Vorträge aus dem Warburg-Haus: Band 11 Vorträge aus dem Warburg-Haus 9783110360103, 9783110359909

FROM DÜRER TO GERTRUDE STEIN Contents: K. Lüdeking, The Body and the Letters – Albrecht Dürer’s self-portrait from 150

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German Pages 160 [152] Year 2014

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Table of contents :
DER LEIB UND DIE LET TERN. Albrecht Dürers Selbstbildnis von 1500
SPARTACUS UNTER DEN DEUTSCHEN. Über die Geschichte einer literarischen Niederlage
DEUTSCH, MODERN UND JÜDISCH. Max Liebermanns Ausstellungen in Berlin und London 1906
EINE GENEALOGIE DER MODERNE. Flaubert, Cézanne und Gertrude Stein
KÖRPER IN KR AF TFELDERN. Kunst, Krieg und Raumtheorie in der Klassischen Moderne
Anmerkungen
Bildnachweise
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Vorträge aus dem Warburg-Haus: Band 11 Vorträge aus dem Warburg-Haus
 9783110360103, 9783110359909

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VORTRÄGE AUS DEM WARBURG -HAUS BAND 11

Herausgegeben von Uwe Fleckner, Julia Gelshorn, Margit Kern und Bruno Reudenbach

VORTRÄGE AUS DEM WARBURG-HAUS BAND 11 Mit Beiträgen von Karlheinz Lüdeking Ernst Osterkamp Françoise Forster-Hahn Ulla Haselstein Christoph Asendorf

INHALT

Karlheinz Lüdek ing 7

DER LEIB UND DIE LET TERN Albrecht Dürers Selbstbildnis von 1500 Ernst Osterkamp

41

SPARTACUS UNTER DEN DEUTSCHEN Über die Geschichte einer literarischen Niederlage Françoise Forster-Hahn

65

DEUTSCH, MODERN UND JÜDISCH Max Liebermanns Ausstellungen in Berlin und London 1906 Ulla Haselstein

85

EINE GENEALOGIE DER MODERNE Flaubert, Cézanne und Gertrude Stein Christoph Asendorf

107

KÖRPER IN KR AF TFELDERN Kunst, Krieg und Raumtheorie in der Klassischen Moderne

133 151

Anmerkungen Bildnachweise

1 Albrecht Dürer: Selbstbildnis, 1500, Öl auf Holz, 67,1 × 48,9 cm, München, Alte Pinakothek.

Karlheinz Lüdeking

DER LEIB UND DIE LET TERN Albrecht Dürers Selbstbildnis von 1500

Woody Allen spielt in seinem Film Manhattan von 1979 einen Drehbuchautor mittleren Alters, der nach einer Scheidung in der Krise steckt und nicht mehr recht weiß, was er will. In einer Szene wird ihm von seinem Freund vorgeworfen, er sei furchtbar selbstgefällig, er scheine zu vergessen, dass wir alle nur Menschen sind, und halte sich selbst offenbar für Gott. Darauf antwortet der Protagonist trocken, irgend jemanden müsse er sich ja schließlich zum Vorbild nehmen. Im Kino wird an dieser Stelle immer gelacht. Niemand aber lacht, wenn die akademische Kunstgeschichtsschreibung Albrecht Dürer ähnlich überzogene Ambitionen unterstellt. Sein Selbstbildnis von 1500, so hört und liest man immer wieder, zeige mit unübersehbarer Deutlichkeit, dass er sich dabei niemand anderen als Jesus Christus zum Vorbild genommen habe (Abb. 1). Das scheint zunächst plausibel, denn Dürer stellt sich selbst hier tatsächlich so dar, wie man zu seiner Zeit üblicherweise nur Christus dargestellt hat. Zu klären wäre demnach also nur noch, wie man das verstehen soll. Handelt es sich schlicht um Blasphemie und krankhaften Größenwahn? Dem widersprechen schriftliche Zeugnisse, aus denen hervorgeht, dass Dürer weder ein Geisteskranker, noch ein Gotteslästerer war. Bekennt er sich dann vielleicht, ganz im Gegenteil, zu einer demütigen imitatio christi, wie sie etwa von Thomas von Kempen gefordert wurde? Dann müsste er zumindest darauf verzichten, sich in seiner luxuriösen Kostümierung zur Schau zu stellen, denn Christus war bekanntlich mittellos und besaß keine kostbaren Pelzmäntel. Demonstriert Dürer also eher eine humanistische – zum Beispiel von Pico della Mirandola vertretene – Auffassung des Menschen, wonach dieser sich bis zu einer quasi-göttlichen Vollkommenheit und dignitas veredeln könne? Dann wäre Christus schon insofern kein geeignetes Vorbild, als sein Leben auf Erden ja gerade nicht unter dem Zeichen der eigenen Selbstverwirklichung stand, sondern unter dem völliger Selbstaufopferung. Soll man dann am Ende annehmen, Dürer propagiere vor allem sein ambitioniertes Ideal eines Künstlers,

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dem es widerstrebt, nach Vorgaben und auf Bestellung zu arbeiten, da er, als ein schöpferischer alter deus, seine Werke lieber in völliger Souveränität entwerfen und verwirklichen will? Dann wäre Christus nur ein Repräsentant für Gottvater, denn der – und nicht sein Sohn – ist es, der alles, was es gibt, geschaffen hat. Wie man sieht, gerät man mit sämtlichen genannten Deutungsversuchen sehr schnell in Schwierigkeiten. Das sollte ein Anlass sein, noch einmal deren gemeinsame Prämisse zu überprüfen. Unbestreitbar ist zunächst, dass ein Bild, das einen jungen Mann mit Bart und langen Haaren in strenger Frontalität zeigt, um 1500 eigentlich nur eine ChristusIkone sein konnte. Wenn Dürer sich aber wie Christus malt, dann bedeutet das nicht unbedingt, dass er sich auch als Christus präsentiert. Man kann also nicht ohne weiteres unterstellen, er habe sich als Person mit Christus identifiziert, denn wenn sich das Bild einer Person an einer vorgefundenen Bildform orientiert, ist damit noch nicht notwendigerweise etwas über die dargestellte Person gesagt, sondern nur etwas über die Modalitäten ihrer Darstellung. Um zu erkennen, warum Dürer das Christusbild für seine eigenen Zwecke adaptieren konnte, ist es demnach notwendig, sich dessen Eigentümlichkeiten noch einmal im Einzelnen vor Augen zu führen. Dabei wird sich zeigen, dass Dürers – auf den ersten Blick so deutlich ins Auge fallende – Orientierung am Christusbild letztlich auf etwas ganz anderes hinausläuft: auf die Unterwerfung seines Bildes unter die neue Weltmacht der Schrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.

FAL SCHE BILDER, WAHRE BILDER – UND DEREN DERIVATE Wie also muss ein Christusbild beschaffen sein, um überhaupt als solches gelten zu können? Um einer Antwort auf diese Frage näherzukommen, soll zunächst ein Beispiel aus jüngerer Zeit betrachtet werden (Abb. 2). Am 28. März 2001 erschien auf dem Titelblatt einer Berliner Boulevardzeitung das Bild eines Mannes neben der Schlagzeile »Das ist Jesus!«. Über diesem zweizeilig gesetzten Schriftzug stand in fast ebenso großen Lettern »Erstes Foto« sowie in wesentlich kleineren und deshalb aus der Entfernung kaum noch entzifferbaren Buchstaben »Von Wissenschaftlern am Computer erstellt«. Tatsächlich handelte es sich bei dem Bild nicht um eine Fotografie, sondern um eine Computergraphik. Sie war im Auftrag der Produzenten einer britischen Fernsehserie mit dem Titel Son of God entstanden, denen das Christusbild, wie wir es aus Werken der Bildenden Kunst, aber auch aus Hollywoodfilmen und anderen Produkten der Massenkultur kennen, gar zu idealisiert und kitschig erschien. Um ein Bild zu erhalten, das realistischer – und nicht so sehr durch westliche Vorurteile geprägt – ist, hatten Fachleute, denen ein zweitausend Jahre alter, in Jerusalem gefundener Schädel zur Verfügung stand, mit gerichtsmedizinischen Methoden rekonstruiert, wie ein etwa dreißigjähriger Bewohner der römischen Provinz Judäa während der Regierungszeit des Pontius Pilatus typischerweise ausgesehen haben könnte. Nicht viel anders, so nahmen sie an, dürfte auch Jesus

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2 Titel- und Rückseite der B. Z., 28. März 2001.

ausgesehen haben, da ihn die römischen Soldaten bei seiner Festnahme ja zunächst gar nicht von seinen Jüngern unterscheiden und ihn erst nach dem Judaskuss identifizieren konnten. Die englischen Experten hatten also gar nicht den Anspruch erhoben, die besonderen, individuellen Gesichtszüge von Jesus ermittelt zu haben. Insofern war die Behauptung der Zeitung, das von ihr publizierte Bild zeige Jesus, zumindest stark übertrieben, denn das wäre ja nur möglich gewesen, hätte man Anlass zu der Vermutung gehabt, der zufällig ausgegrabene Totenschädel sei derjenige von Jesus von Nazareth. Dessen Schädel hätte man nach der Überzeugung gläubiger Christen aber unmöglich finden können, denn der Bibel zufolge hinterließ Christus keine »sterblichen Überreste« auf Erden, sondern fuhr nach seiner Auferstehung gänzlich unversehrt zum Himmel auf. Abgesehen davon lässt sich das Aussehen eines Verstorbenen ohnehin nicht vollständig aus seinem Schädel rekonstruieren, denn man wird durch eine Gen-Analyse zwar vielleicht noch die Farbe der Augen und der Haare bestimmen, logischerweise aber nicht entscheiden können, ob der Mann einen Bart trug oder ob sein Haupthaar kurz oder lang war. Obgleich also bei jeder derartigen Rekonstruktion ein gewisser Ermessensspielraum unvermeidlich ist, dient das Verfahren im Grunde nur dazu, diesen Spielraum einzuengen. Das Bild, das man erstellen möchte, soll sich nicht nach unseren eigenen Vorlieben richten, sondern – so weit wie möglich – nur nach der abgebildeten Person

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selbst. Gerade das Christusbild darf auf keinen Fall willkürlich hergestelltes Menschenwerk sein, denn dann wäre es nichts als ein Götzenbild, ein selbstgemachtes Idol. Wie man sieht, betrifft das erste und wichtigste Kriterium dafür, dass ein Bild als Christusbild anerkannt werden kann, seine Genese. Das Bild soll so authentisch wie möglich sein. Es muss sich – wie ein »Foto« – auf die abgebildete Person selbst zurückführen lassen. Um 1500 war die katholische Kirche überzeugt, im Besitz mehrerer solcher Bilder zu sein. Das berühmteste war das Schweißtuch der Veronika, das in St. Peter in Rom aufbewahrt und ab 1200 unter dem Einfluss von Papst Innozenz III. zu einer der wichtigsten Reliquien der Stadt wurde und damit auch zum Ziel rasch anwachsender Pilgerströme. Die Legende, die sich an das Tuch knüpfte, war bereits früher entstanden, wurde dann aber mehrfach revidiert, bis sie im 14. und 15. Jahrhundert ihre endgültige Fassung annahm. Danach wurde Christus auf dem Weg zu seiner Hinrichtung, als ihm schon der Schweiß und das Blut in Strömen herablief, von einer barmherzigen Frau namens Veronika ein Tuch gereicht, mit dem er sich das Gesicht abwischte. Als er ihr das Tuch zurückgab, war darauf durch ein Wunder ein klar erkennbares Bild, eine vera icon, seines Gesichts zurückgeblieben. Dieses Bild ist zwar kein Foto, aber immerhin ein Kontaktabzug. Es hat den Status einer – nur um wenige Stunden zu früh abgenommenen – Totenmaske. Daher ist die vera icon zugleich ein verum indicium. Sie zeichnet sich durch jene Qualität einer indexikalischen Verbindung mit dem Dargestellten aus, die der Rekonstruktion im Computer nur unberechtigterweise zugesprochen wurde. Christus, dessen Antlitz durch das Tuch abgebildet wird, ist zugleich derjenige, der dieses Abbild verursacht hat. Sein Bild ist eine authentische Spur und ein veritables Relikt seiner Person. So gesehen ist die vera icon das Selbstporträt par excellence. Schon deshalb musste sie sich als das nächstliegende Vorbild empfehlen, als Dürer sich dem historisch völlig neuen Vorhaben zuwandte, ein autonomes Selbstbildnis zu schaffen. Allerdings hat er das Tuch nie gesehen. Er war nicht in Rom, und wäre er, wie so viele andere, Anno Domini 1500, im Heiligen Jahr, für das Papst Alexander VI. eigens die Heilige Pforte geöffnet hatte, dorthin gepilgert, um vor der Reliquie zu beten und dafür einen beträchtlichen Ablass zu erhalten, hätte er auch an Ort und Stelle nicht viel von dem sehen können, was es da zu sehen gab. Bis heute weiß niemand genau, wie das Schweißtuch aussah, das 1527 beim sacco di Roma verschwand. Es gibt zwar schriftliche Berichte von Pilgern, doch darin finden sich keine exakten Beschreibungen. Erhalten ist nur eine Schatulle, in der das Bild früher einmal auf bewahrt worden war, so dass man weiß, dass es etwa vierzig mal dreißig Zentimeter gemessen haben muss. Mit dem Christusbild verhält es sich demnach fast wie mit Christus selbst: Man weiß von seiner Existenz, doch über sein Aussehen ist sich niemand mehr klar. Von der vera icon gibt es jedoch immerhin zahlreiche Reproduktionen, die gerade zur Zeit Dürers weit verbreitet waren. Sie wurden zum Teil mit Genehmigung und unter Aufsicht der Kirche hergestellt und vertrieben. Da diese aber beträchtliche Unterschiede

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aufweisen, ist auch ihnen nicht eindeutig zu entnehmen, wie das Tuch selbst aussah. Das Spektrum dieser Kopien reicht von künstlerisch anspruchsvoller Druckgraphik bis zu simplen Stempelbildchen, die sich Romreisende an den Hut heften konnten. Reproduktionen des Schweißtuchs waren allgegenwärtig, und so gab es auch in Dürers unmittelbarer Umgebung kaum eine Kirche, in der man nicht auf eine Darstellung der vera icon getroffen wäre. Da diese Darstellungen aber lediglich auf das Original verwiesen, waren sie bei weitem nicht so sakrosankt wie jenes selbst. So konnte diese Art der Christusdarstellung für Dürer auch deshalb zum Vorbild werden, weil er sie nur als ein fortwährend vervielfältigtes Bild aus ihren unzähligen, mehr oder weniger von einander abweichenden Kopien kannte.

EIN KOPF OHNE KÖRPER, JENSEITS VON R AUM UND VON ZEIT Als Beispiel für eine dieser zahlreichen Kopien der vera icon kann ein Kupferstich von etwa 1440 dienen, der bis vor kurzem gewöhnlich dem Meister der Spielkarten zugeschrieben wurde (Abb. 3). Das Blatt misst etwa dreiundzwanzig mal sechzehn Zenti-

3 Unbekannter Graphiker: Das Schweißtuch der Veronika, um 1440, Kupferstich, 23,1 × 16,2 cm, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.

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meter, ist also, wie die meisten Kopien, deutlich kleiner als das Original. Es zeigt ein mit zwei Nägeln an der Wand befestigtes Tuch. Darauf sieht man das Antlitz eines bärtigen jungen Mannes mit langen, glatten Haaren, die auf beiden Seiten des Gesichts bis zum Kinn herabreichen. Zu beachten ist dabei zunächst, dass hier nicht der Kopf eines Menschen abgebildet wird, sondern ein Bild dieses Kopfes. Das Bild zeigt also lediglich ein anderes Bild. Zugleich zeigt es aber auch mehr als nur ein Bild, mehr als nur eine Darstellung des Hauptes Christi auf einem textilen Bildträger; es erzeugt nämlich die Illusion eines wirklichen Kopfes, der sich im Raum vor dem Tuch befindet. Das Bild verharrt nicht, wie es ansonsten seine Art ist, in der Fläche, sondern löst sich aus der materiellen, von Falten durchzogenen Oberfläche des Gewebes, um davor – wie ein Hologramm – in der Luft zu schweben. Das Tuch, das selbst durch ein Wunder entstand, bewirkt also seinerseits ein Wunder, indem es die reale Präsenz Christi beschwört. Zum einen sieht man ein zweidimensionales Bild, dessen Materialität ostentativ betont wird, zum anderen einen virtuellen dreidimensionalen Körper. Diese Ambivalenz wird sich auch in Dürers Selbstbildnis bemerkbar machen. Der Kopf, den die vera icon zeigt, befreit sich aber nicht nur aus der Materialität des textilen Bildträgers, er löst sich auch von der Materialität des Leibes, zu dem er gehört. Das Bild zeigt einen Kopf ohne Körper, einen Kopf, dem sogar schon der Hals und die Schultern fehlen. Offensichtlich wurde dieser Kopf aber nicht gewaltsam abgetrennt wie jener, den man Johannes dem Täufer abschlug. Wir sehen keine durchschnittenen Adern, und es fließt kein Blut. Die Dekapitation findet nur statt, um einen Signifikanten zu erzeugen. Der Kopf ist also kein realer Kopf, und deshalb ist sein Volumen auch so stark reduziert, dass er nicht mehr wie ein vollrunder Schädel erscheint, sondern eher wie eine Maske; und deshalb darf seine Darstellung auch so schematisch und symmetrisch ausfallen. Details müssen nicht weiter ausgearbeitet werden, denn das ist nicht der Sinn der Sache. Es geht nicht darum, einen bestimmten Kopf mit allen seinen Eigenheiten zu zeigen, denn es kommt nur auf eines an: seine eindeutige Erkennbarkeit. Dementsprechend wussten auch alle, die den Stich sahen, sofort und mit Gewissheit, wer hier dargestellt ist. Eine schriftliche Belehrung – »Das ist Jesus!« – war überflüssig, weil das Gesicht, im Gegensatz zu dem in der Zeitung, von seinem Typus her allgemein bekannt war. Auch wäre es für die Funktion des Bildes hinderlich gewesen, hätte man es in allen seinen Einzelheiten genau betrachtet. Es genügte, es als ein Christusbild zu erkennen, um davor beten – und hierfür ebenfalls einen beträchtlichen Ablass erhalten – zu können. Das Bild der vera icon ist also gar nicht mehr im emphatischen Sinne ein »Bild«, bei dem es auf die Gestaltung des kleinsten Details ankommt, sondern eher ein Bildzeichen. Es ist ein Piktogramm, eine Chiffre, die jederzeit gegen andere – visuelle und auch sprachliche – Chiffren ausgetauscht werden kann. So wie der Buchstabe A in seinen unzähligen Konkretisierungen in der Hand- und der Druckschrift immer wieder als derselbe Buchstabe erkannt wird, erweist sich auch das Christusbild in seinen verschiedenen Realisierungen als ein und dasselbe bildhafte Zeichen.

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Der Umstand, dass die vera icon vornehmlich die Funktion eines Piktogramms hat, dessen konkrete Gestalt zweitrangig ist, solange es nur die Präsenz Christi zu evozieren vermag, steht nun allerdings im Widerspruch zur Bildkonzeption, von der sich Dürer leiten ließ, denn die fordert das genaue Gegenteil: die penible Aufzeichnung des Sichtbaren in all seiner konkreten Fülle. Dem Christusbild konnte sich Dürer also nur vom anderen Extrem her nähern. Auch das ist für sein Selbstbildnis von 1500 charakteristisch: Es füllt ein abstraktes Schema mit konkretem Leben und verleiht der konkreten Gestalt durch die Assimilation an ein abstraktes Schema zugleich eine transzendente Dimension. Eine solche Wechselbeziehung von konkreter Leiblichkeit und abstraktem Bildzeichen bestimmt bereits die Urszene, den Moment der Entstehung der vera icon. Diesen Moment zeigt eine von Ridolfo Ghirlandaio gemalte Altartafel, die von den Sachverständigen der Londoner National Gallery, in deren Besitz sie sich heute befindet, auf die Zeit um 1505 datiert wird (Abb. 4). Man sieht Christus auf dem Weg zu seiner Hinrichtungsstätte. Mit dem Kreuz, das er – nebenbei bemerkt: falsch herum, mit dem längeren Balken nach vorn – auf seiner Schulter trägt, schreitet er, im rechten Winkel zu unserer Blickrichtung, von rechts nach links. So sehen wir sein Gesicht genau im Profil. Neben ihm kniet die junge Veronika. Sie hat ihm ihr Tuch gegeben und nimmt dieses jetzt, genau in diesem Augenblick, mit dem darin eingeprägten Bild seines Antlitzes wieder aus seiner Hand entgegen. Nun ist dieses Tuch zwar eine Berührungsreliquie, und das Bild, das darauf erscheint, entsteht allein durch die unmittelbare Einwirkung des Leibes Christi. Paradoxerweise haben wir es aber trotzdem nicht mit einer taktilen »Einschreibung« des Körpers ins Bild zu tun. Eine solche Behauptung wird zwar häufig völlig gedankenlos wiederholt, aber eigentlich sollte klar sein, warum das Bild gar nicht durch einen direkten Abdruck entstanden sein kann. Dazu wäre nämlich eine topologische Transformation der Oberfläche eines dreidimensionalen Körpers – des Gesichts mit seinen Höhen und Tiefen – in die Ebene erforderlich, bei der das Tuch dem Gesicht wie eine zweite Haut aufgelegt und dann wieder abgezogen und ausgebreitet wird. Bei der Anwendung eines solchen Verfahrens müsste der Abdruck aber eine viel größere, nach allen Seiten weiter ausgedehnte Fläche einnehmen als diejenige, die wir auf dem Tuch in Ghirlandaios Gemälde sehen. Dort erscheint das Gesicht vielmehr so, wie man es aus der Distanz sieht. Das Bild auf dem Tuch kann also nicht durch den haptischen Prozess der Abformung entstanden sein, sondern nur durch das optische Verfahren der Projektion. Insofern untersteht das Bild doch wieder der Logik der Fotografie und erweist sich als so etwas wie ein antiker Vorläufer des Polaroids. Bemerkenswert ist zudem, dass auf dem Tuch keine formlosen Flecken von verschmierten Körperflüssigkeiten zu sehen sind, sondern ein klares Bild. Auch ist das Antlitz, das wir da sehen, nicht von Leid oder Schmerz gezeichnet. Das Bild hat seinen Ursprung zwar in der Leiblichkeit Christi, die sich gerade in seiner Passion im höchsten Maße geltend

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4 Ridolfo Ghirlandaio: Kreuztragung Christi, um 1505, Öl auf Leinwand, 166, 4 × 161,3 cm, London, National Gallery.

macht, aber der Prozess der Entstehung des Bildes bringt augenscheinlich eine Sublimation mit sich. Das Bild zeigt nicht den leidenden Menschen, sondern den unsterblichen Sohn Gottes. In seinem Bild hat Christus den Tod bereits überwunden und ist aus der irdischen Zeit herausgetreten. Ebenso zeigt sich auch Dürer nicht mit Kreuz oder Dornenkrone, was ja durchaus möglich gewesen wäre, hätte er sich tatsächlich so sehr mit Christus identifiziert. Auch ihm geht es in seinem Selbstporträt um eine Sublimierung und um einen Sprung aus der Zeit.

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5 Ridolfo Ghirlandaio: Kreuztragung Christi, um 1505 (zwei Details).

Das Bild auf dem Tuch weicht aber nicht nur durch das, was es zeigt, von der dargestellten Situation ab, es hat auch einen anderen Realitätsgehalt als die »wirklichen« Gesichter der Personen, die auf Ghirlandaios Tafel versammelt sind. Da es Christus darstellt, erscheint das Tuch als mise en abyme, als verkleinerte Wiederholung des gemalten Bildes innerhalb seiner selbst. Allerdings ist das darauf abgebildete Gesicht hier – anders als beim perspektivischen Bild – nicht hinter der transparenten Bildfläche zu sehen, sondern genau in dieser Fläche. Einerseits sehen wir wie durch ein kleines Fenster durch das Tuch hindurch und erkennen, was sich dahinter befindet: der rechte Arm der Veronika und das Gewand Christi. Andererseits dringt unser Blick aber nur bis zur Oberfläche, in die das Bild eingeprägt ist. Wir sehen sowohl, wie bei einem perspektivischen Bild, durch das Tuch, als auch, wie bei der bedruckten Seite eines Buches, auf das Tuch (Abb. 5). Da Veronika dieses Tuch genau parallel zur Bildebene hält, erscheint nur das Bild des Gesichts Christi, nicht aber sein Gesicht selbst, in strenger Frontalität. Nur das Bild blickt uns an und wendet sich aus dem Bildraum in den Realraum. Die Figuren selbst, zu denen auch Christus gehört, bleiben hingegen im Beziehungsgeflecht des fiktiven Bildraumes gefangen. Dabei sehen wir Christus, wie schon erwähnt, nur im Profil. Er kann uns also nicht sehen. Ganz in sich selbst versunken geht er seinen Weg, und wir sind dabei Zuschauer eines Geschehens, das sich ohne uns vollzieht. Wir verfolgen es aus der Distanz derer, die nicht dazugehören, denn wir sehen Jesus in einer historischen Situation, die längst vergangen und nicht wiederholbar ist. Nur eines fällt aus dem Fluss der Zeit heraus: das Bild, das er uns hinterlassen hat. Dieses Bild besitzt eine Präsenz, die sich aus der Verstrickung in die konkreten Umstände seiner Entstehung gelöst hat. Es ist nicht länger ein Zeugnis der lange zurück-

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liegenden physischen Anwesenheit Christi auf Erden, sondern ein Zeichen seiner fortdauernden Gegenwart im Himmel. Tatsächlich erhält das Christusbild ja erst in der Abwesenheit des Abgebildeten seine höchste Bestimmung. Es ist für die Zeit gedacht, in der Christus nicht mehr leibhaftig unter uns weilt, uns aber dennoch nahe bleibt, indem er sich auch nach seinem Tod noch in seinem Bild verkörpert, so wie er sich immer wieder in der Hostie verkörpert. Von der Vision einer solchen Allgegenwart ist auch Dürers Selbstbildnis inspiriert. Es erzählt nichts aus seinem Leben. Es zeigt – wie die vera icon – noch nicht einmal einen Raum, in dem etwas geschehen könnte. Es konfrontiert uns nur mit einem Gesicht, in dem die Person trotz ihrer endgültigen leiblichen Abwesenheit eine permanente Präsenz beansprucht. Erwähnenswert ist noch ein Detail in Ghirlandaios Gemälde. Am linken Bildrand sieht man einen jungen Mann mit einem grünen Wams und einer Schusswaffe, die dem neuesten Stand der Technik von 1500 genügt und deshalb innerhalb des gemalten Geschehens einen eklatanten Anachronismus darstellt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Maler dieser Figur seine eigenen Züge verliehen hat, so dass es sich um ein verstecktes Selbstporträt handelt. Da diese Figur die einzige ist, die uns direkt aus dem Bild heraus ansieht, gleicht sich, was die Blickbeziehung zum Betrachter betrifft, auch hier das Selbstporträt dem Christusbild an.

SAINTE FACE, SAINT PROFIL Nun gibt es allerdings auch Christusbilder, die sich auf das Gesicht konzentrieren, dieses aber nicht en face, sondern im Profil zeigen. Auch hier hätte Dürer ein Vorbild finden können, denn solche Darstellungen erfreuten sich gerade um 1500 vorübergehend großer Beliebtheit. Als Beispiel soll hier ein kleines Diptychon aus den südlichen Niederlanden betrachtet werden, das sich heute im Museum Catharijneconvent in Utrecht befindet (Abb. 6). Auf der rechten Tafel sieht man Christus, der, im Profil gezeigt, nach links zur anderen Tafel schaut, auf der ein lateinischer Text zu lesen ist. Bei diesem Text handelt es sich um die Wiedergabe eines Schriftstückes mitsamt kurzen Angaben zu dessen Provenienz, aus denen hervorgeht, dass es zu Jesu Lebzeiten von einem gewissen Publius Lentulus in Judäa verfasst und an den Kaiser Octavian nach Rom gesandt wurde, wo man es später in einem Archiv fand. Diese Angaben haben sich im Laufe der Zeit als unglaubwürdig erwiesen, und heute nimmt man an, der »Lentulus-Brief«, von dem es eine ganze Reihe von jeweils minimal verschiedenen Versionen und Übersetzungen gibt, könne wohl kaum vor dem 13. Jahrhundert entstanden sein. Anlass zu Zweifeln an seiner Echtheit hätte allerdings allein schon der Inhalt geben können. Es wird darin nämlich, für die Zwecke der römischen Administration vollkommen belanglos, nur sehr kurz über die Aktivitäten Christi berichtet, zum Beispiel über seine Heilung von Kranken, dann aber in großer Ausführlichkeit sein Aussehen geschil-

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6 Unbekannter Maler: Diptychon mit »Lentulus-Brief« und segnendem Christus, um 1500, Öl auf Holz, jeweils 38,5 × 27,3 cm, Utrecht, Museum Catharijneconvent.

dert, wobei es am Schluss sogar – in deutlicher Anspielung auf Psalm 45 – heißt, er sei »von der schönsten Gestalt unter allen Menschenkindern«. Dass so etwas von einem Mitglied der römischen Besatzungsmacht an die Zentrale gemeldet wird, ist unwahrscheinlich, wurde aber wohl deshalb nicht angezweifelt, weil die Beschreibung genau dem Bild entspricht, das in der Malerei schon seit langem verbindlich geworden war. Jesus, so liest man in dem Text unter anderem, habe lange, in der Mitte gescheitelte Haare, bis zu den Ohren glatt, dann aber bis zu den Schultern gelockt, in der Farbe von »noch nicht ganz reifen Haselnüssen« (»nucis avellanae prematurae«), sein Bart sei voll, ziemlich kurz und, wie das Haupthaar, in der Mitte geteilt, die Augen »blaugrün« (»glaucis«) und lebhaft, die Haut ohne Falten oder Flecken. Dürer kannte diesen Text entweder aus einer Abschrift im Besitz seines Freundes Pirckheimer oder einer in Nürnberg gedruckten Fassung. Vielleicht waren die Angaben zu Haaren und Augen darin weniger ausführlich, vielleicht hat er sich auch einfach darüber hinweggesetzt; in seinem Selbstbildnis stellt er sich jedenfalls nicht genau so dar, wie Christus beschrieben wird. Allerdings wird Christus sogar vom Maler des Diptychons selbst, im Gegensatz zur Aussage in der siebtletzten Zeile der Schrifttafel, mit braunen

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Augen dargestellt. Abgesehen davon ist die Beschreibung aber ohnehin viel zu ungenau, um als Anleitung zur Herstellung eines Porträts dienen zu können. Hätte man nur den Text, bliebe vieles, wie etwa die Form der Ohren, völlig unentschieden und deshalb der Willkür des jeweiligen Malers überlassen. Allerdings gibt es auch für die Profildarstellung ein durch Legenden beglaubigtes Urbild. Dabei ist jedoch von Anfang an klar, dass dieses, anders als die vera icon, nicht durch direkte Berührung entstanden sein kann, denn das Profil eines Kopfes gelangt nur durch eine optische Projektion auf die Bildfläche. Ganz einfach hätte man ein Profilbild Jesu zum Beispiel erhalten können, wenn man den Umriss seines Schattens auf einer Wand nachgezeichnet hätte. Das ist aber nicht geschehen, und auf die naheliegende Idee, das zu tun, kamen noch nicht einmal seine eigenen Jünger, als Jesus ihnen beim letzten Abendmahl eröffnete, er werde sie schon bald verlassen. Daher hat man die bildliche Darstellung des Utrechter Diptychons auf ein gemaltes Porträt zurückgeführt, das angeblich schon zu Lebzeiten Christi entstand und dann, um der besseren Haltbarkeit willen, in ein vergoldetes Bronzerelief übertragen wurde. Hiernach entstanden dann wieder verschiedene Kopien, sowohl in Gestalt von Münzen als auch im Medium der Druckgraphik, die als Vorbild für das Gemälde dienen konnten. Wenn diese Legende zutrifft, dann wurde das Profilbild allerdings nicht, wie die vera icon, durch Christus selbst hervorgebracht. Schon deshalb konnte es für Dürer wohl kaum als ideales Modell für sein Selbstbildnis dienen. Dem Bild fehlt es an Authentizität, da es der Arbeit eines antiken Malers bedurfte, um es herzustellen. Solches Menschenwerk ist naturgemäß weit weniger verlässlich als das Bild auf dem Schweißtuch, das ohne die fehlbare Vermittlung einer menschlichen Hand – als ein ἀχειροοίητο – durch direkte göttliche Intervention entstand. Zwar wird diese Schwäche zum Teil kompensiert, indem in Gestalt des Textes ein weiteres Dokument von Menschenhand hinzutritt, das angeblich ebenfalls auf Augenzeugenschaft beruht. Doch das täuscht nicht darüber hinweg, dass hier nur eine schwache Evidenz durch eine andere, ebenso schwache, bestätigt wird. Ein weiterer Unterschied zu den Kopien der vera icon besteht darin, dass diese, wie bereits betont wurde, lediglich ein Bild Christi wiedergibt, wohingegen die Bildtafel des Diptychons Christus selbst darstellen soll. Deshalb beschränkt sich diese Darstellung auch nicht auf das Gesicht, sondern zeigt den gesamten Oberkörper mitsamt der rechten Hand, die sich in einer Geste des Segnens an Adressaten richtet, die wir uns, obgleich nicht sichtbar, links jenseits des Bildausschnitts vorstellen müssen. Obwohl Christus hier nicht als Teil einer narrativen Szene dargestellt ist, wird er doch immerhin als ein Handelnder gezeigt. Er bewegt sich innerhalb seines eigenen, von uns getrennten virtuellen Raumes, in den wir nur begrenzten Einblick haben. Das passt natürlich zum Text, in dem Christus ebenfalls nicht in seiner transzendenten, himmlischen Allgegenwart geschildert wird, sondern als historische Person, die predigt und Kranke heilt. Dementsprechend sehen wir Christus im Bild auch nicht als wahren Gott, sondern nur als wahren

18 | Karlheinz Lüdeking

Menschen. Und deshalb kann sich sein Kopf hier auch nicht vom Körper ablösen. Doch das wäre in einer Profildarstellung ohnehin noch weitaus befremdlicher als bei der Darstellung en face, und daher wird im Profil, zum Beispiel auf Münzen, mit dem Kopf eigentlich immer der Hals und oft auch ein Teil des Oberkörpers gezeigt, womit dann zwangsläufig auch immer der Raum angedeutet ist, in dem sich der Körper bewegen kann. Dass Dürer eine solche Darstellungsform nicht prinzipiell ablehnte, erweist sich daran, dass er sich 1520, abermals in seiner eleganten Pelzschaube, von dem Augsburger Hans Schwarz ein Medaillenbildnis im Profil schnitzen ließ. Für sein Gemälde von 1500 wählte er diese Form jedoch nicht, und die naheliegende Erklärung hierfür ist die, dass er einen direkten Blickkontakt zu denen herstellen wollte, die vor sein Bild treten. Demnach wäre die Profildarstellung vor allem aus Gründen der Bildrhetorik unbrauchbar. Es gibt aber noch einen weiteren und wichtigeren Grund, der Darstellung en face den Vorzug zu geben: Nur sie ermöglicht die körperlose Präsenz, die dem Profil verwehrt bleibt. Eine solche Präsenz kommt in dem Utrechter Diptychon nur der Schrifttafel zu. Sie beansprucht keinen Raum für sich selbst, denn sie existiert nur für uns. Schrifttafel und Bildtafel haben also nicht den gleichen Status. Der Gehalt des Textes spricht uns direkt an, die Gestalt im Bild tut das nicht. Diese Diskrepanz ist in Dürers Selbstbildnis vermieden. Dort wendet sich das Bild der Person ebenso unmittelbar an die Betrachter wie der dazugehörige Text.

ABSTR AKTES ZEICHEN UND LEBENDIGER LEIB Eine Gemeinsamkeit von Bild und Text besteht im Diptychon allerdings insofern, als beide beanspruchen, auf Augenzeugenschaft zu beruhen. Darin äußert sich ein Interesse, das in der frühen Neuzeit auch die religiöse Malerei vor neue Aufgaben stellte. Auch hier verlangte man nunmehr nach Bildern, die das Dargestellte so lebensecht zeigen, als sähe man es ganz real, wie durch ein offenes Fenster, vor sich. Dementsprechend verlor auch im Falle des Christusbildes das irreale Schema eines körperlos schwebenden Kopfes, wie er in der vera icon gezeigt wird, zunehmend an Glaubwürdigkeit. Man wollte die reale Präsenz Christi, die das Schweißtuch nur evoziert, nun auch visuell so deutlich wie möglich vor Augen gestellt bekommen. Diesem Wunsch entspricht in besonderer Weise ein verschollenes Christusbild des Jan van Eyck aus dem Jahre 1438, das wir nur aus Kopien kennen, von denen sich eine in der Berliner Gemäldegalerie befindet (Abb. 7). Dieses Bild wird gewöhnlich als Transformation der vera icon in die neue Gattung des individuellen Porträts gedeutet. Demnach hat van Eyck das Bild Christi, das auch ihm nur aus den mehr oder weniger stereotypen Kopien des Schweißtuches in Rom geläufig war, so gemalt, wie wenn Christus ihm ebenso leibhaftig Modell gesessen hätte wie die von ihm porträtierten Zeitgenossen.

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7 Unbekannter Maler: Kopie des Christusbildes von Jan van Eyck, um 1440, Öl auf Holz, 44 × 32 cm, Berlin, Gemäldegalerie.

Van Eycks Porträts beruhen bekanntlich auf der genauen Beobachtung und der präzisen Wiedergabe jedes kleinen Details bis hin zu den einzelnen Haaren der Augenbrauen. Obgleich sich der Maler bei seinem Christusbild nun aber nicht in derselben Weise auf die direkte Anschauung stützen konnte, erzeugt sein Bild, der gängigen Auffassung zufolge, dennoch die Illusion, es sei so. Es zeigt uns Christus, als habe van Eyck ihn mit eigenen Augen gesehen und naturgetreu abgemalt, wie es ja auch durch die Inschrift auf dem Rahmen eigens bekräftigt wird. Schon der erste Blick auf das Bild müsste eigentlich deutlich machen, dass dies bestenfalls die halbe Wahrheit sein kann. Es ist kaum zu übersehen, wie sehr sich van Eycks Christusbild von seinen wirklichen Porträts unterscheidet. Auffällig ist vor allem die

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extreme und äußerst unnatürlich wirkende Symmetrie. Wenn man eine Hälfte des Gesichts, gleichgültig, ob es die linke ist oder die rechte, mit einer Spiegelung derselbe Hälfte kombiniert, verändert sich gegenüber dem ursprünglichen Bild nur wenig. Selbst die Falten des Gewandes und die Locken der Haare erscheinen wie seitenverkehrte Wiederholungen derselben Details auf der jeweils anderen Seite. Zudem steht der Kopf vor einer – zwar ornamental aufgelösten, aber dennoch höchst wirkungsvollen – Kreuzform. Die Vertikale dieses Kreuzes verläuft genau in der Mitte des Bildes und zugleich auch in der des Gesichts. Die Horizontale liegt dagegen nicht in der Bildmitte, sondern orientiert sich an den Augen, wobei sie aber nicht durch die Pupillen verläuft, sondern – was womöglich dem Kopisten zuzuschreiben ist – deutlich oberhalb der Augenlider. In diesem Gemälde herrscht eine abstrakte Struktur von so großer Strenge, dass diese nicht mehr dem lebendigen Leib, sondern nur noch einem symbolischen Zeichen angemessen ist. Angesichts der hohen, von van Eyck selbst eingeführten Standards für die glaubwürdige Wiedergabe der individuellen Physiognomie müsste also unmittelbar klar sein, dass dies kein Porträt eines realen Menschen sein kann. Van Eyck betreibt vielmehr eine forensische Rekonstruktion avant la lettre. So wie die britischen Wissenschaftler den Schädel aus Jerusalem mit einer Umhüllung aus Muskeln, Fett und Haut ausstaffierten, verleiht van Eyck dem Schema der vera icon durch die Aufpolsterung mit menschlichem Gewebe den Anschein eines realen Körpers. Zu diesem Zweck müssen dem selbstgenügsam in der Leere schwebenden Kopf, den die vera icon zeigt, naturgemäß auch Hals und Schultern zurückgegeben werden. Aber ein wirklicher Körper von glaubhafter Plastizität kommt dabei nicht zustande. Der Oberkörper wölbt sich kaum vor, und eine Hand, die – wie bei dem zuvor besprochenen Diptychon – eine Handlung ausführen könnte, kommt erst gar nicht ins Bild. Zwar wirft die Nase einen Schatten, der erkennen lässt, dass der Kopf von rechts beleuchtet wird, doch Volumen entsteht dadurch nicht. Im Gegensatz zu allen anderen Porträts, die van Eyck gemalt hat, ist der Raum so stark reduziert, dass man den Eindruck hat, es sei dem Maler gelungen, organische Materie auf einer ornamentierten Metallplatte zu züchten.

DAS WORT, DAS ZU FLEISCH WIRD Allerdings kann das abstrakte Flächenmuster in van Eycks Gemälde nur deshalb so rigide durchschlagen, weil es sich nicht mit einer ebenfalls schon schematisierten Kopfform verbindet, sondern mit einem – vermeintlich – lebendigen Leib. Nur so entsteht die extreme Spannung zwischen der Kontingenz des realen Körpers und der Transzendenz des religiösen Zeichens. Wie bei Dürer sehen wir einerseits das akribisch wiedergegebene Brustbild eines irdischen Menschen, andererseits das Zeichen des Jenseitigen, das durch die sichtbare Gestalt hindurchstrahlt. Diese Ambivalenz der Christusdarstellung zeigt sich auch darin, dass die Bildfläche bei van Eyck zugleich eine Schrifttafel ist und

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umgekehrt. Was im Utrechter Diptychon auf zwei Tafeln verteilt wird, ist hier noch ungeschieden, um dann bei Dürer auf neue Weise vereint zu werden. Dabei steht der Kopf vor einem völlig homogenen Hintergrund, der sich nicht in die Tiefe öffnen kann, weil er als Fläche dienen muss, in die sowohl der ornamentale, fast schon kalligraphische Nimbus eingetragen ist, als auch vier Buchstaben. Oben links erkennt man ein »A«, das denselben breiten Oberstrich aufweist, wie das »A« in Dürers Monogramm. Als Pendant sieht man oben rechts ein griechisches Omega. Dementsprechend ist das »A« als Alpha zu lesen, so dass beides zusammen einen Hinweis auf die Offenbarung des Johannes ergibt, in der von Gott gesagt wird, er sei das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende. Damit erklären sich auch die beiden unteren Buchstaben: links ein »I« für initium, rechts ein »F« für finis. Erst durch die Schrift wird also klar, dass Christus, seiner eigentlichen Natur entsprechend, gar nicht der temporären Sphäre des Irdischen zugehört, da er in seiner leiblichen Existenz nur eine kurzfristige Verkörperung des Ewigen und Transzendenten war. »Christus«, das muss man sich hierbei in Erinnerung rufen, ist kein Name, sondern ein Prädikat, das seinen Sinn schon hatte, bevor man erkannte, dass es allein auf Jesus zutrifft. Dieser wird von Petrus zum ersten Mal als »der Gesalbte« – also als Messias oder, in griechischer Sprache: Christus – angesprochen: »Σὺ ἶ ὁ χρστὸς«. Dies wird von Jesus umgehend bestätigt, der anschließend auch gleich seinen Tod und seine Auferstehung ankündigt. Sechs Tage später zeigt er sich zudem in verklärter Gestalt. Von nun an ist er für seine Jünger nicht mehr nur ein Mensch, sondern die leibhaftige Verkörperung einer zuvor schon schriftlich niedergelegten Verheißung. Dabei war die Überzeugung, in Jesus den lange erwarteten Christus gefunden zu haben, für seine ersten Anhänger verständlicherweise weitaus wichtiger als sein irdisches Aussehen. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass die Bücher der Bibel keine Beschreibung seines Äußeren enthalten. Lange Zeit wurde auch nicht versucht, ihn in seiner leiblichen Gestalt darzustellen. Bestenfalls griff man zu symbolischen Bildzeichen wie dem des Fisches, um auf ihn zu verweisen. Grundlegend blieb jedoch die Bezeichnung durch die Schrift. Dabei wurde das Wort »χρισός« häufig auf seine beiden Anfangsbuchstaben »χ« (Chi) und »ρ« (Rho) verkürzt, die sich, sofern man sie groß schreibt, also als »Χ« und »Ρ«, leicht zu einem Monogramm zusammenfügen lassen. Logisch wie auch historisch gesehen, geht das Christusmonogramm also dem Christusbild voraus. Sehr anschaulich zeigt sich das an einem römischen Mosaik aus dem vierten Jahrhundert, das in Hinton St. Mary in England gefunden wurde (Abb. 8). Es zeigt das Antlitz eines bartlosen jungen Mannes vor dem Chi-Rho-Monogramm. Das Bild gibt dem abstrakten Zeichen ein Gesicht, und damit – verbum caro factum est – wird aus dem Wort das Fleisch. Auch die zwei Granatäpfel, die der Darstellung hinzugefügt wurden, unterstreichen, dass die sichtbaren Körper nur als Veranschaulichungen abstrakter Ideen zu verstehen sind. Offensichtlich werden in diesem Mosaik das Monogramm und das Gesicht jedoch noch nicht in der Weise verschmolzen wie das Kreuz und das Antlitz bei van Eyck. Beide Elemente sind vielmehr nur additiv kombiniert, und daher lassen sie sich

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8 Unbekannter Künstler: Christusbild, 4. Jahrhundert n. Chr., römisches Mosaik aus Hinton St. Mary (Detail), London, British Museum.

auch leicht wieder voneinander trennen. Doch wenn man sie trennt, behält nur das Monogramm seine Bedeutung. Das Bild verliert sie, denn von dem Mann, den es zeigt, hätte weder zur Zeit seiner Entstehung noch später irgend jemand mit Bestimmtheit sagen können: »Das ist Jesus!« Das Bild entspricht noch nicht dem Typus, der sich erst in den folgenden Jahrhunderten etablieren wird, und so könnte man es ebenso gut auch als Darstellung eines Philosophen oder eines Feldherrn verwenden. Deshalb lässt sich nur aufgrund des Monogramms erschließen, wen es wirklich darstellen soll.

MONOGR AMM – GESICHT – INSCHRIF T Auch Dürer kombiniert in seinem Selbstporträt ein Bild mit einem Monogramm. Von diesem Monogramm hat allerdings noch niemand behauptet, Dürer habe es vom Christusmonogramm abgeleitet, so wie er sein Selbstbild vom Christusbild abgeleitet habe. Ein entsprechender Nachweis wäre jedoch leicht zu erbringen. Nähme man aus dem

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Mosaik nur die obere Hälfe des Christusmonogramms, also den Teil, der über das Haupt des Mannes hinausragt, und stellte es sich dann auf den Kopf gedreht und seitenverkehrt vor, hätte man schon fast die Form, die Dürer für sein Monogramm entwickelt hat:

Daraus zu schließen, dies sei ein weiterer Beweis für Dürers Obsession, sich mit Christus zu identifizieren, wäre jedoch absurd. Hätte er sich, was wir nicht wissen, wirklich vom Christusmonogramm anregen lassen, dann hätte er, wie auch im Falle der vera icon, lediglich eine prägnante visuelle Form adaptiert, ohne damit auch deren Inhalt übernehmen zu müssen. Dürers Monogramm kann allerdings schon deshalb nicht dieselbe Potenz beanspruchen wie das Christusmonogramm, weil es nicht als Chiffre für einen allgemeinen Begriff dient, sondern nur als Abkürzung seines Eigennamens. Daher kann Dürer das Antlitz in seinem Selbstporträt auch nicht vor sein Monogramm stellen, sondern nur daneben. Hier hat keines von beidem die Priorität; beide sind vielmehr gleichberechtigt, und daher erscheinen sie auch in einem gemeinsamen Raum, zu dem überdies noch die Inschrift gehört, die auf der anderen Seite des Gesichts als Pendant zu dem Monogramm erscheint. In dieser räumlichen Nähe von Monogramm, Gesicht und Inschrift offenbart sich eine logische Affinität, die durch die visuelle Struktur des Gemäldes deutlich hervorgehoben wird. Offenkundig sind es, ähnlich wie bei van Eyck, zwei Linien, die das Gemälde beherrschen: zum einen eine Senkrechte, die das Bild wie auch den abgebildeten Körper in zwei spiegelsymmetrische Hälften zerlegt, zum anderen eine Waagerechte, die zunächst durch die Pupillen der Augen bestimmt wird, dann aber, nach links verlängert, ebenso durch den mittleren Querstrich des großen »A« verläuft, wie sie, nach rechts verlängert, zur Hilfslinie für die Buchstaben der obersten Schriftzeile wird, die den Namen des Abgebildeten angibt: »Albertus Durerus Noricus«. Schon dadurch, dass sie auf einer Linie liegen, geben sich Monogramm, Gesicht und Name als das zu erkennen, was sie sind: drei verschiedene, aber austauschbare Ausgabeformate derselben Information. Zwei Jahre früher, in Dürers Selbstporträt von 1498, war das noch anders (Abb. 9). Hier gibt es noch keine Äquivalenz von Schrift und Bild, obwohl auch hier schon eine Inschrift verwendet wird: »Das malt Ich nach meiner gestalt / Ich war sex vnd zwenzig Jor alt.« In diesem Satz spricht der Urheber des Gemäldes in der ersten Person Singular, unter Verwendung des Wortes »Ich«, über sein fertiges Bild und dabei benutzt er, dem Zweck völlig angemessen, seine eigene Handschrift, genauer gesagt: eine gemalte Simulation dieser Handschrift, wie sie uns aus seinen Aufzeichnungen bekannt ist. Hier ist die Inschrift ein Paratext. Sie hat den Charakter einer nachträglichen Beglaubigung. Daher

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9 Albrecht Dürer: Selbstbildnis, 1498, Öl auf Holz, 52 × 41 cm, Madrid, Museo del Prado.

wird sie, wie bei einer rechtlich verbindlichen Urkunde, mit vollem Namen unterzeichnet und zusätzlich mit dem Monogramm, wie mit einem Siegel, bekräftigt. Bezeichnenderweise ist dieses Selbstbildnis das erste Gemälde, in das Dürer sein Monogramm eingesetzt hat, wohingegen er es zuvor – genau wie Schongauer – nur in der Druckgraphik verwendet hatte. Für das Monogramm ist das Selbstbildnis natürlich eine besonders geeignete Umgebung, denn es dient ja ebenfalls der Bezugnahme des Malers auf sich selbst. Trotz dieser funktionalen Gleichartigkeit hat die bildhafte Selbstdarstellung hier aber noch eine offenkundige Priorität gegenüber der Selbstbenennung mit Hilfe der Sprache. Dürer sucht, wie man mit Lacan sagen könnte, seinen Platz noch in der Sphäre des Imaginären. Das zeigt sich schon daran, dass er in der Inschrift nachdrücklich darauf besteht, die Darstellung gäbe sein Aussehen getreulich »nach seiner Gestalt« wieder. Dürer will, was der Spiegel ihm zeigt, noch gehorsam aufnehmen, um daran festzuhalten. Er kann sich in seinem Bild noch freudig erkennen, oder, wie man wiederum

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mit Lacan sagen könnte: verkennen. Noch ganz arglos zelebriert das Gemälde die glanzvolle Erscheinung des Künstlers. Diese ergibt sich allerdings ihrerseits nur als Ergebnis einer aufwendigen gestalterischen Inszenierung mit den Mitteln der Kosmetik und der haute couture. Wie man sieht, trägt Dürer schulterlanges, mit der Brennschere gelocktes Haar und einen sorgfältig gepflegten Bart. Beides war zu seiner Zeit ungewöhnlich und trug dem »haarig partet maler«, wie er sich selbst in einem Gedicht nannte, immer wieder Spott und Häme ein. Anscheinend wollte Dürer sich schon in seinem Äußeren dem Aussehen Christi annähern, wie er sich dieses aufgrund der ihm zugänglichen Quellen vorstellen musste. Obgleich also sein Selbstporträt von 1498 noch nicht aussah wie ein Christusbild, sah er selbst immerhin schon so aus wie Christus. Doch diese imitatio christi ist weder religiös noch ethisch begründet, sondern beschränkt sich auf bloße Äußerlichkeiten, denn schon hier frönt Dürer hemmungslos seiner Vorliebe für kostbare Kleidung und modische Accessoires. Daher hat aus seinem früheren Selbstbildnis auch noch niemand die Behauptung abgeleitet, Dürer habe sich schon hier mit Christus identifiziert, denn weitaus angemessener scheint es, statt dessen einen für das Individuum der frühen Neuzeit typischen Fall von self-fashioning zu konstatieren.

IN DER ORDNUNG DES SYMBOLISCHEN Im Vergleich mit dem Gemälde von 1500 wird deutlich, wie wenig von dieser naiven Selbststilisierung übriggeblieben ist. Hier findet sich nichts mehr von der zwanglosen, ja, schwelgerischen Identifikation mit dem eigenen Bild. Nun hat Dürers Erscheinung eher etwas Gezwungenes. Das ist kein Wunder, denn sie ergibt sich tatsächlich unter äußerem Zwang. Dürer konzipiert seine Selbstdarstellung nicht mehr von innen, sondern von außen, aus der Perspektive der dritten Person. Dementsprechend vermeidet er in seiner Inschrift nun auch das Wort »Ich«. Er bezeichnet sich selbst noch nicht einmal mehr so, wie er es als Kind gelernt hat, nämlich als Albrecht Dürer, sondern wählt einen Namen, der mit einem weitaus objektiveren Anspruch auftritt und eher nach einem offiziell verliehenen Ehrentitel klingt: »Albertus Durerus Noricus«. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Dürers Selbstbildnis von 1500 als eine absichtsvoll inszenierte Deklaration seines Eintritts in die Ordnung des Symbolischen zu verstehen ist. Es geht nicht mehr um eine narzisstische Selbstbespiegelung, sondern um den planvollen Entwurf eines Bildes für die anderen. Deshalb hat auch die Schrift nun nicht länger eine nur dienende und sekundäre Funktion wie noch in seinem Gemälde von 1498, in dem die Inschrift im Grunde noch nicht einmal direkt mit ihrer Botschaft hervortreten darf. Auf der dicken, leicht schräg stehenden Mauer unterhalb des Fensters erscheint sie vielmehr nur als ein Teil des sichtbaren Raumes, als etwas Vorgefundenes, das ebenso wie alles andere im Bild exakt wiedergegeben werden muss. Die Schrift wird hier also eigentlich nur zitiert.

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10 Albrecht Dürer: Selbstbildnis, 1500 (Detail), München, Alte Pinakothek.

Im Jahr 1500 erscheint die Inschrift demgegenüber mit der ganzen Autorität ihrer direkt an uns gerichteten Behauptung. Deshalb »schwebt« sie nun auch, wie das Gesicht der vera icon, ohne realen Kontext im Leeren. Man liest diese Inschrift wie man den Text in einem Buch liest, wobei man nicht die Buchstaben betrachtet, sondern ihren Sinn zu erfassen versucht. Ihr Träger, sei es die Buchseite, sei es die Leinwand, wird dabei so transparent, dass er verschwindet. Deshalb kann der Hintergrund in Dürers Gemälde nur ein unbestimmter, dunkler Raum sein, denn nur so tritt er vollends zurück. Wäre er zum Beispiel weiß wie Papier, nähme er sofort den Charakter einer getünchten Wand an, auf der die Schrift aufgemalt ist. Nur wenn er nicht gegenständlich interpretiert werden kann und stattdessen eine völlig unbestimmbare Tiefe suggeriert, erhöht der Grund die irreale Präsenz dessen, was die Schrift zu sagen hat. Die Inschrift entfernt sich von ihrer materiellen Gegenständlichkeit aber auch dadurch, dass sie nicht länger den Eindruck erweckt, sie sei von einer menschlichen Hand geschrieben. Die Schrift gibt sich vielmehr ausdrücklich den Anschein, sie sei eine gesetzte (Abb. 10). Zwar ist nicht mit Gewissheit zu erkennen, ob Dürer dabei eine bestimmte Schrifttype übernehmen wollte, aber eines dürfte klar sein: Er orientiert sich an den modernsten Schriften seiner Zeit, an den erst kurz zuvor entwickelten AntiquaSchriften, die unter anderem von Aldus Manutius in seinen um 1500 in Venedig gedruckten Büchern verwendet wurden und von Pionieren der neuzeitlichen Typographie wie Nicolas Jenson entwickelt worden waren. Um die Gestaltung seiner Inschrift nach Art der Schriftsetzer zu betonen, benutzt Dürer, anders als zwei Jahre zuvor, von der zweiten auf die dritte Zeile sogar eine Silbentrennung, die nur deshalb notwendig wird, weil der Text auf Mitte gesetzt ist, so wie zum Beispiel auf mehreren Seiten der zur selben Zeit

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gedruckten Hypnerotomachia Poliphili. Als Alternative zur Handschrift dient Dürer nicht die römische Capitalis, die in Marmor gemeißelten Ewigkeitsschrift der Vergangenheit: Er vertraut auf die Schriften der Zukunft. Unerklärlich scheint dabei zunächst der seltsame Bogen, der von dem kleinen »a« des Wortes »anno« ausgeht. Dieser wäre bestenfalls bei einem großen »Q« am Platz, ist hier aber, typographisch gesehen, nicht korrekt. Doch dann erkennt man, dass seine Funktion vor allem darin besteht, die Schrift so weit wie möglich in ihre Umgebung einzubinden. Da Buchstaben mit ihrer Zweidimensionalität immer eine Fläche definieren, in der sie sich anordnen, erzeugen sie unweigerlich eine imaginäre Ebene, die sich durch den nach unten gezogenen Bogen zusätzlich ausdehnt, um letztlich auf den gesamten oberen Teil des Gemäldes auszustrahlen. Unterstützt wird diese Expansion durch das Monogramm auf der gegenüberliegenden Seite des Gesichts. Es ist ebenfalls so gestaltet, dass es sich möglichst fest in der Fläche verankern und darin ausdehnen kann, denn das »A« bildet an seiner Spitze keinen Winkel, sondern dehnt sich in die Breite, so dass die oberen Enden der beiden Seitenlinien durch einen Querbalken verbunden werden müssen. Diese Schreibweise, die auch van Eyck benutzte, aber schon in Werken der frühchristlichen und byzantinischen Kunst zu finden ist, dient bei Dürer zunächst offenkundig dazu, die Fläche des »A« so zu erweitern, dass noch ein »D« hineinpasst. Zugleich erzeugt sie aber auch eine betont flächige Gesamtstruktur des Monogramms, die sich schon darin zeigt, dass es sehr gut auf kleine Täfelchen passt. Wenn sich das Monogramm und die Inschrift aber, wie gezeigt, über die gesamte Breite des Bildes hinweg in einer gemeinsamen Ebene verbinden, dann muss man sich fragen, wo diese im Bildraum zu lokalisieren ist. Diese Frage lässt sich deshalb nicht abweisen, weil Dürers Gemälde wie ein transparentes Fenster in einen fiktiven Bildraum konzipiert ist, in dem sich nicht nur ein Mann befindet, sondern auch die Schrift. Man könnte sich diese Schrift nun wie auf einer großen Glasscheibe vorstellen, die vor oder hinter Dürer aufgestellt wurde. Doch keine dieser beiden Möglichkeiten wird durch die Anschauung des Bildes bestätigt, und das kann nur bedeuten, dass die Schrift und die Figur in ein und derselben Ebene liegen. Die Ebene der Schrift geht mitten durch den Kopf hindurch und zerschneidet ihn. Dabei wird ein so starkes Kraftfeld induziert, dass im oberen Teil des Bildes alle Volumen sichtbar zusammenschrumpfen. Der Schädel, eigentlich eher eine Kugel, wird zu einem flachen, kaum noch gewölbten Relief mit einem Gesicht, das sich durch seine Flächigkeit und seine Frontalität dem Monogramm und der Inschrift zu seinen beiden Seiten assimiliert. In diesem Kontext wirkt der Kopf sogar noch weitaus flacher als er tatsächlich wiedergegeben ist, denn isoliert von seiner Umgebung betrachtet, zeigt er durchaus noch eine gewisse Plastizität. So hebt sich zum Beispiel der – von uns aus gesehen – linke Zipfel des Oberlippenbartes ein wenig vom Unterkiefer ab und wirft sogar einen kleinen Schatten. Dürers Gesicht ist also kein zum Leben erwecktes Schema wie man es im Gemälde von Jan van Eyck sieht. Dürers Gesicht ist ein wirkliches Gesicht; es fügt sich zwar eben-

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falls in die zugrundeliegende Figur des Kreuzes, doch anders als bei van Eyck dient seine streng symmetrische Platzierung im Bild eher dazu, die naturgemäße Asymmetrie und Unterschiedlichkeit der beiden Gesichtshälften nur umso deutlicher hervorzuheben. Die auffällige Stirnlocke dreht sich nur zur einen Seite, die Spitze des Mundes zur anderen, die Augen sind von erkennbar verschiedener Form, und die seitliche Beleuchtung tut ein übriges, der rechten Seite des Gesichts durch die Schatten an Nase, Stirn und Wange ein völlig anderes Aussehen zu verleihen als der linken.

LESBARKEIT – UND SCHREIBBARKEIT – DES GESICHTS Gerade deshalb, weil hier nicht nur zum Schein eine reale Person porträtiert wird, entfaltet die dem Bild zugrundeliegende geometrische Struktur eine besonders nachhaltige Wirkung. Sie lässt es möglich erscheinen, auch beliebige andere Köpfe in derselben Weise ins Bild zu setzen und ihre Position innerhalb des gegebenen Formats zu justieren. Dürers Gesicht bietet sich in seinem Gemälde so dar, wie wir es seit Alphonse Bertillon von Verbrecherfotos gewohnt sind, und wie es in unserer Gegenwart auch für die Erfassung biometrischer Daten durch den Computer erforderlich ist. Das Koordinatensystem, an dem es sich ausrichtet, erlaubt es, unendlich viele Kombinationen von Augen, Nasen und Mündern zu erzeugen. Ein solches Verfahren, das heute vor allem bei der Polizei zur Erstellung von Phantombildern verwendet wird, funktioniert nur bei strenger Frontalität. Nur sie ermöglicht die größtmögliche Vergleichbarkeit. Dabei wird das Gesicht zum Einzelfall einer Typologie, in deren Zusammenhang es sich, wie die bedeutungstragenden Elemente einer Sprache, nur durch die jeweils spezifische Differenz gegenüber allen anderen Gesichtern definiert. Auf diese Weise wird das Gesicht »lesbar«. Bekanntlich begann Dürer, nachdem er von Jacopo de’ Barbari nur vage Andeutungen hierzu erhalten hatte, in der Zeit um 1500 auf eigene Faust die Maßverhältnisse des menschlichen Körpers zu erforschen. Dabei entstanden unter anderem seine beidseitig zu betrachtenden Zeichnungen von nackten menschlichen Gestalten, wobei diese auf der einen Seite auf ein Gerüst von Linien und Kreisen reduziert sind, während sie sich auf der anderen Seite in der prallen Fülle ihrer Fleischlichkeit präsentieren. Die realen Körper erscheinen dabei als physische Realisierungen von abstrakten, geometrischen Strukturen. In ähnlicher Weise analysierte Dürer auch menschliche Gesichter. Exemplarisch für seine Methode ist eine Doppelseite aus dem dritten der Vier Bücher von menschlicher Proportion, die Dürer noch kurz vor seinem Tod für den Druck im Eigenverlag fertigstellen konnte (Abb. 11). Ein Kopf wird einmal en face und einmal im Profil in ein Raster von horizontalen und vertikalen Linien eingezeichnet. Diese beiden Ansichten müssen wir uns, wie der Text erläutert, als zwei Seiten eines Quaders vorstellen, in den der Kopf eingepasst ist. Wir sehen also, wie bei einer Architekturzeichnung, sowohl die »Fassade« des

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11 Albrecht Dürer: Vier Bücher von menschlicher Proportion, Nürnberg 1528, Bd. 3, fol. P 4.

Kopfes als auch eine seiner Seitenansichten im Aufriss. Bei der Frontalansicht fallen die Augen, die dazwischen liegende Wurzel der Nase, ihr Rücken, ihre Flügel sowie die Oberlippe und die Unterlippe jeweils in ein eigenes Feld. Nun können alle möglichen Varianten dieser zentralen Elemente des Gesichts ganz einfach dadurch erzeugt werden, dass man das Raster – und damit zugleich seine Felder – dehnt oder staucht oder anderen topologischen Transformationen unterwirft. Diese Technik des morphing erlaubt es, jedes Gesicht in unzählige andere zu verwandeln. Für das Selbstporträt von 1500 hat Dürer ein solches Verfahren anscheinend auch auf sein eigenes Gesicht angewendet, denn es sieht nun ein wenig anders aus als zwei Jahre zuvor. Offenbar wurde es in der Vertikalen gestreckt und im Bereich des Unterkiefers seitlich gedehnt, so dass es insgesamt eine deutlicher hochrechteckige Form annimmt. Außerdem hat Dürer, der – wie wir wissen – blond war, seinen Haaren eine neue, bräunliche Tönung verliehen. Ganz anders als das in der vera icon sichtbare Antlitz Christi zeigt sich Dürers Gesicht also nicht mehr in unmittelbarer und ganzheitlicher Präsenz. Sein Gesicht wurde vielmehr bewusst in Elemente zerlegt, um diese dann nach Belieben neu zusammensetzen zu können. Damit wird das Gesicht zu einem Konstrukt; es ist nicht länger etwas Vorgefundenes, sondern etwas Erzeugtes. So gesehen entzieht Dürer seinem Selbstporträt gerade jene Authentizität, die das Christusbild mehr als alle ande-

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ren Bilder auszeichnen muss. Er bleibt zwar der Urheber – der αὐθέντες – seiner Selbstdarstellung, doch diese ist keine unmittelbare Emanation seiner selbst, sondern – im Gegenteil – das Resultat einer kunstvollen Manipulation einer begrenzten Anzahl von Variablen. Das gilt sogar für die maltechnische Ausführung. Eine chemische Analyse der Pigmente hat ergeben, dass Dürer für sein Gemälde lediglich vier Farben verwendet hat: Weiß, Gelb, Rot und Schwarz. Es sind dies die Farben der vier Körpersäfte wie auch die der vier Elemente. Zudem standen, wie Plinius berichtet, den größten Malern der Antike nur diese vier Farben zur Verfügung, um daraus – »ex albis Melino, e silaciis Attico, ex rubis Sinopide Pontica, ex nigris atramento« – ihre Meisterwerke zu schaffen. Nun gab es 1500 in Nürnberg zwar nicht genau dieselben Pigmente, zu denen schon Apelles gegriffen hatte, aber immerhin entschied sich Dürer ganz bewusst, sein Gemälde mit denselben Farben auszuführen. So kann man es verstehen, dass in der Inschrift eigens betont wird, das Bild sei mit »propriis coloribus«, also den für den Anlass angemessenen Farben gemalt worden. Sicherlich erhebt Dürer hiermit auch den Anspruch, als der »neue Apelles« anerkannt zu werden, als der er von Conrad Celtis im Jahr der Entstehung des Selbstbildnisses gefeiert wurde. Aufschlussreicher ist jedoch, dass Dürer sogar noch in der Farbgestaltung an dem Grundsatz festhält, das Bild aus der Kombination einer endlichen Anzahl von Elementen hervorzubringen.

DÜRERS ANTLITZ : EINE INK ARNATION SEINES MONOGR AMMS Albrecht Dürer, das sollte damit deutlich werden, bildet sein Gesicht wie man ein Wort oder einen Satz aus Buchstaben bildet. Dementsprechend ist der Umstand, dass er seinem Antlitz ein planimetrisches Raster unterlegt, keineswegs als ein Versuch zu werten, sich an den ewigen, von Gott in den Strukturen des Kosmos niedergelegten Maßverhältnissen zu orientieren. Eine solche Auffassung, die vor allem von Franz Winzinger begründet wurde, wird bis heute immer wieder aufgegriffen. Winzinger legt eine Konstruktion aus einem Dreieck, mehreren Quadraten und Rechtecken sowie einem Kreis über den oberen Teil des Gemäldes (Abb. 12). Als Beweis für die Angemessenheit dieser Konstruktion führt er die Tatsache an, dass sich die darin illustrierten Maßverhältnisse bereits in van Eycks Christusbild auffinden lassen. Doch damit ist nichts bewiesen, denn sein Schema lässt sich ohne weiteres auch auf jedes andere Gesicht projizieren, sofern es sich nur in strenger Frontalität darbietet. Dass Winzinger seine Konstruktion ohnehin nicht aus der Anschauung des Gemäldes, sondern aus einer prinzipiellen Vorliebe für geometrische Grundformen abgeleitet hat, erweist sich schon daran, dass er die Linie, die durch Dürers Augen definiert wird, seinem Schema zuliebe nicht durch die Pupillen, sondern weiter oben verlaufen lässt und sie weder nach links bis zum Monogramm noch nach rechts bis zur Inschrift durchzieht. Die – eigentlich unübersehbare – Präsenz der Schrift wird dabei vollkommen missachtet.

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12 Albrecht Dürer: Selbstbildnis, 1500 (mit Schemazeichnung von Franz Winzinger, aus: Albrecht Dürers Münchener Selbstbildnis, in: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 8/1954, S. 53).

Doch im Selbstbildnis von 1500 ist die Schrift, wie hier dargelegt wurde, keineswegs nur eine sekundäre Zutat, die man getrost ignorieren darf. Sie entfaltet vielmehr eine so starke Wirkung, dass unter ihrem Eindruck selbst das Gesicht eine schriftkonforme Gestalt annimmt. Das ist sogar ganz wortwörtlich zu verstehen. Da die Mittelsenkrechte des Bildes als Symmetrieachse dient, fordert die Konturlinie der gelockten Haare, die sich auf der linken Bildseite deutlich vor dem dunklen Hintergrund abhebt, eine ebensolche Entsprechung auf der rechten Seite. Hier, wo die einzelnen Strähnen keine so klare Form ergeben, unterstellt man also eine spiegelsymmetrische Linie, so dass der Kopf mitsamt seiner Haarpracht insgesamt in ein Dreieck eingepasst wird. Die waagerechte Grundlinie dieses Dreiecks wird, anders als in Winzingers Schema, unmissverständlich durch die Oberkante des zwar kleinen, aufgrund seiner Helligkeit aber kompositorisch sehr wirksamen Zipfels des weißen Hemdes markiert. Die Locken dürfen sich, da sie elastisch sind, noch ein wenig nach unten über diese Linie hinabkringeln. Da ein Kopf aber naturgemäß

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13 Albrecht Dürer: Selbstbildnis, 1500 (mit Schemazeichnung des Verfassers).

niemals spitz zuläuft wie ein Dreieck, bleibt dieses im oberen Teil leer. Schneidet man diesen leeren Teil ab, ergibt sich ein gleichseitiges Trapez. Damit hat man genau jene Form, die Dürer für das »A« seines Monogramms gewählt hat. Zwischen dem Kopf und dem »A«, das sich links daneben befindet, ergibt sich also eine deutliche formale Korrespondenz. Wenn man das »A« vergrößert und es dann so auf das Antlitz legt, dass sein oberer Querstrich den Abschluss des Kopfes markiert, fällt der untere Querstrich auf die – für das Bild höchst bedeutsame – Linie, welche die Augen mit dem Monogramm und dem Namen verbindet. Alternativ könnte man auch ein etwas kleineres »A« so auf das Gesicht legen, dass dessen oberer Querstrich durch die Augen geht und der untere durch den Mund. In einer Schemazeichnung ist leicht zu erkennen, dass beide Möglichkeiten durch ihre visuelle Plausibilität gleichermaßen überzeugen, wobei sie sich auch gar nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen (Abb. 13). So wie Dürer seinem Namen in Gestalt des Monogramms ein Gesicht gegeben hatte, verleiht er

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14 Geofroy Tory: Champ f leury. Auquel est contenu l’art et Science de la deue et vraye Proportion des Lettres Attiques […] proportionnées selon le Corps et Visage humain, Paris 1529, Bd. 2, fol. 18.

nun auch seinem Gesicht die Prägnanz seines Monogramms. Dürer erschafft sich sozusagen ein typeface, und daher spricht aus der auffälligen Frontalität seines Gesichts auch nicht allein die der Ikone, sondern ebenso die des Buchstabens. Dass zwischen dem »A« und dem Antlitz eine solche Affinität besteht, mag für uns heute seltsam erscheinen. Es ist aber insofern kaum verwunderlich, als Dürer sich bei seinen Konstruktionen »mit dem zirckel vnd richtscheyt« ja nicht auf Gesichter und nackte Leiber beschränkt, sondern sich auch mit der Gestaltung von Buchstaben beschäftigt. Diese zeichnet er ebenso in ein Raster von Linien und Kreisen ein wie seine menschlichen Körper. Um 1500 war es sogar üblich, beides – den Leib und die Lettern – in Proportionsstudien zu überlagern. Leider ist uns von Dürer keine solche Darstellung bekannt, deshalb sei hier auf eine Illustration aus der typographischen Abhandlung Champ f leury von Geofroy Tory verwiesen, die ein Jahr nach Dürers Tod publiziert wurde (Abb. 14). Zu seinem »A« bemerkt Tory, der Querstrich liege sinnigerweise genau dort, wo er das Geschlecht bedeckt. Das sei ein Hinweis auf die Demut und Keuschheit, die man mehr als alles andere von denen erwarten muss, die sich mit den Buchstaben beschäftigen, denn das »A« steht ja in jedem Alphabet am Anfang und ist dessen erster Zugang. Wollte man diesen Gedanken ein wenig fortführen, müsste man annehmen, Dürer habe den Querstrich bei seinem »A« nur deshalb nach oben verlegt, damit zwischen seinen Beinen das phallische »D« hervorschauen kann. Dieses »D« vertritt seinen Nach-

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namen, es benennt die Familie, die sich bis zu ihm fortgepflanzt hat, sich durch ihn aber nicht weiter fortpflanzen wird. Albrecht bleibt bekanntlich kinderlos; er ist nur noch er selbst, und so darf sich in seinem Gesicht auch nur das »A« verkörpern. Das »D« sinkt dabei nach unten herab und neigt sich ein wenig zur Seite, so dass es in Gestalt der Hand gerade noch zu erahnen ist. Auf diese Weise erinnert es nur noch von fern an Dürers Genealogie, über die sich seine Autonomie als Individuum in der Form des »A« bereits erhoben hat. Das ist der Grund, warum das »A« – genau wie schon in Dürers Monogramm – gegenüber dem »D« auch in seinem Selbstbildnis von 1500 die dominante Rolle spielen muss.

DAS FLEISCH, DAS ZUM WORT WIRD Diese Überlegungen gehen zwar sehr ins Spekulative, passen aber erstaunlich gut zu dem bislang noch nicht erwähnten Umstand, dass in Dürers Gemälde ein subtiler Antagonismus von Oben und Unten zu bemerken ist. Bisher wurde nur betont, dass sich das Bild an zwei Linien ausrichtet: zum einen an der waagerechten, die das Monogramm über die Augen mit dem Namen verbindet, und zum andern an der senkrechten, die sich als Symmetrieachse zentral durch das gesamte Bild zieht. Die Horizontale ist – konventionsgemäß – die Achse der Schrift; die Vertikale ist – naturgemäß – die Achse des Leibes. Sie beharrt auf der Verbindung von Kopf und Körper, die durch die Allianz des Antlitzes mit den Buchstaben bereits sichtbar bedroht wird. Der Machtbereich der Schrift reicht jedoch nur bis zu der bereits erwähnten waagerechten Linie herab, die durch den Saum des weißen Hemdes markiert wird. Dementsprechend müssen hier auch alle Schemata enden, die eine dem Kopf zugrundeliegende Struktur enthüllen wollen. Die obere Zone des Bildes mit ihrer demonstrativen Frontalität und Flächigkeit findet hier ihre natürliche Grenze. Unterhalb dieser Grenze sieht alles anders aus. Hier stoßen wir auf ein Residuum des Leibes, der sich weigert, eine schriftförmige Gestalt anzunehmen. Das zeigt sich schon daran, dass im unteren Teil des Gemäldes, vor allem um die Hand herum, noch der Eindruck entsteht, es gäbe ein wenig »Luft«. Aber auch hier kann sich der Bildraum nicht in die Tiefe öffnen, da er durch den Körper des Künstlers ganz und gar verstellt wird. Der Raum, den wir um die Hand herum wahrnehmen, kann sich nur nach vorn – also zu uns – ausdehnen. Doch selbst diese beschränkte Bewegungsmöglichkeit wird von der Hand nicht genutzt. Sie greift nicht nach vorn, wie zum Beispiel die Hand des salvator mundi in den Gemälden von Antonello da Messina und Giovanni Bellini. Oben richtet sich Dürers Blick aus dem Bild heraus, unten wendet sich seine Hand in das Bild zurück. Das ist insofern verständlich, als das Bild durch eben diese Hand hervorgebracht wurde. Deshalb kann sie, anders als das Gesicht, auch keine emblematische Form annehmen, um darin für alle Zeit zu verharren. Ihre seltsam gespreizte Haltung wird sie nicht lange

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aufrechterhalten, und was dann geschieht, ist nicht vorherzusehen. Mit ihren geschwollenen Venen wirkt die Hand fast ein wenig ordinär, doch das ist unvermeidlich, da sie sich ja, wie bereits angedeutet wurde, als Organ des Zeugens und Erzeugens präsentiert. Je weiter wir uns aber auf der Mittelachse des Bildes von der Hand nach oben bewegen, desto mehr tritt alles Handgreifliche zurück. Am Ende erinnert nichts mehr an die Entstehung des Bildes aus körperlicher Anstrengung, und so macht das gesamte Gemälde schließlich nur noch den Eindruck als sei es ganz ohne die Hand – wie durch einen Akt der ἀχειρποίησις – entstanden. Man sieht keine Pinselstriche, jede Spur von Arbeit und Dauer ist verschwunden, und so steht das Bild schon beim ersten Blick in makelloser Vollendung vor uns, wie eine Spiegelung. Die Hand dient also dazu, sich von ihr selbst und ihrer Verhaftung im Physischen zu befreien. Das stumme Ausführungsorgan zeugt schließlich eine rein sprachlich bestimmte Identität. Deshalb findet, weniger auffällig als bei der vera icon, aber ebenso konsequent, auch in Dürers Selbstbildnis eine Ablösung des Kopfes von seinem Körper statt. Während sich unten noch die taktile Sphäre des realen Handelns bemerkbar macht, dominiert oben die visuelle Welt zeitlosen Sehens und Verstehens. Das Gesicht, ohnehin schon der am wenigsten körperliche Teil des Körpers, trennt sich in einem nahezu unmerklichen Übergang von unten nach oben von seinem leiblichen Träger, um sich mit den Buchstaben zu verbünden und in die spirituelle Welt der Gedanken einzutreten, und damit – caro verbum facta est – wird aus dem Fleisch das Wort. Dürers Selbstbildnis von 1500 zelebriert eine Transsubstantiation des Leibes, bei der sich dieser am Ende vollends den Lettern anverwandelt. Angesichts dessen ist man vielleicht geneigt, der seltsamen Geste der beiden Finger, die sich, offenbar völlig unbewusst, der Liebkosung eines kleinen Pelzbüschels hingeben, eine symptomatische Bedeutung beizumessen. Will Dürer durch diese unscheinbare Geste der Übermacht des Visuellen womöglich ein kleines taktiles Widerstandspotential entgegensetzen? Werden wir Zeugen eines kurzen, nicht beabsichtigten Moments des Innehaltens und der Absorption in sich selbst, hervorgerufen aus einer tiefen Irritation und dem daraus folgenden Wunsch, sich seiner selbst zu vergewissern? Der Maler, so könnte man meinen, erschrickt über seine eigene Verwandlung und fragt sich: Mein Gott, was ist aus mir geworden? Doch das wäre eine unzulässige Deutung aus der Distanz derer, die sich dem Gemälde erst fünfhundert Jahre nach seiner Entstehung zuwenden und schon zu viele Texte von Deleuze und Guattari studiert haben. Für Dürer war es gewiss noch nicht erstrebenswert, sein Gesicht abzulegen und anonym zu werden wie das Tier oder der Wind. Sein Gemälde beweist vielmehr, dass er sich überhaupt erst einmal ein unverwechselbares Gesicht verschaffen wollte, um dieses dann nach Möglichkeit nie wieder zu verlieren. Wenn Albrecht Dürer sich hierbei an der vera icon orientiert, dann kann also gar nicht deren Referenz von Interesse sein, sondern nur die Art und Weise der Bezugnahme auf das Dargestellte. Das Christusbild wird nicht deshalb zum Vorbild, weil es Christus

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zeigt und auf ihn verweist, sondern deshalb, weil dieses Bild, mehr als jedes andere, die übersinnliche Präsenz eines real nicht mehr Anwesenden evoziert, und weil es zudem Teil eines ganzen Systems von Überzeugungen ist, die sich damit verbinden. Auch Dürer zielt mit seinem Selbstbildnis auf weit mehr als nur die sinnliche Präsentation seiner realen Erscheinung. Die Wiedergabe seines Gesichtes ist vielmehr nur eine Komponente eines komplexen mentalen Konstrukts, das wir mit seiner Person verbinden sollen. Deshalb ist – deutlicher als bei der vera icon – eine direkte Allianz des Bildes mit der Schrift vonnöten, denn nur die Schrift verweist schon aus sich selbst heraus auf Bedeutungsgehalte, die nicht von dieser Welt sind. Sie ist das säkularisierte Jenseits. Als unendlich vervielfältigbare Druckschrift ermöglicht sie zudem – wie die Kopien der vera icon – auch noch die irdische Allgegenwart jenes Jenseitigen. Da die von Dürer erstrebte potenzielle Allgegenwart seiner selbst und seines guten Namens aber nicht durch eine bereits fest etablierte Institution wie die der Kirche gesichert wird, zehrt sein Selbstbild bestenfalls metaphorisch von der alten sakralen Kraft des Christusbildes. Faktisch kann es nämlich nur auf die neue – gleichermaßen überirdische – Potenz der gedruckten Schrift vertrauen.

DIE MACHT DER BETR ACHTER Für Dürer ist das Gesicht – wie der Name – ein Visum. Beides dient dazu, sich vor den Instanzen der Macht auszuweisen. Diese Macht hatte um 1500 aber ihrerseits nicht länger ein klar erkennbares Gesicht. Mit seinem Selbstbildnis trat Dürer keineswegs nur seinem Vater oder den zu seiner Zeit Herrschenden unter die Augen. Er stellte sich auch nicht dem Christus des Jüngsten Gerichts von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er liefert sich vielmehr einer Macht aus, die völlig ungreif bar und unfassbar ist. So wie ein gedruckter Text – wie zum Beispiel der vorliegende – nicht nur bestimmte Personen anspricht, sondern alle, die ihn jemals lesen wollen, so wendet sich auch Dürers Selbstbildnis an die unbestimmbare Menge derer, die jemals einen Blick darauf werfen werden. Wie auch seine anderen Selbstporträts hat Dürer das Gemälde von 1500 zu Lebzeiten weder verkauft noch verschenkt. Bis zu seinem Tod blieb es in seinem Haus, in dem er auch seine Werkstatt führte. Man hat deshalb vermutet, das Bild sei nur für eine begrenzte Gruppe von Betrachtern gedacht gewesen, um es zum Beispiel als exemplarische Probe seines Könnens den Schülern und möglichen Auftraggebern zeigen zu können. Einleuchtender ist jedoch die Annahme, das Selbstbildnis sei von vornherein für die Zeit nach Dürers Ableben konzipiert worden. So wie Christus noch nach dem Ende seiner menschlichen Existenz auf Erden weiterhin für uns gegenwärtig ist, so will auch Dürer für die Nachwelt präsent bleiben. Zu diesem Zweck legt er sich genau in der Mitte seines Lebens – achtundzwanzig Jahre nach seiner Geburt und achtundzwanzig Jahre vor seinem Tod – zusätzlich zu seinem realen Körper einen zweiten, einen symbolischen Körper zu. Dieser soll überleben, wenn der Leib aus Fleisch und Blut schon verwesen muss.

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15 Hans Wühr: Das Deutsche Antlitz in der Kunst. Albrecht Dürer: Selbstbildnis, in: Die Kunst im Dritten Reich 3/1939, S. 258–259.

Da hier auf Ernst H. Kantorowicz angespielt wird, muss natürlich hinzugefügt werden, dass es »die zwei Körper des Künstlers« nur dann geben kann, wenn der zweite durch geeignete Rituale am Leben erhalten wird. Ob Dürer in seinem Bild wirklich weiterlebt, hängt also nicht von diesem Bild selbst ab; es hängt allein davon ab, was die Betrachter mit ihm machen. Selbst Christus kann nur deshalb in seinem Bild – wie auch in der Hostie – anwesend bleiben, weil seine Anhänger daran glauben und seine fortdauernde Gegenwart immer wieder rituell bekräftigen. Ebenso kann sich Dürer in seinem Bild zwar eine Gestalt geben, die seiner Präsenz über alle Beschränkungen des Ortes, der Zeit und der leiblichen Existenz hinaus förderlich ist, und zu diesem Zweck übernimmt er ja auch die Bildform der vera icon mit ihrer strengen Frontalität, ihrer Transformation des physischen Körpers in ein bildhaftes Zeichen und ihrer direkten Zuwendung zu denen, die sie betrachten. Doch Dürer kann uns nur dann ebenso nahe bleiben wie Christus den Christen, wenn sein Bild in Handlungszusammenhänge eingeht, die denen der kirchlichen Liturgie insofern ähneln, als sie uns immer wieder vor Augen führen, welche Bedeutung die Präsenz des Dargestellten auch heute noch für uns hat. Seinem Gemälde eine solche Funktion zu verleihen, lag nicht in Dürers Macht. Er konnte ihm nur die dafür geeignete Form geben.

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16 Jan Bauer: Jonathan Meese, Fotografie, Vorderseite einer Einladungskarte der Galerie Haas Zürich zur Ausstellung »Schergentony Suzy Wong«, 2006, 26,8 × 20,9 cm.

Zur Zeit seiner Entstehung war Dürers Selbstbildnis also nichts als ein ungedeckter Scheck, der erst in der Zukunft eingelöst werden konnte. Nur die, die nach ihm kamen, konnten seinem Bild die von Dürer ersehnte Funktion verleihen. Inzwischen aber, nach fünfhundert Jahren, ist zweifelsfrei klar, dass seine Spekulation auf die Zukunft aufgegangen ist. Wer sein Gesicht der Macht der anderen anvertraut, muss jedoch in Kauf nehmen, dass diese damit machen, was sie wollen. Das soll zum Abschluss durch einen Blick in die – zum Glück – kurzlebige Zeitschrift mit dem Titel Die Kunst im Dritten Reich gezeigt werden. Im Heft vom August 1939, das kurz vor Hitlers Befehl zum Einmarsch in Polen erschien, publizierte der Kunsthistoriker Hans Wühr, der wie Dürers Vorfahren vom Balkan stammt, einen kurzen Aufsatz über das Selbstbildnis von 1500 (Abb. 15). Darin heißt es, es sei »ein hohes Gleichnis und die edelste Antwort auf die Frage des Deutschen nach sich selbst«, denn »unser Volk« könne »die Idee, die es von sich selbst hat«, darin deutlicher erkennen als in jedem anderen Bild. Interessant ist hier nicht so sehr der dreiste, aber wenig überraschende Versuch, Dürers Gemälde für die Propaganda der Nationalsozialisten in Anspruch zu nehmen. Interessant sind vielmehr die Mittel, die dabei eingesetzt werden. Der gesamte Aufsatz füllt eine Doppelseite, wobei auf der linken Seite sowohl der Text als auch eine vollstän-

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dige Reproduktion des Gemäldes in Schwarzweiß erscheint, auf der rechten hingegen nur eine ganzseitige Farbabbildung. Sie zeigt einen Ausschnitt: das Gesicht. Dürers Leib mit seiner selbstvergessen herumtastenden Hand ist verschwunden, und nun erscheint sein Gesicht in völliger Isolation. Dadurch wird dessen emblematische Starre noch beträchtlich gesteigert. Das Gesicht starrt uns so an, dass wir erstarren. In dieser Verbindung von Aggressivem und Apotropäischem nimmt das Gesicht medusenhafte Züge an und rückt plötzlich in eine erschreckende Nähe zu den Fratzen Arnold Brekers. Ausgemerzt ist aber auch die Schrift, denn das erleichtert die gewünschte Bedeutungsverschiebung. Erst wenn Monogramm und Inschrift eliminiert sind, erscheint das Gemälde nicht länger als Verkörperung der »Idee«, die Dürer »von sich selbst« hatte, sondern wird zur Larve derer, die sich zu arischen Herrenmenschen stilisieren wollten. Getrennt von seinem leiblichen Ursprung und herausgerissen aus seiner neuen Heimat in der Schrift wird das Gesicht ein Wahrzeichen von grund-, ziel- und bedingungsloser Entschlossenheit. Doch in der heutigen Welt extremer Erscheinungskonkurrenz kann man gerade darin eine besondere Qualität sehen. In diesem Sinne erläutert Jonathan Meese in einem Interview, das 2006 in Heft 26 der Züricher Weltwoche erschien, seine Faszination für das Gesicht Hitlers, das er als »ein ganz hartes und klares Bild« beschreibt, das bisher von nichts und niemandem »neutralisiert« werden konnte, so dass es für ihn zu einem »Symbol schlechthin für Radikalität« werden konnte. Von diesem Künstler, der sich selbst bekanntlich gern zur größtmöglichen Radikalität bekennt, gibt es eine – schon fast »offiziell« zu nennende – Repräsentationsfotografie, die immer wieder für Einladungskarten und Buchumschläge sowie auf verschiedenen Internetseiten verwendet wird (Abb. 16). Offensichtlich stellt sich dieses Foto ganz bewusst in die Tradition, die durch Dürers Selbstbildnis begründet wurde. Das ist kein Zufall, denn schon in jenem Bild kündigt sich, wie hier gezeigt wurde, das Schicksal des modernen Gesichts an, das nicht länger in gefestigten Zusammenhängen steht, sondern sich rückhaltlos der Turbulenz unvorhersehbarer und unbeherrschbarer Deutungen aussetzen muss. In Dürers Gemälde erkennen wir den Prototyp all jener Gesichter all jener kunstvoll konstruierten Persönlichkeiten, die uns heute unablässig als »Ikonen« präsentiert werden, damit wir jemanden haben, den wir uns zum Vorbild nehmen können.

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Ernst Osterkamp

SPARTACUS UNTER DEN DEUTSCHEN Über die Geschichte einer literarischen Niederlage

Für einen Deutschen des 20. und auch des 21. Jahrhunderts beginnt das Nachleben des Thrakers Spartacus, der 73–71 v. Chr. Rom in den gefährlichsten Sklavenkrieg seiner Geschichte verwickelte, im Jahre 1916, als sich die äußerste Linke in Deutschland in der Spartakusgruppe, 1918 in Spartakusbund umbenannt, formierte. Der Spartakusbund übernahm am 1. Januar 1919 die führende Rolle bei der Gründung der KPD und war an der Organisation und Durchführung des vier Tage später ausgebrochenen Aufstands Berliner Arbeiter maßgeblich beteiligt, so dass dieser als Spartakusaufstand in die Geschichte einging. Seit dem Januar 1916 gaben Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die von ihnen verfassten Spartakusbriefe heraus; sie übernahmen 1918 die Führung des Spartakusbundes; am 15. oder 16. Januar 1919 wurden sie nach der Niederlage des Spartakusaufstands im Berliner Tiergarten ermordet. Seit diesen Jahren – ein Zeitraum übrigens, dessen Umfang demjenigen des Sklavenkriegs entspricht – ist in Deutschland der Name Spartacus mit denjenigen von Luxemburg und Liebknecht so untrennbar verbunden, dass sie nahezu zu Synonyma geworden sind. Es stellt eine besondere Ironie der Erinnerungsgeschichte dar, dass eine revolutionäre Bewegung, die sich symbolisch durch die Aneignung des Namens von deren Führer in die Nachfolge einer anderen revolutionären Bewegung stellte, damit die Erinnerung an den ursprünglichen Träger dieses Namens weniger erneuert als sie bis zur Auslöschung überformt hat. Das Nachleben Spartacus’ in Deutschland ist seitdem von dem Nachleben Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts untrennbar geworden. Aber dieses Nachleben Spartacus’ unter den Deutschen seit 1916 hat ein bedeutendes Vorleben, und auch dieses Vorleben seines politischen Nachlebens ist in der Erinnerung der Deutschen seit 1919 erloschen. Der Gründung des Spartakusbundes ist eine rund anderthalb Jahrhunderte umfassende literarische Faszinationsgeschichte Spartacus’ in Deutschland vorangegangen, von der nur wenige wissen, weil auch die Literaturgeschichte

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eine Geschichte der Sieger ist, die literarische Faszinationsgeschichte Spartacus’ aber nur eine Serie von Niederlagen hervorgebracht hat. Jeder deutsche Autor, der sich mit dem Aufstand Spartacus’ befasst hat, ist an diesem Thema gescheitert: der eine schon bei den ersten Überlegungen, der andere nach der Niederschrift von Ideenskizzen, der dritte nach Abschluss des ersten Akts einer Tragödie, andere schließlich dadurch, dass sie den Stoff durch seine Trivialisierung oder durch seine ideelle Überhöhung – interessanterweise ist dies in der Kunst- und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts in der Regel dasselbe – um seine ideengeschichtliche Substanz und seine politische Brisanz brachten. All dies müsste die Nachwelt nicht weiter interessieren, wenn nicht an dieser Geschichte von literarischen Niederlagen drei der größten deutschen Dramatiker beteiligt wären: Gotthold Ephraim Lessing, Franz Grillparzer und Friedrich Hebbel. Alle drei haben sich intensiv für das Spartacus-Thema interessiert: Lessing in den ersten Wolfenbütteler Jahren, Grillparzer in seinen Anfängen als Dramatiker, Hebbel nach Abschluss des monumentalen Dramas Die Nibelungen, und jeder von ihnen gab seine Pläne zu einem Spartacus-Drama dennoch rasch wieder auf. Dies hat das Jahrhundert der Römerdramen in Deutschland nicht daran hindern können, ein halbes Dutzend Spartacus-Tragödien hervorzubringen, darunter Werke des jungen Ernst von Wildenbruch und des Erfolgsautors Richard Voß, die von unrettbarer Trivialität sind, weil die Autoren den Problemgehalt des Stoffes entweder nicht erkannt oder ihn bewusst vermieden haben und deshalb ganz auf den Sensationseffekt des Themas setzen konnten. 1 Es gehört zu den gängigen Fragen der Kunst- und der Literaturwissenschaft, weshalb bestimmte Themen in gewissen Zeiträumen signifikante Konjunkturen erleben. Nicht minder aufschlussreich ist aber die Frage, weshalb bestimmte Themen unter besonderen historischen Konstellationen zwar großes Interesse auf sich ziehen, aber keine angemessene Bearbeitung gefunden haben beziehungsweise finden konnten, eine Frage, die sich besonders angesichts nur fragmentarisch ausgearbeiteter Werke stellt. Die Kategorie des Scheiterns am Stoff beantwortet diese Frage nicht, sondern mogelt sich nur genietheoretisch um sie herum. Wenn zum Beispiel die beliebte Frage, weshalb Heinrich von Kleist den 1803 konzipierten Robert Guiskard als Fragment hinterlassen habe, mit dem Hinweis beantwortet wird, er sei an seinem Anspruch gescheitert, Sophokles und Shakespeare zugleich künstlerisch zu überbieten, so führt dies an der historisch-politischen Brisanz seines Themas vorbei. Dies ist im Falle des Robert Guiskard die Neubegründung von politischer Legitimität im Spannungsfeld von dynastischer und charismatischer Herrschaft, ein Problem, für das Kleist in seinem Drama schon deshalb keine Lösung finden konnte, weil niemand in den Zeiten der napoleonischen Kriege eine tragfähige Lösung hierfür besaß. Wie Robert Guiskard so ist zwei Jahre später auch das großartigste politische Drama, das jemals in der deutschen Literatur konzipiert worden ist, Friedrich Schillers Demetrius, Fragment geblieben; natürlich deshalb, weil Schiller bei der Arbeit an dem Drama verstarb, wie auch Friedrich Hebbel bei der Arbeit an seinem Demetrius verstarb. Aber der Tod des Autors will aus einer späteren historischen Perspektive als ein

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besonders kontingenter Grund dafür erscheinen, dass der Demetrius ein Fragment geblieben ist, denn auch dessen zentralen Problemkern bezeichnet wie im Falle des Robert Guiskard die ungelöste Frage einer Neubegründung politischer Legitimität. Die Frage nach den historischen Bedingungen, die einem Thema ein künstlerisches Nachleben ermöglichen, stellt sich im Falle des Demetriusstoffs um so nachdrücklicher, als die zweite Jahrhunderthälfte das Drama des Usurpators Boris Godunow und des falschen Zaren Dimitrij dennoch in großen Kunstwerken zu gestalten vermochte, allerdings um den Preis eines Gattungswechsels und einer damit verbundenen Entpolitisierung und Privatisierung des dramatischen Konflikts: so in Modest Mussorgskijs Oper Boris Godunow und in Antonín Dvoˇraks Oper Dimitrij, deren Libretto sich auf Schillers Fragment stützt. Nicht das künstlerische Genie der Bearbeiter – daran fehlte es weder Lessing noch Grillparzer oder gar Hebbel – allein entscheidet über das Nachleben eines Stoffes, sondern mehr noch dessen immanenter Problemgehalt in Kombination mit dessen historischen Rezeptionsbedingungen. Warum also hatte die große künstlerische Sympathie, die in Deutschland – und soweit ich sehe: tatsächlich nur in Deutschland – seit dem späten 18. Jahrhundert der Gestalt des Spartacus entgegengebracht wurde, nur eine Summe künstlerischer Niederlagen zum Ergebnis? Aus der Konstellation, die sich um 1800 aus dem rasch auf blühenden Interesse an dem Spartacus-Thema und dem nur in Fragmenten ausgearbeiteten Drama der Legitimität bei Kleist und Schiller ergibt, lässt sich eine erste Antwort erschließen. Bevor sie gegeben werden kann, sind allerdings die künstlerischen Möglichkeiten, die dem Stoff selbst innewohnen, genauer zu bestimmen. Die historischen Fakten, die der gerade in diesem Fall eminent parteiischen Geschichtsschreibung zu entnehmen sind – Plutarchs Crassus-Biographie, Appian, Athenaios, Sallust, Florus, auch Cicero –, sind rasch benannt: die Flucht des Spartacus mit siebzig Gefährten aus der Gladiatorenschule in Capua im Jahre 73 v. Chr., das rasche Anwachsen seiner Gefolgschaft, der mit Hilfe einer Kriegslist am Vesuv gelungene erste Sieg des Sklavenheers über 3000 römische Soldaten und die durch die sträfliche Unterschätzung Spartacus’ begünstigte rasche Ausbreitung des Aufstands. 2 Im Jahre 72 leitete Spartacus ein gut organisiertes Heer, dessen Stärke in den unterschiedlichen Schätzungen zwischen 40.000 und 120.000 Mann schwankt. Die dokumentierten Marschbewegungen dieses Heeres – zunächst in die Richtung der Gallia Cisalpina, dann in den Süden Italiens – lassen unterschiedliche Interpretationen seiner politischen und militärischen Ziele zu: Ausbruch aus Italien und Rückkehr der Sklaven in ihre Heimatländer, Angriff auf Rom, die Gründung eines eigenen Königreichs; Klarheit darüber lassen die Quellen nicht zu. Als verhängnisvoll erwiesen sich die Uneinigkeit über die Ziele und ethnische Konflikte innerhalb des Sklavenheers; jedenfalls spalteten sich die Kelten und Germanen unter Krixos von Spartacus ab und wurden 72 in Apulien vernichtend geschlagen. Da die gegen Spartacus selbst ausgesandten römischen Truppen immer wieder schwere Niederlagen hinnehmen mussten, übertrug schließlich der Senat M. Licinius Crassus das Kommando im Krieg gegen die Sklaven.

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Er drängte das Sklavenheer nach Bruttium zurück und versuchte es durch eine von Küste zu Küste gezogene Befestigungslinie von der Rückkehr ins Innere Italiens abzuhalten. Da der Plan Spartacus’, mit Hilfe kilikischer Piraten nach Sizilien überzusetzen, scheiterte, durchbrach er unter großen Verlusten im Jahre 71 diese Befestigungen, wurde aber bald darauf von Crassus vernichtend geschlagen und fand selbst den Tod in der Schlacht. Für das künstlerische Nachleben einer geschichtlichen Figur ist neben den historischen Fakten deren Charakterbild, soweit die Quellen Rückschlüsse darauf zulassen, von besonderer Bedeutung. Natürlich lassen sich hier keine objektiven Aussagen gewinnen, denn die Quellen sind in dieser Hinsicht in besonderem Maße von der tiefen Kränkung geprägt, die es für die Römer im ersten vorchristlichen Jahrhundert – in einer Zeit also, in der das Ansehen unfreier Menschen in der Regel auf dasjenige bloßer Produktionsfaktoren gesunken war – bedeuten musste, gegen ein Sklavenheer kämpfen zu müssen und von einem Sklavenführer in eine tiefe militärische Krise gestürzt worden zu sein. Dies verleiht allen Aussagen der antiken Autoren über Spartacus einen rhetorischen Charakter: Während Cicero und Florus ihn mit jener Verachtung traktieren, die einem Sklaven aus der Perspektive eines römischen Patriziers zukam, haben andere Historiker sich darum bemüht, die militärischen Erfolge Spartacus’ zumindest durch den Hinweis auf positive Charakterzüge zu plausibilisieren. Am weitesten geht hierbei Plutarch, der nicht nur die Körperkraft, sondern auch den Verstand und die Herzensgüte Spartacus’ rühmt; Sallust hebt hervor, dass er die Exzesse seiner Gefolgschaft gegenüber der Zivilbevölkerung zu unterbinden versucht habe; bei Plinius findet sich der Hinweis, er habe in seinem Lager den Besitz von Gold und Silber verboten, was sich wiederum in Richtung eines egalitären Gerechtigkeitsstrebens bei Spartacus deuten ließ. Dies ist genau der Stoff, aus dem sich eine mythohistorische Figur weben lässt, in der Geschichte und Legende nahtlos ineinander übergehen. Es waren jedenfalls gerade diese historiographisch dokumentierten positiven Charakterzüge Spartacus’, die dazu führten, dass er unter den Deutschen ein Nachleben als exemplum virtutis führen konnte. Wie der mythohistorische Charakter der Figur sie für ein literarisches Nachleben prädestiniert, so auch die historischen Konfliktlinien, die in Spartacus zusammenlaufen, wobei die intensiven Diskussionen um die Abschaffung der Sklaverei in der europäischen Aufklärung zwar zur Prominenz des Themas sicherlich wesentlich beigetragen haben, in dessen literarischen Bearbeitungen aber kaum einen Niederschlag fanden. Der Kampf der Sklaven gegen Rom kann vielmehr – als Archetyp der Revolutionsgeschichte – den Kampf der unterdrückten Menschheit gegen eine inhumane Unterdrückungsmaschinerie und den Gegensatz von Menschlichkeit und Inhumanität schlechthin repräsentieren; die Niederlage Spartacus’ vermag für die Tragik des zu früh gekommenen Befreiers zu stehen, dessen Untergang zugleich vorausdeutet auf eine künftige Menschheitserlösung; die Auseinandersetzungen zwischen Spartacus und seiner Gefolgschaft verweisen auf die Problematik eines genialen Führers, den Unvernunft, Egoismus und sittliche Unreife der Geführten zum Scheitern bringen. Eine Gattungspräferenz ergibt

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sich aus diesen Konfliktkonstellationen nicht: Während der historische Stoff der Sklavenkriege aufgrund der Vielzahl der Schauplätze eher eine epische Darstellung zu fordern scheint, lassen die ideellen Konflikte, die mit der Gestalt des Spartacus verbunden werden können, auch eine dramatische Behandlung zu. Als nicht unwichtig erweist sich in diesem Zusammenhang, dass in den Quellen zwar auch von einer Frau Spartacus’ die Rede ist, diese aber namenlos bleibt und in der Aufstandsgeschichte selbst keine Rolle spielt, womit ein zentraler dramatischer Konflikt im Falle dieses Stoffs ausgeschlossen scheint: derjenige zwischen Pflicht und Neigung. Die literarische Niederlage, die Spartacus in seinem Nachleben unter den Deutschen zugefügt wird, entscheidet sich nun genau daran, dass sie sich dazu entschlossen, den Stoff in der Form zu gestalten, die in der Gattungshierarchie des 19. Jahrhunderts den höchsten Rang einnahm, also als Trauerspiel, und dabei im Sinne der Gattungsschablone dem Konflikt zwischen Pflicht und Neigung eine herausgehobene Bedeutung einzuräumen, die ihm von den Quellen her nicht zukommt. Mit anderen Worten: Sie bürdeten Spartacus, indem sie ihn zu einem Liebenden machten, eines der wenigen Probleme auf, die der historische Spartacus nicht hatte. Einen Kampf aber, der zugleich gegen Rom und um eine Frau, für die Menschheit und um privates Glück geführt wurde, konnte kein Dramatiker gewinnen.

EIN VIRTUOSE DER HUMANITÄT Gotthold Ephraim Lessing führt das Spartacus-Thema im Jahre 1770 in die deutsche Literatur ein. Von seinem Plan einer »antityrannischen Tragödie«, deren Held Spartacus sein soll, erfahren zu seinen Lebzeiten aber nur einige enge Freunde und sein Bruder Karl, der die wenige Blätter umfassenden Fragmente des Spartacus-Dramas 1786 im zweiten Teil von Lessings Theatralischem Nachlaß erstmals veröffentlicht.3 Den Dramatiker Lessing hat die Revolutionsthematik seit seinen Jugendjahren intensiv beschäftigt: 1749– 1753 plante er das Revolutionsstück Samuel Henzi, 1754 ein Trauerspiel Masaniello, 1756 das Drama Das befreite Rom. Dass er 1770, im Jahr des Boston Massacre, die Umsturzproblematik mit dem Plan eines Spartacus-Stücks wieder aufnimmt, gibt sein eminentes historisches Krisenbewusstsein zu erkennen. Lessing entwickelt seine Gestalt des Spartacus mit dem quellenkritischen Blick des Aufklärers. Er stützt sich vor allem auf Florus und Plutarch, wobei er schon im ersten Satz seiner Entwürfe festhält, dass er aus dem Bericht des Florus »wenig oder nichts brauchen« könne, weil dieser »mit einer Verachtung« von seinem Helden spreche, die »fast lächerlich« sei. Entscheidend für seine Konzeption der Figur ist der Satz Florus’, in dem die Sklaven als eine mindere Menschengattung bestimmt werden (»quasi secundum hominum genus sunt«). 4 Gegen diese Vorstellung von den zwei Menschenarten und damit gegen die Sklaverei entwirft Lessing sein Drama; deshalb kommt in seinem Plan dem Sklaven Spartacus die Aufgabe zu, die Einheit des Menschengeschlechts zu reprä-

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sentieren. Zu diesem Zweck war es erforderlich, die überlieferten positiven Charakterzüge Spartacus’ gegen die Gräuelszenarien der römischen Historiographie zur Geltung zu bringen. So wird Spartacus in Lessings Entwürfen von der Anklage, er habe bei den Leichenfeiern seiner Anführer römische Gefangene wie Gladiatoren auf Leben und Tod gegeneinander kämpfen lassen, mit dem Argument befreit, dies müsse Krixos gewollt haben, Spartacus hingegen »muß es nur nicht haben verhindern können«. Auch habe er die erbeuteten römischen Feldzeichen und Fasces nicht aus Stolz oder zur Verhöhnung der Römer vor sich hertragen lassen, sondern »zu Schützung und Heiligung seiner Person in Steurung der Ausschweifungen und Grausamkeiten des gemeinen Mannes«.5 So entwirft Lessing auf der einen Seite Spartacus als den Repräsentanten einer aufgeklärten Humanität, der es für einen Ausweis der moralischen Degeneriertheit Roms hält, dass ihn Römer einen »außerordentlichen Mann« nennen: »Da seht, wie weit ihr seid, ihr Römer! daß / Ihr Einen schlichten, simpeln Menschen müßt / Für einen außerordentlichen Mann erkennen.« Hier kommt das Winckelmannsche Prinzip der edlen Einfalt in der Perspektive einer aufgeklärten Anthropologie zur Geltung, wobei Lessing es rousseauistisch mit Spartacus’ Hinweis auf die egalisierende »Natur« aktualisiert, die Menschen wie ihn stündlich zu Hunderten »aus den Händen« werfe. Während Lessing so seinen Spartacus als den Inbegriff eines aufgeklärten Menschseins darauf insistieren lässt, dass er »kein beßrer Mensch« sei, weil es bessere und schlechtere Menschen nicht gebe, muss er doch auf der anderen Seite das egalitäre Prinzip der Einheit des Menschengeschlechts dadurch unterlaufen, dass er den edlen Führer Spartacus von den »Ausschweifungen und Grausamkeiten des gemeinen Mannes« abgrenzt und damit die Dichotomie zwischen der Humanitätsvirtuosität des Revolutionsführers und der die Reinheit der Idee besudelnden Gefolgschaft auf baut, deren Egoismus, Rachgier und Habsucht dann das Scheitern der Revolution erklären. 6 Auf diese Weise installiert die Aufklärung um der Einheit des Menschengeschlechts willen ihre neuen Hierarchien, in denen die Menschheit nicht mehr nach Ständen oder Religionen, sondern nach Humanisierungsgraden und Stufen des ethischen Fortschritts geordnet wird. Lessing konzipiert sein Spartacus-Drama also aus einer doppelten Frontstellung: Einerseits kämpft sein Menschheitsvirtuose mit den Römern, andererseits mit seiner Gefolgschaft, wobei der Kampf hier wie dort, da das Leitprinzip der Einheit des Menschengeschlechts nicht gefährdet werden darf, primär mit ethischen Defiziten begründet wird. Deshalb lässt Lessing in einem der wenigen Sätze, die er in seinem Fragment Spartacus in den Mund legt, diesen wie einen Oberlehrer der Humanität die Römer moralisch in die Ecke stellen: »Sollte sich der Mensch nicht einer Freiheit schämen, die es verlangt, daß er Menschen zu Sklaven habe?« 7 Und deshalb wird Crassus als der wichtigste Gegner Spartacus’ von Lessing nicht politisch, sondern moralisch disqualifiziert mit dem Argument, er habe die Aufgabe des Feldherrn im Krieg gegen Spartacus nicht aus patriotischen Gründen, sondern aus »seinem schändlichen Geize« übernommen, weil die Sklaven »seinen größten Reichtum« bildeten. 8

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Des Weiteren baut Lessing durch die Einführung einer erfundenen Figur noch eine dritte Konfliktlinie in seinen Entwurf des Spartacus-Dramas ein; sein Stück war bisher ein reines Männerdrama, also wurde noch eine Frau gebraucht. Hierzu findet sich in den Entwürfen nur ein einziger Satz: »Ich erdichte, daß Crassus ehedem eine Frau aus Lucanien gehabt, von der er sich aber scheiden lassen, um eine reichere zu heiraten. Die Geschiedne hat von ihm eine Tochter, welche in den Händen des Spartacus ist.« 9 Mit dieser Erfindung erzielt er den doppelten Effekt, die moralische Ächtung Crassus’ eine Stufe weiter voranzutreiben und zugleich Spartacus dessen Tochter in die Hände zu spielen, damit dieser auch an ihr als einer besonders verletzlichen Figur seine Menschlichkeit unter Beweis stellen kann. Wie dies hätte geschehen sollen, muss offen bleiben; dass es ohne eine Liebeshandlung nicht abgegangen wäre, darf freilich als sicher gelten. Entscheidend hierbei ist, dass Lessing die Figur der Tochter Crassus’ nicht selbst erfunden, sondern sie mit der Abweichung, dass sie bei ihm aus einer ersten Ehe des Crassus stammen sollte, aus der 1760 uraufgeführten Tragödie Spartacus des französischen Dramatikers Bernard-Joseph Saurin (1706–1781) übernommen hat. Anders als Saurin dürfte Lessing freilich nie im Ernste daran gedacht haben, den Hauptstrang seiner SpartacusTragödie aus der Liebeshandlung zwischen Spartacus und Emilie, der Tochter Crassus’, zu entwickeln: Emilie gerät bei Saurin in die Hände Spartacus’, er verliebt sich in sie und gibt sie gegen den Widerstand seines Heeres großmütig an Crassus zurück. Dies hat den Verrat seiner Unterführer und die Gefangennahme Spartacus’ durch Crassus zur Folge; bevor dieser ihn aber im Triumphzug nach Rom führen kann, nehmen sich erst Emilie und dann Spartacus mit Hilfe eines von ihr in sein Gefängnis geschmuggelten Dolches das Leben. Diese problematische Verbindung von heroischer Tragödie und Liebestragödie ging an Lessings Konzeption seines Helden als eines Virtuosen der Humanität vorbei; einen Helden, der im Namen der Menschheit eine Weltmacht in die Schranken fordert, an einem Selbstmord sterben zu lassen, der von einem Liebestod nicht mehr zu unterscheiden ist, hätte jeder Plausibilität entbehrt. Wie sich Lessing die dramatische Verflechtung der Konfliktlinien seines Spartacus gedacht haben mag und wie er sich die psychologische Vertiefung seines Tugendhelden vorstellte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Wenn er den Plan eines Spartacus-Trauerspiels rasch wieder aufgegeben hat, dann wohl nicht zuletzt deshalb, weil dessen Protagonist in seiner sittlichen Überlegenheit zu sehr den Helden des heroischen Trauerspiels in der Tradition der französischen Klassik glich, die er in seinen dramaturgischen Schriften schon längst verworfen und in seiner dramatischen Praxis durch die psychologisch gebrochenen modernen Charaktere des Bürgerlichen Trauerspiels zu ersetzen begonnen hatte. Deshalb schreibt er 1771–1772 anstelle des Spartacus ein Bürgerliches Trauerspiel, das auf den Virginia-Stoff Livius’ zurückgeht und dessen Heldin ebenfalls Emilie heißt: Emilia Galotti. Auch sie stirbt durch den Dolch, aber nicht durch die Hand des Geliebten, sondern durch diejenige des Vaters, und nicht nach einem heroischen Tugendmuster, sondern aufgrund einer derart komplexen psychologischen Motivierung,

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dass sie den Interpreten bis heute schwer zu schaffen macht. Und auch der Rolle des Virtuosen der Humanität hat Lessing danach eine dramatische Gestalt gegeben, nicht mehr freilich diejenige eines muskelbepackten thrakischen Schwertkämpfers, sondern die eines alten jüdischen Intellektuellen namens Nathan. Was hier wie dort mit dem Heroismus der Tragödienkonvention verlorenging, war die politische Stoßrichtung der »antityrannischen Tragödie«, die Lessing ursprünglich mit seinem Spartacus geplant hatte: Wie Lessing in Emilia Galotti den Virginia-Stoff von seinem Bezug auf den politischen Umsturz befreit, so entfaltet er in Nathan der Weise ein die Stände, Nationen und Religionen überspannendes Menschlichkeitspostulat. Aber diese Entpolitisierung des Dramas war, wenn man recht hinsieht, bereits in den Entwürfen zu seiner »antityrannischen Tragödie« angelegt, in der Spartacus nicht gegen die Staatsverfassung revoltiert, sondern allenfalls ein allgemeines Menschenrecht einklagt, den Aufstand also ethisch und nicht politisch begründet. Mit den wenigen Notizen, die Lessing zu seinem unausgeführten Drama Spartacus hinterließ, hat er, die große Orientierungsfigur der deutschen Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, über die weiteren Geschicke des Themas in der deutschen Literatur entschieden. Dessen wesentliche Komponenten lagen mit Lessings knappen Entwürfen fest: erstens die Festlegung Spartacus’ auf das Muster eines Tugendhelden der heroischen Tradition, der außer über gewaltige Körperkräfte über eine unbedingte sittliche Integrität verfügt, was mit einer geringen psychologischen Komplexität der Figur und einer ebenso geringen Entwicklungsfähigkeit des Charakters erkauft ist; zweitens (und komplementär hierzu) die uneingeschränkte ethische und politische Verwerfung Roms, die ideengeschichtlich unterfüttert wird mit dem von Winckelmann angebahnten deutschen Griechenkult; drittens der ethische Konflikt zwischen Führer und Gefolgschaft, der auf unterschiedliche Humanisierungsgrade in der Menschheit schlechthin verweist; viertens die sich hieraus ergebende Entpolitisierung des Themas; fünftens schließlich die Einführung eines erotischen Nebenkonflikts, der nur darauf wartet, zum Hauptkonflikt zu werden. Dies sind die Elemente, mit denen die deutschen Autoren zu spielen begannen, sobald Lessings Spartacus-Fragmente 1786 in dessen Theatralischem Nachlaß erschienen waren. Man muss sagen, dass sie sich als enttäuschend schlechte Spieler erwiesen.

POLITISCHE BRISANZ UND HEROISCHER OPFERTOD Der erste, der sich von Lessings Fragmenten zu einem eigenen Werk über Spartacus anregen ließ, war August Gottlieb Meißner (1753–1807), eine der wichtigsten Gestalten in jenem großen Buch, das zu der von Walter Benjamin aufgeworfenen Frage, was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben, noch zu schreiben wäre. Meißner, mit seinen 1778–1796 in vierzehn Bänden erschienenen Skizzen der eminent erfolgreiche

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Schöpfer der deutschen Kriminalerzählung, veröffentlichte im Jahre 1792 ein Büchlein mit dem Titel Spartakus. Damals lehrte er als Professor der Ästhetik und klassischen Philologie an der Universität Prag. Meißner war, wie alle Erfolgsautoren, in erster Linie ein begabtes Trüffelschwein, das immer den richtigen Stoff zur richtigen Zeit zu finden in der Lage ist. Ohne Zweifel stellt es ein eminentes Gespür für die Aktualität historischer Themen unter Beweis, wenn ein Autor drei Jahre nach Beginn der Französischen Revolution ein Buch über Spartacus schreibt und auf das Titelblatt (Abb. 1) die Verse setzt: »Nicht Erbrecht, nicht Geburt, der Geist macht groß und klein; / Ein König kön[n] te Sklav’, ein Sklave König seyn.« Wenige Monate später, am 21. Januar 1793, erwies sich, dass ein französischer König noch weniger als ein Sklave sein konnte. Allerdings charakterisiert es Erfolgsautoren auch, dass sie mit dem Zeitbezug ihrer Themen nur spielen, radikale Konsequenzen sei es in ästhetischer, sei es in gedanklicher und politischer Hinsicht aber scheuen. Und so gibt Meißner zwar in seinem Büchlein die erste umfassende Darstellung von Spartacus und seinem Aufstand in deutscher Sprache, lässt auch durch die Gestaltung des Titelblatts keinen Zweifel am impliziten Zeitbezug seines Themas, vermeidet im übrigen aber jede explizite Parallelisierung zwischen dem Spartacusaufstand und der Revolution in Frankreich. Diese Strategie, einerseits die politische Brisanz seines Themas anzudeuten und es andererseits um seine politische Brisanz zu bringen, hat für die weiteren Geschicke Spartacus’ unter den Deutschen eine wichtige Konsequenz. Auf diese Weise wurde gewährleistet, dass Spartacus kein Franzose, kein antiker Vorläufer der französischen Revolutionäre war. Wie wichtig das ist, erweist sich spätestens nach dem Ausbruch der napoleonischen Kriege; von da an ist Paris, begünstigt durch die napoleonische Staatsikonographie, für die Deutschen das neue Rom, und gerade dies verleiht der Figur des Spartacus um 1800 in Deutschland eine besondere Attraktivität. Pointiert gesagt: Unter dem Schatten Napoleons transformiert sich Spartacus in Deutschland aus einem politisch-sozialen Revolutionär und aufgeklärten Humanitätsvirtuosen zu einem Befreiungskämpfer, der gegen die Gewaltherrschaft eines dekadenten Unterdrückerstaats kämpft, der alle anderen Nationen unterwirft und ausbeutet: Meißner nennt die Römer »Tirannen dreier Welttheile«. 10 Nach 1800 erhebt also weniger sein Kampf gegen die Sklaverei, wie im siècle des lumières, als viel mehr sein Kampf gegen Rom Spartacus zur positiven Identifikationsfigur für die Deutschen – der Thraker wird gleichsam zum Vorläufer des Germanen Arminius. Hätte August Gottlieb Meißner, auf dessen Büchlein sich bis zum Erscheinen des dritten Bandes von Theodor Mommsens Römischer Geschichte (1855) das SpartacusBild der Deutschen stützte, die Parallelen zwischen der Französischen Revolution und Spartacus’ Aufstand zu massiv zur Geltung gebracht, wäre Spartacus künftig als positive Identifikationsfigur in Deutschland blockiert gewesen. Was ihn diesseits des Rheins nach 1800 so attraktiv machte, war gerade die mutige militärische Herausforderung Roms mit den Mitteln des Partisanenkriegs.

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1 August Gottlieb Meißner: Spartakus, Berlin 1792, Titelblatt und Frontispiz von Johann Friedrich Bolt.

Meißner hat alles dafür getan, Spartacus den Deutschen sympathisch zu machen, und sich dabei ausdrücklich auf Lessing berufen: »Leßing, der Unsterbliche, dachte vom Spartakus beinah eben so günstig, wie ich.« 11 Es war Meißner, der das Spartacus-Bild der Deutschen zu einem exemplum virtutis ausarbeitete, dies im Zeichen der Überzeugung: »Er sei einer von den wenigen Sterblichen, die größer waren, als ihr Stand, ihr Volk, ihre Zeitläufte, und selbst ihr Ruf.« 12 Meißner zeichnet deshalb als Historiker das SpartacusBild im Unterschied zu Lessing, für den als Tragiker dies aus künstlerischen Gründen längst ausgeschlossen war, nach dem Muster der Tugendhelden des heroischen Trauerspiels; es gibt nichts an Spartacus, was er zu tadeln fände, und wenn dieser »im ungleichsten Kampf mit dem Schicksal selbst« dennoch unterliegt, so führt Meißner dies nicht etwa auf Fehler seines Helden zurück, sondern allein darauf, »weil er seinen eignen Geist nicht auch auf seine Genossen zu übertragen vermag«. 13 Auf diese Weise baut er das Pro-

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blem des Abstands zwischen der sittlichen Größe des Helden und der Unreife seiner Gefolgschaft, das bereits in Lessings Fragmenten angeklungen war, zum Generalthema seiner Darstellung aus, wobei gerade die Akzentuierung der ethischen Dichotomie zwischen dem Führer und seiner Gefolgschaft Meißners Darstellung ihren implizit gegenrevolutionären Charakter verleiht. Nirgends zweifelt Meißner an der Größe der Seele Spartacus’, in all seinen Aktionen erkennt er einen »wahrhaft edlen Geist«. 14 Und so gilt Spartacus bis zum Schluss des Buches seine uneingeschränkte Bewunderung: »Dem Spartakus gebrach, um Hannibals würdiger Bruder zu werden, nichts als die kleine Zufälligkeit, daß Hamilcar nicht sein Vater war.« 15 Selbst den Tod Spartacus’ in der Schlacht mit Crassus gestaltet Meißner als ein exemplum virtutis, wobei er an dieser Stelle die beiden Grundmotive seiner Spartacus-Konzeption, den ungleichen Kampf mit dem Schicksal und den sittlichen Gegensatz zwischen dem Führer und seiner Gefolgschaft, effektsicher zusammenzieht: »[…] immer noch suchte er den römischen Imperator; da traf ihn ein Wurfspieß in die Hüfte. Aufs Knie gestüzt, mit vorgehaltnem Schilde schlug er noch unerschrocken eine geraume Zeit den Anfall der eindringenden Feinde zurück. Jezt hätten die Seinigen ihn schützen, ihn hinwegtragen sollen; aber um ihn herum wich nun alles; und er sank endlich unter der Uebermacht, von Pfeilen überdeckt; sank und starb einen Tod, den selbst seine schmähsüchtigsten Gegner eines wahren Feldherrns würdig priesen.« 16 Das Titelkupfer von Johann Friedrich Bolt hält diese Szene fest und inszeniert damit das Leben Spartacus’ im Zeichen des heroischen Opfertods.

VOM SOZIALREVOLUTIONÄR ZUM PSEUDORELIGIÖSEN MENSCHHEITSERLÖSER Lessing hatte die Ideen zu einem Spartacus-Drama entwickelt, Meißner das historische Material bereitgestellt; jetzt musste sich nur noch ein Dramatiker finden, der beides zusammenführte. Es war der junge Franz Grillparzer, der im Jahre 1811 als erster Lessings Plan eines Spartacus-Trauerspiels aufgriff und dabei Meißners Buch als wichtige Quelle heranzog. Grillparzer hat große Teile des ersten Akts ausgearbeitet und dabei vor allem eines unter Beweis gestellt: seine gänzliche Unerfahrenheit als Dramatiker. Eine schlüssige Handlungsführung zeichnet sich noch nicht ab, und erst recht kann von einer plausiblen Figurenkonzeption im Falle seines Spartakus nicht gesprochen werden. Aber gerade die Brüche in der dramatischen Charakteristik der Spartakus-Figur machen Grillparzers Fragment so interessant. Die Ausgangssituation des Dramas ist diese: Der aus thrakischem Fürstenhaus stammende Sklave Spartakus, von allen Sklaven aufgrund sei-

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nes Stolzes, seiner Kraft und seines Freiheitsdursts geliebt, bewundert, aber auch gefürchtet, entzieht sich seit Tagen auf zunächst unbegreifliche Weise seinen Freunden. Wie sich herausstellt, hat er sich bis zur Hörigkeit in Kornelia, Krassus’ Tochter, verliebt, und diese Leidenschaft hat ihn seinen bisherigen Lebensinhalt, »Freiheit und Haß gen Rom«, vergessen lassen. 17 Dies erweist sich, als der Sklave Knixus, der Spartakus aufgrund seiner Überlegenheit hasst, ihm heftig vorwirft, er sei »eines Römermädchens Knecht geworden«. 18 Aber auch dies kann ihn nicht davon abhalten, todesmutig durch die bewegte See zu Krassus’ Insel zu schwimmen, wo sein Rendezvous mit Kornelia stattfinden soll (ein Thema, das Grillparzer viele Jahre später in seinem Hero-und-LeanderDrama Des Meeres und der Liebe Wellen ausführen wird). Es kommt, wie es kommen muss: Krassus überrascht das Paar, Kornelia verleugnet Spartakus. Die Szene wechselt danach in Krassus’ Zirkus, wo Gladiatoren heimlich über die Möglichkeiten eines Aufstands beraten und sich fragen, wer ihr Anführer sein könnte. Soweit das Fragment, das klar zu erkennen gibt, wie Grillparzer den Sklavenaufstand zu motivieren gedachte: durch den Liebesverrat der Römerin an dem Sklaven Spartakus. Damit wird die bei Lessing als Nebenhandlung angelegte Liebesepisode zwischen Spartacus und Crassus’ Tochter zur Haupthandlung von Grillparzers Fragment – dies um den Preis, dass sich der dramatische Konflikt schon an dieser Stelle erschöpft, weil der Sklavenaufstand selbst nur noch die Konsequenz einer privaten Liebesenttäuschung bildet. Das bedeutet aber auch, dass Grillparzers Konzeption der Spartacus-Thematik deren Entpolitisierung auf die Spitze getrieben hätte. Es ist deshalb kein Zufall, dass Grillparzers Fragment genau an der Stelle abbricht, an der ein Gladiator über den Begriff der Freiheit nachdenkt, dem Inhalt nach aber nur erotische Phantasmen äußert: »So viel Gestalten, als es Menschen gibt, hat Freiheit, einem ist Geliebte sie, in deren Anschaun er sich selig fühlt, Dem andern eine rasende Mänade, an deren Seit er sich im Schlamme wälzt.« 19 Mit dieser politischen Entleerung des Freiheitsbegriffs lässt Grillparzer sein Fragment kollabieren; sie bildet eine direkte Konsequenz der erotischen Motivierung seines dramatischen Konflikts. Zur Entpolitisierung der Spartacus-Thematik bei Grillparzer trägt des Weiteren bei, dass er Spartacus einen Greis zum Lehrer gibt, der in ihm nicht primär den Freiheitshelden sieht, sondern eine messianische Erlöserfigur (»zum Welterretter hat ihn Zeus erkoren«). 20 Der Greis begrüßt es deshalb emphatisch, dass sich der Held durch seine Liebe zu einer Römerin zu einem universalen Menschheitsrepräsentanten wandelt, der im Geist der Liebe und der Humanität die Welt als säkularer Heiland zu erlösen in der Lage sein wird: »Wohl mir, daß ich den Augenblick gesehn, / der ihn zum Menschen macht, der sonst nur Held war. / Du liebst! Du bist vollendet!« 21 Spartacus’

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Stilisierung zu einem messianischen Erlöser begegnet uns in der weiteren Geschichte des Spartacus-Themas in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts noch des Öfteren. Das Versprechen einer menschheitsgeschichtlichen Totalerneuerung, das ihm damit aufgebürdet wird, hatte jene ideelle Leerstelle zu füllen, die dadurch entstand, dass Spartacus unter den politischen Bedingungen der deutschen Hof- und Stadttheater des 19. Jahrhunderts auf keinen Fall dasjenige sein durfte, was er wirklich gewesen ist: ein Sozialrevolutionär. Ein pseudoreligiöser Menschheitserlöser hingegen durfte er gern sein, denn das hob ihn über alle politischen und sozialen Bezüge hinaus. Gewiss war die Aktualität des Spartacus-Themas für Grillparzer im Jahre 1811 durch den Kampf begründet, den Österreich gegen das neue Rom führte. Aber hieraus ergab sich auch die fundamentale Inkonsequenz in der Charakterisierung Spartakus’ in Grillparzers Fragment: dass sich ein glühender Freiheitsheld von einem Tag auf den anderen in einen sentimentalen Liebhaber verwandelt, der Blumenkränze auf dem Haupt trägt und den Kampf gegen Rom vergisst. Entscheidend hierbei ist, dass Grillparzer die Figur Spartakus’ auf den ersten Seiten seines Dramas auf eine sehr moderne Weise als einen politischen Charismatiker charakterisiert, so wie Schiller seinen Demetrius und Kleist seinen Robert Guiskard zum Charismatiker machte: »Es ist ein[e] unbekannte, fremde Macht, die jedes Herz gewaltsam an ihn reißt. Wie der Charybde schaumumgebner Strudel dich zwingt, in seinen finstern Arm zu eilen, du willst vorbei ihn segeln, weichst ihm aus, doch näher zieht und näher dich der Wasser Gewalt, nicht kannst du ihrem wilden Zug entrinnen.« 22 Den Typus des politischen Charismatikers repräsentierte für Grillparzers Epoche Napoleon. Der Kaiser der Franzosen hat ihn derart fasziniert, dass er ihm noch bei der Konzeption des vielfach gebrochenen Herrschercharakters seines König Ottokar in dem Trauerspiel König Ottokars Glück und Ende Modell stehen musste. Diesen modernen Typus des Charismatikers also spannt der junge Grillparzer in seinem Fragment Spartakus in die Schablone eines sentimentalen Liebesdramas, in dem die politischen Spannungen seiner eigenen Epoche nicht zur Entfaltung kommen durften. Die innere Gebrochenheit des von ihm konzipierten Charakters ist Ausdruck eines ästhetischen Kompromisses: Spartakus ist schon Charismatiker, aber noch sentimentaler Held, schon messianischer Welterretter, ohne doch die Welt verändern zu dürfen. Ein deutscher Spartakus, der irgendwie in die heroische Schablone passen musste und gerade deshalb kein Sozialrevolutionär sein durfte. Sozialrevolutionäre fügen sich nun einmal nicht in das Formschema des heroischen Trauerspiels, denn sie kämpfen nicht gegen Personen, sondern gegen soziale und politische Verhältnisse.

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ENTPOLITISIERUNG IM BIEDERMEIERLICHEN TRIEBSCHICKSAL Spartacus war den Deutschen nach 1800 im Kampf gegen Paris – das neue Rom – also hochwillkommen; aber nur, wenn er seine sozialrevolutionären Absichten aufgab. Grillparzers Fragment Spartakus, das erst lange nach seinem Tod veröffentlicht worden ist, gab ein Modell dafür vor, wie das geschehen konnte: durch die Erotisierung des dramatischen Konflikts und durch die Ersetzung des politisch-sozialen Kampfs durch universale Welterlösungsformeln. Ein anderes Modell für die Entschärfung des sozialpolitischen Gehalts spielte 1823 Friedrich von Uechtritz in seinem Drama Rom und Spartacus durch, dem ersten abgeschlossenen deutschen Spartacus-Drama überhaupt. Wie bereits der Titel andeutet, stellt sich Spartacus in Uechtritz’ Trauerspiel auf eine Ebene mit Rom; er versteht sich als Crassus’ ebenbürtigen Gegenpol, ja, als dessen heimlichen Bruder und fordert diesen deshalb auch im Schlussakt zum gemeinsamen Kampf gegen Rom auf. Diese historisch absurde Idee begründet Uechtritz im dritten Akt seines Dramas, dem damit die klassische Funktion der Peripetie eingeräumt wird, mit einem fundamentalen Sinnesumschwung Spartacus’. Nach seinen ersten großen Siegen über die römischen Truppen will er sein Sklavenheer nicht mehr in die Freiheit führen, sondern in einen Vernichtungskampf gegen Rom, an dessen Ende seine eigene Erhebung zur Königswürde stehen soll: »Ein Reich zu gründen, wo Gesetz mein Wille, Die Feind’ auf ’s Haupt geschlagen, die mir lästig, Die Freunde glücklich und durch mich! und Alles Dann fest gebaut, gegründet und geründet, Des Willens unbeschränkte Freiheit mir nur Verstattet, und mit mir zu Grab’ getragen, Mein Erbe rings von Schranken gleich umzogen, Sobald mein Aug’ bricht! König Spartacus!« 23 So wird Spartacus zum Trauerspielhelden der Restaurationsepoche: In der Zeit, in der die Könige in ihre alten Rechte eingesetzt werden, will auch er zum König werden und muss gerade deshalb scheitern, denn er stützt sich nicht auf das Prinzip der Legitimität, sondern auf sein Charisma und ein Heer von Freiheitskämpfern, für das vier Jahre nach Gründung der Heiligen Allianz kein Bedarf mehr besteht. Umso nötiger ist es für den Dramatiker, den sozialrevolutionären Charakter des Spartacusaufstands zu tilgen. Er tut dies nicht allein dadurch, dass er Spartacus das Amt eines absolutistisch regierenden Königs anstreben lässt, sondern vor allem damit, dass er Spartacus in seinem großen Dialog mit Crassus im letzten Akt das von Lessing vorgegebene Thema des moralischen Abstands zwischen dem Führer und seiner Gefolgschaft im Sinne einer sozialpolitischen Verwerfungsgeste verschärfen lässt: Die von ihm Befreiten waren diesen Führer gar nicht wert; ein Argument, dem im 20. Jahrhundert noch eine gespenstische Karriere

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bevorsteht. Spartacus sagt zu Crassus: »Für mich nur kämpft’ ich, denn die Andern waren’s / Nicht werth, für sie zu kämpfen.« 2 4 So transformiert sich der große Sozialrevolutionär in der Restaurationsepoche zum antiegalitären und antirevolutionären Ideenspender. Als Spartacus klar wird, dass sich Crassus, der legitime Vertreter der Macht, nicht auf seinen Vorschlag eines gemeinsamen Kampfs gegen Rom einlassen wird, optiert er am Ende für eine biedermeierliche Lösung – Rückzug aus der großen Politik in die Provinz und in den Kreis der Familie: »Doch ich habe Nun ausgespielt und will nach Hause gehen, Zu meinem Weibe, meinem Buben. War ich Doch glücklicher, wenn meine Wies’ ich mähte, Als an der Spitze vieler Tausende Auf Rom losziehend.« 25 Doch diese biedermeierliche Selbstdomestikation des Sozialrevolutionärs lassen weder die Gesetze des Trauerspiels noch diejenigen der Ära Metternich zu, und so stirbt Spartacus denn am Ende den Tod in der Schlacht, betrauert von seinen engsten Gefährten, die an seiner Leiche die Ideologie der Restaurationsepoche absegnen: »Du könntest noch dort [bei seinem Weibe] schlafen und Kinder zeugen und alt werden, hätte es keine Kronen gegeben, und keine Hoffnung, sie sich auf ’s Haupt zu setzen.« 26 So bestätigt Friedrich von Uechtritz das Prinzip der politischen Legitimität und räumt den Untertanen allenfalls ein biedermeierliches Triebschicksal ein (»schlafen und Kinder zeugen und alt werden«). Massiver kann die Entschärfung des sozialpolitischen Sprengstoffs, der dem Spartacus-Thema innewohnt, nicht vorangetrieben werden. Uechtritz’ Trauerspiel zeigt immerhin, welcher politischen Uminterpretation es bedurfte, um das Spartacus-Thema in der Restaurationsepoche überhaupt literarisch bearbeiten zu können. Dies gibt zugleich eine Erklärung dafür, weshalb sich die Autoren des politischen Vormärz, die doch mit Spartacus eine heroische Identifikationsfigur hätten gewinnen können, sich des Themas nicht annahmen: Es war politisch zu brisant. 27

DIE HISTORISTISCHE NEUTR ALISIERUNG EINES STOFFES Die Rezeptionssituation änderte sich grundlegend mit dem Scheitern der bürgerlichen Revolution im Jahre 1848. Jetzt trat das Spartacus-Thema in Deutschland in die Phase seiner historistischen Konjunktur, und seit Beginn der sechziger Jahre entstand eine Fülle von Spartacus-Dramen. Die historistische Einbettung und Umfriedung des Themas bedeutete freilich auch, dass es seine spezifische ideelle Dignität und sozialpolitische Brisanz verlor; es war ein Thema unter vielen anderen aus der römischen Geschichte,

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die damals die Bühnen der Hoftheater bevölkerten, und wie jeder geschichtliche Stoff gleich unmittelbar zu Gott, ohne noch einen spezifischen Aktualitätsbezug zu entfalten. Und wenn hier und da auch noch auf eine lustfeine Weise mit der Aufstandsthematik gespielt wurde, dann doch nicht so, dass sie ein Publikum hätte irritieren können, das Harriet Beecher Stowes Uncle Tom’s Cabin (1851) bereits kannte und sich deshalb jederzeit gerührt gegen die Sklaverei ausgesprochen hätte. 1855 legte Theodor Mommsen mit magistraler Geste auf fünf Seiten des dritten Bandes seiner Römischen Geschichte das Spartacus-Bild neu fest: mit viel Sympathie, wie seit Lessing in Deutschland üblich, für Spartacus’ »Gerechtigkeit« und »Tapferkeit«, insgesamt aber doch als das Portrait eines »Räuberhauptmanns«, dem genau das fehlte, worauf Mommsens bürgerlich-liberaler Realitätstüchtigkeit alles ankam: Politikfähigkeit (»wie die Bewegung einmal war, blieb sie trotz ihrer glänzenden Siege ein Räuberaufstand und unterlag weniger der Uebermacht ihrer Gegner als der eignen Zwietracht und Planlosigkeit«). 28 Seine historistische Neutralisierung zu einem Stoff neben vielen anderen ging mit der ideellen Entleerung des Spartacus-Themas einher. So blieb im Grunde neben dem lustvollen Schauder, mit dem eine gescheiterte Revolution konsumiert werden konnte, nur noch der Sensationswert des blutigen Stoffes, der sich nach dem Sklave-liebt-weißeHerrin-Schema jederzeit mit erotischen Ingredienzien anreichern ließ. Nach diesem Muster haben die Autoren der zweiten Jahrhunderthälfte das Spartacus-Thema in das Formschema der klassizistischen Dramaturgie gepresst, wobei die Fünfaktigkeit immer konsequent eingehalten wird, und von entsprechender künstlerischer Trostlosigkeit sind diese Spartacus-Dramen. Dabei hätte ihnen schon der klügste deutsche Dramatiker des zweiten Jahrhundertdrittels, Friedrich Hebbel, sagen können, dass sich das SpartacusThema als Stoff für ein Trauerspiel für immer erledigt hatte. Hebbel hat noch in seinem Todesjahr 1863 über den Spartacus-Stoff nachgedacht, ihn aber als Thema für eine Tragödie rasch wieder verworfen; die Gründe hierfür nennt er in einem Brief vom 27. Januar 1863: »Das indische Kastenwesen, der römische Sclavenkrieg mit Spartacus, der Deutsche Bauern-Aufruhr u.s.w. […] können nur auf dem religiösen oder dem communistischen Standpunct Tragödien abgeben, denn der religiöse kennt eine Schuld des ganzen Menschen-Geschlechts, für welche das Individuum büßt, und der communistische glaubt an eine Ausgleichung. Ich kenne die eine nicht und glaube nicht an die andere.« 29 In der Konsequenz bedeutet diese Verwerfung Spartacus’ als Tragödienthema – Spartacus trägt keine individuelle Schuld, weil seine Problematik politisch und sozial begründet ist –, dass das Thema sich nur in Form eines religiösen, also auf die Idee einer transzendenten Versöhnung hinauslaufenden oder eines sozialen, auf innerweltlichen Ausgleich zielenden Dramas behandeln lässt; beide Optionen hat der herrliche Hochmut von Hebbels Pantragismus verworfen. 1861 erschien das Trauerspiel Spartakus von T. de Séchelles; über den Verfasser ist nur herauszufinden, dass er ein Jahr zuvor eine umfangreiche Studie La vindicte publique en France jusqu’en 1847 veröffentlicht hat und dort angibt, ein Franzose mit Wohnsitz in

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Frankfurt am Main zu sein.30 Séchelles zeichnet Spartakus nach der Schablone des rundum edlen Freiheitshelden ohne Furcht und Tadel, tapfer, bedürfnislos, uneigennützig, seiner Rhetorik zufolge ein starker Leser Schillers (»Sind wir jetzt einig Brüder?«) und nur dadurch aus der Welt zu schaffen, dass er in der Schlacht hinterrücks von Verrätern ermordet wird.31 Der Theaterästhetik des Historismus gemäß werden Kostüm und Bühnenbild detailliert ausgemalt, was zur Folge hat, dass die dröhnende Freiheitsrhetorik des Stücks jeden konkreten Aktualitätsbezug verliert, zumal am Ende Thessa, jene griechische Sklavin, die Spartakus sich zum Weibe erwählt hat, vor ihrem Selbstmord begeistert die Prophetie auf den Untergang Roms verkündet und damit dem Trauerspiel ein patriotisches Finale gibt: Von nun an werde Rom von Tyrannen regiert, bis es schließlich Rächern überliefert werde: »Die in Germaniens Wäldern ihm erwachsen.«32 Das ist, bei aller künstlerischen Kläglichkeit, historisch symptomatisch, denn hier ist zu erkennen, wie im ästhetischen Gewand des Historismus das universalistische Humanitätspathos der deutschen Klassik in eine nationale Perspektive gewendet wird. Im selben Jahr 1861 veröffentlichte auch Apollonius von Maltitz, der langjährige russische Geschäftsträger in Weimar, sein Trauerspiel Spartacus: ein geschickt gebautes Stück, in dem besonders die mythohistorische Überhöhung Spartacus’ zu einem zweiten Hannibal zur Geltung gebracht wird, was freilich zugleich jede sozialpolitische Füllung der Freiheitsrhetorik des Spartacus in diesem Drama untergräbt.33 Maltitz geht es denn auch eher darum, ein breites historisches Fresko zu malen, in dem figurenreich ein politisch zerrissenes Rom dargestellt wird, dem gleichgewichtig sein heroischer Gegner gegenübertritt. Und auch hier wieder schottet sich die dramatische Technik des ästhetischen Historismus hermetisch von jedem Aktualisierungswunsch ab. Dieser Spartacus soll bewundert werden, und damit er bewundert werden kann, darf er kein sozialrevolutionärer Zeitgenosse des Zuschauers sein, sondern muss einer fernen abgeschlossenen Vergangenheit angehören. Diese historistische Abschottung des Spartacus-Themas von allen Aktualitätsbezügen treibt im Jahre 1899 bezeichnenderweise ein Drama auf die Spitze, dem sein Verfasser die Gattungsbezeichnung »soziale Tragödie« verleiht: Alfred Kalischer hat seinem im Selbstverlag erschienenen Drama Spartacus einen insgesamt vierzig engbedruckte Seiten umfassenden Anmerkungsteil hinzugefügt, in dem er in 181 Anmerkungen seine Quellen dokumentiert und den Stoff durch zahlreiche antiquarische Hinweise derart rigoros historisiert, dass jede Möglichkeit zur Herstellung einer Verbindung zwischen dieser sozialen Tragödie und derjenigen seiner eigenen Zeit ausgeschlossen erscheint.34 Während seiner Berliner Studienzeit als begeisterter Hörer Theodor Mommsens schrieb 1869 auch der junge Ernst von Wildenbruch sein Drama Spartacus; 1873 wurde der Text noch einmal gründlich überarbeitet. Da Wildenbruchs Versuche, das Drama bei einem Theater unterzubringen, erfolglos blieben, blieb es zu seinen Lebzeiten ungedruckt. Es ist dennoch aufgrund einer doppelten Domestikationsstrategie, der hier der Freiheitskämpfer unterworfen wird, von eminenter historischer Symptomatik. Einmal

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entschärft Wildenbruch die sozialpolitische Dimension des Spartacus-Stoffs dadurch, dass er – wie dies implizit schon im Trauerspiel von Friedrich von Uechtritz angelegt war – konsequent den Freiheitskämpfer in eine säkulare Erlöserfigur mit universalistischem Anspruch transformiert: »Befreite Arme tut denn eure Pflicht / Und so umfangt die Knie des Erlösers!«35 Mit diesen Worten wirft sich bereits im zweiten Akt Eubule, die künftige Gefährtin Spartacus’, zu dessen Füßen, um ihm dort als messianischem Heilsbringer wortreich zu huldigen: »Nennt’ ich dich Gott, der Frevel wär’ gering!«36 Dass es sich hierbei nicht um einen Anfall hysterischer Erotik handelt, zeigt sich daran, dass diese messianische Aufladung der Spartacus-Figur von Wildenbruch in den kommenden Akten massiv vorangetrieben wird; ein Greis empfängt den Helden im dritten Akt zum Beispiel mit den Worten: »Der, von dem uns Prophezeiung Durch unsrer Väter heil’gen Mund verkündet, Daß er von Aufgang einst herkommen würde, Ein Freund der Armen, Helfer der Bedrängten, Ein Reich sich zu erbau’n, dem alles Land Der Erde einstmals untertänig sei.«37 Indem so das Versprechen einer heilsgeschichtlichen Totalerneuerung an ihn gebunden wird, sieht sich Spartacus vom Stigma des Sozialrevolutionärs befreit; auf diese Weise rüstet er sich gleichsam als antike Präfiguration der sandalentragenden Lebensreformer zum Einzug ins wilhelminische Reich. Das tut er aber auch noch auf andere Weise: Wildenbruch transformiert Spartacus zu einem naiven Helden von geringer intellektueller Stoßkraft und geistiger Stärke. Er umgibt ihn, den charismatischen Führer, deshalb mit mehreren intellektuellen Führern, die ihm offensichtlich geistig überlegen sind und als Berater dienen, so seinem Freund Oenomaos und seiner Frau Eubule. Die Zeit der Reichsgründung und der sich verschärfenden Klassenkämpfe mag sich eben einen geistig souveränen Revolutionsführer nicht mehr vorstellen, und so depotenziert sie Spartacus zum ausführenden Organ intellektueller Einflüsterungen: kraftvoll und überzeugungsstark, aber unbedingt auf geistige Steuerung angewiesen. Hundert Jahre lang war Spartacus für die Deutschen der strategische Kopf des Sklavenaufstands gewesen; jetzt, bei Wildenbruch, erscheint er plötzlich auf eigentümliche Weise von außen gelenkt. Der intellektuelle Proletarier, der seine Geschicke in die eigene Hand nimmt, muss für die Zeit ein unheimliches Schreckbild geworden sein; eine Figur wie Spartacus und ihre geschichtliche Durchsetzungskraft wurde ihr begreiflicher, wenn sie hinter ihr geistig steuernde Kräfte erkannte, die erfolgreich die ihr vertrauten Bildungsinstitutionen durchlaufen hatten. Genau diese Vorstellung – Spartacus als ausführendes Organ eines intellektuellen master mind, der den Sklavenaufstand um seiner eigenen politischen Ziele willen lenkt und nutzt – wird dann zum Strukturprinzip des einzigen nennenswerten Spartacus-

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2 Ernst Eckstein: Prusias. Roman aus dem letzten Jahrhundert der römischen Republik, Leipzig 1883, Einband.

Romans, den die deutsche Literatur hervorgebracht hat: Ernst Ecksteins Prusias. Roman aus dem letzten Jahrhundert der römischen Republik, erschienen 1883, der mittlere von Ecksteins eminent erfolgreichen Römerromanen, die sämtlich auch ins Englische übertragen worden sind; der erste hieß Die Claudier, der dritte Nero. Diese jeweils dreibändigen Romane erzählen römische Geschichte äußerst spannend und gänzlich schamlos als politische Kolportage, wie dies heute mit vergleichbarem Geschick Robert Harris in seinen Cicero-Romanen Imperium und Lustrum tut. Die fünf Jahre nach Verkündigung der Sozialistengesetze in blutiges Rot getauchte Einbandillustration des Romans Prusias deutet auf Gehalt und Konstruktionsprinzip des Romans voraus: Vor eine etwas verwegen konstruierte repräsentative Architektur in ruinösem Zustand sind links und rechts als Relikte der vielen Schlachten, die in diesem Roman geschlagen werden, Trophäen aufgestellt (Abb. 2). Oben steht unter einem Rundbogen vor goldenem Hintergrund die Lupa als Symbol des siegreichen Rom, während unten der Sterbende Fechter

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aus den Kapitolinischen Museen aufgestellt ist; er repräsentiert Spartacus und verweist zugleich auf die Imaginationsformen des ästhetischen Historismus, der seine Präsenzeffekte nicht zuletzt durch die narrative Verlebendigung überlieferter Artefakte erzielt. Darüber öffnet sich ein Fenster, das den Ausblick auf den Sonnenaufgang eines künftigen Geschichtstags zulässt. In dieses Fenster sind die Namen von Verfasser und Titelheld eingesetzt, was wiederum signalisiert, dass die geschichtliche Erneuerung nicht von dem sterbenden Spartacus ausgeht, der sein notwendiges geschichtliches Opfer gebracht hat, sondern von Prusias, einer von Eckstein erfundenen Figur. Prusias, auch er ein Charismatiker ohnegleichen, wird in den Roman als ein thrakischer Magier mit nahezu universalen Fähigkeiten eingeführt, ist aber in Wahrheit, wie sich erst zu Ende des Romans herausstellt, der Bruder Mithridates’, des Königs von Pontus und gefährlichsten Gegners von Rom. Er hat von diesem die Aufgabe erhalten, als mit unbegrenzten Mitteln ausgestatteter Geheimagent den Krieg gegen Rom in Italien selbst zu organisieren, dies zunächst dadurch, dass er die von Rom unterdrückten Osker mobilisiert. In ihren konspirativen Umtrieben stößt diese Gestalt von unheimlicher Größe zufällig auf den Sklaven Spartacus und erkennt sofort dessen militärisches Potential; Prusias ist es, der die Rebellion Spartacus’ schon in ihren Anfängen in seinen Kampf gegen Rom einbindet und sie in diesem Sinn in allen entscheidenden Schritten steuert, dies mit dem Nahziel der Aufhebung der Sklaverei und dem Fernziel der Erlösung der gesamten Menschheit von der römischen Tyrannei. Damit aber wird Spartacus zu einer sympathischen Randfigur der Geschichte, die nicht nur ihren eigenen Willen aufgibt und bedingungslos Prusias folgt, sondern zugleich das messianische Potential, mit dem Uechtritz und Wildenbruch sie aufgeladen hatten, auf den großen Meisterdenker überträgt; die Intellektuellen der Gründerzeit möchten eben selbst gern Erlöser sein und trauen diese Rolle geistig anspruchslosen Proletariern nicht zu. Nach der verlorenen Schlacht, in der Spartacus fällt, errichten die Römer für Prusias das Kreuz. Prusias aber – und diese Szene muss man sich von Ridley Scott verfilmt und mit der Musik von Hans Zimmer unterlegt vorstellen – hält vor diesem Kreuz seine große Bekenntnisrede, während der sich eine weiße Taube auf dem Querbalken niederlässt: »Aus dem Ostlande, wo die Quellen sprudeln des ewig-unvergänglichen Lichts, aus dem Ostlande wird er kommen, der große Erlöser, der da vollendet, was mir, dem Schwachen, Irrthumbefangnen, versagt blieb.«38 Kaum hat er das letzte Wort gesprochen, schluckt er Gift und stürzt tot zu Boden: »In demselben Augenblick spannte die weiße Taube, die bis dahin regungslos auf dem Stamme des Kreuzes gesessen, ihre glänzenden Flügel aus und rauschte nach Osten. ›Wahrlich, dieser Mensch war ein König!‹ klang es durch die Reihen des Volkes.«39 So also sieht es aus, wenn Intellektuelle ihre Erlösungsphantasmen entwickeln; dann stehen sie auf du und du mit der Transzendenz und richten sich die geschichtlichen Underdogs zu ihren willenlosen Instrumenten ab.

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PRIVATISIERUNG UND GEGENREVOLUTIONÄRE INVERSION Was die Geschichte von Spartacus unter den Deutschen kultur- und ideengeschichtlich so aufschlussreich macht, ist der Befund, dass sich hier die Transformationsgeschichte eines antiken Themas als Verfallsgeschichte erzählen lässt. Zug um Zug lösen sich die Ideenpotentiale auf, die seit der Entdeckung des Stoffs durch Lessing mit dem Thema verbunden wurden, und am Ende steht der große Freiheitsheld und Humanitätsvirtuose als ferngesteuerte Kampfmaschine da, die nicht mehr in der Lage ist, ihre eigenen Ziele präzise zu definieren. Das sagt nichts mehr über den historischen Spartacus, sehr viel aber über die Deutschen im Kaiserreich aus, die, wenn sie im Theater saßen, nichts von den sozialpolitischen Problemen ihrer Zeit wissen wollten, im übrigen aber gern bereit waren, sich jederzeit in solch einen kleinen Spartacus – einen Schlagetot mit Idealitätsanspruch – zu verwandeln, wenn es eine höhere Gewalt von ihnen verlangte. Die Dichter der Deutschen haben es allerdings vermocht, die Stoffgeschichte Spartacus’ noch auf eine tiefere Stufe des Verfalls zu führen. Das gelang in einer bemerkenswerten Parallelaktion den Dramatikern Franz Koppel-Ellfeld und Richard Voß, indem sie einerseits durch eine brutale Psychologisierung das Spartacus-Thema ganz und gar auf einen erotischen Konflikt reduzierten und es dabei andererseits fertigbrachten, Spartacus zu einem Gegner seines eigenen Aufstands zu machen. Der Schriftsteller, Journalist und Jurist Franz Koppel (1838–1920), häufiger Mitarbeiter des Komödienautors Franz von Schönthan, legte 1875 ein Trauerspiel Spartakus vor, das im Dezember 1875 am Königlichen Hoftheater in Dresden aufgeführt wurde. Im Falle dieses Stücks führt der Versuch einer ideellen Überhöhung des Themas nicht nur zu dessen gänzlicher Trivialisierung im Sinne einer Privatisierung des Konflikts und damit zu dessen sozialpolitischer Neutralisierung, sondern mehr noch zur gegenrevolutionären Inversion der Stofftradition. Das konnte Koppel nicht besser gelingen als dadurch, dass er seinen Spartakus in die Hände zweier Frauen gibt: Zunächst ist Spartakus das willenlose Instrument in den Händen seiner Mutter Coronis, die, getrieben vom Hass gegen die Römer, ihn zu ihrem Rächer abrichtet; dann aber verliebt sich Spartakus noch im ersten Akt in Lydia, Crassus’ Tochter. Sie erwidert seine Liebe, schmuggelt ihm einen Dolch zu, gibt ihm damit die Möglichkeit zum Aufstand und begibt sich selbst auf die Seite der Aufständischen. Spartakus steht nun zwischen Mutter und Geliebter, zwischen Hass und Liebe, entscheidet sich aber für die Liebe und damit gegen die von ihm geführten Aufständischen. Er sagt sich als griechischer Kulturheroe, der die Schändung und Zerstörung von Kunstwerken durch sein Sklavenheer nicht erträgt, von den Rebellen als »Barbaren« los und stellt sich zugleich in einen elitären Gegensatz zu den Aufständischen: »Soll ich mit jedem Fechter Brüderschaft / Aus einem Römerschädel trinken, soll / Im trunknen Reih’n mit um den Götzen tanzen!?« 40 Im Schlussakt wird Spartakus von den Verschwörern in seinem eigenen Heer ermordet, Lydia ersticht sich, Coronis aber sagt an der Leiche ihres Sohnes allem Hass ab und bekennt sich zur Mutterliebe.

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Dies war die endgültige Domestikation des Mannes, den die Aufklärung als Kämpfer für Humanität und Menschenrechte entdeckt hat, durch die historistische Ästhetik und die klassizistische Dramaturgie des Hoftheaters; endlich war es gelungen, aus dem Revolutionär einen Gegenrevolutionär zu machen und den sozialpolitischen Konflikt mit der Alternative von Liebe und Hass so sehr ins Allgemeine und Private zu verschieben, dass es kein regierendes Herrscherhaus mehr gegeben hätte, das diesem Spartakus nicht seine soziale Rehabilitation in Form einer Leutnantskarriere angeboten hätte. Kein Wunder also, dass Franz Koppel das Dresdner Soufflierbuch seines Spartakus »Ihrer Hoheit der Frau Herzogin von Sachsen-Altenburg in tiefster Ehrfurcht« handschriftlich zueignen konnte und diese es daraufhin in grünen Samt mit ornamentaler Goldprägung binden ließ (Abb. 3). 41 Allein diese Ästhetik bietet schon hinreichend Grund für eine Revolution. Danach blieb Spartacus nur noch der tödliche Abstieg in die cloaca maxima des ästhetischen Immoralismus. Sein künstlerischer Seelenführer dabei war der Schriftsteller Richard Voß (1851–1918), Erfolgsdramatiker und vielgelesener Unterhaltungsschriftsteller, der in dem 1881 erschienenen Trauerspiel Die Patricierin mit einer schamlosen Effektdramaturgie den Spartacusaufstand auf das Niveau einer tödlichen amour fou herunterschraubt. Dieser geschickt konstruierte, dramatische Reißer wurde ein großer Bühnenerfolg und noch 1896 in Reclams Universal-Bibliothek aufgenommen. Wie im Falle von Ecksteins Prusias ist auch in Voß’ Trauerspiel Spartakus, hier ein Grieche, nicht mehr der Titelheld. Die Patrizierin, die dem Stück den Titel gibt, ist Metella, das »Weib« Crassus’, eine zynisch-kühle femme fatale von reizvollster Schönheit, die alle Männer umschwärmen wie Motten das Licht, die sich erotisch aber nur verzehrt nach dem einen Mann, der ihr wahrhaft gemäß ist – und das ist, wie es die Psychologie der Kolportage vorsieht, Spartakus, der gewaltige Fechter. So wird der Spartacusaufstand in Voß’ Trauerspiel zu dem blutigen Ornament, das die Geschichte einer tödlichen Leidenschaft umfasst. Denn natürlich verfällt auch Spartakus dem erotischen Zauber der Metella und bringt es deshalb im vierten Akt fertig, die Entscheidungsschlacht gegen Crassus zu verlassen und Metella sein »Ich liebe dich!« als deren Liebessklave zu Füßen zu legen: »[…] du fesselst / An deinen goldnen Wagen Spartakus; / Denn du bist Siegerin.« 42 Die von Voß zum Einsatz gebrachte Brachialerotik – hier »Mein wilder Gott zu meinen Füßen!«, dort »Du Bacchantin! Du wilde Schwelgerin!« – erlischt in einem plötzlichen Interruptus, als die Leiche der Hero, einer von Metella aus Eifersucht vergifteten Sklavin, mit der Spartakus zuvor ein zartes Liebesverhältnis verband, auf die Bühne getragen wird und Spartakus seinen doppelten Verrat an der »reinen Seele« der Geliebten und an seinem Sklavenheer erkennt, dessen Sieg er seiner Leidenschaft geopfert hat. 43 Er findet den Tod in der Schlacht, Metella aber stößt sich, um in der Ewigkeit mit ihm vereint zu sein, bei Crassus’ Triumphzug an Spartakus’ Bahre den Dolch in die Brust, nachdem sie in ihrem Schlussmonolog wie eine vorweggenommene Salome die sexuelle Vereinigung mit dem Toten imaginiert hat: »Dein Blut auf meinen Lippen und mein Kuß / Dann auf den deinen. Ach, wie beides glühte! / Und jetzt bist du so kalt – ich bin’s noch nicht. / Mit mei-

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3 Franz Koppel: Spartakus. Ein Trauerspiel in 5 Aufzügen. Bühnen-Manuscript, Dresden o. J. [1875], Berlin, Sammlung Ernst Osterkamp

nem heißen Munde – (Sie beugt sich tiefer, reißt sich zurück.)« 4 4 Daraufhin greift sie zum Dolch, um den Liebestod zu realisieren. Es wäre selbst wiederum trivial, wenn man Stücke wie dieses allein mit dem Hinweis, sie seien trivial, abfertigen würde; dafür beherrscht Voß jene Effektdramaturgie, die aus der Verschmelzung der Ästhetik des Historismus mit den Konfliktfeldern des Salondramas erwächst, viel zu virtuos und dazu spielt er auch allzu riskant mit den Sexualpathologien jener Epoche, die wenig später in Sigmund Freud ihren Analytiker finden. Das alles freilich ist stoffgeschichtlich nicht entscheidend: Entscheidend ist vielmehr, dass die Tendenz zur Entpolitisierung, sozialpolitischen Entschärfung und letztlich Privatisierung des Spartacus-Themas bei Voß ihren Abschluss findet; er führt, drei Jahre nach Verkündigung der Sozialistengesetze, den großen Revolutionär in den Sumpf der Sexualpathologie und lässt ihn dort elend versinken. Es war aus mit Spartacus; das deutsche Theater hatte ihm Niederlage um Niederlage beigebracht und ihm schließlich seinen Todesstoß dadurch versetzt, dass es ihn an einer erotischen Obsession sterben ließ. Das aber kann jeder; dazu bedarf es wahrhaftig keines Spartacus.

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Kann sich ein Stoff von der Größe des Spartacus-Themas von der Summe all dieser Niederlagen jemals wieder erholen? Doch, dies ist möglich. Die Voraussetzung dafür bildet freilich, dass all das, was ihm literarisch angetan worden ist, vollständig vergessen wird. Ebendies ist den Deutschen tatsächlich gelungen. Dabei haben ihnen zwei Faktoren entscheidend geholfen: der Beginn der literarischen Moderne in Deutschland um 1890, die dem künstlerischen Historismus und Klassizismus, die den größten Rebell der Antike schließlich auf das Niveau eines hormongesteuerten Affektclowns herunterzudrücken vermochte, ein rasches Ende setzte, und der Untergang jener bürgerlichen Welt, die sich Spartacus nach ihrem eigenen beschränkten Maß zugerichtet hatte, in den Feuern des Ersten Weltkriegs. Dieser stoffgeschichtliche Umschlag zeichnet sich ab in dem Fragment eines Spartacus-Dramas, das im Jahre 1908 eines der Genies des Frühexpressionismus verfasst hat: Georg Heym. Dies immerhin 24 Druckseiten umfassende Fragment hat der antihistoristische Furor diktiert, von dem Heyms gedanklich von Friedrich Nietzsche munitionierte Generation juveniler Emotionsberserker entscheidend geprägt war. Deshalb kann Heym den Spartacus-Aufstand im Sinne der Grundopposition des Frühexpressionismus vitalistisch uminterpretieren: derjenigen zwischen Jugend und Alter. Er gestaltet in seinem Fragment, in dem Spartacus nur eine Randfigur bleibt, die Fechter als jugendliche Potenzprotze, denen die Römer als die Repräsentanten einer alten, erstarrten, im Wohlstand verrotteten Welt gegenüberstehen; also als jene wilhelminischen Besitzbürger, die Heym so sehr gehasst hat: »Wie doch das Wohlleben schwächt, häßlich und gemein macht«, so sagt der dritte Fechter, und: »Ach, daß alte Leute oft so unmännlich und schwach werden.« 45 Diese Opposition von Jugend und Alter, von alter und neuer Welt brauchte dann nur noch unter den Erfahrungen des Weltkriegs ins Politische gewendet zu werden, und der neue Spartacus konnte entstehen. Ab 1916 erschienen die Spartakusbriefe von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Damit begann eine neue Geschichte Spartacus’; sie wusste nichts mehr von dem, was das vorangegangene Jahrhundert ihrem Helden angetan hatte.

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Françoise Forster-Hahn

DEUTSCH, MODERN UND JÜDISCH Max Liebermanns Ausstellungen in Berlin und London 1906

»Max Liebermann ist Jude und hat sich stets auch als Jude gefühlt und freimütig bekannt. Er weiß, was er seiner Herkunft verdankt. Er fühlt sich aber gleicherzeit innigst verwachsen mit seiner Berlinischen, seiner preußisch-deutschen Heimat, deren Kultur auch die seinige ist.« 1

Als Max Liebermann am 21. April 1906 die Elfte Ausstellung der Berliner Sezession eröffnete, betonte er die individualistische Natur der neuen Kunst und die Wirkung, die eben diese Subjektivität auf das Ausstellen von Kunstwerken habe: »Es wird deshalb immer schwerer werden, dem einzelnen Künstler zur Entfaltung seiner Persönlichkeit Gelegenheit zu geben, ohne dass die Harmonie der Ausstellung darunter leidet.« Und daraus folgerte er: »Ästhetische Regeln gelten höchstens für die Kunst der Vergangenheit: Regeln für die zeitgenössische Kunst werden erst aus ihr geformt.« 2 Der Künstler und Ausstellungsmacher Liebermann hat hier die Subjektivität der modernen Kunst, also ihre eher private Natur, mit ihrer Inszenierung in der Öffentlichkeit verbunden und postuliert, dass die Individualität der ausgestellten Objekte die Kohärenz ihrer Darstellung, in seinen Worten die »Harmonie der Ausstellung» sprengt und dass dieser Bruch es dem modernen Künstler selbst erschwert, die »Entfaltung seiner Persönlichkeit« darzustellen. Dachte Liebermann bei dieser kritischen Analyse von der Dualität von Kunst und ihrer Darbietung auch an die Darstellung seiner eigenen Person und seines Werkes in der Öffentlichkeit von Ausstellungen? 1906 war ein Jahr, in dem nicht nur Texte und Ausstellungen, sondern auch biografische Wendepunkte einen Schnittpunkt in der Moderne markieren: Die Künstler der »Brücke« betraten die öffentliche Szene, Hugo von Tschudi wurde gezwungen, Urlaub von seiner Position als Direktor der Königlichen Nationagalerie zu nehmen, Harry Graf Kessler wurde in Weimar als Direktor des Museums entlassen und Max Beckmann erfuhr, dass sein Bild Junge Männer am Meer von 1905 (Weimar, Schlossmuseum) von der Berliner Sezession für die Ausstellung 1906 zurückgewiesen wurde, obwohl Liebermann in seiner Eröffnungssrede doch die Individualität der neuen Kunst betonte. Hatte Liebermann diplomatisch formuliert und über die Entwicklung der Kunst von der akademischen zur individualistischen Seite hin gesprochen, so erklärten die jungen Künstler der

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1 Max Liebermann zum 60. Geburtstag, Zeitungsseite mit einer Bildniskarikatur und sechs Gemäldekarikaturen, aus: Lustige Blätter, 1907.

»Brücke« in ihrem Gründungsmanifest einen radikalen Bruch mit der älteren Generation. Im deutschen Kaisereich erhielten diese Diskurse über Modernität und Nationalität zunehmend eine aggressive Spitze mit einem virulenten Antisemitismus, der – implizit oder explizit – der Rhetorik eine rassistische Argumentation gab. Selbst für seine liberal gesinnten Freunde und Kollegen war Liebermann der »Berliner Jude«.3 Eine Karikatur zu Liebermanns sechzigstem Geburtstag in der Zeitschrift Lustige Blätter lässt keinen Zweifel, in welcher Rolle die Redaktion den Künstler seinem Publikum vorstellt (Abb. 1). 1906 war auch das Jahr, in dem Liebermann in drei wichtigen Ausstellungen seine Werke präsentierte, drei Inszenierungen seiner Kunst, die jeweils ein präzise formuliertes ästhetisches und ideologisches Konzept visuell darstellten: Am Beginn des Jahres zeigte er eine Gruppe seiner Bilder in der sogenannten »Jahrhundertausstellung«, der Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775–1875 in der Königlichen Nationalgalerie zu Berlin, im Frühjahr in der Elften Ausstellung der Berliner Sezession im Ausstellungshaus am Kurfürstendamm und am Ende des Jahres in einer internationalen Ausstellung jüdischer Kunst in London, Exhibition of Jewish Art and Antiquities, in der Whitechapel Art Gallery. Man kann diese Liste mit einer vielsagenden Auslassung beschließen, denn die von Wilhelm von Bode für 1907 vorgeschlagene Retrospektive zu Liebermanns sechzigstem Geburtstag in der Königlich Preußischen Akademie der Künste wurde vom Kaiser abgelehnt. Wie wir sehen werden, konstruierten Konzept und Choreographie jeder dieser drei Ausstellungen eine andere Facette der – wie Liebermann es formulierte – »Entfaltung seiner Persönlichkeit.«

DIE »JAHRHUNDERTAUSSTELLUNG« Die sogenannte »Jahrhundertausstellung« war das Resultat enger und oft konfliktreicher Zusammenarbeit von Deutschlands überzeugtesten Modernisten und ein langwieriges Unternehmen, dessen Planungen sich zehn Jahre lang von Alfred Lichtwarks erster Konzeption 1896 bis zur Eröffnung am 24. Januar 1906 hinzogen. 4 Obwohl von einer Kommission geplant und von Julius Meier-Graefes Konzeption der Entwicklung der modernen Kunst beeinflusst standen die Ausstellung und ihre praktische Ausführung in der letzten Phase ihrer Verwirklichung unter der zentralen Leitung und wissenschaftlichen Autorität von Hugo von Tschudi, der seit 1896 Direktor der Königlichen Nationalgalerie war. Obwohl Lichtwark seine Idee einer deutschen Jahrhundertausstellung seit 1896 verfolgte, wurde die Verwirklichung der Ausstellung nach 1900 auch von der oft beschriebenen französischen Exposition centenale mit ihrer berühmten »Manet-Wand« auf der Pariser Weltausstellung 1900 in Paris inspiriert. Lichtwark, Tschudi und MeierGraefe, der seit 1904 mitwirkte, hatten ausführlich über die französische Jahrhundertschau geschrieben und dabei die Entwicklung der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts analysiert.5

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Trotz dieses intensiven Blicks auf die Kunst des Nachbarlandes formulierten die Organisatoren die Aufgabe der »Jahrhundertausstellung« in Berlin als »Rehabilitation« der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. 6 Diese Revision verschob die Perspektive von der akademischen Kunst auf jene Tendenzen in Landschafts-, Porträt- und Genremalerei, die in der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts vorimpressionistische Komponenten aufwiesen, und damit – so argumentierten die Organisatoren – konnte die moderne, im damaligen Sinn also die impressionistische und post-impressionistische Kunst auch in der deutschen Tradition verankert werden. Dieser doppelte Blickwinkel auf Frankreich einerseits und auf die deutsche Tradition andererseits verkoppelte in den Diskursen der Zeit die kunsthistorischen Argumente mit der ideologischen Rhetorik, denn »modern« war französisch und nicht deutsch oder patriotisch. Begleitet von modernistischen Plakaten, Katalogen und Broschüren im Design von Peter Behrens hatte die Ausstellung in Inhalt und Inszenierung eine weite Wirkung (Abb. 2). Mehr als 2000 Objekte, Bilder, Skulpturen und Zeichnungen waren aus Sammlungen ganz Deutschlands zusammengebracht und in den völlig verwandelten Räumen der Nationalgalerie ausgestellt worden. Der Architekt Peter Behrens hatte das Design für die Inneneinrichtung entworfen: eine weiße Wandverkleidung aus leinenartigem Stoff mit einer dezenten Jugenstildekoration, die wie ein Zelt im Raum den patriotischen Dekor der Nationalgalerie verhüllte und durch die helle einheitliche Farbe eine neutrale und flutende Raumwirkung schuf. Diese innovative »Überkleidungskunst« verwandelte nicht nur die historisierende Architektur des Museums, sondern bot eine Bühne für die Choreographie der Kunstwerke, die auf Karl Scheffler den Eindruck einer »impressionistischen Tendenzausstellung« machte.7 Die spektakulärste Sensation waren die Wiederentdeckung Capar David Friedrichs und die Inszenierung der frühen Bilder Adolph Menzels. Menzel, der als »Maler Friedrichs des Großen« zwar eine legendäre Figur in Berlin war, erfuhr nun eine neue Einordnung. Friedrichs und Menzels Bilder waren im zweiten Geschoss ausgestellt, und in der Lesart Tschudis so wie im Diskurs der begleitenden Texte wurden beide Maler von der Perspektive der französischen Moderne her dem Publikum als Vorläufer des Impressionsmus vorgestellt. Friedrichs Mönch am Meer beispielsweise wurde einfach als »Seestück« ausgestellt. So konnte Tschudi die atmosphärische – und nicht die symbolische – Qualität seiner Landschaftsbilder betonen und ihre Neuheit in der deutschen Malerei hervorheben, nämlich dass das »wandelnde Spiel von Licht und Luft zum ersten Mal auf deutschem Boden in Erscheinung« tritt. 8 Nun konnte die im Reich als »französisch« kritisierte Moderne der »Entwicklung« der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts eingefügt und ein »deutscher Vor-Impressionismus« erfunden werden. Wie passte nun Liebermann in diese Geschichte der deutschen Kunst, die Tschudi im Neuen Museum und auf den drei Geschossen der Nationalgalerie inszenierte? Liebermann präsentierte mit Leibl, Trübner, Thoma, Feuerbach, Marées und Böcklin im untersten Geschoss der Nationalgalerie das ausgehende Jahrhundert und die zeitgenössische

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2 Peter Behrens: Plakat für die »Jahrhundertausstellung«, Berlin 1906, Farblithografie, 69,3 × 46 cm, Berlin, Kunstbibliothek – Staatliche Museen zu Berlin.

Kunst. Tschudi widmete Liebermann ein eigenes Kabinett gegenüber dem von Leibl – Berlin versus München – und es ist anzunehmen, dass Liebermann selbst Einfluss auf die Auswahl seiner ausgestellten Bilder nahm. Zwar war Liebermann nicht direkt an der Planung und Organisation der Ausstellung beteiligt, aber als naher Freund von Tschudi, Lichtwark und zu dieser Zeit auch noch von Meier-Graefe hat er sich wohl hinter den Kulissen als Ratgeber und Kritiker beteiligt. Jedenfalls schrieb er am 28. Februar 1905 an Lichtwark: »Übrigens erzählte Tschudi mir gerade vor ein paar Stunden – natürlich unter dem strengsten Siegel der Verschwiegenheit – dass S. M. die Centennale genehmigt hätte.« 9 Wesentlich ist, dass er mit einer großen Anzahl seiner Bilder und in einem eigenen Saal ausgestellt war. Während der erste Band von Tschudis reich bebildertem Auswahlkatalog acht Bilder zeigt, listet der kleinformatige, auch von Peter Behrens entworfene Gesamtkatalog einundzwanzig Leinwände Liebermanns. 10

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3 Unbekannter Fotograf: Der Liebermann-Raum in der »Jahrhundertausstellung«, Berlin 1906, Postkarte, 9 × 13,8 cm, Oslo, National Library of Norway, Manuscript Collection.

Unter den neuerdings entdeckten vierzehn Postkarten mit Fotografien der Inneneinrichtung der »Jahrhundertausstellung« befindet sich auch eine Aufnahme des Liebermann-Saales (Abb. 3). Tschudis Auswahl umfasste Bilder von den frühen siebziger Jahren bis zu solchen, die jenseits der eigentlichen Zeitgrenze der Ausstellung, nämlich 1875, entstanden waren. Die frühen siebziger Jahre wurden unter anderem mit den Gänserupferinnen von 1872 (Berlin, Alte Nationalgalerie) und dem Selbstbildnis mit Küchenstillleben von 1873 (Gelsenkirchen, Städtisches Museum) repräsentiert; aber der Akzent von Tschudis Inszenierung liegt deutlich auf der Zurschaustellung der späteren Bilder. Die Aufnahme zeigt unter anderen – von links nach rechts in der oberen Reihe – eine vom Rand überschnittene Studie für Amsterdamer Waisenhaus von 1876 (Abb. 4), Mutter und Kind von 1877–1878 (Winterthur, Museum Stiftung Oskar Reinhart) sowie Geschwister – Die ältere Schwester von 1876 (Verbleib unbekannt). In der unteren Reihe der Hängung links, wiederum vom Rand überschnitten, eine Studie für Altmännerhaus in Amsterdam – Garten im Brentanostift in Amsterdam (Stuttgart, Staatsgalerie) von 1880, zwei kleinere Landschaften und dann – dominierend – die Arbeiter im Rübenfeld von 1876 (Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum), daneben die erste Version der Kleinkinderschule von 1880 (Abb. 5). 11 Während die Kritik die Bilder der siebziger Jahre mit französischem und holländischem Realismus und mit Mihali Munkacsy verband, konstruierte Tschudi in seiner

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4 Max Liebermann: Amsterdamer Waisenmädchen, 1876, Öl auf Leinwand, 65 × 80 cm, Berlin, Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin.

5 Max Liebermann: Kleinkinderschule in Amsterdam, 1880, Öl auf Holz, 68 × 98 cm Berlin, Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin.

Interpretation der späteren Bilder von 1876 bis 1880 die Entwicklung des Malers zum Impressionismus. Sowohl die Studien für Amsterdamer Waisenhaus und für Altmännerhaus in Amsterdam als auch das ausgeführte Bild der Kleinkinderschule definierten Liebermann lange vor 1906 als Vorbereiter des Impressionismus. Die Inszenierung der Bilder illustrierte seiner Auffassung nach die chronologische Linie der kunsthistorischen Konzeption, nämlich das »[…] Fortschreiten vom Kellerlicht des ungarischen Malers über die verschleierte Farbigkeit der Dorfstraße zur farbigen Helligkeit des Altmännerhauses und der Waisenmädchen. Man freut sich, in diesen ersten konsequenten Schritten die Anfänge einer mit stetiger Sicherheit zur impressionistischen Farbenpotenz hinführenden Entwicklung zu erkennen«. 12 Mit dieser Choreographie der Bilder und diskursiven Strategie der begleitenden Texte konnte Liebermann – wie Caspar David Friedrich und der frühe Menzel – in die Gesamtkonzeption der Ausstellung eingeordnet werden: Liebermann, der Verfechter der Moderne, wurde so in der Geschichte der deutschen Kunst des vergangenen Jahrhunderts verankert, impressionistisch und deutsch.

DIE »ELF TE AUSSTELLUNG DER BERLINER SEZESSION« Am 21. April 1906 wurde die elfte Sezessionsausstellung mit der Rede Max Liebermanns über die Individualität der modernen Kunst und die Störung der »Harmonie« in ihrer Inszenierung eröffnet. Während Tschudi den Maler in der »Jahrhundertausstellung« in einer großzügigen Auswahl als impressionistisch und deutsch vorstellte, beschickte Liebermann die Sezessionsausstellung nur mit vier Gemälden (Abb. 6), zu sehen waren drei Bildnisse und eine Genreszene, Papst Leo XIII. erteilt den Pilgern in der Sixtinischen Kapelle den Segen von 1906 (Münster, Westfälisches Landesmuseum). Die drei Porträts waren private Aufträge, das Bildnis des Fürsten Karl Max Lichnowsky von 1905 (Verbleib unbekannt), das Bildnis Freiherr Alfred von Berger und das Bildnis des Naturforschers Dr. Hermann Strebel von 1905 (Hamburger Kunsthalle). 13 Im Vergleich zur »Jahrhundertausstellung« war Liebermann hier mit seiner neuesten Produktion vertreten, stand also in einer Distanz von drei Jahrzehnten zu den in der Nationalgalerie ausgestellten Werken. Als Meier-Graefe die Sezessionsausstellung am 2. Juni für Maximilian Hardens Zukunft rezensierte, hob er sofort hervor: »Vergleicht man den Liebermann der Jahrhundertausstellung mit dem in der Sezession, so glaubt man, erst im beginnenden Alter das Temperament aller Fesseln ledig zu finden.« 14 Besonders die Porträts markierten für Meier-Graefe die Moderne in Liebermanns Werk. Lichtwark hatte zwei der ausgestellten Bildnisse für die Hamburger Kunsthalle in Auftrag gegeben, und beide Porträts, das von Alfred von Berger, dem Direktor des Deutschen Schauspielhauses, und das von Hermann Strebel, dem renommierten Naturkundler und Ethnologen, waren für Lichtwarks Porträtgalerie verdienter Hamburger Bürger bestimmt (Abb. 7). 15

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6 Thomas Theodor Heine: Plakat für die Elfte Kunstausstellung der Berliner Sezession, 1906, 35,5 × 47,5 cm, Berlin, Stiftung Stadtmuseum.

Von allen war es das Porträt Bergers, in dem nicht nur Meier-Graefe eine fast exemplarische Modernität sah, sondern das auch die ästhetische Sensibilität des Publikums von 1906 besonders ansprach. Berger war eine charismatische Persönlichkeit und bevor die erste Sitzung im Berliner Atelier stattfand, hatte Lichtwark bereits in einem Brief an Liebermann den »Kopf« charakterisiert: »Ein wunderbarer Kopf, hässlich, fast grotesk aber das Gesicht wie eine Maske, hinter der man eine große Schönheit fühlt. Sie blitzt überall durch.« 16 Es war ein Auftrag, auf den Liebermann mit einem Satz antwortete, der seine Kongenialität für das Porträtieren bedeutender Männern artikulierte: »Und da sollte ich mich nicht freuen, wenn mir Gelegenheit gegeben würde, Männer zu malen, deren Leistungen sich mehr oder weniger in ihrem Gesicht wiederspiegeln?« 17 Der Betrachter fragt sich, was sich für den Maler wohl in den Gesichtern seiner weiblichen Modelle wiederspiegelte? Den ersten Eindruck der Raum füllenden Person Bergers beschrieb Liebermann so: »Ein Mensch, drei Köpfe grösser als ich und so breit. […] Ich denke, kann man denn so etwas malen? Das ist ja kein Mensch, das ist ja ein Rhinozeros.« 18 Aber nach einigem Zögern scheint der Maler dann einen intensiven Bezug zu seinem Modell gefunden zu haben. Nach Hamburg berichtete er: »Übrigens ist H[err]. v. Berger ein famoser Man[n]

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7 Max Liebermann: Bildnis Freiherr Alfred von Berger, 1905, Öl auf Leinwand, 112 × 86, 4 cm, Hamburg, Hamburger Kunsthalle.

u. ihn zu malen, hat mir riesigen Spaß gemacht (was man dem Porträt hoffentlich anmerken wird).« 19 Die massige Gestalt Bergers ist in breiten Pinselstrichen gemalt und ganz an den vorderen Rand des Bildes gerückt, sodass die Figur den Betrachter direkt anspricht, ja, fast im Raum des Beschauers zu sein scheint. Die wachen Augen fixieren das Gegenüber, ebenso sind Körpersprache und Gesichtsausdruck auf den Betrachter gerichtet. Die malerische Ausführung bestärkt den Eindruck der expressiven Spontaneität und stellte für das Publikum von 1906 nicht nur Charisma und Temperament des Porträtierten dar, sondern auch die Modernität Liebermanns. Die Sezessionsausstellung 1906 war international und stellte nicht nur in einem kleinen Raum die Neo-Impressionisten aus mit Werken von Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Georges Seurat, Edouard Vuillard und Pierre Bonnard, sondern auch weitere moderne Franzosen sowie Werke von Wassily Kandinsky. In diesem Ausstellungskontext und im Vergleich zu der »Jahrhundertausstellung« einerseits und den französischen Künstlern andrerseits sah Julius Meier-Graefe – trotz manch herablassender Kritik an Liebermann – auch sein »Temperament aller Fes-

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seln ledig« und seine Bilder »von einer Jugendlichkeit, um die ihn die Jüngsten beneiden können.« 20 Hatte die »Jahrhundertausstellung« Liebermanns Werk als modern, aber auch als deutsch in die Geschichte eingeschrieben, so erschien die neueste Produktion seiner Malerei im Kontext der Elften Ausstellung der Berliner Sezession, und das heißt im unmittelbaren Vergleich seiner Malweise zu derjenigen der führenden Modernisten seiner Zeit, eher mit der internationalen Avantgarde verbunden.

DIE AUSSTELLUNG »JEWISH ART AND ANTIQUITIES« IN LONDON Am Ende des Jahres 1906 beteiligte sich Max Liebermann an einer der ersten internationalen Ausstellungen jüdischer Kunst. Vom 7. November bis zum 16. Dezember lief in der Whitechapel Art Gallery in London die Ausstellung Jewish Art and Antiquities, eine umfangreiche Übersicht vom Altertum bis zu zeitgenössischen Werken Josef Israels und Camille Pissarros. 21 Canon Barnett, der die Ausstellung mit einem Komitee bestehend aus Mitgliedern verschiedener jüdischer Vereine organisierte, arbeitete unter den ostjüdischen Immigranten im West End und hoffte, mit diesem Projekt, »die Beziehungen zwischen Ost- und Westjuden und letztlich zwischen Juden und Nicht-Juden durch Zerstören der Missverständnisse der Nicht-Juden über die Juden zu fördern«. 22 Ein Mitarbeiter des Führungsdienstes der Ausstellung formulierte den Zweck des Unternehmens so: Das Ziel sei es, »die Ehre des jüdischen Glaubens und der jüdischen Rasse emporzuheben, sich aber auf eine immer grössere Integration in die jeweilige nationale Umgebung hinzubewegen«. 23 Der Katalog, der den Diskurs zu den ausgestellten Kunstwerken artikulierte, hob allerdings hervor, dass die Mehrheit der zeitgenössischen Künstler keinen Unterschied des »künstlerischen Gefühls« zeige und nannte als Entwicklung für die Zukunft eine »fortdauernde Assimilation«. 2 4 Für die Ausstellung wurden also zwei polare Ziele formuliert: jüdische Identität zu stärken und jüdische Assimilation zu fördern. Die Ausstellung der Whitechapel Art Gallery war über alle Erwartungen erfolgreich. Mehr als 150 000 Besucher kamen in den fünf Wochen ihrer Laufzeit. Auch in Deutschland wurde die Ausstellung in der jüdischen Presse ausführlich besprochen, zum Beispiel in der »Illustrierten Beilage« zum Israelit und in der Allgemeinen Zeitung des Judentums. Und in der Zeitung Die Welt wurde, unter der Rubrik »Politische Revue« vermerkt, »dass die Bemühungen, die Werte jüdischer Kunst zu sammeln, sie als nationales Kulturgut der Juden vorzuführen, von Deutschland ausgingen – und doch findet die erste jüdische Kunstausstellung in London statt«. 25 Die jüdische Ausstellung wurde also auch in Deutschland wahrgenommen, und Liebermanns Beteiligung kann kein Geheimnis gewesen sein. Laut Katalog war Liebermann mit Bildern und Zeichnungen sowie mit Reproduktionen nach großen Gemälden aus den achtziger Jahre vertreten. 26 Drei Zeichnungen und eine Ölskizze lieh der englische Künstler und Sammler Sir William Rothenstein, der mit

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Liebermann bekannt war. Die großen Gemälde, die der Katalog verzeichnet, Die Gänserupferinnen von 1872 und Die Schusterwerkstatt von 1881 (Berlin, Alte Nationalgalerie) und Die Netzf lickerinnen von 1887–1889 (Hamburger Kunsthalle) waren in großen fotografischen Reproduktionen ausgestellt, die die Berliner Photographische Gesellschaft geliehen hatte. Ein Bild, das nur mit englischem Titel bekannt ist, The Elder Sister, scheint Liebermann selbst geschickt zu haben. Karl Schwarz urteilte in der Allgemeinen Zeitung des Judentums vom 7. Dezember 1906, nachdem er zuvor Maler mit »jüdischen Sujets« vorgestellt hatte, »die Namen Josef Israels, Max Liebermann, Lesser Ury u.a. sind berühmte Vertreter der allgemeinen Malerei.« Schwarz unterscheidet also hier vorsichtig zwischen Malerei mit jüdischen Bildinhalten und »allgemeiner Malerei«, also einer autonomen Kunst jenseits der Grenzen nationaler Charakteristik. 27 Trotzdem ist Liebermann in der Whitechapel Art Gallery in die Geschichte jüdischer Kunst eingebunden. In der Londoner Ausstellung traten der Maler Liebermann und sein Werk in eine um diese Zeit intensiv geführte Diskussion über jüdische Identität ein, die ihren Fokus auf die Frage richtete, ob die Kunst jüdischer Künstler spezifisch jüdische Charakteristiken aufweise. Der theoretische, kunstkritische und politische Diskurs um Nationalität und Kunst war im Kaiserreich um diese Zeit engagiert, konfliktreich, polemisch und keinesfalls konsistent in seinen ideologischen Positionen und ästhetischen Analysen. Er verlief auf verschiedenen Ebenen, die sich immer wieder kreuzten und in Max Liebermanns Person und Werkrezeption kristallisierten. Positiv gelesen ließ sich eine »befruchtende Wechselwirkung jüdischen und deutschen Geistes« feststellen, wie Arthur Galliner es formulierte, der zudem betonte, dass »mehrere Kulturen« […] in seinem [Liebermanns] Wesen zusammengeschmolzen« seien. 28 Die Diskurse der Zeit bilden ein dichtes Netz von Texten, die in schneller Abfolge von Julius Meier-Graefes Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst (1904) bis zu Friedrich Meineckes Weltbürgertum und Nationalstaat (1908) veröffentlicht wurden.

DISKURSE ÜBER NATIONALE IDENTITÄT Eine kurze Skizze des historischen Kontextes kann das Feld umschreiben, in dem die Londoner Ausstellung und ihre intellektuelle Diskussion zu sehen sind. Für den fünften zionistischen Kongress 1901 in Basel hatte Martin Buber eine Ausstellung von 48 Kunstwerken jüdischer Künstler zusammengestellt und nachdrücklich die wichtige Rolle der Bildenden Kunst als Ausdruck jüdischer Identität in seiner Rede hervorgehoben. Die Ausstellung präsentierte Werke zumeist jüdischer Themen, unter anderem von Eduard Bendemann, Josef Israrels, Ephraim Moshe Lilien, Alfred Nossig, Hermann Struck und Lesser Ury, doch Liebermann stellte nicht aus. 29 Der Basler Ausstellung von 1901 folgten dann weitere in London und Jerusalem 1906 und in Berlin 1907. Nach Buber hatte die Kunst eine zentrale Funktion im historischen Prozess, eine einzigartige jüdische Iden-

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tität im modernen europäischen Leben zu formen und auszudrücken. In seiner Rede auf dem fünften zionistischen Kongress in Basel erklärte er: »Denn in dem künstlerischen Schaffen sprechen sich die specifischen Eigenschaften der Nation am reinsten aus; alles, was diesem Volke, und nur ihm, eigen ist, das Einzigartige und Unvergleichbare seiner Individualität, findet greif bare lebendige Gestalt in seiner Kunst. So ist unsere Kunst der schönste Weg unseres Volkes zu sich selbst.«30 In Bubers Konzept sind Zionismus und jüdische Kunst »zwei Kinder […] unserer Wiedergeburt« und »unsere Kunst bedeutet noch in viel direkterer Weise einen Erzieher zum wahren Judenthum«.31 Jüdische Kunst, erklärte Buber eindringlich, hat eine zentrale Funktion in der Darstellung des wahren Judentums. Wie aber definierte Buber »jüdische« Kunst, um seine These in der Praxis des Kunstgeschehens anzuwenden? Mit einem Verweis auf die Ausstellung definierte er: »Betrachten Sie darauf die eigenthümliche Vertheilung von Licht und Schatten, das Spiel der Luft um die Körper, die Einbettung der Einzelwesen in die umgebende Natur, die weite flächenhafte Auffassung, die seltsam verinnerlichte Bewegung. Überall werden Sie Elemente jüdischer Anschauung und Gestaltung erkennen.«32 Für ihn repräsentierte Josef Israels dieses Ideal am besten; denn in seiner Kunst sei »etwas tief Jüdisches«.32 Im Vergleich zu Israels sah Buber in Liebermann zwar »einen großen Künstler«, aber: »Er ist lange nicht so sehr Jude wie Israels.« 33 Trotzdem analysierte er in Liebermanns Malerei spezifisch jüdische Elemente: »Und das Jüdische bricht, ihm selbst unbewusst, immer wieder in seinen Bildern hervor. In der Art, wie er die weite, verschwimmende Landschaft sieht, ebensowohl, wie in der Art, in der er eine ganze Gegend in einzelnen schlichten Gegenständen verkörpert und um den Menschenleib stille Schatten häuft, ist ein heimlich jüdischer Zug. Bewusst jüdisch aber wird er, wo er sich aus dem Buche unseres Volkes die Stoffe holt.«34 Natur- und Landschaftsdarstellung sind dementsprechend auch die Kunstgattungen, in denen andere Autoren »jüdische« Stilkriterien sehen. Zwei Jahre nach dem Basler Kongress publizierte Martin Buber 1903 als Herausgeber einen Sammelband, Juedische Künstler betitelt, in dem er selbst die Einleitung und einen Aufsatz über Lesser Ury verfasste und ausgewählte Autoren Essays über zeitgenössische Künstler beitrugen.35 Fritz Stahl schrieb über Josef Israels und Georg Hermann, der Autor des Romans Jettchen Gebert (1906), über Max Liebermann. Der Band sollte exemplarisch

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darstellen, welche zentrale Funktion der bildenden Kunst in der Darstellung jüdischer Identität zukommt und als Studie diejenigen Bildelemente – in Inhalt und Stil – definieren, die, nach Bubers These, spezifisch jüdische Charakteristiken bezeichnen. In seinem historischen Abriss betonte Buber: »Als die Bildkunst kam, wurde auch sie zum Träger der Volkseigenschaften.«36 Buber stellte dar, »was an bildnerischen Fähigkeiten im heutigen Judentum da ist«, und wollte mit seiner Anthologie außerdem »ein bewusst jüdisches Kunstpublikum« schaffen.37 In seinem Aufsatz über Max Liebermann versucht Georg Hermann, zwischen der Modernität in Liebermanns Bildern und den »äußeren Charakteristiken, die sinnfällig in Liebermanns Kunst den Juden als Urheber […] erkennen lassen«, zu differenzieren, kommt aber zu dem Schluss, dass diese »nicht oder nur gering vorhanden« sind.38 In seinem Bestreben, Bubers These zu folgen, löst Hermann die Ambivalenz seiner eigenen Argumentation, indem er das Jüdische »in den Eigenschaften des Temperaments, der Persönlichkeit« sieht.39 Für Hermann markieren die Gänserupferinnen einen Wendepunkt in Liebermanns Werk, und im zweiten Teil seines Essays ordnet er des Malers »Programm« in die zeitgenössische Kunst, nachdem er – entgegen Bubers These und Pissarro als Beispiel zitierend – betont: »Und die Werke jüdischer Künstler der Gegenwart unterscheiden sich äußerlich nicht von denen ihres jeweiligen Landes.« 40 Damit argumentiert er wie die Autoren des Londoner Ausstellungskataloges, die den nationalen Eigenschaften eine moderne »Allgemeinheit« gegenüber stellten und so die Grenzen der Nationalität überschritten. Als Liebermann sich 1906 an der Londoner Ausstellung beteiligte, kannte er die kunstkritischen Texte, die seine Malerei aus der Perspektive Bubers interpretierten und hatte seine ersten Bilder und Graphiken des jüdischen Viertels in Amsterdam produziert, zum Beispiel das Gemälde Judengasse in Amsterdam (Uilenburgersteeg Ecke Jodenbreetstraat), das er 1907 in der XIII. Ausstellung der Berliner Sezession zeigte (Abb. 8). 41 1902 wirkte Liebermann als Mitarbeiter des künstlerischen Teils im Juedischen Almanach mit, das der Berliner Jüdische Verlag als eines seiner ersten Publikationen herausgab. Unter den Illustrationen wurden vier Bilder des Künstlers reproduziert (Abb. 9). 42 Zudem hatte er sich auch mit der zionistischen Bewegung auseinandergesetzt. Im Juli 1902 berichtete Buber in einem Brief an Theodor Herzl über ein Gespräch mit Liebermann und Paul Cassirer: »Ich bin in meiner Überzeugung nur bestärkt worden, dass Liebermann in der nächsten Zeit Zionist wird. Er erklärte, falls der Zionismus seiner Kunst keine Schranken setzt, werde er als Mensch alles tun, um solchen Missverständnissen entgegenzuarbeiten, wie dass jeder Zionist ein konservativer Jude sein muss.« 43 Liebermann wurde nicht Zionist, sah sich aber um 1906–1907 in die Kontroversen und oft polemischen Debatten verwickelt, die moderne Kunst, deutsche und jüdische Identität,

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8 Max Liebermann: Judengasse in Amsterdam (Uilenburgersteeg Ecke Jodenbreetstraat), 1905, Öl auf Leinwand, 59 × 73 cm, Köln, Wallraf-Richartz-Museum und Fondation Corboud.

nicht nur kausal miteinander verbanden, sondern diesen Diskursen oft eine rassistische Komponente gaben. Während jüdische Philosophen und Künstler versuchten, eine spezifisch jüdische »Eigenart«, einen jüdischen »Geist«, also eine jüdische Identität in der Kunst zu definieren, griffen deutschnationale Kritiker die Internationalität der Moderne an: Modern war französisch also kosmopolitisch, und kosmopolitisch war jüdisch und nicht deutsch. Um nur einige der virulentesten Schriften zu erwähnen, die die Internationalität der Moderne – mit Liebermann im Blickpunkt – zu diesem Zeitpunkt anfeindeten: 1905 erschien Ernst Schurs Der Fall Meier-Gräfe, eine anti-modernistische Polemik, in der der Autor kritisiert: »Allerdings […] ist die in Berlin beliebte Kunstübung speziell jüdischen Gepräges. Dieses bereitwillige Nachahmen, schnelle Aufnehmen fremden Wesens (hier des französischen) ist jüdisch. Damit ist kein Vorwurf verbunden.« 4 4 1906 folgte LotharBrieger Wasservogels Der Fall Liebermann. Über das Virtuosentum in der bildenden Kunst,

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9 Juedischer Almanach, Einband, Berlin, 2. Auf l. 1904, Berlin, Jüdisches Museum.

worin Liebermann beschuldigt wird, »ein sklavischer Nachahmer des Fremden« zu sein und deshalb die »Internationalität« seiner Kunst keine »nationale Grundlage« habe. 45 In diesem Sinn spricht Karl Scheffler, ein Vertreter der Moderne, jüdischen Künstlern überhaupt »die höchste künstlerische Schöpferkraft« ab. 46 Scheffler schreibt 1906: »Wie die Verhältnisse liegen, ist es natürlich, dass die erst durch Anpassung erworbene deutschnationale Gebundenheit nicht stark genug ist, um die eingeborene Rassengemeinschaft vergessen zu machen.« Daher »erreicht der jüdische Geist eine bewunderungswürdige mittlere Höhe; aber es fehlen ihm […] die grossen Höhen und Tiefen«. 47 Im Folgenden wird Liebermann hier gemeinsam mit Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Ludwig Börne, Felix Mendelssohn-Bartholdy und anderen als Beispiel angeführt. 48 Man muss sich vergegenwärtigen, dass Scheffler das Manuskript seiner Monographie über Liebermann mit dieser These dem Künstler sogar selbst zur Begutachtung geschickt hatte! Liebermann las das Manuskript, das zum Druck bei Cassirer bestimmt war, er intervenierte, wie wir aus dem Briefwechsel zwischen dem Maler und Lichtwark wissen, und

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der Verlag lehnte daraufhin die Drucklegung ab. 49 Danach wanderte das Manuskript 1906 zum Piper Verlag nach München, wo das Buch noch im selben Jahr erschien und anschließend mehrere Auflagen erlebte. Kann man im Blick auf die Aggressivität dieser anti-modernen und gleichzeitig antisemitischen Publikationen Liebermanns Nichtbeteiligung an der jüdischen Ausstellung 1907 in Berlin als Strategie der Vorsicht interpretieren? Die Ausstellung jüdischer Künstler, organisiert von zwei überzeugten Zionisten, dem Bildhauer Alfred Nossig und dem Maler Leopold Pilichowski, wurde am 17. November 1907 eröffnet und lief bis Dezember in der Galerie für Alte und Neue Kunst in Berlin.50 Die Ausstellung wurde vom »Verein zur Förderung jüdischer Kunst« veranstaltet, und das Ausstellungskomitee verweist im Vorwort auf ihr leitendes Prinzip: »Nur das ethnologische und kulturhistorische Moment, auf dem die ganze moderne Kunstgeschichte, besonders seit Hippolyte Taine, basiert, kommt in Frage.« 51 In einer Publikation zur Ausstellung verweist Alfred Nossig auf die Londoner Schau von 1906 und versucht, die Frage zu beantworten: »[…] worin besteht die Rasseneigenart der Juden in der Kunst?« 52 Trotz aller Ambivalenz der Differenzierung zwischen jüdischen, nationalen und internationalen Tendenzen kommt Nossig zum Schluss, dass die Erfahrung und Darstellung der Heimatlosigkeit ein über die Grenzen schreitendes Element sei: »Diese in der Kulturentwicklung vereinzelt dastehende Kunst der Heimatlosigkeit« wird Nossig zufolge »zur Schilderin der namenlosen Leiden des Exils.«53 Wie schon die jüdische Ausstellung in London sowohl jüdische »Eigenart« in der präsentierten Kunst definieren wollte, aber gleichzeitig besonders die Werke zeitgenössischer jüdischer Künstler in die »allgemeine« europäische Kultur integrierte, so erstrebte auch die Berliner Ausstellung in ihrer modernen Inszenierung und ihren begleitenden Texten zwei Ziele, nämlich eine doppelte Orientierung, einerseits zur jüdischen Tradition und andererseits zur europäischen Integration.54 In der Ambivalenz der Argumentation und der Dualität der Intention und Interpretation markieren also die »Jahrhundertausstellung« und die Ausstellungen jüdischer Kunst in London und Berlin die Schnittpunkte der Diskurse, die das Modell der nationalen »Eigenart« der Kunst hinterfragen, indem sie die »allgemeine Malerei«, ihre Autonomie jenseits aller politischen, kulturellen und religiösen Grenzen, in den Blick rücken. Schon 1905, als Harry Graf Kessler seine Ausstellung Exhibition of Modern German Art für die Prince’s Gallery Knightsbridge in London organisierte, betonte er in seiner Rede Über Kunst und Patriotismus in Weimar und Berlin die Internationalität der Kunst.55 Ein Jahr später, 1906, stellte er in seinem Aufsatz Nationalität in der Zeitschrift Die Zukunft dem starren chauvinistischen Konzept – wie es der Historiker Friedrich Meinecke definierte – ein kosmopolitisches Modell gegenüber: »Deshalb ist es auch kein Gegensatz, ein guter Deutscher und ein ›guter Europäer‹ zu sein; ein Konflikt zwischen national und ›international‹ existiert nicht […]. Überhaupt ist Nationalität nichts Starres, Totes, ein für allemal Gewordenes […]. Jede Nationalität verwandelt sich fortwährend.« 56 Dieses radikal neue Modell, das die Grenzen politischer Nationen nicht im Gegensatz zu

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10 Felix H. Man: Max Liebermann in seinem Atelier, 1930, Fotografie, Berlin, Bildarchiv – Staatliche Museen zu Berlin.

einem internationalen Europa sieht, geht in seiner präzisen Formulierung über jene Dualität hinaus, die die ambivalenten Positionen über moderne Kunst prägten. Bedeutet Kesslers Konzept des Nationalen – eingebunden in die Internationalität – jene Multiplizität, die der Autor Kessler in seiner eigenen Lebenserfahrung fand und die auf seine Weise Liebermann mit ihm teilte? Die drei Ausstellungen, an denen sich Liebermann 1906 beteiligte, stellten jede eine andere Schicht seiner persona dar: die »Jahrhundertausstellung« seine Modernität verankert in der deutschen Tradition, die Elfte Ausstellung der Berliner Sezession seine internationale Verbundenheit und die Londoner Ausstellung in der Whitechapel Art Gallery sein Judentum. Die Subjektivität der neuen Kunst und die verschiedenen Facetten der Modernität – Sezession und »Brücke« – entsprachen Kesslers Modell von der fließenden, sich fortwährend verwandelnden Nationalität, das Identität nicht als starr, sondern als fluktuierend auffasst. Eine Fotografie von 1931 fängt diese fließenden Identitäten Liebermanns im Bild ein: Es zeigt den vierundachtzigjährigen Maler in seinem Berliner Atelier, dreimal in

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einer einzigen Aufnahme (Abb. 10). Versunken in die Betrachtung seines reflektierten Bildes steht Liebermann mit dem Pinsel in der Hand vor dem Spiegel und wendet dem Betrachter und seinem eigenen Selbstbildnis im Anzug mit Hut, Pinseln und Palette von 1930 den Rücken zu. Es ist ein imposantes lebensgroßes Selbstbildnis im Hochformat, das heute verschollen und nur in diesem Foto von Felix H. Man überliefert ist.57 Zentral in allen drei Darstellungen der Person Liebermanns ist die Hand, die den Pinsel hält: der Maler in seiner professionellen Rolle und bei kreativer Arbeit. Seine physische Präsenz, sein gebeugter Körper im dunklen Anzug, wird eingerahmt, fast schützend umfangen, rechts von seinem reflektierten Bild im Spiegel, links von der gemalten Selbstdarstellung auf der Leinwand. Der intensive Blick des Malers im gelben Strohhut schaut auf den gealterten Künstler, der wiederum sein eigenes Bild im Spiegel studiert: Selbstdarstellung und Kontemplation über die imaginierte und die reale, wenn auch reflektierte persona. Während das Selbstbildnis im Anzug mit Hut, Pinseln und Palette ihn an glückliche Tage in seinem Garten am Wannsee erinnert haben mag, präsentiert das kleine Bild von Manet an der Wand, halb verdeckt vom Spiegel, die frühen Jahre des Produzierens, Sammelns und Ausstellens jener Modernität, für die 1906 in Berlin die Sezession stand. Wir wissen alle, wie zwei Jahre nach der Aufnahme dieses Fotos die alten Konflikte um moderne Kunst und nationale Identität in Hitlers Deutschland ausgetragen wurden.

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Ulla Haselstein

EINE GENEALOGIE DER MODERNE Flaubert, Cézanne und Gertrude Stein

»[…] in looking and looking at this picture Gertrude Stein wrote Three Lives. She had begun not long before as an exercise in literature to translate Flaubert’s Trois Contes and then she had this Cézanne and she looked at it and under its stimulus she wrote Three Lives.« 1

In The Autobiography of Alice B. Toklas (1933) schildert Gertrude Stein die Umstände der Entstehung ihres ersten veröffentlichten Textes, des Erzählbandes Three Lives (1909). Sie benennt dort Flaubert und Cézanne als ihre Vorbilder und bezeichnet Picasso, der sein berühmtes protokubistisches Porträt der Autorin zur selben Zeit malte, als sie an Three Lives schrieb (1905–1906), als den wichtigsten Freund und Weggefährten ihrer frühen Jahre (Abb. 1). Picasso habe wie sie darum gerungen, die künstlerischen Prinzipien des 19. Jahrhunderts zu überwinden. Three Lives wurde daher wiederholt mit Picassos Arbeiten in Beziehung gesetzt. 2 Ein Zusammenhang mit dem Werk Cézannes, das Stein wie Picasso inspirierte, wird in der Sekundärliteratur hingegen nur ansatzweise diskutiert (Abb. 2).3 Steins Rezeption Flauberts hat hingegen wenig Aufmerksamkeit erfahren, obwohl eine 1905 von Stein in Angriff genommene Übersetzung von Trois Contes die Aufmerksamkeit der Autorin für die Erzählverfahren und stilistischen Entscheidungen Flauberts außerordentlich geschärft haben dürfte und in Three Lives zahlreiche Anspielungen auf diesen Text nachweisbar sind. 4 Angesichts der Fülle von Publikationen über Modernismus und Avantgarde beziehungsweise über Gertrude Stein und Three Lives ist diese Forschungslücke überraschend. In Bezug auf Flaubert kann sie als eine Folge der Zurückhaltung der Autorin erklärt werden, denn während Stein wiederholt auf die Bedeutung Cézannes für ihr Werk zu sprechen kam, sind ihre Hinweise auf Flaubert vergleichsweise spärlich, und so konnte Carl van Vechten, Steins enger Freund und Nachlassverwalter, in der Einleitung zur Neuausgabe von Three Lives 1933 behaupten, dass es zweifelhaft sei, »if Miss Stein had read Zola or Flaubert before she wrote this book«.5 Im folgenden möchte ich daher zeigen, dass Gerdtrude Stein in Three Lives eine Umschrift der Trois Contes vornimmt und aus der Auseinandersetzung mit Flaubert ein neues Darstellungsverfahren seriellen Wiederholens entwickelt.

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1 Pablo Picasso: Bildnis Gertrude Stein, 1906, Öl auf Leinwand, 99,6 × 81, 4 cm, New York, Metropolitan Museum of Art.

Beide Schriftsteller unterlaufen das Konzept eines allwissenden Erzählers, der die fiktionale Welt als intelligible Totalität entfaltet und die Begrenztheit der Selbst- und Weltentwürfe der Charaktere ermisst Die erzählerischen Mittel unterscheiden sich jedoch beträchtlich. In Un Cœur simple zeigt sich die Autorität des Erzählers in Übereinstimmung mit den dominanten gesellschaftlichen Diskursen der Zeit in einem illusionslosen materialistischen Habitus, was sich in seiner Behandlung der Hauptfigur, der Dienstmagd Félicité, niederschlägt, die als Faktotum des Haushalts der Mme Aubain geschildert wird. Die Distanz des Erzählers gegenüber Félicité wird fast durchgängig durchgehalten. Diese unbeteiligte und ungerührte Haltung wird aber durch Motive eines latenten

2 Paul Cézanne: Bildnis Madame Cézanne mit Fächer, 1878 (überarbeitet 1886–1888), Öl auf Leinwand, 92,5 × 73 cm, Zürich, Stiftung Sammlung E. G. Bührle.

christlichen Diskurses im Text konterkariert und nimmt sich aus dieser Perspektive als Erbarmungslosigkeit aus. Dreh- und Angelpunkt dieser beiden sich wechselseitig ausschließenden und zugleich einander bedingenden Ansichten des Erzählers ist Félicité, die als pauperisierte Dienstbotin und naive Gläubige zwei radikal verschiedene Modelle gesellschaftlicher Machtlosigkeit verkörpert. 6 Gertrude Stein entwickelt aus dieser Textstruktur eine neue Form der Darstellung, »a fine new kind of realism«, wie William James in einem Brief an Stein schrieb.7 In The Good Anna, dem ersten Text von Three Lives, kommt ein Erzähler zum Einsatz, der die Hauptfigur, das Dienstmädchen Anna, mithilfe sozialpsychologischer Klischees als Typus klassifiziert. Die Autorität des Erzählers beruht auf den Kategorien des common sense als Reservoir gesellschaftlicher doxa. Da der Erzähler aber dieselben sprachlichen Fehler und repetitiven Sprachmuster an den Tag legt, die er bei Anna als Konsequenz ihrer Armut und mangelnden Bildung bestimmt und bespöttelt, wird seine Haltung der Überlegenheit als Selbstverkennung und Anmaßung desavouiert und seine Autorität in Frage gestellt, die begrenzte Sicht der Figur auf die Welt zu überbieten. 8 Während die Hierarchie zwischen Erzähler und Figur in Un Cœur simple die Voraussetzung der strukturellen Verdoppelung des narrativen Diskurses bildet und daher unangetastet bleibt, wird sie in The Good Anna aufgelöst und als ein imaginärer Effekt der gesellschaftlichen Machtverhältnisse sichtbar gemacht, die der Text darstellt. 9 Beide Texte lenken mithin die Aufmerksamkeit auf die Performanz des Erzählens und exponieren dessen soziale Verortung und moralische Implikationen. Während Gustave Flaubert dies mithilfe der Figur der Ironie tut, wählt Stein ein Verfahren der Spiegelung beziehungsweise der Wiederholung.

DIE IRONIE DER IRONIE Richard Bridgmans Biographie Gertrude Stein in Pieces hat Maßstäbe für die SteinForschung gesetzt. Sein Urteil ist eindeutig: »Other than giving Three Lives its original impetus, Flaubert was of minimal significance for Gertrude Stein.« 10 John Malcolm Brinnin hingegen, auch er ein Biograph Steins, begriff die Flaubert-Übersetzung als den »Keim« von Three Lives. 11 Sein Kommentar stellt immer noch die detaillierteste Untersuchung der intertextuellen Beziehung zwischen Stein und Flaubert dar: »In the late phase when he made his last refinements of naturalism, Flaubert had related the life story of Félicité with an adstringent, almost clinical irony. With similar types of servants in mind, Gertrude set about to encompass the meanings of the lives of The Gentle Lena and the Good Anna and Melanctha not with irony, but with a magnified, slow-moving and sympathetic realism. The basis of her style was rhythmic iteration of thought and speech which, she hoped, would match the precise color-

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ful details that give visual sharpness to Flaubert’s story. The vitality of her stories would lie in the degree of deftness with which she might catch the illusion of speech and thought as they were directly perceived. […] When the respective methods of Three Lives and Un Cœur simple are compared, only a few stylistic correspondences suggest that she had any thought of directly imitating Flaubert. […] In the course of his conte, Flaubert maintains the position of the free, removed and omniscient narrator. He tells us that Félicité was saddened by certain events and made happy by others – a simple narrative method following a suggestion he made in a sketch depicting the household where his living prototype for Félicité was employed: ›Monotony of their existence – little facts.‹ Gertrude Stein, on the other hand – most particularly in Melanctha – tells us very little about her heroines. Instead, she shows them to us as the rhythms in which they speak and think are quickened or relaxed or endlessly repeated. She seldom dwells at any length on details of domestic existence; when such matters are called for, they simply crop up in the minds of the servants whose world they delimit with a naturalness wholly appropriate to the flow of the vernacular.« 12 Brinnin behauptet, dass die »rhythmische Wiederholung von Gedanken und Sätzen« in Three Lives Flauberts »farbige Details« als Mittel der Erzeugung referentieller Präzision ersetze, weil es Stein auf eine möglichst genaue Wiedergabe der Kadenzen der Umgangssprache angekommen sei, was Brinnin auf das Vorbild naturalistischer Texte zurückführt. Jenseits einiger thematischer Parallelen vermag Brinnin keine weitere Bezugnahmen Steins auf Flaubert zu erkennen. Mit dieser Auffassung von Steins Verfahren der Wiederholung, aber auch mit seiner Analyse von Flauberts Erzählung wird Brinnin der Komplexität beider Texte nicht gerecht. Die folgenden Ausführungen Brinnins müssen als besonders problematisch gelten: 1. Erzählverfahren. Brinnin bestimmt Flauberts Erzählverfahren als »simple« und verweist auf den allwissenden Erzähler des Textes. Brinnins Konzept einer einfachen, unvermittelten, sich an die Wiedergabe von Tatsachen haltenden Darstellung ist heute freilich überholt. Neuere Studien sehen im allwissenden realistischen Erzählen ein unmarkiertes Zitieren zeitgenössischer Diskurse, das die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit im Medium des Textes bestätigt, indem es die sprachlichen Konventionen des Alltags wiederholt, die wiederum ein gesellschaftliches System mitsamt seinen klassenspezifischen Persönlichkeitstypen als Tatsachen institutionalisieren. 13 Der Eindruck erzählerischer Simplizität hängt in Un Cœur simple zudem mit einer Textstruktur zusammen, in der die Erzählung immer wieder zu Tableaus verdichtet wird. Auf diese Weise wird die Ahistorizität von Félicités Existenz hervorgehoben: Félicités mechanische Bewegungen, ihre Beschränktheit und ihre regressive Traumwelt sind Teil einer Welt des Stillstands, in der Armut und Schwerstarbeit für eine unveränderliche Ordnung sorgen. Allegorische Landschaftsbeschreibungen und, in einem Schlüsselmoment, das Verfahren der erlebten Rede (»elle crut voir«) machen aber gelegentlich Félicités

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unklare Gedanken, Stimmungen und Gefühle für die Leser zugänglich. 14 In solchen Momenten wird die analytisch-distanzierte Perspektive des Erzählers durch eine latente Sympathie für Félicité und ihre selbstlose Demut gedoppelt. 2. Ironie. Brinnin sieht die Haltung des Erzählers gegenüber Félicité ausschließlich von ironischer Distanz geprägt: Félicités Gehorsam, ihre grenzenlose Ergebenheit gegenüber ihrer Herrin, ihre Frömmigkeit und Dummheit werden, so Brinnin, mit »klinischer Kälte« als Symptome gesellschaftlicher Depravation analysiert. Flaubert hat sich jedoch gegen eine solche Lektüre seines Textes gewandt. 15 Die ironische Distanz lässt sich ebenso als Konsequenz der Gestaltung der Darstellung als Montage von Zitaten des kurrenten Diskurses lesen. Die Ironie des Erzählers gegenüber Félicité schlägt dann freilich auf ihn zurück, insofern seine bornierte Perspektive eines illusionslosen Materialismus exponiert wird, der wiederum Mme Aubains Verhaltensmaximen entspricht. Da sich im Diskurs des Erzählers bei der Darstellung Félicités ein Restbestand christlicher Tugendlehre nachweisen lässt, nimmt sich Félicités Behandlung durch Mme Aubain und den Erzähler unbarmherzig und grausam aus. Die Übereinstimmung zwischen dem Erzähler und Mme Aubain kompromittiert die Autorität des Erzählers, indem sie seine Perspektive als Ideologie der erzählten Welt entlarvt und dieser Welt zuschlägt. Ist seine gelegentliche Sympathie für Félicité entsprechend als ironisches Zitat sentimentaler Mitleidsregungen der Bourgeoisie zu werten? Oder manifestiert sich darin spurenhaft ein moralischer Gegen-Diskurs? Flaubert steigert am Ende von Un Cœur simple das ironische Pathos dieser Erzählstruktur ins schier Unerträgliche: Félicités Vision auf dem Totenbett – sie sieht ihren ins Riesenhafte vergrößerten, längst dahingeschiedenen Papagei Loulou als Heiligen Geist, der sie im Himmelreich empfängt – lässt ihre naive, in Gebetsritualen eingeübte religiöse Inbrunst mit den leeren Wiederholungen eines abgerichteten Tiers korrespondieren. 3. Religion. Brinnin charakterisiert Flauberts Erzählungen als naturalistische Texte mit der Implikation, dass Flaubert ein Milieu und eine milieuspezifische Persönlichkeitsstruktur darstellen wollte. Wenn man statt dessen das Erzählen in Un Cœur simple als ein ironisches Zitieren zeitgenössischer Diskurse der Alltagswirklichkeit auffasst, in die Rudimente der christlichen Lehre eingelagert sind, ist die Bedeutung Félicités nicht länger auf ihr Milieu festgelegt: Félicité erscheint dann als die Andere des Erzählers – in gesellschaftlichem wie in moralischem Sinn. Diese strukturelle Positionierung Félicités wird deutlicher, wenn man die Erzählung in ihren Ursprungskontext zurückstellt. Alle drei Texte in Trois Contes handeln von Heiligen und ihrer je besonderen Heiligkeit. In Un Cœur simple wird das Zitat einer hagiographischen Struktur durch eine »desartikulierende écriture« verborgen; 16 Félicité lässt sich ihrerseits dank zahlreicher Allusionen auf die Passion, vor allem aber auf Alphonse de Lamartines Geneviève. Histoire d’une servante als Figur »christlicher Nächstenliebe, christlicher Tugend und christlicher Selbstverleugnung« in einer gottlosen Welt erkennen. 17 Durch das Zitat des romantischen Textes wird der christliche Gegendiskurs als kulturelles Klischee lesbar, das die Geltung des

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Faktischen bedauert, aber zugleich als sozialontologisch begründet stabilisiert. Eine solche ironische Entlarvung des christlichen Ethos als quietistischen Topos romantischer Sentimentalität stimmt mit dem Materialismus der Bourgeoisie überein. Die Ironie der Ironie lässt alle diskursiven Oppositionen kollabieren. Flaubert gibt in der grotesken Schlussszene Félicité am Ende eine gewisse Würde, weil ihre Vision in ihrer bizarren Phantastik alle frommen Phrasen eines bürgerlichen religiösen Imaginären hinter sich lässt.

PARODISTISCHE MIMIKRY UND IRONISCHE PERFORMANZ Gertrude Stein hatte ursprünglich einen anderen Titel für Three Lives vorgesehen, nämlich Three Histories. Mit der Änderung des Titels kam sie einer Bitte des Verlegers nach, der befürchtete, das Buch könnte mit historischen Publikationen im engeren Sinn verwechselt werden. 18 Auch Flaubert hatte sich gezwungen gesehen, das Wort »histoire« aus dem Titel seiner Erzählung zu streichen, hatte dann allerdings einen Titel gewählt, der eine nähere Bestimmung der Gattung vermeidet. 19 Steins neuer Titel hingegen spielt auf die Gattung der Biographie an, die ihren Lesern eine chronologische Erzählung des Lebenswegs einer historischen Person präsentiert. Diese Erwartung wird in Three Lives nur ansatzweise eingelöst. In den drei Geschichten geht es um den Alltag von Dienstmädchen, die über ihren durch Armut, Arbeit und Unwissenheit definierten sozialen Raum nie hinausgelangen. Ihr Leben wird nicht als individueller Erfahrungszusammenhang mit Höhen und Tiefen, Krisen und Kontinuitäten erzählerisch gestaltet, sondern als serielle Performanz von Sprach- und Verhaltensmustern dargestellt, die sich aus den sozialen Lebensbedingungen der Figuren ergeben. 20 Dabei ließ sich Stein vermutlich von Flauberts Charakterisierung Félicités als hölzerne Puppe und Automat inspirieren (»une femme de bois, fonctionnant d’une manière automatique«) indem sie die Metapher in ein Verfahren der Charakterisierung übersetzte. 21 Die Kapitelfolge in The Good Anna, der ersten Erzählung in Three Lives, auf die ich mich im folgenden konzentriere, ist ähnlich wie in Un Cœur simple organisiert und folgt noch stärker als Flauberts Text der Struktur einer Fallstudie. 22 Das Dienstmädchen Anna wird als Figur und Charaktertypus eingeführt, dann liefert der Erzähler einen Überblick über Annas Leben und endet schließlich mit Annas Tod. 23 Im Gegensatz zu Félicités Tod und Apotheose ist Annas Tod eine letzte Wiederholung: Ihr von der Arbeit erschöpfter Körper hört auf zu funktionieren; ihre letzten Worte gelten den Herrschaften, bei denen sie in Stellung war. Der Erzähler erklärt Anna zu einer typischen Vertreterin ihres Milieus und bringt dabei seine Übereinstimmung mit dem gesellschaftlichen common sense zur Geltung. Das christliche Sentiment, das in Un Cœur simple als Widerlager des bürgerlichen Materialismus beziehungsweise ironisch als ihr Reflex dient, fehlt in Steins Text. 2 4 Anders als der Erzähler Flauberts präsentiert Steins Erzähler das Leben des Dienstmädchens als Serie dramatischer Auftritte, und diese wiederum führen die Wieder-

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holungsstruktur von Annas Sprechen und Verhalten vor. Ist die szenische Darstellung darauf berechnet, den Lesern eine direkte Beobachtung der Figur und ein eigenes Urteil zu ermöglichen, so bietet ihnen der Erzähler dabei analytische Hilfestellung, indem er in seinen Kommentaren Details aus dem Leben der Figur anführt. Im Vergleich mit Flauberts narrativ hochgradig integriertem Text zerfällt The Good Anna damit in zwei klar voneinander abgegrenzte Schichten der Darstellung: eine dramatische Schicht szenischer Auftritte der Figur und eine diskursive Schicht der sozialen und psychologischen Analyse des Erzählers, die aber durch die Sprache Annas, nicht des Erzählers zusammengehalten werden. Hatte Auerbach Flauberts Sprache als implizites Korrektiv zur Dummheit seiner Figuren charakterisiert, so lässt sich für Steins The Good Anna nichts dergleichen behaupten, denn der Diskurs des Erzählers ahmt die Sprache der Hauptfigur ironisch nach. 25 Anna spricht ein »queer piercing German English«, das heißt, sie verfügt nur über ein begrenztes Vokabular, ihre Aussprache und ihre Grammatik sind fehlerhaft, und sie vermag keine komplexen Sätze zu bilden. 26 Ihr Reflexionsvermögen ist gering, was der Erzähler mit ihrem schichtspezifischem Bildungsmangel erklärt und mit Annas kaum gebremster Affektivität zusätzlich psychologisch motiviert: »The tradesmen of Bridgepoint learned to dread the sound of ›Miss Mathilda‹, for with that name the good Anna always conquered. / The strictest of the one price stores found that they could give things for a little less, when the good Anna had fully said ›Miss Mathilda‹ could not pay so much and that she could buy cheaper ›by Lindheims‹. / Lindheims was Anna’s favorite store, for there they had bargain days, when flour and sugar were sold for a quarter of a cent less for a pound, and there the heads of the departments were all her friends and always managed to give her bargain prices, even on other days.« 27 Wie diese den Text einleitenden Abschnitte belegen, imitiert der Erzähler seine Figur von Anfang an ironisch und parodiert ihre Beschränktheit. Der umgangssprachliche Rhythmus der Sätze, die Simplizität der Gedankenführung, der als Zitat hervorgehobene grammatische Fehler wirken nachgerade denunziatorisch. Die mehrfach wiederholte Formel »the good Anna« offenbart die herablassende Haltung des Erzählers, und die Bezeichnung von Annas kleinen erpresserischen Manövern als »Eroberung« tut ein übriges, um die ironische Distanz des Erzählers gegenüber einer Figur zu markieren, die ihre subalterne Stellung durch die Identifizierung mit ihrer Herrin Miss Mathilda in eine Position der Macht umzumünzen versteht. Denn im Gegensatz zu Félicité, die sich in selbstloser Liebe zu ihrer Herrin aufopfert und von Mme Aubain prompt zurechtgewiesen wird, als sie einmal eine scheue Geste der Sympathie wagt, ist Annas Charakter durch den Stolz auf ihre haushälterischen Fähigkeiten definiert, durch das Dominanzgebaren, mit dem sie das Personal und die Ladenbesitzer schikaniert, und durch die auf-

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trumpfende Anhänglichkeit, die sie ihren Herrschaften entgegenbringt – insbesondere Miss Mathilda: »Anna had great pride in the knowledge and possessions of her cherished Miss Mathilda, but she did not like her careless way of wearing her old clothes. ›You can’t go out to dinner in that dress, Miss Mathilda‹, she would say, standing firmly before the outside door, ›you got to go and put on your new dress you always look so nice in.‹ ›But Anna, there isn’t time.‹ ›Yes there is, I go up and help you fix it, please Miss Mathilda you can’t go out to dinner in that dress and next year if we live till then, I make you get a new hat, too. It’s a shame Miss Mathilda to go out like that.‹ / The poor mistress sighed and had to yield. It suited her cheerful, lazy temper to be always without care but sometimes it was a burden to endure, for so often she had it all to do again unless she made a rapid dash out of the door before Anna had a chance to see. / Life was very easy always for this large and lazy Miss Mathilda, with the good Anna to watch and care for her and all her clothes and goods. But alas, this world of ours is after all what it should be and cheerful Miss Mathilda had her troubles too with Anna. It was pleasant that everything for one was done, but annoying often that what one wanted most just then, one could not have when one foolishly demanded and not suggested one’s desire.« 28 Anders als für Félicité bedeutet für Anna ihre Arbeit nicht Unterwerfung. Wenn sich eine Herrschaft in Annas häusliches Regiment einmischt oder sie als Dienstbotin (»maid«) behandelt, sucht Anna sich eine neue Anstellung. 29 Anna sucht den vertrautem Umgang mit ihren Herrschaften, erwartet aber ein deren gesellschaftlichem Status entsprechendes Auftreten in der Öffentlichkeit von ihnen, damit etwas von diesem Glanz für sie abfällt. Interessant ist die Art und Weise, wie der Erzähler mit dieser altbekannten Karikatur umgeht. Denn nachdem er demonstriert hat, dass sich Annas Tyrannei aus ihrer Subalternität speist und auf welche Weise sie sich gegenüber Miss Mathilda durchzusetzen versteht, appelliert er mit einem Seufzer an den common sense der Leser (»but alas, this world of ours«) und gibt anschließend Miss Mathildas Reflexionen wieder, und zwar erneut unter Verwendung von Annas Vokabular und ihrer kruden Grammatik. Als erlebte Rede ist diese Passage dem Erzähler und der Figur zurechenbar: Es handelt sich mithin um ein ironisches Vorführen der (selbst)ironischen Anlehnung Miss Mathildas an die Ausdrucksweise ihres Dienstmädchens, da Miss Mathilda, bequem, wie sie nun einmal ist, die Kraft fehlt, um sich der Tyrannei ihrer Haushälterin zu widersetzen. Hier und an vielen anderen Stellen macht die Darstellung deutlich, dass Anna ihre Bereitschaft, »für andere zu sorgen« (wie sie selbst es nennt) – oder andere zu beherrschen (wie es die Darstellung nahelegt) – unbewusst als Strategie einsetzt, um ihre gesellschaftliche Machtlosigkeit zu kompensieren. Anna begreift ihre Arbeit als quasi-mütterliche Fürsorge; sie genießt das Gefühl, gebraucht zu werden, weil es ihr ein Gefühl der

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Überlegenheit gibt. Diese Struktur macht Anna zugleich emotional verwundbar, denn im Umgang mit Freunden und ganz besonders mit der Witwe Lehntman, Annas großer Liebe (»the romance of Anna’s life«) läuft ihre Tyrannei ins Leere, ohne dass Anna sich durch Schelten oder Schmollen schadlos halten könnte: »It was wonderful how Mrs Lehntman could listen and not hear, could answer and yet not decide, could say and do what she was asked and yet leave things as they were before.«30 Dies sind beinahe exakt dieselben Worte, die der Erzähler benutzt, um Miss Mathildas Ausweichmanöver gegenüber Annas ständigen Ermahnungen ironisch zu beschreiben. Annas Diktion und repetitive Redeweise werden vom Erzähler ironisch aufgegriffen, um die Darstellung von Annas Affektivität und ihres sturen Beharrungsvermögens auf die Spitze zu treiben. In der Haltung des Erzählers gegenüber Miss Mathilda oder Mrs Lehntman spricht sich ebenfalls ironische Distanz aus: In den Figuren und ihren Beziehungen erkennt er ein sozialpsychologisches Szenario wieder. Doch es sind nicht nur Annas Grammatikfehler, die im Diskurs des Erzählers wiederkehren, sondern dieser ist seinerseits durch stereotypische Wiederholungen charakterisiert: »Anna led an arduous and troubled life«, »You see, Anna led an arduous and troubled life«, »Mrs Lehntman was the romance of Anna’s life«, »You remember, Mrs Lehntman was the romance of Anna’s life« (eine Formulierung, die weitere drei Male wiederholt wird). Auch in der Präsentation von Miss Mathilda und Mrs Lehntman gehen szenische Darstellung und erzählerische Performanz ineinander über. Hier überlagern sich die Ironie des Erzählers und die (Selbst-) Ironie der Figuren, mit der Folge, dass die Grenzen zwischen diesen Figuren, aber auch zwischen ihnen und dem Erzähler verschwimmen. Die dem realistischen Erzählen strukturell inhärente soziale Hierarchie wird in The Good Anna in eine ebenso umfassende wie instabile Ökonomie symbolischer und affektiv besetzter Machtbeziehungen umgeschrieben, in der der Erzähler und die Figuren ihre Plätze tauschen. Die Erzählperspektive wird damit strukturell instabil. Wie in Un Coeur simple wird also auch in The Good Anna die Autorität des Erzählers kompromittiert. Anders als bei Flaubert entlarvt sich die Kontrolle des Erzählers über die Figuren als kontrafaktische Pose und wird als Element eines gesellschaftlichen Imaginären exponiert, in dem sich das soziale Verhältnis von Herr und Knecht psychologisch spiegelt und verkehrt. Damit verändert Annas Sprachmuster seinen Status im Text. Es charakterisiert nicht mehr mimetisch das Sprechen und Denken einer Figur und markiert eine ironische erzählerische Distanz, sondern verselbständigt sich zu einer selbstreferentiellen Form. Félicité wird als doppelsinnige allegorische Figur dargestellt, Anna als Verkörperung eines sozialpsychologischen Typus präsentiert. Félicités gramvolles Schweigen wird durch Annas geschwätziges Reden ersetzt. Félicités roboterhaftes Arbeiten spiegelt sich in Annas Emsigkeit, bildet aber zugleich einen Gegensatz zu Annas Tyrannei. Félicités Dummheit und Unwissenheit wird in Annas Beschränktheit übersetzt. Heißt es von Félicité, sie funktioniere automatisch, so wird Anna als Mensch mit starren Gewohn-

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heiten vorgeführt. Trotz der Ähnlichkeiten in den monotonen täglichen Verrichtungen der beiden Dienstmädchen ist es evident, dass sich die beiden Figuren in ihrem Habitus erheblich unterscheiden. Der Ironie von Un Cœur simple, die den erzählerischen Diskurs in eine Aporie führt, steht die Erzählweise in The Good Anna gegenüber, die das repetitive Sprechverhalten des Dienstmädchens in parodistischer Mimikry imitiert, sich aber ihrerseits durch stereotypische Wiederholungen als Prätention sozialer Überlegenheit entlarvt. Stein macht ihren Text als Umschrift von Flauberts Text kenntlich, indem sie Anna wie Félicité mit einem grünen Papagei ausstattet. Da Anna ihren Papagei jedoch als Versöhnungsgeschenk von der ungeliebten Tochter einer ihrer Herrschaften erhält, entwickelt sie keine Zuneigung zu ihm – sie mag Hunde viel lieber – und gibt ihn weg, als die nächste Herrschaft sich an seinem schrillen Geschrei stört.31 Im Gegensatz zu Félicités Loulou hat Annas namenloser Papagei textintern nur geringe Bedeutung: Er ist nichts als ein belangloser Gegenstand, der im umkämpften Raum der Beziehungen zwischen Herren und Dienstboten vorübergehend symbolischen Wert gewinnt. Doch Annas Name spielt auf Loulou an, der in Flauberts Text eine ritualisierte und leere Sprechweise verkörpert. Während Flaubert eine Silbe verdoppelt, benutzt Stein ein Palindrom.32 Gleichgültig, ob der Erzähler Anna ironisch zitiert und parodiert, die sich wiederum selbst wiederholt, oder aber der Erzähler sich wiederholt, wenn er Annas Selbstzitate präsentiert – das psychologische Verhältnis zwischen Herr und Knecht ist eines der Spiegelverkehrung.

DIE SPUR CÉZ ANNES Der »neue Realismus« von The Good Anna macht retrospektiv sinnfällig, wie stark die realistische Darstellung des 19. Jahrhunderts mit den sozialen Hierarchien der Zeit verwoben war. In Steins Text bewirkt die Spiegelung der Erzählinstanz in den Figuren hingegen Effekte der Enthierarchisierung und Egalisierung. Es liegt nahe, diesen Befund mit dem sozialen Kontext der Erzählung, nämlich der demokratischen amerikanischen Einwanderergesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Beziehung zu setzen.33 Flauberts und Steins Texte über das Leben eines Dienstmädchens lassen sich dementsprechend als Fallstudien über die soziale Struktur der zeitgenössischen Gesellschaften Frankreichs beziehungsweise der Vereinigten Staaten lesen, wie Georgia Johnston es vorgeschlagen hat.34 Das Zusammenfallen des Diskurses des Erzählers mit der Sprache der Figur trägt der Durchlässigkeit sozialer Hierarchien in den USA Rechnung. Die Konzentration auf eine häusliche Welt und auf weiblich kodierte Verhaltensmuster, die Vertrautheiten zwischen Herrin und Dienerin stiften, eröffnet weitere Möglichkeiten der Erklärung. Im Gegensatz zu Flaubert, dessen Erzähler einem entrückten Schöpfergott nachgebildet ist, legt Steins Erzähler die Maximen seiner Darstellung im Text offen. Einige Aussagen des

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Erzählers, zum Beispiel »Mrs Lehntman was the romance of Anna’s life«, aber auch die Verneinung dieser Aussage, »Miss Mathilda was not a romance in the good Anna’s life« deuten erotische Beziehungen zwischen den Frauen an.35 Der Enthierarchisierung des Erzählens wächst damit eine weitere Dimension als Allegorie eines antipatriarchalischen Bündnisses zwischen Frauen zu, und angesichts der dem Text zugrunde liegenden biographischen Konstellation drängen sich Bezüge zu Steins lesbischer Orientierung auf.36 Diese Lektüren haben jedoch die Tendenz, die Hybridisierung von Erzählinstanz und Hauptfigur ihrer parodistischen Energie verlustig gehen zu lassen, denn sie nehmen die Wiederholungen nur als motivierte Mimikry und nicht auch als Symptom einer Krise realistischen Erzählens wahr. Doch die Technik der Wiederholung erschöpft sich nicht in der Mimikry Annas durch den Erzähler, sondern dominiert die Erzählung insgesamt. Die Wiederholung wird zu einem selbstreferentiellen Darstellungsprinzip, welches das Verhältnis von Erzähler und Figur als ein Spiel von Figur und Grund zu fassen erlaubt. In der eingangs zitierten Passage aus The Autobiography of Alice B. Toklas erwähnt die Autorin Flaubert und Cézanne als Vorbilder bei der Gestaltung von Three Lives. In einem Interview, das Stein im letzten Jahr ihres Lebens gab, führte sie diese Beziehungen weiter aus: »Everything I have done has been influenced by Flaubert and Cézanne, and this gave me a new feeling of composition. Up to that time composition had consisted of a central idea, to which everything else was an accompaniment and separate but was not an end in itself, and Cézanne conceived the idea that in composition one thing was as important as another thing. […] that impressed me enormously, and it impressed me so much that I began to write Three Lives under this influence and this idea of composition, and I was more interested in composition at that moment, this background of a word-system, which had come to me from this reading that I had done. […] / After all, to me one human being is as important as another human being, and you might say that the landscape has the same values, a blade of grass has the same value as a tree. Because the realism of the people who did realism before was a realism of trying to make people real. I was not interested in making the people real but in the essence or, as a painter would call it, value. One cannot live without the other. This was an entirely new idea and had been done a little by the Russians but had not been conceived as a reality until I came along, but I got it largely from Cézanne. Flaubert was there as a theme. He, too, had a little of the feeling about this thing, but they none of them conceived it as an entity, no more than any painter had done other than Cézanne.«37 Stein verbindet »this thing«, die Enthierarchisierung und Egalisierung des Erzählens, mit Flauberts ironischen Texten, aber mehr noch mit Cézannes Kompositionstechnik, die allen Elementen des Bildes dieselbe Bedeutung einräumte. In Steins Text geht es nicht

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um die Figuren als solche, sondern um deren dialektische Interdependenz (»One cannot live without the other«). Die Stimme des Erzählers und die Stimme des Dienstmädchens sowie die der Herrin und des Dienstmädchens bilden eine Kippfigur, deren Scharnier die ironische Wiederholung ist. Damit zieht Stein zwei Strategien Flauberts in Un Coeur simple zusammen: dort ist der erzählerische Diskurs als ironische Spiegelung der Perspektive der Herrin angelegt, während mithilfe charakterisierender Aussagen das Verhalten der Dienstmagd als automatenhaft beschrieben wird. Die Parallele zwischen Steins Text und Cézannes Malerei ergibt sich hingegen aus der Ablösung der Wiederholung von der Gebundenheit an eine perspektivische Darstellung: Diese stellt sich vielmehr innerhalb eines durch die Wiederholung produzierten und strukturierten selbstreferentiellen Textraums her. Cézanne wahrte zwar stets den mimetischen Bezug auf ein Motiv, doch er gab den perspektivischen Illusionismus zugunsten einer Komposition preis, die aus sichtbaren und einander überlagernden Pinselstrichen, Farbflecken, Farbkontrasten und geometrischen Formen aufgebaut wird. Er brach die Grenzen zwischen Figur und Grund auf, indem er Farben wählte, die dieselben Helldunkelwerte (»valeurs«) besitzen und damit den gleichen Status im Bild beanspruchen. Figur und Grund werden wie in einem Gewebe miteinander verschränkt, was die referentielle Zuordnung der Elemente der Komposition erschwert, da sie gleichwertig behandelt werden und alle auf einander bezogen sind.38 Die Darstellung wird inkohärent, weil Figur und Grund beständig ihre Plätze tauschen; Cézanne selbst sprach in diesem Zusammenhang von »réalisation«.39 Worauf dieses Verfahren zielt, ist umstritten: Wollte er visuelle Wahrnehmungen ohne die Assoziation von im Gedächtnis niedergelegten taktilen Sinneseindrücken darstellen, die die Wahrnehmung zur räumlichen Vorstellung von Gegenständen ergänzt?40 Oder wollte er die schwankende, heterogene Fülle der visuellen Sinnesdaten aus wechselnden Blickpunkten in die Konfiguration eines Bildes übertragen, das mit seiner »unverhüllten Textur« den Gegenstand und das Sehen selbst neu zu sehen gibt?41 Cézanne habe, so Jonathan Crary, »by patiently looking in a fixed way at local areas of the field« festgestellt, dass sich unter diesen Umständen undefinierbare Verbindungen zwischen lokalen Elementen ergeben, und die Abtönungen der Farbe beobachtet, die eine geringe Verschiebung des Blickpunkts mit sich bringt. Seine Malerei zeigt die Konstruktion einer stabilen Welt als Bewusstseinsleistung, die in einer konstitutiven Spannung zum Wahrnehmungsprozess steht, in dem sich Beziehungen zwischen sich permanent verändernden visuellen Sinneseindrücken herausbilden und wieder auflösen. 42 In einem Notizbuch aus dem Jahre 1909 schreibt Stein kurz und bündig: »Now Cézanne is the great master of the realisation of the object itself«. 43 An anderer Stelle heißt es dort: »I believe in reality as Cézanne or Caliban believe in it. I believe in repetition. Always and always, must write the program of repetition.« 4 4 Für Caliban, den Wilden, der erst durch seinen Herrn Prospero sprechen lernte, ist die Welt voller wundersamer Geräusche: »[…] the isle is full of noises, / Sounds and sweet airs, that give delight and hurt not. / Sometimes a thousand twangling instruments / Will hum about mine

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ears.« 45 In Analogie zu Cézanne, der die Betrachter seiner Bilder eine neue Erfahrung des Sehens machen lässt, da die habituellen Synthesen der Wahrnehmungen im Bewusstsein durch die Komposition außer Kraft gesetzt werden, ist es Stein in ihren späteren Werken in Calibans Manier vor allem darum zu tun, die geräuschhaft-musikalische Dimension der Sprache und damit Sinnpotentiale hervorzutreiben, die durch die habituelle Fixierung auf Bedeutung gemeinhin unterschlagen werden. In ihrem Vortrag Pictures aus dem Jahr 1934 beschrieb Stein die Gemälde Cézannes und ihre Wirkung genauer: »And then […] I came to Cézanne and there you were, at least there I was, not all at once but as soon as I got used to it. The landscape looked like a landscape that is to say what is yellow in the landscape looked yellow in the oil painting, and what was blue in the landscape looked blue in the oil painting, and if it did not here still was the oil painting, the oil painting by Cézanne. The same thing was true of the people there was no reason why it should be but it was, the same thing was true of the chairs, the same thing was true of the apples. The apples looked like apples the chairs looked like chairs and it all had nothing to do with anything because if they did not look like apples or chairs or landscape or people they were apples and chairs and landscape and people. They were so entirely these things that they were not an oil painting and yet that is just what the Cézannes were they were an oil painting. They were so entirely an oil painting that it was all there whether they were finished, the paintings, or whether they were not finished. Finished or unfinished it always was what it looked like the very essence of an oil painting because everything was always there, really there.« 46 Die Gemälde Cézannes ahmen Personen, Gegenstände oder Landschaften nicht nach, sondern »sind« diese Personen, Gegenstände oder Landschaften, auch und gerade dann, wenn die Gemälde unfertig erscheinen und ihr Status als Gemälde damit exponiert wird. In Cézannes Gemälden ist der mimetische Bezug der Darstellung letzten Endes nicht entscheidend; die Gemälde sind selbstreferentiell (»it had nothing to do with anything«). An die Stelle der Mimesis tritt bei Cézanne, so die phänomenologische Rekonstruktion Merleau-Pontys, die »erlebte Perspektive«, das »natürliche Sehen«, mit dem Effekt, »die festen Dinge, die in unserem Sehfeld erscheinen, nicht von der flüchtigen Weise ihres Erscheinens [zu] trennen«. 47 Wurde zuvor die Dreidimensionalität der dargestellten Formen durch Chiaroscuro visuell vorgetäuscht, so baute Cézanne sein Bild aus Farbflecken auf, die durch ihre Überlagerung lokale Verdichtungen erzeugen und die Bildoberfläche reliefartig strukturieren, was den Gegenständen im Bild eine materielle Dichte gibt. 48 Stein nimmt diese Überlegung unter dem Gesichtspunkt der Autonomie des Gemäldes noch einmal auf:

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»There it is the oil painting in its frame, a thing in itself. There it is and it has to look like people or objects or landscapes. Besides that it must not completely only exist in its frame. It must have its own life. And yet it may not move nor imitate movement, not really, nor must it stay still. It must not only be in its frame but it must not, only, be in its frame.« 49 Das Gemälde soll ein »Eigenleben« besitzen, eine Metapher, die auf Veränderlichkeit und Bewegung abzielt.50 Stein bleibt eine Erklärung schuldig, doch liegt der Schluss nahe, in Bezug auf Cézanne sei der mimetische und zugleich dekonstruktive Effekt der rhythmischen Bewegung der Pinselstriche und der Konstruktion aus überlappenden Farbflecken gemeint. Cézanne gelang es auf diese Weise, so formulierte es wiederum MerleauPonty, die »Materie [zu] malen, wie sie im Begriff ist, sich eine Form zu geben« und damit das Sein der Dinge in einer zeitlichen Form zu »realisieren«, indem er die instabile Sicht auf die Gegenstände in eine oszillierende Komposition übersetzte.51 Das Ineinandergreifen der perzeptuellen und kognitiven Strukturen des Sehens bestimmt die Struktur des Bildauf baus und wird von jedem Betrachter eins ums andere Mal »realisiert«.

STEINS LITER ARISCHES PORTR ÄT CÉZ ANNES Im Anschluss an diese Ausführungen druckte Stein ihr Porträt Cézannes aus dem Jahr 1923 in gekürzter Form ab. In seiner vollständigen Form lautet der Text folgendermaßen: »CEZANNE. / The Irish lady can say, that to-day is every day. Caesar can say that every day is to-day and they say that every day is as they say. / In this way we have a place to stay and he was not met because he was settled to stay. When I said settled I meant settled to stay. When I said settled to stay I meant settled to stay Saturday. In this way a mouth is a mouth. In this way if in as a mouth if in as a mouth where, if in as a mouth where and there. Believe they have water too. Believe they have that water too and blue when you see blue, is all blue precious too, is all that that is precious too is all that and they meant to absolve you. In this way Cezanne nearly did nearly in this way Cezanne nearly did nearly did and nearly did. And was I surprised. Was I very surprised. Was I surprised. I was surprised and in that patient, are you patient when you find bees. Bees in a garden make a specialty of honey and so does honey. Honey and prayer. Honey and there. There where the grass can grow nearly four times yearly.« 52 Die Sätze sind entkontextualisiert, die grammatische Struktur ist fragmentarisch, die Interpunktion zurückgenommen, die insistierende deiktische Bestimmung »in this way« in ihrer Referenz unklar, komplexe Perioden fehlen. Zusammen mit den Wiederholun-

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gen und den Variationen in der Wiederholung ergibt sich eine rhythmische, vorwärtsdrängende Bewegung des Textes, wobei durch Auslassungen deren Unabgeschlossenheit betont wird, bis durch die plötzliche Einführung eines semantisch nicht anschließbaren Worts, beispielsweise »absolve«, die Insistenz der Wiederholung jäh unterbrochen wird. Die Substantive und das singuläre Adjektiv »blue« treten in diesem Wortsystem als Sinneinheiten auf, die in den Sätzen ohne Anker treiben. Einige lassen sich zu semantischen Clustern jenseits ihrer syntagmatischen Kontexte zusammenstellen: »water« – »blue« – »see« (sea) zum Beispiel, »bees« – »garden« – »honey« – »grass«, oder »mouth« – »say« – »honey« – »prayer«. Die Wörter »mouth«, »honey« und »water« bilden eine Schnittmenge, ein semantisches Feld des Oralen, ein Wort, dessen lautliche Realisierung im Englischen mit dem Hörbaren (»aural«) zusammenfällt und dadurch einen Hinweis auf die intendierte lautliche Realisierung des Textes liefert. Und schließlich gibt es Namen und Personalpronomina: »Caesar« und »Cezanne«, »he« und »we« und »I« und »they« und »you«. Sie erstellen ein basales Relationsgerüst des Porträts. »We« betont Gemeinsamkeiten gegenüber anderen (»they«), während »he« und »I« die beiden Künstler einander gegenüberstellt, Stein als porträtierende Instanz, Cézanne als ihr Darstellungsobjekt. »Caesar« ist durch die Alliteration mit Cézanne verbunden, verweist aber auch auf Gertrude Stein, die sich in ihren (posthum publizierten) erotischen Texten »Caesar« nannte und von ihren Freunden aufgrund ihres Gesichts, ihres Haarschnitts und ihres Auftretens häufig mit einem römischen Kaiser verglichen wurde.53 Stein identifizierte sich mit der welthistorischen Figur des römischen Heerführers, der in einem irreversiblen Akt der Rebellion den Rubikon überschritt und dessen Name nach seinem Tod zum Herrschertitel einer neuen Ära avancierte. Der Text inszeniert mithin Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Künstlern, ihrem Werk und ihrer historischen Bedeutung. Dem ersten Absatz kommt expositorischer Charakter zu. Während die »Irish lady«, die man vielleicht als Anspielung auf Joyce’ Molly Bloom verstehen darf, sagen kann, dass – man beachte die Interpunktion – dieses »to-day« ein beliebiger Tag ist, kann Caesar/Stein sagen, dass jeder Tag ein neues Heute, ein neues Jetzt ist, eine neue Chance auf radikalen Neubeginn birgt, während für die übrigen Zeitgenossen (»they«) ein jeder Tag so ist, wie sie es eben sagen, nämlich alltäglich und vorhersehbar. Der »Irish lady« und Caesar ist mithin gemeinsam, dass sie (im Gegensatz zu »they«) etwas über das Heute sagen können. Mit den minimalen Mitteln der Wiederholung bei gleichzeitiger Änderung der Reihenfolge einiger weniger Wörter etabliert Stein einen differenzierten kulturellen Kosmos der zeitgenössischen Erfahrung und literarischen Darstellung des Alltags und der Gegenwart. Der Name Cézanne klingt im ersten Absatz nur an (durch die Klangähnlichkeit seines Namens mit »Caesar«), so dass man den zweiten Absatz des Porträts als Antwort auf die damit aufgeworfene Frage lesen kann, wie denn nun er beziehungsweise sein Werk sich zu den Bestimmungen des Heute in modernen literarischen Texten verhält. Der zweite

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Absatz handelt nicht mehr von Zeiterfahrung, sondern drückt Zeitlichkeit räumlich aus (und profiliert damit den seit Lessing immer wieder diskutierten Unterschied der Medien von Literatur und Malerei). Die wiederholte Formel »in this way« lässt sich selbstreferentiell verstehen, als Hinweis, die Struktur des Textes als Demonstration des Arguments aufzufassen. Die entkontextualisierten und daher semantisch unterbestimmten Sätze fordern dem Leser ab, Lücken zu füllen und tentativ Bedeutungen einzusetzen und durchzuspielen: »In this way we have a place to stay and he was not met because he was settled to stay.« Es ist unklar, worauf »we« sich hier bezieht: Referiert es auf alle heute lebenden Menschen, wofür das Präsens der Aussage ein Indiz sein könnte? Oder geht es, ausgehend von dem später auftretenden Ich des porträtierenden Subjekts, um die Künstler der Moderne, die sich im Hier und Jetzt einrichten? Jedenfalls geht es um einen Gegensatz zu »ihm«, über den im Präteritum gesprochen wird. Das Verb »to settle« drückt eine Permanenz der Verortung aus, während »a place to stay« eine vorübergehende Unterkunft bezeichnet: Die Gemeinschaft des »wir« ist anders als »er« noch unterwegs, in einer unabgeschlossenen Bewegung begriffen, und das trifft für die in der Gegenwart Lebenden wie die Künstler der Moderne gleichermaßen zu. Während also die Jetztzeitigen an einem Ort des Heute Quartier beziehen, kann »er« dort nicht mehr angetroffen werden; weil Cézanne nicht mehr lebt, vor allem aber, weil er seinen festen Platz in der Geschichte der Kunst bereits zugewiesen bekommen und als Maler von dauerhaftem Rang gewürdigt wird. Denn »he was settled to stay« als eine grammatische Konstruktion im Passiv drückt einen Eingriff von außen aus; es ist also gar nicht »er« selbst, der eine Verortung gesucht und gewählt hat, die keine Veränderung und damit auch kein Heute mehr zulässt. Diese elliptischen Aussagen verdichten sich in den nächsten Sätzen, in denen das Personalpronomen »I« die Sprechsituation markiert und die Sprecherin das Vorausgegangene zunächst durch Wiederholung zu bekräftigen trachtet: »When I said settled I meant settled to stay. When I said settled to stay I meant settled to stay Saturday.« Mit dem überraschenden neuen Abschluss des ansonsten identisch wiederholten Satzes erfolgt ein radikaler Perspektivwechsel, der die semantische Architektur des »settled to stay« verändert: Nun bezeichnet die Formulierung nicht mehr die Unbeweglichkeit dauerhaften Verweilens, sondern wie bei den „Heutigen“ einen kurzen Aufenthalt. Offenbar ist es der Sprecherin darum zu tun, aus der Routine der Würdigungen der historischen Leistung Cézannes auszubrechen und ihn für die Gegenwart zu reklamieren. Denn der genannte Wochentag ist der Samstag, der Tag, an dem Gertrude Stein in der Rue de Fleurus Gäste zu empfangen pflegte. »I meant that he was settled to stay Saturday« macht den notorischen Einzelgänger Cézanne, der einer älteren Generation angehörte und dem Stein nie persönlich begegnete, zu einem Mitglied des Künstlerkreises um Stein. Die nächsten Sätze bleiben zunächst kryptisch: »a mouth is a mouth, if in as a mouth where and there«. Stein bezieht sich hier vielleicht auf die Differenz der Literatur von dem Medium der Malerei und hebt im Anschluss an die vorausgehenden Sätze hervor, dass in einem mündlichen Vortrag die Reihenfolge der Wörter (»where and there«)

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unterschiedliche Rhythmisierungen erfahren und entsprechend unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann (was in gewisser Hinsicht der Überdeterminierung der Farbflecken in Cézannes Bildern entspricht). Sobald sich die Bedeutung »Flussmündung« für »mouth« erschließt, gewinnt das Unternehmen der Lektüre noch einmal an Fahrt, denn dann ergibt sich ein Zusammenhang zum nachfolgenden Satz (»believe they have water too«). Es geht dann vielleicht um den Strom der Zeit. Doch auch das Schiff der »they« hat Wasser unterm Kiel, ihre Position und ihre Erfahrung des Alltags hat sich ebenfalls verändert. Stein betonte an anderer Stelle wiederholt, dass die Alltagserfahrung und die Kunst einer Generation eine »Komposition« bilden, die miteinander in Beziehung steht, und dass die gegenwärtige Generation beziehungsweise Komposition sich durch eine neue Intensität der Bewegung und Veränderung auszeichne.54 Die nächsten beiden Sätze formulieren die Kernaussage des Porträts. Im ersten Satz wird die Farbe Blau erwähnt, im zweiten Cézanne beim Namen genannt: »Believe they have that water too and blue when you see blue, is all blue precious too, is all that that is precious too is all that and they meant to absolve you.« Die Farbe Blau dominiert in vielen Bildern Cézannes und bewegte bekanntlich viele zeitgenössische Betrachter – wie zum Beispiel Rilke – zu Versuchen, den Stimmungs- oder Symbolwert der Blautöne zu erfassen.55 Solche Interpretationen stellten für Stein vielleicht einen Versuch dar, Cézanne von der »Sünde« (der modernen Malerei, nämlich der Abkehr von der Mimesis) loszusprechen (»they meant to absolve you«). Der erste Teil des Satzes könnte dann besagen, dass Cézannes Blau für die meisten Betrachter durch seinen Bezug auf etwas Sichtbares – zum Beispiel auf Wasser – bestimmt und damit mimetisch legitimiert wird (»believe they have that water too«). Die Sequenz ist bis auf das Demonstrativpronomen »that« mit dem vorausgehenden Satz identisch, ein unscheinbares Detail, das aber durch die Wiederholung betont wird und im Folgenden an Bedeutung gewinnt. Denn der zweite Teil des Satzes stellt eine elliptische Frage dar, die mehrmals wiederholt wird, wobei durch Umstellen das »that« von einem Demonstrativ- zu einem Relativpronomen umkodiert wird, ein Verfahren, das an Cézannes Farbflecken mit ihrer multiplen Referentialität erinnert: »and blue when you see blue, is all blue precious too, is all that that is precious too is all that.« Kommt der Wahrnehmung der Farbe Blau ein besonderer Wert zu? Oder wählt der Maler für alles, was er besonders hervorheben möchte, die Farbe Blau? Die Ersetzung von »blue« durch das Demonstrativpronomen »that« weist auf eine dritte Möglichkeit hin: Die Farbe Blau ist ein Äquivalent des deiktischen »that«, sie macht den mimetischen Bezug des Gemäldes zu einem perzeptuellen und kognitiven Ereignis für den Betrachter. Indem Stein das Wort »blue« außerdem mit zwei Reimwörtern – »too« und »you« – zusammenstellt, trifft sie überdies eine Aussage über das Verfahren Cézannes, das diese Ereignishaftigkeit begründet. Denn sie treibt damit die akustische Materialität des Wortes »blue« hervor und erzeugt eine textinterne Verweisstruktur auf ähnlich klingende Wörter, wodurch sie Cézannes immer auch selbstreferentielle Farbkomposition in ihren Text überträgt.

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Im nächsten Satz tritt die Ellipse »Cézanne nearly did« auf und wird dreimal wiederholt. Die Emphase lässt im Unklaren, was Cézanne beinahe tat, hebt aber die Anstrengung hervor, die seinem Tun zugrunde liegt. Stein mag auf diese Weise an die »Unfertigkeit« vieler Gemälde Cézannes erinnern oder an die immer wieder neu aufgenommene Auseinandersetzung des Malers mit bestimmten Motiven wie der Montagne Sainte Victoire oder vielleicht auch an die Geduld, mit der sich Cézanne seinem Ziel der »réalisation« widmete und die ihn manchmal über Jahre an ein bestimmtes Motiv fesselte. Zugleich setzt Stein mit dieser Formulierung ihre eigene künstlerische Signatur der seriellen Wiederholung in ein Verhältnis zu Cézannes Verfahren. Was also hat Cézanne immer wieder beinahe getan? Es liegt nahe, dass Stein hier den Schritt zum Modernismus meint, den sie für Three Lives reklamierte und ihrer Auseinandersetzung mit Cézannes Malerei zuschrieb. In den folgenden Sätzen erinnert sich Stein an die Schockwellen der Erkenntnis, die Cézannes Werk in ihr auszulösen vermochte, und zwar mithilfe einer insistierenden Frage, die sie an sich selbst richtet und die dem Maß der traumatischen Erschütterung gilt: »And was I surprised. Was I very surprised. Was I surprised.« Schließlich gelingt der Schritt von der performativen Vergegenwärtigung der Überraschung zu einer Feststellung (»I was surprised«). Die in ihren Valeurs changierende Formulierung des Überraschtseins korrespondiert der ebenfalls viermal auftretenden Formulierung »Cézanne nearly did«, die damit nachträglich als Ergebnis einer allmählichen Bewältigung des Schocks lesbar wird, der für Stein mit der Begegnung mit Cézannes Werk verbunden war. Anschließend wird der Prozess der Reflexion präzisiert: Die Feststellung »I was surprised« wird durch den Zusatz »and in that patient« ergänzt und dieser Zusatz dann in eine rhetorische Frage überführt (»are you patient when you find bees«); die Überraschung mündet in Steins geduldige Analyse der Verfahren Cézannes, von denen sie angestachelt wird, es Cézanne nachzutun – und ihn zu überbieten. Der Nachahmung und Überbietung Cézannes durch ein Malen mit Wörtern ist der Schluss des Porträts gewidmet. »Bees« weist auf den letzten Satz des Porträts voraus, der durch ein mit vier Wörtern realisiertes semantisches Feld charakterisiert ist. Die Kombination »bees« – »garden« – »grass« – »honey« malt eine idyllische Szene aus, vielleicht im Süden Frankreichs, wo das Gras viermal im Jahr wächst, eine Landschaft, wie sie Cézanne immer wieder malte. Während ihres ersten Besuches bei Cézannes Kunsthändler Ambroise Vollard im Jahr 1904 wollten Gertrude Stein und ihr Bruder Leo eine solche Landschaft erstehen. In The Autobiography of Alice B. Toklas berichtet die Autorin, wie Vollard sich nicht von seinen Cézannes trennen, sie nicht einmal seinen Kunden zeigen wollte, und wie die Geschwister insistierten: »They said what they wanted was one of those marvellously yellow sunny Aix landscapes of which Loeser had several examples. Once more Vollard went off and this time he came back with a wonderful small green landscape (Abb. 3).«56 Es ist vermutlich diese erste Begegnung Steins mit Cézannes Werk, auf die das Porträt hier Bezug nimmt – und auch bereits zu Beginn des Textes Bezug nahm, denn das Wort

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3 Paul Cézanne: La conduite d’eau, um 1879, Öl auf Leinwand, 60 × 50 cm, Merion, Barnes Foundation.

»grass« bildet eine Brücke zur grünen Insel der »Irish lady« des einleitenden Satzes und treibt auf diese Weise das latente Farb-Wort »green« hervor. In der Formulierung »Honey and prayer. Honey and there« evoziert »honey« die gelbe Farbe von Cézannes Landschaften bei Aix, die Stein nie ihr eigen nennen konnte, eine Farbe, die der Maler mimetisch (»there«) einsetzte, um seine geradezu religiöse Verehrung der Natur auszudrücken (»prayer«).57 Aber ebenso könnte man den Text metaphorisch lesen: Cézannes Sammeln verschiedener Wahrnehmungseindrücke resultiert im »Honig« seiner Farben, wobei diese immer den Bezug zum Dort (»there«) der dargestellten Landschaft bewahren: »There where the grass can grow nearly four times yearly.« Mit den Mitteln von Metapher und Metonymie sowie der Klangfarbe der Wörter (»grass« – »grow«, eine Reihe, deren Vokalfolge und Semantik abermals auf das latente Wort »green« verweist) macht Stein das Grün der Landschaft in ihrem Text fassbar und betont, dass der mimetische Referenzpunkt »dort«, in der Welt außerhalb des Textes ist, insofern sich dieser auf ein Bild Cézannes bezieht.

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In Cézannes Kompositionen werden Farben mimetisch eingesetzt, bezeichnen aber zugleich relationale Positionen in einer selbstreferentiellen Farbkomposition. Auch Steins Text zeigt die selbe Struktur, wobei die Referenz auf Cézannes südliche Landschaft figural ausgedrückt wird, die Klangfarbe der Wörter die grüne Farbe der Landschaft sprachlich zum Leuchten bringt, und die Deixis »there« die mimetische Relation festhält. Der Reim »nearly« – »yearly« treibt die sprachliche Materialität und damit den kompositionellen Wert der Wörter hervor, vor allem aber lässt ihr Gleichklang paradoxerweise das ihnen eingeschriebene Wort »ear« sichtbar werden. Das Spiel mit Wörtern und Farben geht noch weiter, denn in der Serie »grass« – »grow« – »nearly« – »yearly« sind die durch »honey« und »grass« ausgedrückten Farb-Wörter »yellow« und »green« buchstäblich enthalten, aber außerdem auch noch »orange« und »grey«, womit Stein ein sprachliches Äquivalent für das Mischen von Farben liefert. Ist diese anagrammatische Dimension des Textes wegen der Fixierung der Leser auf die Bedeutung der Zeichen nur schwer lesbar, so trägt die unterschiedliche Reihung der Buchstaben und die unterschiedliche schriftliche Notation desselben Vokals (»near« – [»green«]) erst recht dazu bei, die latenten Farb-Wörter zu verbergen. Schließlich hat der Text etwas Honigsüßes – wenn der Leser die Wörter des Textes in den Mund nimmt und ausspricht.

CODA Literarische Porträts tragen dem Problem, den Lesern die zu porträtierende Person nicht vor Augen zu stellen zu können, traditionell dadurch Rechnung, dass sie sich auf Aussagen über den Charakter oder die historische Leistung der porträtierten Person verlegen. Steins Porträt von Cézanne bildet keine Ausnahme. Doch sie formuliert ihre Reflexionen über die zentrale Bedeutung des Malers in der Genealogie der Moderne im allgemeinen und für Steins Schaffen im besonderen in einem Text, der grammatische Formen, syntaktische Fügungen, serielle Wiederholungen, die lautliche Materialität der Wörter und ihre schriftliche Notation zur Erzeugung plurivoker Sinn-Effekte nutzt. Da diese Effekte nicht kodiert sind, ist die Signifikation instabil und unentscheidbar vieldeutig. Der Text verlangt eine experimentelle Lektüre: Die coupierten Sätze müssen tentativ ergänzt, die figuralen Bedeutungen der Wörter mitbedacht, Reime als Indikatoren semantischer Zusammenhänge gedeutet, syntaktische Muster erkannt, anagrammatische Latenzen entdeckt werden. Der Überschuss an Sinn lässt sich durch die Feststellung semantischer Isotopien reduzieren. Die im Titel festgelegte Zugehörigkeit des Textes zur Gattung Porträt legt die basale Referenz des Textes fest und erlaubt den Rückgriff auf historische Zusammenhänge, künstlerische Programme und Selbstaussagen des Malers beziehungsweise der Autorin, die weitere Reduktionen gestatten und eine Lektüre plausibilisieren, die das Porträt als Huldigung des verehrten Meisters und zugleich als Kabinettstück begreift,

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in dem Stein demonstriert, dass sie von Cézanne gelernt – und ihn hinter sich gelassen hat. Stein verleiht Cézanne in ihrem Porträt Präsenz, indem sie dessen Verfahren in den Text transponiert. Die Anordnung in Absätze und durch Interpunktion getrennte Sätze und Satzteile gliedern es in einer Weise, die dem Einsatz geometrischer Formen in Cézannes Gemälden entspricht. Für Cézannes Farbflecken, die Figur und Grund miteinander verschränken, gibt es in Steins Text jedoch mehrere strukturelle Äquivalente. An vielen Stellen wird die syntaktische Struktur durch Schnitte im Satz aufgelöst oder durch Rhythmisierungen pluralisiert; Wörter werden in ansonsten identisch wiederholten Sätzen umgestellt und gewinnen dadurch neue Bedeutung; Referentialität und Figuralität treten einander gleichberechtigt gegenüber. Auch Cézannes Komposition, die die Farben aus ihrer mimetischen Motivierung freisetzt und sie in ein dynamisches Spiel von Valeurs überführt, hat ein Pendant in Steins Text; hier ist es die akustische Materialität der Sprache, die semantische Strukturen eigener Art ausbildet. Schließlich geben die Wiederholungen und Rhythmisierungen des Textes, seine syntaktischen Parallelisierungen und chiastischen Umkehrungen den Duktus der Pinselstriche und deren modellierende Funktion wieder. Im Vergleich zur Malerei eröffnet die Sprache eine ungleich größere Zahl von Möglichkeiten für ein Changieren zwischen Mimesis und Selbstreferenz, aber auch zwischen sinnlicher Wahrnehmung und kognitiver Bedeutung. Die »Realisierung« eines Textes besteht darin, die Leser die irreduzible Prozesshaftigkeit und Vielfalt sprachlichen Sinns erfahren zu lassen, die von der Materialität, der Figuralität und den Rhythmen der Sprache generiert und von der Grammatik, der Alltagssemantik und der Referentialität im Zaum gehalten wird. Das Cézanne-Porträt erlaubt es, in der Lektüre eine (prekäre) Balance zwischen beiden Kräften herzustellen. Damit erweist Stein Cézanne noch einmal ihre Reverenz.

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Christoph Asendor f

KÖRPER IN KRAFTFELDERN Kunst, Krieg und Raumtheorie in der Klassischen Moderne

Dass Verkehrs- und Informationstechnologien zusammenwachsen und vielfältig integrierte Zugriffsweisen auf den Raum ermöglichen, ist wohl eines der zentralen zivilisatorischen Merkmale der Jahre um 1900. Diese Entwicklungen verdichten sich in zwei Bewegungen, die man auch Raum-Avantgarden nennen könnte. Die eine entwickelt sich innerhalb des Militärs, die andere, der Futurismus, im Gesamtbereich der Künste. Als ein Ursprungstext der militärischen Raum-Avantgarde kann der Artikel Der Krieg in der Gegenwart gelten, den der preußische Generalfeldmarschall Alfred von Schlieffen veröffentlichte; auf der Seite der Künste entspricht dem das erste Futuristische Manifest. Eine merkwürdige Koinzidenz dabei ist, dass beide Texte fast gleichzeitig erschienen, 1909 nämlich, dem Jahr also, das ohnehin als annus mirabilis, als Gründungszeitpunkt der Kunst der Moderne gilt. 1 Und auf seine Weise gehört ja auch Schlieffens Text in die Annalen der Moderne. Der Generalfeldmarschall selbst war Produkt einer Modernisierungsstrategie innerhalb der preußischen Armee, die nämlich schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts und damit als erste überhaupt einen Generalstab eingerichtet hatte. 2 Damit war das Genie des alleinigen Feldherrn relativiert; an seine Seite traten Experten, die, kriegswissenschaftlich ausgebildet, in ihren jeweiligen Ressorts planerische und operative Entscheidungen vorbereiteten. Neben der Entwicklung elaborierter Verwaltungstechniken wurde auch – der wachsenden Bedeutung der Artillerie und der zahlreichen medialen Innovationen wegen – entsprechende wissenschaftliche und technische Kompetenz aufgebaut. Eine besondere Herausforderung, aber eben auch ganz neue militärische Möglichkeiten bot die Industrialisierung des Transportwesens, der dann der Rang der Eisenbahnsektion entsprach. In der Bündelung der Kompetenzen und Steuerungskapazitäten beim Generalstab liegen insgesamt derart große Potentiale, dass man hier auch vom »Gehirn« der Armee sprechen kann; ein Gehirn allerdings, »dessen Aufstieg an die Ausbildung elek-

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trischer ›Nerven‹ (Telegraf, später Telefon) und eisengebahnter ›Lebensadern‹ gekoppelt« ist.3 Eine Vorstellung ähnlicher Art, nur ins Grausige gewendet, scheint auch Max Slevogt gehabt zu haben, als er während des Ersten Weltkriegs in einer Mappe von Graphiken einen Offizier darstellte, der Befehle an seine Truppen telefoniert; als Apparat dient ein auf einem Sockel installierter Kopf, bei dem durch die geöffnete Schädelplatte hindurch das Gehirn direkt zugänglich und als Wählscheibe nutzbar ist (Abb. 1). 4 Schlieffen wurde 1891 zum Chef des Generalstabes ernannt und behielt diesen Posten bis Anfang 1906. Der Text Der Krieg in der Gegenwart vermittelt eine Einsicht in die allgemeinen Grundlagen seines militärischen Denkens. Die Spezifika moderner Kriegführung werden den Formen der Vergangenheit kontrastiert. Ein erster wichtiger Differenzpunkt ist die enorm vergrößerte Reichweite der Gewehre und Geschütze; dass sie in der Gegenwart »einen weiten Raum […] beherrschen«, erfordert eine völlig neue Kampftaktik: »Es ist nicht möglich, wie im 18. Jahrhundert in zwei Linien gegeneinander aufzumarschieren und bei nicht allzu großer Entfernung Salven auf den Feind abzugeben. Innerhalb weniger Minuten würden beide Armeen durch Schnellfeuer vom Erdboden vertilgt sein.«5 Hier ist ein ganzes und lange angewandtes militärisches Ordnungs- beziehungsweise Organisationssystem durch technische Innovation obsolet geworden: Lineare Formationen, der Vormarsch geschlossener Truppen verbieten sich, nicht einmal ein einzelner Soldat darf sich mehr frei und aufrecht bewegen. Fortan muss jeder Vormarsch in aufgelöster Formation und unter Ausnutzung jeder möglichen Deckung erfolgen. Dass die modernen Schusswaffen »einen weiten Raum […] beherrschen«, hat für Schlieffen des Weiteren zur Folge, dass die Schlachtfelder der Zukunft eine »ganz andere Ausdehnung annehmen, als wir aus der Vergangenheit kennen«. 6 Dies nun wirft enorme Probleme auf, da die immer weiter ausgedehnten Räume auch immer schwerer zu kontrollieren sind. Über Sichtachsen oder akustische Signale lässt sich das Schlachtgeschehen kaum mehr beeinflussen. Wo aber die natürlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten an ihre Grenzen stoßen, muss Ersatz gefunden werden. So beschreibt denn Schlieffen auch grundsätzlich neuartige Techniken der Steuerung: »Der Feldherr befindet sich weiter zurück in einem Hause mit geräumigen Schreibstuben, wo Draht- und Funkentelegraph, Fernsprech- und Signalapparate zur Hand sind, Scharen von Kraftwagen und Motorrädern, für die weitesten Fahrten gerüstet, der Befehle harren«.7 Es handelt sich hier um ein revolutionäres Verfahren der Dislozierung eines Ortes der Schlacht von dem ihrer Lenkung; das Schlachtfeld wird immer mehr zu einem medientechnisch kontrollierten Raum. Ein moderner Stratege wie Schlieffen muss sich dabei beides bewusst halten: die Modalitäten einer Steuerung der Schlacht aus großer räumlicher Ferne ebenso wie die Notwendigkeiten der Planung tiefgestaffelter zeitlicher Abläufe. 8 Dies erfordert ein Denken, das grundsätzlich prozessual ist, bezogen auf variable Raum-Zeit-Korrelationen. Unter Rückgriff auf den bei Clausewitz so wichtigen Begriff der Friktionen, den unvorhersehbaren Hemmungen, die sich jedem militärischen Plan notwendig entgegenstellen, beschreibt Stefan Kaufmann den modernen Krieg als ein Unternehmen möglichst

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1 Max Slevogt: Mars regiert die Stunde, 1916, Lithographie, aus: Der Bildermann, Bd. 7, H. 2, 20. April 1916.

»friktionsloser Raumbeherrschung«.9 Dies ist die übergreifende Leitvorstellung. Was bei Schlieffen dabei im Hintergrund steht, in anderen Texten jedoch explizit zum Thema gemacht wird, ist der Begriff der Simultaneität. Wie in der Welt der ästhetischen Moderne, in der Simultaneität als Zentralkategorie dient, geht es in den militärischen Texten um den gleichzeitigen Umgang mit räumlich Getrenntem. Darauf richtet sich die medientechnische »Innervation« des Raumes, seine Ausstattung gleichsam mit Sensoren und Nervenleitungen. Schlieffens Arbeit lässt sich auch als eine besondere Art von Raumplanung beschreiben, die unter Einsatz aller technischen Potentiale auf seine vielfältige Durchdringung zielt.

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Beinahe identisch sind die zentralen Bezugspunkte der futuristischen Manifeste; nur die Emphase des Krieges selbst und des Zerstören-Wollens um jeden Preis findet sich bei Schlieffen nicht. Nur den Künstlern erscheint der Krieg als »einzige Hygiene der Welt«. 10 Nur sie sehen in ihm gleichsam den großen zivilisatorischen Generator, durch dessen vorwärtstreibende Kraft die erstarrten Verhältnisse dynamisiert werden können; er ist ihnen Garant eines evolutionären Prinzips, dessen Modus produktive Destruktion ist. Zu dessen Durchsetzung reklamieren die Futuristen auch den militärischen Status einer Avantgarde, einer Vorhut nun nicht mehr im Dienst eines großen Strategen, sondern des technischen und zivilisatorischen Fortschritts insgesamt, so wie sie ihn verstehen. Doch bleibt ihr Avantgardebegriff auch auf den militärischen Ausgangspunkt bezogen; Marinetti nimmt 1919 sogar eine direkte Rückübertragung vor. In einer Rede mit dem Titel Die Sturmtruppen, Avantgarde der Nation, deren Zuhörer dreihundert Offiziere einer Eliteeinheit waren, spricht er von den Soldaten nurmehr als Vorhut, die nun aber nicht nur aus militärischen Gründen, sondern auch aus »Liebe zum Neuen, aus […] futuristischem Geist« marschiert. 11 Nach all dem sollte man erwarten, dass das Thema des Krieges ein dominantes Motiv auch der futuristischen Kunst sei. Doch wer die Werke durchmustert, wird auf den ersten Blick vergleichsweise wenige einschlägige Darstellungen finden. Eine Erklärung könnte darin liegen, dass der Krieg die Futuristen gar nicht primär seiner selbst wegen interessierte, dass sie also nicht unbedingte Bellizisten etwa im politischen Wortsinn waren, sondern dass sie den Krieg vor allem deswegen so sehr priesen, weil er die größte Verdichtung der in der technischen Welt aufgespeicherten Energien darstellte und die Möglichkeit zu deren ungehemmter Entfesselung bot. 12 Dann aber müssten sich die Darstellungen des Krieges nicht grundsätzlich von denen der modernen Lebenswelt unterscheiden. Und tatsächlich ist eine solche Differenz nicht gegeben. Ein Bild wie Umberto Boccionis Kräfte einer Straße von 1911 zeigt genauso einen kraftdurchwirkten Raum wie Gino Severinis Gepanzerter Zug in Aktion von 1915 (Abb. 2–3). Beide Gemälde repräsentieren die alles übergreifende Dynamik moderner Welterfahrung, welche die Futuristen in den Leitbegriff der Durchdringung, der »compenetrazione« fassten. Diesem Begriff sollte noch eine lange Konjunktur in den Texten der folgenden Avantgarden beschieden sein. Sein Supplement ist der Begriff der Simultaneität; von ihr sprechen die Futuristen, als würden sie Schlieffens Konzept des vernetzten Strategen ins Allgemeine transferieren, denn die modernen Menschen müssten wissen, »was ihre Zeitgenossen in allen Teilen der Welt tun«. Und weiter heißt es: »Daraus ergibt sich für den Einzelnen die Notwendigkeit, mit allen Völkern der Welt in Verbindung zu treten. Deshalb muß sich jeder als Mittelpunkt fühlen.« 13 Die Interessen koinzidieren also in einem durch die Netze der Technologie in jeder nur denkbaren Hinsicht erschlossenen Raum, dessen Gefüge ganz nach Wunsch oder Notwendigkeit und ohne zeitlichen Verzug benutzt oder manipuliert werden kann.

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2 Umberto Boccioni: Die Kräfte einer Straße, 1911, Öl auf Leinwand, 100 × 80 cm, Basel, Privatbesitz.

3 Gino Severini: Gepanzerter Zug in Aktion, 1915, Öl auf Leinwand, 116 × 89 cm, New York, Museum of Modern Art.

T YPOLOGIE DER DARSTELLUNGEN DES ERSTEN WELTKRIEGES Doch das Projekt der Raum-Avantgarden um Schlieffen und Marinetti war, auch wenn der Krieg im Fluchtpunkt steht, ein Produkt der Friedenszeit, ein Idealbild fernab der verwirrenden Realitäten des Krieges. Die konkreten Erfahrungen sollten anders aussehen und zugleich stellten sie vor ein Repräsentationsproblem. Darauf rekurriert 1917 Richard Hamann, der aus der Sicht des Kunsthistorikers umstandslos behauptet, dass eine »moderne Schlacht […] undarstellbar geworden ist«. Jede auch noch so heroische Episode sei, bezogen auf das Ganze des Geschehens, doch nur ein winziger Ausschnitt, und darum eben nicht wirklich repräsentativ. Wer das Ganze eines großen Schlachtfeldes geben wolle, müsse sich hingegen so weit von allem Einzelnen entfernen, dass sich alles Konkrete verflüchtige. Nur in der Anklage, bei den »Martyrien« der Kämpfer und Verwundeten, sieht er noch Möglichkeiten. Der Schrecken dessen aber, der im Trommelfeuer ausharren müsse, sei so undarstellbar wie überhaupt das ganze »Quantum des Leidens« im modernen Krieg. 14 Trotz solcher Einsichten aber zeigt die ungeheure Bildproduktion, die der Erste Weltkrieg in Gang setzte, und zwar nicht nur in den traditionellen Medien, sondern auch in Fotografie und Film, dass man in jeder nur denkbaren Weise den sich scheinbar der Wiedergabe entziehenden neuen Formen des Kampfgeschehens nahekommen wollte. Diese Darstellungen kann man grob in vier Gruppen teilen. Als erstes finden sich Nachklänge einer heroisierenden Historienmalerei, deren Urheber das Ende der traditionellen Ikonographien des Krieges zu ignorieren schienen und dafür den Preis des Verzichtes auf Gegenwärtigkeit zahlten. In der zweiten und herausgehobenen Gruppe geht es, in Entsprechung auch zu der Annahme Hamanns, um Anklage und die Darstellung des einzelnen Schreckens im modernen und hochgradig technifizierten Krieg, für die eine 1915 in mehreren Versionen entstandene Radierung Max Beckmanns mit dem Titel Die Granate als Beispiel dienen mag (Abb. 4). 15 Das Motiv der Explosion gehört in die Ikonographie des Ersten Weltkrieges; Futuristen, Expressionisten und natürlich auch die Fotografen interessierten sich dafür. Beckmanns Granate durchschlägt einen Raum dicht bei einander stehender Menschen, die von der Explosionswucht zum Vordergrund hin gestossen werden, wo sie offensichtlich verletzt zusammenbrechen. Weniger auf die Darstellung der Energie der Granate, sondern auf das, was sie hinterlässt, kommt es hier an; die Grenzen der Figuren und die von Figur und Grund lösen sich auf, die Weltordnung, die einen Moment zuvor noch bestanden haben muss, ist zerstört. Von Situationen wie dieser ausgehend, ließe sich auch ein gleichsam finales Kapitel der europäischen Landschaftsmalerei schreiben; nach dem Ende einer großen Tradition bleiben zerwühlte und zerstörte Räume. Und auch das Menschenbild ändert sich hier: kein aufrechter Gang mehr, sondern entweder Tote oder – wie bei Wilhelm Lehmbruck, Oskar Kokoschka oder dem Gemälde Flandern von Otto Dix – ohnmächtig liegende, gestürzte und halb versunkene Menschen (Abb. 5).

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4 Max Beckmann: Die Granate, 1915, Radierung, 39 × 29 cm.

Die dritte Gruppe könnte man die Apokalyptiker oder auch Gewaltmystiker nennen. 16 Der Krieg, gleich ob antizipiert oder als Realgeschehen, erscheint als Medium des Überganges in einen wie auch immer anderen Welt- beziehungsweise Bewusstseinszustand. Das »Dionysische« Friedrich Nietzsches ist eines der Prägemuster solcher Imagination, die sich besonders im Umfeld des Expressionismus entwickelt. 17 In Ludwig Meidners Gemälde Apokalyptische Landschaft von 1912–1913 beispielsweise sehen wir im Hintergrund unter düster-wüstem Himmel eine Stadt, aus der angesichts der sich entladenden Natur die Menschen fliehen, während vorn eine männliche Aktfigur in irritierend entspannter Haltung liegt, bei der durchaus unklar bleibt, ob sie das Geschehen genießt oder sich einfach schon in den Untergang gefügt hat (Abb. 6). Später interpretiert Meidner seine Bilder als Vorahnung des Krieges und spricht zugleich von der »wärmenden Genugtuung« derartiger Visionen. 18 Wenn man sich fragt, woraus diese Vorlust resultiert, dann gibt es nur eine Antwort: Überdruss am bürgerlichen Leben, und Hoffnung auf Reinigung, Befreiung, Erlösung

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5 Otto Dix: Flandern, 1934–1936, Öl und Tempera auf Leinwand, 200 × 250 cm, Berlin, Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin.

vom Ich. Diese Begriffe finden sich, unendlich variiert, immer wieder in den Äußerungen von Künstlern und Intellektuellen. 19 So sieht Robert Musil im September 1914 die Schönheit des Krieges darin, dass »der Einzelne plötzlich wieder nichts ist«, »eingeschmolzen« in sein Volk, also gewissermaßen der Anstrengung der Individuation enthoben. 20 Daraus wird 1921 die Erinnerung an »jenes bekannte Sommererlebnis im Jahre 1914«; hier sei ein »berauschendes Gefühl« entstanden, eine Erinnerung an »mystische Ureigenschaften« aufgerührt worden, und es habe keinen Sinn, ein Erlebnis zu unterdrücken, dass auch unter den Bedingungen der Moderne »nicht erledigt« sei. 21 Musil geht es offenbar um so etwas wie einen Ausweg aus dem »Unbehagen in der Kultur« mit der Allgegenwart von Grenzen und Hemmungen. 22 Bezogen auf den großen Roman Der Mann ohne Eigenschaften, den er in den zwanziger Jahren zu schreiben beginnt, scheint das »Sommererlebnis« ein Vorläufer der zentralen Utopie des »anderen Zustandes«. Ein direkter Bezug zwischen einer Entgrenzungserfahrung und dem Krieg besteht bei der Geschichte vom Fliegerpfeil, die Musils Kriegstagebücher autobiographisch festhal-

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6 Ludwig Meidner: Apokalyptische Landschaft, 1912–1913, Öl auf Leinwand, 80 × 116 cm, Berlin, Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin.

ten und die später Bestandteil der 1936 im Nachlaß zu Lebzeiten publizierten Erzählung Die Amsel wird. Fliegerpfeile sind kleine Metallstäbe, die von Flugzeugen abgeworfen wurden, und die, wenn sie einen Menschen trafen – was aber selten vorkam –, ihn wie eine Gewehrkugel von oben nach unten durchschossen. Der Ich-Erzähler in Die Amsel hört beziehungsweise spürt einen solchen Pfeil mit »leisem Klingen« auf sich zukommen; als er glaubt, dass er getroffen werde, erschien ihm das »wie ein noch nie erwartetes Glück«. Der Laut näherte sich, »wurde perspektivisch größer«, und zugleich »stieg ihm etwas aus mir entgegen: ein Lebensstrahl«. Schließlich schlägt der Fliegerpfeil unmittelbar neben dem Erzähler ein. Die Sekunden der Annäherung aber beschreibt er als »Rausch«, als einen Augenblick der Entrückung: der denkwürdige Fall also einer luftkriegsinduzierten Ekstase. 23 Es bleibt noch ein vierter Typ von künstlerischen Reaktionen auf den Krieg. Die Urheber ließen sich vielleicht als Laboranten der Moderne ansprechen. Ihre insgesamt kühleren Reaktionen liegen nicht mehr nur auf der Ebene der Bildproduktion, sondern sie fragen überhaupt nach der Beziehung des Krieges zum zivilen Leben, etwa in Hinsicht auf künstlerische oder sonstwie gestalterische Leitvorstellungen. Ein Muster zeigt sich 1914 im Jahrbuch des Deutschen Werkbundes, das zwar dem zivilen Thema des Verkehrs

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gewidmet ist, aber unter den Beiträgern auch einen Korvettenkapitän ausweist, dessen Beitrag das Kriegsschiff behandelt. Bis heute ist das Design von Kriegsgerät nicht unbedingt ein häufiger Gegenstand theoretischer Erörterung. Der Kapitän aber stellt gleich eingangs fest, dass die Waffe ein »integrierender« Teil des Kriegsschiffes geworden, es also »Träger der Waffe und Waffe zugleich« ist. 2 4 Es steht also nicht mehr, wie in der Vergangenheit, eine Kanone auf einem Schlachtschiff, sondern beide sind von vornherein aufeinander bezogen. Hier ist ein wichtiger Punkt getroffen: Technisch-gestalterische Integrationen, wie beispielsweise das Ineinander von Rahmen und Auf bau bei einer selbsttragenden Karosserie oder die Schalenkonstruktion im Flugzeugbau, stellen ein zukunftsweisendes Designprinzip dar. Weiter wird hinsichtlich der Rumpfgestaltung, die auf Minimierung des Wasserwiderstandes zielt, implizit auch das Prinzip »form follows function« angesprochen und ebenso die Schönheit der »Zweckform« genannt. Auch geht es um die Notwendigkeit von Raum- und Gewichtsbeschränkung und den Verzicht auf »reinen Zierat«. Offenbar ohne dass es dem Autor wichtig oder auch nur bewusst wäre, sind hier, am Beispiel fortgeschrittenen Kriegsgeräts, einige allgemeine Grundprinzipien modernen Designs angesprochen. Nach dem Ersten Weltkrieg zog mit Erich Mendelsohn ein bedeutender Architekt wohl tatsächliche Anregung aus der Objektwelt des Krieges, indem nämlich die periskopähnliche optische Einrichtung seinen Potsdamer Einsteinturm in eine deutliche Korrespondenzbeziehung zu einem U-Boot bringt. 25 Unter allgemeineren Gesichtspunkten gibt es natürlich auch in den anderen Künsten zahlreiche Referenzen auf die Welt des Militärs. Fernand Léger etwa bezieht die Abstraktion an sich auf Kriegsführung, als er über Granatenangriffe schreibt: »All das läuft mechanisch ab. Es ist Abstraktion in Reinform, reiner sogar als die kubistische Malerei«. 26 Gertrude Stein sieht einen Zusammenhang von Krieg und Kubismus sogar in doppelter Hinsicht. Bei der nächtlichen Vorbeifahrt von Fahrzeugen in Camouflage-Bemalung habe Picasso einmal amüsiert festgestellt, dass er dieses Verfahren erfunden habe (Abb. 7). Wichtiger ist wohl eine andere Bemerkung Steins: »The composition of this war, 1914–1918, was not the composition of all previous wars, the composition was not a composition in which there was one man in the centre surrounded by a lot of other men but a composition that had neither a beginning nor an end, a composition of which one corner was as important as another corner, in fact the composition of cubism.« 27 Wo Schlieffen davon ausging, dass der geordnete, mit einem Blick erfassbare Kriegsraum der Vergangenheit sich in eine Vielheit von Aktionszentren aufgelöst hat, die nur aus der Distanz und telekommunikativ koordiniert werden können, da haben auch die Kubisten – so könnte man Steins Beobachtung konkretisieren – Zentrierungen, Begrenzungen, eindeutige raumzeitliche Fixierungen aufgegeben und Werke geschaffen, die dem Betrachter mehrdeutig erscheinen und Schritt für Schritt erschlossen werden wollen.

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7 Edward Wadsworth: Plakat mit einem Motiv aus dem Gemälde »Dazzle-ships in Drydock at Liverpool«, 1936, London, Imperial War Museum.

REVOLUTIONÄRE R AUMPR A XIS Natürlich bieten die Künste keine systematische Bestandsaufnahme der zahllosen Aspekte des modernen Krieges, wohl aber verdichtete Sichten auf einzelne Erscheinungen. Aus technikgeschichtlicher Perspektive erschien hingegen schon 1915 eine Publikation von Felix Auerbach mit dem Titel Die Physik im Kriege, die in wesentlichen Teilen auch lesbar ist als Versuch einer Gesamtübersicht über die Räume des Krieges. Wenig später übrigens zeigte Auerbach, Professor in Jena, ein in seinem Milieu unübliches Interesse am Weimarer Bauhaus, das schließlich in einen Bauauftrag an Walter Gropius für

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8 Ernst Mach: Geschoßfotografien, 1889, aus: Ernst Mach / Ludwig Mach: Weitere ballistisch-photographische Versuche, Wien 1889 (Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Bd. 98), Tafel II, Fig. 10–12.

9 Luigi Russolo: Die Revolte, 1911, Öl auf Leinwand, 150 × 230 cm, Den Haag, Gemeentemuseum, Den Haag.

sein Privathaus mündete. Auch sonst ist der Physiker vielfach mit der künstlerischen Avantgarde verbunden gewesen; Edvard Munch hatte ihn schon 1906 gemalt, während Kandinsky seine Überlegungen zur graphischen Darstellung rezipierte. In seinem Kriegsbuch lässt Auerbach die, wie man sie auch nennen könnte, neuen Raumtechnologien Revue passieren: Künstliches Licht macht Kämpfe unabhängig von der Tageszeit, die Netze der Telekommunikation emanzipieren vom Zwang zur räumlichen Nähe. Ausführlicher geht er auf die neuen Kampfmittel U-Boot und Flugzeug ein, um dann zu resümieren:

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»Das ist ja eine der markantesten Signaturen dieses Weltkrieges, daß er sich in vertikaler Richtung bis an die Grenzen des möglichen erstreckt, daß er sich, unter tunlichster Vermeidung der Erdfläche, darüber und darunter abspielt, in Schützengräben und unterirdischen Gewölben, im Meereswasser und hoch oben in der Atmosphäre.« 28 Dass der Krieg auch raumzeitliche Gefüge zu verwirren vermag, zeigt Auerbach an einem Einzelphänomen, nämlich den Besonderheiten überschallschnell fliegender Geschosse. Er beruft sich auf Experimente Ernst Machs, deren fotografische Dokumentation auch die Futuristen interessiert hatte, allerdings nur in Hinsicht auf die hier erscheinenden dynamischen Kurven (Abb. 8–9). 29 Auerbach aber schreibt: Wenn sich Geschosse mit Geschwindigkeiten um eintausend Meter pro Sekunde fortbewegen, dann würde man »ganz ungeheure Fehler begehen […], wollte man die Entfernung des feindlichen Geschützes aus der Knallverzögerung mit Zugrundelegung der normalen Schallgeschwindigkeit ermitteln; in Wahrheit kommt er viel eher an, als man hiernach vermuten würde«.30 Unter bestimmten Bedingungen also scheinen sogar Elementargesetze der Physik außer Funktion zu treten; die gewohnte Ordnung der Dinge ist hier revolutioniert. Neue Zugriffsweisen auf den Raum sind auch Thema der berühmten Schrift Luftherrschaft von Giulio Douhet, deren erste Ausgabe 1921 erschien. Douhet betätigte sich nicht nur als Militär, sondern war auch Maler und Dichter und bewegte sich im Umkreis der Futuristen.31 Wo Auerbach in seiner umfassenden Phänomenologie des Kriegsraumes den Luftraum noch wesentlich als Ort der Aufklärung gesehen hatte, da sieht Douhet für die Zukunft in ihm einen durch elaborierte Luftwaffen zu beherrschenden Kampfraum.32 Mit den Luftwaffen entstehe das Phänomen des »Raumkrieges«, und sie selbst seien also wesentlich »Raumwaffen«.33 Gemeint ist damit, dass nun – und das heißt nach den eher statischen, wiewohl höchst opferreichen Grabenkämpfen des gerade vergangenen Weltkrieges – eine schnelle, hochenergetische und »von der Erde unabhängige« Form des Angriffskrieges möglich wird.34 Insgesamt aber wird der neue Kampfraum meist aus terrestrischer Perspektive beschrieben. In Deutschland sind Ernst Jüngers ihrerzeit populäre einschlägige Schriften auch aus raumtheoretischer Perspektive aufschlussreich. Die Stoßtrupps, von denen er spricht, können vielleicht als das infanteristische Äquivalent zu den konzentriert auftretenden Luftwaffeneinheiten Douhets verstanden werden: Ihre Kampfform ist nicht mehr der breite Frontalangriff, sondern der möglichst schnelle Vorstoß hochgerüsteter kleiner Einheiten auf Schlüsselpunkte gegnerischer Stellungen, oder, in Jüngers Sprache, »schneller Stoßtruppeinbruch in das zermürbte Stück«.35 Ziel ist immer Plötzlichkeit, die »Entfaltung äußerster Energie« an einem Punkt. So muss gekämpft werden, weil die Front »unzusammenhängend« geworden ist, »durchaus nicht linear«.36 Und so beschreibt auch Jünger, was schon Auerbach und Douhet getan hatten, wie im Krieg durch Technologien der Bewegung sich räumliche Bezüge verändern, statische Gefüge sich auflösen und ständig sich ändernde Koordinaten eine neuartige und flexible Raumpraxis entstehen lassen.

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FELDTHEORIE, SCHOCKFORSCHUNG UND DURCHDRINGUNGSPHÄNOMENE Innovative wissenschaftliche und künstlerische Konzepte der Nachkriegszeit stehen vielfach in einem direkten oder indirekten Bezug zur Kriegserfahrung, was schon deswegen nicht wirklich überraschen kann, weil es sich bei ihr ja nun wirklich um eine Generationserfahrung handelt. In der Psychologie etwa zeigen sich Ansätze, die, vom Krieg angestoßen, auch eine Parallele in Kunst und Kunsttheorie haben. So erschien 1917 in der Zeitschrift für angewandte Psychologie ein Aufsatz mit dem lakonischen Titel Kriegslandschaft. Sein Verfasser ist Kurt Lewin, der in den Folgejahren zum Begründer der psychologischen Feldtheorie werden sollte. Auch wenn dieser frühe Text, wie er eingangs schreibt, von der »Phänomenologie der Landschaft« handelt, so berührt die Darstellung doch bereits Motive, die später bei der Formulierung seiner topologischen und dynamischen Feldkonzeption eine Rolle spielen werden (Abb. 10).37 Etwas überspitzt gesagt, handelt es sich hier um die Gründungsurkunde eines neuen wissenschaftlichen Ansatzes.

10 Unterschiede im Bewegungsspielraum. (a) Schwachbegabtes Kind in einer Situation mit vielen Tabus; (b) begabtes Kind in einer Situation mit wenigen Tabus, aus: Kurt Lewin: Grundzüge der topologischen Psychologie, Bern 1969, S. 64.

In mehreren Schritten untersucht Lewin die Konsequenzen, die sich aus dem Kriegsgeschehen für die Raumwahrnehmung ergeben. Zunächst spricht er von der »Umformung des Landschaftsbildes«, wie sie sich bei der Annäherung an die Front ergibt.38 Während sich eine Friedenslandschaft gleichmäßig nach allen Seiten hin erstreckt, also »rund« erscheint, ändert sich dies in der Kriegslandschaft: Sie ist durch die Frontlinie

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11 Paul Klee: Atmosphärische Gruppe in Bewegung, 1929, Aquarell und Feder, 23 × 31 cm, Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.

begrenzt und insofern gerichtet, in ihr kann und muss man vorn und hinten unterscheiden. Zur Grenze hin könnte man von einem Prozess der Verdichtung sprechen. Im Grenzbereich selbst sind Gefahrenzonen zu unterscheiden mit wiederum sich verschiebenden Gefahrenpunkten. Auch bei Änderung der Gefahrenzonen bleibt die Grenze ortsfest; erst wenn die Truppen beider Seiten abrücken, löst sie sich langsam auf, um sich anderenorts erneut zu verfestigen.39 Hier also entscheiden die Zustände »Krieg« oder »Frieden« über die Bedeutung der Dinge; Konstanten irgendwelcher Art gibt es nicht. Lewins Studie führt uns die Kriegslandschaft als ein Gebilde vor, in dem alle Bedeutungen und Verhältnisse nur relational bestimmt werden können, in Abhängigkeit also von in sich wiederum veränderlichen Bezugsgrößen. Ein solches Interesse an der Wechselwirkung von Elementen, am dynamischen Ineinander von Wahrnehmung und Bewusstsein, ist nicht auf die Wissenschaft beschränkt; in anderer Form prägt es auch das Erkenntnisinteresse von Künstlern beziehungsweise Schriftstellern. So war Lewins Theorie direkte Anregung für zentrale Überlegungen Musils. 40 Hinzuweisen ist aber vielleicht auch auf Bezüge zum Werk Paul Klees. Dessen Interesse an der Gestaltpsychologie ist bekannt und reicht bis hin zur Übernahme wissenschaftlicher Diagramme in

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Gemälden (Abb. 11). 41 Der Hintergrund ist seine Arbeit an einem neuen Raumbegriff: Klee arbeitet mit Bildräumen, die oft fluid und mehrdeutig sind. Es geht ihm nicht um fixierte Zustände; das entscheidende Agens seiner Kunst ist Bewegung, die Darstellung von Veränderungsprozessen. Er entwickelt ein variables bildnerisches Zeichensystem, welches – changierend zwischen Anschauung und Abstraktion, zwischen Mikro- und Makrokosmos – einen energiegeladenen Raum mit einer Vielzahl variabler Konstellationen zur Erscheinung zu bringen vermag. Über das verbindende Interesse an der Dynamik räumlicher Beziehungen hinaus, die Lewin an der Kriegslandschaft zum ersten Mal beschrieben hatte, sollten – in einer Art Parallelaktion zu den Kontakten Felix Auerbachs – der Psychologe und einige Gestalter aus der modernen Bewegung tatsächlich in einem konkreten Projekt zusammentreffen. Lewin beauftragte nämlich 1929 Peter Behrens mit dem Bau seines Wohnhauses in Berlin-Schlachtensee. 42 Der Architekt bediente sich hier einer für seine Verhältnisse konsequent modernistischen Formsprache. Für die Innenausstattung zog Lewin jedoch den jungen Marcel Breuer heran. Seine Möbel verkörpern in ihrem Spiel mit Schwerelosigkeit und Durchdringungseffekten ein neues Raumgefühl, eine veränderte optische Einstellung (Abb. 12). 43 Verführerisch wäre, das Haus Lewin und insbesondere die Ästhetik der Innenausstattung mit der Theorie des Auftraggebers zu vergleichen und als wechselseitigen Kommentar zu lesen. Neben den Arbeiten Lewins findet sich in der Psychologie noch ein zweites Beispiel für Forschungen, die in den Kriegskontext zurückverweisen und zugleich Auswirkungen auf neue ästhetische Einstellungen haben, und dies ist die Schockforschung. Ihre Entwicklung wurde angestoßen durch die Untersuchung der psychischen Folgen von Eisenbahnunfällen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; bald tauchte das, was frühe Opfer nur »the shake« nannten, in der Wissenschaft als »traumatische Neurose« auf. Der zweite große Schub der Erforschung dieser Symptome setzte dann im Ersten Weltkrieg mit der Untersuchung und Behandlung der sogenannten »Kriegsneurosen« ein, der »Granat-Schocks« und ähnlichem. 4 4 Ein ästhetischer Fallout dieser Forschungen findet sich bei Walter Benjamin, in und um dessen Werk herum sich mehr noch als bei Lewin vielfältige diskursive Überlagerungen zeigen. In seinen Studien zu Baudelaire und im Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1935–1936 umkreist er das Problem der Disposition der Wahrnehmung in der Moderne, spricht von Werken, die dem Betrachter schockhaft wie ein Geschoß zustoßen. Folgt man ihm, so geht es bei Baudelaire, im Dadaismus oder im Film darum, dass der Schock des diskontinuierlichen Erlebnisses auf die gewohnte Erfahrungswelt prallt, den »Reizschutz« – ein Terminus, den er von Freud übernahm – solange durchbricht, bis die Impulse kanalisiert werden können. Für Benjamin wird der Schock zu einer der Signaturen der Moderne überhaupt. Krieg und ästhetische Moderne sind bei Benjamin auch in einem anderen Fall eigentümlich verschränkt. Als er 1928, am Ende seines Buches Einbahnstraße, rückblickend

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12 Marcel Breuer (Entwurf ): Details der Innenausstattung im Haus von Kurt Lewin, um 1930, Fotografien, New York, Miriam Lewin.

den Raum des Krieges beschreibt, konzentriert er sich auf die Möglichkeiten alldimensionaler Raumdurchdringung: »Menschenmassen, Gase, elektrische Kräfte wurden ins freie Feld geworfen, Hochfrequenzströme durchfuhren die Landschaft, neue Gestirne gingen am Himmel auf, Luftraum und Meerestiefen brausten von Propellern, und allenthalben grub man Opferschächte in die Muttererde. Dies große Werben um den Kosmos vollzog zum ersten Male sich in planetarischem Maßstab, nämlich im Geiste der Technik.« 45 Für Benjamin aber hat die Technik hier im Verbund mit der »Profitgier der herrschenden Klasse« die Menschheit verraten. Nur ein Jahr später jedoch, nachdem er Sigfried Giedions Buch Bauen in Frankreich gelesen und in einem Brief an den Autor begeistert kommentiert hatte, nimmt er dessen zentrale These auf, dass Bauten sich nun öffnen, entgrenzen und »Beziehung und Durchdringung suchen«, und schreibt über die Architektur der zwanziger Jahre: »Dem Wohnen im alten Sinne […] [hat] die Stunde geschlagen. Giedion, Mendelsohn, Corbusier machen den Aufenthaltsort von Menschen vor allem zum Durchgangsraum aller erdenklichen Kräfte und Wellen von Licht und Luft. Was kommt,

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steht im Zeichen der Transparenz«. 46 Beide Raumbeschreibungen Benjamins stehen im Zeichen der Durchdringung als der »wahrnehmungstheoretischen Pathosformel« der Moderne; sie spiegeln sich gegenseitig und zeigen das Neue Bauen als doppelgesichtige Angelegenheit. 47 Was schon für die futuristischen Räume gilt, nämlich dass sie eine Affinität zu denen des Krieges aufweisen, das wird hier indirekt auch über das Neue Bauen gesagt. Wenn man dessen Urhebern nun nicht bellizistische Bedürfnisse unterstellen mag, dann liegt darin wohl ein Hinweis auf durchlaufende Leitvorstellungen, die weniger mit dem Wollen der Avantgarden zu tun haben als vielmehr mit den alle Sphären übergreifenden und hinsichtlich ihrer Auswirkungen nicht festgelegten Potentialen der technischen Zivilisation.

DESTRUKTIVE MODERNE Dass die Verfahrensweisen der Moderne selbst zerstörerischen Charakter haben können, ist nicht wenigen ihrer Protagonisten bewusst und lässt sich nicht nur in den Künsten, sondern auch in anderen zivilisatorischen Handlungsfeldern beobachten; so sah etwa der Ökonom Joseph Alois Schumpeter die »schöpferische Zerstörung« als Leitprinzip modernen Wirtschaftslebens. 48 Man könnte wohl eine Geschichte der Moderne unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen Modi der Destruktion schreiben. Dabei würde man schnell auf ein wiederkehrendes Grundprinzip stoßen: Bruch mit der Tradition, auch deren Destruktion, und dann Erzeugung eines neuen Menschen oder gleich einer neuen Wirklichkeit. Ein Muster bietet der Auftritt Marinettis 1910 in Venedig, als er vom Uhrturm des Markusplatzes Tausende von Flugblättern herabwirft, auf denen die Stadt als »Sitzbad für kosmopolitische Kurtisanen«, als »cloaca maxima« des Passatismus angesprochen und einer erträumten Zerstörung preisgegeben wird. 49 Ähnliches lässt sich auch über Ludwig Hilberseimers Vorschlag von 1928 zur Umgestaltung der Berliner Friedrichstadt sagen; nicht nur einzelne Häuser oder Häuserblöcke, sondern auch die Grundstruktur der vorhandenen Stadt werden von der Hand des Entwerfers beseitigt, um langen Superblocks Platz zu schaffen, für deren Ausrichtung nur noch das Kriterium optimaler Besonnung und Luftzufuhr zählt (Abb. 13). Planer dieses Typs waren den Strategen des Luftkriegs erklärtermaßen dankbar, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg endlich die Gelegenheit zur Umsetzung ihrer Vorstellungen erhielten. Benjamin hat den radikal-modernen Tätertyp ganz direkt als »destruktiven Charakter« angesprochen, mit dem Ergänzungsbegriff eines »neuen, positiven Barbarentums«, wobei er diesem Charaktertyp einen Wunsch nach Überwindung der alten Welt in einem fast messianischen Sinn zu unterstellen scheint. Solche Grundierung aber ist bei anderen Autoren gelöscht. An einer Stelle in Ernst Jüngers Textsammlung Das Abenteuerliche Herz von 1929 setzt der Blick in einen Maschinenraum eine Reihe von Assoziationen frei, lässt etwa an das denken, was man empfindet, »wenn man nächtlich im D-Zug

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13 Ludwig Hilberseimer: Entwurf für die Umgestaltung der Berliner Friedrichstadt, um 1928–1929, Fotomontage und Isometrie, aus: Die Form, Jg. 5, H. 23/2 4, 1930.

sich durch die zyklopische Landschaft des Ruhrgebietes stürzt, während die glühenden Flammenhauben der Hochöfen das Dunkel zerreißen und inmitten der rasenden Bewegung dem Gemüte kein Atom mehr möglich scheint, das nicht in Arbeit ist. Es ist die kalte, niemals zu sättigende Wut, ein sehr modernes Gefühl«.50 In dieser Darstellung ist die Arbeits- kaum mehr von einer Kriegs- oder Katastrophenlandschaft zu unterscheiden. Es ließe sich fragen, ob nicht, wenn auch mit gänzlich entgegengesetzter Bewertung, ein ähnliches Syndrom hinter den Überlegungen Aby Warburgs steckt, der am Ende seines Vortrags zum Schlangenritual ja fragt, ob nicht Telegramm und Telefon den Kosmos zerstören, ob also nicht der Raum als Denkraum, den das symbolische Denken im Sinne Cassirers und auch Panofskys hervorgebracht habe, im Fortgang der technischen Entwicklung wieder ins Chaos zurückgeführt werde.51

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VON DER »TOTALEN MOBILMACHUNG« ZUR Ä STHETIK DER »ONE WORLD« Paradigmatisch unterschiedene Sichten auf Entwicklungspotentiale der Moderne zeigen sich um 1930 herum in Werken von Ernst Jünger und Laszlo Moholy-Nagy. Wie Giedion und Benjamin gehören beide zu einer Gruppe von Autoren, die wohl von verschiedenen Seiten her am Bild beziehungsweise an einer Theorie der Moderne arbeiten, dabei aber auch in Bezug aufeinander stehen. Für Jünger waren der Krieg und seine Materialschlachten keine Ausnahme, sondern sie haben nur den Normalfall deutlich sichtbar gemacht, die permanente Umwälzung aller Verhältnisse. Dies entfaltet er 1932 in seinem Großessay Der Arbeiter, in dem der Begriff der Mobilmachung aus seiner militärischen Spezialbedeutung gelöst und auf den allgemeinen Gesellschaftsprozess übertragen wird. Der Grundgedanke ist nicht ganz neu; Paul Valéry etwa formulierte einige Jahre zuvor verwandte Überlegungen, als er über den Großen preußischen Generalstab nachdachte. Der nämlich sei ein »Büro«, eine »Siegesfabrik«, von wo aus alle zivilen Wissenschaften und Techniken in Dienst genommen würden, um andere Länder in »verwertbare Größen« zu verwandeln. Danach werde jedes als Maschine betrachtet, von der man den gewünschten Gebrauch machen könne. Für Valéry verkörpert Marschall von Moltke dieses System, das aber auch in anderer Richtung funktioniert, denn, so fährt er fort, »je näher man das Gesamt des vom Großen Generalstab errichteten strategischen Systems studiert, um so deutlicher gewahrt man in dem Produktions- und Transportsystem, das die deutsche Nation sich zulegte, eine andere Form des gleichen Bestrebens«.52 Eine solche Modernisierungsmatrix also ist grundsätzlich universal anwendbar. Anders allerdings als der zurückhaltend-deskriptive Valéry artikuliert Jünger nicht nur entschiedene Affirmation, sondern auch den Wunsch nach Liquidation aller Alternativen. Für Peter Sloterdijk vollendet er damit eine Linie, die sich von Marx und Nietzsche gleichermaßen herschreibt und auf der Schritt für Schritt die Tatsache sichtbar werde, dass das Projekt der Moderne sich letztlich in einer »kinetischen Utopie« gründe.53 In Der Arbeiter verwendet Jünger weiter den Begriff der »organischen Konstruktion« und versteht darunter die »enge und widerspruchslose Verschmelzung der Menschen mit den Werkzeugen«.54 Auch sein Gesellschaftsbild ist von diesem Gedanken der Homogenität geprägt. Der Einzelne wird zum Gegenstand der Mobilmachung, die Mensch und Technik zu einem einzigen Aktionskörper amalgamiert. Die Vorstellung der Mobilmachung wie auch die Faszination durch großtechnische militärische Verbundsysteme begegnet übrigens genauso in Le Corbusiers fast zeitgleichem Buch Aircraft von 1935 (Abb. 14). Zum Text von Der Arbeiter nun gibt es eine Art visuellen Kommentars: den von Jünger mit Edmund Schultz 1933 herausgegebenen Band Die veränderte Welt, der seinerseits an einem signifikanten Punkt Moholys-Nagys 1929 erschienenes Bauhausbuch Von Material zu Architektur berührt (Abb. 15).55 Beiderorts nämlich erscheinen Abbildungen

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14 Le Corbusiers: Aircraft, London 1935, Doppelseite.

des großen Funkturms in Königswusterhausen. Wo Moholy-Nagy aber das Stahlgerüst als Beispiel einer Befreiung von Masse und Schwere würdigt, da interessiert der Turm Jünger allein seiner (macht-)technischen Leistungsfähigkeit wegen, über die es heißt: »Mit der Steigerung der raumbeherrschenden Mittel ist ein neues Raumbewußtsein im Menschen erwacht. Die wachsende Reichweite der Verkehrs-, Nachrichten- und Machtmittel hat auch die politischen Sphären ausgedehnt. So kann es nicht wundernehmen, daß an verschiedenen Stellen der Welt neue Ansätze einer imperialen Politik zu beobachten sind.« 56 Eine Großtechnik, die wie hier als Medium der totalen Mobilmachung erscheint, liegt nicht in Moholy-Nagys Interesse; ihm geht es, wie man sagen könnte, um den Menschen von vorgegebenen Beschränkungen emanzipierende Modi der Raumerschließung beziehungsweise -durchdringung. Sämtliche Positionen der Raumdebatte standen jedoch im Zweiten Weltkrieg erneut zur Disposition. Carl Schmitt entwickelte seine Theorie der Raumrevolution.57 In der allgemeinen Einschätzung und auch in der Kunst- und Kulturtheorie ist allerdings auffällig, dass die immer weiter gesteigerte räumliche Mobilität der Kriegsführung nun meist

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15 Edmund Schultz / Ernst Jünger: Die veränderte Welt, Breslau 1933, Doppelseite.

ohne jede Emphase beschrieben wird. Nur die Tatsache selbst wird zur Kenntnis genommen, wobei die Perspektive naheliegender Weise häufig die einer Bedrohung ist. Dies zeigt sich, um nur ein Beispiel zu nennen, bei Bertolt Brechts Kriegsjournalen, dieser oft erstaunlichen Montage aus Bildern, Zitaten und Reflexionen, in denen es im Juni 1940 heißt: »Der deutsche Blitzkrieg wirft alle Berechnungen über den Haufen […]. Die Technik fügt dem Kriegstheater eine neue Dimension hinzu; das Schlachtfeld wird zum Schlachtwürfel oder Schlachtraum«.58 Gegen Ende des Krieges aber schält sich in den USA eine neue zivilisatorische Leitvorstellung heraus: Die Zukunft gehöre einer technikgestützten, aber friedlichen Interaktion in der »One World«. Solches Denken wird auf vielen Ebenen zugleich propagiert. In diesem Zusammenhang taucht auch Moholy-Nagy wieder auf, der in die USA emigriert war und 1947 unter dem Titel Vision in Motion eine große Synthese seines Denkens publizierte (Abb. 16). Dieses Buch erscheint mir aus mehreren Gründen als ein Knotenpunkt in der Geschichte der Moderne. Zunächst summiert es noch einmal die Intentionen der europäischen Avantgarde der Zwischenkriegszeit; das aber wäre ohne die Einarbeitung der amerikanischen Erfahrungen mit Mechanisierung und Massenkultur nicht zukunftsfähig gewesen. Der Künstler-Theoretiker rechnet weiter mit dem Krieg als einem Modernisierungsfaktor; nur geschieht dies, anders als bei den Futuristen, deren

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16 John H. Stickell: Lichtspuren von Flakscheinwerfern, mit offenem Kameraverschluß aus einem ausweichenden alliierten Flugzeug im Kriegseinsatz über Deutschland aufgenommen, 1942, Fotografie, aus Laszlo MoholyNagy: Vision in Motion, Chicago 1947.

Ansatz er dennoch würdigt, aus einer entschieden zivilistischen Perspektive, die an einer gesellschaftlichen Nutzung von in Kriegszusammenhängen entwickelten Technologien interessiert ist, nicht aber am Krieg als revolutionärer Lebensform oder ähnlichem. Man könnte auch sagen, dass Moholy-Nagy Abschied nimmt von der Generation Marinettis, Jüngers und auch Le Corbusiers, den großen Tätern der Moderne also und ihrem Fundamentalismus.59 Und darin liegt wohl auch einer der Gründe, warum sein Buch in der Nachkriegszeit, im Golden Age prosperierender Konsumdemokratien, noch für längere Zeit anregend wirken konnte: Eine Rezeptionslinie läuft über Gyorgy Kepes und dessen Langzeitexperiment, am Massachusetts Institute of Technology Künstler und Naturwissenschaftler zusammenzubringen, eine andere in Großbritannien über die Independent Group bis zu Archigram. Wenn militärische Technologien und Verfahrensweisen zur Sprache kommen, und dies ist häufiger der Fall, dann in Hinsicht auf die Potentiale raumzeitlicher Koordination. Alles ist dem Leitgedanken ziviler Interaktion subsumiert, der sich bei Moholy-Nagy an der Philosophie John Deweys inspirierte. 60 Vielleicht also hat gerade der Zweite Weltkrieg die künstlerische Moderne, zumindest aber ihre Programmatik, gleichsam kulturell domestiziert und von einem Teil ihres destruktiven Charakters befreit; auch Ernst Jünger räumte ja seinen vorgeschobenen Posten. Allerdings wäre ein nun postheroischer und sozialverträglicher Modernismus den Futuristen noch als Karikatur erschienen.

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WIEDERKEHR EINER FATALEN UTOPIE Während das Nachdenken über Raum-Zeit-Relationen in den Künsten wesentlich auf die der modernen Lebenswelt zugeneigten Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschränkt scheint, läuft die technische Entwicklung natürlich weiter. Heutige militärische Technologien lassen so etwas wie »Hybridräume« entstehen. Mit der beispielsweise im Cockpit eines Apache-Kampfhubschaubers erreichten Entwicklungsstufe wird ein neuartiger Zugriff auf den Raum praktikabel. 61 Den Piloten stehen – neben dem einfachen Ausblick – die Informationen von Satelliten und AWACS-Flugzeugen, von bordeigenem Radar und Computern zur Verfügung; sie können bei hohem Tempo der Veränderung aller Variablen den Raum zu jeder Zeit in jede Richtung durchdringen beziehungsweise beschießen. Dies lässt sich genauso, abzüglich der Emphase allerdings, auf das futuristische Setting von 1909 projizieren wie eine aktuelle Form der Kriegsführung auf Schlieffens Raumutopie: Im Afghanistankrieg nämlich lieferten Aufklärungsdrohnen in Echtzeit Bilder an eine Kommandozentrale in den USA, von wo aus der Einsatz der über dem Kampfgebiet bereits kreisenden Flugzeuge geleitet wurde. Auch kehrte wohl mit dem Vietnamkrieg der Krieg als Faszinosum in die Kultur beziehungsweise Massenkultur zurück, in deren Randzonen er während des Golden Age der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg verdrängt worden war. Francis Ford Coppola, der 1979 in Apocalypse Now die Musik Richard Wagners mit einem Hubschrauberangriff kombinierte, setzte hier ein Zeichen. Doch schon Michael Herr beschrieb diesen Krieg in seiner schnell berühmt gewordenen Reportagensammlung Dispatches von 1977 so, dass sich gelegentlich Erinnerungen an die Reaktionen von 1914 einstellen. Irritierender noch, und bezogen auf die Gegenwart der späten sechziger Jahre, sind Überblendungen scheinbar ganz gegenläufiger Phänomene. Bereits auf den ersten Seiten verknüpft der Autor zwei Erfahrungsräume, Vietnam und San Francisco; die damalige Hochburg der Gegenkultur nämlich ist für ihn das »andere Extrem desselben Theaters«. 62 Hier also kehrt, nur in aktueller Fassung, die Vorstellung vom Krieg als Möglichkeit des Ausbruchs, als Freiheitsversprechen wieder. Und wenn weiter von der »Erotik« der Hubschrauberflüge, vom »Rock’n’Roll im einen Ohr und Lukenschutzfeuer im anderen« die Rede ist, dann gibt es auch in Hinsicht auf die lustvollen Mensch-Maschine-Symbiosen, wie sie zuerst die Futuristen beschrieben hatten, ein Déjà-vu: nun aber in einem Text, der insgesamt das Fatale solchen Erlebens beschreiben will. 63

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ANMERKUNGEN

DER LEIB UND DIE LET TERN

Albrecht Dürers Selbstbildnis von 1500

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die Ausarbeitung eines Vortrags, der im Rahmen eines Studienkurses zum Thema »Wort & Bild, Texte & Bilder. Visualität im Kontext« am 25. September 2007 im Hamburger Warburg-Haus gehalten wurde. Die These, man könne in Dürers Selbstbildnis von 1500 eine Inkarnation seines Monogramms sehen, wurde erstmals im Rahmen einer Vorlesung zum Thema »Selbsterfindung und Selbstdarstellung« im Sommersemester 2006 an der Universität der Künste in Berlin entwickelt. Unter den vielen Abhandlungen, die sich mit Dürers Gemälde befassen, finden sich in den drei folgenden die interessantesten Anregungen für die hier vorgetragenen Überlegungen: Georges Didi-Huberman: Le visage entre les draps, in: Nouvelle Revue de Psychoanalyse 41/1990, S. 21–54; Joseph Leo Koerner: The Moment of Self-Portraiture in German Renaissance Art, Chicago 1993; Rudolf Preimesberger: Albrecht Dürer: »… propriis sic … coloribus« (1500), in: Rudolf Preimesberger, Hannah Baader u. Nicola Suthor (Hrsg.): Porträt, Berlin 1999 (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. 2), S. 210–219. Eine ausgezeichnete Zusammenstellung der wichtigsten Fakten sowie eine Übersicht über die verschiedenen Richtungen der Interpretation bietet der Katalog Albrecht Dürer. Die Gemälde der Alten Pinakothek (hrsg. v. Gisela Goldberg, Bruno Heimberg u. Martin Schawe), Heidelberg 1998, S. 314–353.

SPARTACUS UNTER DEN DEUTSCHEN literarischen Niederlage

Über die Geschichte einer

1 Diese Abhandlung geht auf einen Vortrag zurück, den ich zunächst – in stark gekürzter Fassung – am 30. Juni 2010 im Hamburger Warburg-Haus gehalten habe. Einen soliden, allerdings keineswegs vollständigen Überblick über die Stoffgeschichte in Deutschland gibt die Dissertation von Jan Muszkat-Muszkowski: Spartacus. Eine Stoffgeschichte. Phil. Diss. [1908], Leipzig 1909. Die ästhetischen Wertungen der Dissertation sind freilich völlig überholt; der politische und ideengeschichtliche Gehalt der untersuchten Texte liegt gänzlich außerhalb ihres wissenschaftlichen Interesses. Wichtiges Vergleichsmaterial findet sich in dem Aufsatz von Leanne Hunnings: Spartacus in nineteenth-century England: proletarian, Pole and Christ, in: Christopher Stray (Hrsg.): Remaking the

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Classics. Literature, Genre and Media in Britain 1800–2000, London 2007, S. 1–19. Für wertvolle Hinweise und Hilfe bei der Materialbeschaffung danke ich Timm Reimers, Martin Warnke und Kathrin Wittler.

2 Vgl. Paulys Realencyclopädie der classischen Alterthumswissenschaften (RE) und Der Neue Pauly, s. v. »Spartacus«; zum aktuellen Forschungsstand vgl. die für eine breitere Leserschaft geschriebene, aber insgesamt zuverlässige Darstellung von Kai Brodersen: Ich bin Spartacus. Aufstand der Sklaven gegen Rom, Darmstadt 2010. 3 Brief von Gotthold Ephraim Lessing an Karl Wilhelm Ramler, 16. Dezember 1770; zitiert nach

Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1770–1773 (hrsg. v. Klaus Bohnen), Frankfurt am Main 2000 (Werke und Briefe, Bd. 7), S. 960.

4 Gotthold Ephraim Lessing: Spartacus, ibid., S. 373–376, S. 373. 5 Ibid. 6 Ibid., S. 375 u. S. 373. 7 Ibid., S. 376. 8 Ibid., S. 374. 9 Ibid. 10 A[ugust] G[ottlieb] Meißner: Spartakus, Berlin 1792, S. 83f. 11 Ibid., S. VIII. 12 Ibid., S. VII. 13 Ibid., S. VI. 14 Ibid., S. 60. 15 Ibid., S. 162. 16 Ibid., S. 154f. 17 Franz Grillparzer: Jugenddramen. Dramatische Fragmente und Pläne (hrsg. v. Peter Frank u. Karl Pörnbacher), München 1961 (Sämtliche Werke, Bd. 2), S. 92 4. 18 Ibid. 19 Ibid., S. 932. 20 Ibid., S. 916. 21 Ibid., S. 920. 22 Ibid., S. 910. 23 Friedrich v. Uechtritz: Trauerspiele. Rom und Spartacus. Rom und Otto der Dritte, Berlin 1823, S. 48.

24 Ibid., S. 95. 25 Ibid. 26 Ibid., S. 104. 27 Aber immerhin hat doch einer der führenden Repräsentanten des Jungen Deutschland, Karl Gutzkow, den politischen Gehalt des Spartacus-Themas – freilich erst nach 1848 – an einer Stelle

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seines Werks zur Geltung gebracht: In seinem monumentalen Zeitroman Der Zauberer von Rom nimmt der Advokat Bertinazzi den jungen Deutschen Benno von Asselyn in Rom in eine Geheimloge des »Jungen Italien« auf, wobei er ihm einen gusseisernen Ring als Erkennungszeichen mit den Worten ansteckt: »Ein Stück der gebrochenen Sklavenkette der Welt … Ich werde Sie den Versammelten unter dem Namen Spartakus vorstellen … Auch Spartakus, der zuerst in Italien das Wort: Freiheit! ausgesprochen hat, war ein Fremder …« (Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Bd. 8, Leipzig 1860, S. 358).

28 Theodor Mommsen: Römische Geschichte, Bd. 3, Berlin, zweite Auflage 1857, S. 79ff. 29 Friedrich Hebbel: Fragmente, Pläne (hrsg. v. Richard Maria Werner), Berlin 1902 (Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 5), S. 32 4. 30 Vgl. T. de Séchelles: La vindicte publique en France jusqu’en 1847, Freiburg im Breisgau 1860, Vorsatzblatt u. S. 386.

31 T. de Séchelles: Spartakus. Trauerspiel in fünf Akten. Nebst einer Uebersicht über die drei Werke: Politische, gerichtliche, religiöse Tyrannei in Frankreich, Freiburg im Breisgau 1861, S. 13. 32 Ibid., S. 48. 33 Apollonius von Maltitz: Spartacus. Trauerspiel in fünf Aufzügen, Weimar 1861. 34 Alfred Christlieb Kalischer: Spartacus. Eine soziale Tragödie in fünf Aufzügen, Berlin 1899. 35 Ernst von Wildenbruch: Dramen (hrsg. v. Berthold Litzmann), Berlin 1921 (Gesammelte Werke, Bd. II, 12, S. 440.

36 Ibid., S. 441. 37 Ibid., S. 491. 38 Ernst Eckstein: Prusias. Roman aus dem letzten Jahrhundert der römischen Republik, Leipzig, dritte Auflage 1884, 3 Bde., Bd. 3, S. 290. 39 Ibid., S. 291. 40 Franz Koppel: Spartakus. Ein Trauerspiel in 5 Aufzügen. Bühnen-Manuscript, Dresden o. J. [1875], S. 65 u. S. 66.

41 Eine Auswertung der massiven Überarbeitung, der Koppels Drama in diesem Soufflierbuch unterworfen wird, würde die Strategien der politischen Umwertung des Spartacus-Themas im Detail vor Augen führen können. 42 Richard Voß: Die Patricierin. Trauerspiel in fünf Aufzügen, Leipzig o. J. [1896] (Universal-Bibliothek Bd. 3606), S. 94.

43 Ibid., S. 92 u. S. 95. 44 Ibid., S. 118. 45 Georg Heym: Prosa und Dramen (hrsg. v. Karl Ludwig Schneider), Darmstadt 1962 (Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, Bd. 2), S. 643 u. S. 653.

135 | Anmerkungen

DEUTSCH, MODERN UND JÜDISCH Max Liebermanns Ausstellungen in Berlin und London 1906 Die erste Fassung des vorliegenden Aufsatzes wurde als Vortrag im Warburg-Haus, Hamburg, gehalten. Eine veränderte englische Version How Modern is Modern. Max Liebermann and the Discourses of Modernism erschien in: Max Liebermann and International Modernism. An Artist’s Career From Empire to Third Reich (hrsg. v. Marion Deshmukh, Françoise Forster-Hahn u. Barbara Gaehtgens), New York u. Oxford 2011, S. 142–155. Für die verständnisvolle und kenntnisreiche Unterstützung meiner Forschungsarbeit danke ich Annegret Janda und Angelika Wesenberg sowie meiner früheren Studentin Susan King, deren Magisterarbeit an der University of California, Riverside, viele folgenreiche Hinweise lieferte. Besonderer Dank gilt Inka Bertz vom Jüdischen Museum in Berlin, die meine dortige Arbeit in kenntnisvoller Weise unterstützt hat. Ich danke meinen ehemaligen Studentinnen and der University of California, Riverside, Adele Avivi und Megan Blythe, die mit bibliographischen Recherchen ausgeholfen haben, und meinen Forschungsassistentinnen Ina Jessen in Hamburg und Casie Kesterson in Los Angeles, die mir in der letzten Phase der Arbeit hilfreich zur Seite standen. Die University of California, Riverside, hat meine Forschungsarbeit in Europa mit zwei Academic Senate Grants unterstützt, die Hamburger Aby Warburg-Stiftung mit meiner Ernennung zur Warburg-Professorin 2013.

1 Arthur Galliner: Max Liebermann, der Künstler und der Führer, Frankfurt am Main 1927 (Jüdische Jugendbücherei. Erste Reihe, Bd. 1/2), S. 9. Ich danke Barbara Gaehtgens, die mich freundlicherweise auf dieses Buch aufmerksam machte. 2 Max Liebermann: Reden zur Eröffnung von Ausstellungen der Berliner Sezession, in: id.: Die Phantasie in der Malerei. Schriften und Reden (hrsg. v. Günter Busch), Berlin 1983, S. 171–192, hier S. 176–177 (»Frühjahr 1906«). 3 Julius Meier-Graefe: Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. Vergleichende Betrachtung der

bildenden Künste als Beitrag zu einer neuen Ästhetik, Stuttgart 1904, 3 Bde., Bd. 2, S. 517. Im ersten Paragraphen seines Kapitels »Liebermann und sein Kreis« unterscheidet Meier-Graefe die Rassen in der modernen Malerei: im Gegensatz zu Manet und Stevens sei das Verhältnis von Liebermann und Munkacsy näher, denn »der ungarische Jude und der Berliner Jude standen sich näher. Es war eine Gemeinschaft des Mittels und des Ausdrucks […]«.

4 Vgl. Françoise Forster-Hahn: Text and Display: Meier-Graefe, the White Centennial 1906 in Berlin, and the Canon of Modern Art, in: Art History 2014 [im Druck]; dort eine ausführliche Diskussion der Verbindung von Meier-Graefes Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst (1904) mit der Konzeption der »Jahrhundertausstellung« (1906). Zur Rekonstruktion der Ausstellung und ihrer auf vierzehn neu entdeckten Postkarten dokumentierten Inneneinrichtung von Peter Behrens vgl. id.: Die weiße Jahrhundertausstellung 1906. Ausstellungsinszenierung und Meier-Graefes »Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst«, in: Jahrbuch der Staatlichen Museen zu Berlin 2014 [im Druck]. 5 Vgl. Alfred Lichtwark: Deutsche Kunst, in: Weltausstellung in Paris 1900. Amtlicher Katalog des deutschen Reiches (hrsg. v. Otto N. Witt), Berlin 1900; Hugo von Tschudi: Die Jahrhundertausstellung der Französischen Kunst, in: Die Kunst Für Alle XVI/1900–1901, S. 3–23, S. 33–51 u. S. 59–73. Wieder abgedruckt in: id.: Gesammelte Schriften zur neueren Kunst (hrsg. v. Ernst SchwedelerMeyer), München 1912, S. 76–118; Julius Meier-Graefe (Hrsg.): Die Weltausstellung in Paris 1900. Mit zahlreichen photographischen Aufnahmen, farbigen Kunstbeilagen und Plänen, Paris u. Leipzig 1900; die Abbildung der »Manet-Wand« dort S. 83. 6 Lichtwark spricht in seinen Briefen von der »Revisionsausstellung«, gebraucht aber auch wie von Tschudi den Terminus »Rehabilitationsausstellung«. In seiner Eröffnungsrede betonte Franz von Reber, der Direktor der Königlich-Bayerischen Museen: »Es handelte sich um nichts Geringeres, als die deutsche Kunst der letztvergangenen Epoche […] in der öffentlichen Meinung zu reha-

136 | Anmerkungen

bilitieren«; vgl. Ferdinand Laban: Die deutsche Jahrhundert-Ausstellung, in: Die Kunst Für Alle XXI/1905–1906, S. 265–281, S. 289–306, S. 313–330 u. S. 337–346, S. 266.

7 Zur Beschreibung der Innenausstattung von Peter Behrens als »Überkleidungskunst« vgl. Franz Dülberg: Die deutsche Jahrhundert-Ausstellung zu Berlin 1906, Leipzig 1906; zuerst publiziert in: Zeitschrift für Bildende Kunst XVIII/1906, S. 161–212, S. 231–2 44 u. S. 239–314, S.161. Unter den zahlreichen Rezensionen der Ausstellung schrieb Karl Scheffler aus der Perspektive der Modernisten: Die Jahrhundert-Ausstellung, in: Die Zukunft 55/1906, S. 88–95. 8 So Hugo von Tschudi im einleitenden Text zu: Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775 bis 1875 in der Königlichen Nationalgalerie Berlin 1906. Auswahl der hervorragendsten Bilder mit einleitendem Text von Hugo von Tschudi, München 1906, 2 Bde., Bd. 1, S. XXVII. 9 Brief von Max Liebermann an Alfed Lichtwark, 28. Februar 1905, in: Birgit Pflugmacher (Hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Alfred Lichtwark und Max Liebermann, Hildesheim, Zürich u. New York 2003, S. 188; vgl. auch Ernst Braun (Hrsg.): Max Liebermann. Briefe, Bd. 3 (1902–1906), BadenBaden 2013, Nr. 279, S. 275. 10 Vgl. Ausstellung deutscher Kunst 1906, Bd. 1, S. XXXV–XXXVI, Abb. 215–218; Deutsche Jahrhundertausstellung, Ausstellungskatalog, Königliche Nationalgalerie Berlin, 2. Auflage 1906, Kat.Nr. 1046–1066. 11 Zu diesen Werken vgl. Matthias Eberle: Max Liebermann. 1847–1935. Werkverzeichnis der Gemälde und Ölstudien, München 1995–1996, 2 Bde.

12 Ausstellung deutscher Kunst 1906, S. XXXVI. 13 Elfte Ausstellung der Berliner Sezession, Ausstellungskatalog, Berlin 1906, Kat.-Nr. 179–182; vgl. Peter Paret: The Berlin Secession. Modernism and Its Enemies in Imperial Germany, Cambridge, Mass., u. London 1980, S. 163.

14 Julius Meier-Graefe: Berliner Sezession, in: Die Zukunft 55/1906, S. 332–340, S. 332; auch zitiert in: Catherine Krahmer u. Ingrid Grüninger (Hrsg.): Julius Meier-Graefe. Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da. Briefe und Dokumente, Göttingen 2001, S. 406. 15 Vgl. Eberle 1995–1996 (wie Anm. 11), Bd. 2, Kat.-Nr. 1905/2, S. 634. 16 Brief von Alfred Lichtwark an Max Liebermann, 7. Januar 1905, in: Pflugmacher 2003 (wie Anm. 9), S. 178; Braun 2013, Nr. 261, S. 256–257, S. 256.

17 Brief von Max Liebermann an Alfred Lichtwark, 8. Januar 1905, in: Pflugmacher 2003 (wie Anm. 9), S. 181; Braun 2013, Nr. 263, S. 259–260, S. 259.

18 Tobias Natter u. Julius H. Schoeps (Hrsg.): Max Liebermann und die französischen Impressionisten, Ausstellungskatalog, Jüdisches Museum, Wien 1997–1998, S. 130. Von Pontresina aus beschrieb Liebermann lebhaft den ersten Eindruck, den er von der Persönlichkeit Bergers hatte, und von den folgenden Sitzungen, in denen das Porträt entstand; vgl. Brief von Max Liebermann an Alfred Lichtwark, 2. Juli 1905, in: Pflugmacher 2003 (wie Anm. 9), S. 200–201; Braun 2013, Nr. 338, S. 319–321. Eine erste Fassung des Porträts befindet sich in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister. 19 Brief von Max Liebermann an Alfred Lichtwark, 7. Juni 1905, in: Pflugmacher 2003 (wie Anm. 9), S. 197; Braun 2013, Nr. 327, S. 311. Der Hamburger Museumsdirektor berichtete zudem von seiner begeisterten Reaktion bei der Besichtigung des eingetroffenen Porträts; vgl. Brief von Alfred Lichtwark an Max Liebermann, 29. Juni 1905, in: Braun 2013, Nr. 336, S. 317. 20 Meier-Graefe 1906 (wie Anm. 14), S. 332; Krahmer u. Grüninger 2001 (wie Anm. 14), S. 406.

137 | Anmerkungen

21 Vgl. Exhibition of Jewish Art and Antiquities, Ausstellungskatalog, Whitechapel Art Gallery, London 1906. Von Liebermann wurden Zeichnungen aus der Sammlung des britischen Künstlers Sir William Rothenstein ausgestellt, die nicht weiter beschrieben sind; vgl. ibid., Kat.-Nr. 771, Kat.Nr. 784, Kat.-Nr. 793 u. S. 48f. Unter »Oil Paintings« war eine Skizze (»sketch«) ausgestellt, die ebenfalls aus der Sammlung Rothensteins stammte; vgl. ibid., Kat.-Nr. 59, S. 89; in der Rubrik der Gemälde (»Pictures«) wurden Die Gänserupferinnen (»Women Plucking Geese«) von 1872 (Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin), Die Netzf lickerinnen (»Repairing Nets«) von 1887–1889 (Hamburger Kunsthalle), Schusterwerkstatt (»The Cobblers«) von 1881 (Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin) und Die ältere Schwester (»The Elder Sister«) von 1876 (Verbleib unbekannt) genannt; vgl. ibid., Kat.-Nr. 818–820 u. Kat.-Nr. 834, S. 50. Die Kat.-Nr. 818–820 sind dabei als Leihgaben der »Berlin Photographic Company« verzeichnet; es waren also nicht die originalen Gemälde ausgestellt, sondern große fotografische Reproduktionen, die Liebermanns Pleinair-Malerei der achtziger Jahre vertraten. Nach Auskunft von Dr. Angelika Wesenberg, Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin, hatte die Nationalgalerie keine Bilder an die Whitechapel Art Gallery ausgeliehen. Kat.-Nr. 834 scheint Liebermann selbst geliehen zu haben. 22 Richard I. Cohen: Exhibiting Nineteenth Century Artists of Jewish Origin in the Twentieth Century: Identity, Politics, and Culture, in: Susan Tumarkin Goodmann (Hrsg.): The Emergence of Jewish Artists in Nineteenth-Century Europe, New York 2001, S. 153–186, S. 155: »[…] to promote relations between Eastern and Western Jews, and ultimately between Jews and gentiles, by overturning gentile misconceptions about Jews«); zur Ausstellung vgl. Juliet Steyn: The Complexities of Assimilation in the 1906 Whitechapel Art Gallery Exhibition »Jewish Art and Antiquities« in: The Oxford Art Journal 2/1990, S. 44–50; zur kritischen Rezeption von Liebermanns Werk in England und seinen Beziehungen zu englischen Künstlern vgl. Susan Obarski: The Reception of Modern German Art and Theory in England from 1908 to 1938, Masterarbeit, University of California, Riverside, 2005. 23 Zitiert nach Obarski 2005 (wie Anm. 22), S. 115 (»[…] raising the honor of the Jewish faith / race but gravitating toward increasingly greater integration into their national fold«). 24 Marion H. Spielmann: Jewish Art, in: Exhibition of Jewish Art and Antiquities 1906, S. 84–85, hier S. 85. Die Autorin analysiert den Inhalt der Ausstellung folgendermaßen: »Some of the figurepainters may choose to infuse racial passion into their work by the treatment of essentially Jewish subjects, poignant in their significance and of profound sincerity; but the majority, identifying themselves entirely with their adopted country after the manner of the Jewish people, alike in feeling and in subject, show no trace of distinctive thought or differentiation of artistic sentiment. And this, we may be sure, will be the course of future development – continual assimilation, with the single object, in this country, of advancing the honour and glory of the British school«; vgl. auch Steyn 1990 (wie Anm. 22), S. 48. 25 Anonym: Jüdische Kunstausstellung in London, in: Die Welt, Nr. 10, 9. November 1906, S. 9. Ich danke Celka Straughn, die mich zuerst auf folgende deutsche Rezensionen aufmerksam machte: anonym: Die jüdische Ausstellung in London, in: Aus Welt und Leben. Illustrierte Beilage zum Israelit, Nr. 50, 13. Dezember 1906, S. 17–18; Karl Schwarz: Die jüdische Ausstellung in der White Chapel Art Gallery zu London, in: Allgemeine Zeitung des Judentums, Nr. 49, 7. Dezember 1906, S. 583–585. 26 Vgl. Anm. 21. 27 Schwarz 1906 (wie Anm. 25), S. 58. 28 Galliner 1927 (wie Anm. 1), S. 9 u. S. 19. 29 Zur ausführlichen Analyse des Kongresses und der Kunstausstellung in ihrer Bedeutung für die kulturelle Identität der Juden vgl. Gilya Gerda Schmidt: The Art and Artists of the Fifth Zionist Congress, 1901. Heralds of a New Age, Syracuse, N. Y., 2003; zur historischen Darstellung und Analyse

138 | Anmerkungen

jüdischer Bildkunst und Künstler vgl. Irit Rogoff: Max Liebermann and the Painting of the Public Sphere, in: Richard I. Cohn (Hrsg.): Studies in Contemporary Jewry 6/1990 (Themenheft »Art and Its Uses. The Visual Image and Modern Jewish Society«), S. 91–110; Inka Bertz: Eine neue Kunst für ein altes Volk, in: Die jüdische Renaissance in Berlin 1900 bis 1924, Ausstellungskatalog, Berlin Museum / Jüdisches Museum, Berlin 1991, S. 1–51; Chana C. Schütz: Max Liebermann as a »Jewish« Painter. The Artist’s Reception in His Time«, in: Berlin Metropolis. Jews and the New Culture 1890– 1918 (hrsg. v. Emily D. Bilsky), Ausstellungskatalog, Jewish Museum, New York 1999, S. 147–163; Kalman P. Bland: The Artless Jew. Medieval and Modern Affirmations and Denials of the Visual, Princeton, N. J., 2000; Jewish Texts on the Visual Arts, Cambridge u. New York 2000; Cohen 2001, S. 153ff.; Chana Schütz u. Hermann Simon: Max Liebermann. German Painter and Berlin Jew, in: Max Liebermann. From Realism to Impressionism (hrsg. v. Barbara C. Gilbert), Ausstellungskatalog, Skirball Cultural Center, Los Angeles 2005, S. 151–165.

30 Martin Bubers Rede ist wiedergegeben in Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des V.

Zionistenkongresses in Basel, 26., 27., 28., 29. und 30. Dezember 1901, Wien 1901, S. 151–168 u. S. 168– 170 (Diskussion), S. 156; vgl. Beilage D. Verzeichnis der in Zimmer Nr. 3 ausgestellten Kunstwerke, ibid., S. 459–460.

31 Ibid., S. 156. 32 Ibid., S. 160. 32 Ibid. 33 Ibid., S. 161f. 34 Ibid., S. 162. 35 Vgl. Martin Buber (Hrsg.): Juedische Künstler, Berlin 1903. 36 Ibid., o. S. (Einleitung). 37 Ibid. 38 Georg Hermann: Max Liebermann, in: Buber 1903 (wie Anm. 35), S. 109–135, S.110. Der jüdische Schriftsteller Hermann, populär für seine Romane jüdischen Lebens, emigrierte 1933 nach Holland und wurde 1943 nach Auschwitz deportiert, wo er umkam. 39 Ibid., S. 115: »In den Eigenschaften des Temperaments, der Persönlichkeit aber spürst du bei Liebermann etwas von seiner Rasse, seiner Herkunft, da ist er, wie Dehmel sagt, der Vollblutjude, wenn er es selbst auch nicht wahr haben will […].« 40 Ibid., S. 115. Während der Autor einerseits versucht, die »rassen-typisch-jüdischen« Charak-

teristiken in der Malerei von Israels, Pissarro und Liebermann herauszustellen (S. 116), sieht er andererseits keine Differenzierungen in der zeitgenössischen Malerei: »Gewiss, Liebermann hat den Einfluss gewonnen, nicht weil er Jude ist, sondern trotzdem er Jude ist. Bedenken wir, es giebt keine jüdische Kunst, ja es hat vielleicht nie eine jüdische Kunst gegeben, […]. Und die Werke jüdischer Künstler der Gegenwart unterscheiden sich äußerlich nicht von denen ihres jeweiligen Landes […].«

41 Vgl. Eberle 1995–1996 (wie Anm. 11), Bd. 2, Kat.-Nr. 1905/8, S. 640f. Viele der Darstellungen

des Amserdamer Judenviertels sind heute verschollen; zur Interpretation der Judenviertel in Liebermanns Werk vgl. Walter Cahn: Max Liebermann and the Amsterdam Jewish Quarter, in: Barbara Kirshenblatt-Gimblett u. Jonathan Karp (Hrsg.): The Art of Being Jewish in Modern Times, Philadelphia 2008, S. 208–227; zur historischen Übersicht und Analyse der jüdischen Künstler im Kaiserreich vgl. auch Peter Gay: Begegnung mit der Moderne – Deutsche Juden in der deutschen Kultur, in: Werner E. Mosse u. Arnold Paucker (Hrsg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890– 1914, London u. Tübingen, 2. Aufl. 1998, S. 2 41–311.

139 | Anmerkungen

42 Vgl. Juedischer Almanach [ für das jüdische Jahr 1902], Berlin [1903]. Die Redaktion des künst-

lerischen Teils stammte von Ephraim Moshe Lilien. Folgende Bilder Liebermanns waren reproduziert: »Der Winter« (S. 91), »Herbst« (S. 103), »Sommer« (S. 110), »Portrait« (S. 147); vgl. Eberle 1995–1996, Bd. 1, Kat.-Nr. 1898/32–34 u. S. 501 ff. Bei den Jahreszeitenbildern handelt es sich um die 1897–1899 entstandenen Wandbilder in Schloss Klink, Mecklenburg (Kriegsverlust), das »Portrait« ist das Brustbild der Tochter des Künstlers von 1893, ehemals in der Sammlung der Erben Liebermanns (Verbleib unbekannt); vgl. ibid., Kat.-Nr. 1893/8. Die Werke sind auch in Buber 1903, S. 114–117, abgebildet.

43 Brief von Martin Buber an Theodor Herzl, 2 4. Juli 1902, in: Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Bd. 1 (1897–1918), Heidelberg 1972, Nr. 37, S. 174–175. Buber erwähnt auch, dass über »Kulturzionimus«, den Juedischen Almanach und sein Buch Juedische Künstler gesprochen wurde. 44 Ernst Schur: Der Fall Meier-Gräfe, Berlin 1905, S. 98. Diese aggressive Kritik an Meier-Graefe

und der Berliner Sezession ist ein Beispiel, wie ein Autor die Kunstkritik in die politische Arena verschiebt, aber gleichzeitg vorgibt, dass es »in der Kunst eine Unterscheidung nach Rassen hinsichtlich der kritischen Bewertung nicht« gibt; ibid., S. 113.

45 Lothar Brieger-Wasservogel: Der Fall Liebermann. Über das Virtuosentum in der bildenden Kunst, Stuttgart 1906, S. 50: »[…] indem er die Internationalität dieser seiner Art Kunst als etwas an keine bestimmte Gefühlswelt Gebundenes proklamierte, raubte er ihr den inneren Gehalt und die nationale Grundlage, welche jede grosse, auch die allgemeingültigste Kunst […] besitzt und besitzen muss.« 46 Karl Scheffler: Max Liebermann, München, 1906, S. 9: »Durch diese Eigenschaften [›Rassenbegabungen‹] erreicht der jüdische Geist eine bewunderungswürdige mittlere Höhe; aber es fehlen ihm dafür die grossen Höhen und Tiefen.« Und der Autor betont etwas weiter, dass daher die »höchste künstlerische Schöpferkraft« fehle. 47 Ibid., S. 8 und 9. 48 Ibid., S. 9: »Individuen wie Moses Mendelssohn, Heine, Börne, Mendelssohn-Bartholdy,

Meyerbeer, Israels, Liebermann scheinen höchste Punkte einer Volkskraft zu bezeichnen, die als Ganzes freilich schon durch ihre Unzerstörbarkeit genialisch wirkt, die im Künstlerischen aber im wesentlichen rezeptiv ist.«

49 Vgl. Brief von Max Liebermann an Alfred Lichtwark, 21. September 1906, in: Pflugmacher 2003 (wie Anm. 9), S. 229 f.; Braun 2013, Nr. 474, S. 449–450, S. 450. 50 Vgl. Ausstellung jüdischer Künstler Berlin, Ausstellungskatalog, Galerie für Alte und Neue Kunst, Berlin 1907. Wie im Katalog vermerkt wird, wurden auch Werke zum Verkauf angeboten. 51

Ausstellungskomitee [Alfred Nossig u. Leopold Pilichowski], ohne Titel, ibid., S. VI.

52 Alfred Nossig: Ausstellung jüdischer Künstler, in: Ost und West 7/1907, Sp. 743–752, Sp. 745.

Celka K. Straughn hat mir freundlicherweise Einsicht in den Text ihres Vortrages The »Peculiarities« of Jewish Art in the »Exhibition of Jewish Artists« in Berlin 1907, Konferenz der Association for Jewish Studies, 2004, gegeben.

53 Nossig 1907, Sp. 749 f. 54 In ihrer Analyse der White Chapel Art Gallery betont Straughn diese Dualität im Diskurs; vgl. Steyn 1990, S. 48: »But, in the claim that Jewish artists were both different from and the same as others, the text [of the catalogue] demonstrates a capacity for the distinction and incorporation, differentiation and assimilation of the Jews.«

140 | Anmerkungen

55 Vgl. Harry Graf Kessler: Das Tagebuch, 1880–1937, Bd. 3 (hrsg. v. Carina Schäfer u. Gabriele Biedermann), Stuttgart 2004, S. 808. Am 13. Oktober 1905 hielt Kessler seine Rede im Berliner Verein für Kunst und vermerkte, dass Meier-Graefe und Liebermann im Publikum waren.

56 Harry Graf Kessler: Nationalität [1906], in: id.: Künstler und Nationen. Aufsätze und Reden

1899–1933 (hrsg. v. Cornelia Blasberg u. Gerhard Schuster), Frankfurt 1988 (Gesammelte Schriften, Bd. 3), S. 117–130, S. 128. Im Kontrast dazu vgl. Friedrich Meineke: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, München u. Berlin 1908; engl. Ausgabe unter dem Titel Cosmopolitanism and the National State, Princeton, N. J. 1970.

57 Vgl. Eberle 1995–1996 (wie Anm. 11), Bd. 2, Kat.-Nr. 1930/5, S. 1220.

EINE GENEALOGIE DER MODERNE Gertrude Stein

Flaubert, Cézanne und

1 Gertrude Stein: The Autobiography of Alice B. Toklas [1933], Harmondsworth 1986, S. 39. Es handelt sich um das Bildnis der Ehefrau Cézannes von 1881, das Stein 1905 gekauft und über ihrem Schreibtisch aufgehängt hatte (vgl. Abb. 2). Der vorliegende Text geht auf einen Vortrag zurück, den ich im Rahmen meiner Warburg-Professur im Juli 2009 im Hamburger Warburg-Haus gehalten habe. Der erste Teil ist eine übersetzte und stark überarbeitete Fassung meines Artikels A New Kind of Realism: Flaubert’s »Trois Contes« and Stein’s »Three Lives«, in: Comparative Literature 61-4/2009, S. 388–399. 2 Vgl. Marilyn Gaddis Rose: Gertrude Stein and Cubist Narrative, in: Modern Fiction Studies

22/1976, S. 543–555; Marjorie Perloff: Poetry as »Word-System«, in: id.: The Poetics of Indeterminacy. Rimbaud to Cage, Princeton 1981; S. 67–108; Charles Altieri: Painterly Abstraction in Modernist American Poetry. The Contemporaneity of Modernism, Cambridge 1989.

3 Vgl. vor allem Jayne Walker: The Making of a Modernist. Gertrude Stein from »Three Lives« to »Tender Buttons«, Amherst 1984.

4 Vgl. aber Georgia Johnston: Reading Anna Backwards. Gertrude Stein Writing Modernism Out of the Nineteenth Century, in: Studies in the Literary Imagination 25/1992, S. 31–37; Walker 1984 (wie Anm. 3), S. 19ff.; Astrid Franke: Keys to Controversies. Stereoptypes in Modern American Novels, Frankfurt am Main, S. 81 ff.; Carolyn Faunce Copeland: Language and Time and Gertrude Stein, Iowa City 1975, S. 21f. 5 Vgl. Johnston 1992 (wie Anm. 4), S. 34. 6 Zu einer systematischen Lektüre der christlichen Motive von Un cœur simple vgl. Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt am Main 2009, S. 374ff.

7 Brief von William James an Gertrude Stein, Mai 1910, zitiert nach Janet Hobhouse: Everybody Who Was Anybody. A Biography of Gertrude Stein, New York 1975, S. 83.

8 Vgl. Rainer Warning: Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 12f. 9 Zu den Konventionen der Figurenkonstitution im Realismus vgl. Lennard J. Davis: Resisting Novels. Ideology and Fiction, New York 1987.

10 Richard Bridgman: Gertrude Stein in Pieces, New York 1970, S. 47. 11 John Malcolm Brinnin: The Third Rose. Gertrude Stein and Her World [1959], Reading, Mass., 1987, S. 56.

141 | Anmerkungen

12 Ibid., S. 58f. 13 Vgl. Roland Barthes: Le plaisir du texte, Paris 1973; Shoshana Felman: La folie et la chose lit-

téraire, Paris 1978, S. 19–169; Rainer Warning: Irony and the »Order of Discourse« in Flaubert, in: New Literary History 13/1982, S. 253–286; Christopher Prendergast: The Order of Mimesis. Balzac, Stendhal, Nerval, Flaubert, Cambridge 1986.

14 Gustave Flaubert: Un Cœur simple, in: id.: Trois contes [1877], Paris 1988, S. 192. 15 Vgl. Brief von Gustave Flaubert an Edma Roger des Genettes, 19. Juni 1876, in: Gustave Flaubert: Correspondance, (hrsg. v. Jean Bruneau), Paris 1973–2007 (Bibliothèque de la Pléiade), 5 Bde., Bd. 5, S. 57 f.: »Cela n’est nullement ironique […] mais au contraire très sérieux et très triste. Je veux apitoyer, faire pleurer les âmes sensibles, en étant une moi-même.«

16 Ulrich Schulz-Buschhaus: Flaubert. Die Rhetorik des Schweigens und die Poetik des Zitats, Münster 1995, S. 117. 17 Ben Stoltzfus: Point of View in »Un Cœur simple«, in: French Review 35/1961, S. 19–25, S. 20f.; zu Lamartine vgl. Vinken 2009 (wie Anm. 6), S. 395ff. 18 Vgl. Bridgman 1970 (wie Anm. 10), S. 46. 19 Vgl. Ross Chambers: Simplicité du cœur et duplicité textuelle. Etude d’»Un Cœur simple«, in: Modern Language Notes 96/1981, S. 771–791, hier S. 772. 20 Steins Notizbücher und Skizzen legen nahe, dass Stein mit ihren drei Texten ursprünglich eine Differenzierung des sozialen Typus des Dienstmädchens beabsichtigte. Vgl. Gertrude Stein and Alice B. Toklas Papers, Yale Collection of American Literature, Beinecke Rare Book and Manuscript Library (YCAL). 21 Flaubert 1988 (wie Anm. 14), S. 158. Steins Lehrer William James hatte solche Sprachmuster als »automatic« charakterisiert; vgl. William James: The Principles of Psychology [1890], New York 1950, 2 Bde., Bd. 1, S. 122. James fasst darunter insbesondere »vocalization and pronunication, gesture, motion and address« und betont, dass sich diese Sprach- und Verhaltensmuster nach der Adoleszenz nicht mehr ändern lassen. 22 Der Text findet in Steins psychologischen Experimenten im Labor Hugo Münsterbergs in Harvard ihr Vorbild. Vgl. Leo M. Solomons u. Gertrude Stein: Cultivated Motor Automatism. A Study of Character and Its Relation to Attention, in: Psychological Review 5–3/1896, S. 295–306.

23 Das Vorbild für die Gestaltung Annas war Steins Dienstmädchen Lena Lebender; vgl. Stein 1986 (wie Anm. 1), S. 89. 24 Einige Restbestände des religiösen Diskurses lassen sich jedoch angeben, etwa das Arrange-

ment der Texte zu einem Triptychon sowie die (ironische) Bezeichnung der Dienstmädchen als Heilige des Alltags, indem ihre Charakterzüge unter ein einziges positives Wesensmerkmal – Güte, Freundlichkeit – subsumiert werden. Zur Struktur der Trois Contes als Triptychon vgl. Michael Issacharoff: L’Espace et la nouvelle. Flaubert, Huysmans, Ionesco, Sartre, Camus, Paris 1976; Vinken 2009 (wie Anm. 6), S. 357ff. Wie Félicité ist schließlich auch Anna eine gute Katholikin. Aber für Anna ist die Religion nicht Angelpunkt einer Sehnsucht nach Trost und Transzendenz. Anna geht es vielmehr darum, mit sonntäglichem Kirchgang und regelmäßiger Beichte einer weiteren Dienstpflicht nachzukommen. Wie sonst auch wird durch Regelkonformität Annas kleinbürgerliche Identität gestützt; kleine Tricks verschaffen ihr aber zugleich das Vergnügen, der Autorität des Pfarrers ein Schnippchen zu schlagen.

25 Zu Auerbachs Charakterisierung der Sprache Flauberts vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946], Bern u. München 1977, S. 456f.

142 | Anmerkungen

26 Gertrude Stein, The Good Anna, in Three Lives [1909] Harmondsworth 1979, S. 11. 27 Ibid., S. 9. 28 Ibid., S. 19. 29 Ibid., S. 21. 30 Ibid., S. 27 u. S. 35. 31 Ibid., S. 26, S. 56 u. S. 62. 32 Diese Beobachtung verdanke ich Edi Zollinger, München. 33 Vgl. die vernichtende Kritik von Wyndham Lewis, zitiert nach Brinnin 1987 (wie Anm. 11),

S. 122: »in adopting the simplicity, the illiterateness, of the mass-average of the Melancthas and Annas, Miss Stein gives proof of all the false ›revolutionary‹ propagandist plain-manism of her time«.

34 Vgl. Johnston 1992 (wie Anm. 4), S. 34. 35 Stein 1979 (wie Anm. 26), S. 58; zum Erzähler bei Flaubert vgl. Brief von Gustave Flaubert an Louise Colet, 9. Dezember 1852, in: Gustave Flaubert: Correspondance, Bd. 2, S. 57: »L’auteur, dans son œuvre, doit être comme Dieu dans l’univers, présent partout, et visible nulle part.« 36 Melanctha, die berühmte zweite Erzählung in Three Lives, kodiert einen autobiographischen Roman Steins aus dem Jahre 1903 über eine lesbische Dreiecksbeziehung um, in dem die beiden weiblichen Zentralfiguren des Romans in ein afroamerikanisches heterosexuelles Paar verwandelt werden; vgl. Gertrude Stein: Q.E.D., in: id.: Writings 1903–1932, New York 1998, S. 1– 63. 37 Robert Bartlett Haas: »A Transatlantic Interview«. A Primer for the Gradual Understanding of Gertrude Stein, Los Angeles 1971, S. 11–35, S. 15f. Stein charakterisierte Picassos kubistische Malerei mit denselben Begriffen wie die Malerei Cézannes, nämlich als eine Komposition, in der »each thing was as important as any other thing« (Gertrude Stein: Picasso [1938], New York 1984, S. 12). In einem vor kurzem erschienenen Sammelband zur Rezeption Cézannes wird Stein nicht erwähnt; vgl. Torsten Hoffmann (Hrsg.): Lehrer ohne Lehre. Zur Rezeption Paul Cézannes in Künsten, Wissenschaften und Kultur, 1906–2006, München 2008. 38 Vgl. die Bemerkung von Kurt Badt, es gehe Cézanne darum, die Objekte »in ihrer wechselseitigen Bindung aneinander« sichtbar zu machen (Kurt Badt: Das Spätwerk Cézannes, Konstanz 1971, S. 12). Ich danke Monika Wagner, Hamburg, Martin Warnke, Hamburg, und Karin Gludovatz, Berlin, für wichtige Literaturhinweise. 39 Vgl. Richard Shiff: Cézanne’s Physicality. The Politics of Touch, in Salim Kemal u. Ivan Gaskell (Hrsg.): The Language of Art History, Cambridge 1991, S. 129–180, hier S. 150.

40 Zur zeitgenössischen Theorie der Optik vgl. Pepe Karmel: Picasso and the Invention of Cub-

ism, New Haven u. London 2003, S. 2–10; zur zeitgenössischen psychologischen Begrifflichkeit vgl. Richard Shiff: The End of Impressionism. A Study in Theories of Artistic Expression, in: Art Quarterly 1–4/1978, S. 338–378; Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge MA 1992, S. 67–96.

41 Gottfried Boehm: Paul Cézanne. Montagne Sainte-Victoire, Frankfurt am Main 1988, S. 93. Für

eine Diskussion von Cézannes Begriff der »réalisation« vgl. unter anderem Vladimir Vukiˇceviˇc: Cézannes Realisation. Die Malerei und die Aufgabe des Denkens, München 1992; Evelyn Benesch: Vom Unfertigen zum Unvollendeten. Zur »réalisation« bei Paul Cézanne, in: Cézanne. Vollendet – unvollendet (hrsg. v. Felix Baumann et al.), Ausstellungskatalog, Kunstforum Wien / Kunsthaus Zürich, 2000, S. 41–62; Michael Lüthy: Subjektivität und Medialität bei Cézanne – mit Vorbemerkungen

143 | Anmerkungen

zu Dürer, Kersting und Manet, in id. u. Christoph Menke (Hrsg.): Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, Zürich u. Berlin 2006, S. 198–208; zu zeitgenössischen Stellungnahmen zur Malerei Cézannes vgl. Michael Doran (Hrsg.): Conversations with Cézanne [1978], Berkeley 2001, S. 16 ff. u. S. 37.

42 Vgl. Jonathan Crary: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture,

Cambridge, Mass. 1999, S. 298; zu einer Analyse des Topos der »reinen Wahrnehmung« im Kontext zeitgenössischer Psychologie und Philosophie vgl. ibid., S. 315ff.

43 Gertrude Stein and Alice B. Toklas Papers, YCAL. 44 Gertrude Stein and Alice B. Toklas Papers, YCAL; vgl. James 1950 (wie Anm. 21), Bd. 2, S. 78:

»Infants must go through a long education of the eye and ear before they can perceive the realities which adults perceive. Every perception is an acquired perception.« Vgl. auch Cézannes Bemerkung in einem Brief an Emile Bernard, es gehe ihm darum, »to recreate the image of what we see, forgetting everything that has gone [on] before«; zitiert nach Doran 2001 (wie Anm. 41), S. 48.

45 William Shakespeare: The Tempest, III.2. 147–50. 46 Gertrude Stein: Pictures, in: id.: Lectures in America [1935], London 1985, S. 57–90, S. 76f. Stein hielt abstrakte Malerei für »pornographisch«; vgl. Gertrude Stein: Everybody’s Autobiography [1937], New York 1973, S. 127. 47 Maurice Merleau-Ponty: Der Zweifel Cézannes [1945], in: id.: Sinn und Nicht-Sinn, München 2000, S. 11–33, hier S. 17. 48 Rilke sprach von der »eigensinnigen Vorhandenheit« der Gegenstände in Cézannes Bildern; vgl. Rainer Maria Rilke: Briefe über Cézanne [posthum 1952], Frankfurt am Main 1983, S. 29. Shiff hebt die Taktilität der Bilder Cézannes hervor und erklärt diesen Effekt so: »The ›solidity‹ previous critics saw actually belonged to neither the objects depicted nor even the illusion of their ›real‹ presence; instead, it belonged to the construction, by means of ›touches‹, of a rather overdetermined (and hence unusually solid) compositional order« (Richard Shiff: Constructing Physicality, in: Art Journal 50/1991, S. 42–47, S. 43); vgl. Merleau-Ponty 2000 (wie Anm. 47), S. 19; Lorenz Dittmann: Die Kunst Cézannes. Farbe – Rhythmus – Symbolik, Köln, Weimar u. Wien 2005, S. 45–81.

49 Stein 1985 (wie Anm. 46), S. 87. 50 Vgl. ibid., S. 79. 51 Merleau-Ponty 2000 (wie Anm. 47), S. 17; vgl. Crary 1999 (wie Anm. 42), S. 288 u. S. 352ff. 52 Gertrude Stein: Cézanne [1923], in id.: Writings 1903–1932, New York 1998, S. 494. 53 Vgl. zum Beispiel Francis Picabias Porträt Gertrude Stein mit Toga von 1933 (Yale, Beinecke

Rare Book and Manuscript Library) oder die folgende Beschreibung Steins von John Hyde Preston, zitiert nach Catharine R. Stimpson: The Somagrams of Gertrude Stein, in: Poetics Today 6/1985, S. 67–80, hier S. 71: »The hair is close-cropped, grey, brushed forward or not brushed at all but growing forward in curls, like the hair of Roman emperors«. Kahnweiler sprach von Steins »fine Roman head«, Daniel-Henry Kahnweiler: Introduction to »Painted Lace« [1955], in: Linda Simon: Gertrude Stein Remembered, Lincoln 1994, S. 17–27, S. 19; Imbs erinnert sich an Stein »sitting majestically like a Roman emperor«, Bravig Imbs: Confessions of Another Young Man, New York 1936, S. 162; auch Hemingway schloss sich an: »She got to look like a Roman emperor«, Ernest Hemingway: A Moveable Feast [1964], New York 1996, S. 119. »Caesar« ist ferner eine Rollenidentität, die Stein häufig in ihren erotischen Texten einnahm; vgl. Bridgman 1970 (wie Anm. 10), S. 152; Elizabeth Fifer: Rescued Readings. A Reconstruction of Gertrude Stein’s Difficult Texts, Detroit 1992, S. 47; Stimpson 1985 (s.o.), S. 71.

144 | Anmerkungen

54 Vgl. Gertrude Stein: Portraits and Repetition, in: id. 1985, S. 165–206, S. 166; id. 1984, S. 10. 55 Vgl. Rilke 1983 (wie Anm. 48), S. 27, S. 36, S. 40, S. 43 u. S. 48. Cézanne bestimmte in einem

Brief an Emile Bernard von 1904 seine Verwendung der Farbe Blau als Darstellung der Luft; vgl. Doran 2001 (wie Anm. 41), S. 122. Rubin charakterisiert die Wirkung von Cézannes Blau als »distant and meditative mood«, William Rubin: Cézannisme and the Beginnings of Cubism, in: Cézanne. The Late Work, Ausstellungskatalog, Museum of Modern Art, New York 1977, S. 151–202, hier S. 181, Anm. 116; zu Cézannes Blau als Farbe perzeptueller Nähe und ontologischer Ferne vgl. auch Kurt Badt: Die Kunst Cézannes, München 1956, S. 60ff.

56 Stein 1986 (wie Anm. 1), S. 36. Rewald charakterisiert dieses Bild als »green landscape«, s. John

Rewald: Cézanne, The Steins and Their Circle, London 1986, S. 56. Leo Stein erinnerte sich anders als seine Schwester an den Kauf dieses Bildes: er habe auf einen Hinweis von Bernard Berenson hin seinen ersten Cézanne – eben dieses Bild – bei Vollard gekauft, noch bevor die Geschwister im Sommer 1904 Charles Loesers Cézanne-Sammlung in Florenz kennenlernten; vgl. Leo Stein: Appreciation. Painting, Poetry, and Prose. [1947], Lincoln 1996, S. 155; John Rewald: The Paintings of Cézanne. A Catalogue Raisonné, New York 1996, 2 Bde., Bd. 1, Kat.-Nr. 406.

57 In einem Brief an Bernard charakterisierte Cézanne die Natur als »Schauspiel, das der Pater omnipotens, aeterne Deus vor unseren Augen ausbreitet«; zitiert nach Doran 2001 (wie Anm. 41), S. 29.

KÖRPER IN KR AF TFELDERN Klassischen Moderne

Kunst, Krieg und Raumtheorie in der

1 Vgl. Felix Philipp Ingold: Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909–1927, Frankfurt am Main 1980, S. 10ff. 2 Zum preußischen Generalstab, zu Moltke und Schlieffen vgl. Hajo Holborn: The Prusso-Ger-

man School: Moltke and the Rise of the General Staff, in: Makers of Modern Strategy (hrsg. v. Peter Paret), Oxford 1986, S. 281–295; Gunther E. Rothenberg: Moltke, Schlieffen, and the Doctrine of Strategic Envelopment, ibid., S. 296–325; Stefan Kaufmann: Kommunikationstechnik und Kriegführung 1815–1945. Stufen telemedialer Rüstung, München 1996, S. 89ff.

3 Ibid., S. 91. 4 Vgl. Peter Paret: Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im kaiserlichen Deutschland, Berlin 1981, S. 344ff. 5 Alfred Graf von Schlieffen: Der Krieg in der Gegenwart [1909], in: id.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Berlin 1913, S. 11–22, S. 12f.

6 Ibid., S. 14. 7 Ibid., S. 15f. 8 Vgl. ibid., S. 16. 9 Vgl. Kaufmann 1996, S. 161ff. 10 Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus [1909], in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hrsg.): Futurismus. Geschichte – Ästhetik – Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 75–80, S. 77.

145 | Anmerkungen

11 Filippo Tommaso Marinetti: Die Sturmtruppen, Avantgarde der Nation [1919], ibid., S. 167– 169, S. 168. 12 Vgl. ibid., S. 167. 13 Filippo Tommaso Marinetti: Zerstörung der Syntax. Drahtlose Phantasie. Befreite Worte [1913], ibid., S. 210–220, hier S. 212. 14 Zitiert nach Annegret Jürgens-Kirchhoff: Schreckensbilder. Krieg und Kunst im 20. Jahrhundert, Berlin 1993, S. 18.

15 Vgl. Richard Cork: Das Elend des Krieges. Die Kunst der Avantgarde und der Erste Weltkrieg, in: Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges (hrsg. v. Rainer Rother), Ausstellungskatalog, Deutsches Historisches Museum, Berlin 1994, S. 301–396, hier S. 328f. u. S. 375. 16 Vgl. Klaus Laermann: Zur Kritik der Gewaltmystik, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 640/2002, S. 663– 674. 17 Zur »apocalyptic imagination« vgl. Jay Winter: Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great war in European Cultural History, Cambridge 1995, S. 145ff. 18 Vgl. Die letzten Tage der Menschheit 1994 (wie Anm. 15), S. 303. 19 Zu Thomas Mann, Rilke und Barlach vgl. ibid., S. 61 f. u. S. 86. 20 Robert Musil: Europäertum, Krieg, Deutschtum [1914], in: id.: Gesammelte Werke (hrsg. v. Adolf Frisé), Reinbek bei Hamburg 1976–1981, 9 Bde., Bd. 8, S. 1020–1022, S. 1021f. 21 Robert Musil: Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit [1921], ibid., S. 1059–1075, hier S. 1060f. 22 Neben Freuds gleichnamigem Essay vgl. Robert Musil: Das hilf lose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste [1922], ibid., S. 1075–1094, S. 1082f.

23 Robert Musil: Die Amsel [1928], in: id. 1976–1981, Bd. 1, S. 555–557; vgl. Christoph Hoffmann: Der Dichter am Apparat. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899– 1942, München 1997, S. 12, S. 120 ff. u. S. 187ff. 24 Albert Scheibe: Das Kriegsschiff, in: Der Verkehr. Jahrbuch des Deutschen Werkbundes, Jena 1914, S. 59– 66. 25 Vgl. Joachim Krausse, Dietmar Ropohl u. Walter Scheiffele: Vom großen Refraktor zum Einsteinturm, Gießen 1996, S. 17ff.

26 Zitiert nach Fernand Léger. 1911–1924. Der Rhythmus des modernen Lebens (hrsg. v. Dorothy Kosinski), Ausstellungskatalog, Kunstmuseum Wolfsburg 1994, S. 50.

27 Gertrude Stein: Picasso [1938], New York 1984, S. 11. 28 Felix Auerbach: Die Physik im Kriege, Jena 1915, S. 119. 29 Vgl. Christoph Asendorf: Parabeln und Hyperbeln. Über die Kodierung von Kurven, in: Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschossphotographien (hrsg. v. Christoph Hoffmann u. Peter Berz), Göttingen 2001, S. 353–376. 30 Auerbach 1915 (wie Anm. 28), S. 175. 31 Vgl. Stefan Kaufmann: Raumrevolution – Die militärischen Raumauffassungen zwischen dem

Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, in: Der Weltkrieg 1914–1918. Ereignis und Erinnerung (hrsg. v. Rainer Rother), Ausstellungskatalog, Deutsches Historisches Museum, Berlin 2004, S. 42–49, hier S. 46.

146 | Anmerkungen

32 Vgl. Auerbach 1915 (wie Anm. 28), S. 145f. 33 Giulio Douhet: Luftherrschaft, Berlin 1935, S. 13ff. 34 Ibid., S. 15. 35 Ernst Jünger: Skizze moderner Gefechtsführung [1920], in: id.: Politische Publizistik 1919–1933 (hrsg. v. Sven Olaf Berggötz), Stuttgart 2001, S. 14–18, hier S. 17. 36 Ibid., S. 16. 37 Kurt Lewin: Kriegslandschaft [1917], in: id.: Werkausgabe, Bd. 4 (hrsg. v. Carl-Friedrich Graumann), Bern u. Stuttgart 1982, S. 315–325, hier S. 315 u. Anm. S. 32 4f. Über Lewins Text als seltenes Beispiel einer Wissenschaft, die der Aktualität eines Krieges reflektierend auf den Fersen ist, vgl. Ulrich Raulff: Bewegliche Zonen. Schriftsteller, Historiker und die Geschichte der Gegenwart, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. April 1999. 38 Lewin 1982 (wie Anm. 37), S. 315. 39 Vgl. ibid., S. 315 ff. 40 Vgl. Hoffmann 1997 (wie Anm. 23), S. 278 ff. 41 Vgl. Roy R. Behrens: Art, Design and Gestalt Theory, in: www.leonardo.info/isast/articles/ behrens.html (zuletzt aufgerufen am 22.9.2009). 42 Vgl. Wissenschaften in Berlin (hrsg. v. Tilmann Buddensieg, Kurt Düwell u. Klaus-Jürgen

Sembach), Ausstellungskatalog, Kongreßhalle Berlin 1987, 3 Bde., hier Bd. I, S. 68f.; Bd. II, S. 144ff.; Bd. III, S. 50ff.

43 Vgl. Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung [1948], Frankfurt 1982, S. 531, S. 536 u. S. 549. 44 Vgl. Inka Mülder-Bach (Hrsg.): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, Wien 2000, S. 7f.; Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt, Berlin u. Wien 1979, S. 146ff. 45 Walter Benjamin: Zum Planetarium [1928], in: id.: Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, Frankfurt am Main 1972, S. 146–148, S. 147. 46 Walter Benjamin: Die Wiederkehr des Flaneurs [1929], in: id.: Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt am Main 1972, S. 194–199, S. 196f.; das Zitat von Gidion findet sich in Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, Leipzig u. Berlin 1928, S. 7; vgl. Heinz Brüggemann: Walter Benjamin und Sigfried Giedion, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3/1996, S. 443–474, hier S. 447. 47 Vgl. ibid., S. 450. 48 Joseph Alois Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie [1942], München 1950. 49 Filippo Tommaso Marinetti: Gegen das passatistische Venedig [1910], in: Christa Baumgarth: Geschichte des Futurismus, Reinbek bei Hamburg 1966, S. 58 50 Ernst Jünger: Das Abenteuerliche Herz – Erste Fassung [1929], in: id.: Sämtliche Werke, Bd. 9, Stuttgart 1978, S. 31–176, hier S. 154. 51 Vgl. Aby Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht (hrsg. v. Ulrich Raulff ), Berlin 1988, S. 56. 52 Paul Valéry: Eine methodische Eroberung [1896], in: id.: Werke, Bd. 7 (hrsg. v. Jürgen SchmidtRadefeldt), Frankfurt u. Leipzig 1995, S. 7–25, hier S. 16f.

147 | Anmerkungen

53 Peter Sloterdijk: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt 1989, S. 23, vgl. ibid., S. 61, S. 69 u. S. 76. 54 Ernst Jünger: Der Arbeiter [1932], in: id.: Sämtliche Werke, Bd. 8, Stuttgart 1978, S. 11–320, hier S. 191. 55 Vgl. Brigitte Werneburg: Die veränderte Welt. Der gefährliche anstelle des entscheidenden Augenblicks. Ernst Jüngers Überlegungen zur Fotografie, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 51/1994, S. 51– 67. 56 Edmund Schultz u. Ernst Jünger: Die veränderte Welt, Breslau 1933, S. 160; Laszlo MoholyNagy: Von Material zu Architektur [1929], Mainz 1968, S. 150.

57 Vgl. Carl Schmitt: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung [1942], Köln 1981, S. 54ff.

58 Bert Brecht: Journale, Bd. I, Berlin u. Weimar 1994, S. 377; vgl. ibid. S. 471; vgl. Karlheinz Barck: Blitzkrieg. »Gott Stinnes« or the Depoliticization of the Sublime, in: War, Violence and the Modern Condition (hrsg. v. Bernd-Rüdiger Hüppauf ), Berlin u. New York 1997, S. 119–133. 59 Banham spricht einmal einprägsam von der »heroic-style creative angst of the European-

based modern movement« und unterscheidet diese Haltung von der eher improvisatorischen der kalifornischen Moderne nach 1945, vgl. Reyner Banham: Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies [1971], London u. New York 1990, S. 227.

60 Vgl. Laszlo Moholy-Nagy: Vision in Motion, Chicago 1947, S. 71; Loyd C. Engelbrecht, Chicago,

in: 50 Jahre New Bauhaus (hrsg. v. id. u. Peter Hahn), Ausstellungskatalog, Bauhaus-Archiv, Berlin 1987, S. 20–32, hier S. 26.

61 Vgl. Klaus Brinkbäumer et al.: »To Saddam, with Love«, in: Der Spiegel 33/2003, S. 72–82; Sarah Left: The Apache Helicopter, in: The Guardian, 31. Oktober 2002. 62 Michael Herr: An die Hölle verraten [1977], Reinbek 1987, S. 13; vgl. Tom Holert u. Mark Terkessidis: Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert, Köln 2002, S. 53; vgl. ibid., S. 30ff.

63 Zum Déjà-vu vgl. Herr 1987 (wie Anm. 62), S. 15.

148 | Anmerkungen

BILDNACHWEISE Beitrag Lüdeking Abb. 1, 3–7, 9–10, : Berlin, Universität der Künste, Bildarchiv Abb. 2, 8, 12–13, 15–16: Archiv des Verfassers Abb. 11, 14: Universität Hamburg, Kunstgeschichtliches Seminar Beitrag Osterkamp Abb. 1–3: Archiv des Verfassers Beitrag Forster-Hahn Abb. 1, 9–10: Archiv der Verfasserin Abb. 2: Dietmar Katz, Berlin Abb. 3: National Library of Norway Abb. 4: Klaus Göken, Berlin Abb. 5: Andres Kilger, Berlin Abb. 6: Stiftung Stadtmuseum, Berlin Abb. 7: © Hamburger Kunsthalle / bpk (Foto: Elke Walford) Abb. 8: © Rheinisches Bildarchiv Köln (Foto: Marion Mennicken) Beitrag Haselstein Abb. 1: © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2014 Abb. 2–3: Universität Hamburg, Kunstgeschichtliches Seminar Beitrag Asendorf Abb. 1, 7–8, 10, 12–16: Archiv des Verfassers Abb. 2– 6, 9: Universität Hamburg, Kunstgeschichtliches Seminar Abb. 11: © Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen

ISBN 978-3-11-035990-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036010-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039105-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abruf bar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspf lichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Straf bestimmungen des Urheberrechts. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Reihengestaltung und Satz: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg Printed in Germany Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.