem Anlaß scheint es mir notwendig zu sein, auf den Wettlauf mit der Zeit hinzuweisen, den wir im Hinblick auf die möglichst weitgehende Bewahrung des heute noch Vorhandenen und Fixierbaren zu bestehen haben. POTAPOV umreißt dieses Problem treffend: „Leider haben die Vertreter der vergangenen Generation von Wissenschaftlern, die Tuwa besuchten, die quellenkundliche Bedeutung einer gründlichen Untersuchung der Schamanentrommel, des Kostüms, des Schlegels und überhaupt der schamanistischen Glaubensvorstellungen nicht erfaßt und kein entsprechendes dokumentarisches Material gesammelt. Gerade dadurch wurde unsere Wissenschaft um eine wertvolle Quelle gebracht. Unsere Versuche, uns mit der ernsthaften Untersuchung des gegebenen Materials zu beschäftigen, stießen auf große Schwierigkeiten, deren hauptsächlichste darin besteht, daß sich die Schamanentrommeln im alltäglichen Leben nicht mehr erhalten haben, wie auch fast keine Schamanen mehr am Leben sind, die uns die unbedingt notwendigen Informationen vermitteln könnten. Ohne eine solche zuverlässige Information verlieren aber die Schamanentrommeln, darunter auch die in den Museen aufbewahrten — selbst wenn sie noch so gut dokumentiert sind —, in vielem ihren wissenschaftlichen Wert für eine Reihe historischer Spezialuntersuchungen." 9 4 Deshalb sollte das Anliegen einer von mir seit langem geplanten neuen Forschungsreise zu den Tuwinern des Cengel-sum unter anderem auch die zeichnerische und fotografisch präzisere Aufnahme dieses Schamanengewandes aus dem Ethnographischen Kabinett und seiner Details mit allem Zubehör einschließlich der Erfassung der gesamten zugehörigen Terminologie sein, damit dieses Material für vergleichende historisch-ethnographische Untersuchungen nutzbar gemacht werden könnte — eine Aufgabe, deren Realisierung mit jedem vergehenden J a h r mehr gefährdet wird, da die heute noch lebenden ehemaligen Schamanen natürlich nicht der jüngeren Generation angehören. I m Zusammenhang damit war die Veröffentlichung eines Verzeichnisses der fixierbaren schamanistischen Terminologie vorgesehen. Da sich diese vollständigere Erfassung des hier behandelten Gegenstands bisher leider nicht verwirklichen ließ, soll diesen Aufzeichnungen eine unvollständige Liste der cengel-tuwinischen schamanistischen Termini angefügt werden. Vielleicht kann dieser Beitrag dennoch etwas zu der von D'JAKONOVA geforderten gründlichen Materialsammlung von den einzelnen ethnischen Gruppen der Tuwiner beisteuern und nützlich sein für eine vergleichende Analyse im Interesse der Lösung des komplizierten und widersprüchlichen Problems des tuwinischen Schamanismus. 95 S . 1 3 1 ; P O T A P O V 1 9 6 9 , S . 3 5 0 ; u n t e r d e n v o n D I Ó S Z E G I ( 1 9 6 2 , S . 1 7 1 ) bes c h r i e b e n e n I n s t r u m e n t e n e r i n n e r t d i e T r o m m e l a u s Cengel a m e h e s t e n a n T y p 1 ( e b e n falls o h n e R e s o n a t o r e n , m i t m e t a l l i s c h e m Q u e r s t a b , die Schnitzerei allerdings wesentlich einfacher). P O T A P O V 1969, S . 3 5 0 f .
M HOFFMANN,
95 D ' J A K O N O V A
1971,
S.
156.
Schamanismus im Cengel-sum
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Wörterliste A'dys dar] a'tty „Der Morgen graut" (Schamanengesang zur Verabschiedung des Hilfsgeistes), S. 53 a j n y r j dzäzy Neumondstag (gilt als Segen bringend), S. 58 ak dzem, „weiße Speisen" (Milchprodukte, z. B. als Geschenk oder Entgeld für den Schamanen nach der Seance), S. 61 Ak godan dözü „Geist des weißen Schneehasen" (Schamanengesang), S. 50 Ak godan dözüm „Weißer Schneehase — mein Geist" (Schamanengesang), S. 53 ala mandzak „bunte Schnüre" (Bezeichnung des savyd, siehe dort), S. 51 alastär (einen Gegenstand im Rauch) schwenken (und so reinigen), S. 51 Aldaj maktär „Lobpreis des Altai" (Schamanengesang, Abschluß einer SchamanenSäanee), S. 46, 53 algys Segensspruch (siehe Xamnyrj a.), S. 52 aragy Branntwein (aus Milch destilliert, gehört zu den „weißen Speisen" [siehe ak dzem\), S. 61 artys getrookneter Wacholder (für Rauchopfer, zur Reinigung und als Heilmittel verwendet), S. 51, 59; Anm. 80 aryg söktüt] xamy „Schamane der reinen Knochen" (Kategorie von Schamanen), S. 48 aryglär weihen (wörtl. reinigen, von Tieren [vgl. ydyktär], aber auch von Gegenständen, z. B. durch Schwenken im Rauch eines reinigenden Feuers), S. 48, 52 aza böser Geist, Krankheitsdämon, S. 60 aza gös siehe aza, S. 60 azanyr] sözü „Teufelswörter" (Wörter, die nur Geister verstehen), S. 54 baj xonas „Herr des Jurtenplatzes" (der als Ortsgottheit verehrt wird; vgl. xonas) bak schlecht, S. 57, 58 f. bak dzive böser Geist (wörtl.: schlechtes Ding), S. 58 bak dzive siijgen von einem bösen Geist befallen (siehe sirjger), S. 58 bak dzük ungünstige Richtung (vgl. serlig dzük), S. 57 bastär (einen Schamanen-Neuling) anleiten (vgl. gurlün xamny b.), S. 48 bolur xün günstiger Tag (vgl. eki xün), S. 57 bös weißer Stoff (Entgeld für die Dienste des Schamanen, auch der Hebamme, des Kastrierers, eines Arztes usw.), S. 61 böldenlr (beim Schamanentanz) sich im Kreise drehen, (den Schamanentanz) tanzen (wörtl.: walzen, kreisen), S. 50, 52 dadtaj Anrede für den Hilfsgeist (vgl. dataj), S. 54, 55 dalalga alyr Fleisch als Opfer darbringen (Teil der Weihe des Herdfeuers), S. 56 dataj Anrede für den Hilfsgeist (vgl. dadtaj), S. 54, 55 dezi kostbare Speisen (wörtl.: das Beste, u. a. die „weißen Speisen", siehe ak dzem), S. 56; Anm. 65 dizer aufreihen, auffädeln (von verschiedenen Substituten zur Reinigung von Bösem), S. 56 doksun ot unruhiges Herdfeuer, S. 56 dör Ehrenplatz in der Jurte gegenüber der Tür (Platz des Schamanen während der Seance und des Rauchopfers), S. 59 dös (Hilfs-)Geist (ursprüngl.: Wurzel, Ursprung; vgl. ak godan d.), Anm. 35 dütjgür (Schamanen-)Trommel, S. 48, 54, 63 dzajän Schicksalsgeist, Schutzgeist, Haupthilfsgeist (wörtl.: Schicksal; im Märchen auch der vom Schicksal bestimmte Partner), S. 48, 52, 54; Anm. 77 DSajän „Der Schicksalsgeist" (Schamanengesang), S. 53 Dzajän cägyzy „Schicksalsgeist-Segenssprüch" (Schamanengesang), S. 53 5 Jahrbuch des Museums für Völkerkunde, Bd. X X X I I I
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ERIKA
TAUBE
Dzajân gygyrar „ R u f e n des Schicksalsgeistes" ( S c h a m a n e n g e s a n g ) , S. 52, 54 dzalama f a r b i g e b u n t e B ä n d e r , S t o f f s t r e i f e n (die in M ä h n e o d e r Schweif eines g e w e i h t e n Tieres geflochten oder g e b u n d e n w e r d e n oder die m a n a n heiligen P l ä t z e n [z. B . O v a a s , P ä s s e n , Heilquellen] als O p f e r g a b e a m Geäst f e s t b i n d e t oder in s t r a u c h l o s e m Geb i e t m i t Steinen b e s c h w e r t auf den B o d e n legt), S. 48; A n m . 27 dzalbarar G e b e t e sprechen, b e t e n , S. 61 dzalbarylga Gebet, S. 61 dzalbaryr Gebete sprechen, b e t e n , S. 61 dzalbyr b u n t e B ä n d e r (oder r o t e B ä n d e r , die in M ä h n e o d e r Schweif eines geweihten Tiei'es g e b u n d e n oder geflochten w e r d e n ; vgl. dzalama); S t o f f s t ü c k e (die auf eine S c h n u r g e f ä d e l t u n d geweihten Tieren u m den H a l s g e h ä n g t werden), S. 4 8 ; A n m . 27 dzazal A b b i l d eines bösen Geistes (aus Teig hergestellt), S. 58 dzäs ot ruhiges H e r d f e u e r , S. 56 Dzedi lam „Sieben L a m a s " ( S c h a m a n e n g e s a n g ) , S. 52 diele Strick, a n d e m S u b s t i t u t e a u f g e r e i h t w e r d e n (vgl. dizer) (eigentl. Strick z u m A n h ä n gen der J u n g t i e r e ) , S. 56 dzirves K a u r i s c h n e c k e (an der S c h a m a n e n k l e i d u n g v e r w e n d e t ) , S. 63 dzojgan B e z e i c h n u n g der „ S c h a m a n e n b l u m e " (siehe xam dzeéek), S. 59 eki g u t , S. 57 eki dzük günstige R i c h t u n g , S. 57 • eki xün günstiger Tag, S. 57 Erlik (auch Erlik-lovun-xaan, Erlik-xaan, Erlikbej) H e r r der U n t e r w e l t , S. 55, 63 Erlik oran (auch Erliktit] orany) „ L a n d des Erlik" ( = U n t e r w e l t ) , S. 55, 63 Erlikbejnirj uräzy „Gesang/Melodie des Erlikbej1' (Schamanengesang), S. 53 gaj ündürer einen u n g l ü c k b r i n g e n d e n G e g e n s t a n d (aus der J u r t e ) h i n a u s s c h a f f e n (wörtl. : d a s V e r d a m m t e h i n a u s g e h e n lassen), S. 58 gajga ündürer siehe gaj ündürer (wörtl. : in die V e r d a m m n i s gehen lassen), S. 58 gajlär siehe gajga ündürer, S. 58 garjga P f l a n z e , f ü r R a u c h o p f e r v e r w e n d e t , S. 59 Gargys F l u c h , V e r f l u c h u n g ( S c h a m a n e n g e s a n g ) , S. 50 gidis Filz (hier speziell weißer Filz, als E n t g e l d f ü r den S c h a m a n e n , vgl. bös), S. 61 gös K r a n k h e i t s d ä m o n (vgl. aza gös), S. 60 göldzün Hilfsgeist des S c h a m a n e n , S. 52, 60; A n m . 77 göldzünnerin surär seine Hilfsgeister b e f r a g e n (z. B. nach der U r s a c h e einer K r a n k h e i t ) , S. 60; A n m . 77 göske dzunar sich in der G l u t waschen (bei der Geister-Austreibung u m f a ß t der S c h a m a n e m i t u n t e r d e n H e r d o d e r n i m m t m i t d e n H ä n d e n G l u t auf), S. 60 gösten dzunar sich m i t G l u t w a s c h e n (vgl. göske dz.), S. 60 gurlün xamny bastär j m d n . z u m S c h a m a n e n weihen (wörtl. : den von der S c h a r n a n e n k r a n k heit Befallenen e i n f ü h r e n , . . . anleiten), S. 46 gurlür v o n der S c h a m a n e n k r a n k h e i t befallen werden, S. 47 guruk S c h a m a n e n k r a n k h e i t (junger Mensch b e k o m m t K r ä m p f e , verliert d a s B e w u ß t sein, schreit, singt, spricht in Versen, l ä u f t weg ; ä h n l i c h e K r a n k h e i t bei j u n g e n Schafen : K r ä m p f e , kreiselnde Bewegungen m i t schief g e h a l t e n e m , auf den Boden g e d r ü c k t e m K o p f ) , S. 47; A n m . 22 maktär Lobpreis, Preislied (vgl. Aldaj m.), S. 46, 53 mandzak Schnur, K o r d e l (vgl. ala m.), S. 51; A n m . 45 orva Trommelschlegel (mit Fell bezogen), S. 48, 63 ot F e u e r , H e r d f e u e r (als heilig v e r e h r t ; vgl. doksun o. ; dzäs o.), S. 56 otka dzunar sich i m F e u e r waschen (wie es w ä h r e n d der S c h a m a n e n - S é a n c e v o r k o m m t , vgl. göske dz.), S. 60 oltan dzunar sich m i t F e u e r waschen (vgl. göske dz.), S. 60
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sagystyrj xamy „ S c h a m a n e des Gedankens" (d. h. aus eigenem Willen, Kategorie von Schamanen), S. 48 sarj R a u c h o p f e r , S. 56, 59 Saryg gyzyl toluglug, saryg anaj tajyglyg „Der ein gelb-rotes S u b s t i t u t h a t , der ein gelbes Zicklein als geweihtes Tier h a t " (Schamanengesang), S. 50 sir/ger eindringen (z. B. eines bösen Geistes in Mensch oder Tier; vgl. hak dzive s.), S. 58 Sünezin gygyrar „ Z u r ü c k r u f e n der Seele" (Schamanengesang; Phase gegen E n d e der Schamanen-Séance), S. 50, 53 savyd Bündel aus 5 farbigen Tüchern (rot, blau, grün, gelb, weiß) mit festem Griff (Teil der S c h a m a n e n a u s r ü s t u n g , wird vor der Séance über Wacholderrauch gereinigt und während der Séance geschwenkt), S. 48, 51, 60; A n m . 41 savyttär mit d e m savyd schlagen (z. B. einem K r a n k e n auf R ü c k e n und Schultern; vgl. savyd), S. 60 sérier etw. verbieten, S. 57 sërlig mit Verbot belegt, u n t e r ungünstigem Vorzeichen stehend, S. 57 sërlig dzük ungünstige R i c h t u n g (wörtl. : m i t Verbot belegte Richtung), S. 57 sërlig xün ungünstiger Tag, Unglückstag (wörtl. : mit Verbot belegter Tag), S. 57 tajyg vermutlich geweihtes Tier, das schützende F u n k t i o n h a t , S. 50; A n m . 36 tajyl siehe tajyg, S. 50; A n m . 36 tamyklazyr die Begrüßungspfeife rauchen (wörtl. : miteinander rauchen, hier zur Begrüß u n g des Schamanen-Hilfsgeistes), S. 60 tamyklär T a b a k r a u c h e n (z. B. während der Schamanen-Séance), S. 60 tolug Ersatz, S u b s t i t u t (im Falle der Gefahr, der Bedrohung), S. 50; A n m . 36 ürer beblasen (d. h. zur Beschwörung über einen Gegenstand blasen, beschwören), S. 52 ürüp dzajar siehe ürer, S. 52 xalak Anrede des Hilfsgeistes, e t w a F r e u n d , (Schicksals-)Gefährte, (Leidens-)Genosse, S. 49, 53, 54, 55; A n m . 29, 52 xam Schamane, S c h a m a n i n , S. 47, 62; A n m . 88 xam bolur Schamane werden, S. 47 xam börgü S c h a m a n e n m ü t z e , S. 63 xam dzecek S c h a m a n e n b l u m e (vielleicht Helf-Thymian [Thymus serpyllum L.], f ü r R a u c h o p f e r verwendet, möglicherweise auch d e m T a b a k zugesetzt), S. 59, 60 xam yjazy S c h a m a n e n b a u m ( B a u m , auf d e m der Leichnam eines verstorbenen Schamanen ausgesetzt wird), S. 48 xamnär schamanisieren, (Schamanengesänge) singen; Schamanen-Séance, S. 52, 59 xamnär bort S c h a m a n e n m ü t z e , S. 63 Xamnyrj algyzy „Segensspruch des S c h a m a n e n " (Schamanengesang, häufig einleitender Teil einer Séance), S. 52 xamnyrj edik xevi S c h a m a n e n k l e i d u n g (wörtl. : Stiefel u n d Kleid des Schamanen), S. 48 Xamnyrj gygyrgazy Herbeirufen des Geistes (wörtl.: Ruf des S c h a m a n e n ; Schamanengesang, einleitender Teil einer Séance), S. 54 xamnyrj yjaiy S c h a m a n e n b a u m (siehe xam y.) xara dërnirj xamy „ S c h a m a n e des schwarzen H i m m e l s " (Kategorie von Schamanen), S. 48 xara ijik „schwarze Seite" ( = n i c h t lamaistisch [beeinflußt]?), S. 50 xaraijikten „von der schwarzen Seite" ( A t t r i b u t von Schamanengesängen), S. 50 xerjsi Zeremoniell zur Beseitigung unglückbringender Gegenstände (bei d e m m a n ein D ä m o n e n a b b i l d m e h r m a l s in stinkendem R a u c h kreisen läßt), S. 58; A n m . 59 xerjëïni desgindirer ein b e s t i m m t e s Zeremoniell durchführen (siehe xerjsi), S. 60 xol agartyr jmds. H ä n d e weiß machen (d. h. segnen, indem m a n ihm etwas „Weißes" [Stoff, Filz, Milchprodukte] gibt, besonders als E n t g e l t f ü r schwierige Hilfeleistungen), S. 61 xonas J u r t e n p l a t z s a m t nächster U m g e b u n g (wo Brennmaterial und H a u s r a t liegen u n d die Anpflockplätze f ü r das Vieh sich b e f i n d e n ; vgl. baj x.), S. 57, 58
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xuraj eine Segen bewirkende Formel, S. 46, 56 xurajlär xuraj rufen (wobei häufig mit Milch gefüllte Gefäße m i t beiden H ä n d e n vor d e m K ö r p e r von links nach rechts — entsprechend der Sonnenbahn — kreisförmig bewegt werden), S. 46 ydyk geweihtes Tier; Reittier des Schamanen oder eines Hilfsgeistes, S. 46, 48, 56; A n m . 26, 36 ydyktär (ein Haustier) z u m ydyk machen, d. h. ein Tier weihen (das Tier darf von F r e m den nicht geritten, von F r a u e n nicht einmal b e r ü h r t werden; vgl. ydyk u n d aryglär), S. 48,56 yjas B a u m (siehe xam(nyt]) yjazy) züzüktenir gläubig sein, d. h. Gebetshaltung einnehmen (mit leicht nach oben gekehrten, z u m Zusammenlegen bereiten H a n d f l ä c h e n auf d e m Boden sitzen), S. 59
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Die Regibät. Zur politischen und sozialen Entwicklung eines nomadischen Ethnos in der Westsahara Von
WOLF-DIETER SEIWEBT,
Leipzig
(Mit 1 K a r t e )
Mit der Proklamierung der Arabischen Demokratischen Sahara-Republik (ADSR) am 27. Februar 1976 in Bir Lahlu wurde die politisch-soziale (sprich: staatliche) Grundlage für die Entwicklung einer Nation der Sahräwi's geschaffen. Das Staatsvolk der ADSR („peuple sahraoui"), das in der Verfassung der jungen Republik als arabisch, afrikanisch und islamisch charakterisiert wird, 1 umfaßt Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen: Regibät, Tekna, Üläd Delim, 'Arüssiyin, Fuikät, Üläd Tidrärin, Taubälet, Filäla, Ahl Mä' al-'Ainin, Ü l ä d ' Abd al-Wähid. Die nationale Konsolidierung, d. h. die ethnisch-kulturelle Vereinigung dieser Gruppen zu einer einheitlichen und geschlossenen sahräwischen Nation, kann sich nicht losgelöst von der bisherigen ethnischen Entwicklung in diesem Raum vollziehen. Sie bildet vielmehr eine Fortsetzung dieses Prozesses auf höherer Stufe, in Übereinstimmung mit den neuen historischen Bedingungen. Entsprach die traditionelle Gliederung der Saharier in „Stämme" (qabä'il) und „Stammesfamilien" 2 den Besonderheiten des Hirtennomadismus, 3 so führt die Herausbildung neuer sozialökonomischer und gesellschaftlicher Beziehungen zur Auflösung der Stammesstruktur und zur allmählichen Verwischung der tribalen Unterschiede. Für eine richtige Einschätzung des gegenwärtigen Standes lind des zukünftigen Verlaufs der ethnischen Konsolidierung ist eine genaue Kenntnis der bisherigen Entwicklung unerläßlich. Der vorliegende Aufsatz zur politischen und sozialen Entwicklung der Regibät bildet eine Vorstudie zur ethnischen Geschichte der zahlenmäßig und territorial größten Gruppe in diesem Gebiet (1966: über 60000 Personen) 4 . Ihr Weidegebiet erstreckt sich vom mauretanischen Adrär im Süden bis zur Hamäda des Dra' im Norden, vom Zemmür und vom Tirls im Westen bis zum Erg Ses (Erg Chech) im Osten (s. Karte). 1 F . POLISABIO 1976, S. 21 f. 2
3
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U n t e r „Stammesfamilie" verstehen wir eine Zusammenfassung genealogisch v e r w a n d t e r Stämme. I m Gegensatz zum Begriff „Wanderweidewirtschaft", den der Verfasser rein ökonomisch definiert (d. h. als eine spezielle F o r m der Weidenutzung), wird hier u n t e r d e m Begriff „Hirtennomadismus" eine historisch gewachsene sozial-ökonomische Kategorie verstanden, die u. a. durch eine enge Verflechtung der W a n d e r w e i d e w i r t s c h a f t mit spezifischen Formen der Sozialstruktur (frühe Klassengesellschaft bzw. eine Gesellschaft im Übergang von der Vorklassen- zur Klassengesellschaft) gekennzeichnet ist. GAUDIO 1975, S. 109 (nach einer Schätzung und Zählung des marokkanischen Innenministeriums, die im Mai 1966 in der Provinz T a r f a y a d u r c h g e f ü h r t wurde): Provinz T a r f a y a (Marokko) - 9562; Spanisch-Sahara - 30000; M a u r e t a n i e n - 9000; Bezirk Tinduf (Algerien) - 12000 (vgl. ebenda, S. 390: 1639 Zelte).
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Die Reglbät
1.
Stammesgenese
Die historischen Überlieferungen der Reglbät nennen folgenden genealogischen Ursprung : 5 Muhammad (Fätima) 'l Möläy 'Abd as-Saläm b. Masls (gest. 1227/28) I 'Abdallah ' A b d al-Karim 'Abd al-Wähid Sid Ahmed ar-Rgibi I. (15. Jh.) Sid Ahmed ar-Rgibi I I . I Sid Ahmed ar-Rgibi I I I . (15./16. Jh.) I 'Amar I Täleb I Üläd Täleb
„I Seih "
'Ali I
I Däwud I |
Üläd Seih
Qäsim
. 1 Brähim Musa I I Sa'ad Muhammad
Üläd Däwud
g u
-
a d
(Bä) Buih I |
Üäld ßuihät ' Brähim ü Däwud
Üläd Musa
Reglbät as-Sähel
i Däwud I Brähim
Reglbät le-Gwäsim
Über Müläy ' A b d as-Saläm b. Masls informiert D O U T T E in der „Enzyklopädie des I s l a m " : ,,'ABD A L - S A I Ä M B. M A S H I S H A L - H A S A N I , berühmter marokkanischer Heiliger (ermordet ums J a h r 625 = 1227/1228), der als Muster des Süfismus in Nordafrika dasteht. E r war . . . Lehrer des Abu'l-Hasan 'Ali al-Shadhili, 6 der einer der größten muslimischen Bruderschaften seinen Namen gegeben h a t . " 7 ' A b d as-Saläm b. Masls war das religiöse Oberhaupt der Banü 'Arüs und „. . . wurde auf dem Djebel 'Alam, im Gebiete der Banü 'Arüs beerdigt. Sein Grab wird von zahllosen Pilgern besucht Die Verehrung f ü r das Andenken ' A b d al-Saläm's und das Ansehen, das seine Nach5
Nach
HABT
BISSON 1961,
1962, S. 519;
LARBIBAUD
S. 2 1 9 ; BISSON 1963,
1952, S. 254f., 279;
1 9 5 5 , S. 2 8 f . u n d 5 5 ; CAUNEILLE 1 9 5 0 , S . 8 8 . 6
Gest. 1258 (HARTMANN 1944, S. 121).
? DOUTTE 1913, S. 68.
GAUDIO
S. 5 1 u n d 5 6 ; MARTY 1 9 1 5 ,
1975, S. HOff.;
S . 1 2 1 ; CARO B A R O J A
72
W O L F - D I E T E R SEIWERT
kommen genießen, gehen da über jede Vorstellung hinaus ; er ist einer der am meisten gefeierten Süfis in der ganzen muslimischen Welt und sein Name kommt in sehr vielen mystischen Ketten vor . . . Noch heutzutage gilt sein Grab als Wunderstätte."8 Anstelle von 'Abd al-Wähid b. 'Abd al-Karim9 erwähnt L A R R I B A U D „le célèbre cherif A B D E L M O A D B E N A B D E L K R I M , mort au debut du X I V E siècle et enterré près de Marrakech, à El Mouda Sidi Zouj, zaouia Tirksrit."10 Sid Ahmed ar-Rgïbi (I.) soll im 15. Jh. im Gebiet des mittleren Wäd Dra' gelebt haben, wo er große religiöse Autorität besaß und von zahlreichen Anhängern (tlämld) umgeben war. Nach seinem Tode wurde Sîd Ahmed (I.) an einem Ort namens Rgiba 11 (in der Landschaft Mhamid (südwestlich des Dra'-Knies) beigesetzt.12 Offensichtlich rührt der Beiname ,,ar-Rgïbi" von dieser Ortsbezeichnung her. L A R R I B A U D nimmt an, daß ihn Sîd Ahmed (I.) erst nach seinem Tode erhielt, im Sinne von „der in Rgiba Beigesetzte".13 Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, daß Rgiba bereits zu Lebzeiten Sîd Ahmeds das Zentrum seiner zäwiya14 war. In diesem Falle wäre es möglich, daß 8
E b e n d a ; v g l . SINGER 1971, S . 50.
9
H A R T 1962, S . 519.
10 L A R R I B A U D 1952, S. 254. 11
Rgiba =arab.: „kleine Schlucht" (LERICHE 1955, S. 57).
12
S i e h e L A R R I B A U D 1952, S . 255.
« Ebenda. 14 Unter „zäwiya" versteht man in Nordwestafrika ein Zentrum islamischer Erziehung und Ausbildung unter der Führung eines einflußreichen Gelehrten (saih). Die gleiche Bedeutung besitzt im Grunde der Begriff „ribät". So wie die zäwiya konnte auch das ribät ein Zeltlager sein — eine Tatsache, die bei der Suche nach der „Wiege" der Almoraviden bisher kaum berücksichtigt wurde.
Die Regibät
73
das Ethnonym „Rglbät" (oder „Regibät") nicht vom Beinamen des Stammesgründers, sondern direkt von der genannten Ortsbezeichnung abgeleitet wurde. Ein Beispiel für eine derartige Entstehung des Ethnonyms sind die Ait Ussa (Stamm in der Liga der Tekna Ait 'Atmän), deren stammesgenetisches Zentrum die zäwiya von Ussa (oder Assa; an einem Nebenfluß des Wäd Dra' im öebel Bani) war. 15 Interessant in Verbindung mit der zäwiya Sïd Ahmed's (I.) ist die Bemerkung A H M A D O U BAS, daß „dans le coude du Draa il existerait de nombreux cimetières remarquables par le nombre de leur cailloux blanchatres que les indigènes informés montreraient comme le champ de repos des premiers Régueibat." 1 6 Sïd Ahmed ar-Rgïbi (I.) starb ohne Nachkommen. Jedoch berichtet die Legende, daß ihm -wenige Monate nach seinem Tode noch ein Sohn geboren wurde, der — dem Brauch in solchen Fällen entsprechend — den Namen seines Vaters erhielt : Sïd Ahmed ar-Rgïbi (II.). Auch dieser starb kinderlos, und genauso wie seinem Vater soll auch ihm posthum noch ein Sohn geboren worden sein: Sïd Ahmed ar-Rgïbi (III.). 17 E r gilt als der eigentliche Stammesgründer der saharischen Regibät. Der Überlieferung zufolge kam der Marabut Sïd Ahmed ar-Rgïbi (III.) zu Beginn des 16. J h . (1503) ins Tal des unteren Wäd Dra'. 1 8 I n der Folgezeit gewann er besonders unter den Stämmen zwischen Sägiyat al-Hamrä' und unterem Wäd Dra' zahlreiche Anhänger. Sie veranlaßten ihn schließlich, nach Süden zu ziehen und direkt unter ihnen zu wirken. Sein Hauptsitz soll in dieser Zeit Halwa bzw. die Ga'ada gewesen sein. Daher bezeichnet man die letztere noch heute als „iliwis Sïd Ahmed arRgïbi". 19 Die Legende berichtet weiter, daß Sïd Ahmed während seines Aufenthalts in der Nordwestsahara Küriya mint Muhammad aus dem Stamme der Selläm heiratete und mit ihr drei Söhne hatte : 'Amar, 'Ali und Qäsim. 20 Nach seinem Tode wurde er an einem Ort namens al-Ahbäs (nördlich der Sägiyat al-Hamrä') beigesetzt. 21 Es ist möglich, daß sich die Formierung der Regibät bereits zu Lebzeiten und unter Führung von Sïd Ahmed vollzog, d . h . daß seine zäwiya das stammesgenetische Zentrum der Regibät war. Jüngere Beispiele für eine solche Stammesgenese sind z.B. die Ahl Seih Mä' al-'Ainïn (nördliche Westsahara und Südmarokko) und die Ahl Seih Sa'ad Büh (Südwestmauretanien). Der Hauptteil der tlämid Sïd Ahmeds kam dabei offenbar aus dem Stamm der Selläm, 22 die ihre Herkunft auf südarabische Ma'qil-Nomaden zurückführten, die im 13./14. J h . in Süd- und Ostmarokko die politisch-militärische Herrschaft errungen hatten. Auch le-M'uddin, der Stammvater des Regibät-Stammes der (le-)M'uddnin, soll ein tilmïd Sïd Ahmeds gewesen sein. 23 15
Siehe
MONTELL 1 9 4 8 ,
S.
17-19.
46 A H M A D O U B A 1 9 3 3 , S . 2 7 4 . « LARRIBAUD 1 9 5 2 , S. 2 5 5 » CARO B A R O J A 1 9 5 5 , S . 5 3 ; H A R T 1 9 6 2 , S . 5 2 3 . 19
„Iliwis" =ungegerbtes Schaffell, das als Gebetsteppich, Sitzkissen und Satteldecke verwendet wurde (s. CARO B A R O J A 1955, S. 53), C A U N E I L L E 1950, S. 89.
2« CARO B A R O J A 1 9 5 5 , S . 5 3 ; v g l . C A U N E I L L E 1 9 5 0 , S . 8 8 ; G A U D I O 1 9 7 5 , S . 1 1 0 . 21
NORRIS 1972, S. 199: „One of the Rgaybat . . . has informed Mukhtär wuld Hämidun that al-Ahbäsh are localities north of the Säqiya '1-Hamrä', and one of them contains the tomb of their ancestor Sid Ahmad al-Rgaybi (hbäah Sid Ahmad r-Rgaybi)."
22
V g l . LARRIBAUD 1 9 5 2 , S. 2 8 0 .
23
Literaturarabisch: „al-mu'addin" =der Muezzin. Lt. Sidi Buya war le-M'uddin tilmid und Muezzin Sid Ahmeds. CARO B A R O J A 1 9 5 5 , S. 5 3 f.
74
W O L F - D I E T E R SEIWEET
Die meisten Reglbät führen, ihre patrilineare Abstammung heute über 'Ali, ' A m a r oder Qäsim direkt auf Sid Ahmed at-Rglbi zurück und betrachten sich als sorfä', d. h. als Nachkommen des Propheten Muhammad. 24 2. An- und
Eingliederungen
Eine der frühesten und besten Untersuchungen über das Wesen der An- und Eingliederung stammt aus der Feder des nordafrikanischen Geschichtsphilosophen ' A B D A R - R A H M Ä N I B N H A L D Ü N ( 1 3 3 2 — 1 4 0 6 ) . Er schreibt im 2 . Kapitel seiner „Muqaddima" (Übersetzung Rosenthal 1 9 5 8 ) : „It is clear that a person of a certain descent may become attached to people of another descent, either because? he feels well-disposed toward them, or because there exists an (old) alliance or client (-master) relationship, or yet because he had to flee from his own people by reason of some crime he committed. Such a person comes to be known as having the same descent as those (to whom he has attached himself) and is counted one of them with respect to the things that result from (common descent), such as affection, the rights and obligations concerning talion and blood money, and so on. When the things which result from (common) descent are there, it is as if (common descent) itself were there, because the only meaning of belonging to one or another group is that one is subject to its laws and conditions, as if one had come into close contact with it." Im Laufe der Zeit vergißt man dann meist die eigentliche Abstammung: „Those who knew about it have passed away, and it is no longer known to most people." Auf diese Weise wechselten ständig Familien (family lines) aus einer Stammesgruppe in die andere über. Das geschah sowohl in vorislamischer, als auch in islamischer Zeit. 25 Die Geschichte der Reglbät unterstreicht in wesentlichen Punkten die Allgemeingültigkeit dieser Aussagen I B N H A L D D N S . Die in der Literatur enthaltenen Angaben über den Umfang der An- und Eingliederungen bei den Reglbät schwanken. Capitaine C A U N E I L L E , der in den 1940er Jahren Militärkommandant in Tindüf war, spricht von einem Verhältnis von 645 Zelten „edler" Reglbät zu 1354 Zelten der „Klienten" (wie er die Angegliederten nennt). 20 Vergleicht man diese Zahlen mit den Angaben A H M A D O U BAS 2 7 aus dem Jahre 1927, erkennt man, daß sich C A U N E I L L E dabei nur auf die Reglbät le-Gwäsim bezieht und außerdem die große Zahl der in die „edlen" Stämme eingegliederten Gruppen unberücksichtigt läßt. Ein genaueres Bild von der ethnischen Zusammensetzung der Reglbät scheint CARO B A R O J A zu vermitteln (1952/53 Felduntersuchungen im westsaharischen Küstensähel), indem er das Verhältnis von „echten" Reglbät zu An- bzw. Eingegliederten (agregados) auf 1:10 (!) schätzt. 28 24
In Marokko und angrenzenden Gebieten sind die Ehrentitel „Sid(i)" und „Muläy" den Nachkommen des Propheten vorbehalten.
25
IBN K H A I D U K ( R o s e n t h a l 1958), S. 2 6 7 .
26
CAUNEILLE 1950, S. 88; wahrscheinlich stützt sich BISSON 1963 (S. 51) auf diese Quelle, wenn er von einer Verdreifachung der Reglbät durch Angliederung von Klientengruppen spricht. AHMADOU BA 1927, S. 137—141; AHMADOU BA hatte während seiner Tätigkeit als Dolmetscher der französischen Kolonialadministration im Adrär umfangreiche Kontakte mit den Reglbät.
27
28
CARO BAROJA 1 9 5 5 , S . 2 0 .
Die Regibät
75
Beim Anschluß fremder Gruppen an die Regibät stand das Streben nach politischmilitärischer und ökonomischer Sicherheit gewöhnlich im Vordergrund. Die genauen Gründe sind jedoch nur noch in den wenigsten Fällen bekannt (z. B. sollen die Fugrä nach dem Mord an einem Angehörigen der südmarokkanischen Ait ü Mribet zu den Regibät geflohen sein.)29 Das Wesen der An- und Eingliederung bestand in der Aufnahme in den Verband der 'asabät. Mit diesem Begriff bezeichnete man zunächst und in erster Linie alle patrilinearen Verwandten. Davon abgeleitet verstand man unter ,,'asabiya" den ideellen Ausdruck dieser Verwandtschaft, d. h. das Bewußtsein der patrilinearen Einheit und das sich daraus ergebende Solidaritätsgefühl. Indessen, wie I B N H A L D Ü N bemerkte, „the only meaning of belonging to one or another group is that one is subject to its laws and conditions" und "when the things wich result from (common) descent are there, it is as if (common descent) itself were there." 30 So wurden auch die Begriffe „'asabät" und ,,'asabiya" i. w. S. auf den gesellschaftlichen Verband als Ganzes ausgedehnt. Welche Einheit der Stammesstruktur (Unterstamm, Stamm oder Konföderation) neu hinzukommende, fremde Elemente aufnahm, hing weitgehend von der Größe der zu integrierenden Gruppe ab. Andererseits prägten Charakter und Funktion des aufnehmenden Verbandes die Form und den Inhalt der An- bzw. Eingliederung. Die engsten sozialen Bindungen herrschten in jener Verwandtschaftsgruppe, deren Mitglieder seit ca. sieben Generationen durch einen gemeinsamen Vorfahren verbunden waren. Eine solche Großlinie bezeichnete man in der nördlichen Westsahara als „üläd al-'amm". Sie bildete den männlichen Kern, das strukturelle „Rückgrat" eines Unterstammes (fahad, bei den Regibät auch: ahl), 31 der in relativ friedlichen Zeiten das politisch-soziale Hauptglied der Gesellschaft darstellte. Um die genannte Großlinie und ihren Zusammenhalt als Organisationsgrundlage des Unterstammes zu erhalten, wurden weniger bedeutende Ahnen in der Genealogie ausgelassen.32 Die Hauptfunktion des fahad bestand in der gegenseitigen Hilfe in militärischen, politischen und rechtlichen Konfliktsituationen, vor allem bei der Zahlung und Forderung von Blut- (diya) und Sühnegeld (talb).33 Wollte sich ein Sahräwi einem fremden Unterstamm anschließen, so wandte er sich zu diesem Zweck an eine einflußreiche Persönlichkeit in dieser Gruppe. Er schlachtete vor dem Zelt dieses Mannes ein Schaf (dablha) oder ein Kamel (targiba) und bat ihn um Aufnahme in seine 'asaba. 34 Neben dem Einverständnis des Ange29 B I S S O N 1 9 6 1 , S . 2 1 9 . 30
31
IBN KHALDUN ( R o s e n t h a l 1958), S. 267.
Anzahl und Größe der Unterstämme eines Stammes variierten: z . B . umfaßten die 1-Ahsen ü Ahmed (Regibät le-Gwäsim) in den 1950er Jahren sechs, die Fugrä dagegen dreizehn Unterstämme. Der kleinste Unterstamm der Fugrä — die Ahl Blila — bestand aus 14 Zelten (60 Personen), der größte — die Ahl le-Mzät — aus 135 Zelten (716 Person e n ) . BISSON 1 9 6 1 , S . 2 2 0 .
32
CARO BAROJA 1 9 5 5 , S . 1 5 .
33
Ebenda, S. 17f.; LESOURD 1959, S. 216. In der Westsahara bestand die diya aus 100 Kamelen (LARRIBAUD 1952, S. 287; CHARRE 1966, S. 346 — beide in bezug auf die Regibät le-Gwäsim). Wenige Nomaden waren in der Lage, diese Summe ohne die Hilfe ihrer Verwandten aufzubringen. S. CARO BAROJA 1955, S. 23; 'asaba = Gesamtheit der 'asabät.
34
76
WOLF-DIETER
SEIWEBT
sprochenen benötigte man dann noch die Zustimmung der zema'a (Ratsversammlung) des Unterstammes, um die Eingliederung rechtskräftig zu machen. Obwohl diese Übereinkünfte nur mündlich getroffen wurden, waren sie schwer wieder rückgängig zu machen. 35 Auf diese Weise konnte sich die Zusammensetzung eines Unterstammes ständig verändern. Die Spezifik der Organisation, die faktisch die patrilineare Eingliederung neuhinzukommender fremder Elemente forderte, verschleierte diese innerethnische Mobilität, festigte das Gefühl der Einheit und Solidarität ('asabiya) und führte so zu der bereits erwähnten äußeren Stabilität des Unterstammes. Die Tatsache der Eingliederung blieb dabei manchmal (z. B. bei den Tekna/Ait 1-Ahsen) noch ziemlich lange bekannt, was sich u. a. in den Bezeichnungen „dählin" (Eintretende) und „täriyln" (Neue) ausdrückte. Demgegenüber waren die Reglbät für eine schnelle Assimilation der Eingegliederten bekannt. 36 Wurden kleinere Gemeinschaften (z. B. Familien) und Einzelpersonen bei den Reglbät in der Regel „adoptiert" und in einen der Unterstämme eingeliedert, so wurden größere Gruppen als Unterstämme den 'asaba-Verbänden der Stämme angeschlossen. Dabei blieb die Erinnerung an ihre fremde Herkunft vor allem in den „reinblütigen" Stammesgruppen der Reglbät weitgehend erhalten. Die Stämme (qabä'il; Sing.: qabila) bildeten die Hauptglieder der militärischsozialen Organisation der Gesellschaft. Ihr innerer Zusammenhalt beruhte auf gemeinsamen politischen und militärischen Interessen und äußerte sich in einer gemeinsamen Führungsspitze (Stammesrat, Oberseih). Während der Unterstamm auch innere Funktionen ausübte, wirkten der Stamm und seine administrativen Organe in erster Linie nach außen. Vergrößerte sich der Unterstamm, so gingen die nach innen gerichteten Funktionen nach und nach auf seine Unterabteilungen über — der Unterstamm wurde zum Stamm. Organisatorisch blieb der alte Stamm oft weiterhin erhalten und bildete einen militärisch-sozialen Verband höherer Ordnung („Stamm II", „Konföderation"). Zur Zeit großer Migrationsbewegungen oder fortgesetzter militärischer Auseinandersetzungen mit fremden Verbänden unterwarfen sich alle Stämme der Konföderation einer gemeinsamen Führungsspitze. Weiterhin konnten sich mehrere Konföderationen zu einem Verband gegenseitiger politisch-militärischer Hilfe zusammenschließen, ohne daß dabei unbedingt eine gemeinsame Führungsspitze gebildet wurde. Zur Unterscheidung wird ein solcher Verband im folgenden als „Stammesliga" bezeichnet. Durch die Angliederung fremder Stammesgruppen entwickelte sich bei den Reglbät eine Hierarchie, die nach B I S S O N folgendermaßen strukturiert war:37 a) Reglbät „dem Blute nach" (Reglbät „de sang"): patrilineare Nachkommen von Sid Ahmed ar-Rglbi; b) Reglbät „dem Namen nach" (Reglbät „de nom"): b)a) Stammesgruppen, die sich als erste an den ursprünglichen Stammeskern der Reglbät angegliedert hatten (Selläm, le-M'uddnln),38 b)b) Stammesgruppen, die sich später dem 'asaba-Verband einzelner Reglbät-Stämme 33
Ebenda, S. 19. 36 Ebenda, S. 23. 37 B I S S O N 1 9 6 1 , S . 2 1 9 . 38
Zu den (le-)M'uddnin s.
CABO B A B O J A
1955,
S.
53f.
Die Regibät
77
anschlössen (z. B. die Fugrä, die Üläd Sidi Hmad und die Hmeidnät den Üläd Brähim ü Däwud, 3 9 die Ahl Muhammad Sälem den Üläd Müsa 40 und die Tahälät den Üläd Täleb 4 *). Die politische und militärische Führung der Konföderation lag immer in den Händen der Regibät „de sang", wobei das Ansehen und der Einfluß der „älteren" Linien in der Regel größer war als das der „jüngeren". Ähnlich wie B I S S O N unterscheidet M O N T E I L zwischen Tekna „de sang", Tekna „de nom" (Tekna „par extension") und Tekna „de fait" (Tekna „par confusion"). 42 Bei den Tekna „de fait" handelt es sich um stammesfremde Gruppen, die bei den Tekna und unter ihrem Schutz leben, ohne mit ihnen durch die 'asaba verbunden zu sein (Mezzät, Yaggüt, Fuikät, Myär, Snägla, Filäla, Torkoz u. a.). 43 Dieses Schutzverhältnis kann als unterste Stufe der politisch-sozialen Integration betrachtet werden. Bei den Regibät wurde dieses Stadium in der ersten Hälfte des 20. J h . von folgenden Gruppen repräsentiert 4 4 : a) Üläd 'Abd al-Wähid: Unterstamm Ahl Rahmüni (ca. 40 Zelte): ca. 20 Zelte bei den Ahl Bellau (lange Zeit führende Stammesgruppe der Üläd Müsa/Reglbät as-Sähel); ca. 20 Zelte bei den Ahl Brähim b. 'Abdallah (lange Zeit führende Stammesgruppe der Suä'ad) Unterstamm al-Burät (15—20 Zelte): bei den Regibät le-Gwäsim; Unterstamm Ahl 'Abeid (ca. 60 Zelte): ca. 30 Zelte bei den Ahl Bellau; ca. 30 Zelte bei den Regibät le-Gwäsim; Unterstamm Üläd Hammid (ca. 10 Zelte): bei den Ahl Bellau. Trotz dieser Zersplitterung blieben die Üläd 'Abd al-Wähid „diya-wa-talb", d. h. die einzelnen Unterstämme unterstützten sich auch weiterhin gegenseitig bei der Zahlung von Blut- und Sühnegeld. b) Üläd Tidrärln, Unterstamm Üläd Müsa: z. T. bei den Ahl Ayläl (Untergruppe der oben erwähnten Ahl Brähim b. 'Abdallah/ Suä'ad). c) Skärna (ca. 50 Zelte): Unterstamm Ahl Bakkar: bei den Üläd al-Qädi (eine der führenden Untergruppen der Üläd Müsa); Unterstamm Ahl Mubärk (Üläd Suleimänet): bei den Ahl 1-Ahsen ü Hemäd (Untergruppe der Üläd Brähim ü Däwud). Trotz ihrer politischen und territorialen Trennung wurden die Skärna noch durch die 'asaba und die damit verbundenen Verpflichtungen zusammengehalten. d) Vereinigte Bräbls und Tenmüz (ca. 20 Zelte): Unterstamm Üläd Suleimän: bei den Ahl B'el-Qäsim ü Brähim (Untergruppe der Ahl Brähim ü Däwud); Unterstamm Üläd Ya'is: bei den Ahl Sidi'Alläl (führende Gruppe der Ahl Brähim ü Däwud und der Regibät le-Gwäsim). S i e h e CAUNEILLE 1 9 5 0 , S . 9 5 ; BISSON 1 9 6 3 , S . 5 1 ; GAUDIO 1 9 7 5 , S . 1 1 2 . MARTY 1 9 1 5 , S . 1 1 9 . V g l . CABO BAROJA 1 9 5 5 , S . 5 4 . « MONTEIL 1 9 4 8 , S . 9, 1 2 f .
« Ebenda, S. 13. « AHMADOU BA 1933b, S. 169, 173ff., 177.
78
WOLF-DIETER
3. Politisch-territoriale
SEIWEBT
Entwicklung der Begibät
Wie bereits erwähnt, zerfallen die Regibät in zwei große Territorialgruppen: Regibät as-Sähel (d. h. Regibät „des Küstengebiets") und Reglbät le-Gwäsim. Das Ethnonym der letzteren weist darauf hin, daß sich ihr ethnogenetischer Kern auf Sld Ahmeds Sohn Gäsim (Qäsim) zurückführt (s. Genealogie). Andere Bezeichnungen für die Reglbät le-Gwäsim sind „Regibät at-Tall" (d. h. Regibät „des Hügellandes") und „Regibät as-Sarg" (d. h. Regibät „des Ostens"). Zuweilen werden die beiden Territorialgruppen auch nach ihren Brandzeichen als „Reglbät al-Käf" (die Regibät as-Sähel) und „Regibät al-Qäf" (die Reglbät le-Gwäsim) unterschieden. Die Zweiteilung der Reglbät scheint vor allem wirtschaftlich-territorial motiviert gewesen zu sein: Während sich die in der südwestlichen Ebene (Sähel) nomadisierenden Stämme in erster Linie der Kamelzucht widmeten, züchteten die Reglbät im hügeligen, wasserreicheren Norden (Tall) vor allem Pferde, Schafe und Ziegen. Diese wirtschaftlich-territoriale Trennung führte allmählich auch zu einer politisch-sozialen Trennung, d. h. zur Aufspaltung in zwei administrativ selbständige Konföderationen, die sich auch durch unterschiedliche Brandzeichen voneinander abgrenzten. 45 Über die Entwicklung und Ausbreitung der Regibät im 16.—18. J h . ist relativ wenig bekannt. Fest steht, daß die Regibät in dieser Zeit ihr Weidegebiet bis in das obere Becken der Sägiyat al-Hamrä' und auf das wasser- und weidereiche Hügelland des Zemmür ausdehnten. Auch der größte Teil der angegliederten Stämme bzw. Unterstämme scheint sich in diesem Zeitraum angeschlossen zu haben. I m 19. Jh. verschafften sich die Regibät in harten Auseinandersetzungen mit den dominierenden Stämmen der nördlichen Westsahara Zutritt zu fast allen Weidegebieten dieser Region. So kämpften sie mit den Tazäkänt, den Beräber, den Üläd Gerlr u. a. um die Weiden im Nordosten (Hamäda, Erg Igidi, Egläb), mit den Üläd Delim um die Weiden im Küstensähel und mit den Üläd Mülät und den Üläd Sälim um die zentrale Westsahara (Hank, Tiris, Maqteir usw.). Sie verteidigten ihre wirtschaftsterritorialen Interessen gegen die Üläd '1-Lab und die 'arab-Stämme des Adrär. Mit den Siegen der Regibät über die Üläd Bessba' (1907 bei Fust, 1910 bei Lemden) erreichte ihre politisch-territoriale Ausbreitung ihren Höhepunkt (s. Karte). 46 Im Verlaufe der Auseinandersetzungen wurden die genannten Stämme aus dem von den Regibät kontrollierten Territorium weitgehend verdrängt. Auf der anderen Seite zog das Erstarken der Regibät zahlreiche fremde Viehzüchter an, die sich unter ihren Schutz stellten bzw. eingegliedert wurden. Einen Teil davon bildeten ehemalige „Klienten" der besiegten Stämme (z. B. waren die Üläd 'Abd al-Wähid und die Mehrzahl der Üläd Tidrärin bis zum Ende des 19. J h . lahma 4 7 der Üläd Delim 48 ). '•S'
/l7
Siehe Siehe
1962, S. 515f., 523; C A B O B A B O J A 1955, S. 89 1952, S. 256; C A U N E I L L E 1950, S. 89; A H M A D O U B A 1933, S. 2 5 4 f f . ; C A B O B A B O J A 1955; L A U Z A N N E 1921, S. 2 4 6 f . L a h m a w a r e n S t ä m m e a r a b i s c h e r o d e r b e r b e r i s c h e r H e r k u n f t , die u n t e r d e m S c h u t z stärkerer Gruppen f a r a b oder zwäya) lebten. HABT
LABBIBAUD
I B R O M L E J
16.
1969, S. 94 (Übersetzung des Zitats: W. König). 1977, S.
17.
m Ebenda, S. 18. 63 C A U N E I L L E 1950, S. 89, schreibt: „Elle (die Konföderation — W. S.) réunissait une Jemaa pour juger, décider la paix ou la guerre, choisir les Ait arbain (gendarmes assurant l'ordre intérieur)." C A U N E I L L E scheint sich dabei auf jene Zeit zu beziehen, als die Regibät den Zemmür noch nicht verlassen hatten, d. h. auf die Zeit vor ihrer Ausbreitung im 19. Jh. Kann man daraus schließen, daß in relativ friedlichen Zeiten eine zema'a an der Spitze der Konföderation stand? 54
S. LARRIBAUD 1952, S. 2 8 0 ; CHARRE 1966, S. 344.
80
WOLF-DIETER
SEIWERT
qädi im Falle ungerechter oder parteilicher Rechtsprechung von den ait arba'in seines Amtes enthoben werden.53 HABT weist auf ein ähnliches Organ bei den Rifberbern hin, das „ait(t)arb'!n" genannt wird. Dieser Begriff soll sich aus „ait" (berb. : Söhne) und „tarb'in" (berb. : Volk) zusammensetzen und übersetzt „Söhne des Volkes" lauten. 56 Obwohl ein Zusammenhang auf der Hand liegt, lesen die meisten Autoren in Verbindung mit den arabophonen Reglbät „ait arba'in" und übersetzen den Begriff mit „Söhne der Vierzig". HAKT selbst versucht diese Bezeichnung damit zu erklären, daß die ait arba'în bei den Reglbät genau 40 Mitglieder umfaßten, die in zwei unabhängigen Körperschaften zu je 20 Mann den beiden suyüh (muqadim 57 ) der Reglbät le-Gwäsim und Reglbät as-Sähel unterstanden. 58 Aus anderen Quellen geht jedoch hervor, daß das durchaus nicht die Regel war. LESOURD z. B. schreibt, daß die ait arba'in allein in der Konföderation der Reglbät le-Gwäsim mindestens aus 50 und höchstens aus 60 Personen bestanden. 59 HART versucht, die Deutung „Söhne der Vierzig" mit der Anzahl der Stämme zu begründen, die nach seiner Auffassung bei den Reglbät wenig über 40 liegt.60 Dabei ist die von ihm genannte Gliederung der Reglbät sehr widersprüchlich und stimmt nur teilweise mit den Angaben anderer Autoren überein. So führt er z. B. bei der Aufzählung der Stämme der Reglbät le-Gwäsim die Fugrä, le-Buihät und Ahl Brähim ü Däwud doppelt an : einmal als Einzelstämme unter dem Namen ihrer Stammväter Faqir Muhammad, Bä Buih und Brähim ü Däwud und einmal als Gruppen von Stämmen unter ihrem eigentlichen Ethnonym (le-Fugrä usw.). In diesem Zusammenhang untergliedert er z. B. die Fugrä in vier Stämme (qabä' il)", während MARTY (1915, S. 121) sieben, AHMADOTT BA (1933, S. 277) acht, BISSON (1961, S. 220) dreizehn und GATJDIO (1975, S. 390) acht Untergruppen der Fugrä anführen. Außerdem existierten die ait arba'in bei den Reglbät nicht nur auf Konföderationsebene. So schreibt AHMADOU B A : „Quand un campement menacé constitue un Ait Arbaine, il est considéré comme à l'abri de toute surprise. Aussi, la plupart du temps, les pillards l'évitent." 62 . Ähnlich versteht CARO BAROJA unter den ait arba'în eine ausgewählte Elite junger Krieger, die während oder nach feindlichen Raubzügen Gegenangriffe durchführten. 63 Beide Autoren sammelten ihre Informationen vor allem unter den südlichen Reglbät. Es spricht somit alles dafür, daß die Schreibweise „ait arba'in (Söhne der Vierzig) auf einer im Verlaufe der Arabisierung erfolgten volksethymologischen Umdeutung des berberischen Begriffs „ait(t)arb'in" (Söhne des Volkes) beruht. 55
LESOURD 1959, S. 214.
56 Siehe HABT 1962, S. 524. 57 LAFOBGUE 1928, S. 660, führt den Begriff „Moqadem, pl. Moqadim" in Verbindung mit der islamischen gudfiya-Bruderschaft an und definiert ihn als „délégué et exécuteur des instructions d u Cheikh". Vielleicht kann man den muqadem der Reglbät ähnlich als Sprecher und Beauftragten der ait arba'în sehen. 58 HABT 1962, S. 523; siehe auch BULLON DIAZ 1945, S. 42. M LESOUBD 1959, S. 214.
60 HART 1962, S. 524, siehe auch S. 514, 521 f. 61 Ebenda, S. 522. 62 AHMADOU BA 1933b, S. 181. 63
CABO B A B O J A 1 9 5 5 , S . 3 4 6 .
Die Regibät
81
Nach welchen Prinzipien die ait arba'in ausgewählt wurden, hing zweifellos von ihrer Funktion ab: Sollten sie, wie in den letztgenannten Fällen, als Kampfelite wirken, spielten logischerweise die militärischen Fähigkeiten der Kandidaten eine wichtige Rolle.64 Für den obersten Rat der Konföderation dagegen wählte man unter den Notablen der „edlen" Stammesgruppen (d. h. der Regibät „de sang") Männer aus, die für ihre Weisheit und Gerechtigkeit (und ihren politisch-ökonomischen Einfluß) berühmt waren. 65 Vorsitzender (muqadem) der ait arba'in soll bei den Regibät le-Gwäsim stets ein Angehöriger der Ahl Hamida ü. Muhammad b. Yahyä (aus dem Unterstamm Slälka der Ahl Brähim ü Däwud) gewesen sein.66 B R O M L E J schreibt in Verbindung mit der typologischen Bestimmung und Einordnung sozialer Gemeinschaften: „Mit der Entstehung der Stammesbünde hört der Stamm . . . auf, die höchste soziale Makroeinheit zu sein. Aber auch in diesem Falle existierte er als sozialer Organismus weiter, da der Stammesbund gewöhnlich nicht über eine ausreichende innere Stabilität verfügte." 67 Diese Einschätzung trifft in gewisser Weise auch auf den Stammesbund (Konföderation) bei den Regibät zu: Er war kein sozialer Organismus, da die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Teilstämmen trotz ait arba'in und trotz gelegentlicher gemeinsamer Aktionen nur ungenügend entwickelt waren und die innere Einheit der Konföderation mit der Bedrohung von außen praktisch verschwand. Allerdings gibt es auch kaum einen Anhaltspunkt darüber, daß der Stamm (qablla) im quellenmäßig belegten Zeitraum einen sozialen Organismus im obengenannten Sinne darstellte. Wie bereits erwähnt, besitzt der Stamm im wesentlichen die gleichen Merkmale wie die Konföderation, weshalb wir die letztere auch als „Stamm höherer Ordnung" oder „Stamm I I " bezeichnen. D. h. auch der Stamm (I) gründete seine Einheit in erster Linie auf gemeinsame politische und militärische Interessen, was sich sowohl im Geschichtsbewußtsein als auch in einer gemeinsamen Führungsspitze widerspiegelte. Leider geht über den Charakter und die Funktion dieser Führungsspitze aus der Literatur kaum etwas hervor. Erwähnt wird bestenfalls, welche Personen oder Untergruppen an der Spitze einzelner Stämme standen. So berichtet M A R T Y , daß die Üläd Müsa sowie die ganze Konföderation der Regibät as-Sähel bis zum Ende des 18. Jh. von den Ahl Tauta'i (Üläd Seih) geführt wurden. Im 19. Jh. wurden sie in dieser Funktion von den Üläd 1-Afriyet (Ahl Bellau) und den Ahl Bardi (Üläd 1-Ahsen)«« abgelöst. Zu Beginn unseres Jahrhunderts standen die Ahl 'Abdallah b. 'Umar an der Spitze der Suä'ad, Al-Habib ü. Baläl ü. Kaihel (Üläd 'Alläl) an der Spitze der Ahl Brähim ü Däwud und Da'i an der Spitze der Buihät. 69 Die innere Einheit bei relativer „äußerer" Unabhängigkeit scheint in den Unterstämmen am größten gewesen zu sein. Sie äußerte sich vor allem in der wirtschaftlichterritorialen Einheit, im rechtlichen Zusammenhalt (diya-wa-talb) und in der gemeinsamen Genealogie, obwohl natürlich eine gemeinsame Führungsspitze und gemeinsame politisch-militärische Interessen ebenfalls vorhanden waren. B I S S O N schreibt, 0'* V g l . B U L L O N D I A Z 1 9 4 5 , S . 4 2 . CHARRE 1 9 6 6 , S . 3 4 4 ; s i e h e a u c h L E S O U R D 1 9 5 9 , S . 2 1 4 ; L A R R I B A U D 1 9 5 2 , S . 2 8 0 . >''< L E S O U R D 1 9 5 9 , S . 2 1 4 . BROMLEJ 1 9 7 7 , S . 17F. ES MARTY 1 9 1 5 , S . 1 2 0 .
'•«> Ebenda, S. 121. C Jahrbuch des Museums für Völkerkunde, Ed. X X X I I I
82
WOLF-DIETER SEIWERT
daß der Unterstamm noch um 1920 eine gemeinsam nomadisierende Gruppe war. 70 An seiner Spitze stand ein B a t (zema'a), der laut LAKRIBATJD von den Vertretern der einzelnen Lagergemeinschaften gebildet wurde. Diese zema'a hatte sowohl rechtliche als auch wirtschaftsorganisatorische Aufgaben. Sie regelte Zwistigkeiten innerhalb des Unterstammes auf der Grundlage des Gewohnheitsrechts. Sie organisierte das Graben von Brunnen und schickte Weidekundschafter aus. 71 Unklar ist die Stellung des seihs: Während L A R R I B A U D und A H M A D O U B A betonen, daß in den Unterstämmen nur die Entscheidungen der zema'a respektiert wurden, 72 kann man den Ausführungen B I S S O N s entnehmen, daß die Unterstämme von suyüh (Sing.: seih) geführt wurden, die neben ihrer repräsentativen Funktion auch über die territoriale Verteilung der Zelte, die Weidewanderungen und den Viehverkauf verfügten. 7 3 Möglich ist allerdings, daß der seih der Vorsitzende und Sprecher der zema'a war und die genannten Regelungen im Auftrage des Rats verkündete. Auf jeden Fall unterstreichen die wirtschaftsorganisatorischen Funktionen der Führungsspitze die wirtschaftlich-territoriale Einheit des Unterstammes (vgl. dagegen die rein politischen Aufgaben der Führung von Stamm und Konföderation). Auf die starke Kohäsion des Unterstammes in militärischen, politischen und rechtlichen Konfliktsituationen, vor allem bei der Zahlung von Blut- und Sühnegeld, wurde bereits in Verbindung mit der Eingliederung hingewiesen. Die Praxis der Eingliederung selbst resultierte aus der starken Beachtung der genealogischen Einheit als einigendes Band und Ausdruck der real existierenden sozialen Verhältnisse im ideologischen Bereich. Die innere Geschlossenheit spricht dafür, den Begriff „sozialer Organismus" auf den Unterstamm anzuwenden. Dennoch gibt es einige Einschränkungen zu beachten. Stämme bildeten sich in der Westsahara auf zweierlei Art und Weise heraus: erstens durch die Vergrößerung von Unterstämmen, zweitens durch den spontanen Zusammenschluß heterogener Elemente (unter der Führung einer einflußreichen Persönlichkeit). Besonders im letzteren Falle ist es wahrscheinlich, daß der Stamm zunächst als sozialer Organismus entstand und seine innere Geschlossenheit erst später mit zunehmender Vergrößerung verlor. Die spontane Form der Stammesgenese war vor allem für die zwäya (incl. Regibät) typisch. Außerdem scheint es zu jeder Zeit Stämme gegeben zu haben, die nicht in Unterstämme (afhäd; Sing.: fahad) unterteilt waren, d. h. wo qablla und fahad in Wesen und Funktion zusammenfielen. Bei der Anwendung des Begriffs „sozialer Organismus" auf den Unterstamm muß man weiterhin berücksichtigen, daß sich der letztere bei aller inneren Geschlossenheit nur ungenügend nach außen abgrenzte. So wurde die territoriale Gemeinschaft starker Unterstämme oft durch Fremdgruppen erweitert, die sich aus diesem Anschluß eine Vergrößerung ihrer militärischen und ökonomischen Sicherheit erhofften. Der überwiegende Teil der oben erwähnten Angliederungen und Schutzbündnisse vollzog sich in Erweiterung der politisch-militärischen Einheit und der Territorialverbände einzelner starker Unterstämme. Innerhalb der Stämme und Konföderationen schlössen sich schwächere Gruppen den stärkeren an. Auch die gegenseitige Unterstützung bei der Zahlung von Blut- und Sühnegeld konnte über den Rahmen des Unterstammes ™ BISSON 1 9 6 3 , S. 5 5 . 7
I LAKRIBAUD 1 9 5 2 , S. 2 8 0 .
" LARRIBAUD 1 9 5 2 , S . 2 8 0 ; AHMADOU B A 1 9 3 3 , S. 2 7 7 . '3 BISSON 1 9 6 3 , S. 5 5 .
Die Regïbât
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hinausgehen: z. B. (in Ausnahmefällen) wenn ein Stammesfremder getötet wurde und die geforderte diya die ökonomische K r a f t eines einzelnen Unterstammes überstieg 74 oder auch aufgrund spezieller diya-wa-talb-Vereinbarungen zwischen zwei oder mehreren Unterstämmen. 7 5 Leider liegen uns über die sozialökonomischen Verhältnisse bei den Regïbât nur wenige Angaben vor. Dennoch sprechen auch sie gegen eine Qualifikation des Unterstammes als „selbständige Einheit der sozialen Entwicklung" : Da die Weiden der Regïbât ausschließlich aus Ödland (ard mawät) bestanden, waren sie nach islamischem Recht „frei" (mubäh) für alle Muslime. 76 Ihre Nutzung war unentgeltlich und durfte niemandem verboten werden. 77 Die freie Weidenutzung wurde in der Praxis lediglich durch die Raubzüge (gazawät) feindlicher Gruppen eingeschränkt. Innerhalb des von den Regïbât kontrollierten Gebiets indessen konnte jede ihrer Gruppen ihre Tiere weiden lassen, wo sie wollte. Auch in Verbindung mit den Wasserstellen gab es kein ausschließliches Eigentums- oder Nutzungsrecht. 7 8 Die hohe Unsicherheit der Niederschläge forderte eine maximale Variabilität der Weidewanderungen. Dadurch erhielt sich das freie Verhältnis der Viehzüchter zu Wasser und Weide, die Ausbildung wirtschaftsterritorialer Grenzen wurde verhindert und die Entstehung bzw. Festigung politischer Bündnisse (mit dem Ziel der Vergrößerung der disponiblen Weidefläche in Notzeiten) gefördert. Zur Frage der wirtschaftsterritorialen Abgrenzung der beiden Konföderationen bemerkt A H M A D O U BA: „Le méridien d'Anadjim (etwa 11°24' w. L. — W. S.) marque approximativement la limite entre la zone des Régueib Sahel à l'ouest et celle des Régueib Charg ou Legouacem à l'est de cette ligne. Mais cette démarcation est purement théorique. En effet, si chacun des deux groupements manifeste une certaine préférence pour sa région, en fait, la nomadisation est absolument libre pour tous dans les deux zones. Souvent les nécessités de pâturages conduisent Régueib Sahel et Legouacem dans la même région. Quand ils se recontrent autour d'un point d'eau commun, ces derniers se croient toujours obligés de camper à l'est de leurs voisins. Toute négligence à ce sujet leur vaudrait tôt ou tard de gros ennuis." 7 9 Auch ein Großteil der Produktionsbeziehungen ging wahrscheinlich über den Rahmen des Unterstammes hinaus. Das betrifft neben der Lohnarbeit vor allem die Viehleihe. Eine Andeutung in dieser Richtung macht LESOTTRD, indem er schreibt: „Le principe de la meniha (Viehleihe — W. S.) renforce la cohésion sociale de la confédération regueibat." 8 0 Zusammenfassend kann man folgende These aufstellen: Die zwei Konföderationen der Regïbât vereinten im 19./Anfang 20. J h . eine Vielzahl sozialer Organismen, die in der Regel mit den Unterstämmen (afhäd) identisch waren. Trotz ihrer inneren Ge'4 CABO BABOJA 1 9 5 5 , S . 1 7 ; CHABBE 1 9 6 6 , S . 3 4 6 . 75
76
CABO BABOJA (1955, S. 148) beschreibt diese Erscheinung in Verbindung mit den Uläd Tidrärln. HALIL, S. 199f. (S. 545f. der italienischen Übersetzung). Die Regibät waren, wie die Mehrzahl der Westsaharier, Malikiten (d. h. Anhänger der Rechtsschule von Mälik b. Anas). Rechtsgrundlage war dabei in erster Linie der „Muhtasar" von HALIL B. ISHÄQ ( v g l . LOTTE 1 9 3 9 ; LESOUBD 1 9 5 9 , S . 2 1 3 ) .
77
IIALIL, S. 200 (S. 552 der italienischen Übersetzung). ™ S. ebenda (S. 549f.); LESOUBD 1959, S. 220. RA AHMADOU B A 1 9 3 3 , S . 2 7 7 . SO LESOUBD 1 9 5 9 , S . 2 1 9 .
e*
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SEIWEBT
schlossenheifc und relativen „äußeren" Unabhängigkeit waren diese sozialen Organismen jedoch zu wenig voneinander abgegrenzt, um sie als „selbständige Einheiten der sozialen Entwicklung" bezeichnen zu können. Von entscheidender Bedeutung für die ethnische Entwicklung war dagegen die Tatsache, daß die Reglbät trotz ihrer politischadministrativen Zweiteilung und trotz ihrer lockeren inneren Struktur eine „politisch-territoriale Gemeinschaft" im Hinblick auf die Nutzung und Verteidigung des Weideterritoriums bildeten. Wichtigstes Merkmal dieser Gemeinschaft war neben gelegentlichen gemeinsamen Aktionen von Reglbät as-Sähel und Reglbät le-Gwäsim der stabile „Burgfrieden" zwischen den beiden Konföderationen. 8 1 Die „politisch-territoriale Gemeinschaft" der Reglbät war in vorkolonialer Zeit völlig unabhängig, d. h. weder Marokko noch einer westsaharischen (mauretanischen) Macht untergeordnet. Ausgehend von der politisch-sozialen Geschichte lassen sich im Hinblick auf die ethnische Geschichte der Reglbät folgende vorläufige Schlußfolgerungen ziehen: Politisch-religiöse (und vielleicht auch ökonomische) Gefolgschaft verband die ersten Reglbät im 16. J h . zu einem sozialen Organismus, den man als „Vaterstamm" bezeichnen kann. Gleichzeitig schuf sie die Grundlage für das spätere gemeinsame historischgenealogische Bewußtsein bzw. das Zusammengehörigkeitsgefühl der Reglbät. Es ist anzunehmen, daß die Reglbät dabei zunächst (bis zum 17. oder gar 18. Jh.) sowohl in eine größere politisch-territoriale Gemeinschaft als auch in ein größeres Ethnos integriert blieben. Ihre ethnische Verselbständigung vollzog sich wahrscheinlich erst im 19. J h . während der fortgesetzten militärischen Auseinandersetzungen und im Zusammenhang mit der politischen und territorialen Ausdehnung der Reglbät. Die geringe Abgrenzung der sozialen Organismen (Unterstämme) verhinderte, daß sich in ihrem Rahmen Ethnika, d. h. Hauptglieder der ethnischen Struktur der Gesellschaft, entwickelten. Auf der anderen Seite wirkte die lockere Struktur, d. h. die ungenügende Geschlossenheit der politisch-territorialen Gemeinschaft, gegen die Herausbildung einer Völkerschaft, wie sie für die entwickelte Feudalgesellschaft charakteristisch war. Deshalb wählen wir zur Bezeichnung der ethnischen Einheit der Reglbät den Begriff 82 B R O M L E J S „Proto-Völkerschaft". Diese Frühform der Völkerschaft war typisch für die frühe Klassengesellschaft der westsaharischen Hirtennomaden in vorkolonialer Zeit.
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81
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Steinmauer und Steinmunition bei einer vorgeschichtlichen Siedlung in Nordost-Liberia Von
HANS HIMMELHEBER,
Heidelberg
(Mit 12 Abb. auf Tafel V I I I - X I I I )
Am 28. Dezember 1975 wurde uns in dem Dorf Janson Town, nördlich der Stadt Tshien im Gebiet der Kran, Liberia, gesagt, es gebe irgendwo im Wald eine lange Mauer aus Steinen. Sie sei von dem Tierfänger-Camp Frog City aus zu erreichen. Die Eingeborenen dieser Gegend befestigten sonst ihre Dörfer nicht mit Mauern, sondern mit Dornenhecken. Bei den nördlich benachbarten Dan erzählte man mir als besonderes Vorkommnis, daß eine Sippe, die von feindlichen Dörfern umgeben war, einen Mann zum Stamm der Konor sandte, um dort die Kunst des Mauerbaus zu erlernen. 1 „Man macht sie aus Lehm, ohne Gerüst oder Steine, aber ganz dick . . .", wurde uns damals gesagt. Im Gebiet der Bambara in Mali sah ich noch viele solcher Lehmmauern, die dort gegen den sudanischen Heerführer Samory Ende des vorigen Jahrhunderts errichtet worden waren, dann allerdings dessen Kanonenkugeln nicht standhielten. Wir fuhren am folgenden Tag nach Frog City. Das Camp liegt idyllisch auf einer schmalen künstlichen Schneise mitten im hohen Urwald. Mit einem dort engagierten Begleiter konnten wir noch zwanzig Minuten lang auf einer Buschpiste fahren. Nach weiteren dreißig Minuten Fußmarsch durch den Wald kamen wir zum Berg Tshedaja. Wir stiegen etwa hundert Meter den Hang hinauf, überquerten dabei eine steile nackte Felsplatte und standen dann, wieder im Wald, vor der Mauer (Abb. 1,2). Genauer gesagt, ist es im heutigen Zustand ein Steinwall, so wie etwa der Ringwall um und über dem Heiligen Berg bei Heidelberg in seinem heutigen Zustand — hier aber nur etwa einen Meter hoch. Man sieht jedoch bergwärts deutlich einen Graben, so daß die tatsächliche Höhe dieser Verteidigungsanlage höher gewesen sein mag. Wir folgten der Mauer etwa fünfhundert Meter weit bis zum einen Ende, allerdings nicht bis zum andern, so daß wir die ganze Länge nicht angeben können. Die Mauer verläuft erst am Berg hinauf, biegt dann im rechten Winkel ab und zieht am Hang entlang, um dann wieder in die bergwärtige Richtung umzubiegen. Sie endet in einem schräg stehenden spitzen Stein, der etwa einen Meter frei herausragt und durch einen andern Stein unterkeilt ist (Abb. 3). Auf diese Weise wurde das Ende der Mauer so abgestützt, daß es nicht talwärts abrutschen konnte. Das andere Ende der Mauer, das wir nicht sahen, soll ebenso enden, und auch dort soll ein spitzer Stein verwendet worden sein, so daß dieser Form wohl eine besondere Bedeutung zukam. Dies ist die einzige Stelle, an der wir eine bauliche Konstruktion feststellen konnten. Nirgends ließ sich eindeutig eine Schichtung der Steine feststellen, so daß zunächst offenbleiben muß, ob es sich um eine Mauer oder nur um einen Wall von Steinen handelt. Die hier zusammengetragenen Steine kamen aus der unmittelbaren Umgebung. Es 1
HIMMELHEBER,
H. u. U., Die Dan. Stuttgart 1958, p. 147.
Vorgeschichtliche Siedlung in Nordost-Liberia
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handelt sich um ein granitähnliches Gestein. Viele der Steine sind flache, nur wenige Zentimeter dicke Platten, wie man sie an den dortigen Felsrücken abspringen sieht. Manche sind so groß, daß sie nur von mehreren Männern herbeigeschleift werden konnten. Viele Tausende von Steinen sind da zusammengetragen worden. Man ist versucht, daraus auf eine große Siedlung zu schließen, viel größer als die heutigen Dörfchen dieses dünn besiedelten Landes. Jedoch vermag eine Mannschaft von fünfzig Männern und Knaben wohl zehn Meter eines solchen Bauwerks in einem Tag zusammenzutragen, so daß die Mauer in der Länge, in der wir sie sahen, in zwei bis drei Monaten erstellt worden sein könnte. Unsere Begleiter sagten, es sei hier sonst nichts zu sehen, hingegen gäbe es eine andere Stelle, an der man außer einer Mauer noch die Reste von Hütten sehe und dazu steinerne Figuren in Lebensgröße. Natürlich horchten wir auf. Birgt dieser unbewohnte Urwald die Reste einer verschwundenen Kultur? Schließlich werden ja nicht weit von hier in Sierra Leone die berühmten Steatitfiguren gefunden, und hier, in Liberia, finden sich Tausende von neolithischen Stein Werkzeugen. Unaufgefordert wurden uns die Figuren beschrieben: eine Frau, die Reis in einem Mörser stampft, eine schwangere Frau, eine Figur, die ihre Arme in die Hüften stemmt, so daß sie einen Halbkreis bilden. Selbstverständlich verabredeten wir gleich für den folgenden Tag mit einem unserer Begleiter, der jene Fundstelle kannte, den Marsch dorthin. Nachdem wir diesen Führer am 30. Dezember in Frog City abgeholt hatten, fuhren wir zunächst zu dem kleinen Dorf Togbe Town, in der Luftlinie etwa 25 km nordöstlich von Tshien. Dort forderte der Häuptling ein Geldgeschenk und gab uns dafür mehrere Leute zur Begleitung mit, die alle ihre Schrotflinten mitnahmen. Ein Stück Weges — 35 Minuten lang — konnten wir noch auf passablem Pfad marschieren, dann aber nur noch auf Jägerpfaden und bisweilen ganz ohne Pfad, so daß wir uns wunderten, wie unsere Führer sich da zurechtfanden. Wir waren in altem, unberührtem Urwald. Nach insgesamt eindreiviertel Stunden kamen wir an den gesuchten Berg Ciaode. Nach einem Aufstieg von etwa hundert Metern stießen wir auf die Mauer, die ebenfalls im Wald verläuft. I m Unterschied zur gestrigen Fundstelle waren hier die Steine an vielen Stellen noch deutlich geschichtet (Abb. 5). Mehrmals war oben ein platter Stein quer über die ganze Breite der Mauer gelegt, so daß wir da wohl die Mauer in ihrer einstigen Höhe vor uns hatten (Abb. 6). Sie war etwa einen Meter hoch und einen Meter breit. Es ist freilich möglich, daß ein wesentlicher Teil der Mauer in der Erde steckt, denn der Urwald lagert jedes J a h r seine Blätter davor und dahinter ab. Möglich wäre auch, daß die Mauer nur die Basis für eine Palisade bildete. Bei einer weiteren Besichtigung wäre dann zu untersuchen, ob sich auf der Mauer Löcher, Fugen finden, in welchen die Pfähle staken. Da die Dörfer dieser Gegend sich (noch in historischer Zeit) durch dichte Dornenhecken schützten, ist es auch denkbar, daß die Mauer dazu diente, einen solchen pflanzlichen Wall zu stabilisieren und zu erhöhen. Einen Graben konnten wir hier nicht erkennen. Die Mauer zieht sich da, wo wir sie antrafen, den Berghang entlang. Wir kamen an eine sehr schmale Öffnung, die von zwei großen aufrecht stehenden Steinen begrenzt wurde. Nur ein einzelner Mann konnte sich da hindurchzwängen (Abb. 4). Etwa zehn Meter schräg oberhalb dieser Toröffnung befand sich eine runde Plattform aus aufgeschichteten Steinen, etwa siebzig Zentimeter hoch und fünf Meter im Durchmesser. „Hier saß der Wachtposten," erklärten bzw. vermuteten unsere Führer.
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Beim weiteren Anstieg stießen wir im Wald noch auf drei weitere derartige „Plattformen", in zehn bis fünfzehn Metern Abstand voneinander. Dann wurde der Berg zum nackten Felsen. Er stieg noch etwa 40 Meter mäßig steil an, dann standen wir auf einem langgestreckten Felsrücken, der sich etwa 400 Meter weit hinzieht. Auf den beiden Längsseiten (auf der einen waren wir heraufgestiegen) und auf der einen kurzen Seite fällt er als glatter Fels ab, auf der andern kurzen Seite, nach Westen hin, geht er in Wald über. Er verläuft ungefähr in west-östlicher Richtung. Möglicherweise war der Wald früher abgeholzt, so daß die Mauer freistand. Auf diesem langen Felsrücken nun fanden wir zunächst ebensolche runde, aus losen Steinen bestehende Plattformen. Wie die vorigen maßen sie in der Höhe etwa einen und im Durchmesser vier bis fünf Meter (Abb. 7). Es zeigten sich aber auch viele ebenso große runde grüne Flecken von Vegetation auf der sonst kahlen Felsplatte (Abb. 8). Sie erwiesen sich als ebensolche, mit hohem Büschelgras bewachsene Steinbauten. Die Steine waren an der Außenseite der Plattformen sorgfältig gesetzt; das Innere war dagegen mit ungeordneten Steinen ausgefüllt. Wir glaubten zuerst, es handle sich um nach der Mitte zu eingesunkene Steinbauten. Bald wurde uns aber klar, daß wir hier nur die Fundamente einstiger Hütten vor uns hatten. Vermutlich waren es Rundhütten aus Lehm und Holz mit Dächern aus Gras oder Blättern wie bei den heutigen Behausungen dieser Gegend. Wozu aber diese hohen Steinsockel ? Nun, auf dem glatten Felsgrund hätten die Ströme der Regenzeit Hütten, die unmittelbar auf dem Fels errichtet worden wären, unterspült und den Berg hinuntergeschwemmt. So aber lief der Regen unter den Hütten durch. Im Land der nördlichen Dan habe ich an Berghängen liegende Dörfer gesehen, deren Hütten ebenfalls auf solchen Steinsockeln errichtet waren (Abb. 9). Von den einstigen Hütten fanden wir nicht die geringste Spur. Ofenbar hat sich der Lehm völlig aufgelöst, während die pflanzlichen Baustoffe vermodert sind. Aber ihre Reste am Grunde der Steinsetzungen sind es wohl, die es dem Gras ermöglichen, die Steinsockel zu bewachsen. Nicht richtig wäre es, aus dem Fehlen von erkennbaren Bauresten auf ein hohes Alter dieser Stätte zu schließen. I n den heute bewohnten Dörfern werden verlassene H ü t t e n nicht abgetragen — sie verfallen, und nach wenigen Jahren zeugt nichts mehr von ihnen. Die Steinsockel finden sich auf dem ganzen Bergrücken, aber etwas dichter und zahlreicher auf der westlichen Seite. Eigentümlicherweise läuft die Mauer quer über den Berg, im Süden aus dem Wald kommend und im Norden in ihm endend, auf diese Weise das Dorf teilend. Etwa ein Drittel der Hütten lag außerhalb der Mauer. Meine Begleiter meinten, daß sich die „großen Leute" wahrscheinlich auf diese Weise von den Geringeren abgesondert hätten. Wir glauben eher, daß es sich um später Zugezogene handelt, die innerhalb der Dorfmauer keinen Platz mehr fanden. Als wir den Wald an der Nordseite abgingen, sahen wir das Bett eines kleinen Wasserlaufs, der nach Regenfällen vom Felsen herabfließt. „Dort drunten hatten sie gewiß ihre Wasserstelle", bemerkten unsere Begleiter. Natürlich suchten wir sofort nach den Figuren, die uns so deutlich beschrieben waren. Aber nichts dergleichen! Wir fanden nur einen einzigen Stein, der möglicherweise künstlich zu einer Längsrmne ausgehöhlt worden war (Abb. 10), konnten darüber hinaus aber nicht das kleinste Fragment eines bearbeiteten Steins entdecken. Man habe die Figuren zerschlagen, behaupteten unsere Begleiter nun plötzlich. Schließlich wiesen sie uns, wohl ebenfalls enttäuscht, einen Stein, „der doch eine Trommel ist", in
Vorgeschichtliche Siedlung in Nordost-Liberia
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unsern Augen aber nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgendeiner hiesigen Trommel hatte. Es zeigte sich nun, daß keiner unserer Begleiter die Figuren je gesehen hatte — ja, aber die Alten! Und die lebten ja noch in Togbe Town. Als wir dorthin zurückgekehrt waren, stellte sich ein etwa fünfundfünfzigjähriger Mann namens Tede Bowabu ein. Er habe noch vergangenen März Figuren gesehen. Sie seien aber nicht auf dem Felsrücken bei den Hüttenresten, sondern abseits im Busch und von diesem überwachsen. Er skizzierte uns auf unsere Bitte eine weibliche Figur mit angestemmten Armen, wie sie uns schon zuvor beschrieben worden war. Er könne sie uns zeigen. Auch eine Figur mit weit aufgerissenem Maul habe er gesehen. Die stampfende Frau habe ein anderer Mann gesehen, aber die sei jetzt zerstört. Wenn wir auch nicht recht an die Existenz dieser Figuren glauben, so muß doch etwas Besonderes dagewesen sein, das die Phantasie der heutigen Eingeborenen erregte, denn sie erzählten eine Sodom- und Gomorrha-Geschichte über die Entstehung dieser „Figuren": „Dies war einst eine ganze Stadt. Einmal veranstalteten die Leute ein Fest. Sie tanzten mit Masken, einige trommelten, und eine Frau stampfte den Reis. Da kam eine Schildkröte und befahl ihnen, Schluß zu machen mit dem vergnüglichen Tun, weil Gott Zla auf dem Weg hierher sei. Sie gehorchten nicht, und die Schildkröte wiederholte ihr Gebot noch dreimal. Dann ging sie, und als sie durch das Tor ging, fuhr sie mit ihrem Finger über den Torstein — so entstand daran die tiefe Rille. Nun kam die Geza-Antilope. „Warum habt ihr den Befehl der Schildkröte nicht befolgt ? Es wird einer kommen, der eure ganze Stadt zerstört." Mit Glöckchen an den Beinen tanzte sie durch das Dorf. Nun kam als Sturm der unsichtbare Geist Zrifla. Da wurden alle Häuser und Menschen zu Felsen und Steinen. Bis dahin war hier überhaupt kein Fels, sondern das Dorf war auf ebener Erde gebaut. Nur ein Mann hatte den Befehl der Schildkröte befolgt. Er blieb am Leben, ging fort und brachte die Nachricht von dem traurigen Geschehen zu den andern Menschen. Aber er kehrte nie hierher zurück. Mein Vater kennt seinen Namen noch." Erzähler war der Jäger Kyne, aber die Geschichte wurde uns noch zweimal von anderen in gleicher Weise erzählt, wobei ungezählte Tiere nacheinander auftraten, bis die ungehorsame Stadt versteinerte. Nach zweistündigem Aufenthalt auf dem sonnigen Felsen mußten wir des langen Rückmarsches wegen unsere Untersuchung abbrechen. Als wir am letzten Hüttenfundament vorbeigingen, machte der Jäger Kyne eine eigenartige Entdeckung. Auf diesem Fundament lagen zwei ungefähr kugelförmige Brocken eines ganz anderen, braunroten Gesteins, etwa 35 Zentimeter im Durchmesser (Abb. 11, 12). Es zeigte sich, daß es sich um hier vielerorts anstehendes, sehr schweres eisenhaltiges Gestein handelte. (In Liberia werden mehrere große Eisenerzlager abgebaut.) Ob hier Eisen erschmolzen wurde ? Einer der Jäger sagte, so sei es wohl. Er könne uns in der Nähe eine Stelle zeigen, wo das geschehen sei. Zufällig sahen wir dann, daß auf dem nächstgelegenen Hüttenfundament zwei ebensolche Kugelbrocken lagen. Wir gingen zu den andern Fundamenten: auf jedem lagen die schweren Kugelsteine, und immer waren es zwei! Im Fortgehen fiel mir die Lebensgeschichte eines großen Kriegers namens Liakola ein, die ich vor 25 Jahren bei den benachbarten Dan aufgezeichnet und in unserem Buch über diesen Stamm veröffentlicht hatte. Darin heißt es: „Man zog gegen Liakolas Leute zu Feld. Viele von ihnen wurden getötet, weil sie von vornherein im Unrecht
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HANS
HIMMELHEBER
waren. Liakola aber sprach: ,Ich kann nicht von dem Hügel fortziehen, unter dem ich mein Dorf gebaut habe. Ich will bleiben.' Alle andern waren geflohen. Da baute Liakola ein neues Dorf auf dem Gipfel seines Hügels . . . Liakola und seine Leute hißten einen großen Felsblock an einem Seil nach oben und machten ihn am Dorfeingang fest. Wenn Feinde kamen, ließen sie den Brocken los, er rollte den Pfad hinunter, den die Krieger heraufkommen mußten und walzte sie alle tot. Zuerst waren oft Liakolas Leute bei solchen Angriffen umgekommen, aber jetzt, seit sie den Felsen hatten, waren sie es, die die andern umbrachten." 2 Ich halte es danach nicht für unwahrscheinlich, daß es sich bei diesen gewichtigen Kugelsteinen um Munition handelte, die man die nackte Felswand hinab den Feinden entgegenrollte. Vielleicht war jede Familie — jede Hütte — verpflichtet, ein Depot von zweien solcher Kugeln in Bereitschaft zu halten. Leider war es uns wegen anderer Pflichten nicht möglich, noch einmal an diese Stätte zurückzukehren. So mögen diese Aufzeichnungen anderen als Anregung zu einer genaueren Untersuchung dienen. 2
HIMMELHEBEB, H . U. U . , D i e D a n . S t u t t g a r t 1 9 5 8 , p . 6 1 .
Ethnographische Sammelreise nach Kordofan und Darfur, 1973 Von
LOTHAR STEIN,
LEIPZIG
(Mit 1 Karte, 12 Abb. auf Tafel X I V - X X I und 1 farbigem Frontispiz)
Die ethnographischen Museen in den jungen Nationalstaaten Afrikas und Asiens gewinnen in unserer Zeit immer mehr an kulturpolitischer Bedeutung. Diese Tatsache liegt vor allem darin begründet, daß die Museen einen wichtigen ideologischen Beitrag zur Herausbildung eines Nationalbewußtseins in diesen meistens multi-ethnischen Staaten leisten können. 1 Wie in jedem anderen Museum gehören die systematische Erweiterung und Komplettierung der Sammlungsbestände auch zu den ständigen Aufgaben der Museen in den Entwicklungsländern. Die Voraussetzungen für eine planmäßige Sammeltätigkeit sind in diesen Ländern noch relativ günstig. Das trifft besonders auf solche Staaten zu, wo die traditionellen Verhältnisse in Wirtschaft und Gesellschaft noch nicht radikal verändert worden sind. Aber selbst in solchen Gebieten ergeben sich in dem praktischen Bemühen, ethnographische Gegenstände für Ausstellungszwecke zu erwerben, noch zahlreiche Probleme. Einige davon sollen im folgenden geschildert werden am Beispiel von Erfahrungen, die der Verfasser als Regierungsethnologe am Nationalmuseum der Demokratischen Republik Sudan in den Jahren 1972/73 sammeln konnte. 2 Das Ethnographische Museum in Khartoum wurde bereits in der Periode der britischen Kolonialherrschaft begründet und stand in der Anfangszeit unter der Leitung englischer Kolonialbeamter. Zahlreiche Exponate wurden durch direkten kolonialen Raub auf sogenannten „Strafexpeditionen" der Kolonialarmee erbeutet und repräsentieren auf diese Weise zugleich ein Stück der schweren kolonialen Vergangenheit des Sudan. Zahlreiche ethnographische Objekte wurden damals in den Besitz britischer Museen überführt. Der im Lande verbliebene Teil bildete den Grundstock für die Schausammlung des Ethnographischen Museums in Khartoum, das einen Überblick gab über die kulturellen Leistungen der wichtigsten ethnischen Gruppen des Sudan. 3 Die Demokratische Republik Sudan ist mit 2,5 Mio km 2 der flächenmäßig größte afrikanische Staat, seine rund 18 Mio Bewohner sind in ca. 450 verschiedene Stämme und 1
Vgl. dazu V O S S E N , G A N S L M A Y B , H E I N T Z E , L O H S E und R A M M O W , 1 9 7 6 , p. 2 0 4 : zu den Aufgaben eines Ethnographischen Nationalmuseums gehört nach Auffassung o. a. Autoren: „. . . die Entwicklung der eigenen Nation unter Berücksichtigung der stammesmäßigen, kulturellen, religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten von den Anfängen bis zur Gegenwart aufzuzeigen. Ein wichtiges Ziel ist dabei, zur Entwicklung eines Gemeinschaftsgefühls der nationalen Identität und zu einem kulturellen Selbstbewußtsein beizutragen."
2 V g l . STEIN, 3
1974.
Eine interessante Parallele aus Tansania hinsichtlich der Entwicklung vom kolonialistisch beeinflußten Museum zum Nationalmuseum beschreibt W E M B A H - R A S H I D , 1 9 7 6 , p.
278ff.
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Völkerschaften gegliedert, die über 250 unterschiedliche Sprachen und Dialekte sprechen, 4 deren Erforschung noch bei weitem nicht abgeschlossen ist. Die Einwohner dieses riesigen Landes unterscheiden sich ganz erheblich voneinander nach ihrer Herkunft, dem anthropologischen Typus sowie nach Wirtschaftsweise und gesellschaftlichen Verhältnissen. Relativ einheitlich sind die arabischsprachigen Bewohner der nördlichen Hälfte des Landes, deren Vorfahren seit dem 10. J h . u. Z. in verschiedenen Wanderwellen von der Arabischen Halbinsel eingewandert sind; sie brachten den Islam als einheitliche Religionsform mit, der bis heute das kulturelle Gesamtbild des Nordens prägt. Die Sudanaraber bevölkern die großen Städte des Nordens, sie sind außerdem in der Landwirtschaft tätig, und ein beträchtlicher Prozentsatz von ihnen betreibt nomadische Viehwirtschaft in den ausgedehnten Steppen- und Savannengebieten bis etwa zum 14. Breitengrad. 5 Südlich davon siedeln zahlreiche negride Völkerschaften wie die Dinka, Schilluk und Nuer, die Nuba, Bari, Moru, Madi und Azande, um nur einige der bekanntesten anzuführen. Entsprechend dieser ethnischen Gliederung des Sudan war auch die Ausstellung des Ethnographischen Museums angelegt, die jedoch mehr den Charakter einer Studiensammlung der materiellen Kultur der Landesbewohner hatte und kaum auf ethnogenetische Fragen und historische Zusammenhänge einging. Eine Bestandsaufnahme aller vorhandenen Sammlungsbestände zu Beginn meiner Tätigkeit am Ethnographischen Museum in Khartoum "ergab im Frühjahr 1972 die Notwendigkeit, umgehend und planmäßig mit der Sammeltätigkeit im Sudan zu beginnen, das vorhandene Ausstellungsmaterial systematisch zu komplettieren bzw. erstmalig anzukaufen, um vorhandene Lücken zu schließen. Eine entsprechende Sammlungskonzeption wurde der Leitung des Nationalmuseums der Demokratischen Republik Sudan unterbreitet und von dieser bestätigt; nach einer entsprechenden Vorbereitungsphase wurde eine ethnographische Sammelexpedition unter meiner Leitung durchgeführt, von der im folgenden berichtet werden soll. Unsere Expedition hatte den Auftrag, in den beiden westlichen Provinzen des Landes, Kordofan und Darf ur, Exponate für das Ethnographische Museum anzukaufen. In der Zeit zwischen J a n u a r und März 1973 legte unsere sechsköpfige Arbeitsgruppe mit zwei Geländefahrzeugen eine Gesamtstrecke von 5 760 km zurück, die uns durch Savannen, Gebirgsregionen und Wüstengebiete führte. Außer dem Berichterstatter wirkten bei diesem Unternehmen folgende Mitarbeiter des Nationalmuseums Khartoum mit: Sayed Hamuda al-Sheikh e als wissenschaftlicher Assistent, Sayed Abdelrahman Yaqub und Sayed Mohammed Kheir 7 als Kraftfahrer, Sayed Otit Gak K u r als Helfer und Koch; zeitweilig wurden im Verlauf der Sammelreise noch Dolmetscher und Wegekundige aus der einheimischen Bevölkerung zur Mitarbeit herangezogen. Die wesentlichen Arbeitsgebiete unserer Expedition waren folgende Gebiete (vgl. dazu die Karte!) 1. Die Nuba-Berge im südlichen Kordofan; 4
STEVENSON,
5
H A S S A N 1 9 7 8 , p . 3 8 ; A H M E D , 1 9 7 6 , p . 3, t a b l e 1.
6
Hamuda al-Sheikh begann seine Tätigkeit am Ethnographischen Museum in Khartoum am 1. Januar 1973, von 1974 bis 1976 absolvierte er eine museologische Ausbildung in der D D R , während eines Heimataufenthaltes im Sommer 1976 verunglückte er bei einem Autounfall in Kordofan tödlich im Alter von 26 Jahren. Seine Ablösung durch Sayed Abdel Latif Mekki erfolgte am 15. 2. 1973 in Nyalä.
7
1971.
Sammelreise nach Kordofan und Darfur
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2. die Weidegründe der Baggara-Nomaden in Kordofan und Darfur; 3. die Bergsiedlungen der Für im Gebel Marra, einem Hochgebirge von teilweise über 3000 m Höhe, im zentralen Gebiet von D a r f u r ; 8 4. Dar Masalit im Grenzgebiet zur Republik Tschad und 5. Dar Kababisch, ein wüstenhaftes Gebiet im nördlichen Teil von Kordofan, wo vor allem nomadisierende Kamelzüchter arabischer Abstammung beheimatet sind.
Reiseroute der ethnographischen Sammelexpedition durch Kordofan und Darfur im Jahre 1973
I m Verlaufe der Expedition besuchten wir folgende Stämme und erwarben von ihnen rund 300 Exponate von teilweise unikalem Wert: Badiriya (Halbnomaden in der Umgebung von El Obeid, dem Hauptort der Provinz Kordofan), Berg-Nuba, die BaggaraStämme Messiriya, Rizeiqat, Beni Helba, Ta'aisha, Habbaniya und Hawazma, Hamr, Fellata (Fulbe/Bororo), Zaghawa, Für, Masalit, Berti, Zayadiya, Bani Hussein, Bornu, Kawahla, Kababish und Kaga. Eine wichtige, wenngleich negative Erfahrung unserer Expedition bildete die Erkenntnis, daß in den verkehrsmäßig relativ gut erschlossenen Gebieten des Westsudan, d. h. in den Siedlungen längs der Eisenbahnlinie Khartoum — El Obeid — Nyala und in der Nähe der regelmäßig befahrenen Lastkraftwagen-Pisten, die Veränderungen auf dem Gebiet der materiellen Kultur der einheimischen Bevölkerung schon so weit vorangeschritten waren, daß wir überhaupt keine für Sammlungszwecke geeigneten Objekte mehr vorfanden. Aus westlichen Industrieländern importierte Massenbedarfsgüter aus Plast, Gummi, Aluminium etc. hatten die traditionellen Erzeugnisse aus Ton, Leder, Holz, Kupfer etc. bereits unwiderruflich verdrängt, und wir stellten mit Bestürzung fest, daß wir um einige Jahre zu spät' gekommen waren. Wir waren durch die Leitung des Nationalmuseums in Khartoum reichlich mit Mit3
Vgl. SHADEED, 1972, p. 2 4 f f .
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teln zum Objektankauf ausgestattet worden und konnten sie aus den genannten Gründen nicht voll ausschöpfen; ein weiteres Hindernis ergab sich durch den Mangel an Treibstoff für unsere Fahrzeuge. So waren wir z. B. nicht in der Lage, nomadisierenden Stammesgruppen der Baggara bzw. Kababish in abgelegene Weideregionen zu folgen, weil unser Benzin gerade noch bis in die nächste Stadt reichte. Eine ganze Reihe von Gebrauchsgegenständen, die im Westsudan weithin Verwendung finden wie geflochtene Matten (als Schlafunterlage), Tragkörbe für Erntegut, Flechtteller mit farbigen Mustern zum Bedecken der Speisen, Reitsättel, Hacken und Sicheln für die Feldarbeit, Speere, Lanzen und Oberarmmesser, Silber-, Gold- und Perlenschmuck sowie diverse Lederarbeiten konnten wir auf den Marktplätzen von El Obeid, Kadugli, Talodi, al-Da'ein, Nyala, Tawwal, Nyertiti, al-Geneina, Kabkabiya, El Fasher und Sodiri erwerben (vgl. dazu die Karte auf S. 93). Solche Märkte werden regelmäßig an bestimmten Wochentagen abgehalten und stark von den Vertretern der im Einzugsgebiet dieser Marktplätze wohnenden ethnischen Gruppen frequentiert. Diese Märkte sind nicht nur kommerzielle Zentren, sondern zugleich soziale Medien zur Kommunikation zwischen verschiedenen Stämmen, auf denen Informationen ausgetauscht werden etc. Bezüglich des Viktualienhandels handelt es sich dabei um reine Frauenmärkte, 9 die Waren werden nach Erzeugnisgruppen getrennt unter freiem Himmel oder in improvisierten Marktbuden angeboten. Hier haben auch verschiedene Handwerker ihre Werkstätten wie Schmiede, Sattler, Weber, Töpferinnen, Schneider und Holzschnitzer, die ihre Waren dort feilbieten oder auf Bestellung der Kunden an Ort und Stelle anfertigen. Auf diese Weise ergab sich für uns die Gelegenheit, interessante Fotodokumentationen über Herstellungsverfahren verschiedener traditioneller Gewerbe anzufertigen; es konnten auch Werkzeuge von den Handwerkern erworben werden. Am ergiebigsten gestaltete sich unsere Sammeltätigkeit jedoch in den Wohngebieten bestimmter Ethnien wie der Bergnuba, der Baggara, der Für und Masalit, wo einigermaßen geschlossene Kollektionen angelegt werden konnten, die für Ausstellungszwecke gut geeignet sind. Diese Art von Sammlungen bieten die Möglichkeit, wirtschaftliche und soziale Erscheinungen einer ethnischen Gesellschaft mit Zeugnissen der geistigen Kultur im Zusammenhang darzustellen. Solche Beispiele sollen anschließend etwas ausführlicher beschrieben werden. 1. Die Nuba. Sie bilden die autochthone negride Grundbevölkerung Kordofans. 10 Da sie im Verlauf der letzten Jahrhunderte des öfteren von kriegerischen Stämmen überfallen wurden, meistens im Zusammenhang mit Sklavenjagden, 11 haben sie sich immer weiter in die schwer zugängliche Bergwelt des südlichen Kordofan zurückgezogen, wo sie ihre Siedlung besser gegen angreifende Sklavenjäger verteidigen konnten. Wegen dieser spezifischen Siedlungsweise in versteckten Bergsiedlungen werden diese Stämme generell als „Bergnuba" bezeichnet. Die meisten dieser gegenwärtig etwa 600000 Menschen umfassenden Nuba leben in Granitmassiven von ca. 500 bis 1000 m Höhe. Infolge der isolierten Wohnlage haben sich bei den Bergnuba zahlreiche kulturelle Eigenheiten herausgebildet und in Einzelfällen auch weitgehend erhalten, was sie für die ethnographische Forschung besonders interessant erscheinen läßt. 9
Über die Frage der F r a u e n m ä r k t e vgl. F R Ö H L I C H , 1941, p. 268. 1947, p. 1 - 7 ; S E L I G M A N , 1965, p. 366ff.
10 N A D E L , "
RÜPPELL, 1829, p . 134/35; SCHWEINFURTH,
1878, p.
143.
Sammelreise nach Kordofan und Darfur
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Die bedeutendsten Stämme der Bergnuba sind die Heiban, Otoro, Moro, Korongo, Koalib und Nima. 1 2 Jeder dieser Namen bezeichnet zugleich das Bergmassiv, die Dialektgruppe und das Ethnonym als Selbstbezeichnung. Während der englischen Kolonialperiode kam es im Gebiet der Nubaberge wiederholt zu erbitterten Gefechten zwischen den britischen Kolonialtruppen und der einheimischen Bevölkerung, die ihre Unabhängigkeit mit Geschick und großem Kampfesmut verteidigten. Manche der eingangs erwähnten „Strafexpeditionen" wurden von den Nuba erfolgreich abgewehrt. Nachdem der Sudan am 1. J a n u a r 1956 seine staatliche Unabhängigkeit erhalten hatte, begann im Gebiet der Nubaberge eine friedlichere Entwicklung. Durch den Bau von Straßen, Schulen, Krankenhäusern und Versorgungseinrichtungen verbesserten sich schrittweise die Lebensbedingungen der NubaStämme. Als Folge der sich immer mehr verstärkenden Kontakte mit der arabischen Bevölkerung des Nordens durch Handel, Administration und Militärdienst vollzieht sich ein Prozeß der fortschreitenden Arabisierung. Die Mehrzahl der Nuba-Bevölkerung bekennt sich heute zum Islam und ist zweisprachig geworden, d. h. neben ihrer Muttersprache beherrschen die Nuba auch Arabisch, das sich über den Schulunterricht und verschiedene Kommunikationsmittel — nicht zuletzt durch die Sendungen von Radio Omdurman — als Nationalsprache in der Demokratischen Republik Sudan immer mehr durchsetzt. 13 So gibt es gegenwärtig nur noch ganz vereinzelte Regionen, wo die Nuba nach wie vor unter traditionellen Verhältnissen leben. Es gelang unserer Expedition, im äußersten Südosten der Nubaberge eines dieser letzten fast unberührten Nuba-Gebiete noch zu finden, und zwar in den Bergsiedlungen Kao, Nyaro und Fungor. 1 4 Die Nuba leben hier in gut getarnten Siedlungen aus strohgedeckten Kegeldachhütten; ihre Wirtschaftsgrundlage ist der Anbau von Hirse (Durra/Sorghum vulgare Pers.), Sesam (Sesamum Orientale Linn.) und Erdnüssen (Arachis hypogaea L.); der Bodenbau wird als Hackbau betrieben. An Haustieren halten sie Rinder, Schweine, 15 Ziegen und verschiedenes Geflügel. In den letzten Jahren hat der Anbau von Baumwolle als „cash-crop" immer mehr zugenommen, was seine Rückwirkung auf die Ausbreitung der Ware-Geld-Wirtschaft auch im Nuba-Gebiet mit sich brachte. Als wir in diesem Gebiet mit der systematischen Sammeltätigkeit begannen, stießen wir auf keinerlei Hindernisse seitens der Nuba. Sie ließen uns bereitwillig in das Innere ihrer Lehmgehöfte eintreten, wo wir in aller Ruhe uns zunächst einen Überblick über das vorhandene Inventar verschaffen konnten. Von Anfang an erklärten wir unsere Absicht, Originalgegenstände aufzukaufen und erläuterten in zahlreichen Gesprächen Sinn und Zweck dieser für sie gewiß ungewöhnlichen Aktion; dabei nahm ich Fotos attraktiver Museumsausstellungen als Anschauungsmaterial zu Hilfe. (Dieses Verfahren hat sich auch im weiteren Verlauf der Sammelreise in vielen Fällen bewährt.) Die Ankaufsverhandlungen waren sehr zeitaufwendig, weil seitens der Nuba kaum Preisvorstellungen vorhanden waren, da sie ihre Gerätschaften nur für den Eigen12
NADEL, 1947, p . 2 - 4 .
13
Op. cit., pp. 3 und 4 8 3 : „. . . the N u b a accepted an alien culture almost wholly as superior and worthy of imitation — Arab civilization." Vgl. d a z u FARIS, 1972 u n d STEIN, 1978.
IS H O D K I N , 1 9 5 7 , p . 3 7 f f . ; E P S T E I N , 1 9 7 1 , V o l . I I , p . 3 3 2 .
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bedarf, nicht aber f ü r den Verkauf produzieren. Bald stiegen die geforderten Preise jedoch merklich an, da unsere Verhandlungspartner schnell begriffen, daß sie aus unserem Interesse f ü r die Objekte ihrer materiellen K u l t u r ein gutes Geschäft machen konnten. I n der überwiegenden Zahl aller Fälle waren Frauen unsere Handelspartner, die im Besitz der Tongefäße, Kalebassen, Kochlöffel, Ledersitze, Perlenschnüre etc. waren, was als ein deutlicher Hinweis auf ihre wirtschaftliche und soziale Selbständigkeit betrachtet werden kann. Insgesamt läßt sich feststellen, daß im sozialen Leben der N u b a deutliche Überreste matriarchalischer Züge erhalten sind, wie die bevorzugte Rolle des Mutterbruders, das Vorhandensein der Dienstehe und andere. 1 0 Innerhalb weniger Tage war es uns gelungen, eine Vielzahl ethnographischer Objekte in diesen Nubadörfern zu erwerben, die später eine repräsentative Dokumentation der materiellen K u l t u r dieser ethnischen Gruppe ermöglichten: Gerätschaften eines Nuba-Haushalts, Arbeitsinstrumente, Waffen und Zeremonialgerät des Kugür („Regendoktor", Schamane). 2. Die Baggara-Stämme. I m weiteren Verlauf unserer Reise durchquerten wir die ausgedehnten Weidegebiete der Baggara-Rindernomaden, die von arabischen Kamelnomaden abstammen und in folgende Stämme gegliedert sind: Messiriya 130000 Rizeiqat 90000 Habbaniya 80000 Beni Helba 65000 Ta'ischa 30000 insgesamt 395000 Menschen. Die Baggara-Stämme nomadisieren mit ihren riesigen Herden — allein der Rinderbestand geht in die Millionen 17 — auf saisonbedingten Wanderzügen in Familienverbänden zwischen 40 und 120 Personen; der Lagerwechsel erfolgt bis zu sechzigmal im Jahr. 1 8 J e d e Familie bewohnt ein mattengedecktes Rundzelt, das auf der Wanderung auf dem Rücken der Laststiere transportiert wird. Charakteristisch f ü r den materiellen Kulturbesitz der Baggara-Nomaden sind kunstvoll aus Lederstreifen geflochtene Vorratsbehälter ('Umra) sowie verzierte Kalebassengefäße für die Milchwirtschaft (vgl. Abb. 3); tönerne Kochgefäße und aus gefärbtem Bast geflochtene Körbe und Tellör ergänzen den selbstgefertigten Hausrat. Eine mit Leder beflochtene P l a t t f o r m von 2 x 1 , 5 m Fläche dient der ganzen Familie als Schlafstätte. Alle hier angeführten Gebrauchsgegenstände konnten wir in den Hirtenlagern der oben genannten Baggara-Stämme f ü r das Nationalmuseum des Sudan ankaufen, einschließlich verschiedener mit Kaurischnecken bestickter Schmuckelemente für den Reitstier, die bei festlichen Anlässen angelegt werden (vgl. Abb. 12). Von den Stammesführern der Rizeiqat und Ta'ischa erhielt unsere Expedition traditionelle Waffen sowie einen Fliegenwedel aus Giraffenschwanzhaar 1 9 zum Geschenk. Bei bereits seßhaft gewordenen Baggara-Gruppen konstatierten wir einen 10
NADEL,
19
1947, p . 3 5 6 / 5 7 ; STEIN,
1978.
1978, p. 24/25; A H M E D , 1976, pp. 65ff. I» C U N N I S O N , 1966, p. 64. Nach Auskunft einheimischer Gewährsleute treiben die Baggara Giraffen in die Sümpfe am Bahr al-'Arab, ihrem südlichen Weidegebiet, schneiden dem in seiner Bewegungsfreiheit behinderten Tier die Schwanzhaare ab und lassen es dann wieder frei. Die daraus gefertigten Wedel dienen als Würdeabzeichen der Stammesführer.
I' HASSAN,
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rapiden Verfall auf dem Gebiet der traditionellen handwerklichen Tätigkeit: importierte Massenbedarfsgüter aus Plast, Aluminium usw. haben die geflochtenen Behälter u n d Kalebassen weitgehend verdrängt. 3. Die Für im Gebel Marra. „Darfur" heißt auf Arabisch „Land der F ü r " ; darunter verstehen wir die negride Urbevölkerung dieser Region, die etwa 300000 Menschen u m f a ß t und im wesentlichen die Bergsiedlungen des Marra-Gebirgsmassivs bewohnt. Die Für t r a t e n erst im 17. J h . zum Islam über u n d beherrschen seit dieser Zeit Arabisch als Zweitsprache. I n ökonomischer Hinsicht handelt es sich bei den F ü r u m eine seßhafte Bodenbauer-Bevölkerung, die in den unteren Berglagen Hirse kultiviert, während a n den regenreichen Westabhängen der höheren Berglagen auf Terrassenfeldern Reis, Zwiebeln u n d in zunehmendem Maße auch Kartoffeln angeb a u t werden. 20 Daneben kultivieren sie zahlreiche F r u c h t b ä u m e wie Mango, Zitrusarten, P a p a y a und sogar Apfel. I n der Nähe der Siedlung Nyertiti gelang uns der Ankauf eines handgeschriebenen Korans in Lederhülle sowie landesüblicher Schreibgeräte und Tintenfässer aus gebranntem Ton. Wir erwarben weiterhin eine Reihe von Amuletten (Higäb) und kalligraphische Texte mit magischer Bedeutung, die in Lederbeutel eingenäht als Amulette gegen den „Bösen Blick" und alle möglichen Krankheiten a m Körper getragen werden. 2 1 Derartige Amulette sind im gesamten Sudan bis zur Gegenwart weit verbreitet und bezeugen das Weiterbestehen vorislamischer Vorstellungen in der Volksreligion; in der Mehrzahl aller Fälle werden die Amulette von der „niederen" islamischen Geistlichkeit auf Bestellung angefertigt. Außer diesen Objekten aus dem Bereich der Ideologie sammelten wir im Gebel Marra weitere Haushaltsgegenstände, Sitzmöbel und Bodenbaugeräte — Hacken mit Eisenblättern, einen Dreschstock und ein Pflanzholz — sowie eine Schlingenfalle f ü r Perlhühner, die in den Bergwäldern dieser Region sehr zahlreich vorkommen. I m Rasthaus von Nyertiti wurden wir mit dem Agronomen Hassan Muzammil 'Ali bekannt, einem Enkel des letzten Sultans von Darfur, 'Ali Dinar, der von 1890 bis 1916 regierte und im Kampf gegen die englischen Kolonialtruppen gefallen ist. 22 Von ihm erhielten wir den Hinweis auf zahlreiche Ethnographica im ehemaligen Sultanspalast in El Fasher, dem H a u p t o r t der Provinz Darfur. Wir besichtigten einige Zeit darauf diesen Palast — ein solides mehrstöckiges Lehmgebäude mit dicken Mauern und Säulen —, der zu dieser Zeit die Residenz des obersten Verwaltungsbeamten der Provinz bildete. I m Innern befand sich noch originales Mobiliar in sehr gutem Erhaltungszustand wie Thronsessel, Prunkschirm, religiöse Fahnen der Mahdiya-Bewegung, Waffen, Kriegstrommeln und anderes Gerät, das sich in seiner Gesamtheit als Ausstellung geradezu anbot. Daraufhin unterbreiteten wir nach der Rückkehr nach K h a r t o u m dem zuständigen Ministerium den Vorschlag, den alten Sultanspalast als Regional-Museum von Darfur der Öffentlichkeit zugänglich zu machen; die Anregung wurde mit Interesse aufgenommen und schon im J a h r darauf in die T a t umgesetzt. 4. Dar Masalit. I n den Gebieten südlich und westlich des Gebel Marra lernten wir mehrere sowohl seßhafte als auch nomadische Gruppen kennen mit unterschiedlicher 20 S H A D E E D , 1 9 7 2 , p . 2 4 / 2 5 . 21
Vorislamische Relikte aus dem Bereich der Magie sind bis zur Gegenwart im gesamten Sudan noch sehr stark verbreitet.
22 BALFOTJB-PAUL, 1 9 5 5 , p . 1 6 ; HEBZOG, 1 9 7 6 , p . 1 3 9 . 7 Jahrbuch des Museums für Völkerkunde, Bd. XXXIII
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ethnischer Zugehörigkeit (Masalit, Für, Baggara, Zaghawa, Fulbe). Bei ihnen vollzieht sich offensichtlich auf der Grundlage der gemeinsamen islamischen Religion und der arabischen Sprache, die sich immer mehr als dominierendes Verständigungsmittel durchsetzt, ein Assimilierungsprozeß. 23 F ü r unsere Sammeltätigkeit erwiesen sich die Masalit, eine negride BodenbauerBevölkerung mit eigener Sprache („Maslati"), die etwa 135000 Menschen u m f a ß t , als besonders geeignet. Von ihnen kauften wir traditionelle Waffen wie Wurfhölzer und Wurfeisen, 24 Speere und Schilde, aber auch sehr schönen Schmuck aus Silber und farbigen Glasperlen sowie kunstvolle Flechterei-Erzeugnisse (Körbe, Taschen und Teller). Über die offene Grenze zur benachbarten Republik Tschad erfolgte damals ein starker Zustrom von Nomaden in Richtung Osten als eine Auswirkung der langjährigen Dürrekatastrophe in der Sahel-Zone. 25 Wir begegneten des öfteren Wandergruppen der Zaghawa, Tama und Fulbe, deren Herden infolge der jahrelangen Wasserknappheit stark dezimiert waren. Die Zaghawa z. B. verdienten sich in Darfur nach dem Verlust ihrer Herdentiere ihren Lebensunterhalt durch handwerkliche Tätigkeiten: Die Männer gerbten Leder und stellten daraus Seile und verschiedene Ledergefäße her, während ihre Frauen sich mit der Töpferei beschäftigten. I m Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützten wir die Opfer der Dürrekatastrophe durch Transportleistungen und bei der Wasserversorgung, auch dadurch, daß wir für angebotene Ethnographica besonders gute Preise zahlten. 5. Dar Kababisch. I m letzten Abschnitt unserer Expedition behinderten anhaltende heftige Staubstürme und Mangel an Treibstoff unsere Arbeit erheblich. So konnten wir unsere Absicht, im Stammesgebiet der kamelzüchtenden Kababisch ein komplett eingerichtetes Nomadenzelt zu erwerben, nicht verwirklichen, weil wir nur bis Sodiri gelangten, einem Marktplatz im nördlichen Koidofan am Südrand der Sahara. Die Masse der ca. 70000 Kababisch-Kamelnomaden 2 6 befand sich zu dieser Zeit in den nordwestlich von Sodiri gelegenen Weidegründen des Wadi al-Milk. Unsere Benzinvorräte reichten aber gerade noch bis El Obeid, so daß wir uns mit dem Angebot auf dem Markt von Sodiri begnügen mußten, wo wir mehrere Kamelsättel, gewebte Sitzmatten aus gefärbter Schafwolle, verschiedenen Frauenschmuck, darunter Armreifen aus verziertem Elfenbein und verschiedene Arbeitsinstrumente erwerben konnten. Auf der Weiterfahrt in Richtung El Obeid gelang uns der Ankauf einer prächtigen Kamelreitsänfte ('Otfa) mit allem Zubehör (Abb. 11). Solche Gestelle aus gebogenen Zweigen mit Vorhängen aus handgewebter Ziegenwolle dienen seit alter Zeit den Kamelnomaden zum Transport von Frauen und Kindern während der Wanderzüge zu neuen Weideplätzen. Nach erfolgreichem Abschluß unserer Mission kehrten wir mit den beiden hochbeladenen Expeditionsfahrzeugen am 7. März 1973 nach K h a r t o u m zurück. Wir begannen umgehend mit der Katalogisierung der r u n d 300 neuerworbenen ethnographischen Objekte und gestalteten mit ihnen eine Sonderausstellung zum Thema 23
Vgl. dazu B B O M I E J , 1977, pp. 141 f f . ; auch N A D E L erwähnt den Prozeß einer Assimilation am Beispiel der N u b a : NADEL, 1947, p. 482.
24
V g l . d a z u GEBMANN, 1 9 2 2 , p . 4 1 f f .
25
HEBZOG,
2« A S A D ,
1981.
1 9 7 0 , p p . 11 ff.
Sammelreise nach Kordofan und Darfur
99
„Kulturelles Erbe aus dem Westsudan", die Ende Mai 1973 im Gebäude des Nationalmuseums der Demokratischen Republik Sudan eröffnet werden konnte 2 7 und ein lebhaftes Echo beim sudanesischen Publikum auslöste (Abb. 12). Anhang: die Reiseroute der Sammelreise im Überblick (Vgl. dazu die Karte!) J a n u a r 1973: 21. Khartoum—Qutaina—Dueim-West—Rabak—Kosti. 22. Kosti—Tendelti—Umm R u w a b a . 23. TJmm Ruwaba—El Obeid. 24. El Obeid. 25. El Obeid—Rahad—Abu Karshola—Rashad. 26. Rashad—Abu ö u b e i h a . 27. Abu ö u b e i h a . 28. Abu öubeiha—Nyaro—Kao—Fungor. 29. Fungor. 30. Fungor—Kao—Saqqal-Hagar—Fungor. 31. Fungor—Kalogi—Talodi—Kadugli. Februar 1973: 1. Kadugli. 2. Kadugli—Lagowa—Rigl al-Fula—Babanusa. 3. Babanusa. 4. Babanusa. 5. Babanusa—al-Muglad. 6. al-Muglad—al-Muqqadima—al-Muglad. 7. al-Muglad—Da'ein. 8. Da'ein—Nyala. 9. Nyala. 10. Nyala. 11. Nyala—Idd al-Ghanam. 12. Idd al-Ghanam—Rahad al-Birdi—Tuwwal—Rahad al-Birdi. 13. R a h a d al-Birdi—Idd al-Ghanam—Tullus—Buram. ' 14. Buram—Tullus—Nyala. 15. Nyala. 16. Nyala. 17. Nyala. 18. Nyala—Kass—Nyertiti (Öebel Marra). 19. Nyertiti—Lagi—Shuwa—Zalingi. 20. Zalingi. 21. Zalingi—öeneina. 22. öeneina. 23. öeneina—Adré (Republik Tschad)—öeneina. 24. öeneina—Kabkabiya. 25. Kabkabiya—Turra (öebel Marra/Ostseite). 26. Turra—El Fascher. 27. El Fascher. 28. El Fascher—Umm Keddada—Dam ö a m a d . März 1973: 1. D a m öamad—Wad Banda—al-Nuhud. 2. Nuhud—El Obeid. 27
7*
STEIN,
1974, p. 17-22.
100 3. 4. 5. 6. 7.
LOTHAR
STEIN
E l Obeid—Mazrub. Mazrub—Sodiri. Sodiri. Sodiri—al-öabra. al-öabra—Umm Inderaba—Khartoum.
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Dekortechniken an Holzobjekten der ostafrikanischen Küste Von
E V A WIESATJEE,
Wien
(Mit 1 Karte und 23 Abbildungen auf Tafel X X I I - X X X I )
Das Kunsthandwerk der ostafrikanischen Küste wurde in der Literatur bisher fast völlig vernachlässigt. In den zahlreichen Publikationen über afrikanische Kunst wird dieses Gebiet nur am Rande gestreift und als künstlerisch uninteressant abgetan bzw. dem islamischen Bereich zugeordnet. Arbeiten über islamische Kunst jedoch beziehen die ostafrikanische Küste grundsätzlich nie in ihre Betrachtung ein. Da das traditionelle Kunsthandwerk in Ostafrika immer mehr in Vergessenheit gerät, wird sein Studium nicht mehr lange möglich sein. Das Material der vorliegenden Arbeit basiert auf einem Studienaufenthalt, den ich im Sommer 1973 zum Studium der traditionellen Handwerkstechniken an der kenyatischen Küste durchführte, 1 sowie auf Quellenmaterial, das die Feldforschungsergebnisse erweitern soll. Zentrum und Ausgangspunkt meiner Studien war der Lamu-Archipel in Nordkenya, der seit jeher eine Hochburg des Kunsthandwerks gewesen ist. Von hier aus erstreckt sich das behandelte Gebiet nach Norden bis Mogadishu und nach Süden bis Zanzibar. Dieser Küstenstreifen war seit vielen Jahrhunderten dem arabischpersisch-indischen Einfluß ausgesetzt, was zum Entstehen einer „Mischkultur" geführt h a t , ' deren Träger in erster Linie die Suaheli sind. Von den im folgenden besprochenen Dekortechniken werden Lack- und Einlegearbeiten heute nicht mehr hergestellt; ebensowenig wird der - ohnehin sehr seltene Dekor mittels Metallpunzen ausgeführt. I n Lamu gibt es wohl noch einige Männer, wie z. B. den Schnitzer Skanda, die die Einlegetechnik beherrschen; sie beschäftigen sich aber nur mit Restaurierungsarbeiten. Das Bemalen tritt hauptsächlich in der Bootsdekoration auf, jedoch verwendet man bereits importierte Farben, so daß die traditionellen Farbstoffe fast schon vergessen sind. Das Beschlagen von Türen und alten Truhen mit Messingblech und -nägeln wird in Lamu und Mombasa noch ausgeführt. Verbreitet an der Küste und im Inland sind Beritzen und Brandritzen, jedoch besitzt dieser Dekor heute bei weitem nicht mehr die Qualität wie noch zu Beginn des Jahrhunderts. Drechselarbeiten werden heute gewöhnlich schon maschinell ausgeführt; nur Shabibu fundi Muhammad Saburi, ein Handwerker aus Siyu auf der Insel Pate, arbeitet noch mit dem Drehstuhl. Er hat sich auf die Herstellung kleiner, drei- oder vierbeiniger Hocker spezialisiert. 1
2
Meine Feldforschung wurde v o m Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien, von der Tiroler Landesregierung und von der „Daniel und Maria Swarovski-Stiftung" unterstützt. Vgl. dazu H I R S C H B E R G , 1 9 3 1 .
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Eva Wxesattek.
Von allen angeführten Techniken wird nur noch die Schnitzerei in größerem Ausmaß betrieben. Es gibt jedoch im gesamten Lamu-Distrikt nur mehr zwei Schnitzer, die ausschließlich vom Ertrag ihres Handwerks leben: Abdalla bin Ali al-Mafazi, genannt Skanda, und Bakari Bwana Kanga. Die meisten Tischler in Lamu wären wohl in der Lage, Schnitzereien zu verfertigen, aber auf Grund der geringen Nachfrage stellen sie fast nur unverzierte Gebrauchsgegenstände her.
Dekortechniken an Holzobjekten
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Skanda stammt aus einer alten, in Lamu ansässigen Kunsthandwerkerfamilie und erlernte das Schnitzen von seinem Großvater. Während seine Werkstätte bei meinem ersten Besuch im J a h r 1971 aus einem palmblattbedachten Lehmhaus bestand, befindet sie sich nun in einem geräumigen Betonziegelhaus. Vor einigen Jahren gründete Skanda in seiner Werkstätte auch eine Schnitzschule, in der junge Männer zwischen 15 und 25 Jahren unterrichtet werden. Die Lehrzeit beträgt etwa zwei bis vier Jahre. Skanda ist in erster Linie auf die Herstellung beschnitzter Türrahmen spezialisiert, wofür er Abnehmer in der ganzen Welt findet. Außerdem werden in seiner Werkstätte auch Lampenständer, Bootsmodelle etc. hergestellt. Bakari Bwana Kangas Werkstätte befindet sich in einem Lehmhaus und besteht nur aus einem winzigen Raum. Seine Arbeiten waren früher von hoher Qualität, jetzt jedoch liegen sie qualitativ unter jenen Skandas. Bakari Kanga hat sich auf die Herstellung kleinerer Gegenstände, wie Kämme, Schreibbehälter, Buchständer, Kokosnußschaber, Holzschuhe und Holzteller spezialisiert, außerdem stellt er Musikinstrumente her und verziert alte arabische Truhen mit neuen Schnitzereien. Seine Käufer sind in erster Linie Touristen. Beide Schnitzer halten sich ziemlich streng an ihre traditionellen Vorlagen, und die Qualität ihrer Arbeiten ist sehr gut. Es ist jedoch zu bemerken, daß sie sich auf einen kleinen Kreis von Formen und Ornamenten festgelegt haben, so daß der frühere Formenreichtum verlorengegangen ist. Auf die Frage nach der sozialen Stellung der Handwerker hieß es im allgemeinen, daß die Schnitzer wie alle Handwerker der Mittelklasse angehören; sie seien angesehener als etwa die Schmiede oder die Mattenflechter, aber das vor allem deshalb, weil sie relativ wohlhabend seien. Skanda ist weit über die Grenzen Lamus hinaus bekannt . Er erhält Aufträge von der kenyatischen Regierung und schnitzte z. B. einen Thronsessel als Geschenk Kenyas an Haile Selassie, den ehemaligen Kaiser von Äthiopien. Ein Großteil seiner Auftraggeber sind Europäer und Amerikaner, woraus man schließen könnte, daß Skanda in Lamu eine angesehene Persönlichkeit sei. Aber in Wirklichkeit ist er namentlich zwar den meisten bekannt, wird aber unter die Kategorie der Tischler gereiht. Die Einheimischen würden kaum Schnitzereien von Skanda oder Bakari Kanga kaufen; sie bevorzugen billige, meist minderwertige Importwaren. Welchen Status aber besaßen die Schnitzer, solange das traditionelle Wertsystem der Gesellschaft noch bestand? ALLEN betont, daß besonders die Türschnitzerei in Lamu schon immer ein Beruf mit hohem Status gewesen sei. 3 Begabung in Tanz, Gesang, Dichten und Schnitzen seien die begehrtesten Eigenschaften der Stadtbevölkerung gewesen. So war Muhammad fundi Kijuma, der älteste Schnitzer, dessen Türen uns bekannt sind, zugleich ein berühmter Dichter in der zweiten Hälfte des 19. J h . Der Annahme ALLENS, daß der Schnitzberuf früher sehr angesehen gewesen sei, würde die Tatsache entsprechen, daß Bakari Bwana Kanga mit einer Sherifa, einem weiblichen Nachkommen des Propheten, verheiratet ist, ohne selbst Sherif zu sein. Heiraten zwischen Männern niedrigerer und Frauen höherer Klasse finden in diesem Gebiet nur höchst selten statt. VOELTZKOW, der 1903—1905 die ostafrikanische Küste bereiste, schreibt über einen Besuch von Lamu: „. . . auch durfte früher der Sitte nach der freie Suaheli kein ge3 ALLEN, 1974, pp. 27, 29.
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E V A WIESATJER
meines Handwerk betreiben, wie das der Tischler, Schlosser, Goldarbeiter, Schuster, Zimmerleute, Maurer, das den Sklaven und Freigelassenen oder von diesen Abstammenden überlassen blieb." 4 D I C K S O N , District Commissioner von Lamu, schrieb im Zusammenhang mit der Abschaffung der Sklaverei, daß die englische Sklavenkommission die Sklaven freikaufte: „In most cases the price paid for the slaves was fairly equitable, . . . In some few cases where carpenters and artizans were freed at not more than Rs. 100 a-piece, a distinct injustice was done as these men can earn up to Rs. 30, — a month, one half of which went to the owner." 5 VOELTZKOW zählt eine Reihe von Handwerkerberufen, darunter Tischler und Zimmerleute, auf. D I C K S O N spricht von „carpenters and artizans", also von Zimmerleuten und Kunsthandwerkern. Die Bezeichnung „artizan" bezieht sich mit Sicherheit auch auf die Schnitzer, und ich nehme an, daß auch VOELTZKOWS Angaben auf diese zutreffen. Aus beiden Quellen geht hervor, daß die Ausübung der verschiedenen Handwerksberufe Sklaven und Freigelassenen überlassen war. Für einen freien Suaheli oder Araber war es unter der Würde, als Handwerker zu arbeiten; sie waren gewöhnlich Plantagenbesitzer oder Kaufleute. Auf die relativ hohe soziale Stellung der „Zimmerleute und Kunsthandwerker" weist D I C K S O N hin, wenn er schreibt, daß sie —als einzige von allen Sklaven — um eine zu geringe Summe freigekauft wurden. Diese Berufsgruppe bildete vermutlich eine Oberschicht innerhalb der Sklaven und Freigelassenen, die ja immerhin zur Jahrhundertwende etwa zwei Drittel der Gesamtbevölkerung des ostafrikanischen Küstenstreifens ausmachte. 6 Wenn man von diesen beiden Quellen auch nicht auf die Zustände der ganzen Küste schließen kann, so lassen sich doch abschließend zwei wesentliche Punkte herausschälen: Die Kunsthandwerker waren gewöhnlich Sklaven oder Freigelassene. Sie genossen ein relativ hohes Ansehen, und besonders Holzarbeiten wurden sehr gut bezahlt.
1. Schnitzerei Die Technik der Holzschnitzerei ist bzw. war an der ganzen Küste verbreitet und tritt an Gegenständen verschiedenster Art auf. Besonders eindrucksvoll sind die beschnitzten Eingangstore, die in allen Orten des Lamu-Archipels, aber auch in Mombasa, Zanzibar, Bagamoyo und anderen Küstenorten anzutreffen sind. Daneben sind besonders auch Haushaltsgeräte und andere Gebrauchsgegenstände, wie Kämme, Holzschuhe etc. beschnitzt. Zu erwähnen sind nicht zuletzt auch noch die Bootsdekorationen. I n diesem Zusammenhang möchte ich auch die Elfenbeinschnitzerei nennen. Sie tritt nur sehr selten auf, jedoch in hervorragender Qualität. Als Bei4
VOELTZKOW, 1 9 2 3 , p . 2 2 .
S V g l . DICKSON, 1 9 2 3 . 6
(1836 Bd. I : 64) schätzte die Bevölkerung der Insel Zanzibar auf 150000, davon 2/3 Sklaven; BUBTON (1872 Bd. I : 81, 462f.) schätzte die Einwohner der Stadt Zanzibar auf 25000, davon 2/3 bis 3/4 Sklaven. Auch Decken (KERSTEN 1869 Bd. I : 78) und VOELTZKOW (1923: 129f.) geben an, daß die Sklaven etwa 2/3 bis 3/4 der Bevölkerung ausmachen. Die Sklaverei wurde in Kenya 1907 abgeschafft.
RTJSCHENBERGER
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spiel dafür möchte ich die berühmte Elfenbein-Siwa von Pate erwähnen, die sich im Lamu-Museum befindet. Die ältesten erhaltenen beschnitzten Gegenstände sind etwa 250 J a h r e alt. Ornamentik und Handwerkstechnik haben sich in diesem Zeitraum nur wenig geändert ; auch die Werkzeuge sind wohl im wesentlichen die gleichen geblieben. 1.1. Rohmaterial u n d Werkzeuge Heute wird der Großteil des Holzes vom Festland importiert. Skanda bezieht sein Rohmaterial über das Forestry Department aus Mombasa. Afrikanisches Ebenholz wächst im nördlichen Lamu-Distrikt; verschiedene für die Schnitzerei geeignete Mangrovearten umgeben die c Inseln. Zur Herstellung von Türen verwendet Skanda heute hauptsächlich Mbambakofi (Afzelia quanzensis), ein Holz, das sich durch gute Schnitzbarkeit, Dauerhaftigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen Insekten auszeichnet. Die Türen besitzen eine rötlich-braune Farbe, die allmählich nachdunkelt; sie sind wegen ihres leichten Glanzes beliebt. 7 Msaji (Tectona grandis, Teak) und Mahagoni (Swietenia mahagoni) wurden besonders im 19. J h . aus Indien importiert, werden aber heute nur mehr selten verwendet, da sie sehr schwer erhältlich sind. Auch diese beiden Hölzer eignen sich sehr gut zur Herstellung von Türen und Möbeln. Zur Herstellung von Türen verwendet man seltener auch Muhuhu (Brachyaena hutchinsii), Mvule (Chlorophora excelsa) und Mfenesi (Artocarpus integrifolia; Jackfruchtbaum) sowie Mwia (Bruguiera Gymnorrhiza), woraus im 17. und 18. J h . die sogenannten Siyutüren hergestellt wurden. Aus Mpingo (Dalbergia melanoxylon; afrikanisches Ebenholz) wurden im 19. J h . die bekannten Ebenholzstühle hergestellt. Außerdem nannten meine Informanten noch folgende Holzarten: Mlilana (Sonneratia acida), Msonombari (Millingtonia hortensis), Mtalawanda (Mimusops densiflora), Mkunazi (Ziziphus jujuba), Mbambazi und Msunumbari. I n den Quellen finden sich eine Reihe von Hinweisen auf Holzarten, die zur Herstellung von Türen, Möbeln und Booten bzw. zur Schnitzerei verwendet wurden. E M E R Y zählt eine Reihe von Holzarten auf und nennt dazu auch ihren Verwendungszweck. 8 So benutzte man „Mungorule" und „Mpingo" zur Herstellung von Möbeln, „Mechano" und „Mucongarcharlee" für Türen, „Mulelana" als Bauholz und „Munyonvouro", „Mowoula", „Mosendee", „Monamage", „Mananinya" und „Mocungue" zum Schiffsbau. Mpingo, Mulelana (Mlilana) und Mowoula (?Mvule) sind schon oben erwähnt, Mosendee (Msinzi = Mkoko; Rhizophora mucronata) ist eine Mangrovenart und Mungorule' (Mgurule = Mgurure; Combretum schumannii) wird auch heute noch zur Herstellung von Betten und Stühlen verwendet. Alle übrigen Namen sind leider f ü r mich nicht identifizierbar. G U I L L A I N gibt an, daß man die Türen in Zanzibar aus „Mouaninga", einem rotbraunen, sehr dauerhaften Holz, das auf dem Festland gewonnen würde, herstellt. 9 7
Hinsichtlich der wissenschaftlichen Beziehungen der Baumarten beziehe ich mich auf STUHLMANN ( 1 9 0 9 ) , SACLEUX ( 1 9 3 9 ) u n d WILLIAMS ( 1 9 4 9 ) .
8 EMEBY, 1 8 3 3 , p . 2 8 3 . 9
GUILLAIN, 1 8 5 6 I I , 1, p . 1 4 0 .
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An anderer Stelle nennt er unter den Exportgütern der ostafrikanischen Küste folgende Holzarten: „m'voule", „m'simbate", „m'sikoundazi", „m'tonddooh", „m'tcho", „m'kandaa" und „m'koko". 10 BUETON, der eine Reihe von Holzarten anführt, schreibt in diesem Zusammenhang: „The mango, the jack, the copal tree, and many others, give fine hard woods for cabinet work. Planks and scantling, cross-beams and doors-panels, are made of, two fine trees, the ,Mtimbati' and the ,Mvule'." 11 Nach V O E L T Z K O W wurden im Gebiet von Uzini (Zanzibar) die beschnitzten Türen meist aus dem Holz des Jackfruchtbaumes hergestellt, das ja auch Skanda noch manchmal verwendet. 12 Abschließend gebe ich noch eine Aufzählung des District Commissioner von Lamu aus dem Jahre 1934, der unter den wertvolleren Holzarten folgende nennt: „Mpingo (ebony), Mbemba Kofi (used in cabinet making), Mvuli, Mgambo and Mguvi (used in boat-building), Muhero, Mbambaro, Mgugure (a dark purple ornamental wood), Mkomafi, Mwamgati (used for piles etc., as it is said to be impervious to insects), Muia (used in dhow-building), Mkoko." Mpingo, Mbemba Kofi (Mbambakofi), Mvuli (Mvule) und Mgugure (Mgurure) werden auch heute noch zur Schnitzerei verwendet: Mkoko = Mgambo (Rhizophora mucronata) dient als Bauholz und ist einer der wichtigsten Exportartikel von Lamu. Mwangati (Juniperus procera) ist eine afrikanische Zedernart und wird nach 13 S T U H L M A N N zur Herstellung von Möbeln verwendet. Mkomafi (Xylocarpus moluccensis) ist ein bis zu zehn Meter hoher Baum mit harten braunen Früchten, der in Mangrovesümpfen wächst. Im folgenden gebe ich eine Liste, die alle Werkzeuge, die in Skandas Werkstätte verwendet werden, umfaßt. Bakari Kanga benutzt die gleichen Werkzeugtypen, besitzt jedoch nur eine geringe Auswahl. Auffallend ist, daß die Suaheli-Bezeichnungen für die Werkzeuge kaum mehr in Gebrauch sind, und daß besonders Skandas Lehrlinge oft englische Namen verwendeten (z. B. V-chisel, half-round). Perkussionswerkzeuge:
Shoka — Axt Kishoka — kleine Axt Tezo — Dechsel Nyundo — Hammer Msumeno — Säge Randa — Hobel Randa ya duara — Rundhobel Tungu — Raspel Kekee — Drillbohrer 14
Mgungo — Schlegel Dieser ist aus einem Stück Holz gefertigt, etwa 20 cm lang, von viereckigem Querschnitt, besitzt einen dünnen Griffünd einen verdickten Schlagteil. Chembeu = patasi — Flachmeißel Er besitzt eine flache Schneide, die vorne einseitig schräg zugeschliffen ist.
G U I L L A I N , 1 8 5 6 I I , 2, p . 3 2 4 . " BUBTON, 1 8 7 2 I , p . 2 4 0 . 12 VOELTZKOW, 1 9 2 3 , p . 2 4 1 . 13 STUHLMANN, 1 9 0 9 , p . 6 6 2 f . 14
Eine kurze Beschreibung dieses Geräts hat INGRAMS (1931, p. 320) gegeben: „The drill is called kekee and consists of four parts. The iron (kekee), its handle (msukono), and the handle this turns in (jivu). The bow used to turn it is called Mia."
Dekortechniken an Holzobjekten
V-chisel - chembeu cha dali Meißel mit V-förmiger Schneide. Ngabu — Hohlmeißel mit halbkreisförmiger Schneide. half round = ngabu mit leicht gewölbter Schneide. Kiminingo — Stemmeisen (?) mit flacher, beidseitig schräg zugeschliffener Schneide.
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Haltewerkzeuge: Bakari — Zange J a r i = siklazn — Klammer Jiriwa — Schraubstock Meß- und Markierwerkzeuge: Mahati — Lehre Guni — Winkellineal Compass — Zirkel
1.2. Die Schnitztechniken Die Schnitzarbeit beruht im wesentlichen auf der kombinierten Perkussion: Verschiedene Meißel werden mit einem Holzschlegel geschlagen, wobei die rechte H a n d den Schlagteil hält und die linke den Arbeitsteil f ü h r t . Schnitzmesser werden nicht verwendet. Die Handwerker unterscheiden zwei Arbeitstechniken: die Bajuni-Schnitzerei und die Kisutu-Schnitzerei, die sowohl nach ihren Motiven als auch nach den zu verwendenden Werkzeugen zu unterscheiden sind. Die Bajuni-Schnitzerei beruht in erster Linie auf der Kerbschnittechnik, bei der mit Hilfe von Meißel und Schlegel schräg geneigte, scharfkantig aufeinander treffende Schnittflächen erzeugt werden. Der Schnitzer benötigt dazu nur zwei Meißelarten: Mit dem V-Meißel kerbt er die Umrißlinien, mit zwei Flachmeißeln verschiedener Größe schnitzt er die Ornamente. Die Motive der Bajuni-Schnitzerei sind durchweg geometrisch. Bevorzugt sind gerade und gewinkelte Formen, wie Fischgrätmuster, Zickzacklinien, Quadrate, Rechtecke etc. (Abb. 1—3). Die Motive der Kisutu-Schnitzerei sind vegetabil; Rosetten, R a n k e n und stilisierte Blätter treten besonders häufig auf (Abb. 4—7). Die Anzahl der benötigten Meißel ist größer als bei der Bajuni-Schnitzerei: Mit dem V-Meißel werden auch hier die Umrisse gekerbt, zum Herausarbeiten der Formen dienen die beiden Meißel mit abgerundeter Schneide. Mit dem „half-round" schnitzt m a n z. B. die einzelnen Blütenblätter der Rosetten, mit verschiedenen Hohlmeißeln die wellenförmigen Ranken etc. Zum Erzeugen der Tiefe des Motivhintergrundes dient der Kiminingo, während die beiden Flachmeißel vorwiegend zum Herausschneiden kleiner Details oder zur Behebung von Unebenheiten verwendet werden. Der Motivhintergrund wird oberflächenparallel herausgeschnitten (Planschnitt). J e mehr unbearbeitete Fläche die Motive umgibt, desto geringer ist der Arbeitsaufwand und desto niedriger der Preis des Objektes. Der wesentliche Unterschied zwischen Bajuni- und Kisutuschnitzerei liegt in der Anwendung der beiden Hohlmeißel mit abgerundeter Schneide in der Kisutu-Technik, durch die ein größerer Formenreichtum der Ornamente ermöglicht wird. I n der Praxis kommen o f t beide Techniken a n einem Objekt vor. Türen in reinem Bajuni-Stil sind ebenso selten wie reine Kisutu-Arbeiten. Die Arbeiten Skandas und Bakari Kangas sind leicht zu unterscheiden. Die KisutuOrnamentik Skandas ist größer und tiefer (Abb. 8, 9), diejenige von Bakari Kanga seicht und manchmal so fein, daß sie an Siyu-Schnitzerei erinnert (s. S. 109). Die Tiefe von Skandas Schnitzereien beträgt bei Bajuni-Arbeiten etwa 1 cm, bei in KisutuTechnik beschnitzten Brettern 1—2 cm und bei Türpfosten bis zu 4 cm. Die Schnitzereien Bakari Kangas sind selten tiefer als 0,5 cm.
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Beispiel I: Herstellung eines Lampenständers I n Skandas Werkstätte konnte ich die Herstellung eines Lampenständers aufnehmen. Obwohl Lampenständer einfache Übungsarbeiten der Lehrlinge sind, kann man an ihrer Herstellung die beiden Schnitztechniken und die Anwendung aller Werkzeuge demonstrieren. Hersteller war Muhammad Ismaili, der seit etwa einem J a h r in Skandas Werkstätte arbeitet. Die Arbeitszeit betrug etwa fünf Stunden. Als Ausgangsmaterial verwendet Muhammad ein rohes Brett aus Mbambakofi-Holz. Zunächst ebnet er die beiden Flächen mit dem Hobel (randa), hierauf wird eine Pappvorlage (kalibu), die die gewünschte Umrißform des Lampenständers besitzt, auf das Brett gelegt und mit einem Bleistift nachgezeichnet. Nun wird das Brett in den Schraubstock (jiriwa) eingespannt, mit einer Säge (msumeno) werden die geraden Seitenflächen abgeschnitten, die Rundungen werden mit einem Stemmeisen erzeugt. Die Feinarbeit in den Ecken führt er mit Flachmeißel und Schlegel aus. Anschließend glättet er die Oberfläche der Rundungen mit Hilfe eines kleinen Rundhobels (randa ya duara). Zur Glättung der Seitenflächen dient abschließend noch eine Raspel (tungu). Die Bearbeitung des Brettes bis zur Herstellung der endgültigen Umrißformen dauert etwa eine Stunde. Die Motive, mit denen der Lampenständer beschnitzt werden soll — geometrische Formen und zwei einfache Kreisrosetten — sind auf der Vorlage gezeichnet. Der Handwerker ritzt zuerst mit dem Zirkel zwei Kreise für die Umrisse der Blumen; die Umrisse der geometrischen Ornamente zeichnet er mit Lineal und Bleistift. Hierauf legt er eine Papierrosette in den Kreis und zeichnet ihre Umrisse mit dem Bleistift nach. Ein kleiner Kreis, konzentrisch zum ersten, mit einem Radius von etwa 1,5 cm, bildet den Blütenstempel der Blume. Nun wird das Werkstück in den Schraubstock gespannt und man beginnt mit der Schnitzerei. Die geometrischen Ornamente werden in Bajuni-Technik ausgeführt. Mit dem VMeißel kerbt Muhammad 3 x 4 kurze Linien in die mit Bleistift vorgezeichneten beiden Rechtecke. Nun setzt er den Flachmeißel an einen der Bleistiftstriche und treibt ihn mit dem Schlegel in Richtung des Schnittpunktes ins Holz hinein, so daß eine schräge dreieckige Fläche entsteht. Der ganze, in der Beschreibung ziemlich kompliziert wirkende Vorgang wird für jedes Rechteck zwölfmal wiederholt. Die beiden Rosettenmotive werden in Kisutu-Technik geschnitzt. Zuerst kerbt Muhammad mit dem V-Meißel die beiden Kreise und die Umrisse der einzelnen, mit Bleistift vorgezeichneten Blütenblätter. Den „half-round"-Meißel verwendet er zum Schnitzen der leicht nach innen gewölbten Blütenblätter und zur Abrundung der Kanten des Blütenstempels. Mit dem Flachmeißel schrägt er schließlich den äußeren Kreis zur Rosette hinab. (Abb. 10, 11). Nun muß noch die Absteilfläche für die Lampe hergestellt und fixiert werden. Zuerst wird dafür ein Brett von der Größe 1 3 x 1 3 cm zugeschnitten, dessen vordere Kanten mit der Säge abgerundet werden. Nun zieht man auf der Oberseite des Brettes mit dem Zirkel einen Kreis, der mit dem V-Meißel gekerbt und mit dem Flachmeißel innen abgeschrägt wird. Zum Schluß wird das Brett von hinten mit zwei Nägeln an den Lampenständer genagelt. Anstatt die Bretter zusammenzunageln, kann man sie auch miteinander verzapfen. Die Zunge des kleineren steckt dann in einer rechteckigen Öffnung des größeren, beschnitzten Brettes. Die Abbildung zeigt die zur Herstellung des Lampenständers verwendeten Werkzeuge (Abb. 12): Säge, Winkel, Raspel, verschiedene Meißel, usw.
Dekortechniken an Holzobjekten
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Beispiel II: Herstellung von Holzschuhen Die Herstellung der bekannten Holzschuhe (Mitalawanda) konnte ich beim Tischler Shabibi in Faza aufnehmen. Shabibi stellt die Schuhe meist aus Mlilana-Holz, manchmal auch aus Msaji oder Msunumbari her. Das verwendete Werkzeug besteht aus Säge, Hobel, Feile, Stemmeisen, Drillbohrer, Schnitzmesser (kisu), Schleifstein (kinoo), Lineal und Bleistift. Zuerst sägt der Handwerker einen Holzblock auf die gewünschte Länge zu, hobelt seine Flächen glatt und glättet die Seiten mit der Feile. Nun wird in der Mitte der Sohle ein etwa sieben Zentimeter breites Stück herausgestemmt, so daß vorne und hinten ein mehrere Zentimeter hoher Absatz stehen bleibt. Hierauf wird im vorderen Teil des Schuhs mit Hilfe des Drillbohrers ein Loch gebohrt und darin ein geschnitzter Holznagel fixiert, der den Zehen Halt bieten soll. Die Oberfläche des Schuhs verziert Shabibi mit Hilfe eines scharfschneidigen Messers mit kurzer Klinge in Kerbschnittechnik. Eine besondere Schnitztechnik, die man weder Bajuni- noch Kisütu-Arbeiten zuordnen kann, wurde hauptsächlich in Siyu (Insel Pate) ausgeübt. Da die Schnitzerei an hartem Holz (z. B. Mwia) ausgeführt wurde, ist sie sehr flach und wirkt spitzenhaft zart. Die Ornamente sind nicht ins Holz geritzt, sondern bilden schmale Stege mit abgerundeten Kanten, die sich 1,5 bis 3 cm vom Untergrund abheben, der in Planschnittechnik oberflächenparallel herausgeschnitten ist. Damit sich die nur leicht erhabenen Ornamente oder Schriftbänder besser vom Untergrund abheben, ist dieser oft weiß bemalt. In sehr kleine Flächen oder Rillen wird Kalkstaub eingepreßt. Der älteste datierbare Türbalken (1200 A. H./1785 n. Chr.), der im Lamu-Distrikt gefunden wurde und sich jetzt im Lamu-Museum befindet, ist in dieser Technik beschnitzt. In Siyu-Häusern sind heute noch einige auf diese Weise beschnitzte Türen zu finden, die alle im 18. oder 19. Jh. hergestellt wurden (Abb. 13). Die beiden schönsten Exemplare befinden sich im Lamu-Museum. Außer den Türen fand ich auch verschiedene andere Objekte, die in der „Siyu-Technik" beschnitzt waren. Als Herstellungsort dafür nannten mir die Einheimischen ebenfalls Siyu. Als Beispiel möchte ich den Griff eines Chapati-Brettes sowie eine Nudelpresse, die mit sechsstrahligen Zirkelrosetten verziert ist, nennen, die sich beide im Wiener Völkerkundemuseum befinden. Heute wird diese Schnitztechnik gewöhnlich nicht mehr ausgeübt. Bakara Kanga stellte jedoch noch vor einigen Jahren große Holzteller her, die er in derselben Weise mit ähnlichen Ornamenten beschnitzte. Wegen des großen Arbeitsaufwandes führt er diese Technik heute nicht mehr aus. 2.
Drechslerarbeiten
Von zahlreichen noch um die Jahrhundertwende gedrechselten Objekten, zu denen Tabakbehälter, Dosen verschiedener Größe, Wasserpfeifen, Kappenständer, Betten, und Stuhlbeine zu zählen sind, werden heute nur wenige hergestellt. Der einzige Handwerker, der noch in der traditionellen Weise mit dem Drehstuhl drechselt, ist Shabibu Muhammad Saburi aus Siyu. Dieser hat sich auf die Herstellung von kleinen drei- oder vierbeinigen Hockern mit gedrechselten, lackierten Beinen, deren Sitzfläche mit Fell bespannt ist, spezialisiert. Die Herstellung dieser Hocker besitzt in Siyu eine lange Tradition.
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2.1. Rohmaterial und Werkzeuge Als Rohmaterial für die Beine und den Rahmen verwendet Shabibu Mbambazi, ein helles Holz, das er in der Umgebung von Siyu sammelt. Die Farben zum Lackieren der Beine bezieht er aus Mombasa; sie werden in pulverisierter Form aus Indien importiert. Das Kuhfell für die Sitzfläche kauft er in Siyu. E r spannt es in feuchtem Zustand mit Pflöcken über dem Boden auf und läßt es mehrere Stunden trocknen. Die Werkzeuge, die er benötigt, sind Säge, Drechsel, ein spitzer Nagel (msumari), Bogen (uta) und Drehstuhl (kezo). Dieses Gerät beschreibt I N G B A M S folgendermaßen: „The lathe consists merely of a frame of fixed size, which between two nails holds the piece of wood to be turned, on which a bow is fastened to turn it backwards and forwards. I t is chiefly used in Pemba to make the stools which are a speciality of the place." 1 5 Shabibus Drehstuhl (Abb. 14) besteht aus einem Holzrahmen, der direkt auf dem Boden liegt und auf einer Seite von zwei Holzstreben gestützt wird, so daß er leicht schräg steht. Zwei kurze Holzbalken sind mit zwei Latten derart verbunden, daß der eine sich längs der Latten verschieben läßt. Auf diese Weise läßt sich der Abstand der Länge des jeweiligen Werkstücks anpassen. An den beiden Balken sind spitze Eisenstifte befestigt, an die das Werkstück aufgesteckt wird. Mit Hilfe eines Bogens (uta) wird dieses in Drehung versetzt. Zur Herstellung eines Hockers wird ein etwa acht Zentimeter starker Ast zunächst in der gewünschten Länge abgeschnitten, hierauf mit der Dechsel entrindet. Nun wird das zylindrische Holzstück in den Drehstuhl eingespannt. Die Bogensehne wird um das Werkstück gewickelt und dieses dann an die beiden Eisenstifte gesteckt. Der Handwerker sitzt auf dem Boden und hält mit dem rechten Fuß den Drehstuhl fest. Mit der rechten Hand bewegt er den Bogen vor und zurück, mit der linken drückt er einen spitzen Nagel gegen das sich drehende Werkstück, wodurch Rillen und Kerben entstehen, die anschließend noch geglättet werden (Abb. 15). Nun beginnt Shabibu mit dem Lackieren der Beine. Die Farben, die er verwendet, sind Rot, Schwarz und ein helles Gelb. E r gibt das Farbpulver in Wasser und kocht es bis eine feste Masse von plastilinähnlicher Konsistenz entsteht. Zum Auftragen der Farbe verwendet er einen kleinen, vorne aufgerauhten Holzstab, an dessen schräg abgeschnittene Spitze die Farbe geklebt wird. Dadurch, daß er die Stabspitze fest gegen das sich im Drehstuhl drehende Werkstück preßt, entstehen farbige Streifen von verschiedener Breite. Sobald die Farbe trocken ist, werden die Beine in einem Holzrahmen verzapft. Daran befestigt Shabibu abschließend die Bespannung aus Kuhfell mit Hilfe von gitterartig angeordneten Lederstreifen. Die Herstellungsdauer für einen Hocker beträgt etwa einen Tag. 13
INGRAMS, 1 9 3 1 , p . 3 2 0 .
Dekortechniken an Holzobjekten
3.
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Einlegearbeiten
Einlegearbeiten, f ü r die besonders der Lamu-Archipel berühmt ist, wurden hauptsächlich im 18. und 19. J h . hergestellt; heute ü b t man diese Technik an der K ü s t e nicht mehr aus. 3.1. Ebenholzeinlagen Ebenholz ist in Form von kleinen Stiften mit rundem oder viereckigem Querschnitt in helleres Holz eingelegt. Der Querschnitt der Stifte liegt zwischen 1,5 und 7 m m . Besonders dicht besetzt mit solchen Ebenholzstiften sind Lehne, Armstützen und F u ß b r e t t der Mtawanda-Stühle, die nach den Angaben A L L E N S aus dem 1 7 . und 1 8 . J h . stammen. 1 6 Die Stifte sind teilweise unregelmäßig eingelegt, manchmal auch zu einfachen Ornamenten angeordnet. Auch andere Stühle, Kokosnußschaber und Nudelpressen, die zur Herstellung von Tambi, dünnen, süßen Nudeln aus Reis, Wasser und Zucker dienen, sind manchmal mit Ebenholzstiften verziert (Abb. 16, 17). 3.2. Elfenbein-, K n o c h e n - , H o r n - u n d P e r l m u t t e r e i n l a g e n Berühmt sind die Ebenholzstühle, die im 19. J h . in L a m u hergestellt wurden. Den oberen Teil und die Randleiste ihrer Lehnen zieren Knochen- oder Elfenbeineinlagen verschiedener Form. Die Ornamentik besteht hauptsächlich aus stilisierten Pflanzenmustern, jedoch treten auch zoomorphe Motive (Vögel und Vierbeiner) auf, was in der stark islamisch beeinflußten K u n s t der ostafrikanischen Küste sonst nur äußerst selten vorkommt (Abb. 18). Die Einlage von Knochenstiften neben solchen aus Ebenholz kommt an verschiedenen Stühlen, z. B. auch auf den Mtawanda-Stühlen, vor (Abb. 1 6 ; vgl. A L L E N O. J . , Abb. p. 13). Einlagen von geschnitzten Elfenbein- und Knochenstücken treten außerdem auch — allerdings sehr selten — an Nudelpressen auf. Das einzige mir bekannte Beispiel dafür befindet sich im Fort Jesus Museum (Abb. 17). Horneinlagen besitzt ein sehr kunstvoll aus Ebenholz gearbeitetes Zackenschloß aus Lamu, das im 18. oder 19. J h . hergestellt wurde und sich heute im Fort Jesus Museum befindet. Eine Abbildung davon findet sich bei K I R K M A N ( 1 9 6 4 : Abb. 4a). Perlmuttereinlage t r i t t an einem Proklamationshorn von P a t e auf, das ebenfalls im Besitz des Fort Jesus Museums ist. Es ist aus Büffelhorn und Holz gefertigt und mit Messingblech eingefaßt (Abb. 19). 3.3. Silber- u n d Goldeinlagen Das Gedicht Al-Inkishafi erwähnt Betten, die mit Einlegearbeiten aus Gold verziert sind. 17 Ein solches Bett hat sich bisher noch nicht gefunden, jedoch soll sich ein B e t t mit Silbereinlagenim Museum von Mogadishu befinden. 1 8 I m Lamu-Museum befinden sich zwei Mtawanda-Stühle, in deren Lehnen Silberstifte von rundem Querschnitt eingelegt sind. 16
A L L E N , O. J . , p . 1 2 .
" TAYLOR, 1 9 1 5 , S t r o p h e 4 2 .
I» ALLEN, O. J . , p . 12.
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Über die selten vorkommenden Einlegearbeiten von Gold in Elfenbein schreibt ALLEN : „One special sort of knife or dagger deserves mention — the type made in Siyu up to about 1800 or possibly a little later, now very rare, with a blade either adapted from a sword point or perhaps actually loeally smelted, and a handle of ivory inlaid with gold . . . There is also a poor-man's Version with a bone handle and a curved blade sharpened on the inside of the curve." 1 9 Eines dieser Objekte befindet sich im Besitz des Lamu-Museums.
x
Ein kurzer Hinweis auf derartige Messer findet sich bei JOEST: „Auch die Messerschmiede von Lamu sind wegen ihrer Kunstfertigkeit berühmt, mit der sie Elfenbeingriffe durch eingelegtes Gold verzieren." 20 STUHLMANN gibt eine ziemlich genaue Beschreibung dieser Messer: „Eigenartige kleine Messer (Abb. 70) wurden in Lamu gefertigt, ihre Klinge machte man aus einem alten Sägeblatt, der Griff ist aus Elfenbein und mit einigen Strichmustern und besonders aber mit runden Goldplättehen sowie einem Goldstreifen verziert, in den mit einem Stempel kleine Rosettenmuster eingeschlagen sind. Es gibt in Zanzibar und Lamu noch ganz wenige Leute, welche diese . . . herstellen." 21 Auf derselben Seite bringt er eine Abbildung der Griffe von drei LamuMessern, die mit eingelegten, gestanzten Goldplättchen verziert sind. Einer der Griffe besitzt außerdem auch rot ausgefüllte Ornamente. Auf den zweiten von ALLEN erwähnten Messertyp bezieht sich VOELTZKOW wahrscheinlich, wenn er über Siyu schreibt : „. . . anderer Art sind die gebogenen, in eine scharfe Spitze auslaufenden Messer mit Horngriff, auch häufig an einem schweren Silberring hängend . . ." 2 2 Vergleicht man die Quellen, so stimmen alle darin überein, daß der Herstellungsort dieser Messer der Lamu-Archipel war. Erwähnt werden die Orte Lamu und Siyu. Möglicherweise wurden in Lamu die Messer mit Elfenbeingriffen und in Siyu jene mit Knochen- oder Horngriffen gefertigt, wofür der Hinweis von VOELTZKOW sprechen würde. JOEST, STUHLMANN und VOELTZKOW schreiben, daß diese Geräte zur Zeit ihres Aufenthaltes in Ostafrika noch hergestellt wurden, wodurch sich die Vermutung ALLENS, sie wären nur bis etwa 1800 gefertigt worden, als falsch erweist. Als weiteren Herstellungsort nennt STUHLMANN Zanzibar. Eine ähnliche Verzierung wie die Messergriffe weisen der Elfenbeingriff eines sogenannten Bajun-Schwertes und ein Zackenschloß aus Ebenholz auf, die sich beide im Fort Jesus Museum befinden. Das Schloß stammt nach den Angaben des Museums aus Lamu und wurde im 18. oder 19. Jh. hergestellt. 23 Das Schwert ist mit rosettenförmig gestanzten Gold-, das Zackenschloß mit einer Reihe von Silberplättchen eingelegt. Die Abbildung eines besonders schönen Schwertes, das als „Fürstenschwert von L a m u " bezeichnet wird, findet sich bei H . BAUMANN.24 Objekte aus Metall oder Elfenbein, die mit gestanzten Gold- oder Silberplättchen eingelegt sind, werden in der Literatur oft als „Lamu-Arbeiten" bezeichnet. 25 19
A L L E N , O. J., p . 21. JOEST, 1885, p . 301.
21 STUHLMANN, 1910, p . 127f. 22 VOELTZKOW, 1923, p . 39. 2^ V g l . K I R K M A N , 1964, A b b . 4 b . I I . B A U M A N N , 1929, A b b . auf p . 67. 23
STUHLMANN, 1910, p p . 1 2 8 f f ; H . B A U M A N N , 1929, p . 66; etc.
Dekortechniken an Holzobjekten
4.
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Bemalen
Bemalen von Holz tritt an der ostafrikanischen Küste nur selten auf, und zwar an Deckenbalken, Siyu-Türen, Hockern und in der Bootsdekoration. Die traditionellen Farben der ostafrikanischen Küste sind Rot, Weiß und Schwarz. Heute werden — besonders bei der Bootsdekoration — neben diesen Farben auch verschiedene andere benutzt, und zwar besonders Grün und Blau. A L L E N schreibt dazu: „. . . it is a general rule in Lamu Swahili culture that, wherever one finds green and red in combination, it is a sign of 19th Century Indianising influence." 26 Meist verwendet man aus Indien oder Europa importierte Farben, die man in den Geschäften kaufen kann. Nur zum Färben von Leder und manchmal von Mattenstreifen nimmt man noch einheimische Farbstoffe. Weiße Farbe wird aus fein gemahlenen Korallen oder Muscheln gewonnen. In Vertiefungen wird sie als Pulver eingerieben, zum Bemalen von Flächen vermengt man den Korallenstaub mit Wasser. Schwarz erhält man durch Einlegen glühender Eisenstücke und rostiger Nägel in Tembo oder Siki.27 Nach einigen Tagen entsteht eine schwarze Farbe, die heute noch zum Färben von Leder für Schuhe und Messerscheiden dient. Will man ein besonders tiefes Schwarz erhalten, kann man die Früchte des Mwangati-Baumes beigeben. Ich bin allerdings nicht sicher, ob diese Farbe jemals zum Bemalen von Holz verwendet wurde, obwohl meine Informanten dies bejahten. Rot gewinnt man aus den Wurzeln einer Mangroveart (Mkoko = Rhiziphora mucronata). Der Bastteil der Wurzeln wird im Mörser unter Zusatz von Wasser zerstampft. Auch dieser Farbstoff wird heute noch zum Färben von Leder verwendet; früher diente er angeblich auch zum Bemalen von Holz. Zur Herstellung von Gelb verwendete man meist Granatäpfel (Mkomamanga = Punica granatum), die unter Beigabe von Wasser im Mörser zerstampft wurden, braune Farbe stellte man aus dem Bastteil des Mkasiri-Baumes (Phyllancus reticulatus) her, indem man diesen etwa eine halbe Stunde in Wasser aufweichte. Diese beiden Farben wurden zum Bemalen von Holz jedoch kaum verwendet, sondern dienten zum Färben von Stoffen, Leder und Fischleinen. .In der Literatur finden sich mehrfach Hinweise auf Grundstoffe zur Farbherstellung.28 Zum Großteil beziehen sie sich jedoch auf das Färben von Mattenstreifen, das hier nicht behandelt werden soll. V O E L T Z K O W erwähnt, daß im Zanzibar-Archipel roter Farbstoff aus den Früchten des Msambarau (Syzygium owariense) gewonnen wird: „. . . zur Reifezeit wird man oft von dem tiefroten Saft der herabfallenden Früchte, die beim Aufschlagen platzen, bespritzt, aus denen die Neger ein Extrakt herzustellen wissen, das besonders zum Färben roh geschnitzter Türen Verwendung findet. Ein anderer roter Farbstoff wird aus der breiartigen Hülle der Samen des Anatto, Bixa orellana, gewonnen und als rote Markierfarbe benutzt . . ." 29 Interessant 2« A L L E N , 1 9 7 4 , p . 3 6 . 27
Tembo heißt die aus dem obersten Trieb des Stammes der Kokospalme gewonnene, süßlich schmeckende, sirupartige Flüssigkeit, aus der einige Stunden nach der Gewinnung Alkohol (ngizi = tembo kali) und nach einigen Tagen Essig (siki) entsteht.
2S A N D B E E , 1 8 6 1 , p . 3 4 2 ; O . BAUMANN, 1 8 9 9 , p . 1 9 ; VOELTZKOW, 1 9 2 3 , p . 2 1 5 . 2» VOELTZKOW, 1 9 2 3 , p . 1 5 8 . 8
Jahrbuch des Museums für Völkerkunde Bd. XXXIII
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E V A WIESATTEB,
ist der Hinweis des Autors, daß der rote Farbstoff des Msambarau-Baumes zum Färben geschnitzter Türen verwendet wird. Die beschnitzten Türen sind grundsätzlich nicht bemalt. Die einzige Ausnahme bilden die sogenannten Siyu-Türen. Vom schwarzen Hintergrund dieser Türen heben sich Ornamente und Rahmen in dunkelroter Farbe ab. I n die Rillen und den vertieften Untergrund der Schnitzerei ist weißes Farbpulver gepreßt. Die Deckbalken (banaa) der Lamu-Häuser des 18. J h . sind ebenfalls in den drei traditionellen Farben bemalt. Sie sind aus Mwangati-Holz (Juniperus procera) gefertigt und haben einen rechteckigen Querschnitt. Etwa zwei Zentimeter von den Kanten entfernt besitzen sie je zwei Rillen, in die weißer Kalkstaub gerieben ist. Die Kanten der Balken sind schwarz, die Flächen dunkelrot bemalt. Heute, und sicher zum Teil schon im vorigen Jahrhundert, verwendet man nur mehr Mangrovebalken mit rundem Querschnitt (boriti oder kaza), die nicht bemalt sind. Die direkt in die Bootsplanken geschnitzten Ornamente der berühmten genähten Boote (Mtepe und Dau la Mtepe) waren immer bemalt. Der obere Teil ihrer Seitenwände war schwarz gefärbt, Bug und Heck zierten weiß, rot und schwarz bemalte Ornamente. Zu beiden Seiten von Bug und Heck der Mtepe waren Augenmotive (macho = Augen) angebracht (Abb. 20). Schon seit dem Beginn unseres Jahrhunderts werden keine genähten Boote mehr hergestellt oder verwendet. Ihr Aussehen ist jedoch aus Beschreibungen in der Literatur und aus naturgetreu nachgebauten Modellen, die sich im Lamu- und Fort Jesus Museum befinden, zu ersehen. Die Dekoration der heute noch in den Mangrovekanälen verwendeten Dau la Mwao ist ebenfalls in den Farben Rot, Weiß und Schwarz aufgemalt. Die heute in Lamu gewöhnlich verwendeten Segelboote sind Jahazi und Mashua. Beide besitzen zwei runde hölzerne Augen (macho), die zu beiden Seiten ihres Bugs befestigt sind. Diese repräsentieren heute meist eine Fahne mit oder ohne Inschrift oder Halbmond und Stern, während früher auch andere Motive, wie z. B. Pferde, gebräuchlich waren. Schräg über dem Augenmotiv ist ein rechteckiges Brett angebracht, das mit stilisierten Ranken und anderen, meist sehr realistischen Motiven beschnitzt ist. Häufig treten Fahnen, Vasen, Pfeil und Bogen sowie zoomorphe Motive (Vögel, Löwen) auf (Abb. 21, 22). Die Augen sind rot, weiß und schwarz bemalt, die rechteckigen Bretter dagegen grün, manchmal auch blau, mit Ornamenten in Weiß und Rot. Bei größeren Booten ist zu beiden Seiten des Hecks ein grün bemaltes Brett befestigt, das mit weißen stilisierten Ranken verziert ist.
5. Lackarbeiten Über Lackarbeiten erhielt ich verschiedene, einander widersprechende Informationen. Die einen Informanten versicherten mir, daß die Technik des Lackierens im LamuArchipel, und zwar in Siyu, ausgeführt worden war; andere wieder — interessanterweise hauptsächlich die Bewohner von Siyu — bestritten dies und sagten, alle Lackarbeiten seien aus Indien importiert worden. Ich vermute, daß einige der lackierten Gegenstände, besonders Betten und Wiegenständer, ausschließlich in Indien hergestellt wurden. Wahrscheinlich wurden sie von Indern, die sich an der ostafrikanischen Küste ansiedelten, mitgebracht und später
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manchmal an die einheimische Bevölkerung weiterverkauft. Vermutlich beherrschten einige der eingewanderten Inder die Techniken des Drechseins und Lackierens, die sie auch in ihrer neuen Heimat ausübten und einige Einheimische lehrten. Shabibu, der Drechsler, sagte mir, sein Vater hätte das Drechseln und Lackieren von in Siyu ansässigen Indern gelernt. Der Lack, den er verwendete, sei damals schon aus Indien importiert worden. Es steht für mich mit ziemlich großer Sicherheit fest, daß die Technik des Lackierens im Lamu-Archipel ausgeführt wurde. Nicht sicher ist dagegen, ob der Lack aus einem einheimischen Grundstoff gewonnen oder importiert wurde. Bakari Bwana Kanga gibt an, daß als Rohmaterial Lami (Pech, Teer) diente, das dann mit den üblichen Farbstoffen vermischt wurde. Andere behaupten, daß man Bienenwachs zu den Farben gab. Leider konnte ich keine näheren Hinweise darüber erhalten, da die Technik des Lackierens nicht mehr ausgeführt wird. Die heute von Shabibu verwendete lackartig aussehende Farbe hat damit nichts zu tun und sieht auch ganz anders aus. Lackiert wurden fast ausschließlich gedrechselte Gegenstände. Am häufigsten zu finden sind kleine Behälter mit Deckel (kikakasi), eine bestimmte Art von Betten (vitanda vya hindi) und Stangen runden Querschnitts, die unterhalb der Decke so befestigt waren, daß, wenn ein Vorhang an ihnen befestigt war, das dahinterstehende Bett abgeschirmt wurde. 30 Außerdem waren auch Wiegenständer, Hocker und Holzschuhe manchmal lackiert. Die auftretenden Farben sind Rostrot, Gelb, Grün, Schwarz, Braun und — sehr selten — ein helles Blau. Die streifenförmige Musterung der Objekte ergibt sich daraus, daß das Werkstück während des Lackierens im Drehstuhl eingespannt war. Die Streifen sind gewöhnlich unverziert, manchmal treten jedoch Punktreihen auf, die mit Hilfe eines spitzen Gegenstandes in die noch weiche Lackschicht gestochen wurden. 6. Beritzen und Einreiben pulverisierter
Substanzen
Beritzen mit einem Messer oder einem anderen spitzen Werkzeug tritt an der ostafrikanischen Küste relativ selten auf. Meist wird in die Rillen Kalkstaub eingerieben, damit das geritzte Ornament besser sichtbar wird. Diese Art des Dekors tritt an Kokosschalen und an Horn, aber auch an Holz auf. Bei H. B A U M A N N findet sich eine Abbildung von drei verzierten Schöpflöffeln aus Kokosschalen (kata). 31 Auf dem Markt von Mombasa werden Kokosnußschaber angeboten, die aus Tanzania kommen und in derselben Weise verziert sind. Ähnlich verziert sind einige Kokosnußschaber des Lamu-Museums, die aus dem 19. Jh. stammen (Abb. 23). Besonders häufig treten beim Beritzen die sogenannten „circledot signs" auf, exakte Kreise mit Mittelpunkten, die mit einem Zirkel eingraviert sind. Dieses Ornament, das auf Elfenbein, Knochen und Horn weit verbreitet ist, 32 tritt hier auch an hölzernen Kämmen und Kokosnußschabern auf. In diesem Zusammenhang wäre noch das Einreiben einer roten Substanz in geritzte oder gestanzte Ornamente zu nennen, wie es an den beiden Zackenschlössern des Fort SO V g l . GUILLAIN, 1 8 5 6 I I , 1, p . 1 3 8 . H . BAUMANN, 1 9 4 0 , p . 1 9 4 , A b b . 1 6 5 . 32 HIKSCHBERG, 1 9 6 6 , p . 1 1 7 ; FAGAN, 1 9 6 7 .
8*
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Jesus Museums und an einem der von S T U H L M A N N abgebildeten Messergriffe aus Elfenbein auftritt (vgl. oben). Das Einreiben von Kalkstaub in den vertieften Untergrund der Ornamente der Siyu-Türen sowie in die Rillen der Deckbalken wurde bereits im Zusammenhang mit der Bemalung erwähnt.
7. Brandritzen Das Verzieren von Holz durch eingebrannte Linien oder Flächen konnte ich im LamuArchipel nicht beobachten. Auf dem Markt von Mombasa wurden verschiedene Geräte, wie Löffel, Kokosnußschaber etc. angeboten, die mit sehr einfachen eingebrannten Ornamenten verziert waren. In Zanzibar und Pemba besaß die Brandritztechnik zu Beginn unseres Jahrhunderts künstlerische Qualitäten. I N G K A M S schreibt dazu: „The most interesting form of native art in Zanzibar is probably that to be found in the ,poker-work' on the large wooden spoons which are made in most villages . . . the best come from the village of Unguja Kuu, in Zanzibar Island." 33 Anschließend gibt der Autor eine Abbildung von drei Löffeln (mwiko) und eine genaue Beschreibung der einzelnen daran auftretenden Ornamente und ihrer symbolischen Bedeutung.
8. Dekor mittels
Metallpunzen
Das Dekorieren von Holz durch Einschlagen von Metallpunzen ist mir nur von sehr wenigen Objekten bekannt. In Faza konnte ich ein Chapati-Brett erwerben, das auf beiden Seiten kleine rosetten- oder sternförmige Motive aufweist, die in drei konzentrischen Kreisen angeordnet sind. Leider sind sie durch die starke Abnutzung des Gerätes kaum sichtbar. Daß die Rosetten mit Metallpunzen eingeschlagen worden sind, schließe ich daraus, daß sie völlig identisch aussehen. A L L E N vermutet, daß auch manche Siyu-Türen in dieser Technik verziert wurden: „. . . a door . . . where carving has almost been replaced by a mere texturing and at least some panels have not been touched with chisels at all but stamped with the same sort of stamp used in metalwork." 34
3. Beschlagen mit Messingblech und -nageln Die sogenannten Zanzibar-Truhen sind sehr häufig mit dünnem Messingblech und Messingnägeln, die in verschiedenen Mustern eingeschlagen sind, verziert. In Mombasa pflegen heute einige Handwerker alte unverzierte Truhen mit Messingblech und -nägeln zu beschlagen und an Touristen zu verkaufen. Eines der beiden Zackenschlösser des Fort Jesus Museums ist mit dünnem Silberblech und kleinen Nägeln aus Silber verziert '15; die Proklamationstrompete (mbiu), die sich in demselben Museum befindet, ist mit gestanztem Messingblech eingefaßt. 33 J N G R A M S , 1 9 3 1 , p . 34
A L L E N , O. J . , p . 9 .
397. 35
KIRKMAN, 1964, A b b .
4b.
Dekortechniken an Holzobjekten
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Die Flügel der beschnitzten Türen sind häufig mit zapfenförmigen oder spitzen Nägeln aus Holz, Eisen oder Messing in vier oder fünf Reihen verziert.36 In der Literatur findet man oft die Angabe, daß diese Nägel ursprünglich zur Abwehr von Elefanten dienten.
Quellen und
Literatur
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36
Vgl. STUHLMANN,
1910, p.
95.
Soziale Strukturen und ethnische Verhältnisse im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea Von
BARBARA TREIDE,
Leipzig
A. Mit seinem Werk „Ethnos und Ethnographie", das seit 1977 auch in deutscher Übersetzung vorliegt, hat J U L I A N V . B R O M L E J der Entwicklung der Ethnographie und insbesondere der Erforschung ethnischer Erscheinungen und Prozesse weitreichende Impulse gegeben. In ganz besonderem Maße gilt das für die klärende Behandlung des Gegenstandes und der Aufgaben der Ethnographie, der Stellung dieser Wissenschaft im Rahmen der gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen und für die Beantwortung wichtiger theoretischer und methodischer Fragen. Durch zahlreiche Publikationen sowjetischer Ethnographen wurde inzwischen die Anwendung der von B R O M L E J vorgeschlagenen Prinzipien der Untersuchung ethnischer Erscheinungen und Prozesse demonstriert, wurden ergänzende Aussagen zu theoretischen und methodischen Problemen getroffen. 1 Völlig zu Recht hat B R O M L E J ethnische Erscheinungen und Prozesse stets im Zusammenhang mit der Entwicklung ökonomischer, sozialer, politischer, ideologischer wie kultureller Erscheinungen behandelt, hat er die universalhistorische Entwicklung ethnischer Gemeinschaften eingeordnet in die universalhistorische Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformationen. Durch die Herausarbeitung der beiden Grundkategorien, des Ethnos im engeren Sinne (Ethnikos) und des ethnosozialen Organismus (ESO), gelang es ihm, diese Zusammenhänge auch methodisch zu erfassen. 2 Mit der Feststellung, daß im Laufe der geschichtlichen Entwicklung, in besonderem Maße seit der Herausbildung des Kapitalismus, die Merkmale eines Ethnos sich immer mehr in die Sphäre der geistigen Kultur verlagern, 3 hat B R O M L E J in allgemeiner Form auf das historische Wesen dieser Merkmale und damit auch der Kriterien zur Bestimmung ethnischer Erscheinungen hingewiesen. Aus seinen Ausführungen geht hervor, inwiefern sich Merkmale eines Ethnos im engeren Sinne (Ethnikos) von Merkmalen eines ethnosozialen Organismus unterscheiden. Während man z. B. kaum bestreiten kann, daß die Existenz eines ethnosozialen Organismus in nicht geringem Maße von ökonomischen und sozialen Erscheinungen und Prozessen geprägt wird, ist die Einwirkung ökonomischer Faktoren auf die Ausprägung und Entwicklung eines Ethnos im engeren Sinne (Ethnikos) offensichtlich komplizierter. Nach B R O M L E J ist der Zu1
2 3
Vgl. u. a. Sovremennye etniceskie processy v SSSR. Moskva, 1975 und 1977; zahlreiche Beiträge in Rasy i Narody und Sovetskaja Etnografija. B R O M L E J , 1977a, 2 . Kapitel; vgl. auch B R O M L E Y , 1977b. B R O M L E J , 1977a, S. 70, 153. Vgl. auch ÖISTOV, 1972; B R O M L E J , K O Z L O V , 1975.
119
Soziale Strukturen und ethnische Verhältnisse
sammenhang zwischen ökonomischen Faktoren und Ethnien im engeren Sinne (Ethnikoi) indirekter Natur. 4 Indem er verdeutlicht, daß spezifische Züge der materiellen Kultur keine geringe Rolle bei der Herausbildung und Entwicklung eines Ethnikos und bei seiner wissenschaftlichen Bestimmung spielen, 5 umreißt er den mit der Existenz der Ethnien vor allem verbundenen Bereich des wirtschaftlichen Lebens, unterstreicht er auch auf diese Weise den geschichtlichen Charakter der ethnischen Merkmale. Einige der von B R O M L E J genannten Merkmale von Ethnien im engeren Sinne (Ethnikoi) scheinen in sehr enger Beziehung zueinander zu stehen. Es ergibt sich daraus die Frage, ob und unter welchen Umständen man sie als unabhängige Kriterien zur Bestimmung der Existenz und des Charakters von Ethnien heranziehen darf. Darunter sind solche Kriterien zu verstehen wie Endogamie, ethnisches Selbstbewußtsein, Einheit der Abstammung und gemeinsames historisches Schicksal einer ethnischen Gemeinschaft. 6 Zwischen diesen Merkmalen und Kriterien bestehen sowohl funktionale als auch historische Beziehungen, sie demonstrieren die Verflechtung der objektiven und der subjektiven Seite der Existenz von Ethnien. B R O M L E J bezeichnet das ethnische Selbstbewußtsein als „spezifische Komponente des Alltagsbewußtseins". 7 Das gibt Gelegenheit, auf die Rolle und relative Bedeutung spontaner Bewußtseinselemente hinzuweisen, die von B R O M L E J wie folgt charakterisiert werden: „Eine der kennzeichnenden Besonderheiten des gemeinschaftlichen Alltagsbewußtseins des Ethnos besteht, wie auch im Alltagsbewußtsein eines jeden einzelnen Menschen, im Vorhandensein einer Bewußtseinsschicht, die sich unkontrolliert, spontan herausgebildet hat. Diese Schicht umfaßt die gesamte Sphäre erworbener, anerzogener und in einem bestimmten ethnischen Milieu eingespeicherter Ansichten, Gewohnheiten und Verhaltensnormen, die durch den Verstand nur schwach oder überhaupt nicht kontrolliert werden. Diese ,außerhalb der Erfahrung' des gesellschaftlichen Bewußtseins befindliche Schicht ist nicht nur den in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen urgemeinschaftlichen, sondern auch allen heutigen entwickelten Völkern eigen. Dabei ist natürlich der Fakt nicht zu ignorieren, daß sich jener Bewußtseinssektor, der unkontrolliert, spontan entsteht, um so größer ist, je niedriger die Entwicklung der Produktivkräfte, je niedriger das allgemeine Kulturniveau ausgebildet ist." 8 Die vorliegende Arbeit wird versuchen, zu der hier aufgeworfenen Frage des Verhältnisses von spontanen und reflektierten Bewußtseinselementen einige Hinweise zu geben. Es liegt in der Natur der Sache, daß bei einer Behandlung des Verhältnisses von sozialen Organisationsformen und ethnischen Erscheinungen die Herausbildung und das Wirken von „Traditionen", „Sitten" und „Bräuchen", „Normen" und „Gewohnheiten" nicht umgangen werden können. B B R O M L E J hat wesentliche Aussagen auch zum methodischen Umgang mit diesen Kategorien getroffen. 9 Allerdings würde ein systematisches Eingehen auf die Wirksamkeit von Traditionen, Bräuchen usw. die Zielstellung dieser Studie bei weitem übersteigen. 10 1977a, S. 4 3 / 4 4 . Siehe auch K O Z L O V , 1970. Zur Diskussion über die Rolle des „Ökonomischen" in der Urgesellschaft vgl. SEMENOV, 1976b und GUR'EV, 1977.
4
BROMLEJ,
5
BROMLEJ, 1 9 7 7 a , S. 31, 47, 60. V g l . a u c h ÖESNOV, 1972.
6 BROMLEJ, 1977a, S. 89/90, 95/96, 106. I BROMLEJ, 1 9 7 7 a , S. 89. 8 BROMLEJ, 1 9 7 7 a , S. 88/89. 10
9 BROMLEJ, 1 9 7 7 a , S. 6 3 f f .
Wesentliche Anregungen zur genannten Thematik vermitteln KOV, 1 9 7 7 ; R Ö S I N G , 1 9 7 6 ; W O L L G A S T ,
1978.
MARKOV, 1 9 7 6
und
MAR-
120
BARBARA T R E I D E
Verhältnismäßig ausführlich ist B R O M L E J in seinem eingangs erwähnten Werk auf das Verhältnis von Ethnos im engeren Sinne und ethnosozialem Organismus in der ersten sozialökonomischen Formation, der Urgesellschaft, eingegangen. 11 Wenn auch die marxistisch-leninistische Ethnographie ihren Gegenstand nie auf diese Formation begrenzt hat, so ist es andererseits eine Tatsache, daß die Erforschung der Urgesellschaft und des Übergangs zur Klassengesellschaft zu ihren Forschungsgebieten mit langer und erfolgreicher Tradition gehört. Der Stamm ist nach B R O M L E J das ethnische Hauptglied der Urgesellschaft. Der Stamm ist sowohl Ethnikos als auch sozialer Organismus und ethnosozialer Organismus. 12 Einschränkend bemerkt B R O M L E J allerdings, daß das nur für den Stamm der entwickelten Urgesellschaft gilt, für den Stamm als sozial-potestatische Gemeinschaft. 1 3 Der Stamm der frühen Urgesellschaft ist nach B E O M L E J wohl ein Ethnikos, aber kein ethnosozialer Organismus. 14 Somit bleibt offen, ob es in der frühen Urgesellschaft überhaupt einen ethnosozialen Organismus gegeben hat. Die Gens war nach B R O M L E J eine Grundeinheit, eine Zelle der gesellschaftlichen Organisation, aber kein Organismus, und konnte demzufolge auch nicht als ethnosozialer Organismus in Erscheinung treten. 1 5 Die Frage ist aber berechtigt, ob es auch in frühen Phasen der Entwicklung der Urgesellschaft nicht nur soziale Grundeinheiten bzw. soziale Zellen, sondern auch soziale Organismen gegeben hat. Es ist offensichtlich, daß dieses Problem, das hier in formal-logischer Form angesprochen wurde, noch einer Lösung bedarf. Eine weitere, sehr wesentliche Frage besteht darin, ob mit B R O M L E J S Aussagen zur frühen Urgesellschaft (er bezieht sich hier auf gesellschaftliche Verhältnisse der australischen Grundbevölkerung) und zur entwickelten Urgesellschaft (hier erwähnt er die von E N G E L S gegebene Charakteristik der Stämme der indianischen Bevölkerung Nordamerikas, der alten Griechen, Römer und Germanen) 16 die Entwicklung dieser Formation in ihrer ganzen Tiefe, d. h. auch die Perioden oder die Periode der vollausgebildeten Gentilgesellschaft ohne (oder erst in Ansätzen bestehende) übergreifende territorial-politische Organisationsformen und ohne .ein stärkeres Hervortreten von Abhängigkeits- und Ausbeutungsformen erfaßt wird. B R O M L E J erwähnt Versuche einer Herausarbeitung von zwei unterschiedlichen Typen der Stammesstruktur durch bürgerliche Autoren: des segmentierten LineageSystems und einer hierarchischen Organisation auf der Grundlage einer genealogischen Altersordnung. 16a Beide Typen können nach B R O M L E J nicht nur aufeinanderfolgende Stufen, sondern auch parallele Entwicklungswege der Stammesstrukturen darstellen. Diese Aussagen werden ohne Zweifel weitere Arbeiten zu dieser Thematik anregen. 11
BROMLEJ, 1977a, S. 116-125. « BROMLEJ, 1977a, S. 17, 117-119, 153. 13 BROMLEJ, 1 9 7 7 a , S. 118. 14 BROMLEJ, 1 9 7 7 a , S. 119, 121.
« BROMLEJ, 1977a, S. 50, 119/120. 16 B R O M L E J , 1977a, S. 118. Diese von E N G E L S gegebene Charakteristik der Stämme basiert auf Materialien, die sich auf die Periode unmittelbar vor der Entstehung der Klassen bei den genannten Bevölkerungen beziehen. lca Auf die Tatsache, daß bürgerliche Sozialanthropologen schrittweise das Konzept der „segmentaren" Gesellschaften (durch die Bildung solcher Kategorien wie „segmentar politisch", „segmentär-pyramidal" oder „segmentär-hierarchisch") modifizieren mußten, hat KUBBEL' aufmerksam gemacht (KUBBEL', 1976).
Soziale Strukturen und ethnische Verhältnisse
121
Auch die vorliegende Untersuchung berührt diesen Fragenkomplex. Die Wichtigkeit einer voranschreitenden Klärung der allgemeinen Entwicklung der Urgesellschaftsordnung und dabei auftretender Entwicklungswege wird durch die folgende Bemerkung B B O M L E J S unterstrichen: „Offensichtlich begünstigt der zweite Typ, der zu einer stärkeren Machtzentralisierung führt, gleichzeitig. die Intensivierung ethnointegrierender Prozesse und die größere ethnische Konsolidiertheit der Stammesgesellschaft." " In den jüngeren Veröffentlichungen sowjetischer Ethnographen und Historiker wurde verstärkt der Frage nachgegangen, wie bei der Untersuchung der Entwicklung und Struktur sozialökonomischer Formationen neben der Entwicklung und der Verflechtung unterschiedlicher Produktionsweisen und sozialökonomischer Strukturund Entwicklungsformen (uklady) auch die Entwicklung und Stellung sozialer und wirtschaftlicher Organismen wie sozialer und wirtschaftlicher Zellen methodisch zu erfassen sind. 18 Es zeigt sich immer deutlicher, daß die Herausarbeitung dieser Kategorien und die Kennzeichnung bestimmter Existenzformen der gesellschaftlichen Realität durch diese Kategorien wesentliche Bedeutung auch für die Analyse ethnischer Prozesse und die Charakterisierung der historischen Typen ethnischer Gemeinschaften besitzen. 19 Das gilt nicht nur für die Erfassung und Darstellung des Wesens der jeweiligen ethnischen Hauptglieder, sondern vor allem auch der ethnischen MikroEinheiten, wie sie von B R O M L E J genannt werden. 20 Indem er von „mikro-ethnosozialen Einheiten", „ethnosozialen Mikro-Einheiten" oder „sozial-ethnischen Mikroeinheiten" spricht, 21 weist B R O M L E J selber auf die sehr enge Bindung ethnischer Mikro-Einheiten an bestimmte soziale Zellen hin. Nach seiner Auffassung ist bei „dislokaler" Ehe die Gens (oder Gentilgemeinde) die ethnosoziale Mikroeinheit der Urgesellschaft, bei „unilokalen" Eheformen die Lokalgruppe der Gens. Im Auflösungsstadium der Urgesellschaft tritt eine archaische Form der Großfamilie an die Stelle dieser Mikroeinheiten. Die genannten Mikroeinheiten verfügen über eine innere — nach B R O M L E J in erster Linie kulturelle — Einheit, über Stabilität und Selbstbewußtsein. 22 Die vorliegende Studie stellt sich nicht zuletzt die Aufgabe, methodische Anregungen für die konkrete Untersuchung „mikroethnischer,, oder "mikro-ethnosozialer" Einheiten im Rahmen der Entwicklung der Urgesellschaftsordnung zu vermitteln. Dabei wird auch auf die — bereits oben aufgeworfene — Frage der Existenz von ethnosozialen Organismen in der Urgesellschaft eingegangen werden. Ebenso wie die taxonomische Ebene der mikroethnischen hat B R O M L E J auch die Ebene der makroethnischen Einheiten der Urgesellschaftsordnung und des Übergangs zur Klassengesellschaft angesprochen. Im Vordergrund stehen dabei ethnische 17 18
19
BROMLEJ, 1977a, S. 119, Anmerkung 17. SEMENOV, 1976a; vgl. auch BARG, 1973; Problemy social'no-ekonomiceskich formacij. Istoriko-tipologiöeskie issledovanija. Moskva 1975. . Die Prägung des Begriffs „ethnosozialer Organismus" wurde ohne Zweifel durch Ju. SEMENOVS Verwendung der Kategorie „sozialer Organismus" beeinflußt (SEMENOV, 1966); v g l . BROMLEJ, 1 9 7 7 a ,
S . 1 6 - 1 8 , 3 9 ; BROMLEJ, 1 9 7 6 , p p . 1 4 / 1 5 ; v g l . a u c h TRELDE, D . ,
1977. 20 BROMLEJ, 1 9 7 7 a , S . 1 1 6 , 1 2 6 . 2 1 BROMLEJ, 1 9 7 7 a , S . 1 2 6 . 22 BROMLEJ, 1 9 7 7 a , S . 1 2 6 .
122
BARBARA TREIDE
und ethnosoziale (oder sozial-ethnische) Einheiten der späten Phasen der Urgesellschaft. 2 3 Sicher betreffen seine Aussagen vor allem sozial-potestatische Organisationsformen, doch ist die Bemerkung von B R U K und Ö E B O K S A R O V nicht ganz exakt, daß er makroethnische Einheiten fast gar nicht behandelt habe. 24 Diese Autoren schlagen vor, sogenannte metaethnische Gemeinschaften eines „autonomen" Typs (ethnolinguistische, ethnokulturelle, ethnokonfessionelle und ethnoanthropologische/ethnorassische Gemeinschaften) von metaethnischen Gemeinschaften eines anderen Typs, der jeweils unmittelbar an die Abfolge sozialökonomischer Formationen gebunden ist (ethnopotestatische, ethnopolitische und nationalpolitische Gemeinschaften), zu unterscheiden. 25 Neben der Behandlung ethnosozialer Makroeinheiten ist B R O M L E J auch auf „eigentlich ethnische" (d. h. vornehmlich durch eine bestimmte kulturelle Gemeinsamkeit verbundene) Makroeinheiten eingegangen. Als ethnische Makroeinheiten der „frühen Entwicklungsstufen der Urgesellschaftsordnung" nennt er mehrere Stämme umfassende kulturelle Gemeinschaften, die sich zunächst ihrer Einheit nicht bewußt waren und folglich nur ethnographische 20 oder wirtschaftlich-kulturelle Gebilde darstellten, doch dahin tendierten, ein gewisses Bewußtsein ihrer Einheit zu erlangen. 27 Ethnische Makroeinheiten der „Endphase der Urgemeinschaftsformation" bezeichnet B R O M L E J als „Stammesfamilien", die in der Regel auch ethnolinguistische Gemeinschaften waren. Die sozial-ethnischen (oder ethnosozialen) Makroeinheiten dieser Periode, die er mit der „entwickelten Urgesellschaft" in diesem Zusammenhang gleichsetzt, waren die „Stammesbünde". Setzte sich ein Stammesbund aus Stämmen unterschiedlicher Stammesfamilien zusammen, charakterisiert sie B R O M L E J als „Föderation mehrerer ethnosozialer Gemeinschaften". 28 Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß die Unterscheidung der von B R U K und Ö E B O K S A R O V herausgearbeiteten beiden Typen von „metaethnischen" Gemeinschaften eine Berechtigung hat. Zugleich steht ebenso außer Frage, daß beide Typen nicht isoliert und beziehungslos nebeneinander bestehen. Auch auf dieses Problem wird im folgenden eingegangen werden. Freilich kann das nur kursorisch geschehen, da die Behandlung ethnokultureller oder ethnolinguistischer Erscheinungen weitgehend außerhalb der eigentlichen Untersuchung bleiben muß. Die Materialbasis für ihre Behandlung unterscheidet sich doch wesentlich von der Quellengrundlage für die Analyse des Zusammenhangs von sozialökonomischen Erscheinungen und Prozessen auf der einen und ethnischen bzw. ethnosozialen Erscheinungen und Prozessen auf der anderen Seite. Für die Behandlung der aufgeworfenen Fragestellungen wurden ethnographische Materialien über die Bevölkerung voraustronesischer Sprachzugehörigkeit des zentralen Hochlands von Papua-Neuguinea gewählt. Dafür gibt es mehrere Gründe. Die Bevölkerung dieses Hochlandgebietes wurde verhältnismäßig spät in unterschied23
BROMLEJ,
1977a, S. 116, 122, 124/125.
24 B R U K , ÖEBOKSAROV, 1 9 7 6 , S . 1 7 . 25
B R U K , ÖEBOKSAROV, 1 9 7 6 , S . 1 7 .
26
Das von B R O M L E J zugrunde gelegte Kriterium der Abgrenzung zwischen ethnischen und ethnographischen Gemeinschaften ist das ethnische Selbstbewußtsein (BROMLEJ, 1977 a, S. 117).
27 B R O M L E J , 1 9 7 7 a , S . 1 2 3 . 28 B R O M L E J ,
1977a,
S.
123-125.
Soziale S t r u k t u r e n und ethnische Verhältnisse
123
liehe F o r m e n kolonialer Abhängigkeit einbezogen. 2 9 Die ethnischen Prozesse verliefen hier — im Gegensatz zu vielen anderen Gebieten Melanesiens — bis zur Mitte dieses Jahrhunderts im wesentlichen als Resultat der Wirksamkeit innerer Faktoren. Eine Analyse der Prozesse wird durch diesen U m s t a n d in gewissem Sinne erleichtert. Andererseits wurde die Einbeziehung der Hochlandgebiete in die australische koloniale Administration u n d Wirtschaft, wurde das Eindringen v o n E l e m e n t e n der kapitalistischen Produktionsweise verhältnismäßig umfassend dokumentiert. 3 0 Ganz allgemein ist die ethnographische (wie auch die geographisch-ökonomische und historische) Erfassung der Bevölkerung des zentralen Hochlands v o n Papua-Neuguinea vergleichsweise außerordentlich gründlich erfolgt. 3 * D a s entsprach den wachsenden Bedürfnissen der kolonialen Administration nach detaillierter Information, das entsprach auch den entwickelten Methoden der Feldforschung, die hier seit den fünfziger Jahren angewendet wurden. 3 2 Besonders hervorzuheben ist, daß auch zahl2S W A T S O N ,
1964;
FISK,
1966;
BISKUP, JINKS,
NELSON,
1970.
CATHERINE
und
RONALD
gehören zu den Autoren, die zu relativ f r ü h e m Z e i t p u n k t — in der ersten H ä l f t e der fünfziger J a h r e — über Veränderungen im Leben der Hochlandbevölkerung von Papua-Neuguinea u n d über ihre Reaktionen auf die beginnende stärkere Einbeziehung in die koloniale W i r t s c h a f t und Verwaltung geschrieben haben. Siehe dazu B E R N D T , C . , 1 9 5 3 BERNDT
und 30
1957; BERNDT, R.,
1952-53 und
1954.
W e n n gesagt wird, d a ß bis zur Mitte dieses J a h r h u n d e r t s die ethnischen Prozesse im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea im wesentlichen als R e s u l t a t der Wirksamkeit innerer F a k t o r e n verliefen, so m u ß ergänzend und präzisierend hinzugefügt werden, d a ß bis etwa 1950 eine direkte und unmittelbare E i n f l u ß n a h m e der kolonialen Administration (bis auf wenige isolierte P u n k t e ) noch nicht erfolgte, die indirekte Beeinflussung der Hochlandbevölkerung durch das Eindringen einzelner materieller Gegenstände jedoch schon bald nach 1930 ihren Anfang n a h m . Das Beispiel der Siane soll — f ü r viele andere stehend — diese Situation verdeutlichen: „ F r o m 1933 until 1945 no E u r o p e a n s crossed Siane territory, . . . and t h e Siane natives had no direct contact with Europeans, their governmental methods, or their teaching. Y e t during this period steel axes found their way into Siane territory along the channels of indigenous trade and exchange; their use in t h e n a t i v e system of production became universal, and, directly or indirectly, all other aspects of n a t i v e life were affected b y t h e m . " ( S A L I S B U R Y , 1962, p. 1). — Umfangreiches Material über die Einbeziehung der Hochlandgebiete in die australische koloniale Administration u n d W i r t s c h a f t geben neben anderen Autoren B R O O K F I E L D , 1973a; B R O O K F I E L D , 1973b; HOWLETT,
1973; BROOKFIELD,
1972; BISKUP, JINKS, NELSON,
1 9 7 0 ; SALISBURY,
1968;
1964a; L A W R E N C E , 1967; B R O W N , 1966; B R O W N , 1963. — Die relativ umfassenden D o k u m e n t a t i o n e n der Einbeziehung der Hochlandbevölkerung Papua-Neuguineas u n d vieler anderer ozeanischer Völker in die koloniale Administration u n d W i r t s c h a f t und des Eindringens von E l e m e n t e n der kapitalistischen Produktionsweise liefern ein gutes F u n d a m e n t für theoretische Arbeiten über die Auswirkungen dieser Prozesse auf die traditionellen gesellschaftlichen S t r u k t u r e n u n d zur weiteren ökonomischen und sozialen E n t w i c k l u n g dieser Völker. A N D R E E V u n d T U M A R K I N h a b e n in einem solchen ganz Ozeanien berührenden Aufsatz („Die traditionellen Gemeindestrukturen und Probleme der sozialökonomischen E n t w i c k l u n g der Völker Ozeaniens") sien vor allem den zahlreich e n t s t a n d e n e n landwirtschaftlichen Genossenschaften, ihrer Herausbildung u n d ihrer historischen Perspektive zugewendet ( A N D R E E V , T U M A R K I N , 1976). SALISBURY,
31 V g l . H A Y S , 32
1976.
Als „klassisches" Beispiel f ü r die B e a n t w o r t u n g neuer Aufgaben- u n d Fragestellungen k a n n ohne Zweifel S A L I S B U R Y S „ F r o m Stone to Steel" gelten (1962).
124
BARBARA
TREIDE
reiche Daten gesammelt wurden, die direkt oder indirekt für die Analyse der wirtschaftlichen Verhältnisse herangezogen werden können. In nicht wenigen Arbeiten hat man dem Verhältnis von menschlicher Existenz und Tätigkeit zur natürlichen Umwelt und ihrer Veränderung spezielle Aufmerksamkeit gewidmet. 33 Nicht zuletzt wurden auch über die Auswertung demographischer Angaben Relationen zwischen Wirtschaftsführung und sozialer Organisation sichtbar gemacht. u In der Interpretation gewonnener Daten kam es zur kritischen Auseinandersetzung mit einseitigen Auffassungen vom Wesen der gesellschaftlichen Organisation vor der Herausbildung sozialer Klassen. Es entwickelte sich eine langjährige heftige Diskussion in den Reihen der bürgerlichen Sozialanthropologie, die zum Vergleich auch Material aus dem subsaharischen Afrika einbezog. 35 Ohne Frage hat diese Diskussion, da sie mit der Aufnahme neuer Fakten parallel verlief, ihrerseits die Gewinnung von Daten beeinflußt. Es muß schließlich hervorgehoben werden, daß in nicht wenigen Fällen Aussagen der untersuchten Bevölkerungen direkt in die Monographien und Aufsätze über das zentrale Hochland von Papua-Neuguinea eingegangen sind, so daß auf diese Weise Vorstellungen, Werturteile, Begriffsbildungen unmittelbar, nicht nur in einer interpretierten Form, aufgezeichnet wurden. 36 Diese Form der Erfassung von Bewußtseinsinhalten der einheimischen Bevölkerungen ist besonders bedeutungsvoll für die Analyse ethnischer Erscheinungen und Prozesse. Bekanntlich haben viele Bevölkerungsgruppen Melanesiens und insbesondere Papua-Neuguineas in vorkolonialer Zeit und zum Teil auch noch während der Kolonialzeit Entwicklungsetappen der Urgesellschaft, vor allem Phasen der entwickelten Gentilorganisation, repräsentiert. I. S E L L N O W hat in ihrer Periodisierung der Urgesellschaft die Papua-Bevölkerung Neuguineas zur späten Periode der Urgesellschaft und zur Blütezeit der Gentilgesellschaft gerechnet. 37 In diesem Zusammenhang hat sie allerdings die Hochlandbevölkerung mit ganz geringfügiger Ausnahme nicht behandelt. Die weitaus meisten Monographien über das Hochland sind erst nach 1961 erschienen. Nach N. A. B U T I N O V S Arbeit „Die Papua von Neuguinea" ( 1 9 6 8 ) war auf „Neuguinea . . . die Gentilgemeinde am weitesten verbreitet, die für die Blüteperiode der Urgemeinschaftsordnung charakteristisch ist." 3 8 Zu dieser Periode zählt er nicht zuletzt eine Reihe von Hochlandbevölkerungen, so die Wabaga, Chimbu, Mendi, Huli, Dani, Kapauku u. a., während andere Bevölkerungen Melanesiens nach seiner Auffassung bereits in die Anfangsphase der Auflösung der Urgemeinschaftsordnung eingetreten waren (wie z. B. die Purari-Bevölkerung, die Orokaiva, die Mekeo, die Bewohner der Manam- und Wogeo-Inseln). 39 33
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1967;
WATSON, 1 9 6 7 ; MEGGITT, 1 9 6 9 ; STRATHERN, A . , 1 9 7 2 u . a. 36
E i n t y p i s c h e s Beispiel g e b e n drei A r b e i t e n über die H a g e n b e r g - B e v ö l k e r u n g : TISCHNER, 1 9 4 3 - 1 9 4 8 ;
STRAUSS, TISCHNER, 1 9 6 2 ; STRATHERN, A . ,
" S E L L N O W , I., 1961, T a b e l l e S. 33
BUTINOV,
1 9 6 8 , S . 7.
112/113.
39 B U T I N O V , 1 9 6 8 , S . 8 .
1972.
VICEDOM,
Soziale S t r u k t u r e n und ethnische Verhältnisse
125
Eine solche generelle Beurteilung des gesellschaftlichen Entwicklungsstandes der Bevölkerung des zentralen Hochlands von Papua-Neuguinea in vor- und frühkolonialer Zeit ist sicher deshalb wichtig, weil — wie oben dargelegt wurde — B E O M L E J sich bei seiner Charakterisierung ethnischer und ethnosozialer Einheiten konkret auf australische Stämme einerseits und auf die von E N G E L S gegebene Charakteristik der indianischen Stämme Nordamerikas, der alten Griechen, Börner und Germanen in der Periode unmittelbar vor der Entstehung der Klassen andererseits bezogen hat. Gewiß sind auch die Irokesen einer Periode der entwickelten Gentilorganisation zuzurechnen, doch gab es bei ihnen eine deutlich ausgeprägte potestatische Stammesorganisation. Diese Organisationsform ist nach Aussage zahlreicher Autoren für die Bevölkerung des zentralen Hochlands von Papua-Neuguinea nicht typisch gewesen. Nach I. S E L L N O W war der „Stamm" bei den Papua nur eine ethnische, keine politische Einheit. 40 Allerdings gilt auch hier die Feststellung, daß sie dieser Einschätzung fast kein Material über die zentralen Hochlandgebiete Papua-Neuguineas zugrunde gelegt hat. J . G O L S O N konstatierte erst 1976 in Verallgemeinerung für ganz Melanesien: „This relationship of equality between communities has its counterpart in the character of relationships within communities: the general absence of chieftainship, of hierarchical organisation, of authority guaranteed by right of birth. In their place there is the institution of the big man, whose power and prestige depend on his ability to win and retain the support of his fellow clansmen." 4 1 Die im folgenden vorgenommene Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse ausgewählter Bevölkerungen des zentralen Hochlands von Papua-Neuguinea wird auch die Richtigkeit dieser Aussagen zu prüfen haben. Daß sie in einem wesentlichen Zusammenhang mit ethnischen Prozessen der Gegenwart stehen, hat G O L S O N selber zum Ausdruck gebracht: „Along with the lack of large tribes, the lack of strong, hereditary chiefs may prove a help rather than a hindrance to the development of a nation." 4 2 Es scheint, daß B U T I N O V nicht nur die Existenz von „Stämmen" als potestatische Einheiten bei den papuasprachigen Bevölkerungen ausgeschlossen hat, sondern auch die Möglichkeit anzweifelt, „Stämme" als ethnokulturelle oder ethnolinguistische Einheiten verläßlich nachweisen zu können. Er schreibt: „Was ist über solche Stämme zu sagen (— deren Wohngebiete nur in groben Umrissen bekannt waren — B. T.)? Meiner Meinung nach sind die Angaben nicht so verläßlich, um die Siedlungsgrenzen dieser Stämme auf einer ethnischen Karte einzeichnen zu können. Nicht ausgeschlossen ist die Möglichkeit, daß die Grenzen der Stammesterritorien andere wären, wenn die Ethnographen in anderen Dörfern gelebt oder sich auf anderen Routen bewegt hätten. Dem kann man hinzufügen, daß die Papua in der Regel keine StammesSelbstbezeichnungen besitzen. Namen, die auf den ethnischen Karten Neuguineas erscheinen, wurden von den Europäern gegeben. Das sind Namen von Dörfern, Flüssen, Bergen, Buchten, kleinen küstennahen Inseln, Verwaltungszentren, MissionsSELLNOW, I . , 1 9 6 1 , S . 1 8 5 / 1 8 6 . 41
4
GOLSON, 1 9 7 6 , o . S .
- GOLSON, 1976, o. S. Natürlich werden die gegenwärtigen ethnischen Prozesse in P a p u a Neuguinea nicht nur und sicher nicht einmal in erster Linie von ü b e r k o m m e n e n potestatischen oder politischen Organisationsformen bestimmt. Wie sich der konkrete Zusamm e n h a n g zwischen traditionellen F o r m e n der potestatischen Organisation u n d ökonomischen wie sozialen Entwicklungen u n t e r direkten politischen Maßnahmen der Kolonialverwaltung gestaltete, h a t z. B. REAY f ü r die K u n i a angedeutet (REAY, 1964).
126
BARBABA TREIDE
Stationen, denen man ethnische Bedeutung verliehen hat. Bei der Schaffung der papuanischen ethnischen Terminologie herrscht vollkommene Willkür." 4 3 Die folgenden Ausführungen werden auch auf diese Auffassungen B U T I N O V S eingehen. B. Monographien über die Mbowamb ( V I C E D O M und T I S C H N E B ) , die Kuma ( R E A Y ) , Chimbu ( B R O W N und B B O O K F I E L D ) und Negwa ( F I S C H E B ) bilden die Grundlage der nachstehenden Analyse. Die jeweils geschlossene Behandlung dieser Bevölkerungsgruppen wahrt — im Unterschied etwa zu einer übergreifenden Darstellung nach Strukturelementen — den Zusammenhang ihres gesellschaftlichen Aufbaus. Die im wesentlichen übereinstimmende Gliederung der vier Beispiele macht sie in den Hauptpunkten miteinander vergleichbar. Die gewählten Beispiele verdeutlichen eine weitgehende Einheitlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea, zeigen aber auch vorhandene Unterschiede. 1. Mbowamb Die dreibändige Monographie über die Mbowamb im westlichen zentralen Hochland von Papua-Neuguinea ist einer Bevölkerungseinheit gewidmet, die neun unterschiedlich große und unterschiedlich einflußreiche „Stämme" umfaßte. Der Missionar G E O E G F . V I C E D O M sammelte das Material während eines mehrjährigen Aufenthalts in diesem Gebiet, vor allem bei den beiden benachbarten Stämmen Ndika und Jamka. Er betont, daß ihm jedoch alle neun Stämme gut bekannt seien und daß er kulturelle Unterschiede zwischen ihnen nicht feststellen konnte. Seine genaue Kenntnis der Verhältnisse fand ihren Niederschlag in der Verbindung von eigener Beobachtung und umfangreichen Befragungsergebnissen. Aussagen der Mbowamb sind immer wieder wörtlich in die Beschreibung eingeflochten. Ein weiterer Vorzug der Monographie von V I C E D O M und T I S C H N E E besteht darin, daß die Mbowamb — entsprechend den ethnographischen Kenntnissen der dreißiger Jahre — von V I C E D O M in einen weiteren Kreis von Hochlandbewohnern gestellt werden, daß er, offensichtlich soweit ihm bekannt, ihren geographischen Horizont und damit ihre Kenntnis umwohnender Bevölkerungen anzugeben sucht. „Mbowamb" ist nach V I C E D O M die Selbstbezeichnung von neun „Stämmen", der Ndika, Jamka, Kumndi, Remndi, Mokae, Nenka, Mundika, Kendika und Kukitlka, die an den Quell- und Zuflüssen des Wahgi leben/' 4 Sie zählten nach damaliger Schätzung insgesamt etwa 15000 Menschen. Mbo heißt in ihrer Sprache, dem Metlpa, Pflänzling, Wurzelstock; wamb bedeutet Menschen. Die Mbowamb sind demnach Menschen eines Wurzelstocks, gleicher Abstammung. V I C E D O M betont, daß sie sich dieser durch Abstammung bedingten Einheit bewußt sind, daß sie sich Mbowamb im Gegensatz zu den wamb etlpa sehen, den Menschen anderer Abstammung und anderer Sitten, sowie im Gegensatz zu den keiwa wamb, den Menschen anderer Rasse. 45 Ihre Sprache, das Metlpa, besitzt nur sehr geringe Dialektunterschiede. Sie wurde insgesamt von etwa 25000 Menschen gesprochen, von vielleicht 40000 verstanden. « BUTINOV, 1 9 6 8 , S . 2 6 . 44
VICEDOM, TISCHNEE, 1 9 4 3 - 1 9 4 8 , I , S . 2 4 .
« VICEDOM, TISCHNER, 1 9 4 3 - 1 9 4 8 , I , S. 2 5 .
Soziale Strukturen und ethnische Verhältnisse
127
Die Mbowamb, wohl wissend, daß im Wahgi-Tal zahlreiche Menschen ebenfalls ihre Sprache sprechen, grenzen sich von diesen jedoch in der Überzeugung ihrer auf gleicher Abstammung beruhenden Gemeinsamkeit ab. Tatsächlich konnte V I C E D O M , wie erwähnt, kulturelle Unterschiede zwischen ihnen nicht ermitteln, doch bestehen solche zwischen den Mbowamb und den ebenfalls Metlpa sprechenden Bewohnern des Wahgi-Tales. 40 Die Mbowamb bildeten nach V I C E D O M keine politisch-organisatorische Einheit. Zwischen den einzelnen Stämmen herrschte Rivalität, die mitunter in kriegerischen Auseinandersetzungen ausgetragen wurde. 47 Die Mbowamb in ihrer Gesamtheit könnten wohl am ehesten als Stammesfamilie (als eine ethnische Makroeinheit) definiert werden. 48 Sie besitzen jedoch eine Reihe von Merkmalen, die auch einem Ethnikos eigen sind: gemeinsame Sprache, gemeinsame kulturelle Züge und ein Selbstbewußtsein, das sich in einem Ethnonym artikuliert und darüber hinaus die Antithese Wir-Sie zum Ausdruck bringt. 49 Die Stämme der Mbowamb waren von unterschiedlicher Größe: Der Ndika-Stamm umfaßte 3395 Menschen, der Stamm der Kukitlka als einer der kleinsten 716 Personen. 50 Sie bildeten in den meisten Fällen jeweils eine Siedlungseinheit, doch haben die bis in die jüngere Zeit anhaltenden und im Gedächtnis der Bevölkerung sehr lebendigen Wanderungen und Grenzverschiebungen stellenweise auch zu einem Nebeneinander von Teilen verschiedener Stämme geführt. Die Dialektunterschiede zwischen den einzelnen Stämmen sind unerheblich, so daß eine Sprachvermittlung durch zweisprachige Personen offenbar nicht erforderlich ist. 51 Die einzelnen Stämme stellten zwar keine politisch-organisatorischen, doch, wie weiter unten erläutert werden wird, bis zu einem gewissen Grade zeremonielle Einheiten dar. Stammeshäuptlinge kannte man nicht. 52 Nach V I C E D O M war der Stamm die Zusammenfassung der einzelnen Sippen, aber nicht in Form einer organisatorischen Einheit, sondern durch „organischen Aufbau". 5 3 Entscheidend für die Stammeszugehörigkeit war wiederum die Abstammung; der Stamm wurde als eine Gemeinschaft von Blutsverwandten aufgefaßt. 5 4 Nach V I C E D O M herrschte Stammestotemismus: Die einzelnen Stämme leiteten ihre Herkunft von einem Tier oder einer Pflanze her, so daß alle zu einem Stamm gehörenden Sippen das gleiche Totem besaßen. 55 Bei den Mbowamb-Stämmen galt die Stammesexogamie als unumstößliche Regel. Auch dieser Punkt spricht eigentlich dagegen, die „Stämme" V I C E D O M S äls Ethnikoi anzusehen. 50 Die Stammeszugehörigkeit jedes Mbowamb wurde in seinem Namen zum Ausdruck gebracht, wobei der Stammesname als Hauptname erschien: Jamka Ko,
«
VICEDOM, TISCHNER,
1943-1948,
« VICEDOM, TISCHNER, 1 9 4 3 , I I , S. «
BROMLEJ, BROMLEJ,
1977a, 1977a,
S. S.
I,
S. 25, 228.
170.
116, 123/124. 28, 33, 37.
»O V I C E D O M , T I S C H N E R , 1 9 4 3 , I I , S . 6 , VICEDOM, TISCHNER, VICEDOM, TISCHNER, 53
VICEDOM, TISCHNER, 1 9 4 3 , I I , S. 25.
54
VICEDOM, TISCHNER,
"' V I C E D O M , T I S C H N E R , 1 9 4 3 , I I , S . 2 5 , BROMLEJ,
S.
1/2.
1943, I I , S. 24.
5
50
23.
1943-1948, I, S . 78 und 1943, II, 1943, II, S . 42, 57/58.
1977a, S. 106;
88-90.
VICEDOM, TISCHNER,
1943, II, S. 23, 25/26, 42.
128
BARBARA TREIDE
Ndika Kutli usw. Trat der persönliche Name eines Mannes in seinem Stamm sehr häufig auf, wurde zur Unterscheidung der Sippenname hinzugesetzt.57 Obwohl die Funktion eines Stammeshäuptlings und eine straffe Stammesorganisation nicht existierten, bestanden durch die Tradition geprägte Beziehungen zwischen einzelnen Sippen eines Stammes, bestimmte gemeinsame Aufgaben und Pflichten: Jeder Stamm besaß einen Stammestanzplatz, auf dem Stammesfeste gemeinsam abgehalten wurden, besonders das Kor Nganap-( = Gorokonda-)Ahnenfest.58 Es existierten Stammesbegräbnisplätze,59 und bestimmte Opfer wurden gemeinsam dargebracht.6® Beim Tode eines angesehenen Sippenhauptes trauerten nicht nur Großsippe und Sippe, sondern der ganze Stamm war zur Trauer verpflichtet. Auch Angehörige anderer Stämme kamen zur öffentlichen Totenklage (oft Tausende von Menschen).01 Für das Mahl anläßlich der Totenfeier hatten alle Sippen des Stammes ihren Teil beizusteuern. Zur Besprechung von Stammesangelegenheiten fanden Beratungen der Repräsentanten der einzelnen Sippen statt. Nach Auffassung VXCEDOMS lassen sich derartige Zusammenkünfte wohl als Stammesrat bezeichnen.62 Auf ihnen wurden die großen gemeinsamen Angelegenheiten, das waren zumeist Stammesfeste und Entscheidungen über Krieg und Frieden, beraten.63 In allen Fällen, in denen eine Person die Sache des Stammes nach außen zu vertreten hatte, wurde einer der Sippen-Repräsentanten als Sprecher des Stammes akzeptiert. Nach VICEDOM war es immer derjenige, der die „stärkste Sippe" vertrat und aucji im Moka einen hohen Rang einnahm.64 In Zeiten von Not und Gefahr erwies sich der Zusammenhalt innerhalb des Stammes: Man kämpfte gemeinsam gegen andere Stämme.65 In solchen Situationen wurde der Stamm als eine Person behandelt: „Der Ndika führt Krieg" hieß es zum Beispiel. VICEDOM betont, daß eine Zusammengehörigkeit wohl nicht stärker empfunden werden kann.66 Es war nicht üblich, daß Sippenführer des gleichen Stammes mit Waffen gegeneinander vorgingen. Bei kriegerischen Auseinandersetzungen brachten alle Sippen eines Stammes notwendig werdende Entschädigungen an andere Stämme, an die Gegenpartei, auf. Das bedeutete, daß auch jene Sippen dazu beitrugen, deren Anführer lediglich auf Vorschlag eines anderen Anführers, gewissermaßen aus Stammessolidarität, am Kampf teilgenommen hatten. Personen, die sich fortgesetzten asozialen Verhaltens schuldig gemacht, d. h. beständig ihre Sippe geschädigt hatten, konnten schließlich aus ihr ausgeschlossen werden. Dann erfolgte gleichzeitig der Ausschluß aus dem Stamm.67 Aus den Angaben VICEDOMS geht leider nur ungenügend hervor, zwischen welchen Stämmen der Mbowamb besonders intensive und dauerhafte Beziehungen bestanden haben. Er bemerkt dazu, daß intertribale Beziehungen vor allem durch Heiraten 57
VICEDOM, TISCHNER, 1943, I I , S. 25.
58 VICEDOM, TISCHNER, 1 9 4 3 - 1 9 4 8 , 1 , S. 151 u n d 1943, I I , S. 42, 57, 427, 436, 439. SO VICEDOM, TISCHNER, 1943, I I , S. 10. SO VICEDOM, TISCHNER, 1943, I I , S. 12. «SI VICEDOM, TISCHNER, 1943, I I , S. 12, 287. 62 VICEDOM, TISCHNER, 1943, I I , S. 42, 55, 295. VICEDOM, TISCHNTSR, 1943, I I , S. 57, 61. 64
VICEDOM, TISCHNER, 1943, I I , S. 58/59.
E - V I C E D O M , TISCHNER, 1943, I I , S. 42. CU
VICEDOM, TISCHNER, 1943, I I , S. 50. VICEDOM, TISCHNER, 1943, I I , S. 51/52, 155.
Soziale Strukturen und ethnische Verhältnisse
129
zustandekamen. Geheiratet wurde besonders häufig zwischen benachbarten Stämmen. Die verwandtschaftlichen Bindungen zwischen zahlreichen Gliedern zweier Stämme führten zu einem regen Austausch materieller Güter, der sich zu einem erheblichen Teil zwischen der „Eheverwandtschaft" zu realisieren schien. Darum wohnten solche Nachbarn oft „friedlich nebeneinander und betrachteten sich als Freunde". 6 8 Es war vor allem das Band der engeren Verwandtschaft, das kriegerische Verwicklungen zwischen Stämmen oft verhinderte und der Gastfreundschaft ein solides Fundament verlieh. Das bloße Nachbarschaftsverhältnis war bei weitem nicht so stark wie das verwandtschaftliche. Dennoch bestand, wie V I C E D O M und T I S C H N E R es formulieren, eine „Verpflichtung" für Nachbarn, sich in Zeiten der Gefahr gegenseitig beizustehen oder anderweitig auszuhelfen. Unter Nachbarn versteht er hier offenbar aneinander grenzende Sippen, denn aus seinem folgenden Satz geht hervor, daß diese Verpflichtung sofort unwirksam wurde, sobald zwischen den Nachbarn selbst und ihren Stämmen ein feindseliger Zustand eingetreten war. 69 K a m es trotz bestehender Heiratsbeziehungen zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen zwei Stämmen — nach V I C E D O M oft aus Gründen der Rivalität, die das Erstarken eines anderen Stammes ungern zuließ — genossen Eheverwandte aus dem andern Stamm das Gastrecht und den Schutz ihrer Verwandten, was auch stets von den übrigen Sippenmitgliedern akzeptiert wurde. 70 Entscheidet man sich nach alledem dafür, die Mbowamb nicht als eine Stammesfamilie, sondern als ein Ethnikos anzuspiechen, so schließt das ein, daß innerhalb dieses Ethnos offenbar stabilere Beziehungen zwischen einzelnen Gliedern, aber auch feindliche Beziehungen zwischen anderen Gliedern bestanden haben. Wie V I C E D O M exakte Angaben über Intensität und Häufigkeit der Zwischenstammesbeziehungen unter den Mbowamb vermissen läßt, macht er auch keine konkreten Ausführungen über ihre Verbindungen zu Nicht-Mbowamb. Heiraten scheinen jedoch — wenn sie sicher auch vorwiegend innerhalb der Mbowamb geschlossen wurden, da Gegenteiliges V I C E D O M bestimmt berichtet hätte — auch mit Angehörigen „fremder" Stämme stattgefunden zu haben. B K O M L E J hat selber darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Endogamie eines Ethnos nur tendenziell, nicht ohne Ausnahmen realisiert. 71 Ebenso haben Austauschbeziehungen die Grenzen der Mbowamb überschritten. 72 Von einer geschlossenen Aktion aller Mbowamb gegen Außenstehende, gegen „Menschen anderer Abstammung und anderer-Sitten", ist dem Material V I C E D O M S nichts zu entnehmen, sie darf wohl im Hinblick auf die geschilderte Gesamtsituation ausgeschlossen werden. Die Mitglieder jedes Stammes lebten in unterschiedlich großen Siedlungen oder Siedlungskomplexen (drei Häuser bis mehr als 20 Häuser). 8 bis 10 Häuser bildeten eine durchschnittliche Siedlungsgröße. 73 Leider gibt V I C E D O M genauere Zahlen nur für die Ndika, bei denen er alle Zählungen selbst vorgenommen hat. Die 3395 Ndika lebten in 27 Siedlungen, von denen die kleinste 38 Einwohner umfaßte, die größte dage«S VICEDOM, TISCHNER, 1 9 4 3 , I I , S . 4 9 , 8 4 ; v g l . a u c h 1 9 4 3 - 1 9 4 8 , 1 , S . 2 2 8 / 2 2 9 . 69
VICEDOM, TISCHNEB,
70
VICEDOM, TISCHNEB, 1 9 4 3 , I I , S. 8 2 .
71
BROMLEJ, 1 9 7 7 a , S. 1 0 6 .
1943, II,
S. 49.
« VICEDOM, TISCHNEB, 1 9 4 3 - 4 8 , I , S. 2 2 8 - 2 3 0 . W VICEDOM, TISCHNEB, 1 9 4 3 - 1 9 4 8 , I , S. 1 5 6 . 9 Jahrbuch des Museums für Völkerkunde Bd. XXXIII
130
BARBARA TREIDE
gen 3 9 5 . Da V I C E D O M für jedes Haus 5 Personen veranschlagt, entfielen auf die kleinste Siedlung nur 7 bis 8 Häuser und auf die größte — so läßt sich aus den von ihm genannten Zahlen schließen — 79 Häuser. Der Stamm der Kukitlka — mit seinen 716 Menschen der kleinste — besaß 6 Siedlungen. Jede Siedlung bzw. jeder Siedlungskomplex innerhalb eines Stammes hatte einen Namen. Innerhalb eines solchen Siedlungskomplexes waren kleinere Siedlungen eingeschlossen, die eigene Bezeichnungen trugen. 74 Ein Verlegen der Siedlungen machte sich von Zeit zu Zeit auch bei den Mbowamb durch die Erschöpfung des Bodens in größerem Umkreis notwendig. Die Tatsache, daß jedoch der Begräbnisplatz niemals mitverlegt wurde und daß ein Mann Anspruch auf einmal von ihm bestellte Felder behielt — selbst über Generationen hinweg wurde ein solcher Anspruch aufrechterhalten — weist darauf hin, daß auch die Mbowamb alte Siedlungsplätze bevorzugt wieder aufgesucht haben. 75 Wenn auch nicht in allen, so doch in der überwiegenden Mehrheit der Siedlungen der Mbowamb-Stämme lebten nach VICEDOM Vertreter mehrerer Sippen. 76 Es herrschte patrilineare Deszendenzrechnung, und die (stammesexogamen) Ehen wurden ohne Ausnahme patrilokal geschlossen. 77 Die Sippe war die größte gesellschaftliche Einheit, zwischen deren Mitgliedern in allen entscheidenden Fragen des Lebens der engste Zusammenhalt bestand. Gegenüber der Sippe und ihrem Anführer war jedermann für seine Handlungen verantwortlich, das Wohl der Sippe war in jedem Falle oberstes Ziel.78 Die Sippen hatten das Land in Besitz und delegierten das Nutzungsrecht an ihre Mitglieder weiter. 79 Hinweise darauf, daß ein Mann Landnutzungsrechte auch in der mütterlichen Sippe besaß, finden sich bei VICEDOM nicht. Das Aufbringen von Mitteln bei Heirat und Tod gehörte zu den wichtigsten Aufgaben der Mitglieder der patrilinearen Sippen. 80 Im Gegensatz zu anderen Hochlandbevölkerungen besaßen die Mbowamb ein stärker ausgeprägtes historisch-genealogisches Interesse. Ihre Abstammungsrechnung reichte mindestens sieben Generationen zurück, und nicht nur diesen eigenen Stammbaum hatte ein Mann im Gedächtnis, sondern auch den der Sippe und darüber hinaus der Großsippe. 81 Die Großsippen (oder Klans, wie VICEDOM auch sagt) beruhten nicht auf einem organisatorischen Zusammenschluß, sondern führten sich ebenfalls auf gemeinsame Abstammung zurück. Es handelte sich bei ihnen um die Nachkommen mächtiger Vorfahren, die sich allmählich in mehrere Sippen aufgespalten hatten. Zwischen ihnen existierte noch immer ein Gefühl der engeren Zusammengehörigkeit gegenüber den anderen Sippen des Stammes. Bei intratribalen Auseinandersetzungen übten ihre Mitglieder bewußte Solidarität. Einen Gattungsnamen für die Großsippe kann V I C E DOM in der Sprache der Mbowamb nicht angeben. Die Großsippen wurden mit speziel7/
' VICEDOM, TISCHNEB, 1943, II, S. 6. Obwohl VICEDOM nur die Ndika als Beispiel herausgegriffen hat, geht aus dem Kontext hervor, daß der Aufbau der Siedlungen in allen Stämmen der gleiche war. Ausnahmen werden nicht genannt. VICEDOM, TISCHNER, 1 9 4 3 - 1 9 4 8 , I , S . 1 5 6 / 1 5 7 , 1 9 1 .
70
VICEDOM, TISCHNER, 1 9 4 3 , I I , S . 5.
77
VICEDOM, TISCHNEB, 1 9 4 3 , I I , S. 4 2 / 4 3 .
™ VICEDOM, TISCHNEB, 1 9 4 3 , I I , S . 5 2 / 5 3 . 7
F VICEDOM, TISCHNEB, 1 9 4 3 , I I , S. 9 5 - 9 8 .
SO VICEDOM, TISCHNEB, 1 9 4 3 , I I , S . 4 2 , 2 0 5 , 2 9 5 . 81
VICEDOM, TISCHNEB, 1 9 4 3 , I I , S . 2 6 - 4 1 .
Soziale Strukturen und ethnische Verhältnisse
131
len Namen bezeichnet, denen man den Stammesnamen grundsätzlich voranstellte, wie dies auch bei den Personennamen geschah. Die Namen der Großsippen waren entweder von dem Namen des Vorfahren abgeleitet oder nahmen auf den früheren Hauptwohnsitz der Sippen Bezug. 82 Die Großsippe Ndika Mutlakamb bewohnte in den dreißiger Jahren fünf Siedlungen im Stammesgebiet der Ndika und eine Siedlung im Stammesgebiet der J a m k a . Diese Großsippe besaß zu jener Zeit kein gemeinsames Oberhaupt mehr. Aber die Söhne der einstigen Häupter dieser Großsippe waren noch immer führende Männer und von großem Einfluß auf den gesamten Stamm. Trotz ihrer territorialen Aufsplitterung fühlten sie sich als starke Einheit und setzten mehrmals ihren Willen gegen die anderen Sippen des mächtigen Ndika-Stammes durch, so unter anderem, um die J a m k a vor Angriffen ihres eigenen Stammes zu schützen. 83 Die im Gedächtnis der Mbowamb lebendigen und in ihren „Wandersagen" zum Ausdruck kommenden Bevölkerungsverschiebungen im Inland von Neuguinea, die „eigentlich bis heute überhaupt nicht aufgehört" haben, und die immer wieder stattfindenden Sippenteilungen, bei denen ein neuer Sippenanführer mit seinem Anhang in eine neue Siedlung zog, 84 haben ohne jeden Zweifel großen Einfluß auf das Verhältnis von verwandtschaftlicher und territorialer Struktur genommen. Alles in allem scheint es berechtigt zu sein, die Sippen der Mbowamb als soziale Zellen, soziale Grundeinheiten anzusprechen. 85 Die gebotene Stammesexogamie der Mbowamb führte zu regelmäßigen Beziehungen zwischen einer Vielzahl sozialer Zellen. Die gesellschaftliche Norm der wechselseitigen Unterstützung nicht nur unter Blutsverwandten, sondern auch unter angeheirateten Verwandten, zwischen denen allein die Beachtung dieser Norm den Fortbestand guter Beziehungen garantierte, befestigte und erneuerte ständig die Beziehungen zwischen Angehörigen sozialer Grundzellen innerhalb eines Stammes und über die Stammesgrenzen hinaus. 86 Angesichts dieser und anderer angeführter Sachverhalte fällt es schwer zu entscheiden, ob hier die Stämme der Mbowamb als sozialer Organismus oder die Mbowamb in ihrer Gesamtheit als ein solcher Organismus zu bezeichnen sind. Das Moka der Mbowamb — ein System des zeremoniellen Austauschs mit starker ökonomischer und sozialer Funktion — wirkte mit seinem intra- wie auch intertribalen Aktionsradius eindeutig in Richtung der Ausbildung fester Beziehungen innerhalb der gesamten Mbowamb-Bevölkerung. Die zahlreich existierenden Moka-Gemeinschaften verbanden zunächst Männer der eigenen Sippe, aber auch mehrerer oder aller Sippen eines Stammes (vor allem ihre gesellschaftlich herausragenden Vertreter) und — durch Einbeziehung der angeheirateten Verwandten — nicht zuletzt auch Männer mehrerer Stämme, wobei in jedem Falle hinter den einzelnen ein Moka veranstaltenden Männern die ganze Sippe stand, die mit ihren Wertstücken zu dem Moka beigetragen hatte. 8 7 Zweifellos hatten die Mbowamb zur Zeit des Aufenthaltes von V I C E D O M das Stadium der frühen Urgesellschaft längst durchlaufen. Nach I . S E L L N O W S Periodisierungskonzept könnte man sie der späten Periode der Urgesellschaft, mit noch größerer 82
VICEDOM, TISCHNEB, 1 9 4 3 , I I , S . 2 4 / 2 5 .
83 VICEDOM, TISCHNEB, 1 9 4 3 , I I , S . 5. 84 VICEDOM, TISCHNER, 1 9 4 3 , I I , S . 2, 4 0 - 4 2 , 4 5 9 .
BBOMLEJ, 1977a, S. 17. 86 VICEDOM, TISCHNEB, 1 9 4 3 , I I , S . 8 8 - 8 5 , 4 5 4 , 4 5 8 / 4 5 9 . 8' VICEDOM, TISCHNEB, 1 9 4 3 , I I , S . 5 9 / 6 0 , 4 5 1 / 4 5 2 , 4 5 3 / 4 5 4 , 4 5 8 . 9*
132
BAEBABA TREIDE
Wahrscheinlichkeit einer frühen Phase der Auflösung der Urgemeinschaftsordnung zurechnen. 88 Wie aus dem Vorangegangenen hervorgeht, waren die Stämme der Mbowamb aber keine sozial-potestatischen Gemeinschaften im Sinne B E O M L E J S . Dennoch spricht eine Reihe wesentlicher Merkmale dafür, die Stämme der Mbowamb als ethnosoziale Organismen aufzufassen. Das Bestehen dauerhafter und ständig wirkender ökonomischer Beziehungen zwischen den Sippen eines Stammes und das Zusammenwirken aller Sippen eines Stammes bei Sühnezahlungen oder Totenfesten machten eine solche Annahme wahrscheinlich. Nicht die Intensität schlechthin oder der Charakter der ökonomischen Beziehungen sind dabei entscheidend, sondern die Existenz solcher Beziehungen. B B O M L E J schreibt: „Das Ethnos in der weiteren Bedeutung des Wortes, d. h. der ethnosoziale Organismus, verfügt . . . zweifellos über eine bestimmte Gemeinschaft ökonomischer Beziehungen. Allerdings ist der Entwicklungsgrad derartiger Beziehungen für die verschiedenen historischen Typen ethnosozialer Organismen unterschiedlich." 89 Es ist zur Diskussion zu stellen, ob nicht in der Urgemeinschaftsordnung — zumindest bis in Phasen ihrer Auflösung hinein — bei der Bestimmung des ethnosozialen Organismus institutionell gefestigte verwandtschaftliche und territoriale wie die untrennbar mit ihnen verbundenen ökonomischen Beziehungen die Stelle einnehmen, die bei der Charakterisierung ethnosozialer Organismen auf höherem sozialökonomischem Entwicklungsniveau vor allem durch potestatisch-politische Organisationsformen (mit den ihnen zugrunde liegenden ökonomischen und sozialen Beziehungen) besetzt ist. Eine solche Auffassung steht in einem gewissen Gegensatz zur Ansicht B R O M L E J S , der sagt: „In der Urgemeinschaftsordnung beschränkten sich diese Verbindungen (gemeint sind ökonomische Verbindungen, B. T.) vorwiegend auf die Gentilgemeinden und waren für die Integration der ethnosozialen Hauptglieder dieser Epoche, die Stämme, offensichtlich nicht von wesentlicher Bedeutung." 9 0 In diesem Zusammenhang soll noch einmal die bereits angesprochene Frage nach dem Ethnikos der Mbowamb aufgeworfen werden. Die Stammesexogamie bei den Mbowamb läßt die Hypothese zu, daß diese Stämme in ihrer heutigen Größenordnung das Resultat eines im Hochland von Neuguinea erfolgten starken Bevölkerungswachstums sind. Man kann zumindest vermuten, daß die von V I C E D O M als Stämme bezeichneten Einheiten vor noch nicht allzu langer Zeit kleinere Gemeinschaften waren und exogam heirateten. Nach ihrem Anwachsen behielten sie diese Heiratsregelung bei. So kann auf Grund der zunehmenden Bevölkerungsdichte ein — wie B R O M L E J es nennt — neuer Endogamiekreis 91 entstanden sein. Unter Umständen ist darin ein ethnoevolutionärer Prozeß erkennbar. 92 Es soll hierbei nicht unerwähnt bleiben, daß prominente Vertreter der sowjetischen Ethnographie — B R O M L E J selber diskutiert ihre Ansicht — die Auffassung von ethnischen Hauptgliedern der Urgemeinschaftsordnung vertreten, die über den Stamm hinausreichen. N . N . C E B O K S A R O V und S. A. A R U T J U N O V halten „Gruppen verwand88 SELLNOW, I., 19.61, S. 181 B B O M L E J , 1977a, S . 4 3 . aoBBOMiiBJ, 1977a, S. 153. «I BBOMT/EJ, 1977a, S . 108. 92 B B O M L E J , 1977a, S . 141. 89
Soziale Strukturen und ethnische Verhältnisse
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ter Stämme, die auf angrenzenden Territorien leben, Dialekte einer Sprache sprechen und über viele gemeinsame Kulturmerkmale verfügen," . . . für „die Haupttypen ethnischer Gemeinschaften in der Urgemeinschaftsepoche . . ." 9 3 Mit seiner Definition des Ethnos im engeren Sinne schließt auch B B O M L E J eine mehrere Stämme umfassende ethnische Gemeinschaft als Ethnikos der Urgesellschaft nicht aus, da er von einer „historisch entstandenen Vereinigung von Menschen" . . . spricht, „die über eine nur für sie (Hervorhebung B. T.) charakteristische Gesamtheit gemeinsamer stabiler Merkmale der Kultur (darunter der Sprache) . . . verfügt." 9 4 Wie wir wissen, betont V I C E D O M nachdrücklich die kulturelle Einheit aller Mbowamb, die sie von umwohnenden Bevölkerungen deutlich unterscheidet, die von den Mbowamb selber empfunden und begrifflich zum Ausdruck gebracht wird. Faßt man alle Angaben und die Erörterungen über Möglichkeiten ihrer Interpretierung zusammen, so ergibt sich folgendes Bild für die Relation von sozialen und ethnischen Einheiten bei den Mbowamb, ein Bild, das freilich hypothetische und diskussionsbedürftige Elemente enthält: Stammesfamilie die Vertreter der Metlpa-Sprachgruppe oder eine (makroethnische Einheit) größere regionale Abteilung Ethnos (Ethnikos) Mbowamb sozialer Organismus und Stamm der Mbowamb (in der Definition Vicedoms) ethnosozialer Organismus bzw. Gruppierung besonders eng verbundener' Stämme soziale (Grund-)Zelle Sippe ethnosoziale Mikro-Einheit mehrere Gentilgemeinden, deren gesellschaftliches Leben durch lokalisierte Glieder einer Sippe bzw. mehrerer eng miteinander verbundener Sippen bestimmt wird Die Zusammenfassung mehrerer Gentilgemeinden, in denen lokalisierte Glieder einer Sippe bzw. mehrerer eng miteinander verbundener Sippen lebten, als ethnosoziale Mikro-Einheit entspricht der Kennzeichnung des Stammes bzw. einer Gruppierung besonders eng verbundener Stämme als ethnosozialer Organismus. Diese Auffassung deckt sich nicht mit der erwähnten Ansicht B B O M L E J S , daß entweder die Gens oder Gentilgemeinde bzw. die Lokalgruppe der Gens die ethnosoziale Mikro-Einheit der Urgesellschaft ist. 95 2. Kuma In den einführenden Bemerkungen zu ihrer Kuma-Studie bemerkt M A R I E R E A Y , daß diese Kuma Teil einer größeren regionalen Einheit sind, deren Angehörige von allen benachbarten Gruppen Nangamp genannt werden und ungefähr 25000 Menschen zählen. Sie leben in dem ,Middle Wahgi' genannten Teil des Wahgi-Tals und in dem Bereich, der sich unmittelbar nördlich davon zwischen der Wahgi-Sepik-Wasserscheide und dem Jimmi River anschließt. 96 »3 B B O M L E J , 1 9 7 7 a , S . 1 1 7 . BBOMLEJ, 1 9 7 7 a , S. 37. 95 V g l . B B O M L E J , 1 9 7 7 a , S . 1 2 6 . 96 R E A Y , 1 9 5 9 , p . 1.
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BARBABA
TBEIDE
Diese sogenannten Nangamp sprechen verschiedene Dialekte, die aber untereinander eng verwandt sind. R E A Y macht darauf aufmerksam, daß die „Grenzen" zwischen den sprachlich unterschiedlichen Gruppen fließend sind, da die Bewohner dieser „Grenzgebiete" in der Regel zweisprachig seien. Wesentlich ist, daß die Grenzen zwischen den einzelnen Dialektgruppen — unabhängig von bilingualen Kontaktzonen — diesen Hochlandbewohnern genau bekannt sind und auf „ethnodifferenzierende" Weise registriert werden. 97 Die Mitglieder der Yoowi-Dialektgruppe, zu der die Kuma gehören, nehmen auf Grund der Sprachverhältnisse eine Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen vor: Yoowi bedeutet „wirkliche, echte Sprache", im Gegensatz zu dem Begriff Yoondel, „andere", „andersartige" Sprache, mit dem man alle übrigen Dialekte der Nangamp, aber auch alle anderen jeweils bekannt gewordenen Sprachen überhaupt bezeichnet. Die Yoowi-sprechenden Gruppen bilden den Kern dieser größeren regionalen, als Nangamp bezeichneten Einheit. 98 Das Vorhandensein eines Namens — Nangamp — für eine andere, eine „fremde" Gruppe setzt das Empfinden und Erkennen einer Andersartigkeit voraus. Es setzt außerdem in Hinblick auf die Größe der Nangamp-Gruppe weiträumige Kontakte zur Erlangung des notwendigen Wissens über ihre regionale Ausdehnung sowie relativ intensive Kontakte zur Kenntnisnahme der von der eigenen Gruppe abweichenden Kulturmerkmale voraus. Beides ist in diesem Raum offenbar der Fall gewesen." Die Nangamp wurden jedoch nicht nur von außen als eine durch bestimmte kulturelle Züge abgegrenzte Gruppe aufgefaßt, sie verstanden sich auch selber als eine Einheit, als „wirkliche" Menschen, als agamp wi, in klarer Abgrenzung gegenüber anderen Bevölkerungen. Ihre Gemeinsamkeit gründete sich nach ihrer eigenen Aussage auf eine Gemeinsamkeit im Zeremonialleben. Die Kuma, so schreibt R E A Y (und ohne Frage auch die anderen zu den Nangamp gehörenden Gruppen — B. T.), betrachteten ein bestimmtes Blatt, das stets mit Schweinefleisch zusammengekocht wurde, als „Symbol kultureller Einheit". 100 Für sie waren alle, die „dasselbe Blatt essen", miteinander verbunden durch das gleiche Interesse an Schweinen und die gleiche Art und Weise, das große Fruchtbarkeitsfest, die Schweine-Zeremonie, genannt Konggol, durchzuführen. 101 R E A Y bezeichnet die Nangamp als Vertreter einer „kulturellen Region", als eine „kulturelle Gruppe", spricht an anderer Stelle von der „Nangamp-Kultur" und nennt ihre Träger ein „phyle". 102 Sie waren nach ihrer Interpretation durch sprachliche Ähnlichkeit, durch eine gewisse Ähnlichkeit in der Grundstruktur der sozialen Organisation und durch den genannten Komplex ritueller Handlungen miteinander verbunden. 103 Der dargestellte Sachverhalt erlaubt es, die Nangamp als eine Stammesfamilie zu kennzeichnen, zumal B R O M L E J davon ausgeht, daß in der Mehrzahl der Fälle keine für 9? Vgl.
BKOMLEJ,
98 R E A Y ,
1977a, S. 53/54.
1 9 5 9 , p . 1.
99 V g l . R E A Y , 1 9 5 9 , p . 9 8 , 1 0 5 , 100
REAY, 1959,
101 R E A Y , 1 9 5 9 , p . 2 , 2 3 , 9 0 ,
i°2
108.
p. 2; vgl. auch p.
90.
102.
1959, p. 1/2, 90, 206. Damit folgt sie, wie sie anmerkt, H. I. H O G B I N und C. H. „Local Grouping in Melanesia". Oceania, X X I I I , p. 244. Weiter unten wird noch darauf aufmerksam zu machen sein, daß R E A Y bei der Verwendung des Begriffes „phyle" nicht konsequent und nicht eindeutig vorgeht.
REAY,
WEDGWOOD,
103 R E A Y , 1 9 5 9 , p . 2 , 8 6 ,
131.
Soziale Strukturen und ethnische Verhältnisse
135
alle Bestandteile der Stammesfamilie gemeinsame Sprache gegeben sein muß, sich also diese ethnolinguistische Gemeinschaft mehr durch Ähnlichkeit als durch Einheit auszeichnet. 104 Die in der Studie als Kuma zusammengefaßte Gruppe (Kuma im weiteren Sinn) besaß nach M A R I E R E A Y keine Selbstbenennung. 105 Sie wird von ihr als Phyle bzw. als Sub-phyle vorgestellt. 100 Als Kuma bezeichnet wurden sie von den Danga, einer anderen Unterabteilung der Yoowi-Dialektgruppe, die auf einem an das der Kuma angrenzenden Territorium lebt. Der Wahgi River wird von den Yoowi-sprechenden Bevölkerungen des Middle Wahgi-Gebiets als Grenze zwischen den nördlich davon siedelnden Danga und den südlich lebenden Kuma betrachtet. Zwischen ihnen bestanden enge und dauerhafte Beziehungen: Sie heirateten untereinander, sie unterstützten einander im Kriegsfalle, unterhielten regelmäßige Austauschbeziehungen und nahmen am Zeremonialleben jeweils der anderen Gruppe teil. Sie zeigen nur unbedeutende Unterschiede in sprachlicher Hinsicht. 107 Die Kuma-Gruppe im weiteren Sinne bestand aus 27 Klans. Mehrere Klans waren jeweils zu Phratrien zusammengefaßt, die weder eine Bedeutung für die Regelung der Heiratsbeziehungen noch für das politische Leben besaßen und nur eine — teils wohl reale, teils fiktive — gemeinsame Abkunft der in ihnen zusammengefaßten Klans zum Ausdruck brachten. 108 Die am Beispiel der Mbowamb geäußerte Vermutung, daß infolge großräumiger Bevölkerungsbewegungen und des Anwachsens der Bevölkerung im zentralen Hochland von Papua-Neuguinea vor noch nicht allzu langer Zeit ein Wandel in der Größe, Struktur und Funktion einzelner gesellschaftlicher Einheiten vor sich gegangen sein kann, drängt sich auch bei der Behandlung des Materials über die Kuma auf: In den Überlieferungen der Kuma-Phratrie (der Kuma im engeren Sinne) findet sich die Erinnerung daran, daß sie einst eine „einheitliche Gruppierung" war (aus dem Kontext geht hervor, daß alle Phratrien der Kuma im weiteren Sinne diese Überlieferung besaßen), „ein einziger exogamer K l a n " ! 1 0 9 Einst — in der mythischen Vergangenheit — haben sie, wie es heißt, als „Brüder" zusammen gelebt und die Schweine-Zeremonie als eine gemeinsame Gruppe abgehalten. 110 Die wechselseitigen Beziehungen der zu einer Phratrie gehörenden Klans reichten in der jüngeren Vergangenheit allerdings von freundschaftlichen bis zu offen feindseligen: Unmittelbar benachbarte Klans verhielten sich meist „wie Brüder", sie vermieden Feindseligkeiten (einschließlich der bewaffneten Auseinandersetzung), hielten ihre SchweineZeremonien möglichst zum gleichen Zeitpunkt ab, und haben in der jüngsten Vergangenheit häufig untereinander geheiratet. 111 Andere Klans betrachteten einander als 10« B R O M L E J , 1 9 7 7 a , S . 1 2 4 / 1 2 5 . 106
«>.» R E A Y , 1 9 5 9 , p . 1.
1959, p. 35, Fig. 6. In anderem Zusammenhang bezeichnet R E A Y die gesamte Yoowi-Dialektgruppe als „phyle" (p. 33, 122).
REAY,
»07 R E A Y , 1 9 5 9 , p . 2 / 3 ,
27.
TOS R E A Y , 1 9 5 9 , p . 2 5 ,
192.
109 R E A Y , 1 9 5 9 , p . 2 5 .
REAY, 1959, p. 26.
in REAY, 1959, p. 26. F a s t jeder Klan besaß wenigstens einen Klan-Partner, mit dem ihn besonders intensive Heiratsbeziehungen verbanden. E r war darauf bedacht, die guten Beziehungen aufrechtzuerhalten und zu pflegen, da sie die Voraussetzung für weitere Heiraten darstellten. Daneben bestand allerdings auch das Bestreben, durch Eheschließungen Beziehungen zu möglichst vielen Klans herzustellen (REAY, 1959, p. 61/62, 66).
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traditionelle Feinde. Jede Form des Zusammenwirkens zwischen ihnen war ausgeschlossen; man vermied selbst Begegnungen im Alltag. Kriegerische Auseinandersetzungen waren häufig. Wieder andere Klans waren in ihren Beziehungen zueinander ambivalent. Freundschaftliche Beziehungen konnten sich in feindselige verwandeln, wobei in diesem Moment Zwischenheiraten sofort eingestellt wurden. Sie waren jedoch reversibel, sobald die Kompensationszahlungen für die Toten geleistet und die Friedenszeremonien abgehalten worden waren. 112 Der Name Kuma dient auch als Selbstbezeichnung einer Phratrie von neun Klans, der größten Gruppe südlich des Wahgi River. Diese Kuma nennt M A R I E R E A Y „real K u m a " (Kuma im engeren Sinne). Außer der Kuma-Phratrie gehörten zu den Kuma im weiteren Sinne die Antsrua-Phratrie mit fünf Klans, Kontsgabam mit vier Klans und Tongilka mit zwei Klans. Sieben Klans führten sich jeweils auf selbständigen Ursprung zurück. 113 Während es nicht ungerechtfertigt zu sein scheint, die Nangamp als Stammesfamilie im Sinne B R O M L E J S anzusprechen, ist es nicht unbedenklich, die Kuma im weiteren Sinne als Ethnikos zu bezeichnen. Vielleicht ist diese Charakterisierung eher auf die Yoowi-Dialektgruppe anwendbar — eindeutige Aussagen zur Entscheidung dieser Frage stehen nicht zur Verfügung. Einen ethnosozialen Organismus kann man die Kuma im weiteren Sinne bzw. die Yoowi-Dialektgruppe nicht nennen, da nur zwischen einem kleinen Teil ihrer sozialen Zellen, den Klans, dauerhafte Verbindungen bestanden haben. Das folgende Eingehen auf die Stellung und Rolle der Klans im Leben der K u m a scheint auch deshalb von Wichtigkeit zu sein, weil sich nach R E A Y Sprachgrenzen vorgeschoben und zurückgezogen haben, entsprechend den Bewegungen der Klans und Klansegmente, die bis zu den äußersten Rändern des Phyle-Gebietes vorstießen und bilingual wurden. 114 Obwohl R E A Y den Begriff Phyle auf drei verschiedene regionale Einheiten anwendet 1 1 5 und somit nicht klar gesagt ist, ob sie mit den äußersten Rändern des Phyle-Gebietes die der Nängamp-Gruppe, der YoowiDialektgruppe oder der Kuma meint, scheint aus dem Kontext doch hervorzugehen, daß sie hier an das Territorium der Yoowi-Dialektgruppe gedacht hat. Tatsache ist, daß Einwohner der nördlichen Vorberge der Wahgi-Sepik-Wasserscheide in unmittelbarer Nachbarschaft mit Einwanderern aus dem Hagen-Gebiet, dem Chimbu-Gebiet und den nördlichen und südlichen Teilen des Middle Wahgi-Gebietes leben. Ein ähnliches Bild ethnischen Kontaktes findet sich unmittelbar südlich der Kubor Range, wo eingestreut zwischen den dort Ortsansässigen Einwanderer aus dem Kuma-Gebiet, der Chimbu- und der Hagenberg-Region siedeln. 116 Die Kuma-Klans waren von sehr unterschiedlicher Größe: Sie reichte von hundert bis zu 1700 Personen. Die Mitgliederzahl der Klans und ihre innere Struktur standen offenbar in einem Wechselverhältnis zueinander. R E A Y nennt 1 0 Klans, sie umfaßten 100 bis 300 Personen, die jeweils in zwei oder mehr Subklans geteilt waren. Diese Subklans trugen die Namen ihrer mutmaßlichen Gründer, der Söhne des Klan-Vorfahren. Jeder Subklan lebte geschlossen in einem Abschnitt des Klanterritoriums. 117 14 Klans, "2 REAY, 1959, p . 26, 54, 58, 59, 61. REAY, 1959, p. 26/27. REAY, 1959, p . 33. 115
Siehe S. 134/135 der vorliegenden Arbeit. REAY, 1959, p. 33.
" 7 REAY, 1959, p . 2 8 / 2 9 , 38.
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mit 200 bis 900 Personen, bestanden aus zwei oder mehr Subklans, von denen jeder wieder in Sub-Subklans untergliedert war. Sie leiteten sich von entfernten Nachkommen der Subklan-Gründer her. Drei der 27 Kuma-Klans, mit 700 bis 1700 Personen, besaßen jeweils zwei große Abteilungen (Haupt-Segmente nach REAY), in denen mehrere Subklans mit ihren Sub-Subklans zusammengefaßt waren. Die Niederlassungen der zu einer solchen großen Abteilung zusammengefaßten Subklans bildeten eine regionale Unterabteilung des Klans. 118 Es hat durchaus den Anschein, daß diese Struktur der Kuma-Klans sich nicht zufällig entwickelte, daß darin die Wirksamkeit bestimmter Faktoren erkennbar ist. Eine Durchschnittsrechnung ergibt, daß zu einem Sub-Subklan etwa 50 bis 100 Menschen gehörten. Möglicherweise war diese Größe mehr oder weniger direkt verbunden mit den Funktionen der Sub-Subklans. Sie waren zwar nur zum Teil lokalisiert, wirkten aber bei der Organisierung der täglichen Aktivitäten als Einheiten. Jeweils mehrere Männer waren durch gegenseitige Hilfeleistung einander verpflichtet und gingen stets neue wechselseitige Verpflichtungen ein. 119 Die Mitglieder der Sub-Subklans gaben an, daß sich die genealogischen Beziehungen zwischen allen Angehörigen nachweisen lassen. Allerdings konnte R E A Y nur für ein Drittel aller Sub-Subklans durch Befragung mehrerer alter Männer exakte Genealogien ermitteln; deshalb möchte sie auch nur dieses Drittel der Sub-Subklans echte Patrilinien nennen. 120 Verwandtschaftliche Beziehungen sicherten stabile ökonomische Beziehungen zwischen den Sub-Subklans. Zu den durch gegenseitige Hilfe verbundenen Arbeitskollektiven innerhalb der Sub-Subklans konnten nach R E A Y auch Männer anderer Sub-Subklans desselben Subklans stoßen, sofern ihre Frauen aus demselben Subklan wie die Ehefrau des Hilfe (zum Hausbau oder zur Rodung) benötigenden Mannes stammten. Unverheiratete junge Männer aus jeder beliebigen Unterabteilung des Subklans leisteten ebenfalls oft Hilfe. 121 Besonders enge Beziehungen unterhielt ein Mann zum Bruder seiner Ehefrau wie zum Ehemann seiner Schwester. Diese Männer besuchten sich regelmäßig, halfen einander beim Hausbau und anderen Aufgaben, besprachen künftige Heiratsmöglichkeiten für sich selbst, ihre Söhne oder einen Klangenossen, trafen andere Vereinbarungen und erwiesen sich gegenseitige Gastfreundschaft. 1 2 2 Oft waren es Männer dieses Verwandtschaftsgrades, die für kürzere oder unbestimmte Zeit miteinander zu wohnen wünschten, so daß sie mit ihren Familien einen Siedlungswechsel vornahmen, 123 der zu weitreichenden Konsequenzen führen konnte. Nach R E A Y gehörten den meisten SubSubklans der K u m a Männer an, die entweder aus anderen Klans oder anderen SubSubklans desselben Klans herstammten. Neue Mitglieder wurden gern aufgenommen und zum Bleiben ermutigt. 124 Sie beteiligten sich an den gemeinschaftlichen Aktiviiis REAY, 1959, p. 29. "9 REAY, 1 9 5 9 , p . 14, 38, 118. 1 2 0 R E A Y , 1 9 5 9 , p . 3 4 , 3 9 / 4 0 . D a r i n s t i m m t R E A Y m i t B B O W N u n d BBOOKFIELD ü b e r e i n ,
die ebenfalls in allen den Fällen, da keine wirklichen Patrilinien vorliegen, v o n Sektionen oder Unterabteilungen der Naregu-Subklans sprechen (siehe S. 145 der vorliegenden Arbeit). 121 R E A Y , 1 9 5 9 , p . 1 4 , 3 8 , 1 1 8 . 122 R E A Y , 1 9 5 9 , p . 6 2 / 6 3 , 6 9 , 7 0 . 123 R E A Y , 1 9 5 9 , p . 7 1 .
™ REAY, 1959, p. 34, 40, 49.
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BARBARA T B E I D E
täten des Sub-Subklans wie Rodearbeiten, Haus- und Zaunbau und der Beschaffung von Brautpreisen. 125 Durchschnittlich hatte ein Kuma-Sub-Subklan 8 bis 20 männliche Mitglieder. Handelte es sich um einen großen Klan, konnte diese Zahl bei 40 bis 50 Mitgliedern liegen. Es ist bemerkenswert, daß derartige große Sub-Subklans dazu neigten, Merkmale und Funktionen eines Subklans anzunehmen. 120 Das Ziel auch jeder Klangemeinschaft war es, so zahlreich und stark wie nur möglich zu werden, um Auseinandersetzungen mit feindlichen Klans bestehen zu können. Es gab nach Reay genügend Beispiele bekannter Klans, die infolge von kriegerischen Niederlagen oder Krankheiten dezimiert worden waren und schließlich als Klangemeinschaft zu existieren aufgehört hatten. Überlebende Klanmitglieder, mitunter ganze Klansplitter, schlössen sich anderen Klans, und zwar meist verwandten Personen, an. Nach zwei Generationen wurden ihre Nachkommen volle Mitglieder des Gastgeber-Klans, einbezogen in seine Exogamievorschriften. Nicht nur Einwirkung von außen, sondern auch innere Gründe, wie ernste Meinungsverschiedenheiten, konnten zur Klanspaltung und zum Anschluß an größere Klans führen. Solche Satelliten mächtiger Klans blieben noch eine Zeitlang exogame Gruppen, bis sie schließlich in ihrem Gastgeber-Klan aufgingen. 127 Umgekehrt konnte es bei großen Klans dazu kommen, daß sich zwei Unterabteilungen herausbildeten, die sich nur noch entfernt miteinander verwandt fühlten. 128 Die nun allmählich zwischen diesen beiden Segmenten einsetzenden Heiraten gaben das Signal zur Separierung der exogam werdenden Gruppen, zur Etablierung zweier neuer Klans. 129 M A K I E R E A Y konnte diesen Vorgang im Konumbuga-Klan beobachten, der 1953 1700 Mitglieder zählte, in zwei Hauptsegmente, Tumb'kup und Kuzikup, geteilt war, von denen jedes drei Subklans mit jeweils zwei oder drei Sub-Subklans umfaßte. 1954/55 wurde die Möglichkeit der Aufnahme von Heiratsbeziehungen zwischen den beiden Hauptsegmenten von den Klanmitgliedern erörtert. Nachdem einem Kuzikup-Mann ein Tumb'kup-Mädchen mit dem Hinweis auf die enge Klan-Verwandtschaft noch verweigert worden war, heiratete bald darauf, im Jahre 1956, der neueingesetzte luluai (von der australischen Kolonialverwaltung benanntes Klan-Oberhaupt) von Kuzikup ein Tumb'kup-Mädchen. 130 Trotz des ständigen Prozesses der Spaltung und Verschmelzung von Kuma-Klans und ihren Unterabteilungen hielten die Kuma an der Behauptung fest, daß die Mitglieder aller Gruppen in direkter väterlicher Linie über gemeinsame Vorfahren verbunden seien und unternahmen alles, um Abweichungen von diesem Prinzip einer idealen Konstruktion anzupassen. 131 Es steht außer Frage, daß in den genealogischen Vorstellungen sowohl echte Widerspiegelungen historischen Geschehens als auch fiktive Elemente genealogischer Konstruktion enthalten sind. R E A Y stellte fest, daß das konkrete Wissen um die Abstammung nicht weiter als vier Generationen zurück125 R E A Y , 1 9 5 9 , p . 1 3 - 1 5 , 4 0 . 126
REAY, 1959, p. 38—40. MARIE REAY e r w ä h n t , d a ß g r o ß e S u b - S u b k l a n s
geschlossener
siedelten, einen speziellen Sprecher besitzen konnten und im Namen des Klans junge Mädchen als Bräute zur Verfügung stellten und sich nicht darauf beschränkten, einen Zahlungsbeitrag im Falle einer Eheschließung zu leisten (REAY, 1959, p. 40). I " REAY, 1959, p. 32/33, 38. «28 R E A Y , 1 9 5 9 , p . 3 3 . REAY, 1959, p. 30. 13« R E A Y , 1 9 5 9 , p . 3 2 , 1 2 0 . 131 R E A Y , 1 9 5 9 , p . 3 3 , 3 6 , 3 8 .
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reichte. 132 Sie vertritt in diesem Zusammenhang sinngemäß die Auffassung, daß das geringe Interesse an der Verfolgung weiter zurückliegender konkret-genealogischer Verbindungen eine bewußte Reaktion der Kuma auf die Diskrepanz zwischen ihrer patrilinearen Abstammungsrechnung und der sie unterhöhlenden Praxis der ständigen Aufnahme von „Fremden" in die agnatischen Abstammungsgruppen darstellte. „Genealogical shallowness is useful to them", 1 3 3 sagt sie. Sowohl das Beharren auf dem patrilinearen Prinzip der Abstammungsrechnung mit der Abstufung der patrilinearen Abstammungsgruppen zur Fixierung der Stellung und Bedeutung solcher Gruppen als auch die flexible Handhabung dieses Prinzips, mit der eine Stärkung und Ausweitung der realen Bedeutung eben dieser Gruppen erzielt werden sollte, scheint bei den Kuma nicht zuletzt deshalb wesentlich gewesen zu sein, weil eine potestatische Ordnung offenbar weitgehend fehlte bzw. nicht durch spezielle Organisationsformen und Funktionen ausgebildet war. Die Kuma-Klans, als deren wichtigste Funktion R E A Y die Beachtung der Exogamievorschrift bezeichnet, 134 die, eine territoriale Einheit bildend, im Kriegsfalle geschlossen auftraten, eine Zeremonialeinheit darstellten und Austausch von Frauen und Gütern vornahmen, wurden nach außen hin von keinem Anführer vertreten. 135 Der Austausch von Frauen wurde im Namen der Klangesellschaft von ihren Unterabteilungen oder Subklans durchgeführt und, wie R E A Y schreibt, „Details", die Zahlung der Brautpreise, überließ man noch kleineren Gruppierungen. 136 Männer, die die täglichen Aktivitäten ihrer Gruppen lenkten und koordinierten, die als Schlichter bei Streitigkeiten fungierten, ihre Mitglieder nach außen vertraten und von ihnen in allen Fragen konsultiert wurden, waren die Anführer der Sub-Subklans, der kleinsten Einheiten innerhalb des Klans. 1 3 7 Die Funktion dieses „Anführers" wurde nach Aussage der Kuma vom ältesten Sohn übernommen, es sind aber auch andere nahe Verwandte des verstorbenen Anführers an seine Stelle getreten. 138 Waren im Rahmen von Subklans Angelegenheiten zu regeln, so trat nach R E A Y einer der Sub-Subklan-Anführer als Sprecher dieser größeren Klan-Unterabteilung auf. 139 Außer dem anerkannten Anführer eines Sub-Subklans besaßen andere Männer, sogenannte big men, die Achtung und Bewunderung der Gruppenmitglieder. Sie werden von R E A Y als „spontane" Anführer bezeichnet. Auch ihnen leisteten die Gruppenmitglieder Folge, wenn sie Arbeiten organisierten und Anordnungen erteilten. 140 Diese meist polygyn lebenden big men zeichneten sich durch Wohlhabenheit und Einfluß auf andere Personen aus. Als untereinander rivalisierende Männer verhielten sie sich auch dem autorisierten Anführer ihres Sub-Subklans gegenüber oft als Rivalen: Nicht immer kooperierten sie mit ihm, sondern bemühten sich, seinen Einfluß herabzumindern oder auszuschalten. 141 « 2 R E A Y , 1 9 5 9 , P- 3 4 . 133 REAY, 1 9 5 9 , P- 34, 3 6 . R E A Y , 1 9 5 9 , P- 4 4 . 135 136
R E A Y , 1 9 5 9 , P- 1 1 3 . R E A Y , 1 9 5 9 , P- 1 1 3 .
R E A Y , 1 9 5 9 , P- 1 1 3 , 1 1 7 , 1 1 8 « 8 R E A Y , 1 9 5 9 , P- 1 1 4 / 1 1 5 . 139 R E A Y , 1 9 5 9 , P - 1 1 7 . I''0 R E A Y , 1 9 5 9 , P - 1 5 , 1 1 4 - 1 1 7 .
I « R E A Y , 1 9 5 9 , P- 1 1 4 - 1 1 7 .
140
BARBABA TREIDE
Die zwischen den K u m a - K l a n s bestehenden lind immer wieder neu geknüpften verwandtschaftlichen Bindungen ergaben ein vielfältig verflochtenes, kompliziertes System gegenseitiger Verpflichtungen. Dieses System des Austauschs von Frauen und Wertgegenständen, vor allem Schweinen, Federn, Muschelschalen sowie Nahrungsmitteln, beruhte auf dem — rituell befestigten — Grundsatz der Reziprozität, der nicht verletzt werden durfte, sollten die Beziehungen nicht ernsthaft gestört oder durch kriegerische Verwicklungen unterbrochen werden. 142 Diese Inter-Klanbeziehungen erwiesen sich als um so enger und dauerhafter, je mehr Mitglieder zweier Klans durch verwandtschaftliche Beziehungen miteinander verbunden waren. 143 Andererseits zeigte die Tendenz wohlhabender, polygyn lebender Männer, verwandtschaftliche Bindungen zu möglichst vielen Klans aufzunehmen, die Absicht, sich eine breite Basis f ü r Transaktionen materieller Güter zu schaffen und damit ihre Einflußsphäre zu erweitern. 144 Der Umfang der Austauschbeziehungen wurde über das Kuma-Gebiet hinaus erweitert durch institutionalisierte Austauschbeziehungen zwischen individuellen P a r t nern, die mitunter von einer Generation auf die folgende übergingen. Jeder K u m a Klan h a t t e in der Regel seine traditionellen Partner in bestimmten Gegenden: Die Männer des Kugika-Klans handelten mit Partnern im Gebiet des J i m m i River im Norden, die Männer des Tangilka-Klans besuchten ihre Tauschpartner in der südlich gelegenen Kambi-Region. 1 4 5 Neben dem Austausch von Produkten war und ist der Austausch von Informationen, die ständige Erweiterung der Kenntnisse über entfernt lebende Bevölkerungen — wie bereits eingangs angedeutet — eine entscheidende Voraussetzung für ethnische Abgrenzungen. Bei den K u m a waren solche Informationen Bestandteil des Alltagslebens. Die Männer tauschten sich mit ihren Handelspartnern über jüngste Ereignisse in den jeweiligen Gebieten aus. Nach Hause zurückgekehrt, so sagt REAY, waren sie mehrere Tage lang Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. 146 Ohne Frage besaßen die genealogischen Systeme der K u m a in ihrer Gesamtheit die Funktion, wenn auch nicht eine durchgehende „politische", so doch eine „ideologische" Einheit größerer Gruppierungen darzustellen. Real wirksame Bindungen der Zusammenarbeit und wechselseitigen Hilfe existierten offensichtlich nur zwischjen „Segment e n " dieser genealogischen Ordnung. Dabei fungierten herausragende Klans als die Katalysatoren solcher mehr oder weniger stabilen „Allianzen", gaben in ihnen den Ton an. Keinesfalls zufällig handelte es sich dabei um die zahlenmäßig stärksten Klans. Eine große Zahl von Männern und vor allem von Frauen bedeutete eine herausragende ökonomische Potenz, und eine große Zahl von Männern brachte zugleich auch die Möglichkeit, alle Fragen — nicht zuletzt auch ökonomische — mit außerökonomischen Mitteln zu entscheiden.
»« REAY, 1959, p. 22, 61, 86, 97/98.
143
Nach Möglichkeit wurden Frauen mit dem Klan des Mutterbruders oder dem Klan, des Ehemannes von Vaters Schwester ausgetauscht. Die Mehrzahl der Ehen des Kugika-Klans war mit Frauen dieser entsprechenden Klans geschlossen worden (REAY, 1959, p. 58,
67). 1 44 REAY, 1 9 5 9 , p . 66. ! « REAY, 1959, p . 1 0 5 / 1 0 6 . « 6 REAY, 1 9 5 9 , p . 108.
Soziale S t r u k t u r e n und ethnische Verhältnisse
141
Bei kriegerischen Auseinandersetzungen ging es nach R E A Y niemals um Land, um die Veränderung von Klangrenzen. Land war ausreichend vorhanden, und zwischen manchen Klanterritorien befanden sich weite Strecken Niemandsland. 147 Konfliktsituationen wurden in vielen Fällen durch unkorrektes Verhalten, nicht eingehaltene Versprechungen auf dem Gebiet der komplizierten sozialen Beziehungen mit ihren vielfältigen wechselseitigen Verpflichtungen zwischen den durch Heiraten verbundenen Klans, insbesondere durch Verletzung von Heiratsabkommen, heraufbeschworen. 148 Infolge kriegerischer Auseinandersetzungen kam es dann häufig zu Klanlandwechsel, da der Sieger den unterlegenen Klan als Demonstration seiner Überlegenheit vertrieb, ohne allerdings selbst auf diesem Lande zu siedeln. Die vertriebenen Klanmitglieder verstreuten sich nach der Niederlage und wohnten bei Verwandten, bis die Abhaltung der Friedenszeremonie ihnen die Möglichkeit gab, auf ihr Klanterritorium zurückzukehren. Anders verhielt sich die Sache bei Auseinandersetzungen zwischen Klans, die — wie oben erwähnt — über längere Zeit hin in feindseligen Beziehungen standen. Da in diesem Falle an eine Aussöhnung nicht zu denken war, konnten die Unterlegenen erst nach Sammlung ihrer Kräfte zurückkehren, um künftigen Auseinandersetzungen entgegensehen zu können. Bis zu diesem Zeitpunkt durften sie damit rechnen, auf das Territorium eines anderen Klans aufgenommen zu werden. Die Übergabe von einer oder mehreren Bräuten an den Land zur Verfügung stellenden Klan begleitete die Aufnahme dieser Beziehungen. Weitere Konflikte resultierten jedoch oft aus der Nichteinhaltung solcher Versprechen. 149 Während nach alledem die Nangamp mit einiger Sicherheit als eine Stammesfamilie (makroethnische Einheit) im Sinne B R O M L E J S angesprochen werden können, ist es wohl am ehesten vertretbar, in den Yoowi ein Ethnikos zu sehen. Klans mit überdurchschnittlicher Personenzahl und bedeutenden ökonomischen Potenzen bildeten wahrscheinlich die Kerne sozialer und ethnosozialer Organismen. Die konkrete Bestimmung solcher Organismen ist aber außerordentlich schwierig, da offenbar die Verbindungen zwischen solchen herausragenden Klans und anderen Klans (bzw. Klanteilen) ungeachtet traditioneller Präferenzen nicht stabil gewesen sind. Diese Dynamik der sozialen (und ethnosozialen) Gebilde war sicher verbunden mit Tendenzen der voranschreitenden sozialökonomischen Differenzierung und der zunehmenden Bedeutung territorialer Einheiten. Sie wirkte sich wahrscheinlich auf die Ausweitung der Grenzen des Ethnikos wie auf seine innere Konsolidierung aus, ohne daß solche Prozesse anhand der Angaben M . R E A Y S nachweisbar wären. Auf keinen Fall ist der Autorin darin zuzustimmen, daß die „tribes" der Kuma identisch seien mit sogenannten „parishes", d. h. lokalen Einheiten, die in ihrer personellen Zusammensetzung durch einen Klan gebildet oder von ihm bestimmt wurden. 150 Der von R E A Y angeführten „Autonomie" dieser „parishes" stehen zahlreiche — im Vorangegangenen angesprochene — Sachverhalte entgegen. Hypothetisch lassen sich die Einwohner mehrerer „parishes", deren Klans in besonders engen Beziehungen miteinander standen, als ethnosoziale Mikroeinheit bezeichnen. R E A Y , 1 9 5 9 , p. 6 - 8 . I « R E A Y , 1 9 5 9 , p. 2 2 . 149
R E A Y , 1 9 5 9 , p. 7.
«Ä0 R E A Y , 1 9 5 9 , p. 2 5 , 3 7 / 3 8 , 4 3 - 4 6 , 4 9 , 5 3 . •
142
BARBABA
TREIDE
3. Chimbu und B R O O K F I E L D behandeln in ihrer Studie „Chimbu Land and Society" in detaillierter und systematischer Form die soziale Struktur vor allem eines Stammes, der Naregu. Sie treffen jedoch wesentliche Aussagen auch über die Chimbu in ihrer Gesamtheit und besonders über einige den Naregu benachbarte Stämme. Der Hauptanteil ihres Feldmaterials stammt von sechs Subklans des Naregu-Stammes. Nicht wenige Angaben der Autoren beleuchten auch die ethnische Situation der Chimbu, so daß ihre Behandlung in unserem Zusammenhang lohnend erscheint. Die Chimbu — etwa 60000 Menschen — leben vornehmlich im nordwestlichen Teil des östlichen Hochland-Distrikts von Papua-Neuguinea, im Bereich der Flüsse Chimbu und Wahgi. Einige von ihnen siedeln in anderen Teilen des Hochlands. Ihr Gebiet ist das der größten Bevölkerungsdichte in Papua-Neuguinea und auch das ausgedehnteste Gebiet mit einer hohen Bevölkerungskonzentration. 151 Die Chimbu stellen in sprachlicher und kultureller Hinsicht eine Einheit dar: Sie werden von B R O W N und B R O O K F I E L D als eine größere Sprach- und Kulturgruppe bezeichnet. Eine ihre Einheit im Bewußtsein der Bevölkerung widerspiegelnde Selbstbezeichnung existierte offenbar nicht, ebensowenig wie sie nach B R O W N und B R O O K F I E L D eine politisch-organisatorische Einheit bildeten. 152 Die Chimbu als ethnographische Gemeinschaft in der Variante des historisch-ethnographischen Gebiets zu bezeichnen, 153 ist demnach durchaus naheliegend. Doch stellten die Chimbu zweifellos eine andere Qualität einer Einheit dar als etwa die Kukukuku. Eine gemeinsame Abstammungsüberlieferung verband alle Chimbu miteinander. Wenn auch keine Selbstbezeichnung der Chimbu in ihrer Gesamtheit existierte, so läßt diese Abstammungstradition doch das Bestehen eines Bewußtseins der Zusammengehörigkeit der einzelnen Chimbu-„Abteilungen" erkennen. Eine ihre Einheit ausdrückende Bezeichnung haben sie von östlichen Nachbarn erhalten, die sie Kuman nennen, Leute, die im „Westen" wohnen.154 In diese gemeinsame Abstammungstradition sind auch einige angrenzende „Gruppen" einbezogen, die eine etwas abweichende Sprache und Kultur besitzen. Die Überlieferung gibt einen genieinsamen Ursprungsort, Womkama, am Chimbu-Fluß an. Kriegerische Auseinandersetzungen und Wanderungen, so sagen die zahlreichen, jeweils ein wenig voneinander abweichenden Versionen, haben zur heutigen Verteilung der „Gruppen" geführt. 155 Neben der UrsprungsBROWN
« I BROWN, BROOKFIELD, 1959,
Table 152
2; NILLES, 1953,
LV>
p.
2, 2 3 , 3 3 .
Vgl. auch
SILLITOE, 1977,
p.
72/73
Table
1
und
11.
B R O W N , B R O O K F I E L D , 1 9 5 9 , p. 2 , 5 5 , 7 3 — 7 5 ; N I L L E S , 1 9 5 0 , p. 2 5 .
«3 BROMLEJ, 1977a, 154
p.
S. 3 3 ,
123.
BROWN, BROOKFIELD, 1959, p. 3 9 ; vgl. NILLES,
1950, p. 25.
p. 3 3 . Die Ursprungs-Überlieferung berichtet, daß es am Anfang nur sehr wenige Menschen gab. Eine F r a u und zwei Männer sind meist namentlich genannt. Die Männer tragen stets die Namen von zwei heute existierenden Stämmen oder Phratrien (tribes or phratry groups), und diese Namen variieren entsprechend den verschiedenen Versionen. Einer der beiden Namen ist jeweils der Name der Gruppe, die die Überlieferung erzählt. B R O W N und B R O O K F I E L D betonen, daß es allgemein üblich war, den Namen eines Mannes —also eines Vorfahren — als Gruppennamen zu verwenden (vgl. p. 37). Einer der beiden Männer, so heißt es in der Überlieferung, brachte der BROWN, BROOKFIELD,
1959,
Soziale Strukturen und ethnische Verhältnisse
143
tradition aller Chimbu gibt es detailliertere Überlieferungen der einzelnen „Gruppen", in denen das heute oft verstreute Siedeln von Gruppen gleichen N a m e n s erklärt wird, kriegerische Auseinandersetzungen, Allianzen und Wanderungen (sehr oft mit e x a k ten Wanderrouten) ausführlich geschildert werden. Diese Überlieferungen behandeln, wie durch die Erinnerung alter Männer erhärtet wurde, verhältnismäßig junge — bis in die ethnographische Gegenwart reichende — Beziehungen zwischen einzelnen Chimbu-„Gruppen".156 Vielleicht handelte es sich bei den Chimbu — so wie sie noch von BROWN und BROOKFIELD erfaßt wurden — auch um ein ethnisches Gebilde, das der von BROMLEJ skizzierten „ S t a m m e s f a m i l i e " als einer V a r i a n t e sogenannter ethnolinguistischer Gemeinschaften 1 5 7 n a h e k o m m t . I n diesem Zusammenhang ist es wesentlich, auf die von BROML E J angedeutete universalhistorische Abfolge der Herausbildung einer gemeinsamen Mythologie und der Entwicklung des Bewußtseins einer E i n h e i t bei der E n t s t e h u n g von „Gemeinschaften verwandter S t ä m m e " hinzuweisen. 1 5 8 D i e Erörterungen über die makroethnische E i n h e i t der Chimbu erfordern vor allem ein Eingehen auf die Einheiten, die von BROWN und BROOKFIELD als „ S t ä m m e " charakterisiert werden. Die N a c h b a r - „ S t ä m m e " des N a r e g u - „ S t a m m e s " u m f a ß t e n nach Brown und BROOKFIELD 1 7 0 0 bis 4 5 0 0 Menschen. Die Naregu selber zählten 2334 Angehörige. 1 5 9 Naregu ist vermutlich die Selbstbezeichnung dieses „ S t a m m e s " . E r besiedelte — wie alle C h i m b u - „ S t ä m m e " — ein geschlossenes Territorium. 1 6 0 W i e alle Chimbu„ S t ä m m e " stellten die Naregu eine Vereinigung benachbarter K l a n s dar, eine Interessengemeinschaft zur Wahrung der Sicherheit und zur Erweiterung der Einflußsphäre durch ökonomisch-zeremonielle wie kriegerische A k t i v i t ä t e n . 1 6 1 Allem Anschein n a c h besaßen gerade diese Einheiten keine hohe historische S t a b i l i t ä t . Die Verbindungen zwischen K l a n s wechselten, gewaltsame Auseinandersetzungen innerhalb der „ S t ä m m e " waren keinesfalls ausgeschlossen. 1 6 2 Sie führten ihren Zusammenhalt auch nicht auf eine gemeinsame Abstammung zurück. 1 6 3 I n t r a t r i b a l e Heiraten m a c h t e n bei den Naregu bis zu 4 5 % aus, etwa 4 0 % der Eheverbindungen betrafen b e n a c h b a r t e „ S t ä m m e " oder „Gruppen", die restlichen weiter entfernte Chimbu-Abteilungen. Von einer „ E n d o g a m i e " konnte demzufolge innerhalb dieser von BROWN und BROOKFIELD als S t ä m m e bezeichneten Einheiten keine R e d e sein. Heiraten zwischen den K l a n s eines solchen „ S t a m m e s " wie zwischen den „ S t ä m m e n " gaben den nicht selten — vor allem zwischen den „ S t ä m m e n " — wechselnden Allianzen eine gewisse S t a b i l i t ä t , bildeten die Ansatzpunkte für die Aufnahme neuer festerer Beziehungen wie für die Beendigung bestehender Spannungen und Auseinandersetzungen. 1 6 4 Frau und ihrem Ehemann die Kenntnis einiger grundlegender Kultur-Elemente der Chimbu, flas Feuermachen, Jagen oder die Gartenarbeit. Später kämpften die Männer miteinander und einer von ihnen wurde vertrieben ( B R O W N , B R O O K F I E L D , 1 9 5 9 , p. 3 3 ) . L:,LI
BROWN, BROOKFIELD,
1959, p.
33.
BROWN,
1977a, S. 124/125. «S BROWN, B R O O K F I E L D , 1959, p. 4, 44/45.
BROWN,
BROOKFIELD,
BROMLEJ,
I,I0
1959, p.
23.
'«2 B R O W N ,
BROOKFIELD,
1959, p. 34, 41/42. 1959, p. 42/43, 74.
i«1 B R O W N ,
BROOKFIELD,
1959, p. 34, 39,
F'I B R O W N , B R O O K F I E L D ,
BROWN, BROOKFIELD,
1959, p. 52—54.
44.
BROOKFIELD,
1959, p. 123.
144
BARBABA
TBEIDE
Die Stellung und Funktion der „Stämme" ist ohne Beachtung der von B R O W N und B R O O K F I E L D als „Phratrien" bezeichneten Einheiten nicht zu verstehen. Eine solche Phratrie war eine Gruppierung von Klans, die durch das Bewußtsein gemeinsamer Abstammung miteinander verbunden waren. Dennoch war auch die Phratrie nicht exogam. Die Klangruppierung nach „Stämmen" korrespondierte, wie B R O W N und B R O O K F I E L D betonen, nur in seltenen Fällen mit der Gruppierung der Klans nach Phratrien. 1 6 5 Phratrien oder Teile von Phratrien durchkreuzten auf unterschiedliche Weise die „Stammes"-Gebilde. Einheiten, bei denen ein „Stamm" aus einer Phratrie bestand, waren sehr selten. Die Naregu und die meisten der ihnen benachbarten „Stämme" setzten sich aus mehreren Phratrien oder Teilen von Phratrien zusammen, zu denen noch „andere Gruppen" gestoßen waren. 166 Zu den Naregu gehörten drei Naregu-Klans und die Reste der Gamgani. Die Gamgani waren einst unabhängig, später aber eng verbunden mit einer Unterabteilung des Numambugu-Klans, wobei sie allerdings ihre Exogamie beibehielten. 167 Diese Erscheinungen deuten in ihrer Gesamtheit darauf hin, daß sich bei den Chimbu bereits in vorkolonialer Zeit Prozesse des Übergangs zu territorialen Organisationsformen der Gesellschaft vollzogen haben, wenn auch die Klans noch eine wesentliche Stellung im gesamten Leben dieser Bevölkerung einnahmen. Der „Stamm" der Naregu zerfiel nach B R O W N und B R O O K F I E L D in drei NareguKlans von jeweils 788, 663 und 730 Personen. Der zu ihnen gestoßene Gamgani-Klan zählte 153 Menschen. 168 Die Mitglieder der Naregu-Klans siedelten auf einem geschlossenen Territorium. Doch innerhalb des „Stammes"-Territoriums befanden sich einzelne Klanlandinseln auch in den Gebieten anderer Klans. 169 Als wesentlichstes Merkmal der Chimbu-Klans nennen B R O W N und B R O O K F I E L D die Klanexogamie. 170 Die Exogamieregel verbot die Heirat in den Klan des Vaters und in den Subklan der Mutter. Obwohl die eigentlich beteiligten Parteien bei einer Eheschließung die engeren Verwandten väterlicherseits des jungen Mannes wie der jungen Frau waren, so schuf doch die Heirat nach Auffassung der Chimbu-,, Stämme" nicht nur eine Bindung zwischen ihnen, sondern auch zwischen den beiden Klans oder den beiden „Stämmen", denen sie angehörten. 171 Es ist verständlich, daß die Intensität dieser Inter-Klan- oder Inter-„Stammes"-Beziehungen wesentlich von der Anzahl der geschlossenen Ehen abhängig gewesen sein muß. J e mehr Ehever165
BROWN, BROOKFIELD, 1959, p . 5, 34,
166
1959, p. 45. Nach B R O W N und B R O O K F I E L D existierten in anderen Gebieten des Hochlands gesellschaftliche Einheiten, die Merkmale der ChimbuPhratrie und des Chimbu-Stammes verbanden, die sich auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführten und eine territoriale Einheit darstellten, die mit anderen Einheiten Bündnisse eingingen und die Beschränkung innerer kriegerischer Auseinandersetzungen durchzusetzen versuchten ( B R O W N , B R O O K F I E L D , 1959, p. 33/34, 44).
167
BROWN, BROOKFIELD, 1 9 5 9 , p. 44.
168
BROWN, BROOKFIELD, 1 9 5 9 , p . 4,
109
BROWN, BROOKFIELD,
170
BROWN, BROWNFIELD, 1 9 5 9 , p . 9,
56.
1959, p. 23, 51. Diese Klanland-Inseln kamen zustande als Folge kriegerischer Ereignisse, aber auch als Folge der Weitergabe von Landnutzungsrechten an Blutsverwandte, angeheiratete Personen oder Freunde in einem anderen Klan (BROWN, BROOKFIELD, 1 9 5 9 , p . 61).
17
44.
BROWN, BROOKFIELD,
1 BROWN, BROOKFIELD, 1959, p . 32,
51. 53.
Soziale Strukturen und ethnische Verhältnisse
145
bindungen, um so enger entwickelten sich die sozialen, ökonomischen und zeremoniellen Beziehungen, wie Geschenkaustausch, gegenseitige Unterstützung bei der Arbeit, Hilfeleistung bei Verpflichtungen gegenüber Dritten usw. 172 Der Klan als Abstammungsgruppe besaß ein bei unterschiedlichen Anlässen zum Ausdruck kommendes Zusammengehörigkeitsgefühl. 173 Die gemeinsame Verteidigung ihres Territoriums galt als zwingende Verpflichtung für alle Klanmitglieder. 174 Hatte ein anderer Klan des „Stammes" nach dem Ableben eines Mannes eine der gebräuchlichen Zahlungen (death payment) an dessen matrilaterale Verwandtschaft aufzubringen, leistete eine Klangemeinschaft oft geschlossen ihren Beitrag. Die Institution eines Klananführers hat es bei den Naregu-Klans wie bei allen ChimbuKlans vor 1934 nicht gegeben. Einer der führenden Männer des Klans nahm im Bedarfsfall die Vertretung der Klangemeinschaft nach außen hin wahr. 175 Zwei der vier Klans des Naregu-„Stammes" unterteilten sich in jeweils zwei Klansektionen. Diese Klansektionen gliederten auch zahlenmäßig die beiden Klans in annähernd gleiche Hälften (446:343; 329:334). 1 7 6 Die Mitglieder der Klansektionen waren durch gemeinsame Aktionen gegen äußere Feinde, gemeinsames Auftreten bei größeren Zusammenkünften verbunden, und häufiger Wohnsitzwechsel fand über die Subklangrenzen hinweg innerhalb einer Klansektion statt. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Klansektionen unterschieden sich allerdings erheblich voneinander. Die Sektionen des Numambugu-Klans zeigten eine deutliche Tendenz zur zunehmenden Separierung, die eine Spaltung des Klans erwarten ließ. Die Sektionen des Kombaku-Klans ließen eine solche Tendenz nicht erkennen. Bei ihnen ergaben sich infolge von Spannungen innerhalb der Sektionen Annäherungen von Subklans über die Grenzen der Sektionen hinweg. Doch zeichneten sich vor 1958 noch keine Möglichkeiten für neue Klangruppierungen innerhalb der Kombaku ab. 1 7 7 Die Subklans des Naregu-,, Stammes" variierten in ihrer Größe zwischen 36 und 243 Personen (der Durchschnitt betrug 123 Menschen). Der Subklan scheint eine stabile Einheit gewesen zu sein, er war ausgenommen von den häufigen Segmentierungen der verschiedenen Abteilungen innerhalb der Chimbu-Gesellschaft. 178 Das Land eines Subklans bildete keinen geschlossenen Bezirk innerhalb des Klanlandes, sondern zerfiel — teilweise als Folge kriegerischer Ereignisse und Wanderungen, teilweise auf Grund der Weitergabe von Landnutzungsrechten an einen Blutsverwandten, angeheirateten Verwandten oder Freund in einem anderen Subklan — stets in zahlreiche verstreut liegende Blöcke. 1 7 9 Die Männer lebten in Gemeinschaftshäusern ihres Subklans. Um von dort zu den Häusern ihrer Ehefrauen zu gelangen, mußten sie oft Land anderer Subklans durchqueren. 180 Die zersplitterte Lage der Subklans wirkte zum einen wie eine Klammer um alle Klanmitglieder, förderte andererseits aber ohne
172
BROWN, BROOKFIELD,
1959,
p.
9/10;
vgl. auch p.
173 B R O W N , B R O O K F I E L D , 1 9 5 9 , p . 3 2 / 3 3 , 174
BROWN, BROOKFIELD,
1959, p. 51.
17Ä
BROWN, BROOKFIELD,
1959, p.
176
BROWN, BROOKFIELD, 1959,
177
BROWN, BROOKFIELD, 1959, p. 55,
59.
BROWN, BROOKFIELD, 1 9 5 9 , p. 59,
62.
179 BROWN, BROOKFIELD,
p.
54/55.
54/55. 4;
1959, p. 23,
vgl. auch p.
60/61.
180
B R O W N , B R O O K F I E L D , 1 9 5 9 , p . 7,
61.
10
Jahrbucli des Museums für Völkerkunde Bd. X X X I I I
56.
56.
146
BARBARA TREIDE
Frage die Ausbildung wichtiger ökonomischer und sozialer Beziehungen zwischen (nicht verwandten) Nachbarn. Als wesentliche Funktionen des Subklans sind aus den Angaben B R O W N S und B R O O K F i E L D s die folgenden zu ermitteln: Aufbringung von Mitteln zur Präsentation bei Heirat und Tod und Weitergabe des Landnutzungsrechtes bei bestehender patri-virilokaler Wohnfolge als Regel wie hauptsächliche Praxis. I n vielen Fällen trat der Subklan als Zeremonialeinheit und als lokale Gruppe im Rahmen von Klan- und Stammeszusammenkünften auf. Gegenseitige Arbeitshilfe und materielle Unterstützung kennzeichneten die Beziehungen der Subklanmitglieder untereinander. 181 Einige Subklans der Chimbu zerfielen noch einmal in Unterabteilungen (subclan subdivisions, subclan sections, patrilineages nach Brown und Brookfield). Die Unterabteilungen der Subklans korrespondierten häufig mit einer Siedlungseinheit (residence), d. h. die einzelnen Männerhäuser des Subklans wurden hauptsächlich oder ausschließlich von Männern einer Subklanunterabteilung bewohnt. Patrilinien bzw. Subklanunterabteilungen traten bei bestimmten Aktivitäten — vor allem bei Heirat und Tod, aber auch in allen anderen Fragen gegenseitiger Unterstützung — als kooperierende Gruppen in Erscheinung. 182 Im allgemeinen war das historische Interesse der Naregu und aller Chimbu nicht sonderlich ausgeprägt, und nur noch einige wenige alte Männer der Patrilinien der beiden Subklans Sungwakani und Burukngaumo konnten die genealogischen Verbindungen innerhalb ihrer Linien angeben. Die jüngeren Männer, so schreiben B R O W N und B R O O K F I E L D , haben (1959) nur noch wenig Interesse an der weiter zurückliegenden Vergangenheit ihrer Gruppen, so daß Überlieferungen und genealogische Kenntnisse bereits 25 Jahre nach dem Einsetzen der ständigen kolonialen Einflußnahme im Naregu-Gebiet (die Naregu gehörten zu den „akkulturiertesten" Chimbu 183 ) nicht mehr Allgemeingut der männlichen Bevölkerung waren. Es existierte noch eine Vorstellung von der Gemeinschaft „eines Blutes". 184 Die bei den Chimbu beobachtete Freizügigkeit in der Wahl des temporären oder dauernden Wohnortes wie auch die Möglichkeit, die Subklan-Zugehörigkeit zu wechseln (im Falle der Adoption), führten dazu, daß in den einzelnen Einheiten — Klans, Subklans, Patrilinien — die jeweils agierende Männergemeinschaft nicht nur aus Personen der patrilinearen Abstammungsgruppe, sondern in mehr oder weniger großer Zahl auch aus anderen Verwandten (matrilateral kin, affines) und „Freunden" zusammengesetzt war. 185 B R O W N und B R O O K F I E L D schreiben, daß Siedlungs- und Arbeitsgruppen in einem Subklan sich oft auf der Basis der Nachbarschaft und konkreter günstiger Umstände formierten. 186 Es steht außer Frage, daß in der Chimbu-Gesellschaft in vorkolonialer und zumindest auch noch in frühkolonialer Zeit die Vorstellung eines verzweigten patrilinearen Abstammungssystems das herrschende ideologische Konzept war. Vielfach wurden offensichtlich nicht dazu gehörige Personen unter bestimmten Umständen auch in i s i B R O W N , B R O O K F I E L D , 1 9 5 9 , p . 5, 7, 2 3 , 3 2 , 5 5 , 5 9 , B R O W N , BROOKFIELD, 1 9 5 9 , p . 5, 183
62-64.
B R O W N , BROOKFIELD, 1 9 5 9 , p ; 2.
* 8/ ' B R O W N , B R O O K F I E L D , 1 9 5 9 , p . 5 , 3 5 , LS
-> B R O W N , B R O O K F I E L D , 1 9 5 9 , p . 6 1 ,
I80 B R O W N , BROOKFIELD,
1 9 5 9 , p . 5.
73.
62.
74.
Soziale S t r u k t u r e n u n d ethnische Verhältnisse
147
dieses System integriert. 1 8 7 Auf diese Weise war es möglich, die Einheit eines relativ großen Personenkreises zu demonstrieren. Zugleich wurde in der gesellschaftlichen Praxis dieses Konzept in vielfältiger Weise ergänzt, gestört und unterlaufen. E s gab eine deutliche Tendenz zur Herausbildung andersartiger Bindungen, die auf ihre Art ein Netz von Beziehungen zwischen den einzelnen Abteilungen der Chimbu schufen. Wie bereits angedeutet wurde, ist eine Klärung der Frage, ob „die Chimbu" als eine ethnographische Gemeinschaft (im Sinne eines historisch-ethnographischen Gebiets) oder als „Stammesfamilie" anzusprechen sind, nicht zuletzt von der Beantwortung der weiteren Fragen nach dem Charakter der Chimbu-„Stämme" abhängig. Gerade f ü r eine diesbezügliche Antwort fehlen aber ausreichende Kriterien: Die F u n k tionen der „ S t ä m m e " sind nicht deutlich genug zu fassen. Wahrscheinlich handelte es sich bei diesen „ S t ä m m e n " u m historisch relativ junge Gebilde, deren Formierung mit Prozessen der sozialökonomischen Differenzierung, mit dem Übergang von der Dominanz verwandtschaftlicher Organisationsformen zum Dominieren territorialer Organisationsformen und auch mit der schrittweisen Besetzung fast des gesamten Territoriums der Chimbu in Zusammenhang stand. Die Vermutung ist wohl angebracht, daß sich im Chimbu-Gebiet vor der Kolonialzeit tiefgreifende ethnische Prozesse vollzogen, daß sich „Kerne" neuer Ethnien herausbildeten, die mit verhältnismäßig stabilen Gruppierungen sich formierender „ S t ä m m e " zusammenfielen. Unter diesen Umständen können ethnosoziale Organismen keine sehr dauerhaften Gebilde gewesen sein. Sie sind wohl mit solchen „Kernen" neuer Ethnien weitgehend identisch gewesen. Man darf annehmen, daß die einstigen Phratrien — Gruppierungen verwandter Klans — durch die genannten Prozesse in nicht geringem Umfang aufgelöst worden sind u n d an gesellschaftlicher Bedeutung verloren haben, während die Klans selber als soziale Zellen weiterhin in Funktion blieben. Nicht zu übersehen ist, daß sich aber auch in ihnen bereits die Keime ihrer Auflösung durch die relative, vor allem ökonomische Verselbständigung der Einheiten der Subklans und Patrilinien herausbildeten. Mit der Schwierigkeit einer Bestimmung dessen, was ein ethnosozialer Organismus war, ist natürlich auch das Problem verbunden, jene Einheit zu definieren, die bei den „Chimbu-Stämmen" als ethnosoziale Mikroeinheit in Erscheinung t r a t . Allein aus der Sicht des Naregu-Materials und einiger Angaben über benachbarte Gruppen ist die außerordentlich komplizierte Frage nicht zu beantworten.
4. Negwa
(-JegJiuje)
Verhältnismäßig ergiebiges Material über die Beziehungen zwischen sozialen Erscheinungen und Prozessen auf der einen Seite und ethnischen Erscheinungen und Prozessen auf der anderen Seite legt H A N S F I S C H E R in seiner Untersuchung „Negwa" dar. Diese Monographie behandelt eine Gruppe der K u k u k u k u im östlichen zentralen Hochland (am oberen Tauri) von Papua-Neuguinea. Vorzüge dieser Monographie bestehen darin, daß der Autor alle Angaben seiner Gewährsleute über gesellschaftliche Normen anhand konkret-statistischer Daten überp r ü f t hat, daß er gleichzeitig Ansichten und Auffassungen der Gewährsleute über »87 Vgl. BROWN, BROOKFIELD, 1959, p. 63-67. 10*
BABBABA TBEIDE
148
die Beziehungen zu anderen Gruppen, vor allem auch hinsichtlich einer Wertung dieser Beziehungen, aufgenommen und versucht hat, alle gesellschaftlichen Einheiten v o n der g r o ß e n G r u p p e der K u k u k u k u ( 5 0 0 0 0 bis 6 0 0 0 0 M e n s c h e n 1 8 8 ) bis h i n z u m
Haushalt und zur Familie zusammen mit den zwischen diesen Einheiten bestehenden Beziehungen zu beschreiben. Die Kukukuku in ihrer Gesamtheit können durchaus als eine ethnographische Gemeinschaft (in der Variante eines historisch-ethnographischen Gebiets) angesprochen werden. 189 Kukukuku ist kein Name, der eine Einheit im Bewußtsein dieser Bevölkerung ausdrückt, vielmehr soll er ihnen von Nachbargruppen — Küstenbewohnern am Papuagolf — gegeben und bald auch in die ethnographische Literatur aufgenommen worden sein. Seine Herkunft und Bedeutung sind allerdings bis heute nicht eindeutig ermittelt. 190 Die Kukukuku bilden nach FISCHER keine politischorganisatorische Einheit. 191 Sie sind aber kulturell und auch in ihrem physischen Habitus einander verhältnismäßig ähnlich. 192 Sie unterscheiden sich von benachbarten Bewohnern des Markham-Tales wie auch anderer Hochlandgebiete, so daß FISCHER zur Auffassung kommt, daß in ihnen möglicherweise eine verhältnismäßig alte Bevölkerung der östlichen Hochlandregion zu sehen ist. 193 Als „Stamm" bezeichnet FISCHER die Jeghuje, eine Gruppe von etwa 880 Menschen (1965), die eine Siedlungseinheit bildeten. „Jeghuje" ist ihre Selbstbezeichnung und „negwa" bedeutet in der Jeghuje-Sprache „wir". 194 Es gibt keine Dialektunterschiede innerhalb des „Stammes". Die Jeghuje stellten nach FISCHER weder eine politisch-organisatorische noch eine zeremonielle Einheit dar. Nach seiner Aussage waren sie überwiegend endogam. 195 Die Jeghuje unterhielten unterschiedlich intensive Beziehungen zu vier anderen (benachbarten) „Stämmen": zu den Hjaltje, zu den Wotjemije, zu den Hilemije und zu den Katje. Diese Beziehungen entwickelten sich, obwohl alle genannten „Stämme" anderen Dialektgruppen angehören. Die Jeghuje sind vor etwa 100 Jahren aus einem im Süden, westlich von Menyamya gelegenen Gebiet, aus dem Gebiet der Yagwoi-Sprachgruppe, zugewandert. Während sich die Hjaltje, Wotjemije und Hilemije untereinander verständigen konnten, verkehrten die Jeghuje sowohl mit ihnen als auch mit den.Katje nur durch die Vermittlung zweisprachiger Personen. 190 FISCHEB, 1 9 6 8 , S. 3 2 . 189 FISCHEB, 1 9 6 8 , S. 2 5 - 3 5 ; BROMLEJ, 1 9 7 7 a , S . 3 3 , 1 2 3 . WO FISCHEB, 1 9 6 8 , S. 2 5 - 3 0 ,
34/35.
«>I FISCHEB, 1 9 6 8 , S. 35. ¡92 FISCHEB, 1 9 6 8 , S. 2 8 , 3 0 , 3 4 / 3 5 . 193 FISCHEB, 1 9 6 8 , S . 3 5 .
194 FISCHEB hat sich nur bei einer der drei Lokalgruppen des Stammes, der Pano-Gruppe, längere Zeit aufgehalten und deshalb seiner Publikation nicht den Stammesnamen Jeghuje gegeben. Tatsächlich konnte er aber die beiden anderen Lokalgruppen vergleichend untersuchen und keine Unterschiede in der Kultur der Jeghuje feststellen (FISCHEB, 1968, S. 9, 19). 195 FISCHEB, 1968, S. 35/36. Bei Verlobungen bestand sogar eine gewisse Tendenz, in der Lokalgruppe zu verbleiben (S. 145). 196 FISCHEB, 1968, S. 34, 40/41. FISCHEB schreibt: „Es ist auch nicht eindeutig, ob sie alle als .Stämme' (vergleichbar den Jeghuje) zu bezeichnen sind, oder ob nicht manche tatsächlich ,Clans' darstellen." (S. 38). Und an anderer Stelle: „Wenn hier eine ganze Anzahl
Soziale Strukturen und ethnische Verhältnisse
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Die engsten Beziehungen besaßen die Jeghuje zu den Katje. Zu ihnen bestanden häufige Heiratsbeziehungen, es fand eine wechselseitige Teilnahme an Initiationszeremonien statt, man führte miteinander keinen Krieg und war durch Austauschbeziehungen verbunden. 1 9 7 Mit den Hjaltje unterhielten sie ebenfalls Austauschbeziehungen, kriegerische Verwicklungen waren ausgeschlossen, und es kam auch zu gelegentlichen Heiraten. Ungeachtet der Tatsache, daß die Wotjemije an Initiationszeremonien der Jeghuje teilnahmen und auch Austauschverbindungen existierten, haben doch kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gruppen stattgefunden. In bezug auf die Hilemije wurde FISCHER lediglich bekannt, daß die Jeghuje mit ihnen hin u n d wieder in kriegerische Auseinandersetzungen verstrickt waren. Gastfreundschaft gewährten untereinander die Jeghuje, die Hjaltje, die Wotjemije und die Katje. 1 9 8 Die ungeachtet der sprachlichen Situation besonders engen Beziehungen der Jeghuje zu den K a t j e und auch zu den Hjaltje sind unverkennbar. Nach ihrer eigenen Aussage bildeten sie mit diesen Gruppen auch eine „größere Einheit" (FISCHER), doch ohne dafür eine Bezeichnung zu haben. Offensichtlich spielte auch ein gleichartiges historisches Schicksal bei der Herausbildung dieses Zusammengehörigkeitsgefühls eine gewisse Rolle. 199 Von den Hilemije sagten die Jeghuje, daß sie ein etwas „anderes Aussehen" besäßen, nicht ganz gleiche Kleidung und Schmuck trügen und „Diebe" seien. 200 In den Mythen der J e g h u j e werden Bevölkerungen im „Süden" erwähnt, mit denen sie in Austauschbeziehungen standen, aber auch eine Bevölkerungsgruppe, mit der sie in kriegerische Verwicklungen verstrickt waren. 201 Ohne Fragen spiegelten sich hier Erinnerungen an eine Herkunft aus dem „Süden" wider, von woher die Jeghuje, wie weiter oben bereits erwähnt, möglicherweise erst vor 100 Jahren unter Druck in das spätere Siedlungsgebiet gekommen waren. 202 Während in den mythischen von Gruppen scheinbar gleichwertig nebeneinander aufgezählt wurden, so besagt das nichts darüber, wie weit sie auch untereinander gleich artig sind, d. h., etwa d e m ,Stamm' der Jeghuje entsprechen. Außer den Kätje scheint keine der andern, von den Jeghuje mit einem besonderen N a m e n benannten Gruppen eine den Jeghuje gleichende Einheit darzustellen. . . . Durch diese Absplitterung von der eigenen größeren Sprachgruppe gelangten die Jeghuje zwischen lauter sich von ihnen deutlich unterscheidende Dialektgruppen. Die einzelnen Clans der Wotjemije, Khangghotje, Hilemije und Hjaltje jedoch sprechen jeweils voneinander leicht unterschiedliche Dialekte, jeder Clan unterscheidet sich v o m andern ein wenig. Gleichzeitig aber unterscheiden sich alle nicht eindeutig voneinander (so wie Jeghuje von Hilemije). So scheinen sich innerhalb der großen (Banir-) Dialektgruppen jeweils nur relativ stabile, meist lokal abgegrenzte Untergruppen zu bilden, die dann benannt werden. Die wesentlichen Gruppen sind aber die Clans oder Linien, die offenbar häufig auch die größten politischen Einheiten überhaupt sind. Wie sehr die Sprache für diese Gruppenbildungen entscheidend ist, zeigt sich an den Kätje. Auch bei ihnen, die ebenso wie die Jeghuje einen v o n den Banir-Dialekten unterschiedlichen Dialekt sprechen, finden sich keine Dialektunterschiede zwischen den einzelnen Linien und es gibt eine den Jeghuje entsprechende größere Einheit, den ,Stamm' (FISCHES, 1968, S. 41). 13' FISCHER, 1968, S. 36, 44. 1 98 FISCHER, 1968, S. 40.
»09 FISCHER, 1968, S. 3 6 - 4 1 . 200 FISCHER, 1968, S. 40/41. 201 FISCHER, 1968, S. 210, 3 1 8 / 3 1 9 , 372.
202 FISCHER, 1968, S. 425.
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Überlieferungen die Hjaltje und Wotjemije Erwähnung finden, mußte F I S C H E R konstatieren, daß über die K a t j e und Hilemije niemals berichtet wird. 203 Zweifellos verliefen, zumindest seit dem vorigen Jahrhundert, im Bereich der Kukukuku stärkere Bevölkerungsbewegungen und ethnische Umformungsprozesse. Daß die Herausbildung neuer stabiler Ethnien auch zur Zeit der Feldforschungen F I S C H E R S ( 1 9 5 8 / 5 9 und 1 9 6 5 ) noch nicht abgeschlossen war, zeigen die sehr unterschiedlichen Beziehungen der Jeghuje zu ihren Nachbargruppen. Unter diesen objektiven Umständen ist es kaum möglich, die Umrisse eines sich formierenden Ethnos zu erkennen. Das wird erschwert auch durch den subjektiven Umstand der weitgehenden Konzentration F I S C H E R S auf die Jeghuje, so daß tatsächlich schwer zu ermitteln ist, welchen Ausschnitt aus einem Kontinuum ethnischer Beziehungen und Prozesse F I S C H E R erfaßt hat. Auf keinen Fall sind die „Stämme" F I S C H E R S als Ethnien anzusehen. Allenfalls kann man in ihnen ethnosoziale Organismen, relativ stabile Einheiten innerhalb größerer ethnischer Komplexe erblicken. Der „Stamm" der Jeghuje zerfiel nach F I S C H E R in drei lokale Gruppen mit 2 4 6 , 4 9 5 und 1 3 9 Personen ( 1 9 6 5 ) . Jede dieser lokalen Gruppen bestand aus mehreren Niederlassungen, doch war jede Gruppe durch eine gewisse räumliche Ballung der Siedlung deutlich als Einheit zu erkennen. Es gab keine eigentlichen Namen für die lokalen Gruppen, sie wurden oft nach einer größeren Niederlassung benannt. 204 Zwischen der Zeit von 1958 bis 1965 erfolgte in zwei Lokalgruppen im wesentlichen eine Konzentration auf nur eine größere Niederlassung, was möglicherweise vor allem eine Folge der Missionstätigkeit war. 205 Infolge der Brandrodungswirtschaft wurden die Siedlungen oft gewechselt, doch scheint man nach einer gewissen Zeit bevorzugt wieder alte Plätze aufgesucht zu haben. 200 Es existierte ein schwer zu definierendes Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Angehörigen einer Lokalgruppe. 207 Das erscheint wesentlich, da einige Männer (bei Patrilinearität der Deszendenz und bei Patrilokalität der Heirat) nicht in der jeweiligen Lokalgruppe geboren waren, in der sie Landnutzungsrechte durch die mütterliche Linie oder durch die Frau erhielten und in der sie ihren ständigen Wohnsitz nahmen. Die Weitergabe von Landnutzungsrechten — an Land war kein Mangel — war nämlich durchaus nicht starr an diese patrilineare Orientierung gebunden, wenn sie auch vorrangig in der väterlichen Linie erfolgte. 208 Hypothetisch können diese lokalen Gruppen als mikroethnosoziale Gebilde angesprochen werden. In jeder Lokalgruppe waren Angehörige mehrerer sogenannter Linien vertreten. Die Zugehörigkeit zu einer solchen Linie wurde patrilinear vererbt. Nach F I S C H E R waren die Hauptfunktionen dieser Linien: Weitergabe des Landnutzungsrechts, Aufbringung von Mitteln bei Heirat und Tod. 209 Hervorzuheben ist die Feststellung 2 IVABERRY, 1 9 6 7 , p p . 1 1 5 , 1 1 8 - 1 2 0 ;
WADDELL, 1973, p . 41. V g l . a u c h LANGNESS, 1 9 6 4 ,
p. 172 f. 2'.o Vgl. S. 146 der vorliegenden Arbeit. I n Auswertung der Materialien BULMERS über die K y a k a u n d im Vergleich mit den Angaben über die Chimbu k o n n t e KABERRY schreiben: „As among t h e Chirnbu and other peoples, individuals achieve positions of influence b y accumulating pigs and valuables and using these in loans and ceremonial exchanges. Some of these are able to secure the assistence not merely of d i s t a n t relatives b u t even of genealogical unrelated members of their own or neighbouring settlement groups" (1967, p. 1 1 7 ) . 241
V g l . S. 138 d e r v o r l i e g e n d e n A r b e i t ; STRATHERN, A . , 1972, p . 5 1 .
LANGNESS, 1964, p . 1 8 1 ; KABERRY, 1967, p . 1 1 9 ;
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strierung der Zusammengehörigkeit von Stämmen und Stammesabteilungen, während das genealogische Gedächtnis im Bereich der „unteren Ebenen" (der Klans und vor allem der Klanabteilungen) — wie bei der Behandlung der vier Beispiele wiederholt zur Sprache kam — bemerkenswert flach war. 241a Dieser Sachverhalt stand in engem Zusammenhang mit der Entwicklung ethnischen Bewußtseins; darauf wird noch zurückzukommen sein. Aus dem Voranstehenden geht wohl mit einiger Klarheit hervor, daß sich die gesellschaftlichen Beziehungen der Hochlandbevölkerungen in vor- und frühkolonialer Zeit nicht als „segmentär" charakterisieren lassen, aber auch nicht als eine Gesellschaftsordnung mit Stammesanführern, Stammesräten usw. Wie das System verhältnismäßig weiträumig auf vielfältige Weise miteinander verbundener „big men" (deren Stellung und Einfluß eng mit der Herausbildung und der Rolle herausragender gesellschaftlicher Einheiten, vor allem von Klans, verbunden war) als regionalhistorische Erscheinung universalhistorisch zu werten und einzuordnen ist, kann ausgehend allein von Material über die Insel Neuguinea nicht entschieden werden. Auf jeden Fall hat es im Hochlandbereich festgefügte potestatisch-politische Einheiten in strikter Abgrenzung zu anderen solchen Einheiten nicht gegeben. Damit fehlte eine wichtige objektive Voraussetzung für die Ausformung ethnischer Einheiten. Es erhebt sich die Frage, ob und wie kriegerische Auseinandersetzungen zur Integrierung und Abgrenzung ethnischer Einheiten und Komplexe beigetragen haben. Nach übereinstimmender Aussage aller Autoren waren kriegerische Auseinandersetzungen im Hochland eine häufige und überall auftretende Erscheinung. Diese Quellen zeigen aber zugleich mit großer Deutlichkeit, daß „Krieg" nicht gleich „Krieg" war. 242 Infolge „alltäglicher" Streitereien (z. B . wegen des Eindringens von Schweinen in fremde Gärten) konnte es gerade mit benachbarten Gruppen häufig zu Auseinandersetzungen kommen. 243 Handelte es sich dabei um Streitigkeiten innerhalb eines Klans oder auch eines „Stammes", war offenbar die Möglichkeit der relativ raschen und unkomplizierten Beilegung gegeben. 244 Während gespannte Beziehungen zwischen benachbarten Gruppen häufige Heiraten zwischen eben diesen Gruppen nicht unmöglich machten, haben tiefer verwurzelte Feindschaf ten und stabile Heiratsbeziehungen offenbar einander ausgeschlossen. 245 Angeheiratete Verwandte und „trading partners" 2'*IaZur „patrilinearen Ideologie" der Hochlandbevölkerungen vgl. KABERRY, 1 9 6 7 ; einen guten Einblick in die Wirkungsweise dieser „Ideologie" vermitteln die Angaben über die Korofeigu, B e n a Bena-Tal (LANGNESS, 1964, pp. 164ff.). 2« Vgl. u. a. V I C E D O M , T I S C H N E R , 1 9 4 3 - 1 9 4 8 , I, S. 144, 1 5 1 ; R E A D , 1954, pp. 1 1 / 1 2 ; SALISBURY, 1 9 6 2 , p . 1 4 ; BERNDT, 1 9 6 4 , p p . 183,
192/193.
2 « RAPPAPORT, 1 9 6 7 , p p . 9 9 / 1 0 0 . Vgl. a u c h BERNDT, 1 9 6 4 , p. 1 9 3 .
2« Vgl. S. 145 der vorliegenden Arbeit; B E R N D T , 1964, pp. 189/190, 192/193. M. S T R A THERN charakterisierte die Bedingungen für die Beilegung von Auseinandersetzungen wie folgt: „Many offences were (and are) defined in terms of the appropriate named category of compensation payments. B u t there was no simple contrast between disputes settled by such payments and those settled by recourse to violence. Delicts themselves were not classified: the mobilization of a fighting force might be provoked by any a c t which could also be settled peacefully. Relations between the parties concerned was the chief factor. Thus quarrels between members of a single clan or sub-clan involved a range of sanctions different from those between allied clans and different again from those between members of major enemy groups" (1972, p. 228). 2« BERNDT, 1964, pp. 194/195, 198/199, 203. Vgl. auch BROWN, 1964.
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scheinen in den kriegerischen Auseinandersetzungen eine besondere Stellung eingenommen und eine besondere Behandlung erfahren zu haben. 2 4 6 I m allgemeinen trugen stabile (zeremonielle) Austauschbeziehungen zur Festigung freundschaftlicher Beziehujigen zwischen einzelnen Bevölkerungen bei bzw. h a t t e n solche Beziehungen zur Voraussetzung. 246 " I n weiterführenden Untersuchungen wird Fragen der „Umwandlung" feindseliger Beziehungen in (zeremonielle) Austauschbeziehungen und des Einsatzes ökonomischer bzw. nicht-ökonomischer, kriegerischer Mittel in der Austragung von Rivalitäten zwischen Gruppen und ihren „big men" Aufmerksamkeit zu widmen sein. 246b I m Falle kriegerischer Eskalationen wurden offenbar in der Regel die jeweils höheren Organisationseinheiten einbezogen: nach dem Subklan der Klan, Klangruppierungen, der „ S t a m m " usw. 247 Es hat nachweislich dauerhafte Allianzen zwischen Gruppen und gleichfalls „Erbfeindschaften" gegeben, doch muß auch mit nicht seltenem Wechsel der Bindungen gerechnet werden. 248 Kriegsziel konnte die Tötung von Gegnern und die Vertreibung von ihrem Land, die Zerstörung wirtschaftlichen Potentials (z. B. Vernichtung von Fruchtbäumen, Wegnahme von Schweinen) u n d die „Aneignung" von Frauen und Kindern sein. 249 Die Existenz zahlenmäßig schwacher Subklans oder Klans wie die Aufnahme von „Flüchtlingen" in anderen Gruppen gingen sicher auch auf solche Ursachen zurück. Daß Kriege um Land geführt wurden, wird von einigen Autoren in Frage gestellt . Wohl nur in seltenen Fällen war — entsprechend dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte und den örtlichen natürlichen Gegebenheiten — Landmangel eingetreten. Freilich stellen sich der zweifelsfreien Ermittlung dieses Sachverhaltes nicht geringe methodische Schwierigkeiten entgegen. 250 Auf jeden Fall sind Umsiedlungen unter gegnerischem Druck auch in größerem Umfang und f ü r längere Dauer erfolgt. 251 246
BEBNDI, 1964, pp. 194-198, 203; dazu auch BROWN, 1964.
24
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R E A D , 1954, v o r a l l e m p p . 4 / 5 , 19. S . u n d R . BULMER f o l g e n d i e s e n V o r s t e l l u n g e n
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dieser Gebiete nennt er sprachlich-kulturelle Gruppierungen, die im wesentlichen den in der vorliegenden Untersuchung als Ethnien bzw. ethnographische Gemeinschaften (in der Variante eines historisch-ethnographischen Gebiets) bezeichneten Einheiten entsprachen. Diese drei großen Kulturgebiete R E A D S entnimmt man der vom Autor skizzierten Karte, auf der die Grenzen der drei „main culture areas" deutlich angegeben und die Bezeichnungen der drei Gebiete eingetragen sind. Im Text allerdings spricht R E A D vorwiegend von einem westlichen und einem östlichen Gebiet und schließt die in seiner „central culture area" eingetragenen Chimbu mehr dem westlichen Gebiet an. An anderer Stelle seines Aufsatzes formuliert er noch eindeutiger, daß er das westliche Gebiet in vier Untergebiete gliedern möchte: in die der Chimbu, Hagen, Wabaga und Mende. B U T I N O V schließt sich in seiner Arbeit aus dem Jahre 1962 der Auffassung R E A D S in bezug auf eine große Zweiteilung im zentralen Hochland an und spricht von zwei „ethnischen Gruppen". Dazu haben ihn offenbar auch die Ausführungen R E A D S über die auch anthropologisch wie linguistisch sich voneinander unterscheidenden beiden großen Gebiete veranlaßt. In dem 1968 erschienenen Buch BUTESTOVS „Papuasy Novoj Gvinei" wiederholt der Autor seine Ansicht unverändert. 259 W A T S O K hat 1967 die Frage nach dem Bestehen lokaler Unterschiede in der Kultur und Lebensweise der Grundbevölkerung Neuguineas, nach Kriterien ihrer Bestimmung erneut aufgeworfen. In diesem Zusammenhang spricht er auch NAKOLLS Arbeit „On Ethnic Unit Classification" (1964) an.260 Durch die einstige Ausdehnung der Kolonialherrschaft auf die Hochlandgebiete Papua-Neuguineas wurden Bedingungen geschaffen und Entwicklungen in Gang gesetzt, die über ökonomische, soziale, politische und ideologische Veränderungen langfristig auch auf ethnische Erscheinungen und Prozesse Einfluß nehmen mußten. Grundsätzlich gilt auch für diese Region, was P U Ö K O V 1967 allgemein für Neuguinea formuliert hat: „Die allmähliche Erhöhung des Niveaus der sozialökonomischen Entwicklung, die großen Verschiebungen von Arbeitskräften zwischen den einzelnen Gebieten und das Erstarken des nationalen Befreiungskampfes — das alles begünstigt in bestimmtem Maße eine gewisse Annäherung seiner (gemeint ist Neuguinea — B. T.) READS und können zeigen, daß sie von den archäologischen Befunden gestützt werden (1964, pp. 43/44, 74). In diesem Zusammenhang beklagen sie, daß die „Sozialanthropologen" bei ihren Untersuchungen die Aufnahme von Gegenständen der materiellen Kultur vernachlässigt haben (pp. 75/76, Anmerkung 7). In der jüngeren Vergangenheit wurden zunehmend Anstrengungen unternommen, Elemente der materiellen Kultur in der Analyse musealer Bestände und ethnographischer wie historischer Nachrichten, in der Erhebung mündlicher Traditionen und der Behandlung archäologischer Zeugnisse zur Ermittlung historisch-kultureller Gebiete, zur Erhellung besiedlungsgeschichtlicher und e t h n o g e n e t i s c h e r F r a g e n h e r a n z u z i e h e n (vgl. TREIDE, B . , 1967; TIESLER, 1 9 6 9 / 1 9 7 0 ; TIESLER, 1970;HUGHES, 1973). E r i n n e r t sei hier an die F e s t s t e l l u n g BROMLEJS zur R o l l e
spezifischer Züge der materiellen Kultur bei der Entwicklungeines Ethnikos und zur Bedeutung der Erforschung der materiellen Kultur für die wissenschaftliche Bestimmung der Ethnikoi (vgl. S. 119 der vorliegenden Arbeit). 259 BUTINOV, 1 9 6 2 a , S . 1 8 3 - 1 8 5 ; BUTINOV, 1 9 6 2 b , S . 8 7 ; BUTINOV, 1 9 6 8 , S. 2 9 . F r a g l o s
gibt die sprachliche Verwandtschaft die sichersten Hinweise auf historisch-genetische Zusammenhänge. Bekanntlich ist aber die Diskussion um die Sprachen Neuguineas bei weitem noch nicht abgeschlossen. Vgl. dazu auch GRACE, 1968; PUÖKOV, 1976; WURM, 1 9 6 4 ; WURM, 1 9 6 6 u. a. 2C0 WATSON, 1 9 6 7 .
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kleinen ethnischen Gemeinschaften und Gruppen. I n einzelnen Gebieten n a h m dieser Prozeß einen so bedeutenden Charakter an, daß man bereits von sich abzeichnenden Konturen künftiger großer ethnischer Gemeinschaften sprechen kann, die als ,ethnische territoriale Komplexe' bezeichnet werden könnten." 2 6 1 Bei der Behandlung ethnischer Prozesse im Bereich des zentralen Hochlands von Papua-Neuguinea sind aber auch bestimmte Besonderheiten der kolonialzeitlichen Entwicklung in Rechnung zu stellen. Vor dem ersten Erscheinen von Vertretern der Kolonialmacht h a t t e die Ausbreitung von Stahläxten in einigen Gebieten zu einer bedeutenden Erhöhung der Arbeitsproduktivität geführt und damit auch zu sozialökonomischen Veränderungen. Auf Grund konkreter historischer Bedingungen entwickelten sich die ersten persönlichen Kont a k t e zwischen der Grundbevölkerung und den Vertretern der Kolonialmacht punktuell. Sie versuchten, die „big men" für ihre Interessen zu gewinnen. Das Material über die Siane illustriert anschaulich diese Vorgänge. 262 Die „Krisen-Kulte" erreichten im Hochland nicht die Dimensionen wie in anderen Gebieten Melanesiens. 263 Nicht wenige Hochlandbevölkerungen integrierten zunächst neue Güter und neue Bedürfnisse relativ rasch in ihre traditionellen sozialökonomischen Verhältnisse. Unter Beibehaltung der Subsistenzwirtschaft als Grundlage der Existenz gingen sie in einigen Gebieten schrittweise zur Warenproduktion über, wobei ihnen der in vorkolonialer Zeit verhältnismäßig hohe S t a n d der Produktivkräfte, nicht zuletzt ihre Prinzipien längerfristiger wirtschaftlicher Disponierung, günstige Voraussetzungen bot. 264 Lokale „Entwicklungsprogramme" versuchten, Teile der Arbeitskraft der einheimischen Bevölkerung wie auch deren Warenproduktion an Agrarbetriebe weißer Unternehmer zu binden. 265 Demzufolge erhielten Versuche, sich mit diesen Abhängigkeitsverhältnissen auseinanderzusetzen, deutlich erkennbares lokales Kolorit. 266 Anfang der siebziger J a h r e mußte man einräumen, daß die von vielen Hochlandbewohnern in Angriff genommenen neuen wirtschaftlichen Tätigkeiten in eine Stagnation geraten waren, daß sich unter der einheimischen Bevölkerung in den „entwickeltsten" Regionen Enttäuschung breit machte. Man konstatierte, daß sich traditionelle sozialökonomische Beziehungen mehr und mehr auflösten und neue Beziehungen, Relationen zwischen kleinen Warenproduzenten, immer mehr an Bedeutung gewannen. 267 E s ist vorläufig noch eine weitgehend offene Frage, wie sich die Herausbildung einer relativ breiten Schicht kleiner Warenproduzenten (einer „peasantry") auf ethnische Prozesse auswirken wird. SEI P U Ö K O V , 1 9 6 7 , S . 4 6 .
Siehe vor allem S A L I S B U R Y , 1962, pp. 123f. Über das spätere Verhältnis der „big men" zu den kolonialen Verwaltungsformen und über deren Entwicklung vgl. die Angaben bei B R O W N , 1963 und S A I I S B U E Y , 1964a (dort Literatur). Allgemein zur Geschichte der kolonialen Wirtschaft und Verwaltung siehe B R O O K F I E L D , 1972, besonders pp. 100/101, 115, 117/118, 173/174, 194, 198. 263 L A W R E N C E , 1967, pp. 73/74. Vgl. auch B E B N D T , 1952-1953; B R O W N , 1966; S T R A T H E R N , A . , Cargo and Inflation in Mount Hagen. Paper for A N Z A A S 1970; B R O O K F I E L D , 1972, pp. 163/164, 174. 264 Vgl. Anmerkung 267. Zum vorkolonialen Stand der Produktivkräfte siehe B R O O K F I E L D , 1973b; W A D D E L L , 1973. 262
265 S I N H A ,
1969.
266 B R O W N , 1 9 6 6 , p p . 4 7 4 - 4 7 6 ; B R O O K F I E L D , 1 9 7 2 , p p . 267 S A L I S B U R Y ,
Ii*
1967;
BROOKFIELD,
1973b, pp. 137/138;
163/164. HOWLETT,
1973.
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BARBABA T R E I D E
E s wurde bereits angedeutet, daß sich die Kolonialverwaltung zunächst in hohem Maße auf den Einfluß der traditionellen „big men" stützte, daß dieser Personenkreis auch seine neuen Chancen erkannte. Vollzogen sich auf diese Weise bestimmte Veränderungen, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, verhältnismäßig rasch, so wurden doch zugleich auch traditionelle Züge des sozialen Lebens — zumindest in gewissem Umfang und f ü r eine bestimmte Zeit — konserviert. M A K I E R E A Y besuchte die K u m a nach ihrem ersten Aufenthalt von 1953 bis 1955 ein zweites Mal im J a h r e 1963 und konnte feststellen, daß es der australischen Kolonialverwaltung in den fünfziger J a h r e n gelungen war, ein System der indirekten Verwaltung auch im Gebiet der K u m a aufzubauen. Herausragende Vertreter der K u m a Klans waren ausnahmslos damit beauftragt, die Interessen der Kolonialverwaltung durchzusetzen. Anfang der sechziger J a h r e erfolgten Versuche, neue Formen der kolonialen Administration einzuführen, die die einzelnen Regionen auch des zentralen Hochlands von Papua-Neuguinea stärker in eine zentralisierte Verwaltung einbeziehen sollten. Durch die Bildung „regionaler Wahlgebiete" — wie R E A Y formuliert — wurden die K u m a erstmalig zu einer gewissen politischen Einheit. Wichtiger noch war aber der Umstand, daß der „gewählte" R a t f ü r das Gebiet der K u m a von den Vertretern eines einzigen mächtigen Klans, des Konumbuga-Klans, beherrscht wurde. Seine führende Stellung entwickelte sich in der Verflechtung vor- und frühkolonialer Gegebenheiten. Nachdem dieser K l a n bereits vor der Kolonialzeit eine gewichtige ökonomische und soziale Stellung eingenommen hatte, verstanden es führende Vertreter im Interesse der Befestigung ihrer Positionen, besonders engen K o n t a k t zu Angehörigen der australischen Kolonialverwaltung herzustellen. I n der Nähe ihres Siedlungsgebietes entwickelte sich das Verwaltungszentrum Minj, infolgedessen waren sie stets über die Vorhaben der Kolonialadministration gut informiert Die Nähe zum Ver wal tungszentrum begünstigte auch den Verkauf von Kaffee, dessen Anbau sie relativ f r ü h aufgenommen hatten. Überdies gelang es ihnen besser als anderen Vertretern der K u m a , in dem regionalen Verwaltungsmittelpunkt auf verschiedene Weise zu Geld zu kommen. 2 0 8 Wie auch dieses Beispiel zeigt, wurden die lokalen Sonderinteressen der „big men" bzw. der aus ihrem Kreis stammenden örtlichen Beauftragten der Verwaltung während der Kolonialzeit auf vielfältige Weise gefördert. Die eingangs zitierte Auffassung GOLSONS, daß sich der junge Nationalstaat Papua-Neuguinea nicht mit ausgeprägten traditionellen politischen Organisationsformen auseinanderzusetzen habe und dies ein Vorteil beim schrittweisen Aufbau einer nationalen Einheit sei, stellt diesen Umstand der kolonialzeitlichen Entwicklung wohl zu wenig in Rechnung. Auch die „Wahlgebiete" f ü r die Abstimmungen zum „Second House of Assembly" im J a h r e 1968 deckten sich weitgehend mit den Wohngebieten von Einheiten, die im Vorangegangenen als Ethnien oder als ethnographische Gemeinschaften (in der Variante des historischethnographischen Gebiets) bezeichnet wurden. 2 0 9 Keinesfalls entsprachen sie Regionen, die von R E A D als Kulturgebiete oder von B U T I N O V als Siedlungsgebiete ethnischer Gruppen aufgefaßt werden. 270 Auf diese Weise wurden bestehende ethnische 208
REAY, 1964, besonderspp. 246—249. Vgl. auch LAWRENCE, 1967, p p . 73/74 und BROOKFIELD, 1973b, p. 137.
269 B I S K U P , J I N K S , NELSON, 1 9 7 0 , p . 1 7 1 ( K a r t e ) . 270
Mit diesen Regionen stimmten und stimmen allerdings weitgehend die drei Distrikte „Western Highlands", „Chimbu" und „Eastern Highlands" überein. Gegenwärtig erhalten alle 19 Distrikte oder Provinzen eine lokale Regierung und ein Parlament.
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Grenzen gleichfalls nicht aufgehoben, sondern eher vertieft. Sicher hat die Tätigkeit der Missionsgesellschaften in einigen Gebieten Melanesiens zur Abtragung ethnischer Schranken geführt. Andererseits mußte v. K R A U S E Anfang der siebziger Jahre einräumen : „Als Kirchen und Missionen sollten wir die natürliche Zerrissenheit der Volksstämme nicht noch weiter durch unsere eingeführten Spaltungen vermehren, sondern zur echten Kirch- und Nationwerdung Neuguineas positiv beitragen." 271 Auch in Papua-Neuguinea steht die junge Staatsmacht, stehen alle fortschrittlichen Organisationen und K r ä f t e heute vor großen Aufgaben bei der schrittweisen Schaffung einer nationalen Einheit. Von nicht geringer Bedeutung für die Lösung der vielfältigen Aufgaben ist, daß sich nach und nach das Bewußtsein einer überregionalen Zusammengehörigkeit auszubilden beginnt. Zunächst wird dieses Bewußtsein verständlicherweise vor allem von Vertretern der Intelligenz hervorgebracht und verbreitet. G O L S O N hat als Präsident der Sektion „Anthropology" in seiner Rede „Foundations for New Guinea Nationhood" auf dem 42. ANZAAS-Kongreß in Port Moresby im Jahre 1970 solche Bemühungen konstatiert. E r bezog sich unter anderem auf die erste Autobiographie eines Vertreters des jungen Papua-Neuguinea, auf das Buch A L B E R T M A O R I K I K I S , das 1968 unter dem Titel „Ten Thousand Years in a Lifetime" erschien und weite Beachtung fand. 272 Welche Stellung die heutigen Ethnien im Papua-Neuguinea von morgen einnehmen .werden, ist schwer vorauszusagen. Das sorgfältige Studium ethnischer Erscheinungen und Prozesse in der gesamten historisch erfaßbaren Tiefe bildet auf jeden Fall eine nicht zu vernachlässigende Komponente bei der progressiven Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens in diesem Staat.
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' v . KRAUSE, o. J . , S. 9 3 ; v g l . a u c h S. 78, 85, 88.
272
Am 13. Juni 1967 gründeten bekanntlich Albert Maori Kiki und Michael Somare die Pangu Pati (Papua N e w Guinea Union Party).
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BARBABA
TREIDE
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