Vorträge aus dem Warburg-Haus: Band 9 9783050085111

mit Beiträgen von: Andreas Hauser, Monika Wagner, Marina Warner und Frank Fehrenbach

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German Pages 178 [184] Year 2014

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Vorträge aus dem Warburg-Haus: Band 9
 9783050085111

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VORTRÄGE AUS DEM WARBURG-HAUS BAND 9

VORTRÄGE AUS DEM WARBURG-HAUS BAND 9 HERAUSGEGEBEN VON

UWE FLECKNER WOLFGANG KEMP GERT MATTENKLOTT MONIKA WAGNER MARTIN WARNKE

ANDREAS HAUSER Andrea Mantegnas camera pietà im Kastell von Mantua W O L F G A N G SCHIVELBUSCH Die Verdauung der Natur M A R I N A WARNER „My Airy Spirit" M O N I K A WAGNER Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir Ein Bildtitel Gauguins im zeitgenössischen Kontext FRANK F E H R E N B A C H Compositio corporum. Renaissance der Bio Art

Akademie Verlag

Redaktion: Catharina Berents

ISBN-13: 978-3-05-004178-0 ISBN-10: 3-05-004178-1 © Akademie Verlag G m b H , Berlin 2005 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Werksatz Schmidt & Schulz G m b H , Gräfenhainichen Druck: MB Medienhaus, Berlin Bindung: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

INHALTSVERZEICHNIS

ANDREAS HAUSER Andrea Mantegnas camera pietà im Kastell von Mantua Ein Kraftwerk für intelligentes Sehen 1 W O L F G A N G SCHIVELBUSCH Die Verdauung der Natur 39 M A R I N A WARNER „My Airy Spirit" 55 MONIKA WAGNER Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir Ein Bildtitel Gauguins im zeitgenössischen Kontext 105 FRANK F E H R E N B A C H Compositio corporum. Renaissance der Bio Art

Abbildungsnachweis 177

Andrea Mantegnas camera pida im Kastell von Mantua Ein Kraftwerk für intelligentes Sehen ANDREAS HAUSER

Wer sehen will, welch gewaltige architektonische Anlagen sich Herrscherdynastien in der frühen Neuzeit zusammengebaut haben, fahre nach dem oberitalienischen Mantua 1 : der Schloßbezirk steht dem Serail der osmani-

* Dem Text liegt das Manuskript eines Vortrages zugrunde, den ich am 29. Oktober 2004 anläßlich des 75. Todestages von Aby Warburg, in dem von einem ovalen Oberlicht erhellten Bibliotheks- und Vortragssaal des Warburg-Hauses in Hamburg halten durfte. Uber den Vortragstext hinausgehende Ausführungen und Thesenbegründungen findet man in den Anmerkungen. Für die Empfehlung als Referent danke ich Wolfgang Kemp, für kritische Lektüre und Anregungen Caspar Hirschi und Elisabeth Ziemer. 1 Als Auftakt zu den Fußnoten eine alphabetische Liste der mehrfach zitierten Literatur: D. Arasse: Il programma politico della Camera degli Sposi, ovvero il segreto dell'immortalità, in: Quaderni di Palazzo Tè, 4, Heft 6, 1987, S. 45-64; C. Cieri Via: Il luogo della Corte: la 'Camera pietà' di Andrea Mantegna nel Palazzo Ducale di Mantova, in: Quaderni di Palazzo Tè, 4, Heft 6, 1987, S. 23-44; R. Dellermann: Die 'historie' des Andrea Mantegna in der Camera pietà des Castello in Mantua, Magisterarbeit Technische Universität Berlin 1985; A. Hauser: Andrea Mantegnas 'Parnass'. Ein Programmbild orphischen Künstlertums, in: Pantheon. Internationale Jahreszeitschrift für Kunst, 58, 2000, S. 23-43; A. Hauser: Andrea Mantegnas 'Wolkenreiter'. Manifestation von kunstloser Natur oder Ursprung von vexierbildhafter Kunst?, in: Die Unvermeidlichkeit der Bilder, hrsg. von G. von Graevenitz, S. Rieger und F. Thürlemann, Tübingen 2001, S. 147-172; P. Kristeller: Andrea Mantegna, Berlin und Leipzig 1902; R. Lightbown: Mantegna. With a complete catalogue of the paintings, drawings and prints, Oxford 1986, S. 98-117, 415^419; A. de Nicolò Salmazo: Andrea Man-

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Andreas

sehen Sultane in Istanbul an labyrinthischer Weitläufigkeit nicht

Hauser

nach

( A b b . I ) . 2 Keimzelle des G a n z e n ist ein viertürmiges Kastell, ein M u s t e r exemplar seines Genres ( A b b . 2, 3 ) . 3 E i n Saal im N o r d o s t t u r m des martialischen Baus, n u r acht auf acht M e t e r messend, mit einer Feuerstelle ausgerüstet und v o n zwei F e n s t e r n s c h w a c h beleuchtet, ist die H a u p t a t t r a k tion des ganzen K o m p l e x e s , m e h r n o c h : einer der beliebtesten Wallfahrtso r t e des K u n s t t o u r i s m u s überhaupt. S c h o n in der Renaissance sprach m a n b e w u n d e r n d v o n der „più bella c a m e r a del m o n d o " . 4 Diesen R u h m verdankt der R a u m - nachmals „ c a m e r a degli sposi" geheißen 5 - seiner A u s stattung: zwischen 1 4 6 4 u n d 1 4 7 4 w u r d e er v o n A n d r e a M a n t e g n a vollständig mit illusionistischen F r e s k e n ausgemalt. 6 W i e d u r c h Magie entstand

2 3 4

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tegna, Köln 2004, S. 161-183; S. Roettgen: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien. Bd. II: Die Blütezeit 1470-1S10, München 1997; R. Signorini: Opus hoc tenue. La camera dipinta di Andrea Mantegna. Lettura storica, iconografica, iconologica, Parma 1985; R. Starn und L. Partridge: Arts of Power. Three Halls of State in Italy, 1300-1600, Berkeley, Los Angeles, Oxford 1992, S. 83-147. H. Schomann: Lombardei. Kunstdenkmäler und Museen (Reclams Kunstführer, Italien 1,1), Stuttgart 1981, S. 379. Castello San Giorgio, erb. 1396-1406 von Battolino da Novara für Capitano Francesco Gonzaga. 1475 berichtete Zaccaria Saggi seinem Patron, Lodovico II., am Mailänder Hof hielten alle, die sie gesehen hätten, die „camera" für die schönste ihrer Art in der Welt, und Galeazzo Maria Sforza sei ungehalten, darin nicht porträtiert worden zu sein. Signorini [wie Anm. 1], S. 305 f., Dokument 23. Diese populäre Bezeichnung erscheint erstmals in Carlo Ridolfis 1648 in Venedig gedruckten Maraviglie dell'Arte. In zeitgenössischen Quellen wird der Raum als „Camera picta" oder „Camera depineta" bezeichnet. Zur Funktion des Raums, die bisherige Forschung zusammenfassend: Roettgen [wie Anm. 1], S. 17. Im Zug von Umgestaltungen des Schlosses zu einer Residenz durch Luca Fancelli war dieser Raum kurz vor der Ausmalung umgebaut worden, vielleicht unter Beizug Mantegnas. Die Bemalung begann mit dem Gewölbe; spätestens 1470 war die Kaminwand (Hofszene) vollendet; die anderen drei Wände scheinen binnen verhältnismäßig kurzer Zeit im Jahr 1474 (Datum auf der Dedikationstafel) resp. kurz zuvor entstanden zu sein. Die beste Dokumentation des heutigen Zustandes und ausführliche Informationen zum Technisch-Materiellen sind zu finden im Prachtband: Mantegna. La Camera degli Sposi, hrsg. von M. Cordaro, Mailand 1992.

Andrea Mantegnas

camera picta im Kastell von

Mantua

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aus einer düsteren „Höhle" ein heiterer Marmorpavillon mit luftigen Arkadenstellungen und einem golden glänzenden Gewölbe (Abb. 4). Die Arkadenöffnungen sind mit fiktiven Vorhängen versehen. Auf der Süd- und Ostseite, in deren Ecke ein Repräsentations- und Paradebett stand, sind diese geschlossen, auf den zwei anderen Seiten teilweise oder ganz geöffnet. Hier, auf der West- und Nordseite, sind Angehörige der Familie und des Hofstaates Gonzaga zu Gruppenporträts versammelt, die szenisch-erzählerische Elemente aufweisen. 7 Man findet auch ein Pferd und diverse Hunde, sowie eine Zwergin: als einzige Figur der Hauptbühnen blickt sie direkt auf den Betrachter. In der Camera stationierte Soldaten sollen ihr Gesicht beschossen haben - ein Hinweis darauf, daß der eindringliche Blick der Frau störte und verunsicherte. Von den Löchern sieht man nichts mehr; die Malereien wurden mehrmals restauriert, so durchgreifend, daß man beinahe von einer Rekonstruktion sprechen kann. 8 Das Gewölbe ist mit fiktiven Reliefs geschmückt; in den Stichkappen der Arkaden findet man Szenen aus der Herkules-, der Orpheus- und der Arion-Sage, in den Gewölbefeldern die Büsten von Cäsar und der sieben auf ihn folgenden Kaiser. Der Scheitel des Gewölbes aber ist (scheinbar) offen: durch ein kreisrundes „Auge" sieht man spielende Putten und junge Hofdamen, die auf den Betrachter herunterblicken. Mit dieser radikalen Untersicht-Darstellung hat Mantegna der Malerei neue Dimensionen der

7 Der Mantegna-Spezialist und Quellenkenner R. Signorini versteht die Fresken als Illustration zweier bestimmter historischer Ereignisse, die am 1. Januar 1462 stattgefunden hätten. R. Signorini, Lettura storica degli affreschi della 'Camera degli Sposi' di Andrea Mantegna, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 38, 1975, S. 109-135; sowie: Signorini [wie Anm. 1], S. 127 ff. Die Deutung der Fresken als Historiendarstellung im engeren Sinn - sie steht in der Tradition des 19. Jahrhunderts - ist von der jüngeren Forschung mehrheitlich abgelehnt worden; vgl. Lightbown [wie Anm. 1], S. 111; Dellermann [wie Anm. 1], S. 44 ff.; Roettgen [wie Anm. 1], S. 20 f., 23. 8 Die Fresken sind mehrmals restauriert worden, erstmals unmittelbar nach Mantegnas Tod, zuletzt 1984-1986. Ältere Fotografien zeugen von einem ruinösen Zustand des Ensembles. Wir gehen bei der Deutung auf die Frage des Originalzustandes nicht ein. Außerdem gehen wir davon aus, daß bei den Restaurierungen Mantegnas ursprüngliche Bildkonzept erhalten blieb.

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Illusionistik erschlossen; hier beginnt ein Weg, der letztlich in der „Traumfabrik" des Kinos mündet. N u n ist den Kunstkennern illusionistisches Virtuosentum schon längt suspekt geworden. Zudem hat die jüngere Kunstgeschichte nachgewiesen, daß die Fresken Vehikel einer proto-absolutistischen Herrscherideologie sind, die auf die Zertrümmerung stadtrepublikanischer Rechtsstrukturen zielte. 9 Indessen: die Faszinationskraft des Werks bleibt, wie die Begeisterung des Publikums zeigt, ungebrochen. Dies liegt - so die im folgenden zu begründende These - daran, daß Mantegna Illusionistik und prallen Naturalismus mit einer kritischen Ironie verbindet, deren Schärfe nur von wenigen Werken der Moderne übertroffen wird.

Fürstenspiegel: Der Markgraf als christlicher Herrscher Die Kunstgeschichte ist sich einig, daß es bei den Hauptdarstellungen der Camera - der sogenannten „Begegnungs"-Szene auf der Eingangs- und der „Hof"-Szene auf der Kaminwand - um die Verherrlichung und Verewigung des Markgrafen Ludovico Gonzaga und seiner Familie geht. N u n kann ja ein Herrscher-Idealbild nicht nur als ideologische Beschönigung, sondern auch als „Fürstenspiegel" gemeint sein, nämlich als ein Vor-Bild, das die Herrschenden auf gewisse Ideale verpflichten soll. Eben dies dürfte in der Camera der Fall sein. 10 Will man diese Ideale und Normen näher bestimmen, lohnt ein Blick auf die antikischen Herrscherporträts im Gewölbe (Abb. 5,6). Sie sind als Zeugnisse für die große Bedeutung aufgefaßt worden, welche die Gonzaga-Dy-

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Die Funktion der Bildausstattung als Trägerin von frühneuzeitlichen Herrschaftsideologien haben insbesondere Arasse [wie Anm. 1], Cieri Via [wie Anm. 1] sowie Starn und Patridge [wie Anm. 1] betont und herausgearbeitet.

10

Zum Genre des Fürstenspiegels: H. H. Anton: Art. Fürstenspiegel, A. Lateinisches Mittelalter, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, Stuttgart und Weimar 1999, Sp. 1 0 3 9 1048.

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nastie dem deutschen Kaisertum beimaß11, und auch als eine Art geistige Ahnengalerie des Markgrafen; ihre Funktion wäre demnach, ihn als Nachkommen antiker Cäsaren darzustellen.12 Bedenkt man aber, daß „Fürstenspiegel" große Herrscher - zunächst biblische wie David, später auch antike wie Trajan oder Theodosius - als „Exempla" aufzuführen pflegen13, kann man die fiktiven Büsten auch als „Vorbilder" verstehen. Falls die Porträts wirklich diese Funktion haben, fragt es sich allerdings, weshalb nicht besonders glanzvolle Figuren ausgewählt, sondern systematisch die ersten acht Figuren von Suetons Kaiserviten aufgereiht wurden.14 Zwar ist mittelalterliche Kasuistik fähig, selbst bei Gestalten wie Caligula, Nero und Otho noch irgendwelche Tugenden auszumachen, aber neben einer glanzvollen Persönlichkeit wie Augustus erscheinen sie doch in negativem Licht. Mit der chronologischen Anordnung soll, so scheint es, der Eindruck vermittelt werden, das antike Kaisertum sei nach Augustus (er ist als einziger als Bekrönter gegeben) degeneriert. Schon antike Autoren haben das so gesehen, und in einer christlichen Geschichtsauffassung muß Herrschaft, solange ihr heilsgeschichtliche Perspektiven unbekannt sind, notwendigerweise in Willkür, Stolz und Überheblichkeit ausarten. Eine solche Argumentationsstrategie würde dann Sinn machen, wenn man den Markgrafen als einen darstellen möchte, der sein Tun auf höhere Prinzipien gründet und so zu schaffen vermag, was der Antike verwehrt blieb: eine zugleich glanzvolle und gute - weil christliche - Herrschaft. Tatsächlich dürfte eben dies die Kernaussage der Hauptbühnen-Fresken sein (Abb. 7, 8). Die beiden Szenen formen eine Art monumentales Diptychon, dessen beide „Flügel" vom Außen und vom Innen dieser guten Herrschaft han11

C. Elam: Mantegna at Mantua, in: Splendours of the Gonzaga, Ausstellungskatalog, hrsg. von D. Chambers und J. Martineau, London 1981, S. 15-25, hier S. 18. Kaiserdarstellungen gab es im Schloß von Mantua seit dem 14. Jahrhundert. 12 C. Cieri Via: L'immagine del ritratto. Considerazioni sull'origine del genere e sulla sua evoluzione dal Quattro als Cinquecento, in: Il ritratto e la memoria, Rom 1989, Bd. 1, S. 80. Gegen die darin vertretene These: Dellermann [wie Anm. 1], S. 35 f. 13 Lexikon des Mittelalters, Bd. 4,1999, Sp. 1044. 14 Nämlich: Julius Cäsar, Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius, Nero, Galba und Otho.

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dein.15 Es fällt auf, daß der Fürst auf beiden Bühnen die zentrale Position einer anderen Person überläßt: in der Begegnungsszene (Abb. 7) dem Zweitältesten Sohn Francesco, der 1461 die Kardinalswürde erhalten hatte, in der Hofszene (Abb. 8) der Hausherrin, welche die für das Fortleben der Dynastie notwendigen Kinder geboren hat. Herrschen wird also im christlichritterlichen Sinn als ein demütiges Sich-in-den-Dienst-Stellen von Schutzbedürftigen - dem Kirchenmann und der Familienmutter (Abb. 9,10) aufgefaßt. Zu dieser Selbstbescheidung paßt, daß der Fürst in der Begegnungsszene in einem verhältnismäßig einfachen Reiterhabit statt in einer Prunkrüstung auftritt und daß er vom Pferd abgestiegen ist (Abb. 11). Der Maler spielt hier vermutlich auf das Darstellungsmuster der den Gottessohn verehrenden heiligen Könige an. Für diese Deutung spricht, daß im Felstor hinter dem Pferd des Fürsten schemenhaft ein Zug von Kamelen sichtbar ist. Der Fürst hat, um sich seinem geistlichen Sohn zu nähern, nicht nur das Pferd, sondern auch die großen Ketten- und Bluthunde zurückgelassen; nur ein Bergamasker Schäferhund darf ihn begleiten. 16 Der Maler hat diesen als kleinen Wichtigtuer dargestellt: Unter seinem Herrn stehend, nimmt er die Pose eines paradierenden Pferdes ein. Mantegna unterstreicht so die Tatsache, daß der Fürst unberitten ist. Auch in der Hofsszene befindet sich unter dem Fürsten ein Hund (Abb. 10).17 Hier nimmt er die Haltung eines Gelehrten im Gehäuse ein: ein Hinweis darauf, daß der Fürst nicht, wie seine Frau, thront und repräsentiert, sondern mit Verwaltung beschäftigt ist - er wendet ja seinen Kopf aus der Szene heraus dem von links heraneilenden Sekretär zu.

15 Arasse [wie Anm. 1], S. 48, versteht die beiden Figurenwände als eine Art Diptychon: auf der Kaminwand hätten wir die „Entscheidungszentrale" der Herrschaft vor uns, auf der Portalwand deren räumlich-territoriale Entfaltung. 16 Lightbown [wie Anm. 1], S. 415. 17 Rubino, der Lieblingshund Lodovicos II., war 1467 gestorben und hatte ein Grabmal bekommen, das von der Camera aus sichtbar war. Bei der Darstellung Rubinos in der Camera handelt es sich also um eine Art Epitaph. Vgl. R. Signorini: A Dog named Rubino, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 41, 1978, S. 317-320; Signorini [wie Anm. 1], S. 186-194; Lightbown [wie Anm. 1], S. 104-105.

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Selbstdarstellung des Künstlers: Wer ist der Sonnen-Jüngling? Würden sich die Darstellungen der Camera - wie manche Interpretationen suggerieren - in der Idealisierung eines Kleintyrannen erschöpfen, wäre Mantegna nicht mehr als ein unterwürfiger Fürstendiener, der seine Kunst zu einem Propagandavehikel degradiert. Wie sieht er denn selber seine Rolle? Die Camera erlaubt, dieser Frage nachzugehen, denn der Künstler hat sich in den Fresken auf verschiedene Weise vergegenwärtigt. Zunächst in Form einer goldenen, von Putten umkreisten Inschrifttafel im Mittelfeld der Westwand. In dieser Tafel widmet er „hoc opus tenue" dieses subtile Werk - dem Fürsten und seiner Gattin (Abb. 15). Der Künstler tritt dem Auftraggeber also nicht als bezahlter Handwerker, sondern als hochrangiges Mitglied der Fürsten-„Familie" gegenüber, als ein Edelmann, der sein Werk aus eigenem Antrieb geschaffen hat und es deshalb zum Geschenk machen kann. 18 Dieser Gestus ist an sich für den „Hofkünstler" charakteristisch, aber selten hat er eine so repräsentativ-denkmalhafte Form erhalten: Tafel und Putten-Ring formen nämlich mit einem darunter situierten Eingang eine Art Triumphportal. Lange Zeit unbemerkt ist eine weitere „Signatur" des Künstlers geblieben. Sie befindet sich im fiktiven Pilaster zwischen dem Dedikations-Wandfeld und der Begegnungsszene: in der Art spätgotischer Baumeister hat Mantegna sich hier in einer Blattmaske selber porträtiert (Abb. 15).19 Möglicherweise hat sich Mantegna noch an einem weiteren O r t „eingebracht". Wie erwähnt, ist die Zone der Stichkappen (Abb. 5, 6) hälftig mit

18 Zum sozialen Status Mantegnas und zu seiner Rolle am Hof: M. Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985, insbesondere S. 77; und: De Nicolò Salmazo [wie Anm. 1], S. 15-59. 19 R. Signorini: L'autoritratto del Mantegna nella Camera degli Sposi, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, 20, 1976, S. 205-212. - Ein Forscher hat die fiktive Blattmaske mit einer realen im D o m von Pienza in Zusammenhang gebracht, die seiner Meinung nach Alberti darstellt: J. Pieper: U n ritratto di Leon Battista Alberti architetto: osservazioni su due capitelli emblematici nel duomo di Pienza (1462), in: Leon Battista Alberti, Ausstellungskatalog, hrsg. von J. Rykwert und A. Engel, Mailand 1994, S. 54-63.

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Motiven der Herkules-, hälftig mit solchen der Orpheus- und Arionsage geschmückt. Man hat die Sängermotive als Hinweis auf die blühende Musikkultur am Mantuaner Hof verstanden. 20 Nun ist es bei den Herkulesfiguren so, daß sie als „Embleme" für einen bestimmten Akteur der Hauptszene - in diesem Fall für den Fürsten - fungieren. 21 Deshalb muß das auch für die Sängergestalten gelten. Ist die Bezugsfigur auch bei ihnen der Markgraf? Soll mit dem Sänger und Priester Orpheus, der die wilde Natur und den Höllenhund Cerberus zu zähmen vermochte, die geistige, innerliche Kraft des Fürsten symbolisiert werden, so wie mit dem Herkules die äußerliche? Das mag sein. Aber dies kann nicht die allegorische Hauptfunktion der Sängerszenen sein. Denn unter diesen befindet sich eine, wo ein Herrscher als Beschützer eines verfolgten Musikanten auftritt. 22 In diesem Fall wird man nicht den letzteren, sondern den ersten als mythologisches Alter-Ego des Fürsten auffassen. Ich gehe deshalb davon aus, daß Mantegna mit den Sängergestalten nicht so sehr die Rolle des Fürsten, als die des Künstlers - also seine eigene - hat thematisieren wollen. Im Zusammenhang mit einer Darstellung des Orpheustodes, die Dürer nach Mantegna gezeichnet hat, ist eine Kunsthistorikerin zu einem ähnlichen Schluß gekommen; sie hat wahrscheinlich gemacht, daß der Sänger

20

E.B.Welles: Orpheus and Arion as symbols of music in Mantegna's Camera degli

21

Daß Herkules als Sinnbild für den Fürsten fungiert, bedarf angesichts der Geläufig-

sposi, in: Studies in iconography,

13, 1889/90, S. 113 f.

keit des Motivs keiner besonderen Begründung. Im vorliegenden Fall ist sie aber zusätzlich durch Biographisches gesichert: der Humanist Vittorino da Feltre, Erzieher Lodovicos, hat diesen als „Herkules" bezeichnet, und auch andere Zeugnisse belegen, daß der antike Kraft- und Tugendheld für den Fürsten emblematische Bedeutung besass. Lightbown [wie Anm. 1], S. 112. Zum Herkules-Zyklus der Camera und zu anderen Herkulesdarstellungen Mantegnas und seines Kreises: S. Boorsch, Le fatiche di Ercole, in: Andrea

Mantegna,

Ausstellungskatalog (Royal Academy of

Arts, London; The Metropolitan Museum of Art, N e w York), hrsg. von J. Martineau, hier benutzt die italienische Ausgabe, Mailand 1992, S. 2 9 7 - 2 9 9 . In der Camera erscheint Herkules auch als Statue in der antikischen Ruinenstadt der sogenannten „Begegnungs"-Szene und auf einer Agraffe in der fingierten Cäsar-Büste im Gewölbe. 22

Periander von Korinth bestraft die Seeleute, die Arion ins Meer geworfen hatten.

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die Züge Mantegnas trägt, was wiederum bedeutet, daß sich dieser im Holzschnitt als „neuer Orpheus" inszenierte. 23 Der sterbende Orpheus erscheint auch in der Camera, und zwar im rechten Wandfeld der Kaminwand (Abb. 12). Im Bogenfeld unterhalb der Stichkappe mit dem Orpheustod hängt eine (fiktive) Tafel mit dem Gonzaga-Emblem der strahlenden Sonne. Die Sonne paßt insofern zu Orpheus, als dieser eng mit dem Sonnengott Apoll verknüpft war. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert nun, daß Mantegna die Erlaubnis hatte, das Sonnenemblem für sich selber zu benutzen. 24 Der Kopfbereich des rechten Feldes der Kaminwand scheint demnach eine Schlüsselzone allegorisch-emblematischer Selbstdarstellung des Künstlers zu sein. Trifft dies zu, müßte dieser auch auf der darunter situierten Hauptbühne in irgendeiner Form gegenwärtig sein. Die Bühne besteht hier aus einer Treppe, die auf die Ebene des Fürstenhofes emporführt. Hinter einem Vorhang treten zwei Männer hervor, die diese Treppe hinaufsteigen möchten - wohl auch im übertragenen Sinn eines rangmäßigen Aufsteigens. Mimik und Gestik verraten indessen Unmut die beiden werden nämlich „übergangen". Ein oben auf der Treppe stehender Höfling streckt seine Hand nicht ihnen, sondern einem Jüngling entgegen, der von rechts heraneilt. Dessen Haltung zeugt vom Willen, das Glück beim Schopf zu packen, ohne die Vernunft zu vergessen: „Eile mit Weile" (Abb. 13,14). 25 Wie der Bote am linken Rand der Kaminwand bringt

23 A. Roesler-Friedenthal: Ein Porträt Andrea Mantegnas als 'alter Orpheus' im Kontext seiner Selbstdarstellungen, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana, 31, 1996, S. 148-185. 24 Kristeller [wie Anm. 1], S. 518, Dok. 14. Vgl. auch Signorini [wie Anm. 1], S. 198-204, besonders S. 199. Auch das Wappen Mantegnas enthielt das Sonnensymbol: G. Malacarne: Lo stemma del Mantegna, in: Civiltà Mantovana, 3. Serie, Jg. 27, Nr. 5, 1992, S. 131-137. 25 Die Haltung und Gestik des Jünglings findet man auch in einem monochromen Kaminbild der Mantegnaschule: ein Jüngling streckt hier die Hände aus, um eine auf einer Kugel vorbeirollende Occasio (Chance, Zufallsglück) beim Schopf zu packen; eine auf einem quadratischen Sockel stehende Frau (wohl Vera Eruditio) hindert ihn an allzu ungestüm-unbesonnenem Vorpreschen. Den hemmenden Gestus vollzieht in der Camera der hinter dem Jüngling stehende Mann, indem er dessen Weg mit

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auch der Jüngling etwas mit sich - nämlich das apollinische L i c h t der aufgehenden Sonne. D e n n gleich rechts v o n ihm befindet sich ja das Ostfenster der

camera.2b

D a die T r e p p e n - S z e n e i m Z e i c h e n jenes Sonnenemblems steht, das M a n tegna mit seinem H e r r n teilt, und da in der „ B e g e g n u n g s " - W a n d R e c h t s a u ß e n - P o s i t i o n einem Stammhalter ( L o d o v i c o s N a c h f o l g e r

die

Fede-

rico) reserviert ist, v e r m u t e ich, daß es sich beim „ S o n n e n b o t e n " u m einen Sohn Mantegnas handelt - vielleicht u m jenen, der früh verstarb und welchen der Maler tief betrauerte, weil er ihn als seinen künstlerischen E r b e n betrachtete. 2 7 U n d vielleicht haben w i r im „ E m p f a n g s c h e f " sogar M a n tegna selber v o r uns. 2 8

dem Knie zu barrikadieren versucht. Vgl. Lightbown 1986, S. 470 f. (Zusammenfassung der mit Warburg beginnenden Deutungsgeschichte und neue Interpretation der Frau auf dem kubischen Sockel), sowie: P. Helas: Fortuna-Occasio. Eine Bildprägung des Quattrocento zwischen ephemerer und ewiger Kunst, in: Städel-Jahrbuch, Neue Folge Bd. 17, 1999, S. 101-124, besonders S. 111 f. 26 Als solchen Boten realen Sonnenlichts haben wir auch den Sänger des Parnaßbildes gedeutet (vgl. Hauser 2000 [wie Anm. 1]). - Von den Personen der Camera ist unserer Meinung nach auch der blonde junge Mann, der vor dem Mittelpilaster der Kaminbühne steht (es handelt sich um Lodovicos Sohn Rodolfo), ein Kind Apolls: er richtet seinen Blick auf das Ostfenster. Er befindet sich senkrecht unterhalb der Augustus-Büste. Seine Pose gleicht derjenigen der Herkulesstatue in der Begegnungsszene; jene ist ihrerseits senkrecht über der (auch in dieser Szene vorhanden) Figur Rodolfos angeordnet. Rodolfos Rolle scheint zu sein, im Physiscb-Ausserlichen zu repräsentieren, was sein Vater als innere Werte hat: herkulische Stärke und apollinischen Glanz. Vgl. auch Dellermann [wie Anm. 1], S. 17 f., 58. 27 Von Mantegna sind fünf Söhne und zwei Töchter bezeugt. Der Jüngling auf dem Fresko dürfte etwa fünfzehnjährig sein. Da das Gemälde um 1470 entstand, müßte er also noch vor dem Umzug Mantegnas nach Mantua (1460) auf die Welt gekommen sein - in Padua, wo sich der Maler 1453 mit Nicolosia Bellini verheiratet hatte. Von den drei Söhnen, die ihn überlebt haben, sind zwei (wie auch die erwähnten Töchter) mit Sicherheit erst in Mantua geboren: Ludovico und Giovanni Andrea (den letzteren hat er erst nach dem Tod seiner Ehefrau gezeugt). Francesco dürfte um 1460 auf die Welt gekommen sein. Ebenfalls in Mantua kam ein Sohn namens Federico auf die Welt; er mußte 1480 ärztlich behandelt werden und scheint damals oder kurz darauf gestorben zu sein. 1484 starb ein weiterer Sohn Mantegnas, Giro-

Andrea

Mantegnas

camera picta im Kastell

von

Mantua

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Treffen diese Deutungen zu, präsentiert sich Mantegna als jemand, der sich - wie der Fürst - in den Dienst der Nachkommenschaft stellt, damit seiner Aktivität Kontinuität beschieden sei. U n d er würde sich und seinen Sohn als orphische Künstler-Priester begreifen, deren Werk die Welt erleuchtet wie die Sonne und die es deshalb verdienen, dem innersten Kreis der Fürstenfamilie anzugehören. 2 9

Kaisergrab und camera: Mantegna im Wettstreit mit antiker Kunst Mag die Identifikation des Jünglings mit dem Sohn Mantegnas auch zu gewagt sein, als daß man weitere Argumente auf sie bauen könnte - unbe-

lamo. Ein Freund des Malers berichtet, daß der Vater diesen Sohn tief betrauert habe; er habe ihn als seinen künstlerischen E r b e n betrachtet. Von der Existenz Federicos und Girolamos weiß man, weil die beiden 1484 ein gemeinsames Epitaph erhielten. Wir würden gerne annehmen, daß es sich beim „Sonnenboten" der Camera um Girolamo handelt. D a n n müßte er allerdings bereits in Padua geboren sein, oder anders gesagt: er müßte bei seinem Tod bereits gegen die Dreißig (und mithin ein gestandener Maler) gewesen sein. Dagegen spricht, daß er als Maler bis heute nicht faßbar geworden ist. Andererseits weiß man, daß Mantegna schon in Padua Kinder hatte: bei seiner Ankunft in Mantua hatte er bereits eine kleine Familie, und ein Kind erscheint - zusammen mit den Eltern - auch in der „Darbringung im Tempel", die aus der Paduaner Zeit stammt. Wenn dieses Kind nicht Girolamo ist, muß M a n tegna noch andere Kinder gehabt haben, von deren Existenz man (noch) nichts weiß. Zu den Söhnen und T ö c h t e r n Mantegnas: Lightbown [wie A n m . 1], S. 2 4 4 247; und insbesondere: R . Signorini, Mantegna's U n k n o w n Sons, in: Journal Warburg 28

and Courtauld

Institutes,

of

the

4 9 , 1 9 8 6 , S. 2 3 3 - 2 3 5 .

Vom Physiognomischen her ist, wenn man die bekannte Büste des Malers vor Augen hat, die Identität des Mannes mit Mantegna möglich, aber nicht zwingend. Allgemein haben sich die Identifizierungen der Nebenpersonen der Camera als schwierig herausgestellt, nicht zuletzt deshalb, weil wir einen stark restaurierten Zustand vor uns haben.

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Wir meinen, daß sich Mantegna auch im Parnaß-Gemälde (das ursprünglich nur wenige Räume von der Camera entfernt situiert war) als orphischen Priester inszeniert hat. Hauser: Parnass

[wie A n m . 1], S. 40.

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Hauser

stritten ist, daß der Maler eine sehr hohe Meinung von der Rolle des Künstlers hatte. Wer aber so denkt, wird sich kaum damit zufrieden geben, seine Kunst bloß als Vehikel von Herrscherlob einzusetzen - er wird vielmehr versuchen, ihren Eigenwert zu steigern. Im folgenden soll gezeigt werden, daß und wie er das in der Camera tut. Ausgangspunkt ist dabei die von einem Puttenkranz umgebene Dedikationstafel (Abb. 15). Auf einem Hügel der Hintergrundslandschaft steht ein merkwürdiges Bauwerk. Es besteht aus einem fensterlosen, aus buntem Felsstein herausgehauenen Kubus und einem zylinderförmigen, zweistufigen Aufsatz. Mit Recht hat man das Gebilde als römisches Kaisergrab gedeutet. 30 Der Grabbau gehört zwar zur selben Landschaft wie die zahlreichen Bauwerke in den benachbarten Bildfeldern, aber die isolierte Position und die enge formale Einbindung in die Dedikationstafel-Gruppe lassen ihn als Gleichnis für das erscheinen, wovon im Text dieser Tafel die Rede ist: für das opus als Ganzes, das heißt für das fiktive Gehäuse, in dem der Betrachter sich aufhält. N u n besteht dieser Pavillon zwar ebenfalls aus einem Kubus und einem zylinderförmigen Aufsatz 31 , aber man begreift zunächst nicht, was das lichtvolle Konstrukt mit einem Grab gemeinsam haben soll. Der Vergleich wird indessen nachvollziehbar, wenn man sich die schweren Brokatvorhänge zugezogen vorstellt: dann befindet man sich in einem dämmrigen Raum von gruftartigem Charakter.

30 So Cieri Via [wie Anm. 1], S. 37-40. Man muß den Bau nicht, wie sie es tut, mit dem Hadriansgrab gleichsetzen. Auf dieses spielt, wie Signorini wahrscheinlich gemacht hat, der Bau auf dem Gipfel der Hügelstadt an; er weist nämlich große Ähnlichkeit mit einer Baudarstellung in einem Cassone auf, die als ,,[Castell]o S. Agniolo" bezeichnet ist. Das merkwürdige Bauwerk links von der Dedikationstafel der Camera deutet Signorini dagegen als Darstellung des Tempels der Fortuna Praeneste. R. Signorini: L'Hadrianeum o Castel Sant'Angelo nella camara dipinta, in: Civiltà Mantovana, 3. Serie, Jg. 27, Nr. 5, 1992, S. 85-90. 31 Noch auf eine weitere Ähnlichkeit zwischen dem antikisierenden Bau und der Camera ist hinzuweisen: durch eine marmorisierende Bemalung der NordfensterLaibung wird der Eindruck erweckt, die den fiktiven Marmorpavillon umfassende Mauerschale bestehe aus dem gleichen geäderten Stein wie der Unterbau des grabmalartigen Baus auf der Westwand.

Andrea Mantegnas camera picta im Kastell von

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Man wird wohl niemanden überraschen, wenn man sagt, der fiktive Pavillon sei als antike Schöpfung gemeint. Nachdem sich aber gezeigt hat, daß die Kaiserporträts die Herrschaftsform der Antike symbolisieren, ist der Schluß erlaubt, daß der Pavillon die Kunst der Antike insgesamt repräsentiert. Offenbar will Mantegna am Beispiel des Pavillons und durch den Vergleich mit dem Kaisergrab demonstrieren, daß die antike Kunst wegen ihrer materialistischen Gesinnung, wegen ihrer Fixierung auf wertvolle Materialien wie Gold und Marmor bloß flächige Dekorationen und totenhaft-fahle Steingebilde hervorzubringen vermag. Indem der Maler in die Haut eines antiken Bau- und Ausstattungskünstlers schlüpft, kann er zeigen, daß er, der auf teure Materialien verzichtet, nicht nur das Niveau der antiken Kunst erreicht, sondern diese übertrifft: er reißt buchstäblich die Vorhänge zu einer lebensvollen und bunten Welt auf.32

Das Gewölbe-Auge: Liebesblicke und fantasia Es ist Zeit, zum berühmtesten Bestandteil der Camera zu kommen: dem fiktiven „Auge" im Gewölbescheitel (Abb. 16). Die spektakuläre Untersicht-Darstellung hat zunächst verschiedene Palastdekorationen, dann aber auch zwei sakrale Werke inspiriert, nämlich Correggios Kuppelbilder mit der Auffahrt Christi und der Assunta Marias, beide in Parma. Diese wiederum wurden zum Ausgangspunkt für jene Deckenhimmel des Barock, die den Kirchgänger in überirdische Welten hinaufreißen oder ihn göttlichen Lichtkaskaden aussetzen. Im Vergleich mit diesen berauschend-mystifizierenden Illusionsmaschinen wirkt Mantegnas Schein-Opaion zunächst recht diesseitig und undramatisch. Oberhalb der Öffnung befindet sich nicht eine Welt des Ubersinnlichen, sondern ein Dachgarten: auf der Brüstung sitzt ein Pfau, ihm

32 Die These, daß Mantegna den Paragone zwischen Skulptur und Malerei ins Historische wende - in dem Sinn, daß die erste für die heidnische Antike, die zweite für die christliche Zeit typisch sei - , habe ich schon im Zusammenhang mit dem Wiener Sebastiansbild vertreten: Hauser Wolkenreiter [wie Anm. 1], S. 153 f.

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gegenüber steht ein Kübel mit einem Orangenbäumchen. Diese Dachterrasse ist offenbar ein hortus conclusas; man findet in ihm nämlich nur Frauen vor, drei links, zwei rechts vom Kübel. Die ersten erinnern an die drei Grazien; sie schauen über die Brüstung hinab in den Betrachterraum. Da in der Hauptbühne die Akteure (bis auf die Zwergin) vom Betrachter keine Notiz nehmen, hat diese visuelle Kontaktaufnahme ein besonderes Gewicht; man spürt, daß das Decken-Auge ein „sehendes" ist. Angepeilt wird, wie so oft in der Malerei, primär der männliche Betrachter. Die Mimik der Frauen ist nämlich schelmisch-verführerisch; eine kämmt das offene blonde Haar - im Verständnis der Zeit ein erotisch-einladender Gestus. 33 Im mittäglichen Himmel über den Frauen ist ausser Wolken nichts zu sehen. Aber in der Mitte ragt ein Eisenhaken aus der Wand; an ihm hing vermutlich einst eine Kette, die einen Leuchter trug. Das Opaion fungiert also als Schleuse nicht nur für Frauenblicke, sondern auch für (künstliches) Sonnenlicht. Nun ist ja der Brüstungsring mit einer ganzen Schar von Putten bevölkert. Diese sehen zwar nicht gerade engelhaft aus, aber im Gegensatz zu den Hauptakteuren der Camera gehören sie doch einer Fantasiewelt an. Ihre Präsenz qualifiziert das Decken-„Auge" als allegorischen Bereich. Solche Putten haben wir bereits an der Westwand angetroffen; sie umkreisen jene Tafel, in welcher der Künstler seine Autorschaft deklariert. Offenbar symbolisieren sie hier Fähigkeiten, die bei der Produktion und Rezeption von Kunstwerken gefragt sind, vor Allem die fantasia, die Erfindungskraft. Demnach geht es wohl auch beim Opaion-Motiv um die Kunst. Und nochmals eine Beobachtung zur Dedikationstafel (Abb. 15). Wie bereits erwähnt, ist sie mittels der Putten mit einem Portal verknüpft. Wenn dieses nicht zum fiktiven Pavillon gehörige Portal als Teil des Werkes und nicht bloß als zu ignorierender Fremdkörper gemeint ist, dürfte das auch für andere reale Architekturteile und Möbel gelten: für die Fen-

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Lodovico II. selber hat das Motiv in einem Liebesgedicht in diesem Sinne verwendet. Arasse [wie Anm. 1], S. 52.

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ster, das Bett, den Leuchter, die Nischen, die Feuerstelle. Tatsächlich lassen sich zum Beispiel die Feuerstelle und die „darauf" befindlichen Figuren ebenso als Zusammenhang verstehen wie das Portal und die tafeltragenden Putten. Die Hauptperson ist hier die thronende Markgräfin, die als Mater familias gefeiert wird. Die Feuerstelle paßt zu dieser Rolle, denn der Herd gilt als Stätte, in dem - wie in einem Uterus - Leben generiert wird (Abb. 8). Ziehen wir nun ein Bild zum Vergleich bei, in dem ebenfalls eine Feuerstelle als Gleichnis für eine Mutter figuriert, und in dem Objekte wie Türen, Fenster und hochliegende Mauer-„Augen" vorkommen. Es handelt sich um Campins Mérode-Triptychon, eine Verkündigungs- und Empfängnisdarstellung (Abb. 17, 18).34 Das Fenster-Auge dient in diesem Bild als Schleuse für den heiligen Geist, der in der feuerrot gekleideten Jungfrau eine Schwangerschaft geistiger Art erzeugt. 35 Wir haben hier ein frühes und großartiges Beispiel für ein Kunstwerk vor uns, bei welchem eine traditionelle ikonographische Szene als Gleichnis für Funktion und Leistung des Kunstwerks figuriert. Geistige Zeugungs- und Empfängnisvorgänge spielen sich ja auch in denjenigen ab, die - indem sie die Flügel des Altärchens aufklappen und ins Werk „eintreten" - die vom Künstler geschaffene Vision nachvollziehen. 36 Das Triptychon funktioniert nicht nur als Andachts-

34 Zum Triptychon: F. Thiirlemann: Das Mérode-Triptychon. Ein Hochzeitsbild für Peter Engelbrecht und Gretchen Schrinmechers aus Köln (Reihe Kunststück), Frankfurt a/M. 1997. Ders.: Robert Campin. Eine Monographie mit Werkkatalog, München, Berlin, London und New York, S. 58-76. 35 Das rote Kleid dürfte hier als vergeistigtes Feuer gemeint sein: gleich nebenan befindet sich ja ein Kamin, bei welchem das irdische - das heißt sündige - Feuer gelöscht ist. Der feurige Herd als Geburtsort geistigen Lebens: das ist eine der zentralen Metaphern in der wuchernd-abstrusen Symbolwelt der Alchemie. 36 Aufklappen = Eintreten: diese Verbindung ist vor Allem in der „Abfolge" von kniendem Stifter und Verkündigungsengel thematisiert: der erste befindet sich vor der Tür zur Empfängniskammer, der zweite hat diese durchschritten. Die Türöffnung fällt mit dem Scharnier zwischen Flügel und Mitteltafel zusammen; der Türflügel figuriert als Metapher für den beweglichen Seitenflügel. Das Aufklapp-Motiv findet sich aber auch in den Fenstern der Bühnen-Rückwand. Die Stadt, die man in den Fensteröffnungen des Josephsflügels sieht, stellt einerseits die Welt dar, die einem der Künstler entdeckt, andererseits jenen profanen Bereich, aus dem der Be-

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gerät, sondern auch als Apparat zum Generieren visueller ErkenntnisWerkzeuge. Und als eine solche Kreativitätsmaschine hat meiner Ansicht nach Mantegna auch die Camera konzipiert - es handelt sich um einen Vorläufer jener Installationen, wie sie Jahrhunderte später Duchamps, Beuys und andere schaffen werden. Das fiktive Deckenauge wäre demnach in erster Linie eine Metapher für die Inspiration und die fantasia, die es braucht, um mit dem Maler zusammen die Vorhänge zur Welt aufzuziehen, das heißt: sich selber ein Bild der Welt zu schaffen. Bezeichnenderweise findet man im Auge ein topisches Sinnbild für die figurierende Kraft der Natur und damit auch für die schöpferisch-imaginativen Fähigkeiten des Menschen: in den Wolken zeichnet sich das Profil eines Gesichtes ab.37 Zur Inspirationsthematik passen nun nicht nur die spielenden Putten und der Sonnen-Leuchter, sondern auch die verführerisch blickenden Frauen. Dank der literarischen Tradition war der „Liebesblick" in der höfischen Kultur ein bekanntes Thema; in der Renaissance wurden zudem platonische und neuplatonische Theorien über das Phänomen reaktiviert und weitergesponnen. Man machte den Liebesblick zwar für die „Liebeskrankheit" verantwortlich, schrieb ihm aber auch ein Vermögen zu, das im Zusammenhang mit künstlerischer Inspiration durchaus nützlich ist - das Vermögen nämlich, die Seele in göttliche Welten auffliegen zu lassen.38

trachter in den geistigen Bereich des Kernbildes hereinkommt. Wenn die auf dem heruntergeklappten Verkaufs-Laden stehende Mausefalle den Käufer (und wahrscheinlich auch den „Teufel", respektive den Teufel in dem aufs Materielle ausgerichteten Käufer) fangen soll, ist damit wohl auch der Betrachter gemeint: der Maler lockt ihn ins Bild und verwandelt dort sein neugieriges, aufs Materielle gerichtete Gaffen in ein geistiges Schauen. Zum Mäusefallen-Motiv: Thürlemann Mérode-Triptychon [wie Anm. 34], S. 1 3 - 1 7 (dort weitere Literatur). 37 Arasse [wie Anm. 1], S. 60. Arasse, der das Wolkenbild entdeckt hat, will in diesem sogar ein „geheimes Selbstporträt" Mantegnas sehen. Zur Thematik des Naturbildes bei Mantegna: Hauser Wolkenreiter [wie Anm. 1], 38 Zur Topik des Liebesblicks: Lance K. Donaldson-Evans: Love's fatal glance: a Study of Eye Imagery in the poets of the 'Ecole Lyonnaise', University Mississippi (Romance Monographs Inc.) 1980. Zum Liebesblickthema in der bildenden Kunst,

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Die camera picta als Kraftwerk für intelligentes Sehen Schaut m a n die drei „ G r a z i e n " im O p a i o n n o c h m a l s genauer an, k o m m e n einem allerdings Zweifel, o b es ihnen wirklich u m das ästhetische Seelenheil des B e t r a c h t e r s zu tun ist - sie scheinen sich eher über ihn lustig zu machen. Tatsächlich wird es bald etwas zu lachen geben. D i e D a m e , die d u r c h ihre H a a r t r a c h t als H e r r i n gekennzeichnet ist, blickt z w a r scheinbar ganz unbeteiligt in die F e r n e - in W a h r h e i t bereitet sie aber einen Streich vor, der v o n recht „ s c h w a r z e m " H u m o r zeugt. Sie fingert mit der R e c h t e n a m Stab herum, der den Pflanzenkübel stützt. D i e M o h r i n 3 9 schaut gebannt und lachend auf diese H a n d , denn sie weiß: n o c h eine

kleine B e w e g u n g

und der Kübel fällt auf den B e t r a c h t e r hinunter. 4 0 U n d diesen erwartet n o c h weiteres U n g e m a c h . In P a d u a hat M a n t e g n a einen P u t t o gemalt, der v o n einem Gebälk herab in h o h e m B o g e n auf den B o d e n pißt. A u c h in der C a m e r a ist es bloß eine F r a g e der Zeit, bis die zwei mit d e m R ü c k e n z u r B r ü s t u n g stehenden P u t t e n ihr Wasser lassen - dann w i r d der heraufschauende M a n n wie ein begossener Pudel dastehen. 4 1

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besonders bei Mantegna: A. Hauser: Luca Signorellis 'Pan'. Kunst als Sublimierung von Liebe, in: Konsthistorisk Tidskrift, 68, 1999, S. 250-269, hier S. 261; Hauser Parnass [wie Anm. 1], S. 32, Spalte 1 und S. 37, Spalte 3; A. Hauser: Andrea Mantegnas 'Madonna delle cave'. Ein vulkanischer Christus als Quelle geistigen Lebens, in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich 2001, 8, Zürich 2003, S. 79-109, hier S. 94. Als Gleichnis für die „dunkeln" - aber letztlich aufs Gute orientierten - Absichten fungieren unserer Ansicht nach auch jene Dienerinnen der Judith-Darstellungen von Mantegna und seinem Kreis, die negroide Züge tragen. Lightbown [wie Anm. 1], S. 103; K. Christiansen: Rapporti presunti, probabili e (forse anche) effettivi fra Alberti e Mantegna, in: Leon Battista Alberti, Ausstellungskatalog, hrsg. von J. Rykwert und A. Engel, Mailand 1994, S. 336-357, hier S. 352. Ders.: Andrea Mantegna. Padoue er Mantoue, aus dem Englischen übersetzt von Jacques-François Piquet, o.O., 1994, S. 92. Christiansen faßt auch den Gestus des Putto, der einen Apfel hochhält, als „Bedrohung" des Betrachters auf. Roettgen [wie Anm. 1], S. 25. Noch auf andere Weise wird die Vorstellung des Urinierens evoziert. Wie oben ausgeführt, sind wir (mit anderen Interpreten) der Meinung, das grabmalartige Gebäude hinter der Dedikationstafel sei als Gleichnis für

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Diese „Strafen" zieht sich der Betrachter zu, weil er sich mit seiner Gafferei lächerlich macht. Von oben gesehen sieht er nämlich ebenso klein und unförmig aus wie die Putten, über deren Verkürzungen er sich amüsiert. Es ist kein Zufall, daß ihm in der Hauptbühne nur gerade die Zwergin Beachtung schenkt - offenbar betrachtet sie ihn als ihresgleichen. Und wenn der Mann, um durch die runde Deckenöffnung hindurch in den verborgenen Frauengarten zu spähen, den Kopf in den Nacken wirft, gleicht er jenen Putten, die den Kopf durch einen Brüstungsring gezwängt haben und in diesem steckengeblieben sind. Daß sich der Betrachter „zum Kind macht", dürfte als Gleichnis dafür gemeint sein, daß er in der Kunst bloß ein illusionistisches Spektakel sucht und so einem Trompe-l'oeuil aufsitzt. Wie reimt es sich nun, daß Mantegna in jahrelanger Kleinarbeit den Prototyp eines Gesamtkunstwerks schafft, nur um es dann als bloßen Schein zu denunzieren - und dies ausgerechnet dort, wo er mittelst spektakulärer Perspektivtechnik und durch Benutzung des Empfängnis-Darstellungsschemas die göttliche Macht der fantasia feiert? Weshalb wirft er seiner eigenen Kunst vor, daß sie nicht mehr zu zeigen vermöge, als die Unterseite eines Pfaus - nämlich bloß die unscheinbare materielle Seite der göttlichen Schönheit? 42 Was soll solche mit drastischer „Publikumsbeschimpfung" gekoppelte künstlerische Selbstgeißelung?

die Camera gemeint. Dies impliziert, daß der zylindrische Aufbau ein „Auge" für Oberlicht enthält. Mantegna hat nun einen der tafeltragenden Putti so angeordnet, daß sein Sexus sich - flächig gelesen - genau „über" diesem Oberlicht befindet. Solch vertikale Zuordnungen findet man bei Mantegna häufig; in der Camera zum Beispiel auf der Kaminwand: belaubte Aste und relieferte Blätter sind hier so angeordnet, daß sie über den Köpfen einiger Akteure eine Art Federbüsche formieren. 42

Wegen seiner Federn darf der Pfau zum Beispiel in marianischen Paradiesgärten als Symbol göttlicher Schönheit auftreten. Andererseits weisen die Bestiarien auf den Gegensatz dieser Schönheit und der häßlichen Stimme des Tieres hin: hier geht es um das „ U n s c h ö n e " der vergänglich-materiellen Schönheit. Mantegna nutzt diese Bedeutungsaspekte unserer Meinung nach für die Thematik irdisches vs. geistiges Sehen. D i e für die Deutung des Pfau-Motivs in der Camera wichtigen Fakten und Motivstränge findet man zusammengestellt bei: Starn und Patridge [wie A n m . 1], S. 1 1 4 - 1 1 8 .

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In diesem Zusammenhang haben wir uns daran zu erinnern, daß „naturgetreue" Darstellungen zwar helfen, die Welt zu entdecken (darauf bezieht sich Mantegna ja mit dem Motiv des geöffneten Vorhangs), daß sie aber auch als tagtraumhafter Wirklichkeits-Ersatz, als eine Art visuelle Droge dienen können: in diesem Fall bewirken sie nicht eine Stärkung, sondern eine Schwächung der schöpferisch-kognitiven fantasia. Die Tatsache, daß Mantegna die antike Kunst gleichzeitig feiert und wegen ihrer Protzerei mit Gold und Marmor kritisiert, zeigt, daß er sich des Problems sehr wohl bewußt ist. Er löst es so, daß er einerseits Wirklichkeitsbilder von nie erlebter Suggestionsmacht kreiert, diese aber andererseits permanent dekonstruiert. Indem er so dem Betrachter Einblick in die Konstruktion von Illusion gibt, ermöglicht er es ihm, das Gesehene zur Schaffung einer eigenen, geistigen Bildwelt zu nutzen. U n d deshalb ist ein Gang durch die camera jedesmal ein geistig-intellektuelles Abenteuer: sie ist ein eigentliches Kraftwerk für intelligentes Sehen. 43

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Das neuplatonische Konzept der Umnutzung sinnlicher Energien für Kultur und Kunst hat Mantegna unserer Ansicht nach auch im Parnaßbild thematisiert; vgl. Hauser: Parnass [wie Anm. 1].

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V i L t E Dx MANTOUX W ! .WH CIIM W' toji

"MfelffisraK

Abb. 1

Vogelschau von Mantua, von Ostnordost, hrsg. von Pierre Mortier, Amsterdam, 1680. Der Kreis markiert das Castello San Giorgio.

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Abb. 2

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Castello San Giorgio in Mantua, 1396-1406, Ostansicht. Die Camera picta befindet sich im rechten Eckturm im Piano nobile.

Abb. 3

Castello San Giorgio in Mantua, 1396-1406, Grundriß.

Andrea Mantegnas camera picta im Kastell von Mantua

1464-1474.

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A Β . C D E F G H I Κ L M

a b c d e f g h

Abb. 5

Taube und Stamm Sonne Hirschkuh Turm Felsen mit Diamant Alan = Hund Federspiel Hydra

1 2 3 4 5 6 7 8

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Orpheus spielt die Leier Orpheus besänftigt den Cerberus und eine Furie Orpheus wird von Bacchantinnen erschlagen Arion und die Seeleute Arion auf dew Delphin reitend Periander bestraft die hinterlistigen Seeleute Bogenschießender Herkules Tod des Kentauren Nessos Herkules' Kampf mit dem Nemeischen Löwen Herkules' Kampf mit der Hydra Herkules tötet Antäus Herkules fängt den Cerberus

Julius Caesar Augustus Tiberius Caligula Claudius Nero Galba Otho

Aufriß und Deckenriß der Camera picta im Castello San Giorgio in Mantua, 1464-1474.

Andrea Mantegnas camera picta im Kastell von

Abb. 6

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Andrea Mantegna, Gewölbe der Camera picta mit illusionistischer Ausmalung, um 1465. Das Opaion ist von acht Kaiserbüsten umgeben, in den Stichkappen mythologische Szenen. Zustand nach der Restaurierung von 1984-1986.

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Abb. 7

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Andrea Mantegna, Fresken an der Westwand der Camera picta im Castello San Giorgio in Mantua, 1474.

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Abb. 8

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Andrea Mantegna, Fresken an der Nordwand der Camera picta im Castello San Giorgio in Mantua, 1470.

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Abb. 9

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Andrea Mantegna, Fresken an der Westwand der Camera picta, sogenannte Begegnungsszene: der Außenbereich der guten Herrschaft, 1474.

Andrea Mantegnas camera picta im Kastell von

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Abb. 10 Andrea Mantegna, Fresken an der Nordwand der Camera picta, Hofszene: der Innenbereich der guten Herrschaft, 1470.

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Abb. 11

Andrea Mantegna, Fresken an der Westwand, linkes Bildfeld: Das Pferd des Fürsten unter FlügelEmblem, 1474.

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Andrea Mantegnas camera picta im Kastell von

Abb. 12

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Andrea Mantegna, Fresken an der Nordwand der Camera picta, rechtes Bildfeld: Treppenszene unter Orpheus Tod und Sonnenemblem, um 1470.

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Abb. 13

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Schule Mantegnas, Kaminbild mit der Darstellung eines Jünglings auf der Jagd nach Glück, gemäßigt von Weisheit, Palazzo Ducale (ehemals Palazzo Biondi), Mantua.

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Abb. 14

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Andrea Mantegna, Fresken an der Nordwand der Camera picta, Detail des rechten Bildfeldes, um 1470.

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Abb. 15

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Andrea Mantegna, Fresken an der Westwand der Camera picta, Mittelfeld mit Dedikationstafel, 1474.

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Abb. 16

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Andrea Mantegna, Gewölbe mit illusionistischer Malerei in der Camera picta, um 1465. Eine „Installation" zur Förderung der fantasia und des kritischen Sehens.

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Abb. 17

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Robert Campin, Mérode-Triptychon, um 1425/28, von Rogier van der Weyden nachträglich überarbeitet, New York, Metropolitan Museum of Art.

Abb. 18

Robert Campin, Mérode-Triptychon, um 1425/28, Mitteltafel, N e w York, Metropolitan Museum of Art.

Die Verdauung der Natur WOLFGANG SCHIVELBUSCH

Da es sich empfiehlt, beim Betreten unbekannten Geländes einen vertrauten Bezugspunkt anzupeilen, beginne ich mit dem Gemeinplatz, daß von Menschen gemachte Verhältnisse und Vorgänge seit Menschengedenken mit biologischen Organismen verglichen und gleichgesetzt werden. Man spricht vom Leben und Sterben, von Wachstum, Blüte, Krankheit und Krise des Staates und der Wirtschaft, von ihrem Kreislauf, Herzschlag, Puls, ihren Gliedern und Organen, und gegebenenfalls von der Einverleibung eines Staates oder einer seiner Provinzen durch einen anderen. Kein Bild des Staates ist seit der Antike häufiger verwendet worden als das des Staatskörpers, dessen Kopf die Herrschaft und Führung und dessen Organe die Regierten d.h. das Volk sind. Die Fabel vom vermeintlich parasitären, in Wahrheit aber für den Gesamtkörper lebensnotwendigen Magen, mit der der altrömische Patrizier Menenius Agrippa eine plebejische Revolte vom Tisch zu reden verstand, stellt in der Körpermetaphorik des Staates eine Ausnahme dar. Denn das Verdauungsorgan symbolisiert hier dasselbe, wofür sonst der Kopf steht: Die herrschende Klasse, die nicht arbeitet sondern - in der Sicht der Beherrschten - nur genießt, während im eigenen Selbstverständnis ihre Arbeit im Führen und Herrschen besteht. Für die Aufgabe, Führung und Herrschaft zu symbolisieren, war der Magen so wenig geeignet, weil ihm heraldisch alles Hohe, Herrisch-Erhabene und Geistige fehlte, mit dem Führung und Herrschaft sich seit altersher gleichsetzt. So wenig wie je eine Nation sich das Huhn oder das

Wolfgang Schivelbmch

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Schwein zum Wappentier erwählte, wurde - abgesehen von der AgrippaFabel - der Bauch als Herrschaftsorgan symbolisch überhöht. ( A m weitesten in dieser Richtung ging noch die junge amerikanische Republik in der Debatte, welches Geflügel ihr Wappentier werden solle: der Truthahn oder der Adler - mit dem bekannten Ergebnis zuungunsten des Truthahns.) Waren Bauch und Magen aber nicht zur symbolischen Ü b e r h ö h u n g von Staat und Politik geeignet, hinsichtlich der Ö k o n o m i e sah es anders aus, denn hier ging es - zumindest lange Zeit - nicht um Herrschaft und F ü h rung, sondern um die materielle, sprich körperliche Bedürfnisbefriedigung der Menschen. D e n Unterschied zwischen Politik und Ö k o n o m i e verdeutlichen sehr schön zwei Metaphern Hegels. F ü r die Politik als die Herrschaft des M e n schen über den Menschen wählte er das Bild von H e r r und Knecht: H e r r wird derjenige, der in einem Kampf auf Leben und Tod sein Leben aufs Spiel setzt, Knecht derjenige, der sich ergibt und unterwirft, um sein Leben zu retten. Das politische Drama der Entstehung von H e r r und Knecht läßt Hegel bekanntlich übergehen in die Dialektik der Arbeit, also die Ö k o n o m i e . D e r arbeitende Knecht erweist sich am Ende dem untätigen H e r r n gegenüber als überlegen, indem er diesen, und zwar im wörtlichen Sinne,

stillegt.

Während der H e r r in parasitärer Untätigkeit gleichsam verfault, geht das Prinzip der Bewegung, der Produktivität, der Eroberung und Beherrschung der Natur auf den Knecht über. Jeder kennt die Implikation, die M a r x zur Konklusion führte: daß der Knecht am Ende nur noch die rostig gewordene Kette abschütteln muß, u m Freiheit und die Herrschaft zu gewinnen. A n diesem Punkt des Perspektivenwechsels von der abstrakten Herrschaft zur konkreten Arbeit, zur Arbeit als Aneignung und Unterwerfung der Natur, führt Hegel einen neuen Metaphernkomplex ein: den des Magens, der Verdauung, der Assimilation. Das heißt, nicht er führt die Verdauungsmetapher an diesem Punkt seines Arguments ein, sondern das tue ich, oder genauer: das tat vor 27 Jahren der Literaturwissenschaftler Werner H a m a cher in seiner Dissertation Pleroma,

auf deutsch: die Fülle. ( D e r Untertitel

ist weniger einfach. E r lautet: Zu Genesis und Struktur

einer

dialektischen

Die Verdauung

der

Natur

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Hermeneutik bei Hegel1). Hamacher machte - meines Wissens erstmals auf jenen Aspekt im Denken Hegels aufmerksam, den man den Rabelaisschen nennen könnte: Gestützt auf eine für den Idealisten Hegel erstaunliche Fülle von Metaphern des Ergreifens, des Verschlingens, der Verdauung von Nahrung sowie die Interpretation des christlichen Abendmahls als Metamorphose von Stoff in Geist, formulierte er die These, daß der Vorgang der Nahrungsaufnahme und -assimilation für Hegel dem der Aufnahme und Assimilation der realen Welt durch das Denken analog sei. Wie der Begriff dem Gegenstand sein unmittelbares Dasein, so nimmt die Verdauung dem Nahrungsstoff, den sie sich einverleibt, seine bisherige Form und Konsistenz. Beide sind Zerstörungsvorgänge, wenn sie aus der Sicht dessen betrachtet werden, das einverleibt und verdaut wird, und Produktionsprozesse aus der Sicht des Einverleibenden. Ein Jahrhundert nach Hegel und ganz in dessen Sinn hat Gaston Bachelard vom „Mythos der Verdauung" gesprochen als der Leitlinie dessen, was er - so der Titel seines bekannten Buches - Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes nannte. Aus homo faber, dem erzschmelzenden und metallverarbeitenden Menschen - und die Metallurgie ist nach Bachelard ein Seitenzweig der Verdauung - wird homo sapiens. Wie fließend die Stationen (oder die Institutionen) des Magens, der Küche, der Werkstatt und der Fabrikhalle ineinander übergehen, belegt Bachelard mit dem folgenden der Diderotschen Enzyklopädie entnommenen Rezept zur Metallhärtung auf Knoblauchbasis: „Man schneidet den Knoblauch in kleine Stücke; man gießt Branntwein hinzu und läßt das Gemisch 24 Stunden an einem warmen Ort ziehen; danach seiht man das Ganze durch ein Tuch und bewahrt die erhaltene Flüssigkeit in einer wohl verschlossenen Flasche, damit man sich ihrer bei Bedarf bedienen kann, um die feinsten Werkzeuge darin zu härten." 2

1 W. Hamacher: Pleroma. Zu Genesis und Struktur einer dialektischen Hermeneutik bei Hegel, in: G.W. F. Hegel: Der Geist des Christentums. Schriften 1796-1800, hrsg. von W. Hamacher, Frankfurt/M., Berlin und Wien 1978. 2 G. Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, Frankfurt/M. 1978.

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Wolfgang Schivelbusch

Arbeit und Verdauung sind janusgesichtig. Auf der einen Seite vernichten beide ihren Gegenstand, um ihn auf der anderen Seite in neuer Gestalt wiedererstehen zu lassen bzw. das Nichtverwertbare auszuscheiden. Das lebenserhaltende zirkulierende Blut; der die Realität fixierende Begriff; der nützliche Gegenstand sind lauter aus der Asche vorangegangener Vernichtung sich erhebende Phönixe. Sehr schön illustrieren das die beiden Analogien, mit denen Medizin und Philosophie seit der Antike die Vorgänge im Magen verglichen. Er wurde als Feuerstelle bezeichnet, welche die Nahrung zurechtkocht, und als Mühle, die die verzehrten Pflanzen und Tiere in Brei verwandelt. Beide Bilder übernahm das ökonomische Denken im 18. Jahrhundert. Bis zum heutigen Tag heißt der Verbrauch von Gütern Konsumption (= Verzehr, Verbrennung). Und das Wort für Fabrik im England der industriellen Revolution lautete: mill (- Mühle). Während man im vorindustriellen Zeitalter eine Mühle an ihrem Wind- oder Wasserrad erkannte, wurde das Erkennungszeichen der Fabrik ihr Schornstein, das heißt ihre Feuerstelle. Schließlich als ein letzter Beleg für den die Verdauungsphysiologie und die ökonomische Theorie verbindenden Aspekt der Zerstörung: Die Gleichsetzung von Werkzeug und Waffe im primitiven Denken. Sie wurden nicht unterschieden, weil man das Aufhacken der Erde, das Fällen von Bäumen und die Tötung von Tieren (und Menschen) als verwandten Akt der Verletzung der Natur empfand. Daher die Opfer- und Entschuldigungsrituale, mit denen Jäger und Krieger, Ackerbauern und Bergleute vor oder nach der Tat die Natur zu beschwichtigen suchten. Und daher die Mythen der Tötung des Vaters oder des Drachens, aus deren totem Leib die neue Kultur entsteht.

Nach diesem etwas durcheinandergewürfelten Anfang will ich nun zur Sache zu kommen, nämlich den Berührungspunkten und den wechselseitigen Beeinflussungen und Entleihungen der Metaphorik der Physiologie das heißt der Physiologie der Verdauung und der Assimilation - und der Ökonomie.

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Die Verdauung der Natur

Jeder weiß, daß der 1628 von William Harvey entdeckte Blutkreislauf das Modell für die ökonomische Vorstellung vom Geldkreislauf und später vom Geld-Waren-Kreislauf abgab. Weniger bekannt ist, daß von der A n tike bis hinein ins 18. Jahrhundert anstelle des noch unbekannten Begriffs der Physiologie der der oeconomia sique sur l'économie

animale

animalis

verwendet wurde. Essay

phy-

lautete dann auch der Titel, unter dem ein ge-

wisser Francois Q u e s n a y im Jahre 1747 sein Handbuch der Physiologie veröffentlichte. Q u e s n a y war Leibarzt der Madame de Pompadour und Ludwigs XV. Außerdem war er der Begründer der sogenannten Physiokratischen Schule in der ökonomischen Theorie. Als seine historische Tat gilt die Übertragung von Harveys Kreislaufidee auf die Ö k o n o m i e , genauer: auf die produzierende Ö k o n o m i e , denn der Vergleich von Blutkreislauf und Geldkreislauf und die Uberzeugung, daß in dem Maße, in dem Geld und Blut in der Ö k o n o m i e und im Körper pulsierten, diese blühten und gediehen, war bereits im merkantilistischen D e n k e n ein Gemeinplatz. D e r Merkantilismus aber war bekanntlich keine Ö k o n o m i e im modernen von Adam Smith begründeten Sinne der Produktion, sondern die Lehre von der segensreichen Vermehrung des Goldes und des Geldes. Geld und G o l d hatten demnach zwar die Produktion von Gütern - also Arbeit - zur Voraussetzung, aber etwa so wie der Schmetterling die Larve: als bloßes Durchgangsstadium auf dem Weg zum eigentlichen Ziel. Im 14. Kapitel des Leviathan,

das der Ernährung

(nutrition)

spricht T h o m a s H o b b e s von der concoction

des Staatswesens gewidmet ist, der materiellen Güter zu ihrem

allgemeinen Äquivalent, dem Geld. Concoction,

wörtlich das Zusammen-

kochen, hatte im 17. Jahrhundert aber zugleich die Bedeutung von

Verdau-

ung. N i c h t die G ü t e r selber, sondern erst ihre Metamorphose in Geldform, üben hier die belebende Wirkung aus. D i e Physiokraten übertrugen nicht nur die physiologische Kreislaufvorstellung auf die Ö k o n o m i e , sondern bauten sie aus zu einer neuen T h e o rie der Expansion, ja eigentlich der Multiplikation der Produktion. Jeder Kreislauf endete bei ihnen mit der Verdoppelung des ersten Kapitaleinsatzes. Vielleicht waren sie beeinflußt von ihrem Zeitgenossen und damaligen Superstar der Biologie, Buffon. D e n n dieser illustrierte seine These von der unendlichen Produktivität der N a t u r mit dem Beispiel des einen U l m e n -

Wolfgang Schivelbusch

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samens, der in 130 Jahren ungehinderter geometrischer Vermehrung die gesamte Welt mit einem dichten Ulmenwald bedecken würde. Was man später als die historische Beschränktheit oder gar Rückständigkeit der Physiokraten betrachtete, nämlich daß sie allein der Landwirtschaft, nicht aber der bereits hochentwickelten manufakturellen Industrie, die Palme der Produktivität und Wertschöpfung gaben, das macht sie zum umso interessanteren Ubergangsphänomen vom physiologisch-biologischen zum ökonomischen Denken. So sprechen sie nicht etwa von der tivität

Unproduk-

des Handwerks und der Industrie, sondern von deren stérilité,

anstatt von der production

sprechen sie lieber von der génération

und

der Land-

wirtschaft. A b e r auch Adam Smith, der die Wertschöpfung v o m B o d e n loslöste und sie in die Arbeit

das heißt in die von der Arbeit geschaffenen Güter verleg-

te, blieb, wie die neuere Adam-Smith-Forschung herausgefunden hat, v o m physiologischen D e n k e n seiner Zeit stark beeinflußt. 3 Das von ihm verwendete W o r t für Reichtum - wealth weal,

(abgeleitet v o m altenglischen W o r t

das dem germanischen Wohl verwandt ist - konnotierte physisch-

körperliches Wohlbefinden. Erinnernswert ist vielleicht, daß auch H o b b e s seinen Staat aus dieser Wortwurzel hervorgehen läßt: er nennt ihn mon-Wealth,

Com-

in zwei Worten geschrieben, also das allgemeine Wohl. U n d

schließlich ist die Arbeit im Smithschen System nicht nur ökonomisch sondern ebenso physiologisch das Herzstück, fast im Sinne der modernen Leibesübung. Seine Forderung, die Ö k o n o m i e von allen staatlich-merkantilistischen Auflagen zu befreien, ist denn auch bezeichnet worden als die Ubersetzung ins Ö k o n o m i s c h e der zeitgenössischen Medizintheorie von den Selbstheilungskräften des Körpers und der Natur. J a man könnte ergänzen: Sie war Rousseaus Erziehungsanleitung Emile

- die jede A r t von

pädagogischer Gängelung des Zöglings bekämpfte -

ins

Ökonomische

übertragen.

3 C. Packham: The Physiology of Political Economy. Vitalism and Adam Smith's Wealth of Nations, in: Journal of the History of Ideas, 2002, S. 465-481.

Die Verdauung der

Natur

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Wie alle großen Propheten eröffnete Adam Smith den Blick auf das gelobte Land - die Ökonomie der industriellen Massenproduktion - aber gelangte selber nicht mehr dorthin. Der Grund dafür läßt sich mit einem Wort bezeichnen: seinem Desinteresse am Verbrauch. Zwar spricht er im Reichtum der Nationen wiederholt von der Konsumtion als dem Zweck aller Produktion. Aber was das Verbrauchen der in der Produktion hergestellten Waren eigentlich ist, was dabei vorgeht und welche neuen Probleme es gegebenenfalls in die Welt setzt, das interessierte ihn nicht und das verfolgte er nicht weiter. Die Aufgabe des Tages in seiner Welt war, diese mit Waren erst einmal zu füllen. Schließlich lautet die Bezeichnung der für den Markt produzierten Waren im Englischen: commodities, also das was commodious (komfortabel, angenehm, das Leben erleichternd) ist. Auch die französische und die deutsche Bezeichnung für die Ware: le bien und das Gut lassen an positiver Deutlichkeit nichts zu wünschen. Erst Smiths Nachfolger im 19. Jahrhundert machen die Konsumtion zum Gegenstand der Ökonomie, und nicht nur dies. Sie machen sie zum gleichberechtigten Pendant der Produktion, ohne welches diese in ihrem eigenen Überfluß - der Absatzkrise - ertrinken oder ersticken würde. Die im 19. Jahrhundert entdeckte Rolle der Konsumtion, den ökonomischen Kreislauf in Gang zu halten, interessiert mich hier jedoch weniger als ihre - wie ich sie nennen möchte - physisch-physiologische Seite. Diese hängt allerdings mit der ökonomischen engstens zusammen, indem die Konsumtion etwas zerstört und aus dem Wege räumt, um Platz für Neues - für die die von der Produktion ausgestoßnen Gütermassen - zu schaffen. Vernichtung ist denn auch die in allen ökonomischen Theorien des 19. Jahrhunderts wiederkehrende Definition der Konsumtion, von JeanBaptiste Say, der den Begriff als erster systematisierte, über den Hegel der Rechtsphilosophie bis hin zu Alfred Marshall, dem Vollender der Grenznutzentheorie. Marshalls Formel, jede Konsumtion sei „negative Produktion" kann man auch so paraphrasieren: Konsumtion ist Produktion im Rückwärtsgang, Herausholen aus dem Gut, was dieses in der Produktion, das heißt durch die Arbeit erhalten hatte. Das ist der Nutzen. Nur dieser wird - so die ökonomische Theorie - aus dem Gut herausgeholt oder wenn ich so sagen darf: herausgebraucht, so wie man dem Schwamm die ihm

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zuvor mitgeteilte Flüssigkeit entnimmt. Zerstört wird, wie die ö k o n o m i schen Theoretiker immer wieder betonen, dabei nicht eigentlich der G e genstand, sondern der N u t z e n , die in den Gegenstand eingegangene A r beit. D a diese dem Gegenstand aber seine F o r m gaben, ohne die er nicht wäre was er ist, geht in der Verbrauchszerstörung der Gegenstand doch eigentlich zugrunde, oder wie es in der Alltagssprache heißt: kaputt. B e trachten wir Hegels Beschreibungen der Gegenstands-Zerstörung durch G e - und Verbrauch, klingt es so ähnlich wie in seinen Passagen über das Essen und Verdauen, daß man sie austauschen kann. „Der G e b r a u c h " , sagt er in § 59 der Rechtsphilosophie, „ist diese Realisierung meines Bedürfnisses durch die Veränderung, Vernichtung, Verzehrung der Sache."

Und

wenig später: „Die Sache ist zum Mittel der Befriedigung meines Bedürfnisses herabgesetzt. Wenn ich und die Sache zusammenkommen, so muß, damit wir identisch werden, eines seine Qualität verlieren. Ich bin aber lebendig, der Wollende und wahrhaft Affirmative; die Sache dagegen ist das Natürliche. Diese muß also zugrunde gehen, und ich erhalte m i c h . " 4 Mit der Erhebung der Konsumtion zum gleichberechtigten Gegenpart der Produktion war ihre Karriere im 19. Jahrhundert jedoch durchaus noch nicht am Ende. Vielmehr überholte sie die Produktion und machte sich zur eigentlich führenden oder vielleicht besser: ziehenden, also l o k o m o t i ven Kraft im ökonomischen Prozeß. So jedenfalls stellte es die ö k o n o m i sche Theorie dar, wenn sie den Vorgang der Produktion gleichsam in N a h oder Großaufnahme beschrieb. D a sah sie eine allseitige Konsumtion am Werk: Nämlich daß das Rohmaterial v o m Arbeitsprozess, und die Arbeit ihrerseits v o m Rohmaterial konsumiert wurde. Lange bevor Karl M a r x den Begriff übernahm, hatte ihn Jean-Baptiste Say eingeführt: die Konsumtion.

produktive

D a Marx aber der wichtigere und wortmächtigere von beiden

war, sei seine Beschreibung der produktiven Konsumtion hier zitiert. Sie findet sich im fünften Kapitel des Kapitals·. „Die Arbeit verbraucht ihre stofflichen Elemente, ihren Gegenstand und ihr Mittel, verspeist dieselben, und ist also ihr Konsumtionsproceß. Diese produktive Konsumtion

4 G. W. F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Vorlesung von 1821/22, hrsg. von H. Hoppe, Frankfurt/M. 2005.

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unterscheidet sich dadurch von der individuellen Konsumtion, daß letztere die Produkte als Lebensmittel des lebendigen Individuums, erstere sie als Lebensmittel der Arbeit, seiner sich bethätigenden Arbeitskraft, verzehrt. Das Produkt der individuellen Konsumtion ist daher der Konsument selbst, das Resultat der produktiven Konsumtion ein vom Konsumenten unterschiednes Produkt." 5

Dies ist nur eine der zahlreichen Stellen, in denen Marx die produktive Konsumtion, die er abwechselnd auch als konsumtive Produktion bezeichnet, umkreist, um aus ihr schließlich seine Theorie der Verelendung des Arbeiters abzuleiten: Je mehr seiner Arbeits- und das heißt Lebenskraft der Produktionsprozeß konsumiert, um so ärmer wird der Arbeiter. Mit den Worten der ökonomisch-philosophischen Manuskripte: „je mehr Werte er schafft, um so wertloser und unwürdiger (wird er), je geformter sein Produkt, um so mißförmiger der Arbeiter." 6 In die Sprache der Verdauungs-Physiologie rückübersetzt, wird der dergestalt sich verausgabende Arbeiter zur Fäkalie, also dem was übrigbleibt, wenn aus dem Nährstoff alle verwendbaren Nutzstoffe heraus assimiliert sind. Diesen Vergleich gebraucht Marx zwar nicht. Aber er drängt sich auf, wenn man die weitere Entwicklung seiner Metaphorologie und der einiger anderer Theoretiker der politischen Ökonomie im 19. Jahrhundert verfolgt. Was geschah, war die Angleichung der ökonomischen Verdauungsmetaphorik an den neuesten Stand der Physiologie, also ihre Modernisierung. Der gegen Ende des 18. Jahrhunderts erreichte Erkenntnisstand der Verdauungsphysiologie beschränkte sich nicht mehr auf die klassischen Organe - den Magen, den Darm, die Leber - sondern begriff den Gesamtkörper inklusive der Haut als einen Apparat zur Aufnahme, Verarbeitung und Assimilation der Außenwelt. Vom Organismus anstatt vom Körper sprach man seit dieser Zeit. Gemeint war damit das - wie Rudolf Virchow es später nennen würde - demokratische Neben- und Miteinander nicht nur der Organe, sondern darüber hinaus der

5 K. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Hamburg 1890, hrsg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, Berlin 1991, S. 167. 6 K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, hrsg. von B. Zehnpfennig, Hamburg 2005, S. 58.

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die Organe bildenden Gewebe, der die Gewebe bildenden Zellen, und zuletzt der die Zellen bildenden chemischen Elemente. Mit einem Wort: Was die Physiologie um 1800 auf eine vollkommen neue Basis stellte, war die moderne Chemie. Deren Geburtsjahr 1776 wenn man Antoine Lavoisiers Theorie (nicht Entdeckung!) des Sauerstoffs als ihren Beginn annimmt - war übrigens dasselbe wie das der Politischen Ökonomie, d. h. des Erscheinungsdatums von Adam Smiths Wealth of Nations. Mit welcher Gewalt die von der Chemie ausgehende neue Weltsicht um 1800 die Gemüter ergriff, wissen wir aus Goethes Wahlverwandtschaften. Die erste große Demütigung der Menschheit lange vor Darwin und Freud bestand in der Erkenntnis, daß nicht das Individuum und seine Seele zählten, sondern die chemischen Elemente und Verbindungen, aus denen es zusammengesetzt und denen es ausgesetzt war. Stoffwechsel lautete der neue Begriff, unter dem das chemisch-physiologische Geschehen nun zusammengefaßt wurde. Die den Stoffwechsel lenkenden/beherrschenden Regeln und Gesetze zu erkennen, wurde nun so wichtig wie es zuvor die Theologie gewesen war. Fast theologisch klang denn auch das Wort, mit dem man diese Fragen zu beantworten suchte. Anstelle eines nüchternen mathematischen X für die Unbekannte, um die es sich ja handelte, setzte man den eher magischen Begriff der Lebenskraft ein. Justus Liebig, der Hauptverantwortliche für die Zusammenführung von Chemie und Physiologie, beschrieb 1842 in seinem Buch über die Organische Chemie die Rolle der Lebenskraft im Stoffwechsel als eine Art Arbeitsvorgang, ja einen regelrechten Kampf: „Als eine Kraft der Bewegung, Form- und Beschaffenheitsänderung der Materie zeigt sie [die Lebenskraft, W. S.] sich durch Störung und Aufhebung des Zustandes der Ruhe, in dem sich die chemischen Kräfte befinden, durch welche die Bestandtheile der ihren Trägern zugeführten Verbindungen, die wir als Nahrungsstoffe kennen, zusammengehalten werden. Die Lebenskraft bewirkt eine Zersetzung dieser Nahrungsstoffe, sie hebt die Kraft der Anziehung auf, die zwischen ihren kleinsten Theilchen unausgesetzt thätig ist, sie ändert die Richtung der chemischen Kräfte in der Art, daß die Elemente der Nahrungsstoffe sich in einer anderen Weise ordnen, daß sie zu neuen, den Trägern der Lebenskraft gleichen oder unähnlichen Verbindungen zusammentreten; sie ändert die Richtung und Stärke der Cohäsionskraft, sie hebt den Cohäsionszustand der Nahrungsmittel auf und zwingt die neuen Verbindungen, zu Formen zusammenzutreten, welche

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Die Verdauung der Natur

keine Ähnlichkeit mit den Formen haben, welche durch die frei (ohne Widerstand) wirkende Cohäsionskraft gebildet werden [...]. Die dem Träger der Lebenskraft unähnlichen, neuerzeugten Verbindungen treten aus dem Körpertheile aus." 7

Die Lebenskraft arbeitet oder kämpft also, sie überwältigt das ihr gegenüberstehende Schwächere, verleibt es sich ein, assimiliert es, ganz so wie wir es in der Konsumtion, und zwar sowohl der produktiven wie der konsumtiven Konsumtion sahen. Zum Vergleich und zur Verdeutlichung die berühmte Stelle von Marx im 5. Kapitel des Kapital über die Arbeit als Stoffwechsel: „Die Arbeit ist [...] ein Proceß zwischen Mensch und Natur, ein Proceß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne That vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen." 8

Wie sich im 19. Jahrhundert aus dem Begriff der Lebenskraft der der Energie entwickelte und welche Rolle er im ökonomischen Denken spielte, ist von der ökonomischen Dogmengeschichte dargestellt worden. Weniger bekannt ist die bereits erwähnte Parallele zwischen Chemie und politischer Ökonomie im ausgehenden 18.Jahrhundert, personalisiert in den beiden Gründungsvätern Antoine Lavoisier und Adam Smith. Um nur kurz anzudeuten, worin ich die Parallele sehe: Lavoisier und Smith stimmen darin überein, daß sie einen bis dahin als einheitlich gesehenen Stoff beziehungsweise Prozeß - im einen Fall die Luft, im anderen die Arbeit - in seine Elemente zerlegen und die Möglichkeit aufzeigen, diese Elemente wie Bausteine zu neuen, sprich nutzbringenden und profitablen Kombinationen zusammenzufügen. Welchen Grad der Abstraktion beide Theorien darstellten, wird am Vergleich mit dem deutlich, was sie ersetzten. Das war

7 J. Liebig: Die organische Chemie in ihrer Anwendung Braunschweig 1842, S. 200 f. 8 Marx [wie Anm. 5], S. 162.

auf Physiologie und

Pathologie,

Wolfgang

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Schivelbusch

im Fall Lavoisiers die Phlogiston-Theorie der Verbrennung, im Fall Adam Smiths die (physiokratische) Überzeugung vom Ackerboden als allein wertschöpfend. Phlogiston wurde konkret-stofflich vorgestellt als der Urbrennstoff, eine Art Brennstoffkonzentrat, welches in allen brennbaren Materialien enthalten sei. In der alten vorlavoisierschen chemischen Nomenklatur wurde Phlogiston als „ölige Erde" definiert. An die Stelle von zwei Erden - der landwirtschaftlichen und der chemischen - setzten Adam Smith und Lavoisier also die fortan geltenden Abstrakta: Arbeit und Luft (Sauerstoff). In einem von Lavoisiers Experimenten zur Atmung als chemischem Prozeß wurde die von der Versuchsperson verbrauchte Luft einmal im Zustand der Ruhe, dann während der Arbeit (dem Heben eines Gewichtes) gemessen und festgestellt, daß zwischen Arbeitsleistung und Luftverbrauch eine exakte Relation bestand. Anders gesagt, die Messung des Luftverbrauchs ermöglichte eine neuartige Quantifizierung der Arbeitsleistung, egal um welche Art der Tätigkeit es sich handelte. Das geschah im Jahre 1789. Lavoisier schrieb: „Ce genre d'observation conduit à comparer des emplois des forces entre lesquelles il semblerait n'exister aucun rapport. O n peut connaître, par exemple, à combien de livres en poids répondent les efforts d'un homme qui récite un discours, d'un musicien qui joue d'instrument. O n pourrait même évaluer ce qu'il y a de mécanique dans le travail du philosophe qui réfléchit, de l'homme de lettres qui écrit, du musicien qui compose. Ces effets, considérés comme purement moraux, ont quelque chose de physique et de matériel qui permet, sous ce rapport, de les comparer avec ceux que fait l'homme de peine. Ce n'est donc pas sans quelque justesse que la langue française a condondu, sous la dénomination commune de travail, les efforts de l'esprit comme ceux du corps." 9

Ihren vorläufigen und bis heute nachwirkenden Abschluß fand die Parallelgeschichte von Physiologie und Ökonomie ziemlich genau hundert Jahre nach den Entdeckungen Lavoisiers und Adam Smiths. Um 1870 trat an die

9 A.L.Lavoisier: Œuvres

de Lavoisier.

P.Bret, Paris 1997, S. 697.

Correspondance,

Bd.6, 1789-1791, hrsg. von

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Stelle der klassischen die sogenannte neoklassische Wirtschaftstheorie, auch die Lehre des Grenznutzens genannt. Etwas vereinfacht läßt sich dieser Paradigmenwechsel bezeichnen als abnehmendes Interesse an der Produktion und zunehmende Konzentration auf die K o n s u m t i o n als den M o t o r der Ö k o n o m i e . War von 1770 bis 1870 das Endziel allen ökonomischen Handelns und Theoretisierens gewesen, die Welt mit industriellen Produkten zu füllen, so ging es ab 1870 darum, den Zustand der Uberproduktion (also dessen was ich das Ersticken der Produktion an sich selber nannte) zu verhindern. Was in der Ö k o n o m i e Uberproduktion genannt wird, aber heißt in der Physiologie: Sättigung. D e r Begriffskreislauf zwischen Ö k o n o m i e und Physiologie schloß sich wieder einmal, indem die Ö k o n o m i e um 1870 von der Physiologie lernte, was Sättigung und Ubersättigung eigentlich sind, nach welchen Gesetzen sie funktionieren und wie man sie in den Griff b e k o m m t . Von der physiologischen Psychologie des 19. Jahrhunderts - Stichworte: Wilhelm Wundt, und das sogenannte Weber-Fechner-Gesetz der Reizabstumpfung bei R e i z Übersättigung - übernahm die Grenznutzentheorie das Instrumentarium, mit dem sie jenen entscheidenden Punkt vorauszuberechnen suchte: D e n Punkt, da der Markt oder was dasselbe ist: das Bedürfnis für eine Ware gesättigt und die Zeit reif für eine neue Ware für ein neues Bedürfnis sein würde.

In dieser ökonomischen Welt leben wir bekanntlich noch heute. Weitgehende Ubereinstimmung besteht darüber, daß es die Konsumtion ist oder besser noch: der Konsumismus - der die Ö k o n o m i e und damit die Zivilisation des Westens im Innersten zusammenhält. Es gibt wenige Gegenstände, die im vergangenen halben Jahrhundert so gründlich unter die Lupe genommen und reflektiert wurden wie der Konsumismus. M a n erforschte ihn ökonomisch, statistisch, soziologisch, psychologisch, ethnographisch, ästhetisch und natürlich auch historisch. Aus allen möglichen Perspektiven wurde er betrachtet, außer derjenigen, die doch gewissermaßen die erste und unmittelbarste war und die ich halbmetaphorisch die der

Hautnähe

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nennen möchte. Denn viele Häute hat der Mensch, die ihn mit der Außenwelt verbinden und mit deren Hilfe er diese in sich aufnimmt: Von der wie Hegel einmal sagte - nach innen gestülpten Haut des Magens und der Mund- und Nasenschleimhaut über die reguläre Körperhaut mit ihren unterschiedlichen Sensibilitätsregionen bis hin zu Trommelfell und Netzhaut. Kulturgeschichte als Konsumtionsgeschichte, und Konsumtionsgeschichte als die Geschichte der hautnahen - also der physischen und physiologischen - Begegnung von Produkt und Subjekt, das wäre meiner Meinung nach ein lohnendes Feld. So könnten, um nur ein Beispiel zu nennen, die gegenwärtig in der Kultur- und Medizingeschichte so beliebten Modekrankheiten des ausgehenden 19.Jahrhunderts in neuer Beleuchtung erscheinen, wurden sie doch allesamt vorgestellt als Krankheiten der Verzehrung und Zersetzung: Die Tuberkulose, die Schwindsucht genannt wurde (und im Englischen und Französischen consumption bzw. consomption) verzehrte Zellen und Gewebe. Die Neurasthenie zersetzte das Nervensystem. Die allgemeine Degeneration war das Hinschwinden der Lebenskraft, die inzwischen Energie genannt wurde, höchstselbst. Manches spricht dafür, in diesen Krankheiten die dunkle Gegenseite der nährenden Sonne der Güterkonsumtion zu sehen. Oder eine Vorahnung dessen, was seit dem Ende des 20.Jahrhunderts das ökologische Problem heißt und ebensogut als die Schwindsucht der Natur (Ressourcen) bezeichnet werden könnte.

My Airy Spirit"1 MARINA WARNER

Zur Physik und Metaphysik des Äthers In Christopher Marlowes Drama Doctor Faustus bittet der verdammte Magier ein letztes Mal um Gnade und wendet sich von einer Macht an die nächste, um den Flammen der Hölle zu entgehen. Zuerst ruft er die Sterne an, die über seiner Geburt wachten, und fleht sie an, ihm zu Hilfe zu kommen, und dann bemüht er eine merkwürdige Mischung aus Wolken und Dämpfen, um zu beschreiben, wie seine Seele sich verbergen und gerettet werden könnte: Jetzt zieht mich auf, gleich einem Nebeldunst, In jener schwarzen Wolke schwangern Schoß, Daß mein Gebein aus ihres Schlundes Dampf Sie speie, wenn die Stürme sie zerreißen Doch meine Seele laßt zum Himmel schweben! 2

Diese verdichtete meteorologische Vision sieht Fausts sterbenden Körper als einen Dampf, der von der Hitze der Sterne hochgezogen und von Wol-

Ins Deutsche übersetzt von Catharina Berents und Wolfgang Kemp. 1 Ariel wird in den Dramatis personae von Shakespeares The Tempest als „airy spirit" vorgestellt. 2 Ch. Marlowe: Doktor Faustus, übers, von W. Müller, München 1911, S. 169.

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Marina

Warner

ken aufgezehrt wird, welche die Gestalt von Mutterleibern haben. In dieser neoplatonischen Vision, die dem mystischen Neopaganismus Marsilio Ficinos nahe steht, entsprechen die großen Himmelskörper der mikrokosmischen Form des Menschen und werden in Marlowes komplexer Metaphorik mit Mündern ausgestattet, die atmen und ausspucken können. Anscheinend möchte Faustus von der Macht der Sterne in einen feinen Regen verwandelt werden, den die Wolken fallen lassen, der aber zu neblig, zu leicht, zu subtil ist, um zur Erde zu sinken, und eher wie Cirrus-Wolken in die oberen Himmelsbereiche aufsteigen könnte. In Marlowes Epoche und noch stärker im 17. Jahrhundert widmeten sich Naturforscher der Aufgabe, den Lebensgeist auf empirische Weise zu bestimmen, und sie bedienten sich dazu erneut meteorologischer Metaphern, die in der Antike die Lebenskraft umschrieben. Nicht nur Engel waren in Luft gehüllt, auch die Sterblichen wurden von Luft am Leben gehalten, was zur Folge hatte, daß eine Fülle von Bildern, die von Atem und Wolken, von Rauch und Nebel handelten, in Gebrauch kam. Weniger ernst als Marlowe bezogen sich John Dryden und William Davenant auf die materialistische Wende in der kosmologischen Spekulation in ihrer reizvollen und oft aufgeführten Fassung von Shakespeares The Tempest, die als The Enchanted Island 1669, also sechzig Jahre nach dem Original herauskam. Die Seele erscheint dort in Bildern von Atem und Niederschlag, so wie in dem folgenden Dialog: Dorinda: Oft frage ich mich, was es heißt zu sterben. Hippolito: Das ist wie Träumen, eine Art von atemlosem Schlaf, wenn erst die Seele einmal ausgegangen ist. Dorinda: Was ist die Seele? Hippolito: Ein kleiner Hauch, der sich in uns hin und her bewegt. Dorinda: Dann habe ich sie gesehen, als an einem frostigen Morgen Rauch von meinem Mund aufstieg. Hippolito: Aber wenn meine Seele mich verlassen hat, dann sollte sie auf eine Wolke steigen, genau über dir, und von dort oben herunterschauen.3

3 J. Dryden mit W. Davenant: The Enchanted Island, in: J. Dryden: The Works, Berkeley und London 1970, Bd. X, Akt V, Sz. 2, Vers 16 ff.

„ My Airy Spirit"

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Dorinda stellt sich also vor, daß ihr kondensierender Atem ihre Seele darstellt, während Hippolito sich ausmalt, daß seine Seele auf einer Wolke über ihr wohnen würde. Wie ihr Dialog beweist, fielen in der Alltagssprache die klassischen und die theologischen Unterscheidungen zwischen Seele und Lebensgeist zusammen. Während die Untersuchungen der Naturforscher sich darauf konzentrierten, die Grenzen und den Charakter der Materie in ihrer flüchtigsten Form zu bestimmen, bleibt diese Verbindung zwischen Lebensgeist und Materie in den allgemeinen Theorien des Lebensgeistes erhalten, die einige philosophische Richtungen aufstellten und die in den modernen Lehren der Theosophie und des Spiritualismus gipfelten. Davon wird dieser Vortrag handeln.

Der Äther Zuerst aber zur Natur des Lebenshauchs oder Lebensgeistes (spirit, spiritus). Das Wort spiritus kann eine flüchtige Essenz bezeichnen: Malzwhisky genauso wie ein Desinfektionsmittel oder einen Brennstoff. Metaphern legen dieser Substanz Qualitäten bei, die von großer Wirkung handeln: Essenzen, Elixire, Alkohole, Leime, Petroleum und Benzin, Flüssigkeiten dieser Art betäuben durch ihre Emanationen oder haben bewußtseinsverändernde Effekte - das gilt natürlich vor allem auch für das Narkotikum Äther, das den griechischen Namen der Himmelsluft über den dichteren Luftschichten trägt. Man erinnert sich an die berühmte Einladung aus Eliots The Love Song of J. Alfred Prufrock: Let us go then, you and I, When the evening is spread out against the sky Like a patient etherized upon a table [...]. Komm, wir gehen, du und ich, wenn der Abend ausgestreckt ist am Himmelsstrich Wie ein Kranker äthertaub auf einem Tisch [ . . . ] 4

4 T. S. Eliot: Prufrock and Other Observations, in: Gesammelte E. Hesse, Frankfurt/M. 1972, S. 7.

Gedichte,

hrsg. von

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Marina Warner

Dieser Äther, die obere Himmelsphäre, das interstellare Medium, entzieht sich der Darstellung - weil er von Natur aus unsichtbar, nicht-substantiell, unwägbar ist. Er figurierte in jenem leeren Fleck auf der Wand, von dem Leonardo meinte, er könne mit Engeln oder Wolken oder Vögeln gefüllt werden, denn der ätherische Raum verlangt nach visuellen und verbalen Metaphern, um sich überhaupt begreifbar zu machen. Das Adjektiv „ätherisch" wird auf den toten Körper angewandt, den unheimlichen Doppelgänger der lebenden Person. Äther, ätherisch bezeichnet also ursprünglich eine Art von Luft, die sehr eng mit den Vorstellungen von Lebensgeist und Geistern verbunden war. Metaphern des Ätherischen dominieren die Wahl des Darstellungsmediums, von Wolken in der Malerei des 17. Jahrhunderts und danach bis zu den unsichtbaren Strahlen und Wellen in der Naturwissenschaft der beiden letzten Jahrhunderte. Jupiter war der Gott des Blitzes und der Unwetter, und sein angestammter Aufenthaltsort war der Äther, das feurige Luftreich unterhalb der Sphäre der Fixsterne. In Correggios Iupiter und Io aus der Serie der Götterliebschaften erscheint er in einen blauschwarzen Nebel gehüllt, als er sie umarmt und sie sich seiner Umarmung hingibt (Abb. 1). Der Äther wurde auch mit dem Empyräum identifiziert, wo der jüdisch-christliche Gott zusammen mit den höchsten Engeln seine Wohnung hatte, und dieses Wort Empyräum, von pyros, Feuer abgeleitet, bemüht ebenfalls das Bildfeld von Feuer, Licht und göttlicher Entrücktheit. Im 1. Buch der Metamorphosen beschreibt Ovid, wie am Anfang der Weltschöpfung der Himmel von der Erde getrennt wird und der „feurige Äther" am höchsten rangiert, über der Luft, in der die Stürme wehen. Als Prometheus das erste menschliche Wesen erschafft, nimmt er Erde, „die jüngst vom erhobenen Äther/ Los sich wand/ noch Samen enthielt des befreundeten Himmels" und mischt sie mit Regenwasser.5 Die Menschheit entsteht also aus einer Mischung aus Feuer, das vom Himmel fällt, und aus Wasser, das auf die Erde gefallen ist. Die Darstellung aus einem AlchemieTraktat, die zeigt, wie Jupiter in Gestalt eines Goldregens auf Danae herab-

5 Ovid: Metamorphosen I, 67 ff.

My Airy Spirit "

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steigt, symbolisiert bezeichnenderweise das Element der Luft und nicht das Feuer (Abb. 2). Tizian und andere interpretierten den Goldschauer als einen Regen aus Goldstücken, der nur indirekt durch die Assoziationen mit Ausglühen, Schmieden und Pressen eine Verbindung mit dem Feuer unterhält. Aber die feurigen und rauchigen Affinitäten des Äthers, die Jupiters alchemistische Metamorphose verkörpert, wurden durch einen Restbestand vorsokratischer Physik inspiriert, der durch Ovids Metamorphosen weite Verbreitung fand. In Ovids Kosmologie heißt die obere Luftschicht „ignis", Feuer, und das hat späteren Lesern immer wieder Schwierigkeiten bereitet, so daß manche Ubersetzer „ignis" durch „feurigen Äther" ersetzt haben: Imminet his aer: qui, quantost pondere terrae Pondus aquae levius, tantost onerosior igni. 6 O v e r all these regions hangs the air, as much heavier than the f i e r y aether as it is lighter than earth or water. ( M a r y M. Innes) U b e r sie raget die Luft, die so viel, als gegen die Erde Leichter wiegt das Gewässer, an Last v o r dem Feuer gewinnet.

Ebenso gehört Ariel, die Figur aus Shakespeares Tempest und Prosperos „airy spirit", nicht dem Reich der Luft an, wie wir das heute verstehen würden, sondern er insistiert auf der feurigen Natur seines Elements: Ich komme, deinen W i n k e n zu begegnen. Sei's Fliegen, Schwimmen, in das Feuer tauchen, auf krausen W o l k e n fahren [...].

Es ist durchaus möglich, daß das Feuer hier Äther meint, denn Ariel beschreibt daraufhin, wie überall: Flammt ich Entsetzen; bald zerteilt' ich mich U n d brannt' an vielen Stellen; auf dem Mast A n Stang' und Bugspriet flammt' ich abgesondert Floß dann in eins. 7

6 Ebd. 1 , 4 8 f. 7 W. Shakespeare: Der Sturm 1. A k t , 3. Szene.

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Metonymische Affinitäten zwischen Äther und Wolken, zwischen körperlosen Geistern und Rauch beherrschen auch den Symbolismus des Opfers. Im jüdischen Ritual, wie es uns die hebräische Bibel überliefert, werden die Gaben durch das Verbrennen von Weihrauch begleitet; ebenso findet in der katholischen Messe die symbolische Wiederaufführung von Christi Tod in einer raucherfüllten Atmosphäre statt. Die Anthropologin Mary Douglas hat in ihrem Kommentar zu den Opfervorschriften des Buches Leviticus darauf hingewiesen, daß der Rauch, der Gott auf dem Berg Sinai vor Moses' Blicken verhüllt, in Form des Weihrauchs wiederkehrt, der das Allerheiligste im Tempel abschirmt. 8 Doch während der Weihrauch das wirkliche Verbrennen des Opfers nur symbolisiert, war es der „liebliche Geruch" (Gen. 8, 21) von Noahs Brandopfer, der Gott bewog, die Menschheit nicht mehr verfluchen und vernichten zu wollen. Die Verbrennung von Tieren und von Getreide im Ritual des Tempels entmaterialisiert ihre körperliche Substanz, sie werden in Rauch verwandelt, der dann zum Himmel aufsteigt und Materie und Geist im Medium des Äthers vereinigt. Die Bilder, welche die Auffahrt der christlichen Heiligen und ihre Uberführung in einen überirdischen Zustand zeigen, die schwellenden Wolken, die in Tizians Himmelfahrt Mariens in der Frari-Kirche in Venedig (Abb. 3) oder in der Apotheose Sebastiano Riccis (Abb. 4) Heilige in die Höhe tragen, profitieren von dieser „Thermodynamik", sie drücken einen Prozeß der „Ätherisierung" aus. Die Wolken, welche die Heiligen umhüllen, steigen wie Rauch von einem Altar auf, wie Weihrauch aus einem Weihrauchfaß. Sie verbildlichen nicht nur den Aufstieg zum Himmel, sondern deuten auch die Verwandlung von einem Element ins andere an. Sie funktionieren als Teil einer heiligen Syntax, indem sie in den Grenzen des Sichtbaren einen unkörperlich gedachten Körper zeigen, der im Zustand der Erlösung verdampft und aus Materie zu Luft sublimiert wird. N o c h deutlicher als in Tizians berühmtem Gemälde von 1516-18 sehen wir das in Poussins Gemälde zum selben Thema, das über hundert Jahre später entstand (Abb. 5). Die Jungfrau fährt in die

8 M. Douglas: The Eucharist, its Continuity with the Bread Sacrifice of Leviticus, Vortrag Duke University, April 1998. Ich bedanke mich bei Mary Douglas für die Einsichtnahme in das Manuskript.

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Höhe, während dunkler Rauch sich spiralförmig um ihren Leib legt, so als wäre der Sarkophag ein Altar und als würde sie im Rauch des Opfers zum Himmel steigen. Putti unterstützen ihren Flug, halten ihren Mantel, tummeln sich in den Wolken, erscheinen von gleichem Stoff gemacht, und geleiten sie zu der Öffnung, die sich über ihrem Kopf auftut. Der Äther war also das wichtigste Medium des Heiligen, der Bindestrich zwischen Materie und Geist, oder, mit dem Begriff von Deleuze, die Falte, die sie einfaltet. 1656 beschrieb der Jesuit Athanasius Kircher, wie er auf einer „ekstatischen Reise" durch die Himmel fuhr. Sein Alter Ego, der Visionär Theodidactus, der Gottgelehrte, wird durch die verschiedenen Sphären von einem Engel namens Cosmiel geführt. Als sie den Äther erreichen, kann Theodidactus nicht mehr atmen. Die Atmosphäre wird so dünn, so „subtil". Er fragt Cosmiel: „[...] was ist das für ein starker Duft, stärker als Weihrauch und Moschus, den ich jetzt rieche, und durch den ich mich durch und durch wiederbelebt fühle?" Cosmiel klärt ihn auf, daß sie den Planeten Jupiter erreicht haben und daß der Geruch „die heilende Ausdünstung der Sphäre Jupiters ist, ein deutliches Zeichen, daß wir uns seiner Atmosphäre nähern". 9 Vielleicht könnte man diese Ausdünstungen der Atmosphäre vergleichen, wie sie im Allerheiligsten oder an den Altarschranken einer katholischen Kirche anzutreffen ist. Kurze Zeit später veröffentlichte der jesuitische Magier den Mundus Subterráneas (1665), von allen seinen Büchern das am schönsten illustrierte, ein Buch über Vulkane und Quellen, Seen unter den Anden, die „Mondberge" Südafrikas, über Edelsteine, Felsen, Strudel, Geysire, Tunnel durch das Erdinnere, riesige Höhlen und ihre Drachen, Salze, Mineralien und Gifte. Dieses Hauptwerk der Buchproduktion des 17. Jahrhunderts, das teils visionäre Erfindung, teils atemberaubende wissenschaftliche Analyse, teils alchemistische und astrologische Magie, teils Raritätenkabinett ist, enthält einige wirklich erstaunliche doppelseitige Illustrationen. 10

9 10

A. Kircher: Itinerarium Exstaticum quo Mundo Opificium, Rom 1656, Teil 1, S. 205. Ders.: Mundus Subterraneus, Amsterdam 1665-68, S. 193.

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Kircher war von R o b e r t Fludd beeinflußt, dessen B u c h Utriusque

Cosmi

1619, also ca. 50 Jahre vor Kirchers erschienen und ebenfalls üppig illustriert war. Seine Stiche, für die die Werkstatt T h e o d o r e de B r y s verantwortlich war, beginnen mit einer feurigen Ätherballung: A u f der Tafel zur „Teilung der Wasser" (Abb. 6) erscheint der strahlende „Äther-Geist", der „als Vehikel der Seele beim Abstieg in die Materie dient", als helle Wolke, welche die dunkle der Prima Materia umgibt. 1 1 Die Verbindung der Elemente geht aber aus einer regenfeuchten und dunstigen Atmosphäre hervor, wie sie normalerweise mit der Stratosphäre und ihren Wolkenbildungen assoziiert werden. D i e grauen, indigoblauen und purpurfarbenen T ö n e , welche die barocken Künstler dem überirdischen R a u m geben, und das tendenziell Rauchige, das sie den Wolken verleihen, suggerieren ebenfalls, daß das Element des Äthers das Feuer ist, nicht die Luft. Dies wird erhebliche Konsequenzen für das Zeichenrepertoire haben und bis in die modernen Vorstellungen über die Art und Weise, wie sich Geister, etwa als E k t o plasma, manifestieren, fortwirken. D i e visionäre Sicht auf den Äther erreichte Kreise weit jenseits jesuitischer Gelehrsamkeit. Kirchers wahrlich wunderbare Hypothesen wurden ins Englische von einem begeisterten Vulkanologen übertragen. Seine gekürzte Version kam 1669 heraus und trug den phantastischen Titel The

cano's or, Burning and Fire-Vomiting With their Remarkahles

Vul-

Mountains, Famous in the World:

[ . . . ] D e r Autor paraphrasiert Ovid, um Kirchers

kosmologische Äquivalenz von Luft und Feuer zu unterstützen: Die so abgeteilte Erde wird in Ströme verwandelt, Wasser in Luft, die reinere Luft in Flammen. Von wo sie zurückkehren: Die feurigen Funken Werden in Luft zurückverwandelt, die Luft nimmt Die flüssige Form des Wassers an, woraus Erde entsteht. 12

11 R. Fludd: Utriusque Cosmi, Oppenheim 1617, Bd. 1, S. 35 f. 12 A. Kircher: The Vulcano's or, Burning and Fire-Vomiting Mountains, Famous in the World: With their Remarkahles, Collected for the most part out of Kircher's Subterranenous World, London 1669, S. 55 (Hervorhebung M. W.).

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Man stellte sich vor, daß der „luminiferous ether", der lichtführende Äther, aus unsichtbaren, unwägbaren, losen und feurigen Lichtdämpfen bestehe. In dieser unfaßbaren Gestalt regte der Äther ein nicht abreißendes Theoretisieren an, das zu durchaus konträren Ansichten führte: Für Newton war der Äther aus „ätherischen Geistern oder Dämpfen" gemacht, und er schlug vor, hierin das Protoplasma zu sehen, aus dem die physische Welt an ihrem Anfang entstand. 13 Newtons Ideen kann ich hier nicht weiter entwickeln, aber es sei darauf hingewiesen, daß er, sehr zur Verwunderung seiner Kommentatoren, am Ende seines Lebens zu seinen frühen Theorien über den Äther zurückkehrte. Einige seiner Variationen über das Thema aus den 1670er Jahren wurden erst viel später, nämlich 1744 publiziert, und lösten dann erst Nachwirkungen aus.14 Wie D.P.Walker nachwies, befaßte sich Newton erneut mit dem Äther aufgrund der Experimente, die sein Student Francis Hauksbee im Jahre 1706 anstellte und die zur Erfindung der „Influence Machine" führte, einer Kugel, die bei ihren Umdrehungen knisterte und blitzte. 15 Newton schrieb, daß der Geist des Äthers „so fein und subtil ist [...], daß er bei seinen Ausstrahlungen an seinem elektrischen Körper keinen nachweisbaren Gewichtsverlust erleidet". Auf diese Weise belebte er das alte Rätsel neu, daß dieses Phänomen materiell, aktiv und fühlbar gedacht wird und doch im Experiment keine körperlichen Qualitäten offenbart. Im letzten Abschnitt der Principia von 1713 kehrt Newton zu diesen neuerdings offenbarten feurigen Eigenschaften der unsichtbaren Luft zurück und verhehlt

13

G. N . Cantor: The theological significance of ethers, in: Conceptions in the History

of Ether

Theories

1740-1900,

of Ether.

Studies

hrsg. von G . N . Cantor und M . J . S .

Hodge, Cambridge 1981, S. 135-155. 14

Wie L. Barrow bemerkt: „Ab 1745 postulieren alle britischen Physiker, die sich mit Elektrizität befassen, eine besondere Art von elektrischer Materie, die sie mit dem volatilen, subtilen und universellen Äther Newtons identifizieren oder in Verbindung bringen." L. Barrow: Independent 1850-1910,

15

Spirits. Spiritualism and English

Plebeians

London 1986, S. 73.

D. P. Walker: Medical Spirits and G o d and the Soul, in: Spiritus: IV Colloquio Internazionale, Rome 7 - 9 January 1983, hrsg. von M. Fattori und M. Bianchi, R o m 1984, S. 2 2 3 - 2 4 4 .

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seine Verwunderung nicht: „Es ist angebracht, etwas über einen gewissen, sehr subtilen Lebensgeist zu sagen, der die groben Körper durchdringt und in ihnen verborgen liegt und durch deren Kraft und Wirkungen die Partikel der Körper sich bei geringer Distanz anziehen und bei Berührung zusammenhängen. Und die elektrisierten Körper agieren auf größere Distanz, indem sie kleinere Körper in ihrer Nähe sowohl anziehen als auch abstoßen. Und Licht wird ausgesandt, reflektiert, refraktiert, abgelenkt und erhitzt Körper. Und alle Sinne werden erregt und die Glieder der Tiere werden durch Einwirkung der Vibrationen dieses Geistes bewegt, der sich durch die Nervenbahnen von den äußeren Sinnesorganen bis zum Gehirn und vom Gehirn zu den Muskeln mitteilt." Man kann Newton nur zustimmen, wenn er mit den Worten schließt: „Aber diese Sachverhalte können nicht mit wenigen Worten dargestellt werden. Auch gibt es nicht genügend Experimente, durch welche die Gesetze dieses Lebensgeistes genau bestimmt und aufgezeigt werden können." 16 Wie Walker bemerkt: „Das Rätsel also bleibt." Wenn italienische Künstler wie Correggio die Energie ausstrahlenden Köpfe ihrer Putti mit den wirbelnden Himmelswolken vermischten (so in Correggios Fresken für den Dom von Parma) oder wenn bei Tintoretto der Erzengel Gabriel auf turbulenten Rauchkissen durch die Wand von Marias Zelle bricht, dann versuchten diese Maler im Bild die Eigenschaften des Äthers zu fassen. Seine geflügelten Bewohner sind Emanationen aus Licht und Feuer und Luft und ihren Wölbungen und Aushöhlungen angepaßt. Der barocke Himmel erscheint als geronnener Schaum, Körper, aber nicht Fleisch geworden, corpus sed non caro. Correggios einnehmender Gott aus blau-grauem Nebel, das Gewölk und die steigenden Rauchsäulen der barocken Himmel beziehen ihre Metaphorik für das Göttliche aus den Bestimmungen einer Materie. Sie entsprechen den frühneuzeitlichen Theorien über den unwägbaren und unsichtbaren Äther. Der feurige Äther verschwindet nicht nach dem 17. Jahrhundert. William Blakes Song of Experience über ein Baby, das auf die Welt kommt, „help-

16 I.Newton: Principia, 1713: General Scholium.

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less, naked, piping loud,/ Like a fiend hid in a cloud", „hilflos, nackt, krähend laut/wie ein Unhold verborgen in einer Wolke", argumentiert vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Meteorologie und Naturwissenschaft. Der Künstler Cornelius Varley stellte sich wie viele seiner Zeitgenossen in der Wissenschaft vor, daß die Wolken aus „athmosphärischer Elektrizität" bestünden. Nachdem er Regenwolken über Snowdon beobachtet hatte, schrieb er: „Ich glaube, ich sah und verstand hier den allmählichen Ubergang von einem wolkenlosen Morgenhimmel zu allgemeinem Regenfall, dabei entstand ein lautloser, unsichtbarer Fluß der Elektrizität zu den Bergen hin." 17 Auch der Pionier der Himmelsbeobachtung, Luke Howard, der erste Meteorologe, der eine Taxonomie der Wolken entwickelte, spekulierte, daß Wolken durch elektromagnetische Attraktion und durch Kondensierung entstünden und daß „Regen in fast jedem Fall das Ergebnis elektrischer Reaktionen der Wolken aufeinander [...]" 18 sei. Meteorologische Phantasien erfüllen auch Shelleys überschäumendes, dynamisches Gedicht The Cloud, von 1820. Der Dichter spricht hier in der ersten Person als Wolke, so als handele es sich um eine Ballade oder ein altes angelsächsisches Rätsel, und stellt sich vor, wie er Blitze über die Himmel schickt und wie er das feurige, elektrisierende Spiel seines Elements genießt: While I sleep in the arms of the blast, Sublime on the towers of my skiey bowers, Lightning my pilot sits [...] 19 Während ich im Arm des Sturmes schlafe, sitzt hoch auf den Türmen meiner himmlischen Lauben der Blitz, mein Pilot [...]

17 Zit. nach A. Lyles: „That Immense Canopy": Studies of Sky and Cloud by British Artists ca. 1770-1860. Das Manuskript wurde freundlicherweise von der Autorin zur Verfügung gestellt. 18 L. Howard: O n the Modifications of Clouds, and on the Principles of their Production, Suspension, and Destruction, in: The Philosophical Magazine 16, 1802, S. 97107; 17, 1803, S. 5-11. 19 G. B. Shelley: Poetry and Prose, hrsg. von D . H . R e i m a n und Sh.B.Powers, N e w York und London 1977, S. 223-225.

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Shelley deutet dann die positiven und negativen Zusammenstöße von Himmel und Erde als Erscheinungen des Geistes der Liebe. Der feurige Asther knistert und zündet auch in einem der verblüffendsten Hymnen auf die göttliche Schöpfung aus der Feder von Gerald Manley Hopkins: That Nature is Heraclitean Fire and of the comfort of the Resurrection, geschrieben 1888. In einem Brief dieses Jahres gibt der Dichter als Quelle „frühe griechische Philosophie" an, bemerkt aber gleichzeitig, daß „die Flüssigkeit nach ihrer Destillierung nicht sehr Griechisch schmeckt". In der Tat komponiert Hopkins seine eigene Kosmologie sowohl aus vorsokratischen Theorien, als auch aus Motiven der elektrischen Physik. Wiederum grenzt sich das Spektakel des Wolkenhimmels zum Äther ab und stellt in den besser nicht übersetzten Eingangszeilen die beredteste Metapher für die Dynamik der natürlichen Lebenskraft: Cloud-puffball, torn tufts, tossed pillows ' flaunt fort, then chevy on an air Built thoroughfare: heaven-roysterers, in gay-gangs ' they throng; they glitter in marches [...]

Das phantastische Wortgemälde der glitzernden Wolkenbänke, die von stürmischen Winden bewegt werden, setzt sich fort und handelt von den Auswirkungen auf die Erde, bis der erste kurze Satz die Fuge unterbricht: Million-fuelèd, ' nature's bonfire burns on. [...] 2 0

Hopkins beklagt daraufhin, daß der ätherische Funken im Menschen erstorben ist, ertränkt wurde, ausgetreten ist usw. Dann wendet er sich zu Gott und zu seinem Rettungswerk, und dessen Akt der Begnadigung erscheint im Bild eines expliziten Kontrastes zwischen zwei Resultaten von Verbrennung. Die „wilden Feuer der Welt" verbrennen ihre Objekte und „lassen nur Asche übrig", aber der Große Brand am Ende der Tage wird dem Dichter in einem alchemistischen Prozeß der Transsubstantiation zu einer neuen Form verhelfen:

20

G. M. Hopkins: Poems, Harmondsworth 1961, S. 65-66.

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In a flash, at a trumpet crash, I am all at once what Christ is, ' since he was what I am, and This Jack, joke, poor potsherd, ' patch, matchwood, immortal Diamond Is immortal diamond. 2 1

Das Oxymoron von Staub und Asche hat in Jacques Derrida eine seiner poetischsten Meditationen ausgelöst. In Cinders, einem Essay aus dem Jahre 1984, entwickelt er eloquent die metaphorischen Unterscheidungen, die Asche von Rauch trennen, diesen symbiotischen Doubles des Opfers, die beide für das Vergängliche und Sterbliche stehen, aber ebenso auch mit ganz unterschiedlichen Assoziationen gefüllt sind. „Ich habe nun den Eindruck, daß das beste Paradigma für die Spur nicht, wie manche glauben, die Fährten sind, die der Jäger verfolgt, nicht die Furchen, die Linien im Sand, das Kielwasser, die Liebe des Fußtritts zum Fußabdruck, sondern die Asche, die vom Brandopfer und vom Weihrauch übrigbleibt, ohne zu bleiben." 22 Derrida konzentriert sich auf die Asche, die bleibt, auf den irdischen und materiellen Rest und er verweist seine Leser auf ein Sonnet von Mallarmé, in dem der Dichter das alte Bündnis von Atem und Seele in einem durch und durch modernen Bild erneuert - dem Rauchen einer Zigarre. Das Gedicht beginnt mit den Zeilen: Toute l'âme résumée Quand lente nous l'expirons Dans plusieurs ronds de fumée [ . . . ] Die ganze Seele ist versammelt Wenn wir sie langsam In mehreren Rauchringen ausatmen [ . . . ]

Mallarmé elaboriert dieses Bild: Die Seele verläßt den Körper, wenn die Asche vom glühenden Ende abfällt: Q u e la cendre se sépare De son clair baiser de feu.

21

Ebd., S. 66.

22

J. Derrida: Cinders, übers, von N e d Lukacher, Lincoln (Nebraska) 1984, S. 43.

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Marina Warner Während die Asche sich trennt Von ihrem hellen Feuerkuß.

U n d dann spinnt er dieses spielerische Bild weiter aus, u m seine Ideen von Inspiration und Phantasie mitzuteilen: Exclus-en si tu commences Le réel parce que vil Le sens trop précis rature Ta vague literature. Schließe, wenn du beginnst, Das Wirkliche aus, Denn es ist gewöhnlich. Der zu präzise Sinn entleert Das Vage deiner Dichtung. 23

Diese Paare Seele/Körper, R a u c h / A s c h e nehmen an einem Prozeß teil, der Seele und Körper durch die Metamorphose der Substanzen miteinander verbindet, so wie beim Rauchen oder wie beim Opfer. Mallarmé, offenbar im Bann des gallischen Denkens in Dualismen, identifiziert umstandslos das Dichten mit dem aufsteigenden, immateriellen Rauch und nicht mit der fallenden Asche. In demselben Sinne ruft Derrida später aus: „Was für ein Unterschied zwischen Asche und Rauch. Rauch scheint sich selbst zu verlieren und steigt auf, ohne einen Rest zu hinterlassen, vertraut sich der Luft an, wird subtil und verfeinert sich selbst. Asche dagegen fällt, ist müde, schwer, leicht teilbar." 2 4 Es ist aber eine Bemerkung wert, daß für Mallarmé der Rauch einer Zigarre, indem er seine Quelle ätherisiert, notwendig heiß ist, sogar feurig und damit chemisch wie physisch unterschieden vom Atem. Dieser Unterschied wurde in der vormodernen Physik sehr viel deutlicher herausgearbeitet als heute, da unter dem Eindruck passiven Rauchens sich die Differenzen einebnen, und auf eine vielleicht gegen die Intuition gehende Weise prägt er die Geschichte des Äthers, mit Folgen, die uns die Bildwelt der himmlischen Sphären, ihrer Grenzziehungen und ihrer historischen Kontingenzen verstehen helfen. 23 24

St. Mallarmé: Sonnet Toute l'âme résumée (1895) Derrida [wie Anm. 22], S. 73.

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Am Ende des 19. Jahrhunderts, als Mallarmé und Hopkins ihre brennbare Seele als Rauchring bzw. als Niederschlag von Asche imaginierten, schrieben sie vor dem Hintergrund eines konzertierten Vorstoßes in die Reiche des Unsichtbaren und sie griffen, wie es damals nur zu nahelag, zu Metaphern der Verbrennung, Kondensation und anderer ruheloser physischer Prozesse der Metamorphose. Das Element der Luft wurde zunehmend gehaltvoller, je mehr Instrumente sich seiner Geheimnisse annahmen. Verschiedene Gase wurden in dieser Periode naturwissenschaftlicher Erregung entdeckt. Gas, ein Wort, das auf Chaos zurückgeht und mit Geist, Geister, ghostly verwandt ist, durchzieht die Bilderwelt des Sublimen und erfüllt sie mit seiner Neigung zu Eruptionen und Turbulenzen. Wasserstoff hatte man schon 1700 identifiziert, Sauerstoff erst kurz nach 1800, und im Jahr 1810 hatte Humphry Davy das tödliche, atemberaubende Chlorgas, aber auch das Lachgas entdeckt. Dann stieß man in den 1890er Jahren auf eine Reihe neuer, unsichtbarer und tendenziell unnachweisbarer, permanenter Gase: Sir William Ramsey und Lord Rayleigh entdeckten 1894 Argon, 1895 Helium und im Jahr 1898 Neon, Xenon und Krypton. William Crookes bestätigte ihre Funde.25 Diese permanenten Gase wurden als Edelgase nobilitiert und an die Spitze des Periodischen Systems der Elemente und über die flüchtigen und brennbaren Gase gestellt, auf diese Weise mit den göttlichen Attributen der Ewigkeit und Unveränderlichkeit ausgestattet, im Gegensatz zur Tendenz der Materie zu Verwandlung und Verfall - siehe Mallarmés Verbrennung des Tabaks zu einem Rest Asche: „le réel [...] vil". Aber diese Entdeckungen der Physik spielten unablässig in die Metaphysik hinein und beeinflußten die Vorstellungen über physische und psychische Kräfte. Der Raum des Unsichtbaren war nicht nur von den ver-

25

Die Namen, die Ramsay den Gasen gab, sprechen von dem symbolischen Wert, den man dem Element Luft beimaß: Argon heißt nach Argos, dem vieläugigen Wächter, den Jupiter über in eine Färse verwandelte Io bewachen ließ - wollte Ramsay damit andeuten, daß diese durchdringende Substanz uns mit unsichtbaren Blicken einhüllt? Helium ist das leichteste aller Gase und wurde nach dem Sonnengott benannt, Xenon bedeutet fremd, Neon neu und K r y p t o n geheim.

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schiedensten Arten von Luft, sondern auch von Wellen erfüllt. D i e Untersuchungen zum elektromagnetischen Feld veränderten die Wahrnehmung des feurigen Äthers und wirkten in die Erforschung des Geistes hinein. Theorien Mesmers in Verbindung mit Konzepten von Elektrizität, die E n t deckung der Röntgenstrahlen im Jahr 1895, die durch Experimente von William C r o o k e s mit dem Vakuum vorbereitet wurde, die Bestimmung der Radiowellen und die nachfolgenden Erfindungen von Radio, Télégraphié, Telefon, all diese Entwicklungen heizten dieses Entdeckungsfieber auf dem Gebiet des Unsichtbaren an. Es mußte scheinen, als gäbe es unendlich viele Arten der K o m m u n i k a t i o n durch den Äther, und sie verbündeten sich mit der Suche nach der Möglichkeit, O b j e k t e auf Distanz physisch zu bewegen, in Analogie zu den Radiowellen. 2 6 Von unserer heutigen abgeklärten Position aus können wir uns nur schwer vorstellen, wie aufregend, faszinierend und extrem das Potential dieser neuen Instrumente auf die Zeitgenossen wirkte. D i e im Unsichtbaren agierenden neuen Medien hinterließen ihre fühlbaren Spuren: Radiowellen konnten von den menschlichen Sinnesorganen nicht empfangen werden, nur die Wirkung der neuen Ü b e r mittlungsmethoden, wie die von ihnen bewegte Nadel, die auf eine T r o m mel schlägt, oder die verfremdeten und entkörperlichten Stimmen aus dem Radioempfänger waren wahrnehmbar. D i e Gewißheiten der optischen Verifikation mußten ihre Hegemonie an die Gewährleistungen durch Präsenz, G e h ö r und Gefühl abgeben. 2 7 Solche Materialisierungen der Wirkungswei-

26 Siehe M. Roth: Hysterical Remembering, in: Modernism/Modernity 3, 2, 1996, S. 130; L. Rainey: Taking Dictation: Collage Poetics, Pathology, and Politics, in: Modernism/Modernity 5, 2, 1998, S. 123-153; R. Luckhurst: (Touching on) Tele-Technology, in: Applying: To Derrida, hrsg. von J. Brannigan u.a., London 1996, S. 171-183; S. Connor: The Machine in the Ghost: Spiritualism, Technology, and the "Direct Voice", in: Ghosts: Deconstruction, Psychoanalysis, Histories, hrsg. von P. Buse and A. Stott, London 1999, S. 203-225. 27 Steven Connor betont, daß „eine auf Beobachtung und Kalkül gestützte wissenschaftliche Kultur, die um die isolierenden Kräfte des Auges herum organisiert war, im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts neue Formen der Technologie, vor allem der Kommunikationstechnologie entwickelte, die das Ohr stärker als das Auge nutzten". Ich bin Steven Connor sehr dankbar für die Einsicht in sein unpubliziertes

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sen der neuen Medien wurden stark nachgefragt. D a die Sinne oft versagten, wuchs die Abhängigkeit von sekundären und technologisch vermittelten Zeugen der verborgenen Energien - man denke an die Röntgenaufnahmen. D i e Ausweitung des Wortsinns Medium auf eine Person mit paranormalen Fähigkeiten, die um 1850 stattfand, weist auf den Parallelismus hin, den man zwischen dem Vehikel, dem Äther, und seinen Wirkungen empfand. D i e neuen Technologien eröffneten also Bereiche, die bis dato jenseits der Zugriffsmöglichkeiten naturwissenschaftlicher Untersuchungen lagen. William James wies auf diese Ähnlichkeit naturwissenschaftlicher und spiritualistischer Experimente hin, als er schrieb, daß Phänomene wie das automatische Schreiben „zu Instrumenten der Forschung wurden, Reagenzien wie das Lackmus-Papier oder das Galvanometer, u m anzuzeigen, was sonst unsichtbar geblieben wäre". 2 8 Es ist also mehr als eine Koinzidenz, sondern ein Effekt der Konvergenz der Ideen, daß die Society for Psychical Research 1888 in England von Männern gegründet wurde, die zum großen Teil mit dem Trinity College, Cambridge assoziiert waren: H e n r y Sidgwick, der Philosoph, F. W. H . M y ers der Altphilologe. Ihr amerikanisches Gegenstück wurde in B o s t o n wenige Jahre später ins Leben gerufen, hatte aber wenig Erfolg, und einige ihrer Mitglieder, wie William James traten der Society for Psychical R e search in England bei. Eine der Aufgaben, welche die Gründer sich mit der Gewissenhaftigkeit der Viktorianer stellten, war die Erforschung der unzählbaren paranormalen und psychologischen Erscheinungen, die in der Welt der materiellen Realitäten ihre Spuren hinterließen. Frederic Myers war es, der den Begriff Telepathie erfand. D i e Vorsilbe heftete sich an zahllose Phänomene, physikalisch nachweisbare ebenso wie zweifelhafte: Telephon, Telegraph, Telekinese, Teleportation.

Vortragsmanuskript: Voice, Technology and, the Victorian Ear, das auf der Konferenz Science and Culture 1780-1900, Birkbeck College, London, September, 1997 vorgetragen wurde. 28 W. James: Frederic Myers's Service to Psychology, in: Essays in Psychical Research, Cambridge (Mass.) 1986, S. 196 (19111)·

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Dieses Unternehmen, das Schwerelose zu wiegen, das Unmeßbare zu messen, beschäftigte die Geister überall auf der Welt in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Ihre Theorien waren ebenso einladend, umstritten und auf zweideutige Weise überzeugend wie die Alchemie früherer Jahrhunderte und werden heute gleichermaßen bezweifelt, eine Aufforderung zu mehr heuristischer Demut an unsere Zeit. Carl-Ludwig von Reichenbach 29 , ein deutscher Gefolgsmann von Mesmer, schlug 1844 eine Art von unsichtbarer und unwägbarer Kraft vor, die vergleichbar mit Mesmers animalem Magnetismus war. Er nannte sie Od-Kraft und beschrieb sie als eine andere Form des Lichts, die durch die Kraft des Magnetismus verbreitet wurde. Mithilfe von Personen, die er „sensitive Menschen" nannte, sah und fotografierte Reichenbach in verdunkelten Zimmern Odisches Licht und Odischen Rauch, die von Magneten ausgesandt wurden, welche seine Versuchspersonen in Händen hielten und mit Energie erfüllten - ihre Berührung stellte den entscheidenden Kontakt zwischen den empirischen und ätherischen Sphären her. Er schlug vor, das Polarlicht als ein Produkt der Od-Kraft zu begreifen und versuchte an einem Erdmodell zu demonstrieren, daß an den Polen das farbige Licht viel stärker sei, während odischer Rauch in großen Quantitäten von dem Globus über den flammenden Lichterscheinungen an den Polen aufsteige.30 Zu den Attributen eines ausgezeichneten Mediums gehörten seit der Frühzeit des Spiritualismus in den 40er Jahren solche Attribute: tanzende Bälle voller Licht und eine flammende Aura.31 Sir William Crookes, einer der großen, vielseitigen Chemiker seiner Zeit, arbeitete in der Mitte der 70er Jahre an Faradays These der Existenz eines vierten Zustands der Materie, die er „strahlende Masse" nannte und froh-

29

E r ist der Entdecker des Paraffin und des Kreosol.

30 C. von Reichenbach: Physico-Physiological Researches on the Dynamics of Magnetism, Electricity, Heat, Light Crystallization, and Chemism in their Realation to the Vital Force, übers, von J. Ashburner, Paris u.a. 1 8 5 0 - 5 1 , Bd. 2, S. 573. 31

Siehe zum Beispiel in der Dichtung von Elizabeth Barrett Browning: Aurora 7, 5 6 5 - 6 8 und die siebte Stanze von Robert Brownings A Lovers' Margaret Reynolds sehr dankbar für diese Hinweise.

Quarrel.

Leigh, Ich bin

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lockte, daß seine Forschungen das „Grenzgebiet" erreicht hätten, wo Masse und Kraft identisch würden und wo die Letzten Dinge erreichbar seien, „subtil, weitreichend, wunderbar". 3 2 Zur gleichen Zeit hatte er engen Kontakt mit Florence Cook, einem besonders verwegenen Medium, und setzte in den Augen seiner Kollegen seine Reputation aufs Spiel, als er sich mit ihrer Behauptung, Tote erwecken zu können, befaßte. Die verlockende Leere der oberen Himmelsregionen verlor ihre Anziehungskraft im 20. Jahrhundert nicht. Oliver Lodge konnte noch 1925 ein Buch mit dem Titel Ether & Reality publizieren. Sir Oliver hielt in der Welt Einsteins tapfer seine Theorie des Äthers aufrecht, einen Begriff, den er durchweg großschreibt. Für ihn war Äther „das tertium quid, das essentiell Vermittelnde" zwischen Geist und Materie. Äther selbst war nicht identisch mit Materie und doch „ein sehr substantieller Stoff, viel substantieller als jede andere Form der Materie", „ein physisches Ding [...] das Vehikel für Materie und Geist [...] und ganz sicher das Vehikel für Elektrizität und Magnetismus und Licht und Schwerkraft und Kohäsion". Triumphierend schloß er: „Er ist das wichtigste Instrument des Intellekts, das Vehikel der Seele, der Wohnort des Geistes. Wahrlich, man könnte ihn das lebendige Gewand Gottes nennen." 3 3 Eine der Funktionen des Äthers war es nach Lodge, Vibrationen von einem materiellen Ding zum anderen zu schicken, und weil der Äther eine andere Vibrationsfrequenz habe als die Materie, so glaubte er, daß der Äther sich in entsprechend organisierten Experimenten offenbaren würde - flüchtig, ätherisch eben - in der Form von Ektoplasma. Alle diese Theorien, die eine Vielzahl von Äthern hervorbrachten, wurden von Einstein beiseitegewischt, was nicht heißt, daß die Leere des Raums und die Schwerkraft nicht weiter geheimnisvoll geblieben sind.

32 W. Crookes zit. nach R. Noakes: 'Cranks and Visionaries': Science, Spiritualism Transgression

and

in Victorian Britain, Ph. D., Cambridge University Juni 1998, S. 174,

221.

33 O. Lodge: Ether & Reality. A Series of Discourses Ether of Space, London 1925, S. 10.

on the many Functions of the

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Das Ektoplasma Seit den ersten Erscheinungen in psychischen Experimenten der 1880er Jahre war das Ektoplasma Gegenstand ernsthafter Untersuchungen von Wissenschaftlern, die deswegen aber nicht gleich an die Geistererscheinung von Toten glaubten und sich nicht als Spiritualisten ausgaben. Was sie interessierte, war vielmehr die Struktur des Universums. Das Konzept des Ektoplasmas war ein Kind der viktorianischen Physik und Erkenntnistheorie und der Herausforderungen, welche der Darwinismus für die traditionelle Religion bedeutete. Ektoplasmatische Phänomene bestanden aus dem U r stoff des Lebensgeistes, sie bezogen sich nicht unbedingt auf die Geister Verstorbener. Ektoplasma suchte, diejenigen, die daran glaubten, nicht heim. Es bot vielmehr eine Lösung für das Problem des Unwägbaren und erfüllte die Forderung nach einer prima materia. Das Wort Ektoplasma, aus dem Griechischen ektos, „außen", und plasma, „was geformt werden kann", zusammengesetzt, tritt im Diskurs der Spiritualisten in Deutschland und Frankreich zuerst in den 1880er Jahren auf, obwohl Crookes' Experimente mit Medien und die ersten Geisterfotografien, die zuerst in Amerika aufgenommen wurden, zwanzig Jahre früher liegen. 34 Das Wort wurde aus dem Gebrauch der Biologie von Charles Richet, einem Nobelpreis-Träger und unermüdlichen Erforscher psychischer Phänomene, adaptiert. Das Oxford English Dictionary weist es zuerst in folgendem Zitat von 1883 nach, in dem die operative Metapher sofort deutlich hervortritt: „Der geleeartige Körper [der Amöbe] artikuliert sich in einer äußeren Form (Ektoplasma) und in einer inneren weichen Schicht (Endoplasma) schwach aus." 35

34 Als Robert Browning in den späten 50er Jahren seinen langen dramatischen Monolog Mr Sludge, the Medium verfaßte, könnte er möglicherweise mit dem Namen seines Betrügers auf ektoplasmatischen Schlamm (sludge) angespielt haben, aber darüber hinaus läßt das leere Geschwätz der Selbstverteidigung des Mediums keine naturwissenschaftlichen Hintergründe erkennen. 35 J. E. Ady: Knowledge 15. Juni 1883, S. 355/2.

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Das Ektoplasma materialisierte für seine Anhänger Phänomene der übersinnlichen Welten. Laut Oxford English Dictionary ist es „die Substanz, aus der Geister sich sichtbare Formen geben [...] lebend, empfänglich für Berührung und Licht [...] kalt anzufassen, schwach leuchtend und charakteristisch riechend". 36 Weiterhin wird es ebenda definiert als „viskose Materie, die angeblich aus dem Körper eines spiritualistischen Mediums austritt und menschliche Formen oder Gesichter annimmt". Formlos, „informe", eine Art von urplastische Masse bildend, zieht das Ektoplasma einige semiotische Qualitäten an, welche die Zwischenwelt der Geister auszeichnen. Weiße, wattige Heiligenscheine, Aureolen aus dünnem, weißen Stoff, welche die Besucher aus dem Jenseits umgeben, rekurrieren auf die Bilderwelt des Auratischen, wie sie in theosophischen Kreisen gepflegt wurde. Manchmal beziehen sich seine Manifestationen auch auf die amorphe Symbolik paradiesischer Zustände, so auf die himmlischen Gewänder, in die die Seelen der Seligen gehüllt sind. Und wenn die Spiritualisten ihre Geister als Ektoplasma hervorriefen, dann erinnerte dieser neue, übernatürliche Stoff auf merkwürdige Weise an das Aristotelische Konzept der Hyle, die durch Einwirkung des Mediums den Stempel des Geistigen erhält und als Form erscheint. Dunkelheit war eine essentielle Bedingung für das Erscheinen dieser Phänomene. Licht, darin stimmten alle überein, war höchst schädlich für ihren Organismus. William Crookes bevorzugte Mondlicht und meldete ausgezeichnete Ergebnisse unter diesen Bedingungen. Der französische Arzt Gustave Geley, den besonders die Lichtemissionen von Tieren, Gemüsen und Mikroben interessierten, berichtete, daß sehr erfolgreiche Seancen in Brasilien beim Licht der Glühwürmchen durchgeführt worden seien, gab aber zu, daß dies in der Praxis schwer zu wiederholen sei. 37 Aber in einem verdunkelten Raum könnte die „Substanz" sich vor kooperativem Publikum zeigen.

36 37

Ebd. Siehe G. Geley: L'Ectoplasmie et la clairvoyance: observations et expériences personelles, Paris 1924, S. 15.

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Geistererscheinungen und ektoplasmatische Manifestationen nahmen während der Seancen vor allem zwei Formen an: luminose, verschleierte, phantomartige Wesen oder namenlose, amorphe Teile solcher Wesen, die man Pseudo-Pods nannte und die sich als Fäden, Schleier, Falten aus ekligem, riechendem, haptischem Ektoplasma materialisierten, das aus dem Mund, den Ohren oder anderen Körperöffnungen des Mediums herauslief.38 Diese Seancen waren Handlungen, die sich über längere Zeit erstreckten und von der Vitalität des Ektoplasmas, von der Kraft seiner Eigenbewegungen und seiner Formbarkeit zeugten. Dr. Gustave Geley, ein unermüdlicher Anhänger dieser Bewegung, beschrieb diese einzigartigen Erfahrungen folgendermaßen: „Die Farbe Weiß ist am häufigsten [...] Bei Berührung [...] wirkt es [das Ektoplasma] weich und ein wenig elastisch, wenn es sich ausbreitet, hart, knotig oder fibrös, wenn es Schnüre bildet. [...] Manchmal mutet es wie ein Spinnengewebe an, das über die Hand des Beobachters flattert. [...] Die Substanz hat Bewegung. Sie kann langsam hervortreten, steigen, fallen, über das Medium, seine Schultern, Brüste, Knie mit einer kriechenden Bewegung wandern, die an ein Reptil erinnert." 39 (Abb. 7) Das beharrliche Interesse der Wissenschaftler des Viktorianischen Zeitalters hatte weitreichende Folgen für die Erforschung des Seelenlebens. Charles Richet veranstaltete im Sommer 1894 Seancen in seiner Villa auf der Insel Roubaud in Südfrankreich und später in seinem Schloß bei Toulon und in seiner Wohnung in Paris. Er lud dazu eine international besetzte Gruppe von prominenten Philosophen und Wissenschaftler ein. Sie umfaßte den Astronomen Camille Flammarion und aus England Mitglieder der Society for Psychical Research wie den progressiven Denker Henry Sidgwick, der Ethik in Cambrige lehrte, seine Frau Eleanour Balfour, den Philosophen Frederic Myers und Oliver Lodge. 40

38 Ebd., S. 240 f., Taf. XXI-XXX. 39 Ebd., S. 199. 40 Ebenfalls nahmen an einer oder mehreren Seancen teil: der Psychiater Theodore Flournoy aus Genf, der Arzt Albert von Schrenck-Notzing aus München und Dr. J. Ochorowicz aus Warschau, ein Hypnose-Experte. Siehe O. Lodge: Experience of

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Das Medium, das Richet für seine Experimente ausersehen hatte, war Eusapia Paladino. Sie war 1854 im Süden Italiens geboren worden, wuchs als Waise auf (ihr Vater wurde angeblich von Räubern ermordet) und diente in einem aristokratischen neapolitanischen Haushalt, der sich dem Spiritualismus verschrieben hatte. Ihr Herr schrieb an den Mailänder Gerichtsmediziner Cesare Lombroso und rühmte ihre Fähigkeiten, worauf Lombroso sie 1891 einem Test unterzog. Er erklärte ihre psychischen Kräfte für wissenschaftlich unerklärbar, aber für echt. Lombrosos Unterstützung erwies sich in ihrer glänzenden Karriere als sehr wichtig. Paladino war mit 40 Jahren auf der Höhe ihrer psychischen Fähigkeiten. Sie war von kleiner Statur mit breitem Kinn, „stechendem Blick und dem Haupt einer römischen Kaiserin", wie Richet schrieb.41 Sie sprach nur schlecht Französisch und Englisch, aber ihre Botschaften teilte sie in einer Mischung aus beiden Sprachen mit. Sie konnte weder lesen noch schreiben. Tischerücken gehörte zu ihren Spezialitäten, sie konnte aber auch Tambourine, Gitarren, Glocken von selbst erklingen bzw. durch die Luft fliegen lassen (Abb. 8); einmal „machte sie, daß eine Vase Narzissen vom anderen Ende des Tisches herbeischwebte und nacheinander vor dem Gesicht jedes Anwesenden hielt, so daß er den starken Duft der Blumen riechen konnte". 42 Vor allem aber war es ihr als materialisierendem Medium gegeben, Geistern zu Körperteilen und Strukturen zu verhelfen. Am Ende seines Lebens hatte Charles Richet 200 Seancen mit Paladino abgehalten, von der er 1895 mit großer Begeisterung sagte: „Selbst wenn es kein anderes Medium auf dieser Welt gäbe, würden ihre Manifestationen allein genügen, um den wissenschaftlichen Beweis für die Realität der Tele-

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Unusual Phenomena Occuring in the Presence of an Entranced Person (Eusapia Paladino), in: Journal of the Society for Psychical Research, Nov. 1894, S. 3 0 6 - 3 6 0 . Charles Richet an Alice Johnson, Sekretärin der Society for Psychical Research (ab jetzt: SPR) 1898. SPR Archive, Eusapia Paladino-Akte, Cambridge University Library. Hesperus: Eusapia Paladino, in: Light, 23. Mai 23 1896, S. 2 4 3 - 4 .

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kinese und der ektoplasmatischen Formen zu führen." 43 Später rief er aus: „Es ist absurd, wenn eine Wahrheit absurd sein kann. Ja, es ist absurd, aber trotzdem wahr." 44 Auch das Ehepaar Sigdwick war so überzeugt, daß es an den Physiker Lord Rayleigh in Cambridge schrieb: „Wir sind effektiv davon überzeugt, daß etwas Ubernatürliches am Werk ist." 45 Aber sie wollten weiterexperimentieren. Deswegen nahmen sie Eusapia Paladino mit nach Cambridge und brachten sie zusammen mit Myers in ihrem Haus unter. Eine äußerst anstrengende Serie von 19 Seancen, die täglich vom 1. bis zum 12. September mehrere Stunden lang stattfand, sollte den entscheidenden Test von Eusapias wunderbaren Fähigkeiten bringen. Außer den Sidgwicks und Myers nahmen an diesen zweifelhaften Experimenten in wechselnden Besetzungen W. S.Verall, Altphilologe an der Universität Cambridge, und seine Frau, der Physiker Lord Rayleigh und seine Frau, Darwins jüngster Sohn Francis, Oliver Lodge und Richet selbst teil. Aber auch die berühmten Zauberer und Entfesselungskünstler, die Maskelyne-Brüder, kamen zu einer Sitzung, um Eusapias Techniken zu beurteilen. Entschlossen, dem Wirken des Mediums auf die Spur zu kommen, vergaß diese Gruppe jede Form von Anstand, die sie sonst bewahrt hätte. Die Protokolle der Seancen von 1895 in Cambridge wurden von der zuverlässigen Alice Johnson aufgeschrieben, die als Sekretärin der Society for Psychical Research fungierte. Ein längeres Zitat aus den Aufzeichnungen des ersten Abends erscheint angebracht, weil es beweist, daß diese Szene niemals erfunden werden konnte: „1. August 1895 Anwesend: Herr und Frau Myers, Prof. und Frau Sidgwick, Frau Verrall, Herr Rogers, Frau Dixon und Fräulein Johnson. Herr Myers legte sich auf den Boden, um ihre Knie beobachten zu können.

43

Ch. Richet: Thirty

Years of Psychical Research,

London 1923, S. 34. (An anderer

Stelle spricht er von über 100 Sitzungen, ebd., S. 412.) 44 45

Ebd., S. 544. Brief von Eleanor Sidgwick an John, Lord Rayleigh, 23. August 1894, Eusapia Paladino-Akte, SPR Archives.

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19 Uhr 40 Eusapia fängt an zu lachen, was darauf hindeutet, daß John King [ihr Führer im Geisterreich] erschienen ist, dann stöhnt sie und wird wieder still. Dr. Rogers bemerkt, daß ihre Augen nach oben verdreht sind. [Tisch beginnt zu schweben] Herr Rogers hält ihre Knie, so daß von ihnen keine Muskelkraft ausgeht. 20 Uhr 14 Medium kehrt aus seinem Trancezustand zurück, fragt, wer ihre Beine hält und wird darüber belehrt. Prof. Sidgwick kommt wieder unter dem Tisch hervor. 20 Uhr 20 Die Trance kehrt zurück. Prof Sidgwick geht wieder unter den Tisch. [...] 20 Uhr 30 Frau Myers sagte, daß sie etwas Weißes gesehen hat. Frau Verrall hat es auch gesehen. [...] 20 Uhr 33 Herr Dixon ruft: Wer hat meinen Stuhl bewegt? Prof. Sidgwick ist wieder unter dem Tisch und hält Eusapias Füße und Knie. Herr Dixon hält eine Hand, Frau Sidgwick die andere. Herr Myers hat seine Hände am Kopf von Eusapia. 20 Uhr 55 [...] Frau Sidgwick sieht eine Hand, die verkürzt zwischen ihr und dem Fenster erscheint. Sie denkt zuerst, es ist Eusapias Hand, aber Herr Myers sagt, daß er ihre Hand im Schoß festgehalten habe. [...] 21 Uhr 02 [...] Eusapia sagt, man solle ihre Füße loslassen. Professor Sidgwick kommt unter dem Tisch hervor. Frau Myers sagt: ,Mein Stuhl wird unter mir weggezogen und ich werde sanft in die Rippen gestoßen.' Prof. Sidgwick geht wieder unter den Tisch und hält Eusapias Füße. [...] Frau Sidgwick sagt, sie fühlt, daß John King ihr Gesicht und Kinn streichelt. John King lacht. [...] 21 Uhr 08 Eusapias Kopf ist auf Herrn Myers Schulter. [...] 21 Uhr 12 Herr Myers sagt: ,Ihr Kopf ist auf meiner Schulter.' Frau Verall sagt: ,Ich sah ein großes weißes Etwas hinter Herrn Myers, vielleicht ein Kissen.' [...] Herr Dixon griff danach und berührte es, darauf zog es sich zurück. Er sagte, es fühle sich wie eine Hand an, auf jeden Fall deutlich fester als ein Kissen. 21 Uhr 22 Sidgwick ist wieder unter dem Tisch. [...] Frau Myers entkleidete sie nach 22 Uhr 20." 4 6 D i e Sidgwicks hofften stark darauf, daß Paladino sich nicht als „ H u m b u g " e n t p u p p e n w ü r d e , wie sie es gerne nannten, aber sie m u ß t e n zugeben, daß vieles auf B e t r u g hinwies. Paladinos Taschenspielertricks erklärten sie zu Charakterfehlern, die ihre w a h r e n Fähigkeiten nicht beeinträchtigten. D a her r ü h r t e ihre K o n t r o l l s u c h t , das Festhalten, Knebeln und andere H i n d e r nisse, die sie fieberhaft sich ausdachten, u m Paladinos B e w e g u n g e n unter K o n t r o l l e zu halten u n d sie v o n ihren Tricks abzubringen. Diese obsessive

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SPR Archives, Eusapia Paladino-Akte.

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Tendenz zu „wissenschaftlicher Kontrolle" führte zu den Possenspielen unter dem Tisch. Es existieren Fotografien im Archiv der Society for Psychical Research, die Eusapias kleine Füße in viktorianischen Stiefelletten zeigen, wie sie von zwei Männerhänden festgehalten werden. Diese Art von Zwangshandlung begreifen wir heute natürlich anders. Ohne Erklärung würden die meisten Zuschauer denken, sie befänden sich in einem surrealistischen Film zum Thema viktorianischer Fetischismus: Luis Bunuels Tagebuch einer Kammermagd zum Beispiel. Auch nachdem man Eusapias Zaubertricks nachgestellt und auf diese Weise enthüllt hatte, blieben einige Mitglieder der Society for Psychical Research, darunter Oliver Lodge und Frederic Myers, bei dem Glauben, „daß gegen alle Wahrscheinlichkeit und nach Abzug der Betrügereien da doch echte Elemente übrigbleiben". 47 Wenn sie also daran festhielten, daß die Tricks Eusapias eigenes Zutun, die Geister aber, die sie als Instrument benutzten, echt waren, dann offenbarten sie nur, wie stark der Wille zum Glauben das Verständnis der Geschichten formt, welche die Leute selbst erzählen. Eleanor Sidgwick schrieb jedoch später im Ton offensichtlicher Enttäuschung: „[...] nur selten sollen sich Eusapias Materialisationen in voll ausgebildeten Phantomen realisiert haben. [...] Morselli [der Autor eines Buches über Paladino] band sie an ein Feldbett in seinem Untersuchungsraum [...] und daraufhin sollen sich bei ausreichender Beleuchtung sechs Phantome nacheinander zwischen den Vorhängen des Zimmers gezeigt haben - das letzte eine Frau mit einem Baby in den Armen darstellend! [...] Normalerweise waren jedoch ,Hände' und sogenannte .Köpfe' und ähnliche Pseudopods, wie sie genannt werden, die am weitesten entwickelten Materialisationen Eusapias." 48

47 48

F.W.H.Myers in einem Brief an den Herausgeber der Westminster Gazette, 10.Februar 1899. E. Morselli: Psichologia e Spiritismo. Impressioni et note critiche sui fenomeni medianici di Eusapia Paladino, Turin 1908, Bd. 2, S. 214-237. Besprochen von Sidgwick in: Proceedings of the Society for Psychical Research 21, 1908, S. 518 ff.

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D e r große Energieaufwand, der in diese Fragen gesteckt wurde und sich auf Hunderten von Seiten der Annalen der Society for Psychical Research niederschlägt, zeigt die Dringlichkeit und Intensität der Gefühle, welche diese Forscher ergriffen hatten. U n d wenn Eusapia die weitgesteckten Erwartungen nicht erfüllen konnte, so waren es andere Medien, die mehr Erfolg versprachen. Ungefähr 15 Jahre nach Eusapia Paladinos Hochzeit wurden ihre Innovationen von einem Medium aufgegriffen, das als „Eva C . " zwischen 1911 und 1913 im Zentrum einschlägiger Experimente in München stand. Ihre Karriere als Medium hatte in der französischen Kolonie Algerien begonnen. Damals trug sie noch ihrem wirklichen N a m e n Marthe Beraud und vollbrachte einige Materialisationen für die Mutter ihres verstorbenen Verlobten, die ihrerseits die Frau eines französischen Generals war. Diese Informationen sind wichtig, weil ihre weitere Geschichte sich als ein N e t z darstellt, in dem sich imperialistische Phantasien und Schuldgefühle mit technologischen Träumen und Schreckensvisionen, wissenschaftlichen E n t deckungen und reinen Spekulationen zu einem unlösbaren Gewebe durchdringen. Vorstellungen von der Person, von der Leib-Seele-Einheit und von Identität wurden infragegestellt von dem heftigen und fortgesetzten Zusammenstoß mit den religiösen Uberzeugungen und Ritualen von K u l turen, die jenseits der Ursprungsländer der Imperialisten und ihrer christlichen Bindungen lagen. D e r Spiritualismus war eine solche Entwicklung, deren Grundideen v o m Weiterleben der Seelen und der Reinkarnation vor allem aus Indien kamen. Andere Straten magischen Denkens im 19. und frühen 20. Jahrhundert gingen auf Rituale zurück, wie sie für N o r d - und Westafrika typisch waren - Weissagung, Prophezie, Trance und metamorphotische Rituale zum Beispiel. Marthe Beraud wurde als Schwindlerin

enttarnt, als eine

Dienerin

gestand, daß sie in ihrem Auftrag den Geist Bien B o a gespielt habe, ein Gespenst mit gewaltigem Schnurrbart und fließenden Gewändern, das in den Seancen aufgerufen wurde - die überlieferten Fotografien sind ebenfalls nicht sehr überzeugend. D i e junge Frau verließ Algier und tauchte als nächstes in M ü n c h e n unter dem N a m e n Eva C . auf, w o sie Ektoplasmen von einer bis dato nie gesehenen Komplexität und Vielfalt von sich gab. Darunter waren Schleier, die mit Fotografien von Präsident W o o d r o w Wil-

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son und dem Bild von Monsieur Bisson, dem verstorbenen Ehemann ihrer Gönnerin in Algier bedruckt waren (Abb. 9). Juliette Bisson, die Impresaria der Sitzungen, war eine reiche Frau und Bildhauerin, welche die Fähigkeiten der Seherin mit der Hilfe des bayerischen Arztes und Psychiaters Baron Albert von Schrenck-Notzing propagierte. Schrenck-Notzing machte Fotografien mit mehreren Kameras, die er an verschiedenen Orten und mit verschiedenen Winkeln aufgestellt hatte (Abb. 10). Der Baron war ein überzeugter Anhänger. Er bezeichnete die Phänomene als „Teleplaste" oder „Ideoplaste" und als Projektionen des Mediums, und er agierte als Fotograf und Archivar und publizierte erschöpfende, hochernste Protokolle der Sitzungen in umfangreichen Bänden, die man fassungslos durchblättert (Abb. 11, 12). Bebildert sind sie mit Fotografien der Medien im Trancezustand, wie sie sich in Krämpfen winden und ein weites Spektrum von ektoplasmatischen Pods, Schnüren, Schleiern und Gebilden hervorbringen. Sein Buch Materialisationsphänomen. Ein Beitrag zur Erforschung der mediumistischen Teleplastie von 1914 kam 1920 in englischer Sprache unter dem Titel Phenomena of Materialisation heraus und machte diesen Typus von Seancen international berühmt und verbreitete ihre Methoden weithin in Kreisen mit psychischen und spiritualistischen Interessen. Die Ausstellung eines Frauenkörpers, die wissenschaftliche Sprache und das gerichtsmedizinische Untersuchungsverfahren bildeten eine sensationelle Mischung, die den von der Society for Psychical Research angestoßenen Prozeß zu einem bedenklichen Höhepunkt führten. Aber diese Seancen, die von Juliette Bisson inszeniert wurden, könnte man auch in die Reihe der erstaunlichen Praktiken stellen, wie sie in Künstlerateliers üblich waren, und so würden die Medien und ihre spukigen Tableaux vivants als Performance-Künstler durchgehen, vor Claude Cahun und vor Cindy Sherman. Die Inszenierung der bizarren Münchner Seancen ähnelt oft den Aufnahmen von Hillaire Bellocq und anderen, in verbotenen Erotica spezialisierten Fotografen. Stanislawa P., eine Mitarbeiterin von Eva C., trat mit einem schwarzen Schleier über ihrem Kopf auf und wurde fotografiert, wie sie lange viskose Strähnen aus weißer Materie von sich gab, die sich wunderbarerweise durch den Stoff hindurch über ihr Gesicht verbreiteten. Ob

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mit verbundenen Augen oder mit Fesseln oder manchmal ohne Kleider, Eva C. und Stanislawa P. erscheinen in diesen verwirrenden Aufnahmen als fetischisierte und erotische Figuren (Abb. 13, 14). Das Verlangen nach solchen Phänomenen nahm nicht ab, nachdem verschiedentlich die Medien enttarnt worden waren. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts machte Margery Crandon in Boston Furore, wo ihr Mann in Beacon Hill eine fashionable Praxis als Gynäkologe betrieb. Margery trat als „Psyche" auf. Das 1897 geborene Medium hatte einen Bruder gehabt, der bei einem Eisenbahnunglück ums Leben kam, als sie 14 Jahre alt war. Er wurde „Psyches" „Geisterkontrolleur", ein Charakter, der auf ihren Seancen erschien, oft laut pfiff, in sein „Erkennungsmotiv", den Hochzeitsmarsch, ausbrach, die Teilnehmer in die Seite stieß und sie manchmal verhöhnte. Bei einer Seance trat ein Geist auf, „der das Vater Unser auf Deutsch herunterratterte und mit den Worten .Fahrt zur Hölle' sich verabschiedete". 49 Dieser Auftritt löste großen Beifall aus, als Dr. Crandon erklärte, daß seine Frau kein Wort Deutsch spreche. Zu den am meisten bewunderten Phänomenen gehörten Walters Fingerabdrücke, die während einer Seance in England 1929 in Zahnarztwachs abgenommen wurden. Der Geist hatte also genügend Gewicht, um sein ganz spezielles Siegel zu hinterlassen. 50 Aber Margery/Psyche übertraf noch diese Leistung, als Walter begann, teleplasmatisch Hände und Köpfe auszuformen und versprach, einen teleplasmatischen Foetus zu liefern. Lady Barrett, die Frau von Sir William Barrett, eines namhaften Wissenschaftlers und einer führenden Figur in den Kreisen der Society for Psychical Research, untersuchte Margery Crandon vor der Sitzung und erklärte später, daß die ektoplasmatischen Stränge wie durch eine Art Geburtsvorgang erzeugt würden. 51

49 Umschlag 1: An evening's observations on the Margery Case by J.B.Rhine and Louisa E. Rhine, Margery-Akte, SPR Archives. 50 Die Abdrücke werden im Archiv der SPR aufbewahrt. 51 Brief von Mowbray an die London Spiritualist Alliance, 13. Juni 1947. Margery Akte, SPR Archives.

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Das Phänomen Ektoplasma ruft heute Gelächter, Schauer und bei näherer Betrachtung oft Entsetzen hervor. Die Bilddokumente erscheinen uns als dummdreist, verrückt, verwirrend, sensationslüstern, abstoßend. Daß jemand an solche Phantome geglaubt hat, daß diese Absonderungen und Exkrete für die Manifestation von Geistern genommen wurden, erfüllt den heutigen Beobachter mit Abscheu. Daß jemand guten Glaubens an solchen Aufführungen und Produktionen teilgenommen hat, ist kaum nachvollziehbar. Das Ganze scheint ein sehr spezielles und beschämendes Kapitel in der Geschichte intellektueller Erkundungen zu sein. Wir finden die Teilnahme stolzer, am wissenschaftlichen Fortschritt interessierter Berühmtheiten an diesen Betrügereien zugleich abstoßend und belustigend; gleichzeitig gibt die Tatsache allen zu denken, die an den Wert intellektueller Anstrengungen glauben, daß diese denkenden Menschen Komplizen eines Betrugs wurden und unbewußt durch ihre Mitwirkung eine Spirale der Täuschungen anstießen, und weiterhin daß sie eine Ausbeutung von wehrlosen Medien im Zustand der Trance zuließen - die Medien waren zum größten Teil Frauen und besaßen einen geringeren sozialen und ökonomischen Status als ihre Erforscher. Diese gefühlsbedingten Gründe waren dafür verantwortlich, daß man sich erst vor kurzem wieder intensiv mit dem ganzen Phänomen der parapsychischen Untersuchungen beschäftigt hat: mit den legitimen Kontexten, aus denen sie entstanden, der Resonanz der dabei gestellten Fragen und den weitreichenden Auswirkungen, die sie auf das Konzept von Person in Psychologie und Literatur hatten. Wir stehen erst am Anfang einer Neubewertung. Geister mit Hilfe dieses merkwürdigen Stoffes erscheinen zu lassen, stellt eine Wiederholung einiger charakteristischer Merkmale des Opferrituals dar. Die Teilnehmer formen einen Kreis um das Geschehen, was unabdingbar für den Erfolg des Ganzen ist. Sie versammeln sich als ernste, zeremonielle Gemeinschaft, die mit den übersinnlichen Kräften nur in Kontakt treten kann, wenn sie nach Regeln verfährt. Diese Gemeinsamkeiten liegen auf der Hand. Andere sind nicht so klar. Die Rolle des Mediums ist vielfältig. Paladino, Carrière, Crandon nehmen die Funktion einer Sibylle oder Priesterin wahr, weil sie als Abieiter des Ubersinnlichen wirken. Aber diese Position wird kompliziert durch die fehlende Identifikation

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zwischen ihnen und dem „Geisterkontrolleur", der erscheint und manchmal Teleplaste und Pseudopods ausformt. Medien werden normalerweise als reine Instrumente benutzt, durch welche die Teilnehmer Zutritt zum Reich des Übernatürlichen haben. Sie haben selbst die Macht, mit dem Unheimlichen in Berührung zu treten, aber dieses Unheimliche wird dann zu den anderen umgeleitet. Aufgrund dieser notwendigen, aber niedrigen Position des Mediums erscheint mir die Rolle des Mediums eher mit dem Opfer vergleichbar und die Teilnehmer mit den Hierophanten. Aber die Qualen, die Selbstverleugnung und die Zurschaustellung eines Mediums wie Margery Crandon beim Akt der Erzeugung von Ektoplasma kehrt den Prozeß des Opferrituals in einer Hinsicht um: Den himmlischen Mächten wird kein Tierfleisch auf dem Altar dargebracht und verbrannt, um in aufsteigenden Rauch verwandelt zu werden, sondern aus unfaßbaren Stoffen wie Licht, Luft, Vibration und Dampf wird für kurze Zeit und unten auf der Erde etwas Materielles erzeugt. Das Medium wird in einem Akt der psychologischen Erniedrigung entweiht, um aus dem Jenseits so etwas wie verlorenes Fleisch, vergangene Kreaturen zurückzuholen und den Beweis für ein Leben nach dem Tode anzutreten. Das Medium verwandelt Rauch in lebendige Asche, um Mallarmés Bild aufzugreifen und umzudrehen. Von daher überrascht es nicht, unter den Teilnehmern der Sitzungen so viele Altertumsforscher anzutreffen - Männer und Frauen vom Kaliber der Sidgwicks und Myers, die es auf sich nahmen, Tag für Tag Experimente durchzuführen, welche ihre Anstandsregeln verletzten. Die spiritualistische Seance wiederholt also nicht das Blutopfer früherer Epochen, aber sie transformiert das Opfer für den Kontext eines Zeitalters der Industrie und der Wissenschaften. Ebenso wie das Medium, das die Botschaften und Weisheiten der Geister nachspricht, auf die Sibyllinischen und Delphischen Orakel, über die Myers geschrieben hatte, zurückverweist und gleichzeitig die Verfahren der modernen Medientechniken aufgreift. Man kann diese Tendenz zur Modernisierung noch ein wenig weiterverfolgen: Ein materialisierendes Medium wie Eusapia Paladino oder Margery Crandon agiert auch als Produzentin. Die Formen, die sie hervorbringen, manchmal verschwommen, manchmal unförmig, verwandeln den Rauch des Opferaltars in eine Art Produktionskraft und ahmen die Dampfmaschine,

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den Dampfhammer, den Fabrikschornstein und den Gasboiler nach, Geräte, bei denen Dampf nicht mehr die Wolken himmlischer Glorien, sondern die Energie der viktorianischen Industrieproduktion erzeugt. Opfern heißt, etwas Wertvolles abzugeben, um etwas noch Wertvolleres zu erhalten. Abraham ist bereit, seinen Sohn Isaak zu töten. Die Selbstaufgabe des Mediums in physischer wie psychischer Hinsicht könnte diese für den Erfolg des Opfers notwendige Erfordernis leisten. Aber ein Opfer kann auch mit einem Huhn oder irgendeiner anderen, weniger wertvollen Gabe vollzogen werden. Dann geht es vor allem um die Transformation von einem einfachen Objekt in Rauch und Duft, die zum Himmel aufsteigen. So kann das Profane, Niedrige und Reale zum Heiligen, zum „unsterblichen Diamanten" werden. Die Vorstellungskraft bezieht sich dabei auf die „elementare subjektive Identität von Arten von Exkrement (Sperma, Monatsfluß, Urin, Fäkalien [und man darf hinzufügen: Ektoplasma])und allem, was als heilig, göttlich und wunderbar gilt". 5 2 Die finsteren und ungemütlichen Prozeduren einer Seance riefen unsichtbare Kräfte auf und machten sie zeitweilig in den nebulösen Erscheinungen des Ektoplasmas sichtbar. Sie verwandelten die Energie des Mediums in etwas Faßbares, indem sie Figuren wie aus Wolken und Rauch und damit aus der traditionellen Sphäre des Göttlichen modernen Werkzeugen wie der Kamera zum Zwecke der Interpretation auslieferten und indem sie den Prozeß dem Zeitregime des industriellen Zeitalters unterwarfen, welches das Ektoplasma als das wertvolle Ergebnis gemeinsamer Arbeit der Mitwirkenden erscheinen ließ. Die unerklärliche Leere des Raumes wurde geleugnet, die Toten waren nicht dem Abfall überantwortet, aus den Nebeln wurde eine neue, paranormale Art des Exkrets, die mit komplexen, objektiven Bedeutungen belastbar schien. So markierte die Hervorbringung von Ektoplasma einen Sieg der Arbeit und einen Triumph des Wissens. Daß einige herausragende Wissenschaftler vor etwa hundert Jahren in solche psychischen Phänomene ihren Glauben setzten, mag einen Bankrott 52

G . Bataille: Visions of Excess: Selected Writings 1927-1939, Minneapolis 1985, S.94, zitiert in: Formless; a User's Guide, hrsg. von Y.-A. Bois und R. E. Krauss, N e w York, 1997.

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in der langen Geschichte der Erkundung des Geistes markieren. A b e r diese Geschichte offenbart auch, wie weit sich Zeichen unter historischem D r u c k bewegen können. Heute sind Rauch, Qualm und Wolke mit Ängsten besetzt. D e r industrielle Fortschritt hat die barocken Wolkenwelten mit ihren fröhlich hüpfenden Putten, die von unten beleuchteten Strudel des Empyräums, die strahlenden N i m b e n und die Lichtnebel der Engel abgeschafft. 5 3 Für den viktorianischen Künstler bedeuteten Rauch und D a m p f noch eine säkulare und doch gloriose Verbrennung, heraklitisches Feuer, das für die Zwecke der größten Handels- und Kolonialmacht eingespannt werden konnte. Heute signalisiert Verbrennung Gefahr. Chemische, explosive und andere Waffen und industrielle Emissionen assoziieren zum Element Luft Gift, sie haben die Vorstellung vom feurigen Äther ins Schadhafte verwandelt. Vor langer Zeit malte Raffael die Madonna von Foligna im Auftrieb blaugrauer Engelswolken, Correggio gab dem notzüchtigenden G o t t das Bild einer Masse aus blaugrauem Rauch, Tizian ließ die Himmelfahrt M a riens auf einer verschatteten Cumulus-Wolke vor sich gehen, und bei Poussin geschieht dasselbe in einer Gewitterwolke. Als das 20. Jahrhundert voranschritt, wurden die ätherischen Regionen der Luft weißer als weiß gewaschen. Kein Maler religiöser Bilder würde heute noch diese dunklen Wolken malen. Wenn die Jungfrau Maria in modernen Visionen erscheint, so wie in Fatima oder heute in Kroatien, dann ist sie von einem glühenden Licht umgeben und steht auf einer kleinen, strahlend weißen Wolke. W i r haben die Spaltung des Atoms und den daraus sich ergebenden Wolkenpilz am E n d e 2. Weltkriegs ebenso verinnerlicht wie das Bild des apokalyptischen Miasma und des Aschenregens, die Manhattan heimsuchten. Diese massiven Erfahrungen haben die Bilderwelt des Ätherischen obsolet ge-

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Es gibt Vorwarnungen. Für ein Entertainment at Rutland House, das im Jahr 1656 aufgeführt wurde, schrieb William D'Avenant folgendes Lied: „London erstickt in schwefligen Feuern./Es trägt einen schwarzen Mantel mit schwarzer Kapuze aus Meereskohlenrauch,/so als würde es Trauer um die Brauer und Färber tragen. Chor: Aber mit Ebbe und Flut kühlt und reinigt es die fließende Themse." W. D'Avenant: The Dramatic Works, Edinburgh und London 1873, Bd. III, S. 228-9.

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macht und die Verbindung zum Beispiel von Gas und Geist getrennt. Abgesehen von all den anderen dringenden Problemen, welche diese Krisen aufwerfen, bedürfte es auch einer anderen Metaphorik, um die vitale und unkontaminierte Zone des Geistigen zu beschreiben. Das Sprechen über den Äther öffnete Fenster auf das Unsichtbare, aber es beruhte auf Konventionen und Hoffnungen, welche die neue Art von Wolken erstickt haben. Die schwellenden Wolkenkissen über Kühltürmen, die in Abgasen erstickenden Städte, die Zunahme asthmatischer Erkrankungen bei Kindern und Alten, die industrielle Luftverschmutzung haben die Natur der Luft selbst verändert. Wir atmen anders und unsere „airy spirits" verlangen nach einem anderen Medium, um sich unter uns zu verkörpern.

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Abb. 1

Correggio, Jupiter und Io, 1532, Wien, Kunsthistorisches Museum.

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Abb. 2

Jupiter und Danae (Aer), Illustration zu Barent Coenders van Heipen, Escalier des sages, Groningen 1689.

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Abb. 3

Tizian, Die Himmelfahrt Mariens, 1516-18, Venedig, S. Maria dei Frari.

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Abb. 4

Sebastiano Ricci, Die Himmelfahrt Märiens, 1733-34, Budapest, Museum der Bildenden Künste.

Earner

My Airy Spirit"

Abb. 5

Nicolas Poussin, Die Himmelfahrt Mariens, 1638, Washington, National Gallery.

95

96

Abb. 6

Marina

Illustration zu Robert Fludd, Utriusque Cosmi, Oppenheim 1619. Dargestellt ist die Teilung der Wasser mit der hellen Äther-Wolke, welche die Prima Materia umgibt.

Earner

„My Airy Spirit"

Abb. 7

Materialisationsphänomen bei dem Medium Eva C., 1918. Fotografie von Dr. Gustave Geley.

97

98

Abb. 8

Marina

Warner

Telekinetische Erhebung einer Mandoline durch das Medium Eusapia Paladino. Die Seance fand am 13. März 1903 in der Wohnung von Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing in München statt.

My Airy Spirit"

Abb. 9

99

Das Medium Eva C. mit dem Porträt von Präsident Woodrow Wilson auf ihrem schleierartigen Gewand. Fotografie von Juliette Bisson von einer Seance vom 19. Januar 1913.

Marina Warner

100

AA Stühle der Kontrolleure Β Madame Bissoii C Protokollführer D Weißes Licht E Spanische Wand (mit gedämpftem weißen Licht) Ρ G

Botes Licht Blitzlicht

+— h TURE Abb. 10

Skizze des Raumes in der Seancen unter Leitung von Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing stattfanden. Man kann dem Plan entnehmen, wo das Medium und die beteiligten Personen sowie die Kameras plaziert waren.

My Airy Spirit"

Abb. 11

101

Materialisationsphänomen bei dem Medium Eva C. Erste Fotografie einer Seance vom 21. August 1911 von Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing. In die Hand des Mannes fließt Ektoplasma.

102

Abb. 12

Marina

Warner

Materialisationsphänomen bei dem Medium Eva C. Fotografie einer Seance vom 8. Mai 1912 von Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing. Bei geöffnetem Vorhang des Kabinetts, in dem Eva C. plaziert ist, läßt sich eine an ihren Haaren klebende maskenartige Gesichtsform erkennen.

„My Airy Spirit"

Abb. 13

Materialisationsphänomen bei dem Medium Stanislawa P. Fotografie einer Seance vom 1. Juli 1913 von Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing.

103

Marina Warner

104

Abb. 14

Materialisationsphänomen bei dem Medium Stanislawa P. Fotografie einer Seance vom 23. Juni 1913 von Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing.

Woher kommen wir was sind wir - wohin gehen wir Ein Bildtitel Gauguins im zeitgenössischen Kontext MONIKA WAGNER

Für Klaus Herding

Im November 1898 traf Paul Gauguins Gemälde Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir wohlbehalten in Paris ein (Abb. 1). Seit Mitte Juli des Jahres war es gewissermaßen im Gepäck eines französischen Kolonialoffiziers aus Tahiti zur Metropole durch alle Weltmeere gereist. In Paris nahm es der Malerfreund Gauguins, Georges-Daniel de Monfreid, in Empfang und ließ es den schriftlichen Anweisungen des zivilisationsflüchtigen Künstlers entsprechend für eine möglichst umgehende Ausstellung mit einer schlichten, hellen Holzleiste rahmen. Vom 17. November bis zum 10. Dezember 1898 war Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir zusammen mit weiteren Gemälden Gauguins in der Galerie von Ambroise Vollard in Paris zu sehen. Gauguin hielt sich seit 1895 zum zweiten Mal in der Südsee auf, doch waren seine Gemälde nach wie vor für das großstädtische Publikum in der Alten Welt gedacht. Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir ist das größte der in der Südsee entstandenen Bilder; auf grobe Sackleinwand gemalt, mißt das friesartige Gemälde bei 139 cm Höhe fast 3 3/4 Meter in der Breite. Gauguin hatte es sich eigenen Schilderungen zufolge unter extremen Bedingungen abgerungen. Unmittelbar nach Abschluß des

Monika

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Wagner

Gemäldes habe er seinem Leben - übrigens im Alter von genau fünfzig Jahren - ein Ende setzen wollen, so daß er dieses Bild zu seinem künstlerischen Vermächtnis deklarieren konnte. Entsprechend häufig wurde es in der kunstgeschichtlichen Literatur als Höhepunkt der künstlerischen Entwicklung Gauguins, als Jahrhundertwerk, als Manifest des Primitivismus oder als Absage an den Eurozentrismus des Christentums verhandelt. Obwohl eine Rezeptionsgeschichte des Bildes die sich verändernden Interessen der Kunstgeschichtsschreibung geradezu bilderbuchartig illustrieren könnte, sollen die Positionen hier nicht diskutiert werden. Nicht das Bild, sondern vielmehr sein Titel steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. 1 Er ist in Gestalt einer Inschrift auf strahlend gelbem Grund in der linken oberen Ecke des Bildes (Abb. 2) zu sehen und hat sein Pendant in der Signatur Gauguins in der gegenüber liegenden rechten Ecke, die farblich gleich gestaltet ist (Abb. 3). Gauguin verglich die beiden chromgelben Bildecken mit einer goldenen Wand, auf der das Gemälde wie ein an den Ecken beschädigtes Wandbild aussehe. 2 Der gewissermaßen ins Ersatzgold inskribierte dreizeilige Text wurde in der Zeichnung der Bildkomposition, die Gauguin während der Arbeit an dem Gemälde auf dem Blatt eines Briefs festgehalten und im Februar 1898 an de Monfreid nach Paris geschickt hatte, 3 ebenso berücksichtigt wie in dem dreiteiligen Bildschema, das sich in einem Schreiben an Charles Morice aus dem Jahr 1901 findet. Schließlich ist der Text auch Teil der von einem Quadratraster überzogenen, farbigen Zeichnung. Die Inschrift war Gauguin also offensichtlich

1 Bisher am ausführlichsten: J. C. Welchman: Invisible

Colors. A visual history of titles,

N e w Haven, London 1997, S. 9 5 - 1 0 2 . 2 Dazu besonders: E. C . Childs: L'Esprit moderne et le catholicisme, in: Ausstellungskatalog Gauguin

Tahiti, l'atelier des tropiques, Grand Palais, Paris 2003, S. 281.

3 Unsinnig ist die Annahme von D. Silverman ( Van Gogh and Gauguin.

The Search

for

Sacred Art, N e w York 2000, S. 385), die Childs [wie Anm. 2] übernommen hat, ursprünglich habe Gauguin hier ein christliches Kreuz plazieren wollen. Vielmehr markiert das Kreuz den Ort, an welchem der dreizeilige, aber für die Skizze auf dem nur 20 cm breiten Blatt viel zu lange Text, der dieselbe kreuzförmige Markierung trägt, eingefügt werden soll.

Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir

109

wichtig und figurierte als unverzichtbares Korrelat zum Bild. Soweit in Kürze die hinreichend bekannten Fakten.

Titel und Bild Seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts begannen Künstler, zunächst vor allem die Präraffaeliten, ihren Werken Inschriften, Namen und Bildtitel auf der Leinwand oder dem zugehörigen Rahmen beizufügen. Es ist naheliegend, daß solche simultan mit dem Bild sichtbaren, vom Künstler gestalteten und damit unveräußerlichen Texte einen anderen Charakter besitzen als beschreibende Titel, wie sie in Inventaren und Ausstellungskatalogen auftreten und in der musealen Praxis seit der Einrichtung öffentlicher Museen um 1800 üblich sind. Gauguins Beschriftung des Bildes mit einem abstrakten Text wie Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir; unterscheidet sich aber nicht nur von der musealen Praxis der Vergabe deskriptiver Bildtitel, sondern ebenso von den Titeln öffentlicher Monumentalmalerei der Dritten Republik, die etwa durch die Benennung des dargestellten Ereignisses, durch den Namen des Helden und des Ortes oder die Bezeichnung allegorischer Figurationen, die bildlichen Szenen gerade konkretisierten.4 Gauguin, der seine mobilen Leinwände aus der Südsee nach Paris schickte, dürfte aus pragmatischen Gründen ein mit dem Gemälde verbundener Titel vorteilhaft erschienen sein, konnte er doch nicht verloren gehen. Möglich, daß es sich daher bei der Beschriftung der großformatigen Leinwand auch um eine naheliegende Vorsichtsmaßnahme handelte, da dem Künstler aus der Ferne nicht die Regie über die Ausstellung seiner Bilder in Paris oblag und ein Gemälde mit dem Format von Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir natürlich ungerahmt geschickt werden mußte, so daß auch der Rahmen als Ort des Titels entfiel. Die Be-

4 Vgl. die zahlreichen Beispiele in Ausst.-Kat.: Le triomphe des mairies. Grand républicains à Paris 1870-1914, Musée du Petit Palais, Paris 1986.

décors

110

Monika

Wagner

schriftung des Bildträgers selbst lag also nahe, wollte der Autor das Bild nicht ganz sich selbst überlassen. Jedenfalls findet sich aus der Zeit von Gauguins Aufenthalten in der Südsee eine ganze Reihe von Gemälden, bei denen der Maler neben seiner Signatur und dem Entstehungsort auch den Titel in unterschiedlichen Schriftarten auf die Bildfläche geschrieben hat. Damit wurde nicht allein die Illusion der Darstellung zurück genommen und das Bild als Bild ausgewiesen, sondern dadurch wurde das Bild auch gewissermaßen autark. Es war nicht länger auf einen Katalog angewiesen, der bei den jährlichen Salons die Titel der ausgestellten Bilder kommunizierte. Gauguin wählte für seine der Bildfläche integrierten Titel häufig Bezeichnungen in tahitischer Sprache wie etwa TA MATETE (Heute kein Markt) oder MERAHI METUA NO TEHAMANA (Teha'amana hat viele Ahnen),5 die geeignet sind, die Authentizität des Fremden zu belegen. Im letztgenannten Bild, dem Porträt eines jungen Mädchens, Gauguins Gefährtin während des ersten Tahiti-Aufenthalts, hat der Maler den Bildgrund zusätzlich mit Glyphen aus Tahiti ausgestaltet, die sowohl die Fremdartigkeit betonen als auch den Anspruch auf eine alte Hochkultur erheben. Denn diese Bildschrift legte den Vergleich zu den ägyptischen Hieroglyphen nahe, die in Frankreich jedes Kind kannte. In der ausschließlich in französischer Sprache verfaßten Inskription D'où venons nous - que sommes nous - où allons-nous geht es jedoch offensichtlich um etwas anderes als einen derartigen textlichen Beleg des Fremden oder um den damit verbundenen Reiz des Exotischen. In seinem Journal intime bekannte sich Gauguin gleich auf der ersten Seite ebenso freimütig wie programmatisch zu einer Praxis den Bildern ihre Titel erst nachträglich zuzuweisen.6 Seine Werke seien nach der Phantasie gestaltet und den Titel finde er erst viel später. Für das hier zur Debatte stehende Bild stand der Titel allerdings mindestens im Februar 1898 fest, als das Gemälde in etwa vollendet gewesen sein dürfte. Gauguins Behauptung einer 5 B. Danielsson: Gauguin's Tahitian Titles, in: Burlington Magazine 109, 1965, S. 228233. 6 P. Gauguin: Vorher und Nachher, Köln 1998, S. 12.

Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir

111

nachträglichen Titelfindung richtet sich allgemein gegen den Textbezug narrativer Malerei und speziell gegen die Betitelung monumentaler Auftragskunst in öffentlichen Gebäuden des 19. Jahrhunderts. Obwohl Gauguin derartige Aufträge, wie sie etwa Puvis de Chavannes erhielt, in höchstem Maße für sich wünschte, und seine Freunde sich für einen Staatsauftrag einsetzten, grenzte er sich entschieden von der im öffentlichen Bereich üblichen Praxis der Betitelung ab. Denn vom jeweiligen Auftraggeber bzw. der von ihm eingesetzten Kommission wurden die Themen vorgegeben, denen in der Regel auch die Titel entsprachen, die gut sichtbar unter oder über dem Werk angebracht wurden. Gegen diese wechselseitige Illustration von Text und Bild richtete sich Gauguin. Das Rezeptionsverhalten der Betrachter indessen geht bis heute meist vom Text aus, handele es sich um einen Titel oder eine andere Art der Bildbeschriftung. Das heißt der Titel wird als eine sprachliche Parallele zum und als Erläuterung des Dargestellten verstanden. Den Sinn des Textes will man im Bild wiederfinden, so daß der Titel in der Regel als Sehhilfe funktioniert. Hans Hollein hat auf dieses Wahrnehmungsverhalten in einer Installation, die 1987 auf der documenta 8 zu sehen war, aufmerksam gemacht (Abb. 4), in der er das Größenverhältnis von Bild und musealer Beschriftung umkehrte. Hollein füllte die Fläche des Bildformats mit Künstlernamen, Maßangabe und Bildtitel während er darunter, an Stelle der Beschriftung das Bild in Miniaturformat anbrachte, so daß das Bild die Textinformationen mitsamt dem Titel illustriert. Offenbar versuchte auch der Kunstkritiker und Essayist André Fontainas, Rezensent des Mercure de France, anläßlich der ersten Ausstellung von Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir auf die übliche Weise, das heißt über den Text, Gauguins Bild zu ,lesen'. Er scheiterte jedoch, weil, wie er kritisierte, „uns nichts den Sinn der Allegorie enthüllen würde", wenn Gauguin „nicht Sorge getragen hätte in die obere Ecke ,Woher kommen wir - Was sind wir - Wohin gehen wir' zu schreiben".7 Fontainas kritisierte, daß er auf der visuellen Ebene des Bildes nichts dem

7 A. Fontainas: Art Moderne, in: Mercure de Trance 1, 1899, S. 238.

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Text Entsprechendes entdecken könne. Während Gauguin zunächst an den Freund und Mitautor von Noa Noa, Charles Morice, geschrieben hatte, er glaube, daß das Bild die Aufschrift (légende) erkläre, erläuterte er ihm später - unter Bezugnahme auf Fontainas' Unverständnis - daß „der abstrakte Titel sich keineswegs auf der Leinwand in konkreten Formen ausdrückt". 8 Und in einem Brief an den Rezensenten stellte er klar, daß sein Bild auch durchaus nicht allegorisch zu verstehen sei. Vielmehr belehrte Gauguin den Kritiker unter Berufung auf Stéphane Mallarmé, daß „das Wesentliche in einem Werk exakt ,das, was nicht ausgedrückt ist (...)"' 9 sei. Während sein Gemälde, so Gauguin, völlig ohne Bezug auf literarische Mittel auskomme, stelle die Inschrift eine Reflexion dar, „die nicht mehr Teil der Leinwand ist, sondern in Umgangssprache verfaßt, ganz und gar der Wand zugehört, die es [das Bild, M. W.] umrahmt, kein Titel, sondern eine Signatur." 10 Es ist offensichtlich, daß der inskribierte Text unter Freunden zwar in Relation zum Bild verständlich war, nach außen jedoch besonderer Rechtfertigung bedurfte, da Gauguin betonte, er habe ohne Textbezüge gearbeitet. Tatsächlich ist der Status des Textes D'où venös nous - que sommes nous - où allons-nous, den der Maler selbst das eine Mal als Inschrift, das andere Mal als Titel, dann als Legende und schließlich als Signatur bezeichnete, nicht eindeutig. Thadée Natanson, der Herausgeber der einflußreichen Revue blanche, bezeichnete ihn in seiner Besprechung des Bildes nicht zu unrecht als „Devise, [...] die uns einlädt, über das Mysterium unseres Schicksals (destinée) nachzudenken". 11 Mit dem Begriff der Devise spielte Natanson auf eine komplexe, nicht auf Kongruenz ausgerichtete Beziehung zwischen Text und Bild an, um die es auch Gauguin zu tun war. Indem der Maler seine Inschrift selbst als Signatur bezeichnete, scheint er zum einen

8 P. Gauguin an Charles Morice, Juli 1901, zit. nach Ausstellungskatalog [wie Anm. 2], S. 231. 9 P. Gauguin an A. Fontainas, März 1899, in: Lettres de Gauguin à sa femme et ses amis recueillies... par Maurice Malingue, Paris 1946, S. 288. 10 Ebd. S. 289. 11 Th. Natanson: De M. Paul Gauguin, in: La revue blanche XVII, Sep.-Dez. 1898, Reprint, Genf 1968, S. 546.

Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir

113

seine Autorschaft für das Werk insgesamt, nicht allein für das Bild, sondern auch für den Text zu bekunden; zum andern konnte er so den Status seiner Bildinschrift im Verhältnis zu akademischen Bildtiteln wie zur beschreibenden Betitelung öffentlicher Wandmalerei aufwerten. D e r Text emanzipierte sich aus seiner Stellung als prägnante Zusammenfassung oder Ü b e r setzung des Bildes. Jedenfalls wird deutlich, daß Gauguin Woher wir - was sind wir - wohin gehen

kommen

wir nicht im Sinne eines beschreibenden

Titels verstanden wissen wollte. D a m i t stand er im ausgehenden ^ . J a h r hundert nicht allein. I m Gegenteil, es entsprach einer zeitgenössischen Tendenz moderner Malerei, insbesondere aber dem Verständnis symbolistischer Künstler, keine denotativen Titel zu verwenden, sondern Text und Bild als selbständige G r ö ß e n zu behandeln, 1 2 deren Begegnung etwas Neues erzeugt. Bildtitel entwickelten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem sensiblen Feld. Mit einer Malerei, die sich von Textvorlagen emanzipierte, gewann der Titel einerseits an Bedeutung, wurde aber andererseits auch als Verrat an der A u t o n o m i e der Malerei begriffen. D e r Zweifel am eigenen künstlerischen Vermögen, so polemisierte Baudelaire schon anläßlich des Salons von 1846, habe „gewisse Künstler dazu gebracht, daß sie alle übrigen Künste zu Hilfe rufen". In den Augen des Kritikers setzten Maler Texte ein, um ihr Unvermögen zu kompensieren. Vor allem machte Baudelaire sich über das Verhältnis von abstrakten Bildtiteln zur Malerei lustig. E r behauptete, „daß der Titel eines Gemäldes nie das Sujet erkennen läßt [ . . . ] " . D a genau die Identifikation von Titel und Bild jedoch der Erwartungshaltung des Publikums entsprach, führten abstrakte Titel zum A m ü sement der Kenner. „Aujourd'hui et D e m a i n " so fragte Baudelaire sarkastisch, „was ist das? Vielleicht die weiße Fahne und die Trikolore; vielleicht auch ein triumphierender Abgeordneter und derselbe nach seinem Sturz. N e i n , eine blühende Jungfrau, die zur W ü r d e der Lorette befördert, mit

12

Diesen Punkt hat schon Gudrun Inboden {Mallarmé und Gauguin. Absolute Kunst als Utopie, Stuttgart 1978) unabhängig von Fragen des Titels als Kennzeichen einer neuen, referenzlosen Kunst herausgearbeitet.

114

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Rosetten und Juwelen spielt." 13 Auch viele Karikaturen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf das Salon-Publikum leben von den Mißverständnissen, die abstrakte Titel beim textgläubigen Publikum erzeugten. Ins Absurde steigerte schließlich Alphonse Allais die Fixierung auf den Bildtitel, indem er in Jules Lévys Salon des Arts incohérents seinen monochromen Bildern ausführliche, narrative Bildunterschriften beigab, die umgekehrt dazu aufforderten die monochrome Fläche konkret zu deuten (Abb. 5). Angesichts schwindender gegenständlicher Bezüge im Bild14 wurde damit der Titel als letzte Bastion eines sicheren Textbezugs inszeniert und zugleich radikal in Frage gestellt.

Gauguins Bildtitel im Kontext religiöser Vorstellungen Zur Herkunft von Gauguins Titel Woher kommen wir - was sind wir wohin gehen wir wurden bisher zahlreiche Vorschläge gemacht. Für die Argumentation war stets entscheidend, ob Gauguin das entsprechende Werk, in dem die Formulierung vorkommt, persönlich kannte. In seiner grundlegenden Studie Gauguin and 19th Century Art Theory hat Hendrik R.Rookmaaker schon 1972 als eine von Gauguins Inspirationsquellen auf Thomas Carlyles Sartor Resartus hingewiesen. 15 In der zuerst 1833 erschienenen Abrechnung des englischen Sozialkritikers mit seiner Zeit heißt es, „mancher Royal Society bedeutet die Schöpfung der Welt kaum mehr als das Kochen eines Kloßes". 16 In der solchermaßen profanisierten Welt läßt Car-

13 Ch. Baudelaire: Der Salon 1846: XIII. Von Ary Scheffer und den sentimentalen Affen, in: Ders.: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, hrsg. von F. Kemp, C.Pichois Bd. 1, München 1977, S. 260 f. 14 Alphonse Allais hatte schon 1883 in Lévys Pariser Salon ein monochromes weißes Blatt mit dem Titel Premiere communion de jeunes filles chlorotiques par un temps de neige ausgestellt; 1896 erschien das Album Avrilesque mit einer Reihe monochromer farbiger Bilder und entsprechenden Unterschriften. 15 H . R. Rookmaker: Gauguin and 19th Century Art Theory, Amsterdam 1972, S. 230 ff. 16 Th. Carlyle: Sartor Resartus. On Heroes. Hero-Worship and the Heroic in History Past and Present, London 1910, S. 2.

Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir

115

lyle den vom Glauben abgefallenen Protagonisten Teufelsdröckh nach dem Unbeantwortbaren fragen: „ W h o am I; what is this M E ? " . R o o k m a k e r hat darüber hinaus auf Hippolyte Taines Adaption des Sartor Resartus unter dem Titel Thomas

Graindorge

hingewiesen, in der die mehrfach wieder-

holte Wendung „ O Whence - O h Heaven, W h i t h e r " als „Mais d'où venons-nous? O Dieu, où allons-nous?" ins Französische übersetzt wurde. F ü r die Bezugnahme auf Carlyles Sartor

Resartus

spricht, daß Gauguin

zumindest den Buchtitel kannte, wie sich aus einem Porträt ersehen läßt, in dem er den esoterischen Maler J a c o b Meyer de Haan über Schriften von J o h n Miltons Paradise

Lost und T h o m a s Carlyles Sartor

Resartus

grübeln

läßt. 1977 hat Richard Field einen weiteren Vorschlag gemacht 1 7 : D e n exakten Wortlaut von Gauguins Bildinschrift konnte er in einem zeitgenössischen esoterischen Text nachweisen. Es handelt sich um die 1891 in französischer Sprache unter dem Titel La voie perfaite,

ou le Christ

ésotérique

erschie-

nene Schrift von Anna B . Kimford und Edward Maitland. Darin heißt es: „L'humanité s'est toujours et partout posé ces trois questions suprêmes: d'où venons-nous? Q u e sommes-nous? O ù allons-nous?" Philippe Verdier konnte nachweisen, daß sich Gauguin mit einem weiteren esoterischen Text - Le Jésus

historique

von Gerald Massey - mit einem „Buch des A n -

fangs" beschäftigt hat. 18 Zwar ist Carlyles Kritik am Werteverlust der m o dernen Gesellschaft meilenweit von der Esoterik des Fin de Siècle entfernt, doch konvergieren die verschiedenen Positionen in einem religiösen Verständnishorizont, dem sich diese Fragen nach dem Woher und Wohin zuordnen lassen. D a ß Gauguin das zeitgenössische religiöse Klima gewit-

17 R. S. Field: Paul Gauguin. The Paintings of the First Voyage to Tahiti, New York, London 1977 (Diss. Harvard 1963), S. 289; vgl.: G. T. M. Shackelford: D'où venonsnous? Que sommes-nous? Où allons-nous?, in: Ausstellungskatalog [wie Anm. 2), S. 228 f. 18 Der Text stammt von Gerald Massey, Gauguin sei er in einem Pamphlet von Jules Soury zugänglich gewesen. Ph. Verdier: Un manuscript de Gauguin: L'Esprit moderne et le catholicisme, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 46/47, 1985/86, S. 285; vgl. auch D. Sweetman: Gauguin's Life, London 1995, S. 439.

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116

Wagner

tert habe, in dem sich „sozialistische Religion, Okkultismus und Buddhismus" mischen, hat Camille Pisarro schon 1891 befremdet konstatiert.19 Darüber hinaus sind von zahlreichen Autoren modifizierte Vorschläge für die Herkunft von Gauguins Formulierung der dreiteiligen Frage gemacht worden, die von Kant über Balzac bis zu Maeterlinck reichen. Und es ist höchst wahrscheinlich, daß sich vergleichbare Formulierungen über den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschheit noch an anderen Orten finden lassen.

Gauguins Titel im darwinistischen Kontext Wenn im folgenden auf eine weitere, bisher unbeachtet gebliebene zeitgenössische Publikation eingegangen wird, deren Titel demjenigen von Gauguins Bild bis auf einen einzigen Buchstaben entspricht, dann nicht, um den Nachweis einer konkreten Bezugnahme zu führen. Dafür hat sich die Formulierung der Bildinschrift als viel zu allgemein erwiesen. Vielmehr steht ein bislang ausgesparter, jedoch brisanter Kontext zur Debatte, der im späten 19. Jahrhundert mit der Frage Woher kommen wir - was sind wir wohin gehen wir aufgerufen wurde. Die Fragen hatten für Zeitgenossen Gauguins nicht mehr allein im philosophischen, religiösen oder esoterischen Kontext ihren Ort, sondern als starker Diskussionspartner war die Biologie hinzugekommen. Klaus Herding hat darauf aufmerksam gemacht, daß Gauguins ungewöhnliche Formulierung „Que sommes nous", anstelle des erwarteten „Qui sommes nous" auf Charles Darwin hinweise.20 Mit dem „Que" wäre, so darf man daraus folgern, gewissermaßen die Frage nach dem materialistischen Kern des Menschheit gestellt. Der eher beiläufig geäußerte Hinweis auf Darwin, ein Name, der auch andernorts in der

19

Zit. bei Ch. Harrison, F. Frascina: Primitivism, tieth Century,

20

Cubism, Abstraction.

The Early

Twen-

London 1993, S. 32.

K. Herding: Aspekte der Naturerfahrung in der Kunst des 19. Jahrhunderts, in: Ästhetik und Naturerfahrung, hrsg. von J. Zimmermann, Stuttgart-Bad Cannstadt 1996, S. 2 9 9 - 3 1 8 , hier S. 309.

117

Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir

einschlägigen Literatur allenfalls am Rande Erwähnung findet, ist für den Titel insgesamt relevant. Allerdings zeigt sich, daß sich auch materialistische Fragen sprachlich nicht immer so konsequent äußern mußten, wie von Herding angenommen. Nicht allein die Frage nach dem „Was sind wir", sondern der gesamte Fragenkomplex in Gauguins Bild war im späten 19. Jahrhundert untrennbar mit der darwinistischen Debatte verknüpft. Fragen nach dem Ursprung des Lebens und der Entwicklung der Menschheit traten seinerzeit deshalb so häufig auf, weil die Antworten nicht mehr selbstverständlich auf der Grundlage biblischer Wahrheit und einer unumstrittenen Schöpfungsgeschichte erfolgten, welche die Unveränderlichkeit der Arten garantierte. Charles Darwins epochale Schrift Die der Arten

durch natürliche

Zuchtwahl,

Entstehung

die erstmals 1859 (in französischer

Sprache 1862) erschienen war, ließ die biologische Welt in kürzester Zeit zum neuen entwicklungsgeschichtlichen Modell werden, und Fragen nach dem Woher und Wohin in einem neuen Licht erscheinen. An der rasanten Verbreitung der sogenannten Abstammungslehre waren vor allem populärwissenschaftliche Publikationen beteiligt. Häufig machten sie mit allgemein formulierten entwicklungsgeschichtlichen Titeln auf sich aufmerksam: So trägt auch das 1869 gleichzeitig in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache erschienene Buch des jüngeren Bruders von Georg Büchner, des Darmstädter Arztes Carl Christian Ludwig Büchner, den Titel Der Mensch

Vergangenheit, sind wirf

Gegenwart

Wohin gehen

und seine Stellung

in der Natur

in

und Zukunft, oder: Woher kommen wirf Wer

wir? Die mindestens fünf französischen Auflagen

erschienen in Paris in schneller Folge unter dem Titel L'Homme

selon

la

science - Son passé, son présent, son avenir où D'où venons-nous? - Qui sommes-nous?

- Où allons-nous?

Zeitlich betrachtet könnte Gauguin also

die überaus populäre, in ganz Europa kursierende Schrift durchaus gekannt haben, obwohl sich bisher kein Hinweis darauf findet. D o c h nicht die intentionale Bezugnahme Gauguins auf Büchners Formulierung ist hier ausschlaggebend, sondern der darwinistische Horizont, der - unabhängig davon, ob die Evolutionstheorie positiv oder negativ bewertet wurde - im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Formulierung wie „Woher kommen wir . . . " nolens volens evozierte.

118

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Wagner

Büchner ist geradezu ein Paradefall des populären Darwinismus. Seine früheste Schrift, Kraft und Stoff von 1854, die den Autor als Materialisten etablierte, hatte ihn seine Stellung an der Tübinger Universität gekostet. Sie machte ihn jedoch überaus populär, wurde in 17 Sprachen übersetzt und zählte allein sieben französischen Auflagen. Nachdem Darwins Entstehung der Arten erschienen war, verband sich Büchners Materialismus dem der Deszendenzlehre. Seine zahlreichen Schriften, die fast alle ins Französische übersetzt wurden, darunter auch Die Darwinistische Theorie in sechs Vorlesungen, ebenso wie seine Vortragsreisen, die ihn 1880 unter anderem auch nach Paris geführt hatten, machten Büchner auch in Frankreich, wo Lamarcks Abstammungstheorie Hausrecht hatte, zu einem der populärsten Propagandisten der neuen Lehre. Die großen französischen Enzyklopädien des späten 19. Jahrhunderts widmeten dem Autor umfangreiche Artikel und charakterisierten ihn einerseits als einen „vulgarisateur" und „polémiste populaire", andererseits als einen „penseur original", und sie zitierten seine Schriften.21 Bei Der Mensch und seine Stellung in der Natur in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, oder: Woher kommen wir? Wer sind wirf Wohin gehen wir?, handelt es sich, wie Büchner in der Einleitung erläutert, um die „Frage aller Fragen für die Menschheit" und zugleich die „wichtigste wissenschaftliche Streitfrage" des 19.Jahrhunderts. Sie betreffe „die allen anderen zu Grunde liegende Frage nach dem Ursprung und der Entstehung oder Abstammung des menschlichen Geschlechts" und die Bestimmung der „Stellung des Menschen in der Natur". „Woher unser Geschlecht gekommen ist", so zitiert Büchner den berühmten englischen Zoologen Thomas Henry Huxley,22 „das sind die zu lösenden Räthsel, welche sich stets von Neuem und mit unvermindertem Interesse jedem zur Welt gekommenen Menschen

21

La Grande

Encyclopédie.

Inventaire

Paris 1889, Bd. 8. Vgl. auch Grand

raisonné

des sciences,

Dictionnaire

universel

des lettres

et des

du XIXe

siècle,

arts, Paris

1867. 22

Vgl. T h . H . Huxley: Zeugnisse

für die Stellung

des Menschen

in der Natur,

Braun-

schweig 1863, S. 64, wo u.a. danach gefragt wird „Woher unser Stamm gekommen ist, ... auf welches Ziel wir hinstreben".

Woher kommen

wir - was sind wir - wohin gehen

119

wir

aufdrängen". „Einfacher ausgedrückt", fährt Büchner fort, „sind es jene uralten Fragen, welche von jeher den menschlichen Geist beschäftigt haben und welche lauten: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Fragen, welche bisher in das tiefste Dunkel eines undurchdringlichen Geheimnisses gehüllt schienen und welche erst durch die Wissenschaft unserer Tage einige Aufklärung und Erleuchtung zu erhalten anfangen." 23 Gerade weil es sich um ,uralte Fragen' handelte, die neu gestellt, kontrovers diskutiert und beantwortet wurden, war Gauguins Bildtitel überaus klug gewählt: Mit der Formulierung Woher kommen wir - was sind wir wohin gehen wir konnten sich sowohl Vertreter traditioneller Positionen wie Anhänger der Evolutionstheorie angesprochen fühlen. Die immer wieder aufflammenden Auseinandersetzungen um die „natürliche Schöpfung" und die Herkunft des Menschen blieben bis um 1900 aktuell. Gegenüber der biblischen Schöpfungsgeschichte wurde die „natürliche Schöpfungsgeschichte" des Menschen von Zeitgenossen als eine so grundlegende Veränderung des Weltbildes eingestuft, daß sie sich nur mit der Wissenschaftsrevolution vergleichen lasse, die durch Keplers und Galileis Entdeckung der um die Sonne kreisenden Erde ausgelöst worden war. 24 Speziell in Frankreich verband sich die Diskussion um den Darwinismus darüber hinaus mit einer intensiv geführten Dekadenzdebatte. 25 In deren Verlauf wurden allerlei Vorschläge zur Uberwindung der Degeneration in der alten Welt gemacht, so von dem französischen Anthropologen A. Bordier, der 1884 zur Revitalisierung Frankreichs vorschlug, „barbarische" Frauen aus den Kolonien zu importieren. Die Fortexistenz entwicklungsgeschichtlich früher eingestufter Stadien der Menschheit erschien in dieser

23

L. Büchner: Der Mensch und seine Stellung in der Natur in Vergangenheit, wart und Zukunft.

Oder:

Woher kommen

wir? Wer sind wirf

Gegen-

Wohin gehen

wirf,

in der Kunst des 20.

Jahr-

Leipzig 2 1872 S. 5. 24 25

Huxley [wie Anm. 22], S. 64. K. Varnedoe: Paul Gauguin, in: W. Rubin: Primitivismus hunderts,

München 1984, S. 187-217. Vgl. auch K. Herding: Motion and Emotion.

Zur Balance der Antriebskräfte bei Moholy-Nagy, in: Medium Architektur. der Vermittlung.

Zur Krise

Internationales Bauhaus-Kolloquium, Weimar 2003, bes. S. 160.

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Monika

Wagner

Perspektive geradezu rettend. Jedenfalls schärfte die darwinistische Debatte den Blick auf die außereuropäischen Kulturen. Manchem erschien eine weitere Entwicklung der Menschheit nur durch ,einen Schritt zurück', im Sinne einer Revitalisierung durch unverbrauchte Ethnien möglich. Bordier jedenfalls propagierte aus evolutionistischer Perspektive: „que l'avenir appartient aux sang-mèlés". 26 Als Beleg dafür wurden allenthalben die USA angeführt, deren technisch-zivilisatorischer Fortschritt der ,Rassenmischung' zu verdanken sei. Möglich, daß Gauguin, der damit kokettierte, ein Bastard von halb spanisch-peruanischer Herkunft zu sein, derartige Vorstellungen teilte. Daß Gauguin mit der darwinistischen Evolutionslehre ebenso wie mit der Degenerationsdebatte vertraut war, läßt sich auf unterschiedlichen Ebenen belegen. In Noa Noa wie in anderen seiner Schriften tauchen immer wieder evolutionistische Begrifflichkeiten auf, so ist etwa im Zusammenhang mit dem Uberlebenskampf der Maori von Mitteln der „Selektion" für die Erhaltung der „Rasse" die Rede. Gauguin hat die Abstammung aller Lebewesen aus einem Ursprung angenommen, die Gerald Massey, der Autor des von ihm genutzten esoterischen Textes, ebenso vertrat wie der Monist Ludwig Büchner. Daß Gauguin auch mit Darwins sogenannter „Affenthese" hantierte, zeigt sich nicht nur daran, daß er allgemeine Beziehungen zwischen Tieren und den „nackten Völkern" herstellte, sondern in einer Zeichnung (Abb. 6) auch den Gouverneur von Tahiti, „den Neger Lacasade", wie er ihn in Noa Noa nannte, 27 in direkter Parallele zu einem Affen karikierte und mit pfotenartigen Füßen ausstattete. Von den „Negern", den Papua und den Malaien setzte der Maler die Maori als höher stehend ab, während er die Europäer der Dekadenzdebatte entsprechend hin und wieder als „degenerierte Rasse" einstufte. Entgegen der verbreiteten Vorstellung von den primitiven Stammeskulturen der Südsee, die als

26 A. Bordier: La colonisation scientifique et les colonies françaises, Paris 1884, S. 49. 27 Noa Noa, in: Paul Gauguin. Der Traum von einem neuen Leben, hrsg. von K. Mittelstadt, Berlin 1991, S . l l . Im Originalmanuskript wurde die Bezeichnung „der Neger" gestrichen. Vgl. Noa Noa. Gauguins Tahiti, hrsg. von N. Wadley, Oxford 1985, S. 61, dazu auch Anm. 72.

Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir

121

religionslos beschrieben wurden, suchte Gauguin zu belegen, daß die Maori eine ursprüngliche, der christlichen nicht nachstehende Religiosität besaßen. Für die evolutionistische Position Gauguins erweist sich seine Schrift L'Esprit moderne et le catholicisme28, die 1897-98, also in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Gemälde Woher kommen wir - was sind wir wohin gehen wir entstand, als besonders aufschlußreich. Darin erteilte der Maler den traditionell christlichen Erklärungen auf seine Frage nach dem Woher und Wohin ebenso eine Absage wie den darwinistischen. Einerseits rechnete er mit dem Eurozentrismus des Christentums ab, suchte aber andererseits dessen spirituelle Grundlagen zu universalisieren und vertrat eine evolutionäre Vorstellung von Religiosität. Gauguin nutzte also das evolutionäre Modell, grenzte sich aber gleichzeitig gegen, wie es in L'Esprit moderne et le catholicisme heißt, die Materialisten ab, weil sie der Seele keine Bedeutung zubilligten. Sie sei es, so betonte Gauguin, durch die eines Tages ein ganz anderes Licht auf die „question de la formation des espèces organiques animées, par évolution les unes des autres" fallen werde, wie dies speziell die Materialisten entwickelt hätten, allerdings anders als diese es sich dächten.29 In dem Zusammenhang, in dem sich Gauguin explizit auf die Evolution der Lebewesen bezieht, kann sich die Verwendung des Begriffs Materialisten nur auf Vertreter der Deszendenzlehre beziehen. Denn in Gauguins Vorstellung, die sich, wie schon von verschiedenen Seiten dargelegt wurde, aus esoterischen Quellen speiste, war es die Seele, welche die Evolution der Lebewesen von den niedrigsten Organismen bis zur höchsten Vollendung der Spezies im Menschen hervorgebracht habe.30 Diese Hinweise mögen genügen, um Gauguins Kenntnis der zeitgenössischen Debatte um die Deszendenzlehre zu belegen, deren Vorstellung von der Entwicklung der Arten er teilte, deren materielle Fixierung auf den Körper er jedoch ablehnte. Der Maler meldete sich also mit dem inskribier-

28 Der vollständige Text ist abgedruckt bei Verdier [wie Anm. 18], S. 273-328. 29 P. Gauguin: L'Esprit moderne et le catholicisme, in: Verdier [wie Anm. 18], S. 302. 30 Ebd. S. 303.

122

Monika Wagner

ten Titel seines Gemäldes aus Tahiti in einer grundlegenden Debatte zu Wort. Mit dem Bild selbst schien er aber in den Augen der Pariser Kunstkritiker keine direkte Stellung zu beziehen. Natanson irritierte, daß Gauguins Gemälde auf Modellen aus Tahiti basiere, die „Devise" jedoch eine hohe Verallgemeinerung (généralité) enthalte. 31 Offenbar konnte der Kritiker, der Gauguins Kunst hoch schätzte, dem dargestellten Kolonialvolk keinen Ort in der allgemeinen Menschheitsgeschichte zuweisen. Daß Gauguin dies aus seiner Perspektive anders sah, hatte er Monfreid noch vor der Fertigstellung des Gemäldes explizit mitgeteilt. 32 Im Bewußtsein um die Bedeutung des Titels im Kontext der Evolutionslehre aber lassen sich doch einige Aspekte des Gemäldes überdenken. Sie seien hier abschließend lediglich angedeutet: Unter dem monistischen Gesichtspunkt, daß alles Leben aus einer Wurzel stamme, produzieren auch die Bildelemente in den beiden oberen gelben Ecken von Gauguins Gemälde Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir, die der Inschrift und der Signatur zugeordnet sind, geradezu programmatisch Sinn. Denn bei dem unter der Inschrift angebrachten pflanzlichen Element handelt es sich nicht um eine Blüte, 33 sondern um eine Samenkapsel und damit um einen Verweis auf Fruchtbarkeit auf der Ebene der Pflanzen; auf der rechten Seite ist zur Pflanzenwelt die Tierwelt in Gestalt eines Rehs hinzugekommen; das Reh lagert unter einem Busch oberhalb der Signatur. Im Hauptbild schließlich ist die Menschheit zusammen mit der Pflanzenund Tierwelt dargestellt, so daß das „niedere Wesen gegenüber dem intelligenten Wesen in dieser Gesamtheit" erscheint, eine Begegnung, die Gauguin als „das im Titel angekündigte Problem" bezeichnete. 34 Die Menschheit selbst ist in zwei verschiedenen entwicklungsgeschichtlichen Stadien - den Nackten und den Bekleideten - vergegenwärtigt. Dementsprechend sind auch verschiedene Stadien der Religiosität thematisiert. Während die „nackten Völker" keinen Sündenfall kennen und im Angesicht des Kultbilds

31 32 33 34

Natanson [wie Anm. 11], S. 546 Gauguin an Morice 1898, vgl. Verdier [wie Anm. 18], S. 281. Welchman [wie Anm. 1], S. 98 f. Gauguin an Morice, 1901, zit. nach H. R. Rookmaker [wie Anm. 15], S. 236.

Wober kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir

123

ungestraft Früchte pflücken, läßt sich die spätere Stufe in Gestalt zweier „sinistrer Gestalten" ablesen, „die in Gewänder aus tristen Farben gekleidet sind", und wie Gauguin selbst weiter ausführte, unweit des „Baums des Wissens" einen „durch eben dieses Wissen verursachten Schmerz" ausdrücken.35 Insofern reflektiert auch das Gemälde ein Woher und Wohin, doch bedient es weder bedingungslos die biblische Schöpfungsgeschichte noch das darwinistische Entwicklungsmodell. Vielmehr suchte Gauguin beides zu kombinieren, und so in der Entwicklungsgeschichte der Lebewesen den Maori im ikonographischen Schema des Paradiesischen ihren Platz zuzuweisen. Das entsprach auf höchst eigenwillige Weise dem Postulat der Naturforscher, die „Stellung, welche der Mensch in der Natur einnimmt, und seine Beziehungen in der Gesamtheit der Dinge" 36 zu untersuchen. Eigenwillig war Gauguins Position insofern, als weder die Bibelexegeten noch die Deszendenztheoretiker die Position einer Ethnie in der Südsee einzunehmen versuchten, um von dort die weitere Entwicklung zu den „bekleideten Völker" zu reflektieren wie es Gauguin in Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir versuchte.

35 36

Ebd. Huxley [wie Anm. 22], S. 64.

124

Monika

Wagner

Woher kommen

Abb. 2

wir - was sind wir - wohin gehen

wir

125

Paul Gauguin, Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir, 1897/98, O l auf Leinwand, 139 χ 375cm, Boston, Museum of Fine Arts, Detail (linke obere Ecke).

126

Abb. 3

Monika "Wagner

Paul Gauguin, Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir, 1897/98, Ol auf Leinwand, 139 χ 375cm, Boston, Museum of Fine Arts, Detail (rechte obere Ecke).

Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir

Abb. 4

Hans Hollein, Installation auf der documenta 8, 1987.

127

Monika Wagner

128

sss

P R E M I È R E C O M M U N I O N jDE J E U N E S FILLES CHLORQTiaUES P A R U « TEMPS DE NEIGE

«Ta

Abb. 5

Alphonse Allais, Blatt aus dem Album Primo-Avrilesque, Paris 1897.

Woher kommen wir - was sind wir - wohin gehen wir

Paul Gauguin, Karikatur des Gouverneurs Lacascade, um 1892/3. Bleistift und Aquarell, Paris, Réunion des Musées Nationaux.

129

Compositio corporum. Renaissance der Bio Art FRANK FEHRENBACH

Wenn nach über hundert Jahren Moderne - und das heißt auch: nach über hundert Jahren Transgression, Tabubruch, Entgrenzung, nach dem radikal Ephemeren, der verweigerten Aussage, nach Verabschiedung und Reanimation von Traditionen, nach dem Durchspielen scheinbar jeder Variante, jeder Geste, jedes Materials und Nicht-Materials - wenn inmitten der alltäglichen kulturellen Beschleunigungskrise selbst professionelle Rhapsoden der Avantgarde verstört oder ablehnend reagieren 1 , dann muß es einem Teil der Kunst wieder einmal gelungen sein, eine bislang unbemerkte Grenze verschoben zu haben. Das ist erfreulich, denn die Abnutzung ihrer individualistischen Gesten, ihre Kanonverliebtheit, ihre Marktkonformität und nicht zuletzt ihre akademische Massenpopularität haben die Kritik der Gegenwartskunst längst zu einem der konservativsten Felder der Kunstgeschichte gemacht. Wer heute Kunst als Irritation, Herausforderung oder Abenteuer erfahren möchte, ist gut beraten, aus der raunenden Menschenschlange vor MoMa-Reliquien auszuscheren und sich stattdessen mit den fremden Wahrnehmungsformen, unvertrauten Materialien und verschollenen Narrativen von - beispielsweise - Mittelalter und Früher Neuzeit auseinanderzusetzen. Oder aber mit Bio Art.

1 Vgl. etwa R. Hoppe-Sailer: Bioplay. Medien - Simulation - Natur?, in: H. W. Ingensiep und A. Eusterschulte (Hg.): Philosophie der natürlichen Mitwelt. Festschrift Klaus-Michael Meyer-Abich, Würzburg 2002, S. 257-272.

Frank

134

Fehrenbach

D i e Bezeichnung ist eher willkürlich, denn in unserer doch keineswegs um branding

verlegenen Kultur hat die marginale, aber mit maximaler O f -

fentlichkeitswirkung agierende Tendenz, um die es hier geht, noch immer keinen rechten Namen. I m Angebot befinden sich auch Transgenic biotech'

oder DNArt.

Art,

l'art

Die neue Kunst entstand im Windschatten der zahl-

reichen Ausstellungen in den neunziger Jahren, die sich mit den Transformationen des menschlichen Körpers im Zeichen von Virtual

Reality,

Pro-

thetik und Gentechnologie befaßten. Ein entscheidender Impuls ging dabei von der Ars electrónica liches

Leben

Zukunft

in L i n z aus, die 1993 mit Genetische

Kunst -

der Evolution

und mit Life Science

1999 war auch konzeptuell ein

H ö h e p u n k t erreicht. Parallel lud die Bundeskunsthalle zu Prometheus

Künst-

aufhorchen ließ. Linz blieb dem T h e m a treu; 1996 folgte Die

im Labor?

Gen-Welten.

ein, mit einem politisch korrekten Fragezeichen.

D i e U S A zogen mit Paradise

now - Picturing

the Genetic

Revolution

im

Exit Art Museum von N e w Y o r k nach, kaum zufällig im J a h r der feierlichen Ankündigung von Bill Clinton und Craig Venter, das menschliche G e n o m annähernd vollständig entschlüsselt zu haben. In Duisburg folgte 2001 Unter der Haut sischen

Kunst

- Transformationen

des Biologischen

Versuch, dem N e u e n einen N a m e n zu geben, DNArt Visionen.

in der

zeitgenös-

( L e h m b r u c k - M u s e u m ) und im Kunsthaus Meran, mit einem - Gen-Ethik

Berkeley und Nantes setzten 2003 weitere Akzente mit

Contemporary und L'art biotech

Art

Explores

Human

Genomics

und Gene(sis):

(Berkeley Art Museum)

' (Le Lieu Unique). 2

2 Vgl. zum Thema außer den Katalogen der genannten Ausstellungen mit ihren teilweise ausgezeichneten Beiträgen zusammenfassend: E. K. Levy: Contemporary art and the genetic code, New models and methods of representation, in: Art Journal. Contemporary Art and the Genetic Code 55/1, 1996, S. 20-24; R. Shapiro: DNA, art, and hereafter, in: Art Journal. Contemporary Art and the Genetic Code 55/1, 1996, S. 75-78; O. Grau: „Lebendige Bilder" schaffen. Virtuelle Realität, Artificial Life und Transgenic Art, in: B.-M. Baumunk und J. Joergens (Hg.): Dschungel. Sammeln, Ordnen, Bewahren: Von der Vielfalt des Lebens zur Kultur der Natur. 7 Hügel - Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts, Teil 2, Berlin 2000, S. 47-53; I. Reichle: Kunst und Biomasse. Zur Verschränkung von Biotechnologie und Medienkunst in den 90er Jah-

Compositio corporum. Renaissance der Bio Art

135

Worum geht es? Mit dem großflächigen Anbau von transgenen N a h rungsmitteln seit etwa 1995 und der Geburt des ersten geklonten höheren Säugetieres, des Schafes Dolly durch Ian Wilmut 1997 waren spektakuläre biotechnische Innovationen Wirklichkeit geworden. Annähernd gleichzeitig überraschten Künstler wie Edoardo Kac oder Joe Davis die Öffentlichkeit mit im Labor erzeugten transgenen Lebewesen, die sie zum Kunstwerk erklärten. Daß der kulturelle Vorgang, dem ich mich hier ganz skizzenhaft widmen möchte, unweigerlich polarisiert, verwundert nicht. Mein Ausgangspunkt sind nicht die schockierenden Körpertransformationen, die einige Künstler der Gegenwart an sich selbst vornehmen - etwa die kombinatorische Schönheitschirurgie der Französin Orlan, eine Umdeutung des additiven Kanons des Zeuxis, bei dem nun frühneuzeitliche Kunstwerke als Vorbild dienen: „So besitzt sie mittlerweile die Stirn von Leonardos Mona Lisa, das Kinn von Botticellis Venus, die Augen von Geromes Psyche und den M u n d von Bouchers Europa." (Söke Dinkla). 3 O d e r die posthumane Prothesenkunst des Australiers Stelarc, der sich selbst in einen Cyborg verwandelt, künstliche Gliedmaßen und zusätzliche Organe ansetzt, während die Hohlräume seines Körperinneren technoide Skulpturen bevölkern. 4 All das setzt lediglich die Körperinszenierungen der Body Art fort und steht damit in einer langen Tradition, in der sich der Künstler selbst zum Kunstwerk er-

ren, in: Kritische Berichte 29/1, 2001, S. 23-33; Transgene Kunst: Klone und Mutanten. Kunstforum International 157, Nov./Dez. 2001. Die gerade erschienene Dissertation von Ingeborg Reichle: Kunst aus dem Labor. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Technoscience, Wien 2005, konnte hier leider nicht mehr berücksichtigt werden. 3 Vgl. zuletzt: Orlan, Ausstellungskatalog, Fonds Régional d'Art Contemporain des Pays de la Loire, Carquefou (2002/2003) und Centre National de la Photographie, Paris (2004), Paris 2004. 4 Vgl. H . Caygill: Stelarc and the Chimera. Kant's Critique of Prosthetic Judgment, in: The Art Journal 56/1, 1997, S. 46-51; Stimulations: 'the artist also has something to say' - listening to Stelarc. The artist in conversation with Robert Ayers, in: K. Mey (Hg.): Sculpsit. Contemporary artists on sculpture and beyond, Manchester 2001, S. 127-140.

136

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Fehrenbach

klärt. Dies ist Frucht einer bis in die Frühe Neuzeit zurückreichenden Autonomiebewegung, in deren Verlauf es geradezu unausweichlich erschien, den künstlerischen Gestus zu habitualisieren, auf die eigene Biographie und zugleich pathognomisch auf den eigenen Körper auszudehnen, in eigentümlicher Fortdeutung des alten Florentiner Renaissancediktums, wonach jeder Maler stets sich selbst malt. 5 Spätestens mit der aufgeklärten Genie-Ästhetik wurde dieses Spiegelverhältnis festgeschrieben: „Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität", schrieb Schiller anläßlich seiner Kritik von Gottfried August Bürgers Gedichten, und fügte vielsagend hinzu: „Diese muß es also werth seyn, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden." 6 Darum soll es, wie gesagt, nicht gehen. Das lebendige Material der aktuellen Bio Art ist der tierische, seltener der pflanzliche 7 Organismus, aber es dürfte nicht mehr lange dauern, bis es auch hier zu Verschmelzungen mit der Body Art kommt und die ersten Künstler auf die Autonomie ihrer Selbstformung pochen (etwa als transgene Klone), die ältere Feststellung des neuplatonischen Renaissancephilosophen Pico della Mirandola aktualisierend, wonach letztlich jeder Mensch plastes et fictor, Bildhauer und Dichter von sich selbst sei. 8 Man liegt wohl mit der Erwartung nicht falsch,

5 Vgl. M. Kemp: ,Ogni dipintore dipinge sé': A Neoplatonic Echo in Leonardo's Art Theory?, in: C . H . Clough (Hg.), Cultural Aspects of the Italian Renaissance: Essays in Honour of Paul Oskar Kristeller, Manchester 1976, S. 311-323; F. Zöllner: ,Ogni pittore dipinge sé'. Leonardo da Vinci and ,Automimesis', in: M. Winner (Hg.): Der Künstler über sich in seinem Werk, Weinheim 1992, S. 137-160. Zum Fortwirken der Formel im 17. Jahrhundert: Ph. Sohm: Caravaggio's deaths, in: The Art Bulletin L X X X I V / 3 , 2002, S. 449-468 (S. 467-468, Anm. 97). 6 F. Schiller: Über Bürgers Gedichte, in: Schillers sämmtliche Werke in zwölf Bänden, Stuttgart und Tübingen 1838, Bd. 12, S. 341-357 (S. 343). 7 Vgl. dazu: B. Nemitz: trans /plant. Living vegetation in contemporary art, Ostfildern (Ruit) 2000. 8 De hominis dignitate X X I I .

Compositio corporum. Renaissance

der Bio Art

137

daß es neben dem Sport (Gendoping) die Kunst sein wird, in deren Schutzzone die ersten androiden Chimären auftreten werden.9 Werfen wir zunächst einen Blick auf zwei Künstler, die Lebewesen als Kunstwerke herstellen, ohne jedoch in das Genom ihrer Kunstorganismen einzugreifen: George Gessert, der Schwertlinien züchtet und Marta de Menezes, die die Flügelfärbung ihrer Schmetterlinge im Larvenstadium manipuliert (Abb. I). 10 Beide Künstler können mit dem traditionellen heroischen Vokabular der Moderne als Grenzgänger gewertet werden und bleiben mit ihrem künstlerischen Material im Rahmen kulturell akzeptierter Praktiken. Niemand käme auf die Idee, bei diesen kurzlebigen Biofakten11 die kulturkritische Reißleine zu ziehen, obwohl es gerade Gessert ist, der in seinen vielzitierten Texten der späten neunziger Jahre die Kontinuität zwischen traditioneller Züchtung und aktueller, „DNA involvierender" BioArt unterstreicht. Eine der grundlegenden Bedingungen für den Erfolg der aktuellen Biotechnologie (Stichwort: Präimplantationsdiagnostik) beruht auf ihren Möglichkeiten, ethische Oppositionslinien durch .Vergrößerung' durchlässig zu machen, Raum und Zeit zu digitalisieren. Die Kontinuität der scala naturae wird zur Herstellungsoption, und das .Halblebendige' (semi-living) gerät verstörend in den Blick. Die australische Künstlergruppe Tissue, Culture & Art (kurz T C & A - Oron Catts, Ionat Zurr und Guy Ben-Ary) arbeitet seit den späten neunziger Jahren mit Zellgeweben, die mithilfe des gentechnischen Labors zur Matrix lebender Körperzellen werden. T C & A befassen sich mit dem sog. tissue engineering und wollen auch ihrem Landsmann

9

Zur Aufregung um die ,Göttinger Chimäre', möglicherweise verursacht durch die unbeabsichtigte Rückentwicklung einer menschlichen Nervenzelle in eine undifferenzierte Stammzelle, vgl. Ch. Schwägerl: Stammzellenforschung. Die Göttinger Chimäre, in: FAZNet,

10

2.5.2005.

Vgl. G. Gessert: Eine Geschichte der DNA-involvierenden Kunst, in: G. Stocker und Ch. Schöpf (Hg.): Ars Electrónica

99. Life Science, Wien und N e w York 1999,

S. 2 3 6 - 2 4 4 ; ders., Notes on Genetic Art, in: Leonardo

2 6 / 3 , 1993, S. 2 0 5 - 2 1 1 ; h t t p : / /

www.martademenezes.com. 11

Vgl. N . Karafyllis (Hg.): Biofakte. und Lebewesen,

Paderborn 2003.

Versuch

über den Menschen

zwischen

Artefakt

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Fehrenbach

Stelarc zum gewünschten dritten O h r (Abb. 2) verhelfen, das allerdings nicht hören wird, sondern, mit einem Miniaturempfänger ausgestattet, dem wirklichen Organ Nachrichten aus dem Internet zuflüstern soll. (Wird man die mit „oberen Eingießungen" [Dürer] Begnadeten künftig an der Zahl ihrer O h r e n erkennen?) Eine 2003 auch in Nantes zu sehende Arbeit von T C & A verwendet sogenannte worry dolls, die kleinen Kindern an manchen Orten unters Kopfkissen gelegt werden, nachdem sie sich fest etwas gewünscht haben, auf daß es sich erfülle (Abb. 3).12 T C & A umhüllen nun diese winzigen Artefakte sorgfältig mit Zellgeweben, denen im Labor Keimzellen einer Maus eingepflanzt wurden. Unter sterilen Bedingungen ersetzen die Mäusezellen nach und nach ihr Medium, überwuchern die Wunschpüppchen und wachsen innerhalb ihrer Nährlösung zu formlosen Gebilden aus. Der Betrachter, der sich dem .halblebendigen' Gebilde mit dem Vergrößerungsglas nähert, wird Zeuge eines Wucherungsprozesses, bei dem die tote anthropomorphe Form der Puppen allmählich überdeckt wird durch einen halb transparenten, kontingent ausgreifenden .Organismus'. Täglich können die Zuschauer einem sogenannten feeding ritual beiwohnen, bei dem die Nährlösung der Ampullen ersetzt wird. Am Ende der Ausstellung findet konsequenterweise das sogenannte killing ritual statt. Die .halblebendigen' Gebilde werden aus ihrer Nährlösung genommen und von den Zuschauern berührt. Durch die nichtsterile Luft und die Berührung sterben die Zellkulturen rasch ab; sie werden O p f e r feindlichen Lebens. In der anschaulich zwingenden Umdeutung älterer Phantasmen erweist sich Qualität und Komplexität künstlerischer Hervorbringungen. Die .halblebendigen' Skulpturen von T C & A modifizieren eines der wirkmächtigsten produktionsästhetischen Paradigmata, die Belebung der Elfenbeinstatue des Bildhauers Pygmalion. 13 Der Verwandlungsmythos wird in Ovids Metamorphosen (X, 243-297) prominent entfaltet und invertiert dort seinerseits die lange Reihe der Transformationen zwischen lebendigem

12 Vgl. http://www.tca.uwa.edu.au/ars/main_frames.html 13 Vgl. dazu jetzt umfassend: V. I. Stoichita: Simulacra. The Pygmalion Ovid to Hitchcock, Chicago 2005 (im Druck).

Effect

from

Compositio corporum. Renaissance der Βίο Art

139

Organismus und totem Bild (Versteinerung); eine künstlerische Verlebendigungsleistung, in der sich Ovids eigener narrativer Anspruch widerspiegelt. Vom erotischen Vorzeichen bei Ovid und innerhalb der langen Tradition .lebendiger' Skulpturen ist bei TC&A nichts mehr sichtbar, wohl aber vom dialektischen Schatten des artifiziellen Lebens - der Sterilität - , die Pygmalions inzestuöse Genealogie bis zum Urenkel Adonis prägt. 14 Der Akzent liegt nun auf der technischen Herstellung von Leben; kein Gebet eines ins eigene Werk verliebten Künstlers, den Venus gnädig erhört, auf daß das harte Material sich unter den warmen Händen erweiche. Die Invokation der Götter entfällt; der ,alchemistische' Hintergrund drängt sich stattdessen auf. Die Selbstermächtigung des Bildhauers, Werke zu schaffen, die so lebendig sind, daß ihre tatsächliche Beseelung in jedem Moment zu erwarten ist, findet in der Renaissance statt. Sicher, dort geht es um ästhetische Lebendigkeit. Die Grenzen sind dabei aber durchlässig; Materialkenntnis, pneumatische Manipulation und göttliche Assistenz gehen Hand in Hand. Benvenuto Cellini beispielsweise inszeniert den Guß der Perseus-Medusa-Gruppe der Piazza della Signoria im Rückblick als nächtliches, demiurgisches Spektakel. Erst mit seiner Anrufung des Auferstandenen gelingt es dem fieberkranken Künstler, die Bronze zum Fließen zu bringen und, wie er schreibt, die Statue zu animieren, wobei mit der allmählich abkühlenden Materie auch seine eigene Temperatur nachläßt. 15 Anders als im antiken Mythos, müssen die .halblebendigen' Skulpturen von TC&A aber vor jedem Kontakt mit der Welt des Zuschauers geschützt werden; seine Berührung wirkt tödlich. Und auch der Prozeß des allmählichen Formverlusts als Wucherung kehrt den antiken Mythos um. Mit den kleinen Dimensionen der Gebilde invertieren TC&A zugleich das Paradigma der lebensgroßen, besser kolossalen antiken und neuzeitlichen Statue. 16 All das macht jene unheimlichen Horizonte sichtbar, die rezeptionsgeschichtlich unter den erotischen Gehalten der Mythe begraben wur-

14 15 16

Vgl. W. Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt/M. 2003, S. 4 0 - 4 7 . B. Cellini: La vita, hrsg. von L. Bellotto, Parma 1996, S. 668-675. Umfassend zum Vorgang: M. Cole: Cellini's blood, in: The Art Bulletin 81, 1999, S. 2 1 5 - 2 3 5 . Vgl. V. Bush: The colossal sculpture of the Cinquecento, New York 1976.

140

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Fehrenbach

den; Horizonte, in denen die Puppe zugleich für den Lebenden einstehen konnte, Tauschvorgänge möglich waren.17 Umso schmerzlicher ist es, daß TC&A in charakteristischer Neigung zu Uberdetermination und Verniedlichung ihre eigene Idee durch zu intensive konzeptionelle Zuwendung töten. Nun sollen die Püppchen, alphabetisch benannt, für unsere konkreten Ängste vor der Biotechnologie stehen, die der Besucher elektronischen worry machines mitteilen kann. Die Aufhängung ist Kitsch und kann mit einem ihrer Vorbilder, Lim Young Suns Room of the Host (1998/99) und seinen unheimlich wispernden Silikon-Präparaten nicht konkurrieren. Dem Brasilianer Edoardo Kac gelang es vor drei Jahren, mit dem Kaninchen Alba so etwas wie die Ikone der Transgenen Kunst zu schaffen (Abb. 4). Es handelt sich um eine zugleich simple und weitreichende Geste. Das französische Labor, das für Kac angeblich das phosphoreszierende Quallen-Gen GFP in das Genom des Albinos schleuste, tat nur, was seit längerem wissenschaftliche Praxis ist. Bereits 1971 wurden Körperzellen eines Hasen mit dem Leuchtprotein einer Meeresalge präpariert. Im Rückblick auf das Jahr 2003 stellte die FAZ zahlreiche transgene GFP-Tiere vor, die kurz vor der kommerziellen Verwertung stehen, beispielsweise als schwimmende Leuchtstifte im heimischen Aquarium (Abb. 5). Der Farbeffekt ergibt sich nur unter UV-Licht. Alba und ihren Artgenossen entgeht die Pointe also vermutlich, ebenso wie den leuchtenden Schweinen, die dem Fleischproduzenten irgendwelche Vorteile verschaffen sollen. Die Existenz von Alba selbst ist allerdings fraglich, denn Biologen verweisen darauf, daß GFP nur in der Haut, nicht in den Haaren der Tiere aktiv wird.18 Kac, der den Nager bislang nur fotografisch präsentierte, stellte bereits vor einigen Jahren das Projekt eines GFP-modifizierten Hundes

17

Ein naheliegendes Beispiel bieten etwa die Puppen, die bei Dosso Dossis (Melissa),

Circe

Galleria Borghese, R o m (ca. 1 5 1 5 / 1 6 ) über der H e x e am Baum hängen;

vgl. dazu P. Humphreys: Katalogbeitrag in: A. Bayer (Hg.): Dosso Dossi. Pittore di corte a Ferrara nel Rinascimento, 18

Ferrara 1998, S. 1 1 4 - 1 1 7 .

Vgl. dazu Κ. Philipkoski: Alba, the glowing bunny (12.8.2002; http://www.wired. com/news/medtech/0,1286,54399,00.html).

Compositio corporum. Renaissance der Bio Art

141

vor (GFP K-9), der als Photomontage einen ähnlich überzeugenden Eindruck macht wie das Kaninchen. 19 Aber die Frage nach der Existenz von Alba kann durchaus offen bleiben. Kac konzeptualisiert seine Kreation geradezu lustvoll. Angeblich wurde er vom Labor daran gehindert, das transgene Wesen im Jahr 2000 in Avignon als Kunstwerk zu präsentieren; eine nicht unwahrscheinliche Vorsichtsmaßnahme angesichts der bestehenden gesetzlichen Restriktionen, die unkontrollierte Auskreuzungen verhindern sollen. Ahnlich wie im Fall der Mona Lisa, die erst durch ihren Raub 1911 - also durch ihre zweijährige Unsichtbarkeit - zur Tempelikone des Louvre wurde, ist auch im Falle von Albas Absenz Bedingung gesteigerter medialer Präsenz. Kac jedenfalls betrieb im Dezember 2002 eine Medienkampagne mit geradezu aufreizend traditionellen Mitteln und klebte in Paris, am folkloristischen Ort der Avantgarde, hunderte von Plakaten, die ihn mit seinem Kaninchen zeigen (das nicht leuchtete) und durch lapidare Beischriften wie Science, Religion, Familie, Art die unterschiedlichen Diskursfelder benennen, an deren Schnittstelle sich das Biofakt befindet (Abb. 6). Zugleich dokumentierte Kac fotografisch das weltweite Presse-Echo in seinem jeweiligen Ambiente. 20 Der grüne Mümmelmann wurde so zur globalen Ikone, sein Schöpfer zum Freiheitskämpfer. Kac betont immer wieder sein zentrales Anliegen: die Chimäre aus ihrem Laborgefängnis zu befreien und ihr jene familiäre Zuneigung zu gewähren, auf die auch technisch erzeugte Zwitterwesen einen Anspruch hätten. Das niedliche Tierchen erleichtert die Identifikation. Im Handumdrehen wird so aus den kulturellen Beschleunigungsfanatikern der hard sciences ein Orden reaktionärer Tierfeinde. Es waren wohl diese Gründe, die den am Art Institute von Chicago wirkenden Kac Frankreich als location seiner Aktion wählen ließen. So wurde der Schwarze Peter als grünes Kuscheltier über den Atlantik gereicht. Die politischen Ziele von Kac lassen sich wie folgt zusammenfassen. Erstens: Wir brauchen eine vorurteilsfreie Debatte um genetisch modifi19 Vgl. E. Kac: Transgenic Art, in: Ars Electrónica 99 [wie Anm. 10], S. 289-296; S. Shaviro: Atomic Dogs, in: Artbyte, März-April 2000, S. 22-23. 20 Vgl. die Texte in http://www.ekac.org/gfpbunny.html.

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142

Fehrenbach

zierte Organismen. Zweitens: Wir sollten Lebewesen, deren Erzeugung sich weitgehend technischen Manipulationen verdanken, nicht weniger Z u neigung entgegenbringen als ihren n a t ü r l i c h e n ' Verwandten. Letztlich sei jedes Lebewesen ohnehin ,transgen', wie der Blick auf das menschliche G e n o m lehre, in dessen Stammesgeschichte ebenfalls fremdartiges Erbgut, beispielsweise von Viren, eingebaut wurde. Zuneigung, Liebe - die Stereotypien der Haustierhaltung im Dienst der biotechnologischen Revolution, aber „solche Liebe behält stets die Züge einer feudalen Geste". 2 1 Jeder transgene Organismus ein pet - das dürfte selbst entschlossenen, bei E. T. in Mitgefühl schwelgenden Empathikern angesichts von plastikproduzierenden Pflanzen und Ziegen mit Spinnengenen, angesichts künftiger, womöglich aggressiver „Plantimalen" und „Anomines" schwerfallen. Den bioethischen Hintergrund bevölkern bei Kac in Wahrheit die harmlosen, farbenfrohen Tiermensch-Chimären des Pop ( C o mic). Schon in Vilém Flussers prophetischem Gründungstext der transgenen Kunst von 1988, Curie's

Children,

wird dieser Hintergrund expli-

ziert. Flusser fragt provozierend, warum die Pferde noch immer nicht fluoreszieren und erklärt: „Das Disneyland wird von bunten Tieren w i m meln, damit die Menschen darin nicht vor Langeweile sterben". 2 2 A b e r die A k t i o n von Kac ist ikonologisch dichter, als es der durchaus redselige Künstler selbst wahrhaben will. Hinter Pink Panther

und K o n -

sorten werden erstaunliche Vorbilder sichtbar, die Kac charakteristisch u m deutet. Mit der Plakataktion wird listig auf Joseph Beuys verwiesen, der 1965 in der Galerie Schmela (Düsseldorf) „die Bilder" einem toten Hasen erklärte (Abb. 7), während K a c Bilder eines lebenden Kaninchen produziert, dem er nichts zeigen darf. N u r der Gestus der elterlichen Fürsorge ist derselbe geblieben; den Tod hat die frivole Kunst des Edoardo Kac nicht

21

P. Sloterdijk: Stimmen für die Tiere - Phantasie über animalische Repräsentation,

22

katalog, Städtische Galerie, Karlsruhe (2000), München u.a. 2000, S. 132. V. Flusser: Curie's Children, in: Artforum 26/7, 1988, S. 14-15.

in: R. Haslinger (Hg.): Herausforderung

Tier. Von Beuys bis Kabakov,

Ausstellungs-

Compositio corporum. Renaissance

der Bio Art

143

im Programm. "It's a strictly formal comparison", beteuert Kac; "I'm talking about enabling life." 23 Würden sich Albinos gerne quallengrün leuchten sehen? Das ist eine absurde Frage, solange man die blauen Pferde Franz Marcs nicht in die Ahnenreihe von Alba stellt. Aber der bayerische Maler schrieb: „Wie sieht ein Pferd die Welt oder ein Adler, ein Reh oder ein Hund? Wie armselig, seelenlos ist unsere Konvention, Tiere in eine Landschaft zu setzen, die unsren Augen zugehört, statt uns in die Seele des Tieres zu versenken?" 24 Und schon scheitert jeder Vergleich mit GFP Bunny. Das Tier wurde für menschliche Augen verändert, die nur unter speziellen künstlichen Lichtbedingungen sein geisterhaftes Schimmern wahrnehmen, jenes Grün der Nachtsichtgeräte, das auch die zeitgenössische Kriegsberichterstattung dominiert. "Alba should get a good lawyer and sue Kac for a wrongful life "25

suit. Dennoch sollte zweierlei nicht übersehen werden. Erstens: Mit der Erklärung eines genetisch veränderten Organismus zum Kunstwerk geht Kac weit über die Verwendung von Tieren im künstlerischen, performativen Kontext des 20. Jahrhunderts hinaus. Nach I cavalli von Jannis Kounellis (Rom 1969) oder I like America and America likes me von Joseph Beuys (New York 1974) verschwanden Pferde und Kojote für immer aus dem Kunstraum. Alba hingegen wird zeitlebens ein ,Werk* bleiben. Es gehört wenig Phantasie dazu, den logisch nächsten Schritt von Kac vorherzusagen: die Erhebung des Urheberanspruchs auf das Tier und gegebenenfalls seine Nachkommen. (Das beteiligte französische Labor beeilt sich inzwischen vorsorglich mit der Erklärung, daß Alba bereits im August 2002 gestorben sei, was Kac jedoch bezweifelt.) 26 Das grüne Kaninchen könnte in einer Galerie für vermutlich viel Geld verkauft werden; die Schweine, 23

Zit. nach B.Eskin: Building the bioluminescent bunny, in: ARTnews 100/11, Dez. 2001, S. 118-119, hier S. 119. 24 Zit. nach S. Partsch: Franz Marc (1880 - 1916), Köln 1993, S. 38. 25 D. Hoyt: Edoardo Kac flunks the rabbit test (http://www.ncal.verio.com/~leftcurv/ LC25WebPages/rabbit.html). 26 Vgl. Philipkoski [wie Anm. 18].

144

Frank

Fehrenbach

die Rosemarie Trockel und Carsten Höller auf der vorletzten documenta in Szene setzten, nicht (höchstens in ihrem architektonischen Ensemble). Alba dagegen ist ein Kunstwerk. Einigermaßen betroffen steht man vor der Frage, warum erst 1994 ein Tier - Marc Wallingers Rennpferd - kontextunabhängig zum Real Work of Art erklärt wurde, obwohl Marcel Duchamp bereits 1917 über sein Pissoir schrieb: "Whether Mr Mutt with his own hands made the fountain or not has no importance. He CHOSE it. He took an ordinary article of life, placed it so that its useful significance disappeared under the new title and point of view - created a new thought for that object." 27 Die Neuheit des Zugriffs zeigt sich nicht zuletzt daran, daß Tiere in den jüngsten grundlegenden Publikationen Monika Wagners über die Materialien der modernen Kunst - teilweise ja explizit ein Nachruf auf diese Moderne - im Gegensatz zu Pflanzen nirgendwo auftauchen.28 Der Leser wird auf Haut, Fleisch, Blut, Haare, Knochen etc. verwiesen, das heißt auf tote Teile des Lebewesens, während die Bio Art auf's lebendige Ganze geht. Zweitens: Alba ist nicht bloß ein animalisches Ready-made, sondern ein transgenes Wesen, eine Chimäre29 - ein Biofakt, das durch die Koppelung der genetischen Information von zwei unterschiedlichen Species entstand, Hase und Qualle. Mit transgenen Tieren arbeitet Kac auch in seinen Installationen The Eigtb Day und Genesis. Hier werden Bakterien mit GFP und mit einer vom Künstler kodierten DNA - einem „Künstler-Gen" - kombiniert. Doch was Kac erzeugen läßt, ist seit langem fester Bestandteil im Imaginarium der aktuellen Kunst und Unterhaltungskultur. Thomas Grünfelds Misfits (Abb. 8) und Matthew Barneys Travestien, Cindy Shermans rekombinierte Hybride oder Iris Schiefersteins unheimliche Mischpräpa-

27 28

29

Zit. nach Ch. Harrison und P. Woods (Hg.): Art in theory 1900-2000. An anthology of changing ideas, Maiden MA u.a. 2003, S. 252. M. Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001; dies. u.a. (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002. Vgl. E.Schenkel: Chimären im Buch des Lebens, in: Scheidewege 32, 2002/2003, S. 94-105.

Compositio corporum. Renaissance

145

der Bio Art

rate zeugen davon. Im Film lebt von Chimären bekanntlich ein ganzes Genre. Scheinbar färbt Kac bloß die Oberfläche seiner Tiere ein, aber erst wenn der faktische Kern der Manipulation - die .Kreuzung' jenseits der natürlichen Reproduktionssperre - in den Blick genommen wird, kann es gelingen, den eigentlichen historischen Ursprungsort des künstlerischen Phantasmas zu ermitteln. Als Ergebnis läßt sich vorwegnehmen: Die Wurzeln der transgenen Kunst tangieren zwar Body Art, Pop, Fluxus, Surrealismus, Dada, Futurismus und wohl auch Bauhaus 3 0 , aber ihre kunsttheoretische Nährlösung befindet sich in der Renaissance. Tatsächlich berufen sich Künstler wie Kac, T C & A und Davis explizit auf die Frühe Neuzeit, allerdings unspezifisch, im vagen Sinne einer Verbindung von Kunst und Wissenschaft. Thomas Grünfeld verweist beiläufig auf Hieronymus Bosch als einzigen älteren Künstler, der ihn wirklich beeinflußt habe. 31 D o c h die Bezüge sind viel konkreter. Die künstlerischen und kulturtheoretischen Leitbilder der Chimärenkunst wurden in der Frühen Neuzeit ausgebrütet.

Gleich im ersten Paragraphen des ersten volkssprachlichen Malereitraktats, Cennino Cenninis Libro dell'arte

von ca. 1400, wird das deutlich. Cennino,

Enkelschüler Giottos, begründet hier in dem ansonsten weitgehend handwerkstechnisch orientierten Buch die Dignität der Malerei. Sie kann nie Gesehenes sichtbar machen. Der Maler ist frei wie der Dichter, alles zusammenzufügen und zusammenzubinden, was ihm gefällt (libero di

potere

comporre e legare insieme sì e no come gli piace, secondo sua volontà). Er kann eine Figur sitzend oder stehend .komponieren' (zusammenfügen) oder aber eine Figur halb Mensch, halb Pferd herstellen ( m e z z o

30

uomo

Vgl. dazu R. Hoppe-Sailer: Organismes/Art. Les racines historiques de l'art biotech, in: J . H a u s e r (Hg.): L'Art

Biotech,

Ausstellungskatalog Le Lieu Unique, Nantes

(2003), Trézélan 2003, S. 8 6 - 9 1 . 31

Vgl. F. Alfano Miglietti (Hg.): Virus Art. tions, Mailand 2003, S. 259.

Viste e interviste

dall rivista

Virus

Muta-

Frank

146

Fehrenbach

mezzo cavallo).12 Cennino paraphrasiert hier bekanntlich Horaz, der in seiner Ars poetica (ebenfalls zu Beginn) schreibt: „Ein Menschenhaupt mit Pferdes Hals und Nacken: denkt euch, so schüfe es die Laune eines Malers; dann trüge er buntes Gefieder auf, liehe aus allen Arten die Glieder zusammen: zu unterst wär's ein häßlich grauer Fisch, und war doch oben als ein schönes Weib begonnen."33 Horaz meint, daß bei seinem Mischwesen wohl jeder Zuschauer zum Lachen gereizt wird. Der Maler beruft sich dabei zurecht, wie der Dichter, auf die Freiheit seiner Phantasie. Zugleich zieht Horaz die Grenzlinien künstlerischer licentia: Zahmes mit Wildem, Lämmer mit Tigern oder Vögel mit Schlangen zu paaren, ginge zu weit.34 Damit ist Chimaera, die schauerliche Göttin, angesprochen, die Homer in der Ilias (VI, 181) als Mischwesen von Löwe, Schlange und Ziege schildert (Abb. 9). Schon in der Antike gab es schreckliche und lustige Chimären. Nach Cenninos Vorstoß ist es Leon Battista Alberti, der eine konsistente Ästhetik des .Zusammenfügens' - der compositio - entwickelt. Bei Alberti ist damit das grundlegende Verfahren des Malers selbst bezeichnet, aus Einzelflächen Glieder, aus diesen Körper und zuletzt aus den Körpern den Kompositkörper des .Vorgangs', der historia herzustellen.35 Im Anschluß

32

C . Cennini: Il libro dell'arte, hrsg. von F. Frezzato, Vicenza 2003, cap. 1 (S. 62).

33

Horaz: De arte poetica 1 - 1 3 .

34

Zum Konzept künstlerischer licentia

ausführlich: U.Pfisterer: Künstlerische po-

testas audendi und licentia im Quattrocento. Benozzo Gozzoli, Andrea Mantegna, Bertoldo di Giovanni, in: Römisches Jahrbuch

der Bibliotheca

Hertziana

31,

1996, S. 1 0 7 - 1 4 8 . Vgl. zum Zusammenhang von compositio, licentia und Chimären in der Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts auch M. Thimann: Lügenhafte Ovids

'favole'

und das Historienbild

in der italienischen

2002, S. 43—48 und 6 3 - 7 1 . Zum Verhältnis von decorum

Renaissance,

Bilder.

Göttingen

und compositio

in der

Architekturtheorie der Renaissance vgl. A. Payne: Mescolare, composti and monsters in Italian architectural theory of the Renaissance, in: L. Secchi Tarugi (Hg.): Disarmonia, 35

bruttezza

e bizzaria nel Rinascimento,

Florenz 1998, S. 2 7 3 - 2 9 4 .

Grundlegend: Κ. Patz: Zum Begriff der 'Historia' in L.B.Albertis 'De Pictura', in: Zeitschrift für Kunstgeschichte

49, 1986, S. 2 6 9 - 2 8 7 . Zusammenfassende Überlegun-

gen zum Begriff der compositio jetzt bei F. Fehrenbach: Lemma „Komposition", in: U.Pfisterer (Hg.): Metzler

Lexikon

Stuttgart - Weimar 2003, S. 1 7 8 - 1 8 3 .

Kunstwissenschaft.

Ideen,

Methoden,

Begriffe,

Compositio corporum. Renaissance der Bio Art

147

an die antike Rhetorica ad Herenmum (IV, xii, 18) meint compositio aber noch mehr: Das additive Verfahren des Zusammenfügens von Körpergliedern muß zugleich dissimuliert, die Ubergänge sollen .weich' gestaltet werden, damit der Eindruck eines wirklichen Körpers entsteht. Das Vermögen und die Aufgabe des Malers - fingendis aut pingendis animan tibusib - hat also seine Pointe darin, das Getrennte so kunstvoll zu verbinden, daß gar nicht auffällt, daß es zuletzt aus Einzelformen bzw. Einzelgliedern besteht. Der Maler fügt, mit anderen Worten, das Getrennte so zusammen, daß der Körper nicht mehr aus Getrenntem zu bestehen scheint. Albertis Ästhetik ist von dieser Idee des gottähnlichen Komponierens von schönen Körpern grundlegend geprägt, auch wenn bei ihm die fantasia keine eigenständige Rubrik darstellt und Chimären folglich in seinen künstlerischen Traktaten nicht erwähnt werden. Dennoch ist Alberti für unsere Frage nach den Ursprüngen der aktuellen und künftigen Kompositwesen von Bedeutung. Alberti meint, daß der Maler in jedem Fall die Natur nachahmen müsse, aber diese verteilt ihre Schönheiten höchst ungleich. Es geht also darum, die schönsten Teile auszuwählen und zu kombinieren. Als Beispiel verweist Alberti auf den Maler Zeuxis, der für ein Tempelbild die schönsten Körperteile von fünf schönen Jungfrauen der Stadt Kroton ausgewählt und daraus einen weiblichen Idealkörper komponiert habe.37 Die Anekdote selbst kombiniert entsprechende Abschnitte von Cicero und Plinius.38 Zeuxis schuf also aus fünf schönen menschlichen Leibern einen einzigen, schöneren, gemalten Körper. Wie ernst es Alberti mit seinem Beispiel war, zeigt die Empfehlung seines kurzen Skulpturentraktates, als schön geltende Körperteile verschiedener Menschen zu vermessen, die Mittelwerte zu errechnen und mithilfe der Meßergebnisse dann Statuen herzustellen.39 Anthony Grafton wies zurecht darauf hin, daß Alberti hier - im Verständnis seiner Zeit - aus der Bild-

36 37 38 39

L.B. Alberti: De pictura II, 25. Ebd. III, 56. Cicero: De inventione II, 1; Plinius d.Ä., Historia naturalis XXXV, 64. L. B. Alberti: De statua 4-12.

148

Frank

Fehrenbach

hauerei eine Ingenieurskunst macht.40 Grafton zeigte aber auch, daß die ästhetische Kombinatorik in den Bereich der Biologie, genauer: der Tierzucht hineinreicht. Im satirischen Nachruf auf seinen Hund (Canis) von 1437 betont Alberti, daß Zeuxis die vollkommene Schönheit im Kopf des geliebten Tieres direkt vorgefunden und sich so der Umweg über die Jungfrauen erübrigt hätte.41 Dem vollkommenen Tier geht aber die Kombinationsgabe des Züchters voraus, wie Alberti im Leonello d'Esté dedizierten Traktat über das „lebhafte Pferd" (De equo animante) von 1443 darlegt.42 Gleich zu Beginn stellt Alberti die Einzelmerkmale vor, die der schöne, tüchtige Hengst besitzen muß, und welche Merkmale durch die Stute hinzukommen sollten, um den vollkommenen Nachwuchs - als Kompositwesen - zu erzeugen. Compositio ist so der Schlüsselvorgang, der Malerei und Pferdezucht verbindet; beides Tätigkeiten, wie Alberti betont, die dem Fürsten angemessen sind, dem Haupt und der verkörperten Bindekraft des gesellschaftlichen Kompositkörpers.43 Die Kehrseite dieser Diskurse über Körperkombinationen und Schönheit findet sich in Albertis Dialog Momus. Hier macht sich der Autor über seine eigene Kombinationsästhetik lustig und wünscht sich Ochsen mit Augen auf den Hörnern (um zielsicherer zu stoßen) und Häuser mit Rä-

40

A. Grafton: Leon Battista Alberti.

Master Builder

of the Italian Renaissance,

Lon-

don u.a. 2000, S. 336. 41

„Erat autem Canis noster facie honesta et überall, liniamentiis a quibus Zeusis facile omnem pingendi venustatem et gratiam ut a virginibus crotoniatibus excepissent" (L. B. Alberti: Apologhi

sumpsit,

ed elogi, hrsg. von R. Contarino, Genua 1984,

S. 156 f). 42

L. B. Alberti: De equo animante,

43

Vgl. dazu M. Warnke: Das Kompositbildnis, in: A. Köstler und E. Seidl (Hg.): Bildnis und Image.

Das Porträt zwischen

hrsg. von A. Videtta, Neapel 1981, S. 106 f. Intention

149; H . Bredekamp: Thomas Hobbes modernen

und Rezeption,

visuelle Strategien.

Köln u.a. 1998, S. 1 4 3 -

Der Leviathan:

Urbild

des

Staates, Berlin 1999, S. 7 6 - 8 2 . Ferner: Th. DaCosta Kaufmann: Caprices

of art and nature: Arcimboldo and the monstrous, in: E . M a i und J . R e e s (Hg.), Kunstform S. 3 3 - 5 2 .

Capriccio.

Von der Groteske

zur Spieltheorie

der Moderne,

Köln 1997,

Compositio corporum. Renaissance der Bio Art

149

dern (um schneller aus Gefahren zu entkommen). 44 Albertis Momus deutet auf den Ubergang zwischen einer regelgeleiteten kombinatorischen Schönheitslehre und der ungeregelten Kombinatorik der Phantasie. Ochsen mit augenbesetzten Hörnern - das ist der Bereich des Widernatürlichen und der Chimären. Es ist kein Zufall, daß zu Albertis Zeit in der italienischen Malerei die mittelalterlichen Drôlerien an den Seitenrändern der Manuskripte antikisierend umgebildet wurden und sich in der Architektur die Ornamentform der Grotteske ausbreitete (Abb. 10). Francesco di Giorgio etwa empfiehlt, Pilaster und Blendflächen mit dalfine, spiritelli [...] mostruosi animali, come se arpie zu schmücken. 45 Vasari berichtet später im Rückblick auf die Entstehung dieser Ornamente, daß es sich um cose senza regola handle: appicando a un sottilissimo filo un peso che non si può reggere, a un cavallo le gambe di foglie, a un uomo le gambe di gru [!].46 Die Grotteske schwelgt in Chimären. Roland Kanz ist vor kurzem der Geschichte von Grotteske und Capriccio nachgegangen und hat dabei auch den erkenntnisgeschichtlichen Hintergrund dieser Kombinationskunst berührt. 47 In den Mischformen von Tier, Mensch, Pflanze und Architektur dokumentiert sich nichts anderes als das Verfahren der fantasia. Es ist selbst stets ein kombinatorisches, das aus den Einzeldaten der Sinne oder den im Gedächtnis gespeicherten Bilder neue Kompositionen herstellt. Das wird häufig .biologisch' gedacht, denn die kombinatorische Tätigkeit der Bilderherstellung geschieht in der ersten der drei Gehirnkammern, die relativ warm ist und damit das Ausbrüten

44 L. B. Alberti: Momus oder Vom Fürsten / Momus seu de principe, lat.-dt., übers., komm, und eingel. von M. Boenke, München 1993, S. 18-21. 45 F. di Giorgio Martini, Trattati de architettura avile e militare, hrsg. v. C. Maltese und L. Maltese Degrassi, Mailand 1967, Bd. 1, S. 65. 46 G. Vasari: Le Vite de'più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue insino a' tempi nostri [...] Firenze 1550, hrsg. von L. Bellosi und A. Rossi, Turin 1991, Bd. 2, S. 73. 47 R. Kanz: Die Kunst des Capriccio. Kreativer Eigensinn in Renaissance und Barock, München und Berlin 2002, S. 54-80.

Frank

150

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der imaginativen Chimären begünstigt.48 Die Grotteske wird so zum Paradigma künstlerischer Freiheit. Nun ist die Leidenschaft der Renaissance für die Grotteske zugleich damit verbunden, daß die Kombination von Körpern und Gattungen frei zwischen den Polen der Schönheit und des Lächerlichen beziehungsweise Monströsen zu schwingen vermag.49 Denn es darf nicht übersehen werden, daß die Mischwesen ursprünglich im Numinosen beheimatet sind. Vielleicht gehen auch die heraldischen Chimären auf apotropäische Ursprünge zurück.50 In christlicher Perspektive bezeichnen die Mischwesen meist die Verirrungen der dämonischen Schöpferkraft, in der die Kreation Gottes ihre karikierende Abwandlung erfährt. Die Möglichkeiten der Dämonen, in veränderlicher Gestalt zu erscheinen und reale Mischwesen zu erzeugen, sind beinahe unbegrenzt. Michael Cole zeigte jüngst, wie die Macht dieser pneumatischen Wesen auch in den Bereich der Phantasie, der unkontrollierten Einfälle und Bilder hineinreicht.51 Im Traum führen sie das Spiel der Rekombination der Schöpfung aus. Der Satan wird meist als Mischwesen dargestellt - er ist ein capriccio (Abb. 11). An der Wortgeschichte des capriccio läßt sich die Wertverschiebung beobachten, die in der Renaissance stattfindet. Ursprünglich, etwa bei Dante, meint das Wort (als Verb: raccapricciare) den tödlichen Schreck, der die

48 49

Vgl. ebd. S. 60 (mit Hinweisen auf Juan Huarte). Aufschlußreich etwa Cellinis Spott über den Helden von Baccio Bandinellis

Hercu-

les und Cacus, den er als „Löwenochsen" (leonbue), mithin als capriccio karikiert; additive compositio, die sich auch im technischen Verfahren spiegelt (dna figure malfatte

cio Bandinelli, in: R.Torella (Hg.): Le parole e i marmi. Gnoli[...], 50

sole,

et tutte rattoppate); dazu D. Heikamp: Zum Herkules und Kakus von BacStudi in onore di

Raniero

R o m 2001, S. 9 8 3 - 1 0 0 6 .

Vgl. der Hinweis bei W. Wunderlich, Dämonen: Monster, Fabelwesen. Eine kleine Einführung in Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe, in: U . Müller und W. Wunderlich (Hg.): Dämonen,

Monster, Fabelwesen,

St. Gallen 1999, S. 1 1 - 3 8 (hier

S. 26) 51

M. Cole: The demonic arts and the origin of the medium, in: The Art Bulletin 2002, S. 6 2 1 - 6 4 0 .

84,

Compositio corporum. Renaissance

151

der Bio Art

gekräuselten Haare zu Berge (capo riccio) stehen läßt. 52 Seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts setzt sich eine zweite Etymologie durch: der Sprung der Ziege {capra), die unerwartete Kombination des Getrennten - das Verfahren der Metapher, das Bewunderung hervorruft. Bei Vasari verbinden sich beide Stränge: das capriccio ist zugleich lustig, bizarr und terribile.53 Schönheitskombinatorik und Capriccio bezeichnen die beiden Seiten einer einzigen Medaille. In beiden Fällen geht es um die Komposition von Körpern aus Einzelgliedern. Damit ist der Kern der Renaissanceästhetik berührt. Ihr kulturelles Gegenstück ist die massenhafte Verbreitung von Monster- und Prodigienliteratur, besonders im Cinquecento. 54 Sie speiste sich aus der allgemeinen Grundüberzeugung von der biologischen Ubergänglichkeit der Species und der Existenz unheimlicher Randvölker (Abb. 12). 55 Bei Konrad von Megenberg finden sich bereits im 14. Jahrhundert erstaunlich modern anmutende Überlegungen zum Problem, ab wann ein Mischwesen als Mensch angesprochen werden könne. Konrad entscheidet sich für das Kriterium der Kopfform. 5 6 Zuletzt ist es die Alchemie, Leitwissenschaft und Leidenschaft der Epoche, die sich - ähnlich wie die Kunsttheorie - für compositio als Herstellungsoption interessiert. Das wird schöpfungstheoretisch begründet: Auf-

52

Dante Alighieri: Divina

Commedia,

Inferno XIV, 7 6 - 7 8 ; X X I I , 31. - Kanz [wie

Anm. 47], S. 31 ff. 53

Vgl. die Zusammenstellung bei Kanz [wie Anm. 47], S. 87. Zur analogen Entkoppelung von Monstrosität und ethischem Charakter in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts: K . M . B r a m m a l : Monstrous metamorphosis. Nature, morality, and the rhetoric of monstrosity in Tudor England, in: The

Sixteenth

Century

Journal

X X V I I / 1 , 1 9 9 6 , S. 3 - 2 1 . 54

Vgl. etwa H . Talkenberger: Sintflut. Holzschnitten De

monstris.

Deutschland 55

astrologischer Deutung

und Funktion

des 16. Jahrhunderts,

Vgl. H . Frübis: Die Wirklichkeit 16. Jahrhundert,

und Zeitgeschehen

1488-1528,

von

in Texten

und

Tübingen 1990; I. Ewinkel:

Wundergeburten

auf Flugblättern

im

Tübingen 1995. des Fremden.

Die Darstellung

Berlin 1995; J. Block Friedman: The monstrous

art and thought, Syracuse/NY 2000. 56

Prophetie

Flugschriften

Vgl. Wunderlich [wie Anm. 50], S. 25.

der Neuen

Welt im

races in

medieval

152

Frank

Fehrenback

trag ist die Perfektion einer von Gott unvollendet gelassenen Kreation. 57 Paracelsus bringt das im Buch Paragranum (1530) auf die lapidare Formel: „Die natur ist so subtil und so scharpf in iren dingen, das sie on grosse kunst nicht wil gebrauchet werden; dan sie gibt nichts an den tag, das auf sein stat vollendet sei, sonder der mensch muss es vollenden. Dise Vollendung heisset alchimia." 58 Shakespeare rühmt in A Winter's Tale eine neugezüchtete Nelkenart: "[...] This is an Art / Which do's mend Nature: change it rather, but / The Art it selfe, is Nature." (IV, Z. 1906-1908). Die neuplatonisch-aristotelisch geprägte Naturphilosophie der Renaissance kreist dabei u m die Frage, was die Dinge und besonders die lebendigen Dinge zusammenhält, was aus dem Getrennten ein Kompositum macht (cogere in unum). Als bewirkende Substanz wird zumeist der calor innatus (bzw. Vitalis, nativus) angesehen, ein Imponderabilium, das - nach Aristoteles - Bindekräfte freisetzt, als Klebstoff und im Klebstoff wirkt. 5 9 An der technischen Unverfügbarkeit des calor innatus scheitern die zahlreichen Versuche, den H o m u n k u l u s herzustellen, wie etwa Francesco Bocchi resigniert feststellt. Lebendigkeit, so resümiert er im Blick auf Andrea del Sartos Werk, läßt sich technisch in der Kunst nur als ästhetischer Schein

57

Vgl. etwa Laktanz: De ira Dei 13, 2; Thomas von Aquin: Summa contra gentiles III, 22. Ein ähnliches Konzept in einer Programmschrift Vincenzo Borghinis; vgl. Ph. Morel: Le Studiolo de Francesco I de'Medici, in: Symboles de la Renaissance, Paris 1982, Bd. 2, S. 187-197. 58 Paracelsus: Das Buch Paragranum III, 2, zit. nach J. Huser (Hg.): Theophrastus Paracelsus. Bücher und Schriften, Hildesheim 1971, S. 61. 59 Vgl. E.Mendelsohn: Heat and Life. The Development of the Theory of Animal Heat, Cambridge M A 1964; G. Freudenthal: Aristotle's Theory of Material Substance. Heat and Pneuma, Form and Soul, Oxford 1995. Für die italienische Renaissance: M. Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung. Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance, Tübingen 1998; F. Fehrenbach: Calor nativus - Color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des 'Lebendigen Bildes' in der frühen Neuzeit, in: U . Pfisterer und M. Seidel (Hg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, Berlin und München 2003, S. 151-170.

Compositio corporum. Renaissance der Bio Art

153

erzeugen. 60 Die Herstellung einer ästhetischen Lebendigkeit ist das höchste Ziel, was sich in einer geradezu inflationären Verwendung des Lobtopos in der Renaissanceliteratur zeigt. Die Fiktionen der lebendigen Kunst markieren so auch ein biotechnologisches Desideratum, mal nostalgisch, mal utopisch. Merkmalskombinatorik als Komposition des Getrennten und die Erzeugung des Lebendigen verweisen als zentrale ästhetische Leitbegriffe der Renaissance auf jenen ideellen Keimpunkt, aus dem das Phantasma der wirklichen Erzeugung von Chimären als Kunst bis heute sprießt. Francisco de Hollanda meint, daß die Betrachter von den lebendig gemalten Chimären seiner Zeit so begeistert seien, daß sie wünschten, so etwas möge auf Erden vorhanden sein. 61 Transgene Kunst - sie steht schon in der Agenda der Frühen Neuzeit. Nichts zeigt dies deutlicher als die künstlerische Transgression, die bei Vasari die Vita Leonardos verklammert. Das junge Genie wird von seinem Vater gebeten, ein Bild zu malen, das er dann einem Bauern schenken will. Der Vater überläßt das Thema dem Sohn. Leonardo zögert nicht lange und sammelt in der N a t u r höchst unterschiedliche Tiere ein - Schlangen, Eidechsen, Fledermäuse - aus deren Körperteilen er auf dem Bild eine Chimäre (einen Drachen, Abb. 13) komponiert. Er ist so in die kombinatorische Arbeit vertieft, daß er den Gestank der verwesenden Tierkörper nicht wahrnimmt. Als der Vater das Bild abholen will, wird es von Leonardo so in Szene gesetzt, daß der Besteller glaubt, einem wirklichen Monster gegenüberzustehen und panisch die Flucht ergreift. Leonardo hält ihn zurück mit der trockenen Bemerkung, daß das Bild den Zweck, für den es gemalt wurde, erfüllt habe. Danach beginnt die Karriere des Meisters, der

60 F. Bocchi: Discorso sopra l'Eccellenza dell'opere d'Andrea del Sarto, Pittore fiorentino, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 52, 1989, S. 111-139 (hier 136-137; mit Verweisen auf Aristoteles); vgl. R. Williams: Art, theory, and culture in sixteenth-century Italy. From Techne to Metatechne, Cambridge 1997, S. 198 f. 61 F. de Hollanda: Quatro diálogos da pintura antigua (1548), dt.: Vier Gespräche über die Malerei geführt zu Rom 1538 (1548), übers, und komm, von J. de Vasconcellos, Wien 1899, S. 104-107; vgl. Kanz [wie Anm. 47], S. 198.

154

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in Vasaris Geschichtskonstruktion die Malerei auf die letzte und höchste Epochenstufe, die terza maniera, hebt. Hauptkennzeichen dieser Stufe ist Lebendigkeit, die sich unter anderem einer nie gesehenen Weichheit der Ubergänge - mithin perfektionierter compositiol - verdankt. Allmählich nehmen bei Leonardo aber außerkünstlerische Interessen überhand; er erforscht Bewegungen, Sinnesaktivitäten, Lebensvorgänge. Vasari hält davon wenig und verweist auf die infinite pazzie, in denen sich Leonardo gegen Lebensende immer mehr verzettelte. „Dieser Künstler ging mit Giuliano de Medici nach Rom, zur Zeit der Erwählung von Papst Leo, welcher sich viel mit Philosophie und mehr noch mit Alchymie beschäftigte. [...] Einer seltsamen Eidechse, welche der Winzer von Belvedere fand, machte er Flügel aus der abgezogenen Haut anderer Eidechsen, die er mit Quecksilber füllte, so daß sie sich bewegten und zitterten, wenn sie ging; sodann machte er ihr Augen, Bart und Hörner, zähmte sie, tat sie in eine Schachtel und jagte all seinen Freunden damit solche Furcht ein, daß sie flohen." 6 2 Während der junge Leonardo noch mit der fiktiven Herstellung eines Monsters beschäftigt war, .komponierte' er im Alter ein wirkliches Lebewesen. Sind das die strani concetti e nove chimere, die Leonardo in der Malerei nicht mehr verwirklichen konnte, wie Baldassare Castiglione, der Leonardo während der Entstehungszeit des Cortegiano in Rom kennenlernte, meint? 6 3 Lebendige Chimären standen wohl auch in Leonardos Agenda. Man muß es ernst nehmen, wenn er die Gottähnlichkeit des Malers mit dem göttergleichen Hervorbringen (generare) aller möglichen Wesen begründet, auch derjenigen, „welche die Natur noch niemals schuf" - und das sind unter anderen Monstrositäten (cose mostruose).64

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64

G. Vasari: Leben der ausgezeichneten Maler, Bildhauer und Baumeister [...], übers, und bearb. von L. Schorn und E. Förster, Nachdruck Heidelberg 1983, Bd. III/1, S. 37 f. Vgl. P. Barolsky: Vasari and the historical imagination, in: Word and Image 15,1999, S. 286-291. B. Castiglione: Il libro del Cortigiano, hrsg. von A. Q u o n d a m , Mailand 1981, S. 179; vgl. E. Villata: „Strani concetti e nove chimere". Leonardo e la pittura dell'invisibile, in: Rivista di estetica 37, n.s. 5, 1997, S. 69-85. Leonardo da Vinci: Libro di Pittura, hrsg. von C . Pedretti, Florenz 1995, § 13.

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Der Zusammenhang zwischen der Erschaffung bzw. Neukombination von Lebewesen und der Selbstermächtigung des secundus Deus - farci vedere in terra novi Paradisi (Federico Zuccaro) 65 - liegt auf der Hand; nirgendwo wird dieses kulturelle Programm der Frühen Neuzeit deutlicher formuliert als bei Francis Bacon. 66 Als hätte es nie das alttestamentarische Verbot der Kreuzung verschiedener Arten gegeben (etwa: Leviticus 19,19), kündigt der englische Großkanzler in seiner Nova Atlantis unbekannte Biofakte an: „Wir machen auch die einen [Tiere] künstlich länger und größer, als sie von Natur sind, andere wieder umgekehrt, zwergenhaft klein und nehmen ihnen ihre natürliche Gestalt [...] Auch in Farbe [sie], Gestalt und Gemütsart verändern wir sie auf vielerlei Weise [...]"· 67 N u n sind der naive Augenaufschlag, die treuherzige soziale Geste und die spielerische Affirmation der Gentechnik ein offensichtliches Charakteristikum der bisherigen Transgenic Art. Joe Davis etwa kodiert die .weibliche' altgermanische Fruchtbarkeitsrune in D N A und plant, die damit beglückten E.coli-Bakterien mit Hilfe von Satelliten in den Weltraum zu schießen, damit außerirdische Intelligenzen eine politisch korrekte Ergänzung des Uomo Vitruviano Leonardos erhalten, der die NASA-,Missionen' schon seit längerem begleiten darf. 68 Edoardo Kac meint, daß die transgene Kunst in einer Welt des massenhaften Artensterbens einen Beitrag zur künftigen Biodiversität leisten könnte. Die künstlerische Subversion der Gentechnik findet bislang noch außerhalb der Transgenic Art statt, etwa in

65 D. Heikamp (Hg.): Scritti d'arte di Federico Zuccaro, Florenz 1961, S. 162 (L'idea de' pittori, scultori e architetti, Turin 1607). 66 Vgl. H . Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993, S. 63 ff; ders.: Der Mensch als „zweiter Gott". Motive der Wiederkehr eines kunsttheoretischen Topos im Zeitalter der Bildsimulation, in: K. P. Dencker (Hg.): Interface 1. Elektronische Medien und künstlerische Kreativität, Hamburg 1992, S. 134-147. 67 Zit. nach G. Engel: Zum Verhältnis von Utopie und Wissenschaft in Francis Bacons frühen Fragmenten, in: Karafyllis [wie Anm. 11], S. 27-40, hier S. 35. 68 Vgl. http://www.viewingspace.com/genetics_culture/pages_genetics_culture/gc_w03/ davis_microvenus.htm.

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den breeding units Andrea Zittels 69 oder in den Haarproben „from over 10,000 gifted individuals" von Gene Genies Worldwide. 70 Der Kulturkritiker könnte es sich hier leicht machen und die bioartistische Avantgarde als Teil jener kolossalen Offentlichkeitsoffensive ansehen, die von Seiten der sogenannten Spitzentechnologien seit den achtziger Jahren durchgeführt wird. 71 Das erwünschte Ergebnis - ein breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens darüber, technologische Innovationen selbst als Lösung der heutigen technikinduzierten Probleme herbeizusehnen und sich von einem normativen Naturbegriff zugunsten der totalen Machbarkeit und Kulturalisierung zu verabschieden - wurde inzwischen erreicht. In diesem Kontext verwundert die Bereitschaft der sogenannten Life Sciences kaum, Künstler als Botschafter der eigenen Reflexionsfähigkeit zu verwenden. Einer der Hauptsponsoren der Ars electrónica 1999, der Vertreter von Novartis Austria, erklärte in seinem Gruß wort mit entwaffnender Offenheit: „Gerade innovative Technologien bedürfen der gesellschaftlichen Akzeptanz, um ihr Nutzenpotenzial auch voll entfalten zu können." 72 Bei Davis, TC&A oder de Menezes handelt es sich nicht nur um Künstler, denen großzügig der Zugang zu Laboratorien gewährt wird, die, unter enormem Zeitdruck

69 Vgl. http://www.zittel.org. 70 Vgl. http://www.genegenies.com/ggw.html ("The Creative Gene Harvest Archive began with Gene Genies Worldwide (c)(tm) and its intent to harvest, store, and utilize the genetic codes for creativity collected from some of society's most exemplary and recognized creative individuals in order to design and imbue future personalities with these same traits. In this display, we have selected a representative from over 10,000 gifted individuals who have made significant contributions to the arts and sciences over the past fifteen years. To gaze upon this collection is to be a witness to creativity, it is a truly significant work of art in its own right. The harvest is ongoing and the archive is under construction for being recognized as the eighth wonder of the world.") 71 Zum ökonomischen und politischen Hintergrund vgl. etwa J. Rifkin: The hiotech century, New York 1998. 72 Ars electrónica 99 [wie Anm. 10]. Der Text ist im Internet bequem zugänglich über: http://www.aec.at/de/archives/festival_archive/festival_catalogs/festival_artikel.asp ? iProjectID=8320.

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stehend, wohl kaum von sich aus zu artistischen Spielereien neigen würden. Die genannten Künstler sind beziehungsweise waren vielmehr offiziell bestellte artists in residence des MIT, der Universität von Perth und des Clinical Sciences Centre im Imperial College London, also Hofkünstler großer Forschungseinrichtungen. Das läßt vielleicht die Unverkäuflichkeit ihrer Werke verschmerzen. Warum sollte das embedding reflexiver gesellschaftlicher Instanzen auf die Kriegsberichterstattung begrenzt bleiben?

Bio-Art - letztlich also doch bloß Kitsch, Propaganda, kunsthistorische Marginalie?73 Chimärenkunst, deren in vielfältiger Weise bescheidene Anfänge gerade zu beobachten sind, hat meines Erachtens Zukunft. Die triviale, gleichwohl gültige Feststellung, daß auf die Realisation des technisch Machbaren bislang kulturgeschichtlich noch selten verzichtet wurde, läßt an der Verbreitung der Gentechnik kaum zweifeln. „Vielleicht wird die Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen" 74 diese Hoffnung Adornos bleibt wohl angesichts der ungebrochenen technologischen Dynamik unrealistisch. Die Gentechnik macht in diesem Szenarium keine Ausnahme. Wenn die ersten medizinischen Erfolge absehbar oder unabdingbar sind (etwa nach mikrobiologischen Katastrophen), wird sich jene Lawine weiter beschleunigen, die vertraute Wertvorstellungen seit längerem rapide begräbt. Schon heute gehen bekanntlich nur noch wenige wegen In-vitro-Fertilisation oder menschlichem Insulin, das in Schweinen gezüchtet wurde, auf die Barrikaden. Ubermorgen wird kaum jemand auf

73 Vgl. W. Kemp: Über die Straßenglaubwürdigkeit von Kunst, in: Merkur 638, 2002, S. 508-512. 74 Th. W. Adorno: Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M. 1981, Aphorismus 100 (Sur l'eau).

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biotechnisch gezüchtete Ersatzteile verzichten wollen. Das ästhetische shaping greift schon jetzt breit über die Fitneßstudios auf die Operationssäle über und könnte mithilfe des genetic engineering sogar die stillgestellte Evolution des menschlichen Genotyps, unabhängig von der sexual choice, wieder .anspringen' lassen.75 Solange der rapide Wertzuwachs des symbolischen Kapitals .Attraktivität' anhält, wird, wer es sich leisten kann, zunehmend medizinische Verjüngungstechnologien nutzen (müssen). Bildergeschichte und Kunst bleiben damit aber als phantasmatische Motoren im Spiel. Zugleich ist die Gentechnik selbst eng genug mit gestaltgebenden, performativen, plastischen und farbigen Resultaten verknüpft, um das Interesse der Künstler geradezu zwangsläufig auf sich zu ziehen. Mehr noch: Genetic engineering hat mit dem Leben, seiner Umgestaltung und seinen Rändern zu tun und ruft damit unvermeidlich eines der dauerhaftesten Paradigmen der Kunst auf. Gerade der Schwund und die Ubergänglichkeit eines emphatischen Begriffs von Leben (gegenüber dem biochemischen Paradigma) bringen älteste ästhetische Leitbilder ins Spiel.76 Ästhetische Lebendigkeit spielte seit jeher an der Grenze zwischen totem Artefakt und scheinbarer, vexierbildhafter Lebendigkeit. Leonardo etwa konstatiert, daß dem Artefakt das natürliche Leben fehlt, weshalb man es mit einem künstlichen, akzidentiellen Leben ausstatten müsse.77 Francesco Bocchi lobt - mit Giulio Camillo - die ägyptischen Bildhauer dafür, an eine Grenze gegangen zu sein, angesichts derer die Lebenskräfte .eigentlich' gar nicht anders konnten, als den skulpturalen Leib zu beseelen.78 Lebendige Kunstwerke befinden sich stets in einem Sprung hin zur wirklichen Beseelung; ihre Oszillation zwischen inertem Material und scheinbarer Wahrnehmungsfähigkeit, Bewegung, Leiblichkeit macht jenen Kern von Faszi-

75 Menninghaus [wie Anm 14], S. 234 ff. 76 Vgl. den Uberblick bei Fehrenbach: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft [wie Anm. 35], S. 222-227. 77 „Dove manca la vivacità naturale, bisogna farne una accidentale" (Leonardo da Vinci: Il Codice Atlantico di Leonardo da Vinci nella Biblioteca Ambrosiana di Milano, bearb. von A. Marinoni, 24 Bde., Florenz 1973-80, fol. 399 recto). 78 Bocchi [wie Anm. 60], S. 138; vgl. Williams [wie Anm. 60], S. 199.

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nation und Enttäuschung aus, den die Ekphrasen aller Zeiten variieren. Gerade also die biomechanische Stoßrichtung der gegenwärtigen Lebensforschung aktualisiert jene delikate Grenze von tot und lebendig, an der sich bildende Kunst seit der Antike vielfältig abarbeitet. Die Konsequenz dieser Aktualisierung bestünde im Offenhalten der rezeptiven Ubergänge zwischen totem Artefakt und lebendigem Individuum. Ein (inzwischen sogar verfilmtes 79 ) Beispiel mag dies erläutern: An einem Abend im November 2002 kündigte eine junge Frau im Berliner Künstlerhaus Tácheles ihren Selbstmord an.80 Anwesende Künstler filmten und fotografierten die Verzweifelte. Ein Bewohner nahm sich der Frau an und fuhr sie gegen Morgen nach Hause. Die Lebensmüde kehrte aber zurück und stürzte sich unbemerkt aus dem fünften Stock. Am frühen Morgen besuchte ein deutsches Rentnerehepaar den morbiden hot spot, fand die Leiche im Hof und fotografierte sie. Eine gleichzeitig hinzukommende italienische Schulklasse war vom Anblick entsetzt. Die lachenden Rentner beruhigten Schüler und Lehrer mit dem abgeklärten Hinweis darauf, daß es sich hier doch um eine Kunstaktion handeln müsse. Beim Näherkommen erfaßten und erfaßte die Betrachter die Wahrheit. Hier interessiert der beschriebene kategoriale Sprung. Auch wenn das Ehepaar niemals etwas von Anna Mendieta gehört haben sollte, überrascht doch, wie abgeklärt auf eine Situation reagiert wurde, die vor dreißig Jahren noch Aufsehen erregte. Mendieta stellte sich selbst einem teilweise nichtsahnenden Publikum als verblutetes Vergewaltigungsopfer dar (Rape/Murder, 1973). 81 Heute beherrscht jeder Kaffeefahrer das selbstreflexive Spiel der Einbildungskraft, sobald die Vorzeichen auf,Kunst' gestellt sind. Die Reaktion des Publikums zeigt einen Sprung zwischen interessierter Annäherung (totes Artefakt) und entsetzter Distanzierung (toter Organismus). Unter biomechanischen Prämissen dürften sich die Perspektiven

79 80 81

„Janine F." (2004); Regie: Teresa Renn. Vgl. Tagesspiegel Berlin, 4.11.2002. O. Viso: Anna Mendieta. Earth body. Sculpture and performance, 1972-85, Ausstellungskatalog, Whitney Museum, New York u.a. (2004-2006), Ostfildern (Ruit) 2004.

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eigentlich kaum unterscheiden. Offensichtlich legt der Betrachter dem lebendigen (oder ursprünglich lebendigen) Organismus aber etwas bei, was die Perspektive auf Nichtorganisches radikal invertiert. Das geht weit über die letztlich wieder beherrschbare Evokation des Return of the Real hinaus, den Hal Foster noch 1996 mit Blick auf den New Neurotic Realism etwa von Damian Hirst und Marc Quinn propagierte.82 Die angesprochene rezeptive Leistung ließe sich stattdessen gut mit Überlegungen zur Autopoiesis von Lebewesen begründen, wie sie zwischen Kant, v. Uexküll, Francisco Varela und zuletzt Andreas Weber entwickelt wurden.83 Hans Jonas bietet mit seinen Texten über Organismus und Freiheit entscheidende biophänomenologische Grundlagen, auch wenn seiner existenzialontologisch geprägten Perspektive die Interaktion von Lebewesen nur als blinder Fleck eingeschrieben ist.84 Die Autonomie jedes Organismus, die sich als Selbsterhaltung äußert und im Stoffwechsel geregelt ist, prägt unser Vorverständnis des Lebendigen. Wenn ein Objekt als lebendig erkannt wird, dann entsteht im Betrachter eine Distanz, die sich auf die Anerkennung jener .Innerlichkeit' und der damit verbundenen unablässigen Wertgenerierung zurückführen läßt. Eben damit ist, so wäre zu vermuten, das rezeptive Feld der aktuellen und künftigen Bio-Art bezeichnet. Die Artefakte, um die es sich hier handelt, besitzen zugleich jene Selbstbezogenheit (nach Jonas „Freiheit"), an der sich der Blick des Betrachters irritierend bricht. Die jetzigen und künf-

82

H . Foster: The return of the real. The avant-garde

at the end of the century,

Cam-

bridge M A u.a. 1996; vgl. dazu kritisch U . F r o h n e : Berührung mit der Wirklichkeit. Körper und Kontingenz als Signaturen des Realen in der Gegenwartskunst, in: H . Belting u.a. (Hg.): Quel corps? Eine Frage

der Repräsentation,

München 2002,

S. 4 0 1 - 4 2 6 . 83

A. Weber: Natur als Bedeutung.

Versuch einer semiotischen

Theorie des

Lebendigen,

Würzburg 2003; vgl. auch E. von Samsonow: Der Körper als Passage. Meditation über das Wachsen, in: Belting [wie Anm. 82], S. 1 7 5 - 1 8 7 und K. Köchy: tiven des Organischen.

Biophilosophie

zwischen

Natur-

und

Perspek-

Wissenschaftsphiloso-

phie, Paderborn u.a. 2003. 84

H.Jonas: Organismus furt/M. 1997.

und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen

Biologie, Frank-

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der Bio Art

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tigen Biofakte erlauben das reflexive Spiel der interesselosen ästhetischen Urteilskraft nur bis zu einer bestimmten Grenze, besser: sie untergraben dieses Spiel fortwährend. Das Werk führt, jenseits der künstlerischen Produktion und jenseits der rezeptiven Aneignung ein Eigenleben, an dem auch die Bestimmungen gut trainierter Rezipienten moderner Kunst abprallen. Als nicht (allein) von Menschenhand gemachte Gebilde, als buchstäbliche acheiropoieta treten diese Werke ins Leben über und bringen Grenzen ins Schwingen, an denen mitten im künstlich Erzeugten eine Alterität erscheint, die mannigfaltige Reaktionen entbindet, etwa - um im Rahmen ,vorästhetischer' Kunsterfahrung zu bleiben - Furcht und Mitleid. Inmitten der totalen kulturellen Mobilmachung, inmitten der aktuellen Auflösung jeder natürlichen Alterität, könnte die NichtVerfügbarkeit des Außermenschlichen erneut triumphieren, pessimistisch: als Schöpfung, die sich gegen ihre Schöpfer stellt; optimistisch: durch Chimären, die uns poetische Rätsel stellen und die alte Verwandtschaft von Organismus und Schönheit reformulieren.85 An diesem Punkt werden wir die sogenannte Selbstreferenzialität der Kunst und die sportliche Selbstgenügsamkeit ihrer modernen Rezipienten aber hinter uns gelassen haben.

Ich schließe mit zwei Zitaten aus dem Zeitalter vor der Biokunst. Joseph Beuys, lapidar wie immer: „Es darf nicht nur eine Kommunikation zwischen den Menschen geben, sondern sie muß auch mit anderen Wesen stattfinden." 86 Sigmund Freud an die griechische Prinzessin Marie Bonaparte über einen seiner beiden Chows (Brief vom 6.12.1936): „Und bei aller Fremdartigkeit der organischen Entwicklung doch das Gefühl einer innigen

85 Vgl. J. Bilstein und M. Winzen: Das Tier in mir. Die animalischen Ebenbilder des Menschen (zugl. Ausstellungskatalog, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 2002), Köln 2002. 86 Zit. nach: Herausforderung Tier [wie Anm. 21], S. 30.

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Verwandtschaft, einer unbestrittenen Zusammengehörigkeit. Oft, wenn ich Jofi gestreichelt, habe ich mich dabei ertappt, eine Melodie zu summen, die ich ganz unmusikalischer Mensch als Arie aus dem ,Don Juan' erkennen mußte: Ein Band der Freundschaft bindet uns beide [...]" (Abb. 14).87

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Dazu ausführlich: M. Bonaparte: Topsy, der goldhaarige S. Freud, Frankfurt/M. 1981.

Chow, übers, von A. und

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Abb. 1 Marta de Menezes, Nature?, 2000.

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Abb. 2

Stelarc, The extra ear, Fotomontage, 1997.

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Abb. 3

Tissue, Culture & Art, Semi-living worry dolls, 2003.

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Abb. 4

Edoardo Kac, GFP Bunny, 2000.

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Natur und Wissenschaft 2003JDas Glimmern der Gene

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Genetik und Kunst, zwischen Wissenschaft.

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