Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig: Band 26 Karl Marx und theoretische Probleme der Ethnographie [Reprint 2021 ed.] 9783112580349, 9783112580332


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German Pages 96 [97] Year 1970

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Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig: Band 26 Karl Marx und theoretische Probleme der Ethnographie [Reprint 2021 ed.]
 9783112580349, 9783112580332

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BEIHEFT JAHRBUCH DES MUSEUMS FÜR VÖLKERKUNDE ZU LEIPZIG STAATLICHE FORSCHUNGSSTELLE BAND XXVI

GÜNTER GUHR

KARL MARX UND

THEORETISCHE PROBLEME DER

ETHNOGRAPHIE

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1969

Redaktion: Dipl.-Ethn.

E R N S T GERMER

Redaktionsschluß: 1. XII. 1968

Gedruckt mit Unterstützung der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen Copyright 1969 by Museum für Völkerkunde zu Leipzig Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3 - 4 Lizenznummer: 202 • 100/123/69 Herstellung: IV/2/14 VBB Werkdruck, 445 Gräfenhainichen • 3149 Bestellnummer: 2085/11/12 B

Vorbemerkung

Der nachstehende Beitrag zu theoretischen Problemen der Ethnographie erwuchs aus einem Vortrag, den ich zur Eröffnung einer kleinen Ausstellung „Karl Marx und die Völkerkunde" im Museum für Völkerkunde zu Leipzig anläßlich des 150. Geburtstages von K A R L M A R X vortrug. Es kommt mir hier vor allem darauf an, im Kreis marxistischer ethnographischer Fachkollegen der DDR größere Aufmerksamkeit auf das MARXsche Werk zu lenken. Diese propagandistische Absicht machte es notwendig, möglichst viele einzelne Bezüge des MARXschen Werkes zu Fragestellungen der Ethnographie aufzuzeigen. Dabei habe ich, um die Bedeutung von M A R X deutlich hervortreten zu lassen, bewußt darauf verzichtet, stärker auf die nach dem Tode von M A R X abgefaßte Schrift von ENGELS „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" einzugehen. Die Behandlung der vielfältigen Fragen ist in keinem Falle als abgerundete Untersuchung anzusehen, sondern vielmehr als Anregung, um mit MARX' Werk unmittelbar weiterzuarbeiten. Deshalb erfolgte auch in jedem Falle die Quellenangabe. Einige Probleme haben eine etwas ausführliche Darlegung erfahren und sind als Diskussionsbeiträge zu werten. Das sind vor allem Punkte, wie „Frühgeschichte" (III., VII.), „Nation-Volk-Gesellschaft" (VI.), „Lebensweise" (V.), „Wissenschaft vom Menschen" (V., VI.), „Arbeitervolkskunde" (IV.), „Ursprüngliche Akkumulation" (X., XI.), „Räumliche Verbreitung - historische Tiefe" (IX.), „Entfaltungstheorie" (III., VIII., IX.), „Ethnographie" (II., IV., V., VII., XII.), „Gemeindewesen" (VI., VII., VIII). In der ganzen Arbeit war ich bemüht, M A R X und ENGELS original wiederzugeben, so daß neben dem direkten Zitat weitgehend auch die Ausdrucksweise der Klassiker verwendet wurde. Für die Anregung zu dem Vortrag danke ich Kollegen Dr. phil. LOTHAR Besonders danke ich Kollegen Dipl.-Ethn. ERNST GERMER für die Durchsicht und redaktionelle Bearbeitung des Manuskriptes der vorliegenden Arbeit. Vor allem danke ich auch der Leitung des Museums und dem Akademie-Verlag, daß sie es ermöglichten, kurzfristig diese Arbeit noch in ihr Publikationsprogramm aufzunehmen.

STEIN.

Marx-Engels-Literatur

MEW

KARL M A R X , FRIEDRICH ENGELS

Werke, Bd.

1

ff., Dietz Verlag Berlin

1964 ff. Kl. ökon. Sehr.

KARL M A R X

und FRIEDRICH ENGELS Kleine ökonomische Schriften, Ein Sammelband, Dietz Verlag Berlin 1955 = Bücherei des Marxismus-Leninismus Bd. 42.

Grundrisse

KARL MARX Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-1858, Anhang 1850-1859, Dietz Verlag Berlin 1953.

Formen

KARL MARX Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen. Dietz Verlag Berlin 1952 = Kleine Bücherei des MarxismusLeninismus.

I.

Betrachtet man das Werk des Begründers der wissenschaftlichen Weltanschauung unter dem Gesichtspunkt der Ethnographie, eines wesentlichen Bereichs der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung, Lehre und Praxis, so sind drei Hauptpunkte hervorzuheben: Zunächst ist klar auszusprechen, daß der entscheidende Beitrag von M A R X zur Ethnographie vor seiner Bekanntschaft mit dem Werk von L. H . MORGAN liegt. Ferner ist eindeutig zu erkennen, daß die Persönlichkeit von K A R L M A R X in der Geschichte der Menschheit den bisher größten Wendepunkt verkörpert. Seine Lehre ist entscheidend nach vorn gerichtet und kann nicht veralten. Schließlich ist zu betonen, daß die Lehre von M A R X keinen einzelwissenschaftlichen Charakter trägt, sondern eine Totalität darstellt, die in sich geschlossen und in ihrem Wesen umfassend konkret und zusammenfassend allgemein ist. Welche Einzelheit oder welche komplexe Aussage von M A R X auch immer in die ethnographische Betrachtung einbezogen werden, stets sind diese drei Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Für die auf marxistisch-leninistischer Position betriebenen Einzelwissenschaften ist es üblich, von dem MARXschen Werk Teile zu verwerten, um das eigene Fundament theoretisch und praktisch zu untermauern und auszubauen oder konkrete Forschungen von M A R X selbst in den eigenen systematischen Bereich einzugliedern. Das ist eine Gesetzmäßigkeit, ohne deren Durchsetzung nicht von einer marxistischen Wissenschaft gesprochen werden kann. Es ist dabei zu berücksichtigen, daß MARX' Lehre wesentlich von seinem Freund und Kampfgefährten FRIEDRICH ENGELS mitgetragen wird. Über M A R X ' wissenschaftliches und praktisches Werk zu sprechen, heißt in den meisten Fällen, über M A R X und ENGELS zu sprechen, ebenso wie im Falle der Fortsetzung des MARXschen Werkes in erster Linie W. I . LENIN in die Betrachtung einzubeziehen ist. Eine Art des Anschlusses an das Werk der Klassiker des Marxismus-Leninismus ist das verbreitete Verfahren der Belegauswahl und -Zusammenstellung zu Sammelbänden unterschiedlichen Charakters. In bereits bekannt gewordenen systematischen Dokumentationen wurden auch für die Ethnographie erstrangige Aufschlüsse ermittelt; z. B. von LIFSCHITZ (Marx/Engels, „Über Kunst und Literatur", Berlin 1 9 5 1 ) und von M E E K („Marx und Engels über Malthus", Berlin 1956) oder die vom Marx-Engels-Institut besorgten Ausgaben (FRIEDRICH ENGELS, „Zur Geschichte und Sprache der deutschen Frühzeit", Berlin 1952;

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Exzerpt-Werke undSystemDarste^un9en

M A R X - E N G E L S - L E N I N - S T A L I N , „Zur deutschen Geschichte", 3 Bde., Berlin 1 9 5 3 bis 1 9 5 4 ; K A R L M A R X : „Über China", Berlin 1 9 5 5 ; M A R X / E N G E L S : „Über Religion", Berlin 1 9 5 8 ) . Im Charakter anders geartet sind dokumentarische Aufarbeitungen, die zugleich Interpretationen enthalten, wie z. B. die von CH. WELSKOPF: „Die Produktionsverhältnisse im Alten Orient und in der griechisch-römischen Antike" (Berlin 1 9 5 7 ) , worin die Darlegungen von M A R X , ENGELS, LENIN und STALIN ZU diesem Gegenstand dokumentarisch vorgelegt und interpretiert werden, eine Arbeit, die für den historisch und ökonomisch arbeitenden Ethnographen bedeutsam ist. Seltener sind analytische Aufarbeitungen, wie die von W. RUREN, „Karl Marx über Indien (1853) und die Indienliteratur vor ihm" (Wiss. Z. Humb. Uni. Berlin 1953/54). Exakt unterbreiten sie die von M A R X benutzten Quellen, meist Beschreibungen, die alle auch ethnographischen Charakter haben, um sein ganz bestimmtes eigenständiges Anliegen vor Augen zu führen. Aufnahmen und Verarbeitungen von MARX' Anschauungen machen in anderen Werken, z. T. als größere Untersuchung zu solchen Gegenständen, wesentliche Teile aus und durchdringen sie methodisch. Hier sind vor allem Arbeiten aus dem Fachbereich der Ethnographie zu nennen: HEINRICH EILDERMANN, „Die Urgesellschaft" (Berlin 1950); IRMGARD SELLNOW: „Grundprinzipien einer Periodisierung der Urgeschichte nach ethnographischem Material" (Berlin 1961) oder Werke mit direkten Bezügen zur Ethnographie, wie das von WERNER SELLNOW: „Gesellschaft, Staat, Recht" (Berlin 1963). Abhandlungen, die sich ausschließlich mit einzelnen von M A R X und ENGELS aufgegriffenen oder bearbeiteten konkreten ethnographischen Gegenständen beschäftigen, sind die Aufsätze von E. KUNZE: „Drei finnische Runen in der Volksliedersammlung des jungen Marx" und von GÜNTER V O I G T : „Friedrich Engels und die deutschen Volksbücher" (beide in: Dt. Jb. f. Volkskd. Jg. I. Berlin 1955). Um komplexeres Erfassen ist die theoretische Untersuchung von JÜRGEN T E L L E R : „Karl Marx und Friedrich Engels zu Fragen des künstlerischen Volksschaffens" (Phil. Diss. Berlin 1967) bemüht. Hervorzuheben sind auch die noch seltenen ethnographischen Untersuchungen, die konkrete Gegenstände aufgreifen, die einst von Marx unmittelbar behandelt wurden, um sie nach dem erweiterten Faktenaufkommen neu zu bearbeiten, wie JOACHIM H E I D R I C H : „Kaste und Ökonomie im indischen Dorfsystem" (in: Mtt. Inst. Orientforsch. IX, Berlin 1963). Arbeiten aus der DDR, die sich mit konkreten Gegenständen des weiten Feldes der Ethnographie befassen, greifen in der Regel die marxistische Methode auf. Sie sind oft bestrebt, auch die Theorie an Hand des konkreten Gegenstandes zu vervollkommnen, wie es beispielsweise WOLFGANG STEINITZ auf der Grundlage seiner folkloristischen Einzelforschungen mit den theoretischen Erörterungen über das Verhältnis von „Arbeiterlied und Volkslied" (in: Dt. Jb. f. Volkskd. 12, Berlin 1966) unternahm.!

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Zu unseren Fragen wurden in ausländischen Sprachen von DDR-Forschern verö f f e n t l i c h t : ERNST HOFFMANN: „Social E c o n o m i c F o r m a t i o n s a n d H i s t o r i c a l S c i e n c e " ,

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M A R X ' Beziehung zur Ethnographie ist so vielseitig, wie seine Lehre und so vielgestaltig, wie sich die Ethnographie als Einzelwissenschaft und als komplexer Wissenschaftsbereich ausweist, und zwar als Kunde über alle Völker, die hauptsächlich auf den jeweiligen rezenten Nachrichten beruht, von den ältesten althistorischen bis in die jüngsten neuhistorischen Zeiten hinein. Dementsprechend bieten alle Exzerpierungen, Ausarbeitungen und Darstellungen, die M A R X ' Lehre in ihrer Totalität zu erfassen streben, dem Ethnographen auch genügende Fixpunkte, um M A R X ' wissenschaftliches Werk aufzugreifen. Philosophie, politische Ökonomie und wissenschaftlicher Sozialismus bilden die Grundbestandteile der von M A R X begründeten und ausgearbeiteten wissenschaftlichen Lehre. Hier stehen dem Ethnographen außer den vielfältigen speziellen Ausarbeitungen und Untersuchungen in diesen drei Bereichen vor allem geschlossene Sammel- und Systemwerke zur Verfügung, wie z. B. „Grundlagen der marxistischen Philosophie" (Berlin 1959), „Philosophisches Wörterbuch" (1. Aufl., Leipzig o. J.), „Wissenschaftliche Weltanschauung" (Berlin 1959/1960), „Marxistische Philosophie, Lehrbuch" (Berlin 1967), „Politische Ökonomie, Lehrbuch" (Berlin 1960), „Ökonomisches Wörterbuch" oder „Grundlagen des Marxismus-Leninismus" (Berlin 1960). In allen diesen Ausarbeitungen werden die bis in die Gegenwart weiterführenden Bausteine der marxistischen Theorie in Gestalt der Dokumente der nationalen und internationalen kommunistischen und Arbeiterparteien einbezogen, die die Fortsetzung des von M A R X , E N G E L S , L E N I N ausgearbeiteten Werkes darstellt.

Diese Gruppe von Arbeiten steht dem Charakter des MARxschen Werkes am Historiker, Ethnograph, Ökonom, Soziologe, Politiker, wissenschaftlicher Kommunist usw. war, sondern weil er alle diese Seiten der Wissenschaft von der Gesellschaft und ebenso die Gesichtspunkte der natürlichen Existenz des Menschen und seiner Gesellschaft in seinen Analysen und Darstellungen berücksichtigte. Mit diesen Werken ist nicht nur die Aufgabe verbunden, MARX' Lehre darzulegen, zu erläutern und zu verbreiten, sondern zugleich aufzuschließen. J e vollständiger die Belegung der Quellen aus den Klassikern in diesen Arbeiten vorgenommen wird, um so mehr wird jedem Ethnographen ebenso wie jedem anderen Einzelwissenschaftler der Weg zum Gesamtwerk von M A R X erleichtert. 1968, im Jahre des 150. Geburtstages, ist mit den letzten Bänden von „Marx-EngelsWerke" der größte Teil seiner Arbeiten erschienen, wofür dem Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands sowie dem Dietz Verlag Berlin auch von ethnographischer Seite sehr zu danken ist. Das bietet Gelegenheit und wird gleichzeitig Anlaß sein, die marxistische ethnographische Theorie auch in der DDR weiter auszubauen. nächsten, da M A R X als Wissenschaftler nicht etwa ausschließlich

in: Marxism Today, Sept. 1965, 270-276, London 1965. -

HERMANN STROBACH: PO-

jem Lidu a jeho Vyznam pro Vymezeni Badatelskeho Predmetu Närodopisu" (mit dt. Zusammenfassung: „Der Volksbegriff und seine Bedeutung für die Bestimmung der Volkskunde" in: Närodcpisne akutality 1967, H. 3 - 4 , S. 2 5 - 3 3 , Sträznice 1967.

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Neuere Ausarbeitungen oder Interpretationen der MARXschen Theorie, die in den genannten Lehrbüchern dargelegt werden, wünschte man sich gewöhnlich konkreter auf die Originalaussagen von M A R X , E N G E L S und LENIN bezogen oder von ihr eindeutiger als neue Erkenntnisse abgesetzt. Zum Beispiel wird, ohne Verweis auf eine Belegstelle zu geben (in: Marx. Philosophie, Lehrbuch, Berlin 1967), die für den Ethnographen höchst bedeutsame These vertreten, der Gegenstand der marxistischen Philosophie umfasse „den Menschen in seinem Verhältnis zur Welt, von hier ausgehend das Verhältnis von Materiellem und Ideellem, die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten . . ." usw. An diesen ersten Teil der Aussage schließt dann die bekannte Definition von den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Natur, der Gesellschaft und des Denkens als Philosophiegegenstand an (27). Die sozialanthropologische These, „den Menschen in seinem Verhältnis zur Welt", geht natürlich den Ethnographen thematisch besonders an, behandelt er doch selbst tragende Bereiche der sogenannten anthropologischen Wissenschaften (Social Anthropology, Cultural Anthropology, Ethno-Soziologie). Als besonderer und erster Gegenstand der Philosophie könnte diese Formel, die ja hier nicht von subjektiven Idealisten herrührt, nur gedacht werden, wenn im Falle der allgemeinen Erscheinungen und Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft „der Mensch" aus der „Gesellschaft" ausgelassen wird. Wenn auch der Mensch die höchst entwickelte biologische Form auf Erden ist, so ist doch die am höchsten entwickelte Bewegungsform der Materie die gesellschaftliche. Der Ethnograph (und nicht nur er) muß daher - will er wissenschaftlich weiterkommen - von der Gesellschaft der Menschen ausgehen, um das Verhältnis von Materiellem und Ideellem und die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu erforschen. Eine der entscheidenden Erkenntnisse von M A K X und ENGELS ist die über die biologische und soziologische Einheit der Existenz des Menschen und der menschlichen Gesellschaft (vgl. bes. „Dt. Ideologie" und Vorwort zum „Ursprung" und darin den Begriff: „doppelte Art der Produktion und Reproduktion des Lebens"). Dabei ist die besondere Qualität des Menschen und der Menschengesellschaft nicht die biologische, sondern die gesellschaftliche. Diese beginnt genetisch und strukturell mit der Arbeit, aus der die grundsätzlich bestimmende gesellschaftliche Produktion und alle andere menschliche Kultur resultiert. Ich komme noch darauf zu sprechen.

II.

Ohne Zweifel wäre M A R X vom einzelwissenschaftlichen Standpunkt als Repräsentant der politischen Ökonomie zu bezeichnen, da sein wissenschaftliches Hauptwerk die „Kritik der politischen Ökonomie" ist. Mit ihr beschäftigte er sich seit 1844 genauer und ständig. Aus dieser Zeit stammen seine ökonomischphilosophischen Manuskripte (bekannt auch unter dem Titel „Zur Kritik der Nationalökonomie . . .": Kleine Ökonomische Schriften, Berlin 1955, S. 590, Anm. 17). 1847 erschien „Das Elend der Philosophie" (frz.), 1949 „Lohnarbeit und Kapital", und 1859 schließt er die Periode der Herausbildung seiner ökonomischen Lehre mit „Zur Kritik der politischen Ökonomie" ab ( E N G E L S : „Einleitung zu Lohnarbeit und Kapital", 1891, MEW 22, 202). Nach diesen und anderen Ausarbeitungen der ökonomischen Anschauungen erschien dann 1867 sein Hauptwerk „Das Kapital" Band I mit dem Untertitel „Kritik der politischen Ökonomie". Die Bände II und III wurden - wie bekannt - nach M A R X ' Tode von E N G E L S aus den hinterlassenen Manuskripten ausgearbeitet (1884-1894). 1 M A R X ' grundlegende Kritik der bürgerlichen Ökonomie ist nur zu verstehen, Ganzheitliche wenn man sein Totalitätsprinzip berücksichtigt. Außer dem Studium der poli- Cesellschaltstischen Ökonomie hatte er sich tiefgehend mit den philosophischen und utopisch ^ r e sozialistischen Auffassungen seiner Zeit, der Geschichte der französischen Revolutionen und der revolutionären Bewegung in Europa auseinandergesetzt. Die erfolgreiche Erarbeitung einer eigenen ökonomisch-sozialen Anschauung, der Kritik der bestehenden Gesellschaft sowie der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Folgen wurde nicht einfach durch eine ökonomische, sondern gerade durch eine umfassende sozialwissenschaftliche Untersuchung erreicht. Sie basiert auf technischen, statistischen, ökonomischen, historischen, philosophischen, ethnographischen, sozialanthropologischen, physiologischen, psychologischen, politischen, rechtlichen, philologischen u. a. Daten und erbringt zugleich den Nachweis für die zwei größten Entdeckungen von M A R X auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaft: Erstens handelt es sich um die Entdeckung des Mehrwertes und damit um die Aufklärung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, dem speziellen Bewegungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise und der 1

Zu Beginn der 90er Jahre beauftragte ENGELS den jungen KAUTSKY mit der Abschrift dieser Manuskripte von MARX, um eine leichter lesbare Fassung zur Verfügung zu haben.

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von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft; zweitens um eine völlige Umwälzung der gesamten Auffassung von der Weltgeschichte, um „das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, dafj die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; dafj also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnittes die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben und aus der sie daher auch erklärt werden müssen - nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt" („Karl Marx", MEW 19, 96ff.; „Das Begräbnis von Karl Marx", ebenda 335ff.). Die MARxsche Geschichtsauffassung, die nichts anderes als die grundlegende und zugleich umfassendste wissenschaftliche Soziallehre ist, macht der spekulativen Philosophie auf dem Gebiet der Geschichte ein Ende („Anti-Dühring", 1878, „Ludwig Feuerbach", 1888, MEW 20, 130, 21, 306). Ethnographen, die sich dem Werk von M A R X zuwenden, müssen berücksichtigen, daß seine Lehre zwar das Grundgesetz der gesellschaftlichen Existenz und Bewegung in den ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft erkennt, daß sie aber keineswegs „ökonomischer Materialismus" ist. Von der materiellen Grundlage - nicht schlechthin ökonomistischen - her erklärt sich die auf die Totalität gerichtete Erkenntnistätigkeit von MARX. Zentraler Punkt, Anfang und Ende dieser Ganzheit, findet sich in der Formel: „Gesellschaftliche Produktion des Lebens der Menschen" [ (Vgl. Vorwort „Zur Kritik".) Sie enthält in ihrer Totalität zugleich in die Allgemeinheit gehobene Sozialanthropologie (in wörtlicher Bedeutung von Sozialanthropologie: Gesellschaftliche Menschenkunde). Marxistisch arbeiten besagt - und das trifft in vollem Umfange auch für jene Ethnographen zu, die die Ganzheiten naturwüchsiger Stammesgesellschaften zu erforschen haben - , Anfang und Ende dieser Bedingungen und Beziehungen durch die Vielgestaltigkeit der gesellschaftlichen Erscheinungen einer historischen Epoche, einer Einzelgesellschaft aufzuspüren, nicht aber für jeden „urzuständlichen Blödsinn", wie sich ENGELS einmal im Hinblick auf seltsame ideologische Erscheinungen urtümlicher Gesellschaften ausdrückte, „ökonomische Ursachen suchen" (ENGELS an C. SCHMIDT, 27. 10. 1890). In den ökonomischen Werken von M A R X finden sich wegen ihrer Ganzheitsbezogenheit die verschiedensten gesellschaftlichen Erscheinungen aufgegriffen, die für die Ethnographie von grundlegender Bedeutung sind, wie z. B. die verschiedenen mit der ursprünglichen Akkumulation zusammenhängenden Probleme („Kapital" I, Kapitel 24 u. 25). Revolutionäre M A R X war in erster Linie Revolutionär; seine wissenschaftlichen EntdeckunGesellschatts- g e n s t e llen deshalb nur die eine Seite seiner Lehre dar, die wissenschaftlichtheoretische. Diese wird zum Mittel für die andere, die wissenschaftlich-praktische, und begründet sie zugleich. Der Kampf war sein Lebenselement und sein eigentlicher Lebenslauf war „mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am 10

Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats, dem er zuerst das Bewußtsein seiner eigenen Lage und seiner Bedürfnisse, das Bewußtsein der Bedingungen seiner Emanzipation gegeben hatte" („Das Begräbnis von Karl MARX", MEW 19, 335ff.). Indem mit der Entstehung und Weiterentwicklung der großen Industrie die umfassende Vergesellschaftung der Produktion hervorgebracht worden ist und damit im Bereich der Produktivkräfte alle Bedingungen für eine kommunistische Gesellschaft gegeben sind, steht diesen Bedingungen, die auf dem privaten kapitalistischen Eigentum an den Produktionsmitteln beruhende private Aneignung entgegen. Die Industriearbeiterklasse (das moderne Proletariat) ist als Träger der materiellen vergesellschaftlichten Produktion die historisch fortgeschrittenste Klasse der Werktätigen und schafft auch die Vergesellschaftung im Bereich der Produktionsverhältnisse, in den Eigentums- und Verteilungsverhältnissen, und zwar durch die politische, ökonomische und kulturelle Revolution. Sie schafft so ausbeutende und ausgebeutete Klassen ganz ab (vgl. „Utopie", MEW 19, 227 f.). In dieser Lehre beruht M A R X ' entscheidender Beitrag für die Ethnographie. Es handelt sich um ein Revolutionsprogramm, mit dessen Verwirklichung das Volksleben von Grund auf umgewandelt wird. Es geht nicht nur schlechthin darum, Kunde vom Volk zu geben, zu beschreiben, zu vergleichen und Teilfragen zu analysieren, vielmehr geht es darum, das Volk, alle Völker der Welt unabhängig von ihrer Rasse, Sprache, Religion und ökonomischen Entwicklungshöhe, von den Unterdrückern eigener oder fremder ethnischer Zugehörigkeit zu befreien. Als Folge davon, mit der sozialistischen und kommunistischen Entwicklung, gewinnt der Mensch in seiner sozialen Existenzweise und seiner natürlichen Existenz volle Entfaltung in Lebensweise und Kultur. Eine marxistische Ethnographie hat ihre Aufgaben einerseits in der historischen Rekonstruktion zu erfüllen, sich andererseits aber gerade eng mit der praktischen, der revolutionären Seite der Volksentwicklung zu verbinden. In dem Maße, wie sich die gesellschaftliche Praxis fortbewegt, hat sich daher die Ethnographie weiterzuentwickeln. K A R L M A R X war knapp 30 Jahre alt, als er gemeinsam mit F R I E D RICH ENGELS im Dezember-Januar 1847/48 das „Manifest der Kommunistischen Partei" im Auftrage des Kongresses des „Bund der Kommunisten" abfaßte. Es stellt ein erstes ausführliches theoretisches und praktisches Parteiprogramm dar und zeichnet sich durch drei Feststellungen aus. Erstens weist es auf den zeitgenössischen Tatbestand hin, daß ein Gespenst in Europa umgehe, das Gespenst des Kommunismus, das Gespenst der Zukunft, wogegen sich alle Reaktionäre verschworen haben; es analysiert die gegenwärtige historische und besonders die ökonomische und politische Situation. Zweitens wird darin, wie ENGELS sich ausdrückte, „mehr oder weniger Geschichte erzählt" (ENGELS an M A R X , 2 3 . / 2 4 . 1 1 . 1 8 4 7 ) , d. h. es wird die vergangene historische Entwicklung ausgewertet. Drittens schließt es mit dem Aufruf an das moderne Proletariat der fortgeschrittenen Länder Europas (damals vor allem England, Frankreich, Belgien, Deutschland), die Zukunft zu ge-

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stalten durch die kommunistische Revolution, zu der sich die Proletarier aller Länder vereinigen sollen! Ein Aufruf, dem selbst das nach vorn wegweisende Programm zugrunde liegt. - In der „mehr oder weniger" erzählten Geschichte war damals die „Vorgeschichte" ausgeklammert. Das „Manifest" klärt uns somit über das wissenschaftliche Werk von K A R L M A R X treffend auf, welches zweifachen Charakter trägt: Wissenschaftliche historische und soziologische Analyse der vorhergegangenen und gegenwärtigen Gesellschaft sowie wissenschaftliche Lehre über die Erreichung und Gestaltung Marxpersonifi- der zukünftigen Gesellschaft. M A R X , der Schöpfer des wissenschaftlichen Komziert den groß- munismus als Lehre und Programm, verkörpert in seiner Persönlichkeit selbst ten Wende- j e n g r öfj t e n Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit. Es ist, als ob er MewcKheits ~ bildlich gesprochen - selbst den geschichtlichen Achsenpol bildet, als ob gescbichte e r ' Prometheus gleich, sich „mit den Göttern mißt", die Welt wendet aus den bisherigen Bahnen der Unfreiheit in die der Freiheit. Indem er sich umschaut und zurückwendet, nimmt er Gegenwart und Vergangenheit auf und analysiert sie, indem er sich nach vorn wendet, verändert er praktisch die Gegenwart und gestaltet die Zukunft. Eine derartige Position des geschichtlichen Wendens gilt natürlich ebenfalls für seinen Freund FRIEDRICH ENGELS, der zuerst gemeinsam mit M A R X , aber von 1 8 8 3 bis 1 8 9 5 wesentlich allein die Theorie des revolutionären Vorwärtsschreitens entsprechend den neu auftretenden praktischen Bedingungen fortführte, die schließlich zu einer gewaltigen proletarischen Bewegung und zum imperialistischen Kapitalismus herangewachsen waren. Auch W. I. LENIN, gestützt auf die M A R X - E N G E L S s c h e n Ergebnisse, wirkte an dem Wendepunkt, der für ihn zeitlich historisch nach vorn verschoben ist, analysierte die imperialistischen Bedingungen und entwickelte das neue Programm der Partei und der Revolution der Arbeiter und Bauern. - Je intensiver das historische Fundament ausgearbeitet und je umfassender die weltgeschichtliche Bewegung aller Erdräume verarbeitet ist und je näher der „Wendepunkt" für eine marxistische revolutionäre Persönlichkeit liegt, desto geringer wird das historisch neue Faktenaufkommen, das „klassischer" Aufarbeitung und Analyse bedarf. Das gilt in der universalgeschichtlichen und lokalgeschichtlichen Entwicklung. Man muß Stellung und Anliegen von M A R X voll erkennen, will man sein Genie, seine allgemeinen oder seine konkreten besonderen wissenschaftlichen Ergebnisse und Erkenntnisse für sein eigenes Fach, also auch für die Ethnographie, theoretisch und praktisch nutzbar machen. M A R X ging von dieser Position des geschichtlichen Wendepunkts an das Studium von Gesellschaft und Natur heran und stets vom Gesichtspunkt des ganzheitlichen Erfassens und des revolutionären Nutzbarmachens. Von dieser Position aus arbeitete er sich in die Tiefe wie Breite des wissenschaftlichen Stoffes und unterzog bestehende Anschauungen oder Theorien einer Kritik, verarbeitete sie, zog sie in sein eigenes Gedankengebäude ein. „Auf jedem einzelnen Gebiet, das M A R X der Untersuchung unterwarf, und diese Gebiete waren sehr viele und keines hat er bloß flüchtig berührt - auf jedem, selbst auf dem der Mathematik, hat er selbständige Entdeckungen gemacht" („Das Begräbnis von Karl Marx", MEW 19, 336). Ent12

scheidend dabei ist, daß er immer weitere Erscheinungen, immer mehr Stoffaufkommen und -aufarbeitungen in seine Betrachtungen einbezog und somit seine wissenschaftliche Lehre ständig bereicherte, ihre theoretischen Aussagen prüfte und vervollkommnete. Eine derartige wissenschaftliche Lehre kann nicht veralten, wenn auch gerade viele Gegner des Marxismus-Leninismus die wissenschaftlichen Ergebnisse der Klassiker als überholte Ergebnisse des 19. Jahrhunderts in die Mottenkiste musealen Bewahrsams (die Museumswissenschaftler mögen diesen Ausdruck verzeihen!) verbannen möchten. In der bürgerlichen wissenschaftlichen Betätigung - soweit sie nicht bloße neue Stoffaufnahme ist - , wird jedem Forscher auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet bei Strafe seiner Existenz eine Hektik aufgezwungen, die ihn zu immer neuen Blüten des subjektivistischen Erkennens, zu Novitäten um jeden Preis führt, in der Regel ohne Rücksicht darauf, was an Bleibendem bereits erarbeitet wurde (vgl. z. B. die Aufgabe der Theorie des Totemismus durch LÉVI-STRAUSS; „Das Ende des Totemismus" 1965). Demgegenüber bietet das marxistische wissenschaftliche Werk auf Grund der Totalität seiner wissenschaftlichen Theorie die Möglichkeit und die Aufgabe, die von MARX geübte Methode fortzuführen und mit dem neuen konkreten Stoff das wissenschaftliche Abbild aufzufüllen sowie die allgemeinen Ergebnisse auszubauen. Konkrete forschungsgeschichtliche Sicht ist eine unerläßliche Methode marxistischen Arbeitens ebenso wie die Aufnahme der rezent verlaufenden gesellschaftlichen Praxis. Das auf den Wendepunkt hin von unten nach oben gerichtete Arbeiten brachte MARX beispielsweise zu der auch für die Ethnographie bedeutsamen Erkenntnis von den allgemein-historisch aufeinanderfolgenden ökonomischen Gesellschaftsformationen der asiatischen, antiken, feudalen und modern bürgerlichen (Vorwort „Zur Kritik", MEW 23, 9). Später erhielt mit der Übernahme des urgeschichtlich-ethnographischen Entwicklungsbildes von MORGAN durch MARX und ENGELS das Bild vom allgemein-historischen Ablauf seine Vervollständigung - von ENGELS verwirklicht im „Ursprung der Familie" (vgl. Vorwort dazu, MEW 22, 27 ff.). MARX formulierte eindeutig den methodischen Standpunkt, nach welchem „die sogenannte historische Entwicklung überhaupt darauf beruht, daß die letzte Form die vergangenen als Stufen zu sich selbst betrachtet". Die bürgerliche politische Ökonomie kam zum Verständnis der in der Reihenfolge vor ihr liegenden feudalen, antiken, Orientalen, sobald sie selbst mit der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft begonnen hatte. In der jeweils entwickeltsten Gesellschaftsformation finden sich die verschiedenen historisch nacheinander entstandenen ökonomischen Kategorien in umgekehrter Reihenfolge ihrer Beziehungen, die sie aufeinander haben; die jüngste dabei ist die, die die Beziehungen beherrscht. Für MARX, der im Jahre 1857, als er diese Konzeption niederschrieb, wie allgemein zu seiner Zeit die Dreistufenlehre (Jäger-, Hirten-, Ackerbauvölker) vertrat, lagen Jäger- und Fischervölker „außer dem Punkt, wo die wirkliche Entwicklung beginnt", nicht aber außerhalb der Betrachtung, wie zu ersehen ist („Grundrisse" 1953, Einleitung 26f.). 13

Marx' Werk ist aktuell und anwendbar

Einheit von Struktur- und Entwicklungsanalyse

Aus dieser Auffassung von M A R X wird zugleich deutlich, inwieweit sich in den logischen, scheinbar ahistorischen Strukturanalysen historisch nacheinander Gelagertes befindet. M A R X analysiert beispielsweise ökonomisch-gesellschaftliche „Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen" (Berlin 1952). Es handelt sich um Analysen, die für den Zweig der Ethnographie, der sich mit vorkapitalistischen Gesellschaften befaßt, von erstrangigem Interesse sind. Unter dem Gesichtspunkt der Entstehung des freien Lohnarbeiters als des einen untrennbaren Bestandteiles der kapitalistischen Produktionsweise verfolgt M A R X notwendigerweise „vor allem die Loslösung des Arbeiters von der Erde als seinem natürlichen Laboratorium - daher Auflösung des kleinen freien Grundeigentums sowohl wie des gemeinschaftlichen, auf der orientalischen Kommune beruhenden Grundeigentums" (5 ff.). Ein anderes Beispiel einer derartigen historischen Folge in einer logischen Analyse bietet die Darlegung der Wertformen. Zum Verständnis der allgemeinen Geldware, die gegen alle anderen Waren austauschbar ist und deren Form gewissermaßen die konkrete Erscheinung der abstrakten Kategorie Wert darstellt, verfolgt M A R X evolutiv abstrakt die Reihe: A) einfache, einzelne oder zufällige Wertform, B) totale oder entfaltete Wertform, C) allgemeine Wertform, D) Geldform. Alle Formen vor der Geldform sind zugleich historische Formen vor der ökonomischen Stufe der Warenproduktion (vgl. „Kapital", I, Kap. 1,3). Sie kommen in Gesellschaften vor, die gewöhnlich von der Ethnographie erforscht werden und bieten sich z. B. an, als ein Kriterium neben anderen bis zur vollen Entstehung der Warenproduktion zur historischen Periodisierung verwendet zu werden. Und auch die Analyse solcher historisch junger Kategorien, wie die des Mehrwerts, beruht in ihrer logisch systematischen Ausbreitung bei M A R X auf den entwicklungsgeschichtlich nacheinanderfolgenden Wertkategorien, dem Gebrauchswert, dem Wert (Tauschwert) und dem Mehrwert. Sie verkörpern drei große qualitative Stufen der Produktionsentwicklung, wobei die höhere Stufe immer die niedere einschließt. Es sind dies der naturalwirtschaftliche selbstgenügsame Arbeitsprozeß, der einfache warenproduzierende Wertbildungsprozeß und der allgemeine warenproduzierende kapitalistische Verwertungsprozeß (vgl. „Kapital" I, Kapitel 5, „Verwertungsprozeß") . M A R X hat mit der Verarbeitung und der Einbeziehung so mannigfaltigen aus dem Stoffes in sein wissenschaftliches Gebäude nicht nur seine wissenschaftliche Detail Lehre vervollkommnet, sondern er hat zugleich seine Lehre auf die verschiedenen Einzelbereiche ausgedehnt. Im Prozeß derartigen wechselseitigen Schaffens wurden von ihm nicht nur sachliche Einzelheiten, sondern auch Teilanalysen und -synthesen aufgegriffen, die er in den Quellen nicht in jedem Fall überprüfen konnte, obwohl er in vielen Fällen, auch auf scheinbaren Nebengebieten, bis zu den Quellen vordrang. Seiner Arbeitsmethode war es eigen, sich Aufgaben zu stellen, deren Größe aus dem Lesen seiner Schriften kaum zu ersehen ist. Für seine Kenntnisse der sozialen Volkskunde „hatte er, um die ungefähr zwanzig Seiten im ,Kapital' über die englische Arbeiterschutzgesetzgebung zu schreiben, eine ganze Bibliothek von Blaubüchern durchgearbeitet, die die Be-

Erarbeitung

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richte der Untersuchungskommissionen und der Fabrikinspektoren von England und Schottland enthielten; er las sie von Anfang bis zum Ende, wie die zahlreichen Bleistiftstriche bezeugen, die er darin anbrachte". Für diese wichtigsten und bedeutsamsten Dokumente zum Studium der kapitalistischen Produktionsweise dankte er den „ebenso sachverständigen, unparteiischen wie rücksichtslosen Männern", d. h. den Berichterstattern, im Vorwort zum Kapital, I (MEW 23, 13) 1

MARX' Auffassung in den vielgestaltigsten gesellschaftswissenschaftlichen WahrheitsSpezialbereichen besitzt immer und überall Zeichen des Kardinalcharakters gehalt in seines wissenschaftlichen Schaffens, Spuren der Totalität seiner Wissenschaft- Einzelheiten liehen Weltanschauung, in der die Doppelseitigkeit von Theorienbildung und Lehre von der Praxis vorhanden ist. Auf Grund dieser Ganzheitsbezogenheit haben seine Aussagen einen Wahrheitsgehalt auch in Fällen, in denen mit neuem Stoffaufkommen die von M A R X verwendeten Fakten modifiziert oder aufgehoben worden sind. Diese Wahrheit besteht gewöhnlich dann noch in der Aussage über die allgemeinen Zusammenhänge zu dem konkreten Objekt oder in ihrer Allgemeinheit schlechthin. Denn ein entscheidendes Merkmal der Totalität besteht im systematischen Erfassen der konkreten Einzelheiten in den Zusammenhängen, in der Allgemeinheit, niemals aber in dem blofjen pluralen Nebeneinander von Einzelheiten. Nehmen wir als Beispiel dafür eine Erscheinung, die für sich genommen ein Familie, ein Gegenstand ethnologischer Forschungen ist, die Familie, und die zu wesentlichen urgeschichtTeilen auch von E N G E L S untersucht wurde. Vor M A U R E R S Forschungen, die M A R X Sozialund E N G E L S ZU einer nochmaligen genaueren Beschäftigung mit den Nachrichten von Cäsar und Tacitus über die Germanen ( M A R X an E N G E L S , 2 5 . 3 . 1 8 6 8 ) und zur teilweisen Verwendung der Begriffe „Geschlechtsgenossenschaft" und „Geschlecht" veranlagten, war als urtümliche Gesellschaftsorganisation von M A R X die Familie angegeben worden. M A R X hing damit der allgemeinen Auffassung seiner Zeit an, einer Interpretation, die sich bis auf die Vorstellung des A R I S T O T E L E S über die isolierte Einzelfamilie als ursprünglicher Gesellschaftseinheit zurückführen läßt. Inhaltlich sah M A R X im Begriff Familie die Erzeugung von Menschen, er verwendete ihn soziologisch, aber immer auch im Sinne von Stammfamilie, von größerer Sozialeinheit. Der Mensch war für ihn von Anfang seiner Geschichte an ein Herdentier, ein Stammwesen. Der Stamm ist die erweiterte Familie in der Phase des Stammeswesens (etwa urgeschichtlicher Bereich). Die Familie ist eine Sozialeinheit in den frühen Staatsgesellschaften. Als eine gesellschaftliche Einheit ist für M A R X die Familie durch die Ökonomie bestimmt und durch sie gegliedert (Kapital I, M E W 2 3 , 9 3 ) . M A R X widerlegte auch alle Auffassungen, die vor allem von R I C A R D O ausgingen, nach welchen das einzelne, isolierte

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Kurios ist, dafJ MARX diese wertvollen Dokumente bei einem Altpapierhändler erstand, wohin sie von Mitgliedern des Unterhauses wie auch des Hauses der Lords nach Gewicht verkauft worden waren (vgl. PAUL LAFARGUE in: Mohr und der General, Berlin 1965, 335 f.).

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Individuum der Ausgangspunkt der Sozialgeschichte gewesen sei (Robinsonade: vgl. „Kapital" I u. „Anti-Dühring", MEW 20, 296). Endgültig diffiziler sah er das Problem nach dem Studium der MoRGANschen Arbeit (1880/82). E N G E L S arbeitete nach den MoRGANschen Stufen die folgende Abfolge in den Gesellschaftsformen heraus: Horden- oder Stammfamilie, Blutsverwandtschaftsfamilie, Gruppenfamilie, Gentil-Stammesorganisation, Stammesbund-Volk (vgl. „Ursprung"). Wir erkennen deutlich die Absicht, zwischen die Tier-Mensch-Übergangsorganisation, die Horde, und die erste volle Gesellschaftsform, die blutsverwandtschaftliche Gentilgesellschaft, ein familiales, naturgewachsenes Sozialstadium zu setzen, nämlich die Blutsverwandtschafts- und Gruppenfamilie. Wenn nun auf Grund besserer Kenntnis über die polynesische Gesellschaft alle methodischen Prämissen MORGANS zur Rekonstruktion der sogenannten Blutsverwandtschaftsfamilie (auf der Grundlage des sog. hawaiischen Verwandtschaftssystems) hinfällig geworden sind, so ist man dennoch nicht berechtigt, in der Erarbeitung der MARX-ENGELSSchen Auffassung - wie es von marxistischen Ethnologen oft geschieht - diese familiale Zäsur zwischen Horde und Gens einfach wegfallen zu lassen, denn sie beruht bei M A R X und E N G E L S außer auf den MoRGANschen Thesen auch auf selbständigen Erwägungen und steht im Zusammenhang ihrer theoretischen Totalität.

III.

Es ist üblich, wenn man über M A R X und die Ethnographie spricht, über MORGAN und sein Werk „Ancient Society" ( 1 8 7 7 ) zu sprechen. M A R X studierte dieses Werk in den Jahren 1 8 8 0 / 8 2 und benutzte dazu das M A X I M KOWALEWSKI gehörende Exemplar, das er sich erbeten hatte (KOWALEWSKI in: Mohr und der General, Berlin 1 9 6 5 , 3 8 3 ) . M A R X e n t d e c k t e in der M o R G A N S c h e n Arbeit das fortgeschrittenste und geschlossenste Werk der ethnographischen Ur- und Frühgeschichtsforschung seiner Zeit und erkannte darin die Möglichkeit, seine materialistische Geschichtsauffassung in „vorhistorische" Perioden auszudehnen. Er exzerpierte das Buch sorgfältig, kommentierte es zum Teil und hatte die Absicht, eine eigene Arbeit zu verfassen. Leider starb er, ohne seine Absicht durchführen zu können. Auf der Grundlage der MARXschen Exzerpte und eigener Vorarbeiten auf dem Gebiet der Ur- und Frühgeschichte verfaßte ENGELS im Jahre 1 8 8 4 im Anschluß an LEWIS HENRY MORGAN „Ancient Society" die Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats". Der „Ursprung" wird als das ethnographische Werk der Klassiker des Marxismus

Marx Morgan

Engels: .Der Ursprung der

angesehen, manche Marxisten verbinden daher auch mit Ethnographie schlecht- F a m ^ i e - ¿ e s , Privateigenhin: Urgeschichte, eine Vorstellung, die selbstredend falsch ist! Es gibt über ¡ U 2 ns«nddes den „Ursprung" viele methodische und auch konkret sachliche Betrachtungen, Staats" die Literatur ist bereits umfangreich, die im Anschluß an ENGELS' „Ursprung" verfaßt worden ist. Jeder marxistische Ethnograph bemüht sich gewöhnlich, in irgendeiner Weise eine Ausarbeitung oder wenigstens einen Anhalt daran zu knüpfen. Von Seiten bürgerlicher Ethnographen, die am Marxismus Kritik üben, konzentrieren sich die Anwürfe auf MORGAN, der ja die Vorlage für diese „marxistische Ethnographie" geliefert hat. Immer wenn man meinte, MORGAN geschlagen zu haben, glaubte man ENGELS, d. h. den Marxismus getroffen zu haben. Die MARX-ENGELSsche Gesellschaftslehre schwimme so oder so im Fahrwasser des Evolutionismus, wie eben der „Ursprung" von ENGELS und der „Kirchenvater" der ethnologischen marxistischen Theorie, MORGAN, beweise (KOPPERS). Im Lager des Revisionismus hat das Fehlen einer umfangreichen Verarbeitung der weltweiten ethnographischen Details durch M A R X und ENGELS beispielsweise HEINRICH CUNOW flugs dazu gebracht, „Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie" (Berlin 1 9 2 0 - 2 1 ) abzufassen. In ihr wird z. B. dargelegt, wie ENGELS selbst seine eigene wissenschaftliche Lehre, d. h. auch die 2 Jahrbuch, Bd. XXVI, Bcih. Guhr

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von M A R X , nicht begriffen hätte. ENGELS war nach dem famosen Herrn CUNOW u. a. so einfältig und unfähig, nicht die Produktion von Menschen von der von Lebensmitteln unterscheiden zu können oder nicht den Zusammenhang der Technik mit den Naturbedingungen zu erkennen (II, 140, 246). Aber ein Gegensatz zwischen ENGELS - besonders den „Ursprung" betreffend - und M A R X spukt auch in Kreisen von Marxisten und führte dazu, manche der ENGELSSchen Darlegungen im „Ursprung" zu vernachlässigen, weil man sie mit denen von MORGAN identifizierte; beispielsweise stamme die These von der „militärischen Demokratie" von MORGAN, sie wurde ohne Kenntnis der altorientalischen Verhältnisse aufgestellt und sei zur Charakterisierung frühester klassengesellschaftlicher Situationen unbrauchbar, da die asiatische Produktionsweise ausgelassen wurde (so ähnlich: RÜBEN, 95; WELSKOPF, 432, 438). Man kann ENGELS nicht die Kenntnis der grundlegenden Prinzipien der asiatischen Produktionsweise absprechen, gehen doch die Bemühungen, sie zu bestimmen, ebenso auf ihn wie auf M A R X zurück (vgl. z. B. ENGELS an M A R X , 26. 5. 53, 6. 6. 53; Marx an ENGELS, 2. 6. 53, 14. 6. 53). Er hat diese Prinzipien auch definitiv an den verschiedenen Stellen angewendet (z. B. in den Enzyklopädie-Aufsätzen über „Afghanistan", „Birma", MEW 14; im „Anti-Dühring"). Bei der Beurteilung der von ihm im „Ursprung" herausgestellten Gesellschaftsstufe „Militärische Demokratie" muß das berücksichtigt werden (MARX: „Basileus, d. h. militärische Demokratie"). „Urgesellschalt" „StammWßSCZl"

Das Werk „Ancient Society" wurde von W. EICHHOFF unter der Redaktion von KARL KAUTSKY ins Deutsche übersetzt und erhielt bereits in der 1 . Auflage J G G J D E N Titel „Die Urgesellschaft". Es wurde neben ENGELS' „Ursprung" weit verbreitet und trug wesentlich dazu bei, daß die Vorklassengesellschaft allmählich in der marxistischen wissenschaftlichen Literatur schlechthin als die „Urgesellschaft" bezeichnet wurde. Wir finden bei M A R X und bei ENGELS diese Ausdrücke nur ein- zweimal verwendet: M A R X spricht von „Urgemeinschaften" und „archaischer Formation" (Briefentwürfe an V. SASSULITSCH, 8. 3. 81) und ENGELS von „Urgesellschaften" (Vorwort zur 4. Aufl. 1891 des „Ursprungs"). „Ancient Society" ließe sich natürlich auch mit „alter", „altertümlicher", „urtümlicher" Gesellschaft übersetzen und bedeutet genau die Gesellschaft „zu lang vergangenen Zeiten gehörend (spez. vor dem Untergang des Weströmischen Reiches)", (vgl. The Concise Oxford Dictionary, 4th Ed. 1956, 43, 950); für „Urgesellschaft" wird genauer „Primitive Society" (z. B. LOWIE) verwendet. Auf alle Fälle deckt der Begriff „Urgesellschaft" bei weitem nicht die Spanne der verschiedensten Sozialformen, die ENGELS im „Ursprung" darlegt. Es ist ratsam, diesen Begriff dafür fallen zu lassen (vgl. auch JU. I. SEMENOV, EAZ 1967) oder ihn nicht mehr im Sinne einer einheitlichen ökonomischen Gesellschaftsformation zu verstehen. M A R X und ENGELS verwenden hauptsächlich die Begriffe naturwüchsig und urtümlich für vorstaatliche Gemeinwesen. Aber bereits 1844 und danach 1857 gibt uns M A R X mit der Anwendung des Begriffs „Stammwesen" die Bezeichnung, die auch heute noch - den modernsten Er18

kenntnissen gemäß - die vorstaatliche Gesellschaft genügend und treffend kategorisiert (vgl. „Dt. Ideologie" MEW 3, 22, 50; „Formen" (1857) 1952, 6, 28, 34). Es ist festzuhalten: MARX' Verarbeitung des MoRGANschen Werkes ist ein Stück marxistischer Ethnographie, aber bei weitem der an Umfang geringste. MARX' Gesellschaftstheorie war nach allen Seiten ausgearbeitet vor seiner Bekanntschaft mit MORGANS Werk. Mit seinen allgemeinen Analysen über die Struktur und Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, besonders der Theorie über die ursprüngliche Struktur und Entwicklung des Arbeitsprozesses („Deutsche Ideologie" 1845, „Grundrisse zur Kritik der polit. Ökonomie" 1857, „Kapital" I 1867; Engels: „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" 1876) war auch die Grundtheorie zur Urgeschichte der menschlichen Gesellschaft gegeben. MORGANS Werk bot Gelegenheit, die Urgeschichte an Hand konkreter ethnologischer Rekonstruktionen zu verfolgen. Alle Versuche, MORGAN selbst als historischen Materialisten, als Marxisten oder gar als Mitbegründer der marxistischen Gesellschaftstheorie zu bezeichnen, sind nicht stichhaltig. Dieser Feststellung steht auch die Aussage von ENGELS nicht entgegen, nach welcher MORGAN die materialistische Geschichtsauffassung in seiner Art neu entdeckt hatte und in den Hauptpunkten einer künftigen Gesellschaft ohne Privateigentum zu denselben Resultaten geführt worden war wie M A R X („Ursprung", MEW 21, 27). Die Übernahme des MoRGANschen Urgeschichtsbildes in die marxistische Geschichtstheorie ist das Werk von M A R X und ENGELS und nicht das von MORGAN. M A R X selbst hatte auch vor der Bekanntschaft mit dem MoRGANschen Werk genügende Kenntnis und Erfahrung mit konkretem ethnographischem Material und ethnisch-politischen Vorgängen, besonders mit ethnographischen und anderen Nachrichten über Asien, speziell Indien, der Lebensweise der arbeitenden Klassen in Europa und den angrenzenden Gebieten Asiens. M A R X war auf Grund seiner ethnographischen Kenntnisse über Asien (vgl. „Indien-Aufsätze" 1853, „Grundrisse" 1857, „Zur Kritik" 1859, „Kapital" I, 1867) sowie seiner alt- und frühhistorischen Kenntnisse in der Charakterisierung der ersten „historischen Gesellschaftsform", der sogenannten asiatischen Produktionsweise, deren Umriß in Hegels „orientalischer Welt" vorgezeichnet war, MORGAN auch im Konkreten voraus. Die marxistische Frühgeschichtsforschung wird von verschiedenen Wissen- Frühgeschichschaften betrieben, so von der Archäologie, der Ethnographie, der Orientalistik, ten und vorder Altertumskunde und der Mediävistik. Auch von M A R X und ENGELS ist der ^^lllschait!? Frühgeschichtsbereich von verschiedenen Seiten her erfaßt worden - stets aber f o r m a t i o n e n vom Gesichtspunkt der Totalität des historischen Entwicklungsprozesses. Aus der MARX-ENGELSschen Gesellschaftstheorie werden von den heute bestehenden Einzelwissenschaften, wie ich eingangs verständlich zu machen versuchte, verschiedene Stücke „herausgeschnitten", so daß an der Oberfläche der Betrachtung sich sogleich verschiedene, entgegenstehende marxistische Auffassungen über die fortgeschrittenere frühgeschichtliche Sozialform ergeben. Von Ethno19

graphen wird meistens die „Militärische Demokratie" (ein von MORGAN inaugurierter Begriff, der von M A R X und ENGELS zur Charakterisierung der griechischen Gesellschaft, der sogenannten Heroenzeit, akzeptiert wurde) als Endstadium der Gentilgesellschaftsordnung oder als Übergangsphase von der Gentilordnung zur Klassengesellschaft oder als selbständige Gesellschaftsform der Frühgeschichte nach der Gentilgesellschaft angesehen. Daneben gibt es die von Althistorikern ursprünglich vertretene, aber auch von Altorientalisten aufgegriffene Auffassung einer Sklavenhalterordnung als erster, auf die Urgemeinschaft folgenden Gesellschaftsform, wobei solche Formulierungen von M A R X und ENGELS über allgemeine Sklaverei für den Despoten und die Haussklaverei im Orient für die Verallgemeinerung des Begriffs Sklavenhalterordnung maßgebend waren (bes. „Grundrisse" 392f.; „Kapital" I, MEW 23, 353f.; „Anti-Dühring" MEW 20, 285). Vor allem spielt es aber eine Rolle, daß M A R X und ENGELS „Sklaverei" als die erste historische Ausbeutungsform vor Leibeigenschaft/ Hörigkeit und Lohnarbeit bezeichnet haben (vgl. „Ursprung" Kapitel „Barbarei und Zivilisation", für Mittel- und Oberstufe der Barbarei!). „Sklaverei" oder Sklavenarbeit verzeichnen M A R X und ENGELS entsprechend dem konkreten historischen Vorkommen von der Auflösungsphase der Urgemeinschaft für alle Gesellschaftsformationen bis zum industriellen Kapitalismus. Gegenwärtig wird die asiatische Produktionsweise von Altorientalisten und Althistorikern wieder in den Vordergrund der Betrachtung gebracht und auf ethnologisch und altorientalisch bezogene sogenannte hochkulturliche oder ähnliche Gesellschaftsformen angewendet. Diese Auffassung steht anscheinend gegen die von ENGELS nach Verarbeitung des M o R G A N s c h e n Werkes vertretene Anschauung über die Entstehung des Staats mit Privateigentum. Ausgelassen wird außerdem, bei alleiniger Verwendung der „asiatischen Produktionsweise", die von M A R X ( ! ) und ENGELS akzeptierte „zu einer militärischen Demokratie fortentwickelte Gentilgesellschaft", und zwar so lange ENGELS' „Ursprung" aus der theoretischen Verarbeitung ausgelassen wird. Schließlich wird auch - meist von Mediävisten die andere Vorstellung von einer direkten Verbindung der Urgemeinschaft mit der Feudalordnung vertreten. Dabei regen Aussagen von M A R X und ENGELS über die direkte Entwicklung aus dem gemeineigentümlichen Gemeinwesen in die Sklavenhaltergesellschaft bzw. in den Feudalismus an (seit der „Deutschen Ideologie" vertreten). Die antike Sklaverei war z. B. kein notwendiges Stadium für die feudale Klassenbildung („Ursprung" MEW 21, 149f.). Das führt bei Nichtbeachtung der „Militärischen Demokratie" zur Einfügung einer vor- bzw. frühfeudalen selbständigen zwischenliegenden Gesellschaftsform. Die Vielfältigkeit dieses Zustandes läßt sich noch durch zwei weitere Auffassungen vermehren. Nach der einen wären aus der Urgemeinschaft lokal gesondert direkte Entstehungen der orientalischen, antiken, germanischen, slawischen Produktionsweise zu erkennen (vgl. bes. „Dt. Ideologie" und „Formen"; auch im „Ursprung" sieht ENGELS aus der militärischen Demokratie einerseits die antike Sklaverei und andererseits den germanischen Feudalismus entstehen). Nach der anderen handelt es sich bei der zwischen Urgemeinschaft und Kapita20

lismus gelagerten Gesellschaftsform um eine, wenn auch komplexe, so doch einheitliche vorkapitalistische Produktionsweise („sekundäre Formation" in den SASSULITSCH Briefentwürfen). In der Regel operieren dabei die verschiedenen Fachvertreter nicht weniger eng als die Ethnographen. Während sich diese fast ausschließlich auf ENGELS „Ursprung" stützen, operieren jene tüchtig mit der unter ihrem Gegenstand gelagerten „Urgesellschaft" gewissermaßen als terra incognita, versetzen unbeschwert den Endpunkt, klassifizieren Übergänge usw. Schließlich taucht noch eine Version auf - vielleicht soll sie eine Abart der letztgenannten sein - die die vorkapitalistischen Gesellschaften - die Urgemeinschaften ausgeschlossen - als eine einheitliche ökonomische Gesellschaftsform ansieht mit dazugehörigen Produktionsweisen verschiedenen Typs (asiatische, antike, feudale). Wenn ich mich auch sonst einzelner Kommentare zu den verschiedenen Varianten enthalten muß, weil sie zu einer gesonderten Abhandlung sich ausweiten würden, sei doch zur letzten Klassifizierung der Hinweis auf MARX' Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie" gestattet, wo es heißt: „In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form . . . Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab" (MEW 13, 9 f . ) . Wie leicht zu erkennen ist, wird „Gesellschaftsformation" einmal allgemein genommen, deren konkrete Erscheinungsformen die Produktionsweisen sind. Zum anderen wird „Gesellschaftsformation" synonym mit konkreter „Produktionsweise" verstanden. In keinem der Fälle aber wird „Gesellschaftsformation" als konkreter Sammelbegriff für eine Reihe konkreter „Produktionsweisen" verstanden. Es gibt nach M A R X keine gemischten ökonomischen Gesellschaftsformationen. Das Miteinander von verschiedenen Typen von Produktionsverhältnissen in einer konkreten herrschenden Produktionsweise oder Gesellschaftsformation ist nach dieser Aussage von M A R X allerdings als möglich anzusetzen. Und es sei an die oben gemachte Feststellung erinnert, nach welcher die ökonomische Kategorie (hier Produktionsverhältnis), die die anderen, mit ihr bestehenden, beherrscht, sich als die historisch jüngste ausweist. Das heißt also, daß jede Produktionsweise strukturell und genetisch von dem jüngsten Typ von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, der sich durchgesetzt hat, beherrscht wird (Einleitung zu „Grundrisse"). Ich beende die Charakterisierung dieser Forschungssituation zur allgemeinen Seite der Frühgeschichte, die beweist, daß M A R X nur in der Totalität seiner Geschichtsauffassung zu interpretieren ist, wenn sein Werk theoretisch fruchtbringend sein soll. Es wird also nicht ausbleiben können, die von ihm akzeptierte Konzeption der militärischen Demokratie mit der Theorie der asiatischen Produktionsweise zusammen zu interpretieren und weitere Schlüsselaussagen, wie die Geschichtsdarstellung in der „Deutschen Ideologie", die über die ar21

„Ökonomische Gesellschaftsformation" „Produktionsweise"

chaische Formation und die Ackerbaugemeinde (SASSULITSCH-Briefentwürfe) und Umtit der d i e » P r o c l u k t i o n s w e i s e Kleinbetrieb" („Kapital" I, M E W 2 3 , 3 5 4 , 790; III, 2 5 , 3 3 7 ) Abiolge der sowie andere zur geschlossenen Betrachtung heranzuziehen. Das Bild der aufeinGesellschatts- anderfolgenden Gesellschaftsformen des MARX-ENGELSschen Werkes, zieht man tormen ihre Auffassung über die beiden Phasen der kommunistischen Gesellschaft aus der „Kritik des Gothaer Programms" mit ein, hat nach ihren Aussagen „in großen Umrissen" folgende Gestalt: 2. Phase der kommunistischen Gesellschaft t

1. Phase der kommunistischen Gesellschaft i Modern bürgerliche Gesellschaft (und Kleinproduktion) t

Feudale Gesellschaft (und Kleinproduktion) t Antike Gesellschaft (und Kleinproduktion)

Militärdemokratische Gesellschaft

Asiatische Gesellschaft

t

Gentile Stammesgesellschaft t

Gruppenfamiliengesellschaft t

Hordenwesen Die Gesellschaftsform, die den Übergang aus der „Vorgeschichte" in die „Geschichte" ausmacht, bildete für MARX und ENGELS immer wieder einen zentralen Ansatzpunkt in ihrer historischen Betrachtung. Sie bemühen sich - und damit waren sie bereits der konkreten Ur- und Frühgeschichtsforschung voraus - das allgemeine Bild zu erfassen. Daher finden wir im MARX-ENGELSschen Werke insgesamt viermal derartige Untersuchungen:

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1844

1853-1859*

Marx-Engels „Deutsche Ideologie"

1853 Marx „Indienbriefe", 1857 Marx „Formen", 1859 Marx „Zur Kritik"

Feudalwesen

Feudale Produktionsweise

Antike

Antike Produktionsweise

Patriarchalismus

Asiatische Produktionsweise Asiat, (ind.) Gemeinde

Stammwesen (Ackerbauern, Hirten, Jäger, Fischer)

Stammgemeinschaft. Natürliches Gemeinwesen (Ackerbauern, Hirten, Jäger)

1881 Marx Briefentwürfe an V. Sassulitsch

1884-1891 [Marx]-Engels „Ursprung" 1. und 4. Auflage

Reihe von GesellFeudalismus schaften, die auf Sklaverei Sekundäre Sklaverei und LeibFormation eigenschaft beruhen (Privateigentum) Ackerbaugemeinde Militärische Demokratie - Oberstufe (letzter Typ der der Barbarei arch. Formation), Primäre od. Übergangsphase archaische zur sekundären Formation Formation (Gemeineigentum) Reihe von Typen der Urgemeinschaften

Patriarchalische Gentilges. - Mittelstufe der Barbarei Matriarchalische Gentilges. - Unterstufe der Barbarei Stufen der Wildheit

* Diese Auffassung findet sich auch im „Kapital" I (1867) und „Anti-Dühring" (1876) vertreten.

IV.

Zeitgenös- Das „Zu-sich-heraufarbeiten" zur theoretischen Einbeziehung der historischen sische Unter- Vergangenheit, wird zu einem „Von-sich-wegarbeiten" in Untersuchungen rezensuchungen t e r Vorgänge, die bei M A R X und ENGELS stets programmatischen Zielen dienen. Diese zeitgenössischen Vorkommnisse stellen selbst den historischen Wendepunkt dar, den historischen Fortschritt unmittelbar, sei es, daß sie als soziologische Einzelheit, als ethnographischer Stoff oder als zeitgeschichtliche Ereignisse zu fassen sind. Es handelt sich um den Charakter und die Formen der Lebensweise, um die sozialen Volksbewegungen, die Klassen- und Lebenslage, die Klassenkämpfe und Revolutionen. Die Arbeiten von M A R X zur Geschichte der Klassenkämpfe in Frankreich beruhen vornehmlich auf schriftlichen Zeitdokumenten und gelten als ein besonders charakteristisches Zeugnis der Zeitgeschichte, die mit der Ethnographie viel Verwandtes zeigt (Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, 1850, MEW 7; Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 1852, 2. Aufl., 1869, MEW 8; Der Bürgerkrieg in Frankreich, 1870/1871, MEW 27). Selbstverständlich waren M A R X und ENGELS ständig mit der Zeitgeschichte befaßt, wie aus ihren zahlreichen Artikeln in der internationalen Presse hervorgeht („Neue Rheinische Zeitung", „New York Daily Tribüne", „The Pall Mall Gazette", „Der Volksstaat" u. a.). M A R X kommt in „Der Bürgerkrieg", gestützt auf seine treffende allgemeine Analyse am konkreten Stoff, zu wissenschaftlicher und politischer Voraussicht im einzelnen. Bekannt ist u. a. die Voraussage, nach welcher der Verteidigungskrieg Deutschlands gegen Louis Bonaparte, arte er in einen Eroberungskrieg gegen das französische Volk aus, alles Unglück der inneren Reaktion auf Deutschland zurückrufe. Er sagte außerdem voraus, daß Frankreich zu einem Bündnis mit Rußland bewogen werden wird, wenn ElsaßLothringen von Deutschland annektiert wird (MEW 17, 615f., 302f.). ENGELS, der kurz vor seinem Tode (1895) die Einleitung zu einer Ausgabe der „Klassenkämpfe in Frankreich" verfaßte, macht auf das methodische Problem der Zeitgeschichte für diese M A R X s c h e n Arbeiten aufmerksam, die für den Rezente meist mit rezenten, lebenden Quellen arbeitenden Ethnographen eine interesQuelle sante Analogie vermitteln. „Bei der Beurteilung von Ereignissen und Ereignisreihen aus der Tagesgeschichte wird man nie imstande sein, bis auf die letzten ökonomischen Ursachen zurückzugehn . . . Der klare Überblick über die ökonomische Geschichte einer gegebenen Periode ist nie gleichzeitig, ist nur nachträglich, nach erfolgter Sammlung und Sichtung des Stoffs, zu gewinnen. Die

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Statistik ist hier notwendiges Hilfsmittel, und sie hinkt immer nach. Für die laufende Zeitgeschichte wird man daher nur zu oft genötigt sein, diesen, den entscheidenden Faktor als konstant, die am Anfang der betreffenden Periode vorgefundene ökonomische Lage als für die ganze Periode gegeben und unveränderlich zu behandeln, oder nur solche Veränderungen dieser Lage zu berücksichtigen, die aus den offen vorliegenden Ereignissen selbst entspringen und daher ebenfalls offen zutage liegen. Die materialistische Methode wird sich daher hier nur zu oft darauf beschränken müssen, die politischen Konflikte auf Interessenkämpfe der durch die ökonomische Entwicklung gegebenen, vorgefundenen Gesellschaftsklassen und Klassenfraktionen zurückzuführen und die einzelnen politischen Parteien nachzuweisen als den mehr oder weniger adäquaten politischen Ausdruck dieser selben Klassen und Klassenfraktionen. Es ist selbstredend, daß diese unvermeidliche Vernachlässigung der gleichzeitigen Veränderungen der ökonomischen Lage, der eigentlichen Basis aller zu untersuchen- Marx und den Vorgänge, eine Fehlerquelle sein muß" (MEW 7, 511 f.).

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Enge

Die zeitgenössische wissenschaftliche Beschäftigung von M A R X und ENGELS B E IT E R V OLKSerschöpfte sich selbstverständlich nicht in der Behandlung der Ereignis- künde geschichte. Ihre Notwendigkeit nach vorn, zur revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft hin zu arbeiten, führte sie dazu, genauestens vom Volk, von den werktätigen Klassen, Kunde zu suchen und aufzugreifen, um deren Veränderung der Lebenslage und revolutionäre Befreiung der kommunistische Kampf geführt wird. Das führte sie auch in hohem Maße zur Beschäftigung mit der sogenannten schriftlosen Quelle oder mit internen offiziellen Dokumenten über die soziale und kulturelle Lebenslage, die aus Beobachtung und Befragung herrühren. So sind z. B. die erwähnten englischen Blaubücher wie ethnographische „Feldberichte" zu werten. Lange vor der Propagierung einer sozialen Volkskunde bürgerlichen Charakters durch W . H . R I E H L (etwa 1 8 5 9 ) hatten sich M A R X und ENGELS als die wahren Begründer dieser volkskundlichen Richtung ausgewiesen, indem sie in gründlichen eigenen konkreten Studien Lebenslage und Lebensweise der arbeitenden Klassen, vornehmlich des Industrieproletariats, erforschten und im Klassenkampf das Gesetz und die Triebkraft der modernen Geschichte entdeckten. Die Volkskunde von M A R X und ENGELS, die sich auf die Klarlegung der Lebensweise richtet, geht als einzige, wissenschaftlich methodisch begründete Ethnographie notwendigerweise von der Produktionsweise aus. Sie zeigt, in welcher Art und was die werktätigen Individuen produzieren, welche Art Gruppierungen daraus resultieren, welchen Anteil sie an den erzeugten Gütern erhalten und wie sie ihre individuelle Konsumtion ausüben. Diese Art Volkskunde ist selbstverständlich mit den politischen und rechtlichen Fragen der Gesellschaft eng verknüpft, und es ist nur zu verständlich, daß die bürgerliche Volkskunde sich der Lebensweise der Arbeiterklasse nicht zugewendet hat und im Bereich von Überresten bäuerlicher und handwerklicher Gruppen ihr Hauptfeld erblickte. Von Seiten der marxistischen Wissenschaft sind derartige von M A R X und ENGELS erforschten Probleme in der Wirtschaftsund politischen Sozialgeschichte vom Aspekt dieser Disziplinen erfaßt worden. 25

Die bürgerliche Ethnographie (Volkskunde, Soziologie) hat diesen Gegenstand erst aufgegriffen, als die progressive Ära des Bürgertums vorbei war, und als es galt, das konkrete „Soziologische" zur Zähmung der Arbeiterklasse einzusetzen. E N G E L S schreibt bereits 1845 über die totale Unwissenheit der englischen Mittelklasse über die Zustände und Verhältnisse des Proletariats: „Sie will es nicht eingestehen, weil sie, die besitzende, industrielle Klasse, die moralische Verantwortlichkeit für dieses Elend tragen" („Lage" MEW 2, 252). E N G E L S studierte in den Jahren 1844-45 die Lage der arbeitenden Klassen in England, wozu er Feldforschungen in Manchester durchführte. In der Widmung zu seinem Werk richtet er das Wort an die Arbeiter Großbritanniens und führt über seine Methode aus: „Ich habe lange unter euch gelebt, um einiges von euren Lebensumständen zu wissen; ich habe ihrer Kenntnis meine ernsteste Aufmerksamkeit gewidmet; ich habe die verschiedenen offiziellen und nichtoffiziellen Dokumente studiert, soweit ich die Möglichkeit hatte, sie mir zu beschaffen, - ich habe mich damit nicht begnügt, mir war es um mehr zu tun als um abstrakte Kenntnis meines Gegenstandes, ich wollte euch in euren Behausungen sehen, euch in eurem täglichen Leben beobachten, mit euch plaudern über eure Lebensbedingungen und Schmerzen, Zeuge sein eurer Kämpfe gegen die soziale und politische Macht eurer Unterdrücker" („Lage", MEW 2, 229). In seiner Einleitung skizziert E N G E L S die Geschichte der englischen Industrie in den letzten sechzig bis achtzig Jahren. 1750 war England ein Land mit kleinen Städten, wenig und einfacher Industrie und einer dünnen aber verhältnismäßig großen Ackerbaubevölkerung. Jetzt werden zwei Drittel durch die große Industrie in Anspruch genommen und die wichtigste Frucht dieser Umwälzung ist das englische Proletariat. Entsprechend den einzelnen Industriezweigen rekrutiert sich aus bisherigen ländlichen Handwerkern und kleinen Ackerbauern, die von den Städten ausgeschlossen und zumeist noch in patriarchalischen Verhältnissen lebten, das moderne, industrielle Proletariat. Dieses Proletariat lebt allein vom Arbeiterlohn, hat keinen Besitz, auch keinen Scheinbesitz einer Bodenpachtung. Der vom neu sich bildenden Industrieproletariat freigegebene Boden führte zur Bildung großer Pächter und der konkurrierenden kapitalistischen Landwirtschaft. Kleine Ackerbauern wurden zu Ackerbauproletariat. E N G E L S untersucht die neue Klassenbildung in der Industrie bei den Gruppen der Weber und Baumwollspinner und weist ebenfalls auf die Gruppen der Leinenhersteller, Seidenverarbeiter, Wollverarbeiter, Eisenerzeuger, Maschinenarbeiter, Metallwarenhersteller, Eisen-, Kohle-, Zinn-, Kupfer- und Bleibergleute, Glashersteller und Tonwarenerzeuger hin. Für diese Gruppen stellt er die Bildung von bestimmten Industrielandschaften heraus. Mit der großen Industrie entsteht eine ausgedehnte Kommunikation, so daß E N G E L S auch die mit der Bildung neuer Arbeitszweige verbundene Entwicklung des Straßenwesens, des Kanalbaus, der Eisenbahnen und Dampfschiffahrt anführt („Lage", MEW 2, 237-252). Der Vergleich, den er zwischen der Lage des freien arbeitenden Engländers von 1845 und der Lage des leibeigenen Sachsen unter dem nor26

mannischen Baron von 1145 anstellt, ist gleichfalls eine bedeutsame und anregende Studie zu den Entwicklungsfragen (ebenda 404-406). Auch die Abhandlung über den Zuzug aus Irland zum englischen Arbeiterstand, zeigt das historische Moment. Mit ENGELS' grundsätzlich historischer Sicht bei der Klassengenese - er stützt sich dabei vor allem auf P . G A S K E L L - führt er das Entwicklungselement in die ethnosoziologische Betrachtung ein. E N G E L S ordnet seine Beschreibung der arbeitenden Klassen nach Arbeitszweig-Gruppen. Entsprechend ihres geschichtlichen Auftretens behandelt er zuerst die industriellen Arbeiter, diejenigen, die sich mit der Verarbeitung von Rohstoffen beschäftigen, danach die bergbauenden, die die Roh- und Brennstoffe erzeugen und schließlich die ackerbauenden. Besondere Ausführungen "widmet er den eingewanderten irischen Arbeitern, die nicht nur ein ethnisch fremdes Element darstellen, sondern auf Grund ihres äußerst niedrigen Existenzminimums den englischen Arbeitern Konkurrenz machen. Der Bildungsgrad dieser verschiedenen Arbeitergruppen steht mit der Reihenfolge ihres historischen Auftretens in Verbindung, die Arbeiterbewegung hält mit der industriellen Bewegung Schritt. So sind die Fabrikarbeiter, die ältesten Kinder der industriellen Revolution, auch der Kern der Arbeiterbewegung. ENGELS' sozialwissenschaftliche Untersuchung und die damit aufbereitete Volkskunde des englischen Proletariats ist nicht Selbstzweck und von keinem neutralistischen Objektivismus beherrscht. Das Herausarbeiten der Lebensformen aus der Sphäre der Produktion und individuellen Konsumtion ist auf die Selbstbewußtwerdung der Lage des Proletariats und auf die Mobilisierung der kommunistischen, politischen Bewegung ausgerichtet. Demgemäß stehen auch die Bloßlegung des ungeheuerlichen Pauperismus der Arbeitergruppen sowie ihre Klassenkämpfe im Vordergrund der Betrachtung, wird die Arbeiterbewegung analysiert und die Aussichten Englands für die Zukunft aufgezeigt. Aber selbst in den scheinbar so unpolitischen Gegenständen der ethnographischen Betrachtung wie Bevölkerungszentralisierung, Urbanisation, Wohnungslage, Familie u. ä„ zeigt sich der untrennbare Zusammenhang der Lebensweise mit der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Lage. Ich gebe hier eine Leseprobe über die berühmt gewordene Kleidung in Manchester Anfang der 40er Jahre, als Beispiel ethnographischer Beschreibung zur Arbeitervolkskultur: „Die Kleidung der Arbeiter ist bei der ungeheuren Majorität in sehr schlechtem Zustand. Schon die Stoffe, die dazu genommen werden, sind nicht die geeignetesten; Leinen und Wolle sind aus der Garderobe beider Geschlechter fast verschwunden, und an ihre Stelle ist Baumwolle getreten. Die Hemden sind von gebleichtem oder buntem Kattun, ebenso die Kleider der Frauenzimmer meist gedruckter Kattun, wollene Unterröcke sieht man ebenfalls selten auf den Waschleinen. Die Männer haben meist Beinkleider von Baumwollensamt oder anderen schweren baumwollenen Stoffen und Röcke oder Jacken von demselben Zeuge. Der Baumwollensamt (fustian) ist sogar sprichwörtlich die Tracht der Arbeiter geworden - fustian-jackets, so werden die Arbeiter genannt und nennen sich selbst so im Gegensatz zu den Herren in wollenem Tuch (broadcloth), welches letztere ebenfalls als Bezeichnung für die

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Mittelklasse gebraucht wird. Als Feargus O'Connor, der Chartistenchef, während der Insurrektion von 1842 nach Manchester kam, erschien er unter dem rasendsten Beifall der Arbeiter in einem baumwollensamtenen Anzüge. Hüte sind in England die allgemeine Tracht auch der Arbeiter, Hüte der verschiedensten Formen, runde, kegelförmige oder zylindrische, breitrandig, schmalrandig oder randlos - nur jüngere Leute tragen in den Fabrikstädten Mützen. Wer keinen Hut hat, faltet sich von Papier eine niedrige, viereckige Kappe. Die ganze Bekleidung der Arbeiter - auch vorausgesetzt, daß sie in gutem Zustand ist - ist wenig in Einklang mit dem Klima. Die feuchte Luft Englands, die mit ihren schnellen Witterungswechseln mehr als jede andere Erkältungen hervorruft, nötigt fast die ganze Mittelklasse, Flanell auf der bloßen Haut des Oberkörpers zu tragen; flanellne Halsbinden, Jacken und Leibbinden sind fast allgemein im Gebrauch. Die arbeitende Klasse entbehrt nicht nur dieser Vorsorge, sondern ist auch fast nie imstande, überhaupt einen Faden Wolle zur Kleidung zu verwenden. Die schweren Baumwollenzeuge aber, obwohl dicker, steifer und schwerer als wollenes Tuch, halten dennoch Kälte und Nässe viel weniger ab als dieses, bleiben wegen ihrer Dicke und wegen der Natur des Materials länger feucht und haben überhaupt nicht die Dichtigkeit des gewalkten Wollentuchs. Und wenn der Arbeiter sich einmal einen wollenen Rock für den Sonntag anschaffen kann, so muß er in einen der „billigen Läden" gehen, wo er schlechtes, sogenanntes „devil's dust" - Tuch bekommt, das „nur aufs Verkaufen, nicht aufs Tragen gemacht ist und nach vierzehn Tagen reißt oder fadenscheinig wird - oder er muß sich beim Trödler einen halbverschlissenen alten Rock kaufen, dessen beste Zeit vorüber ist und der ihm nur für wenige Wochen gute Dienste leistet. Dazu kommt aber noch bei den meisten der schlechte Zustand ihrer Garderobe und von Zeit zu Zeit die Notwendigkeit, die besseren Kleidungsstücke ins Pfandhaus zu tragen. Bei einer sehr, sehr großen Anzahl aber, besonders denen irischen Bluts, sind die Kleider wahre Lumpen, die oft gar nicht mehr flickfähig sind oder bei denen man vor lauter Flikken die ursprüngliche Farbe gar nicht mehr erkennt. Die Engländer oder die AngloIren flicken doch noch und haben es in dieser Kunst merkwürdig weit gebracht Wolle oder Sackleinen auf Baumwollensamt oder umgekehrt, das macht ihnen gar nichts aus - aber die echten, eingewanderten Irländer flicken fast nie, nur im höchsten Notfalle, wenn das Kleid sonst in zwei Stücke reißt; gewöhnlich hängen die Lumpen des Hemdes durch die Risse des Rocks oder der Hosen heraus; sie tragen, wie Thomas Carlyle sagt, „einen Anzug von Fetzen, die aus- und anzuziehen eine der schwierigsten Operationen ist und nur an Festtagen und zu besonders günstigen Zeiten vorgenommen wird." Die Irländer haben auch das früher in England unbekannte Barfußgehen mit herübergebracht. Jetzt sieht man in allen Fabrikstädten eine Menge Leute, namentlich Kinder und Weiber, barfuß umhergehen, und dies findet allmählich auch bei den ärmeren Engländern Eingang." (MEW 2, 297-299). MARX stellte die Lage der englischen Arbeiter etwa für die Jahre 1 8 4 6 - 1 8 6 5 im ersten Band des „Kapital" dar. Dazu dienten ihm neben den schriftlichen Zeugnissen zahlreiche eigene Beobachtungen und Befragungen unter der werktätigen Bevölkerung Londons. Neben der Darstellung der Lage der arbeitenden Klassen finden sich zahlreiche Aussagen über die Lebensweise der Arbeiter als Ganzes und nach einzelnen Zweigen der Arbeiterklasse. Es handelt sich vor-

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nehmlich um das Kapitel 8, „Der Arbeitstag", in dem M A R X die Auswirkung des überlangen Arbeitstages auf die Lebensweise darlegt, um das Kapitel 13, „Maschinerie und große Industrie", in welchem er die Wirkung des Maschinenwesens auf die Lebensweise von Männern, Weibern und Kindern der Arbeiterklasse sowie auf die Veränderungen von Manufaktur, Handwerk und Hausarbeit als bestimmende Elemente der früheren Lebensweise der arbeitenden Bevölkerung erörtert, und um das Kapitel 23, „Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation", worin M A R X die Rolle der relativen Überbevölkerung für die Lebensweise der Arbeiterklasse charakterisiert und „Illustrationen des allgemeinen Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation" mit Darstellung der Familien-, Nahrungs-, Wohnungsverhältnisse usw. wiedergibt. In der Gruppe rezenter Arbeiten, die ethnographische Analysen und Aussagen darstellen oder unter anderen enthalten, wären viele Aufsätze zu zeitgenössischen Fragen zu nennen. Hervorzuheben sind die Artikel von ENGELS „Zur Wohnungsfrage" (1872), in denen ein wesentliches, die Lebensweise formendes Element der individuellen Konsumtion untersucht wird und bürgerliche Auffassungen dazu kritisiert werden. Von großem Interesse sind darin die Aussagen zu dem ethnosoziologischen Typ der „ländlichen, mit Garten- und Feldbau verbundenen Hausindustrie". Sie können als Musterbeispiel in der soziologischen Charakterisierung einer volkskundlichen Menschengruppe dienen. ENGELS arbeitet dabei selbst feine, scheinbar „ethnische" Unterschiede bei den ländlichen Gewerbetreibenden unter den Bedingungen in Deutschland, Frankreich und England heraus (MEW 18, bes. auch das Vorwort von 1887). ENGELS' Beschäftigung mit rezenten ethnographischen Materialien dauerte £ ; n ^ e 2sarbef sein ganzes Leben lang und ist z. B. an seinen Arbeiten über Irland am ein- tete sein deutigsten zu verfolgen, Einiges davon ist schließlich in den „Ursprung der Fa- ganzes Leben milie" eingegangen, nämlich mit dem Kapitel „Die irische Gens". In jedem Fall lan3 konkret ethno9raphisch war für ihn die ethnische irische Frage stets mit der sozialen Frage verbunden, der Herrschaft des industriell fortgeschrittenen angelsächsischen England gegenüber den keltischen Reststämmen auf Großbritannien und Man sowie den keltischen Iren auf Irland. Aus den „Fragmenten zur Geschichte Irlands" wird die Absicht von ENGELS ersichtlich, das System und die Methoden der englischen Kolonialherrschaft zu entlarven und ihre ernsten Folgen für das historische Schicksal der unterdrückten Nationen darzulegen, ein Vorhaben, das M A R X ' wärmste Unterstützung fand. - Für M A R X und ENGELS war Irland die erste der englischen kolonialen Fragen. M A R X ermutigte ENGELS daher, eine Geschichte Irlands, einschließlich einer ethnischen Geschichte Irlands zu verfassen (MARX: Entwürfe „zur irischen Frage", ENGELS: „Geschichte Irlands" u. a„ MEW 16, 439 u. 459 ff.). ENGELS mußte für das Studium der irischen Quellen die altirische Sprache erlernen, und einzelne Stellen aus den irischen Annalen und den altskandinavischen Sagen hat er sogar ins Deutsche übersetzt (MEW 16, 675). Eine andere beispielhafte Anwendung der ethnographischen Sachlage (Dialekt, Schriftsprache, Nationalcharakter, Tradition, historische Konstellationen) findet sich bei ENGELS ZU Fragen der politischen Gegenwartsgeschichte. 29

Bereits in einigen seiner frühesten Aufsätze, „Die Lage Englands", (MEW 1, 525-592), versteht er es, den Nationalcharakter aus der sozialökonomischen und politischen Lage eines Landes abzuleiten. In dem Aufsatz „Savoyen und Nizza" und der Abhandlung „Savoyen, Nizza und der Rhein", 1860 (MEW 13, 560 bis 563, 571-612), findet sich eine meisterhafte ethnohistorische Skizzierung in der politisch-historischen Analyse angewendet. In „Was hat die Arbeiterklasse mit Polen zu tun?" (1866) gibt ENGELS - außer vortrefflichen ethnohistorischen Darlegungen unter welthistorischem Aspekt - eine Reihe grundsätzlicher theoretischer Gesichtspunkte zu dem Problem der Nation und der Nationalitäten an (MEW 16, bes. 157-159). In seinen Beiträgen zur Kriegsgeschichte, die er für die „New American Cyclopsedia" Ende der 50er Jahre schrieb, zeigt er eine große Übersicht über historische, kulturhistorische und ethnographische Probleme und versteht es, eine Fülle eigener Schlußfolgerungen zu ziehen. Auch heute noch dürften von größtem Interesse für die ur- und frühgeschichtlich arbeitenden Ethnographen solche Beiträge wie „Kavallerie", „Fortifikation", „Infantrie" usw. sein, die in ihrer Mehrheit jetzt erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht wurden (MEW 14). In solchen historisch-ethnographischen Skizzen, wie in denen über „Afghanistan", „Algerien", „Birma" (1857/58, MEW 14), und in vielen anderen Fällen beweist ENGELS seine direkte Betätigung als Ethnograph lange bevor er sich mit anthropogenetischen Fragen (Brief an LAWROW, 1 2 . - 1 7 . 1 1 . 7 5 ; „Anteil der Arbeit", Mitte der 70er Jahre), germanisch-frühgeschichtlichen und familien-frühgeschichtlichen Problemen („Mark", „Urgeschichte der Deutschen", Briefe an KAUTSKY, Beginn der 80er Jahre) und dem „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" im Anschluß an MORGANS Forschungen beschäftigt. Die konkrete Auswertung der MoRGANschen Forschungsergebnisse ist zwar durch MARX' Tod zufällig auf ihn gekommen, doch durchaus nicht, ohne daß er auch konkret ethnographisch darauf vorbereitet gewesen wäre. - Das hat z. B. LUCAS („Saeculum" 15, 1964) ignoriert, als er für ENGELS die ethnographische Sachkenntnis und Subtilität bei der Erarbeitung des „Ursprung" in Frage stellen wollte. Letztlich ist auch die Kontinuität in der Verarbeitung ethnographischer Materialien in seinen Betrachtungen zur geistigen Volkskultur zu erkennen. Der Bogen ist weit gespannt! Er beginnt mit der auf die volkstümliche Rolle der Volks-, bücher abzielenden Betrachtung des Neunzehnjährigen und seiner ersten Beschäftigung mit germanischer Mythologie („Die deutschen Volksbücher", 1839, MEW Ergänzungsband, Schriften bis 1844, 2.Teil, 1967, 13ff.; vgl. G. VOIGT a. a. O.). Über die weitere Behandlung germanischer und griechischer Mythologie (1881-1884), vor allem in den Studien zur Geschichte und Sprache der deutschen Frühzeit sowie im „Ursprung" (MEW 19 und 21), reicht dieser Bogen bis zum revolutionären Volkslied (ENGELS an SCHLÜTER, 15. 5 . 1 8 8 5 ; vgl. M A R X ' und ENGELS' Auffassungen zum „Blutgericht", „Bürgermeister Tschesch", „Hekker" u. a. Lieder bei W. STEINITZ: „Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters" 2 Bde. Berlin 1954, 1962). 30

ENGELS' ethnographische Interessen waren vornehmlich auf die historischen Marx' ethnoProbleme gelenkt worden. M A R X ließ darüber hinaus ihrer beider Ausrichtung soziologische auf die soziale Volkskunde in die praktische politische Bewegung einfließen. Seit 1864 war er mit der Ausarbeitung der Statuten für die Internationale Arbeiterassoziation beschäftigt und in den dazu gehörenden „Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen" - er hatte sie für die Delegierten des ersten Kongresses der Internationale in Genf vom 3 . - 8 . 9 . 1 8 6 6 vorbereitet - verankerte er einen Fragebogen mit einem „Allgemeinen Untersuchungsschema" zu einer Statistik über gruppensoziologische Fragen (MEW 16, 192). Nach den 1871 veröffentlichten „Allgemeinen Statuten" lautete dieses Untersuchungsschema, das je nach Umständen zu ergänzen bzw. zu verändern war: „1. Gewerk, Name. 2. Alter und Geschlecht der Arbeiter. 3. Zahl der beschäftigten Arbeiter. 4. Löhne: a) Lehrlinge und Gehilfen. b) Tagelohn oder Stücklohn? Von Zwischenunternehmern gezahlte Löhne. Wöchentlicher und jährlicher Durchschnitt. 5. a) Arbeitsstunden in Fabriken. b) Arbeitsstunden bei kleinen Meistern und in der Hausarbeit, falls das Gewerbe in diesen verschiedenen Weisen betrieben wird. c) Nacht- und Tagesarbeit. 6. Mahlzeitsstunden und Behandlung. 7. Beschaffenheit der Werkstätten und der Arbeit, Überfüllung, mangelhafte Ventilation, Mangel an Tageslicht, Gasbeleuchtung, Reinlichkeit usw. 8. Wirkung der Arbeit auf den Körperzustand. 9. Moralitäts- und Bildungszustand, Erziehung. 10. Charakter des Geschäfts; ob mehr oder weniger gleichförmig für das ganze Jahr oder an gewisse Jahreszeiten gebunden; ob grofjen Schwankungen ausgesetzt, ob fremder Konkurrenz unterworfen, ob hauptsächlich für den innern oder auswärtigen Markt arbeitend. 11. Besondere Gesetzgebung über das Verhältnis zwischen Arbeiter und Meister. 12. Nahrungs- und Wohnungszustände der Arbeiter." (MEW 17. 449). M A R X weist sich damit als versiert in der Fragebogenarbeit aus, und zwar gleichzeitig - zweite Hälfte der 60er Jahre - als L. H. MORGAN seine berühmten ethnographischen Fragebögen zur Verwandtschaftsterminologie der Völker der Welt mit Unterstützung der diplomatischen Verbindungen der USA-Regierung in alle Welt versenden konnte. Während MORGAN die Sammlung zu historisch-theoretischen Ergebnissen diente, die er in seinem 1871 veröffentlichten Werk über die Bluts- und Schwägerverwandtschaften der menschlichen Familie niederlegte, verfolgte M A R X praktische revolutionäre Ziele, nämlich die wissenschaftlich begründete Organisierung und Kampfführung der internationalen Arbeiterbewegung.

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Im April 1880 verfaßte er für die Zeitschrift „La Revue socialiste" den „Fragebogen für Arbeiter" (MEW 19, 230-237), der gegenüber dem früheren „Untersuchungsschema" jetzt vier Rubriken mit insgesamt 100 Fragen umfaßt. Es werden darin aufgegriffen: Gewerbe, Unternehmen, Beschäftigte, Zahl, Alter, Geschlecht, Aufsicht, Ausbildung, Ortslage, Arbeitsarten, Arbeitsteilung, Arbeitsplatz, Arbeitsschutz, Arbeitszeit, Pausen, freie Tage, Strafen, Mahlzeiten, Weg, Wohnstätte, Arbeitskontrakt, Art der Entlohnung, Einkommen, Miete, Art der Behausung, Ernährung, Sozialhygiene, Kinder, Lohnschwankungen, Gewerkschaft, Streik, Rolle der Regierung, Arbeitergenossenschaften und deren Leitungen, körperlicher, geistiger und moralischer Zustand der Arbeiter und Arbeiterinnen und viele Details dazu. Es ging darum, für Frankreich die Infamie der kapitalistischen Ausbeutung aufzudecken. Mit geringen Mitteln sollten, vornehmlich durch die Arbeiter selbst, Sachuntersuchungen geliefert werden, um die Regierung zu zwingen, abhelfende Gesetze, wie sie die Allgemeine Arbeiterinternationale forderte, zu erlassen. Die Antworten mußten mit Nennung des Namens gegeben werden, der jedoch auf Wunsch nicht veröffentlicht wurde. Der Befragte war nicht verpflichtet, alle Fragen zu beantworten (vgl. ebenda Anm. 150).

V.

vermittelt eine eindeutige Konzeption über den Begriff „Lebensweise", der von der Ethnographie zur Charakterisierung der typischen sozialanthropo- -Lebensweise" logischen Seite des Volkslebens herangezogen wird. „Die Weise der Produktion ist nicht bloß nach der Seite hin zu betrachten, daß sie die Reproduktion der physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion" („Dt. Ideologie", MEW 3, 21). E N G E L S charakterisiert die Lebensweise in konkretem Zusammenhang: „Ebenso wie die Bauern und Manufakturarbeiter des vorigen Jahrhunderts ihre ganze Lebensweise veränderten und selbst ganz andre Menschen wurden, als sie in die große Industrie hineingerissen wurden, ebenso wird der gemeinsame Betrieb der Produktion durch die ganze Gesellschaft und die daraus folgende neue Entwicklung der Produktion ganz andere Menschen bedürfen und auch erzeugen. Der gemeinsame Betrieb der Produktion kann nicht durch Menschen geschehen, wie die heutigen,..." („Grundsätze des Kommunismus", MEW 4,376). Von der Produktionsweise ausgehend wirken weitere Faktoren auf die Gestaltung der Lebensweise ein. So unterscheidet E N G E L S beispielsweise die Art und Weise des Stadt- von der des Landlebens (ebenda 373 f.); Wanderung ist Lebensweise des Hirtenwesens („Formen", 26 f.). Gegen die absolute Moraltheorie FEUERBACHS polemisierend spricht E N G E L S davon, daß jede Klasse, sogar jede Berufsart ihre eigene Moral hat (MEW 21, 289), die aus der Produktions- und Klassenlage und darauf bauenden Lebensweise entspringt.

MARX

Entscheidend in diesen Definitionen ist der untrennbare Zusammenhang von Individuum (oder Individuen) und „Wie" und „Was" der Produktion, d. h. der sozialanthropologische Bezug. Die Weise der Produktion bildet den Inhalt, die Weise des Lebens der Menschen bildet die Form ihrer gesellschaftlichen Existenzweise; Inhalt und Form im Sinne eines bestimmten Kategorienpaares der Dialektik. Die Existenzverhältnisse, die Weise des Lebens, sind dabei nicht etwa identisch mit dem Wesen der Sache, damit daß ein Mensch sich befriedigt fühlt, sie sind vielmehr entsprechend der Entwicklung der Produktion in ständiger Veränderung („Dt. Ideologie" MEW 3, 44 t.). Die Ethnographie ist 3 Jahrbuch, Bd. XXVI, Beih. Guhr

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Ethnographie, einesoziologische Wissenschalt

wie MARX' Definition der Lebensweise verständlich macht, eine soziologische Wissenschaft, die wesentliches zur Erforschung der gesellschaftlichen Struktur beizutragen hat. Solange die Menschen auf der niedrigsten gesellschaftlichen £ n t w i c k i u n g S S t u f e i e ben, sie als früheste Wildbeuter gewissermaßen von der Hand in den Mund leben, wo Produktion und Konsumtion unmittelbar zusammenfallen, gliedern sie sich in ihrer Gesellung nur nach natürlichen Bedingungen: biologisch nach innen, geographisch nach außen, in wechselseitiger Bedingtheit. Eine kulturelle Ausrüstung ist so gut wie nicht vorhanden, und die Lebensweise ist undifferenziert. Mit der Entwicklung der Arbeit - die sich mehr und mehr zwischen die naturwüchsigen Beziehungen zwischen Mensch und Erde schiebt - differenziert sich der gesellschaftliche Prozeß. Materielle Kultur in Gestalt von Arbeits- und Unterhaltsmitteln häuft sich an, Gruppenentwicklung und gesellschaftliche Verhältnisse bilden sich aus und ideologische Aktivitäten und Institutionen treten mehr und mehr auf. Die menschliche Gesellschaft ist eine Arbeitsgesellschaft. In der Entwicklungsgeschichte der Arbeit liegt der Schlüssel zum Verständnis der gesamten Geschichte der Gesellschaft („Ludwig Feuerbach", MEW 21, 306f.). Durch die Produktion und vor allem durch natürliche und gesellschaftliche Arbeitsteilungen, durch unterschiedliche Verteilungen und individuelle Konsumtionen, durch Klassenbildung, Bevölkerungszahl und -dichte, Lokalisation sowie inneren und äußeren Verkehr entstehen mannigfaltige Gruppen von Individuen und Einzelgesellschaften. Die Lebensweise und Kultursphäre gliedert sich in sehr starkem Maße, schafft eine Vielseitigkeit des Volkslebens innerhalb einer gesellschaftlichen Einheit und verschiedene Formen ethnischer Einheiten. Äußere ethnische Unterschiede liegen in starkem Maße in Unterschieden der Lebensweise - d. h. letztlich der Produktionsweise - der verschiedenen Völker begründet. Mit der großen Industrie, die sich bei allen Völkern durchsetzt, beginnt eine Nivellierung der Weltbevölkerung. Einst aber werden in der klassenlosen kommunistischen Gesellschaftsordnung, mit der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land und dem zwischen körperlicher und geistiger Arbeit für die Individuen wieder zunehmend gleiche Produktions- und Lebensbedingungen geschaffen, die Lebensweise vereinheitlicht sich wieder.

Hängt die Lebensweise, wie M A R X verständlich macht, bei Gruppen und Völkern von ihrer Produktionsweise ab, so gilt das auch für ihre äußere Gestalt. Die ethnische Untergruppe oder das Ethnos als Ganzes ist nicht irgendeine imaginäre Erscheinung, nicht ein „Bios", „Lebensträger", ein irgendwie selbständig existierender „Volks-" oder „Kulturkörper", ein „Paideuma" (FROBENIUS), sondern eine bestimmte Größenordnung gesellschaftlicher Menschen, die von den realen Lebenstätigkeiten der Produktion und Konsumtion eingesponnen Produktion ist. Die von M A R X ausgearbeitete Lehre des Verhältnisses von Produktion und Konsumtion Konsumtion kann zur Vervollständigung des Begriffs der Lebensweise herangezogen werden. Das ständige Wechselspiel zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der individuellen Konsumtion bildet eine Art Kreislauf, in dem die Lebensweise geformt wird. „Die Produktion bringt die den Bedürfnissen 34

entsprechenden Gegenstände hervor; die Distribution verteilt sie nach gesellschaftlichen Gesetzen; der Austausch verteilt wieder das schon Verteilte nach dem einzelnen Bedürfnis; endlich in der Konsumtion tritt das Produkt aus dieser gesellschaftlichen Bewegung heraus, wird direkt Gegenstand und Diener des einzelnen Bedürfnisses und befriedigt den Genuß. Produktion erscheint so als der Ausgangspunkt, Konsumtion als der Endpunkt, Distribution und Austausch als die Mitte, die selbst wieder doppelt ist, indem die Distribution als das von der Gesellschaft, der Austausch als das von den Individuen ausgehende Moment bestimmt ist." „In der Produktion objektiviert sich die Person, in der Person subjektiviert sich die Sache." Produktion, Distribution, Austausch und Konsumtion bilden so einen regelrechten Schluß, bei dem die Produktion die Allgemeinheit, Distribution und Austausch die Besonderheit und die Konsumtion die Einzelheit bilden (Einleitung „Grundrisse", 10ff.). Die Produktion ist unmittelbar auch Konsumtion, und zwar doppelte, subjektive und objektive. Mit der Dualität der Konsumtion vermittelt uns M A R X gewissermaßen eine der entscheidenden Formeln für die „Wissenschaften vom Menschen". In dem Maße, wie der Mensch mit Aufnahme der Nahrung als einer Form der Konsumtion seinen Leib als Grundlage seines Lebens reproduziert, in dem Maße erzeugt jede Art von Konsumtion seine Lebensweise schlechthin. Dieses Prinzip, „seinen Leib, sein Leben, seine Lebensweise produzieren", gilt von jeder anderen Art der Konsumtion, „die in einer oder der anderen Art den Menschen nach einer Seite hin produziert" (ebenda 12). Alles was die Gesellschaft erzeugt, was auf die Individuen wirkt, sie formt, von ihnen konsumiert wird, bildet die Lebensweise aus. Dieses Produzieren im umfassendsten Sinn, von der materiellen Produktion über die sozialen, politischen usw. Verhältnisse bis zu den ideologischen, künstlerischen und sonstigen Einwirkungen hin, bringt die Komplexität der Lebensweise ans Tageslicht. Dabei ist allerdings zu beachten, daß es nicht einen einzelnen Produzenten und nicht einen einzelnen Konsumenten gibt, daß vielmehr in der wirklichen Welt die Stellung beider von ihrer sozialen Lage abhängig ist. Die Bedürfnisse der Konsumtion sind auch nicht aus den Bedürfnissen der Einzelkonsumtion (der individuellen Konsumtion) allein abzuleiten. Zum Beispiel dreht sich der Welthandel fast ausschließlich um die Bedürfnisse der Produktion - der produktiven Konsumtion („Elend" M E W 4, 75 f., 92 f.). Eine der frühesten wissenschaftlichen Beschäftigungen von M A R X war gerade die „Wissenschaft vom Menschen". Er erfaßt sie in seiner ersten Ausein- „Wissenschaft andersetzung mit der bürgerlichen Nationalökonomie (Ökonomisch-philosovomMenphische Manuskripte 1844). Obgleich er in dieser Auseinandersetzung auch die s c ^ e n Hilfe der FEUERBACHSchen Anthropologie in Anspruch nimmt, geht er doch weit über sie hinaus. Sie ist ihm lediglich Ansatzpunkt, um in der „Heiligen Familie" und anderen Frühschriften die „Wissenschaft vom wirklichen Menschen" und seiner gesellschaftlichen Entwicklung darzulegen. Er geht gegen den „abstrakten Menschen"-Begriff von FEUERBACH an. Mittel, um die grundsätzliche Kritik führen zu können, ist ihm die Auseinandersetzung mit der Ökonomie. Er zeigt die Beziehungen zwischen dem Menschen als natürlichem Gattungswesen, d. h. 3*

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als gesellschaftlichem Wesen, und seiner notwendigen Arbeitstätigkeit in der Natur zum Zwecke der Erhaltung seines Lebens auf. „Der Gegenstand der Arbeit ist die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen" („Kl. ökon. Sehr.", Berlin 1955, 107). Die Arbeit als natürlicher Vorgang ist unmittelbar mit dem Menschen als Naturwesen verbunden, die Natur des Menschen wird durch seine physischen und psychischen Betätigungen im Arbeitsprozeß gebildet. Dieser Naturzusammenhang Mensch-Arbeit als Wesensinhalt der menschlichen Existenzweise tritt in jedem Fall konkret als gesellschaftlicher Zusammenhang in der Form der Produktion auf (vgl. „Kapital" I, Kapitel Arbeitsprozeß). Die Einheit des Menschen mit der Natur hat in jeder Epoche entsprechend der geringeren oder größeren Entwicklung der Industrie (im allgemeinen Sinne) bestanden („Dt. Ideologie", M E W 3, 45). MARX, der schon 1844 seine hauptsächlichsten ökonomischen Anschauungen in den Grundzügen entwirft, zeigt auf, inwiefern das Privateigentum dem Arbeiter die Natur seines Gattungs- oder Gesellschaftszusammenhangs entfremdet. Diese Entfremdung wird mit dem Kommunismus aufgehoben, die dialektische, nichtantagonistische Einheit von Individuum und Gesellschaft wieder hergestellt (MARX: „Kritik Nationalökon.", ENGELS: „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie", 1844, „Kl. ökon. Sehr." 130, 26). MenschheitsJedem Ethnographen und Anthropologen ist heute geläufig, daß im 19. Jahrgeschichte hundert die Ethnographie hauptsächlich zum Bereich der Naturwissenschaften F 9 f e r gerechnet wurde. M A R X klärte diese Frage bereits, weil für ihn „die GeNaturgeschichte schichte selbst ein wirklicher Teil der Naturgeschichte" ist und die Geschichtsschreibung auf die Naturwissenschaft nur beiläufig bestimmter Entdeckungen wegen Rücksicht nimmt (ebenda 136f.). „Aber die Natur ist der unmittelbare Gegenstand der Wissenschaft vom M e n s c h e n . . . Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Natur und die menschliche Naturwissenschaft oder die natürliche Wissenschaft vom Menschen sind identische Ausdrücke" (ebenda 137). Für den sozialistischen Menschen - wie M A R X sagt - ist „die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anderes als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen" (ebenda 139). Die ganze Geschichte ist nur eine fortgesetzte Umwandlung der menschlichen Natur („Elend", M E W 4, 160). Individuum Sozialanthropologische Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Indiund Gesell- vid.U.xam und Gesellschaft hat M A R X Zeit seines Lebens geführt. Gegen das „toschalt tale Individuum", d. h. das nicht arbeitsgeteilte Individuum bürgerlich-philosophischer Anschauungen, stellt er die gesellschaftliche Einheit von Mensch und Gesellschaft (vgl. u. a. „Dt. Ideologie", M E W 3, 69). Vor allem waren aber derartige Auseinandersetzungen in der ökonomischen Wissenschaft notwendig, weil SMITH und RICARDO ihre Untersuchung mit den einzelnen und vereinzelten Jägern und Fischern beginnen. Diese Art Robinsonaden gehört zu der phantasielosen Einbildung des 18. Jh., die die .bürgerliche Gesellschaft' vorwegnahm, „die seit dem 16. Jahrhundert sich vorbereitete und im 18. Riesenschritte zu ihrer Reife machte. In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der T

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einzelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in frühen Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten, begrenzten menschlichen Konglomerats machen" („Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie", „Grundrisse" 1953, 5). M A R X betont in diesem Zusammenhang, dag der geschichtliche wie ökonomische Ausgangspunkt selbstverständlich „in Gesellschaft produzierende Individuen - daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen" ist (ebenda). Daher ist der Mensch für die marxistischen „anthropologischen Wissenschaften" immer und zu allen Zeiten ein gesellschaftliches Wesen. Als biologischer Einzelkörper ist der Mensch nur in der Gesellschaft existent. M A R X betont daher bei seiner Definition der Gesellschaft: „Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn. . . . Sklav sein und Citizen sein, sind gesellschaftliche Bestimmungen, Beziehungen der Menschen A und B. Der Mensch A ist als solcher nicht Sklav. Sklav ist er in der und durch die Gesellschaft" (ebenda, 176). Die Stellung und soziale Lage, die ein Mensch einnimmt, hängt ab von der „Sozialen Organisation", ein Ausdruck, den M A R X im Sinne von Produktionsverhältnissen setzt („Elend", MEW 4, 75). „Die Verhältnisse sind nicht die von Individuum zu Individuum, sondern die von Arbeiter zu Kapitalist, von Pächter zu Grundbesitzer etc. Streicht diese Verhältnisse, und ihr habt die ganze Gesellschaft aufgehoben" (ebenda 123). In der Industrie, sagt beispielsweise ENGELS, wird der Mensch, der Arbeiter, nur als ein Stück Kapital angesehen („Lage", MEW 2, 254). Nichts aber wäre verkehrter für den marxistischen Ethnographen, wie es auf Grund derartiger Formulierungen gelegentlich geschieht, wollte er die Gesellschaft auf Beziehungen beschränken. In den Untersuchungen der Ethnographie über die Gesellschaft dürfen einerseits die Menschen selbst nicht ausgelassen werden, und andererseits darf man einen absoluten Menschen ohne soziale Beziehungen nicht suchen. Den „Menschen als solchen" gibt es nur in der Abstraktion, und selbst in dieser Abstraktion ist die Abstraktion der Gesellschaft, des Sozialen, enthalten. Aus dem Menschen A mit einer bestimmten Kultur und Lebensweise wird nur ein Mensch B mit einer anderen Kultur und Lebensweise, wenn die Verhältnisse dieses Menschen, in denen er sich zu anderen Menschen befindet, also die sozialen Beziehungen, verändert werden. Die ethnographische Arbeit in der lebenden Gesellschaft schließt stets diesen Hauptgesichtspunkt der Gesellschaftswissenschaft, den sozialanthropologischen, ein. Den Menschen als absolute Größe gibt es auch vom biologischen Aspekt aus nicht. In seiner physischen Gestalt und seinem biologischen Verhalten ist der Mensch stets abhängig von der historischen und natürlichen Umwelt, deren Einwirkungen jedoch nur über lange Zeitperioden klar erkennbare Veränderungen an der Gattung hervorrufen. Der mit dem Anthropologen und Urgeschichtler eng zusammenarbeitende Ethnograph weiß, daß in der Geschichte der Menschheit die biologischen Veränderungen am Menschen mit einer noch sehr allmählichen Entwicklung der Arbeit ursprünglich relativ schneller voi sich gegangen sind als die soziologischen. Mit fortschreitender Gesellschafts37

Wirkung jedoch verliefen die biologischen Veränderungen relativ langsamer als die soziologischen. - Bereits im Jahre 1876 hatte ENGELS in seiner kleinen Schrift „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" erstmalig - und vor Fachgelehrten wie HAECKEL - den ökonomischen und soziologischen Anteil bei der Menschwerdung aufgezeigt (vgl. ENGELS an LAWROW 12. bis 17. 11. 75), Theoretisch ausgesprochen findet er sich in den ökonomischen Arbeiten von MARX und ENGELS lange vorher. „Die Produktion des Lebens, sowohl des eigenen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, erscheint nun schon sogleich als ein doppeltes Verhältnis - einerseits als natürliches, andererseits als gesellschaftliches Verhältnis" („Dt. Doppelte Art Ideologie", M E W 3, 29). Die Lebensproduktion wird mit zunehmender Entder Produktion wicklung der Arbeit immer gesellschaftlicher, die natürliche Wirksamkeit - nicht des Lebens , j j e Naturgrundlage - tritt zurück (ebenda ff.; Vorwort zum „Ursprung"). In der MARX-ENGELSSchen Auffassung von der „doppelten Art" - die auch von Lenin akzeptiert wurde („Volksfreunde", Werke 1, 139 ff.) - haben die Klassiker einerseits die Verbindung bzw. Einheit von biologischer und soziologischer Existenz der menschlichen Gesellschaft und andererseits die Genese der gesellschaftlichen Form der Materie aus der biologischen Form nachgewiesen. Konkret hat Marx diese Anschauung bei der Analyse der Arbeitskraft und der Arbeiterfamilie im „Kapital" I verwendet und Engels in den Darlegungen zur Familie im „Ursprung". Das, woraus sich die Gesellschaft aufbaut, sind einmal die durch die Produktion erzeugten Arbeitsmittel und Konsumtionsmittel des schnelleren und langsameren Verbrauchs und ein andermal die durch Fortpflanzung und Aufzuchtspflege erzeugten Menschen. Die Menschen erhalten mittels der individuellen Konsumtion ihr Leben. Das spezifisch Menschliche und damit gesellschaftlich primär bestimmende Element ist dabei die Produktion der materiellen Güter. Sie bestimmt die Struktur und die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Die Formen der Familie (Fortpflanzung, Aufzucht, individuelle Konsumtion und die zugehörigen Gesellungsformen) sind wesentlich davon abgeleitete bzw. bestimmte Formen. Einheit von D a