Vorträge aus dem Warburg-Haus: Band 10 9783050086859

Aus dem Inhalt: Martin Mosebach: Die Gärten von Capri Ulrich Pfisterer: Altamira - oder: Die Anfänge von Kunst und Kunst

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German Pages 187 [188] Year 2014

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Table of contents :
Die Gärten von Capri
Altamira - oder: Die Anfänge von Kunst und Kunstwissenschaft
Vergils Aeneis: Gründung und Gewalt
Proserpina versus Pygmalion. Melodramatische Bewegung bei Goethe und Rousseau
Die Tradition der Biographie in England. Über Vorurteile in Theorie und Praxis
Die Gemse und das Alpenpanorama. Alois Riegl (1858-1905), der Emanzipator
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Vorträge aus dem Warburg-Haus: Band 10
 9783050086859

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VORTRÄGE AUS DEM WARBURG-HAUS BAND 10

VORTRÄGE AUS DEM WARBURG-HAUS BAND 10 HERAUSGEGEBEN VON

UWE FLECKNER WOLFGANG KEMP GERT MATTENKLOTT MONIKA WAGNER MARTIN WARNKE

MARTIN MOSEBACH Die Gärten von Capri ULRICH PFISTERER Altamira – oder: Die Anfänge von Kunst und Kunstwissenschaft MICHÈLE LOWRIE Vergils Aeneis: Gründung und Gewalt CORNELIA ZUMBUSCH Proserpina versus Pygmalion JAMES FENTON Die Tradition der Biographie in England WERNER HOFMANN Die Gemse und das Alpenpanorama

Akademie Verlag

Redaktion: Catharina Berents

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-05-004369-2 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck: MB Medienhaus, Berlin Bindung: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

INHALTSVERZEICHNIS

MARTIN MOSEBACH Die Gärten von Capri 1 ULRICH PFISTERER Altamira – oder: Die Anfänge von Kunst und Kunstwissenschaft 13 MICHÈLE LOWRIE Vergils Aeneis: Gründung und Gewalt 81 CORNELIA ZUMBUSCH Proserpina versus Pygmalion. Melodramatische Bewegung bei Goethe und Rousseau 109 JAMES FENTON Die Tradition der Biographie in England Über Vorurteile in Theorie und Praxis 143 WERNER HOFMANN Die Gemse und das Alpenpanorama Alois Riegl (1858–1905), der Emanzipator 169

Die Gärten von Capri MARTIN MOSEBACH

In der frühen Kaiserzeit war ganz Capri ein einziger Garten. Augustus bekam die Insel vom griechischen Neapel geschenkt; er und sein Nachfolger Tiberius errichteten auf dem zerrissenen, von Felsabstürzen umgebenen Terrain zwölf Paläste, die berühmten Planetenvillen, die von einer geformten Landschaft umgeben waren, wenn wir die Gemälde von Säulenvillen an den Wänden von Pompeji und Herkulaneum richtig deuten. Es muß damals schon so etwas wie den später „englisch“ genannten Park gegeben haben, eine Durchflechtung von Architektur und Natur, in der Landschaft verstreute kleine Heiligtümer und Pavillons, Pergolen und Peristyle, die die Villa ins Offene hinein fortsetzten, lichte Baumgruppen und den geplanten Blickfang aufs Pittoreske und Erhabene: Schluchten, unvermitteltem Fernblicke auf den Vesuv oder die gleichfalls vulkanförmige Insel Ischia, das in Buchten unregelmäßig eingepaßte Meer. Dann versanken die Kaiservillen, in der späteren Antike hört man nichts mehr von Capri. Nur Autokraten hatten hier eine solch verschwenderische Gartenpracht schaffen können, denn die Insel war ohne Wasser. Bis in unsere Fünfziger Jahre hinein kam das Wasser der Capresen aus der Zisterne. Dorthin floß es über die flachen Kuppeln, die das Dach eines traditionellen Capri-Hauses bilden. Fünf mal wurde jeder Tropfen Wasser genutzt: zum Gemüsewaschen, dann zum Hände- und Gesichtwaschen, zum Füßewaschen, zum Spülen, und schließlich zum Gießen der Blumentöpfe. Trotzdem wuchs es heftig überall, wo die tropische Luftfeuchtigkeit, die

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schon manche capresische Büchersammlung braunfleckig und gewellt hat werden lassen, und die auch im Sommer gelegentlich hernieder rauschenden Regenmassen den Pflanzen Nahrung gaben. Capri-Gartenerde ist in trockenem Zustand wie Schokoladenstaub, ein unter den Schritten Wölkchen erzeugender Puder von offenbar nicht enden wollender Fruchtbarkeit; es scheint, als könnten diese Böden unbekümmert stets aufs Neue ausgebeutet werden, ohne viel Dünger oder Ruhejahre. Groß ist keiner der capresischen Bauerngärten, aber der beschränkte Raum nimmt ihnen nichts von ihrem Reichtum, er bringt ihn sogar erst hervor. In Capri, der überfüllten übervölkerten Ferieninsel soll es noch Bauerngärten geben? Womöglich auch noch Bauern? Nicht nur Kellner, Geldwechsler und Taxifahrer? Das Geheimnis besteht darin, daß die Kellner, Geldwechsler und Taxifahrer außerdem alle noch Bauern sind, oder einen Onkel haben, der die krummen Knochen jeden Tag auf den Erdboden seines Gartens stellt, sich mühsam bückt und mit der harten braunen Hand die bröselige Erde berührt, in Salatblätter kneift und die Kupfersulfatmischung zum Spritzen der Weintrauben in die Behälter füllt, um die Beeren und die gezackten Blätter mit hellblauer Milch zu sprenkeln. Von der Landwirtschaft leben werden heute nur noch wenige Capresen, und die Gemüse und der Wein in den Restaurants kommen auch inzwischen vom Großmarkt in Neapel, aber auf den höchsten Luxus, das ganz unter eigener Aufsicht gewachsene Gemüse zu essen und den eignen Wein zu trinken – „Nichts Gekauftes auf dem Tisch zu haben!“ – wollen nur wenige von ihnen verzichten. Die capresischen Bauerngärten sind das Gegenteil der Landschaftsparks, wie sie die Kaiser hier anlegen ließen. Ausblicke spielen in ihnen überhaupt keine Rolle. Man tritt in ihnen am hellichten Tag ins Dunkle. Die limonaie, die Zitronenhaine bestehen aus eng aneinander gepflanzten Stämmen, die aus sorgfältig geharktem Boden herauswachsen. Ihr schwarz-ledriges Laub bildet ein dichtes durchgehendes Dach. Ringsum ist der Hain sorgfältig mit hohen Schilfmatten abgeschlossen, um die schweren Früchte vor jedem Windstoß zu schützen. Im Dämmer leuchten sie hart gelb, überraschend und kostbar; es ist dem Besucher, als habe er einen jener unterirdischen Gärten der morgenländischen Märchen entdeckt, in denen die ungeschliffe-

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nen Edelsteine auf den Bäumen wachsen. In einer limonaia kann man sich vorstellen, wie der architektonische Einfall einer Alhambra entstanden ist, eines steingewordenen Limonenhaines. Schöner noch als solche geordneten Plantagen sind die Gärten, die von allen Pflanzen, die man braucht, ein bißchen enthalten. Auch sie liegen im Schatten. Die windschiefe Weinpergola, von der die dicken Trauben herabhängen, breitet sich weithin um das Haus aus; wo sie Platz läßt, füllen Mandarinen- und Pfirsichbäume die Lücke. Sie stehen in Vertiefungen, die nach dem Gießen kleinen Teichen gleichen. Dazwischen ist jeder kleinste Raum genutzt. Die Weinpergola schafft keine Limonendämmerung, sondern ein sonnenfleckengesprenkeltes Hell-Dunkel. Zwischen den Bäumen hängen feine schwarze Nylonnetze, die die Vögel abhalten sollen; sie wirken wie die Schleier auf dem Theater, die vollkommen durchsichtig sind, die hinter ihnen liegenden Bilder aber eigentümlich unwirklich erscheinen lassen. Daß unter dem Wein und den Obstbäumen die Tomatenstauden und alle Arten von Kräutern wachsen, Basilikumstauden vor allem, die ihren würzigen Geruch verströmen, groß- und kleinblättrige Petersilie und das Schlangengewürm der Zucchini, überrascht weniger als das ebenso reichliche Blühen des Nutzlosen, das sich ohne besondere Achtung zwischen den Gemüsen entfaltet. Hier breiten sich Hortensien aus mit müden, ausgewaschenen Blütenbällen, dann stehen gesprungene Blumentöpfe mit Fuchsien und Hibiskus zwischen den Leitern und ausgelaugten Holzstangen – werden sie vom Gärtner je betrachtet, oder schweift sein Blick stets an ihnen vorbei zu den still vor sich hinschwellenden Kürbissen auf dem Boden? Welche dekorativen Prinzipien herrschen in diesem Licht- und Schatten-Reich? Die großen koloristischen Maler gehen sparsam und kalkuliert mit dem Rot um. Sie wissen, wie stark auch ein kleines rotes Fleckchen aus einer Ton-in-Ton-Umgebung noch herauszuleuchten vermag. Genauso ökonomisch scheinen die roten Blumen hier dem malerisch geordneten Urwald beigegeben. Palmen, ledrige Riesenblätter, ein Holzstoß mit verfaulenden Scheiten, Stilleben aus zerfetzten Körben, rosa Plastikeimern und rostigen Wassertonnen säumen den Rand des feucht triefenden Geländes. Alles schiebt sich ineinander. Der Zöllner Rousseau hätte Adams ersten Garten nach der Vertreibung so malen können – als den Ver-

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such, im heillosen Chaos eine Ahnung von der Fülle des Paradieses nachzuahmen. In Capri klebt auf jedem Fleck ein kleines Haus, die Landschaft ist vollständig humanisiert, ja urbanisiert. Schöne Mauern grenzen die Gärten voneinander ab, die Wege führen oft genug durch Mauerschluchten. Nur sehr wenige Gärten verdienen in Capri den Namen eines Parks, es gibt keinen Platz für solche Anlagen. In der Nacht ist die ganze Insel mit Lichtpünktchen besetzt. Dann ragt nur ein großer Kegelberg ganz schwarz aus dem kleinteiligen Häusergewirr hervor. Das ist der Monte San Michele, nicht zu verwechseln mit der gleichfalls San Michele genannten Höhe, auf die der schwedische Arzt und Schriftsteller Axel Munthe sein berühmtes Haus gesetzt hat. Orte, die in Italien oder Frankreich dem Erzengel Michael geweiht sind, haben meist eine bedeutende heidnische Vergangenheit. Weil der Erzengel beim Jüngsten Gericht die Seelen wiegt, also mit dem Übergang zwischen den Welten befaßt ist, hat man eine Verwandtschaft zu Merkur oder Hermes bei ihm entdeckt, denn auch Hermes geleitete – neben vielen anderen Pflichten – die Seelen in die Unterwelt. Also mag auf dem abgeplatteten Gipfel des Monte San Michele wirklich einmal ein Merkurtempel gestanden haben; die Archäologen haben auch Reste einer frühchristlichen kleinen Kirche entdeckt, alles das aber ist gründlich ruiniert, ein paar nichts sagende Mäuerchen, von Macchia überwachsen. Auch militärischen Zwecken hat der Berg einmal gedient. Damals wurden die breiten Rampen um ihn herum gelegt, auf denen man eine Kanone hinaufschieben konnte, die den Hafen von Marina Grande bewachen sollte. Diese Rampen sind das wichtigste architektonische Element des Berges geworden, sie machen aus der unzugänglichen Wildnis einen Park. Das Landhaus am Fuß des Monte San Michele hat eine bequeme Größe, aber keineswegs aufwendigen Charakter, ein zweistöckiger südlicher Kasten ohne palasthafte Dekoration. Eine englische Herzogin hat das Haus gebaut, als die Fremden aus dem Norden nach Capri zu strömen begannen. Heute verbringt hier ein römischer Fürst den Sommer; wie an vielen Orten der Insel haben sich die Italiener auch in Capri den Ausländerbesitz längst zurückgeholt. Vor der Villa stehen Blumentöpfe, es gibt auch ein Blumen-

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rondell, eine schüchterne buntfarbige Vegetation am Rande des Parkes, ein wenig Schmetterlingsharmlosigkeit, bevor die große dunkle Ernsthaftigkeit beginnt. Denn der Park von San Michele hat keine Blumen, man könnte sagen: aus Prinzip nicht. Hier siegt der römische Geschmack, eine Gartenkunst der großen, der majestätischen Dimension, man könnte diesen Stil den Gusto Farnese nennen, etwas Riesengroßes auf etwas Riesengroßes stellen. Der Park des Monte San Michele ist ein Echo auf jene römischen Gartensituationen, die über hohen Mauern angesiedelt sind. Da ragen mächtige schwarze Pinien über haushohen Backsteinsubstruktionen in den Himmel. Und genauso sind die breiten Rampen in diesem capresischen Park zum Abhang hin mit massivem Kalksteinmauerwerk abgestützt. Eine weite Esplanade, die mit einem weichen, stets etwas rutschigen Teppich von Piniennadeln bedeckt ist, tut sich darüber auf; sie steigt so sanft an, daß man beim Promenieren kaum etwas davon merkt, Menschen sind unter den weit über die Mauern hinwegragenden Pinienschirmen klein. Die Aussicht geht immer ins Ungemessene. Da liegt der Vesuv mit seiner für das Auge unbestimmbar immer enger dem Meer entgegengleitenden Linie, die das Meer dennoch nie erreicht. Dann geht der Ausblick wieder auf das Innere der Insel. Die CapriHäuser mit ihren runden Kuppeldächern stehen wie weiße Tierrücken im Grün verteilt, die Herde eines Zyklopen. In diesem Park könnte das kolossale Haupt der Juno Ludovisi wohnen, dessen Gipsabguß Goethe aus Rom nach Weimar mitgebracht hat, um es dort in einem sehr niedrigen Zimmer aufzustellen, Puttengruppen wären hier wie Gartenzwerge. Aber die graue Tempelfassade aus dem späten Neunzehnten Jahrhundert, die schon so zerbröckelt und hinfällig ist, als sei sie viel älter, fügt sich gelassen in das stumme Pathos dieses Parks. Ein von Menschen in vielen Generationen geschaffener Ort, der die Anwesenheit von Menschen nicht braucht, um dem einsamen Spaziergänger eine Vorstellung von Menschheit zu vermitteln. Wann wurde Capri die Chiffre für eine bestimmte Art von Träumen, für ein Bild zwischen Watteaus Überfahrt nach Kythera und Böcklins Toteninsel? Noch für Goethe war der unzugängliche Felsen im Meer nur ein gefahrenvolles Riff, an dem die Schiffe scheiterten, während eine verkom-

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mene, barbarische Inselbevölkerung Hoffnungen auf die Plünderung des Wracks nährte. Für den neapolitanischen Adel war Capri inexistent; keine herrschaftliche Villeggiatura war auf dem Felsen ohne Quellen und ohne Hafen vorstellbar. Entdeckt wurde Capri von den Künstlern des Nordens, die hier billig leben konnten und zugleich die Verwirklichung des romantischen Landschaftsideals vorfanden. Es war in Capri wie an vielen ähnlichen Orten: weil russische, deutsche, englische, schwedische Künstler nach Capri gingen, hielt man Capri für künstlerisch, und mancher glaubte, er werde Künstler, wenn er nur in Capri wohnte. Darunter waren auch Leute mit Geld; bevor sie sich an die Abfassung der geplanten Sonettenkränze machten, bauten sie zunächst einmal die angemessene künstlerische Umgebung, die Künstlervilla. Eine der berühmtesten dieser Anlagen ist Haus und Park der Villa Lysis, unterhalb der Tiberius-Ruinen auf einer schroffen Felsnase zweihundert Meter über dem Meer gelegen. Jacques Adelswärd-Fersen, aus einer belgischen Industriellenfamilie, war virtueller Poet – obwohl es tatsächlich Gedichtbändchen gibt, die seinen Namen tragen –, der für sein abgeschiedenes Künstlerleben mit einem Zeitungsjungen diesen Ort schuf, sein eigentliches Werk, wenn man von den Photographien, die seinen Freund als Ganymed, Alkibiades und St. Sebastian zeigen, einmal absieht. Die Schlucht, an deren Hang der Park liegt, ist von epischer Schönheit; der Fels ist mit einem Steineichenwald bewachsen, als habe ein Gigant eine schwarz-grüne Toga umgeworfen. Was Adelswärd-Fersen, der sich in Capri „Conte di Fersen“ nannte, dieser Erhabenheit hinzufügte, war ein wenig Stuck, schlampiges Mauerwerk, das mit klassizistischen Kapitellen aus dem Katalog für Hotelausstattungen beklebt wurde. Das Barrès-Zitat „Amori et dolori sacrum“ ließ er über einen Wintergarten mit Kurhauscharakter setzen. Ein gestuftes Gebilde ist die Villa Lysis, mit Dachterrassen in verschiedenen Höhen, und auch der Garten entfaltet sich in Terrassen, die ein Netz großer Zisternen verbergen. Auf stuckierten Sockeln ließ Fersen hier eine Menge von Statuen aufstellen, den Photographien nach billige Gußarbeiten mit falscher Bronzepatina: Donatellos, Michelangelos und auch zeitgenössische Neuschöpfungen von Gottheiten, die Knaben mit selig zurückgesunkenem Lockenhaupt zu Leibe rückten. Zu Fersens Zeiten umgab diese Plastiken eine weiß ausgebrannte Karstlandschaft. Es erstaunt immer aufs

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Neue, mit wie wenig Schönheit sich professionelle Schönheitsfreunde zufrieden geben. Aber in der Wahl der Lage seines Hauses hatte sich Fersen von niemandem übertreffen lassen, und vom Wasser aus kathedralenhoch und von Pinienschirmen halb verborgen sah und sieht die Villa Lysis wie ein Eckchen Tiberius-Palast aus. Die schönste Zeit der Villa waren die Jahre ihrer Verkommenheit. Ein späterer, sehr reicher Eigentümer ließ das Haus einstürzen. Eine Kustodin hauste in der Ruine und züchtete in rostigen Blecheimern Hortensienbüsche zu einer schier maßlosen Blütenfülle, indem sie sie im Schatten der inzwischen groß gewordenen Pinien hielt und mit Wasser aus den gleichfalls einstürzenden Zisternen überschwemmte. Um das zerfallende Haus wucherte und schäumte es rosa und hellblau. Die bäuerlichen Familien des Monte Tiberio feierten in dem Ruinengarten ihre Feste, stellten in die leeren Fensterhöhlen bunte Lichter und ließen das Goldmosaik von „Amori et dolori sacrum“ im Fackelschein glitzern. Auch bei Fersens verschwenderischsten Festen können die Villa und der Garten nicht von solch opernhafter Schönheit gewesen sein. Jetzt war sie wirklich ein Bühnenbild und ebenso fragil wie eine solche Dekoration; ganz deutlich ließ der Feuerschatten den Riß im Gemäuer dramatisch tief werden. Bald würde die Villa ins Meer fallen. In Capri ist freilich zu viel Geld für solchen Niedergang. Villa und Park sind inzwischen perfekt restauriert und wieder aufgebaut, der Hortensien-Urwald ist dahin, die Katzen und Ratten ebenfalls und das Anwesen hat weitere hundert Jahre vor sich, um aufs Neue zu versuchen, in Schönheit unterzugehen. Ein anderer capresischer Garten ist allerdings endgültig vernichtet, auch hier war kein Geldmangel im Spiel, sondern Juristen, die gelernt hatten, mit Texten umzugehen, mit einem Testament in diesem Fall. „Palazzo a mare“ heißt die Anhöhe über Marina Grande, wo heute die Schiffe ankommen; der Name bewahrt die Erinnerung an eine Augustus-Villa, die an der Stelle einer kleinen griechischen Stadt errichtet wurde. „Palazzo a mare“ ist ein hochgeschütztes archäologisches Gebiet, was immer das in Süditalien besagen will. Hier schuf eine Amerikanerin, Mona Harrisson Williams, ein einzigartiges Gartengebilde. Eine Fülle von Gebäuden, die Villa, Gästehäuser, Pavillons, eine Sala terrena über den Klippen, rosafarbene Kuben mit

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weißprofilierten Bogenfenstern verteilten sich über das Gelände, auch ein schönes Lapidarium für all die Funde, die die zwölf Gärtner beim Umgraben aus der Erde wie kostbare Früchte in diesem Garten gleichsam ernteten. In einer späteren Ehe mit einem Grafen Bismarck verheiratet, ließ die nunmehr als Contessa in Europa erst richtig Angekommene dem alsbald Verstorbenen eine palladianische Grabkapelle errichten; im „Fortino“, so hieß die Villa, gab es vermutlich mehr bismarcksche Fürstenhüte und Monogramme als in Friedrichsruh. Der große Platz vor dem Haupthaus war das letzte Stückchen Amerika, das die Gräfin sich gestattete: eine Rasenfläche, wie sie in Capri eigentlich gar nicht möglich ist und auch nicht möglich sein sollte, ein Geschmacksfehler, der seinen Charme nur aus der Tatsache bezog, daß seine Pflege so furchtbar teuer war. Die Gräfin Bismarck habe die Blumen geliebt, sagt jeder, der sie kannte, eine Aussage so banal wie dieser Rasen. Sie liebte die Blumen auch gar nicht. Sie war ihnen wie eine Süchtige verfallen. Das begriff der Besucher, der in die Räume des Fortino-Gartens vordrang. Diese Räume waren von hohen Mauern umschlossene Bezirke. Hier wurden die Blumen wie von einer Fee verzauberte Lebewesen in unzugänglicher Klausur gefangen gehalten. Die römischen Häuser in Pompeji und Herkulaneum hatten von Säulengängen umschlossene Gärten. Die Klöster zogen ihr Spalierobst und ihre Arzneikräuter in ummauerten Bezirken. In den Kartäuserklöstern hatte jeder Mönch ein eigenes hoch ummauertes Einsiedlergärtlein, das niemand außer ihm betrat. In Capri liegt in einer Mulde hoch über dem Meer ein solches Kartäuserkloster, nach seiner Aufhebung durch König Murat nur noch eine in der Sonne farblos gebrannte Carcasse, aber die Einsiedeleien mit den Gärten sind noch zu erkennen. Die Gräfin Bismarck nahm von allen diesen Vorbildern ein bißchen: vom hortus conclusus der Römer, vom Kreuzgang der Nonnen und Mönche, von den Gartenphantasien der Präraffaeliten, die vielleicht nur in Gedichten und auf Gemälden blühten, und auch vom capresischen Bauerngarten. Und aus diesen Gärten baute sie ein Gartenlabyrinth, einen Gartenpalast mit einer kaum zu zählenden Folge solcher umschlossener Salons, Klausen, Höfe, Atrien. Das Dach zu dieser Architektur war stets die Pergola, um die Wein, Glyzinien und alles, was rankt, emporwuchs und Schatten für die Blütenkelche spendete, denn

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in der manchmal gnadenlosen Sonne Capris hätte auch die Gärtnerschar das Versengen der Pflanzen sonst nicht verhindern können. Tore und Treppen führten von einem zu dem nächsten Bezirk. Die Treppen waren den Trompe-l’œuil-Treppen des Vasari aus der „Sala dei cento giorni“ in der römischen Cancelleria nachgebaut – die ersten drei Stufen in konkavem Halbkreis geschwungen, dann ein kreisrundes Plateau, und dann drei konvex halbkreisförmige Stufen. Für das Auge bildeten diese Treppen ein kleines Hindernis. Man konnte sie nicht gedankenlos herunterspringen, man mußte innehalten. Der erste Blick auf einen neuen Garten kam aus der Höhe. Dann tauchte man hinab in ein Becken voller Blüten und Düfte. Es war, als sollten die konzentrierten Essenzen dem Besucher den Verstand rauben; etwas Pudrig-Schwer-Parfümhaftes war der Wolke, die über den Gärten lagerte, unterlegt. Aber die Gärtnerin war nicht verwirrt, sondern kannte jede Pflanze und schnitt die Blüten ab, wenn sie am schönsten waren. Neben jedem ihrer Salons lag ein Badezimmer und in jedem Salon standen die täglich erneuerten immensen Buketts, und so atmete das Fortino den Geist einer sich unaufhörlich erneuernden Reinheit und Jugend. Mona Bismarck wollte, daß ihr Kunstwerk ewig erhalten bleibe; das war vielleicht ihre Art auszudrücken, daß sie selbst gern ewig leben wolle, denn daß der Garten ihre Gegenwart brauchte, ahnte sie gewiß. Ihre Erben haben das Testament genauso wie den Garten in kleine Teile zerrissen, und heute, schon wenige Jahre nach dem Tod der großen Gärtnerin, kann man sich kaum mehr vorstellen, was in „Palazzo a mare“ eben noch in vollem Glanz erhalten war. Wo bleibt, mag man ungeduldig fragen, bei all dem Schwärmen von Capris versunkener, auf jeden Fall aber unzugänglichen Gartenpracht der Capri-Garten, wie ihn jeder kennt? Die kalkweiße Pfeilerreihe, das Himmelblau, das Türkis eines auch lange nach seinem jämmerlichen Niedergang noch blühenden Keramikkunsthandwerks, das jeden freien Raum mit wild bemalten Kacheln bedeckt? Wo bleiben die geradezu phosphoreszierenden bischofs-violetten Blütenmassen der Bougainvillea, bei deren uneuropäischer Farbenfreudigkeit man sich wünscht, Monsieur de Bougainvilles Schiff mit den vielen Blumentöpfen habe in der Biskaya elend Schiffbruch erlitten? Denn das Capri-Klischee ist so lautere Wahrheit, wie

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ein Klischee es nur sein kann. Und wenn es auch das Ziel solcher Gärten zu sein scheint, den Capri-Postkarten möglichst nahe zukommen, ja, sie zu übertreffen, so sind es doch nicht die Kultur zerstörenden Fremden, die solche Gärten anlegen. In ihrer knalligen Faschingsbuntheit lebt ein überaus italienisches Ideal fort: die „Villa“, das prächtig geschmückte Landhaus des Städters seit den Tagen des alten Rom. Für den urbanen Menschen ist das Bäuerliche das Rüde, das Plumpe, das Barbarische, und im Bewußtsein der italienischen Bourgeoisie ist es das immer noch, vielleicht, weil die Vernichtung der bäuerlichen Lebensform hier noch nicht so lang zurückliegt. Mit seiner kleinen Villa in Capri ist jeder Neapolitaner ein Tiberius mit seinem künstlichen Arkadien vor zweitausend Jahren. Selbst der Kitsch hat in Capri viele adlige Ahnen.

Altamira – oder: Die Anfänge von Kunst und Kunstwissenschaft ULRICH PFISTERER

Die Jahre 1879/80 müßten eigentlich für einen der radikalsten Wendepunkte in der Geschichte der Kunst und Kunstwissenschaft stehen – und spielen doch weder in den Fachdiskussionen der Jahrzehnte um 1900 noch heute eine herausragende Rolle.1 Voraussetzung dafür wäre freilich gewesen, daß die in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts um wissenschaftliche Anerkennung ringende Disziplin Kunstgeschichte ihre mühsam methodisch legitimierte, großenteils am Beispiel der italienischen Renaissance- und BarockKunst eingeschworene Blickrichtung gleich wieder grundlegend verändert hätte.2 Voraussetzung wäre ein für Fach-Kunsthistoriker kaum nachvollWolfgang Kemp und Charlotte Schoell-Glass danke ich für kritische Lektüre. 1 Ausnahmen bilden J. Rykwert: On Adam’s House in Paradise. The Idea of the Primitive Hut in Architectural History, New York 1972, S. 32; W. Davis: Replications. Archaeology, Art History, Psychoanalysis, University Park (PE) 1996, v. a. S. 131–170 („5. Beginning the History of Art“), der die Bedeutung von Anfangsszenarien für die Kunstgeschichtsschreibung bereits am Beispiel von Altamira und Lascaux analysiert, allerdings mit anderer Akzentsetzung und Zielrichtung; B. Küster: Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900, Berlin 2003, v. a. S. 56–61; und der Ausstellungskatalog Venus et Caïn. Figures de la préhistoire 1830– 1930, Paris/Bordeaux 2003 (mit diesen Aufsatz ergänzendem Material). 2 Vgl. H. Dilly: Kunstgeschichte als Institution: Studien zur Geschichte einer Disziplin, Frankfurt a. M. 1979; Ch. König, E. Lämmert (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät: Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt a. M. 1999; Hubert Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750–1950, München 2001.

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ziehbarer Wandel der Blickrichtung hin zu ‚Randbereichen‘ gewesen – auf die Bildzeugnisse der Prähistorie, der ‚Primitiven‘ und der Kinder. Umso unbefangener ließ dagegen offenbar die achteinhalbjährige María Justina den Blick schweifen, als sie ihren Großvater Marcelino Sanz de Sautuola 1879 bei der Besichtigung einer Höhle auf dessen Besitzungen in der Nähe der nordspanischen Küste bei Santander begleitete. Kenntnis von dieser Höhle hatte man schon seit etlichen Jahren, aber erst die kleine María Justina scheint in dem zu diesem Zeitpunkt noch nicht freigeräumten, teils nur knapp 1,30 m hohen Hauptraum des unterirdischen Gangsystems die Augen auf die Decke über ihr gerichtet zu haben, während alle Erwachsenen gezwungenermaßen nach vorne gebeugt allein den Boden erwartungsvoll nach vorgeschichtlichen Funden absuchten. Der Blickwechsel wurde jedenfalls mit der Entdeckung spektakulärer Höhlenmalereien belohnt – den ersten bis dahin überhaupt bekannt gewordenen Beispielen dafür (Abb. 1).3 Dem Fachpublikum machte der Privatforscher Marcelino Sanz de Sautuola den Fund im darauffolgenden Jahr mit einer kleinen Schrift Breves apuntes sobre algunos objetos prehistóricos de la provincia de Santander bekannt.4 Allerdings zunächst mit sehr geteiltem Echo, hielten die meisten Spezialisten die verblüffend naturnahen Malereien doch für moderne Fälschungen, von denen etwa die Farbe – wie ein Besucher der Höhle feststellte – noch leicht mit dem Finger abzureiben gewesen sei. Erst durch zahlreiche Funde weiterer Höhlenmalereien in Spanien und Frankreich im Laufe der beiden folgenden Jahrzehnte neigte sich die Beweislast in den 1890er Jahren unausweichlich zugunsten von deren Echtheit: 5 Altamira stieg zum

3 Zu diesen widersprüchlich überlieferten Vorgängen zusammenfassend B. Madariaga de la Campa: Sanz de Sautuola y el descubimiento de Altamira, Santander 2000. 4 Wiederabgedruckt in Escritos y documentos de Marcelino Sanz de Sautuola, hrsg. von B. Madariaga de la Campa, Santander 1976. 5 Ablehnend etwa E. Harlé: La grotte d’Altamira près de Santander (Espagne), in: Materiaux pour l’Histoire Primitive et Naturelle de l’Homme, 12, 1881, S. 275–283; die endgültige Wende markierte dann das Eingeständnis der Echtheit eines anderen, prominenten Kritikers, É. Cartailhac: Les cavernes ornées de dessins. La grotte d’Altamira, Espagne: ,Mea culpa‘ d’un sceptique, in: L’Anthropolgie, 13, 1902, S. 348.

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Synonym für den absoluten Anfang menschlicher Kunst im Paläolithikum auf. Nun waren um 1879/80 die Diskussionen über das Wesen des prähistorischen Menschen zumindest in den Hauptzügen entschieden: gegen die Anhänger des biblischen Berichts (die – kurz gesagt – auf der Schöpfung des Menschen rund 5000–6000 Jahre v. Chr. beharrten) ebenso wie gegen die Verfechter wissenschaftlicher Kataklysmen-Theorien (vor allem im Gefolge George Cuviers) und zugunsten einer Evolutionsvorstellung über bis vor kurzem unvorstellbar lange, vorgeschichtliche Zeiträumen hinweg („deep time“).6 Die wichtigsten Publikationen für diesen Durchbruch lieferten George Lyell für die geologischen Erdalter (Principles of Geology, 1830– 1833), Franz Bopp für die indogermanische Sprachgeschichte (Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Zend, Griechischen, Lateinischen, Litthauischen, Gothischen und Deutschen, 1833–1852), Jacques Boucher de Perthes für die Koexistenz von fossilen, ‚vor-sintflutlichen‘ Tieren und Menschen (seit den 1830er Jahren) und schließlich Charles Darwin für die evolutionäre Entstehung der Arten (Origin of Species, 1859).7 Und es waren zu diesem Zeit-

6 Zusammenfassend G. de Mortillet: Le préhistorique. Antiquité de l’homme, Paris 1883 (hier S. 364 f. auch ein kurzes Kapitel „Origine de l’art“). 7 Zu Lyell s. St. J. Gould: Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde, München/Wien 1990 und G. Bowker: Die Ursprünge von Lyells Uniformitarismus: Für eine neue Geologie, in: M. Serres (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1994, S. 687–719. – Zu Boucher de Perthes Entdeckungen und seinen Argumenten lieferte er selbst eine konzise Zusammenfassung in: ders.: De l’homme antédiluvien et de ses œuvres, Paris 1860, hier S. 65–68 zu Tier- und Menschen-Bildwerken (ohne Verwendung des Wortes ‚Kunst‘), vgl. C. Cohen, J.-J. Hublin: Boucher de Perthes 1788–1868 – Les origines romantiques de la préhistoire, Paris 1989 und N. Richard, La fondation de la préhistoire, in: I. Poutrin (Hg.): Le XIX e siècle, Paris 1995, S. 43–65; noch 1863 vertrat dagegen etwa Louis Figuier in einem weitverbreiteten und mehrfach nachgedruckten Werk zur geologischen Entstehungsgeschichte der Erde und ihrer Flora und Fauna: La Terre avant le Déluge, Paris 1863, S. 357–372 die These, der Mensch sei erst nach der ‚Eiszeit‘ entstanden; dann V. Meunier: Les ancêtres d’Adam. Histoire de l’homme fossile, Paris 1875. – Zu Darwin nur W. Lefèvre: Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt a. M. u. a. 1984; T. Junker, U. Hoßfeld: Die Entdeckung der Evolution.

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punkt eigentlich auch schon genügend Artefakte zusammengetragen worden, die die prinzipielle manuelle Fertigkeit der ‚Vorläufer Adams‘, Troglodyten, vor-diluvialen, fossilen oder Ur-Menschen bewiesen: von Faustkeilen und Speerspitzen über Ritzzeichnungen auf Steinen und in Knochen bis hin zu kleinen Beinskulpturen. Fest stand jedenfalls, daß sich bereits die Menschen der Urzeit in der Bildgestaltung versucht hatten (Abb. 2).8 Gerade beim traditionell wichtigsten künstlerischen Medium aber, der Malerei, war offenbar die Akzeptanz am schwierigsten, zumal die monumentalen (zumeist Tier-)Malereien in Altamira und anderswo mit ihrer genauen Naturbeobachtung, ihrer scheinbaren Lebendigkeit, Plastizität, den perspektivischen Elementen und souverän entworfenen Umrißlinien nicht nur unleugbar ein überragendes Können dokumentierten, sondern auch in neuer Intensität den Status von Kunstwerken zu reklamieren schienen (beides offenbar viel deutlicher, als dies für den Betrachter um 1900 bei den prähistorischen Knochen- oder Stein-Objekten mit Bildern der Fall war). Konsequenterweise wurden die Malereien Altamiras – nachdem sie gegen 1900 allgemein als echt anerkannt waren – dann auch einer kunsthistorischen Analyse und Klassifizierung unterworfen: Sie ließen sich etwa einer fossilen ‚Künstlerschule‘ und noch genauer: drei individuellen Händen zuschreiben und im Zusammenhang mit nachfolgenden Funden in die großen Entwicklungszyklen einer mehrtausendjährigen ‚Kunstgeschichte

Eine revolutionäre Theorie und ihre Geschichte, Darmstadt 2001 und S. Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006, v. a. S. 191–231. 8 É. Lartet, H. Christy: Cavernes du Périgord: Objets gravés et sculptés des temps préhistoriques dans l’Europe occidentale, in: Revue Archéologique, 9, 1864, S. 233–267; dies.: Reliquiae Aquitanicae, London 1865–1875; eine der ersten Erwähnungen dieser Artefakte in einer populären deutschsprachigen Publikation bei O. Fraas: Vor der Sündfluth! Eine Geschichte der Urwelt, Stuttgart 1866, S. 462–465 (die Illustrationen dieses Buches gehen großenteils auf Figuier [wie Anm. 7] zurück); É. Cartailhac: La France préhistorique, Paris 1889; H. Kühn: Kunst und Kultur der Vorzeit Europas, Berlin/Leipzig 1929, S. 42–197; A. Laming-Emperaire: Origines de l’archéologie préhistorique en France. Des superstitions médiévales à la découverte de l’homme fossile, Paris 1964 (mit ausführlicher Chronologie und Bibliographie).

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prähistorischer Malerei‘ einordnen.9 Schon 1898 waren die beiden Gründungsschriften einer im Anspruch umfassenden ‚Kunstgeschichte der Vorzeit‘ erschienen (allerdings noch ohne Erwähnung von Höhlenmalereien).10 Schließlich konnte die erste populärwissenschaftliche Publikation, die Altamira 1910 einem weiteren deutschsprachigen Publikum vorstellte, gar einen „Kunsttempel des Urmenschen“ ankündigen.11 Der Fund in Altamira und insgesamt die neu entdeckten steinzeitlichen Bildwerke veränderten so eigentlich alle Vorstellungen und Theorien über die ‚Ursprünge und Anfänge der Kunst‘ von Grund auf. Die Konsequenzen aus dieser radikalen Revision versucht mein Beitrag im folgenden zu skizzieren – immer auch vor dem Hintergrund der Frage, warum dieser Paradigmenwechsel so zögerlich zur Kenntnis genommen wurde. Es geht also nicht um die Frage nach den tatsächlichen Anfängen der Kunst und nicht um ein historisches Verständnis der Malereien Altamiras, sondern um die Relevanz des neuen Materials für die Konzeption des Anfangs in der ‚großen Erzählung‘ des Faches um 1900 sowie um die methodischen Kon-

9 Künstlerschule und Händescheidung am weitesten geführt bei H. Alcalde del Rio: Las pinturas y grabados de las cavernas prehistóricas de la provincia de Santander. Altamira – Cavalanas – Hornos de la Pena – Castillo, Santander 1906, S. 18; die grundlegende Publikation zu Altamira von É. Cartailhac, H. Breuil: La caverne d’Altamira à Santillane près Santander, Monaco 1906; zu weiteren Entwicklungsstufen vorzeitlicher Kunst dann vor allem H. Breuil: L’Évolution de l’art pariétal des cavernes de l’âge du renne, in: Compte-rendue. Congrès Internationale d’Anthropologie et d’Archéologie préhistorique de Monaco, Foix 1907, S. 367–386, und ders.: L’Évolution de l’art quarternaire et les travaux d’Édouard Piette, in: Revue archéologique 1909, S. 378–411. 10 M. Hoernes: Urgeschicht der bildenden Kunst in Europa von den Anfängen bis um 600 vor Chr., Wien 1898; Th. Wilson: Prehistoric Art; or the origins of art as manifested in the works of prehistoric man, in: Report of the U.S. National Museum for 1896, Washington 1898, S. 325–664 (auch eigenständig erschienen). – Vgl. dann mit Erwähnung der Höhlenmalereien etwa É. Piette: L’art pendant l’âge du renne, Paris 1907 und C. Schuchardt: Alteuropa in seiner Kultur- und Stilentwicklung, Straßburg/Berlin 1919, zu Altamira S. 27–29. 11 A. Stiegelmann: Altamira. Ein Kunsttempel des Urmenschen, Godesberg-Berlin 1910.

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sequenzen und um das Selbstverständnis der Kunstgeschichte in Relation zu den anderen Fächern, die sich ebenfalls mit diesen Bildzeugnissen beschäftigten.12 Dabei werden nicht nur die Entwürfe eines ‚Ursprungs der Kunst‘ in Text und Bild analysiert (in den ersten beiden Kapiteln), sondern es gilt auch zu zeigen (in den folgenden drei Kapiteln), daß entscheidende methodische Grundlagen der Disziplin: vergleichende Typenreihen, die Frage nach der Rolle der Frau für die Kunst und schließlich das Verständnis von historisch und ethnisch bedingten ästhetischen Kategorien und dem Aufgabenfeld der Kunstgeschichte insgesamt durch die Herausforderung prähistorischer Bildwerke entscheidend angeregt wurden. So verstanden, markiert Altamira nicht nur den Anfang der Kunst, sondern in wichtigen Aspekten auch den Anfang der Kunstwissenschaft, wie sie um 1900 als neue Zusammenführung von Theorie und historischem Material postuliert wurde.

Ursprungsphantasien – Anfangstheorien Wann, wo und von wem wurden die menschlichen Techniken, Wissenschaften und Künste erfunden? Fragen und Antworten dazu kursierten in etwa seit Hesiod und dem 6. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland; ganze ‚Erfinder-Kataloge‘ überliefern und diskutieren Hygin, Plinius und einige Autoren v. a. des griechischen Frühchristentums; spätestens mit dem 14./15. Jahrhundert dachte man dann in schriftlicher Form wieder und speziell auch über die Anfänge der Bildkünste nach.13 Das erste im Druck 12 Vgl. zu den Postulaten und Mechanismen von Anfangs-Konstruktionen neben Davis [wie Anm. 1] auch E. W. Said: Beginnings. Intention and Method, New York 1975, etwa S. 50–68; O. Hazan: Le mythe du progrès artistique, Montréal 1999; Ch. Kruse: Wozu Menschen malen. Historische Begründungen eines Bildmediums, München 2003; A. Koschorke: Vor der Gesellschaft. Das Anfangsproblem der Anthropologie, in: B. Kleeberg u. a. (Hg.): Urmensch und Wissenschaft. Eine Bestandsaufnahme, Darmstadt 2005, S. 245–258, und ders.: Zur Logik kultureller Gründungserzählungen, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, 1/2, 2007, S. 5–12. 13 K. Thraede: Erfinder II (geistesgeschichtlich), in: Th. Klauser (Hg.): Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 5, Stuttgart 1962, Sp. 1191–1278.

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erschienene Nachschlagewerk zu diesem Thema von Polydorus Vergilius – De inventoribus rerum (1498) mit eigenen Kapiteln zu den Erfindern von Malerei und Skulptur – konnte so in der Frühen Neuzeit ein vielfach wiederaufgelegter und übersetzter Verkaufserfolg werden, an den letztlich noch im Frankreich des 18. und früheren 19. Jahrhunderts zwei umfangreiche Lexika anzuknüpfen versuchten – das Dictionnaire des Origines, ou Epoques des Inventions … des Antoine J. B.A. d’Origny (1777) und das Nouveau dictionnaire des origines, inventions et découvertes … des François Noël (1827). Großen Absatz fanden seit dem späten 16. Jahrhundert auch die ähnlich gelagerten Publikationen zu den ‚Erfindungen‘ der Neuzeit, die im Streit zwischen antiqui und moderni Argumente für beide Seiten lieferten.14 Es überrascht jedenfalls kaum, daß während dieser zwei Hochphasen des Interesses am Menschen – Humanismus und Aufklärung/ Romantik – auch das Interesse am (‚wilden‘, ‚primitiven‘) „Ursprung der Gesetze, Künste und Wissenschaften“ je eine zentrale Rolle spielte.15 Wobei klar sein muß, daß die Frage nach der Entstehung nicht nur als wissenschaftlich unerläßlich für die Wesensbestimmung und Definition einer Sache angesehen wurde (gemäß dem Gedanken, daß sich alle Grundprinzipien am Anfang in besonderer Deutlichkeit und einfachen Klarheit zeigten), sondern mit dem Anspruch auf Ursprung und Erfindung ganz wesentlich Stolz und Selbstverständnis der Nationen verbunden sein konnten.16 14 Dazu etwa C. Atkinson: Inventing Inventors in Renaissance Europe. Polydore Vergil’s ,De inventoribus rerum‘ (1499 and 1521), Tübingen 2007 und M. Fumaroli: Les abeilles et les araignées, in: A.-M. Lecoq (Hg.): La Querelle des Anciens et des Modernes, Paris 2001, S. 7–220. 15 So der Titel der 1760–62 publizierten deutschen Übersetzung von A.Y. de Goguet: De l’Origine des lois, des arts et des sciences …, Paris 1758, 3 Bde.; insgesamt K.-H. Kohl: Entzauberter Blick. Das Bild vom guten Wilden, Frankfurt a. M. 1986; vgl. für das 19. Jh. etwa A. Petit: Étudier „l’embryogénie de l’esprit humain“, in: Poutrin [wie Anm. 7], S. 277–293. 16 M. Rothstein: Etymology, Genealogy, and the Immutability of Origins, in: Renaissance Quarterly, 43, 1990, S. 332–347; Carus Sterne: Natur und Kunst. Studien zur Entwicklungsgeschichte der Kunst, Berlin 1891, S. 137: „[…] Enthusiasten, die aus einzelnen, vortrefflich wiedergegebenen Thierbildern folgerten, daß Frankreich

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Bei allem sonstigen Erkenntniszuwachs, den das 18. und frühe 19. Jahrhundert der Renaissance voraus hatte, hinsichtlich der Frage ‚Anfänge der Bildkünste‘ blieben die prinzipiellen Zugangsmöglichkeiten weitgehend die gleichen, wollte man die origo artium nicht sowieso lieber im Dunkeln lassen, wie es einige Autoren für klüger hielten.17 Weiterhin spielten jedenfalls aitiologische Mythen – insbesondere die Erzählung über die Tochter des griechischen Töpfers (Di-)Butades, die den Schatten ihres Liebsten an der Wand umzeichnete – eine zentrale Rolle, schien doch unter deren leicht durchschaubarem Schleier eine naturgegebene, ‚logische‘ Erklärung für die Anfänge der Bildkünste geliefert. Just diese in der Kunstliteratur vielfach wiederholte Legende vom ‚Ursprung der Malerei‘ stieg dann überhaupt erst in den Jahrzehnten zwischen ca. 1770 und 1830 zu einem bevorzugten Bildthema auf.18 Und wenn nach 1830 wissenschaftlichere Erklärungsverschon in jener grauen Vorzeit an der Spitze der Kulturnationen gestanden habe“; F. Behn: Der Mensch der Urzeit, seine Kunst und seine Kultur, Leipzig [1913], S. 5: „Nach einem kurzen Vorspiel auf der Insel Java beginnt das eigentliche Drama der Menschwerdung auf deutschem Boden“ – nämlich angeblich durch den 1907 bei Mauer gefundenen Unterkiefer des Homo Heidelbergensis. – Vgl. auch S. Brather: Ethnische Identitäten als Konstrukte der frühgeschichtlichen Archäologie, in: Germania, 78, 2000, S. 139–177; I. Wiwjorra: „Ex oriente lux“ – „Ex septentrione lux“. Über den Widerstreit zweier Identitätsmythen, in: A. Leube (Hg.): Prähistorie und Nationalsozialismus, Heidelberg 2002, S. 73–106. 17 Stellvertretend dafür J. H. Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste …, Bd. 19, Halle und Leipzig 1739, Sp. 259–269, s. v. ‚Mahler-Kunst‘, hier Sp. 260: „Es mag die Mahler-Kunst, wie viele andere Künste, einen geringen Anfang gehabt haben, indem der Schatten eines Mannes an der Wand mit einer Kohlen oder Kreiden umzogen, ihr den ersten Anfang gegeben haben soll: gleichwie auch anfänglich nur eine Farbe gebraucht worden. Jedoch wer sie zuerst erfunden, kan wegen ihres Alterthums nicht genau entschieden werden. Die Egyptier dürffen sich rühmen daß dieselbe bey ihnen bereits 6000 Jahr im Schwange gewesen, ehe man was davon in Griechenland gewußt, wie Plinius Hist. nat. lib. XXXV. cap. 3 meldet. Wie nichtig aber dieses Vorgehen sey siehet ein ieder gar leicht ein, zumahl wenn man bedenckt, daß die Welt vorietzo noch nicht 6000 Jahr gestanden.“ 18 R. Rosenblum: The Origin of Painting: A Problem in the Iconography of Romantic Classisicm, in: Art Bulletin, 39, 1957, S. 279–290 und G. Levitine: Addenda to Robert Rosenblum’s ‘The Origin of Painting …’, in: ebd., 40, 1958, S. 329–331. – Zu

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suche zunehmend die antiken Legenden ablösten, dann heißt das nicht, daß mythische Denkmodelle insgesamt verabschiedet wurden. Vielleicht am deutlichsten kann dies die 1870 publizierte Geschichte des menschlichen Wohnens von Eugène-Émanuele Viollet-le-Duc demonstrieren, die unter der Überschrift „Sont-ce des hommes?“ mit einer frei erfundenen Erzählung zu Épergos und dessen ‚Erfindung‘ der Urhütte einsetzt – wobei suggeriert wird, daß durch dieses Ereignis die zuvor wilden „Wesen von ungeschlachtem Körperbau, hell-geblicher Haut und einem von wenigen schwarzen Haaren bedeckten Kopf“ überhaupt erst zu Menschen transformiert wurden, deren noch unkultivierte Gesichtszüge die das Kapitel abschließende Vignette zeigt (Abb. 3).19 Die weiteren Zugangsmöglichkeiten, die Frühe Neuzeit und die Jahrzehnte um 1800 miteinander teilten, waren antike nicht-mythische Schriftzeugnisse, spekulative Geschichts- und Ästhetiktheorie und der Befund sichtbarer Denkmäler früher Kulturen (von Stonehenge über die Pyramiden bis zu den Tempeln Indiens). Aus keinem dieser Bereiche ließ sich eine wirklich gesicherte (chronologische) Basis gewinnen, so daß für alle daraus abgeleiteten Thesen praktisch genauso überzeugende Gegenargumente gefunden werden konnten: Bedienten sich die menschlichen Bildkünste zuerst des Zeichnens oder des plastischen Bildens oder gar der Architektur, die als Schutz vor Umwelt und Witterung am notwendigsten war? 20 Kann überhaupt die Not und der Mangel als Auslöser menschlicher Kunstübung gesehen werden, wie es etwa das antike Sprichwort „paupertas gignit artem“ formulierte, oder aber manifestiert sich in der Kunst nicht ein dem Menschen eingeborener, zweckfreier Nachanderen vormodernen Aitiologien s. M. Bettini: Il ritratto dell’amante, Turin 1992 und Kruse [wie Anm. 12]. 19 E.-É. Viollet-le-Duc: Histoire de l’habitation humaine, Paris 1870, S. 4–7; dazu Rykwert [wie Anm. 1], S. 37–42 und ein etwas früheres Vergleichsbeispiel S. 74. – P. Boitard: Paris avant les hommes …, Paris 1861 bemüht für sein Werk die Fiktion, ein Flaschenteufel habe den Autor in die Urwelt transportiert und ihm erläutert „ce qu’était Paris avant les hommes“. 20 Für die Präzedenz der Architektur plädiert etwa Hegel in seiner Ästhetik, aber auch C. Schnaase: Geschichte der bildenden Künste, Düsseldorf 1843–1864, zit. Bd. 1, 2 1866, S. 55 f. oder F. B. de Mercey, Études sur les beaux-arts depuis leur origine jusqu’a nos jours, Paris 1855, Bd. 1, S. 31–33.

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ahmungs- und Schönheitstrieb, wie es ebenfalls bereits in der Antike Aristoteles andeutete? Standen schließlich die hochgradig stilisierten, ‚einfachen‘ Bildwerke Ägyptens oder aber die ‚kleinteilig-chaotischen‘ an indischen Tempeln am Anfang der menschlichen Kunstübung? 21 Vor diesem Diskussionshintergrund sind jedenfalls die weltumfassenden GeschichtsEntwürfe eines Herder, Hegel oder Auguste Comte zu sehen, die wiederum die ersten ‚umfassenden Kunstgeschichten‘ von Wilhelm Kugler, Carl Schnaase und letztlich auch den eher anthropologischen Zugang Francis Pulszkys beeinflußten. Allein eine Annahme lag allen diesen widersprüchlichen Theorien zugrunde: daß sich die Gesamtentwicklung einer Kultur und Kunst mit der biologischen Metapher eines Lebewesens fassen lasse und alle Anfänge, also auch die ‚Kindheit der Zeichnung, Malerei und Skulptur‘ einfach, unvollkommen, von mangelhaftem technischem wie mimetischem Können zu sein haben, ja, für manche Autoren eigentlich noch gar nicht als ‚Kunst‘ bezeichnet werden dürfe. Diese Überzeugung eröffnet noch 1842 Franz Kuglers Handbuch der Kunstgeschichte mit seinem Anspruch einer ‚Kunstgeschichte aller Zeiten und Völker‘. Unter der Überschrift „Vorstufen der künstlerischen Gestaltung“, Unterkapitel „Ursprung“, heißt es: „Die Urzustände des menschlichen Geschlechts sind Zustände der Kindheit. Die Sorge des Denkens ist noch fern. Doch sind die Triebe thätig, durch welche das Geschlecht zum Schaffen angeregt wird. Das Bedürfnis des Lebens giebt Anlass zu mannigfachen Einrichtungen, die Freude am Leben zu buntem Schmuck. Die Gebilde der Natur, die der Mensch für seine Zwecke verwendet, die Eigenheiten des Stoffes, den er bearbeitet, die Lust zur Nachahmung von ergötzlichen Dingen, die er um sich erblickt, sind der Grund von allerlei Gestaltung. Aber zur Kunst führt dieses Schaffen nicht. Dann kommt 21 A. Riem: Über die Malerei der Alten, Berlin 1787, das Kapitel I. Von dem Ursprung und Anfang der Kunst, hier v. a. S. 3–5 und 11–15 gegen Winckelmann und Caylus und mit der ethnographischen Parallele mittelamerikanischer Malerei: „Diesen kleinlichen Styl finden wir bei den ersten und ältesten Werken der Kunst unter den Egyptiern sowohl, als den Indern, und eben dieser chargirte, überladene Styl, ist ein Beweiss ihres höheren Alterthums. Simplicität, mit bewunderungswürdiger Hoheit verbunden, wie sich CAYLUS ausdrückt, ist das Werk der höchsten Ausbildung der Kunst, des reinsten Geschmacks, und der grösten Cultur; […].“ – Vgl. dagegen Schnaase [wie Anm. 20], S. 56 f.

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die Stunde, dass dem Menschen die geistigen Mächte des Lebens kund werden. Die Gottheit offenbart sich ihm, […]. Das Ausserordentliche ist in das Leben des Menschen getreten: – er bereitet dem Gedächtnisse desselben, damit es bleibe, an der Stätte seiner Erscheinung ein festes Mal, – ein Denkmal. […]. Im Denkmal ist ein geistig Empfundenes durch ein sinnliches Mittel dargestellt. Dies ist der Beginn der Kunst. […]. Die ersten Denkmäler, welche errichtet wurden, waren naturgemäss von einfachster Beschaffenheit. Aufgethürmte Erdhügel, aufgerichtete Steinmassen bezeichneten die geweihten Stätten. […] Der grösste Reichthum dieser urthümlichen Denkmäler findet sich im Norden, auch im Westen Europa’s, in den Sitzen der keltischen und der nordgermanischen Volksstämme.“ 22

Angesichts dieser hochspekulativen Erklärungsmodelle wird die wissenschaftliche Überzeugungskraft der Theorien Gottfried Sempers verständlich, die 1860–63 in sein Hauptwerk Der Stil münden: Für seine bekannte Ableitung der Anfänge jeglicher Kunstübung aus einem funktionalen Bedürfnis, auf dessen Realisierung weitere Faktoren wie Material und Technik einwirken, kann er sich auf das Vorbild naturwissenschaftlicher Klassifizierung und auf sprachwissenschaftliche Untersuchungen stützen. Trotz seines Bemühens um „die Urzustände der menschlichen Gesellschaft“ scheint Semper aber von prähistorischer Kunst noch nichts gehört zu haben, die ältesten ihm bekannten Kunstwerke stammen weiterhin aus Ägypten.23 Der Wirkung des häufig vereinfacht rezipierten Semperschen 22 F. Kugler: Handbuch der Kunstgeschichte, Stuttgart 31856, S. 1 f.; vgl. dagegen und ebenfalls mit dem Anspruch, einen Überblick der ,Weltkunstgeschichte‘ in enger Zusammenarbeit mit den neuen anthropologischen Forschungen zu geben, F. Pulszky: Iconographic Researches on Human Races and Their Art, in: J.C.Nott, Geo. R.Glidden (Hg.): Indigenous Races of the Earth, London/Philadelphia 1857, S. 87– 202, hier die Zitate S. 100 und 102. 23 G. Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten …, 2 Bde., Frankfurt a. M./München 1860–1863; das Zitat aus ders.: Die vier Elemente der Baukunst. Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunde, Braunschweig 1851, S. 54; G. Klemm: Allgemein Culturgeschichte der Menschheit, 10 Bde., Leipzig 1843–1852; ders.: Die Werkzeuge und Waffen. Ihre Entstehung und Ausbildung, Sondershausen 1858. – Dazu S. Hildebrand: „nach einem Systeme zu ordnen, welches die inneren Verbindungsfäden dieser bunten Welt am besten zusammenhält“ Kulturgeschichtliche Modelle bei Gottfried Semper und Gustav Klemm, in: H. Karge (Hg.): Gottfried Semper – Dresden und Europa, München/Berlin 2007, S. 237–250.

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Funktionalismus schadet dies nicht – im Gegenteil: 1870 verbindet der Archäologe Alexander Conze in seiner einflußreichen Zusammenschau zu den ‚Anfängen der Kunst‘ im griechischen und nordischen Bereich, die für ihn erst mit der Bronze- und Eisenzeit beginnen, die Thesen Sempers mit neuen Erkenntnissen zur Entwicklung der indo-germanischen Sprachen. So scheinen nicht nur dies- und jenseits der Alpen die Künste ihren „technische[n] Ursprung“ in der Weberei zu besitzen, sondern dies wird nun auf ihre ehemalige „gemeinsame Heimat“ zurückgeführt. Weiterhin gilt auch noch für Conze, daß sich die Kunst aus geometrisch-abstrahierten Anfängen erst langsam zur Naturnachahmung aufschwingt.24 Diese Diskussionsbasis zu den Anfängen menschlicher Kultur und Kunst änderte sich nun mit der Einsicht in die ‚Tiefenzeit‘ der Evolution und die damit einhergehende, richtige Einordnung vorgeschichtlicher Funde in bis dato ungeahnte Zeitenferne radikal: Erste Grabungen und Publikationen zu prähistorischen Relikten und Werkzeugen setzten mit den 1830er Jahren durch den Amateur-Forscher Jacques Boucher de Perthes ein, sie gipfelten 1857 in seinem Hauptwerk der Antiquités celtiques et antédiluviennes.25 Die ersten Überreste von Versuchen dieser Urmenschen, Ritzzeichnungen

24 A. Conze: Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst, Wien 1870, hier S. 18 und 25 die Zitate, und eine Ergänzung unter demselben Titel, Wien 1873; einen Kontrast der scheinbar ‚geometrischen‘ Anfänge der Urkunst und den ‚primitiven‘ naturalistischen Bildwerken amerikanischer Indianer konstatiert D. Wilson: Prehistoric Man, London 1862 [zit. 31875, Bd. 1, S. 356 f.]. 25 J. Boucher de Perthes: Antiquités celtiques et antédiluviennes, 3 Bde., Paris 1847– 1864; vgl. auch Boucher de Perthes [wie Anm. 7] zu seinen Publikationen seit den 1830er Jahren. Neben den vielen Legenden zu urzeitlichen Objekten (É. Cartailhac: L’âge de la pierre dans les souvenirs et les superstitions populaires, Paris 1877) schrieb allerdings bereits im späten 16. Jh. Michele Mercati in seiner erst 1717 gedruckten Metallotheca die Feuersteinobjekte richtig den „ältesten Menschen“ zu. Die erste entscheidende Übersicht zu diesen ,Vorläufern‘ und Boucher de Perthes’ Bedeutung von E.-Th. Hamy: Précis de paléontologie humaine, als Anhang zu: George Lyell: L’ancienneté de l’homme prouvée par la géologie …, Paris 21870 (dann als eigenständiges Buch noch im gleichen Jahr, Paris 1870); Laming-Emperaire [wie Anm. 8]; Cohen, Hublin [wie Anm. 7].

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auf Steinen und Knochen herzustellen, aber auch kleine Statuetten ließen dann nicht lange auf sich warten. Die enthusiastischen Reaktionen darauf führten zunächst zu einer Semper diametral entgegengesetzten Sicht auf Kunst als Wesensmerkmal und zweckfreiem ‚Schmuck- und Schönheitstrieb‘ des Menschen: „Mithin ist der ersten Entwicklung der materiellen Civilisation die Kunst vorhergegangen. Von dieser Urperiode an hat sich der Mensch als Künstler und Kenner des Schönen gezeigt, wiewohl er noch keineswegs aus dem wilden Leben geschieden war. Und diese göttliche Fähigkeit, mit welcher der Herr ihn ausstattete, als er in ‚zu seinem Ebenbilde‘ schuf, war zuerst in ihm wach geworden, bevor er noch das Bedürfnis verspürt hatte, seine harten Lebensverhältnisse zu bessern.“ 26 Den

26 Entscheidend die Publikation Lartet, Christy [wie Anm. 8]; das Zitat von F. Lenormant: Die Anfänge der Kultur, Bd. 1: Vorgeschichtliche Archäologie. Ägypten, Jena 1875 (frz. 1873; darin S. 46–115: „Die Denkmäler der neolithischen Periode. Erster Gebrauch der Metalle und ihre Einführung im Westen“; dieses Kapitel zuerst in: Gazette des Beaux-Arts, 23, Dez. 1867, S. 499–523); vgl. H. Le Hon: L’homme fossile en Europe. Son industrie, ses mœurs, ses œuvres d’art, Brüssel/Paris 1868, S. 70 zur ersten, 1864 von Lartet und Christy publizierten prähistorischen Ritzzeichnung: „Cette précieuse relique […] nous prouve que l’art est aussi ancien que notre race et que de tout temps, même dans l’état sauvage, il s’est rencontré des organisations spéciales, aptes à être vivement impressionnées et à reproduire leurs impressions avec une justesse qui parfoit nous étonne.“ Schnaase [wie Anm. 19], S. 50: „Auch die Kunst gehört zu den nothwendigen Aeusserungen der Menschheit; ja man kann vielleicht sagen, dass in ihr der Genius der Menschheit sich noch vollständiger und eigenthümlicher ausspreche, als in der Religion selbst, weil in dieser immerhin die Form des Gedankens oder doch des vergeistigten Gefühls vorherrscht, während in der Kunst auch die sinnliche Natur vollkommen mit augenommen und befriedigt ist. Kein Volk ist daher auch ganz ohne Kunst, sie findet sich unbewusst ein; aber freilich sind bei Weitem nicht alle Völker im Besitze der ganzen Kunst oder aller Künste, […].“ M. Carriere: Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwicklung und die Ideale der Menschheit, 2 Bde., Leipzig 1871, Bd. 1, S. 124: „Religiöses Gefühl, sittliche Begriffe in der Unterscheidung von gut und böse, das Gewissen, ein aufdämmerndes Streben nach Erkenntnis in der Deutung der Erscheinungen und ihres Zusammenhangs in der Welt bilden neben dem Sinn fürs Schöne so sehr die Grundlage alles Menschlichen, daß wir sie bei allen Naturvölkern entdecken.“ Schließlich am dezidiertesten W. Bölscher: Die Abstammung der Kunst, Stuttgart 1926.

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„Zweck dieser Bilder […] muß [man] sich […] aus ihnen selbst zu beantworten suchen. Eine Bilderschrift können sie gewiß nicht vorstellen, weil die einzelnen Bilder offenbar ohne alle Beziehung zu einander stehen. […] Wahrscheinlich sind sie die zufälligen Produkte momentaner Regungen eines künstlerischen Dranges, und vielleicht sind sie bei Gelegenheit großer Versammlungen […] nur zum Vertreib der Zeit entstanden.“ 27 Entscheidende Bestätigung schien diese Position eines l’art pour l’art auch aus dem Umstand zu ziehen, daß Bildwerke in chronologischen Strata neben und noch vor dem Auftauchen von Ornamenten nachzuweisen waren, also auch hier die ältere Vorstellung, wonach sich der künstlerische Trieb der Menschen zunächst an ornamentalem Schmuck (seinerseits mit funktionalen Reminiszenzen) und erst später an Figürlichem versucht habe, falsifiziert war. Diese Reihenfolge zeigte sich exemplarisch auch in der Höhle von Altamira: Deren Malereien umfassen nur ganz wenige, kaum entwickelte ornamentale Formen.28 Die bei allem Finderglück weiterhin mehr als spärlichen Kenntnisse in praktisch allen Bereichen über die menschlichen Vorfahren der Steinzeit versuchten die Forscher dabei durch ein Verfahren auszugleichen, das bereits im 18. Jahrhundert erprobt worden war, nun aber spätestens 1862/65 mit David Wilsons Prehistoric Man und John Lubbocks Prehistoric times, as illustrated by ancient remains and the manners and customs of modern savages, wo es schon im Titel ankündigt wurde, weite Verbreitung fand.29 Gemeint ist das Verfahren der ethnographischen Parallelen, bei dem die 27 W. Baer: Der vorgeschichtliche Mensch, Leipzig 1873–74, Bd. 1, S. 147 f. zur Entdeckung von alten Felsmalereien an der Südspitze Afrikas, die in seiner Argumentation als ethnographische Parallele die vorgeschichtliche Kunst erhellen sollen. 28 Zusammenfassend dazu Hoernes [wie Anm. 10], S. 24–61. 29 Dazu Rykwert [wie Anm. 1], S. 136 f.; Kohl [wie Anm. 15]; Laming-Emperaire [wie Anm. 8], S. 86–90; S. Hansen: Von den Anfängen der prähistorischen Archäologie. Christian Jürgensen Thomsen und das Dreiperiodensystem, in: Prähistorische Zeitschrift, 76, 2001, S. 10–23; A. B. Kehoe: The Invention of Prehistory, in: Current Anthropology, 32, 1991, S. 467–476; A. B. Stahl: Concepts of time and approaches to analogical reasoning in historical perspective, in: American Antiquity, 58, 1993, S. 235–260.

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Verhältnisse der ‚primitiven Völkern‘ der jetzigen Welt in erklärende Analogie zu den vermuteten Verhältnissen des vorgeschichtlichen Europas gesetzt wurden. Die ‚Anfänge der Kultur und Kunst‘ ließen sich so aus vergleichenden Studien der Vorzeit, der Primitiven und letztlich auch der Kinder erhellen, alles drei Repräsentanten eines ‚anfänglichen Denkens‘ – allerdings ergab sich damit letztlich auch die Konsequenz, daß nun eine ganz neue Form über Europa hinausreichender ‚Weltkunstgeschichte‘ zu betreiben war.30 Ein deutschsprachiges Resümée dazu lieferte etwa Carus Sterne alias Karl Kraus in seinem vielgelesenen Buch Natur und Kunst. Studien zur Entwicklungsgeschichte der Kunst von 1891: „Es finden sich […] zweierlei ziemlich gleichwerthige Gelegenheiten, die ersten Aeußerungen des Kunsttriebes beim Menschen zu beobachten, nämlich einerseits bei den heute noch auf niederer Stufe verharrenden Naturvölkern und andrerseits in den hinterlassenen Fußstapfen des prähistorischen Menschen fast seit den ältesten Zeiten seines Auftretens. Soweit der Letztere Spuren künstlerischer Bethätigung zurückgelassen hat, sind seine Leistungen denen noch heute lebender uncivilisierter Völker so ähnlich, daß beide sich gegenseitig erläutern […].“ 31 Entscheidend war für dieses Theoriemodell jedenfalls, die „uncivilisierte[n] Völker“ außerhalb Europas nicht mehr wie bislang als Resultat eines ‚Dekadenz-Prozesses‘ (ehemals höher entwickelter Kulturen) zu begreifen, sondern eine bei allen Menschen prinzipiell einheitlich verlaufende ‚kulturelle Evolution‘ anzunehmen, die bei diesen Völkern aufgrund ungünstiger Faktoren gleich zu Beginn stehen geblieben oder doch zumindest im Vergleich zu Europa stark verlangsamt worden war. Aus dieser Konstellation resultierte dann ab den 1860er Jahren eine wahre Flut von Publikationen zur Urgeschichte des Menschen und den Anfängen der Kultur.32 30 Zum neuen Interesse an Kinderkunst E. Pernoud: L’invention du dessin d’enfant en France, à l’aube des avant-gardes, Paris 2003; zu den Dynamiken für ‚Weltkunstgeschichts‘-Forschung um 1900 s. U. Pfisterer: Origins and Principles of World Art History – 1900 (and 2000), in: K. Zijlmans, W. van Damme, World Art Studies, Leiden 2008 (im Druck). 31 Sterne [wie Anm. 16], S. 135 f. 32 Neben den hier in anderen Anmerkungen zitierten Titeln etwa Otto Caspari:

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Wer dagegen nicht bereit war, einen dem Menschen von seinem Uranfang an innewohnenden künstlerischen Impuls zuzugestehen oder zumindest die Produkte nicht gleich als ‚vollwertige Kunst‘ anzuerkennen, für den zeichneten sich drei Strategien ab, die neu gefundenen prähistorischen Bildwerke mit weniger radikalen Denkmodellen in den Griff zu bekommen: Zunächst ließen sich bei allem Staunen über das Alter der Objekte die eingeritzten Umrißzeichnungen in Stein und Knochen, die teils mehrere Tierfiguren einfach übereinander blendeten, wie auch die kleinen Bein-Figürchen mit ihren überzeichneten Proportionen letztlich doch als ‚primitiv‘ charakterisieren, mangelhaft in ihrer Mimesis und damit zumindest einer der bisherigen a priori-Forderungen an die ‚Anfänge der Kunst‘ entsprechend.33 Die Entdeckung Altamiras 1879/80 und der anderen prähistorischen Höhlenmalereien mit ihrem überraschenden technischen und mimetischen Niveau entzog diesem Argumenten schlagartig Die Urgeschichte der Menschheit mit Rücksicht auf die natürliche Entwicklung des frühesten Geisteslebens, Leipzig 1873, 2 Bde.; A. Rauber: Urgeschichte des Menschen. Ein Handbuch für Studierende, Leipzig 1884, 2 Bde. (mit Kapiteln zu Werkzeugen, Keramik, Bekleidung und Schmuck usw.); A. de Quatrefages de Bréau: Hommes fossiles et hommes sauvages: étude d’anthropologie, Paris 1884; H. du Cleuziou: La Création de l’Homme et les Premiers Ages de l’Humanité, Paris 1887 (mit vielen Abb.); M. Hoernes: Urgeschichte des Menschen, 1892; Ph. Salmon: L’âge de la pierre, Paris 1894. – Vgl. St. Cartier: Licht im Dunkel des Anfangs. Studien zur Rezeption der Prähistorik in der deutschen Welt- und Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Herdecke 2000. 33 Vgl. die unterschiedlich gewichteten Urteile etwa von Fraas [wie Anm. 8], hier S. 463 f. zu den „ersten und rohesten Kunstdenkmale[n], eingravierte[n] Thierfiguren auf Knochen und Geweihstücken von Rennthier und Riesenhirsch“; F. Ratzel: Vorgeschichte des europäischen Menschen, München 1874, S. 69–73; N. Joly: Der Mensch vor der Zeit der Metalle, Leipzig 1880, S. 343–373 unter der Überschrift „Die schönen Künste“, hier v. a. S. 344 und 362: „Einige dieser Werke, die in den Augen eines ungebildeten und unwissenden Beschauers einen höchst zweifelhaften Werth haben, aber für den Mann der Wissenschaft, den Kunstkenner und namentlich auch für den Künstler unberechenbare Schätze sind, wollen wir näher betrachten. […] Trotz ihrer augenfälligen Mängel haben diese Zeichnungen, diese Sculpturen unserer ältesten Künstler dennoch nicht die Steifheit der ägyptischen Bilderwerke der ersten Dynastien.“

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allen Boden – weshalb eben die Akzeptanz dieser Malereien der Forschung teils so schwer fiel. Für die nun noch irritierendere, ‚hochstehende‘ Kunstübung der ‚primitiven‘ Urmenschen wurde daraufhin als Unterschied etwa zum naturbeobachtenden Realismus des 19. Jahrhunderts festgestellt: Sie zeige noch keinerlei Phantasie-Leistung, sondern manifestiere allein ein vollkommen naiv nachahmendes Abbilden des in der Natur Gesehenen (wie es so nur zum Moment des absoluten Anfangs und ohne jede Vorgabe einer Bildtradition denkbar ist).34 Als wirkungsvollstes Argument, die prähistorischen Bildwerke aus dem Bereich der Kunstgeschichte zu entfremden, erwies sich aber die Funktionsfrage. Denn anstelle der ursprünglich favorisierten Erklärung als l’art pour l’art im Sinne eines spontanen Hervortretens eines allgemeinmenschlichen, spielerischen Kunsttriebs traten nun zunehmend Überlegungen, die diesen ersten Bildwerken Intention und Status von ‚reiner Kunst‘ absprachen. Sie wurden nun vielmehr als eine Form von Bilderschrift (ein alter, bereits mit Blick auf die ägyptischen Hieroglyphen diskutierter Gedanke) oder aber und häufiger als Objekte

34 Marquis de Nadaillac: Die ersten Menschen und die prähistorischen Zeiten mit besonderer Berücksichtigung der Urbewohner Americas, hrsg. von W. Schlösser, E. Seler, Stuttgart 1884 (diese teils wesentlich umgearbeitete Übersetzung zieht zwei Bücher Nadaillacs zusammen: Les premiers hommes et les temps préhistoriques, Paris 1881, 2 Bde. und L’Amérique préhistorique, Paris 1883), S. 28: „Auch ist zu bemerken, dass diese Höhlenbewohner bei ihren künstlerischen Versuchen sich niemals von dem Spiel einer regellosen Phantasie hinreissen liessen, sondern sich im Gegentheil damit begnügten, einfach das zu kopieren, was sie vor Augen hatten.“ Die ‚absolute Anfangssituation‘ der Steinzeit-Kunst, aber auch ihr scheinbares ‚Ende‘ mit der radikalen Ablösung durch die geometrische Bildgestaltung ab der Bronzezeit faßt Salomon Reinach im abgewandelten Ovid-Zitat vom „proles sine matre creata, mater sine prole defuncta“ zusammen (zit. nach H. Driesmans: Der Mensch der Urzeit, Stuttgart 1907, S. 33). – Vgl. dagegen etwa E. B. Tylor: Einleitung in das Studium der Anthropologie und Civilisation, Braunschweig 1883 [zuerst engl. 1881], S. 359–361: „Auch die beiden anderen schönen Künste, die Bildhauerkunst und die Malerei, haben ihren Ursprung in dem Einbildungsvermögen oder der Phantasie. Das, was der Künstler darstellen will, ist nicht die genaue Nachahmung eines Gegenstandes, sondern der Ausdruck einer Idee, welcher den Beschauer fesselt.“

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der Bildmagie, ritueller und kultischer Praktiken verstanden – es ginge bei ihnen also gar nicht primär um Ästhetik, sondern um eine Botschaft oder wahrscheinlicher: um ihre Wirkkraft.35 Die sich hier abzeichnende Tendenz zur Ausgrenzung aus dem Bereich der ‚Kunst‘ wurde schließlich noch dadurch verstärkt, daß selbst die wenigen Kunsthistoriker, die sich mit ‚Kernfragen‘ des Faches beschäftigten und die Bedeutung der prähistorischen Kunstobjekte erkannten, es meistenteils versäumten, das neuen Material nachdrücklich in die Fach-Diskussion einzubringen. Selbst Alois Riegl, der zu Beginn seiner Stilfragen 1893 auf neun Seiten (bezeichnenderweise jedoch im Kapitel „Der geometrische Stil“) die Erkenntnisse zu den Stein- und Knochen-Bildern der „Troglodyten“ resümierte, wollte damit nur gegen die „technisch-materielle Entstehung der Künste“ à la Semper argumentieren, erklärte aber ansonsten diese „Kunsterzeugnisse als außerhalb des Rahmens seiner geschichtlichen Darstellung stehend“.36 35 Bilderschrift: K. von den Steinen: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Reiseschilderung und Ergebnisse der Zweiten Schingú-Expedition 1887–1888, Berlin 1894, Kap. XI ‚Die Kunst‘ (zit. 21897, S. 230–265); É. Piette: Les galets colories du Masd’Azil, in: L’Anthropologie, 7, 1896, S. 385–427. – Apotropäische oder beschwörende Bildmagie, wie sie v.a. im Gefolge der Arbeiten von J. G. Frazer (Totemism, 1887; Golden Bough, ab 1890) sowie H. Hubert und M. Mauss (Théorie générale de la Magie, 1902–03) entstanden: S. Reinach: L’art et la magie à propos des peintures et des gravures de l’âge du renne, in: L’Anthropologie, 14, 1903, S. 257–266; E. Löwy: Ursprünge der bildenden Kunst, in: Akademie der Wissenschaften in Wien. Almanach für das Jahr 1930, 80, 1930, S. 275–295 und dann ab 1930 v. a. die Arbeiten von M. Raphael, Prähistorische Höhlenmalerei. Aufsätze – Briefe, hrsg. von W. E. Drewes, Köln 1993. – Analysierend J. Halverson: Art for Art’s Sake in the Paleolithic, in: Current Anthropology, 28, 1987, S. 63–89; N. Richard: De l’art ludique à l’art magique. Interprétations de l’art parietal au XIX é siècle, in: Bulletin de la Société Préhistorique Française, 90/1–2, 1993, S. 60–68; M. Weissl: Löwys These von den Ursprüngen der bildenden Kunst, in: F. Brein (Hg): Emanuel Löwy – ein vergessener Pionier (Kataloge der Archäologischen Sammlung der Universität Wien, Sonderheft 1), Wien 1998; R. White: Prehistoric Art. The symbolic journey of humankind, New York 2003, S. 20–61; zur Vorgeschichte apotropäischer Bilddeutung R. Schlesier: Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800, Frankfurt a. M. 1994, S. 42–61. 36 A. Riegl: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Wien 1893, S. 16–24.

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Erste Bilder von ersten Künstlern Es gab freilich noch andere Möglichkeiten, Entstehung und Wesen dieser neuartigen ‚ersten Kunstwerke‘ konzeptuell an bisherige gängige Vorstellungen ‚anschlußfähig‘ zu machen – auf visueller Ebene nämlich. Wie dies geschah, kann die wohl früheste graphische Rekonstruktion einer Gruppe von Urzeit-Künstlern durch Émile Bayard demonstrieren. Die Illustration war als Holzstich dem sehr erfolgreichen Buch Louis Figuiers: L’homme primitif, beigefügt, das zwischen 1870 und Anfang der 1880er Jahre fünf französische Auflagen und zudem Übersetzungen ins Englische und Italienische durchlief: Begleitet von der Bildunterschrift „Die Vorläufer Raffaels und Michelangelos, oder: Die Geburt der Künste der Zeichnung und Skulptur im Rentier-Zeitalter“ sieht man drei Männer in Felslandschaft, von denen der vorderste sitzend die Zeichnung eines Rentiers oder Hirsches in ein kleines Knochenstück einritzt, dahinter scheint ein zweiter Künstler ein weiteres Rentier aus Ton (?) zu modellieren – zumindest spricht seine Handhaltung mehr für Modellierstab denn Schnitzmesser –, schließlich kratzt ein dritter (wie an einer Staffelei stehend) ein weiteres Rentier in Umrißlinien auf ein Stück glatten Steins, das in Augenhöhe an einer Felswand aufgestellt ist (Abb. 4).37 Die Abbildungen auf der vorausgehenden und nachfolgenden Seiten zeigen entsprechende, tatsächliche

37 L. Figuier: L’homme primitif, Paris 1870, S. 131, fig. 67, zur Kunst S. 126–136; diese Tafel – wie viele andere von Bayard/Figuier auch – wiederverwendet in Baer [wie Anm. 27]; s. C. Blanckaert: Les bases de la civilisation. Lectures de l’homme primitif de Louis Figuier (1870), in: Bulletin de la Société Préhistorique Française, 90, 1993, S. 31–49. – Zur Erfindung des prähistorischen „Tafelbildes“ vgl. É. Piette: L’art pendant l’âge du renne: la question de la domestication des animaux, in: Compte-rendue, Congrès Internationale Anthropologique X, Paris 1889, S. 159–161 und 167– 171, hier S. 159 f., und das Zitat daraus bei Hoernes [wie Anm. 10], S. 41. – Zur ‚Bildgeschichte des Urmenschen‘ S. Moser: Ancestral Images. The Iconography of Human Origins, Ithaca (NY) 1998; Venus et Caïn [wie Anm. 1]; M. P. Gindhart: A pinacothèque préhistorique for the Musée des Antiquités Nationales in Saint-Germain-en-Laye, in: Journal of the History of Collections, 19, 2007, S. 51–74 (alle mit weiterer Lit.).

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Fundstücke von Tierknochen und Steinplatten mit Ritzzeichnung (allerdings keine beweglichen Tonplastiken 38), die in Verbindung mit den zugehörigen Erläuterungen der rekonstruierten Szene historische Wahrscheinlichkeit verleihen sollen, die ihrerseits im Text mit keinem Wort kommentiert wird. Wichtige Anregung für diese Visualisierung des absoluten Ursprungs der Kunst und mit großer Wahrscheinlichkeit auch Referenzhorizont für einen Gutteil der zeitgenössischen Betrachter scheint dabei die einzige Themenstellung gewesen zu sein, bei der schon zuvor ein halbwegs vergleichbarer ‚primitiver Anfang‘ der Kunst verbildlicht worden war: also nicht eine der mythischen Erfindergestalten (Tocher des Dibutades usw.), sondern die legendäre Entdeckung des kleinen Ziegenhirten Giotto beim Abzeichnen seiner Tiere durch Cimabue. In diesem spätestens seit Vasaris Viten allgemein bekannten und in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts mehrfach dargestellten Beispiel geht es ebenfalls um eine angeborene, wenngleich außergewöhnliche mimetische Begabung ohne Ausbildung, die zu einem ‚(Neu-)Anfang‘ der Kunst führte (Abb. 5).39 Entsprechend erscheint nun das Tun der Urzeit-Maler und -Skulpteure als ‚Kindheit der Kunst‘ und als instinktiver mimetischer Impuls, der zu erstaunlichen, wenngleich noch zu keinen künstlerisch vollgültig durchgearbeiteten Produkten führte. (Die seit Aristoteles kursierende und etwa von Winckelmann prominent aufgegriffene Vorstellung vom angeborenen Nachahmungs-Trieb, der sich gleichermaßen, wenn nicht sogar zuerst im Modellieren zeigt, scheint primär auch für die Darstellung des Tonplastikers verantwortlich – neue prähistorische Funde und ethnographische Beobachtungen, die auf ein tatsächlich höheres Alter plastischer Kunst zu deuten schienen, wurden dagegen erst einige Jahre später gemacht.40). Schließlich könnte auch die 38 Aus Lehm am Boden modellierte Tiere in der Höhle von Tuc d’Audoubert und in der Höhle von Montespan wurden erst später gefunden. 39 P. Goergel, A.-M. Lecoq: La peinture dans la peinture, Dijon 1982, S. 127; U. Pfisterer: Erste Werke und Autopoiesis, in: ders., M. Seidel (Hg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der Renaissance, München/Berlin 2003, S. 263–302, hier S. 264–267. 40 Aristoteles: Poetik, 1448b; Philostrat: Leben des Apollonius von Tyana, II, 22; J. J. Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764, S. 4. – Hoernes

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Bildunterschrift programmatisch zu verstehen sein, stellt sie doch noch eine weitere, zunächst überraschende und enge Verbindung zwischen den Urzeit-Künstlern und dem Höhepunkt der Kunst unter Michelangelo und Raffael her, wogegen Figuiers Leser zunächst doch wohl viel eher ihre eigene Malerei und Skulptur (teils im Stil der Neo-Renaissance) in Bezug zur Hochrenaissance gesehen haben dürften. Allerdings regten sich in den Jahren unmittelbar vor Publikation des L’homme primitif 1870 Stimmen, die unter dem Schlagwort der naïveté stellvertretend Michelangelos Werke positiv mit denen von ‚Primitiven‘, mit einheimischer Volkskunst und mit Kinderzeichnungen verglichen – im Sinne einer ‚echten‘, unmittelbar empfundenen Kunst-Äußerung. Dagegen wurde die historistische ‚HochKunst‘ des 19. Jahrhunderts für ihre reflektierte Künstlichkeit getadelt und unter anderem ein neuer ‚einfach-naturalistischer‘ Malstil à la Courbet verteidigt.41 Die Aussage unserer Illustration läßt sich also wohl noch dahingehend präzisieren, daß die prähistorische Bildnerei zwar künstlerisch noch in ihren Anfängen stecken mochte, der künstlerische Impuls der Urzeit-Menschen als solcher aber aus tiefstem Wesensinneren kam, voll entwickelt, hochbedeutsam und damit dem Schaffen Raffaels und Michelangelos aufs engste vergleichbar war.

[wie Anm. 10], S. 49: „Der Hauptwerth der Höhlenforschungen Piette’s beruht auf dem Nachweise, dass am Anfange der bildkünstlerischen Entwicklung, wenigstens an einem Punkte […], nicht das geometrische Ornament, nicht die naturalistische Thierzeichnung, nicht einmal die rundgebildete Thierfigur, sondern die plastisch ausgeführte Menschenfigur zu finden ist“; Riegl [wie Anm. 36], S. 1 f.; K. von den Steinen [wie Anm. 35], S. 251: „Die Kunst der Indianer, körperliche Formen nachzuahmen, ist ungleich weiter fortgeschritten als die der Zeichnung.“ 41 Zu Michelangelo und Kinderzeichnungen R. Töpffer: Réflexions et menus-propos d’un peintre Génevois …, Paris 1848, S. 254 f.; zu Volkskunst, ‚Wilden‘ und Michelangelo Champfleury (J. Fleury): Histoire de l’Imagerie Populaire, Paris 1869, S. xii; diese Quellen und die Relevanz für Courbet behandelt M. Schapiro: Courbet and Popular Imagery. An Essay on Realism and Naïveté, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 4, 1941/42, S. 164–191; vgl. auch Küster [wie Anm. 1], S. 56– 77. – Noch das Titelblatt zu Bölsche [wie Anm. 26] zeigt einen prähistorischen ‚Schnitz-Künstler‘ vor dem Moses Michelangelos.

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Überraschenderweise wurde in der zweiten, bereits Ende 1870 erschienenen und grundlegend überarbeiteten Ausgabe von Figuiers Werk dann just diese offenbar so intensiv konzipierte Künstler-Episode ans Ende des Buches verschoben (als fig. 226 stand sie nun für „Les arts du dessin et de la sculpture à l’époque du bronze“). Die anstelle dessen neu eingefügte Szenerie des ,Anfangs der Künste‘ präsentiert sich tiefgreifend verwandelt (Abb. 6). Man glaubt sich auf den ersten Blick in eine sommerliche Polaroder Tundra-Landschaft mit Zelt und drei Eskimos versetzt, von denen der vorderste und prominenteste Werkzeuge, insbesondere Nadeln, aus Rentier-Geweih fertigt, dahinter modelliert ein weiterer Bewohner ein kleines freistehendes Rentier aus immer noch nicht genauer bestimmbarem Material, im Hintergrund blicken wir schließlich einem in Pelz Gehüllten über die Schulter, der eine Steinplatte mit Ritzungen versieht – eine bereits vollendete Steinplatte mit der Zeichnung eines Urpferdes ist zudem ganz im Vordergrund abgelegt. Dieser Austausch geht auf das Bestreben zurück, die Illustration zu ‚verwissenschaftlichen‘: Der Giotto-Bezug und damit die zu augenfälligen topischen und a-historischen Vorstellungen vom angeborenen Nachahmungstrieb der Menschen in der ersten Auflage wurden ersetzt durch eine hochaktuelle ‚ethnographische Parallele‘ zu zeitgenössischen ‚Primitiven‘ der Polargegenden, deren Lebensumstände der damaligen Spät- und Nach-Eiszeit und deren bildnerischen Versuchen im „rohen Eskimostyl“ der Urzeit-Kunst am nächsten zu kommen schienen – ein Vergleich, den Figuier selbst im Vorwort als Grund für die radikale Umarbeitung seines Buches nennt und der sich just in den frühen 1870er Jahren allgemein etablierte, allerdings insofern kontrovers diskutiert wurde, als einige Forscher die Parallele nur als Analogie verstanden, andere dagegen die Polarvölker als tatsächliche Nachfahren der Urmenschen verstanden.42 42 Ausschlaggebend für Figuier, der bereits in der Erstausgabe 1870, S. 111 mit einem Satz auf die ähnlichen Näh-Werkzeuge der Lappen hinweist, war nach eigener Aussage die Publikation von F. Pruner-Bey: Anthropologie de Solutré, Macon 1869 (dazu A. Roussot: Aryen ou Lapon? L’homme primitif vu par Louis Figuier en 1870, in: Venus et Caïn [wie Anm. 1], S. 76–83). Für die Visualisierung der ,ersten Künstler‘ dürften jedoch zwei andere Publikationen entscheidende Anregungen gegeben haben: einerseits Lartet, Christy [wie Anm. 8], S. 127–141, die den Vergleich

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Wieder liefert Karl Kraus alias Carus Sterne eine konzise Zusammenfassung: „[Man] findet […] glücklicherweise in der Jetztzeit einige Menschenstämme, welche in ganz ähnlicher Weise ihre Waffen und Geräthschaften gerne mit derartigen, der heimischen Tierwelt entlehnten figürlichen Ornamenten verzieren, wie es die Bewohner Südfrankreichs und Mitteleuropas zur Renthierzeit zu thun gewöhnt waren. Von ihnen sind die Eskimos die wichtigsten, weil sie nicht nur in Gegenden wohnen, die heute ein ähnliches Klima haben, wie Mitteleuropa in den in Rede stehenden Zeiten, sondern auch in ähnlicher Weise ausschließlich von Jagd und Fischfang leben, wie jene Menschen der älteren Steinzeit, ja sogar gewisse thierische Vorbilder für ihren Kunsttrieb mit denselben gemein haben, wie z. B. das Renthier, den Moschusochsen, Bären u.a. Wir können also […] die beiderseitigen Leistungen unmittelbar miteinander vergleichen, und dabei stellt sich dann eine so große Ähnlichkeit und Uebereinstimmung heraus, daß einzelne Forscher gemeint haben, die Renthier-Franzosen müßten demselben Stamme angehört

hinsichtlich des gemeinsamen Gebrauchs von Beinnadeln, wie sie in Figuiers Abbildung im Zentrum gefertigt werden, nur im Sinne einer Analogie verstanden, und andererseits Hamy [wie Anm. 25], S. 355–367, der mit aller Vorsicht tatsächliche Verbindungen sieht und u. a. auf den Kunststil und speziell die naturnahen Ritzzeichnungen von Tieren verweist; möglicherweise auch wichtig M. E. Dupont, Les temps préhistoriques en Belgique. L’homme pendant les âges de la pierre dans les environs de Dinant-Sur-Meuse, Brüssel 21872, S. 81, S. 93 f., 142 f. und 186 f., den Figuier in anderem Zusammenhang wenig später zitiert. – Vgl. allerdings schon die Bemerkung von Fraas [wie Anm. 8], S. 465: „Besondere Erwähnung verdienen endlich die Kunstwerke auf Rennthiergeweihen, gleichfalls von Langerie-basse. Fünf Stück sind […] vorgelegt worden, mit den erkennbaren Reliefs von Stier (Auerochs), Esel oder Pferd, Rennthier, Hirsch und Fisch, Arbeiten, die etwa an den rohen Eskimostyl erinnern.“ Bei Baer [wie Anm. 27], S. 146–151 Abbildungen von gut vergleichbaren Tierskulpturen aus Sibirien; Parallelen zu Bildwerken von den Aleuten und der Buschmänner bei Ratzel [wie Anm. 33], S. 72. – Eine forschungsgeschichtliche Zusammenfassung der in den Jahrzehnten um 1900 entwickelten Theorien, die die Kunst der Eskimos als nächste Parallele und teils direkte Nachkommen paläolithischer Bildnerei sahen, bei F. de Laguna: A Comparison of Eskimo and Paleolithic Art, in: American Journal of Archeology, 36, 1932, S. 477–511, hier v. a. S. 478–481, und 37, 1933, S. 77–107, allerdings mit lückenhafter Literatur-Kenntnis, so daß de Laguna als einzigen Ausgangspunkt dieses Vergleichs W. Boyd Dawkins: Esquimaux in the South of Gaul, in: Saturday Review, 6. Dez., London 1866 anführt, obwohl er sich neben den deutschsprachigen Beiträgen etwa bereits prominent 1862 bei Wilson [wie Anm. 24], S. 44 und 341–343 findet.

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haben, gewissermaßen selbst Eskimos gewesen sein. […] Allein die neuere Forschung hat ergeben, daß die Annahme der alten turanisch-mongolischen Bevölkerung Europas auf falschen Voraussetzungen und Schlüssen beruhte, daß Europa seit den ältesten Zeiten von hochgewachsenen arischen Stämmmen bewohnt gewesen ist, […]. Dagegen glichen die Renthierfranzosen […] in ihrer Kulturstufe und Lebensweise letzteren [den ‚Eskimos‘] so vollkommen, daß sich daraus die Aehnlichkeit der Aeußerungen ihres beiderseitigen Kunsttriebs völlig befriedigend erklärt.“ 43

Insgesamt bleibt jedoch für alle Auflagen von Figuiers Entwicklungsgeschichte des fossilen Menschen die ‚Semper-Doktrin‘ insofern wirksam, als die ‚zweckfreien‘ Künste der Zeichnung und Skulptur erst am Übergang zur zweiten Kulturphase, eben der „Époque du renne“, auftreten (gleichzeitig mit den Anfängen des Hausbaus), wogegen die aus der Notwendigkeit geborene, ‚nützliche‘ Kunst des Töpferns angeblich bereits in der vorausgehenden „Epoche des großen Höhlenbären“ erfunden worden war (neben der Stein- und Knochenbearbeitung und der Herstellung von Schmuck) (Abb. 7).44 Nochmals ganz deutlich wird an dieser Beispielreihe auch, in welchem Maße selbst bei Darstellungen, die dem archäologischen Befund verpflichtet sind und diesen in Text und Bild zur Authentifizierung heranziehen, spekulative Theorien und Mythen wirkmächtig blieben. Die nächstfolgenden Verbildlichungen prähistorischer Künstler auf der Pariser Weltausstellung von 1889 müssen an dieser Stelle übergangen werden, ihre Bedeutung wird erst im letzten Kapitel deutlich. Aufschlußreich scheint dagegen der Vergleich zweier kurz nach 1900 im Abstand weniger 43 Sterne [wie Anm. 16], S. 142 f. 44 Figuier [wie Anm. 37], S. 57, fig. 17 „Le premier potier“, und der Kommentar im Geiste Sempers, allerdings um den ausgrabungsarchäologischen ,Beweis‘ ergänzt, S. 55 f. – Diese Entwicklungslogik sorgt offenbar auch dafür, daß Figuier die Steinritzzeichnung eines Höhlenbären (S. 84f., fig. 36), die als am Ende der Höhlenbären-Epoche entstanden galt, nicht als den eigentlichen Beginn der Bildkünste herausstellt, sondern als singulären Vorläufer ,wegerklärt‘; den Hausbau sieht Figuier dagegen anders als Semper erst in der Rentier-Zeit verwirklicht, vgl. S. 103, fig. 40 „Vue de l’abri sous roche de Bruniquel, habitation de l’homme à l’époque du renne“. – Eine kurze Zusammenfassung des frühen Streits und der Argumente um die Datierung der ersten Töpferprodukte, die etwa Mortillet und Cartailhac (zurecht) erst in die Jungsteinzeit datieren wollten, gibt Joly [wie Anm. 33], S. 364–373.

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Jahre erschienener Titelbilder zu populären Büchern über die Vorzeit, beide zeigen frühe Rekonstruktionen von Höhlenmalern bei der Arbeit: das erste gehört zu Wilhelm Bölsches 1909 publiziertem, erstem Band von Der Mensch der Vorzeit, das andere, ein zweifarbiger Holzschnitt in Schwarz und Rot, ziert Friedrich Behns schmales Heft Der Mensch der Urzeit von 1913 (Abb. 8, 9).45 Bölsches ‚naturalistische‘ Illustration basiert noch ganz auf der Vorstellung von prähistorischer Kunst als l’art pour l’art, indem sie das staunend-freudige Interesse einer Höhlen bewohnenden (?) Sippe an den Bildschöpfungen ihres künstlerisch begabten Mitgliedes entwirft. Auch bei Behn dürfte das Rentier in Rot an der Felswand wohl nicht als Ritzzeichnung, sondern tatsächlich als farbige Malerei zu verstehen sein – wie der nachfolgende Text dann erläutert: „Zu alles überragender Höhe aber erhebt sich das Können der Künstler, die in den Höhlen der Pyrenäen, in Marsulas und Altamira, […] zeichneten und malten“ (allerdings fand sich für Behn das „beste Abbild“ gerade eines Rentiers, das zudem „an der Spitze aller Tierdarstellungen der Zeit [steht], was gewissenhafte Sorgfalt und Feinheit der Ausführung betrifft“, in ein Geweihstück eingeritzt).46 Vor allem aber treffen in diesem Holzschnitt der „starke, echte Naturalismus [der Vorzeitkunst], der in unbewußter, selbstverständlicher Treue und Sachlichkeit seine Werke schuf“ zusammen mit einem modernen Illustrationsstil, der Elemente der neuartigen expressionistischen Vereinfachung aufgreift.47 Behns Titelbild spannt so wohl weniger aus seiner zeitgenössisch-bewußten Konzeption heraus denn aus unserer Perspektive sinnbildhaft die polaren Gegensätze von ‚Einfühlung‘ und ‚Abstraktion‘ auf, wie sie Wilhelm Worringer in seiner Dissertation von 1907 als Grundprinzipien aller bildkünstlerischen Produktion entwickelt hatte und wie sie mit ungeheurer Resonanz die Diskussionen der nächsten Jahrzehnte bestimmen

45 W. Bölsche: Der Mensch der Urzeit. I. Tertiärzeit & Diluvium, Stuttgart 1909; Behn [wie Anm. 16]. – Nicht im Druck erschienen, sondern als Ölgemälde bereits Paul Jamin: Peintre décorateur à l’âge de pierre, 1903, Privatslg. Paris; vgl. Venus et Caïn [wie Anm. 1], S. 93. 46 Behn [wie Anm. 16], S. 36–38. 47 Das Zitat ebd., S. 30.

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sollten.48 Dabei schien speziell auch die ‚Kunstgeschichte der Vorzeit‘ archetypisch diesem konzeptionellem Antagonismus zu folgen: Denn – zugespitzt formuliert – folgte auf den ‚reinen Einfühlungs-Naturalismus‘ des Paläolithikums, wie ihn Altamira idealtypisch vor Augen führte, die ebenso ‚absolute ornamentale Abstraktion‘ der Bronze- und Eisenzeit. Ja, dieser Gegensatz in der Entwicklung künstlerischen Gestaltens vorgeschichtlicher Kulturen war so augenfällig, daß er eigentlich schon längst vor Worringer erkannt war: Bereits Alexander Conze (1871), Alois Riegl (1893), Ernst Grosse (1894) oder Karl von den Steinen (1894) unterschieden naturnachahmende und geometrische Gestaltungsprinzipien, wobei insbesondere Grosse den Unterschied zwischen dem naturhaftem Stil der Jägervölker und dem geometrischen der Ackerbauvölker aus den verschiedenen Wirtschafts- und daraus resultierenden Kulturformen zu erklären versucht.49 Und ein Jahr vor Worringer (und dann noch mehrfach in Vorträgen und Publikationen) prägte der Göttinger Mediziner Max Verworn, der die „psychologischen Wurzeln der Kunst“ in der Urzeit, bei den ‚Primitiven‘ und bei Kindern erforschte, für diese Form-Alternativen gar das Begriffspaar „physioplastisches“ und „ideoplastisches Gestalten“.50 Allein 48 W. Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München 1976; dazu S. K. Lang: Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfühlung. Entstehung und Bedeutung, in: H. Böhringer, B. Söntgen (Hg.): Wilhelm Worringers Kunstgeschichte, München 2002, S. 81–117. – Die Bedeutung seiner Überlegungen für die prähistorische Kunst entwickelt Worringer dann ausführlicher in: Formprobleme der Gotik, München 1911, S. 12–19 zu „Augenbildern“ versus „Vorstellungsbildern“. 49 K. von den Steinen [wie Anm. 35], S. 231; zu den anderen Autoren s. Anm. 24, 36, 92, 35. 50 M. Verworn: Archäolithische und paläolithische Reisestudien in Frankreich und Portugal, in: Zeitschrift für Ethnologie, 4–5 (1906), S. 611–655; ders.: Kinderkunst und Urgeschichte, in: Sitzungsbericht des anthropologischen Vereins zu Göttingen vom 25. Jan. 1907, und in: Korrespondenzblatt der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 37 (1907); ders.: Zur Psychologie der primitiven Kunst. Ein Vortrag, Jena 1908 [zuerst in der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift, N. F. 6/44, 1907]; ders.: Die Anfänge der Kunst. Ein Vortrag, Jena 1909; ders.: Ideoplastische Kunst. Ein Vortrag, Jena 1914.

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Worringers für die gesamte Kunst postulierte Theorie und seine eingängigere Bezeichnung sollten diese spezifischeren Beiträge praktisch vollständig in den Hintergrund drängen. Bezeichnenderweise versuchten jedoch die Überblicksdarstellungen zur ‚primitiven Kunst‘ des einflußreichen Prähistorikers Herbert Kühn, der in der Kunstgeschichte mit einer Arbeit zu den „psychologischen Grundlagen des Stilwandels der modernen Kunst“ promoviert worden war (1918), nicht nur erneut eine eigene Terminologie einzuführen („sensorisch“ versus „imaginativ“), sondern Kühn schloß seine Argumentation bevorzugt an Hauptvertreter der Kunstgeschichte: Riegl, Wölfflin, Worringer u. a. an, wogegen seine mit Blick auf die behandelten Objekte engeren ‚Fachkollegen‘, etwa Verworn, häufig negativ beurteilt wurden.51 Spätestens mit Wilhelm Paulcke (1923) und Max Raphael (ab 1930) begann sich dann jedoch die Vorstellung durchzusetzen, daß der ‚Primitivismus‘ prähistorischer Kunst nicht auf naives ‚Abmalen‘, sondern ebenfalls auf das „Geistige in der Kunst“ ziele (so etwa bei den „Bisonten von Altamira“), daß er freilich grundlegend von dem der Moderne unterschieden sei – und mehr noch, daß es sich bei den steinzeitlichen Höhlenmalereien überhaupt nicht um eine ‚anfängliche‘ noch eine ‚primitive‘ Kunstform handele.52

Die typologische Methode und die Bedeutung der „Überlebsel“ Mit jedem Anfang stellt sich das Problem der Fortsetzung und ihrer möglichen Beweggründe. Für die Anfänge der Kunst traf dies gleich in doppelter Hinsicht zu. Denn zum einen widersprach – wie gesehen – die Entwick51 Etwa H. Kühn: Primitive Kunst, in: M. Ebert (Hg.): Reallexikon der Vorgeschichte, Bd. 10, Berlin 1927/28, S. 264–292; Kühn [wie Anm. 8], etwa S. 210–235; zur Verbindung mit Worringer und dessen Einwände gegen Kühn s. auch H. Frank: Die mißverstandene Antithese. Zur logischen Struktur von Abstraktion und Einfühlung, in: Böhringer, Söntgen [wie Anm. 48], S. 67–80, hier v. a. S. 71 f. 52 W. Paulcke: Steinzeitkunst und moderne Kunst. Ein Vergleich, Stuttgart 1923, hier die Zitate S. 45 f.; Raphael [wie Anm. 35], etwa S. 11 und 15.

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lung nach Ausweis der neuen Funde allen bisherigen Annahmen: weder Ornament noch Töpferei noch Architektur, sondern die Bildkünste der Malerei und Plastik markierten den Anfang menschlicher Kunsttätigkeit, und auf den sensorischen oder physioplastischen ‚Naturalismus‘ der Steinzeit folgte die imaginative oder ideoplastische ‚ornamentale Abstraktion‘ der Bronzezeit. Zum anderen war innerhalb dieser Grobeinteilung über die Kunstobjekte selbst im einzelnen praktisch nichts bekannt, wodurch sie sich einer genaueren Entwicklungslinie hätten eingliedern lassen – weder Künstler, noch Entstehungszeit, noch Bedeutung. Man könnte meinen, dies beschreibe eine Normalsituation des Kunsthistorikers, der sich dauernd der Aufgabe gegenüber sieht, ‚anonyme‘ Gegenstände in eine Reihenfolge und Entwicklungslogik zu bringen. Und tatsächlich erforderten zwei der zentralen Problemstellungen des Faches auf dessen langem Weg zur modernen Wissenschaft vom frühen 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert eine intensive Auseinandersetzung mit Formenreihen und ihren (internen) Sukzessionsmechanismen – nämlich sowohl die Frage nach der Datierung und Einordnung eines Werkes als auch die Frage von dessen Inhaltsdeutung. Letztere wurde bekanntlich von Aby Warburg und seinem Kreis um 1900 erprobt und dann 1923 von Erwin Panofsky festgeschrieben, wobei Warburg wie Panofsky mit sogenannten Typenreihen arbeiteten. Überraschenderweise fehlt aus dieser Zeit aber eine eingehende theoretische Auseinandersetzung der Kunstgeschichte mit diesem Problem.53 Im Folgenden soll gezeigt werden, daß auch für die Frage typologischer Entwicklungsreihen wiederum der Fall Altamira, stellvertretend zu verstehen für alle ‚primitive‘, ‚vor-historische‘ Kunst, wichtige Impulse lieferte. Die in Altamira emblematisch verdichtete Suche nach den ‚Anfängen der Kunst‘ führt so zu entscheidenden Fundierungen und Erweiterungen des methodischen Rüstzeugs der Disziplin Kunstgeschichte. Erste ‚kunsthistorische‘ Versuche, die Entwicklung von Kunstformen in ihrer Logik durch Reihenbildung möglichst exakt zu erfassen und durch 53 Eine Zusammenstellung bei U. Pfisterer, „Die Bilderwissenschaft ist mühelos“ – Topos, Typus und Pathosformel als methodische Herausforderung der Kunstgeschichte, in: Pfisterer, Seidel [wie Am. 39], S. 21–47.

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begleitende Serien von Illustrationen in den wichtigsten Stationen nachvollziehbar zu machen, finden sich im Jahrhundert zwischen William Hogarths Analysis of Beauty (1753) und John Ruskins Stones of Venice (1853). Unternimmt es jener noch, wenngleich mit Seitenblicken auf die geschichtliche Entwicklung, eine normative Ästhetik des Schönen festzuschreiben, so will dieser die Entwicklung des gotischen (Architektur-)Stils in Venedig erfassen, und zwar bis in jedes Detail der Profilierung hinein, oder besser gesagt: Ruskin will ausgehend von empirischen Einzelbefunden eine Entwicklungsgeschichte rekonstruieren, die Einzelelemente liefern ihm den „Schlüssel zum gesamten System der venezianischen Gotik“.54 So wichtig diese Stationen für die Kunstgeschichte sind: Im Vergleich zum methodischen Niveau von Klassifikationen und Reihenbildung der Naturwissenschaften und etwa auch der Inkunabel-Kunde muten diese Bemühungen noch relativ intuitiv, punktuell und teils simpel an.55 Dies ändert sich schlagartig mit den Untersuchungen von John Evans (1864/1875) zu den antiken Münzen der Briten, einer idealen Herausforderung für ein ‚reihendes Ordnungsbestreben‘, sah sich der Forscher doch mit einer großen Zahl weitgehend undatierter Objekte konfrontiert.56 Und 54 Das Zitat und eine Analyse Ruskins und seiner Inspirationsquellen in der Architekturgeschichtsschreibung bei W. Kemp: John Ruskin. Leben und Werk, Frankfurt a. M. 1987, S. 149–161. – Bereits der Vorgeschichtsforscher Christian Jürgensen Thomson formulierte 1836/37 die Aufgabe, anhand von „angewandten Formen und Zierrathen“ herauszubekommen, „in welcher Ordnung hiermit Veränderungen vorgegangen sind“, löste dies aber nicht ein; dazu Hansen [wie Anm. 29], S. 13. 55 A. Dickmann: Klassifikation – System – „scala naturae“. Das Ordnen der Objekte in Naturwissenschaften unf Pharmazie zwischen 1700 und 1850, Stuttgart 1992; F. A. Schmidt-Künsemüller: Ein früher typenmethodologischer Versuch in der Inkunabelkunde, in: S. Joost (Hg.): Bibliotheca Docet. Festgabe für Carl Wehmer, Amsterdam 1963, S. 69–75 zur Bestimmung von Inkunablen durch den Naturforscher und Mainzer Bibliothekar Gotthelf Fischer von Waldheim, Beschreibung einiger typographischer Seltenheiten nebst Beyträgen zur Erfindungsgeschichte der Buchdruckerkunst, 1. Lfg., Mainz 1800. 56 J. Evans: The coins of the ancient Britons, 1864; ders., On the Coinage of the Ancient Britons and Natural Selection, in: Royal Institution of Great Britain. Proceedings, 7, 1875, S. 24–32; vgl. dann etwa H. Schurtz: Urgeschichte der Kultur, Leipzig/ Wien 1900, S. 4 f.

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sein Ergebnis stellte dann auch in zweifacher Hinsicht einen Wendepunkt dar: Anhand der Münzen (und durch Tafeln illustriert) ließ sich nicht nur nachweisen, wie antike Vorbilder (etwa ein Pferdegespann Philipps von Makedonien) im Laufe der Zeit und durch immer wieder kopierende Überlieferung formal vollkommen entstellt und zu Bildchiffren ‚abstrahiert‘ wurden, in diesem Fall also keine ‚Höher-Entwicklung‘, sondern eine ‚Degeneration‘ vorlag (Abb. 10). Es zeichnete sich auch ab, daß parallel dazu ursprüngliche Bedeutungen von Bildern verloren gehen konnten oder sich einschneidend veränderten. Ergänzt und erweitert wurden diesen Erkenntnisse durch die survival-Theorie des Kultur-Anthropologen und Vorgeschichtsforschers Edward B. Tylor, die in Anlehnung an biologische Evolutionsvorstellungen das Tradieren eigentlich überflüssig gewordener Elemente als Charakteristikum menschlicher Kulturentwicklung und zugleich die interpretatorische Bedeutung dieser „Überlebsel“ für die moderne Forschung erkannte, wobei Tylor vorgeschichtliche und ‚primitive‘ Völker gleichermaßen die Argumente lieferten.57 Explizit auf dieser Grundlage – Evans, Tylor und den Evolutionstheorien Darwins und Spencers – entwickelten dann gleich zwei Prähistoriker zeitgleich und unabhängig voneinander die ersten methodisch konsequent durchdachten Programme typologischer Reihenbildung. Der englische Offizier und Privatgelehrte Augustus Henry Lane Fox Pitt Rivers stellte seine Erkenntnisse ab den späten 1860er in einigen Aufsätzen, vor allem jedoch in der Hängung seiner Privatsammlung, die er 1883 großenteils an die Universität Oxford stiftete, vor.58 Ausgehend von der Erkenntnis, daß sich in 57 Am prominentesten dargelegt in E. B. Tylor: Primitive Culture, London 1871, 2 Bde., hier etwa Bd. 1, S. 68 ff.; dazu M. T. Hodgen: The Doctrine of Survivals. A chapter in the history of scientific method in the study of man, London 1935. 58 A. H. Lane Fox Pitt Rivers: The Evolution of Culture and Other Essays, hrsg. von J. L. Myres, Oxford 1906, S. 1–19 und 20–44 – Zu Pitt Rivers Methode, Museumsordnung und dem größeren Kontext vgl. B. Blackwood: The classification of artefacts in the Pitt Rivers Museum Oxford, Oxford 1970; D. K. van Keuren: Museums and Ideology: Augustus Pitt Rivers, anthropological museums, and social change in later Victorian Britain, in: Victorian Studies, 28, 1984, S. 171–189; N. Dias: Musée d’ethnographie du Trocadéro (1878–1908). Anthropologie et muséologie en France,

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der Entwicklung von Waffen Verbesserungen und Fortschritt in kleinsten Schritten manifestierten, untersuchte Pitt Rivers diese evolutionären Mechanismen nicht nur für verschiedenste Bereiche der materiellen Kultur, darunter der Kunst und Ornamentik, sondern konnte damit auch komplexe Prozesse der formalen Überlagerung und Beeinflussung durch andere Kulturkreise erklären: “It [typology] supplies the want of dates by showing how certain forms must have preceded or followed others in the order of their development, or in the sequence of their adoption. It may be said, as a rule, that simple forms have preceded complex ones. Within certain limits this must be true, but it is not always the case, for, in many instances, progress consists in eliminating superfluous complexity, and reducing the expenditure of time and labour […] It is the work of typology to unravel the true thread of events, and place the objects in their proper sequence […]. Typology forms a tree of progress, and distinguishes the leading shoots from the minor branches.” 59

Allerdings erreichen die wenigen Abbildungen zu Pitt Rivers grundlegenden Aufsätzen nicht das visuelle ‚Argumentations-Niveau‘ der Tafeln von Evans, von denen Pitt Rivers eine reproduziert: Beschränken sie sich doch – etwa bei der Darstellung verschiedener Paddel-Formen des Pazifiks – auf einige wenige Objekte, die stellvertretend für erreichte Hauptstufen stehen und gerade das zentrale Prinzip der langsamen und kleinteiligen Mutation und Beeinflussung nicht wiedergeben (Abb. 11). Die Anhänger von Pitt Rivers und einer auf die Kultur übertragenen Darwinschen Evolutionslehre, insbesondere Henry Balfour, Grant Allen, Alfred C. Haddon und Hjalmar Stolpe, sollten diese Ansätze in den Jahrzehnten bis 1900 zu einem umfassenden Theoriemodell für Kunst und Ornamentik weiterschreiben (unter Einbeziehung der neuen Wahrnehmungspsychologie) und so insbeParis 1991. – Die Zusammenstellung etwa von australischen Bumerangs bei Klemm [wie Anm. 23], Bd. 1, Taf. VII a–g (kurze Erläuterungen S. 316 f.) könnten in ihrer Anordnung eine Anregung für Pitt Rivers gewesen sein; ebenso die eigenständigen Schriften Klemms zu Waffen und einem kulturgeschichtlichen Museumskonzept; vgl. auch Hildebrand [wie Anm. 23], S. 238 f. 59 A. H. Lane Fox Pitt Rivers: Typological Museums, as exemplified by the Pitt Rivers Museum in Oxford and his provincial museum in Farnham Dorset, in: Journal of the Society of Arts, 40, 1891, S. 115–22, hier S. 116.

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sondere auch die bis dato gültigen spekulativen ‚Ornament-Grammatiken‘ ablösen.60 Der zweite Vorgeschichtsforscher und Mitbegründer der Typologie war der Däne Oscar Montelius, wobei dessen Erkenntnisse wohl teilweise auch im Austausch mit seinem Kollegen Hans Hildebrand und dessen allerdings weniger nachdrücklich vorgetragenen Überlegungen entstanden. Montelius Theorien, deren Publikation in den späten 1870er Jahren einsetzte, kulminierte 1903 in einem Band zur Methode der Bestimmung der „älteren Kulturperioden im Orient und in Europa“. Dabei ergaben sich die Prinizipen „absoluter“ und „relativer“ Chronologie materieller Zeugnisse aus der Zusammenschau von stratigraphisch „sicherem Fund“ und richtiger typologischer Zuordnung. Entwicklung und ‚Überlebsel‘ verdeutlicht Montelius an den Beispielen des Übergangs von Postkutsche zu Eisenbahnwagen und der Stearinkerze zur elektrischen Lampe, da sowohl die frühen Eisenbahnwagen wie die Lampen funktional vollkommen nutzlose Gestaltungselemente ihrer Vorläufer ‚mitschleppten‘. Prinzipell faßt Montelius zusammen: „Die Ähnlichkeit zweier unmittelbar an einander stossender Glieder [der Typen-Reihe] kann oft so gross sein, dass ein ungeübtes Auge gar keinen Unterschied zwischen ihnen bemerken kann. Der erste und der letzte Typus der Serie sind aber gewöhnlich so unähnlich, dass dieser beim ersten Blick gar keine Verwandtschaft mit jenem zu haben scheint. […] Eine besondere Aufmerksamkeit verdienen bei den typologischen Untersuchungen des Alterthumsforschers – eben so wie bei den entsprechenden des Naturforschers – die ‚rudimentären‘ Bildungen: Theile des Gegenstandes, welche einmal eine Funktion hatten, allmählich aber ihre praktische Bedeutung verloren haben.“ 61

60 Zu diesen Autoren Th. Munro: Evolution in the Arts and Other Theories of Culture History, Cleveland/New York 1964; ansatzweise bereits J. Ranke: Die Anfänge der Kunst. Anthropologische Beiträge zur Geschichte des Ornaments, Berlin 1879. Vgl. auch E. Black Jr.: Evolutionist Psychology and Aesthetics: the Cornhill Magazine 1875–1880, in: Journal of the History of Ideas, 45, 1984, S. 465–475. 61 O. Montelius: Die älteren Kulturperioden im Orient und in Europa. I. Die Methode, Stockholm 1903, S. 16 f.; zu diesem Zeitpunkt kann Montelius seinerseits bereits Riegls Stilfragen erwähnen (S. 77, Anm. 1). – Vgl. auch H. Breuil: Exemples de figures dégénérées et stylisées à l’époque du Renne, in: Congrès international d’anthropologie et d’archéologie préhistorique …, Monaco 1906, S. 1–12.

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Bei alledem gilt es zweierlei zu bedenken: Gar nicht bestritten sei, daß auf Seiten der Kunsthistoriker ähnliche Methodiken ebenfalls schon im späten 19. Jh. mit großem Erfolg in praxi Verwendung fanden, man denke nur an die ‚Feindatierungen‘ mittelalterlicher Ornamentik, Bauformen oder Gewandfalten etwa eines Wilhelm Pinder. Allerdings dürfte eben die hochkomplexe Vorstellung von ‚Kunst‘ (ihrer vielschichtigen ‚Autonomie‘ einerseits, ihrer Verbindung vielfältigster ‚Einflüsse‘ andererseits) verhindert haben, daß eine ähnlich stringente Theorie formuliert wurde, wie sie am vergleichsweise ‚simplen‘ prähistorischen Material zu entwickeln war. Bezeichnend scheint zudem, daß dann etwa August Schmarsow, der dieses Theoriedefizit um 1900 mit am deutlichsten wahrnahm, seine Beiträge dazu in expliziter Auseinandersetzung mit den Methoden der ‚Völkerkunde‘ entwickelte.62 Zudem waren diese Typenreihen ‚primitiver‘ Objekte und Kunstformen nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorrangig zum Zweck der Datierung und Zuordnung angelegt. Ein solchermaßen rekonstruierter Entwicklungsverlauf einer Objektgruppe konservierte vielmehr ‚Kräfte-Prozesse‘ des menschlichen Geistes, wie sie bei allen vor-schriftlichen Kulturstufen überhaupt nur auf diesem Wege über die materiellen Relikte wissenschaftlich zu erfassen waren, dafür (wie man meinte) noch in besonders einfacher Klarheit und im Gegensatz zu den komplexen Überlagerungsformen bei Hochkulturen. Typenreihen waren sozusagen die Leitfossilien der geistigen Entwicklungen und Wesensstationen der Menschheit – ein bereits zeitgenössischer Vergleich, der auch nochmals an die zentrale Anregung dieser Methode durch die (freilich teils mißverstandenen, teils umgedeuteten) Theorien Darwins erinnert. Dabei wurde von vielen – voran Herbert Spencer – postuliert, die in den Typenreihen manifesten ‚Kräfte-Prozesse‘ des menschlichen Geistes und dessen langsame psychische Entwicklung (mit ihren ‚Überlebseln‘) nicht nur in loser Analogie, sondern als mehr oder 62 A. Schmarsow: Kunstwissenschaft und Völkerpsychologie. Ein Versuch zur Verständigung, in: Zeitschrift für Ästhetik und Kunstwissenschaft, 2, 1907, S. 305–339 and 467–500; ders.: Anfangsgründe jeder Ornamentik, in: Zeitschrift für Ästhetik und Kunstwissenschaft, 5, 1910, S. 191–215 and 321–355.

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weniger tatsächliche evolutionäre Vererbungsmechanismen, die kulturelle Evolution als Fortsetzung der biologischen Phylogenese nach einigen wenigen, immer gleichen Grundprinzipen zu verstehen. Erworbene Eigenschaften könnten demnach teils als „Engramme“ in den vererbbaren, angeborenen Geistesbesitz der Menschheit eingehen, womit die evolutionäre Entwicklung bestimmter Kunstformen zwingend aus einer „gemeinsamen reizphysiologischen Basis“ aller Menschen erklärbar würde.63 In diesem großen Kontext jedenfalls wird auch die Bedeutung dieser Forschungen für Warburgs Theorien zu Nachleben und ‚kulturellem Gedächtnis‘ unmittelbar evident – vielleicht am deutlichsten in den zusammenfassenden Formulierungen, die Heinrich Schurtz seiner im Jahr 1900 publizierten Urgeschichte der Kultur voranstellte.64 Insbesondere auch Warburgs Beobachtung von Polaritäts-Phänomenen, bei denen gleiche Kunstformen im Laufe der Zeit geradezu entgegengesetzte Bedeutungen absorbieren konnten, scheint Schurtz vorzubereiten mit seiner Erkenntnis des eingeborenen Umdeutungsbedürfnisses der Menschen bei gleichen Grundmotiven: „Kunstwerke und vor allem Ornamente, deren Sinn nicht mehr verstanden wird, unterliegen leicht einer neuen Deutung. Die Neigung dazu liegt tief im Menschen begründet und äußert sich wohl auch zufälligen Schöpfungen der Natur gegenüber, an die sich erklärende Sagen knüpfen, und die man dann wohl noch künstlich weiterbildet; […]. Blicken wir zurück auf die Arten und Werke der Kunst, so erkennen wir, daß ihnen bei aller spielenden Zwecklosigkeit zugleich etwas Schöpferisches innewohnt, und daß sie eine durch Wiederholung gebildete Form wie einen festen Panzer oder ein Knochengerüst besitzen. Das Spiel im eigentlichen Sinne hat diese Formhülle nicht und ebensowenig den schöpferischen Charakter der Kunst […]. Im übrigen kann man das Spiel am besten eine Übung des Körpers oder des Geistes nennen, die wie die Kunst zunächst aus Kraftüberschüssen hervorgeht und keinen unmittelbaren Zweck hat.“ 65

63 Die Zitate aus R. Semon: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1904, der allerdings noch keinen direkten Bezug zur Kunst herstellt; dies unternimmt für die „Abstammung der Kunst“ etwa Bölsche [wie Anm. 25], S. 27. 64 Schurtz [wie Anm. 56], S. 23 f. 65 Ebd., S. 550 f. – S. 544–546: „Kunststil“ durch Sinngebung sowie durch Stoff und Technik bedingt „Kümmer- oder Wucherformen“ im langen Kopier-Prozeß (nach Balfours Ornament-Untersuchungen).

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Der letzte hier interessierende Schritt der typologischen Methode ist spätestens 1929 mit dem Eintrag zu ‚Typologie‘ von Nils Åberg im Reallexikon der Vorgeschichte vollzogen. Nicht nur werden die Grundannahmen in fast karikierender Zuspitzung zusammengefaßt: „Die Typologie ist die Anwendung des Darwinismus auf die Produkte der menschlichen Arbeit. Sie geht von der Voraussetzung aus, daß der menschliche Wille an gewisse Gesetze gebunden sei, ähnlich denen, die für die Entwicklung in der organischen Welt Geltung haben. Die Altertümer entwickeln sich, als ob sie lebende Organismen wären, die einzelnen Gegenstände sind Individuen, eine Typenserie stellt die Entwicklung einer Art dar und eine Gruppe von Typenserien wiederum eine Entwicklung, die sich in verschiedene Arten verzweigt und eine Familie bildet.“ 66 Åberg betont auch die prinzipielle Übertragbarkeit der Methode auf alle Epochen der Kunst- und Kulturgeschichte: „Aber die Eigenart der typol. Methode bestand […] nicht darin, lange Typenreihen aufzustellen, sondern das Leben in den Produkten seiner Arbeit zu studieren, und die Methode ist also auch auf höhere Kulturen anwendbar. Ein einfacher und primitiver Wille kann sich in langen Typenserien zum Ausdruck bringen, aber ein vielseitig wechselnder und komplizierter schafft sich in den Produkten seiner Arbeit einen ebenso komplizierten Ausdruck […]. Moderne T. im Gegensatz zu vorgesch. oder primitiver besteht also nicht darin, gleich der letztgenannten Typenserien aufzustellen, sondern anstatt dessen etwa die Entwicklung vom romanischen zum frühgotischen Stil und zum „flamboyant“ zu verfolgen, […]. Die Methode ist dieselbe wie früher, aber das Material ist unendlich komplizierter geworden. Es ist nicht mehr die Veränderung eines einzelnen Ornamentes oder eines anderen Details, das die Entwicklung charakterisiert, sondern es ist die Summierung oder, wenn man es so ausdrücken will, die mittlere Proportionale der Veränderungen einer Menge von verschiedenen Details.“ 67

Vor diesem Hintergrund läßt sich nur spekulieren, warum die Kunstwissenschaft die typologische Methode nicht eingehender theoretisch reflektiert hat: Möglicherweise wurde sie um 1900 so selbstverständlich als Errungenschaft der Erforschung ‚primitiver‘ Objekte und Kunst angesehen, 66 N. Åberg, Typologie, in: M. Ebert (Hg.): Reallexikon der Vorgeschichte, Bd. 13, Berlin 1929, S. 508–516, hier S. 508. 67 Ebd., S. 514.

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seien sie frühgeschichtlicher, volkskundlicher oder ethnographischer Natur, daß die Kunstgeschichte im engeren Sinne es gar nicht mehr für notwendig erachtete, sich damit weiter auseinander zu setzen? Und möglicherweise hat dann die Verdrängung des Problems Typenreihe teils auch damit zu tun, daß der Begriff ‚Typus‘ zunehmend nicht nur formal, sondern auch im geistigen, rassischen und völkischen Sinn als Wesens- bzw. Menschen-Typus verstanden, diskutiert und schließlich mißbraucht wurde? 68

Prähistorische Künstlerinnen und der Ursprung weiblicher Ästhetik Auf der Pariser Weltausstellung von 1889 boten unter dem überragenden Schatten des neuen Weltwunders Eiffelturm selbst noch die historisch-didaktischen Abteilungen ihren Besuchern neuartige Sensationen: vor allem eine Serie von Dioramen, die über viele Jahrtausende hinweg realistische Einblicke in die Lebensumstände der Steinzeit-Menschen zu eröffnen vorgaben. Zwar waren prähistorische Funde bereits auf den beiden Vorgängerveranstaltungen in Paris 1878 und erstmals 1865/67 gezeigt und damit erst eigentlich allgemein bekannt gemacht worden: rund 50 Objekte vom Faustkeil bis hin zu den ‚ersten Versuchen‘ der Menschheit im Medium Skulptur, allerdings nebeneinander aufgereiht in Glaskästen präsentiert.69 Und als nach Beendigung der Londoner Weltausstellung von 1851, der ersten ihrer

68 Neben dem Interesse an „Geistestypen“ etwa bei Dilthey, Weber und Simmel vgl. H. von Hollenhaag: Vom Typus in der Kunst, Leipzig/Wien 1905; O. A. Erich, Typenkunde und Kunstwissenschaft, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, 8, 1941, S. 239–244. 69 Vgl. Exposition de 1865. Palais de l’Industrie. Musée Rétrospectif, Paris 1867, S. 3: „Armes des ages de pierre et de bronze“, und ausführlicher G. de Mortillet, Promenades préhistoriques à l’Exposition universelle. Abris de Bruniquel, in: Matériaux pour l’histoire positive e philosophique de l’homme, 3, 1867, S. 201–203; Les Merveilles de l’Exposition de 1878, Paris 1878, S. 723 zu Beginn der „Exposition des arts rétrospectifs au Trocadéro“. – Vgl. auch Dias [wie Anm. 58].

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Art überhaupt, die zentrale Glas-Eisen-Halle an anderem Ort als Crystal Palace und mit permanentem Ausstellungsprogramm wiederaufgebaut worden war, konnten bereits dort die Besucher ab 1854 spektakuläre lebensgroße Modelle von Dinosauriern, die sich in der Parklandschaft tummelten, bestaunen (wobei diese Urzeit-Tiere ebenfalls nur wenige Jahrzehnte zuvor wissenschaftlich entdeckt worden waren). ‚Mannequins‘ schließlich kamen bereits bei den früheren Weltausstellungen in Paris und ab 1884 im Musée du Trodacdéro zum Einsatz.70 Aber erst in Paris 1889 rekonstruierte man gleich an zwei Stellen Leben und Werk des homme fossile: So wurde der Themenpark zur geschichtlichen Entwicklung der „Habitation humaine“ mit einer „Troglodyten-Höhle“ eröffnet. Vor allem aber nahm die „Histoire rétrospective du travail et des sciences anthropologiques“ ihren Ausgang von mehreren Arrangements der Urzeit, plastischen Szenerien mit lebensgroßen Figuren, die den Menschen der Steinund dann auch der Bronzezeit in seiner ‚natürlichen‘, charakteristischen Umgebung darstellen sollten: ein Mann und eine Frau der „Mammutzeit“ bearbeiteten Feuerstein (Abb. 12); im Eingangsbereich des Nachbaus einer Höhle aus dem Vézère-Tal stand das Oberhaupt einer Familie, ein bärtiger Mann, der gerade erfolgreich von der Bärenjagd zurückgekehrt war, wogegen ein junger Mann und eine junge Frau offenbar bei der Unterkunft geblieben und dort mit Tiergeweihen und Knochen beschäftig waren, die sie mit Bildgravuren versahen; die folgenden Szenen zeigten mit dem Bau einer Grabstätte (Dolmen) und dem Metallguß die weiteren entscheidenden Erfindungsschritte der Menschheit am Übergang zum Neolithikum bzw. zur Bronzezeit.71 Dabei erinnern insbesondere die Urmenschen der

70 M. J. S. Rudwick: Scenes from Deep Time. Early Pictorial Representations of the Prehistoric World, Chicago/London 1992, S. 140–150. – Für Mannequins vgl. Dias [wie Anm. 58], S. 167 und 188; S. Moser: The dilemma of didactic displays: habitat dioramas, life-groups and reconstructions of the past, in: N. Merriman (Hg.), Making Early Histories in Museums, London 1999, S. 95–116. 71 E. Monod: L’Exposition Universelle de 1889, Paris 1890, 3 Bde., hier Bd. 1, S. 158– 162 zur ‚Geschichte des menschlichen Wohnens‘; S. 294 f. zu den Vorzeit-Dioramen; vgl. auch Les Merveilles de l’Exposition de 1889, Paris 1889, S. 161–214 und

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Mammutzeit nun nicht an Eskimos, sondern an australische Aborigines und nordamerikanische Indianer, deren Lebenweise ebenso häufig (und mindestens seit John Locke 1689) als ethnographische Parallele für die prähistorische Jägergesellschaft herangezogen wurde.72 So aufwendig diese Inszenierungen auch waren, prinzipiell unterschieden sie sich nicht von den Ansichten, wie sie bereits das Buch von Figuier von 1870 zu den Entwicklungsstufen der Menschheit illustrierten – mit einer Ausnahme. Wenn auf den Abbildungen bei Figuier und seinen Kollegen überhaupt urzeitliche Frauen zu sehen waren, dann in ihrer (aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts weithin) erwartungsgemäßen ‚biologischen‘ Rolle als Mütter und Hüterinnen der Heimstatt (Abb. 13, 14).73 ‚Fortschritt‘ in Form von Erfindungen und alle Arten aktiver Kunstfertigkeit waren dagegen männlich besetzt.74 Umso mehr erstaunt, daß in den Rekonstruktionen von 1889 zumindest aus der Stufe der Feuerstein-Bearbeitung und des Bildens in Tierknochen nun Frauen gleichberechtigt beteiligt erschie-

643–658. – Photographien dieser Gruppen publiziert M. Pilar San Augustin-Filaretos: Les influences respectives entre anthropologie et préhistoire, in: Venus et Caïn [wie Anm. 1], S. 54–59. 72 Etwa Wilson [wie Anm. 24]; Lartet, Christy [wie Anm. 8], S. 37–61; Nadaillac [wie Anm. 34]. – Vgl. Pilar San Augustin-Filaretos [wie Anm. 71]. 73 Vgl. Boitard [wie Anm. 19], Frontispiz; Kupka entwarf die Vignetten für E. Réclus: L’Homme et la Terre, Paris 1905, hier Bd.1, S. 3. – Ausführliche Analysen bei D. Gifford-Gonzalez: You can hide, but you can’t run: representations of women’s work in illustrations of Paleolithic life, in: Visual Anthropology Review, 9/1, 1993, S. 23– 41 und S. Moser: Gender stereotyping in pictorial reconstructions of human origins, in: H. du Cros, L. Smith (Hg.): Women in Archeology, Canberra 1993, S. 75–92. 74 Eine Differenzierung bei Caspari [wie Anm. 32], Bd. 2, S. 363: „Der Verlauf der Urgeschichte lehrt uns, daß sich schon sehr früh ein sogenannter arbeitender und kunsttreibender Stand in den primitiven urstaatlichen Gemeinden absonderte, ein Stand, der freilich ursprünglich sehr mißachtet und sklavisch behandelt wurde; denn zumeist waren es die zum herumtreibenden Jagdleben körperlich Untauglichen, welche sich mit Arbeit, beziehungsweise Kunstthätigkeit befassen mußten. Allein gerade dadurch, daß die kunstfertigen Arbeiter der Urzeit durch die Umstände mit Nothwendigkeit und Ausdauer auf ihr Geschäft hingewiesen waren, sammelten sich in ihnen die geistigen Kräfte.“

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nen – erst die höheren Kunstübungen (Architektur und Metallbearbeitung) übernahmen dann wieder allein die Männer. Dem englischsprachigen Publikum mußte diese Gleichberechtigung aufgrund eines Seh- oder Erinnerungsfehlers noch überraschender erscheinen: Denn Thomas Wilson, der 1898 in den USA die erste übergreifende Geschichte der Vorzeit-Kunst publizierte – gleichzeitig und unabhängig von der ersten deutschsprachigen Veröffentlichung dieses Zuschnitts von Moritz Hörnes –, bildete die ersten beiden Diorama-Gruppen der Pariser Ausstellung von 1889 ab, mißverstand den jungen Mann vor der Höhle jedoch als zweite Frau, so daß bei ihm nun allein Frauen für die Bildschnitzereien auf den Gebeinen und damit für den absoluten Beginn der menschlichen Kunstübung zuständig waren (Abb. 15). Allerdings kommentieren seine Erläuterungen zu den Szenen die Relevanz dieser Rollenverteilung nicht.75 Es bleibt also die entscheidende Frage, warum am Ende des 19. Jahrhunderts plötzlich Frauen für die Anfänge der Kunst (mit-)verantwortlich zeichnen konnten? Die Suche nach Antworten darauf in den zahlreichen Publikationen zur prähistorischen Kunst verläuft weitgehend erfolglos. Dagegen wird man überraschenderweise in einem Text des Mediziners und Anthropologen Rudolf Virchow Zur Geschichte des Kochens von 1876 fündig: „[S]chon […] ehe sie sich an den Heerd stellte, war die Frau wahrscheinlich überall die Hüterin des Feuers geworden. […] Während der Mann noch in unruhiger Hast den Thieren des Waldes und der Steppe nachjagte […], da schon senkten sich in ihre Brust die ersten Keime jener höheren Triebe, aus denen später das Kunstgewerbe hervorging. Sie fertigte die Kleider des Mannes und heftete daran allerlei farbigen Zierrathe, sie wob die Stoffe und fügte in dieselben zierliche Muster, sie entwickelte den Topf aus seiner ersten, rohen, flachen und niederen Form zu immer mehr plastischen Gestalten […]. Von der Thonplastik ging dann später in den Händen der Männer die eigentliche Bildnerei aus. Aber ihr Anfang liegt am Heerde. Er gehört mit in die Geschichte des Kochens.“ 76

75 Wilson [wie Anm. 10], S. 417 und 373 f.; die Abb. nach Les merveilles de l’exposition de 1889 [wie Anm. 71], S. 644 f; auch W. G. Smith: Man the primeval savage, London 1894. 76 R. Virchow: Zur Geschichte des Kochens, in: Deutsche Rundschau, 3, 1876, das Zitat S. 279; zur Person C. Goschler: Rudolf Virchow: Mediziner, Anthropologe,

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Bereits Virchow legte also die höhere Kunstentwicklung in die Hände von Männern, die Anfänge der Künste jedoch, die er noch ganz in der Tradition Sempers und Conzes im Weben, der Schmuckherstellung und im Töpfern sah, entsprangen auch bei ihm einem weiblichen Impuls. Mit diesem Phantasieentwurf prähistorischer Rollen-Muster ist zwar noch keine Erklärung gegeben, es deuten sich jedoch die beiden Gedankentraditionen an, aus denen diese Vorstellung entstehen konnte: Zunächst einmal galt in der Antike und dann spätestens seit dem 15. Jahrhundert wieder die Beherrschung des Feuers als conditio sine qua non des zivilisatorischen Fortschritts der Menschheit.77 Wenn aber der Frau die Rolle einer Hüterin des Herdes seit Urzeiten ‚natürlicherweise‘ zufiel, dann mußte dieses RollenDenken des 19. Jahrhunderts paradoxerweise und quasi zwingend dazu führen, daß der kulturstiftende Einfluß des Feuers, zu dem die Frau einen früheren und intensiveren Kontakt hatte als der Mann, zuerst in ihr Wirkung zeitigte. Damit aber nicht genug: Bei Virchow ist zudem von den „höheren Trieben“ der Frau hin zur Kunst die Rede. So kritisch und distanziert sich der Berliner Wissenschaftler ansonsten gegenüber Darwins Evolutionslehren verhielt 78, hier scheint der Rekurs auf dessen nur fünf Jahre zuvor (1871)

Politiker, Köln u. a. 2002; die obige Passage auch bei D. Schmidt: Abfall und Vorgeschichte. Entdeckungen der Prähistorie im 19. Jahrhundert, in: K. Ebeling, S. Altekamp (Hg.): Die Aktualität des Archäologischen, Frankfurt a. M. 2004, S. 263–282. 77 Bereits L. B. Alberti: De re aedificatoria, 1, 2 konnte sich Vesta als Erfinderin des Hausbaus und damit der Baukunst insgesamt vorstellen; zusammenfassend Rykwert [wie Anm. 1], S. 105–118; vgl. dann etwa Klemm [wie Anm. 23], Bd. 1, S. 178 f. und 245 zum „Gebrauch des Feuers, das wir auch auf der niedrigsten Stufe der Cultur finden; […] Das Entzünden des Feuers ist das erste, den Weibern [der ‚Waldindier‘] obliegende Geschäft.“ 78 Ch. Andree: Rudolf Virchow als Prähistoriker, 2 Bde., Bonn 1976; A.W. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert: Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914, Munich 1998; A. Zimmermann: Geschichtslose und schriftlose Völker in Spreeathen. Anthropologie als Kritik der Geschichtswissenschaft im Kaiserreich, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 47, 1999, S. 197–210.

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publizierte Theorie von der „sexuellen Zuchtwahl“ nach ästhetischen Kriterien durch den weiblichen Part und die daraus resultierenden Entwicklungs-Mechanismen des „beauty for beauty’s sake“ ziemlich eindeutig. Für Darwin war jedenfalls – so die populäre Kurzfassung seiner Theorie – „der Ursprung der Kunst in dem Sexualleben der Urmenschen zu suchen“.79 Nicht erst die soziale Rolle, sondern bereits das biologische Geschlecht prädestinierten die Frau also für die Wahrnehmung des Schönen, weshalb es für Virchow nur logisch erscheinen mußte, ihr auch die ersten Versuche auf dem Gebiet des Schmückens und Bildens zuzuweisen. Dagegen gestanden sich seine Kollegen diese Zusammenhänge kaum so explizit ein, negierten – wenn überhaupt – mit verschiedenen Gegenmodellen diese Konsequenz oder aber reagierten mit Ironie. Kaum anders denn ironisch läßt sich etwa 1879 der Hinweis von Nicolas Joly verstehen, ein Nachhall dieser besonders künstlerisch begabten urzeitlichen Menschenrasse des VézèreTals zeige sich noch in den Kunstprodukten neuzeitlicher Pariserinnen.80 Der Psychologe Collin Scott schlug dagegen eine derart modifizierte Evolutionstheorie vor, daß das männliche Geschlecht nicht weniger, sondern

79 Ch. Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, Stuttgart 1871 [engl. 1871]; das Zitat nach K. Groos: Die Anfänge der Kunst und die Theorie Darwins, in: Hessische Blätter für Volkskunde, 3/2–3 (1904), hier zit. nach dem Separatum, S. 16; positiv dagegen Sterne [wie Anm. 16], S. 88–101; vgl. auch den pro-evolutionären Diskussionsstand kurz vor 1900 bei C. Scott: Sex and Art, in: American Journal of Psychology, 7, 1895–96, S. 153–226; zur Rezeption von Darwin jetzt insgesamt W. Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt a. M. 2003, zu Darwins Auseinandersetzungen mit Zeitgenossen (insbesondere Ruskin) auch J. Smith: Charles Darwin and Victorian Visual Culture, Cambridge 2006, S. 27, 41 und 175 f. 80 Joly [wie Anm. 33], S. 362 f.: „Die Rasse, der jene Künstler aus Vézère, sowie ihre vielleicht noch unter uns lebenden Nachkommen angehören, wird von de Quatrefages und Hamy für einen Typus gehalten, den sie mit dem Namen Cro-Magnonrasse belegen; in den Guachen der Canarischen Inseln und namentlich in gewissen Kabylen von Bei-Menasser und Dschurdschura sehen sie die besterhaltenen Typen dieser mit so aussergewöhnlichem Zeichentalent begabten uralten Rasse. In Frankreich besitzt sie Nachkommen unter den jetzigen Basken von Zaraus, unter den Parisii des 5. Jahrhunderts und selbst unter gewissen Pariserinnen der Neuzeit.“

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möglicherweise „noch sensibler“ auf ästhetische Impulse reagiere als das weibliche (1896).81 Bei dem Gießener Philosophie-Professor Karl Groos findet sich dann in einem Darwin-kritischen Vortrag von 1904 Argumentation und Ironie vereint: „Was den ästhetischen Genuß betrifft, so könnte man es in unserem Zeitalter der Frauenbewegung von vorneherein für etwas bedenklich ansehen, daß diese Fähigkeit der Theorie nach primär nur dem auswählenden weiblichen Geschlecht zukommen würde –: die Genußfähigkeit des Mannes wäre ihm dann (wie etwa gewisse körperliche Charaktere) nur so nebenbei zugefallen. Ja mehr noch: wir hätten von Rechtswegen anzunehmen, daß der Anblick des Schönen in der Brust des Mannes überhaupt kein Lustgefühl, sondern eine dumpfe Regung eifersüchtiger Wut auf dessen Erzeuger entfachen müßte.“ 82 Die wohl brillanteste Reaktion auf Darwins Ausführungen dürfte jedoch von dem in Böhmen geborenen, die meiste Zeit seines Lebens in Paris tätigen und später die abstrakte Malerei mitbegründenden Künstler František Kupka stammen: 1902 beschriftete er eine kleine, signierte und datierte Gouache mit dem Titel ANTROPOÏDES (Abb. 16).83 Dargestellt sind – so scheint es wenigstens auf den ersten Blick – zwei verbissen miteinander kämpfende Menschenaffen-Männchen, ein Gorilla und ein Orang-Utan, denen ein aufrecht stehendes Orang-Utan-Weibchen mit züchtig vor dem Bauch übereinander gelegten Armen interessiert, wenngleich abwartend zusieht. Offenbar ist sie Anlaß und ‚Preis‘ des Kräftemessens, dessen tödlicher Ausgang sich für einen der Kontrahenten angesichts der steil abfallenden Uferklippen bereits abzeichnet. Allein schon die unnatürlich aufgerichtete Haltung des Weibchens macht allerdings klar, daß diese Anthro81 Scott [wie Anm. 79], S. 177 f. 82 Groos [wie Anm. 79], S. 5 f. 83 59,5 × 62 cm, Berlin, Sammlung Jiří Svestka; Venus et Caïn [wie Anm. 1], S. 36 f.; M. Theinhardt, P. Brullé: Kupka et la presse illustrée, «Des idées sérieuses sous une forme piquante», in: Vers des temps nouveaux. Kupka œuvres graphiques 1894– 1912, Paris 2002, S. 58–73, hier S. 65, 68 und 215 (Kat. 57). – Wichtigstes formales Vorbild: Léon-Maxime Faivre: Envahisseur, 1884, Musée des Beaux-Arts et Archéologie, Vienne. – Spätere Bemerkungen des Künstlers zum Orang-Utan in F. Kupka: Die Schöpfung in der bildenden Kunst, Berlin 2001, S. 54.

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poiden als Sinnbilder für menschliches Verhalten zu verstehen sind – wenn überhaupt Menschenaffen dargestellt sein sollen und nicht evolutionäre Zwischenstufen von Affen und Mensch, die zwar ihre verwandtschaftliche Herkunft von Gorilla und Orang-Utan noch deutlich manifestieren würden, allerdings in einigen Verhaltensmustern bereits ‚menschlich‘ geworden wären (vgl. Gabriel von Max’ Gemälde des hypothetischen Pitecanthropus alalus, Leipzig, Haeckel-Haus).84 Zu sehen ist also eine pointiert zugespitzte Situation „sexueller Zuchtwahl“, wobei der abgebildete Kampf der hochentwickelten Säugetiere eine von Darwin selbst formulierte Schwierigkeit seiner Theorie von der ästhetischer Selektion durch das Weibchen darstellt (die vor allem am Beispiel von Vögeln und Insekten belegt wurde) – denn: „Bei den Säugetieren scheint das Männchen mehr gemäß dem Kampfgesetz als durch Entfaltung seiner Reize das Weibchen zu gewinnen.“ 85 Ironisiert wird diese Aussage bei Kupka vor allem auch durch den angedeuteten ‚Blumenstrauß‘ in der Hand der Umworbenen, wie ihn eine erste Fassung des Themas noch nicht aufwies 86 und von dem bei Darwin natürlich nirgends die Rede ist: Erst diese zwei, drei roten Blumen – gängigstes Hilfsmittel menschlichen Liebeswerbens – entfalten die ganze Spannweite möglicher weiblicher Wahlkriterien von Ästhetik (und Kultur) bis hin zu rohem Kräftemessen. Man darf vermuten, daß dieser Blumenstrauß ein

84 Vgl. dazu A. E. Brehm, E. Pechuel-Loesche, W. Haacke: Brehms Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs – Die Säugetiere, Bd. 1, Leipzig/Wien 1900, wo S. 47 die Kämpfe von Affenmännchen (allerdings gleicher Spezies) um „die Oberherrschaft in der Leitung der Herde und in der Liebe“ beschrieben werden, S. 41 zu ihren „Leidenschaften“, die „häufig einen vollständigen Sieg über ihre Klugheit“ davontragen und sie beherrschen, „just wie so manchen Menschen.“ 85 Darwin [wie Anm. 79], S. 116; dieser Satz wiederum zitiert und kommentiert bei Groos [wie Anm. 79], S. 5: „Und unter den Säugetieren sind wieder die A f f e n keineswegs durch deutlich erkennbare Bewerbungskünste ausgezeichnet.“ Vgl. auch Scott [wie Anm. 79], S. 163–170 zu „combat“ und „courting“ und dann S. 178 ff. zum entscheidenden Übergang von Affe zum prähistorischen bzw. ‚primitiven‘ Menschen. 86 Zu dieser Kaltnadelradierung von ca. 1900–1902 s. Kupka œuvres [wie Anm 83], S. 215 (Kat. 56).

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Geschenk des männlichen Orang-Utans darstellte, der nicht nur von der gleichen Spezies wie das Weibchen und damit der naheliegendste Partner ist. Noch um 1900 galt häufig der Orang-Utan als der ‚menschlichste‘ der Hominiden (im Gegensatz zum angeblich bösartigen Gorilla), wobei insbesondere die Weibchen dieser Menschenaffen eine angeborene Sittsamkeit an den Tag legten, die eben durch die Bildformel vor der Scham übereinandergelegter Hände und niedergeschlagenem Blick seit dem 17. Jahrhundert propagiert wurde (Abb. 17). Auf diese noch um 1900 weit verbreitete Legende über den asiatischen homo sylvestris dürfte noch Kupka mit seiner aufrecht stehenden Orang-Utan-Dame anspielen.87 Nun sieht sich auf dem Gemälde der Orang-Utan aber durch den Gorilla auf das Niveau des Zweikampfs zurückgeworfen. Und droht dabei nicht nur zu unterliegen mit dem Resultat, daß die Evolution nicht der Ästhetik, sondern dem Gesetz des Stärkeren folgen würde. Wobei das Weibchen der schieren Muskelkraft mindestens so viel Gefallen und Überzeugungskraft wie den Blumen abzugewinnen scheint. Wiederum nur spekulieren läßt sich schließlich über die mehr als ungewöhnliche Wahl des Ortes, die Klippe am Meer unter blauweißem Himmel und möglicherweise kurz nach Sonnenaufgang (wenn die Gelb- und Rot-Töne am Strand nicht nur als Sandfarbe, sondern auch als Reflex der noch tief stehenden Sonne zu lesen sind, worauf auch der noch im Schatten liegende felsige Vordergrund hinzuweisen scheint). Soll hier die Tageszeit metaphorisch (und ironisch) für die in zahlreichen Publikation zum vorgeschichtlichen Menschen beschworene ‚aufgehende Sonne menschlicher Vernunft‘ stehen; soll die Naturschönheit der Landschaftskulisse mangelnde Empfindsamkeit und ästhetisches Unvermögen der Anthropoiden zusätzlich unterstreichen; soll mit Meer und Klippen gar auf die Geographie der britischen Insel und damit auf das Herkunftsland Darwins verwiesen werden?

87 Dazu L. Schiebinger: Am Busen der Natur. Erkenntnis und Geschlecht in den Anfängen der Wissenschaft, Stuttgart 1995, S. 114–167; eine ausführliche Widerlegung dieser Berichte unternehmen noch Brehm, Pechuel-Loesche, Haacke [wie Anm. 84], S. 92–103. Zur ‚Rangfolge‘: „1. Schimpanse – 2. Gorilla – 3. Orang – 4. Neger“ vgl. auch Tf. XI in E. Haeckel: Anthropogenie, Leipzig 1874.

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Spätestens mit Blick auf die höhere Entwicklung der Bildkünste (ab der Jungsteinzeit) korrigierten sich dann freilich selbst die unkonventionellsten Denker, und in den Theorien und Darstellungen übernahmen erwartungsgemäß wieder männliche Künstler die Führungsrolle. Daß die avancierten Malereien Altamiras nicht von diesen, sondern von prähistorischen Künstlerinnen stammen könnten, wurde um 1900 offenbar nie erwogen.88

„Psychische Einheit des Menschengeschlechts“ und ‚Weltkunstgeschichte aus primitiven Anfängen‘ Aus Anlaß des ersten Kongresses für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft war 1913 in Leizpig eine „Ausstellung zur vergleichenden Entwicklungsgeschichte der primitiven Kunst bei den Naturvölkern, den Kindern und in der Urgeschichte“ zu sehen. Diese aus heutiger Sicht überraschende Verbindung und die begleitende Publikation dieser Schau können abschließend in aller Kürze andeuten helfen, welche weiteren Interessen zumindest die deutschsprachige Kunstgeschichte der Jahrzehnte um 1900 an den prähistorischen Bildwerken hatte: 89 Es ging weniger um eine schlicht chronologische Ausweitung der Fachgrenzen in die Vorgeschichte als um zwei andere, wesentlich fundamentalere Fragen. Zum einen um die Untersuchung der ‚Anfänge‘ als A priori einer von den Grundlagen an wissenschaftlichen Kunstforschung und andererseits um die Analyse materieller Hinterlassenschaften als (einzigem) Zugang zu schriftlosen Kulturen. Allerdings waren diese Fragen eben nicht mehr allein am sehr unvollständigen vorgeschichtlichen Material zu klären, vielmehr mußten dafür auch die noch existierenden ‚primitiven‘ Kulturen außerhalb Europas und die ersten Kunstübungen von Kindern einbezogen werden.90 88 Vgl. dann Raphael [wie Anm. 35], S. 32. 89 K. H. Busse: Die Ausstellung zur vergleichenden Entwicklungsgeschichte der primitiven Kunst bei den Naturvölkern, den Kindern und in der Urzeit, in: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft […] Bericht, Stuttgart 1914, S. 79–82. 90 Im frühen 20. Jh. resümiert diese Probleme vielleicht am besten A. Vierkandt: Prinzipienfragen der ethnologischen Kunstforschung, in: Zweiter Kongreß für Ästhetik

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Das verheißungsvollste Versprechen, wie eine ‚strenge Kunstwissenschaft‘ zu begründen sei, gab ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die (Wahrnehmungs-)Psychologie im Gefolge Johann Friedrich Herbarts. In Parallele zur medizinisch-biologischen Anthropologie, die das Lebewesen Mensch in seinen Gesetzmäßigkeiten bestimmte, sollte eine solche Psychologie die Gesetze der Geistesvorgänge des Menschen ermitteln (und damit zugleich die Verbindung zwischen Physis und Psyche/Geist schaffen): Für die Kunstgeschichte und insbesondere die Vertreter der Einfühlungsästhetik war damit die Vorstellung verbunden, daß bestimmte visuelle Formen bestimmte, immer gleiche, anthropologisch konstante Grundreaktionen hervorriefen und damit erst die Möglichzeit zur rückblickenden kunsthistorischen Analyse über Jahrhunderte hinweg schufen. Allerdings wurde schnell deutlich, daß dieser psychologische Erklärungsansatz – wollte er über diese Grundreaktionen hinausgehen – nicht nur isoliert das Individuum in den Blick nehmen durfte, sondern als eine Art von ‚Völkerpsychologie‘ betrieben werden mußte: Denn erst der Blick auf ganze Volksgruppen ließ die in allen Individuen einer Kultur, Region oder ‚Rasse‘ wirkenden Faktoren und Gemeinsamkeiten erkennen, erst dieser synthetisierende Blick erlaubte, größere chronologische und lokale Zusammenhänge zu untersuchen, erst so wurde es möglich, Vergleiche zwischen kulturellen Gruppen anzustellen.91 Alle theoretischen Ansätze dieser Richtung basierten dabei in hohem Maße auf der Interpretation ‚primitiver‘ Menschen, ihrer Leistungen und Produkte, denn nur diese einfachen ‚Anfangsstufen‘ schienen den For-

und Kunstwissenschaft […] Bericht, Stuttgart 1925, S. 338–355; ausführlich dazu auch Pfisterer [wie Anm. 30]. 91 Aus der umfangreichen, allerdings nie umfassenden Literatur dazu sei nur hingewiesen auf Ch. G. Allesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik. Untersuchungen zur historischen Entwicklung eines psychologischen Verständnisses ästhetischer Phänomene, Göttingen u. a. 1987; H. F. Mallgrave, E. Ikonomou: Introduction, in: dies. (Hg.), Empathy, Form, and Space. Problems in German Aesthetics, 1873–1893, Los Angeles 1994, S. 1–85; M. Bunzl: Völkerpsychologie and German-Jewish Emancipation, in: ders., H.G. Penny (Hg.): Wordly Provincialism. German Anthropology in the Age of Empire, Ann Arbor 2003, S. 47–85; J. Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung, Freiburg i. Br. 2005.

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schern überhaupt Zugangsmöglichkeiten zu eröffnen – bei den weiter entwickelten Kulturen sah man sich derart komplizierten Prozessen der Ausdifferenzierung, Überlagerung, Beeinflussung, Reflexion usw. gegenüber, daß an ihnen keine klare Sicht auf die Grundprinzipien mehr zu gewinnen war. Was aus diesen Erkenntnissen für die Kunstproduktion der Menschheit zu gewinnen war, legten dann vor allem 1894 Ernst Grosse und 1900 Yrjö Hirn in ihren großen Entwürfen einer Kunstwissenschaft dar, die konsequent von den Prinzipien der ‚Anfänge der Kunst‘ ausgehend eine umfassende Herangehensweise an alle Kunst zu ermitteln versuchten.92 Darüber, wie die verschiedenen Kulturstufen der Menschheit zueinander in Relation zu setzen seien, wurde jedoch kontrovers diskutiert. Das letztlich international erfolgreichste Modell war der vor allem im anglo-amerikanischen Raum favorisierte ,unilineare Evolutionismus‘, dessen Credo etwa bereits 1844 Robert Chambers auf der ,Rassen-Ebene‘ zusammenfaßte: “The leading characters, in short, of the various races of mankind are simply representations of particular stages in the development of the highest Caucasian type.” 93 Daraus folgerte aber auch, daß die Entwicklung aller Kulturen weltweit quasi naturgesetzlich auf ihre Vollendung in der europäischen Zivilisation zulief; oder anders gesagt: nach ihren ‚Entwicklungsstufen‘ geordnet, schienen die unterschiedlich weit fortgeschrittenen Gruppen der Menschheit den Gang der Geschichte beinahe vom ,Anfang‘ bis zur aktuellen Höhe zu spiegeln. Vor allem der deutschsprachige Bereich jedoch setzte ab den 1860er Jahren dieser Theorie die kombinierte Vorstellung von der „psychischen Einheit des Menschengeschlechts“, die letztlich eine Gleichwertigkeit aller Menschen aller ‚Kulturstufen‘ postulierte, und zugleich der unabhängigen, eigenständigen Weiterentwicklung der ver-

92 E. Grosse: Die Anfänge der Kunst, Freiburg i. Br. 1894; Y. Hirn: The Origins of Art. A psychological & sociological inquiry, London 1900 [dt. Übersetzung 1902]. 93 R. Chambers: Vestiges of the natural history of creation, London 1844, S. 307. – Zu den größeren Zusammenhängen H.-J. Koloß: Der ethnologische Evolutionismus im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ethnologie, 111, 1986, S. 15– 45; P. J. Bowler: From ‘savage’ to ‘primitive’: Victorian evolutionism and the interpretation of marginalized peoples, in: Antiquity, 66, 1992, S. 721–729.

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schiedenen Kulturen entgegen: Als wichtigste Autorität vertrat Adolf Bastian diese Position, die der Sache nach aber bereits in Herders und Wilhelm von Humboldts Theorien zur Kulturgeschichte angelegt und dann etwa schon bei einflußreichen Forschern wie Theodor Waitz oder Moritz Steinthal und Hermann Lazarus in ihrer theoretischen Tragweite ausformuliert war: 94 Nach dieser Vorstellung ließen sich die verschiedenen kulturellen Erscheinungsformen der Welt nicht mehr auf einen Entwicklungsgang reduzieren, sondern stellten – kurz gesagt – alternative, nicht ineinander überführbare, gleichwertige Ausprägungen durch unterschiedliche Einfluß-Faktoren dar. Mit diesem kulturellen Relativismus fiel zumindest theoretisch erstmals die Vorrangstellung Europas. Für die Kunstgeschichte resultierte daraus mit einiger Verzögerung eine radikale Abkehr vom etablierten ästhetischen Kanon. Denn wenn ‚Kunst‘ eine anthropologische Konstante des Menschseins darstellte, die ihn von seinen Anfängen an begleitete, wie die neuen prähistorischen Funde bewiesen, dann galt es nun, den künstlerischen Wert aller dieser ‚primitiven‘ Kunstformen zu akzeptieren und zu verstehen. Damit ist die Intention der bereits zitierten Bücher von Grosse und Hirn ebenso umrissen wie das Programm der Ausstellung 1913 in Leipzig. Das Jahr 1923 markiert dann den Höhepunkt dieser Entwicklung, u. a. mit Herbert Kühns Buch Die Kunst der Primitiven, in dem sich nun gemäß dieser Logik leicht nachvollziehbar die prähistorische Kunst als der ‚absolute Anfang‘ (in Farbabbildung vertreten durch die Wandmalereien Altamiras) reiht neben die Kunstprodukte der Buschmänner, Azteken, Eskimos, Australier usw. und damit neben verschiedene Formen ‚entwicklungsgeschichtlicher Anfänge‘, die aber zugleich vollgültige

94 Etwa K.-P. Koepping: Adolf Bastian and the psychic unity of mankind. The foundations of anthropology in nineteenth-century Germany, Münster/Hamburg 2005 (11983); I. Kalmar: The Völkerpsychologie of Lazarus and Steinthal and the Modern Concept of Culture, in: Journal of the History of Ideas, 48, 1987, S. 671–690; M. Bunzl: Franz Boas and the Humboldtian Tradition. From Volksgeist and Nationalcharakter to an Anthropolocial Concept of Culture, in: G.W. Stocking, Jr. (Hg.): Volksgeist as Method and Ethic. Essays on Boasian Ethnography and the German Anthropological Tradition, Madison 1996, S. 17–78.

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Ausdrucksformen des menschlichen Kunstschaffens darstellen: „Unsere Zeit – arm und reich zugleich – tritt heraus aus dem engen Rahmen europäischer Kunstbetrachtung, ungemessen erweitert sich das Bild, die ersten Schritte werden getan zur Weltgeschichte der Kunst. […] Die Kunst der Primitiven ist in Wirklichkeit nicht primitiv – der Mensch der Zeit lebt primitiv, seine Wirtschaftsform ist primitiv – seine Kunst ist reinster Ausdruck seiner Welt, die nie primitiv, sondern nur anders geschaut, unter anderen Formen erlebt ist. […] So müssen wir sie sehen unter völlig anderem Aspekt. Die Begriffe Winckelmanns und Goethes reichen nicht mehr zu, die Kunst der Urvölker, der Naturvölker zu deuten. Eine Zeit, die das Griechentum und Renaissance allein als die Höhe der Kunst erscheint und jede stilisierte Richtung als ein Verfall, wird kein Verständnis haben für die Kunst der primitiven Völker.“ 95 Angesichts dieses Paradigmenwechsels scheint die zweite Hauptmotivation der Kunstgeschichte für eine Beschäftigung mit ‚anfänglicher Kunst‘ fast in ihrer Bedeutung zurückzutreten – und doch ist auch diese grundlegend: Die Beschäftigung mit den ‚primitiven‘ Bildwerken hätte das Fach dazu führen müssen, sich endgültig von den Geschichts- und Sprachwissenschaften zu emanzipieren. Denn die neue Tendenz, Weltgeschichte und umfassende Kulturgeschichte zu schreiben, führte in diesen Disziplinen notwendig zu einem neuen Interesse auch an den Zeiten und Völkern, die keine schriftlichen Aufzeichnungen angefertigt hatten oder anfertigten. Dabei aber waren die Historiker und Sprachforscher erstmals unausweichlich auf die Ergebnisse kunstgeschichtlicher Analyse der hinterlassenen Bildwerke (und allgemeiner: der materiellen Kultur) und der exklusiv aus diesen Relikten rekonstruierbaren Geistes-Prozessen angewiesen. Oder wie es Karl Lamprecht 1905 zugestanden hatte, dessen Leipziger Institut für verglei-

95 H. Kühn: Die Kunst der Primitiven, München 1923, S. 7; ähnlich ders.: Die Bedeutung der prähistorischen und ethnographischen Kunst für die Kunstgeschichte, in: IPEK. Jahrbuch für prähistorische und ethnographische Kunst, 1, 1925, S. 3–13. – Vgl. jedoch auch schon G. Grant MacCurdy: The Dawn of Art: Cave Paintings, Engravings and Sculpture, in: Art and Archaeology, 4, 1916, S. 71–90.

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chende Kulturforschung nicht zufällig dann 1913 Gastgeber des Kongresses für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft und der begleitenden Ausstellung sein sollte: „[…] Reduziert sich damit die Frage nach der Aufstellung der Zeitalter niedriger Kultur –, oder was dasselbe ist, das Problem der Analyse des ungeheueren völkerkundlichen Stoffes nach historischen Kategorien – zunächst auf die Phantasietätigkeit, so kann und muss sie auf diesem Gebiet […] auf eine Untersuchung der bildenden Kunst beschränkt werden.“ 96 Die Kunstgeschichte sollte es freilich nicht schaffen, die zu beiden Fragen erzielten Ansätze und Ergebnisse über die Zäsur von 1933–1945 hinweg zu retten,97 geschweige denn, diese schon vorher fest in den mainstream ihrer Forschung einzuspeisen und dort zu verankern. Im Gegenteil: Die ‚primitiven‘ Kunstobjekte wurden zunehmend den neuen Fächern der Ur- und Frühgeschichte und der Völkerkunde/Ethnologie überlassen und der Blickwinkel wieder auf die Grenzen des nachantiken Europas (und Nordamerikas) reduziert. Indem so die Kunstgeschichte die Probleme, die ihr Altamira und die prähistorische und ‚primitive‘ Kunst insgesamt spätestens ab 1879/80 stellten, umging, hat sie wohl ihre größte Chance verspielt, um 1900 zu einer geisteswissenschaftlichen Leitdisziplin aufzusteigen.

96 K. Lamprecht: Universalgeschichtliche Probleme vom sozialpsychologischen Standpunkte, in: ders.: Moderne Geschichtswissenschaft. Fünf Vorträge, Freiburg i. Br. 1905, S. 103–130, hier S. 118 f. und 123 f.; zum großen Kontext St. Haas: Historische Kulturforschung in Deutschland 1880–1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität, Köln u. a., und Cartier [wie Anm. 32]. 97 M. Halbertsma: Fremde Welten und vertraute Methoden: die deutsche Weltkunstforschung des frühen 20. Jahrhunderts, in: Kritische Berichte, 31, 2003, S. 28–36; Pfisterer [wie Anm. 30].

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Abb. 1

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Stier aus Altamira, aus: H. Kühn: Die Kunst der Primitiven, München 1923, Taf. nach S. 28.

Abb. 2 Mammut, aus: É. Lartet, H. Christy: Reliquiae Aquitanicae, London 1865–1875, Teil B, Taf. 28.

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Abb. 3

Urhütte und Urmensch, aus: E.-É. Viollet-le-Duc: Histoire de l’habitation humaine, Paris 1870, S. 4–7.

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Abb. 4 Émile Bayard, Les précurseurs de Raphaël et Michel-Ange, ou la naissance des arts du dessin et de la sculpture à l’époque du renne, aus: L. Figuier: L’homme primitif, Paris 1870, fig. 67.

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Abb. 5

Henri-Joseph de Forestier, Die Kindheit Giottos, 1. Hälfte 19. Jahrhundert, Dijon, Musée Magnin.

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Abb. 6

Émile Bayard, Les précurseurs de Raphaël et Michel-Ange, ou la naissance des arts du dessin et de la sculpture à l’époque du renne, aus: L. Figuier: L’homme primitif, Paris 21870, fig. 67.

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Abb. 7 Émile Bayard, Le premier potier, aus: L. Figuier: L’homme primitif, Paris 1870, fig. 17.

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Abb. 8 Wilhelm Bölsche, Der Mensch der Urzeit. I. Tertiärzeit & Diluvium, Stuttgart 1909, Frontispiz.

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Abb. 9

Friedrich Behn, Der Mensch der Urzeit, seine Kunst und seine Kultur, Leipzig 1913, Umschlag.

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Abb. 10

John Evans, The Coins of the Ancient Britons, London 1864, Taf. A.

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Abb. 11

Augustus Henry Lane Fox Pitt Rivers, The Evolution of Culture and Other Essays, Oxford 1906, Taf. V.

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Abb. 12

L’Exposition Universelle de 1889, Paris 1889, Bd. 1, S. 295.

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Abb. 13

Pierre Boitard: Paris avant les hommes …, Paris 1861, Frontispiz.

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Abb. 14

Frantisˇek Kupka, Origines, Vignette am Kapitelanfang, aus: E. Réclus: L’Homme et la Terre, Paris 1905, Bd. 1, S. 3.

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Abb. 15

Thomas Wilson, Prehistoric Art; or the origins of art as manifested in the works of prehistoric man, Washington 1898, Taf. 18.

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Abb. 16

Frantisˇek Kupka: ANTROPOÏDES, 1902, Berlin, Sammlung J. Svestka.

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Abb. 17

Homo sylvestris. Orang-outang, aus: N. Tulp: Observationum medicarum libri tres, Amsterdam 1641, Taf. 14.

Vergils Aeneis: Gründung und Gewalt MICHÈLE LOWRIE

„Dem Sieger gehört der Besiegte, mit Weib und Kind, Gut und Blut. Die Gewalt gibt das erste Recht, und es gibt kein Recht, das nicht in seinem Fundamente Anmaßung, Usurpation, Gewalttat ist.“ Friedrich Nietzsche: Der griechische Staat

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Ansicht verbreitet, das Alte Rom stelle das Modell für Europa dar.1 Diese Auffassung konkurrierte mit jener älteren, die behauptete, Rom sei das Modell für die Vereinigten Staaten gewesen 2, deren Verfassung ja die Gründungsväter teilweise an die römische angelehnt hatten.3 Was nun konkret dieses Modell

Deutsch von Catharina Berents und Brigitte Palm 1 T. S. Eliot: Was ist ein Klassiker, in: Essays, Frankfurt/M. 1967, S. 241 ff.; E. R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948; Th. Haecker: Vergil, Vater des Abendlandes, Leipzig 1931. W. Benjamin: Privilegiertes Denken. Zu Theodor Haeckers „Vergil“, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1972, Bd. II, 1, S. 314–322 (zuerst 1932). 2 M. Hardt and A. Negri: Empire, Cambridge, Mass. 2000, S. 161–4 zum republikanischen und imperialen Rom; H. Arendts Parallelsetzung in dies.: On Revolution, London 1963. 3 A. Momigliano: How to Reconcile Greeks and Trojans, in: Settimo contributo alla storia degli studi classici e del mondo antico, Rome 1984, S. 437–62 listet bekannte und weniger bekannte amerikanische Stimmen zur Parallele Rom – Amerika auf. Er schließt

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beinhaltet, war und ist umstritten. Die römische Republik war vorbildhaft für die amerikanische Verfassung, das Imperium Romanum nahm man für den Faschismus, für den amerikanischen Imperialismus und in gewisser Weise auch für die Europäische Union in Anspruch.4 Keine dieser exemplarischen Bezugnahmen versteht Rom gänzlich falsch, und doch können sie nicht alle zur gleichen Zeit wahr sein. Ich werde mich hier auf das paradigmatisch römische Werk, auf Vergils Aeneis konzentrieren, genauer auf das Thema der Gewalt in der Aeneis und auf die Frage, wieweit dieser Gewaltbegriff im 20. Jahrhundert noch akut war. Die Aeneis kulminiert in einem doppelten Gewaltakt, einem menschlichen: Aeneas tötet Turnus, und einem göttlichen: Juno vernichtet Troja. Das Gedicht begleitet Aeneas auf seiner Flucht aus Troja und durch viele Stationen und Weissagungen, welche es dem Leser und Aeneas selbst immer deutlicher machen, daß es ihm vorbestimmt ist, nach Italien zu gehen und das Geschlecht der Römer zu gründen. Die letzten Szenen des Gedichts bringen die Lösung zahlreicher Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich ihm in den Weg gestellt hatten. Turnus und Juno, Mensch und Göttin, blockieren Aeneas’ Erfüllung seines Fatums. Juno hat Aeneas von Anfang an zugesetzt, weil sie alles Trojanische haßt, sie muß mit Rom versöhnt werden, damit Aeneas seinen Auftrag erfüllen und Lavinia, die Tochter des Latinus, heiraten und eine nach ihr benannte Siedlung namens Lavinium gründen kann. Von dieser Siedlung aus werden von den Nachkommen des Aeneas andere Orte gegründet, darunter schließlich Rom, die Gründung von Romulus und Remus. Turnus muß auf die eine oder andere Weise aus dem Weg geräumt werden, denn er glaubt, daß er das Recht hat, Lavinia zu heiraten. Vergil überwindet diese Hindernisse durch Gewalt.

Hermann Broch: Der Tod des Vergil, New York 1945 ein, ein Roman, der während des amerikanischen Exils des Schriftstellers vollendet wurde. 4 Zur faschistischen und antifaschistischen Indienstnahme Vergils s. F. Cox: Envoi: the Death of Vergil, in: The Cambridge Companion to Vergil, hrsg. von C. Martindale, Cambridge 1997, 327–36, hier S. 327; H. P. Stahl: Vergil’s Aeneid. Augustan Epic and Political Context, hrsg. von H. P. Stahl, London 1998; R. F. Thomas: Virgil and the Augustan Reception, Cambridge 2001, Kapitel 7 und 8.

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Turnus wird in einem Duell mit Aeneas getötet und Juno wird versöhnt um den Preis der Aufgabe der trojanischen Identität. Daß Aeneas zögert, bevor er Turnus tötet, und daß es einen alternativen Vertrag zwischen Trojanern und Latinern gibt, den Juno zurückweist, zeigt, daß andere narrative Lösungen der Konflikte möglich waren. Vergil aber entscheidet sich dafür, die Gründung Roms als Gewaltakt zu inszenieren. Der Tod des Turnus und die Versöhnung mit Juno sind beides Akte der Gründung und lassen verschiedene Deutungen zu. Viele verschiedene Arten von Gewalt häufen sich in den letzten Szenen des Gedichts und verleihen dem, was später Rom wurde, seine Legitimität.5 Vergils Befassung mit dem Thema Gewalt ist aus seiner Gegenwart heraus zu verstehen: Rom erlebte erst eine Phase des Bürgerkriegs, in dem der zukünftige Kaiser Augustus eine besonders blutige Rolle spielte, und dann unter demselben Augustus eine Zeit des Friedens. Walter Benjamins Essay Zur Kritik der Gewalt wird den Rahmen für unsere Analyse abgeben, aus zwei Gründen.6 Erstens stellt er eine Reihe von Kategorien der Gewalt auf, die hilfreich sind, die Aeneis zu verstehen, und zweitens wurde er in der Zwischenkriegszeit verfaßt, als Vergil eine herausragende Rolle für den Entwurf eines vereinten Europa spielte – siehe dazu unseren 4. Abschnitt. In seiner Kritik des Benjaminschen Essays stellt Jacques Derrida eine Frage, die das zentrale Problem aller Aeneis-Interpretationen betrifft: „Welcher Unterschied besteht auf der einen Seite zwischen der gerechten Gewalt oder zumindest der Gewalt, die sich legitimieren läßt […], und auf der anderen der Gewalt, die man immer als ungerecht ansehen wird.“ 7 Derrida distanziert sich von Benjamin, indem er jede Art von revolutionärer Gewalt und

5 Zu Vergils Beschäftigung mit dem Thema Gewalt s. D. C. Feeney: The Gods in Epic: Poets and Critics of the Classical Tradition Cambridge 1991, S. 50; L. Morgan: Assimiliation and Civil War: Hercules and Cacus, in: Stahl [wie Anm. 4], S. 175–97, hier S. 185; J. Farrell: The Vergilian Century, in: Vergilius 47, 2001, S. 11–28, hier S. 19. 6 W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1977, Bd. II, S. 179–203 (zuerst 1921). 7 J. Derrida: Force of Law: The “Mystical Foundation of Authority”, in: Acts of Religion, hrsg. von G. Anidjar, London 2002, S. 230–98, hier S. 233–4.

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deren Berufung auf Gott ablehnt. Er macht eine Unterscheidung zwischen griechischer und jüdischer Gewalt, wenn er auch sich dieser Grenzziehung nicht ganz sicher ist. Vergils Behandlung von Gewalt in der Aeneis verweist auf das entstehende Rom, und Rom taucht immer wieder, wenn auch oft latent, in der kritischen Tradition auf, die sich mit Benjamins Ansatz beschäftigt. Hannah Arendt z. B. vermeidet es, Benjamins Konzeption der göttlichen Gewalt direkt zu widersprechen, obwohl ihr Buch Macht und Gewalt ganz klar eine Antwort auf Benjamin darstellt und sie über die Aeneis ausführlich in Über die Revolution spricht. Ich werde versuchen zu zeigen, daß Rom ein latentes Thema dieses Diskussionsstranges darstellt, daß aber römische Gewalt eine emergente Gewalt ist und daß Arendt, weil sie mit Benjamins Ansatz nichts anfangen kann, die Aeneis falsch liest. Dabei geht es nicht nur um Fragen der Legitimation, sondern auch um das Modell einer europäischen oder amerikanischen Identität, das die Aeneis setzt.

1. Rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt Auf Deutsch lautet der Titel von Benjamins Aufsatz Zur Kritik der Gewalt, die englische Standard-Übersetzung Critique of Violence übermittelt dagegen nur einen Teil der Assoziationen, die in Gewalt mitschwingen. Cassels Wörterbuch listet auf: „power, authority, dominion, sway […], control, […], might, force, violence“; Hanna Arendt stellt in Macht und Gewalt (On Violence) eine ähnlich differenzierte Liste zum Verständnis von Gewalt auf.8 Meine Verwendung von Benjamins Begriff soll die meines Erachtens gut begründete Assoziation nahe legen, daß Gewalt im Kontext von Macht gesehen werden soll. Benjamin beginnt seinen Essay mit der Feststellung, daß „eine Kritik der Gewalt sich als Darstellung ihres Ver8 H. Arendt: On Violence, San Diego 1969, S. 35–42, hier S. 43. Derrida [wie Anm. 7], hier S. 234, 262. Sie kritisiert die Annahme einer direkten Verbindung zwischen Gewalt und Macht, zeigt aber, daß diese Annahme eine lange Geschichte hat. Siehe auch Derrida [wie Anm. 7], S. 234, 262.

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hältnisses zu Recht und Gerechtigkeit umschreiben“ läßt. Da aber Gewalt nie ein Zweck, nur ein Mittel sein könne, seien wir gehalten zu ermitteln, ob „Gewalt jeweils in bestimmten Fällen Mittel zu gerechten oder ungerechten Zwecken sei“.9 Es geht also um Gewalt nicht als Prinzip, sondern um ihren Gebrauch und ihre Konsequenzen. „Offen bliebe immer noch die Frage, ob Gewalt überhaupt, als Prinzip, selbst als Mittel zu gerechten Zwecken sittlich sei.“ Wie läßt sich dann Gewalt „kritisieren“? In unserem Beispiel, in der Aeneis erscheint die Gründung Roms als ein gerechtes und vom Schicksal gewolltes Endziel, was heißt, daß die Gewalttaten am Ende des Gedichts mit diesem Ziel zusammen zu betrachten sind. Benjamin versucht zwischen den Mitteln zu unterscheiden, „ohne Ansehen der Zwecke, denen sie dienen“, und das führt ihn dazu, die Unterscheidung zwischen „der historisch anerkannten, der sogenannten sanktionierten und der nicht sanktionierten Gewalt“ in Frage zu stellen.10 Diese Unterscheidung gehört in das Feld des positiven Rechts, welches Gewalt als „historische Gewordenheit“ begreift.11 Damit ist auch für den Schluß der Aeneis gefragt, ob die Gewalt dort sanktioniert oder unsanktioniert ist und von wem das Sanktionieren ausgeht: der implizierten oder realen Leserschaft, dem Autor, den Göttern, der Geschichte selbst? Aber wichtiger noch ist die Frage, was es bedeutet, eine solche Unterscheidung zu treffen. Was in einem Staat Gewalt in den Händen Einzelner rechtfertigt, ist das Gesetz.12 Aber bevor ein Staat existiert, vor dem Akt der Gründung oder der Herbeiführung gründender Umstände, bedeutet das herrschende Naturrecht, daß Menschen mit Recht zu gewaltsamen Mitteln greifen, solange das Ziel gerecht ist? 13 Kann man Aeneas zur Rechenschaft ziehen, wenn er Turnus tötet, bevor ein Staat solche Gewalt für illegal erklären könnte? 14 9 10 11 12 13 14

Benjamin [wie Anm. 6], S. 179. Ebd., S. 181. Ebd., S. 180. Ebd., S. 182. Ebd., S. 180. Derrida [wie Anm. 7], S. 274 faßt das Paradox folgendermaßen zusammen: „Auf der einen Seite erscheint es einfacher, Gewalt zu kritisieren, die gründend wirkt, weil sie durch keine vorausgehenden Rechtsverhältnisse legitimiert ist, also wild erscheint.

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Damit ist das Verhältnis von Gründung zu Gewalt angesprochen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir überhaupt einen Zustand der Natur, der Vorgründungszeit, sei es theoretisch oder in der Aeneis isolieren können. Es gibt dort zwei Quellen für die Frühzeit Italiens, Evander und Latinus, und ihre Berichte sind widersprüchlich. Evander erzählt Aeneas, daß die frühesten Bewohner der Region „eingeborene Faune und Nymphen“ (8.314), aber auch Felsen- und Baummenschen waren. Der Naturzustand, den sie repräsentieren, ist im Wesentlichen subhuman und vorsozial. Latinus stellt die Latiner als ein saturnisches Volk dar, das wenn auch ohne Gesetze doch in einem rechtsförmigen Zustand lebt. Evanders Erzählung von der Gründung durch Saturn mutet dagegen merkwürdig vertraut an. Sie kam durch die Gewalt Jupiters bzw. durch das Exil Saturns zustande – eine wichtige Parallele zu Aeneas – und mündete in der Gesetzgebung Saturns (8.319–22). Das daraus entstehende Goldene Zeitalter differiert von den Schilderungen anderer Goldener Zeitalter darin, daß in ihm bereits Gesetze bestehen. Ich denke, daß der Widerspruch die Versuchung erkennen läßt, ein Goldenes Zeitalter vor der Zeit der Gründung zumindest theoretisch anzunehmen (Latinus’ Version), diese Annahme aber durch Evanders Bericht hohl erscheinen läßt. Das Goldene Zeitalter, das Anchises vorhersagt und das Augustus begründen soll (6.791–5), entsteht aus der Gewalt der Bürgerkriege; es wird mit Sicherheit nicht gesetzlos sein. Zumindest läßt sich sagen, daß der Widerspruch zwischen Latinus und Evander und ihren Beschreibungen der saturnischen Herrschaft auf zwei verschiedene Gründungstheorien verweist.15 Auch Benjamin sieht das Gesetz überall schon in Wirkung. Er schreibt der Gewalt einen gesetzesbegründenden Charakter zu, kann aber keinen Aber auf der anderen Seite, […] ist es schwieriger und illegitimer, diese gründende Gewalt zu kritisieren, denn man kann sie nicht vor die Instanz eines vorausgehenden Gesetzes ziehen. Sie kann in dem Moment kein existierendes Gesetz anerkennen, da sie ein anderes begründet.“ 15 Ein ähnlicher Widerspruch ergibt sich aus der Frage, ob die Latiner im Krieg oder im Frieden sind, s. O. Hara: they Might be Giants: Inconsistency and Indeterminacy in Vergil’s War in Italy, in: Colby Quarterly 30, 1994, S. 206–32, hier S. 215–17; E. Adler: Vergil’s Empire. Political Thought in the Aeneid, Lanham 2003, S. 167–78.

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Ursprung dafür angeben. Sein Beweis für rechtsetzende Gewalt ist, „daß selbst – oder vielmehr gerade – in primitiven Verhältnissen, die von staatsrechtlichen Beziehungen sonst kaum Anfänge kennen, und selbst in solchen Fällen, wo der Sieger sich in einen nunmehr unangreifbaren Besitz gebracht hat, ein Friede zeremoniell erforderlich ist“.16 Das Bündnis oder Zeremoniell schafft de jure eine Situation, welche die Gewalt de facto hergestellt hat. Gesetz folgt auf Gewalt, aber für die Situation davor wird angenommen, daß keine Gesetze effektiv sind. Alles was mit Gründung und Gewalt in Zusammenhang steht, ist schon bei der Vor-Gründung durch Aeneas im Spiel, die wie gesagt nicht Roms erste Gründung ist. Latinus und Evander herrschten bereits über etablierte Staatsgebilde, die mit dem späteren Rom in ursächlichem Zusammenhang stehen – Evander wird ja auch der Gründer der römischen Festung genannt, sodaß auch die VorGründung des Aeneas zahlreiche Vor-Gründungen hat. Benjamin sieht ein komplizenhaftes Verhältnis zwischen der Gewalt, die das Recht stiftet, und der Gewalt, die es bewahrt. Dies sind die Arten der Gewalt, die er als Mittel charakterisiert und die beide dazu beitragen, die Staatsgewalt zu erhalten. Letztere gründet sich permanent neu, indem sie sich gegen rivalisierende Gewaltakte verteidigt, die potentiell auf die Gründung eines neuen Gesetzes hinauslaufen.17 Das ist der Grund, warum die 16 Benjamin [wie Anm. 6], S. 185. Derrida [wie Anm. 7], S. 274 kommentiert, daß beim Übergang von Krieg zu Frieden der „Krieg, der als ursprüngliche und archetypische Gewalt bei der Verfolgung natürlicher Ziele aufgefaßt wird, in Wirklichkeit eine rechtsetzende Gewalt ist“. Vermutlich gilt Krieg als „natürlich“, weil er als notwendige Fiktion dient, mit deren Hilfe wir uns Geschichte erklären. Derrida enthüllt den konstruierten Charakter des Fehlens eines früheren Zustands: „da ist die Frage nach diesem ungreifbaren revolutionären Moment, dieser exzeptionellen Entscheidung, die in keinem historischen, zeitlichen Kontinuum unterzubringen ist, in der aber die Setzung eines neuen Gesetzes gleichwohl auf ein früheres Gesetz anspielt […], indem es dieses ausweitete, radikalisiert, deformiert, metaphorisiert oder metonomisiert.“ 17 D. Fowler: Opening the Gates of War: Aeneid 7.601–40, in: Stahl [wie Anm. 4], S. 155–74, hier S. 164 bemerkt die analog zirkuläre Struktur der Herstellung des Friedens im Kontext der Schließung der Tore des Janus in der Aeneis und durch Augustus.

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Figur des „großen Verbrechers“ „die heimliche Bewunderung des Volkes erregt“, denn seine Gewalt fordert die Erhaltung des gesetzmäßigen Zustandes selbst heraus und würde im Falle des Erfolges zu einer neuen Ordnung führen.18 Daher rührt vielleicht auch die Bewunderung für Turnus, der für andere als Vertragsbrüchiger und als „Rebell gegen die Götter“ 19 gilt. Das Mitleid mit Turnus, dem fehlgeleiteten jungen Helden, maskiert das Verlangen nach einer wirksamen Herausforderung der Ordnung, die sich binnen kurzem etabliert.20 Die zirkuläre Struktur, die Gesetzgebung und Gesetzerhaltung verbindet, begründet meiner Meinung nach auch die Auswahl der Bilder auf dem Schild des Aeneas, welche die römische Geschichte bis zur Schlacht von Actium zusammenfassen. Was auf den ersten Blick als disparate Geschichtsbilder erscheint, wird durch die Kategorien der Gründung, Gewalt, Gesetzgebung und Schutz der Gesetze zusammengehalten. Die Ereignisse antizipieren die Neugründung Roms durch den Bürgerkrieg, die in der Schlacht von Actium kulminieren, und es ist kein Zufall, daß die Schlußszene den dreifachen Triumph des Augustus zeigt, jenes Ritual, das der Gewalt ein Ende setzte und den Weg zu der sogenannten „Ersten Regelung“ bereitete. Die Gewaltakte am Ende der Aeneis sind meines Erachtens alle im Lichte der Gründungsthematik zu betrachten. Sie ermöglichen eine neue Ordnung, die in letzter Instanz das Imperium Romanum sein wird. Doch die beiden hauptsächlichen Gewaltanwendungen funktionieren auf eine Art und Weise, die die gewaltsamen Auseinandersetzungen des Geschichtsbe-

18 Benjamin [wie Anm. 6], S. 183. Deswegen „fürchtet der Staat die gründende Gewalt“, wie Derrida [wie Anm. 7], S. 268 bemerkt. 19 H. P. Stahl: The Death of Turnus: Between Republic and Empire: Interpretations of Augustus and His Principate, hrsg. von K. A. Raaflaub und M. Toher, Berkeley 1990, S. 74–211, hier S. 177. 20 M. C. J. Putnam: Virgils’s Aeneid: Interpretation and Influence, Chapel Hill 1995, S. 166; R. G. Thomas: The Isolation of Turnus, in: Stahl [wie Anm. 4.], S. 283, M. C. H. Putmann: The Poetry of the Aeneid, Cambridge, Mass. 1965, S. 193 zur Verherrlichung des Underdog aus einer sympathisierenden Perspektive.

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richtes auf dem Schild transzendiert. Da ist der Tod des Turnus, aber auch die Gewalt, die dem Geschlecht der Trojaner angetan wird, damit die Versöhnung mit Juno zustande kommt. Letzterer Fall verlangt nach Einführung neuer Kategorien, aber ich denke, daß Benjamins doppelter Ansatz von „rechtsetzend“ und „rechtserhaltend“ auf die Geschichte mit Turnus paßt. Wenn der Staat auch noch nicht gegründet ist, so färbt die Rückschau, die dann Fatum heißt, die Handlungen des Epos derart, daß jeder Widerstand gegen Roms Gründung als ein Versuch gewertet wird, die Mächte umzuwerfen, die sich erst in der Zukunft etablieren werden. Vom Standpunkt der rechtsetzenden Gewalt aus gesehen, bedroht Turnus in der Tat den Versuch, dem Pakt zwischen Trojanern und Latinern eine legale Basis zu geben, und deswegen ist die Gewalt, die gegen ihn angewendet wird, rechtserhaltend. Jemand muß für den Bruch des Paktes bezahlen, der so feierlich am Anfang des 12. Buches beschrieben wurde und so bald darauf von den Italern gebrochen wurde. Und da der Pakt auf der Austragung eines Duells zwischen Aeneas und Turnus beruhte, ergibt es Sinn, daß Turnus die Auflösung des Bündnisses mit seinem Leben bezahlt. Die Gewalt ist in dem Sinne rechtsetzend, wie der Tod des Turnus für die Begründung der neuen Ordnung notwendig ist. Rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt bekräftigen einander. Betrachten wir aber die Kategorisierung der Gewalt, die Aeneas gegen Turnus ausübt, als rechtserhaltend etwas genauer. Tatsächlich greifen wir hier nur einen Aspekt dieses Vorgangs auf, und daß es so viele gibt, ist meiner Meinung nach die Ursache für den erbitterten Streit zwischen den sogenannten Optimisten und Pessimisten in Sachen Tod des Turnus. Die Forschung konnte zu so verschiedenen Interpretationen des Vorgangs kommen, weil er überdeterminiert ist. Diskutiert wird über die Eigenschaft des Turnus als Paktbrüchigem.21 Es gibt zwei Vereinbarungen zwischen den Trojanern und den Latinern, von denen die erste eher informell in

21 W. R. Johnson: Robert Lowell’s American Aeneas, in: Materiali e discussioni 52, 2004, S. 227–39, hier S. 237 Anm. 17 mit der Bibliographie.

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Buch 7 stattfindet 22, während die zweite mit einem Opfer formell in Buch 12 begangen wird. Nachdem die erste Vereinbarung gebrochen wurde, ruft Aeneas aus: „Ha, wie du schwer mir, Turnus, bezahlst!“ (8.538). Aeneas hält sich an die Grenzen legaler Gewalt: der Paktbrüchige muß eine Strafe entrichten. Als er aber Turnus in Buch 12 tötet, ist die Art der Strafe eine andere geworden. So wie Aeneas es sieht, hat er Turnus nicht in seiner Eigenschaft als Anführer der paktbrüchigen Feinde getötet, sondern weil er den Tod des Pallas zu verantworten hat. Aeneas redet nach wie vor von Strafen, aber auf eine Art und Weise, welche die Kategorie der rechtserhaltenden Gewalt überschreitet: „Pallas opfert dich, Pallas durch dies Schwert und läßt mit dem Blut, dem verruchten, dich büßen.“(12.948–9) Wenn man auch argumentieren kann, daß Turnus Pallas auf verbrecherische Weise getötet hat und Aeneas nach römischen Gesetzesvorstellungen zurecht gehandelt hat, so muß man doch die andere Natur dieser Gewalttat anerkennen und zugeben, daß sie die Kriterien von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt so wie wir sie eingeführt haben, überschreitet.23 Hinzu kommt, daß der Grund für die Bestrafung des Turnus nicht im legalen Raum angesiedelt ist. Es handelt sich um einen Akt der Rache, der im Zorn begangen wird, und deswegen als heroisch und vorgesetzlich zu beschreiben ist. Nachdem die Furien ihre Gewalt an die Eumeniden im gleichnamigen Drama des Aeschylos abgegeben haben, werden Akte persönlicher Rache vor den Gerichten verhandelt, aber diese Athenische Lösung baut darauf auf, daß es bereits eine Gesellschaftsordnung gibt, welche die Institution des Gerichtes trägt. Eine solche soziale Sphäre, die eine juristische Lösung des Streites zwischen Trojanern und Latinern fundieren

22 Latinus betont den Teil des Friedensvertrages, der es ermöglicht, Aeneas zu treffen und die Hand zu geben („für mich ist es ein Teil des Friedens, die Hand des Königs zu berühren“, 7.266), aber dazu kommt es nicht. 23 G. K. Galinsky: The Anger of Aeneas, in: American Journal of Philology 109, 1988, S. 321–48; H. P. Stahl: The Death of Turnus, in: Between Republic and Empire: Interpretations of Augustus and His Principate, hrsg. von K. a. Raaflaub und M. Toher, Berkeley 1990, S. 174–211, hier S. 205–9; N. Horsall: A Companion to the Study of Virgil, Leiden 1995, S. 198–209.

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könnte, existiert nicht und selbst wenn es eine gäbe, folgt der Krieg anderen Regeln. Für Benjamin ist Zorn die Kategorie, die aus dem Bereich der Gewalt im gesetzlichen Rahmen hinausführt in eine eher mystische Sphäre, und seine dafür entwickelten Kategorien haben Gültigkeit sowohl für den Tod des Turnus, als auch für die göttliche Entscheidung, die zum Ende Trojas führt.24

2. Mythische Gewalt Zorn ist eine Art von alltäglich vorkommender Gewalt, die sich nach Benjamin „nicht als Mittel auf einen vorgesetzten Zweck bezieht“. Sie ist vielmehr expressiv, „eine Manifestation“. Die Art von Gewalt, die nicht der Rechtstheorie unterliegt, nennt er „mythische Gewalt“. Er macht dabei den Sprung von der Wut der Menschen zu der Wut der Götter: „Die mythische Gewalt in ihrer urbildlichen Form ist bloße Manifestation der Götter. Nicht Mittel ihrer Zwecke, kaum Manifestation ihres Willens, am ersten noch Manifestation ihres Daseins.“ 25 Ich finde Benjamins Konzeption der mythischen Gewalt in mehrfacher Hinsicht unzulänglich. Seine Beispiele sind Niobe und Prometheus, bei denen es einfach ist, die Ausübung der göttlichen Gewalt mit Strafe zu verwechseln und wo Fragen der Theodizee die Sachlage verunklären. Juno, die den Aeneas verfolgt, ist ein viel besseres Beispiel. Wenn wir die narrativen Zwecke dieses Motivs, den Gang der Geschichte aufzuhalten, einmal beiseite lassen, dann erscheint aus theologischer Sicht Junos Zorn als unerklärlich.26 Sie hat natürlich Gründe für ihre Rache an den Trojanern, die vom Urteil des Paris über Jupiters Raub des Ganymed bis zu ihrer Verteidigung

24 Morgan [wie Anm. 5], S. 186; Derrida [wie Anm. 7], S. 269. 25 Benjamin [wie Anm. 6], S. 294. 26 R. D. Williams: The Aeneid of Virgil, Books 1–6, New York 1972, merkt zu Aeneis 1.11 an: „Dies ist die Frage, der die Aeneis nachgeht: ‚die Wege des Gottes vor den Menschen zu rechtfertigen‘; Vergil findet dazu im Gegensatz zu Milton nur suchende und unvollkommene Antworten.“

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von Karthago gegen Roms Zerstörungsabsichten reichen, aber das Gedicht beginnt mit einer rhetorischen Frage, welche das Unergründliche des göttlichen Ratschlusses unterstreicht. Anders als Homer, welcher die Muse anruft, um den Gott zu erfahren, der den Streit unter den Achäern verursachte, anders als diese Frage nach einer Information, will Vergil von der Muse etwas wissen, worauf es keine Antwort gibt: Warum sollte eine Göttin einen Mann, nämlich Aeneas, verfolgen, der durch die Eigenschaft ausgezeichnet ist, welche die Römer pietas nennen? 27 „So groß glüht himmlischen Seelen der Zorn auf?“ Junos Zorn ist ohne Maß und geht in die falsche Richtung. Er ist noch nicht einmal eine Prüfung, so wie Gott Hiob prüft. Aeneas wird für kein Vergehen bestraft, im Gegenteil: Seine pietas äußert sich auch als Pietät gegenüber den Göttern. Obwohl Juno sehr wohl weiß, daß sie ihr Ziel, die Rettung Karthagos, nicht erreichen kann, läßt sie Aeneas leiden – aus dem einfachen Grund, daß sie es kann.28 Ihre Gewalt ist unvermittelt, sie dient nicht einem Zweck, außer dem einen, daß sich so ihr Zorn über das Schicksal manifestiert, das sie nicht ändern kann. Um Junos Zorn noch besser zu verstehen, müssen wir ihn nicht nur als eine Charaktereigenschaft der Göttin nehmen. Juno steht für den Gegensatz Karthago-Rom, ihr Haß drückt sich im Mythos aus, sie allegorisiert das Naturelement der Luft und steht damit in enger Verbindung zu den Winden, die Aeneas so erbarmungslos verfolgen. Aber mehr noch als alle diese Qualitäten personifiziert Juno die destruktiven Kräfte, welche sich der menschlichen Kontrolle und Verstehensweise entziehen. Der Grund für ihr effektives Wirken als Figur einer epischen Erzählung hat damit zu tun, daß sie als Göttin die verschiedenen destruktiven Kräfte in sich vereinen kann. Wir können gut verstehen, wie dieses Motiv ein Epos antreibt,

27 Feeney [wie Anm. 5], S. 130 weist daraufhin, daß Vergil hier eine andere unbeantwortbare Frage zu den Göttern parallelisiert, die am Schluss des Gedichts steht: „Tanton placuit cucurrere motu,/ Iuppiter, aeterna gentis in pace futuras?“ „So denn gefiel’s, daß wild sich berennten in Aufruhr,/ Juppiter, ewig hinfort durch Frieden vereinigte Völker?“ (12.503–4). 28 R. Heinze: Vergil’s Epic Technique, übers. von H. und D. Harvey und F. Robertson, Berkeley 1993, S. 148; Feeney, [wie Anm. 5], S. 146.

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aber merkwürdig mutet an, wie ein Theoretiker des 20. Jahrhunderts Kategorien der Gewalt aus dem Handeln der Götter entwickelt, ohne die allegorischen Absichten der Antike zu berücksichtigen. Ich finde Benjamins Kategorie der mythischen Gewalt nicht zufriedenstellend, weil seine Beispiele eine Unterscheidung zwischen menschlicher und göttlicher Gewalt implizieren, so als würde mythische Gewalt allein den Göttern gehören. Dies ist aber nicht richtig, wie Benjamin selbst nahe legt, wenn er mit dem (menschlichen) Zorn als Selbstausdruck seine Überlegungen anfängt. Er hat in dem Punkt recht, daß er die enge Beziehung der ziellosen, expressiven Gewalt in eine Nähe zur rechtsgebenden, zielgerichteten Gewalt rückt – beide etablieren neue Machtverhältnisse. Diese Akte unterminieren die Gewalt des Gesetzes, deren Zweck darin besteht, Gewalt nur als Mittel einzusetzen. Gewalt ohne Zweck drängt sich dazwischen, wenn sie auch nicht, Benjamin zufolge, legitimiert werden kann. Meiner Meinung nach führt im Falle von Aeneas der Zorn zu einer Gewalt, die ohne höheres Ziel die legitimen Gründe der Bestrafung des Turnus als Gesetzesbrecher überformt. Gegen diesen unvermittelten Gewaltausbruch erheben die „Pessimisten“ ihre Einwände.

3. Göttliche Gewalt Die Gründung Roms basiert aber nicht nur auf dem Tod des Turnus, sondern auch auf der Versöhnung mit Juno. Auch hier finden wir zwei einander überlagernde Arten von Gewalt. Bevor wir sie gründlicher analysieren, ist es angebracht, einen Schritt zurückzugehen und uns mit der merkwürdigen Einigung zwischen Jupiter und Juno näher zu befassen. Unser Wissen, daß Troja bei der Gründung von Rom keine Rolle spielte, läßt uns das Verschwinden des trojanischen Elementes im Epos als Rationalisierung einer historischen Tatsache erscheinen.29 Unter narrativen Gesichtspunkten

29 Zu der Betonung von Kleidung und Sprache s. N. Horsfall: Aeneas the Colonist, in: Vergilius 35, 1989, S. 8–27, hier S. 22; Stahl [wie Anm. 23], S. 194.

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betrachtet, erscheint die Einigung bizarr. Juno wird sich der Gründung Roms nicht weiter in den Weg stellen, wenn die Sieger ihre kulturelle Identität aufgeben. Das wäre so, wie wenn Juno und Jupiter sich über die Vereinigten Staaten streiten und die siegreichen europäischen Kolonisten fortan wie die Navaho oder Cherokee sprechen und auftreten müßten.30 Vergils Erzählung reagiert hier auf eine kulturgeschichtliche Merkwürdigkeit. Was für ein Bedürfnis bestand bei den Römern, sich einen Gründungsmythos zuzulegen, in dem Fremde aus dem Osten, Verlierer in einem Krieg, den Vergil als einen Konflikt zwischen Europa und Asien darstellt,31 nach Italien kommen und durch ihre kulturelle Assimilation eine indigene Kultur transformieren, die ohnehin schon aus eigenen Mitteln auf dem Weg zur Weltmacht war? Man könnte annehmen, daß Autochthonie ein größeres ideologisches Gewicht besitzt, aber Vergil denkt da anders.32 Die Stämme, die Evander indigen nennt, haben keine Gesellschaftsordnung (8.314), aber Vergil erwähnt viele Völker, die aus der Fremde kommen und Siedlungen gründen, die zur Stärkung Roms beitragen. Autochthonie entbehrt eines Momentes der gründenden Gewalt, dasselbe gilt für die Idee eines einladenden Landes, das mehrere Wellen der Kolonisation aufnimmt. Andere Erzählungen von der Frühzeit Roms, die auch Aeneas als den Gründer der Rasse, die Romulus hervorbringen wird, einsetzen, kennen dieses Moment der Gründung durch Gewalt nicht.33 Juno stellt Jupiter folgende Bedingungen, was die Einigung anbelangt: „Laß für Latium mich, für die Hoheit der Deinigen flehen: Wenn sie (und sei es darum!) durch glückliche Ehe den Frieden

30 Horsfall [wie Anm. 29], S. 22; Adler [wie Anm. 15], S. 197. 31 Ilioneus und Juno (7.224; 10.91) beschreiben den trojanischen Krieg als einen Konflikt zwischen Europa und Asien. 32 Zum Gegensatz s. Momigliano [wie Anm. 3], S. 438, 442, 457. A. Grandazzi: The Foundation of Rome: Myth and History, übers. von J. M. Todd, Ithaca 1997, Kapitel 7 u. 8 erzählt die Geschichte eines autochthonen Gradualismus, der jedoch durch historische Akte pointiert wird, die Gewalt einschließen; E. Dench, From Barbarians to New Men: Greek, Roman, and Modern Perceptions of Peoples of the Central Apennines, Oxford 1995, S. 202. 33 Horsfall [wie Anm. 29], S. 12–24.

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Jetzo besiegeln und sich durch Vertrag und Gesetze verbinden, Laß nicht den heimischen Stamm der Latiner den früheren Namen Ändern, in Troer sich nicht umwandeln und Teukrer sich nennen Oder die Sprache vertauschen das Volk und der Tracht sich entäußern. Latium leb’ und das Königsgeschlecht der Albaner und Romas Stamm Jahrhunderte durch in der Kraft italischer Tugend. Troia ist tot, so laß es denn tot sein, auch mit dem Namen.“ Lächelnd erwiderte ihr der Erzeuger der Welt und der Menschen „Schwester des Zeus – das bist du –, Saturns nächstältester Sprößling, So schwillt hoch dein Herz in des Grolls wildflutender Brandung. Aber beschwichtige jetzt den umsonst sich regenden Ingrimm: Was du willst, ist gewährt; freiwillig begeb’ ich des Siegs mich. Heimatsprache und -brauch soll stets dem Ausonier bleiben Auch sein Name der selbige sein; mit der Masse gemischt nur Bleiben die Teukrer im Land. Auch heilige Sitt’ und Gesetze Füg ich hinzu und mache sie alle gesamt zu Latinern. Einst siehst dieses Geschlecht, das gemischt vom ausonischen Blut sproßt, Über die Menschen an Frömmigkeit du und die Götter hinausgehn Auch wird nimmer ein Volk gleich ihm dir Ehren erweisen.“ (12.820–40)

Für Vergil verknüpft sich die Frage der kulturellen Identität ganz eng mit der Einsetzung des Rechts. Wenn Juno versöhnt ist, transformiert sich ihre mythische Gewalt in rechtsetzende Gewalt, trägt sie bei zu dem vom Schicksal gewollten Aufstieg zur neuen Weltmacht. Die Einigung erfolgt zum Preis einer anderen Form von Gewalt: der Zerstörung der trojanischen Kultur. Die Differenz der Kleidung und der Sprache unterscheidet auf dem Schild des Aeneas die eroberten Völker, und diese Attribute müssen die Trojaner aufgeben, so als seien sie Eroberte. Juno erreicht einen unblutigen Genozid im Namen des Friedens und der Einsetzung des Rechts. Meine tendenziöse Formulierung verschmilzt Benjamins Kategorien der mythischen und der göttlichen Gewalt. Göttliche Gewalt ist ein komplexer Begriff, den Benjamin als Gegenmacht gegen die mythische Gewalt aufstellt. Sein Bezugspunkt ist die Revolte Korahs im 4. Buch Mose.34 Benjamin sucht hier nach einer Kritik der Gewalt an sich, 34 Die biblische Geschichte ist extrem komplex, da in dem fraglichen Kapitel zwei Rebellionen fusioniert wurden: „eine Rebellion der Leviten, denen es um priester-

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nicht der Gewalt als Mittel. Gleichzeitig möchte er sie als Prinzip bewahrt wissen, um historische Veränderungen zu ermöglichen. Die Geschichte von Korah ist in der Tat politisch, da sie vom Aufstand gegen die Macht des Moses handelt.35 Da Gewalt in der Sphäre des Rechts kein Zweck an sich sein kann, sucht Benjamin nach anderen Formen ihrer Äußerung und findet sie bei den Göttern. Mythische Gewalt hat zwar den Charakter der Unmittelbarkeit, sie wird aber schließlich durch ihre Verbindung mit legaler Gewalt kompromittiert. Sie erzeugt im Endeffekt ein neues Gesetz, und Benjamin sucht nach einer Form von Gewalt, die eine „reinere Sphäre“ erschließt. Der Marxist in ihm sucht nach einer Begründung der wahren Revolution. Irgendwelche von Menschen bewirkte politische Kursänderungen tun es für ihn nicht, eine radikale Wende, die eine „neue historische Epoche“ einleiten würde, die das Unbekannte heraufbringt, wird angestrebt. „Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal.“ 36 Während wir niemals wissen werden, was die Götter sind oder was Gott vorhat, können wir etwas Bescheideneres wissen wollen, nämlich ob Vergil eine ähnliche Konzeption wie Benjamin verfolgt. Gehen wir diese Frage Punkt für Punkt durch. Junos Gewalt ist unblutig. Ihre Zerstörung Trojas am Ende der Aeneis kommt keinem Massaker gleich, sondern bedeutet das Verschwinden der trojanischen Kultur ohne jegliches Blutvergießen. Juno

liche Privilegien geht, und eine Rebellion der Reubeniten, welche die politische Macht anstreben“: R. Alter: The Five Books of Moses, New York 2004, S. 762; J. Milgrom: Excursus 39, in: Numbers: The Traditional Hebrew Text with the New JPS Translation, hrsg. von J. Milgrom, Philadelphia 1990 zur Textrezension. Ich danke Judith Shulevitz für die Hinweise. 35 Alter [wie Anm. 34], S. 762: „Korah […] wird zum Archetypus des Rebellen, der anmaßend gegen gerechte Gewalt aufsteht.“ 36 Benjamin [wie Anm. 6], S. 199. Die Erde, die Korah und seine Bande verschlingt, und die Pest verursachen kein Blutvergießen (4 Mos 16, 31–5; 46–9), aber sorgt das Feuer Gottes nicht dafür?

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ist nicht mehr daran interessiert, trojanische Individuen zu vernichten, sie möchte eine höhere Kultur etablieren. Sie hat Höheres im Sinn, auch wenn sie in der Erzählung oft engstirnig wirkt. Die Zerstörung Trojas ist total. Troja wird nicht nur an seinem Ort zerstört, die neue Zerstörung verhindert auch, daß Troja irgendwo anders neu entsteht. Der Name selbst, ein beweglicher Signifikant, wird ausgemerzt. Juno hält sich nicht damit auf, all die kleinen Trojas zu zerstören, die Aeneas und andere in Buch 3 gegründet haben – diese sind Schattengebilde und haben keine wirkliche Macht. Sie zerstört die Sache in ihrer Substanz.37 Die Gewalt Jupiters und Junos zerstört das Gesetz. Sie lassen es nicht zu, daß die Latiner und die Trojaner den Vertrag erfüllen, den sie geschlossen haben, sondern heben ihn auf.38 Es gibt einen fundamentalen Gegensatz zwischen den Bedingungen eines Vertrages zwischen Menschen und eines Vertrages, dem die Götter zugestimmt haben. Die Götter sind sich einig in der Vernichtung der östlichen Kultur. Aeneas und Latinus dagegen treffen eine mildere Vereinbarung, einen Kontrakt von der Art, die Hannah Arendt als ein Modell für Versöhnung ohne Gewalt akzeptiert.39 Wenn Turnus gewinnt, verläßt Aeneas das Territorium, gesellt sich zu seinem Verbündeten Evander und verzichtet auf weitere Kriege gegen die Latiner. Wenn Aeneas gewinnt, wird er die Verlierer seine Macht nicht spüren lassen. Beide Seiten gelten als unbesiegt:

37 Das Volk jedoch wird nicht vernichtet. Zum Überleben der Trojaner s. N. Horsfall: Virgil, Aeneid 7, Leiden 2000 zu Aeneis 7.295, und N. Horsfall: Virgil, Aeneid 11, Leiden 2003, zu Aeneis 11.306–7. 38 Ich stimme nicht mit Adler [wie Anm. 15], S. 167 überein, die behauptet, daß Aeneas „Rom gründet, indem er in Italien einen Friedensvertrag schließt“ (s. auch S. 183). Wie auch immer der endgültige Vertrag aussieht, er liegt außerhalb des vom Text gesetzten Rahmens. Wir dürfen den Vertrag, den Aeneas in Buch 12 schließt, nicht als endgültig bindend ansehen. 39 Dionysius von Halicarnassus stellt die Vermischung der trojanischen und italischen Sitten als die organische Folge der Verbindung der Völker dar (60.2). Ein Volk dominiert nicht das andere.

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Doch wenn Victoria uns des Gefechts Entscheidungen zuwinkt – Wie es mir glaublicher scheint und die Götter es mögen bestimmen –, Will ich die Italer nicht dienstpflichtig den Teukriern [Trojanern] machen Noch verlangen den Thron. Frei sollen bei gleichen Gesetzen Beide die Völker sich selbst zu ewigem Bunde vereinen! Götter und heiligen Brauch geb’ ich; mein Schwäher Latinus Führe die Waffen und lenke das Reich; mir werden die Teukrer Mauern erbaun, den Namen der Stadt Lavinia leihen. (12.187–95)

Die Menschen lassen es zu, daß beide Völker unter demselben Gesetz existieren, die Trojaner opfern ihre religiösen Bindungen zum Teil. Die Götter aber eliminieren die kulturelle Identität Trojas in toto. Der Versuch der Menschen, das Recht zu etablieren, wird ein Opfer göttlicher Gewalt. Wenn Vergil auch nicht explizit von Sühnung spricht, so können wir doch im weitesten Sinne die Opferung der trojanischen Kultur als einen Ausgleich für das Nachlassen von Junos Zorn bezeichnen. Die Trojaner geben ihre Identität auf, um den Gott zu befriedigen, und die Sühnung wirkt auch dann, wenn sie weder willentlich noch bewußt erfolgt. Es gibt allerdings noch ein deutlicheres Opfer, und das ist das Leben des Turnus. Der Pakt zwischen den Göttern Juno und Jupiter macht es für Aeneas in letzter Instanz möglich, Turnus zu töten. Dies ist ein weiterer Punkt der Überdeterminierung dieses Aktes. Vergil läßt erkennen, daß der Tod des Turnus keine notwendige Vorbedingung für die Gründung des römischen Volkes ist. Turnus gesteht seine Niederlage öffentlich ein und bittet um Gnade. Seinen eigenen Worten nach wäre sein Tod nur die unnötige Fortsetzung der Gewalttaten, und das berühmte Zögern des Aeneas beweist, daß Turnus hier zumindest theoretisch das Argument für sich hat. Die Notwendigkeit seines Todes ist woanders zu suchen. Dieser Tod handelt von zeitgenössischen Problemen mit Rache und Milde, wie sie in den Zeiten des Bürgerkriegs akut waren. Aeneas hat die Wahl zwischen der Tugend des Souveräns und kann seine Macht darin beweisen, daß er das Gesetz außer Kraft setzt und Gnade gewährt, oder er kann Rache üben. Auch Augustus wandelte sich: Erst übte er Rache für den Mord seines posthum adoptierten Vaters Julius Caesar, dann zeigte er großzügig Milde nach dem Sieg im Bürgerkrieg. Seine Weihe des Tempels für den rächenden

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Mars viele Jahre später zelebrierte nicht Gewalt als Prinzip, sondern wollte diese Gewalt dem Gott zurückgeben. Der Gründer Roms jedoch wurde von einem Zorn überwältigt, der das Attribut göttlich verdiente; er ließ das Schwert sprechen, und das Epos endet, bevor sich an dem Helden irgendeine Wandlung vollziehen kann. Sein Zorn läßt das Zögern hinter sich, das noch eine Wahl zu kennen schien. Die Gewalt des Aeneas transzendiert das Reich des Rechts, aber auch das der Vernunft. Benjamin sagt, daß göttliche Gewalt kein Opfer verlangt, aber es akzeptiert.40 Aeneas spricht von Turnus’ Tod als von einem Opfer.41 Der Schlußsatz der Kritik der Gewalt lautet: „Die göttliche Gewalt, welche Insignium und Siegel, niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist, mag die waltende heißen.“ Aeneas exekutiert Turnus unter dem Insignium und Siegel des Heiligen; er ist das Mittel heiliger Vollstreckung, das souveräne Gewalt akzeptiert. Es gibt hier eine Menge Probleme, aber das vermutlich größte ergibt sich daraus, daß göttliche Gewalt unerforschlich ist. Wir können gewaltige Wellen als das Wirken Poseidons allegorisieren, aber das ist nur unser Versuch, zu einem Verständnis jenseits der Grenzen unseres Verstandes zu gelangen. Anstatt solche Versuche als Wahrheit zu akzeptieren, sollten wir sie als das Anerkenntnis unserer eigenen interpretativen Fähigkeiten hinnehmen. Und Gewalt zwischen Göttern ist nicht mehr und nicht weniger als Gewalt zwischen Menschen. Sie mag in den Grenzen des Gesetzes erfolgen oder es teilweise überschreiten, sie kann rechtsetzend, rechtserhaltend oder expressiv sein, sie kann einen politischen oder einen persönlichen Grund haben, aber sie ist die Gewalt, die Menschen Menschen antun. Die pessimistische Interpretation der Aeneis erkennt all die Gründe an, welche die Optimisten zur Rechtfertigung der Gewalttat des Aeneas anführen, aber sie sagt trotzdem nein. Das ist so, weil sie vielleicht rechtserhaltende Gewalt akzeptieren, aber rechtsetzende Gewalt ablehnen muß. Unvermittelte Gewalt ist ihr

40 Benjamin [wie Anm. 6], S. 200 f. 41 Dieses Opfer ist nicht das letzte und fordert seinerseits nach Sühnung, s. J. T. Dyson: King of the Wood: The Sacrificial Victor in Virgil’s Aeneid, Norman 2001, S. 24.

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ein Greuel – Hannah Arendt läßt sie gar nicht als Kategorie zu 42 – und göttliche Gewalt erscheint als Mystifikation. In Gesetzeskraft schließt Derrida seine Kritik an Benjamin mit einer Zurückweisung der Kategorie göttliche Gewalt mit dem Argument ab, diese Idee könne furchtbare Konsequenzen haben. Sie könnte die „Endlösung“ der Nazis rechtfertigen. Gaskammern, konstatiert er, führen nicht zu Blutvergießen. Es geht dabei wie in der Aeneis um die Ausrottung eines Volkes aus dem Nahen Osten, eines Volkes, das aus irgendwelchen Gründen den Zorn der Götter oder Gottes auf sich gezogen hat. Hier ist der Gewalt kein Ende gesetzt. Derrida sagt: „Man schreckt zurück vor der Idee, die aus dem Holokaust eine Sühne und die unbegreifliche Handschrift des gerechten und furchtbaren Zorns Gottes macht.“ 43

4. Vergil und das Beispiel Rom Derridas Unbehagen an Benjamins Kategorie göttlicher Gewalt wirkt so kraß, weil es um Benjamin geht und damit um dessen Tod.44 Derrida weiß natürlich, daß 1921, als Kritik der Gewalt geschrieben wurde, aber auch im Jahr seines Todes 1940 Benjamin keine Vorstellung von der „Endlösung“ haben konnte 45, aber er sorgt sich darum, daß Benjamins Beispiele für mythische Gewalt aus dem griechischen Mythos, seine Beispiele für göttliche Gewalt aus der hebräischen Bibel stammen.46 Derrida zeigt deutlich 42 Es ist bemerkenswert, daß Arendt, die sich so sehr für Benjamin interessierte und das in H. Arendt: Men in Dark Times, San Diego 1955 ausführt, seinen Text „Zur Kritik der Gewalt“ in ihrem eigenen Buch über Gewalt [wie Anm. 8] noch nicht einmal erwähnt. Ihrerseits behauptet sie unmißverständlich, daß alle Gewalt ein Mittel darstelle, und A. Haverkamp: Anagrammatics of Violence: the Benjaminian Ground of Homo Sacer, in: Cardozo Law Review 26, 2005, S. 995–1003, charakterisiert ihre Haltung zum Essay von Benjamin als den Versuch, den Text „unter Quarantäne“ zu stellen (S. 998). 43 Derrida [wie Anm. 7], S. 298. 44 Zu Benjamins Selbstmord Arendt [wie Anm. 42], S. 170–1, und P. Demetz in: W. Benjamin: Reflections, hrsg. von P. Demetz, New York 1978, S. xiv–xv. 45 Derrida [wie Anm. 7], S. 260. 46 Benjamin [wie Anm. 6], 197 ff.

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seine Schwierigkeiten auf, schlägt aber dennoch versuchsweise vor, genauso zu verfahren und mythische Gewalt als griechische, dagegen göttliche Gewalt als jüdische Idee zu generalisieren.47 Es gibt historische und moralische Probleme mit dieser Aufteilung. Ihr zufolge würde die jüdische Tradition göttlicher Gewalt zum Holocaust führen, und die Juden wären einmal mehr verantwortlich zu machen für die Ideen, die auf sie zurückschlagen. Ich denke, es ist wichtig zu zeigen, daß göttliche Gewalt als Idee bereits im europäischen Kontext vorhanden und effektiv war. Ich hoffe, ich habe zeigen können, daß und wie sie am Ende der Aeneis zum Einsatz gelangt. Wir können die Verantwortung für diese destruktive Idee den Juden anlasten, einer Kultur des Ostens, deren Assimilation an Europa gleichzeitig so partiell und so total erfolgte. Was Derrida nicht berücksichtigt, ist das römische Modell. Die Römer werden oft als bloße Erben der griechischen Kultur behandelt, und es ist in dieser Hinsicht symptomatisch, daß Derrida aus üblicher Rom-Blindheit übersieht, daß Benjamin in seiner Version des Niobe-Mythos auf Ovid rekurriert.48 Dabei geht es nicht nur um Fragen der Ableitung. Rémy Brague definiert in La voie romaine Europa als eine Kultur des Latein.49 Er betont Latein und nicht Rom. Die Sprache und ihre literarische Tradition haben eine gemeinsame Kultur geschaffen, solange Rom im Westen wie im Osten dominant war, um schließlich nach Byzanz auszuwandern. Brague sieht den Grund dafür, daß wir Rom zugunsten der Griechen und Hebräer als Begründer unserer Kultur vernachlässigen, in der Rolle, welche die Sprache bei der Übermittlung dieser anderen Kulturen spielt: das Medium wird transparent. In diesem Zusammenhang greift er die Vorstellung von T.S. Eliot auf, der in Was ist ein Klassiker? ausführt: „Der Blutstrom der europäischen Literatur ist Latein und Griechisch – nicht als ein zweifaches Kreislaufsystem, sondern als ein einziges, weil unsere griechische Abkunft über Rom läuft“.50 Ernst Robert Curtius und Eliot sind sich zur gleichen 47 48 49 50

Derrida [wie Anm. 7], S. 259, 287–8, 291–2. Haverkamp [wie Anm. 42], S. 1002, der korrekt Benjamins Quelle identifiziert. R. Brague: Europe: la voie romaine, Paris 1932. Eliot [wie Anm. 1], S. 267.

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Zeit in ihrer Sicht auf Vergil und auf Rom als Europas zentraler Kulturmacht einig. Eliots Vortrag Was ist ein Klassiker? wurde 1944 gehalten.51 „Er [Aeneas] ist indessen Roms Symbol, und was Aeneas für Rom bedeutet, das bedeutet das Alte Rom für Europa. Auf solche Art erlangt Vergil die zentrale Stelle des einzigartigen Klassikers: er steht im Mittelpunkt der europäischen Kultur, an einer Stelle, die kein anderer Dichter mit ihm zu teilen oder an seiner Statt zu beanspruchen hat. Das Römische Reich und die lateinische Sprache waren nicht ein Reich und eine Sprache wie andere auch. Sie haben, im Hinblick auf uns, eine einzigartige schicksalhafte Stellung gehabt; und der Dichter, in dem jenes Reich und jene Sprache zu Bewusstsein und Ausdruck gelangten, ist darum gleichfalls ein Dichter von einzigartiger Schicksalsbedeutung.“ 52

Georg Steiner hat diese Idee vor kurzem noch weiter getrieben: „Vor allem aber ist Vergil Europäer.“ Vergils Anliegen würde „die Wurzeln unserer europäischen Situation betreffen“.53 Diese Aussage darf man vermutlich auch umdrehen: Europäer zu sein heißt, eine Erbschaft antreten, die Vergil hinterlassen hat. Curtius und Eliot halten in ihrer eurozentrischen Sicht an Rom auf eine Weise fest, die politisch nicht mehr relevant ist. An der derzeitigen Erweiterung der Europäischen Union ist unter anderem bemerkenswert, daß sie erneut die Grenzen dessen, was Europa ist oder nicht ist, in Frage stellt. Die Debatte um die Aufnahme der Türkei, also des Landes, in dem das alte Troja liegt, mutet einen aus der Perspektive des römischen Gründungsmythos besonders ironisch an. Daß Vergil ein Modell für Europa bieten kann, hängt zuallererst an der besonderen Rolle, die er der Gewalt als Gründungsmacht zuweist, und weiterhin an dem Interaktionsverhältnis, das er zwischen Literatur und Politik stiftet. Die kontingente historische Orientierung der Aeneis verleiht ihr eine übergroße Verfügungsgewalt über das Bild, das sich die Nachwelt von Rom machte, so als wäre das Epos ein transparentes Fenster auf die 51 S. C. Martindale: Introduction: „The Classic of all Europe“, in: Martindale [wie Anm. 4], S. 1–18 zu Vergil als europäischer Klassiker. 52 Eliot [wie Anm. 1], S. 264. 53 G. Steiner: Homer and Virgil and Broch, Besprechung von: Oxford Readings in Virgil’s Aeneid, hrsg. S. J. Harrison, Oxford 1990, in: London Review of Books, 12. Juli 1990, S. 10.

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römische Geschichte und nicht ein Beitrag zum ideologischen Aufbau eines Imperiums. Arendt fällt diesen Versuchungen der Aeneis zum Opfer, wenn sie die Amerikanische Revolution analysiert, und ihre Bezugnahme auf das Gedicht ist exemplarisch im Hinblick auf die Definition von europäischen und damit eingeschlossen: amerikanischen Gründungsmodellen. Ihre Abhängigkeit von einem literarischen Text führt sie an mehreren Stellen in die Irre. Sie ist bestrebt, aus dem Gedicht eine Art Blue Print für die Römische Republik zu machen, während es doch die gleiche Funktion für das Römische Imperium erfüllt. In ihrem Buch Über die Revolution widmet sie zwei Kapitel mit dem Titel „Die Gründung“ der Amerikanischen Revolution und behandelt dort in langen Passagen das Thema der Übernahme der römischen Verfassung durch die Gründungsväter. Der besondere Aspekt, der diese Übernahme römischer Rechtsideen auszeichnet, betrifft die Gründung der Verfassung weder in einem absoluten Prinzip nach Art der europäischen Monarchien noch in dem schwankenden Willen des Volkes, wie es die Französische Revolution tun würde. Sie nahmen die Gründung ganz einfach als einen neuen Anfang. Sie erneuerten das römische Modell, indem sie die Gründung nicht als Wiedergründung inszenierten, sondern als eine Gründung aus dem Nichts. Arendt beruft sich bei diesem Gedanken auf die Aeneis, ohne in Erwägung zu ziehen, daß Vergils Gründungsgeschichte mehr von Augustus als von der Römischen Republik handelt. Wenn auch Augustus behauptet, daß er nach den Bürgerkriegen die Republik wiederherstellen will, so ist doch ein wesentliches Merkmal des verfassungsrechtlichen Wandels unter seinem Regime, daß die auctoritas, die vordem beim Senat lag, auf ihn übergeht und daß an ihr ein Gutteil der souveränen Staatsgewalt hängt.54 Indem sie die Aeneis benutzt, um aus ihr zu verstehen, was die Gründungsväter für die amerikanische Verfassung aus dem Recht der Römischen Republik übernahmen, wäscht Arendt die Aeneis in mehrfacher Hin54 Die zahlreichen Publikationen zur auctoritas des Augustus und seiner „Wiederherstellung der Republik“ findet man ausgewertet in: G. K. Galinsky: Augustan Culture, Princeton 1996, Kapitel 1 und 2.

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sicht weiß. Zuallererst verhält es sich so, daß Vergil die römische Macht auf ein absolutes Prinzip stützt. Wenn wir rationalisieren, können wir das Fatum als Geschichte aus der Sicht der Nachwelt beschreiben, aber ohne das ist es einfach so, daß Vergil das Fatum von der Macht Jupiters abhängen läßt. Wenn auch das Fatum nicht exakt mit den christlichen Gott übereinstimmt, der die europäischen Monarchien so lange stabilisierte, so ist diese Konzeption doch eine andere als die der Republik, weil sie die göttliche Sanktion nicht nur für den Staat, sondern auch für die regierende Familie der Julier in Anspruch nimmt. Wenn Arendt Rom als Neugründung ausgibt, so weicht das von der Wirklichkeit ab. Sie macht in dieser Beziehung einen Unterschied zwischen der originären Gründung der Vereinigten Staaten und Rom, das permanent der Neugründung bedarf, aber sie irrt, wenn sie Rom als Neugründung Trojas ausgibt. Anläßlich von Junos Versöhnung konstatiert Vergil emphatisch, daß Rom keine Wiedergründung Trojas ist, und die zahlreichen Versuche, Troja wieder ins Leben zu rufen, die Buch 3 beschreibt, enden alle ohne Ergebnis und bestätigen die Unmöglichkeit dieses Versuchs. Aeneas muß diese Idee loswerden. Rom ist immer wieder eine Neugründung aus sich selbst, und die Verbindung mit dem Osten, die Arendt als Beispiel der Toleranz gewürdigt wissen will, ist abgebrochen. Arendt geht noch weiter und möchte von der Gründung Roms den Faktor Gewalt als Gründung fernhalten. Sie spielt den Krieg zwischen Italern und Trojanern herunter und präsentiert ihn nur als ein Mittel, um die Niederlage in Troja auszugleichen.55 Damit wird nicht nur eine falsche Sicht auf das Imperium, sondern auch auf die Republik eröffnet. Roms Geschichte ist in allen ihren Gründungsphasen von Gewaltakten markiert. Das beginnt mit dem Mord, den Romulus an Remus begeht,56 geht weiter über den Selbstmord der Lukrezia, die Hinrich55 Arendt [wie Anm. 2], S. 209. 56 Arendt versucht das Thema Gewalt zu umgehen, indem sie Aeneas zum Begründer Roms macht und nicht Romulus, aber sie vernachlässigt, daß beide Gründer sind und daß Romulus sich von Aeneas herleitet, s. Arendt [wie Anm. 2], S. 209. Zu Vergils Konzeption der mehreren Gründungsväter siehe die Worte des Anchises über Numa, „der die erste Stadt auf Gesetze gründen wird“ (Aeneis 6.810–11). J. N. Bremmer: Roman Myth and Mythography, hrsg. von J. N. Bremmer und N. M. Hors-

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tung der Catilinarier, die Proskriptionen des Triumvirats, und mündet in den Greueln des Bürgerkriegs, welche die Herrschaft des Augustus begründen. Gründende Gewalt ist eine Struktur, welche den Übergang von der Republik zum Imperium begleitet – Vergil hat das verstanden. Arendt begreift den Vertrag zwischen Latinus und Aeneas als einen Vertrag, der Bestand hat und betont, daß beide Völker sich unbesiegt unter gleichen Gesetzen vereinen. Ihr Bestreben, Rom als heilsames Modell für Amerika herauszustellen, führt sie dazu zu übersehen, daß Juno explizit diesen Vertrag ablehnt und einen anderen Zusammenschluss favorisiert, bei dem die Gewinner als Besiegte dastehen. Es ist bezeichnend, daß Arendt kein Organ für das Thema der göttlichen Gewalt hat. Aber gerade in einem literarischen Werk kann man göttliche Gewalt darstellen. Im realen Leben erfährt man das nicht, die Dichtung dagegen ist frei. Benjamins Beispiele für göttliche Gewalt sind literarischer Natur. Arendt konzentriert sich auf isolierte Partien der Aeneis und vernachlässigt den Umstand, daß Vergil im Grunde sagen will, daß alle Versuche, Gewalt zu zähmen, fehlschlagen und zwar spektakulär fehlschlagen. Dies ist vermutlich einer der Gründe, warum Rom für Europa exemplarisch werden konnte. Die Frage bleibt, ob solche Art der Gewalt zu Benjamins Kategorie der göttlichen Gewalt paßt. Was die römische Geschichte anbelangt, werden wir das, wie Benjamin selbst betont, nicht entscheiden können, aber die Literatur entspricht diesem Modell, und Augustus beutete die Vergöttlichung seines Adoptivvaters Julius Caesar aus, um dessen Tod zu rächen. Ich bin mir unsicher, ob Benjamin göttliche Gewalt nicht als emergentes Phänomen ansah. Die letzte Seite der Kritik der Gewalt zeigt ihn selbst unsicher: fall, Institute of Classical Studies, Bulletin Supplement 52, London 1987, S. 34–8 findet den Mord an Remus enigmatisch, betont aber den speziellen mythischen Status der Zwillinge gegen andere Forschungsmeinungen, welche die beiden Gründer allegorisch auf verschiedene politische Organisationen Roms beziehen, s. z. B. T. J. Cornell: Aeneas and the Twins: the Development of the Roman Foundation Legend, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society 21, 1975, S. 1–32, hier S. 27–31, C. J. Bannon: The Brothers of Romulus: Fraternal Pietas in Roman Law, Literature, and Society, Princeton 1997, S. 158–73.

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„Auf der Durchbrechung dieses Umlaufs im Banne der mythischen Rechtsformen, auf der Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt, begründet sich ein neues geschichtliches Zeitalter. Wenn die Herrschaft des Mythos hie und da im Gegenwärtigen schon gebrochen ist, so liegt jenes Neue nicht in so unvorstellbarer Fernflucht, daß ein Wort gegen das Recht sich von selbst erledigte. Ist aber der Gewalt auch jenseits des Rechtes ihr Bestand als reine unmittelbare gesichert, so ist damit erwiesen, daß und wie auch die revolutionäre Gewalt möglich ist, mit welchem Namen die höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen zu belegen ist.“57

Die Wiedergründung Roms durch Augustus nach dem Bürgerkrieg erfolgte auf der Basis einer „Entsetzung des Rechts“, zuerst während des Triumvirats und dann während der Periode zwischen dem Sieg bei Actium (31 v. Chr.) und der sogen. „Ersten Regelung“ (27 v. Chr.). Wie auch immer wir seine Erklärung in den Res gestae, daß er den Staat in die Hände des römischen Senats zurückgegeben habe, bewerten, er nimmt die Position des Souveräns ein, die Carl Schmitts Definition entspricht: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ 58 Augustus ist derjenige, der entscheidet, und in der Verlagerung der Souveränität, den seine Entscheidungsmacht signalisiert, und der „Entsetzung des Rechts“ begründet sich eine neue historische Epoche. Revolutionäre Gewalt, welche die Qualitäten der Reinheit und Unmittelbarkeit in sich trägt, die auch der göttlichen Gewalt zugehören, kommt wohl Benjamins Vorstellung von göttlicher Gewalt am nächsten. Es ist vielleicht kein Zufall, dass 1930 Sir Ronald Syme für seine Darstellung des Übergangs von der Republik zum Imperium unter Augustus den Titel wählte: The Roman Revolution. Derridas Verallgemeinerung, daß alle „revolutionären Diskurse […] das Mittel der Gewalt rechtfertigen, indem sie sich auf die Gründung eines im Entstehen begriffenen oder zukünftigen Gesetzes oder eines neuen Staates berufen“ könnte auch von Augustus stammen.59

57 Benjamin [wie Anm. 6], S. 203. 58 Carl Schmitt: Politische Theologie, München 1922, S. 11. 59 Derrida [wie Anm. 7], S. 269.

Proserpina versus Pygmalion Melodramatische Bewegung bei Goethe und Rousseau CORNELIA ZUMBUSCH

1. „motion is emotion“: Die melodramatische Form der Bewegung „motion is emotion“ – dieses knappe Aperçu stammt vom deutsch-amerikanischen Regisseur Douglas Sirk alias Detlev Sierck, den Faßbinder zum ‚König des Melodrams‘ erklärte. Detlev Sierck, der in Hamburg bei Erwin Panofsky Kunstgeschichte studierte, begann seine Regiearbeit in den 1920ern auf dem Theater und drehte in den 1930ern erste UFA-Filme, bevor er in den 50ern und 60ern mit seinen großen Hollywood-Melodramen hervortrat. In dem Interviewband Sirk on Sirk gibt er Auskunft über die medialen Möglichkeiten, die der Film im Unterschied zum Theater bietet. Sirk favorisiert hier das motion picture mit dem Argument, daß sich der Blick des Zuschauers durch die Kamerabewegung dynamisieren und der Zuschauer damit emotional steuern lasse. In der Möglichkeit, über die Bewegung des Mediums Gefühlsbewegungen im Rezipienten zu provozieren, sieht der Melodramatiker Sirk den wirkungsästhetischen Vorsprung der motion pictures vor der Theaterbühne: „the camera is the main thing here“, „because there is emotion in the motion pictures. Motion is emotion, in a way it can never be in the theatre“.1 Zwar ist diese melodrama-

1 J. Halliday: Sirk on Sirk, London, Boston 1997, S. 43.

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tische Bewegungsästhetik mit Filmen assoziiert, die für populäres Gefühlskino mit etwas unangenehmem Hang zum Kitsch stehen.2 Dennoch impliziert Sirks Beobachtung einen Begriff der Gefühlsbewegung, der wichtige Konsequenzen und nicht weniger wichtige Vorläufer hat. Wenn die Bewegung des Mediums zum Gefühlsanstoß für die Zuschauer wird, dann betrifft die melodramatische Gefühlsbewegung nicht so sehr bestimmte Gefühlsinhalte, sondern beschreibt den Modus ihrer Erzeugung. Die mediale Bewegung soll sich auf den Zuschauer übertragen und in emotionale Bewegung übersetzen lassen. Mit dieser Aufmerksamkeit auf die Übergänge von physischer in psychische Bewegung tritt die melodramatische Erzeugung von Gefühlen eine Erbschaft an, die etwa zweihundert Jahre zurückreicht.3 Tatsächlich datiert auch die Erfindung des Melodramas als eigenständiges Genre nicht ins zwanzigste, sondern ins ausgehende achtzehnte Jahrhundert. Als Katalysator der neuen Gattung gilt Jean-Jacques Rousseaus

2 Das Melodram ist seit den 1970ern in unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen rehabilitiert worden. Während Thomas Elsässer die Funktion des Filmmelodrams für die amerikanische Nachkriegskultur untersucht, beschreibt Peter Brooks mit dem „melodramatic mode“ eine literarische Darstellungsweise bei Balzac und Henry James. Th. Elsaesser: Tales of Sound and Fury. Observations on the Family Melodrama, in: Monogram, Nr. 4, August 1972, deutsch: Tales of Sound and Fury: Anmerkungen zum Familienmelodram, in: Und immer wieder geht die Sonne auf: Texte zum Melodramatischen im Film, hrsg. von Ch. Cargnelli und M. Palm, Wien 1994. S.93–127; P. Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess, New Haven, London 1976. Mit seiner Definition des Melodrams als Tragödie unter den Bedingungen der Moderne schließt Brooks an Robert Heilman an. R. B. Heilman: Tragedy and Melodrama. Versions of Experience, Seattle, London 1968. 3 Das Filmmelodram hat, darauf hat bereits Peter Brooks verwiesen, einige Affinität zur Ausdrucksästhetik der Empfindsamkeit. Diese Genealogie macht Hermann Kappelhoff in Matrix der Gefühle für das Hollywood-Melodram fruchtbar, indem er die empfindsame Ausdrucks- und Rührungsästhetik, das Paradox des Schauspielers und das sentimentale Genießen des Zuschauers auf das Filmmelodram von Douglas Sirk bis James Cameron bezieht. H. Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodram und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004.

Proserpina versus Pygmalion

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„lyrische Szene“ Pygmalion, die 1762 verfaßt, 1770 zuerst in Lyon und 1772 in Weimar in deutscher Übersetzung aufgeführt wurde.4 Mit dem Pygmalion stiftet Rousseau eine dramatische Kleinform, die gesprochene Textpassagen mit Instrumentalmusik kombiniert. Ab den 1770er Jahren bezeichnet der Begriff Melodram eine zwischen Singspiel und Sprechtheater angesiedelte Gattung, bei der die meist monologische Rede von Instrumentalmusik unterbrochen oder unterlegt, die Musik ihrerseits von pantomimischer Aktion kommentiert wird.5 Die experimentelle Bühnenanordnung verbindet, wie das Kompositum melo-drama anzeigt, Musik und Wort, „Lied“ (melos) und „Handlung“ (drama), ohne sie, wie in der Oper, im ariosen Gesang zu verschmelzen. Für etwa zwei Dekaden war das Bühnenmelodram in Mode, obwohl schon Goethes Zeitgenossen das Melodram als „ästhetisch verwerfliche Zwittergattung“ 6 wahrnahmen. In seiner Reaktion auf das 1778 aufgeführte Melodram Proserpina von Goethe zeigt sich ein Zuschauer überrascht, „daß ein so verwerfliches Genre, wie das Melodram doch eigentlich ist, einen solchen Eindruck machen könnte.“ 7 4 Zur Datierung vgl. E. Istel: Jean-Jacques Rousseau als Komponist seiner lyrischen Szene ‚Pygmalion‘, Leipzig 1901. 5 Die Gattung des „zur Musik gesprochenen Dramas“ ist bereits im frühen 18. Jahrhundert bekannt, als eingeführter Gattungsbegriff ist der Begriff des Melodrams jedoch erst ab 1778 nachweisbar, er setzt sich dann aber neben den spezifischen Klassifizierungen als Monodramen oder Duodramen in den 1780ern rasch durch. Vgl. W. Schimpf: Lyrisches Theater. Das Melodrama des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1988. 6 H. Riemann, zit. nach: H. Rauhe: Melodram, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hrsg. von L. Finscher, Kassel, Stuttgart 1994 ff., Bd. 16, S. 1257–1263, hier: S. 1259. Diese Zwitterhaftigkeit ist wohl auch für die verspätete Rezeption des Melodrams in der Literaturwissenschaft verantwortlich. Zur selben Zeit, in der das Melodram auf der Leinwand Erfolge feierte, findet das Melodram als historische dramatische Form keinen Eintrag im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte; erst im neubearbeiteten Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft von 2000 erhält das Melodrama einen eigenen Artikel. W. Schimpf: Melodrama, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 2: H–O, hrsg. v. H. Fricke u. a., Berlin, New York 2000, S. 558–562. 7 So der Hofrat J. D. Gries in einem Brief an B. R. Abeken, zit. nach: J. W. v. Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bände, hrsg. von H. Birus,

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Wie gelingt es Goethe also, mit einem verwerflichen Genre derart Eindruck zu machen? Zur Antwort auf diese Frage soll die Proserpina zunächst auf die von Rousseaus „lyrischer Szene“ initiierte Gattungskonvention des Melodrams bezogen werden, um die Proserpina als Gegenentwurf zu Rousseaus Pygmalion zu lesen. Anschließend wird der Versuch unternommen, Goethes kleines Werk in die von Warburg skizzierte Geschichte der Pathosformel zu stellen, wobei sich die Proserpina nicht nur als Gegenstück zum Pygmalion, sondern darüber hinaus auch als kritische Reflexion auf die melodramatische Form erweisen wird, die sich am Übergang von Körperbewegung in seelische Bewegung, von Ausdruck in Rührung ansiedelt.

2. Melodramatische Urszene: Rousseaus Pygmalion Rousseau wählt für seinen Pygmalion die Gattungsbezeichnung lyrische Szene (scène lyrique), und kündigt damit den Ausschnitt aus einem Drama an, der auf den subjektiven Ausdruck der Gefühle statt auf verwickelte dramatische Handlung, auf Introspektion statt Interaktion setzt. Zu diesem Zweck verlegt er Ovids Metamorphosen-Erzählung vom Elfenbeinschnitzer Pygmalion, der sich in sein Werk verliebt und es von Venus zum Leben erwecken läßt, in die Innenperspektive des Künstlers. Den Prozeß der Verwandlung der Statue in die Nymphe Galathea gestaltet er als mehrphasigen Bewußtseinswandel des lyrischen Ich. Das Melodrama setzt mit der Klage des Bildhauers Pygmalion ein, der sein Feuer, sein Genie und seine Phantasie verloren zu haben glaubt. Die akute Schaffenkrise artikuliert sich im Bild der Erkältung und Erstarrung: „Mon imagination s’est glacée“ 8 – „All mein Feuer ist erloschen, meine Phantasie erkaltet, tot verläßt der Marmor

A. Schöne und H. Reinhardt, 1. Abt, Bd. 5, hrsg. von D. Borchmeyer und P. Huber, Frankfurt/M. 1988, S. 951. 8 J.-J. Rousseau: Pygmalion, scène lyrique, in: Œuvres complètes, hrsg. von B. Gagnebin und M. Raymond, Bd. 2, Paris 1961, S. 1224–1231, hier: S. 1224.

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meine Hände“.9 An seinem gelungensten Werk, das verhüllt im Hintergrund des Ateliers steht, möchte er seine Einbildungskraft und Kreativität wieder aktivieren: „Peut-etre cet objet ranimera-t-il mon imagination languissante“ – „Vielleicht wird es meine Schaffenskraft neu beleben“.10 Statt sich jedoch am idealen Kunstwerk reanimieren zu können, stößt der Künstler bei der Enthüllung der Statue auf ein Stück kalten Marmor, dem seinerseits die Seele und das Leben fehlen. Der Text folgt nun einer Dynamik der Erwärmung, in der sich Pygmalion zu immer größerer Hitze steigert, bis seine Leidenschaft schließlich in einem einzigen Stoß mit dem Meißel gleichsam überspringt und die Statue sich – zumindest in der Vision ihres Bildhauers – tatsächlich belebt. Dieser Belebungsvorgang vollzieht sich im sensualistischen Vokabular von Berührung und Empfindung, dessen Kristallisationspunkt das Wortfeld ‚sens‘, ‚sentir‘ und ‚sensible‘ bildet. Die Polyvalenz des ‚sens‘ ausfaltend, die im Deutschen je nach Kontext durch Sinne, Herz und Verstand wiedergegeben werden muß, wandelt sich Galathea vom kalten Marmor zum empfindenden Menschen. Die Szene gipfelt im Zusammenfall von Selbstberührung und Selbstbewußtsein: „Galathée se touche et dit. Moi“ – „Galathea berührt sich und spricht / Ich“.11 Wenn erst die Selbstberührung Identität stiftet und somit die Selbstempfindung die Voraussetzung des Selbstbewußtseins bildet, dann ist hier die sensualistische Korrektur des Rationalismus auf die Bühne gebracht: Aus dem cartesianischen cogito ergo sum ist ein senseo ergo sum geworden.12 Rousseau konzipiert aber nicht 9 J.-J. Rousseau: Pygmalion. Musikalische Szene, in: Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, übers. von D. und P. Gülke, Wilhelmshaven 1984, S. 169–178, hier: S. 178. Die Übersetzung bringt den Sprechtext aus der frühen Rousseau-Ausgabe von 1782 und kombiniert ihn mit „szenischen Anmerkungen in der Fassung der Kurzböckbzw. der Becker-Ausgabe“ von 1772 bzw. 1878. Vgl. auch die Anmerkungen der Herausgeber D. u. P. Gülke, S. 179. 10 Rousseau [wie Anm. 8], S. 1226; Rousseau [wie Anm. 9], S. 171. 11 Rousseau [wie Anm. 8], S. 1230; Rousseau [wie Anm. 9], S. 178. 12 Rousseau inszeniert diese Prämisse sensualistischer Philosophie in einem, wie Rainer Warning gezeigt hat, ironischen Widerspiel mit Condillacs Statuenbelebung. R. Warning: Rousseaus Pygmalion als Szenario des Imaginären, in: Pygmalion. Die

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nur ein anthropologisches Lehrstück, sondern verkehrt zugleich die bei Ovid angelegte Künstlerthematik in ein Drama der Rezeption. In Rousseaus Arbeit am Ovidschen Mythos verdankt sich die Beseelung des Marmors nur noch indirekt einer Intervention der Götter, denn sie spielt sich genau genommen nur in Pygmalions Einbildung ab. Statt mit einem den Zuschauer einschließenden ‚man sieht‘ vollzieht sich die Belebung der Statue in einem ‚il voit‘, also ‚er sieht‘, das sich nur auf Pygmalion bezieht.13 Der imaginäre Charakter der Belebung verstärkt sich durch Pygmalions Wahrnehmung des Geschehens. Galathea ist in Pygmalions eigenen Worten nichts als eine „illusion“, so daß er sich selbst als ein „homme à visions“ bezeichnet.14 Wenn die Belebung der Statue in die Imagination Pygmalions verlegt und auf diese Weise in einem fiktiven als-ob eingeklammert ist, dann sieht der Zuschauer der lyrischen Szene Pygmalion nicht nur das, was Pygmalion sieht, er sieht vor allem auch, wie er es sieht. Entsprechend wurde das Wunder der Belebung Galatheas in der Forschung meist als Figuration ästhetischer Rezeptionsverhältnisse gedeutet. So hat Paul de Man die Statue als Allegorie der Schrift und deren Belebung als Figuration des Lesens aufgefaßt. Indem Pygmalion dem toten Kunstwerk das Feuer seiner Leidenschaft spendet, verhält er sich wie ein Leser, der den toten Buchstaben mit Leben erfüllt.15 Rainer Warning beschreibt dies als „Szenario eines Theorie des Imaginären“, Inka Mülder-Bach hat die Schlußsequenz auf das Grundgesetz autobiographischen Schreibens bezogen, dem

Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, hrsg. von M. Mayer und G. Neumann, Freiburg i. Br. 1997, S. 225–251. 13 Ingrid Strohschneider-Kohrs hat als erste darauf hingewiesen, daß die Klimax des Stückes durch einen Wechsel der Pronomen in den Regieanweisungen eingeleitet wird. I. Strohschneider-Kohrs: Künstlerthematik und monodramatische Form in Rousseaus Pygmalion, in: Poetica 7 (1975), S. 45–73. 14 Rousseau [wie Anm. 8], S. 1230. 15 P. de Man: Roussau. Self (Pygmalion), in: ders., Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven, London 1979, S. 160– 187. Hillis Miller hat daran anknüpfend, wenn auch im Bezug auf Ovids und nicht Rousseaus Version, vom Pygmalion als einer Prosopopoeie der Prosopopoie gesprochen. H. J. Miller: Versions of Pygmalion, Cambridge, London 1990.

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gemäß ein Autor sein autobiographisches Ich erschafft und den Zuschauer in die Rolle des Voyeurs drängt, Hermann Kappelhoff sieht im Pygmalion schließlich ein „sich in seinem eigenen Begehren spiegelndes, sich selbst genießendes Subjekt“ und damit die Präformation des Kinozuschauers gegeben.16 Diesen Deutungen wäre kaum noch eine weitere hinzuzufügen – allerdings scheint mir ein weiterer Aspekt des pygmalionischen Rezeptionsgeschehens entscheidend, der im vorliegenden Zusammenhang überdies von besonderer Bedeutung ist, da Goethe ihn in seiner Proserpina zum Angriffspunkt seiner Auseinandersetzung mit dem Rousseauschen Melodram wählt. Es handelt sich um die Funktion der inszenierten und im Text selbst thematisierten Bewegung. Wie sich in Rousseaus Arbeiten zu einem Wörterbuch der Musik zeigen läßt, bildet die Bewegung in Rousseaus musiktheoretischen Schriften ein zentrales ästhetisches Prinzip, das sich auch für das Melodram Pygmalion als einschlägig erweist. In dem Artikel „Imitation“ diskutiert Rousseau die Fähigkeit der Musik, mimetisch zu verfahren. Entgegen der landläufigen Meinung, Musik könne nichts Sichtbares nachahmen, besteht Rousseau hier auf der Möglichkeit, „das Auge ins Ohr verlegen zu können“.17 Dieses Mimesispostulat bindet Rousseau an den Begriff der Gemütsbewegung. Indem die Musik „Gemütsbewegungen her-

16 R. Warning: Rousseaus Pygmalion als Szenario des Imaginären, in: Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, hrsg. von M. Mayer und G. Neumann, Freiburg i. Br. 1997, S. 225–251. H. Kappelhoff, Matrix der Gefühle, Das Kino, das Melodram und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004, S. 113– 124, hier: S. 123. Kappelhoff sieht in der neuartigen Darstellungspraxis mit ihrem Zusammenklang von Gebärdensprache, Gefühlsrhetorik der Musik und dramatischer Rede ein wirkungsästhetisches Konzept verdichtet, das im Kino zu sich kommt. In Inka Mülder-Bachs Rekonstruktion wird der reale Zuschauer zum voyeuristischen Zeugen der Vision Pygmalions. I. Mülder-Bach: Autobiographie und Poesie. Rousseaus Pygmalion und Goethes Prometheus, in: Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, hrsg. von M. Mayer und G. Neumann, Freiburg i. Br. 1997, S. 271–298. 17 J.-J. Rousseau: imitation, in: ders., Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, übers. von D. und P. Gülke, Wilhelmshaven 1984, S. 269.

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vorruft“, zeigt sie zwar nicht Feuersbrünste, Wüsten oder Stürme, sie erzeugt jedoch im Hörer exakt dieselben Gefühle, die er beim Anblick von Feuersbrünsten, Wüsten oder Stürmen hätte. In dieser wirkungsästhetischen Bestimmung ist Bewegung im übertragenen Sinne als Gemütsbewegung des Zuhörers gefaßt. Dabei ist zweierlei bemerkenswert. Erstens ist das movere der rhetorischen Tradition aus seiner Funktionalisierung herausgenommen, so daß es nicht mehr im Redeziel der Persuasion aufgeht, sondern vom bloßen Mittel zum Selbstzweck avanciert. Das Wirkungsziel erschöpft sich darin, den Zuhörer in Bewegung zu versetzen, ohne das movere in den Dienst eines docere zu stellen.18 Zweitens verschiebt Rousseau das gängige Mimesiskonzept von der direkten zur indirekten Darstellung, also von der abbildenden Verdopplung eines Gegenstandes in der Kunst hin zur komplexen Übersetzung des Gegenstandes in ein Gefühl. Dieser Primat der Bewegung beschränkt sich in Rousseaus Konzept aber nicht nur auf die Gefühlsbewegung des Zuhörers, sondern erstreckt sich auch auf die Vorstellung von einer Bewegung des Mediums. Die Musik definiert Rousseau grundsätzlich als diejenige „Kunst, deren Wesen Bewegung ist“.19 Die bewegende Kraft der Musik ergibt sich für Rousseau nicht aus den simultanen Harmonien, sondern aus den rhythmisierten Tonfolgen der mélodie. Weil sie selbst beweglich ist, vermag die Melodie „dem Geist verschiedene Bilder zu vermitteln, im Gemüt verschiedene Gefühle zu erregen, Leidenschaften auslösen und zu besänftigen“, sie kann, „mit einem Wort: moralische Wirkungen ausüben.“20 Es ist also gerade das Bewegungsprinzip der Melodie mit ihrer jeweiligen Abfolge von Kürzen, Län-

18 Wie Caroline Torra-Mattenklott gezeigt hat, wird das movere der rhetorisch-poetischen Tradition um die Mitte des 18. Jahrhunderts auch wissenschaftlich entfaltet, so daß sich im Anschluß an physikalische Modelle eine mechanistische Fassung der Rührung als einem buchstäblichen In-Bewegung-Setzen herausbildet. C. TorraMattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002. 19 J.-J. Rousseau: mélodie, in: ders., Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, übers. von D. und P. Gülke, Wilhelmshaven 1984, S. 270 f. 20 Ebd., S. 271.

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gen und Akzenten, die im Hörer unterschiedliche Gemütsbewegungen auszulösen imstande ist. Die rhythmisch akzentuierende Bewegung der Melodie bildet gleichsam den Transmissionsriemen, über den sich Gehörtes gezielt in Gefühlserregung übersetzt. Genau diese Korrespondenz einer rhythmisch bewegten Melodie und einer in Bewegung gesetzten Seele, die Rousseau theoretisch behauptet, bildet sich nun in dem Verhältnis von Galathea und Pygmalion, von sich bewegender Statue und innerlich bewegtem Zuschauer ab. Galathea und Pygmalion lassen sich, so meine These, als Medium der Bewegung und dessen emotionalem Effekt deuten. Es fällt nämlich auf, daß Galathea nach ihrer Enthüllung von der „immobilité“ zum „mouvement“ fortschreitet, ohne die äußere Bewegung selbst in innere Gefühlsbewegung zu überführen. Sie bewegt sich, berührt sich, macht Schritte, berührt die anderen Statuen, geht auf Pygmalion zu und sieht ihn an. Die angeblich beseelte Statue verhält sich zu ihrer eigenen Sensibilität jedoch keineswegs so seelenvoll, wie sich erwarten ließe. Statt dessen bleibt die sich selbst berührende Statue eigenartig ungerührt. In Pygmalion hingegen lösen bereits ihre ersten Schritte heftige Gefühlsreaktionen aus: „Galathee fait quelques pas“ – Pygmalion gerät in „agitation“ und „transports“. Indem er ihren Bewegungen nicht nur mit den Augen folgt („suit tous ses mouvements“) und sie fortlaufend kommentiert, transformiert Pygmalion die rein mechanische Berührung in Rührung: „Galathee se touche“ – Pygmalion ist „transporté“; „Galathee se touchant ancore“ – Pygmalion befindet sich in einer „ravissante Illusion“, also in einem Zustand des Entzückens und Hingerissenseins. Auf diese Weise liefert er den emotionalen Überschuß, mit dem ihre bloß körperlichen Bewegungen zu seelischen Bewegungen des Gemüt werden. Dieses surplus der emotionalen Aufladung kommt gerade in ihrem Blickwechsel zur Geltung: Galathee „le regarde“ – Pygmalion „la regarde avec extase“.21 Während Galathée die Bewegung und Berührung im physischen Sinn vollzieht, leistet Pygmalion den figurativen Übersprung der bloßen Bewegung in Gemütsbewegung, der Berührung in Rührung. Mit dem Übertragungsgesche-

21 Rousseau [wie Anm. 8], S. 1230.

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hen von der mechanischen Bewegung der Statue zum verzückten Transport des „homme de vision“ dramatisiert Rousseau also just den musikalischen Transfer von Motion in Emotion, den er in seiner Musiktheorie behauptet. Im Ensemble von „moi“ – „encore moi“,22 Ich und wieder-Ich bildet sich zugleich die Dynamik melodramatischer Rezeption ab: Galatheas ‚motion‘ ist zugleich Pygmalions ‚emotion‘. Ihre Paarung bringt somit das empfindsame Rührungskonzept und, noch genauer, die musikalische und damit melodramatische Bewegungsästhetik auf die Bühne.

3. Goethes Umschrift: Proserpina als Gegenbewegung zum Pygmalion Goethe hat den Pygmalion bereits 1773 zur Kenntnis genommen.23 Knapp vierzig Jahre später spricht er in Dichtung und Wahrheit seine Anerkennung für das epochemachende kleine Werk knapp aus, um es zugleich herb zu kritisieren. Dort stellt er den Pygmalion in den Kontext eines übertriebenen Naturalismus der 1770er Jahre, den er im Rückblick als ästhetisches Mißverständnis entlarvt. Aus der Perspektive des klassischen Goethe ist es die „höchste Aufgabe einer jeden Kunst“, „durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben“ und nicht „den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche übrig bleibt.“ 24 Kunst soll Leben ins Ideal verwandeln, nicht ideale Kunstwerke

22 Ebd., S. 1231. 23 Am 11. Januar 1773 schreibt Goethe an Sophie LaRoche: „Pygmalion ist eine treffliche Arbeit; soviel Wahrheit und Güte des Gefühles, soviel Treuherzigkeit im Ausdruck. Ich darfs doch noch behalten; es muß allen vorgelesen werden, deren Empfindung ich ehre.“ J. W. v. Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bände, Abt. II, Bd. 1, hrsg. von V.C. Dörr und N. Oellers, Frankfurt/M. 1998, S. 285. 24 J. W. v. Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, elftes Buch, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bände, Abt. I, Bd. 14, hrsg. von K.-D. Müller Frankfurt/M. 1986, S. 532.

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zum Leben erwecken. Von dieser Prämisse aus verwirft er Rousseaus Pygmalion als „wunderliche Produktion“, die zwischen Natur und Kunst schwanke „mit dem falschen Bestreben“, Kunst in Natur aufzulösen. Wenn Goethe Rousseau die Darstellung eines Künstlers vorwirft, der keine Befriedigung im Ideal findet, sondern statt dessen die Kunst „in das irdische Leben zu ihm herabgezogen“ sehen möchte, dann argumentiert er jedoch ausschließlich von der überlieferten Erzählung aus.25 Goethes Kritik am Künstlerdrama Pygmalion beschränkt sich darauf, daß hier ein falscher Kunstbegriff zur Darstellung käme, ohne die formale Umsetzung oder die Möglichkeiten der Gattung Melodram in Betracht zu ziehen. Sein Vorbehalt, so ist bemerkt worden, zielt damit auf das pygmalionische Modell im Ganzen und weniger auf die spezifische Ästhetik von Rousseaus ‚wunderlicher Produktion‘.26 Allerdings übt Goethe auch eine Kritik an der Ästhetik des Rousseauschen Pygmalion – er tut dies jedoch mit ästhetischen Mitteln. Dies geschieht in dem fünf Jahre später verfaßten Melodrama Proserpina, in dem er die melodramatische Form für seine eigenen Zwecke aufgreift und in erstaunlich enger Auseinandersetzung mit dem von Rousseau gesetzten Gattungsvorbild umformt. Wie sich bereits in der Entstehungs- und Aufführungsgeschichte abzeichnet, ist Goethe nicht nur dem Pygmalion, sondern auch seinem eigenen Melodram gegenüber höchst ambivalent. Die als Monodrama ausgewiesene Proserpina, Goethes einziges Melodrama, wird als Einlage in dem Fünftakter Der Triumph der Empfindsamkeit am 28.1.1778 in Weimar uraufgeführt. So ist die kleine melodramatische Szene bei ihrer ersten Aufführung mit einem satirischen Rahmen versehen, der eine Reihe von empfindsamen Modeerscheinungen karikiert. Der Triumph der Empfindsam-

25 Ebd., S. 534. 26 Mathias Mayer bringt Goethes Auseinandersetzung mit dem Pygmalion-Modell auf den Gegensatz von lebendiger Natur und tödlicher Kunst, so daß der Midas-Mythos zum eigentlichen Gegenmodell zum Pygmalion wird. M. Mayer: Midas statt Pygmalion. Die Tödlichkeit der Kunst bei Goethe, Schnitzler, Hofmannsthal und Georg Kaiser, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 278–310.

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keit führt in der Liebe der Königin Mandandane zum Prinzen einen der Empfindsamkeit zugerechneten schwärmerischen Gefühlskult mit all seinen Begleiterscheinungen vor. Goethe zitiert die Vorliebe für Mondscheinnächte bei gleichzeitiger Anfälligkeit für Erkältungskrankheiten, eine Natursehnsucht, die sich in der künstlichen Natur des Landschaftsgartens erschöpft und nicht zuletzt die wahllose Lektüre empfindsamer Romane, wobei Goethe nicht davor zurückschreckt, auch seine Leiden des jungen Werthers auftreten zu lassen. Die melodramatische Szene der Proserpina ist als Spiel im Spiel in den vierten Akt eingeschaltet und wird mit der Erklärung eingeleitet, die Königin Mandandane spiele gelegentlich mit sich selbst Monodramen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß Goethe die Proserpina ausschließlich für die Verwendung im Triumph der Empfindsamkeit konzipiert hat.27 Ein Jahr später folgt nämlich eine eigenständige Aufführung der Proserpina, und in diesem Zusammenhang bezichtigt sich Goethe, die Proserpina „freventlich in den Triumph der Empfindsamkeit eingeschaltet und ihre Wirkung vernichtet“ zu haben.28 Zwar faßt er die Proserpina 1787 nur anläßlich der Schriften-Ausgabe des Triumphs der Empfindsamkeit in freie Hymnenform, so daß das Melodram auch in der ersten Werkausgabe noch ironisch gebrochen ist. Allerdings läßt Goethe die Proserpina 1815, nachdem die empfindsame Mode abgeklungen ist und

27 Das Verhältnis des satirischen Sechsakters zu seinem eingelagerten Melodram ist in der Goethe-Philologie unterschiedlich beschrieben worden. Sei es als implizite Kritik an der Empfindsamkeit (Backall und Sauder), sei es aber auch als Versuch, die allzu persönliche Trauer über den Tod der Schwester hinter einer satirischen Maske zu verbergen (Strohschneider-Kohrs). Vgl. E. A. Blackall: Goethe’s Proserpina in Context. The two faces of Empfindsamkeit, in: Patterns of Change, hrsg. von D. James, New York, Bern u. a. 1990, S. 45–58; G. Sauder: Vom Himmel der Empfindsamkeit in Proserpinas Hölle: Goethes Triumph der Empfindsamkeit, in: Euphorion 97 (2003), S. 141–162; I. Strohschneider-Kohrs: ‚Proserpina‘ im ‚Triumph der Empfindsamkeit‘. Goethes Selbstmaskierung, in: Euphorion 93 (1999), S. 139– 167. 28 J. W. v. Goethe: Tag- und Jahreshefte, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bände, Abt. I, Bd. 17, hrsg. von I. Schmid, Frankfurt/M. 1994, S. 13.

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sich damit auch die scharfe Kritik daran erübrigt zu haben scheint, ein zweites Mal selbständig aufführen. Die Rahmung im Triumph der Empfindsamkeit spricht also für Goethes selbstironische Distanz zu den ästhetischen Strömungen des Sturm und Drang und der Empfindsamkeit mit ihrer Emphase des natürlichen Gefühls. Die beiden selbständigen Aufführungen von 1779 und 1815 zeigen hingegen, daß Goethe die Proserpina als eigenständiges Werk auch jenseits seiner satirischen Funktionalisierung geschätzt hat. Die Ambivalenz dem eigenen Melodram gegenüber steht nicht zuletzt im Zusammenhang mit der künstlerischen Entwicklung, die Goethe 1812 im Umkreis von Dichtung und Wahrheit rekonstruiert. Ebenfalls anläßlich des Rousseauschen Pygmalion spricht er in einem Brief an Zelter vom zeittypischen Kult des Natürlichen als einer „Epidemie“, die auch ihn damals erfaßt habe und schließt daran die rhetorische Frage: „war sie nicht wohltätig schuld an der Entwickelung meines Wesens, die mir jetzt auf keine andre Weise denkbar ist?“ 29 Die Proserpina wäre vor diesem Hintergrund als Symptom dieser Entwicklungskrankheit zu deuten, die Goethe retrospektiv an sich diagnostiziert. Zwar hat auch er sich die ansteckende Krankheit zugezogen, sie hatte aber zuletzt eine positiv empfundene Wirkung. Nimmt man diese metaphorische Selbstbeschreibung ernst, dann hat sich Goethe in der produktiven Auseinandersetzung mit dem Pygmalion mit und gegen die mit dem Namen Rousseau bezeichnete ästhetische Epidemie immunisiert. Erst eine Kontrastierung der beiden Texte, die auf die jeweils implizit reflektierte Ästhetik abzielt, kann zeigen, auf welche Weise sich Goethe dem ästhetischen Vorbild aussetzt und wie er aus dieser Auseinandersetzung eine eigene ästhetische Position entwickelt.30

29 J. W. v. Goethe: Brief am 3. Dezember 1812 an Zelter, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bände, Abt. II, Bd. 7, hrsg. von R. Unterberger, Frankfurt/M. 1994, S. 4. 30 In der ohnehin schmalen Forschung zur Proserpina hat man der Auseinandersetzung mit dem Rousseauschen Pygmalion innerhalb von Goethes Melodram erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt, so liegt bislang kein genauer Vergleich der beiden Texte vor.

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Wie die Mehrzahl der nach Rousseau verfaßten Melodramen bezieht Goethes Proserpina ihr Sujet aus der antiken Mythologie.31 Goethes Dramatisierung beginnt dabei in medias res, dort, wo sich Proserpina zwar schon in der Unterwelt befindet, aber noch Rettung antizipieren kann. In ihrem Monolog rekapituliert sie indirekt den Raub, indem sie erst die Klage ihrer „Gespielinnen“, dann die vergebliche Suche der Mutter imaginiert. Seinen Höhepunkt findet der Monolog dort, wo die erzählte Zeit in der dramatisierten Zeit ankommt. Proserpina greift zum Granatapfel, besiegelt dadurch ihr eigenes Schicksal und wird von den auftretenden Parzen endgültig in die Unterwelt abgeführt. Goethe muß nicht erklären (denn OvidLeser wissen), daß Jupiter ihre Befreiung aus der Unterwelt unter die Bedingung gestellt hatte, daß sie in der Unterwelt noch nichts „genossen“ hätte. Am dramatischen Höhepunkt der Szene, dem Griff zur Frucht, läßt Goethe zwei Symboltraditionen aufeinandertreffen. Die Ovidsche Proserpina ißt die Kerne, also die Samen, des Apfels und bekräftigt damit die Defloration durch Pluto. Goethes Proserpina hingegen beißt, ganz wie Eva, geradewegs in die Frucht, so daß das Urteil der Parzen lauten kann: „der Biß des Apfels macht dich unser.“ 32 Die Rede der Parzen überblendet den antiken Granatapfel mit der biblischen verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis. Durch diese Kreuzung des Erossymbols mit dem Paradiesapfel des Sündenfalls verschiebt sich Proserpinas gewaltsamer Raub in die Unterwelt hin zum schuldlos selbstverschuldeten Fall in die Tiefe. Das kleine Melodram durchläuft auf knappstem Raum den tragischen Spannungsbogen von einer verzweifelten, aber noch nicht ganz ausweglosen Situation über den Moment der erwachenden Hoffnung hin zum Umschlag in die endgültige Katastrophe. Diesen tragischen Verlauf setzt Goethe mithilfe von konkurrierenden Bewegungsformen in Gang. Das Vokabular des Textes ist dabei derart von Bewegung und Stillstand be-

31 Vgl. Schimpfs Aufstellung der Stoffe, in: W. Schimpf: Lyrisches Theater. Das Melodrama des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1988, S. 257. 32 J. W. v. Goethe: Proserpina, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bände, hrsg. von H. Birus, A. Schöne und H. Reinhardt, 1. Abt, Bd. 5., Frankfurt/M. 1998, S. 68.

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herrscht, daß der Kontrast von Dynamik und Statik geradezu das semantische Zentrum des Textes bildet. Schon mit ihren ersten Worten hält sich Proserpina selbst an: „Halte! halt einmal Unglückselige“.33 Mit diesem Anhalten will sie ihren ziellosen Irrweg in der Unterwelt unterbrechen: „vergebens irrst du in diesen rauhen Wüsten hin und her“, heißt es gleich im zweiten Satz. In einer Apostrophe an die Mutter Ceres imaginiert sie diese in derselben Hin- und Her-Bewegung, in der sie sich selbst befindet. Auf der Suche nach der Tochter werde auch die Mutter „keinen Gang scheuen hierhin und dorthin“.34 Im ziellosen Hin und Her der beiden Frauen spiegelt sich das Bewegungsgesetz der Unterwelt. Tantalus, Ixion, die Danaiden – sie alle befinden sich in einem qualvollen Zustand zwischen Leben und Tod, der sich durch eine ziellose aber nicht stillzustellende Bewegungswiederholung auszeichnet. So nimmt Prosperpina die Qual der Unterwelt als zyklische, leere Zeit der Wiederholung wahr, die sie anhalten möchte: „In Ixion’s Rad möcht’ ich eingreifen und Einhalt tun seinem Schmerz.“ 35 Die Toten möchte sie von der Qual der ziellos verrinnenden Zeit erlösen. In der Eingangssequenz ist die Gegenwart des Monologs als ein Zustand ausgewiesen, der von ebenso endloser wie sinnloser Bewegung bestimmt wird. Das Hin- und Her der ersten Zeilen wird von einer Bewegung entlang der vertikalen Achse durchkreuzt, die sich im Text in der Rede vom Steigen und Fallen artikuliert. Proserpina wurde „heruntergerissen in diese endlose Tiefen“, Amor hingegen „floh lachend zum Olymp auf“.36 Diese Aufwärtsbewegung wird in der Apostrophe an Ceres aufgenommen: „Wende aufwärts! aufwärts den geflügelten Schlangenpfad! aufwärts nach Jupiters Wohnung“ 37 und sie steigert sich noch in der direkten Apostrophe an Jupiter. Die an die Eltern gerichtete Bitte durchmischt sich mit der Kindheitserinnerung: „Vater der Götter und Menschen […] auf deinem goldenen 33 34 35 36 37

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Stuhle, zu dem du mich klein, so oft mit Freundlichkeit aufhubst, in deinen Händen mich scherzend gegen den endlosen Himmel schwenktest“. Die Erinnerung mündet in Wunsch: „wirst mich wieder, wieder aufwärts heben“.38 Mit den Auf- und Abwärtsbewegungen wird also das vergangene und noch zu antizipierende Geschehen vergegenwärtigt. Die mythologische Erzählung der Proserpina wird somit in Gestalt von konkurrierenden Bewegungsformen dramatisiert und vergegenwärtigt. Auffällig ist dabei, daß die physischen Bewegungsrichtungen der Handlung in Proserpinas Rede in Blickrichtungen übersetzt werden. Bereits im zweiten Satz spricht sich Proserpina selbst an: „Nicht vorwärts, aufwärts auch soll dieser Blick nicht steigen“,39 denn der Himmel, zu dem sie sonst „mit Liebesblick hinaufsah“, hat sich für sie verhüllt. In einer Apostrophe an die Nymphen, denen sie entrissen wurde, heißt es: „Ihr steht und seht mir nach, wohin ich verschwand!“40 Mit ihrem Stillstand hat sich die Körperbewegung zugleich in eine Sehbewegung verwandelt, denn die Gespielinnen stehen still und folgen Proserpinas Bewegung lediglich mit ihren Blicken. Die engste Verbindung von Bewegungen und Blicken knüpft sich jedoch in Proserpinas Erinnerung an die Entführung. Es seien die „düstren Augenbrauen“, der „verschlossene Blick“ des Pluto, die sich „auf einen Augenblick“ geöffnet hätten.41 Hier handelt es sich um einen im doppelten Sinn katastrophalen Augenblick, denn das Unglück wird durch den begehrenden Blick des Gottes ausgelöst und es geschieht ganz plötzlich in einem Augenblick. Indem Proserpina den Raub nicht im körperlichen Zugriff, sondern im Bildfeld von Auge und Blick rekapituliert, überführt sie den physischen in einen visuellen Gewaltakt. In der Rede vom „Augenblick“ wird zudem der Doppelsinn von Sehsinn und dem Zeitmoment des Augenblicklichen aktiviert, wobei mit dem Augenblick gerade keine Simultaneität und Aktualität suggeriert, sondern durch rhetorische Vergegenwärtigung ein vergangener Unglücksmoment in Szene gesetzt wird. 38 39 40 41

Ebd. Ebd., S. 65. Ebd. Ebd., S. 66.

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Die Logik des Augenblicks ist für die Anlage der dramatischen Szene noch in anderer Hinsicht relevant. Wenn man den von Lessing geprägten Begriff entgegen seiner Intention auf einen literarischen Text beziehen darf, dann bezeichnet der szenische Moment, den Goethe für seine Proserpina gewählt hat, einen „fruchtbaren Augenblick“. So bestimmt Lessing in seiner Laokoonschrift den Unterschied zwischen bildender Kunst und Poesie bekanntlich über die Entgegensetzung von Simultaneität und Sukzession, die den bildenden Künstler auf den Augenblick festlegt, während der Dichter Handlungsfolgen darstellen kann. Da der bildende Künstler „nie mehr als einen einzigen Augenblick“ zu zeigen vermag, so kann „jener einzige Augenblick“ „nicht fruchtbar genug gewählet werden“. Unter dem „fruchtbaren Augenblick“ versteht Lessing denjenigen, der „der Einbildungskraft freies Spiel läßt.“ Ein Moment also, der nicht alles zeigt, sondern dem Rezipienten Raum zur imaginativen Ergänzung des Dargestellten läßt. Dies bezieht Lessing insbesondere auf die Affektdarstellung: „In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben.“ 42 Der unfruchtbarste Moment für den bildenden Künstler ist also der einer extremen emotionalen Agitation, der nach Lessing der Dichtung vorbehalten bleiben muß. Goethe hält sich nun in seiner dramatischen Szene Proserpina erstaunlich eng an die Einschränkung, die eigentlich nur für das Bild gelten müßte. Goethe läßt nämlich den psychischen Konflikt der Proserpina, die zwar schon in Unterwelt gefangen ist, sich aber immer noch nach oben träumt und dabei zwischen Verzweiflung, Anklage und Selbstbezichtigung schwankt, gerade in dem von Lessing für die bildende Kunst empfohlenen Moment kurz vor der „höchsten Staffel des Gefühls“ stattfinden. Vor dem eigentlichen Höhepunkt des Schmerzes schließt auch Goethes Melodram: Das letzte Wort des Textes ist das Wort „Qual“, danach versagt die Rede. Damit folgt die dramatische Szene, die Goethes aus der Erzählvorlage gewinnt, der von Lessing exponierten Logik des Bildlichen.

42 G. E. Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Werke in drei Bänden, Bd. 2., hrsg. von P.-A. Alt, München [1969] 31995, S. 22.

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Die Affinität des Goetheschen Melodrams zum Bild bestätigt sich in Goethes Aufsatz von 1815, in dem er Ausstattung und Aufführung der Proserpina ausführlich beschreibt. Der Text endet zwar mit dem Wort „Qual“, nicht aber die Inszenierung, denn die Aufführung gipfelt in einem Schlußbild als der „Vollendung“ des Ganzen. Mit Goethe: „Indem nämlich Proserpina in der wiederholten Huldigung der Parzen ihr unwiderrufliches Schicksal erkennt“ und „unter den heftigsten Gebärden in Verwünschungen ausbricht“, in dem Moment also soll das Schlußbild sichtbar werden, „erstarrt zum Gemälde, und auch sie die Königin zugleich erstarrend als Teil des Bildes.“ Dieses Schlußbild ist ein mehrteiliges Tableau Vivant, das die Einzelgesten orchestriert, so wie der abschließende Chorgesang der Parzen die Einzel-Deklamation stimmlich vervielfältigt. Während Proserpina zuletzt ihren Platz im Schlußtableau findet, endet der Aufsatz seinerseits mit der Ekphrasis des theatralen Schlußbildes, in der noch einmal antike und christliche Ikonographie enggeführt sind. Die Aufteilung des Schlußbildes imitiert Darstellungen des jüngsten Gerichts. In der unteren Mitte befinden sich die Parzen in einer Höhle, darauf thront Pluto, rechts von ihm ist der Bereich der Unterwelt mit ihren berühmten Verdammten, links hingegen zeigt sich die Welt der Seeligen, die „elysischen Hügel“. In der Aufführung erschien das Bild zweimal: Einmal mit einem leeren Thron neben Pluto; dann, nach einem kurzen Vorhang, zeigt sich das eigentliche Schlußbild mit Proserpina auf dem Thron. In der Beschreibung dieses Schlusses des Schlusses gerinnt zuletzt sogar Goethes geläufige Aufsatzprosa zum elegischen Schlußvers des Pentameter: „sie, die Bewegliche, unter den Schatten erstarrt“.43 Welche Wirkung gerade die Visualität des Schlußbildes auf den Betrachter hatte, zeigen zeitgenössische Berichte über die Aufführung. So hebt man neben der farblich abgestimmte Kostümierung die „rein plastische Darstellung“ der Schauspielerin hervor und lobt besonders ihre malerischen Gebärden: „Jede ihrer Stellungen war im höch43 J. W. v. Goethe: Proserpina. Melodram von Goethe, Musik von Eberwein, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bände, hg. von H. Birus, A. Schöne und H. Reinhardt, Abt I, Bd. 19, hrsg. von F. Apel, Frankfurt/M. 1998, S. 707–715, hier: S. 713.

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sten Grade malerisch.“ 44 Gegen den Ratschlag Lessings delegiert Goethe also die tragische Katastrophe und damit die „höchste Staffel des Gefühls“ 45 an eine bildartige Darstellung im höchst malerischen tableau vivant, das angesichts der dargestellten Szene wohl besser als tableau mortifiant zu bezeichnen wäre. Mit diesem zweiten Schlußbild und seiner eigenen Beschreibung ist auch der Punkt markiert, an dem Goethe zur Umschrift des Rousseauschen Pygmalion ansetzt. Rousseaus Pygmalion führte ja den Umschlag von Tod in Leben als eine Verwandlung vom toten Marmor in lebendige Empfindung vor. Goethe hingegen beschreibt Proserpinas Übergang von der Welt der Lebenden zur Unterwelt, von der beweglichen Nymphe zur erstarrten Todesgöttin. Damit verkehrt Goethe die von Rousseau vorgegebene Metamorphose vom toten Stein zum lebendigen Körper. Rousseaus imaginierte Animation wird bei Goethe zur malerischen Mortifikation. Die diametral entgegengesetzten Handlungsverläufe lassen sich mit der von Goethe in Dichtung und Wahrheit vorgegebenen Perspektive als konträres Verhältnis von Kunst und Natur deuten. Pygmalions Statue transformiert sich zur lebendigen Nymphe Galatea, während Goethe die Nymphe Proserpina ins künstliche Tableau eingehen läßt. Wenn mit Rousseau Kunst zu Leben werden soll, dann ist nach Goethe Leben allein in der Kunst zu verewigen. Imaginiert Rousseau die Kunst und ihre empfindsame Rezeption als künstliche Geburt, so inszeniert Goethe mit reichem Bühnenaufwand die Todesverfallenheit des Lebens. Mehr noch: Während Pygmalions erotisches Begehren die Statue animiert, wird Proserpina gerade die Begehrlichkeit Plutos zum Verhängnis. Goethes Kritik an Rousseaus Pygmalion ist daher als Reflex auf eine von Kant formulierte Ästhetik gedeutet worden, die auf dem ‚interesselosen‘ Wohlgefallen an der Kunst besteht und deshalb Pygmalions erotisches Begehren der Statue als „gemeinsten Akt der Sinnlichkeit“ verwerfen muß.46

44 Gries, zit. nach: Goethe [wie Anm. 7], S. 951. 45 Lessing [wie Anm. 42], S. 22. 46 R. Warning [wie Anm. 16], S. 225–251, hier: S. 226.

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Goethe unterstreicht mit der Proserpina aber nicht nur einen Vorbehalt gegen die Erzählung von einem Künstler, der sein Kunstwerk begehrt. Er entwirft zugleich eine Gegenposition zu Rousseaus Bewegungsästhetik, die in der Form des Textes und der Art seiner Inszenierung ausgetragen wird. Während Rousseau die Statik der Statue in Bewegung bringt, hebt Goethe in der Proserpina gerade das Bewegungsmoment konsequent auf. Die Abkehr von einer melodramatischen Bewegungsästhetik zeichnet sich zudem in der reduzierten Rolle ab, die Goethe dem Melos des Dramas, also der Musik zumißt. Wie er in seinem Aufsatz von 1815 zugibt, liegt das entscheidende Charakteristikum des Melodrams zwar in der Musik: „es ist nicht zu leugnen, daß die melodramatische Behandlung sich zuletzt in Gesang auflösen und dadurch erst volle Befriedigung gewähren muß.“ 47 Für diese zugleich auflösende und integrierende Funktion der Musik findet er jedoch zwei eigenartig ineinander verschwimmende Bilder. So heißt es zuerst, die Musik sei wie ein „See“, „worauf jener künstlerisch ausgeschmückte Nachen getragen wird“. Die Musik wird somit zur Basis und zum Fundament des Melodrams erklärt – damit steht es allerdings auf recht schwankendem Grund. Seinen Wasservergleich vergleicht Goethe deshalb im präzisierenden Nebensatz gleich noch einmal. Die wasserartige Musik sei „als die günstige Luft, welche die Segel gelind, aber genugsam erfüllt, und der steuernden Schifferin bei allen Bewegungen, nach jeder Richtung, willig gehorcht“.48 Indem Goethe einerseits in der Logik des Bildes bleibt, andererseits aber vom See zur Luft schwenkt und dabei eine Metapher metonymisch in die nächste überführt, etabliert er ein komplexes Wechselverhältnis zwischen Darstellung und Musik. Musik ist insofern elementar, als sie das fundierende Prinzip des Melodrams bildet. Mit dem Schwenk vom Wasser zur Luft wird die Musik jedoch degradiert, denn sie ist zwar Antrieb, gehorcht aber immer den Bewegungen der Darstellerin, von denen sie gekonnt kontrolliert wird. Zwischen musikalisches Movens und dargestellte Emotion tritt bei Goethe also die vermittelnde, die Emotionen kanalisierende Geste. 47 Goethe [wie Anm. 43], S. 712. 48 Ebd.

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Mit dieser intermittierenden Geste unterbricht Goethe in seinem melodramatischen Gegenentwurf aber auch die von Rousseau postulierte und dramatisierte unmittelbare Transposition von Bewegung in Gemütsbewegung. Als Symptom dieser Einschaltung des Bildlichen kann gelten, daß Goethe in seinem Aufsatz zur Proserpina den visuellen Gestaltungselementen weit mehr Raum gibt, statt, wie von Rousseau in seinem musiktheoretischen Artikel „imitation“ gefordert, das Auge ins Ohr zu verlegen. Goethes Anweisungen beziehen sich nur am Rande auf die bewegungsfördernde Musik, sondern konzentrieren sie weit stärker auf die statischen Elemente der Aufführung wie Kostüm, Kulissen, Dekoration und Schlußbild. In der Abfolge seiner Inszenierungsanleitung setzt Goethe an erste Stelle „eine bedeutende, dem Auge zugleich höchst erfreuliche Dekoration“,49 die im Tableau gipfelt, durch das alles „geschlossen, und vollendet“ werde. Die Vollendung besteht darin, daß „sich der Hintergrund [eröffnet], wo man das Schattenreich erblickt, erstarrt zum Gemälde, und auch sie die Königin zugleich erstarrend als Teil des Bildes.“ 50 In diesem Schlußtableau konvergiert das Dargestellte, die Erstarrung der Nymphe, mit der Form seiner Darstellung, dem „Gemälde“. Das Drama der beweglichen Nymphe, die ins Reich des Todes und der Erstarrung aufgenommen wird, entspricht dem Medium des Bildes, in dem jede Bewegung stillgestellt ist. Goethes Schlußwendung „sie, die Bewegliche, unter den Schatten erstarrt“ 51 legt somit das ästhetische Zentrum von Goethes Umdeutung des Pygmalion frei. Der Primat des Auges, der Geste und das Phänomen Stillstellung bezeichnet zugleich das Scharnier, über das sich der Text der Proserpina in eine Reihe mit Warburgs Nymphenbildern stellen läßt.

49 Ebd., S. 711. 50 Ebd., S. 712. 51 Ebd., S. 713.

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4. Warburg, Goethe und die Nymphe Proserpina Die Erstarrung der Proserpina folgt einer Logik des Bildes, die Warburg ausgehend von seinen jahrzehntelangen Recherchen zur Ninfa fiorentina, der laufenden Frau der antiken Bildüberlieferung, verfolgt hat. Mit der Ninfa, deren Darstellung Warburg auf die Ikonographie der antiken Mänade zurückführt, sieht er ein Element der bewegten heidnischen Antike in die statische Dekorationskultur der Frührenaissance einbrechen.52 Die in der Kunst des Mittelalters und der Neuzeit zitierten antiken Bewegungsformeln, die Warburg angesichts der rasenden Mänaden in Darstellungen vom Tod des Orpheus auf den Begriff der „Pathosformel“ 53 bringt, verbinden sich auf doppelte Weise mit dem Moment der Bewegung. Sie stellen extreme Bewegungsformen dar, und sie sollen im Betrachter entsprechende psychische Bewegungen, nämlich „gleiche seelische Schwingungen“ auslösen. Warburgs Rede vom „Nacherleben menschlicher Ergriffenheiten“ 54 im Medium der Kunst bezieht sich sowohl auf den Rezipienten als auch auf den rezipierenden Künstler, denn nur die Dynamik der Gebärdensprache, die im Betrachter entsprechende Bewegungseffekte anstößt, kann die historische Nachwirkung antiker Bildformeln begründen. Die enge Kopplung von Affektrhetorik und Affektstimulation steht jedoch im Zeichen eines Nacherlebens, das im Sinne eines „Nachlebens der Antike“ vor allem historisch gedacht ist. Statt Gefühlsintensitäten ungebrochen zu vergegenwärtigen, werden sie im Zuge ihres Nachlebens in Bildern zugleich abgear52 Zu Warburgs Theorie der Pathosformel im Kontext seiner „Psychohistorik“ vgl. C. Zumbusch: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin 2004, bes. S. 71–119. 53 A. Warburg: Dürer und die italienische Antike, in: ders., Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance (Gesammelte Schriften 1. Abt., Bd. I.2), neu hrsg. von H. Bredekamp und Michael Diers, Berlin 1998, S. 446. 54 A. Warburg: Mnemosyne-Einleitung, in: ders., Der Bilderatlas Mnemosyne (Gesammelte Schriften 2. Abt., Bd. II.1), hrsg. von M.Warnke unter Mitarbeit von Cl. Brink, Berlin 2000, S. 5.

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beitet. Diese Bewältigung sieht Warburg in der Möglichkeit des Bildes gegeben, die ungehemmte Bewegung in der geprägten Form nicht nur freizusetzen, sondern vor allem in „bewußter bändigender formaler Gestaltung“ anzuhalten und stillzustellen. In den auf Tafeln montierten Bildern des Mnemosyne-Atlas sollte nun die Geschichte der „Darstellung bewegten Lebens“ nachgestellt werden.55 Die Pathosformeln sind im Verlauf ihres Nachlebens unterschiedlichen historischen Bearbeitungsweisen ausgesetzt. In seinem 1906 publizierten Dürer-Aufsatz weist Warburg nach, daß die Darstellung des Orpheus und der ihn verfolgenden Furien antiken Vasenzeichnungen und Halbreliefs zwar exakt nachgezeichnet sind, die antiken Prägungen dabei jedoch dekontextualisiert und inhaltlich umgedeutet sind. Die Bilderreihen des Atlas zeigen Filiationen von Pathosformeln, bei denen der äußere Umriß beibehalten, der Inhalt der Formel hingegen verschoben oder sogar in sein Gegenteil verkehrt wird. Warburgs Geschichte der Ninfa, dieser Pathosformel par excellence, erzählt zudem von einer formalen Entstellung der antiken Form. Die antike Ninfa zeichnet sich durch ihr bewegtes Beiwerk, das fliegende Haar und den gebauschten Schleier aus, in den sich die Dynamik der Körperbewegung verschoben hat. Wie Warburg in einem Aufsatz aus dem Jahr 1905 zeigt, werden die antiken Bewegungsformeln in der spätmittelalterlichen Bildüberlieferung durch trachtenartige Kostümierung verpackt und unkenntlich gemacht. Diese Entstellung durch Kostümierung wird nun in der Kunst der Renaissance wiederum entstellt, wobei sich die Ninfa unter dem Blick des Kulturhistorikers im doppelten Sinn entpuppt. Der „unklassische Moderealismus“ auf flandrischen wie florentinischen Kupferstichen wirkt, so die Grundlinie der Warburgschen Argumentation, der „dramatischen Einfachheit der Gebärdensprache“ entgegen, denn mit der Tracht werde „ein echt klassisches Motiv“ „bis zur Undurchsichtigkeit übersponnen“.56 Die „Wiedergeburt der Antike“ vollzieht sich aus dieser 55 Ebd., S. 4 und 3. 56 A. Warburg: Austausch künstlerischer Kultur zwischen Norden und Süden im 15. Jahrhundert, in: ders., Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance (Gesammelte Schrif-

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Perspektive als „Befreiung von höfischer Stofflichkeit“ und die im Rückgriff auf die antike Gebärdensprache gewonnenen Bewegungsgestalten sind „befreite, nicht freie Geschöpfe der malerischen Phantasie“.57 Indem Warburg die Ninfa noch in ihren gotischen Verkleidungen überraschend entlarvt und den stilistischen Formenwechsel als Befreiung vom undurchsichtigen Kostüm beschreibt, spielt er zugleich mit dem Bild vom im Kokon eingesponnenen Schmetterling, der sich aus seiner Verpuppung befreit. Goethes Nymphe Proserpina findet sich in Warburgs Bildersammlungen an mehreren Stellen. Auf den Tafeln 5, 35 und 70 des Mnemosyne-Atlas versammelt Warburg antike, spätmittelalterliche und barocke Flucht- und Raubszenen, die neben den Bildern vom Tod des Orpheus auch verschiedene Versionen des Raubs der Proserpina zeigen. Der Proserpina ist überdies eine eigene Tafel in der 1927 konzipierten Ausstellung zu Ovid-Illustrationen gewidmet, die einen konzeptuellen Vorläufer für Warburgs Projekt des Mnemosyne-Atlas bildet. Indem Warburg in seiner Disposition der Ovid-Ausstellung die „Urworte der leidenschaftlichen Gebärdensprache: Verfolgung, Raub, Verwandlung, Opfertod, Opferspiel, Klage“ 58 als Kapitelunterschriften auf die einzelnen Tafeln setzt, bestimmt er die Pathosformeln nicht nur als Affektchiffren, sondern vor allem als zum Bild geronnene Handlungen. Diese gestisch komprimierten Handlungen werden nun sowohl bildlich als auch textuell tradiert, insofern die „Conserva-

ten Abt. 1, Bd. I.1), neu hrsg. von H. Bredekamp und M. Diers, Berlin 1998, S. 177– 184, bes. S. 182 ff. Die Argumentationsfigur vom Formenwechsel durch Kostümierung und Entkleidung findet sich bei Warburg an vielen Stellen, die Rede von der Ninfa als Schmetterling ist jedoch im Umkreis des Nymphenfragments besonders prominent. 57 Ebd., S. 183 f. 58 A. Warburg: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl (Gesammelte Schriften 7. Abt., Bd. VII), hrsg. von K. Michels und Ch. Schoell-Glass, Berlin 2001, S. 50. Die Ovidtafeln, darunter die Proserpina-Tafel, sind exemplarisch wiedergegeben in: A. Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne (Gesammelte Schriften 2. Abt., Bd. II.1), hrsg. von M. Warnke unter Mitarbeit von Cl. Brink, Berlin 2000, S. XI.

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toren dieser Pathosformeln“ auch „sprachlich“ seien. Die Bildergeschichte der abendländischen Affektkultur, die Warburg aus den „Ovidianische[n] Urworte[n] leidenschaftlicher Gebärdensprache“ 59 montiert, findet ihren Anlaß also nicht nur in den Illustrationen und bildlichen Metamorphosen der Ovidschen Metamorphosen-Textes, sondern vorab im Text selbst. Die Ovidschen Metamorphosen geben sich als wichtiger Umschlagsort der bildlichen Pathosformeln zu erkennen, indem sie die Umarbeitung der griechischen „religiösen Tragik“ zur erotischen Idylle leisten. So werden aus den als Conservatoren bezeichneten Texten unter der Hand Transformatoren. Warburg spricht von „Ovid (der durch Umbiegung der tragischen Urworte ins idyllisch erotische anzieht) und Vergil der durch epischen Erzählerrhythmus ebenfalls die religiöse Tragik entgiftet“.60 Wenn die Texttradition an einer „Umbiegung“ oder gar einer ‚Entgiftung‘ arbeitet, dann ist sie an dem „Entdämonisierungsprozeß“ 61 der heidnischen Antike beteiligt, den Warburg in der Einleitung zum Mnemosyne-Atlas programmatisch beschreibt. Die innere Abfolge der auf Tafeln geordneten Metamorphosenbilder stellt Warburg denn auch unter eine Generalüberschrift, die zugleich die historische Entwicklungsthese des Vortrags komprimiert: Vom „Triumph zum Seelendrama“.62 Welche Stelle läßt sich nun Goethes Proserpina in der von Warburg angelegten Entwicklungsreihe der verhüllten und entlarvten, einbrechenden und sukzessive gebändigten Ninfa anweisen? Aufschlußreich ist zunächst, daß Goethe für seine melodramatische Szene einen anderen Ausschnitt aus der mythologischen Erzählung wählt als in der Bildüberlieferung üblich. Wie die entsprechende Tafel in Warburgs Ovid-Ausstellung zeigt, ist der Raub der Proserpina bereits auf antiken Sarkophagen, spätestens aber in der barocken Bildtradition bei Rubens und Rembrandt zum Inbegriff der erotischen Verfolgungs- und gewaltsamen Entführungsszene geworden, so daß Warburg die Tafel denn auch mit der Überschrift „Raub (Proserpina)“ 59 60 61 62

Warburg [wie Anm. 85], S. 99. Ebd., S. 47. Warburg [wie Anm. 54], S. 3. Warburg [wie Anm. 58], S. 99.

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versieht. Die von Warburg dokumentierte Bewegungsszene erledigt Goethe in nur einem Satz: „Weggerissen haben sie mich, Die raschen Pferde des Orkus“, so resümiert Proserpina ihre Entführung. Mit der Schwerpunktverlagerung vom ohnmächtig erlittenen gewaltsamen Raub auf die selbst ergriffene und genossene Frucht entfernt sich Goethes Proserpina von der gängigen Ikonographie der Proserpina-Mythe. Während die Bildtradition den Moment der physischen Gewalt zeigt, isoliert Goethes dramatischer Monolog den innerlichen Nachvollzug dieses Moments als den bewußten Abschied vom Leben und Übergang zum Tod. Auf diese Weise übersetzt er äußere, physische Bewegung in inneren, psychischen Aufruhr. Diese Transformation von äußerer in innere Bewegung ließe sich mit Warburg auch als „Einverseelung“63 des antiken Pathos bezeichnen. Beim Blick auf die anläßlich der Wiederaufnahme von 1815 skizzierte Aufführungsplanung erweist sich Goethes melodramatische Szene auch als bühnenpraktischer Konservator von Pathosformeln. Schon anläßlich der ersten Inszenierung hatte Goethe darauf bestanden, daß bei der Einstudierung vor allem diejenigen Gesten zu korrigieren waren, „die wohl graziös wären, aber nicht antik“.64 In einem Brief an Zelter vom 17. 6.1815 präzisiert Goethe nun diese antike Provenienz der Gesten, indem er sich von der Darstellerin der Proserpina sogenannte „Hamiltonisch-Hendelische Gebärden“ wünscht. Hierbei handelt es sich um antikisierende Gesten und Haltungen, die sich die „Attitüden“-Darstellerinnen Lady Hamilton und nach ihr Henriette Hendel-Schütz in Anlehnung an antike Vasenbilder und Basreliefs aneigneten.65 Wenn sich die von Goethes geforderte melodramati63 Warburg [wie Anm. 54], S. 3. 64 Goethe [wie Anm. 7], S. 952. 65 Damit speist Goethe die im Umkreis des Melodrams entstandene Darstellungskonvention der „Attitüden“ in seine Melodram-Inszenierung ein. Die „Attitüden“-Darstellung, bei der eine Abfolge von an Werken der bildenden Kunst orientierten Haltungen und Gebärden vorgeführt wurde, war im Gefolge der Melodramen in den 1770ern entwickelt worden. Günter Heeg bezeichnet daher „die Darstellerinnen der Attitüden“ als „legitime Nachfolgerinnen der Heroinen des Melodramas“. G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M, Basel 2000, S. 370. Heeg assoziiert überdies die in

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sche Körpersprache tatsächlich an antiken Umrißzeichnungen ausrichten soll, dann sind diese theatralen Gesten nichts anderes als „archäologisch getreue Pathosformeln“.66 Und wie Warburgs sich entpuppende Ninfa hat auch Goethes antikisierende Nymphe Proserpina ein besonderes Verhältnis zum Gewand. Die Proserpina-Inszenierung setzt zunächst auf die Repräsentation durchs Kostüm: „prächtige, übereinander gefaltete Mäntel, Schleier und Diadem bezeichnen sie“,67 so heißt es über Proserpinas Auftritt. Die Pointe ihres melodramatischen Monologs ist es aber, sich im Gedächtnis an ihr Nymphendasein wieder zu entkleiden: „kaum findet sie sich allein, so kommt ihr das Nymphenleben wieder in den Sinn, […] sie entäußert sich allen Schmucks, und steht auf einmal blumenbekränzt als Nymphe da.“ Für Goethe liegt in dieser erinnernden Metamorphose ein offenkundiger bühnendramatischer Überraschungseffekt, denn daß „der Kontrast einer königlichen Figur mit einer daraus sich entwickelnden Nymphengestalt überraschend sei, wird niemand entgehen.“ 68 Wenn Goethe hier von einer „sich entwickelnden Nymphengestalt“ spricht, dann entfaltet sich auch hier der Doppelsinn von Entpuppung und Demaskierung einerseits, sowie von der Entwicklung als einer gleichsam biologischen Metamorphose andererseits. Goethes Proserpina verwandelt sich vor den Augen der Zuschauer von einer Königin zurück in eine Nymphe, indem sie sich aus ihrer Kostümierung auswickelt. Indem Goethes Inszenierung mit der Entäußerung des schmückenden Ornats der Warburgschen Logik der Erinnerung der Renaissance an die Antike entspricht, bringt ihr pantomimisches Spiel mit dem höfischen Kostüm Warburgs Entlarvung der Ninfa gleichsam auf die Bühne. Allerdings bildet gar nicht die Entlarvung der Ninfa, sondern die Metamorphose der beweglichen Nymphe zur

der klassizistischen französischen Schauspielkunst üblichen „zeichenhaften Gesten des Ausbruchs“ mit rhetorischen „Pathosformeln“ (Ebd., S. 372), die im neoklassizistischen Theater wiederum den Vorrang über dem zwischenzeitlich favorisierten natürlichen „Ausdruck“ erhalten. 66 Warburg [wie Anm. 53], S. 446. 67 Goethe [wie Anm. 43], S. 711. 68 Ebd.

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starren Todesgöttin der Gipfelpunkt der Aufführung. Gemäß Goethes Vorgabe im Aufsatz zur Proserpina endet die Aufführung mit ihrer endgültigen Verhüllung: „Die Nymphe jedoch wird bald aus ihrer Täuschung gerissen, sie fühlt ihren abgesonderten kläglichen Zustand, ergreift eins der Gewänder“, in das sie „sich bald […] verhüllt“.69 So mündet die Entschleierung in die endgültige Einkleidung und erst als wieder verhüllte Königin geht Proserpina ins sorgfältig komponierte Schlußbild ein. Über das Moment von Enthüllung und Verschleierung kommuniziert Goethes Proserpina mit Rousseaus Pygmalion in einer Weise, die sich vor dem Hintergrund von Warburgs Beobachtungen zur melodramatischen Form und Reform um 1600 als Dialog zwischen einem Melodram und seinem Antimelodram lesen läßt.

5. Pygmalion versus Proserpina: Melodram und Antimelodram Das Argument von der Entkleidung einer verkleideten Antike strukturiert in auffälliger Weise auch Warburgs Aufsatz zu den costumi teatrali, in dem er anhand von Festzügen und mythologischen Maskenspielen des 15. und 16. Jahrhunderts, en détail an den Intermedien von 1589 in Florenz die Durchsetzung der „Riformazione melodrammatica“ verfolgt.70 Mit dem Terminus melodramatisch ist hier die Innovation der Oper in der Renaissance angesprochen, in deren musikhistorische Tradition auch das Melodrama des 18. Jahrhunderts gehört. Das Bühnenmelodram des ausgehenden 18. Jahrhunderts steht insofern im Zusammenhang mit der sogenannten zweiten Opernreform von Gluck und Metastasio, als zu deren Zielen die Rückkehr zum stile recitativo der italienischen Renaissance gehört, auf den das Melodram als musikbegleitete Rede ja in besonderer Weise setzt. Zu den Kennzeichen der vorbildlichen Stilwende um 1600, die sich mit

69 Ebd. 70 A. Warburg [wie Anm. 56], S. 422–438, hier: S. 424.

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Monteverdi verbindet, gehört das auf den angeblichen Deklamationsstil der antiken Tragödie zurückgeführte monodisches Prinzip, das der Rede den Vorrang läßt. Die verständliche, ausdrucksstarke Deklamation in der Singstimme steht im Vordergrund, während die homophonen Akkorde lediglich zur Unterstützung dienen. Das Ideal der rhetorischen Deutlichkeit bei gleichzeitiger Affekterregung und Steigerung der Subjektivität wird jedoch durch die Operentwicklung im 17. Jahrhundert, einerseits durch schlechte Libretti, andererseits durch die zunehmende Virtuosität in der Verzierungspraxis und die sich einbürgernden da capo-Arien durchkreuzt. Im 18. Jahrhundert knüpft sich dementsprechend die Hoffnung auf eine „heilsame Revolution“ der Opernpraxis ausgerechnet ans Melodram.71 Warburg rekonstruiert die im Umkreis von Monteverdi betriebene Reform um 1600 aus der Perspektive ihrer ikonographischen Ausstattung und assoziiert sie mit psychologischer Unmittelbarkeit, die an die Stelle allegorischer Bezeichnung treten soll. Nach Warburg weist die melodramatische Reform den Weg zu „psychologisch-einheitlicher dramatischer Kunst“,72 die sich erst mühsam aus „der pantomimischen Kunst des mythologischen Aufzugs“ mit ihren Verfahren der „Kunst der Zeichensprache, des Beiwerkes und des Schmuckes“ 73 herausarbeiten müsse. In der Oper werde die 71 Vgl. dazu U. Küster: Das Melodrama. Zum ästhetikgeschichtlichen Zusammenhang von Dichtung und Musik im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. u. a. 1994. Das innovatorische Potential sieht man in der musikwissenschaftlichen Forschung jedoch eher kritisch. So beschränkt sich das Melodram, wie Sabine Henze-Döhring an Bendas Ariadne auf Naxos und Medea exemplarisch herausarbeitet, auf die „Selektion und Reduktion auf jene Affekte, die in der Oper seit ihrer Entstehung […] diametrale Pole bildeten“. So „wurzelte es in seiner Schwarzweiß-Dramaturgie nicht nur ästhetisch überkommenen Modellen, sondern stand auch mit der Bildhaftigkeit der Sprache – Gleichnis,arien‘, wenn man so will – und einer der Naturmetaphorik entlehnten musikalischen Tonmalerei fest in der Tradition der älteren Oper.“ S. HenzeDöhring: ‚Ausdruck‘ und ‚Körperlichkeit‘: Das deutsche Melodram des späten 18. Jahrhunderts, in: Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts, Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, hrsg. von E. Fischer-Lichte und J. Schönert, Göttingen 1999, S. 215–226, hier: S. 219 und 224. 72 Warburg [wie Anm. 56], S. 424. 73 Ebd., S. 432.

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Aussage nämlich „nicht mehr allein durch die stumme Sprache der Attribute und des antiken Beiwerks“ gemacht, sondern es werde durch die Kombination von Text und Musik eine dramatische Form geschaffen, die direkt „auf das Gefühl zu wirken sucht.“ 74 Die Kostüme und Requisiten der Intermedien interpretiert Warburg vor diesem Hintergrund als allegorische Einkleidung, die im Zuge der Modernisierung des Theaters abgelegt wird. Die Entkleidung vom allegorischen Gewand wird in dieser Argumentation ihrerseits zur Chiffre für die riforma melodrammatica, die den mühsam zu dechiffrierenden allegorischen Ornatus durch unmittelbar nachvollziehbare Gefühlswerte ersetzt. Wie die antike Pathosformel so muß sich auch die melodramatische Ausdrucksform erst aus der „ninfalen Ornamentik“ der „pantomima archeologica“ herausarbeiten.75 Zurückbehalten wird, so Warburg, „nicht die antiquarische Schale, sondern de[r] sentimentale[ ] Kern“.76 Die neue melodramatische Darstellungsform appelliert also nicht mehr allein an den dechiffrierenden Verstand und das mythologische Wissen, sondern mobilisiert das Gefühl.77 Plaziert man die beiden Melodramen Rousseaus und Goethes in der historischen Verlängerung dieser am Stilwechsel um 1600 gewonnenen Beschreibung der melodramatischen Reform, dann erscheinen Pygmalion und Proserpina beinahe als Telos der Entwicklung vom „Triumph zum Seelendrama“.78 Schließlich verbinden Goethe wie Rousseau mit dem melodramatischen Prinzip die Reduktion auf die Einzelszene, die vermittelt über eine komprimierte äußere Handlung ein inneres Seelendrama zeigt. Rousseaus Dynamisierung der Statue liefert überdies das theatralische Analogon zu den befreiten Bewegungsformen, die im Dienst eines unmittelbaren Rapports zwischen physischer Affektgebärde und psychischem Affekt stehen. Besonders die Entschleierung der Statue erweist sich die Szene des Pygmalion als Freisetzung einer melodramatischen Ästhetik, die sich mit 74 75 76 77 78

Ebd., S. 433. Ebd., S. 436. Ebd., S. 438. Ebd., S. 437. Warburg [wie Anm. 58], S. 99.

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Warburgs Rede von der Freilegung eines sentimentalen Kerns beschreiben läßt. So wäre das um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstandene Melodram, das sich auf die aneinander gekoppelte Darstellung von Bewegung und Mobilisierung von Gefühlen kapriziert, als ein Ort aufzufassen, auf dem die von Warburg kartierte unterirdische Pathosströmung in einem neuen Medium an die Oberfläche tritt. Vor der Folie von Warburgs Untersuchungen zeichnet sich schließlich nicht nur der Prototyp Rousseaus, sondern auch Goethes gegen die melodramatische Bewegungsästhetik Rousseaus gewendete Position deutlich ab. In Goethes Proserpina wird sowohl mit den organisierenden Oppositionen von Stillstand und Bewegung sowie mit Verhüllung und Entschleierung ein doppeltes Spiel getrieben. Zwar verwandelt sich Proserpina in der Mitte des Stücks in die Nymphe und legt die Kleider und den allegorischen Schmuck ab, die sie „bezeichnen“ sollen und dadurch lesbar machen. Die Entkleidung der Nymphe ist jedoch nur eine Phase im Verlauf des Melodrams, das schließlich in den hochsemantisierten Dekor des gemäldeartigen Tableaus einmündet. Während Rousseaus Urszene der melodramatischen Bewegung vorführt, wie sich die neutrale physische Bewegung Galatheas direkt in den psychischen „transport“, „ravissement“, „agitation“ 79 des Zuschauers Pygmalion übersetzt, akzentuiert Goethes Inszenierungsanleitung zur Proserpina das pantomimische Element in einer Weise, die Körperbewegung nicht verflüssigt, sondern sie in sorgfältig rekonstruierten und einstudierten Gesten und Gebärden formalisiert und zuletzt in zwei Schlußbildern arretiert. Wo Rousseaus Pygmalion in der unvermittelten Bewegungsübertragung der Nymphe Galathea und des durch Pygmalion repräsentierten Zuschauers gipfelt, da endet die erstarrte Proserpina im semiotisch vermittelten Bild. Anstelle von Rousseaus inszenierter Präsenz im unmittelbaren Gefühlsrapport führt Goethe dessen ästhetische Distanzierung im bedeutsamen Bild vor. Statt auf die direkte Übertragung von Bewegung in Gemütsbewegung setzt Goethe zuletzt also auf deren zeichenhafte Vermittlung. Den rechten Eindruck macht das eigentlich „verwerfliche“

79 Rousseau [wie Anm. 8], S. 1230.

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Melodram deshalb bei Goethe erst, wenn es sich zum Bild verdichtet, und zum Bild wird die bloße Bewegung – wie in Warburgs Fassung der Pathosformel als stillgestellter und damit bildlich bewältigter Bewegung – erst durch ihre Unterbrechung. Indem Bewegung und Stillstellung in der Proserpina derart aufeinander angewiesen und spannungsvoll aufeinander bezogen bleiben, geht Goethes Antimelodram aber auch nicht vor die melodramatische Bewegungsästhetik zurück. Statt dessen nimmt er die in den 1770er Jahren epidemische Ästhetik der Empfindsamkeit in sein Melodram hinein und setzt sich im Durchgang durch sie von ihr ab. Goethes Proserpina leistet so die Aufhebung des Melodrams mit seinen eigenen Mitteln. Mit Goethe und Warburg wäre deshalb zuletzt auch Douglas Sirks eingangs zitiertes Gesetz des Melodrams, „motion is emotion“, das sich in Rousseaus Melodram so vorbildhaft dramatisiert findet, umzuformulieren. In Goethes Antimelodram ist Motorik nicht gleich Emotion – sie muß es erst werden.

Die Tradition der Biographie in England Über Vorurteile in Theorie und Praxis JAMES FENTON

Das Buchprojekt, das ich während meiner Zeit am Warburg-Haus bearbeite, ist eine Geschichte der Royal Academy in London. Es wird jedoch keine institutionelle Abhandlung, vielmehr zielt es auf ein breiteres Publikum ab, es beschäftigt sich mit der Frage, wie Künstler sich im 18. Jahrhundert zu Berufsgenossenschaften zusammenfanden und wie sie in der Folgezeit, die wichtigste dieser Institutionen, die Akademie, betrieben und führten, aber auch wie sie lebten und arbeiteten, wie sie stritten und sich ihren Platz in der Welt zu sichern suchten. All dies bedeutete, daß ich eine große Zahl von Biographien lesen mußte. Dabei machte ich die erstaunliche Entdeckung, daß viele dieser halbvergessenen Werke bewundernswürdige Arbeiten waren. Einige, wie James Northcotes Biographie von Joshua Reynolds, John Galts Lebensbeschreibung von Benjamin West und George Daves Gegenstück für George Morland würde ich sogar noch höher ansetzen, und, im gleichen Spektrum bleibend, J.T. Smith’s Nolleken and his Times erschien mir wie ein rätselhaftes Meisterwerk, einzigartig, etwa so wie A Sentimental Journey von Sterne einzigartig ist und aus dem Nichts kommend. Aber mir wurde klar, daß es nicht aus dem Nichts kommen konnte. Vielleicht kam es ja von Sterne, vielleicht waren seine Inspiration Romane und nicht Biographien. Möglich, daß diese Biographie mich aber auch an Dickens erinnerte. Vielleicht hatte Dickens sie als Quelle benutzt, und das war es, was mich so überraschte.

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Nach einigen Monaten der Lektüre überraschte mich meine Überraschung. Wie war ich auf den Gedanken gekommen, daß die Lebensbeschreibungen der Maler, für deren Werk ich mich interessierte, mich nicht interessieren könnten? Woher kam meine Meinung, daß das 18. Jahrhundert keine gute Epoche für Biographien gewesen war und daß das 19. Jahrhundert auf diesem Gebiet vorwiegend Langeweile produziert hatte? Was war die Quelle meines Vorurteils? Es wurde sehr genau in zwei Essays von Virginia Woolf zum Ausdruck gebracht: „The Art of Biography“ erschien 1939 im Atlantic Monthly, „The New Biography“ wurde in der New York Herald Tribune 1927 publiziert. Der Biograph könnte argumentieren, schreibt Woolf im ersten dieser Texte, daß sein Genre „eine junge Kunst ist. Das Interesse am eigenen Selbst und dem anderer Menschen ist eine späte Entwicklung des menschlichen Geistes. Erst im 18. Jahrhundert drückte sich die Wissbegier darin aus, daß man das Leben privater Personen beschrieb. Erst im 19. Jahrhundert war die Biographie voll erwachsen und wurde außerordentlich fruchtbar. Wenn es zutrifft, daß es nur drei große Biographen gegeben habe – Johnson, Boswell und Lockhart –, dann liegt das daran, folgert der Biograph, daß die Zeit kurz war; und seine Verteidigung, die Kunst der Biographie habe nur wenig Zeit gehabt, sich zu etablieren und zu entwickeln wird auch von den Lehrbüchern bestätigt.“ 1 Es liegt auf der Hand, daß Woolf die literarische Biographie der englischen Tradition meint und daß sie an voll ausgebildete Viten denkt und nicht an Sammlungen von biographischem Material, wie Aubreys Brief Lives, ein Werk, das sie übrigens zu Lebzeiten nicht in einer von Kürzungen befreiten Version lesen konnte. Woolfs Tradition beginnt mit Samuel Johnson und vermutlich handelt es sich bei dem großen Werk, auf das sie anspielt, um Johnsons Life of Savage (1744), das später in seine Lives of the English Poets (1779–81) aufgenommen wurde. Auf Johnson folgt James Boswell, dessen Leben Johnsons (1791) bewies, was man erreichen konnte, wenn man der Gattung etwas Großes zutraute. Deutsch von Catharina Berents und Brigitte Palm 1 V. Woolf: Die Kunst der Biographie, in: Der Tod des Falters, hrsg. von K. Reichert, Frankfurt/M. 1997, S. 179.

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John Gibson Lockhart und sein Life of Scott (1791) erscheint viel später, 1837/38, und markiert genau den Anfang der Viktorianischen Ära, also jener Epoche, von der Woolf glaubt, daß die Biographie als Kunstform Schaden nahm. „Die Witwe und die Freunde waren strenge Zuchtmeister. Angenommen zum Beispiel, daß der Mann von Genie unmoralisch war, ein Griesgram, und dem Dienstmädchen die Stiefel an den Kopf warf. Die Witwe würde sagen: ‚Doch ich liebte ihn; er war der Vater meiner Kinder; und das Publikum, das seine Bücher liebt, darf unter keinen Umständen enttäuscht werden. Decken Sie zu; lassen Sie weg!‘ Der Biograph gehorchte. Und so gleichen die meisten viktorianischen Biographien heute jenen in der Westminster Abbey aufbewahrten Wachsfiguren, die man im Leichenzug durch die Straßen trug – Abbilder, die nur eine glatte, oberflächliche Ähnlichkeit mit dem Toten im Sarge haben.“ 2

Am Ende des 19. Jahrhunderts dagegen findet Woolf „vollzog sich ein Wandel. Wiederum aus nicht leicht zu klärenden Gründen wurden Witwen weitherziger und das Publikum scharfsichtiger. […] Sicherlich gewann der Biograph ein gewisses Maß an Freiheit hinzu. Wenigstens konnte er andeuten, das Gesicht des Toten habe Narben und Furchen. Froudes Carlyle ist keineswegs eine rosarot gemalte Wachsmaske. Und im Gefolge von Froude kam Sir Edmund Gosse, der zu sagen wagte, sein Vater sei ein fehlbarer Mensch gewesen. Und im Gefolge von Edmund Gosse kam in den frühen Jahren des gegenwärtigen Jahrhunderts Lytton Strachey.“ 3 Strachey ist die Schlüsselfigur, wenn es um den schlechten Ruf der Biographie geht. Er erzählt uns im Vorwort zu seinen Eminent Victorians: „Die Kunst der Biographie hat offenbar in England einen Tiefpunkt erreicht.“ Aber was er im Vorwort sagt und was er auf den darauffolgenden Seiten ausführt, sind zwei ganz verschiedene Dinge: „Es ist wahr, wir haben einige Meisterwerke aufzuweisen, aber wir hatten niemals wie die Franzosen eine große biographische Tradition. Wir hatten keine Fontenelles und Condorcets, die es in ihren unvergleichlichen éloges verstanden, auf wenigen glanzvollen Seiten die Menschen in ihrer ganzen Verschiedenheit einzufangen. Bei uns verhält es sich so, daß die empfindlichste und menschlichste aller Gattungen in die Hand literarischer

2 Ebd., S. 180. 3 Ebd., S. 180 f.

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Tagelöhner gegeben ist. Wir denken nicht daran, daß es vielleicht ebenso schwierig ist ein gutes Leben zu schreiben, wie eines zu leben.“ 4

Und in diesem Sinne attackiert er die zweibändigen Totendienste der Viktorianer. Nach dieser Passage könnte man erwarten, daß Strachey die éloge im Stil von Fontenelle und Condorcet wiederbeleben oder ein modernes Äquivalent schaffen würde. Aber er wurde kein Elogenschreiber, ganz im Gegenteil, und auch wenn uns sein Biograph versichert, daß die genannten Franzosen seine Vorbilder waren, glaube ich eher, daß Strachey uns hier etwas vormacht. Gleichwohl erwies sich Woolfs Kanon als einflußreich. Will man ihn erweitern, so könnte man mit Strachey fortfahren und seinen Biographen Michael Holroyd und eine Periode anführen, die der Biograph Robert Gittings das „Goldene Zeitalter der Biographie“ genannt hat – wir denken an Richard Ellmans Joyce (1959), George Painters Proust (1959, 1965) und andere. In ihrem Lexikonbeitrag zum Thema Biographie im Oxford Companion to English Literature verzeichnet Margaret Drabble „den machtvollen Aufstieg eines neuen literarischen Genre“; wie Woolf beurteilt sie die Produktion der Viktorianischen Zeit negativ und macht nur eine Ausnahme bei Gaskells Leben der Charlotte Brontë (1857). Die meisten viktorianischen Biographien seien „aus Pietät verfaßt worden, um zur moralischen Verbesserung beizutragen und nicht um zu informieren oder zu unterhalten. Der moralische Impetus in Smiles’ Lives of the Engineers (1861–2) liegt z. B. auf der Hand.“ 5 Ich muß bei solchen Ausführungen an eine Formulierung denken, die wir Susan Sontag verdanken: „falsches Dekadendenken“. Solches Denken tritt zutage, wenn man einen Autor oder eine Autorin auf eine Dekade verpflichtet, ohne frühere oder spätere Werke in Betracht zu ziehen. Falsches Jahrhundertdenken bezeichnet nicht selten das ganze 19. Jahrhundert als

4 L. Strachey: Eminent Victorians, hrsg. von J. Sutherland, Oxford 2003, S. 5 f. 5 M. Drabble: Biography, in: Oxford Companion to English Literature, hrsg. von M. Drabble, Oxford 2000, S. 104.

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viktorianische Ära, so daß, dieses Jahrhundert, was Biographien und die Geburt biographischer Offenheit anbelangt, ins 20. Jahrhundert verlegt wird und die Entstehung der Biographie ins 18. Jahrhundert. Kein Zweifel, es gab viele Witwen in Viktorianischer Zeit, die die Reputation ihrer toten Ehemänner zu schützen suchten. Aber solches Verhalten wurde damals nicht erfunden. Boswell erzählte Joseph Farington, „daß er ernsthaft vorhatte das Leben von Sir Joshua Reynolds zu schreiben, aber daß er wegen Lady Inchquin [Reynolds Nichte] zögerte, den Streit mit der Akademie näher zu beschreiben. Ihm war klar, daß er Sir Joshua die Schuld geben musste“.6 Mit anderen Worten: Boswell lebte nicht in einem Jahrhundert, das frei war, in einer Biographie zu sagen, was es wollte. Er sondierte das Gelände sorgfältig und als er entdeckte, daß ein Hindernis im Weg stand, entschloss er sich nicht offen zu sein und lieber Reynolds Leben nicht zu schreiben, obwohl wir heute der Meinung sind, daß die Auseinandersetzung mit der Akademie Reynolds nicht wirklich diskreditieren müsste. So indiskret Boswell oft auch erschien, in bezug auf Johnson führte er eine Akte mit der Aufschrift „Tacenda“: Dinge, die zu verschweigen sind. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine so starke Vorstellung in bezug auf die biographische Tradition herausgebildet und ein so einmütiges Verständnis, was auf die Leseliste gehört und was nicht, daß es nicht überrascht, gebildete und nachdenkliche Autoren zu finden, welche das 19. Jahrhundert in dieser Hinsicht als ganzes abschreiben. Nehmen wir Robert Gittings, der in seiner Biographie von Keats 1978 auf die Beiträge von Lytton Strachey zurückschaut. Gittings macht sich keine Illusionen, was Stracheys Schwächen betrifft, er sagt z. B., daß Strachey wohl nie ein Originaldokument in der Hand gehabt hat. Dennoch kommt er zu dem Schluß, daß „Strachey der Biographie zurückgab, was ihr seit Boswell verloren gegangen war. Ihn interessierte die wahre Natur des Menschen und er war sehr lesbar. Nach Strachey wagte es kein Biograph mehr, nicht auch Künstler zu sein. Biographie als Schöne Literatur verdanken wir ihm“.7 6 J. Farington: Diary, hrsg. von K. Garlick, New Haven 1978, Bd. 2, S. 319. 7 R. Gittings: The Nature of Biography, London 1978, S. 39.

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Kurz nach dieser erstaunlichen Passage, welche vermutlich keinerlei Erstaunen erregte, als Gittings seinen Vortrag hielt, stoßen wir auf den Satz: „Diese letzten 50 Jahre waren ein Goldenes Zeitalter der Biographie.“ 8 Wir sollen also glauben, daß zwischen 1770 und 1920 nichts Lesbares, nichts literarisch Wertvolles, kein erregendes document humain in dieser Gattung hervorgebracht wurde, sondern daß erst in den fünf Jahrzehnten danach die große Zeit der Biographie anbrach. Und dies von dem gelehrten Biographen John Keats’, dem Herausgeber seiner Briefe, einem Mann, der sich im Prosaschrifttum der Romantik so hervorragend auskannte. Selbstverständlich ließen Woolf und Gittings einige Ausnahmen zu. Und selbstverständlich gab es Widerspruch, nicht zuletzt von Christopher Ricks, der sich über die Herablassung erregt, „mit der auf Biographien, vor allem auf viktorianische Biographien herabgeblickt wird“. Ricks behandelte die künstlerische Leistung von drei Biographen – Gaskell über Charlotte Brontë, J. A. Froude über Carlyle und Hallam Tennyson über seinen Vater – in drei Essays. Man ahnt, daß die Vorstellung, erst nach Strachey wolle jeder Biograph auch Künstler sein, einen sensiblen Autor wie Ricks abgestoßen hat. Er eröffnet seine Gedanken über das Genre mit dem ersten Woolf-Essay und zitiert die Anfangssätze: „Die Kunst der Biographie, sagen wir – aber fragen sogleich weiter: ist Biographie eine Kunst? Vielleicht ist die Frage töricht […].“ 9 Ricks’ Kommentar: „Nein, sie ist es nicht.“10 Die Frage ist töricht. Natürlich ist Biographie eine Kunst, ein Zweig der Kunst, die einmal Rhetorik hieß, und es ist charakteristisch, daß Biographien, wenn sie als Rhetorik begriffen werden, einen Fall vertreten: den Fall, um das Mindeste zu sagen, daß man diesen Menschen ernst nehmen, seinen Verlust betrauern und ihn verehren soll. Der rhetorische Aspekt der Biographie war den Lesern von Plutarchs „Leben“ immer gegenwärtig, denn Plutarch hatte seine Biographien bewußt zu Paaren geordnet. Ebenso

8 Ebd. 9 Woolf [wie Anm. 1], S. 179. 10 Ch. Ricks: Essays in Appreciation, Oxford 1998, S. 114.

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strukturell wirksam war die Rhetorik für die Historia Augusta, deren fiktive Autoren ihre Lebensbeschreibungen spätrömischer Kaiser auf den gegenwärtig regierenden Imperator abzielten. So unterrichtete z. B. der Biograph Kaiser Konstantin über die Untaten des Heliogabal, die einschlossen, daß er den Frauen, mit denen er badete, Enthaarungsmittel reichen ließ, und sich mit dem Messer rasierte, mit dem er zuvor die Schamhaare seiner Lakaien entfernt hatte. Es war dem Kaiser überlassen, daraus seine Schlüsse zu ziehen. Eine griechische oder römische Biographie ist nicht lang – sie entspricht in etwa der Länge einer Rede und ist der Redegattung des Enkomium, der Lobrede verpflichtet. Vom Autor eines Enkomiums erwartete man, daß er die Fakten schönte, denn „jedermann weiß, daß diejenigen, die eine Person preisen, ihm eine größere Anzahl guter Eigenschaften zuschreiben als er besitzt“. Diese Form von Übertreibung hieß auxesis. Gleichzeitig sollte man unterdrücken, was dem schönen Bild nicht entsprach. In dem Enkomium, das Isokrates über Evagoras, den König von Salamis, verfasste, verschwieg er, was wir von Aristoteles wissen, daß der König von einem Eunuchen ermordet wurde, der sich für eine Beleidigung rächte. Evagoras lebte, Isokrates zufolge, „so lang, daß er noch das Alter kennenlernte, aber nicht die Gebrechen, die mit diesem Zustand einhergehen“.11 Eine Biographie war aber nicht identisch mit einem Enkomium, sie benutzte nur oft dieselben rhetorischen Mittel. Sueton beginnt sein Leben des Caligula mit einem Enkomium auf dessen Vater, Germanicus. Darauf folgt eine gründliche Denunzierung des Sohnes, und damit steht Sueton nicht allein. Der antike Biograph hatte die Freiheit, sein Sujet zu verurteilen, es zu einem Exempel in Sachen Laster zu machen. Plutarch berichtet von den alten Spartanern: „Sie pflegten bei den Besten die Heloten zu zwingen, viel ungemischten Wein zu trinken und sie dann in die Trinkgesellschaften einzuführen, um den jungen Leuten vor Augen zu stellen, was Trunkenheit ist.“ Dies gesagt habend, fährt er fort:

11 Isokrates: Evagoras, in: Isokrates (Loeb Classical Library), Cambridge (Mass.)London 1968, Bd. 3, S. 45.

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„Wir halten nun allerdings das Verfahren, durch Schädigung anderer eine Besserung bei sich anzustreben, für nicht eben menschenfreundlich und gesittet; aber von Menschen, die unbesonnen mit ihren Gaben umgegangen und in großen Verhältnissen und Machtstellungen hervorstechende Muster der Lasterhaftigkeit geworden sind, ist es vielleicht nicht von Übel, ein oder zwei Paare in die Reihe der vorbildlichen Lebensläufe einzufügen, wahrhaftig nicht, um zum Vergnügen und zur Unterhaltung der Leser meine Schriftstellerei abwechslungsreicher zu gestalten, sondern wie der Thebaner Ismenias seinen Schülern das gute wie das schlechte Flöteblasen vorzuführen pflegte und dazu sagte: ‚so muß man flöten‘ und hin und wieder ‚so muß man nicht flöten‘, oder wie Antigeneidas meinte, daß die jungen Leute die guten Flötenbläser sogar noch lieber hören würden, wenn sie auch von den schlechten eine Probe zu hören bekämen, so denke ich mir, daß auch wir noch willigere Betrachter und Nacheiferer der guten Lebensläufe sein werden, wenn wir nicht in Unkenntnis der schlechten und tadelnswerten bleiben.“ 12

Soviel aus dem Vorwort zu den Leben des Demetrios und Antonius. Die klassischen Biographen benutzten niemals das Wort Biographie, obwohl es doch so griechisch klingt. Sie schrieben ein bios, eine Vita, ein Leben, und sie unterschieden zwischen Lebensbeschreibung und Geschichtsschreibung. Der locus classicus für diese Unterscheidung ist der erste Abschnitt in Plutarchs Leben des Alexander: „Wenn ich in diesem Buche das Leben des Königs Alexander und das des Caesar, von dem Pompejus bezwungen wurde, darzustellen unternehme, so will ich wegen der Fülle des vorliegenden Tatsachenmaterials vorweg nichts anderes bemerken als die Leser bitten, wenn ich nicht alles und nicht jede der vielgerühmten Taten in aller Ausführlichkeit erzähle, sondern das meiste kurz zusammenfasse, mir deswegen keinen Vorwurf zu machen. Denn ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder, und hervorragende Tüchtigkeit oder Verworfenheit offenbart sich nicht durchaus in den aufsehenerregendsten Taten, sondern oft wirft ein geringfügiger Vorgang, ein Wort oder ein Scherz ein bezeichnenderes Licht auf einen Charakter als Schlachten mit Tausenden von Toten und die größten Heeresaufgebote und Belagerungen von Städten. Wie nun die Maler die. Ähnlichkeiten dem Gesicht und den Zügen um die Augen entnehmen, in denen der Charakter zum Ausdruck kommt, und sich um die übrigen Körperteile sehr wenig kümmern, so muß man es mir gestatten, mich mehr auf die Merkmale des Seeli-

12 Plutarch: Große Griechen und Römer, übers. von Konrat Ziegler, München 1960, Bd. 5, S. 7.

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schen einzulassen und nach ihnen das Lebensbild eines jeden zu entwerfen, die großen Dinge und die Kämpfe aber anderen zu überlassen.“ 13

In Ausschnitten und auf Griechisch und Englisch zitiert Boswell diesen Text auf den ersten Seiten seiner Biographie Samuel Johnsons. Johnsons Leben des Dichters Richard Savage, das er vor seinen „Leben der Dichter“ verfaßte, liest sich durchaus wie eine Verteidigungsschrift. Der Grund dafür ist darin zu suchen, daß die ersten Abschnitte einer von Johnson verschwiegenen Quelle zu verdanken sind: einem Pamphlet, das zu der Zeit geschrieben wurde, als Savage des Mordes angeklagt war und die Todesstrafe am Galgen zu erwarten hatte. Der dringliche Ton der Verteidigungsschrift wurde von Johnson bewahrt. Er schrieb seine Vita als Verteidigung eines Mannes, der nach Johnsons Meinung von seiner Mutter grausam mißhandelt wurde, die im Übrigen noch lebte, als das Buch erschien, und die er rücksichtslos attackierte. Wenn wir zwischen den Zeilen lesen, wirkt das Ganze auf uns wie die lebhafte Fallstudie eines psychisch Gestörten: eines alkoholsüchtigen, selbstzerstörerischen Phantasten und Lügners, der gleichwohl charmant und geschickt sein konnte, wenn es galt, andere für seine Zwecke einzuspannen. Es scheint, daß der Biograph seinem Sujet verfallen war, aber das bedeutet keine Schmälerung des Werts dieser Schrift, im Gegenteil. „Erst im 18. Jahrhundert drückte sich die Wißbegier darin aus, daß man das Leben privater Personen beschrieb“, lasen wir bei Woolf. Aber das ist eine extreme Verkürzung der Geschichte. Andere Länder und andere Zeiten lieferten dem Autor des 18. Jahrhunderts wichtige Vorbilder, auch Johnson, der vermutlich ein kurzes Stück verfaßt hat, das überschrieben ist: Some Account of a Book, Called the Life of Benvenuto Cellini, ein Text, der 1771 durch das Erscheinen von Cellinis berühmter Vita in der Übersetzung von Thomas Nugent veranlaßt wurde. Was Cellini betrifft, so sagt Johnson (wenn es denn Johnson ist), „die Rasse Adams hat keinen außergewöhnlicheren Charakter hervorgebracht, und auch der vielbewunderte Lord Herbert of Cherbury kommt Cellini in der Anzahl der außerordentlichen

13 Ebd., S. 244.

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Qualitäten nicht gleich, die ihn von der Mehrzahl der Menschen unterscheiden. Er ist sowohl ein Mann, der Vergnügungen schätzt, als auch dem Aberglauben frönt, der vulgäre Vorstellungen ablehnt, aber auch Zaubersprüche anwendet, der Duelle ausficht und Sonette dichtet, der die Wahrheit liebt und phantasievolle Visionen mitteilt, der die päpstliche Macht bewundert und die Päpste haßt, der die Gesetze verletzt und stark auf die göttliche Vorsehung setzt. Wenn die Formulierung erlaubt ist: Cellini ist die beeindruckende Figur, um die die menschliche Spezies erweitert wurde – ein Gegenstand permanenter Verwunderung, aber kein Vorbild für die Nachahmung.“ 14 Diese letzte Unterscheidung klingt sehr nach dem Biographen von Richard Savage: Biographie muß sich nicht allein mit exemplarischen Figuren befassen. Weder Johnson noch irgendein anderer englischer Kritiker konnten damals eine substantielle Vorstellung von Cellinis künstlerischem Schaffen besitzen. Die Attraktion der Autobiographie resultiert für Johnson in großem Maße von dem Licht, das sie auf ihr Zeitalter wirft: „Die allgemeine Geschichtsschreibung kann sich nicht mit den winzigen Details des häuslichen Lebens und der privaten Verrichtungen, den Leidenschaften und Schwächen der großen Persönlichkeiten befassen, aber dieses Material gibt ihre Charaktere getreuer wieder als die eleganten und elaborierten Kompositionen der Dichter und Geschichtsschreiber. Einigen mag ja der Bericht von den Handlungen eines Bildhauers auf eine Menge uninteressanter Vorkommnisse hinauslaufen, aber der Kenner wird die Anstrengungen eines starken Geistes nicht verachten, wenn dieser auch nicht durch Geburt und Stellung geadelt ist. Der Mann, der sich durch große Leistungen die Aufmerksamkeit der Fürsten verdient, der mit ihnen im Geiste der Freimütigkeit konversiert, der nicht zögert, ihnen die Wahrheiten mitzuteilen, die die Höflinge und Favoriten, Gefolgsleute und Parasiten nicht auszusprechen wagen, er ist ein gewaltiger Gleichmacher an den Höfen mächtiger Monarchen. Das Genie ist der Vater von Wahrheit und Mut, und diese, miteinander vereint, fürchten keinen Widerstand.“ 15

14 S. Johnson: Some Account of a Book, Called the Life of Benvenuto Cellini, in: Works, Philadelphia 1825, Bd. 1, S. 403. 15 Ebd.

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Indem er diese Unterscheidung zwischen allgemeiner Geschichtsschreibung und Biographie trifft, folgt Johnson, wenn es Johnson ist, Plutarch und kehrt zu einem Argument zurück, das er zwei Jahrzehnte zuvor, in der Nummer 60 des Rambler vorgetragen hatte. Biographie ist nützlich und ergötzlich und kann „das Herz gewinnen“, weil ihre Lektionen auf das private Leben anwendbar sind: „Ich habe oft gedacht, daß es kaum ein Leben gibt, welches eine vernünftige und wahrheitsgetreue Nacherzählung nicht nützlich machen könnte. Denn nicht nur findet sich jedermann in der großen Menge in gleicher Situation wieder, was seine Fehler und Fehltritte, Ausflüchte und Ausreden von unmittelbarem und offenkundigem Nutzen machen würde, sondern es gibt auch, ungeachtet der zufälligen und abtrennbaren Auszeichnungen und Verkleidungen, eine so große Uniformität des Menschlichen, daß eigentlich alles, was gut oder böse ist, der menschlichen Rasse als ganzer zugehört. […] Wir werden alle von denselben Motiven getrieben, von denselben Irrglauben getäuscht, von denselben Hoffnungen bewegt; Gefahr schreckt uns gemeinsam ab, Begierde fesselt uns, Lust verführt uns.“ 16

In diesem Beitrag für den Rambler – und wir müssen uns vergegenwärtigen, wie oft diese Essays bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nachgedruckt wurden – spricht Johnson über die kleinen persönlichen Details, die für eine Biographie so große Bedeutung haben: „In diesem Sinne hat Sallust es nicht versäumt, in seiner Biographie des Catilina mitzuteilen, daß ‚sein Gang manchmal schnell, manchmal langsam war‘, um so anzudeuten, daß er von einem Manne handelte, in dem gewaltsame Leidenschaften rumorten. Die Geschichte des Melanchthon, der bei einer Verabredung nicht nur die Stunde, sondern auch die Minute festsetzte, erteilt uns eine Lehre über den Wert der Zeit.“17

Johnson bemerkt weiterhin, daß „die kleinen Begebenheiten, die eine Biographie wertvoll machen, von flüchtiger und vergänglicher Natur sind und sich selten dem Gedächtnis einschreiben und damit der Überlieferung verlorengehen“.18 Dadurch daß Johnson in Theorie und Praxis die Vorzüge der intimen Biographie herausgearbeitet hat, hat man zu Recht seinen Ein-

16 S. Johnson: The Rambler 60 in: The Works, Troy (N.Y.) 1903, Bd. IV, S. 32. 17 Ebd. 18 Ebd.

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fluß auf die englische Tradition hervorgehoben; jedesmal, wenn wir auf eine englische Lebensbeschreibung stoßen, die uns durch lebhafte Details auffällt und gefällt, dann können wir annehmen, daß der Autor in irgendeiner Weise zumindest Johnsons Biographie von Richard Savage nachahmt. Aber Johnsons Position in diesen Dingen war keineswegs neu. Im Gegenteil, auch andere hatten zuvor die sprechenden Details bei Sallust hervorgehoben, die Johnson auffielen. Montaigne schreibt in seinem Essay „Über Demokrit und Heraklit“: „Was immer wir tun, enthüllt uns. Dieselbe Seele Caesars, die in der Vorbereitung und Durchführung der Schlacht von Pharsalos zum Vorschein kommt, zeigt sich auch in der Durchführung seiner müßigen Liebeshändel. Man beurteilt ein Pferd nicht nur nach seinen Darbietungen auf der Reitbahn, sondern auch danach, wie es im Schritt geht, ja ruhend im Stall steht.“ 19 Und weiter heißt es: „Warum sollte ich Alexander nicht danach beurteilen, wie er an der Tafel plaudert und beim Trinken wacker mithält? Oder nach seinem Schachspiel? Welche Saite seines Geistes mag durch diesen albernen und kindischen Zeitvertreib wohl angeschlagen und in Schwingung versetzt worden sein? Ich selber hasse Schach und suche es zu meiden, weil es mir als Spiel nicht Spiel genug ist, sondern uns auf zu ernsthafte Weise unterhält. Ich schäme mich deshalb, ihm eine Aufmerksamkeit zu widmen, die einer besseren Sache würdig wäre. Alexander aber verwendete ebensoviel Eifer darauf wie auf die Anstalten für seinen ruhmreichen Zug nach Indien oder wie ein anderer auf die Erschließung einer schwierigen Schriftstelle, von der das Heil der Menschheit abhängt. Sehr doch, wie unsere Seele dieses läppische Amüsement zu einer Haupt- und Staatsaktion aufbläht, wie sie all unsre Nerven und Muskeln hierzu anspannt – reichlich Gelegenheit für jeden, sich selbst zu erkennen und richtig einzuschätzen? In keiner anderen Situation kann ich mich gründlicher beobachten und durchschauen.“ 20

Kein Zweifel, das ist oft gesagt worden, aber dennoch schien es mir, als könne uns dieser eine Satz den Schlüssel für Shakespeares Julius Caesar in die Hand geben und im Besonderen für die schöne Konzeption der 3. Szene des 4. Aktes, die in Brutus’ Zelt vor Philippi spielt. Viele Details dieser Szene stammen von Plutarch, so wie das Bild des lesenden und bis spät in

19 M. de Montaigne: Essais, übers. von H. Stilett, Frankfurt/M. 2004, S. 153. (zuerst 1753/54). 20 Ebd.

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die Nacht arbeitenden Brutus. Aber die Lust am Gebrauch und an der Weiterentwicklung und Neuerfindung solcher Details – das Buch, das Brutus vermißt, weil er es in die Tasche seines Gewandes gesteckt hatte, die Aufforderung an Lucius, etwas zu singen, das Instrument, das Brutus dem schlafenden Jungen wegnimmt, damit dieser es beim Aufwachen nicht zerbricht, der im Schlaf sprechende Lucius, der im Schlaf immer noch singt – all diese Details konnte Shakespeare erfinden, wenn er an Montaigne dachte. Und es ist ja auch nur eine Frage des Sprachgebrauchs, die macht, daß wir Skakespeares römische Stücke Dramen und nicht Biographien nennen. Eine Unterscheidung, die Montaigne ebenfalls in seinem Essay „Über Bücher“ trifft, wird hoffentlich alle an Kunstgeschichte Interessierten etwas angehen: „Von den Geschichtsschreibern liebe ich die ganz schlichten und die ganz hervorragenden. Die ganz schlichten, die ihren Berichten aus Eigenem nichts beizusteuern vermögen und daher nur voller Fleiß und Sorgfalt alles zusammentragen, von dem sie Kenntnis erlangen, um es auf Treu und Glauben wahllos und ungeprüft aufzuzeichnen, überlassen es völlig unsrer eigenen Urteilskraft, die Wahrheit herauszufinden.“ 21

Froissart ist ein Beispiel für den einfachen oder einfältigen Historiker. In der zweiten Kategorie sind die ausgezeichneten Historiker: „Die ganz hervorragenden Geschichtsschreiber hingegen haben die Fähigkeit, das wirklich Wissenswerte auszuwählen und sich beispielsweise zwischen zwei Berichten für den wahrscheinlicheren zu entscheiden. Aus dem Charakter der Fürsten und ihren Neigungen erschließen sie deren Sinnen und Trachten und legen ihnen die entsprechenden Worte in den Mund. Mit Recht halten sie sich für befugt, uns glauben zu machen, was ihnen glaubwürdig scheint. Aber dieses Privileg steht gewiß nur wenigen zu.“ 22

Und nun kommt eine Passage, die uns speziell berühren müßte: „Jene, die dazwischen angesiedelt sind (und sie kommen am häufigsten vor), verderben uns alles. Sie wollen uns die Bissen vorkauen und unterfangen sich, zu urteilen und die Geschichte folglich nach eignem Gutdünken zurechtzubiegen; denn neigt das Urteil erst

21 Ebd., S. 208. 22 Ebd.

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einmal nach einer Seite, kann man sich nicht mehr enthalten, an der Darstellung zu drehn und zu drechseln, bis sie dem Sog der schiefen Ebene folgt. Sie wagen es, die ihres Erachtens wissenswerten Dinge herauszusieben und unterschlagen uns hierbei oft ein privat geäußertes Wort, eine privat unternommne Handlung, die uns erhellendere Aufschlüsse gäben. Sie übergehen alles, was sie nicht verstehn, als unglaubwürdig, und manches vielleicht auch deswegen, weil sie nicht imstande sind, es auf gut lateinisch oder französisch auszudrücken. Mögen sie getrost ihrer Beredsamkeit und Argumentationslust freien Lauf lassen, mögen sie drauflosurteilen, soviel sie wollen, solange sie uns dabei für unser eignes Urteil etwas aufsparen und nicht durch Auswahl und Auslassungen die Substanz der Sache verändern und entstellen, sondern sie uns rein und in jeder Hinsicht vollständig überliefern!“ 23

Ich sollte hinzufügen, daß auf jeden Johnson und jeden Montaigne sehr viel mehr Autoren kommen, die der Meinung sind, daß Biographien von solchen kleinen Details freigehalten werden sollten. „Schriften dieser Art“, bemerkt John Toland in seinem Leben Miltons von 1698, „sollten meiner Meinung nach darauf angelegt werden, Tugenden herauszustreichen und Laster bloßzustellen, oder aber Geschichte zu illustrieren und die Erinnerung an außergewöhnliche Ereignisse zu bewahren. Daß ein Mann zu irgendeiner Zeit krank war und dann wieder gesundete, sollte niemals erwähnt werden., es sei denn, daß während der Krankheit oder ihrer Heilung etwas Auffallendes geschah, das die Nachwelt interessieren könnte. Deswegen hätte ich über Miltons Kopfschmerzen in seiner Jugend nicht berichtet, wenn sie nicht Auswirkungen auf sein Sehvermögen gehabt hätten und wenn nicht seine Feinde die daraus resultierende Blindheit als Rache Gottes interpretiert hätten.“ 24 Matthew Pilkington berichtet im Vorwort zu seinem Dictionary of Painters von 1770, daß er ungezählte Autoritäten in Sachen Malerei befragt habe, aber „bei der Mehrzahl der Autoren feststellen mußte, daß sie eine langweilige Schilderung der Eigenheiten der Künstler, ihrer Moral und Lebensweisen, ihrer Familienzustände und Produktion abgaben. […] Das Leben eines jeden Künstlers wurde von einer gewaltigen Ladung an deskriptiven Details erdrückt, die nicht dazu geschaffen waren, den Ge23 Ebd. 24 J. Toland: The Life of John Milton, London 1699, S. 6.

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schmack oder das Urteil eines Kunstliebhabers zu verbessern oder die Aufmerksamkeit eines urteilsfähigen Kenners zu fesseln. Wer Vasari, Van Mander, Ridolfi, Sandrart und einige andere Schriftsteller auf diesem Gebiet sorgfältig gelesen hat, wird meiner Meinung nach sich daran erinnern, daß sie mit einer Fülle von nichtsagenden und langweiligen Geschichten kämpften […].“ 25 Es versteht sich danach, daß Pilkington alle diese Einzelheiten aussparte, um eine „komplette Sammlung von Künstlerleben“ vorzulegen, und da es sich um ein Lexikon in einem Band handelt, macht das Verfahren auch Sinn. Eine knappe Dekade zuvor schrieb Horace Walpole im Vorwort zu seiner Ausgabe von George Vertues großem Werk Anecdotes of Painting in England: „In Italien, wo die Kunst der Malerei einen erstaunlichen Gipfel der Perfektion erklomm, hat man die Leben der Maler in zahllosen Bänden beschrieben, die zusammengenommen schon eine kleine Bibliothek bilden. […] Unser Land, das seine eigene Produktion durchaus realistisch beurteilen kann, hat nicht einen einzigen Band aufzuweisen, der sich mit seinen Malern befaßt. In Wahrheit hat es ja auch selten nur einen Genius in dieser Kunst hervorgebracht. Flandern und Holland haben uns die größten Männer geschickt, auf die wir stolz sein können. Diese Umstände könnten den Leser gegen ein Werk einnehmen, das darauf angelegt ist, die Künste eines Landes zu preisen, das so wenig gute Künstler sein eigen nannte. Dieser Einwand ist so stark, daß ich statt The Lives of English Painters den einfacheren Titel Anecdotes of Painting in England gewählt habe. Vielleicht wird man damit leben können. Die unablässigen Mühen Mr. Vertues haben nichts unerforscht gelassen, was zu diesem Gegenstand beitragen könnte, und führten ihn zu vielen Einzelheiten, die zumindest amüsant sind. Weiter würde ich nicht gehen und würde auch jedem, der sich für kuriose Details nicht interessiert, abraten, sich die Mühe der Lektüre dieser Seiten zu machen.“ 26

Mit anderen Worten: Walpole ist das Gegenteil von Pilkington. Er warnt den „common reader“ (ein Terminus, den er sich mit Virginia Woolf teilt), zu viel zu erwarten: „Vom Antiquar erwarte ich größere Dankbarkeit; er ist einfacher zu befriedigen als der gemeine Leser. Jener möchte am liebsten abgelenkt und am wenigstens unterrichtet werden, dieser will nur infor25 M. Pilkington: A Dictionary of Painters, London 1770, S. V. 26 G. Vertue: Anecdotes of Painting in England, hrsg. von H. Walpole, London 1862, Bd. 1, S. 5.

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miert sein.“ Natürlich ist Walpoles Bescheidenheit nur eine rhetorische Geste. Gleichwohl ist sein Gefühl für die englische Unterlegenheit in Sachen Kunst echt und hat zur Folge, daß die Kritiker und Biographen des 18. und 19. Jahrhunderts ständig auf der Suche nach einem Vorbild zu Vasari und den anderen Vitenschreibern zurückschauen. Englische Künstler werden dementsprechend mit biographischen Analogien erfaßt: John Hamilton Mortimer ist der Salvatore Rosa aus Sussex, George Morland der englische Teniers, und den Titel des englischen Michelangelo teilten sich gleich mehrere Künstler über die Jahre hinweg. Walpole übertrieb nicht, als er behauptete, daß es bis zum Jahre 1762 kein Buch über englische Maler gegeben hat. Über einen einzelnen Künstler erschien zuerst 1745 die Schrift A description of the works of the ingenious delineator and engraver Wenceslaus Hollar … with some account of his life, als deren Autor man George Vertue vermutet. Das nächste Werk von einschlägigem Interesse ist dann Wrens Parentalia von 1750. Walpoles Anecdotes wurden in vier Bänden zwischen 1762 und 1771 herausgebracht, aber wenn wir sie als das Ergebnis der Sammelarbeit von George Vertue betrachten, dann datieren wir ihre Genese in die Jahre 1713 bis 1756, dem Jahr von Vertues Tod. Nugents Übersetzung des Cellini erschien 1771. Zehn Jahre später stoßen wir auf die Biographical anecdotes of William Hogarth; and a catalogue of his works chronologically arranged, zusammengestellt von John Nichols mit der Hilfe von George Steevens. Darauf folgen 1788 Philipp Thickness und sein Sketch of the life and paintings of Thomas Gainsborough, Malones Works of Joshua Reynolds … to which is prefixed an account of the life and writings of the author von 1707 und im Jahr darauf der dritte Band von Irelands Hogarth Illustrated und damit dürfte das Schrifttum des 18. Jahrhunderts in biographischer Hinsicht abgehandelt sein. Die Werke, die ich eingangs erwähnte: Northcotes Reynolds, Galts West, Smith’s Nollekens, Dawes Morland, gehören alle in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts – mein „Goldenes Zeitalter der Biographie“ sozusagen. Innerhalb der ersten zehn Jahre des 19. Jahrhunderts wurden in rascher Folge vier Biographien George Morlands veröffentlicht, ein exzeptioneller Tribut an einen englischen Maler, aber nicht ganz so exzeptionell,

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wenn man ihn als einen populären und berühmt-berüchtigten Zeitgenossen begreift. Mit anderen Worten, es gab doch eine lange Tradition der Biographie in England, die bis zum 17. Jahrhundert und noch weiter zurück reicht. Ihre Subjekte sind Prediger und Dichter, Admirale, Kaiserinnen (siehe die Übersetzung der Leben der Kaiserinnen von Serviez, erschienen 1723), aber auch Räuber, Piraten, berühmte Verbrecher, Gresham Professoren und bekannte Schriftsteller, also eigentlich alle Klassen von Männern und Frauen. Viele der älteren Darstellungen der biographischen Tradition erscheinen deswegen unzulänglich, weil sie Typen des biographischen Schrifttums aussondern, die ihnen zu niedrig oder ephemer erscheinen. Das heißt nicht nur, daß sie Daniel Defoe, einen Hauptautor dieses Genres, übergehen. Sie mißachten die ganze Subgattung der Sensationsbiographie. Sie verhalten sich wie die Historiker vergangener Tage, welche den Quellenwert der Sklavengeschichten für gering achteten, weil sie nicht glauben wollten, daß Sklaven einen entscheidenden Beitrag zu ihrer Abfassung leisteten. Und sie geben uns keinen Hinweis, um was für eine Art von Schrifttum es sich handelt. Es gab so etwas wie eine gemischte Ökonomie im Verlagswesen, d. h. das bedeutendste Werk der Wissenschaft mußte sich auf demselben Markt behaupten wie die lauteste und ganz auf den Tag berechnete Biographie. Das zumindest ist die Sichtweise von (?) Lord Lyttelton im 28. Dialog seiner Dialogues of the Dead (1760), in dem er eine Unterhaltung zwischen Plutarch und einem modernen Buchhändler fingiert. Letzterer beklagt sich, daß er bei einer Edition des Plutarch Geld verloren hat, aber dann fährt er fort: „Dasjenige Buch, das mich für die Verluste bei der teuren Ausgabe Ihrer Bücher entschädigte, war The Lives of the Highwaymen, aber reich wäre ich nicht geworden, hätte ich nicht The Lives of Men That Never Lived publiziert.“ 27 Ein Hinweis, den man in der Literatur findet, betrifft die enge Verbindung zwischen dem Theater und der Veröffentlichung von Biographien. Wenn eine Tragödie auf der Bühne Erfolg hatte, dann konnte es durchaus sein, daß man ihren Stoff auch biographisch verwertete, so wie im Fall mei27 G. Lord Lyttelton: Dialogues of the Dead, London 1889, S. 164.

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nes Vorfahren Elijah Fenton, dessen Tragödie Mariamne eine Biographie des Herodes zur Folge hatte. Die volkstümlichen Biographien, so wie die Leben der Räuber und anderer berühmter Krimineller, hatten ihr Gegenstück auf der Bühne in The Beggar’s Opera, und wenn wir uns wundern, wie gut es den Biographen gelingt, ihre Personen durch die Wiedergabe mündlicher Rede lebendig zu machen, dann dürfen wir an das Theater als eine entscheidende Anregung denken. Am Anfang meines Vortrags erwähnte ich J. T. Smith’s Biographie Nollekens and his Times von 1829. Im Folgenden geht es um eine Auseinandersetzung zwischen dem Bildhauer Nollekens und der Puffmutter Mrs. Lobb: „Eines Morgens, als Mrs. Nollekens nicht in der Stadt war, ließ sich Mrs. Lobb, eine ältere Lady in einer grünen Kalesche durch Kit Finney, den Sohn des Maurers, bei Nollekens anmelden – Mrs. Lobb kam aus dem ‚Fächer‘, einem Haus in der Dyot Street in St. Giles. ‚Sag ihr, sie soll reinkommen‘, sagte Nollekens, weil er annahm, sie habe ihm ein neues Modell gebracht, frisch importiert vom Lande. Aber als die Dame das Atelier betrat, rief sie vor allen Leuten aus: ‚Ich werde Sie bloßstellen, das werde ich, Sie kleine Made!‘ ‚Kit‘, rief Nollekens, ‚schaff mir die Schlampe vom Hals‘, und fügte mit ausgestreckter Hand und geballter Faust hinzu, daß er Lloyd nach dem Konstabler Lefuse schicken würde, wenn sie hier weiter ein Spektakel veranstalten würde. ‚Ha, ha, mein Lieber‘, schrie die Dame, ‚das wird Ihnen nichts nützen, große Reden in Ihrem Atelier zu schwingen. Ich werde seine Gnaden Collins davon unterrichten, auf welch schäbige Weise Sie sich gestern gegenüber Bet Belmanno betragen haben. Das Mädchen kann heute kaum noch ein Glied bewegen. Acht Stunden lang sie in diesem Raum festzuhalten, mit nichts an und ohne etwas zu beißen oder zu trinken und dann ihr als Lohn zwei Schillinge zu geben! Weder Mr. Füssli noch Mr. Tresham hätten mir das anzutun gewagt. Wie glauben Sie, kann ich leben und noch Einkommenssteuer zahlen? Wehe, Sie oder Ihr Hund machen bei uns noch einmal die Runde, ich werde dafür sorgen, daß Sie beide gehäutet und im Rat’s Castle aufgehängt werden […].“ 28

Und so weiter. Es ist eine Szene, die wir uns gut auf der Bühne vorstellen können, wie Mrs. Lobb sich erfolgreich um die fünf Schillinge streitet, die ihrer Ansicht nach das Modell verdient hat. Sie scheint eine individuelle Redeweise nachzuahmen. Das Bordell in der Dyot Steet in St. Giles und das Haus, das Rat’s Castle genannt wurde und Ratten- und Kaninchenfän28 J. T. Smith: Nollekens and his Times, London 1829, Bd. 1, S. 365 f.

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ger beherbergte, erinnern an die Welt, die Hogarth in Gin Lane geschildert hat. Die Erwähnung einer Bet Balmanno dürfte das erste Mal sein, das wir den Namen eines Künstlermodells erfahren, und die Nennung der Namen von Henry Tresham und Heinrich Füssli, die sich als Professoren für Malerei an der Royal Academy zwischen 1807 und 1825 abwechselten, dürfte die Vermutung stärken, daß sich Künstler aus solchen Bordellen wie in der Dyot Street ihre Modelle besorgten, die das Modellstehen offenbar als größere Demütigung als die Prostitution empfanden und deswegen auch selten in den Geschichtsbüchern verzeichnet sind. Um sie für den Ehrverlust zu entschädigen, wurden sie doppelt so hoch wie ihre männlichen Kollegen belohnt. In Blagdons Biographie ist es der Maler George Morland, wie er umgeben von Dieben lebt, immer auf der Hut, nicht in die Hände der Schuldeneintreiber zu fallen: „Die niedrigen und ignoranten Charaktere, mit denen Morland verkehrte, bildeten eine Art von Bande oder Horde, die, was auch immer sonst geschah, darauf achtete, stets zu Hause zu sein und sich als eine Form von Wache verstand, die freilich auf die üblichen sozialen Spielregeln wenig Wert legte. „Als ihr Oberhaupt einmal in einem Haus an der Edgeware Road wohnte, klopfte ein Mitglied der Oberklasse an die Tür – ein Mann namens Winking Bob wurde zur Erkundung vorgeschickt. Nun Governor, was wollen Sie? Ist Mr. Morland zuhause? Das weiß ich nicht genau, wie heißen Sie denn, Mister? Ich glaube, das geht Sie nichts an. Ich möchte ihn sehen, möchte seine Bilder mir anschauen. Bei Gott, Sie werden weder seine Bilder noch ihn zu sehen bekommen, bevor Sie uns nicht Ihren Namen verraten. Sehr merkwürdig, Sir. Vielleicht will ich ja ein Bild kaufen. Vielleicht dürfen Sie es ja, aber ich sage Ihnen, ohne Ihren Namen werden Sie ihn nicht sehen. Dann, mein Herr, sagen Sie ihm, daß Lord D-y … Der Teufel hole die Lords, rief Morland aus einem Dachfenster. Ich male für keine Lords. Schließ die Tür, Bob, und bring mir Rattler und den Hund.“ 29

29 F. W. Blagdon: Authentic Memoirs of the Late George Morland, London 1806, S. 8.

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Wir wissen heute ziemlich genau Bescheid darüber, wie Morland sprach, denn seine Biographen haben mit viel Gusto diese Sprechweise überliefert. Das folgende Zitat stammt aus einer Biographie, die William Collins, der Vater des Romanschriftstellers Wilkie Collins verfasst hat: „Komm, los, Jemmy Carty, warum zum Teufel schaust du so mürrisch drein? Warum, na ich nehm mal an, du denkst, ich meide dich wegen dem kleinen Handel zwischen uns. Hier rief der andere aus: Klein nennst du das? Morland dagegen: Eine Milchrechnung, zwischen uns, nicht mehr. Ich sage dir, Carty, der infame Jude, dessen Name so hart ist wie sein Herz, der Galgenvogel Flint-Stone mit anderen Worten, dem muß ich diesmal entkommen, glaub mir. Eine idiotische Rechnung wird morgen fällig – nicht weniger als 140 Pfund, so wahr ich lebe, hahaha, ich sage, das schuppige Elend wird seine Segel streichen, wenn er herausfindet, daß ich nicht mehr da bin. Haha, aber ich sage dir, Carter [flüsternd], ich habe da zwei Katzenbilder und ein mittelgroßes Bild, beinahe fertig, die ich für den komischen Moses gemalt habe, ich will verdammt sein, wenn du sie nicht mit in die Stadt nimmst …“ 30

Diese Art des Schreibens leitet sich von Defoes journalistischen Arbeiten und von den Skandalbiographien her. Hier ist ein Auszug aus Northcotes Vita des Joshua Reynolds, ein Stück, das an das biographische Schreiben im Stil von Johnsons Leben des Savage anschließt: „Sir Joshua las beim Frühstück in der Morgenzeitung, wie er es gewöhnlich tat, und entdeckte dabei zu seinem großen Erstaunen unter den Berichten über die Verhandlungen in Old Bailey, daß ein Gefangener vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt worden war, der einen seiner eigenen Bediensteten, einen Schwarzen, der schon länger bei ihm Dienst tat, beraubt hatte. Er läutete nach seinem Diener, um herauszufinden, was geschehen war, und wurde bald von der Richtigkeit der Zeitungsmeldung überzeugt. Der Schwarze hatte seit einer Reihe von Jahren bei ihm als Lakai gedient und war auch in mehreren Gemälden porträtiert worden, so zum Beispiel im Bild des Marquis von Granby, wo er das Pferd des Generals hält. Sir Joshua tadelte den schwarzen Diener dafür, daß er ihm von einem so ernsten Vorfall keinen Bericht erstattet hatte, worauf dieser erwiderte, daß er die Sache vertuscht habe, um nicht selbst gescholten zu werden. Dann erzählte er, was vorgefallen war. Mrs. Anna Williams, die alte blinde Dame, die im Haus von Dr. Johnson lebte, habe vor einiger Zeit bei Sir Joshua und Miss Reynolds diniert und sei daraufhin nach Bolt Court in der Fleet Street mit einer Mietkutsche zurückgefahren und er habe sie begleiten müssen. Auf dem Rückweg traf er einige Bekannte, die

30 W. Collins: Memoirs of a Picture, London 1805, S. 112.

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ihn so lange aufhielten, daß er Sir Joshuas Haus verschlossen und alle anderen Diener schlafend antraf. In seiner Not wanderte er die Straßen auf und ab, bis er schließlich in einer Wache für den Rest der Nacht Unterkunft fand, wo er aber in die Gesellschaft elender Gesellen geriet, die solche Quartiere bevölkern. So geschah es, daß ein armer Dieb, den der Konstabler gerade festgenommen hatte, bemerkte, daß Joshuas schlafender Diener, Uhr und Geld in der Tasche hatte; er entfernte die Uhr, schnitt mit einem Messer die Tasche auf und kam so an das Geld. Als der schwarze Mann aufwachte, stellte er sofort seinen Verlust fest, schlug Alarm, worauf alle Anwesenden durchsucht und die fehlenden Gegenstände bei dem unglücklichen Bösewicht entdeckt wurden. Er wurde festgenommen und am nächsten Morgen vor den Richter gebracht und ans Old Bailey zur Verhandlung überwiesen, wobei der Schwarze die Partei des Anklägers übernahm. Und wie wir gehört haben, fand das Verfahren statt und der Übeltäter wurde zum Tode verurteilt. Sir Joshua war von diesem Bericht tief ergriffen und schickte unverzüglich seinen ersten Diener Ralph Kirkly aus, um nach dem Zustand des Verurteilten zu fragen und ihm möglicherweise sein Schicksal zu erleichtern. Kirkly wurde in die Zelle des Gefangenen gelassen und fand dort das traurigste Schauspiel vor, das man sich vorstellen kann – einen armen, verlorenen Kriminellen, ohne einen Freund auf der Erde, durch Hunger und mangelnde Pflege zum Skelett abgemagert und nur noch des Tages harrend, da er durch gewaltsamen Tod seine exemplarische Strafe abbüßen mußte. Sir Joshua ließ dem Mann neue Kleider kommen und befahl seinem schwarzen Diener, daß er zur Buße und als Akt der Nächstenliebe dem Manne täglich von seiner Tafel ausreichend Nahrung zu bringen habe, und weil zu dieser Zeit glücklicherweise Mr. E. Burke zuständig war, schafften es beide, daß der Urteilsspruch in Deportation abgemildert und dementsprechend der Mann nach Abwicklung aller Formalitäten aus dem Königreich ausgewiesen wurde.“ 31

In diesem Fall erhalten wir einen Einblick in die Welt, die Johnson und Savage auf ihren nächtlichen Wanderungen erlebten, und wichtiger noch: wir erfahren etwas über das Leben der Schwarzen im London dieser Zeit. Den Namen des schwarzen Dieners sagt man uns nicht, aber wir wissen jetzt, wie er aussah, denn er figuriert ja wirklich auf dem Porträt von Reynolds und hält die Zügel des Pferdes des Marquis of Granby. Ich sagte, daß mein Goldenes Zeitalter der Biographie in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt. Es war das Werk einer Generation von Schriftstellern, für die Boswells Life of Johnson noch den Reiz der Neuigkeit hatte, ja die möglicherweise Boswell gekannt hatten, der ja erst 1795 starb. 31 J. Northcote: The Life of Sir Joshua Reynolds, London 1813, Bd. 1, S. 204 f.

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Wenn dieses Zeitalter mit der Thronbesteigung Queen Victorias 1837 zu Ende ging, ich betone das wenn, dann begann aber auch die Reaktion auf den Typus von Biographie, den wir hier skizziert haben, schon im frühen 19. Jahrhundert, also die Abneigung gegen die Freizügigkeiten und das Interesse am Skandal und am Leben der Unterwelt, gegen die Wiedergabe der Charaktere durch ihre Redeweise, ihren Dialekt, ihren Idiolekt. Nicht jedermann konnte sich für Boswell begeistern, einige stieß seine Aufführung ab. Und nicht jede Enthüllungsbiographie war willkommen. Um ein Beispiel zu geben: Da war die Biographie des Dichters Robert Burns von einem gewissen Dr. Currie, die sich nicht zurückhielt, was Burns Beziehungen zu Frauen und seinen Alkoholismus betraf. 1816 publizierte Wordsworth einen Letter to a Friend of Burns, in dem er sich über Curries Lebensbeschreibung beklagte. Wordsworth dachte, daß Biographie „auch wenn sie in einigen essentiellen Punkten von der Dichtung abweicht, dennoch wie diese eine Kunst ist, eine Kunst, deren Gesetze oft durch die Unvollkommenheiten unserer Natur und der Gesellschaft diktiert sind. Wahrheit sollte hier nicht wie in der Wissenschaft ohne Skrupel gesucht und um ihrer selbst willen verbreitet werden, auf die bloße Chance hin, daß sie irgendjemanden interessieren könnte. Sie sollte nur aus guten Gründen, moralischen und intellektuellen, ausgesprochen werden“.32 Mit anderen Worten: die bloße Wiedergabe der Geschehnisse eines Lebens sah Wordsworth mit Horror. „Schweigen ist das Vorrecht des Grabes, das Recht der Toten. Wer dieses Recht bricht, indem er in der Öffentlichkeit von, für oder gegen diejenigen spricht, die sich nicht mehr wehren können, der sollte sicher sein, daß er seinen Mund nicht ohne ausreichenden Grund öffnet. De mortuis nil nisi bonum ist eine Regel, in der dieses Gefühl eine extreme Position angenommen hat, die aber nur zeigt, wie tief das Interesse der Menschheit geht, diese Rechte gewahrt zu wissen“.33 Wordsworth ist erklärtermaßen gegen Boswell. Er sagt: „Man liest mit Vergnügen, was Horaz zur Beschäftigung seines Genius über sich und 32 W. Wordsworth: The Prose Works, hrsg. von W. J. B. Owen und J.Worthington Smyser, Oxford 1974, Bd. 3, S. 121. 33 Ebd., S. 121 f.

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seine Freunde mitteilt, aber ich gestehe, ein so großer Liebhaber des bloßen Wissens, unabhängig von seiner Qualität, bin ich dann auch wieder nicht, als daß ich mich darüber freuen würde, wenn man unter den Ruinen von Herkulaneum die Aufzeichnungen finden würde, welche nach Art Boswells die Gespräche des Sabiner Dichters und seiner Zeitgenossen festhielten. […] Ich fürchte mich davor, daß so das schöne Ideal unserer Erinnerungsbilder an diese illustren Personen durch häßliche Züge entstellt und die imaginative Reinheit ihrer klassischen Werke durch peinliche und triviale Rückblicke zerstört würde.“ Wenn die Informationen, die wir über Burns erhalten, wahr sein sollten, dann, so Wordsworth, wäre diese Wahrheit ein zweifelhafter Gewinn, denn es wäre ein Wissen, das äußerlich bliebe und geeignet wäre, „die innere Wirksamkeit seiner Dichtung, zu gefallen und zu belehren“ 34 zu mindern.

34 Ebd., S. 122 f.

Die Gemse und das Alpenpanorama Alois Riegl (1858–1905), der Emanzipator Für Martin Warnke zum 70. Geburtstag WERNER HOFMANN

In seinem bisher letzten Roman Sucht mein Angesicht (Seek My Face), läßt John Updike einige Stars der New Yorker Nachkriegsszene ihre Ansichten über die Malerei darlegen. Aus dem Mund der Witwe Jackson Pollocks erfahren wir, daß ihr „Zack“ ein Perfektionist war, der nichts Zufälliges duldete. Sein Ziel seien Ausgewogenheit und Friede, Gleichgewicht und Stille gewesen. Wo die anderen Aufregung wollten, suchte er Vollkommenheit. Diesem Anspruch hält Guy Holloway, eine Kunstfigur aus Rauschenberg, Lichtenstein und Johns, entgegen, wir dürften nicht die Unvollkommenheit aus der Kunst tilgen, sie sei Teil der Vollkommenheit.

Radikale Konsequenzen Was in den Ateliers von Manhattan diskutiert wurde, beschäftigte bereits Alois Riegl, den Denker unter den Kunsthistorikern der Jahrhundertwende, und gab ihm Formulierungen ein, die den Grund für eine neue Bewertung des „eigentlichen Bildkünstlerischen im Kunstwerk“ legten. Riegl verstand darunter die „Erscheinung der Dinge als Form und Farbe in Ebene und Raum“. So steht es auf den ersten Seiten seiner Spätrömischen Kunstindustrie (1901). Dieses Gesetz, das wußte der Empiriker, der von 1887 bis 1897 die Abteilung für textile Kunst im Österreichischen Museum für Kunst und Gewerbe geleitet hatte, tritt in den Kunstgattungen mit

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unterschiedlicher Stringenz auf. In Architektur und Kunstgewerbe treffen wir es in „mathematischer Reinheit“ an, in Skulptur und Malerei hingegen wird es von den „Inhalten“, von poetischen, religiösen und anderen Ideen abgelenkt und kann deshalb nicht zu „völliger Klarheit“ gelangen. Als Riegl an der revolutionären Aufwertung (sprich: Emanzipation) des Kunstgewerbes arbeitete, schickten sich die Maler bereits an, aus einer heute berühmten, 1890 veröffentlichten Maxime radikale Konsequenzen zu ziehen. „Ein Bild“, so begann Maurice Denis seine „Definition des Neotraditionismus“, „ist, bevor es ein Schlachtroß, eine nackte Frau oder irgendeine Anekdote ist, wesentlich eine plane, von Farben in einer bestimmten Anordnung bedeckte Oberfläche.“ Mit dem „bevor“ relativierte Denis die Eigenmacht der Form- und Farbinhalte und räumte den Sinneseindrücken das letzte Wort ein. Die Entgegenständlichung nahm indessen ihren Weg. 1888 hatte Sérusier den Teich Le Talisman in Pont Aven gemalt – „sous la direction de Paul Gauguin“, wie er auf der Rückseite vermerkte. Der empirische Eindruck ist noch nachvollziehbar, doch in ein farbiges Gewebe von Flächenbeziehungen eingelassen, mithin in eine ambivalente, potenziell gegenstandsferne Zone entrückt. Sérusier malte Unschärferelationen, er hob den Unterschied zwischen den Dingen und ihren Um- bzw. Zwischenräumen auf und gab ihrer Spiegelung im Wasser gleichrangige Formqualität. Diese Äquivalenzen entsprechen der „Emanzipation der Intervalle“, die Riegl am spätrömischen „Kunstwollen“ feststellte. Sie bewirkt die „Erhebung des bisher neutralen, formlosen Grundes zur […] Formpotenz“. An anderer Stelle heißt es: Der Grund bzw. Zwischenraum emanzipiert sich zum Muster. Solche Wechselbezüge thematisierte Pollock, als er mit seinen (informellen) Sprachmitteln die Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund aufhob.

Wechselnde Sehweisen Ambivalente Forminhalte verlangen vom Bildleser, daß er wechselnde Sehweisen bereithält. Wenige Jahre bevor die Kubisten sich an Betrachter mit Doppelblick wandten, erläuterte Riegl den Gewinn, den die Bifokalität ein-

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bringt, an den spätantiken Reliefs des Konstantinsbogens in Rom. Aus der Nähe prägt sich dem Betrachter die Tendenz zu „höchster gesetzlicher Schönheit“ ein, aus der Ferne sieht er die stereotypen Figurenreihen als Chiffren extremer Lebendigkeit, hervorgerufen vom „lebhaften Wechsel von Hell und Dunkel“. So gelingt es Riegl, den formalen Merkmalen – Mangel an Schönlebendigkeit, Massigkeit, Gliederungslosigkeit der Umrisse, starre kristallinische Gesetzlichkeit – das Stigma des barbarischen Verfalls zu nehmen und sie positiv umzuwerten. Sie stehen gleichermaßen für gesetzliche Schönheit wie für die Lebenswahrheit des „momentanen optischen Effekts“. Riegl entdeckt, daß in der Starrheit eine gegensätzlich orientierte „andere Art der Schönheit“ steckt, die wir die „kristallinische“ nennen dürfen. Unser Rückblick registriert ein eigentümliches Zusammentreffen: Im selben Jahr, 1901, postulierte Henry van de Velde den Begriff der „negativen Schönheit“, die er den englischen Möbeln zuschrieb, die besonders schön durch das waren, „was sie nicht, was sie nicht mehr hatten: durch ihre systematische Entblössung von Ornamenten […]“. Anders als der Belgier, anders als dann später Adolf Loos war Riegl kein Ornamentverächter, weshalb er den nackten Gebrauchsobjekten der Engländer nur Komfort und Hygiene, aber keine Harmonie abgewinnen konnte. In seinem ersten Buch, den Stilfragen (1893), nahm er sich vor, dem gering geschätzten Ornament eine von Folgerichtigkeit geprägte Entwicklungsgeschichte zu schreiben, eine genetische Kontinuität, die vom ägyptischen Lotus über die Palmette und die Akanthusranke bis zur sarazenischen Arabeske reicht. In den Stilfragen kommt Riegl auch erstmals der Ambivalenz als einer formkonstituierenden Eigenschaft auf die Spur. Er entdeckt „reziproke Ornamente“, die entstehen, „wenn jedem ornamentalen Elemente ein womöglich kongruentes Gegenüber“ eingeschrieben ist. Die berühmtesten Beispiele dafür sind der laufende Hund und der einfache Mäander. Letzterer bietet, da die weißen und die schwarzen Streifen gleich breit sind, zwei äquivalente Lesarten an. Entweder sehen wir einen weißen „Grund“, den ein schwarzes Band rechtwinklig durchschneidet, oder wir sehen weiße Energien, die einen schwarzen „Grund“ durchdringen, so daß das Weiß als „Muster“ auftritt. Die schwarzen und weißen Zonen sind also austauschbar, einmal Figur, das andere Mal Grund.

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Wunschsehen auf höchstem Niveau Riegls Blick, das zeigt dieses frühe Beispiel, verfährt egalisierend und inkludierend. Was im Mäander eine vollkommen ausgewogene Struktur ergibt, erstreckt sich auch auf die Figurenkunst, wie wir am Konstantinsbogen sahen, jedoch von den Inhalten „abgelenkt“. Auch und gerade hier läßt Riegls einschließender Blick beide Lesarten gelten, die kristallinische Gesetzlichkeit und den spontanen optischen Reiz. Riegl praktizierte das Wunschsehen seiner Zunft auf höchstem Niveau, er suchte, was er finden wollte, er „saw what he wanted to find“, wie sein Bewunderer Otto Pächt nicht ohne Augenzwinkern schrieb. Da für ihn das Kunstwollen innerhalb der komplementären Pole von Schönheit (Harmonismus) und Lebendigkeit (Organismus) verlief, wußte er auch das, was die herkömmliche Kunstgeschichte der Häßlichkeit zuwies, in seiner Morphologie unterzubringen, als eine andere Art von Schönheit zu legitimieren. Er bekannte, daß es ihm „vom Standpunkt des modernen Geschmacks schlechthin unmöglich“ schien, „daß […] jemals auf Häßlichkeit und Leblosigkeit, wie wir ihnen in der spätrömischen Kunst zu begegnen glauben, ein positives Kunstwollen gerichtet gewesen sein könnte […]“ Dennoch nimmt er zur Kenntnis, daß sich das Kunstwollen in diesen beiden Zielen (Schönheit bzw. Lebendigkeit) nicht erschöpft, sondern auch noch auf die Wahrnehmung anderer (nach modernen Begriffen weder schöner noch lebendiger) Erscheinungsformen der Dinge gerichtet sein kann. Kommt hier nicht der promiskuitive Zwischenbereich zum Zug, auf den „Holloway“ abzielt, wenn er meint, die Unvollkommenheit stecke in der Vollkommenheit und sei ein Teil davon?

Die Geschichte mit der Gemse Die New Yorker Maler hatten in Meyer Schapiro einen intellektuellen Mentor, wo waren Riegls Partner im Wien der Jahrhundertwende? Zu den nicht gerade theorieversessenen Sezessionisten um Klimt scheint er keinen Kontakt gesucht zu haben. Dennoch mag er den bahnbrechenden Aufsatz

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von Adolf Hölzel gekannt haben, der unter dem Titel „Über Formen und Massenverteilung im Bilde“ 1901 im 15. Heft von Ver Sacrum erschien und die Äquivalenz von Figur, Grund und Zwischenraum an Beispielen aus der älteren Malerei untersuchte. Der Olmützer Hölzel lebte seit 1894 in Dachau. Wie hätte Riegl, wäre er mit malenden Zeitgenossen in Kontakt gekommen, seine spröde Theorie vermittelt? Vielleicht mit einer Episode, die er in dem Aufsatz „Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst“ (Die Grafischen Künste, 1899) erzählt: Anders als Pollock reizen ihn, wie „Holloway“, die Störfaktoren, die das bewirken, was Leonardo so beschreibt: „Schönheit und Häßlichkeit, nebeneinander gestellt, erscheinen wirkungskräftiger eine durch die andere.“ Davon handelt die Geschichte mit der Gemse. Riegl versetzt seine Leser in eine einsame Alpenlandschaft. Was sein kontemplierender Fernblick wahrnimmt, erweckt in ihm das „unaussprechliche Gefühl der Beseeligung, Beruhigung, Harmonie“. Plötzlich ein Geräusch: Eine Gemse ist aufgesprungen und zerstört die Idylle der Ausgewogenheit. Chaos bricht aus. Der Bergwanderer Riegl verwandelt sich in Riegl den Kunsthistoriker, der dem Zwischenfall die Bezugsachsen seines Theoriegebäudes entnimmt: die beiden komplementären Wahrnehmungskategorien Nahsicht und Fernsicht. Zunächst entdeckt er darin ein Berufsspezifikum, die Befähigung des Kunsthistorikers zum Doppelblick. Die Nahsicht dient der auf das Einzelne gerichteten Spezialforschung, die Fernsicht entspricht der universalhistorischen Perspektive. In dieser Bifokalität rationalisiert der Forscher obendrein die menschliche Begabung, zwischen Extremen zu wählen. Einmal wollen wir die Dinge möglichst nahe und isoliert sehen, dann wieder eingebettet in das große räumliche Ganze einer Landschaft, in dem sich die empirischen Fakten in harmonische Stimmungen auflösen. Der fernsichtigen Landschaft weist Riegl den „vornehmsten Rang“ in der modernen Kunst zu. Doch neben der impressionistischen Konturauflösung im Fernbild läßt er auch den spontanen, nahsichtigen Ausschnitt als Stimmungsträger gelten – beide schaffen die Harmonie, in der er letztlich den „ureigentlichen Zweck“ der Kunst erblickt.

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Formale Janusköpfe Was den forschenden Intellekt Riegls primär beschäftigt, sind formale Janusköpfe, also Gebilde mit ambivalenten Strukturen. An die „Doppelerscheinung der Naturdinge in den Augen des Menschen“ knüpfen sich für ihn die beiden extremen Möglichkeiten des Kunstwollens: „einerseits die äußerste Isolierung der einzelnen Naturdinge gegenüber allen anderen, anderseits die äußerste Verbindung unter denselben“. Übertragen wir diese Dichotomie auf die Sprachmodi der New Yorker Szene: Das Mischprodukt „Holloway“ isoliert mit seinem Nahblick die Dinge bis in ihre Fragmentierung oder Verstümmelung, indes „Zack“ (= Pollock) seine dynamischen Formprozesse in einem dichten Netz von Farb- und Linienverflechtungen unterbringt, das die Spannung von Nähe und Ferne in einem harmonischen Ineinander aufhebt. Dieser Gegensatz paraphrasiert die Positionen, die schon Kandinsky – vielleicht von Riegl direkt oder durch Worringers Dissertation Abstraktion und Einfühlung (1908) inspiriert – ausmachte, als er die Große Realistik der Großen Abstraktion gegenüberstellte. Damals, 1912, bezeichneten die Readymades von Duchamp und Kandinskys Farberuptionen diese beiden Pole. Dazwischen tauchten bereits Mischgebilde auf: die Klebebilder der Kubisten, in denen jeweils zwei oder mehrere Formebenen koexistieren – fragmentierte Realien (Zeitungsausschnitte usw.) und abstrakte Linien. Halten sich diese Mischgebilde nicht in der Zwitterzone auf, die der Maler „Holloway“ im Auge hat, wenn er meint, die Unvollkommenheit stecke nicht nur in der Vollkommenheit, sondern sei ein Teil davon? Mit andern Worten: Die Gemse ist in der Fernsicht enthalten. Ihr plötzliches Auftauchen fügt dem harmonischen Kontext einen irritierenden und zugleich stimulierenden Akzent hinzu: spontane Lebendigkeit. Das Denken in Äquivalenzen, dem sich in jeder Struktur mehrere potenzielle Lesarten erschließen, empfing noch von zwei anderen Emanzipatoren entscheidende Argumente: von Schönberg in Wien und von Kandinsky in München. In seiner Harmonielehre (1911) nahm sich Schönberg gezielt die „Emanzipation der Dissonanzen“ vor, indem er diese den Konsonanzen integrierte. Er vermied es, schön und häßlich gegeneinander auszuspie-

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len. Existiert Schönheit überhaupt? Oder ist sie bloß ein Regelwerk, das die „Sehnsucht der Unproduktiven“ befriedigt? Schönberg antwortet pointiert: „Die Schönheit gibt es erst von dem Moment an, in dem die Unproduktiven sie zu vermissen beginnen.“ Was unschön und dissonant klingt, sei bloß ungebräuchlich. (Die heutige Dissonanz ist „die Consonanz von morgen“, wird Kandinsky befinden.) Ähnlich hatte schon Franz Wickhoff argumentiert, als er 1900 in einem Vortrag die Universitätsbilder von Klimt gegen das Laienurteil verteidigte, welches Unverständlichkeit mit Häßlichkeit gleichsetzt. Für Schönberg gibt es letztlich nur graduelle Unterschiede zwischen Konsonanz und Dissonanz, weshalb wir frei sind, die als Obertöne ferner liegenden Konsonanzen als Dissonanzen aufzufassen oder nicht. Gleichwohl erkennt er in den beiden Positionen einen fruchtbaren Widerstreit zwischen Systembewahrern und Systemüberschreitern. Letztere nutzen die Dissonanz, um das künstlerische Besitzergreifen auf die Reize des Verbotenen und Ungewöhnlichen zu lenken. Die Emanzipation der Dissonanzen wird solcherart zu einem öffnenden Kunstgriff, der das Einrasten im Gewohnten – im sterilen „Harmonismus“ (Riegl) – verhindert. Das hatte Gustav Mahler im Sinn, als er 1896 einem jungen Komponisten schrieb, der sich in Wiederholungen erging: „Wechsel und Gegensätzlichkeit! Das ist und bleibt das Geheimnis der Wirkung!“ In dem Rat steckt ein uralter Topos, den wir, Riegl folgend, auf Augustinus zurückverfolgen können. Nicht weniger bündig als Mahler formulierte Kandinsky im Rückblick (1913) sein Fazit der gegenwärtigen Möglichkeiten: „Gegensätze und Widersprüche – das ist unsere Harmonie.“ Ein Wort aus Julius von Schlossers Montaigne-Aufsatz (1903) zeigt, daß auch in Gelehrtenstuben die Zeichen der Zeit erkannt wurden: „Auch in der Wissenschaft scheint erst die Dissonanz die wahre Harmonie zu begründen, wenigstens für uns Moderne, deren Begriffe von Dissonanzen sehr gründlich andere sind als selbst unserer näheren Vorfahren.“

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Harmonie aus Widersprüchen Der russische Maler-Philosoph denkt wie Riegl und Schönberg integrationistisch: Kandinsky polarisiert die Gegensätze und macht sie zugleich zu tragenden Elementen einer Harmonie aus Widersprüchen. Dieser Kunstgriff gelingt ihm, weil für ihn jede Form „vielseitig“ ist, d. h., „es gibt keine Frage der Form im Prinzip“. Solcherart ist eine Linie ambivalent: Sie bezeichnet nicht nur ein Ding, sie fungiert selbst als „Ding“ wie ein Stuhl oder ein Messer. Der Umkehrschluß besagt, daß die „härteste Materie“ – etwa ein Readymade von Duchamp – zugleich die Zeichenqualitäten einer Linie aufweist. So wird die Polarität von Abstraktion und Realistik im letzten Grund aufgehoben: „Die größte Verschiedenheit im Äußeren wird zur größten Gleichheit im Innern.“ Auch der gründliche Fakten- und Quellenforscher Warburg bediente sich des Doppelblicks, um in den Gegensätzen der Renaissance „Ausgleichserzeugnisse zwischen Welt und Kirche“ ausfindig zu machen. Meinte Machiavelli in Lorenzo de Medici „zwei ganz verschiedene Personen“ wahrzunehmen, so pries Warburg Lorenzos Fähigkeit, Gegensätze zu vereinbaren. Er dehnte das „Prinzip der Kompatibilität“ auf den komplementären Gegensatz von Logik und Magie aus. Als er sich dem Komplex der Pathosformeln zuwandte, entdeckte sein denkender und sehender Doppelblick neue Formen der Polarisierung, die jeweils Gegensätze in sich vereinigen: Befreiung und Herabsetzung, Flucht und Triumph, Tötung und Heilung.

Eine neue Kunst In dieses offene Problemfeld brachte der Emanzipator Riegl den Beitrag der Kunstgeschichte ein. Und darin steckt zugleich der bis heute fortwirkende Impuls seines Geschichtsentwurfs, aus dem die Moderne des 20. Jahrhunderts hervorging. Riegl wußte: „mit unseren Tagen beginnt eine neue Kunst“ (Historische Grammatik). Riegls kurzes, ungemein intensives Forscherleben stand unter dem Vorzeichen von Emanzipationen. Er begann in den achtziger Jahren zu publizieren, 1893 erweckten die Stilfragen

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das Interesse der Fachwelt. Darauf folgte die Spätrömische Kunstindustrie (1901) und ein Jahr danach das Holländische Gruppenporträt, hervorgegangen aus Vorlesungen an der Wiener Universität, an der Riegl ab 1897 als Ordinarius dem Kunsthistorischen Institut vorstand. Das 1898/99 fertig gestellte Buchmanuskript einer Historischen Grammatik der bildenden Künste wurde erst 1966 von Swoboda und Pächt herausgegeben. Riegl starb 1905 in seinem 47. Lebensjahr. Von Anfang an auf universalhistorische Zusammenhänge gerichtet, entdeckte sein Blick, was er suchte: emanzipatorische Prozesse. Schon in den Stilfragen steht eine Grundsatzerklärung, der Entschluß, den „kunstschaffenden Gedanken“ (aus dem gegen Ende des Buches das „Kunstwollen“ wurde) zu emanzipieren, d. h. aus den Zwängen von Material, Technik und Zwecken zu befreien. Riegl wird diese Faktoren nur als „Reibungskoeffizienten“ gelten lassen. Mit dieser Emanzipation korrespondiert sein beharrliches Bemühen, das „Kunstgewerbe“ aus seiner inferioren Position herauszuholen und den Figurenkünsten gleichrangig zu machen. Damit emanzipierte er seine Beurteilung von den Kriterien der Figurenkunst. Zugleich stellte er folgerichtig für alle Kunstgattungen ein einheitliches Kunstwollen fest, innerhalb dessen sich „zahlreiche subjektive einander widersprechende Äusserungsformen“ ereignen können. Wie schon vor ihm Franz Wickhoff, der den Verfall aus seinem Wortschatz tilgte, emanzipierte er diese negativ besetzte Kategorie und machte daraus objektiv notwendige Zersetzungsprozesse. Gleichsam als Beiprodukt dieser ebenso radikalen wie umfassenden Akzentverschiebungen postulierte Riegl die „Emanzipation der Intervalle“ und betrieb die Emanzipation des Häßlichen. Dazu gibt es eine wichtige Stelle auf den letzten Seiten der Kunstindustrie. Riegl nennt die Quelle, auf die sich die Emanzipation der Intervalle stützt: die Schriften des Augustinus. Dort fand er auch „die Existenzberechtigung, ja Notwendigkeit des Häßlichen, Formlosen demonstriert“. Für Augustinus ist das Böse „bloß eine Privation des Guten, das Häßliche bloß das Intervall des Schönen“. Beide „sind ebenso notwendig wie die Intervalle zwischen den Worten in der Sprache, zwischen den Tönen in der Musik“ (Riegl). Er geht noch weiter in Richtung von Warburgs Kompatibilität, wenn er statuiert: „Das Schöne“ wäre gar nicht „ohne

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sein Komplement, das Häßliche“ – „so daß beide zusammen erst ein Bild vollendeter Harmonie gewähren“. Guy Holloway würde dem zugestimmt haben. Mit Augustinus befindet Riegl, auf Posita und Contraposita blickend: „Alles in der Welt ist an seinem Platze gut.“ Das gilt auch für die Doppelbödigkeit christlicher Heilswahrheiten. In der Häßlichkeit des Gekreuzigten siegt für Riegl die „Seelenschönheit“ über das körperliche Sein, freilich nur für den, der diesen Gegensatz in einem Doppelblick zu verschränken vermag.

Ordnung und Unordnung Seiner genauen Augustinus-Lektüre verdankt Riegl auch, was er allerdings nicht ausdrücklich vermerkt, eines seiner zentralen Kriterien, den komplementären Gegensatz von Nahsicht und Fernsicht. Im Gottesstaat heißt es: „Aber wer das Ganze nicht zu überschauen vermag, wird durch die vermeintliche Häßlichkeit eines Teilstückes beleidigt, weil er nicht erkennt, wozu es paßt und worauf es sich bezieht.“ Genau das veranschaulicht das Auftauchen der Gemse im Alpenpanorama. Der ambivalente Kern dieser Parabel – Ordnung wird durch Unordnung bereichert und zugleich zersetzt – weist nicht nur voraus auf die „concordia discors“, von der das ganze 20. Jahrhundert leben wird, er verknüpft obendrein die Moderne mit der Tradition. Steckt nicht in der Gemse die „gestörte Form“, die Gombrich an den herabgerutschten Triglyphen von Giulio Romanos Palazzo del Te in Mantua aufspüren wird? Und geht diese Entdeckung, wenn nicht auf Riegls Gemse, auf die fruchttragende Dienerin zurück, die stürmisch in die Ruhe von Ghirlandaios Wochenstube des Täufers eindringt? Aby Warburg hat intensiv über diese „laufende Frau“ nachgedacht. Sie zog ihn an und erfüllte ihn zugleich mit Angst (Gombrich). Schließlich wurde sie ihm zu dem, was Riegl in der Gemse sah: zum Ausdruck „elementaren Lebenswillens“, aber auch „zum eigentlichen Symbol für die Befreiung und Emanzipation“ aus der mittelalterlichen Askese. Von dieser Entdeckung bezog seine Forschung einen wesentlichen Impuls. In einem Brief an Hans Tietze in Wien beklagte er am 15. Juni 1917 als „objektive Sinnlosigkeit“ den Umstand, „daß die Wiener Schule, die meiner

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Forschungsgesinnung im Gegensatz zu den übrigen in Reichsdeutschland, am verwandtesten ist, sich eigentlich nie die Mühe genommen hat, die von mir befolgte Methode gründlicher zu bewerten“. In diesem Zusammenhang erläutert Warburg das Ziel seiner Hamburger Bibliothek, „das Leben selbst als stilbildende Macht zu erkennen“. Eben das meinte später der Empfänger dieses Briefes, Hans Tietze, mit dem Wort, der Lebensprozeß der Kunst bestehe darin, daß sie unablässig Leben in Kunst umforme. Damit wird der Kunsthistoriker zum Gemsenjäger, besser: zum Gemsenfänger, der das fiktive Panorama aufstört, in dem die Stilgeschichte das Kunstgeschehen harmonisieren möchte. Er wird, als Eindringling, zum Reflektor der gestörten Formen. Die Frauen in der Wochenstube nehmen die „Ninfa“ (wie Warburg sie nannte) nicht zur Kenntnis: Ihr Wirbelwind reicht an die statuarische Ruhe dieser Matronen nicht heran. So mußte das Geschöpf einige Jahrhunderte warten, bis ein Kunsthistoriker seiner Vitalität erlag, ein Kunsthistoriker, für den der liebe Gott im Detail steckte, also in der geringfügigen, marginalen Einzelheit. Warburgs aufmerksamer Blick ist die rationalisierte Folge der „Emanzipation der Aufmerksamkeit“, mit der sich Riegl im Holländischen Gruppenporträt fortwährend beschäftigte. Er erblickt darin eine der großen Errungenschaften der niederländischen Malschule. Warburg bestätigt diese Innovation, indem er zeigt, wie die „ganz im Schauen aufgehenden Menschen“ der nordischen Realisten ihren italienischen Zeitgenossen Bewunderung abnötigten, und er belegt das mit den Anregungen, die Ghirlandaio vom Portinari-Altar des Hugo van der Goes empfing. Dennoch: Die „geschickte Mischung von innerer Andacht und äußerer Lebenswahrheit“ bleibt dem Florentiner versagt, seine Hirten sind mehr Zuschauer als Andächtige. Gleichwie die Holländer des 17. Jahrhunderts, Rembrandt vor allem, sich die subjektive Aneignung der Außenwelt vornehmen, appellieren sie, durch direkte Blickanrede, an die Aufmerksamkeit des Betrachters. In seiner Subjektivität vollendet sich die Aussage des Bildes. In Warburgs Notizen aus dem Jahr 1928 findet sich der Satz: „Der Leidschatz der Menschheit wird humaner Besitz.“ In seinem StimmungsAufsatz von 1899 gibt Riegl dem Kunstwerk einen Sinn, der nichts mit der von Warburg verachteten „ästhetisierenden Kunstgeschichte“ des Fin de

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Siècle zu tun hat: „Stimmung und Andacht wohnen eng beieinander. Ist doch Andacht nichts anderes als religiöse Stimmung.“ Wo Warburgs und Riegls Gedanken konvergieren, zeigt sich, in Riegls Worten, der Künstler als Befreier, der mit seinem Werk „dem trostbedürftigen Zeitgeschlechte Erleichterung, wo nicht Erlösung“ bringt. Gemse und Ninfa haben bis heute nicht zusammengefunden. Was Hamburg und Wien vor vielen Jahrzehnten verband, hat Fritz Saxl 1917 in einem Brief an Warburg aufgezeigt, in dem er dessen Tendenz hervorhob, „nicht den Wechsel der Dinge festzuhalten, sondern die Konstanz im Wechsel“. Dazu befähigt, wie mir scheint, der zur Methode entwickelte „Doppelblick“ (eine Wortfindung Goethes!), der gleichzeitig das Alpenpanorama und die aufspringende Gemse wahrnimmt. Er sieht, mit Goethe zu reden, die „Dauer im Wechsel“ – mithin ist für ihn alles ambivalent.