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German Pages 284 [285] Year 1974
Jahrbuch des Museums für Volke rkun de zu Leipzig BAND XXIX
AKADEMIE-VERLAG-BERLIN 1973
JAHRBUCH DES MUSEUMS FÜR VÖLKERKUNDE ZU LEIPZIG BAND
XXIX
H E R A U S G E G E B E N VOM D I R E K T O R
AKADEMIE-VERLAG•BERLIN 1973
Redaktion: Rolf Krusche Die Autoren sind für den Inhalt ihrer Abhandlungen selbst verantwortlich Redaktionsschluß: 14. Juni 1972
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der "Übersetzung in fremde Sprachen Copyright 1973 by Museum f ü r Völkerkunde zu Leipzig Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Lizenznummer: 202 • 100/124/73 Herstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 4062 Bestellnummer: 752 016 9 (2085/11/15) LSV 0705 Printed in GDR
EVP 3 2 , -
Drachengewand eines Kaisers, gelbe Seidenwirkerei; späte Ch'ien-Lung-Periode.
Inhaltsübersicht
Leipzig H a n s D a m m (25. J u n i 1895 - 24. April 1972)
WOLFGANG KÖNIG,
Leipzig N a c h t r a g zum Verzeichnis der Schriften von H a n s D a m m
5
PETER GÖBEL,
. .
9
T B E I D E , Leipzig Zu einigen F r a g e n der sozialökonomischen Entwicklung der Grundbevölkerung Ozeaniens in neueren Arbeiten sowjetischer Ethnographen
13
Leipzig H ä u p t l i n g s t u m u n d religiöse A u t o r i t ä t bei den Zentral-Algonkin
29
A. H A B T W I G , Leipzig Aspekte der ethnischen Geschichte (Nordost-Peru)
57
BARBARA
LOTHAB DRÄGER,
WEENER
des
Putumayo-Gebietes
Leipzig Betrachtungen zur aktuellen Situation u n d zu Entwicklungstendenzen bei einigen S t ä m m e n des Amazonas-Gebietes Perus .
65
Lima Die F r a u in der Ökonomie der Boras, eines I n d i a n e r s t a m m e s im peruanisch-kolumbianischen Amazonas-Gebiet
75
Leipzig Ökonomische u n d soziale Bedingungen f ü r die wirtschaftliche Integration der H i r t e n n o m a d e n in den arabischen L ä n d e r n . .
83
VERA HARTWIG,
M E R C E D E S CASTRO D E L E Ó N ,
WOLF-DIETER
SEIWERT,
Moskau Die T u r k m e n e n der Oase von B a c h a r d e n
137
Leipzig Burxan Xaldun = Xéntí Xan? (Mit 4 K a r t e n im Text)
153
Leipzig Chinesische Drachengewänder aus dem F u n d u s des Leipziger Museums f ü r Völkerkunde (Mit 1 F a r b t a f e l , 13 Abbildungen auf Tafel I - X V I , u n d 6 Figuren im Text)
163
GENADI E . MARKOV,
JOHANNES SCHUBERT,
WALTER BÖTTGER,
Inhaltsübersicht
4
Leipzig Bemerkungen zu d e n „Buchdeckeln" der N u p e (Mit 68 Figuren im T e x t u n d 19 Abbildungen auf Tafel X V I I bis XXXI)
P E T E B GÖBEL,
Leipzig Die feudale bzw. semifeudale Aristokratie Nordnigerias — eine Stütze imperialistischer Politik in Afrika
THEA BÜTTNER,
HANS
DAMM*
[25. J u n i 1895 - 24. April 1972]
In dieser Stunde nehmen wir Abschied von Prof. Dr. Hans D A M M . E S fällt schwer, zu glauben, daß unser langjähriger Direktor, unser hochverehrter alter Chef, nicht mehr unter uns sein wird. Vierzig Jahre des Lebens von Hans D A M M sind untrennbar mit dem Museum für Völkerkunde zu Leipzig verbunden; „unser Museum", wie er seine Wirkungsstätte immer nannte, war Sinn und Zweck seines Denkens und Tuns, Inhalt seines Lebens als völkerkundlicher Forscher und Lehrer, als Museumsmann und als Mensch. Wir stehen zu unmittelbar unter dem Eindruck des schweren Verlustes, der uns betroffen hat; zu plötzlich ist das traurige Ereignis über uns gekommen, als daß es uns jetzt und hier auch nur annähernd gelänge, das von Hans D A M M Geleistete und uns Hinterlassene gebührend zu würdigen. Es ist uns Verpflichtung, das an anderer Stelle zu tun. Hans D A M M , geboren 1 8 9 5 , begann 1 9 1 8 sein Studium an der Universität Leipzig. Neben naturwissenschaftlichen Interessen war es vor allem das Studium der Völkerkunde, zu dem er sich besonders hingezogen fühlte. Die Persönlichkeit Karl W E I J L E S , der bereits 1 8 9 9 an der Leipziger Universität die Venia legendi für Erd- und Völkerkunde erhielt, und der auch das Direktorat am Museum für Völkerkunde innehatte, übte den entscheidenden Einfluß auf den weiteren wissenschaftlichen Lebensweg Hans D A M M S aus. Hans D A M M schloß 1 9 2 1 sein Studium mit der Promotion bei W E U L E ab, und seine hervorragende Dissertation über die ozeanischen Zweikampfspiele gehört heute zu den klassischen Studien auf dem bisher fast völlig unaufgearbeiteten Gebiet der ethnographischen Sportund Spielforschung. Mit dieser Dissertation zeichnete sich auch der Weg ab, den Hans D A M M in seiner weiteren wissenschaftlichen Spezialisierung beschritt: die Erforschung der Kultur und Lebensweise der Völker Ozeaniens. Mehr als vierzig Bücher und Aufsätze hat Hans D A M M über die verschiedensten Probleme der Ethnographie Ozeaniens verfaßt. Breite der Fragestellung, Akribie der Materialaufarbeitung, Ehrfurcht vor dem Fakt, Abneigung gegen jedwede Spekulation und absolute Zuverlässigkeit in Resultat und Schlußfolgerung zeichnen seine Arbeiten aus. Darauf beruht die weltweite Anerkennung dieses Mannes als hervorragender * Text der Trauerrede, die bei der B e s t a t t u n g Prof. DAMMS am 27. April 1972 auf dem Südfriedhof in Leipzig gehalten wurde.
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WOLFGANG KÖNIG
Forscher auf dem Gebiet der Völkerkunde Ozeaniens. Es war Hans D A M M nie vergönnt, die Völker, zu deren Erforschung er so viel getan hat, zu besuchen. Aber er kannte und liebte sie so, als ob er selbst lange unter ihnen gelebt hätte. I n seinem Buch „Kanaka, Menschen der Südsee" hat sich Hans D A M M diese Liebe von der Seele geschrieben. E r war alles andere als ein Schnellschreiber; er war auch kein Mensch, der leicht Gefühle und Regungen zeigen — viel weniger publizieren — konnte. Jahrelang hat er an dem 1957 erschienenen „Kanaka" gearbeitet, — gefeilt, verworfen, neu geschrieben. Das Vorwort zu diesem Buch ist eines der wenigen Zeugnisse, in dem die wissenschaftliche und ethische Grundauffassung Hans D A M M S dargelegt ist, die ihn als historisch arbeitenden Ethnographen und Humanisten kennzeichnet: „Dieses Buch will . . . dazu beitragen, den „Kanaken" als Kanaka, als Menschen, zu sehen und zu begreifen. Es entstand aus dem Wissen, das ich mir in jahrzehntelangem Studium des Kulturbesitzes jener Völker und der wissenschaftlichen Arbeit als Museumsfachmann erwarb . . . Mir kam es darauf an, die kulturelle Vielfalt der verschiedenen Südseevölker herauszuarbeiten und zu zeigen, daß bei aller Urtümlichkeit jede Kultur in dem jeweiligen Siedlungsraum auf Grund jahrhundertelanger Erfahrungen die bestmögliche Formung erhielt, die den Menschen schließlich das Leben möglich machte . . . Denn jene Südsee-Insulaner sind Menschen wie wir, auch sie verfügen über tiefes Gefühl und beweglichen Geist, der sie befähigt, ebenfalls ihren Beitrag zur menschlichen Kultur zu leisten — als ebenbürtige Menschen und nicht als „Kanaken"!" „Kanaka" wurde ins Russische und Ungarische übersetzt, und es ist kein Zufall, daß bedeutende Wissenschaftler dieses Buch für ihre Leser eingeleitet und die Leistungen des Autors hoch eingeschätzt haben. Der Quell, aus dem Hans D A M M immer geschöpft hat, war das Museum für Völkerkunde Leipzig. Bereits 1921 arbeitete er für ein J a h r als Volontär und machte sich mit der praktischen Museumsarbeit vertraut; nach fünfjähriger Tätigkeit als Werkstudent im Brockhaus-Verlag wurde er als Kustos für die Indo-ozeanische Abteilung 1927 fest am Museum angestellt. Die erste große und verantwortungsvolle Aufgabe, die ihm im neuen Museumsgebäude am Johannisplatz übertragen wurde — die Einrichtung der Südsee-Abteilung —, löste Hans D A M M vorbildlich. Und er wies sich in der Folgezeit durch den Aufbau einer Anzahl von weiteren Ausstellungen als gründlicher und ideenreicher, stets nach neuer Form und neuem Inhalt suchender Museumsmann aus. Arbeiten museologischen Charakters und Ausstellungsführer stammen aus seiner Feder. Der zur Macht gelangte Faschismus, der Krieg und die unvermeidlich folgende Katastrophe des absoluten Zusammenbruchs haben zutiefst auch in das Leben von Hans D A M M eingegriffen. Mit Kriegsbeginn dienstverpflichtet, wurde er erst Anfang 1944 wieder ans Museum zurückversetzt, — aber nicht, um eine Ausstellung aufzubauen, sondern um die Reste unersetzbarer Objekte und Sammlungen aus den Trümmern des am 4. Dezember 1943 durch einen Luftangriff verwüsteten Museums zu bergen.
H A N S DAMM
7
Hans D A M M hat die Sohwere dieser Erlebnisse viele Jahre hindurch nicht überwinden können. Aber er hat nicht aufgegeben, und er hat auch nicht — wie viele andere in dieser Zeit — den Ort seines Wirkens verlassen. I m Alter von 57 Jahren begann er noch einmal dort, wo er als Dreißigjähriger angefangen hatte: 1952 übernahm er wiederum die Leitung der Südsee-Abteilung. Zum zweiten Male gestaltete er unter den schwierigen Bedingungen der Nachkriegsjahre die Ozeanien-Ausstellung neu, die als erste Etappe des Wiederaufbaus unseres Museums im Jahre 1954 eröffnet wurde. Nur in dem Gedanken lebend, die verlorenen Jahre nachzuholen, besessen von dem Willen, möglichst schnell die Folgen des Krieges überwinden und geschehenes Unheil wieder gutmachen zu helfen, arbeitete Hans D A M M ohne Schonung seiner Kräfte. E r ordnete die Sammlungen, inventarisierte Hunderte von Ob j ekten, veröffentlichte Bücher und Aufsätze, führte Schulklassen und Erwachsenengruppen, hielt Vorlesungen an der Universität, gestaltete Ausstellungen und redigierte die Publikationen des Museums. I n Anerkennung seiner hervorragenden Arbeit und seines unermüdlichen Einsatzes wurde Hans D A M M am 1 . 1 0 . 1 9 5 5 zum Direktor des Museums für Völkerkunde berufen. Hans D A M M wußte, daß die Entwicklung des Museums und seine eigene Arbeit auf einem festen Fundament ruhte. Die sozialistische Gesellschaftsordnug in unserem Staate war ihm Garantie, gab ihm Sicherheit und ließ ihn alle seine Kräfte mobilisieren. Immer bewußter wirkte er für die Entwicklung des Museums zu einer sozialistischen Bildungs- und Forschungsstätte. Immer mehr wuchs auch das nationale und internationale Ansehen unserer Einrichtung. Junge wissenschaftliche Mitarbeiter, Absolventen unserer sozialistischen Universitäten, traten an seine Seite. Probleme entstanden daraus nicht wenige, Konflikte gab es nie. Hans D A M M , der dreißig Jahre älter war als der älteste seiner Mitarbeiter, leitete mit Vernunft, Toleranz und Einfühlungsvermögen. Er war ein Vorbild an Pflichterfüllung, Verantwortungsbewußtsein und Bescheidenheit. Hans D A M M ist von uns gegangen. Unser Schmerz ist groß. Wir werden sein begonnenes Werk in unserem Sinne fortsetzen und seinen Namen in ehrendem Gedenken behalten. WOLFGANG KÖNIG
Nachtrag zum Verzeichnis der Schriften von Zusammengestellt von Peter
GÖBEL,
HANS
DAMM1
Leipzig
Abkürzungsverzeichnis EAZ JB MM OLZ ZDMG
Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift. Berlin. Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig. Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde zu Leipzig. Orientalische Literaturzeitung. Berlin. Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Wiesbaden.
1950 Die wichtigsten Völker der UdSSR. I n : Zeitschrift für den Erdkundeunterricht, Jg. 2, H. 1, Berlin, Leipzig, 1950, Text zur Kartenbeilage. 1959 Tätigkeitsbericht des Museums für das Jahr 1957. I n : JB, Bd. 16/1957, Berlin, 1959, S. 6-18.2 Ethnographische Materialien aus dem Küstengebiet der Gazelle-Halbinsel (Neubritannien). Mit 12 Abb., 55 Fig. und 1 Karte. I n : JB, Bd. 16/1957, Berlin, 1959, S. 110-152. Zur Neugestaltung unseres Museums. Geschaffenes und Zukünftiges. I n : JB, Bd. 16/1957, Berlin, 1959, S. 173-192. 1960 Ahnenschädel aus Neuguinea. Mit 2 Fig. I n : MM, H. 1, Leipzig, 1960, S. 3 - 4 Wie die Südsee-Insulaner Stoff aus Baumrinde gewinnen und verarbeiten. Mit 1 Abb. und 1 Fig. I n : MM, H. 3, Leipzig, 1960, S. 1 - 4 . 1
2
Siehe P L O T T , A . , Verzeichnis der Schriften u n d Vorlesungen von H a n s D A M M . I n : Beiträge zur Völkerforschung. H a n s D A M M zum 65. Geburtstag. Berlin, 1961 ( = Veröffentlichungen des Museums f ü r Völkerkunde zu Leipzig. H e f t 11). S. 742-750. D a ab B a n d 18 des J a h r b u c h e s bei der Bandzählung keine J a h r e s a n g a b e n mehr stehen, erfolgt die zeitliche Gliederung der Arbeiten n a c h dem Erscheinungsjahr. A b B a n d 1 4 ist Professor D A M M Herausgeber des J a h r b u c h e s gewesen, wie im Verzeichnis von P L O T T a n g e m e r k t ist; die Vorworte im J B bis B a n d 25 sind in die Bibliographie nicht gesondert aufgenommen worden.
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P E T E R GÖBEL
1961 Tätigkeitsbericht des Museums für Völkerkunde für das J a h r 1959. I n : J B , Bd. 18, Berlin, 1961, S. 7-12. Tätigkeitsbericht für das J a h r 1960. I n : J B , Bd. 18, Berlin, 1961, Beilage, 9 S. Die Süßkartoffel (Batate) im Leben der Völker Neuguineas. I n : Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 86, H. 2, Braunschweig, 1961, S. 208-223. D A M M , [Hans] und [Wolfgang] K Ö N I G Museum und Forschung. I n : MM, H. 8, Leipzig, 1961, S. 2 - 4 . Rezension von: F U N K E , F . W., Orang-Abung. Volkstum Süd-Sumatras im Wandel. Bd. 1 : Kulturgeschichte der Abung- Stämme von der megalithischen Zeit bis zur Gegenwart. Leiden, 1958. I n : OLZ, Jg. 56, 1961, Nr. 9/10, Sp. 532-533. 1962 Tätigkeitsbericht für das J a h r 1961. I n : J B , Bd. 19, Berlin, 1962, Beilage, 7 S. Alte Steingeräte aus Melanesien und von den Samoa-Inseln. Mit 16 Fig. I n : J B , Bd. 19, Berlin, 1962, S. 8 - 2 6 . Sacrale Statuen aus dem Gebiet der Arawe (Arue) in Süd-Neubritannien (Südsee). Mit 4 Abb., 3 Fig. und 1 Karte. I n : Annais of the Näprstek Museum, Bd. 1, Prag, 1962, S. 29-36. 1963 I n memoriam Professor Dr. Fritz S. 16-17. Rezension von:
KRAUSE.
I n : MM, H. 16, Leipzig, 1963,
H O O Y K A A S — VAN L E E U W E N B O O M K A M P , J., Ritual Purification of a Balinese Temple. Amsterdam, 1961 ( = Verhandelingen van Wetenschappen, Afd. Letterkunde. N. R. 68, 4). I n : OLZ, Jg. 58, Nr. 5/6, 1963, Sp. 289-290. Rezension von: M I L N E R , G. B., Fijian Grammar. Suva, Fiji, o. J . I n : ZDMG, Bd. 113, H. 2, 1963, S. 469-470. Rezension von: B O D R O G I , T., Die Kunst Ozeaniens. Budapest, 1960. I n : EAZ, Jg. 4, H. 1, 1963, S. 88-89.
1964 Tätigkeitsbericht für das J a h r 1962. I n : J B , Bd. 20, Berlin, 1964, Beilage, 4 S. Aufhängehaken aus dem Gebiet des Sepik, Neuguinea. Mit 23 Abb., 7 Fig. und 1 Karte. I n : J B , Bd. 20, Berlin, 1964, S. 9 - 3 2 . Karl W E U L E . Eine Erinnerung zu seinem 1 0 0 . Geburtstag am 2 9 . Februar. Mit 1 Abb. I n : MM, H. 1, Leipzig, 1 9 6 4 , S. 1 3 - 1 5 . Rezension von: W H E A T L E Y , P., The Golden Khersonese. Studies in the Historical Geography of the Malay Peninsula before A. D. 1500. Kuala Lumpur, London, 1961. I n : OLZ, Jg. 59, 1964, Nr. 1/2, Sp. 77-78.
Verzeichnis der S c h r i f t e n v o n HANS DAMM
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Rezension von: FUNKE, F . W., Orang-Abung. Volkstum Süd-Sumatras im Wandel. Bd. 2: Das Leben in der Gegenwart. Leiden, 1961. I n : OLZ, Jg. 59, 1964, Nr. 9/10, Sp. 498-500. Rezension von: OOSTEBWAL, G., Die Papua. Von der Kultur eines Naturvolks. Stuttgart, 1963. I n : OLZ, Jg. 59, 1964, Nr. 11/12, Sp. 542-543. 1964 Auswertung ethnographischer Sammlungen mit Hilfe des Kerbloehkartensystems. Kurzfassung des Referates auf dem VII. Internationalen Kongress für Anthropologische und Ethnologische Wissenschaften. Moskau, 3.—10. August 1964. Kongreßmaterial. 4 S. 1965 Die Sonderausstellung Indonesia Raja — Zierkunst eines Inselreiches. Mit 2 7 Abb. und 1 Grundriß. I n : JB, Bd. 21, Berlin, 1965, S. 1 4 4 - 1 5 7 . Tätigkeitsbericht für das Jahr 1963. In: JB, Bd. 21, Berlin, 1965, Beilage, 6 S. Augustin KBAMEB — zum hundertsten Geburtstag. I n : Tribus, Bd. 14, Stuttgart, 1965, S. 7-8. Wie Leipzig ein Zentrum der Völkerkunde wurde. Mit 2 Fig. In: MM, H. 3, Leipzig, 1965, S. 11-14. Rezension von: GUIABT, J., Ozeanien. Die Kunst der Südsee und Australiens. München, 1963 ' { = Universum der Kunst. Bd. 4). I n : Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft. Jg. 86, H. 4, Berlin, 1965, Sp. 338—341. Rezension von: BODEOGI, T., Art in North-East New Guinea. Budapest, 1961. I n : EAZ, Jg. 6, H. 1, Berlin, 1965, S. 70-71. 1966 Fritz KRAUSE. 1881-1963. In: JB, Bd. 22, Berlin, 1966, S. 7-12. Verzeichnis der wichtigsten Schriften von Fritz KRAUSE. In: JB, Bd. 22, Berlin, 1966, S. 13-15. 1967 Ethnographika aus dem Gebiet der Hansabucht (Nordost-Neuguinea). Mit 21 Fig. und 16 Abb. I n : JB, Bd. 24, Berlin, 1967, S. 36-55. Tätigkeitsbericht für die Jahre 1964 und 1965. In: JB, Bd. 24, Berlin, 1967, Beilage, S. 1-10. Tätigkeitsbericht für das Jahr 1966. In: JB, Bd. 24, Berlin, 1967, Beilage, S. 11-16. Rezension von: MILNEB, G. B., Samoan Dictionary; Samoan-English, English-Samoan. London, 1966. I n : ZDMG, Bd. 117, 1967, H. 2, S. 456-457.
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P E T E B GÖBEL
1968 Alte Holzgefäße von den Hawaii-Inseln. Mit 10 Fig. und 10 Abb. I n : J B , Bd. 25, Berlin, 1968, S. 29-37. 2. Internationales Museumsjahr 1967/1968. Mit 1 Fig. I n : MM, H. 1/2, Leipzig, 1968, S. 27-29. 1969 Bemerkungen zu den Schädelmasken aus Neubritannien (Südsee). Mit 8 Abb. und 1 Karte. I n : J B , Bd. 26, Berlin, 1969, S. 85-116. Kostbarer Schmuck der Fidschi-Insulaner aus den Zähnen des Pottwales. Mit 3 Abb. I n : MM, H. 1/2, Leipzig, 1969, S. 20-24. Rezension von: M I L N E B , G. B., and E. J . A. H E N D E B S O N (Edit.), Indo-Pacific Linguistic Studies. P a r t i : Historical Linguistics. P a r t I I : Descriptive Linguistics. Amsterdam, 1965. I n : ZDMG, Bd. 119, 1969, H. 1, S. 224-225. 1971 Auswertung ethnographischer Sammlungen mit Hilfe des Kerblochkartensystems. I n : Trudy V I I mezdunarodnogo kongressa antropologiceskich i etnograficeskich nauk. Moskva (3-10 avgusta 1964 g.) Tom 11. Moskva, 1971, S. 590-593. 1973 Scheibenförmiger Brustschmuck aus Pottwalzähnen, Fidschi-Inseln. Nach Material der Staatlichen Museen in Dresden und Leipzig. Mit 3 Fig., 26 Abb. und 1 Karte. I n : Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museums f ü r Völkerkunde Dresden. Bd. 34. Berlin, (im Druck).
Zu einigen Fragen der sozialökonomischen Entwicklung der Grundbevölkerung Ozeaniens in neueren Arbeiten sowjetischer Ethnographen 1 Von
BARBABA TBEIDE,
Leipzig
I n den letzten Jahren erschienen einige ethnographische Arbeiten sowjetischer Autoren auch zu Fragen der Wirtschaft, der materiellen Kultur, der sozialen Struktur und zu Fragen der Ethnogenese und ethnischen Geschichte 2 der Grundbevölkerung Ozeaniens. Ein besonderes Interesse dürften die Arbeiten zur Frage der Beziehungen zwischen territorialer Organisation und verwandtschaftlicher Organisation, zwischen lokaler Gemeinde und Abstammungsgruppe beanspruchen, da diese Arbeiten eine Diskussion hervorriefen, die über den Rahmen der regionalen Fragestellung hinausging. Vor allem N. A. B T J T I N O V hat durch eine Reihe von Arbeiten diese Diskussion wesentlich befruchtet. I m Jahre 1960 veröffentlichte er einen Aufsatz, in dem er anhand von Belegen über die Grundbevölkerung Australiens, Melanesiens und Polynesiens ein wesentliches Element der Produktion in der Urgesellschaft untersuchte, nämlich die verschiedenen Formen der Arbeitsteilung. 3 Zu Beginn seiner Arbeit bemerkt B U T I N O V völlig zu Recht, daß die Sphäre der Produktion — und da wieder die soziale Seite der Produktion — bis heute von den Ethnographen nicht umfassend genug und nicht detailliert genug untersucht worden ist/» E r kritisiert unter anderem ein solches Herangehen, das der Arbeitsteilung nach Geschlecht und Alter ein der Realität nicht entsprechendes, zu hohes Gewicht beimißt und allein aus diesen Formen der Arbeitsteilung wesentliche Erscheinungen der gesellschaftlichen Struktur der Urgesellschaft erklären will. Wie 1 H e r r n Professor Dr. G. E. M A R K O V vom Lehrstuhl f ü r E t h n o g r a p h i e der S t a a t lichen Lomonossow-Universität Moskau möchte ich f ü r zahlreiche wertvolle Hinweise u n d f ü r seine freundliche Hilfe bei der Bewältigung sprachlicher Schwierigkeiten herzlich danken. 2 B T J T I N O V , N. A., Proischozdenie i ètniceskij sostav korennogo naselenija N o v o j Gvinei, „Problemy istorii i étnografii n a r o d o v Avstralii, N o v o j Gvinei i Gavajskich ostrovov". I n : T r u d y I n s t i t u í a Étnografii A N S S S R , N o v a j a serija, L X X X , Moskva-Leningrad, 1962. ( H e r k u n f t u n d ethnischer B e s t a n d der Urbevölkerung Neuguineas). 3 B T J T I N O V , N. A., Razdelenie t r u d a v p e r v o b y t n o m obscestve, „Problemy istorii pervobytnogo obscestva". I n : T r u d y I n s t i t u í a Etnografii A N S S S R , N o v a j a serija, L I V , Moskva-Leningrad, 1960. (Die Arbeitsteilung in der Urgesellschaft). ^ BUTINOV, 1960, S.
109.
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BAIÍBAHA T B E I D E
an anderer Stelle seines Aufsatzes ausführt, besitzt die Arbeitsteilung nach Geschlecht und Alter eine dominierende Funktion lediglich in frühen Etappen der Entwicklung der Urgesellschaft, konkret repräsentiert etwa durch die australische Grundbevölkerung. Andererseits betont B U T I N O V , und hier kann man ihm nur zustimmen, daß eine umfassende Untersuchung aller Formen der Arbeitsteilung einen wesentlichen Schlüsselzur Erkenntnis der sozialökonomischen Entwicklung der Urgesellschaft und auch der frühen Klassengesellschaft darstellt. 5 B U T I N O V zitiert in diesem Zusammenhang die Gedanken der Klassiker des Marxismus, die bei der Untersuchung der Produktion der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen zu der Auffassung gelangten, daß vor der Entstehung der Großindustrie der mächtigste Hebel zur Entwicklung der Produktion die Arbeitsteilung war, daß die Arbeitsteilung die Grundlage aller vorkapitalistischen Produktionsweisen bildete. 6 I n der Tat sollte die künftige marxistische ethnographische Forschung den Fragen der Arbeitsteilung als einem wesentlichen Aspekt der Arbeitsorganisation und damit der menschlichen Produktivkraft eine erhöhte Aufmerksamkeit widmen. BUTINOV
I m einzelnen unterscheidet nun B U T I N O V bei der Untersuchung der Arbeitsteilung in der Urgesellschaft vier Elemente: 7 1. die wirtschaftliche Spezialisierung der territorialen bzw. lokalen Einheiten, der Gemeinden; 8 2. den Wirtschaftszyklus; 3. die „festgesetzte Arbeitsordnung" innerhalb der territorialen bzw. lokalen Einheit, der Gemeinde; 4. die Arbeitsteilung nach Geschlecht und Alter. Diese von B U T I N O V herausgearbeiteten vier Elemente der Arbeitsteilung fordern einige Bemerkungen heraus. B U T I N O V führt aus der ethnographischen Literatur über Melanesien zahlreiche Beispiele dafür an, daß einzelne Gemeinden bzw. Dörfer mit anderen Gemeinden bzw. Dörfern in mehr oder weniger stabilen Austauschbeziehungen standen. Anhand dieser Beispiele wird ersichtlich, daß hier vor allem ein Austausch als Folge unterschiedlicher natürlicher Gegebenheiten stattfand, daß man z.B. in sehr vielen Fällen Nahrungsmittel, die man S BUTINOV, 1 9 6 0 , S. 110. 6 BUTINOV, 1960, S. 111. 7
BUTINOV, 1960, S. 1 1 2 / 1 1 3 .
8
(1960, S. 139) b e t o n t , „daß die Gemeinde u n d das Dorf auf Neuguinea nicht immer ein u n d dasselbe sind. Bs gibt Dörfer, deren gesamte Bevölkerung zu einer Gemeinde gehört . . . U n d es gibt Dörfer, in denen einige Gemeinden leben. Diese Gemeinden sind exogam, das Dorf insgesamt ist jedoch nicht e x o g a m . " B U T I N O V verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff Gemeinde f ü r Gens, setzt aber d a n n a n anderen Stellen die Gemeinde mit dem Dorf gleich, obwohl aus seinen Beispielen hervorgeht, d a ß diese Dörfer aus mehreren Gentes bestehen. Vgl. auch B U T I N O V , 1968, S. 140—142. Eine Präzisierung der Begriffsinhalte u n d ihre konsequente u n d eindeutige Anwendung w ä r e n wünschenswert, zumal diese Begriffe die grundlegenden Kategorien seiner Untersuchungen sind. BUTINOV
Sozialökonomische Entwicklung der Grundbevölkerung Ozeaniens
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durch Fischfang gewonnen hatte, gegen Bodenbauprodukte eintauschte. 9 Dabei streift B U T I N O V auch die Frage, ob und in welchem Ausmaße diese Formen des Austauschs von Nahrungsmitteln zwischen Gemeinden zur Produktion, zur Erzeugung eines Mehrprodukts an Nahrungsmitteln führten, oder ob ein vorhandenes Mehrprodukt den Austausch erst ermöglichte bzw. stimulierte. Er geht in diesem Zusammenhang auf die Verhältnisse bei den Usiai der Admiralitätsinseln ein, bei denen der Umfang der erzeugten Nahrung so gering ist, daß sie Nahrung nur gegen Nahrung eintauschen können. Der Austausch befriedigt ein elementares Bedürfnis nach abwechslungsreicherer Nahrung; er ist allein ein Ergebnis der umweltbedingten Spezialisierung der Gemeinden. Von überschüssigen Nahrungsmitteln oder einem nennenswerten Versuch, ein Mehrprodukt an Nahrungsmitteln für den Austausch zu erzeugen, kann hier wie in den meisten Gebieten Melanesiens keine Rede sein. Anhand mehrerer Beispiele belegt BTJTINOV die Produktion von hausgewerblichen Erzeugnissen speziell für den Austausch im melanesischen Gebiet und weist auf ihren zum Teil erheblichen Umfang hin. Bei der Darstellung solcher Sachverhalte für Polynesien kann er eine Herauslösung des Handwerks aus der übrigen Produktion und damit die Existenz der zweiten gesellschaftlichen Arbeitsteilung nachweisen. 10 Diese Auffassung B U T I N O V S ist allerdings nicht unanfechtbar, ebenso wie seine Ansicht, daß es in Polynesien auch die erste gesellschaftliche Arbeitsteilung gegeben hat. Leider bleibt relativ unklar, welche konkreten Sachverhalte B U T I N O V mit dem Begriff der „festgesetzten Arbeitsordnung" innerhalb einer Gemeinde erfassen will. Einerseits versteht B U T I N O V unter „festgesetzter Arbeitsordnung" die Durchführung kollektiver Arbeiten durch Arbeitsgruppen, von denen jede die gleiche Tätigkeit in Kooperation mit anderen Gruppen ausführt. Andererseits versteht er unter „festgesetzter Arbeitsordnung" aber auch die Durchführung von Arbeiten durch Einzelpersonen oder auch durch Gruppen, die jede für sich bestimmte nicht kollektiv zu erledigende Arbeiten vornehmen und den Ertrag dieser Arbeiten auch im eigenen kleinen Kreise konsumieren. Dazu gehört die Durchführung von Feldarbeiten durch bestimmte kleinere Gruppen, aus denen sich eine Gemeinde zusammensetzt. 1 1 Diese gleichrangige Bewertung verschiedener Typen von Produktionskollektiven durch B U T I N O V erschwert das Herausfinden der in einer bestimmten Gemeinde dominierenden Produktionseinheit. Diese Ungenauigkeit in der Bestimmung des Inhalts der „festgesetzten Arbeitsordnung" ist um so schwerwiegender, als nach B U T I N O V S Auffassung diese „festgesetzte Arbeitsordnung" im wesentlichen für die personale Zusammensetzung der einzelnen Gemeinden bzw. Dörfer, für ihre Siedlungsstruktur und auch für die Gliederung der Gemeinden bzw. Dörfer in Verwandtengruppen (Gentes, Subgentes) bestimmend ist. E r formuliert diesen Gedanken so: „Die 9 BUTINOV, 1 9 6 0 , S . 1 2 6 , 1 3 2 f f . «> BUTINOV, 1 9 6 0 , S . 1 4 5 - 1 4 7 . « BUTINOV, 1 9 6 0 , S . 1 1 2 , 1 3 7 .
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Arbeitsordnung nimmt auch — direkt oder indirekt — Einfluß auf das Verwandtschaftssystem." 1 2 Auf diese außerordentlich wichtige Frage wird im Zusammenhang mit der Behandlung des Buches von B U T I N O V „Die Papua von Neuguinea" noch eingegangen werden. Ein bedeutender Mangel der Darlegungen B U T I N O V S zur „festgesetzten Arbeitsordnung" und ihrer Beziehung zur territorialen und verwandtschaftlichen Organisation besteht auch darin, daß er die Beziehungen zwischen den einzelnen, von der „festgesetzten Arbeitsordnung" bestimmten Arbeitsgruppen innerhalb einer Gemeinde bzw. eines Dorfes nicht genügend untersucht und klar darstellt. Folglich wird auch seine Behauptung, daß die Mitglieder einer Gemeinde bzw. eines Dorfes in erster Linie nicht durch verwandtschaftliche Bindungen und gleiche Abstammung verbunden seien, sondern durch die „maximale wirtschaftliche Funktion", nicht hinreichend durch konkretes Material und konkrete Analysen belegt. 13 Es ist offensichtlich, daß B U T I N O V die Untersuchung der ökonomischen, resp. sozialökonomischen Beziehungen der Mitglieder einer Gemeinde bzw. eines Dorfes zu sehr auf die Sphäre der Produktion begrenzt und die anderen Aspekte des wirtschaftlichen Zusammenlebens weitgehend oder fast gänzlich außer acht läßt, daß er vor allem auch die nicht-ökonomischen Faktoren der Entwicklung und Erhaltung von Gemeinden, etwa die Sicherung gegen andere Gruppen im Kriegsfalle, den notwendigen Beistand der Gemeindemitglieder in besonderen Situationen u. a. m., nicht genügend berücksichtigt. Unklar ist auch, wie B U T I N O V die Beziehungen zwischen der „festgesetzten Arbeitsordnung" und ihren Arbeitsgruppen zur geschlechtlichen und altersmäßigen Arbeitsteilung sieht. Für eine Reihe von Arbeitsgruppen läßt sich ohne Schwierigkeit nachweisen, daß sie gerade auf der Grundlage der Arbeitsteilung nach Geschlecht und Alter gebildet sind. Daß B U T I N O V im Jahreszyklus, im Jahresablauf der einzelnen wirtschaftlichen Tätigkeiten, ein weiteres Moment der Arbeitsteilung sieht, ist kaum zu akzeptieren. Ganz offensichtlich ist der Jahreszyklus der wirtschaftlichen Tätigkeiten das Resultat der verschiedenen Formen der Arbeitsteilung, wie sie sich aus der Auseinandersetzung der menschlichen Gesellschaft mit den konkreten natürlichen Gegebenheiten eines bestimmten Territoriums, einer bestimmten Region, ergeben, und nicht eine selbständige Form der Arbeitsteilung. Angesichts der bisher vorgebrachten kritischen Bemerkungen erscheint auch der Versuch B U T I N O V S , anhand der Formen der Arbeitsteilung bei den Australiern, der Bevölkerung Melanesiens und bei den Polynesiern drei historische Etappen der Arbeitsteilung herauszustellen, die für das frühe, das entwickelte und das späte Stadium der Urgesellschaft typisch seien, etwas schematisch und mit Faktenmaterial zu wenig belegt. Nach B U T I N O V repräsentierten die 12 B U T I N O V , 1 9 6 0 , S . 1 4 0 . 13
B U T I N O V , 1 9 6 0 , S. 1 3 7 / 1 3 8 . Vgl. auch T U M A R K I N , D. D., K voprosu o suscnosti roda. I n : Sovetskaja Etnografija, 1970, 5, S. 94. (Zur Frage über das Wesen der Gens).
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Australier die erste Etappe der Arbeitsteilung, in der die Arbeitsteilung nach Geschlecht und Alter die entscheidende Rolle spielte, wenn es auch bei ihnen eine „festgesetzte Arbeitsordnung" und die Arbeitsteilung zwischen einzelnen lokalen Gruppen gab. Für die zweite historische Etappe der Arbeitsteilung war nach B U T I N O V die Bevölkerung Neuguineas und Westmelanesiens typisch mit ihrer Arbeitsteilung zwischen den lokalisierten Verwandtengruppen (Gentes, Subgentes) einer Gemeinde bzw. eines Dorfes. Wenn er schließlich die Polynesier als charakteristisch für die dritte Etappe der Herausbildung der Arbeitsteilung anführt, seiner Auffassung nach mit Formen der ersten und zweiten gesellschaftlichen Arbeitsteilung, so ist dem im Prinzip ohne Zweifel zuzustimmen. 14 Ganz allgemein jedoch muß einschränkend gesagt werden, daß der regionalhistorische Versuch B U T I N O V S , bestimmte historische Etappen der Entwicklung der Arbeitsteilung herauszuarbeiten — unabhängig von den einzelnen kritischen Bemerkungen zum Versuch — auch nicht genügend begründet ist, um universalhistorische Gültigkeit beanspruchen zu können. Dazu bedürfte es einer wesentlich breiteren, überregional vergleichenden Untersuchung entsprechender Sachverhalte. Eine der wichtigsten sowjetischen Arbeiten, die in den letzten Jahren den Völkern Ozeaniens gewidmet wurden, ist das Buch B U T I N O V S „Die Papua von Neuguinea", Moskau 1 9 6 8 . 1 5 B U T I N O V konzentriert sich in dieser Publikation vor allem auf Fragen der Wirtschaft und Gesellschaftsordnung, wie das auch aus dem Untertitel der Arbeit hervorgeht. Neben diesen Hauptkomplexen behandelt der Autor auch Fragen des ethnischen Bestandes der autochthonen Bevölkerung von Neuguinea. I m Rahmen des vorliegenden Aufsatzes sollen vor allem B U T I NOVS Auffassungen über die Frage der wirtschaftlichen Entwicklung und über die Beziehungen zwischen territorialer und verwandtschaftlicher Organisation, zwischen Papua-Gemeinden und der Gentilorganisation der Papua, Behandlung finden. Da sich diese umfassendere Arbeit B U T I N O V S in vielen Punkten auf die gleichen theoretischen Konzeptionen wie seine Untersuchung zur Arbeitsteilung in Ozeanien bezieht, wird die folgende Behandlung seines Buches „Die Papua von Neuguinea" an einige vorangegangene Bemerkungen anknüpfen. I n seinen Darlegungen über bestimmte Fragen der Wirtschaft der Papua geht von dem Grundgedanken aus, daß „das Hauptziel der wirtschaftlichen Betätigung der Papua-Gemeinden die Gewinnung der Nahrung ist." 1 5 a Zweifellos hat die Nahrungsgewinnung außerordentliche Bedeutung. Doch erscheint eine
BUTINOV
" BUTINOV, 1960, S. 147. 15
B U T I N O V , N. A., P a p u a s y N o v o j Gvinei, Moskva 1968. (Die P a p u a von Neuguinea). B U T I N O V verwendet aus nicht ersichtlichem Grund den Begriff „ P a p u a " zusammenfassend f ü r die gesamte Bevölkerung Neuguineas, auch f ü r die melanesische Sprachen sprechenden Bevölkerungsteile. Der Autor des vorliegenden Aufsatzes b e n u t z t — jedoch nur in diesem Beitrag — den Begriff „ P a p u a " in der von B U T I N O V verstandenen Weise.
isa B U T I N O V , 1 9 6 8 , S . 4 5 . 2 Jahrbuch des Museums für Völkerkunde, Bd. XXIX
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BARBARA TREIDE
solche Auffassung vom Hauptziel der wirtschaftlichen Betätigung etwas zu begrenzt, denn das Hauptziel der wirtschaftlichen Betätigung schließt auch die Befriedigung vieler anderer, nicht minder lebenswichtiger Bedürfnisse ein. Auch B U T I N O V weist auf die Wichtigkeit solcher wirtschaftlichen Betätigungen wie den Hausbau, die Anfertigung der Kleidung, der Werkzeuge, der Waffen u n d Geräte hin. Es ist ja vor allem die Herstellung von Werkzeugen, Waffen und Geräten, die als notwendige Voraussetzung zur Nahrungsproduktion nicht losgelöst vom Hauptziel der wirtschaftlichen Betätigung zu betrachten ist. I n erster Linie den Charakter einer knappen Information tragen die Abschnitte des Buches, die sich mit der Darstellung der ökonomischen Verhältnisse auf Neuguinea unter kolonialen Bedingungen befassen. Hier gibt der Autor lediglich einen kurzen Überblick über die ökonomische Lage in der östlichen Hälfte Neuguineas, über die entstehende Arbeiterklasse in der Papua-Bevölkerung und die Bildung von Kooperativen bei den Papua, über die Veränderungen in Wirtschaft und Lebensweise dieser Menschen während der Kolonialzeit. 16 Das Hauptanliegen der Untersuchungen B U T I N O V S ist die Analyse der traditionellen sozialökonomischen Verhältnisse als ein Beitrag zur marxistischleninistischen Darstellung der sozialökonomischen Entwicklung der Menschheit überhaupt. Wenn er über die Wirtschaft der Papua spricht, so geht er von der Grundauffassung aus, daß die Gemeinde bzw. das Dorf auf Neuguinea die grundlegende wirtschaftliche und auch soziale Einheit ist. Deshalb schenkt er der Untersuchung des Papua-Dorfes große Aufmerksamkeit. Aufschlußreich sind vor allem die statistischen Angaben, die B U T I N O V über die Zahl der Dörfer und über die Zahl ihrer Bewohner anhand der gesamten für ihn erreichbaren Literatur ausgewertet hat. 17 Gerade diese demographischen Fakten wurden und werden zum Teil noch heute in den ethnographischen Untersuchungen ungenügend oder überhaupt nicht beachtet. B U T I N O V kann zeigen, daß die Mitgliederzahlen der einzelnen Gemeinden bzw. Dörfer keine zufälligen Größen sind, sondern daß sie durch konkrete wirtschaftliche Faktoren bedingt sind. E r kann weiter deutlich machen, daß es zu einer Aufteilung der Dörfer kommt, sobald eine bestimmte Mitgliederzahl überschritten ist. Von grundsätzlicher Bedeutung für die Untersuchung sozialökonomischer Verhältnisse der Urgesellschaft sind auch seine Darlegungen darüber, daß eine Reihe wesentlicher wirtschaftlicher Funktionen und Aufgaben innerhalb eines Dorfes jeweils nur von einem Teil des Dorfes ausgeführt wird. So kommt es seiner Ansicht nach zu einer Teilung des Dorfes bzw. der Gemeinde in mehrere Unterabteilungen: „Die Personen, die einer Unterabteilung der Gemeinde angehören, sind miteinander enger verbunden, sie verkehren öfter miteinander als mit den übrigen Dorfbewohnern." 1 8 LE
BUTINOV, 1 9 6 8 , S. 5 4 - 7 0 .
« BUTINOV, 1968, S. 36. IS B U T I N O V , 1 9 6 8 , S . 7 6 / 7 7 .
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Große Beachtung schenkt B U T I N O V auch in dieser Veröffentlicnung den Fragen der Arbeitsteilung. E r analysiert die Arbeitsteilung nach Geschlecht und Alter 19 und, in etwas breiterer Form als in seinem 1960 publizierten Aufsatz, die Erscheinungen der arbeitsteiligen Produktion einzelner Papua-Gemeinden und der darauf basierenden ökonomischen Beziehungen. 20 Die theoretischen und methodischen Grundsätze, die er hierbei entwickelt, sind im wesentlichen Wiederholungen der bereits in der Arbeit von 1960 dargelegten Auffassungen. Von allgemeinem Interesse sind seine relativ breiten Ausführungen über die Arbeitsteilung innerhalb der Gemeinden. E r unterscheidet zwei Grundarten der gemeinschaftlichen Arbeit, einmal die Arbeit der gesamten Gemeinde und dann die Arbeit der einzelnen Familie. Die erste Art der gemeinschaftlichen Arbeit bezeichnet er als „gleichzeitige Teilnahme aller Gemeindemitglieder an der Arbeit." 2 1 Innerhalb jeder dieser beiden Grundarten der gemeinschaftlichen Arbeit unterscheidet B U T I N O V wiederum verschiedenartige Erscheinungen, und zwar einmal die Arbeit der gesamten Gemeinde und zum anderen die langdauernde gemeinsame Arbeit eines Teils der Gemeinde, d. h. einiger Familien, die zur Gemeinde gehören. Die Familienarbeit ihrerseits kann nach B U T I N O V in zwei Erscheinungsformen beobachtet werden: einmal als die gemeinsame, oft nur kurzfristige Arbeit einiger verwandter Familien, die nicht unbedingt zu einer, zur gleichen Gemeinde gehören müssen, wobei auch der Personenbestand wechseln kann, und andererseits als die Teilnahme einzelner Personen an der Arbeit von Verwandten aus anderen Familien innerhalb derselben oder aber auch in einer anderen Gemeinde, in einem anderen Dorf. 22 Hierzu erscheint eine Bemerkung angebracht: Einmal ist die Auffassung daß die gemeinsame Familienarbeit der Papua für die entwickelte Phase der Urgesellschaft charakteristisch sei, nicht sehr wahrscheinlich, da diese Form der Kooperation in Wirklichkeit erst in einem Stadium der weitreichenden Auflösung der Urgesellschaft bestimmend wurde. I m weiteren Verlauf seiner Arbeit kommt B U T I N O V selbst zu dieser Überzeugung. Zum anderen ist die Kategorisierung der verschiedenen Formen der Arbeitsteilung innerhalb der Gemeinde nicht exakt genug, um auf ihrer Grundlage die territoriale, und, wie B U T I N O V meint, auch die verwandtschaftliche Organisation innerhalb einer Papua-Gemeinde erklären zu können. Denn der Autor arbeitet nicht heraus, welche der angeführten Formen der Arbeitsteilung die für das gesamte Wirtschaftsleben bestimmende Form oder die bestimmenden Formen sind bzw. waren, und welche Formen der Arbeitsteilung nur sekundäre, untergeordnete Bedeutung besaßen. Auf Grund dieser ungenügenden Analyse ist B U T I N O V nicht in der Lage, den Entwicklungsstand, die Erscheinungsformen des Eigentums, vor allem am Hauptproduktionsmittel Grund und Boden, in der Papua-Gemeinde exakt und als wesentliche Grundlage für die Diskussion des VerhältBUTINOVS,
« BUTINOV, 1 9 6 8 , S . 7 7 - 7 9 . 20 BUTINOV, 1 9 6 8 , S . 7 9 - 9 7 . 21 BUTINOV, 1 9 6 8 , S . 8 1 . 22 BUTINOV, 1 9 6 8 , S. 8 1 / 8 2 . 2*
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nisses von territorialer zu verwandschaftlicher Organisation darzustellen. B U T I NOV schreibt: „In der Mehrzahl der Papua-Gemeinden beruhen die Eigentumsbeziehungen auf sehr einfachen Prinzipien, die der Gemeinde-Gentilstruktur im ganzen eigen sind." 2 3 Wenn aber B U T I N O V die konkreten Formen des Eigentums im folgenden Abschnitt seiner Arbeit charakterisiert, gerät er selber in Widerspruch zu dieser stark verallgemeinernden Ansicht. E r zeigt selber, wie relativ kompliziert die Formen des Eigentums innerhalb der Papua-Gemeinden sind, daß innerhalb des Gemeindeeigentums an Grund und Boden ein Familienbesitz an Teilen des Gemeindebodens besteht, daß ferner ein Eigentum oder Besitz an einzelnen Bäumen usw. existiert. 2 4 Interessant ist auch das Beispiel der Einladung von Helfern für die Bebauung von Gärten und die daraus entstehenden komplizierten Eigentums- und Besitzverhältnisse. 2 5 Gerade eine sehr sorgfältige Analyse der Eigentums- und Besitzverhältnisse — in Verbindung mit und ausgehend von den verschiedenen Formen der Arbeitsteilung, vor allem aber ausgehend von einer Darstellung der dominierenden, der entscheidenden Form der Produktionskooperation, der wesentlichsten Form ständiger Produktionskollektive und ihres hauptsächlichen Arbeitsgegenstandes, des Hauptproduktionsmittels Grund und Boden, — hätte die entscheidende Grundlage liefern können für die Begründung der von B U T I N O V aufgestellten These von der Wirkung der „festgesetzten Arbeitsordnung" über die territoriale Organisation auf die verwandtschaftliche Organisation. Man bedauert dieses Versäumnis B U T I N O V S um so mehr, als er, wie bereits angedeutet wurde, den Versuch unternimmt, anhand der ethnographischen Materialien über die Papua-Bevölkerung Neuguineas — in Übereinstimmung mit der Auffassung ZIBERS 26 — den Nachweis zu führen, daß die lokalisierten, gemeinsam wirtschaftenden Einheiten die primären, die bestimmenden gesellschaftlichen Organisationseinheiten waren und sind, und daß die verwandtschaftliche Organisation von dieser sozialökonomischen Grundstruktur bestimmt wurde. 27 Diese These steht tatsächlich in scharfem Gegensatz zu vielen Auffassungen bürgerlicher Ethnographen, vor allem der Vertreter der "Social Anthropology" britischer Provenienz, die in den vergangenen Jahrzehnten eine unzulässige Überbetonung der verwandtschaftlichen Organisation als dem Grundprinzip des gesellschaftlichen Lebens in sogenannten "primitive societies" vorgenommen hatten. B U T I N O V postuliert eine dreistufige Abfolge in der Entwicklung der PapuaGemeinde, indem er die „gentile Gemeinde", die „heterogene Gemeinde" und die „Nachbargemeinde" unterscheidet. 2 8 Nach B U T I N O V hat sich die Gens auf der 23 BUTINOV, 1 9 6 8 , S . 9 7 . 24 BUTINOV, 1 9 6 8 , S . 9 8 / 9 9 . 25 BUTINOV, 1 9 6 8 , S . 1 0 1 . 20
ZIBBB, N. I . , Ocerki pervobytnoj ekonomiceskoj kul'tury, Moskva, 1937, S. 267—
268. (Darlegungen zur Wirtschaft der Urgesellschaft).
BUTINOV, 1 9 6 8 , S . 1 6 8 .
28 BUTINOV, 1968, S. 118, 120; BUTINOV, N. A., R o d na Novoj Gvinee. I n : Avstralija
i Okeanija (Istorija i sovremennost'), Moskva, 1970. (Die Gens in Neuguinea). In
Sozialökonomische Entwicklung der Grundbevölkerung Ozeaniens
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Grundlage des Bestehens der Gemeinde entwickelt. 29 Die Abstammungsgruppen haben sich dann ihrerseits mit der Aufteilung, mit der Segmentierung der Gemeinden bzw. Dörfer aufgespalten. 30 Das erklärt aber noch nicht das Nebeneinanderbestehen von Teilen von Gentes innerhalb einer Gemeinde, wie es für den Typ seiner „heterogenen Gemeinde" charakteristisch ist. 31 I n diesem Zusammenhang eben bedauert man die Ungenauigkeit B U T I N O V S bei der Darlegung der wirtschaftlichen — vor allem in der Produktionstätigkeit, in der Arbeitsteilung begründeten — relativen Eigenständigkeit von Gentes und Teilen von Gentes innerhalb einer Gemeinde. Dieser Mangel kann auch nicht dadurch ersetzt werden, daß B U T T N O V die Entwicklung der Papua-Gemeinde als die Auswirkung von Widersprüchen zwischen der Gemeinde und der Familie zu erklären sucht: „Am Anfang überwog die Gemeindearbeit völlig die Familienarbeit; später fiel die überwiegende Rolle der Arbeit einem Teil der Gemeinde zu, der Großfamilie, und endlich rückte an die erste Stelle in der Arbeitstätigkeit die Kleinfamilie, und die Arbeit der Gemeinde im ganzen oder jeweils ihrer Teile vollzieht sich nur noch sporadisch, außerhalb der Gemeinde — bei der Ausführung der Arbeiten, die von außen an die Gemeinde herangetragen werden (auf Neuguinea von Seiten der Kolonialbehörden), innerhalb der Gemeinde in der Gestalt verschiedener Bräuche der gegenseitigen Hilfe." 3 2 Einmal ist fraglich, ob die — ursprünglich durchaus mögliche — Einheit von Gemeinde und Abstammungsgruppe tatsächlich in erster Linie auf die Gemeindearbeit zurückzuführen ist, und ob nicht komplexere wirtschaftliche Notwendigkeiten die Ursache dafür waren. Zum anderen spricht BTJTINOV davon, daß in einer späteren Phase die überwiegende Rolle der Arbeit einem Teil der Gemeinde, nämlich der Großfamilie, zufiel. Es ist nicht zu bestreiten, daß anhand des ethnographischen Materials für die Papua-Gemeinden in der Neuzeit tatsächlich die Großfamilie als relativ selbständige wirtschaftliche Einheit nachweisbar ist, wenn man einmal von dem selbst die Grenzen eines Dorfes überschreitenden Gentileigentum am Hauptproduktionsmittel Grund und Boden absieht. Das erklärt aber noch nicht das Bestehen von Subgentes als den eigentlichen ökonomischen und sozialen Einheiten innerhalb der heterogenen Gemeinde, als die sie von BTJTINOV angesehen werden. 33 Denn in der Regel sind die Großfamilien nicht mit diesen diesem Aufsatz (S. 26) f ü g t BUTINOV zu "den drei Typen der Gemeinde in Neuguinea, die er bereits in seiner 1966 veröffentlichten Arbeit „Community in New Guinea" ( X I . Pacific Science Congress, N a u k a Publishing House, Moscow, 1966) dargestellt h a t , noch einen vierten T y p hinzu, die Blutsverwandtschaftsgemeinde. Sie konzentriert sich u m G r u p p e n von Schwestern u n d B r ü d e r n mit b e t o n t e r horizontaler V e r w a n d t s c h a f t , d. h. zwischen Mitgliedern einer Generation. 2» B U T I N O V , 1 9 6 8 , S . 1 6 8 . 30
BTJTINOV, 1 9 6 8 , S . 1 6 8 .
31 B U T I N O V , 1 9 6 8 , S . 7 2 . 32 B U T I N O V , 1 9 6 8 , S . 1 1 8 . 33 B U T I N O V , 1 9 6 8 , S . 7 6 / 7 7 .
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Subgentes gleichzusetzen. Schließlich erscheint es fragwürdig, die Arbeitstätigkeit der Kleinfamilie als typisch für die „Nachbargemeinde" anzusehen. 34 An der Auflösung der gentilen Grundlagen oder besser der gentilen Verwandtschaftsstruktur mit dem Übergang zur Herausbildung des Privateigentums an Hauptproduktionsmitteln und mit der Entwicklung der Nachbargemeinde ist nicht zu zweifeln, doch muß das nicht gleichzeitig die Herausbildung der Kleinfamilie als wichtigster sozialökonomischer Einheit zur Folge haben. Es ist durchaus das Weiterbestehen von Großfamilien und zum Teil von noch umfassenderen Verwandtengruppen bekannt. B U T I N O V fällt es selber nicht leicht, die prinzipiellen Unterschiede zwischen seiner gentilen und seiner heterogenen Gemeinde aufzuzeigen. E r schreibt: „Nach den vorhandenen Quellen ist es ziemlich schwierig zu beurteilen, mit welcher Art der Gemeinde wir es zu tun haben, mit der gentilen oder mit der heterogenen Gemeinde." 35 Die Hauptschwierigkeit für die Unterscheidung scheint in der Auswahl der Kriterien zu liegen, die er heranzieht. So sagt er, daß sich die heterogene Gemeinde von der gentilen Gemeinde darin unterscheidet, daß in ihrer Wirtschaft die maximale Funktion entweder überhaupt fehlt oder ohne lebenswichtige Bedeutung für die Gemeinde ist. 36 Wie bereits weiter oben angedeutet wurde, scheint aber dieses Kriterium der maximalen wirtschaftlichen Funktion relativ subjektiv zu sein, denn anhand der angeführten Belege läßt sich nicht immer entscheiden, was für die Gemeinde tatsächlich lebenswichtig oder nicht lebenswichtig war resp. ist. Man kann ferner in Rechnung stellen, daß B U T I N O V bei der Unterscheidung des gentilen und des heterogenen Typs der Gemeinde zum Teil auch deshalb Schwierigkeiten hatte, weil er seine Aufmerksamkeit fast nur dem eigentlichen Produktionsprozeß 'gewidmet hat und dabei viele andere wesentliche sozialökonomische Verhältnisse und Beziehungen und auch wesentliche Erscheinungen des gesellschaftlichen und religiösen Lebens offensichtlich unterschätzt hat. Eine konkrethistorische Untersuchung — wenn auch wegen der relativ geringen historischen Tiefe des ethnographischen Materials über Melanesien resp. über Neuguinea nicht einfach durchzuführen — kann ohne Frage eine Reihe von Beispielen beibringen, die konkrete Prozesse der Aufspaltung von Abstammungsgruppen und die dafür verantwortlichen Gründe und Ursachen klar werden lassen, die durchaus nicht immer im rein ökonomischen Bereich zu liegen brauchen. Es ist auch mit anderen Ursachen aus dem sozialen und religiösen Bereich zu rechnen. B U T I N O V geht auch auf die Existenz von gesellschaftlichen Organisationsformen ein, die über die Gemeinde bzw. das Dorf und über die Gens hinausgingen oder hinausgehen. E r stellt den „Bund der Gemeinden" und den Stamm einander gegenüber, wobei er die Bezeichnung Stamm für den Zusammenschluß mehrerer Gemeinden ablehnt, da sie kein gemeinsames Oberhaupt besaßen. 37 I m einzelnen ist nicht ganz klar, was der Autor unter dem Bund mehrerer Ge-
34 BUTINOV, 1 9 6 8 , S . 1 4 2 - 1 4 4 , 35
168.
BUTINOV, 1 9 6 8 , S . 1 2 0 .
3E BUTINOV, 1 9 6 8 , S . 1 2 0 .
V BUTINOV, 1968, S. 199.
Sozialökonomische Entwicklung der Grundbsvölkerung Ozeaniens
23
meinden versteht, da er im gleichen Kontext einmal vom B u n d der Gemeinden, d a n n aber auch von einem Bund der Gentes spricht. 38 Auf dem V I I I . Internationalen Kongreß für Anthropologische und Ethnologische Wissenschaften in Tokio 1968 hielt BTJTINOV ein Referat über die Gens auf Neuguinea („Clan in New Guinea") 3 9 ; dieser Beitrag wurde 1970 weitgehend unverändert im Sammelband „Australien und Ozeanien (Geschichte und Gegenwart)", Moskau 1970, abgedruckt. 40 Obwohl BTJTINOV ZU Beginn dieses Beitrags völlig zu Recht betont, daß die Untersuchung der Verwandtschaftsorganisation auf keinen Fall von einer Vielzahl anderer ökonomischer und sozialer Erscheinungen getrennt werden darf 4 1 , beschränkt er sich im folgenden auf die Darstellung nur einer Beziehung, der Beziehung zwischen verwandtschaftlicher und territorialer Organisation. Zweifellos untersucht er damit einen wesentlichen Zusammenhang. Jedoch kommt er dabei nicht auf die Versuche zurück, Formen der territorialen und verwandtschaftlichen Organisation und ihre Beziehungen zueinander mit bestimmten Anforderungen und Formen der wirtschaftlichen Tätigkeit, vor allem der Produktion der Nahrung, in Verbindung zu bringen, wie er sie in Ansätzen bereits unternommen hatte. 4 2 E r stellt vielmehr einzelne Angaben und Verallgemeinerungen W E D G W O O D S und H O G B I N S wie auch anderer Sozialanthropologen weitgehend unkritisch nebeneinander, ohne eine eigene Hypothese zur Erklärung des Bestehens von lokalisierten und nichtlokalisierten unilineaxen Abstammungsgruppen auf Neuguinea zu entwickeln. BTJTINOV geht nicht auf Ansätze einiger Sozialanthropologen zur ökologischen und ökonomischen Interpretation bestimmter Erscheinungen der verwandtschaftlichen und lokalen Organisation ein. E r setzt sich z. B. nicht mit dem Versuch W A T S O N S auseinander, die Existenz lokalisierter patrilinearer Abstammungsgruppen im zentralen Hochland von Neuguinea als eine historische, ökonomisch begründete Entwicklung aus früher bestehenden kleinen Lokalgruppen mit patrilokaler Eheführung zu erklären. 43 Mit der Beschränkung auf die Behandlung Neuguineas bleibt BTJTINOV die Antwort auf die Frage schuldig, welche Stellung die lokalisierten patrilinearen Abstammungsgruppen in der regional- und universalhistorischen Entwicklung der Formen der verwandtschaftüchen Organisation der Vorklassengesellschaft einnehmen. E r erwähnt lediglich, daß auf Neuguinea die matrilinearen Abstammungsgruppen stets dislokalisiert auftreten. 4 4 3
8 BUTINOV, 1 9 6 8 , S . 1 9 9 .
39
BTJTINOV, N. A., Clan in New Guinea. In: Proceedings, Vll'Ith International Congress of Anthropological and Ethnological Sciences, 1968, Tokyo and Kyoto, Vol. II, Ethnology, pp. 140-142. VI BUTINOV, N. A., Rod na Novoj Gvinee. In: Avstralija i Okeanija (Istorija i sovremennost'), Moskva, 1970, S. 25—34. 41
BUTINOV, 1 9 7 0 , S . 2 5 / 2 6 .
43
WATSON, J. B., From Hunting to Horticulture in the N e w Guinea Highlands. I n : Ethnology, Vol. IV, No. 3, pp. 295-309, 1965.
42
44
BUTINOV, 1 9 7 0 , S . 3 0 .
V g l . S . 15 f f . d e r v o r l i e g e n d e n A r b e i t .
24
BARBARA
TREIDE
Die von BUTINOV getroffene weittragende Feststellung, daß möglicherweise bei vielen Papua-Stämmen auf Neuguinea niemals die „ideale" Gens bestand 4 5 , hätte unbedingt einer eingehenden Begründung bedurft. Mit der weitgehend formal-beschreibenden Behandlung, mit der Aneinanderreihung einzelner Aussagen verschiedener Autoren zu einzelnen Erscheinungsformen der Gens in Neuguinea konnte BUTINOV eine solche Begründung nicht geben. Bereits 1963 hatten AVEBKIEVA, P E B S I C , F A J N B E R G und CEBOKSAKOV in einer kritischen Stellungnahme 46 zu einer Arbeit BUTINOVS aus dem Jahre 1962 („Die Herkunft und der ethnische Bestand der Urbevölkerung Neuguineas") 47 darauf hingewiesen, daß BUTINOV die universalhistorische Stellung der Vatergens in der Relation zur Muttergens fälschlicherweise als eine Frage ohne prinzipielle Bedeutung für die Periodisierung der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft betrachtet. 4 8 I n diesem Zusammenhang betonen sie, daß die Basis für die theoretischen Aussagen BUTINOVS ZU diesen Fragen in der Untersuchung der ethnographischen Materialien lediglich über die einheimische Bevölkerung Neuguineas offensichtlich zu schmal ist. 49 Schließlich weisen sie mit Berechtigung auf die ungenügende Präzision hin, mit der BUTINOV die Begriffe Gens, gentile Gemeinde und Gemeinde verwendet und ihr Verhältnis zueinander behandelt. 50 I m Schlußteil seiner Arbeit „Die Gens auf Neuguinea" berührt B U T I N O V die Erscheinung der sozialökonomisch und politisch ungleichrangigen Stellung einzelner Teile einer Gens in verschiedenen Dörfern oder der Teile verschiedener Gentes innerhalb eines Dorfes. 51 Hier haben wir es mit dem universalhistorisch außerordentlich bedeutsamen Phänomen des Auftretens von Ansätzen zur gesellschaftlichen Differenzierung in der Vorklassengesellschaft zu tun. Man bedauert deshalb, daß der Autor gerade auf diese Erscheinung, die ein wichtiger Gegenstand einer detaillierten und kritischen Analyse vorliegender ethnographischer Materialien sein sollte, nur sehr kursorisch eingeht. So sehr die Auffassungen BUTINOVS im einzelnen noch der gründlichen Erörterung bedürfen und auch der breiteren faktenmäßigen Absicherung, so sehr ist sein Bestreben hervorzuheben, grundsätzliche Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung in die internationale wissenschaftliche Diskussion zu bringen. «5 B U T I N O V , 1 9 7 0 , S . 2 5 . 40
47
Ju.; A. P E R S I C ; L. F A J N B E R G ; N. Ö E B O K S A R O V , Esce raz o meste materinskogo roda v istorii obscestva (Po povodu stat'i N. A. Butinova „Proischozdenie i etniceskij sostav korennogo naselenija Novoj Gvinei"). In: Sovetskaja Etnografija, 1963, 3, S. 200—205. (Noch einmal zur Stellung der Muttergens in der Geschichte der Gesellschaft: Zum Aufsatz von N. A. B U T I N O V „Herkunft und ethnischer Bestand der Urbevölkerung Neuguineas"). Vgl. Anmerkung 2 der vorliegenden Arbeit. AVERKIEVA,
48
AVERKIEVA, PERSIC, F A J N B E R G , ÖEBOKSAROV, 1 9 6 3 , S . 2 0 1 .
49
AVERKIEVA, PERSIC, F A J N B E R G , ÖEBOKSAROV, 1 9 6 3 , S. 2 0 2 .
50
AVERKIEVA,
PERSIC,
FAJNBERG,
kung 8 der vorliegenden Arbeit. BUTINOV, 1970, S. 32.
ÖEBOKSAROV,
1963,
S. 2 0 1 ;
vgl. auch Anmer-
Sozialökonomische Entwicklung der Grundbevölkerung Ozeaniens
25
Darlegungen sind außerordentlich anregend, und sie verdienen eine sorgfältige Beachtung. Leider schöpft er nicht immer die bereits gewonnenen Erkenntnisse der sowjetischen ethnographischen Forschung auch auf dem Gebiete der Untersuchung der sozialökonomischen Verhältnisse ozeanischer Bevölkerungen aus, deren Auffassungen zum Teil im Gegensatz zu seinen eigenen stehen. Eine außerordentlich wichtige Frage — die jedoch keinen Schwerpunkt in den Untersuchungen B U T I N O V S bildet — ist die Erforschung der Entwicklung der Eigentumsformen bei den Bevölkerungen Ozeaniens. Ihrer Untersuchung wendet sich P E B S I C in einer seiner Arbeiten zu. 52 Er behandelt nicht-bodenbauende Gruppen mit relativ niedrigem allgemeinem Entwicklungsniveau und stellt fest, daß auf dieser Stufe der historischen Entwicklung die Abstammungsgruppen und die Produktionsgruppen einander nicht völlig entsprachen. 5 3 P E B & I C stützt sich auf die bekannte Arbeit von T O K A R E V . 5 4 E r schreibt, daß „. . . das Gentileigentum am Boden und die damit verbundenen kollektiven Formen der Produktion und Konsumtion für die in ihrer allgemeinen Entwicklung am wenigsten vorangeschrittenen Papua-Gruppen der inneren Gebiete der großen Insel Melanesiens — für die Banaro, die Papua des Mamberamo-Flußbeckens u. a. — charakteristisch waren". 55 P E B S I C sagt weiter, daß solche Produktionsinstrumente Kollektiveigentum waren, zu deren Herstellung und Erhaltung die Arbeit des gesamten Kollektivs notwendig war: das Feuer, die großen Boote vieler Küstenstämme Melanesiens u. a. Es existierte auch gentiles Eigentum an Handwaffen (etwa bei den Melanesiern der Insel Ambrym), so an Speeren und Keulen. Andere Waffen waren individuelles Eigentum der Gemeindemitglieder. 56 P E B S I C untersucht auch die Eigentumsverhältnisse der Melanesier an Vieh und stellt fest, daß, obwohl Schweine und Hunde individuelles Eigentum waren, ihr Fleisch, wenn sie geschlachtet wurden, unter die Verwandten und Nachbarn verteilt werden mußte. Er kommt zu der Schlußfolgerung, daß in dieser Etappe der Entwicklung der Urgesellschaft das Eigent u m der Gentil-Gemeinde und das individuelle Eigentum nicht im Gegensatz zueinander standen, sondern die einheitliche ökonomische Grundlage der Gentilorganisation bildeten. 57 Gleichzeitig weist P E B S I C darauf hin, daß bei einer Reihe melanesischer Stämme der Prozeß der Herausgliederung von FaBUTINOVS
52
PERSIC, A. I., Razvitie form sobstvennosti v pervobytnom obscestve, kak osnova periodizacii istorii, „Problemy istorii pervobytnogo obsöestva", In: Trudy Instituta Etnografii A N SSSR, LIV, Moskva-Leningrad, 1960. (Die Entwicklung der Formen des Eigentums in der Urgesellschaft als Grundlage einer Geschichtsperiodisierung).
53 PEBäic, i960, S. 158. 54
TOKAREV, S. A., Rodovoj stroj v Melanesii. In: Sovetskaja Etnografija, 1933, S. 2—6. (Die Gentilordnung in Melanesien).
55
PERSIC, 1 9 6 0 , S . 1 5 8 .
SO PEBSIC, 1 9 6 0 , S. 1 5 9 . 57 PEBSIC, 1 9 6 0 , S . 1 6 1 .
26
BARBABA TREIDE
milieneigentum an Grund und Boden aus dem Gentileigentum zu beobachten war, so bei Bevölkerungsgruppen des Papua-Golfes, der Inseln Bougainville, Ambrym, San Cr ist oval, bei den Kiwai Neuguineas. I n einigen Gebieten wurden solche Familiengrundstücke auch vererbt, z. B. bei Bevölkerungen in der Gegend von Port Moresby und im nordwestlichen Teil von Papua. 5 8 Nach P E E S I C führten diese Veränderungen in den Eigentumsformen zu prinzipiellen Veränderungen des Lebens der „Urgemeinde". An die Stelle der „Muttergens" trat die „Vatergens". Als Beispiele nennt P E E S I C die Melanesier der Insel Florida und der Banks-Inseln, bei denen der bebaute Gens-Boden von alters her innerhalb der Muttergens verblieb, aber die individuellen Familiengrundstücke, die von den einzelnen Familien bebaut wurden, vom Vater auf die Kinder vererbt wurden. 59 P E E S I C nimmt an, daß bei einigen Papua-Gruppen die Vatergens und die Nachbargemeinde nebeneinander existierten. Gleichzeitig bemerkt er aber, daß diese Frage noch nicht genügend erforscht sei. 60 P E E S I C faßt seine Schlußfolgerungen zusammen und entwirft ein Schema der Entwicklung der Eigentumsformen. Die erste Stufe seines Schemas ist durch die allmähliche Herausbildung des kollektiven Eigentums an den Hauptproduktionsmitteln und des individuellen Eigentums an den Handwerkzeugen in der Urhorde charakterisiert. Die zweite Stufe seines Schemas, nach P E E S I C ist es die Hauptetappe der Urgesellschaft, war die Epoche der „Urgens-Gemeinde". I n dieser Zeit steht das individuelle Eigentum nicht im Widerspruch zum kollektiven Eigentum. Beide Eigentumsformen bilden eine Einheit. Die dritte Stufe, die Epoche der „Urnachbargemeinde", ist die Übergangsperiode vom kollektiven zum Privateigentum. 6 1 Die Auffassungen von P E E S I C und sein Versuch einer Periodisierung der Entwicklung der Eigentumsformen in der Epoche der Urgesellschaft sind zweifellos sehr anregend. Aber aus der Arbeit eines anderen sowjetischen Autors, T U M A R K I N , geht hervor, daß er eine grundsätzlich andere Ausgangsposition einnimmt. Er ist nicht damit einverstanden, daß P E E S I C 6 2 — wie auch SEMJONOV63 — die Gens und die Gens-Gemeinde identifiziert. 64 I n diesem Punkt vertreten T U M A E K I N und B U T I N O V die gleiche Auffassung. 58 PEESIC, I 9 6 0 , 1 6 4 . M PERSIC, 1 9 6 0 , S. 1 6 4 . CO PERSIC, 1 9 6 0 , S . 1 6 6 . OI PERSIC, 1 9 6 0 , S. 1 7 1 / 1 7 2 . M PERSIC, 1 9 6 0 , S . 1 5 6 / 1 5 7 . 63
04
SEMJONOV, JU. I., O periodizacii pervobytnoj istorii. I n : Sovetskaja Etnografija, 1965, 5, S. 87. (Über die Periodisierung der Urgeschichte); SEMJONOV, J u . I., Problema perechoda ot materinskogo roda k otcovskomu (opyt teoreticeskogo analiza). I n : Sovetskaja Etnografija, 1970, 5. (Das Problem des Übergangs v o n der Muttergens zur Vatergens (Versuch einer theoretischen Analyse)). Vgl. auch BUTINOV, N. A., Obscina, rod, sem'ja, I n : Sovetskaja Etnografija 1968, 2, (Im folgenden zitiert als BUTINOV, 1968a.). (Gemeinde, Gens, Familie.) TUMARKIN, D. D., K voprosy o suscnosti roda, I n : Sovetskaja Etnografija, 1970, 5, S. 94. (Zur Frage über das Wesen der Gens).
Sozialökonomische Entwicklung der Grundbevölkerung Ozeaniens
27
Einige Fragen der Wirtschaft und der sozialen Organisation der Melanesier werden in einer Arbeit von T U M A E K I N behandelt, die dem Wesen der Gens ganz allgemein gewidmet ist. 65 Dieser Aufsatz entstand im Rahmen einer Diskussion, die sich nach der Veröffentlichung eines Artikels von K R J U K O V im Jahre 1 9 6 7 entwickelt hat. 6 6 Schon bald nach Beginn überschritt die Diskussion die Grenzen des ursprünglichen Themas und schloß eine Reihe wichtiger Fragen der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ein. 67 Es ist nicht notwendig, den Inhalt des gesamten Aufsatzes von T U M A E K I N hier im Detail zu behandeln, da er sich überwiegend mit nicht-ozeanischem Material beschäftigt. Das, was über die Papua und Melanesier gesagt wird, ist aber nicht ohne Bedeutung für die hier aufgeworfenen Fragen. T T J M A E K I N behandelt die Stellung der matrilinearen und der patrilinearen Verwandtschaftsorganisation in der Urgesellschaft, ihre Beziehungen zueinander, die dislokale Eheform, das Wesen der Gens. Bei der Behandlung der Fragen der Beziehungen zwischen der Gemeinde und der Gens bei den Papua diskutiert T T J M A E K I N die Ansicht von P E E S I C . T T J M A E K I N schließt sich den Auffassungen von B T J T I N O V und K E J U K O V an, die sich gegen eine Identifizierung von Gens und Gens-Gemeinde ausgesprochen haben. 6 8 An dieser Diskussion hat auch B T J T I N O V teilgenommen. Er schildert in einem kurzen Artikel 6 9 seinen Standpunkt über das Wesen dieser sozialen Institutionen, aber ozeanisches Material wertet er dabei nicht aus. Die Arbeiten sowjetischer Ethnographen zur sozialökonomischen Entwicklung der Bevölkerung Melanesiens verdeutlichen die wesentliche universalhistorische Aussage der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erscheinungen und Prozesse in dieser Region für die Erforschung und die Erkenntnis der Entwicklung der Urgesellschaft. Fragen der Herausbildung, Entwicklung und Auflösung der Gentilordnung, des Verhältnisses der Territorialorganisation zur Verwandtschaftsorganisation und andere grundlegende Probleme der Geschichte der Urgesellschaft können ohne Analyse des melanesischen Materials nicht beantwortet werden. Die Untersuchungen der sowjetischen Ethnographen bilden wichtige Beiträge zur Lösung der genannten Fragen. Die Analyse der materiellen Produktion betrachten sie — wenn auch B T J T I N O V nicht immer mit der nötigen Konsequenz — als Grundlage der Untersuchung aller übrigen Erscheinungen und Prozesse des sozialen, politischen, ideologischen und kulturellen Lebens. Die Nutzung demographischer Daten wird von BTJTINOV als eine von Ethnographen bisher oft vernachlässigte Möglichkeit zur Erklärung wichtiger sozialökonomischer ErOS TTJMAEKIN, 1 9 7 0 , S . 9 4 .
M. W., O sootnosenii rodovoj i patronimiceskoj (klanovoj) organizacii (k postanovke voprosa). I n : S o v e t s k a j a Etnografija, 1967, 6. (Über das Verhältnis der Gentil- u n d der p a t r o n y m e n (Klan-) Organisation. Z u m S t a n d des Problems) «7 Vgl. z. B . SEMJONOV, 1970, 5 u n d B U T I N O V , 1968a, 2. 60
KRJUKOV,
«8 T U M A R K I N , 1 9 7 0 , S . 9 4 . BUTINOV,
1968a, S . 9 1 - 9 4 .
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BARBABA T R E I D E
scheinungen demonstriert. Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß die auf Melanesien bezogenen Untersuchungen sowjetischer Ethnographen in der Regel noch nicht zur allseitigen, umfassenden Analyse der komplexen Erscheinungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gelangt sind. Vielfach werden einzelne ethnographische Daten aus Melanesien als Beispiele zur Darstellung bestimmter Gesetzmäßigkeiten der sozialökonomischen Entwicklung herangezogen. Dabei ist oft eine verhältnismäßig summarische Verwendung von Angaben aus dem gesamten melanesischen Gebiet zu beobachten, ohne daß die konkret-historische Entwicklung einzelner Regionen genügend berücksichtigt wird. Für eine differenziertere, die Entwicklung in den einzelnen melanesischen Regionen erfassende Analyse bestehen seit einiger Zeit zunehmend bessere Voraussetzungen, vor allem auch mit dem Voranschreiten der archäologischen Forschung in Melanesien. Für die Analyse und verallgemeinernde Auswertung des umfangreichen ethnographischen und archäologischen Materials ist die Festigung der theoretischen Positionen und die weitere Ausarbeitung der methodischen Prinzipien eine wesentliche Aufgabe, zu deren Bewältigung die sowjetischen Ethnographen in einem prinzipiell und kritisch geführten Meinungsaustausch richtungsweisende Beiträge geleistet haben und leisten.
Häuptlingstum und religiöse Autorität bei den Zentral-Algonkin V o n LOTHAR DKÄGER. L e i p z i g
Die bei der Behandlung gesellschaftlicher Institutionen nordamerikanischer Indianer übliche Unterscheidung von „ H ä u p t l i n g e n " auf der einen Seite und „Medizinmännern" andererseits deutet eine klare Differenzierung zwischen politischen und religiösen Institutionen bei diesen Völkern an. Fraglich muß dabei bleiben, inwieweit eine derartige Unterscheidung den objektiven Verhältnissen gerecht wird oder nur durch eine Übertragung der europäisch-amerikanischen Auffassung über die Trennung von „Staat und Kirche" auf die gesellschaftlichen Verhältnisse nordamerikanischer Indianer entstanden ist. Präziser formuliert stellt sich die Frage so: Waren die Häuptlinge ausschließlich politische Funktionäre oder übten sie ex officio zugleich auch priesterliche Funktionen aus? Diese Fragestellung läßt theoretisch zwei Möglichkeiten der Beantwortung zu, die einander ausschließen. Entweder: Die Häuptlinge übten lediglich politische Funktionen aus, während die Leitung des gesamten religiösen Lebens in den Händen von Medizinmännern, Schamanen, Propheten, Anführern von Geheimbünden und religiösen Gesellschaften usw. lag. Die Tatsache, daß ein Individuum sowohl die Funktion eines Häuptlings als auch eines Medizinmannes in einer Person bekleiden konnte, ist für die Beantwortung der Frage unwichtig, weil zufällig. Oder: Die Leitung des gesamten gesellschaftlichen wie auch religiösen Lebens lag in den Händen der Häuptlinge, die damit neben ihren politischen Aufgaben auch gewisse priesterliche Funktionen von Amts wegen auszuüben hatten. Die Medizinmänner, Schamanen und Anführer von religiösen Bünden waren nur für ganz bestimmte und relativ begrenzte Bereiche des religiösen Lebens zuständig und dort führend. Ganz ohne Zweifel wird sich zwischen diesen beiden extremen Möglichkeiten eine Entscheidung, die die Situation bei sämtlichen nordamerikanischen Indianern generalisierend charakterisieren würde, nicht treffen lassen. Detaillierte Untersuchungen würden wahrscheinlich ergeben, daß die Analyse der Verhältnisse innerhalb der verschiedenen Wirtschafts- und Gesellschaftstypen nordamerikanischer Indianer — man bedenke nur solche extremen Unterschiede wie zwischen subarktischen Jägern und Pueblo-Bauern — mehr zu der einen oder der anderen Möglichkeit tendieren müßte. Hinzu kommt, daß im Laufe der erfaßbaren historischen Entwicklung sich die Verhältnisse in der einen oder der anderen Richtung gewandelt haben könnten.
30
LOTHAB DEÄGEE
V o n den verschiedenen Indianergruppen des östlichen Nordamerika ist die Problematik zweifellos am gründlichsten bei den Irokesen untersucht worden. Schon 1 9 2 0 konstatierte HEWITT, bekannt als ein bedeutender Erforscher der Irokesen, eindeutig: " I n Iroquois policy there was definite separation of purely civil f r o m strictly religious affairs. So the office of civil chief was clearly marked off f r o m that of prophet or priest, . . . " 1 W ä h r e n d der letzten Jahrzehnte kam es dann zu einer lebhaften Diskussion dieser Problematik zwischen
mehreren
Ethnographen, die sich hauptsächlich auf Feldforschungsmaterial stützten, das sie bei den Irokesen der Grand R i v e r R e s e r v e in Canada gesammelt Besonders bemerkenswert war dabei, daß die P r o b l e m a t i k
hatten.
nicht allein
von
wissenschaftlich-theoretischem Interesse war, sondern daß die Indianer selbst aus verschiedenen politischen Gründen in dieser F r a g e zu unterschiedlichen A u f fassungen gekommen waren und deshalb in gegensätzliche politische tionen zerfielen. NOON hob besonders die Diskrepanz zwischen
Frak-
christlichen
Häuptlingen, die auf einer strikten Trennung v o n P o l i t i k und Religion bestanden, und den " L o n g h o u s e chiefs", die der traditionellen Religion anhingen und das „ L o n g h o u s e " als eine politische und religiöse Einrichtung betrachteten, hervor. NOON k a m dann zu f o l g e n d e m Schluß: " O u r discussion of the conflict between the Christian and Longhouse chiefs in Council p a v e d the w a y f o r an understanding that g o v e r n m e n t and religion were probably interlocking institutions in pre-contact s o c i e t y . " 2 R i o u x unterstrich NOONS Beobachtungen, stellte aber dessen Schlußfolgerungen in Zweifel. Darüber hinaus beobachtete er innerhalb
der
konservativen
„Longhouse"-Anhänger
bildung. N a c h d e m nämlich 1 9 2 4 Dominions-Regierung
selbst
eine
durch eine Entscheidung der
der traditionelle Häuptlings-Rat
Parteien-
kanadischen
des Irokesen-Bundes
amtsenthoben und durch ein, allerdings nur v o n den sog. „ P r o g r e s s i v e n " , gewähltes Gremium ersetzt wurde, sollen sich die A n h ä n g e r des „ L o w e r Cayuga L o n g h o u s e " , nach R i o u x "traditionally n a t i v e " , relativ schnell mit der neuen Situation abgefunden haben, während das „Onondaga L o n g h o u s e " , „consciously n a t i v e " , zum Zentrum der Opposition gegen die kanadische Regierung und der A g i t a t i o n für die Wiedereinsetzung des Häuptlings-Rates wurde. Entsprechend haben dann bei den Cayuga die Häuptlinge ziemlich an Bedeutung verloren, während sie bei den Onondaga die Führung des inneren gesellschaftlichen und des religiösen Lebens in den H ä n d e n hielten. 3 SHIMONY setzte sich kritisch mit den Auffassungen v o n NOON und R i o u x auseinander und k o m m t dann zu folgenden Schlüssen: " T h e present writer's belief is that before the change of council and in the more distant past the religious offices and those of the council were separate, and that the personnel o f the t w o were not necessarily identical. . . . Chiefs are not essential to the Longhouse, nor were t h e y e v e r ; but since their political functions in the council have been usurped, t h e y have turned to the Longhouse in order to preserve at least some of their influence." 4 SHIMONY
1
H E W I T T , 1920, p . 543.
3 R I O U X , 1952, p . 9 4 - 9 8 .
2
NOON, 1949, p. 4 5 - 4 6 . SHIMONY, 1961, p . 9 5 - 1 0 1 .
H ä u p t l i n g s t u m u n d religiöse A u t o r i t ä t bei Zentral-Algonkin
31
scheint damit zu einem Endergebnis gekommen zu sein, sei es auch nur deshalb, weil ihr bisher noch nicht widersprochen worden ist. SHIMONY, obwohl sie stets um eine historische Betrachtungsweise bemüht ist, scheint doch übersehen zu haben, daß die alleinige Ausübung der politischen Gewalt durch den Häuptlingsrat erst eine Folgeerscheinung der Ansiedlung auf der Grand River Reserve ist. Während des 18. J h . leitete der Häuptlingsrat aber lediglich die zentrale Politik auf der Ebene des Stammesbundes, wohingegen die einzelnen Stämme und Dorfgemeinschaften in inneren Angelegenheiten doch relativ selbständig waren und ihre eigenen Institutionen zur Regelung ihrer Angelegenheiten besaßen. Das „Longhouse" war zu dieser Zeit nicht nur Kultstätte, sondern auch Ratshütte, wo über lokalpolitische Fragen entschieden wurde. 4 a Erst die Ansiedlung eines Teiles der Irokesen am Grand River mit seinen Folgen — Verkleinerung des Territoriums, geringere Mitgliederzahl des neukonstituierten Bundes, verstreute Ansiedlung statt Dorfgemeinschaften, das allmähliche Verschwinden von Stammesunterschieden — führte dazu, daß der Bundesrat der erblichen Häuptlinge sämtliche politischen Funktionen übernahm und die „Longhouses" nur noch Kultzentren blieben. Um die Forschungssituation bei einer anderen indianischen Gruppe des östlichen Nordamerika zu kennzeichnen, nämlich den Cherokee, sei auf eine Arbeit von G E A R I N G mit dem Titel „Priests and Warriors" verwiesen. G E A R I N G bezeichnet darin die führenden Funktionäre der Dorfgemeinschaften als „Priestly officials" und den sonst aus der Literatur gewöhnlich als „chief" oder „village chief" bekannten obersten Anführer als „village priest chief" 5 Von dieser Auffassung ausgehend, legt er eine Theorie des Übergangs zum Staate, des „tribal priest State", vor, ohne indes an irgendeiner Stelle seiner Arbeit präzise zu formulieren, welche Kriterien ihn bewogen haben, die zivilen Funktionäre der Dorf- und später Stammesgemeinschaft als Priester zu bezeichnen. Die obige Aufstellung zeigt, daß die Problematik der Beziehung zwischen politischen und religiösen Funktionen bei den Indianern des östlichen Nordamerika zwar schon sehr gründlich diskutiert wurde und daß eine große Zahl gewichtiger Gesichtspunkte angeführt worden sind, daß aber auch die Diskussion noch keineswegs als abgeschlossen betrachtet werden kann. Aufgabe vorliegender Arbeit soll es sein, die Beziehung zwischen Häuptlingstum und religiöser Autorit ä t bei einer weiteren Gruppe östlicher Indianer, den Zentral-Algonkin, wozu die Sauk, Fox, Kickapoo, Potawatomi, Menomini, Shawnee, Miami und Illinois gehören, zu untersuchen. 4a
So beobachtete 1729 LE BEATJ: „Die H u r o n e n , Iroquesen, Abenaker u n d andere Nationen von K a n a d a h a b e n ihre Tempel in ihren H ü t t e n , sie mögen herumziehen, oder an einem b e s t i m m t e n Orte sich a u f h a l t e n . I h r e Feuerheerde dienen ihnen s t a t t der Altäre u n d ihre große H ü t t e s t a t t der Tempel, worin sie zugleich ihre Berathschlagungen anstellen. D a s R a t h s f e u e r , das n a c h ihrer Aussage immer b r e n n t , ist ein Sinnbild aller gottesdienstliehen u n d politischen Angelegenheiten." LE BEATJ, 1794, S. 1 3 1 - 1 3 2 .
5 GEABING, 1 9 6 2 , p p . 3 - 6 , 1 2 , 2 3 , 2 5 .
32
LOTHAB DKÄGER
Vorausgeschickt sei zunächst, daß man bei den Zentral-Algonkin wie bei vielen anderen Gruppen Nordamerikas zwischen Friedenshäuptlingen (peacechiefs, civil, village chiefs) und den Kriegshäuptlingen (war chiefs, war captains, partizans, war leaders) unterscheidet. Die Funktion der ersteren war stets in verschiedenen Gentes und Geschlechtern mehr oder weniger erblich, letztere bekleideten ihr Amt auf Grund tatsächlicher oder angenommener persönlicher Fähigkeiten und Erfolge. Die Friedenshäuptlinge lenkten das politische Leben in den Dörfern und waren zugleich Vertreter ihrer Einheit im Rate des Stammes. An der Spitze des Stammes stand wohl überall der oberste Stammeshäuptling (tribal chief, principal chief, head chief, grand chief, king), dessen Funktion ebenfalls innerhalb einer bestimmten Gens oder Verwandtschaftsgruppe erblich war. I m Zusammenhang mit der Problematik der Beziehung zwischen Häuptlingstum und religiöser Autorität soll zunächst einmal dargestellt werden, wie die Indianer selbst in ihren Mythen den Ursprung der Institution des Stammeshäuptlings erklären und wie sie begründen, daß dieses Amt in einer ganz bestimmten Gens — fast überall Bär oder Fisch — erblich ist: Eine Ursprungs-Mythe der Sauk, die um 1825—1840 aufgezeichnet wurde, ist eindeutig zu entnehmen, daß die Sauk die Einführung des Häuptlingstums wie viele andere Wohltaten auf das Wirken des Kulturheros Wi'sakä zurückführen. "Wi'sakä then divided the ancestors of the Sauk into two groups, one called O-ke-mau-uk, or chieftains, the other Us-kaup-a, servants, or Mam-ish-aum-uk, Cooks, or Bundle Keepers. The first division he divided into the following six gentes: 1. Pau-kau-hau-moi, 2. Sturgeon, 3. Eagle, 4. Great Sea, 5. Bear, 6. Thunder. The second group was divided as follows: 1. Water, 2. Deer, 3. Bearpotato, 4. Turkey, 5. Wolf, 6. Fox." 6 Auch die Prairie-Potawatomi bringen den Ursprung des Häuptlingstums mit den Kulturheros Wisakä in Zusammenhang. Wisakä lehrte die Potawatomi die Herstellung von Pfeil und Bogen, Tongefäßen, Steinbeilen. "He told them that it was plain that they were doing well, but t h a t now they needed a chief. 'Not so,' they replied, 'We have one already, and t h a t is the Great Spirit.' Wi'sakä laughed, 'Don't you think I am the Great Spirit?' he asked. 'Where is your Great Spirit? I can do anything. I want you to be noted in the world, so you must have a chief to rule you.' On this account the Potawatomi appointed a man from the Fish clan to be chief. Wi'sakä told him how to give orders, and helped him." 7 Auffällig an dieser Erzählung ist der Gegensatz zwischen dem Kulturheros Wisakä und dem „Great Spirit" im Bewußtsein der Potawatomi. Mephistogleich versucht Wisakä die Potawatomi zu täuschen und muß sie zur Einführung des Häuptlingstums regelrecht beschwatzen. S K I N N E R , der diese Erzählung aufgezeichnet hat, wies nun an einer anderen Stelle seiner Arbeit ausdrücklich darauf hin, daß die Prairie-Potawatomi zu Beginn des 19. Jahrhunderts sehr C SKINNEB, 1 9 2 3 - 2 5 , p . 7 6 . 7
SKINNEB, 1 9 2 4 - 2 7 , p . 3 3 5 .
H ä u p t l i n g s t u m u n d religiöse Autorität bei Zentral-Algonkin
33
stark unter den Einfluß des Shawnee-Propheten Tenskwatawa, eines Bruders und Mitstreiters des berühmten Tecumseh, geraten waren. Der Prophet Tenskwatawa — dessen nachhaltiger Einfluß auf die religiösen Vorstellungen verschiedener Zentral-Algonkin-Gruppen immer noch zu sehr unterschätzt wird — griff in seinen Predigten und Praktiken stark die Lehren und Riten der Midewiwin-Gesellschaft sowie die damit zusammenhängenden Mythen vom Kulturheros Wisakä an. 8 Der Shawnee-Prophet denunzierte den Kulturheros Wisakä als „Devil" und propagierte statt dessen — wohl nicht unbeeinflußt von den christlichen Lehren der Quäker und besonders der Shaker — die Verehrung des „Great Spirit". 9 Die Überlieferung der Potawatomi spiegelt diese Diskrepanz wider und ist gewiß auf Grund der Lehren des Shawnee-Propheten „überarbeitet" worden. Verschiedene Lieder, die bei den Gens-Festen der Fisch-Gens, in der das Amt des Stammeshäuptlings erblich ist, gesungen werden, scheinen sogar als eine Art „survival" noch ältere, totemistische Vorstellungen zu bewahren. Darin heißt es: " T h a t ' s why I ' m chief — I ' m chief through the fish. The chief of the fish, he gave me this power. He lives with the chief (water) and he is the chief." 1 0 Da die Lehren des Shawnee-Propheten in starkem Maße die religiösen Vorstellungen fremder Stämme beeinflußt haben, erhebt sich die Frage, welche Anschauungen wohl sein eigenes Volk, also eben die Shawnee, entwickelt haben. Eine Ursprungsmythe der Shawnee wurde zuerst 1 8 2 4 von T R O W B B I D G E ausführlich aufgezeichnet, dessen Shawnee-Informant war dabei der Prophet Tenskwatawa in Person. 11 Wie zu erwarten, spielt in dieser Erzählung der „Great Spirit" als Schöpfer und Kulturbringer die Hauptrolle. Trotzdem ist diese Mythe keineswegs eine neue, vom Propheten umgedeutete Variante. Dem gründlichen T R O W B R I D G E gelang es nämlich 1 8 2 5 , die Ursprungsmythe der Shawnee noch einmal von einem anderen Informanten, dem obersten Stammeshäuptling Catahecassa oder Black Hoof, zu erhalten. 12 Black Hoof nun war ein entschiedener Gegner des Propheten und in seiner Eigenschaft als Stammeshäuptling sogar der Führer der dem Propheten feindlich gesinnten Partei, dessen Anhänger die Lehren Tenskwatawas nicht übernahmen. Trotzdem ähnelt Black H o o f s Version der Ursprungsmythe in vielen Zügen der des Propheten, und besonders bemerkenswert ist, daß auch darin der „Great Spirit" als Schöpfer und Kulturbringer auftritt. Dies muß als Beweis dafür angeführt werden, daß die Gestalt des „Great Spirit" zu dieser Zeit typisch für die religiösen Vorstellungen der Shawnee war und nicht erst vom Propheten eingeführt worden ist. 13 Vielmehr griff Tenskwatawa bei der Schaffung seiner neuen Lehre einfach S S K I N N E B , 1 9 2 4 - 2 7 , p . 14. Ü
JOSEPHY, 1961, p . 148.
IO S K I N N E R , 1 9 2 4 - 2 7 , p . 6 8 . " TROWBBIDGE, 1939, p p . V I I - X V I ,
1-5.
12 T R O W B B I D G E , 1 9 3 9 , p p . V I I , X , X V I I ,
60-61.
1,1
Inwieweit die Vorstellung der Shawnee zu Beginn des 19. J h . von „Great Spirit" bereits christlieh beeinflußt gewesen ist, b r a u c h t hier nicht weiter u n t e r s u c h t zu werden, da es f ü r die P r o b l e m a t i k nicht wesentlich ist. Verschiedene Züge der
3
Jahrbuch des Museums für Völkerkunde, Bd. XXIX
34
LOTHAB
DRÄGER
auf die Vorstellungswelt seines eigenen Stammes, in der er aufgewachsen war, zurück und verarbeitete dabei auch einige christliche Elemente. Bei den anderen Stämmen, wie den Prairie-Potawatomi und den Kickapoo, wirkte dann die Lehre des Propheten naturgemäß viel umgestaltender als bei seinen eigenen Stammesgenossen. I n der Ursprungsmythe der Shawnee also wird die Einführung des Häuptlingstums dem „Great Spirit" zugeschrieben. Nachdem er zwölf Shawnee, die Stammväter von zwölf Gentes, geschaffen und diesen die zum Leben notwendigen Dinge gegeben hat, spricht er weiter: ' " I will also put some of my grey hairs upon one of you & he shall be an old man, & you shall call him your Grandfather.' . . . Then he told the Indians t h a t the old man, being the first which he had formed, should be called, Kweekoolaa, and t h a t he would make another, who should be called Maakweekeeläü. That Kweekoolaa should be the head of the nation and Maakweekeeläü the next in power." 1 4 I n den Personennamen der beiden ursprünglichen Häuptlinge glaubt man Abwandlungen der TotemNamen zweier Gentes erkennen zu können: Kweekoolaa ~ Kauhkeeläü = Schildkröte Maakweekeeläü ~ Muhkwäükee = Bär.* 5 Tatsächlich wird in anderen Versionen der Ursprungsmythe von einem Mann aus der Schildkröten- und einem aus der Bären-Gens gesprochen. 16 Um der Ursprungsmythe weiter zu folgen, übergibt schließlich Kweekoolaa, der erste Häuptling der Shawnee und der zuerst geschaffene Mensch überhaupt, da er sich seines Alters wegen der Bürde nicht mehr gewachsen fühlt, sein Amt als Anführer einem anderen Mann — möglicherweise seinem Sohn — namens Tsilikäüthee oder Chilicothe. 17 Darauf gründet sich das Recht der ChilicotheAbteilung oder -Phratrie, stets den obersten Stammeshäuptling der Shawnee christlichen Lehre haben die Shawnee ganz ohne F r a g e bereits im 18. J h . k e n n e n gelernt, wahrscheinlich besonders von Quäkern u n d Mährischen Brüdern. Obwohl es die etwas irritierende u n d unglückliche Bezeichnung „Great Spirit" zunächst nicht erwarten läßt, war doch diese Gestalt im P a n t h e o n der Shawnee zweifellos ursprünglich. I n den Mythen wird er nämlich durchaus nicht wie ein christlich beeinflußter allwissender „ H o c h g o t t " dargestellt, sondern eher wie ein K u l t u r heros, sogar mit gewissen, f ü r diesen so charakteristischen Zügen des Schelms. So begeht er etwa bei der Erschaffung des ersten Menschenpaares zahlreiche F e h l e r : er setzt die Geschlechtsteile zuerst auf die Stirn, d a n n u n t e r die Arme u n d w i r f t schließlich, ärgerlich ob des Mißerfolges, die Körperteile durcheinander. N a c h längerem Nachdenken endlich gestaltet er die Menschen so, wie sie h e u t e sind. E r legt das P a a r in die verschiedensten Stellungen zueinander u n d w a r t e t , was geschehen wird. Schließlich legt er Mann u n d F r a u in die richtige Stellung, so d a ß diese zum Coitus kommen. Vgl. T R O W B R I D G E , 1 9 3 9 , p. 1. 14
TROWBRIDGE,
1939, p.
3.
13
TROWBRIDGE,
1939, p.
16.
Iß T R O W B R I D G E ,
1939 p. 62. GALLOWAY, 1934, p.
17
1939, p.
TROWBRIDGE,
4.
307.
H ä u p t l i n g s t u m u n d religiöse A u t o r i t ä t bei Z e n t r a l - A l g o n k i n
35
zu stellen. 18 Die Ursprungsmythe nimmt dann schließlich eine geradezu dramatische Wendung: Ein Mann aus einer anderen Gruppe, aus der MekotsheAbteilung oder -Phratrie, versucht anläßlich einer Ratsversammlung, das Amt des Stammeshäuptlings und die damit verbundene Fürsorge für das Heilige Bündel durch Vorspiegelung falscher Tatsachen zu erschleichen. "On the day following he came again, covered all over with white paint or clay, and during the contest he rose and told the members t h a t he was oft he Määkoatshaa family or tribe of Shawanoa's, that the title of great chief was to be held in his family, and t h a t to him was due the office of keeper of the medecine, because his heart was as white & pure as the paint of his body. He left the Council & remained absent until the next day when he came again to urge upon them his claims to the office, which were founded upon the fact of his being a great chief, of his being without blood in his body, his heart & flesh being white. At length the council concluded to trust to his professions, . . ." 1 9 Die Mekotshe-Abteilung erwies sich aber der Führung des Stammes durchaus nicht würdig; denn nur um den Mord an einem ihrer Mitglieder zu rächen, provozierte sie einen Krieg erst gegen die Chippewa und dann gegen den Irokesen-Bund in der geradezu selbstmörderischen Absicht, ihren eigenen Stamm vernichten zu lassen. "By this time the warriors & Chief men found out the cause of the war and determined to take the medecine from the Määkootshaa." 20 Das Heilige Bündel und damit zusammenhängend das Amt des Stammeshäuptlings wurde so den rechtmäßigen Besitzern, der Chilicothe-Abteilung, zurückgegeben. Diese wechselvolle Erzählung, in der wahrscheinlich verschiedene historische Ereignisse verarbeitet wurden, zeigt, wie wichtig den Shawnee die Rechtmäßigkeit des Anspruchs einer bestimmten Verwandtschaftsgruppe auf das Amt des Stammeshäuptlings war, und wie stark die Legitimität dieses Anspruchs religiös verankert war. Bemerkenswert ist ferner, daß auch in dieser Ursprungsmythe der Shawnee totemistische Züge nicht ganz fehlen, sobald es um den Ursprung einer anderen als der führenden Verwandtschaftsgruppe geht und die Einführung einer anderen Institution, nämlich die des Kriegshäuptlings, erklärt wird. Es wird von einem Manne erzählt, der aus dem Rückgrat eines Elk entstand: "From this man sprung the Piccaway family (die PekowithaAbteilung oder -Phratrie, L. D.). As this man derived his existence neither from the Great Spirit or from human beings, but from an animal, he was appointed head of the warriors of the Shawanese nation, and they called him Waaskoomisäü, because he was red." 2 1
18
ALFORD in GALLOWAY, 1934, p . 181. VOEGELIN in TROWBRIDGE, 1939, p .
19 T R O W B R I D G E ,
1939, p.
6.
20 T R O W B R I D G E ,
1939, p.
8.
21
3»
XVII.
TROWBRIDGE, 1939, p . 5. A n d e r e n V e r s i o n e n d e r U r s p r u n g s m y t h e zufolge e n t s p r a n g d e r S t a m m v a t e r d e r P e k o w i t h a - A b t e i l u n g a u s d e r A s c h e eines n i e d e r g e b r a n n t e n F e u e r s ; d a v o n w i r d a u c h d e r N a m e dieser G r u p p e a b g e l e i t e t : " A m a n c o m i n g o u t of t h e a s h e s . " Vgl. D R A K E , 1 8 4 1 , p . 1 7 — 1 8 . S P E N C E R , 1 9 0 9 , p. 3 2 0 .
LOTHAK DRÄGER
36
Auf die Bedeutung der Ursprungsmythe der Menomini für das Verständnis der gesellschaftlichen und besonders der politischen Organisation dieses Stammes haben verschiedene Autoren hingewiesen. So schrieb HOFFMAN bereits 1896: " T o make intelligible the reasoning on which the Menomini base their sociologic organisation, and the order of precendence and civil government, the following explanation of the mythic origin of their totems and totemic organization is presented somewhat fully." 2 2 Sinngemäß äußerte sich SKINNER 1913: "Perhaps the best introduction to the social structure of the Menomini is to be found in their own origin m y t h . " 2 3 Die Ursprungsmythe der Menomini zeichnet sich dadurch aus, daß die Entstehung des Stammes und damit auch der Institution des Stammeshäuptlings weder auf das Wirken eines Kulturheros noch eines „Great Spirit" zurückgeführt wird, obwohl doch beide Figuren im Pantheon der Menomini durchaus eine Rolle spielen. Vielmehr entstand der Stamm der Menomini durch eine Übereinkunft der Tier-Vorfahren der verschiedenen totemistischen Gentes. So beginnt die Erzählung: " I n the beginning, the Menomini came into existence near the mouth of the Menominee River. First of all, a bear came forth from under the earth and became a man. Then another followed him and became a woman and they existed there. The name of the man was Sekätcokemau (Chief of chiefs), and he sprang from the great underground bear or the turtle." 2 4 Der erste Menomini und Nachkomme des Großen unterirdischen Bären baute den ersten Wigwam, ein Boot und gewann seine Nahrung durch den Fang von Stören. Schließlich empfing er den Besuch von drei ebenfalls menschgewordenen Donnervögeln, die er bewirtete und denen er schließlich erklärte: " . . . I propose to ask all living beings to meet me here in council, in order that I may find out who they are and their numbers, so that they can assist me and form a league with me." 2 5 Die Donnervögel stimmten zu und so wurden die verschiedenen Tiere, also die Tier-Ahnen der Gentes, zu der Ratsversammlung eingeladen. Es erschienen Kranich, Wolf, Adler, Biber, Stör, Wapiti, Hirsch, Hund usw.26 " F o r a while they sat and smoked and after a time Sekätcokemau thus addressed them: 'My friends, I have called on you to meet here for this propose that we change our forms and commence to exist as human beings. W e shall be Menomini Indians.'" 2 7 Auf diese „Gründungsversammlung" der zehn Totemtiere der Menomini geht der Anspruch der Bären-Gens auf das A m t des Stammeshäuptlings zurück: "The office of tribal chief is hereditary in the royal family of the royal gens, the direct lineal descendants of the first Menomini, Sekätcokemau." 28 Der Genealogie des Häuptlingsgeschlechtes, die HOFFMAN aufführt, ist zu entnehmen, wie das A m t des Stammeshäuptlings während der letzten Jahrhunderte vererbt wurde: "Tshekä'tshake'mau", dessen Name also der gleiche 22
H O F F M A N , 1896, p . 39.
24
S K I N N E R , 1 9 1 5 a , p . 8. V g l . H O F F M A N , 1896, p . 39.
25
S K I N N E R , 1 9 1 5 a , p . 9.
23
S K I N N E R , 1 9 1 5 a , p . 8.
2 KHALA.TBA.RI, 1 9 6 8 , S .
7 8
176.
Besonders, wenn die I m p o r t e aus imperialistischen S t a a t e n k o m m e n ! Wie aus Tabelle I im Anhang hervorgeht, u m f a ß t das gesamte Gebiet der arabischen Staaten (einschließlich der spanisch besetzten Territorien) 1336826 ha. N u r 4 v. H . sind davon kultiviert. Dagegen w e r d e n 65 v. H . von offiziellen FAOStatistiken als nicht genutzt ausgewiesen. Besonders diese Gebiete stellen einen wesentlichen Teil des Wirtschafbsraumes der H i r t e n n o m a d e n dar. D e n n selbst die gewöhnlich als „unproductive" charakterisierten Flächen (vor allem W ü s t e n u n d Halbwüsten) bringen z. T. n a c h Niederschlägen einen Pflanzenwuchs hervor, der eine durchaus wertvolle F u t t e r g r u n d l a g e darstellt.
Ökonomische und soziale Bedingungen für Hirtennomaden
85
Tabelle 1 Die Entwicklung des Schaf- und Ziegenbestandes in den arabischen Ländern zwischen 1947/48 und 1967/68 (in 000) Land
47/48 -51/52
Irak
S Z J ordanien S z Libanon S z Saudiarabien S z Südjemen z Syrien z Algerien z Libyen z Marokko z Mauretanien
10000 2950 235 300 55 F 430 3572 1901 154 810 2968 1325 3 990 2 685 1390 856 11249 8718 1065 F 1614F Sudan 15660 z 4440 Tunesien 2462 z 1719 Span.-Sahara S 43 z 120 Ägypten 1254 z 703 Jemen 10 000 F z
s'
s
s
s
s
s z s s
s
s
Gesamt
s
z
54097 28571
63/64
65/66
66/67
67/68
10000 2 900 328 448 63 460 3380 F 1987 F 210 865 4004 1642 5934 3278 1450 F 850 14111 11720 1440 1760 6237 5187 3172 1937 38 87 1235 727 10402 F
9450 2 600 741 565 222 471 3 100 F 2 306 F 200 F 795 F 4524 790 4000 1600 F 1547 F 1465 F 10363 6482 2825 F 2000 8660 6850 F 3006 428 6 35 1770 784 11500F
11040 1845 987 759 213 442 3500 2500 203 F F 5422 832 6000 2600 F 1505 1347 12570 7 065 2825 F 2080 F 9526 7 539 3 767 527
11040 1845 1136 766 198 431 3 800 2900 204 F 820 F 5569
52 1947 791 11700F
7000 3000 1628 1405 13408 7716 2543 F 2100F 10478 8293 3500 490 9 54 2044 794 11800 F
11040 1800 F 768 377 200 357 3900 F 3000 F 206 F 830 F 5938 743 7 534 2515 1667 1336 14045 F 7 787 F 2 600 F 2200 F 11000 F 8400 F 3400 F 480 F 10 48 2148 798 12000 F
62 004 33 848
61914 27171
71213 29194
74357 31371
76456 30671
51/55 -55/56
815
8
S = Schafe Z = Ziegen F = Schätzungen der FAO Quelle: Nach Production Yearbook 1969, S. 329ff. und 334ff.
757
86
WOLF-DIETER
SEIWERT
Der gleichzeitig hohe Grad der Unterbeschäftigung in der nomadischen Viehzucht und der dem Existenzminimum nahe, niedrige Lebensstandard der meisten Hirtennomaden lassen in Verbindung mit Fragen der politischen und sozialen Integration das ganze zu einem Problem anwachsen, das in immer stärkerem Maße zur Lösung drängt. Eine optimale und umfassende Einbeziehung der nomadischen Viehzüchter in den nationalen Rahmen wird immer mehr zur unabdingbaren Notwendigkeit.
2. Die qualitative
und quantitative
Produktion
der
Wanderweidewirtschaft
Etwa 10 bis 12 Mio. Hirtennomaden und Transhumantes 0 nutzen heute mehr als 75 v. H. des Territoriums der arabischen Staaten. 10 I n ihren Händen liegt der überwiegende Teil des Nutztierbestandes Nordafrikas und des Nahen Ostens. Die Art und Weise der Herdenzusammensetzung ist dabei weitgehend von den klimatischen Bedingungen sowie von den Futter- und Wasserverhältnissen im Nutzungsgebiet abhängig. 11 So konzentriert sich die Schafzucht vor allem auf die Gebiete am Rande der Trockenzone, da Schafe — ebenso wie Ziegen — immer an die Nähe von Wasserstellen gebunden sind. Trotzdem nutzen die nomadisierenden Schafzüchter im Gegensatz zu den vollseßhaften Tierhaltern 12 hierbei zum überwiegenden Teil Gebiete, die unterhalb der 200-mm-Isohyete liegen und daher kaum für einen permanent erfolgreichen Regenfeldbau in Frage kommen. Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, brachten besonders die Jahre nach dem zweiten Weltkrieg einen recht bedeutenden Aufschwung der Schafzucht in den arabischen Ländern. Die Anzahl der gehaltenen Schafe stieg zwischen 1947/48 und 1967/68 um 41 v. H. und damit fast sechsmal so schnell wie die Anzahl der Ziegen. Sie beläuft sich gegenwärtig auf ca. 80 Millionen. Die folgende Aufstellung (Tabelle 2) veranschaulicht die durchschnittliche Leistungsfähigkeit der wichtigsten von Nomaden gehaltenen Schafrassen Nordafrikas 13 und des Nahen Ostens. Alle hier aufgeführten Schafrassen gehören dem Grundtyp des Fettschwanzschafes an. Demgegenüber werden in den sich südlich und westlich anschließen9
10 11
12
13
Davon sind ca. 1 bis 1,5 Mio. Vollnomaden, während sich der übrige Teil aus T r a n s h u m a n t e s u n d Seminomaden in verschiedenen Stadien der Seßhaftwerdung zusammensetzt. Vgl. Tabelle I im Anhang. Daneben k a n n auch das wirtschaftliche oder kulturelle Interesse an einem bestimmten P r o d u k t von ausschlaggebender B e d e u t u n g sein. Der Anteil der außerhalb der Wanderweidewirtschaft gehaltenen Tiere d ü r f t e 10% k a u m übersteigen. Außer Sudan, Algerien u n d den arabischen L ä n d e r n an der A t l a n t i k k ü s t e !
Ökonomische u n d soziale Bedingungen f ü r H i r t e n n o m a d e n
87
Tabelle 2 Verbreitungsgebiet, Fleisch- u n d Milchleistung einiger hauptsächlicher Schafrassen des arabischen R a u m e s Verbreitungsgebiet
Awassi-Schaf
'Arabi-Schaf
Negd-Schaf
Higäz-Schaf Sa'ra-Schaf Barki-Schaf Barbari-Schaf
I r a k (60 v. H . des Gesamtschafbestandes), Syrien (wichtigste Rasse), Libanon u n d J o r d a n i e n (einzige Rasse) Südostirak (30 v. H . des Gesamtbestandes), I r a n , Ost- u n d Südsyrien (vereinzelt) Negd u n d umliegende Provinzen, al-Hegera, Bädiya as-Säm Higäz u n d angrenzende Gebiete Südwestarabien Cyrenaika u n d Nordwestägypten Tripolitanien; Tunesien, Südosten des D e p a r t e m e n t s Constantine (Alg.)
Durchschnittl. Lebendgewicht . pro Tier (kg) m. f. 50-7014
Durchschnittl. Milchertrag pro T i e r u - J a h r (kg)
3 5 - 4 2 "
50-75
30-55
42
35-40
80 —200 14
6015
30-32
27-38 50-73
35-50
40-60
35-50
55-70
35-50
15-3016
Quelle aller nicht anders ausgewiesenen A n g a b e n : E p s t e i n 1970 •den Gebieten vorwiegend oder ausschließlich dünnschwänzige Haarschafe gezüchtet. D a ß sich die Fettschwanzrassen wahrscheinlich in Zukunft noch weiter über Nordafrika ausbreiten und an B e d e u t u n g gewinnen werden, dafür sprechen nicht nur die Vorteile seines wollenen Vlieses. D a auf Grund der ungünstigen klimatischen Bedingungen u n d der islamischen Tabuvorschriften Schweinefleisch in der Ernährung fehlt, muß der Bedarf an tierischen F e t t e n mit Hilfe anderer Tierarten gedeckt werden. Der Fettschwanz der g e n a n n t e n Rassen, mit einem Gewicht zwischen 4 u n d 10 kg, k o m m t d e m weitgehend entgegen. 1 7 MYLIUS 1967, S. 25.
o. J . , S. 1 7 6 ; Die Angabe wurde nicht speziell f ü r Negd-Schafe, sondern f ü r Saudi-Arabien allgemein gegeben, i® I n einer zweimonatigen Laktationszeit nach dem Absetzen der L ä m m e r ! 15
D E QUIN
I' EPSTEIN 1970, S. 103
88
WOLF-DIETER
SEIWERT
E i n e n Eindruck v o n der möglichen jährlichen Fleischproduktion einer e x t e n s i v gehaltenen Schafherde i m arabischen R a u m vermitteln die Tabellen 3 u n d 4. Sie beruhen auf Ermittlungen u n d Schätzungen, die vor wenigen Jahren eine Expertengruppe im Auftrag des Ministeriums für Planung u n d E n t w i c k l u n g des damaligen Königreiches L i b y e n in bezug auf Barbari-Schafe durchführte. Tabelle 3 Mögliche
durchschnittliche R e p r o d u k t i o n u n d Schlachtviehproduktion einer Herde von Barbarl-Schafen innerhalb eines J a h r e s (in v. H . der Ausgangsherde) altersmäßige Ausgangs- Geburten Verschiebungen herde
Lämmer Schafe bis zu 1 J a h r (männl.)
20 2,5
Schafe bis zu 1 J a h r (weibl.)
12
+ 15
Muttertiere Böcke Hammel
60 2 3,5
+ 12 + 0,8 + 1,7
Gesamt
57 +
100,0
5
Verluste
Schlachtungen
in
Endbestand
-20 - 2,5
1,71 0,07
30,82 2,25
24,47 2,68
-12
0,22
1,55
13,23
57
0,72 0,02 0,03
10,10 0,76 1,75
61,18 2,02 3,42
2,77
47,23
107,00
Berechnet n a c h : Agriculture in Libya, S. 180 Tabelle 4 Mögliche Fleischproduktion einer Herde von Barbari-Schafen pro J a h r (bezogen auf 1000 geschlachtete Tiere) Zusammensetzung
Lebendgew. pro Tier (LG) in kg
Schlachtgew./Tier in v. H . in kg des L G
Fleischproduktion in kg
Lämmer Schafe bis zu 1 J a h r
653 80
18 28
55 50
9,9 14
6465 1120
Muttertiere Böcke Hammel
214 16 37
40 50 50
46 47 48
18,4 23,5 24
3938 376 888
Gesamt
1000
Berechnet n a c h : Agriculture in Libya, S. 181
12787
Ökonomische u n d soziale Bedingungen f ü r H i r t e n n o m a d e n
89
Die in den beiden Tabellen als möglich avisierte Produktion von Schaffleisch wird gegenwärtig — zumindest im traditionellen Sektor — im arabischen Raum nur in wenigen Gebieten erreicht. Gewöhnlich liegt hier die Yerlustquote weit höher 18 und die Anzahl der geschlachteten Tiere, vor allem der Lämmer und der weiblichen Schafe unter einem Jahr, wesentlich darunter. Auf die Ursachen dafür und auf die Möglichkeiten ihrer Überwindung wird noch näher eingegangen werden. Während die Schafzucht zu einem großen Teil für den Markt produziert, dient die Ziegenhaltung in erster Linie der Selbstversorgung. 19 Die Anzahl der auf den Markt gebrachten und geschlachteten Ziegen dürfte z. B. in Syrien etwa bei einem Zehntel der zu Schlachtzwecken verkauften Schafe liegen. Der Nutzen der Ziege liegt dabei vor allem in folgendem: — noch größere Genügsamkeit, Durstfähigkeit und Härte als das Schaf; 20 — sehr schnelle Reproduktion des Bestandes; 2 1 — gewöhnlich höhere Milchleistung als die einheimischen Schafe ;22 — wirtschaftlich-kulturelle Bedeutung von Ziegenhaut und Ziegenhaar (z. B. für die Herstellung der schwarzen Zelte der Nomaden, z. T. auch Exportartikel); — leichteres Hüten als bei Schafen. Trotz allem sind heute die meisten Staaten bemüht, die Ziegenhaltung in gewissen Grenzen zu halten, sie zu reduzieren oder ganz durch eine erhöhte Schafhaltung zu ersetzen. 23 Die letztgenannte Tendenz wird besonders stark in Syrien und im Irak sichtbar, wo sich der Ziegenbestand zwischen 1947/48 und 1967/68 um ca. 40 v. H. verringerte, während sich der Schafbestand z. B. in Syrien in der gleichen Zeit verdoppelte. I n Tunesien spiegeln sich im schlagartigen Rückgang des Ziegenbestandes zu Beginn der sechziger J a h r e ebenfalls limitierende Bestrebungen des Staates wider, der nach Erringung der Unabhängigkeit die Ziege als eine Hauptursache für die immer mehr um sich greifende Versteppung erkannte und weitgehend einzuschränken versuchte. Auf Grund ihrer spezifischen Weideart zerstört die Ziege bei einem Überbesatz die Vegetation mehr als jede andere Tierart. Diese Tatsache wird dadurch erhärtet, daß Ziegen vorzugsweise auch Baumvegetation beweiden und dadurch eine Aufforstung sehr erschweren. Weiterhin kommt hinzu, daß sie sich vor 18
19
20
„. . . dem ungewöhnlich kalten u n d schneereichen F e b r u a r 1959 fielen in Syrien fast alle jungen L ä m m e r des Geburtenjahrganges 1958/59 zum Opfer." WIRTH 1 9 6 9 , S. 4 6 . Vgl. f ü r Syrien: MYLIUS 1967, S. 27. Der gleiche Verfasser schätzt ebenda ein, d a ß die Ziege in Syrien f ü r ca. 20 v. H . der Bevölkerung die H a u p t q u e l l e f ü r die Versorgung mit tierischem Eiweiß ist. V g l . e b e n d a ; s. a . NICOLAISBN 1963, S. 45.
21 V g l . z . B . S O N N E N 1 9 5 2 , S . 4 4 ; N I C O L A I S E N 1 9 6 3 , S . 4 1 . 22 23
Vor allem bei ungenügender Weide; s. NICOLAISEN 1963, S. 41. Vgl. RANGE I m p r o v e m e n t Projects 1966, S. 39.
WOLF-DIETER
90
SEIWEBT
allem in gebirgigen Gegenden konzentrieren — d. h. in den Gebieten, die gerade am stärksten von der Erosion bedroht sind. Der einzige Ausweg liegt auch hier in einer optimalen Anpassung des Ziegenbestandes an die Weidebedingungen und in einer genauen Begrenzung ihres Weidegebietes. Da die dabei unvermeidliche, starke Reduzierung der Ziegenhaltung sich besonders auf die Nahrungsversorgung der ärmeren Bevölkerung recht nachteilig auswirkt 2 4 , sollte sie nach Möglichkeit durch eine entsprechende Ausweitung bzw. qualitative Verbesserung der Schafhaltung kompensiert werden. I n Trockengebieten mit wenigen, weit auseinanderliegenden Wasserstellen, mit zeitlich und örtlich sehr unsicheren Weideverhältnissen, wo zur Deckung des Futter- und Wasserbedarfs relativ große Wanderstrecken nötig sind, dominiert auf Grund seiner langen Durstfähigkeit und seiner Beweglichkeit das Kamel. 2 5 Seine Hauptweidegebiete sind somit auch für die Zukunft vor allem jene Wüsten und Halbwüsten, die auf Grund ungünstiger Wasserverhältnisse nicht von Schafen beweidet werden können. Das tritt besonders auf weite Teile der tropischen und subtropischen Sandwüste zu. Von allen Herdentieren der Nomaden wurde keines im Verlauf dieses Jahrhunderts so abgewertet wie gerade das Kamel. Schuld daran war vor allem sein schlagartig sinkender Gebrauchswert als Reit- und Tragtier. Die Ursachen dafür waren: — zunehmende Übernahme der Transportfunktion durch motorisierte Verkehrsmittel, vor allem durch LKW's (in der Sahara besonders nach 1925)26-
— absoluter Rückgang des Transsaharahandels (vor allem durch die verstärkte Bindung der Kolonien an die „Mutterländer"); — starke Einschränkung der Raub- und Kriegszüge der Nomaden durch steigenden Einfluß der kolonialen oder unabhängigen Zentralregierung. Trotz allem verlor das Dromedar aber nicht völlig seine ökonomische Bedeutung. Seine Perspektiven liegen dabei besonders in folgenden Bereichen: — Fleisch-, Milch- und Haarproduktion; — Nahtransport, vor allem in Gebieten, die für den motorisierten Verkehr schwer zugänglich sind; — Reittier für Sport- und Jagdzwecke. Vor allem auf den erstgenannten Nutzen dürfte es zurückzuführen sein, daß in den meisten arabischen Staaten die Anzahl der Kamele trotz der erwähnten Abwertung seit dem zweiten Weltkrieg entweder gleichgeblieben oder sogar angestiegen ist. Ihre Zucht liegt dabei bis auf einen verschwindend geringen Prozentsatz in den Händen der Hirtennomaden: 2
'* Der Anteil seßhafter Ziegenhalter ist im Vergleich mit anderen Herdentieren der N o m a d e n verhältnismäßig groß u n d wird vom Verfasser auf ca. 30 v. H . geschätzt. 25 20 camelus dromedarius. S . C A P O T - R E Y 1 9 6 4 , S. 4 7 8 .
91
Ökonomische u n d soziale Bedingungen f ü r H i r t e n n o m a d e n Tabelle 5 Die Entwicklung des Kamelbestandes in den arabischen Ländern (in 1000) Land
51/52 -55/56
Sudan Mauretanien Saudiarabien Libyen Marokko Tunesien Irak Ägypten Algerien Südjemen Jemen Spanisch Sahara Jordanien Syrien Ifni Libanon
1800 166 F 282 F 158 F 222 219 370 163 177 80 50 F
Gesamt Welt
3 862 10338
60 16 95 2 2
63/64
64/65
F F
2000 505* 339 F 272 F 200 150 230 F 175 161 80 F 55 F
2000 2000 2000 F 500* 505* 500* 344 F 350 355 286 275 256 212 F 205 F 220 214 169 150 202 220 F 200 175 176 177 175 180 175 80 80 80 56 F 55 F 56 F
24 12 18 5 F 1 F
24 13 18 6 F 1 F
62/63 2000 460 333 227 230 141 250 174 158 80 54
4167 11465
F F F F
F
4229 11587
25 19 17 6 F 1 4282 11653
65/66
37 19 16 6 F 1 4260 11693
66/67
38 17 13 7 F 1 4309 11791
67/68 2 500 500 360 232 216 220 195 178 173 80 56
F F F F F F
F F
32 11 12 —
4765 12 448
* Schätzung der U N F Schätzung der F A O •Quelle: F ü r die Angaben von 1967/68: Production Yearbook 1969, S. 340; f ü r alle übrigen A n g a b e n : Production Yearbook 1968, S. 338f.
Berücksichtigt man, daß sich der Kamelbestand in den arabischen Ländern •zwischen 1947/48 und 1951/52 auf ca. 3 515000 27 belief, ergibt sich für den Zeitraum zwischen 1947/48 und 1966/67 eine Erhöhung um 23 v. H.. Der Weltbestand stieg in dieser Zeit nur um 19 v.H. Im arabischen Raum waren es lediglich die Länder des „Fruchtbaren Halbmondes" (Libanon, Syrien, Irak), in denen der Kamelbestand wesentlich zurückging.28 Die Ursache dafür dürfte besonders in folgendem zu suchen sein: — Verdrängung des Kamels von den Weiden am Rande der Trockenzone durch die besser verkäuflichen Ziegen und Schafe 29 ; — Privatisierung und nachfolgende Kultivierung der besten Teile der kollektiven Weideterritorien der Stämme, besonders in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. 30 2? Production Y e a r b o o k 1968, S. 339. 29 W e n n m a n Spanisch-Sahara einmal außer Acht läßt. S . S T E I N 1967, S . 140. -30 Diese Politik der Privatisierung kollektiven Weidebesitzes f ü h r t e zu einer verschärften sozialökonomischen Differenzierung in den S t ä m m e n zuungunsten der 28
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WOLF-DIETER
SEIWERT
Obwohl weit weniger bedeutend als das Schaf, nimmt auch das Kamel — wie schon erwähnt — einen festen Platz in der Nahrungsmittelproduktion der meisten arabischen Länder ein. Während es heute noch für den Großteil der Nomaden sowohl als Reit- und Lasttier als auch als Lieferant von Milch, Fleisch, Leder, Wolle, Dung und Harn große Bedeutung hat, besteht sein Hauptwert für die seßhafte Bevölkerung — besonders für die ärmeren Schichten 31 — in seinem Fleisch. J e nach Rasse bzw. Zuchtrichtung und Fütterungszustand liegt das durchschnittliche Schlachtgewicht eines erwachsenen Tieres zwischen 300 kg 32 und 500 kg 33 , teilweise sogar bei 600 kg3'1. Hauptabsatzmärkte für Dromedarfleisch sind vor allem jene Oasen der Trockenzone, in denen das Angebot an Schaf-, Ziegen- und Rindfleisch unzureichend und verhältnismäßig teuer ist, wie z. B. in der nördlichen Sahara. Ägypten ist im Nahen Osten seit langem der Hauptabnehmer. 3 5 So werden allein vom Sudan aus im Durchschnitt jährlich etwa 30000 Kamele 3 6 nach Ägypten getrieben. 1956 wurde das wertmäßige Volumen dieses Kamelhandels zwischen dem Sudan und Ägypten auf 1,25 Mio. £ sud. geschätzt. 37 Neben Kairo waren dabei besonders die Provinzen Sarqiya und Bahayra Verbrauchszentren. 38 Der Preis für Kamelfleisch liegt im allgemeinen auf Grund des verhältnismäßig geringen Wartungs- und Futteraufwandes pro kg unter dem für Ziegen-, Schafoder gar Rindfleisch. 39 Diese Tatsache und möglicherweise auch die verhältnismäßig niedrige Qualität der zum Verkauf gelangenden Tiere begründen den hohen Anteil der ärmeren und ärmsten Schichten am Gesamtverbrauch. 4 0 Daneben erhöhte sich der Bedarf besonders auch im Zusammenhang mit der extraktiven Erschließung der Wüsten- und Halbwüstengebiete (z. B. in Libyen und Algerien). 403 Masse der einfachen Stammesmitglieder. Dabei wurde den H i r t e n n o m a d e n keine Alternative aufgezeigt, die d a d u r c h entstandene gewaltige Lücke in der F u t t e r basis durch eine bessere Ausnutzung des übrigen Territoriums zu kompensieren. Die Folge w a r : — weiterer R ü c k g a n g des Viehbestandes u n d d a m i t der tierischen P r o d u k t i o n ; — Verarmung der breiten Masse der N o m a d e n ; — erzwungener Übergang eines Teils der W a n d e r h i r t e n zu einem mehr oder weniger periodischen, aber von der Viehzucht isolierten A n b a u . V g l . MYLIITS 1 9 6 7 , S . 2 7 .
33 FUCHS 1970, S. 4.
32 D E Q U I N O. J . , S . 1 7 3 .
34 E b e n d a .
33 ' Ä R E F E L - C Ä R E F 1 9 3 8 , S . 1 6 5 ; G L U B B 1 9 3 5 , S . 1 6 . 30 H Ö N S C H 1 9 6 6 , S . 9 .
37 Sudan Almanac 1962, S. 140. 38 M U R R A Y 1 9 3 5 , S . 1 0 6 . 39
DEQUIN (S. 176) gibt f ü r Saudi-Arabien folgende Durchschnittspreise an (pro kg): Schaffleisch 2,45 SR, Ziegenfleisch 2,50 SR, Kamelfleisch 2,33 SR u n d Rindfleisch 3,11 SR. (SR = Saudi-Rial).
«> V g l . B I S S O N 1 9 6 1 , S . 2 2 1 .
« a Ebenda.
Ökonomisohe u n d soziale Bedingungen f ü r H i r t e n n o m a d e n
93
Die perspektivische Entwicklung des Verbrauchs von Kamelfleisch kann wie folgt eingeschätzt werden: I n der Gegenwart trägt die Dromedarzucht besonders in Populationszentren (Unterägypten) und in den zentralen Landesteilen nicht unwesentlich zur Verminderung des Defizits an Nahrungsmitteln und besonders an tierischem Eiweiß bei. Solange dieses Defizit nicht durch andere Fleischarten gedeckt werden kann, behält das Kamel als Fleischlieferant nicht nur seine Daseinsberechtigung, sondern sollte in seinem Bestand, sowie im Anteil und der Qualität der vermarkteten Tiere im Rahmen der Weidemöglichkeiten noch stärker in Erscheinung treten. 4 1 Ganz im Gegensatz zu seiner Bedeutung als Fleischtier erstreckt sich seine Bedeutung als Milchproduzent ausschließlich auf seine Besitzer. Für die kamelzüchtenden Nomaden ist die Kamelmilch oft ein Hauptnahrungsmittel. Die tägliche Milchleistung pro Stute beträgt — je nach Weideverhältnissen, Alter und Zeitpunkt in der Laktationsperiode — bis zu 10 1 zuzüglich der vom Kamelfohlen gesaugten Menge. 42 Die Milch wird als sehr nahrhaft bezeichnet, eignet sich jedoch nicht gut zur Butter- und Käseherstellung. 43 Eine Erhöhung der Kamelmilchproduktion in Verbindung mit der Schaffung geeigneter Vermarktungs-, Lagerungs- und Transportbedingungen könnte besonders für zentral gelegene Oasen und Standorte der extraktiven Industrie in der Wüstenzone eine preisgünstige Bereicherung des Nahrungsmittelangebots darstellen. Weniger problematisch ist die Vermarktung der Milchproduktion von Kleinvieh und Rindern, obwohl auch hier nur in den seltensten Fällen Frischmilch auf den Markt kommt. Der große Vorteil der Schaf-, Ziegen- und Kuhmilch gegenüber der Kamelmilch besteht darin, daß sie sich leichter zur Butter- und Käseherstellung 44 verwenden läßt. Den Umfang der Milchproduktion (außer vom Kamel) in ausgewählten arabischen Ländern mit starker nomadischer Viehhaltung zeigt Tabelle 6: 41
Die N o m a d e n selbst essen nur relativ wenig Kamelfleisch. Auf eine maximale (nicht optimale) Herdengröße bedacht, t ö t e n sie in der Regel nur alte oder k r a n k e Tiere. Als Gründe f ü r diesen beschränkten Eigenverbrauch — abgesehen von dem g e n a n n t e n Akkumulationsdenken — n a n n t e N I C O L A I S E N (1963, S. 65) f ü r die nördlichen T u a r e g : — der in den nördlichen Oasen der Sahara (Tamangaset, Tidikelt) selbst f ü r alte Kamele noch hohe Verkaufspreis; — ein K a m e l h a t mehr Fleisch als von einem H a u s h a l t auf einmal gegessen werden k a n n . E s ist schlecht zur Konservierung mit Hilfe der traditionellen Methoden geeignet. Obwohl vielfach mehrere H a u s h a l t e an dem geschlachteten K a m e l partizipieren, d ü r f t e zumindest der zweitgenannte Grund auch bei den meisten anderen H i r t e n n o m a d e n eine Rolle spielen. 43 « E b e n d a , S . 63; S T E I N 1967, S . 51. Ebenda. 44 y o r allem Sauermilchkäse; die B u t t e r wird besonders in F o r m von K o c h b u t t e r (samn) auf den Markt gebracht. (Vgl. S T E I N 1967, S. 61f.)
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WOLF-DIETER
SEIWEBT
Tabelle 6 Milchproduktion ausgewählter arabischer Länder (in 1000 t)
1948/ 1952
Land
Algerien
Jordanien
Libyen
Mauretanien
Saudiarabien
K S z G K S z G K S z G K S z G K S
Sudan
Syrien
92 F 35 F 97 F 224 4
12 21 37 7F 7F
1952/ 1956 105 F 52 F 118 F
100 F 35 F 49 F
275
184
3 9 15 27 8F
43 F
9F 32 F
57
49
32 F 28 F 39 F 99 3F 9F 17 F 29
z G K 667 F 54 F S z 281 F G 1002 K 96 F 69 F S z 48 F G 213
1964
37 F 29 F 44 F 110 3F 8F 18 F 29 937 59 F 225 1221 106 F 92 F 59 F 257
1965 108 F 44 F 59 F 211
1966
146 F 62 F 65 F 273
17 F 33 F 27 F
14 F 34 F 27 F
11 35 28
77
75
74
12
13
17 15 44
18
44 F
20 33 26 79 12
15 14 41
15 14 41
11 15 14 40
42 F
42 F
37 F 53 F 132
38 F
43 F
54 F 134
4 F 7F
4F 7F
21 F 1000 F 85 F 337 F
21 F 32 1114 F 93 F 339 F
38 F 56 F 137 4 F 7F 21 F 32 1238 F 100 F 418 F
1422
1546
1756
32
92 F 105 F 29 F 226
1968
123 F 53 F 62 F 238
26 22 65 12
17
1967
101 F 117 F 30 F
125 F
104 F
248
259
30 F
39 F 56 F 139 4 F
6F 22 F 32 1300 F 110 F 420 F 1830 109 F 127 F 31 F 267
155 F 63 F 82 F 300
14 45 45 F 40 F 57 F 142 4F
6F 22 F 32 1330 F 120 F 425 F 1875 110 F 128 F 30 F 268
K = Kuhmilch, S = Schafmilch, Z = Ziegenmilch, G = Gesamt Quelle: Production Yearbook 1969, S. 390ff.
Vergleicht man die angeführten Zahlen mit den Angaben über die Entwicklung und den Umfang der Schaf- und Ziegenhaltung, stellt man fest, daß in der Mehrzahl der Länder zwar die Anzahl der Schafe die der Ziegen weit übertrifft, daß aber Ziegenmilch weiterhin in einigen Ländern in der Gesamtmilcherzeugung an der Spitze (Mauretanien, Saudiarabien) oder nach Kuhmilch an zweiter Stelle (Sudan, Algerien) liegt. Diese Tatsache betont die bereits oben angedeutete Feststellung, daß die Ziege als „Kuh des kleinen Mannes" heute noch für die
Ökonomische u n d soziale B e d i n g u n g e n f ü r H i r t e n n o m a d e n
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S e l b s t v e r s o r g u n g b r e i t e r K r e i s e der B e v ö l k e r u n g u n e n t b e h r l i c h ist. W ä h r e n d die d u r c h s c h n i t t l i c h e jährliche M i l c h p r o d u k t i o n pro Ziege zwischen 300 1 u n d 400 1 s c h w a n k t 4 5 , erreicht z. B . im S u d a n u n d in Marokko, d. h. in d e n L ä n d e r n m i t d e n g r ö ß t e n R i n d e r b e s t ä n d e n , die L e i s t u n g s f ä h i g k e i t der K ü h e t r o t z des m e h r f a c h h ö h e r e n F u t t e r b e d a r f s n i c h t einmal die doppelte Menge. 4 6 Schafe w e r d e n in einigen G e b i e t e n auf G r u n d ihrer geringen L e i s t u n g ü b e r h a u p t n i c h t z u r Milchgewinnung herangezogen. 4 7 D e m g e g e n ü b e r s t e h e n z. B . solche klassischen S c h a f z u c h t g e b i e t e wie der I r a k , wie Syrien u n d J o r d a n i e n , wo der Anteil u n d die v e r h ä l t n i s m ä ß i g g u t e Milchleistung der Awassi-Schafe d e r Ziege a u c h in dieser H i n s i c h t i h r e n R a n g a b g e l a u f e n h a b e n . So e r b r i n g t die W a n d e r w c i d e w i r t s c h a f t in d e n m e i s t e n L ä n d e r n N o r d a f r i k a s u n d des N a h e n Ostens a u c h h e u t e n o c h d e n g r ö ß t e n Teil der tierischen P r o duktion. W e l c h e V e r ä n d e r u n g e n a b e r zeichnen sich f ü r die Z u k u n f t a b ? S t i r b t die W a n d e r w e i d e w i r t s c h a f t mit d e m „freien N o m a d e n t u m " der S t ä m m e ? Oder gibt es G r e n z e n f ü r eine i n t e n s i v e B e w i r t s c h a f t u n g d e r a r a b i s c h e n T r o c k e n gebiete? K a n n die W a n d e r w e i d e w i r t s c h a f t ü b e r h a u p t in ein m o d e r n e s Viehz u c h t s y s t e m integriert w e r d e n , u n d w e n n j a — wie? E i n Teil d e r F r a g e n wird b e a n t w o r t e t , w e n n m a n die Möglichkeiten bet r a c h t e t , die sich im H i n b l i c k auf die weitere E n t w i c k l u n g der A n b a u b e d i n g u n g e n in d e n a r a b i s c h e n T r o c k e n g e b i e t e n ergeben. D a s bewässerte L a n d wird, sich weiter a u s d e h n e n — b e s o n d e r s in der U m g e b u n g der großen Flüsse, wo d u r c h d e n B a u großer S t a u a n l a g e n u n d B e w ä s s e r u n g s e i n r i c h t u n g e n (Assuan-Hochdamm, E u p h r a t - S t a u d a m m ) weite Teile d e r W ü s t e n u n d H a l b w ü s t e n f ü r die I n t e n s i v b e w i r t s c h a f t u n g g e w o n n e n w e r d e n k ö n n e n . D a s gleiche t r i f f t f ü r d e n S ü d r a n d d e r Gebirge zu (z. B . im Magreb u n d in der V D R J e m e n ) , wo ein perm a n e n t e r A n b a u in z u n e h m e n d e m Maße d u r c h d e n S t a u periodischer Gewässer u n d die vollständige A u s n u t z u n g ihres W a s s e r s ermöglicht wird. 4 8 S O N N E N 1952, S. 44 ( P a l ä s t i n a ) ; M Y L I U S 1967, S. 27 (Syrien); N I C O L A I S B N 1963, S. 36 u n d 40 (nördl. T u a r e g ) ; f ü r S a u d i a r a b i e n n e n n t D E Q U I N (S. 176) einen d u r c h s c h n i t t l i c h e n Milchertrag p r o Tier v o n 120 bis 200 1. 40 1968 lag der d u r c h s c h n i t t l i c h e Milchertrag p r o Milchkuh i m S u d a n n a c h F A O S c h ä t z u n g bei 580 1 i m J a h r , in M a r o k k o sogar n u r bei 250 1 ( P r o d u c t i o n Y e a r b o o k 1969, S. 396f.) 47 Vgl. f ü r S a u d i a r a b i e n : DEQUIN, S. 179. Die Vernachlässigung der Milchgewinnung als Folge zu niedriger L e i s t u n g s f ä h i g k e i t e r k l ä r t a u c h d a s seltsame, a u s Tabelle 6 ersichtliche P h ä n o m e n , d a ß in S a u d i a r a b i e n d a s G e s a m t a u f k o m m e n a n Schafm i l c h t r o t z z e h n p r o z e n t i g e r V e r g r ö ß e r u n g des B e s t a n d e s seit d e m zweiten W e l t krieg u m ein D r i t t e l zurückging. 48 T r o t z d e m sollte a b e r n i c h t v e r k a n n t w e r d e n , d a ß beispielsweise m e h r als 14 Anlagen v o n der I r r i g a t i o n s k a p a z i t ä t eines S a d d al-'Ali n ö t i g sind, u m die gegenw ä r t i g e B e w ä s s e r u n g a u c h n u r zu v e r d o p p e l n , d. h. auf ca. 1,4 v . H . des G e s a m t t e r r i t o r i u m s a u s z u d e h n e n . B e r e c h n e t n a c h : P r o d u c t i o n Y e a r b o o k 1967, (Vol. 21),. S. 5ff. «
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WOLF- DIETER
SEIWEBT
Über die weitere Ausdehnung des Regenfeldbaus 49 in der Steppen- und Savannenzone und in den Randgebieten der Halbwüste gibt es unter den Experten geteilte Meinungen. I n der Gegenwart scheint sich aber dabei immer mehr die Ansicht durchzusetzen, „daß auf lange Sicht gesehen auch im Orient ein Regenfeldbau erst bei durchschnittlich 200 bis 250 mm Jahresniederschlag wirtschaftlich zu vertreten ist." 50 Ohne hier näher auf die Probleme einzugehen, die sich bei einer Rücknahme der Regenfeldbaugrenze in der Praxis ergeben würden, kann eingeschätzt werden, daß trotz der Möglichkeit des Einsatzes moderner Technik reine Ackerbaubetriebe auf der Grundlage des dry-farming zahlen- und flächenmäßig relativ begrenzt bleiben werden. Am schwierigsten wird sich wahrscheinlich im Gebiet der Savannen (z. B. im Zentralteil der Republik Sudan) die Grenze des rentablen Anbaus festlegen lassen. Nach diesen Überlegungen können die Aufgaben der Wanderweide Wirtschaft für die Zukunft folgendermaßen umrissen werden: Optimale Nutzung jener saisonalen und episodischen Weiden in ariden und semiariden Gebieten, wo das genutzte Grund- oder Oberflächenwasser und die jährliche Niederschlagsmenge nicht ausreichen oder temporär zu schwankend sind, um einen dauerhaften Anbau betreiben zu können, dessen Rentabilität über der der Wanderweidewirtschaft liegt. I n der Gegenwart aber sieht es so aus, daß die tierische Produktion der Hirtennomaden den ständig wachsenden Bedürfnissen nicht mehr gerecht werden kann. Die Folge ist das obengenannte Defizit an tierischem Eiweiß in der Ernährung, das auch durch die zunehmende Intensivierung der Viehzucht in den Anbaugebieten in absehbarer Zukunft nicht kompensiert werden kann, d. h. ohne eine optimale Entwicklung und Modernisierung der Wanderweidewirtschaft ist das Ernährungsproblem in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens kaum zu lösen. Die Hauptforderung aber — eine optimale Erhöhung der Marktproduktion — kann nur erfüllt werden, wenn es gelingt, die bestehenden produktionshemmenden Faktoren über eine entsprechende Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse weitestgehend auszuschalten. Damit könnte nicht nur die absolute Produktion, sondern auch der Anteil der vermarkteten Erzeugnisse wesentlich erhöht werden. 49
D. h. Anbau auf der Grundlage von Niederschlägen (im Gegensatz zum Bewässerungsfeldbau). Dry-farming gilt als spezielle Form des Regenfeldbaus,
so W I R T H 1 9 6 9 , S . 4 5 .
Ökonomische und soziale Bedingungen für Hirtennomaden
97
3. Die Umwandlung der tierischen Produktion der Hirtennomaden in ein modernes, hocheffektives System der Weidennutzung 3.1. Intensivhaltung u n d Feldbau — Grundlagen f ü r eine Entwicklung der Wanderweidewirtschaft Eines der Haupthindernisse bei der Entwicklung der Wanderweidewirtschaft stellt — wie schon mehrfach angedeutet — die große Abhängigkeit der nomadischen Viehzucht von den natürlichen Bedingungen dar — ein Ausdruck für den niedrigen Entwicklungsstand der in ihr herrschenden Produktivkräfte. Der Umfang des Herdenbesitzes wird bei den Hirtennomaden im wesentlichen vom Futterangebot während der Trockenzeit begrenzt. Wächst auch der Viehbestand in den Monaten der Regenzeitweide darüber hinaus, wird er doch vor oder in der Trockenzeit stets wieder auf die Ausgangsgröße reduziert, d. h. ohne Erhöhung des Futterangebots in der Dürreperiode ist in der Wanderweidewirtschaft eine kontinuierliche erweiterte Reproduktion so gut wie unmöglich. Bei den traditionellen Trockenzeitweiden kennt man drei Grundtypen: — Weide mit trockenen annuellen Pflanzen (Heu auf dem Halm); — Weide mit überwiegend perennierenden Pflanzen; — Verwertung von Ernterückständen (Stoppelweiden, Worfelabfälle u. a.) 5 1 Die Quantität und der Nährwert dieser Weiden sind infolge des extremen Wassermangels äußerst gering. 52 Dementsprechend vergrößern sich der quantitative Bedarf, und das pro Tier nötige Weideareal. Das führt zu längeren Austriebsstrecken und zu einer erhöhten Belastung der Tiere. Die Folge ist ein noch größerer Futterbedarf bzw. eine noch stärkere Abmagerung und Schwächung — vor allem, da die Trockenzeit meist mit der heißesten Zeit des J a h r e s identisch ist. Besonders in dieser Zeit droht die Gefahr einer Überstockung des Weidelandes. 53 Bei einer Erweiterung und Verbesserung der Futtergrundlage während der Trockenzeit kommt es daher vor allem darauf an, vollwertige Futtervorräte anzulegen. Besonders günstig dürfte in diesem Zusammenhang die Anlage von 51
52
53
Eine verhältnismäßig günstige Symbiose zwischen Ackerbauern und nomadischen Viehzüchtern, die eine umfassendere Ausnutzung des Ackerlandes ermöglicht und über die natürliche Düngung der Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit dient. Vgl. dazu: S O N N E N 1952, S . 33f.; Range Improvement 1966, S . 41. Eine weitere Form ist die z. B. in Unterägypten praktizierte Beweidung der Ränder von Meliorationskanälen. Ebenda, S. 41. So stellte W A L T E E (1940) bei „Heu auf dem Halm" einen Verlust von 80 v. H. des verdaulichen Eiweißes fest. W E T Z E L 1965, S. 154. Das folgende Beispiel aus dem mauretanischen Sahel vermittelt eine Vorstellung von dem großen qualitativen und quantitativen Unterschied zwischen Regen- und Trockenzeitweide: a) lehmiger Sandboden mit Cenchrus biflorus, Cyperus cruentus und Leptadenia spartium als charakteristische Pflanzenspecies (Grassteppe) — 25 Futterspecies:
7 Jahrbuch de3 Museums für Völkerkunde, Bd. XXIX
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WOLF-DIETER
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Feldfutterflächen und Bewässerungsweiden sein.54 Ergänzt werden können diese Futterreserven durch den Zukauf von Kraftfutter, Mineralstoffen u. a. Zufütterung und Weide auf bewässerten Flächen führen in der Trockenzeit zu einer periodischen Seßhaftigkeit am Ort der Futterreserven — die Viehhaltung nimmt in dieser Zeit in zunehmendem Maße intensiven Charakter an. Gleichzeitig wird dadurch ermöglicht, alle Naturweiden in ihrer besten Wuchsperiode abzuweiden. 55 Die starke Abhängigkeit der nomadischen Viehzucht von den natürlichen Bedingungen wirkt sich auch auf die Qualität und Quantität der tierischen Produktion sehr nachteilig aus. Welche Folgen allein der in der Trockenzeit durch fehlendes Grünfutter entstehende Vitamin-A-Mangel hat, zeigten Versuche des ägyptischen Wüsteninstituts an Barki-Schafen. Dabei wurde während der Trockenzeit einem Teil der Schafe (A) Karotin zugeführt, während den übrigen Tieren (B) nur das von ihnen in der vorangegangenen Weideperiode in der Leber gespeicherte Karotin zur Verfügung stand. Das Ergebnis war wie folgt :5(> (A)
(B)
A b s a t z l ä m m e r : keine Mangelerscheinungen; größtenteils Symptome von keine Verluste; Xerophtalmia; Durchschnitts -Lebendgewicht hohe Verluste; 5 7 war nach 5 Monaten ca. 8 kg Verschlechterung der Wollqualität; höher als bei den (B)-Lämmern; Muttertiere: (B) weniger f r u c h t b a r u n d weniger lebensfähige Geburten als (A) Regenzeitweide Trookenzeitweide 27 8 7t 1,68 t 1395 F E 658 F E (FE = Futtereinheit) b) dichter Sandboden mit zur Oberfläche herausstreichendem Sandstein; c h a r a k teristische Pflanzenspecies : Cenchrus biflorus, Acacia raddiana, Acacia senegal — 40 bis 50 Futterspecies : Regenzeitweide Trockenzeitweide Vegetationsdichte (in v. H.) 24 3 F u t t e r m e n g e pro H e k t a r 4,16 t 2 t F u t t e r w e r t pro H e k t a r ca. 600 F E Vegetationsdichte (in v. H.) F u t t e r m e n g e pro H e k t a r F u t t e r w e r t pro H e k t a r
N a c h : BRÉMAUD/PAGOT 1962, S. 341. 5/
' Gute Möglichkeiten bietet dabei die Bewässerung mit Hilfe von Beregnungsanlagen : „Beregnung vergrößert durch den Wegfall jener Zurüstungsarbeiten die N u t z f l ä c h e u m 10—20% u n d i s t u m 4 0 — 5 0 % s p a r s a m e r i m W a s s e r v e r b r a u c h . " FELS1967, S. 121.
55
56 57
I n der Regel lassen die nomadischen Viehzüchter den besten Teil des Weideterritoriums unbeweidet als Reserve f ü r die Trockenzeit. N a c h : RANGE I m p r o v e m e n t 1966, S. 44. Vgl. MYLIUS 1967, S. 26 (Syrien) : „. . . die an sich in normalen J a h r e n schon sehr hohen Aufzuchtverluste von 30 v. H . nehmen d a n n [in Trockenjahren — d. V.],
Ökonomische und soziale Bedingungen für Hirtennomaden
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Nicht nur während der Trockenzeit, sondern generell führen die harten Haltungsbedingungen zu einem Zuchttyp, bei dem nicht Leistung, sondern Genügsamkeit und Resistenz im Vordergrund stehen. Dementsprechend bleibt die Milchleistung und das Schlachtgewicht der Tiere relativ niedrig, das Vlies der Schafe erreicht nur selten eine weltmarktfähige Qualität. Selbst das Einkreuzen ausländischer Leistungsrassen führt kaum zu dem gewünschten Erfolg, wenn die Haltungsbedingungen nicht verändert werden. Eine günstige Lösung bietet sich auch hier über eine Kombination der Wanderweidewirtschaft mit Formen der Intensivhaltung, bei der sich die Wanderweidewirtschaft auf die Regenerationsherden beschränkt, während die Intensivhaltung die daraus ausgewählten leistungsstärksten Tiere als Leistungsherde übernimmt. I n diesem Zusammenhang taucht die Frage nach dem gegenwärtigen Verhältnis zwischen Futterbau und nomadischer Weidewirtschaft auf: Mindestens 90 v. H. aller nomadischen und halbnomadischen Viehzüchter betreiben heute nebenbei eine mehr oder weniger beschränkte Form des Anbaus. Dem Verfasser ist aber dabei kein Beispiel bekannt, wo diese Nomaden bzw. Seminomaden mit einem entsprechenden Futtermittelanteil auch nur teilweise den Erfordernissen ihrer Viehzucht Rechnung tragen. Der Grund dafür dürfte vor allem darin hegen, daß die zur Verfügung stehenden Investitions- und Produktionsmittel im allgemeinen von jenen Anbaukulturen gebunden werden, die der Produktion von pflanzlichen Nahrungsmitteln (besonders Getreide und Datteln) dienen. Dieses Verhalten beruht in erster Linie auf folgenden Faktoren: — relativ höhere ökonomische Sicherheit durch zusätzliche, vom Gedeihen der Viehzucht unabhängige Einnahmen 5 8 ; — Erzeugung von Akkumulationsmitteln für den Viehzuchtsektor (zur extensiven Erweiterung der Herde); — mangelnde Tradition im Anbau von Futterpflanzen; — verstärkte wirtschaftliche Unabhängigkeit (Autarkiebestrebung). Demgegenüber kann man aber die Zufütterung von Ernterückständen bereits als einen ersten Schritt zur Intensivhaltung während der Trockenzeit bezeichnen. I n einigen Gebieten wird daneben auch schon gemähtes Heu mitverwendet. So berichtet DEQTJIN aus Saudi-Arabien, daß „die Nomaden, vornehmlich die Halbnomaden . . . im Winter zu Zöpfen geflochtenes Steppenheu zufüttern." 5 9 Dabei scheint es sich aber im nordafrikanisch-nahöstlichen Raum noch immer um eine Ausnahme zu handeln. 60 katastrophale Ausmaße an; so ist z. B. 1959 fast der gesamte Lämmerjahrgang ausgefallen." 58 V g l . GLUBB 1 9 3 8 , S . 4 5 6 . 60
7*
«9 D E Q U I N O. J . , S . 7 3 .
WIETH berichtet auch davon, daß im Irak in trockenen Jahren, wenn sich die Ernte nicht lohnt, Felder von den Tieren abgeweidet werden. (WIRTH 1962, S. 17). Da eine solche Maßnahme aber nicht eine Verbesserung der Viehzucht, sondern lediglich die Vermeidung eines Totalverlustes in der Feldwirtschaft zum Ziel hat, müssen wir sie hier unberücksichtigt lassen.
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Um die einheimische Nahrungsmittelbereitstellung zu erhöhen, sind auch die Regierungen vieler arabischer Staaten um eine Verbesserung der Fütterungsund Haltungsbedingungen in Not- und Trockenzeiten bemüht. Anfang der 60er Jahre wurde dieser Notwendigkeit z. B. in der algerischen Sahara erstmalig mit der Verwirklichung eines Projektes zum Anbau von Luzerne (200 ha) in Tagamüt (Umgebung von Lagwat) Rechnung getragen. 61 Die gesamte Luzerneernte wurde dabei allerdings getrocknet und an die Viehzüchter in der Oase Lagwat verkauft. Eine direkte Nutzung der Luzerne in grünem Zustand wurde nicht ins Auge gefaßt. Alles in allem kann aber eingeschätzt werden, daß sich der überwiegende Teil der staatlichen Projekte entweder noch im Anfangsstadium oder gar erst in der Etappe der Planung befindet. Die Wanderweidewirtschaft der Nomaden wurde davon bisher kaum berührt. Die Vorbedingung für eine erfolgreiche Entwicklung — eine optimale Verbindung der nomadischen Viehzucht mit der Feldwirtschaft (Futterbau) — ist also gegenwärtig noch sehr mangelhaft bzw., wenn man von der Verwertung von Ernterückständen und von den wenigen Ausnahmen einer Heuzufütterung absieht, im wesentlichen überhaupt noch nicht vorhanden. Eine Kombination der nomadischen Viehzucht mit einer periodischen Form der Intensivhaltung konnte sich in den arabischen Staaten bisher noch nicht durchsetzen. 3.2. Maßnahmen zur Verbesserung der Tränk- u n d Weidebedingungen Als Hauptaufgabe steht vor der Wanderweidewirtschaft eine umfassende und optimale Nutzung ihres Wirtschaftsraumes — vor allem in der Vegetationsperiode. Der Grad der Ausnutzung der Regenzeitweide 62 ist dabei immer von der Größe des Weideterritoriums, von der Verteilung der Wasserstellen und von der Art und Anzahl der Herdentiere abhängig, wobei sich die Beziehungen zwischen den einzelnen Faktoren etwa folgendermaßen darstellen lassen: N
N = Grad der Ausnutzung (bei negativem Ergebnis Überweidung) 11 = gesamtes Weideterritorium F = Futterwuchs
_ Fjjf2 — Fn r = maximale Entfernung Wasserstelle—Weide (abhängig von Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Qualität des Futters, Beweglichkeit und Durstvermögen der Tiere u. a.) a = pro Tag und Tier genutzte Weidefläche
ei S . C A P O T - R E Y 1 9 6 4 , S. 4 8 3 . 02
Unter Regenzeitweide wird sowohl im Vor- als auch im Nachstehenden die nach Niederschlägen ergrünende Weide verstanden.
Ökonomische und soziale Bedingungen für Hirtennomaden
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Bei einer Entwicklung der Wanderweidewirtschaft müssen demnach vor allem zwei P u n k t e berücksichtigt werden, u m eine bessere Ausnutzung der bestehenden Weidekapazität zu erreichen: — Verdichtung des Netzes der Wasserstellen (eventuell verbunden mit dem Einsatz von Lkw's u n d Traktoren 6 3 ); — Verbesserung der Weideinformation. U m darüber hinaus Qualität und Quantität des Futterwuchses in der niederschlagsreicheren Zeit zu erhöhen, dürften besonders folgende Maßnahmen von Vorteil sein: — Herstellung eines optimalen Verhältnisses zwischen Futterwuchs und Weidenutzung durch eine stärkere Schonung der mehrjährigen F u t t e r pflanzen (vor allem in Steppen und Halbwüsten) 6 4 ; — Ansaat von schnellwüchsigen und trockenresistenten Arten mit hohem quantitativen u n d qualitativen F u t t e r w e r t (große Bedeutung besonders in Gebieten mit vorwiegend annueller Kurzvegetation); — Düngung; — B e k ä m p f u n g unerwünschter Arten (vor allem mit Hilfe von Herbiziden); — B e k ä m p f u n g weideschädigender Insekten durch das Versprühen von Insektiziden; — Bestandslenkung durch wechselnde Zusammensetzung der beweidenden H e r d e n (Ausnutzung der unterschiedlichen Weideselektion durch die einzelnen Tierarten). Bei der großen Unsicherheit der Niederschläge ist es im Interesse einer optimalen Ausnutzung des Futterwuchses und zur Vermeidung von Überweidungsschäden empfehlenswert, den Tierbestand in Größe und Zusammensetzung fortwährend den wechselnden Weidebedingungen anzupassen. Diese Angleichung k a n n erfolgen durch den erhöhten Zu- bzw. Verkauf von Jungvieh oder durch die Übernahme bzw. Abgabe sonst intensiv gehaltener Tiere. Wie einschneidend sich extrem niedrige Temperaturen 6 5 und ungenügende Weide in dieser Zeit auf die Wirtschaft der Wanderhirten auswirken können, wurde bereits oben angedeutet. 6 6 U m die Stabilität der Wanderweidewirtschaft zu erhöhen und sie weitestgehend vor Krisen u n d Verlusten zu schützen, ist es deshalb unbedingt notwendig, auch f ü r die niederschlagsreicheren Jahreszeiten Notzeitreserven anzulegen und diese über ein Netz von Futterstationen auf das 63
64 65
66
Diese Art der Wasserversorgung wird auch heute schon von vielen Nomaden gruppen angewandt (z. B. zum Trinkwassertransport); s. W i b t h 1969, S. 44. Dazu s. Bommbe 1965, S. 116. In den meisten Gebieten Nordafrikas und des Nahen Ostens fällt die Periode der Regenzeitweide zu einem Teil mit der kalten Jahreszeit zusammen. Vgl. auch folgendes Zitat von Wibth ( 1 9 6 9 , S . 4 6 ) : „Im Zeitraum von 1 9 5 7 bis 1961 z. B., der für weite Teile des arabischen Vorderasiens vier sehr trockene Jahre hintereinander brachte, haben viele Nomaden und Halbnomaden ihre Herden fast bis auf das letzte Tier verloren; . . . "
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ganze Weideterritorium zu verteilen. Für extrem kalte Tage dürfte weiterhin die Errichtung von Windschutzpferchen recht vorteilhaft sein. I m Zusammenhang mit der Verbesserung der Futtergrundlage der Wanderweidewirtschaft ist es gleichzeitig nötig, auch das Wasserangebot zu erhöhen. I n besonderem Maße gilt diese Forderung für die Zeit der Trockenheit. Die dazu erforderlichen Schritte umfassen sowohl investitionsärmere als auch investitionsreichere Maßnahmen. Mit relativ geringem Kostenaufwand sind z. B. verbunden: — Bau sauberer und fester Tränkrinnen, um das gleichzeitige Tränken mehrerer Tiere zu ermöglichen und ein Verschmutzen der Wasserstelle durch unmittelbares Betreten zu verhindern; — Befestigung (z. B. Ausbetonierung) und Sauberhaltung der Wasserstellen zum Schutz vor biogenen Verunreinigungen u. a.; — Beseitigung von potentiellen Krankheitsherden in der Umgebung der Wasserstellen (durch das Versprühen von Insektiziden, Abbrennen usw.); — Bepflanzung der Umgebung weniger tiefer Brunnen zur Verminderung der Verdunstung. Dem stehen investitionsreichere Maßnahmen gegenüber wie: — Ausstattung der Brunnen und steilwandigen Wasserstellen mit Motorpumpen; — Schaffung künstlicher Regenwasserreservoirs durch das Aufstellen von Wasserbehältern, die Errichtung von Zisternen u. a.; — Erbohrung neuer Brunnen 6 7 ; — Stau von periodisch fließenden Gewässern. Dabei sollte vor allem die Vorrangigkeit der Schaffung und Entwicklung von Trockenzeitwasserstellen beachtet werden. Außerdem sind Qualität, Ergiebigkeit und Lage der einzelnen Tränkplätze von größter Bedeutung bei der Festlegung der Priorität. 3.3. Vervollkommnung der veterinärmedizinischen u n d züchterischen Betreuung der Herden Um die produktionsfördernde Wirkung der genannten Maßnahmen zur Verbesserung der Wasser- und Futterversorgung voll zur Geltung kommen zu lassen und die jährliche Verlustquote auf ein Minimum herabzusetzen, muß gleichzeitig die veterinärmedizinische Betreuung der Tiere entscheidend verbessert werden. W A Z Z A N schlägt dazu vor: 6 8 — Gründung von Veterinärmissionen und Einrichtung ambulanter „Tierkliniken" ; 67
Diese Notwendigkeit wird z. B. durch folgende Feststellung H E A D Y S u n t e r strichen: "In 10 years, circles of Vegetation as wide as 75 k m were destroyed around t h e Tapline p u m p i n g s t a t i o n s . " H E A D Y 1969, S. 2.
M WAZZAN 1955, S.
114.
Ökonomische u n d soziale Bedingungen f ü r H i r t e n n o m a d e n
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— Anwendung wissenschaftlicher Methoden der Immunisierung und Impfung; — Gründung eines Laboratoriums zur Herstellung von Serum und Vaccinen. Bei der Verbesserung der Wanderweidewirtschaft gilt es nicht nur den gegenwärtigen Bestand zu sichern und zu erweitern, sondern gleichzeitig die Leistungsfähigkeit der Tiere zu erhöhen. Dabei kommt es vor allem darauf an, neben den genannten umweltverändernden und veterinärmedizinischen Maßnahmen auch genetische Mittel und Methoden zur Anwendung zu bringen, z. B.: — geeignete Zuchtwahl, verbunden mit Kastration bzw. Ausmerzung untauglicher Tiere; — Anwendung künstlicher Besamung; — Einkreuzung fremder Rassen; — Einführung neuer, leistungsstärkerer Züchtungen. Verbesserungsversuche, die z . B . von der Abteilung Tierforschung des Wüsteninstituts der ARÄ in Ra's al-Hikma an Barki-Schafen durchgeführt wurden, und die unter Anwendung von Selektionsmethoden die allgemein schlechte Wolleistung qualitativ und quantitativ verbessern sollten, zeigten folgende Ergebnisse : 69 — Das Schlachtvliesgewicht bei Mutterschafen erhöhte sich von 1,75 kg auf 2,50 kg. — Farbige Wolle wurde ausgemerzt. — Die durchschnittliche Faserstärke verminderte sich von 36 fi auf 32 ¡j,, die Faserdichte erhöhte sich von 100/cm 2 auf 2000/cm 2 . Andere zur Erhöhung der Fleischproduktion durchgeführte Auslesen schlechtwachsender Tiere konnten das Durchschnittsgewicht erwachsener Muttertiere auf ca. 43 kg steigern. 70 Auf diese Art und Weise verbesserte Zuchtböcke der Forschungsstationen wurden z. B. in den Weidegebieten der Auläd 'Ali zur genetischen Verbesserung der Beduinenschafe stationiert. 71 3.4. Die B e d e u t u n g sozial-ökonomischer Veränderungen I m Zusammenhang mit den genannten Schritten zur Verbesserung und Erhöhung der tierischen Produktion der Wanderweidewirtschaft erhebt sich die Frage nach der Finanzierung dieser Maßnahmen. Gegenwärtig konzentriert sich der Hauptteil des in der nomadischen Viehzucht erzeugten Mehrproduktes in den Händen der Stammesaristokratie und städtisch-bourgeoiser Kreditgeber. 7 2 Dabei wird es zu einem großen Teil in 69
R a n g e I m p r o v e m e n t 1966, S. 41 f. ™ E b e n d a , S. 42. 71 " . . . t h e eagerness of t h e natives to obtain these r a m s m a y indicate its suceess." E b e n d a , S. 42. 72 D a z u s. Abschnitt 4.2. dieses Artikels.
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andere Sektoren transferiert oder parasitär konsumiert. Nur ein verschwindend geringer Prozentsatz dient der qualitativen Verbesserung der Wanderweidewirtschaft, z. B. über die Installation und den Unterhalt von Motorpumpen an privaten Wasserstellen, den Ankauf von Lkw's zum Wasser- oder Herdentransport, o. ä. Auch das von mittleren und großen Viehbesitzern besonders in guten Weidejahren geschaffene bzw. angeeignete Mehrprodukt wird eher zur Aufstockung der Herden als zur Veränderung der Produktionsbedingungen verwendet. Betrachtet man die hohe Profitrate der großen und sehr großen Herdenbesitzer, die vielfach über 50 v. H. liegt, bekommt man einen Eindruck von der — im Vergleich zu anderen traditionellen Bereichen — relativ hohen Produktivität der Wanderweidewirtschaft. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, bereits gegenwärtig einen großen Teil der für eine Verbesserung der Produktionsbedingungen notwendigen Akkumulationsmittel von der nomadischen Viehzucht erbringen zu lassen. Da aber eine vom Staat diktierte Zwangsinvestition des in Privathand konzentrierten Mehrprodukts in der Praxis kaum zu dem gewünschten Erfolg führen dürfte, ergibt sich als unabdingbare Forderung für eine umfassende Mobilisierung und Einbeziehung des ökonomischen Überschusses die Notwendigkeit, die sozialökonomischen Verhältnisse in der nomadischen Viehzucht grundlegend umzugestalten und das erzeugte Mehrprodukt in genossenschaftliches bzw. gesellschaftliches Eigentum zu überführen. Die Komplexität der zur Entwicklung der Wanderweidewirtschaft erforderlichen Maßnahmen macht eine zentrale, staatliche Investitionslenkung vorteilhaft und notwendig. Gleichzeitig wird zumindest am Anfang das in der Wanderweidewirtschaft erzeugte Mehrprodukt olfensichtlich nicht ausreichen, um alle Investitionen aus eigener K r a f t durchzuführen. Deshalb sollten die von den Wanderhirten erzeugten Akkumulationsmittel durch staatliche Kredite ergänzt werden, vor allem, um das Entwicklungstempo zu beschleunigen. Die Aufstellung eines genauen Investitionsprogramms unter weitgehender Berücksichtigung der beiderseitig vorhandenen Möglichkeiten sollte dabei mit einer umfassenden Unterstützung — besonders auf wissenschaftlich-technischem und marktwirtschaftlichem Gebiet — verbunden sein. Auch hierbei ist eine weitgehende Konzentration der Mittel bei gleichzeitiger Nutznießung breitester Bevölkerungsteile am besten im staatlichen und genossenschaftlichen Sektor zu verwirklichen. Welche sozial-ökonomischen Voraussetzungen f ü r eine diesbezügliche Entwicklung gegenwärtig in der nomadischen Viehzucht bestehen, soll im folgenden kurz angedeutet werden.
Ökonomische und soziale Bedingungen für Hirtennomaden
4. Sozial-ökonomische
Bedingungen für die Integration der
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Hirtennomaden
4.1. E i g e n t u m an den wichtigsten Produktionsmitteln 4.1.1. W e i d e - u n d Ackerland I n allen Gesellschaftsformationen spielt das Eigentum an Grund und Boden eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der Produktionsbeziehungen. Die harten und unsicheren natürlichen Bedingungen in den arabischen Trockengebieten und der niedrige Entwicklungsstand der Produktivkräfte geben dem Landbesitz bei den Hirtennomaden ein spezifisches Gepräge. Das Weideland, das durch starke lokale und temporäre Schwankungen im Futteraufkommen gekennzeichnet ist, gilt immer als Kollektivbesitz einer größeren politischen Einheit — gewöhnlich des Stammes oder der Stammeskonföderation. 73 Eigentümer ist dabei, bis auf wenige Ausnahmen 74 , der Staat, der es den Nomaden ihrem Gewohnheitsrecht entsprechend zur Nutznießung überläßt. 7 5 Für dieses Nutzrecht zahlen die Wanderhirten keinerlei Grundsteuer, sondern nur die übliche, der Größe ihrer Herden entsprechende Viehsteuer. 76 So wie sich der Stamm in mehrere Unterstämme gliedert, so haben sich auch gewohnheitsrechtliche Bindungen der Untergruppen an bestimmte Teile des Weideterritoriums herausgebildet. Entscheidend dafür sind die Sicherheit und die Stabilität der Wasser- und Weidebedingungen. 77 Diese Form des Gewohnheitsrechts schließt gewöhnlich keinen Ausschließlichkeitsanspruch in sich ein, d. h. jede andere Gruppe desselben Stammes kann diese Weiden gegebenenfalls mitbenutzen. 7 8 Die gewohnheitsrechtliche Aufgliederung des kollektiven Nutzungsraumes auf die einzelnen Untergruppen und seine Verteidigung 73
V g l . d a z u : D E Q U I N , o. J . , S . 7 3 ( S a u d i - A r a b i e n ) ; DICKSON 1 9 5 1 , S . 5 8 2 ; B I S S A U 1 9 5 7 , S . 5 8 ( N o r d a r a b i e n ) ; ' Ä R E F E L - ' Ä R E F 1 9 3 8 , S . 1 2 3 ( P a l ä s t i n a ) ; CTJNNISON
1966, S. 25ff. (Sudan); CLARKE 1959, S. 104ff. (Libyen); JENTZSCH 1965, S. 212 ( T u n e s i e n ) ; CAPOT-REY 1964, S. 487. 74
75
Aus der Literatur ging z. B. nicht eindeutig hervor, ob der Amenokal der Tuareg in Algerien vor der Agrarreform eine Ausnahme bildete und Eigentümer des Landes der Kel Ahaggar war. Vgl. CAPOT-REY 1964, S. 478. Auf der Grundlage des H a d i t gehören Wasser, Feuer und Gras allen Moslems
g e m e i n s a m . D E QUIN o. J . , S. 49. '6 V g l . für I r a k : ARAIM 1966, S. 4 2 f . 77
78
Gebiete mit örtlich und zeitlich sehr unsicherer, annueller Vegetation (z. B. die Nufüd-Sandwüste in Nordarabien) werden zur Regenzeit oft von mehreren Stämmen gemeinsam genutzt. I n einigen Gegenden scheint sich — teilweise unter dem Druck staatlicher Administration — dieses Nutzungsrecht der Untergruppen schon so gefestigt zu haben, daß es den übrigen Stammesmitgliedern die .Mitnutzung weitgehend untersagt. Vgl. MURRAY 1935, S. 328 (Auläd 'Ali).
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gegenüber anderen Stämmen tritt besonders deutlich in den Gebieten der Trockenzeitweide hervor. I m Rahmen der arbeitsorganisatorischen Leitung hat das Oberhaupt (seh) der jeweiligen Untergruppe — meist in Absprache mit der Versammlung der Großfamilien- oder Clanoberhäupter (gema'a) — das Recht, bedürftigen Familienverbänden Teile des Weideterritoriums zur bevorzugten, zeitweiligen Nutzung zuzuweisen. 79 E r hat jedoch nicht das Recht, das kollektive Nutzungsrecht an Teilen der Stammesweide zu verkaufen. 80 Oft kommt es zwischen benachbarten politischen Einheiten zu Absprachen über eine befristete oder unbefristete, teilweise oder vollständige Mitnutzung fremder Stammesweiden. 81 Diese Mitbenutzung ist zuweilen mit der Zahlung einer bestimmten Weidegebühr verbunden. 8 2 So wie die Weiden werden auch die Halfagrasflächen z. T. als kollektiver Stammesbesitz betrachtet. 8 3 Der kollektive Charakter des Bodenbesitzes ändert sich erst dann, wenn in das betreffende Landstück Arbeit investiert wurde, d. h., wenn es kultiviert ist. Bebautes Land — bewässert oder unbewässert, planmäßig oder spontan angelegt — ist in der Regel Individual- oder Familienbesitz. 84 Nach der Nutzungsdauer und der Art und Weise der Übereignung kann man dabei folgende Formen des Bodenbesitzes unterscheiden: — Stammesland, das den einzelnen Familien von Seh und der Versammlung der Gruppenoberhäupter zur zeitweiligen und freien ackerbaulichen Nutzung übergeben wird 8 5 ; — Stammesland, das von den einzelnen Familien mit Duldung der übrigen Stammesmitglieder zur zeitweiligen ackerbaulichen Nutzung okkupiert wird (episodisch in Gebieten mit lokal und temporär sehr unsicheren Anbaubedingungen und periodisch am Rande der Trockenzone, wo die Anbaubedingungen relativ sicher, der Bevölkerungsdruck auf den anbaufähigen Boden aber verhältnismäßig niedrig ist). 86 79
V g l . D I C K S O N 1 9 5 1 , S . 5 8 2 ; D E Q U I N O. J . , S .
80
Eine Verpachtung kann meist nur mit Genehmigung des Ältestenrates (gema'a) erfolgen. So war es z. B. bei der Abgabe eines Bombardiergebietes für die USArmee bei El Uotia im Stammesgebiet der Sia'ari (Westtripolitanien) der Fall.
81
Vgl. DICKSON 1951, S.
CLABKE 1960,
S.
73.
56. 582.
82 Ebenda. 83 S . J E N T Z S C H 1 9 6 5 , S . 8/
212.
' V g l . ' Ä B E F EL ' Ä R E F 1938,
85
80
S.
176f.
z. B. beim tripolitanischen Stamm der Sia'an: ". . . the cultivation patches, . . ., are annually redistributed to family heads according to the availability of rainfall." C L A B K E 1 9 5 9 , S. 1 0 7 . I m Irak z. B. zahlen die Nomaden für mit Hilfe des Trockenfeldbaus genutzte Teile ihres Stammesterritoriums ebenfalls keine Grundsteuer, sondern nur eine Steuer auf die erzeugten Produkte. A R A I M 1 9 6 6 , S. 42f.
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Zu diesen zivilrechtlich nicht abgesicherten, traditionellen Besitzformen tritt in sicheren Anbaugebieten und Oasen das eingetragene Eigentum an Grund und Boden, das sich besonders in den Händen der Stammesaristokratie konzentriert. 8 7 Größe und Qualität des traditionellen, zeitweiligen Bodenbesitzes sind in den einzelnen Gebieten sehr unterschiedlich und weitgehend von den klimatischen Bedingungen und der Anzahl der Arbeitskräfte, die der betreffenden Familie zur Verfügung steht, abhängig. Umfang und Güte des eingetragenen Bodeneigentums dagegen wurde bzw. wird wesentlich von der Stammespolitik der ehemaligen Kolonialmacht, dem Klassencharakter des gegenwärtigen Staates und den natürlichen Anbaubedingungen beeinflußt. So förderte die britische und französische Kolonialmacht im Nahen Osten die eigentumsmäßige Konzentration der besten und größten Teile des Ackerlandes in den Stammesgebieten der Nomaden in den Händen der Stammesaristokratie, z . B . der öerba-Familie bei den Sammar-Gerba (Irak) 8 8 und der Suyüh der 'Adwän (Transjordanien). 89 Eine ähnliche Entwicklung vollzieht sich noch heute in einigen Staaten. So z. B. in Saudi-Arabien, wo man nach Entrichtung einer Gebühr oder Kaufsumme ein beliebig großes Stück Wüsten- oder Steppenland zum Zwecke der Kultivierung in Besitz nehmen kann. 9 0 Besonders an diesem Beispiel läßt sich verdeutlichen, daß die für zahlreiche Stammesgebiete am Rande der Trockenzone typische Konzentration des besten Ackerlandes in den Händen der sozialen Oberschicht nicht nur auf politische9*, sondern auch auf soziale und ökonomische Faktoren zurückzuführen ist. Nur die ökonomisch Stärksten konnten und können die Anfangsinvestitionen für einen größeren und ökonomisch rentablen Anbau aufbringen. Die sozial-ökonomische Differenzierung innerhalb der einzelnen Stämme bestimmt demnach hier weitestgehend auch die Differenzierung im qualitativen und quantitativen Bodenbesitz. Der sich dabei oft herausbildende Großgrundbesitz 92 wird in der Regel im Teilpachtsystem 93 — z . T . von anderen landlosen Stammesangehörigen 94 — bearbeitet. Anders scheint die Situation in den Gebieten der besser beregneten Savannenregionen (z.B. in der Republik Sudan) zu sein, wo die natürlichen Bedingungen zumindest einen saisonweisen Regenfeldbau gestatten. Die dabei im Vergleich 8' V g l . STEIN 1967, S. 1 0 2 f f . s8
Zur Herausbildung u n d N u t z u n g des Großgrundbesitzes bei den S a m m a r - ö e r b a s . e b e n d a , S . 102FF. u n d S . 137FF.
89
EPSTEIN 1938, S. 232; zu den Folgen dieser Privatisierungspolitik s. S. 91 f. der vorliegenden Arbeit,
«O D E QUIN o . J . , S . 5 1 f . 91
Obwohl die politischen Voraussetzungen — d. h. die staatliche Duldung bzw. F ö r d e r u n g einer kapitalistischen Entwicklung — die Grundlage d a f ü r bilden.
»2 V g l . D E Q U I N , S . 5 2 ; S T E I N 1 9 6 7 , S . 1 0 2 f f . 93 0/
V g l . DEQUIN o. J . , S. 54 u . 64.
« V g l . STEIN 1967, S. 107.
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mit dem Bewässerungs- und Trockenfeldbau verhältnismäßig geringen Grundinvestitionen wirken einer Landkonzentration in den Händen der ökonomisch Stärksten entgegen und führten zu einer relativen Ausgeglichenheit des individuellen Bodenbesitzes. 95 Zusammenfassend kann also festgestellt werden, daß das Weideland in den arabischen Ländern Eigentum des Staates ist, das den einzelnen Nomadenstämmen als kollektiver Besitz zur Nutzung überlassen wird. Auch das zur Entwicklung der Wanderweidewirtschaft unbedingt erforderliche Kulturland befindet sich teilweise noch unter der Verwaltung bzw. Kontrolle der Stämme, die es einzelnen Familien zur zeitweisen, individuellen Nutzung überlassen. Ein großer Teil des Kulturlandes in den Stammesgebieten wird jedoch auch schon als Privateigentum genutzt. Für die Entwicklung der tierischen Produktion in den Trockengebieten dürfte besonders der bestehende Großgrundbesitz sehr hemmend sein, während der kleinere Individual- oder Familienbesitz der Hirtennomaden verhältnismäßig leicht zu integrieren sein wird. 4.1.2. Wasserstellen Der Besitz von Wasserstellen ist weitgehend mit dem Landbesitz verbunden. Auch hier kennt man privates und kollektives Nutzungsrecht. Besonders in den Gebieten der Regenzeitweide werden die Wasserstellen in größter Freiheit und vor allem in Abhängigkeit von den lokalen Weidebedingungen genutzt. Mit zunehmender Trockenheit wächst jedoch die Abhängigkeit von den Tränkplätzen und läßt sie gegenüber den Weidebedingungen in den Vordergrund treten. So wie dann das Gewohnheitsrecht der einzelnen Stammesgruppen an bestimmten Teilen des kollektiven Weideterritoriums an Bedeutung gewinnt, ist auch das Nutzungsrecht bezüglich der wenigen, in der Trockenzeit noch Wasser führenden Brunnen und Quellen stärker fixiert — und zwar mit zunehmender Aridität des jeweiligen Gebietes. 96 I m großen und ganzen kann man sagen, daß, wie beim Weideland, auch hinsichtlich der Wasserstellen der kollektive Besitz vorherrscht. Jedoch ist er wesentlich vielgestaltiger als der Weidebesitz und von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Oft hat er dabei seine Wurzeln im Privatbesitz. Prinzipiell wird diejenige Person, die eine Wasserstelle angelegt oder entdeckt hat, auch als ihr Besitzer betrachtet. 9 7 Handelt es sich dabei um einen Tränkbrunnen auf kollektivem Weideland, so bleibt das Recht seiner Nutzung in der jeweiligen Patrilinie und kann so nach und nach zum Besitz einer Großfamilie, eines Familienverbandes usw. und schließlich eines Unterstammes oder gar eines ganzen Stammes werden. 95
V g l . CUNNISON 1 9 6 6 , S. 7 4 .
96
Vgl. E V A N S - P R I T C H A R D 1 9 4 9 , S . 3 6 ; oft wird gerade durch jene, mit dem Stammeszeichen (wasm) markierten Trockenzeitbrunnen das Territorium der einzelnen Nomadenstämme umrissen. Vgl. DICKSON 1951, S. 428. Ebenda; ' Ä R E F E L - ' Ä R E F 1 9 3 8 , S . 1 2 5 .
97
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Ein großer Teil der Brunnen, die heute als Stammesbesitz betrachtet werden, ist im Zusammenhang mit der Eroberung des Weidelandes in die Verfügungsgewalt des Stammes gekommen. 98 Andere Wasserstellen wurden von der Regierung eingerichtet und den Hirtennomaden zur zeitweiligen kollektiven Nutzung überlassen. Daneben werden selbstverständlich auch alle größeren Gewässer (Bäche, Flüsse, Binnenseen) von den dort lebenden Hirtennomaden gemeinsam genutzt." Obwohl bei den Tränkplätzen in den kollektiven Weidegebieten privater Besitz fortwährend zu kollektivem Besitz werden kann, tritt doch nur selten 100 das Gegenteil — eine Privatisierung von kollektivem Wasserbesitz — ein. Im Gegensatz dazu bleiben die Brunnen auf privaten Grundstücken in der Regel solange wie diese Individual- oder Familienbesitz. Über die Eigentumsrechte an Wasserstellen, die von privater Hand in Stammesterritorien angelegt wurden oder werden, war der Literatur nur wenig zu entnehmen. 101 Natürlich entstandene Tränkplätze sind wie das Weideland Eigentum des Staates. 102 I m Überblick läßt sich sagen, daß bei den am Ende der Regenzeit und während der Trockenzeit genutzten Tränkplätze größere Wasserstellen vorwiegend im Besitz der Stämme und Unterstämme sind, während kleinere oft nur von einzelnen Familien, Familienverbänden oder anderen Stammesuntergruppen genutzt und damit besessen werden. Künstlich angelegte Wasserstellen gelten traditionsgemäß als Besitz des Erbauers. Finanzielle Stärke erhöht — z. B. über die Installation von Motorpumpen — die Möglichkeit zur Erweiterung der zur Verfügung stehenden Wasserreserven in der Trockenzeit. Jedoch wird dieses erhöhte Wasserangebot in der Gegenwart noch vorwiegend dem Anbau von Marktkulturen anstatt der Wanderweidewirtschaft zugeführt. Der gegenwärtige Viehbestand in den arabischen Trockengebieten wird weniger durch die vorhandene Wassermenge als vielmehr durch die unproduktiven, traditionellen Schöpfmethoden und vor allem durch die mangelhafte Futtergrundlage beschränkt. Die im Rahmen der sozialen Differenzierung verlaufende ökonomische Stärkung der Stammesaristokratie wirkt sich daher zwar kaum auf die Quantität der Tränkplätze, wohl aber auf den Umfang des privaten Kulturlandes und die technische Ausrüstung der Wasserstellen aus. 98 Z. B. der größte Teil der artesischen Brunnen Nordarabiens; s. S t e i n 1967, S. 68; zum kollektiven Nutzungsrecht dieser Brunnen vgl. auch D i c k s o n 1951, S. 428. 99 Vgl. Canaan 1928, S. 94; Wie das Weideland kann auch ein Teil der Brunnen nach Absprache zeitweilig oder immer von mehreren benachbarten Stämmen genutzt werden. Vgl. z. B. ebenda, S. 96 und 118. 100 Nur wenn sich eine größere Gruppe auf ein Individuum bzw. eine Familie reduzieren sollte (durch Landflucht, Todesfall o. ä.).
101 Vgl. De quin o. J., S. 78. 102 Vgl. Araim 1966, S. 47.
110
Wolf-Dieter Seiwert
l4.1.3. Viehbesitz Während auf den vorangegangenen Seiten die Besitzverhältnisse an den beiden Hauptproduktionsmitteln Wasser und Weide bzw. Ackerland dargestellt wurden, soll im folgenden das Eigentum a n dem dritten Hauptproduktionsmittel — dem Vieh — näher betrachtet werden. E s ist dabei weitgehend mit der Stellung zu den beiden anderen natürlichen Ressourcen verbunden. Die besitzmäßige Differenzierung im Stamm und zwischen den Stämmen wird besonders von folgenden Faktoren beeinflußt: — qualitative und quantitative Wasser- und Weidebedingungen; — Stammespolitik der ehemaligen Kolonialmacht; — Grad des Eindringens der Ware-Geld-Beziehungen; — Umfang der politischen und ökonomischen Integration; — Umfang und Besitz des kultivierbaren Bodens und Kostenintensität seiner Kultivierung. Allgemein k a n n m a n sagen, daß die Differenzierung im Viehbesitz mit zunehmenden Möglichkeiten zur Viehakkumulation bei gleichzeitiger Unausgeglichenheit der Weidebedingungen wächst. Bei den meisten Nomadenstämmen ist sie verhältnismäßig stark ausgeprägt — a m stärksten wahrscheinlich bei den am R a n d e der Trockenzone (Syrien, Irak, Jordanien, Sudan usw.) lebenden Stämmen. Das Vieh ist dabei in der Regel Individualeigentum, obwohl es in einigen Stämmen auch noch Herden gibt, die Kollektiveigentum sind bzw. bis vor kurzem waren 1 0 3 (z. B. bei den Mutair 104 u n d den Ruwalä 5 1 0 5 in Nordarabien). 1 0 6 Hinsichtlich des Viehbesitzes k a n n m a n folgende Gruppierungen zusammenstellen: — Familien 107 ohne Viehbesitz; — Familien mit kleinem Viehbesitz unter dem zur Deckung des Subsistenzbedarfs erforderlichen Minimum; »03 S. P e r s i c 1959, S. 37-42. Die berühmte, ca. 300 Tiere umfassende „Schwarze Kamelherde" der Mutair war bis 1930 Stammeseigentum. Sie wurde nach der Niederschlagung des Aufstandes der Ihwän unter dem damaligen Oberseh der Mutair, Faysal Äl-Düwls, von König 'Abdu'l-'AzIz Äl-Sa'üd konfisziert. D i c k s o n 1951, S. 584f. 105 Nach Mtjsil ( 1 9 2 8 , S . 335f.) besaß hier jeder „clan" eine gemeinsame Herde weißer Kamele. 106 M y l i u s 1967, S. 27, führt für Syrien auch Schafherden an, die Stammeseigentum sein sollen. Wahrscheinlich handelt es sich dabei lediglich um gemeinsam gehütete, aber trotzdem in Privatbesitz befindliche Tiere. 107 Obwohl die Tiere als persönliches Eigentum bestimmter Familienmitglieder gelten, werden sie doch immer gemeinschaftlich von der Familie genutzt. Unter Familie wird in diesem Aufsatz ein Mann mit seiner Ehefrau bzw. seinen Ehefrauen und seinen Kindern, sowie angegliederte partilineare Verwandte, für die das Familienoberhaupt die Sorgepflicht trägt (z. B. Alte, Witwen, Waisen), verstanden.
104
Ökonomische und soziale Bedingungen für Hirtennomaden
111
— Familien mit mittlerem Viehbesitz über dem Subsistenzminimum, aber ohne Ausbeutung familienfremder Arbeitskraft; — Familien mit großem Viehbesitz mit Ausbeutung familienfremder Arbeitskraft; — Familien mit sehr großem Viehbesitz. Die ersten beiden Gruppen sind durch ihr fehlendes oder ungenügendes Eigentum an Vieh auch von der Nutzung der anderen Hauptproduktionsmittel — Wasser und Weide — mehr oder weniger ausgeschlossen. Sie sind dadurch gezwungen, entweder andere Produktionsmittel zur Erwirtschaftung des Lebensunterhaltes heranzuziehen (z. B . leicht kultivierbare Teile des Stammesterritoriums als Ackerland) oder ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Besonders aus der ersten Gruppe stammen die meisten seßhaft gewordenen und heute Ackerbau treibenden Nomaden; besonders solche Familien suchten in der Stadtflucht einen Ausweg und erweiterten die Bidonvilles am Rande der großen Städte. Sehr viele Nomaden, deren Herden durch Krankheit, Hunger oder Kälte bis unter das Subsistenzminimum dezimiert wurden, versuchen die Reproduktion ihres zusammengeschmolzenen Viehbestandes durch Zukäufe zu beschleunigen. Die dazu notwendigen finanziellen Mittel erarbeiten sie heute vorwiegend in den Städten, in den Zentren der extraktiven Industrie oder in der Landwirtschaft. Oft ergab bzw. ergibt sich die Dezimierung der Herden aber auch als direkte Folge der sogenannten „Krise des Nomadentums", d. h. die nomadischen Viehzüchter sind durch die Einschränkung ihres Weideterritoriums, durch Absatzschwierigkeiten u. ä. gezwungen, ihre Tiere ganz oder teilweise zu verkaufen und eine andere Beschäftigung (in der Landwirtschaft, im Transportwesen usw.) aufzunehmen. Viele dieser Nomaden versuchen auch als Lohnhirten — soweit das nicht unter ihrem Prestige liegt — ihren Lebensunterhalt zu verdienen, die Mittel aus der eigenen Wirtschaft zu ergänzen oder sich den Grundstock für eine neue Herde zu schaffen. I n vielen Stämmen scheinen die beiden erstgenannten Gruppen ein sehr fluktuierendes Element darzustellen, das sieh ständig aus der dritten Gruppe neu bildet, in diese zurückströmt oder seßhaft wird. Das trifft hauptsächlich auf solche Stämme und Stammesgruppen zu, in denen der Viehbesitz bei der Mehrzahl der Familien über dem Subsistenzbedarf liegt. Sobald die Vieharmut in einem Gebiet jedoch zur allgemeinen Erscheinung als Folge permanenter ökonomischer Schwierigkeiten wird, bleiben meist als einzige Alternativen die Ergänzungswirtschaft (Halbnomadismus), die Arbeit als Lohnhirte oder die völlige Aufgabe der Wanderweidewirtschaft. »; Der zur Deckung des Subsistenzbedarfs notwendige Viehbestand variiert entsprechend den Weidebedingungen, der Qualität und Quantität der tierischen Produktion, der Marktlage und den Preisbedingungen von Gebiet zu Gebiet. F E R R A N D - E Y N A R D , der im J a h r e 1 9 6 0 aufschlußreiche Felduntersuchungen über das Einkommen und die Lebensführung des Stammes der Auläd Nä'il
112
WOLF-DIETER
SEIWEBT
(Algerien) durchführte, schreibt: 108 «50 têtes de bétail constituant le cheptel minimum d'un élevage rationnel. » Diese Angabe kann man als etwaigen Mittelwert — bezogen auf eine Schafe und Ziegen haltende sechsköpfige Familie — betrachten. Ihr entsprechen ungefähr 4 bis 5 Kamele oder Rinder. Dieses ökonomische Minimum ist jedoch nicht identisch mit dem Existenzminimum, sondern soll lediglich als obere Grenze des Pauperismus angesehen werden. Im westlichen Hochland Algeriens (im Gebiet des Gebe] Nador und des Gebel Amür) wurden vor wenigen Jahren bei einer statistischen Erhebung von 397 dort lebenden Nomadenfamilien 109 236 Familienoberhäupter (ca. 60 v. H.) berufsmäßig als Tagelöhner („journaliers") bzw. Haifagrassammler („alfatiers") und 161 (ca. 40 v. H.) als Schäfer („bergers") erfaßt. 110 Bei den Schäfern ergab sich dabei hinsichtlich des Viehbesitzes folgendes Bild: 111 Tabelle 7 Beispiel für die besitzmäßige Differenzierung der Nomaden des westalgerischen Hochlandes Anzahl der d e m FamilienOberhaupt g e h ö r e n d e n Schafe Anzahl der Familienoberhäupter
0
1 bis 10
10 bis 25
25 bis 50
50 bis 100
mehr als 100
67
20
27
16
12
15
Aus der Tabelle geht hervor, daß 130 Familienoberhäupter (83 v. H.) weniger als 50 Tiere besaßen und 67 (43 v. H.) gar keinen Yiehbesitz hatten. Der überwiegende Teil von ihnen war demzufolge gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen und als Hirten die Herden reicher Viehbesitzer zu übernehmen. Von den besitzlosen und besitzarmen Nomaden gelingt es nicht allen, eine entsprechende ergänzende Tätigkeit als Lohnhirte oder außerhalb der Viehzucht aufzunehmen und ihre Arbeitskraftvoll zu verkaufen. Ein großer Teil von ihnen ist gezwungen, sich unter den ökonomischen „Schutz" reicherer und reichster Verwandter und Stammesgenossen zu begeben, um dort gegen den Preis ihrer politischen Gefolgschaft und ökonomischer Dienstleistungen ihren Subsistenzbedarf an Kleidung und Nahrungsmitteln zu decken. Bei den Auläd Nä'il gewann F B E K A N D - E Y K A R D über den Umfang der Verarmung folgenden Eindruck : 108
FEBEAND-EYNABD 1961, S. 119. 109 2640 Personen — sämtliche Mitglieder v o n Stammesgemeinschaften. 110
SIVIGNON 1 9 6 3 , S. 2 1 2 u n d S . 2 1 8 .
111
Ebenda, S. 213.
Ökonomische u n d soziale Bedingungen f ü r H i r t e n n o m a d e n
113
Tabelle 8 Prozentmäßiger U m f a n g der einzelnen Einkommensgruppen bei der Stammeskonföderation der Auläd Nä'il (Algerien) 112 Jahreseinkommen unter 100 bis 250 bis 400 bis über
100 ffcs. 250 ffcs. 400 ffcs. 500 ffcs. 500 ffcs.
S t a m m Auläd U m m Lahwa
S t a m m Auläd Luwar
S t a m m Auläd A'iffa
S t a m m Auläd Zid
8,82 22,05 55,97 11,76 1,40
12,50 0 50 25 12,50
25 12,50 25 6,25 31,25
10,61 63,82 15,95 8,51 1,11
N i m m t m a n das aus einem Viehbesitz v o n 50 Schafen resultierende Jahrese i n k o m m e n v o n ca. 250 ffcs. pro K o p f der Familie 1 1 3 als oberste Grenze d e s Pauperismus, stellt m a n fest, daß e t w a ein Drittel aller Stammesmitglieder als verarmt bezeichnet werden kann. So wie innerhalb der Stammesgruppe ist auch zwischen d e n einzelnen Stämm e n u n d U n t e r s t ä m m e n — wie schon aus Tabelle 8 ersichtlich — die besitzmäßige Differenzierung z. T. sehr ausgeprägt. Als weiteres Beispiel dafür soll hier der S t a m m e s v e r b a n d der Sia'an in Nordwesttripolitanien angeführt werden: Tabelle 9 Differenzierung des Yiehbesitzes bei dem S t a m m e s v e r b a n d der Sia'an in Nordwesttripolitanien (Stand 1957) 114 Unterstamm
Kamele
A u l ä d M u h a m m a d ca. 2500 ca. 500 öawasiya 845 Ä1 H a m a y l a ca. 1500 A u l ä d Serada 575 Auläd Sellam 165 Auläd Hamid 35 A u l ä d Talab
D
Ziegen
D
Schafe
D
I
7,3 6,7 3,6 6,1 2,3 2,2 0,4
6409 727 6496 1439 2452 683 314
19 10 28 6 27 9 4
2276 311 1736 541 1132 154 153
7 4 7 2 5 2 2
99 91 71 69 55 33 10
D = durchschnittlicher Besitz einer sechsköpfigen Familie J = Wertindex von D : 1 Schaf oder 1 Ziege entsprechen 1 P u n k t , 1 K a m e l 10 P u n k t e n D i e s e n A n g a b e n entsprechend liegen 13 v. H. des S t a m m e s — die Unterg r u p p e n der A u l ä d H a m i d u n d der Auläd Talab 1 1 5 — in ihrem durchschnittlichen 112 113
N a c h : FEBEAND-EYNAED 1961, S. 108 (Stand etwa 1960). Geschätzt nach Angaben von FEEBAND-EYNARD (1961, S. 91 bis 134); die Angaben beziehen sich hier wie im folgenden auf eine sechsköpfige Familie.
« « B e r e c h n e t n a c h : CLABKE 1960, S. 54FF. 115
8
Beim Zensus 1957 waren die beiden U n t e r s t ä m m e 956 Personen stark, w ä h r e n d die Sia'an insgesamt 7509 Stammesangehörige u m f a ß t e n . CLABKE 1960, S. 54 f. Jahrbuch des Museums für Völkerkunde, Bd. X X I X
114
W O L F - D I E T E R SEIWERT
Viehbesitz unter dem ökonomischen Minimum. Auf welche Art und Weise sie ihr mangelhaftes Einkommen aus dem eigenen Tierbestand ergänzen, war der Literatur nicht zu entnehmen. Tätigkeitsbereiche außerhalb der Viehzucht sind für die Sia'an periodischer Feldbau, Obst- und Dattelbau und Schmuggel. 116 Die Untergruppe der Gawasiya umfaßt die seßhaften Sia'an in den Oasen Gaus al-Kabir und Gaus as-Sagir (446 Personen). 117 Ihr verhältnismäßig großer Viehbesitz wird offensichtlich von Hirten aus den anderen Untergruppen betreut. Deren Zahl dürfte dabei jedoch kaum 15 Familien (75 bis 90 Personen) übersteigen. 118 Verhältnismäßig breit und stabil ist die dritte der obengenannten Gruppen — die Familien mit mittlerem Viehbesitz und ohne Ausbeutung familienfremder Arbeitskraft. Als mittlerer Viehbesitz kann man im Durchschnitt eine Herde zwischen 50 und 200 Schafen oder Ziegen bzw. zwischen 5 und 20 Kamelen oder Rindern betrachten. Großer Viehbesitz — zwischen 200 und 500 Schafen oder Ziegen bzw. zwischen 20 und 50 Kamelen oder Rindern — drückt sich oft bei den vorwiegend Kleinvieh züchtenden Nomaden darin aus, daß der Tierbestand über die optimale Herdengröße hinauswächst und geteilt werden muß. 119 Bei den Kamel- und Rindernomaden jedoch muß ein Tierbestand, der die optimale Herdengröße übersteigt 120 , schon als sehr groß bezeichnet werden. Die Gruppen der großen und sehr großen Viehbesitzer sind meist mit der Stammesaristokratie — den Sehfamilien der Stämme, Unterstämme und Familienverbände — identisch. 121 Ein Teil jedoch sind auch städtische, stammesfremde Bourgeoises. CLARKE 1959, S. 107; Clarke 1960, S. 57 f. 117
118
CLARKE 1 9 6 0 , S . 5 4 .
Bs ist wahrscheinlich, daß sich der Viehbesitz der Gawasiya nur in den H ä n d e n einiger weniger Familien der Stammesaristokratie konzentriert, die möglicherweise mit dem Klan der Ä1 Hababha in Gaus as-Sagir identisch ist. Gaus as-Sagir ist der Hauptort einer der beiden Mudiriyät, in die das Stammesterritorium der Sia'an zerfällt — und damit das Stammeszentrum. Der Klan (Lahma) der ÄL Hababha führt sich als einziger im Stamm in direkter Linie auf den Propheten Muhammad zurück — eine Tatsache, die in den meisten arabischen Stämmen auch mit einer bevorzugten sozialen und ökonomischen Stellung verbunden ist. Vgl. ebenda, S. 56ff. 119 Das trifft besonders für die zentralen Steppen- und Halbwüstengebiete zu. Die optimale Herdengröße hängt außer von der Tierart auch von den Weidebedingungen und der Geländebeschaffenheit ab. So kann sie am Rande der Trockenzone auf übersichtlichem Weideland über 1000 Schafe und/oder Ziegen umfassen. 120 CUNNISON (1966, S. 74) nimmt für die rinderzüchtenden Humr-Baggara-Nomaden (Sudan) eine optimale Herdengröße von etwa 150 Tieren an. 121 Vgl. WIRTH 1969, S. 46; am gleichen Ort berichtet WIKTH: „Nicht wenige der großen Scheichs in Syrien, Jordanien und dem Irak verfügen über Herden von 20000, ja 50000 Schafen."
Ökonomische und soziale Bedingungen für Hirtennomaden
115
Der von den großen und sehr großen Viehbesitzern ausgebeutete Personenkreis setzt sich zum überwiegenden Teil aus Nomaden mit kleinem oder fehlendem Viehbesitz zusammen. 122 4.2. F o r m e n der Ausbeutung Wie gezeigt wurde, befinden sich Wasser und Weide zwar zum überwiegenden Teil in Gemeinbesitz, das Vieh jedoch in Privateigentum. Aus dieser Diskrepanz leitet sich die Spezifik der Ausbeutungsverhältnisse in der nomadischen Viehzucht ab. Nach der Art der Abhängigkeit lassen sich dabei folgende Haupttypen der Ausbeutung fremder Arbeitskraft unterscheiden: — frühkapitalistischer Verlagstyp 123 (1); — von Seßhaften abhängiger Typ der Lohnarbeit (2); — von Nomaden abhängiger Typ der Lohnarbeit (3); — vorkapitalistisch/vasallitärer Typ (4). Bei der ersten Form — der frühkapitalistischen Ausbeutung auf Verlagsbasis— erhält der Nomade von einem seßhaften Geldgeber den zum Ankauf einer Herde notwendigen Kredit. Zur Rückzahlung muß der Hirte alle Erträge der von diesem Kredit gekauften Herde (incl. denen von den dazugekommenen weiblichen Jungtieren) an den Kreditgeber abliefern. Nach Wirth 1 2 4 kann diese Rückzahlung in günstigen Fällen bereits nach 2 bis 3 Jahren abgeschlossen sein. Berücksichtigt man aber die große Unsicherheit der nomadischen Viehzucht, erkennt man, daß in der Mehrzahl der Fälle eine längere, totale ökonomische Abhängigkeit vom Kreditgeber die unausbleibliche Folge dieses Ausbeutungssystems ist. Der überwiegende Teil der sehr großen Viehbesitzer sind Seßhafte: reiche Städter 1 2 5 (vor allem Handelsbougeoises) und Großgrundbesitzer 126 , die in vielen Fällen mit der traditionellen Stammesaristokratie identisch sind. 127 Ihre Herden werden — wie bereits angedeutet — hauptsächlich von verarmten Nomadenfamilien betreut 1 2 8 , obwohl in einigen Gebieten auch schon einzelne, transhumante Hirten an ihre Stelle getreten sind, „die mit Bargeld entlohnt 122 123
Zumindest im Viehzuchtsektor! Der Einfachheit halber werden im Vorstehenden die durch diese Form ausgebeuteten Nomaden ebenfalls mit unter die Bezeichnung Lohnhirten gefaßt. Die einzelnen Typen sind in ihrer Abgrenzung oft recht verschwommen, z. T. miteinander kombiniert oder ineinander übergehend.
12
4 W I R T H 1 9 6 9 , S. 47.
12
5 SONNEN 1952, S. 51 ( P a l ä s t i n a ) ; WIRTH 1969, S. 47 (Syrien, I r a k ) ; STEIN 1967, S. 1 4 0 f . (Irak); EVANS-PRITCHARD 1949, S. 38 (Cyrenaika); SIVIGNON 1963,
S. 214 (Algerien). 126 V g l . W I R T H 1 9 6 9 , S . 4 7 .
«7 Vgl. a u c h SIVIGNON 1963, S. 214.
Jeweils Kleinviehherden von 200 bis 300 (Irak, Syrien) oder 100 bis 200 (Algerien) T i e r e n pro H i r t e n f a m i l i e ; WIRTH 1969, S. 4 7 ; SIVIGNON 1963, S. 213. 8»
116
W O L F - D I E T E R SEIWERT
werden und die ursprünglich Fellachen oder festangesiedelte Halbnomaden waren." 1 2 9 Mit den Ausgebeuteten sind die sehr großen Herdenbesitzer nur durch ökonomische oder auch durch Stammesbeziehungen verbunden. Der Hirte steht somit zwar — als Eigentümer einer kleinen Herde oder einer Parzelle — dem ländlichen Halbproletariat oder — als Besitzloser — dem Landproletariat nahe, kann jedoch durch seine Bindungen an ein vor- bzw. frühfeudales Stammessystem diesem nicht direkt zugerechnet werden. Bei den genannten Ausbeutungstypen (2) und (3) bekommt der Hirte vom Herdenbesitzer einen festgesetzten Lohn in Bargeld oder Naturalien ausgezahlt. Die Verträge werden meist für die Dauer einer Weideperiode oder eines Jahres vor Beginn der Regenzeit abgeschlossen. Mit steigender Tendenz scheint dabei die Bargeldentlohnung von viehbesitzenden Großhändlern angewandt zu werden. 130 I h r Hauptnachteil ist, daß der Hirte hierbei nicht an einer Steigerung der tierischen Produktion seiner Herde interessiert wird. 131 Demgegenüber herrscht jedoch in den meisten Gebieten noch immer die Natural- oder Natural/ Geldentlohnung vor, wobei sich folgende Varianten feststellen lassen: Der Hirte erhält: I. tierische Produkte 1 3 2 I I . Geld und/oder tierische Produkte -f- Nahrung und/oder Kleidung 133 129 WiKTH 1969, S. 47 (irakische Gezira). 130 I m algerischen Hochland wurde diese Art der Entlohnung außer bei Schafhirten besonders bei Kamel- und Rinderhirten angewandt, wobei die Kamelhirten a m schlechtesten bezahlt wurden. SIVIGNON 1963, S. 213. Zur Geldentlohnung s. a. SONNEN 1 9 5 2 , S. 5 2 ( P a l ä s t i n a ) u n d HENNINGER 1 9 4 3 , S. 127. « I V g l . SIVIGNON 1 9 6 3 , S . 2 1 3 ; C A P O T - R E Y 1 9 6 4 , S . 4 7 9 .
132 STEIN (1967, S. 140) lernte diese Entlohnungsart vor wenigen Jahren in der Republik Irak (bei dem S t a m m der Sammar-Hrussa) kennen: Lohn des Hirten: Profit des Herdeneigentümers: Hälfte der Butter, Hälfte der Butter, Hälfte der Wolle, Hälfte der Wolle, Milch und männliche Jungtiere alle Jungtiere (außer den v o m für den eigenen Nahrungsbedarf Hirten für den eigenen Haushalt geschlachteten Tieren) Die jährliche Profitrate liegt hierbei über 50 v. H. 1 33 Z. B. das sogenannte „azilah"-System i m algerischen Hochland (Stand 1962): Lohn des Hirten: Profit des Herdeneigentümers: Hälfte der Butter, Hälfte der Butter, Hälfte der Milch, Hälfte der Milch, sämtliche Jungtiere, 1 neuer Burnus, sämtliche Wolle 1 Zentner (quintal) Weizen, 1 Zentner Gerste (abzüglich der Kosten für Burnus (eventuell noch 1 bis 2 Schafe und Getreide des Hirten) und einige Felle) Die Profitrate liegt weit über 50 v. H . (nach SIVIGNON 1963, S. 214).
Ökonomische und soziale Bedingungen für Hirtennomaden
117
III. Geld und/oder tierische Produkte + Nahrung und/oder Kleidung -fJungtiere 134 IV. Geld und/oder tierische Produkte -f- Jungtiere 135 V. Jungtiere -f- Nahrung und/oder Kleidung 136 VI. Jungtiere 137 Für die großen und sehr großen seßhaften Herdeneigentümer scheint eine vollständige Aneignung des Herdenzuwachses typisch zu sein. Neben den Entlohnungsformen I. und II. beginnt sich jedoch die Entlohnung in Geldform immer mehr durchzusetzen. 138 Mittlere und große Viehbesitzer unter den Nomaden sind oft aus Mangel an genügend Arbeitskräften in der Familie ebenfalls gezwungen, ihre Herden von fremden Hirten betreuen zu lassen [Ausbeutungstyp (3)]. Diese Hirten kommen gewöhnlich aus der gleichen Stammesgruppe. Vielfach sind es unverheiratete junge Männer, die sich auf diese Art und Weise die ökonomische Grundlage eines eigenen Haushaltes zu schaffen suchen.139 Dieser zeitweilige Verkauf der Arbeitskraft zum Zwecke der Eigentumsbildung besteht seit der Herausbildung und der Konzentration des Privateigentums an Vieh in den Händen des Familienoberhauptes. Der Sohn hat in der Regel kein oder nur wenig Eigentum. Er muß seine Arbeitskraft dem Familienoberhaupt oder einem fremden Viehbesitzer verkaufen. 140 Der Lohn ist dabei in «4 Vgl.
1943, S. 127. «5 y g i . ebenda, S. 126; M U S I L 1928, S. 336. (1952, S. 51) nennt für das Gebiet um den See Genezareth (Palästina) folgendes Beispiel: Lohn des Hirten: Profit des Herdeneigentümers: 10 v. H. des weiblichen Grundalle übrigen Jungtiere, bestandes der Herde (über sämtliche Milch, 1 Jahr) in Form von entwöhnten sämtliche Butter, männlichen (5 v. H.) und weibsämtliche Wolle, lichen (5 v. H.) Jungtieren, (abzüglich des Wertes der 30 Ellen Stoff, Nahrung und der angeführten 1 Mantel und 1 Schafpelz, Kleidung des Hirten) 1 Paar Stiefel, 2 bis 3 Kopftücher und — auch hier dürfte die jährliche „Er ißt mit seinem Herrn Profitrate über 50 v. H. liegen. am selben Tisch". i " Vgl. H E N N I N G E R 1943, S. 126f.; M U R R A Y 1935, S. 114. 138 y g i . C A P O T - R E Y 1964, S. 479; ". . . the stock-raisers have long been complaining of their inability to find herdsmen, because the old contracts, which provided for wages in kind, did not ensure a decent standard of living for the herdsmen." Ebenda, S. 483. ™ Vgl. H E N N I N G E R 1943, S. 126f. 140 _ An wen er sie verkauft, dürfte weitgehend von der Größe der väterlichen Herde und der Anzahl der Familienmitglieder abhängen. Je größer der Viehbesitz ist, desto enger sind die in der Familie vorhandenen Arbeitskräfte daran gebunden. Gleichzeitig aber wächst auch die Möglichkeit, über den Erbteil bzw. die Verwaltung des väterlichen Besitzes eine auch für die Zukunft ausreichende WirtHENNINGER
«O S O N N E N
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WOLF-DIETER
SEIWERT
seiner traditionellen Form nicht Geld, sondern Vieh und Naturalien (Entlohnungsformen I I I . , IV., V., VI.), wobei das Vieh gewissermaßen als Grundkapital für die spätere eigene Produktion dienen soll. Sofern diese Hirten Mitglieder von Familien sind, deren Viehbesitz über dem Existenzminimum liegt, kann man sie kaum mit jenen, verheirateten Hirten vergleichen, die — z. B. durch schlechte Weide- und Absatzbedingungen — verarmt sind und die gezwungen sind, ihre Arbeitkraft zusammen mit der ihrer Familie zu verkaufen. Sie werden einmal zumindest teilweise den Viehbesitz ihrer Eltern übernehmen und sind auch ohne Verkauf ihrer Arbeitskraft in ihrer physischen Existenz nicht unmittelbar bedroht. Neben den drei bisher näher erläuterten Formen der Ausbeutung findet man jedoch auch heute noch eine vierte Art der Abhängigkeit, die oben als vorkapitalistisch/vasallitär bezeichnet wurde. S E L I G M A N , der eine Variante bei dem kamelzüchtenden Stamm der Kabäbis (Nordsudan) kennenlernte, beschrieb sie am Anfang des Jahrhunderts folgendermaßen: "A poor man . . . may come to a powerful sheikh and ask to become his muhana. . . . A muhana must work for his patron, in return will give him cattle and look after his interests . . . A muhana is free to leave his patron . . . I t would, however, be considered shameful for either of them to break the relationship abruptly . . . A muhana is said to be in the raghim 1 4 1 of his patron." 1 4 2 Bei diesem Abhängigkeitsverhältnis scheinen besonders folgende Merkmale typisch zu sein: — Der Abhängige ist pro forma frei. — Er erhält von seinem Patron ökonomische und politische Unterstützung. — Zu Beginn des Abhängigkeitsverhältnisses stehen von Seiten des Abhängigen vor allem ökonomische Dienstleistungen im Vordergrund. — Allmählich erfolgt der Übergang von der rein ökonomischen Abhängigkeit zur ökonomischen und politischen Gefolgschaft und Abhängigkeit. Die vasallitäre Ausbeutung setzte besonders mit zunehmender besitzmäßiger Differenzierung, mit der Herausbildung und Fixierung einer klassenähnlichen Sozialstruktur ein. Sie entwickelte sich unmittelbar aus den rein solidarischen
141
142
schaf tsgrundlage zu erlangen. D a außerdem der im Familienrahmen erzeugte Mehrwert d e m männlichen P r o d u z e n t e n fast immer auf irgendeine Weise (Erbe, Nutznießung u. ä.) zumindest teilweise wieder zufließt, wirkt diese F o r m der Ausbeutung mit A b s t a n d a m schwächsten — viel schwächer als z. B. die Ausb e u t u n g der F r a u . Wahrscheinlich m u ß es „ g h a r i m " heißen. (Davon „garim" — a r a b . : Schuldner, Gläubiger). S E L I G M A N 1 9 1 8 , S. 1 1 5 . D a ß diese F o r m a u c h heute noch besteht, lassen die Ausf ü h r u n g e n C U N N I S O N S ( 1 9 6 6 , S. 6 7 ) v e r m u t e n , der v o m August 1 9 5 2 bis J a n u a r 1955 Felduntersuchungen bei d e m rinderzüchtenden S t a m m der H u m r - B a g g a r a d u r c h f ü h r t e : " a gift or loan in t h e p a s t compels a poor m a n t o serve in a n y capacity. E v e n if he does n o t go herding, h e assists in milking, in fetching logs, a n d in general supervision of t h e cattle a t n i g h t . "
Ökonomische u n d soziale Bedingungen f ü r H i r t e n n o m a d e n
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Viehdarlehen der Vorklassengesellschaft. 143 Nicht zu verwechseln ist sie mit der tributären Abhängigkeit von Oasenbauern und Kleinviehstämmen und der ehemaligen Abhängigkeit der Sklaven. Die tributäre Abhängigkeit der Oasen besteht in der Gegenwart durch die allgemeine Stärke der zentralen staatlichen Machtorgane in der alten Form nicht mehr. 144 Die ehemaligen Klientenstämme sind heute als Nomaden ihren früheren Herren z. T. sogar ökonomisch und politisch weit überlegen. 145 Auf jeden Fall aber zahlen sie keine Tribute mehr 146 und sind auch in ihrer Weidenutzung nicht mehr von den sogenannten „Herrenstämmen" abhängig. Die ehemaligen Sklaven bzw. Freigelassenen — ihrer Herkunft nach fast ausschließlich negride oder negroide Afrikaner — sind z.T. entweder seßhafte Ackerbauer oder Handwerker geworden oder in die Städte abgewandert, während andere mehr oder weniger gleichberechtigt in die Stämme ihrer ehemaligen Besitzer aufgenommen wurden. 147 Viele Angehörige ehemaliger Klientenstämme sind heute Lohnhirten. Viele Ex-Sklaven gliederten sich in die Reihe jener freien Besitzlosen oder Besitzarmen ein, die in der vasallitären Gefolgschaft einen Ausweg aus ihrer wirtschaftlichen Misere suchen. Die Übergänge zwischen den einzelnen Typen der Ausbeutung sind besonders in der Gegenwart oft recht fließend. So kann z . B . die vasallitär/vorkapitalistische Abhängigkeit durch frühkapitalistische Anleihen verstärkt werden. 148 Allgemein kann man einschätzen, daß wahrscheinlich die genannte Form der vasallitären Ausbeutung am ehesten verschwinden wird. Der große und sehr große Viehbesitz wird sich immer mehr in den Händen kapitalistischer Unternehmer konzentrieren, wenn er nicht im Rahmen einer nichtkapitalistischen Entwicklung in das Eigentum staatlicher Gesellschaften und Genossenschaften überführt wird. 4.3. Traditionelle Kooperationsbeziehungen Während große und sehr große Viehbesitzer oftmals ihre Herden teilen müssen, um einen größtmöglichen Nutzen aus den Weidebedingungen zu ziehen, 143
144
Diese solidarische Leihgabe von Vieh findet m a n noch h e u t e in einigen S t ä m m e n (z. B. bei den Reguibat L'Gouacem). J e d o c h handelt es sich hierbei in der H a u p t sache u m Gruppen, in denen die Besitzstruktur noch relativ ausgeglichen u n d die Produktionsbedingungen verhältnismäßig günstig sind, d. h. wo der Mangel an Produktionsmitteln nur vorübergehenden, meist k a t a s t r o p h e n b e d i n g t e n Char a k t e r t r ä g t . Vgl. d a z u : Bisson 1961, S. 217. V g l . CAPOT-REY 1964, S. 4 7 8 ( S a h a r a ) .
145
V g l . BISSON 1961, S. 219.
146 EVANS-PRITCHARD (1949, S. 53) f a n d in der Cyrenaika noch S t ä m m e vor, die sich aus dieser t r i b u t ä r e n Abhängigkeit noch nicht befreit h a t t e n : " S o m e small broken-up f r a g m e n t s of this category on t h e plateau, such as t h e A w a m m a , Alauna, H a s a n n a , a n d some of t h e Qat a n d Sa'it, even t o - d a y have a v e r y inferior social position a n d are forced t o m a k e p a y m e n t s t o . . . t h e free tribes 147 among whom t h e y live." Vgl. CUNNISON 1966, S. 80ff. » 48 Z. B . v o r d e r S c h u r ; s. SIVIGNON 1963, S. 214.
120
WOLF-DIETER
SEIWEBT
schließt sich der kleine und mittlere Viehbesitz meist zu mehr oder weniger großen Kooperationseinheiten zusammen, um eine optimale Bewirtschaftungsgröße der Herden zu erreichen. 149 So wie diese optimale Herdengröße ist auch die Anzahl der kooperierenden Viehzüchterfamilien weitgehend von der Größe des Viehbesitzes der einzelnen Familien, von der Art der Herdentiere, von den Wasser- und Weidebedingungen, von dem Auftreten von Insekten usw. abhängig. Sie kann sich dementsprechend im Laufe eines Jahres mehrfach verändern. So zerfallen z. B. die Kooperationseinheiten in Arabien in ihre Bestandteile, „sobald im Winter gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Stammesbezirkes gute Weide gemeldet wird." 1 5 0 Bei den Tuareg des Ahaggar löst sich in der Trockenzeit — bei sich verschlechternden Weidebedingungen — das 10 bis 20 Zelte umfassende Großlager in mehrere Einzellager von 2 bis 7 Zelten auf. 151 Da die optimale Bewirtschaftungseinheit bei Klein- und Großvieh unterschiedlich ist, sind Familien mit Kamel- und Schaf- bzw. Ziegenbesitz gewöhnlich an unterschiedlich großen Wirtschaftsgemeinschaften beteiligt. So stellt das oben genannte Großlager der Kel Ahaggar eine Kooperationseinheit in Verbindung mit der Kamelzucht dar. 152 Die Einzellager entsprechen demgegenüber Wirtschaftseinheiten bei der Ziegenzucht, deren Mitglieder auch bei anderen Arbeiten weitgehend zusammenwirken. Selbst wenn sie sich bei guter Weide zum Großlager vereinen, arbeiten die Einzellager in der Ziegenzucht weiterhin getrennt. 153 Sollen die Kamele auf entferntere Weiden getrieben werden, stellen die kooperierenden Kamel- und Kleinviehzüchter oft regelrechte Hirtenbrigaden zusammen — meist unverheiratete junge Männer —, die die Tiere der Kooperationsgemeinschaft begleiten. Die übrigen Mitglieder der Stammesgruppe bleiben bei den Kleinviehherden. 154 Das gleiche ist oft der Fall, wenn Nomaden nebenbei einen mehr oder weniger umfangreichen Anbau betreiben. 155 Neben dem Hüten bietet sich z. B. auch bei der Weidesuche eine kooperative Zusammenarbeit an. Auch hier werden gemeinsame Erkundungstrupps zusammengestellt. 156 Die kollektive Zusammenarbeit beschränkt sich aber nicht nur auf den Sektor der Viehzucht. So berichtet D E Q T J I N aus Saudi-Arabien, daß die Beduinen 149
Dieses bezieht sich hauptsächlich auf kleinviehzüchtende N o m a d e n . Bei den Kamel- u n d Rinderzüchtern scheint eine Kooperation selbst zwischen großen Viehzüchtern noch sinnvoll zu sein, da eine optimale Herdengröße hier gewöhnlich weit über 50 Tiere liegt.
150
D E QUIN o . J . , S. 4 7 .
151 N I C O L A I S E N 1 9 6 3 , S . 1 4 6 . 152
Ebenda. !5'« Vgl. ebenda,
«5 Vgl.
BORN
153
Ebenda.
S. 1 5 0 ; B O E N 1965, 1965,
S. 2 1 7 f ;
S.
207.
EVANS-PRITCHARD
S. 4 7 7 ; DAVIES 1969, S. 198. 156 D A V I E S 1 9 6 9 , S . 1 9 0 ; B O R N 1 9 6 5 , S . 2 0 0 .
1949,
S. 3 5 ;
CAPOT-REY
1964,
Ökonomische u n d soziale Bedingungen f ü r H i r t e n n o m a d e n
121
bei der Bestäubung und Ernte der ihnen gehörenden Datteln in den Oasen Yabrin (al-Hasa) und Haibar (al-Higäz) „alle anfallenden Arbeiten gemeinsam leisten". 158 Die Aufteilung der Ernte erfolgt dabei nach der Anzahl der erwachsenen Männer, wobei die „Familiengröße . . . nach Gutdünken des Shaikhs berücksichtigt" wird.158 Bei den mauretanischen Stämmen z. B. arbeiten die Männer auch bei der Schafschur und bei der Feldarbeit und die Frauen beim Weben der Zeltbahnen zusammen. Der Stamm bzw. die betreffende Untergruppe lagert auch das Getreide gemeinsam in einem unterirdischen Silo.159 Bei den nordafrikanisch-nahöstlichen Hirtennomaden ist die Kooperationsgemeinschaft auf verwandtschaftlicher Basis organisiert. Die arbeitsorganisatorische Leitung hat in der Regel der Wohlhabendste und politisch Mächtigste der Gruppe (Seh). Er stützt sich dabei weitgehend auf die Versammlung der Familienoberhäupter (gema'a). Die Arbeitsweise einer solchen Kooperationseinheit beschreibt C U N N I S O N in Verbindung mit einer Gruppe der rinderzüchtenden Humr-Baggara:160 Zur Organisation des Hütens wird ein fester „Dienstplan" aufgestellt. Jeder Viehbesitzer — manchmal auch zwei oder drei zusammen — stellt abwechselnd einen Jugendlichen (manchmal auch ein Mädchen oder einen Erwachsenen), der die Herde auf die Weide begleitet. Der Differenzierung in Viehbesitz wird dabei insofern Rechnung getragen, als vieharme und viehlose Haushalte gewöhnlich keinen Hirten zu stellen brauchen. Gleichzeitig aber verfährt man auch so, " . . . if the owner of a large herd is temporarily without herders this is no matter: the duties are still carried out." 161 Im Anschluß daran geht C U N N I S O N kurz auf die innerhalb vieler Kooperationsgemeinschaften bestehenden vasallitären Abhängigkeitsverhältnisse ein, wobei er abschließend feststellen muß: "Thus it often happens that grazing duties are undertaken by youths of one household on behalf of the cattle of all camp members." 162 Aus den Ausführungen C U N N I S O N S geht hervor, wie stark der Charakter einer solchen Kooperationseinheit vom Grad ihrer inneren sozialen Differenzierung abhängig ist, d. h. so wie die kapitalistische Genossenschaft kann auch die Wirtschaftsgemeinschaft der Wanderhirten leicht als Ausbeutungsinstrument der ökonomisch und damit sozial Stärkeren fungieren. In einem solchen Falle nimmt die Entscheidungsgewalt des Seh als arbeitsorganisatorischem Leiter immer absolutere Formen an, die Versammlung der Familienoberhäupter wird immer mehr zum „Scheinkabinett". Eine derartige Entwicklung scheint besonders bei den Rindernomaden gegeben zu sein, wo der Wert der Tiere in Verbindung mit 157
158 159
D E Q U I N , O. J . , S . 7 0 .
Ebenda. BRIGGS 1958,
S. 126.
Iß« C U N N I S O N 1 9 6 6 , S . 6 7 .
«s* E b e n d a . 162
CUNNISON 1 9 6 6 , S. 67.
122
Wolf-Dieter Seiwert
der optimalen Herdengröße einen relativ hohen Differenzierungsgrad innerhalb der Wirtschaftsgemeinschaft gestattet. Demgegenüber scheint sich bei den Kleinvieh züchtenden Nomaden — wo sich besonders der kleine u n d mittlere Viehbesitz zusammenschließt — der ursprüngliche demokratisch/kooperative Charakter noch am ehesten erhalten zu haben. 1 6 3 Auf jeden Fall sollte eine Bewertung des Charakters einer kooperierenden Einheit immer a m konkreten, genau untersuchten Beispiel erfolgen. I n einigen Gebieten Nordafrikas, wo die Futtergrundlage zwar verhältnismäßig beschränkt, aber doch relativ stabil ist, d. h. wo neben der politischen a u c h eine ausreichend große ökonomische Sicherheit besteht, wird das verwandtschaftliche Prinzip bei der Zusammenarbeit in zunehmendem Maße von rein ökonomischen Beweggründen überdeckt. I m m e r mehr scheint eine spontane und zeitweilige Kooperation entsprechend den Weidebedingungen die relativ stabile, von Stammesbeziehungen determinierte Wirtschaftsgemeinschaft zu verdrängen. 1 6 4 Bestehen bleibt das Wissen des Wanderviehzüchters um die Vorteile u n d die Notwendigkeit der Kooperation und die Bereitschaft zur kollektiven Verantwortlichkeit und Solidarität. 1 6 5 Die traditionellen F o r m e n der Zusammenarbeit können nicht ohne weiteres in ein modernes, nichtkapitalistisches Genossenschaftssystem übernommen werden. Trotzdem bieten sie in der genannten Hinsicht viele gute Ansatzpunkte f ü r eine derartige Organisation. Diese jedoch können n u r ausgenutzt werden, wenn es gelingt, die zunehmende soziale Differenzierung zu stoppen u n d die eine echte Kooperation hemmenden und störenden Ausbeutungsverhältnisse zu beseitigen.
5. Möglichkeiten für die Organisation der Hirtennomaden im Rahmen einer nichtkapitalistischen Entwicklung Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich als H a u p t a u f g a b e n im Hinblick auf eine optimale Integration der Hirtennomaden: — Beseitigung aller kapitalistischen u n d vasallitär/vorkapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse in der nomadischen Viehzucht; — umfassende Verwendung des von den Wanderhirten erzeugten Mehrproduktes zur Verbesserung der Produktionsbedingungen in der Wanderweidewirtschaft ; — konzentrierte, komplexe u n d planmäßige Investition dieses Mehrprodukts. y o r allem in Gebieten, wo die optimale Herdengröße nicht über 200 bis 300 Tiere liegt. IM Vgl. Bisson 1961, S. 217. 165 Al-Wahab (1964, S. 25f.) bezeichnet die kollektive Verantwortlichkeit als die Grundlage des traditionellen Stammesrechts der Nomaden.
Ökonomische u n d soziale Bedingungen f ü r H i r t e n n o m a d e n
123
Die Möglichkeit zur Erfüllung dieser Aufgaben eröffnet sich erst beim Einschlagen eines nichtkapitalistischen Entwicklungsweges. Erst dann können über den staatlichen und genossenschaftlichen Sektor die nötigen Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Gute Anfänge in Verbindung mit der Organisation von Viehzüchtergenossenschaften ehemaliger Nomaden wurden in Algerien gemacht. 166 Hier begann der CARASE (Centre Algérien de Recherches Agronomiques Sociologique et Economique) im Sommer 1966 mit der Inangriffnahme eines Projektes, das die Gründung von 15 Mustergenossenschaften auf dem Gelände der ehemaligen kolonial/französischen SAR (Secteurs d'Amélioration Rurale) zum Ziel hatte. Bei diesem Projekt sollten mehrere besitzlose Hirtenfamilien, die sich einer genossenschaftlichen Organisation gegenüber aufgeschlossen zeigten, zur ausschließlichen Nutzung eines 10000 ha großen Steppenweidegebietes berechtigt werden. Mit diesem Nutzrecht war die Verantwortung der neugegründeten Genossenschaft für die Unterhaltung, Sauberkeit und Bepflanzung der in ihrem Gebiet befindlichen Wasserstellen verbunden. Jeder Genossenschaft wollte der CARASE für den Ankauf von Vieh einen Anfangskredit von 440000 Dinar — im Verlauf von zehn Jahren rückzahlbar — zur Verfügung stellen. Die gekauften Herden bleiben das Eigentum der Genossenschaft, wobei das einzelne Mitglied keinerlei Gewinnanspruch auf den Zuwachs hat. I n einer Genossenschaft sollten bei dem Projekt des CARASE ca. 25 Familien zusammengefaßt werden. 167 Bei einer eigenen Futterproduktion der Genossenschaft werden die darin beschäftigten Arbeiter als vollberechtigte Mitglieder aufgenommen. Der Staat behält sich bestimmte Bedingungen hinsichtlich der Bewirtschaftung des Weidelandes der Genossenschaft vor. E r legt die optimale Besatzstärke fest und erteilt zum Zwecke der Aufforstung und Weide«rneuerung Restriktionen für bestimmte Teile des Weidegebietes. Der CARASE unterstützt die Genossenschaft sowohl ökonomisch — durch die Bereitstellung von Zuchtvieh, den Bau von Ställen und die Einrichtung von Veterinärstationen — als auch sozial — durch den Bau von Schulen und Krankenstationen. Die staatliche Betreuung des Projektes sollten die CCRA (Centres Coopératives de la Reforme Agraire) übernehmen. Als Direktor der Genossenschaft war ein staatlicher „Moniteur" vorgesehen, während der Präsident (Vorsitzende) von den Mitgliedern gewählt wird. Über den Erfolg dieses Projektes konnte leider nichts in Erfahrung gebracht werden. Da die Organisation von Genossenschaften nicht nur Viehbesitzlose, sondern vor allem auch mittlere und kleinere Viehbesitzer umfassen soll, kommt es unbedingt darauf an, dem großen und sehr großen Herdenbesitz ein Eindringen in 166
Zu allen Angaben über die algerischen Viehzüchtergenossenschaften s. 1967. •167 20 davon waren als Hirten, 5 als Geländewächter vorgesehen.
PLUM,
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WOLF-DIETER
SEIWERT
die Genossenschaften durch die Festlegung einer Maximalgrenze f ü r einbringbaren und individuellen Viehbesitz zu verwehren. Nur so kann die Kooperative ihren Zweck — eine maximale Produktivitätssteigerung unter gleichzeitiger Ausschaltung aller Formen der Ausbeutung — erreichen. Eine weitere Möglichkeit für die wirtschaftliche Integration der Hirtennomaden bietet der staatliche Sektor. Anknüpfend an die oben genannten Formen der Lohnarbeit überträgt die staatliche Gesellschaft dem Nomaden eine bestimmte Herde für die Zeit der Niederschlagsperiode. Bei der Entlohnung berücksichtigt die Gesellschaft dabei in steigendem Maße die Bedürfnisse der Hirten. Die Auszahlung erfolgt dabei in Form von Geld, tierischen Produkten und Futtermitteln. Grundsätzlich erfolgt die Entlohnung leistungsbezogen. Mit dem Futtermittelanteil verbindet die Gesellschaft das Streben des ehemals nomadischen Wanderhirten nach einer eigenen Herde — indem sie ihm z. T. die dazu benötigte Futterbasis für die Trockenzeit verschafft — mit ihrer Forderung nach einer qualitativ und quantitativ hohen Produktionsleistung. Gleichzeitig versucht sie, über ein entsprechendes Aufkauf- und Absatzsystem die Wanderhirten stärker an einer Erhöhung der Marktproduktion ihrer Privatherde zu interessieren. Auch hier können Futtermittelanteile recht stimulierend wirken. Das von den Wanderhirten geschaffene und in den Händen des Staates konzentrierte Mehrprodukt sollte in der Gegenwart und nahen Zukunft in erster Linie der Verbesserung der tierischen Produktion in den Trockengebieten dienen. So errichtet oder übernimmt die Gesellschaft gleichzeitig staatliche Viehfarmen, die vor allem folgende Aufgaben zu erfüllen haben: — in der Trockenzeit Übernahme der Reproduktionsherde von den transhumanten Hirten; — Auswahl, Zusammenstellung und Haltung der Leistungsherde; — Schaffung von Futterreserven für die Herden der Gesellschaft und die Privattiere der Hirten. Eine ähnliche Form der Integration lernte der Verfasser im Sommer 1970 bei der noch vor wenigen Jahren nomadisierenden Volksgruppe der Karakatschani in Südwestbulgarien kennen. Inwieweit derartige Gesellschaften auch schon in den nichtkapitalistisch orientierten Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens bestehen, konnte der verfügbaren Literatur nicht entnommen werden. Die Wirkungsweise der einzelnen Faktoren bei einer nichtkapitalistischen Entwicklung kann bedeutend erhöht werden, wenn man das Weideland nach und nach über entsprechende territoriale Restriktionen den großen und sehr großen Viehbesitzern entzieht und seine Nutzung in zunehmendem Maße genossenschaftlich und staatlich organisierten Wanderhirten vorbehält. Gute Vorbedingungen für eine genossenschaftliche Integration der Wanderweidewirtschaft bestehen neben dem staatlichen Eigentum und der kollektiven Nutznießung von Wasser und Weide vor allem in den traditionellen Formen echt-kooperativer Zusammenarbeit zwischen den Nomaden, die besonders bei der Schicht der mittleren Viehbesitzer noch relativ ausgeprägt sein dürfte.
Ökonomische u n d soziale Bedingungen für H i r t e n n o m a d e n
125
Demgegenüber neigt der kleine Viehbesitzer — besonders wenn er bisher seine Arbeitskraft an seßhafte Herdeneigentümer verkauft hat — schon mehr zum Individualismus. Die Potenzen und Interessen der Nomaden mit mittlerem Herdenbesitz können daher wahrscheinlich am besten über den genossenschaftlichen Sektor ausgenutzt werden, während der Großteil der vieharmen und viehlosen Lohnhirten auch mit Hilfe staatlicher Gesellschaften in den gesamtvolkswirtschaftlichen Rahmen integriert werden kann. Der Vorteil der genossenschaftlichen Organisation dürfte dabei u. a. darin liegen, daß sie das Zusammengehörigkeits- und Solidaritätsgefühl der Nomaden besser zu einer erfolgversprechenden Wirkung bringt als eine staatliche Gesellschaft. Dagegen kann — besonders bei einer stärkeren staatlichen Einflußnahme — bei den genossenschaftlich integrierten Nomaden zumindest am Anfang leicht ein Gefühl des Unterdrücktseins aufkommen, was sich nicht gerade günstig auf die Entwicklung und die Leistungsstärke der Kooperative auswirken dürfte. Eine derartige Gefahr besteht bei den staatlichen Gesellschaften weniger. Der Hirte behält hier weitgehend das Gefühl privater Unabhängigkeit. Dabei sieht er oft unmittelbarer den Erfolg seiner Arbeit und die Vorteile einer Leistungssteigerung als der genossenschaftlich organisierte Viehzüchter. Trotzdem kann keine generelle Entscheidung zwischen den beiden Formen hinsichtlich ihres Nutzeffektes und ihrer Anwendung getroffen werden, da der Erfolg sowohl einer genossenschaftlichen als auch einer staatlichen Integration immer weitgehend von den konkreten sozial-ökonomischen Bedingungen abhängig ist. 6. Zusammenfassung
und Ausblick
Die Ernährungssituation in den arabischen Ländern und der extrem niedrige Lebensstandard der Masse der Hirtennomaden fordern eine umfassende Entwicklung der tierischen Produktion in den Trockengebieten. Zu diesem Zweck muß die traditionelle Wanderweidewirtschaft eng mit Formen der Intensivhaltung verbunden werden. EinKomplex sozialer und ökonomischer Maßnahmen führt zu einer umfassenden Entwicklung der Produktivkräfte und damit zu einer ständigen Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Die Folge ist ein zunehmender Übergang der Familien der Hirtennomaden zur Seßhaftigkeit. Die Wanderweidewirtschaft wird immer mehr zu einem integrierten Bestandteil eines Viehzuchtsystems, daß auf optimale Art und Weise den spezifischen Verhältnissen in den arabischen Trockengebieten Rechnung trägt. Dabei werden die Herden nur noch von einzelnen, transhumanten Hirtenbrigaden begleitet. Grundvoraussetzung einer entsprechenden, optimalen Entwicklung der Produktivkräfte ist die Beseitigung der starken besitzmäßigen Differenzierung und der Ausbeutung der Vieharmen und Viehlosen durch die großen und sehr großen Herdenbesitzer.
126
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Die besten Möglichkeiten bieten sich dafür im Rahmen einer nichtkapitalistischen Entwicklung. Als Hauptschritte bei der Integration der Hirtennomaden stehen hierbei folgende Maßnahmen im Vordergrund : — schrittweise Überführung des Weidelandes in den Besitz genossenschaftlich oder staatlich organisierter Wanderhirten ; — umfassende Förderung und Unterstützung einer kooperativen Organisation (Steuerpräferenzen, Kredite, Absatzerleichterungen, Berater usw.) ; — Gründung staatlicher Gesellschaften zur Organisation und Verbesserung der tierischen Produktion in den Trockengebieten ; — Herstellung optimaler Wechselbeziehungen zu Industrie und Außenhandel ; — zur Stimulierung der Seßhaftwerdung Bau von Wohnungen usw. ; — Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht bei den Kindern der Hirtennomaden ; — Durchführung von Erwachsenenkursen zur Beseitigung des Analphabetentums. Wie in den übrigen Bereichen der Volkswirtschaft dürfte sich auch in der tierischen Produktion der Trockengebiete eine interregionale Zusammenarbeit zwischen den einzelnen arabischen Staaten sehr vorteilhaft auswirken. Abgesehen von den bei der Produktionsmittelerzeugung und bei der Weiterverarbeitung bzw. Veredlung der tierischen Produkte möglichen arbeitsteiligen Kooperationsbeziehungen können auch über den Austausch von Experten und Erfahrungen der Entwicklung der Wanderweidewirtschaft wertvolle Impulse gegeben werden. Dieser Effekt verstärkt sich noch, bezieht man auch die Erfahrungen der sozialistischen Länder (MVR, SU, Bulgarien) bei der Lösung ähnlicher Probleme mit ein. Die Integration der Hirtennomaden ist nicht unproblematisch. Sie bedarf zur Festlegung der wirkungsvollsten Mittel und Methoden konkreter und detaillierter Untersuchungen. Erst dann ist es möglich, alle eine Entwicklung der Wanderweidewirtschaft hemmenden Faktoren auszuschalten und die vollnomadische, halbnomadische und transhumante Bevölkerung zu einem vollintegrierten Bestandteil der arabischen Nation zu machen.
127
Ökonomisohe u n d soziale Bedingungen f ü r H i r t e n n o m a d e n
Anhang Tabelle I K u l t u r l a n d , „ungenutzte" Fläche u n d Zahl der H i r t e n n o m a d e n u n d T r a n s h u m a n t e s in den arabischen Staaten* Land
Bahrain Irak Jemen Jordanien Kuweit Libanon Maskat u n d Oman Qatar Saudiarabien Südjemen Syrien Vertragsoman Algerien Libyen Mauretanien Marokko Sudan Tunesien Ägypten SpanischNordafrika Spanisch Sahara Gesamt
Gesamt- 1 fläche in 000 ha 60 44874 19500 9774 1600 1040 21238 2201 225330 29029'" 18518 8 360 238174 175954 103070 44505 250581 16415 100000
K L 2 U F - Gesamt- J H i r t e n n o m a d e n u n d v. H . bevölk. Transhumantes (1969) Min. Max. Vollnom. in 000 - in 000 17 12 0 30
69 85 99 60
0 1 33
61 58 35
3 1 0,1 18 2 26 3
81 93 48 53 51 34 97
3
207 9350 5 000 2160 570 2 645 565 100 6 990 5 1220 5 866 135 13349 1869 1140 15050 15186 5027 32 501
...
1336826
500 1 7 170«
56 9
4500 1 0 66 1 3 400 7 500 13 16 140 18 7 400 « 200 500 22 150 2 1 2 000 1 9 100 2 1 531 2 3 200 2 1 21 100 " 30 300 23
164
65
119094
250 212 1 5 60 1 8 9420.
101 is —
3026 4
—
400 7
3 500 1 1
26 600
K L = Anteil des K u l t u r l a n d e s
—
—
300 6
3099
• • •
6150
U F = Anteil der „ u n g e n u t z t e n " Fläche
* Die meisten Angaben über die Zahl der nomadischen Bevölkerung sind Schätzungen. A u s n a h m e n bilden lediglich die Zahlen f ü r die algerischen Sahara-Dép a r t e m e n t s Saoura u n d Oasis 18 , die Angaben der I L O 1 5 u n d die Anzahl der Volln o m a d e n in J o r d a n i e n u n d Libyen, die auf Zählungen beruhen. Die z. T. recht s t a r k e n Variationen zwischen den Minimal- u n d Maximalangaben sind besonders auf folgende Ursachen z u r ü c k z u f ü h r e n : — allgemeine Schwierigkeiten bei Schätzungen; — Weglassen bzw. Einbeziehung von H a l b n o m a d e n u n d T r a n s h u m a n t e s (z. B_ bei Marokko);
128
WOLF-DIETER
SEIWERT
— unterschiedliche Erfassung von Stämmen, deren Weideterritorium mehreren S t a a t e n zugeordnet ist (z. B. auf der Arabischen Halbinsel u n d in der westlichen Sahara). 1 Production Yearbook 1967, S. 5ff. Berechnet n a c h : ebenda 3 Monthly Bulletin 1970/9, S. 1 - 4 . 4 RÀDO, Sândor, W e l t h a n d b u c h , Budapest 1962, S. 384. 5 Demographic Yearbook 1967, New Y o r k : U N 1968, S. 109. 2
6
RADO, a . a. O., S. 560.
7
The Middle E a s t a n d N o r t h Africa 1967-68, London 1967, S. 13.
8
RÀDO, a . a . O., S. 656.
9
Sovremennaja J o r d a n i j a , Spravocnik, Moskva 1964, S. 13, Zahl v o m November 1961. 10 RÀDO, a. a. O., S. 1054; Die Zahl ist f ü r Saudiarabien sicherlich zu hoch, k a n n jedoch a n n ä h e r n d die nomadische u n d t r a n s h u m a n t e Bevölkerung der gesamten Arabischen Halbinsel treffen. 11 The Middle E a s t a n d N o r t h Africa 1966-67, London 1966, S. 550. 12 A w AD, Mohamed, Le nomadisme dans les p a y s arabes du Moyen-Orient, I n : Les problèmes de la zone aride, Actes du colloque de Paris, Recherches sur la zone aride - X V I I I , P a r i s : U N E S C O 1962, S. 386. 13 R A D O , a . a . O . , S . 3 8 6 .
14 E b e n d a , S. 1248. is Yearbook of labour statistics, Vol. 28 (1968), Genf: I L O 1969, S. 257; Zahlen v o m 20. September 1960. F ü r Syrien lauten die genauen Angaben: 211670 (davon 109257 männliche u n d 102413 weibliche Nomaden). E t u d e analytique et statistique sur la Croissance Démographique en Syrie, D a m a s : OFA 1969, S. 39. IE N a c h : „Neue Zürcher Zeitung", Zürich: 22. F e b r u a r 1968. I' RADO, a . a . O., S. 651. 15
BISSON, J e a n , Les nomades des d é p a r t e m e n t s sahariens en 1959. I n : T r a v a u x de l ' I n s t i t u t de Recherches Sahariennes (Université d'Alger), tome X X I , 1er semestre, Alger 1962, S. 206; n u r die Dep. Saoura u n d Oasis. i" ZDANKO, T. A., Mezdunarodnoje znaöenie istoriceskogo perechoda koöevnikov n a osedlost' v srednej Azii i Kazachstane. I n : Sovetskaja e t n o g r a f i a , Moskva 1967, H e f t 4, S. 8. 20 RADO, a. a. O., S. 778; Zahl ist wahrscheinlich zu niedrig — 1951 waren es noch 215850 Vollnomaden. HERZOG, Rolf, Seßhaftwerden von Nomaden, Forschungsbericht des Landes Nordrhein-Westfalen Nr. 1238, Köln u n d Opladen 1963, S. 76. 2 1 CAPOT-REY, R . , E t a t actuell du nomadisme au Sahara. I n : Les problèmes de la zone aride. Actes du colloque de P a r i s ; Recherches sur la zone aride — X V I I I , P a r i s : U N E S C O 1962, S. 330 22 CAPOT-REY, R., Problems of N o m a d i s m in t h e Sahara. I n : I n t e r n a t i o n a l L a b o u r Review, Geneva: I L O , Vol. XC (1964) 5, S. 475. 23
HERZOG, a . a . O., S. 76.
24
RADO, a . a . O., S. 1287.
2
5 E b e n d a , S. 1355.
26 C A P O T - R E Y , R . , E t a t . . . , a . a . O . . S . 3 3 0 .
Ökonomische u n d soziale Bedingungen f ü r H i r t e n n o m a d e n Tabelle I I Die nomadische Bevölkerung im I r a k (1965) Liwa Amara Bagdad Basra Diwaniya Diyala Dulaim Erbil Hilla Karbala Kirkuk Kut Mosul Muntafiq Sulaimaniya Nor dl. W ü s t e Südl. W ü s t e W ü s t e Gezira
Anzahl der Nomadenstämme
nomadische Bevölkerung (1957)
nomadische Bevölkerung (1965)
22597 103 43 502 15052
32500 107 45242 15655
13 1 15 16 —
29 15 12 8 21 13 43 32 21
Gesamt N a c h : AKAIM 1966, S. 32 u n d 5 8
9 Jahrbuch des Museums für Völkerkunde, Bd. X X I X
—
|
}
30767 15090 3280 16550 6492 16393 41349 18454 8534
1
65 895
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