Aus dem Glücklichen : Erinnerungen aus dem Leben eines alten Beamten


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German Pages 610 Year 1904

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Table of contents :
Front Cover
Erfter Abschnitt: Kindheit
Brief des Kronprinzen Friedrich Wilhelm an den Staatssekretär v Thile
Bweiter Abschnitt: Gymnasialzeit
Fünfter Abſchnitt: Großes Examen
Sechßter Abschnitt: Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien
Siebenter Abschnitt: Regierungsallellor in Düsseldorf
Behnter Abschnitt: Krieg von 1866
Vierzehnter Abſchnitt: Dechant des Domkapitels in Merseburg 532-541
und Briefe des Königs und Kaiſers Wilhelm I an den General v Thile 545-548
Stammbaum der Familie v Dieſt 267-274
Die Vorfahren der Familie v Diest 275-284
Alphabetisches Namenverzeichnis 290-291
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Aus dem Glücklichen : Erinnerungen aus dem Leben eines alten Beamten

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Aus

Leben

dem

eines

Erinnerungen

eines

Glücklichen

alten

Beamten

bon

Guſtav von Diest Regierungspräsident a. D.

ML

Mit einem Bildnis in Lichtdruck

Berlin 1904 Ernst Siegfried Mittler und Sohn Königliche Hofbuchhandlung Kochstraße 68-71

THE NEW YORK) PUBLIC LIBRARY 301128 ASTOR ENOX AND TRULY FOUNDAT ONS. 19 4 R. L

Alle Rechte aus dem Gesez vom 19. Juni 1901 sowie das Übersehungsrecht ſind vorbehalten.

Dire

Gustav

&Diest.

Vorwort.

omine, non sum dignus !

Diese Überschrift, welche mein

seliger Vater seiner Bibel gegeben , schreibe auch ich über. meine Lebenserinnerungen, die ich heute, am Bußtag 1897, beginne. Ja, womit habe ich es irgend verdient , daß ich ein so reiche s Leben durchlebt , und vor allem , habe ? - Soli Deo gloria !

daß ich so viele Liebe erfahren

Inhaltsverzeichnis.

Erfter Abschnitt : Kindheit . In der Münzstraße. - Cellostunden. - Prinzeß Kögel. Flottwell. --Radziwill. — Pinne. — Familie Rappard-Maſſenbach. — Müllenſiefen. Tod meiner Mutter. Müllenſieſens erſter Gottesdienſt. - Die Geistlichen in Berlin. - Goßner. - Strauß. - Diesterwegsche Schule. Leipzigerstraße 65.

Bweiter Abschnitt: Gymnasialzeit



Seite 1-29

30-61

Nicht verseht. Direktor Reisen mit dem Vater. Streichquartett. Spillece. - Direktor Ranke. Die Professoren Siebenhaar, Breſemer, Schellbach - Professor Yrem . Muſikdirektor Rex. - Eröffnung der Friedrich Eisenbahn von Berlin nach Potsdam . Friedrich Wilhelm III. Wilhelm IV. Ernſt v. Bodelſchwingh. - Leipziger Play 14. -— HofHarzreise. prediger Theremin. Antigone. Karlsbad . - Abiturienteneramen. Gymnasialzeugnis . Dritter Abschnitt : Univerlitätszeit Juristenstudium. ― Rheinreise. Homburg. -

62-113

Rheinreise. Laach. -Italienische Reise. Pompeji. Musikleben in Rom. - Epiphaniasfest in Rom. - Kaiser Nikolaus I. in Rom . - Abreise von Rom. Garde-Ulan in Berlin. - Militärdienst. - Leipziger Play . - Krankheit. - Ludwig v. Bodelschwinghs Tod. - Heidelberg. Reise in Revolution in die Schweiz und nach Italien. - Tod des Vaters. Paris und Wien. - Straßenkampf in Berlin. 18. März 1848. Abmarsch der Truppen. ,,Barrikadenhelden.“ - Erſtürmung des KreuzZeughauses. - Pistolenduell. - Wrangels Einmarsch. zeitung, Stárzin.

Bierter Abschnitt : Auskultator und Referendar Erster Ball. Muſik in Frankfurt a. D. Mobilmachung 1850. Ulanenoffizier. - Regierung in Potsdam . Kronprinz. Prinz Velmede. Friedrich Karl. A. v. Humboldt. ― Harzreise. v. Zieten-Wustrau. Kommiſſariſcher Landrat des Kreiſes Ruppin.

114-138

VI

Fünfter Abſchnitt : Großes Examen Examenarbeiten. -- Große Reise mit Keudell. helms IV.

Seite 139-145 Tod Friedrich Wil-

Sechßter Abschnitt : Reise durch Belgien, Frankreich , Algerien und • Italien . . Stadt Diest. Evangeliſcher und katholischer Gottesdienst. Paris .

146-219

Südfrankreich. — Oran, Moſtaganem. — Algier. — Meeresfahrt von MarMeuterei auf dem Schiff. Trasimeniſche Toskana. ſeille aus. Rom. - Volster-Gebirge. See. - Aſſiſi. Sabiner Gebirge. Rom. Rom . - Sirtinische Kapelle. Hadrians Villa. Neapel. Delius' Tod. Reise um Sizilien. Palermo. Girgenti. Syrakus. Catania. Ätna. Wien. Ragusa. Noto. 220-248 Siebenter Abschnitt : Regierungsallellor in Düsseldorf Rheinländer. Die Eisenach. Düsseldorf. RheinüberschwemJoachim. Cleve. v. Ernſthauſen. Deichwesen. mung. Das Brahms. - Große Musiker. Irrenhäuser. -- Wrangel. Regierungskollegium. Achter Abschnitt : Hilfsarbeiter beim Oberpräsidium der Rheinproving Kleiſt-Rehow. Präsident Schede. - Friz Reuter. - Bismarck. v. Wolffs Hochzeit. -- Meine Verlobung .

Beunter Abschnitt : Tandrak in Weklar Stadt Weglar. - Kreis Wezlar. — Fürſt Solms -Braunfels. Solms. Lich und Solms-Laubach - Die Geschwister v. Thile. - Reichtum an Eisenstein. - 8. Jäger-Bataillon, Geiſtlichkeit. - Otto v. Diest. Siegfried v. Quast. Kronprinz und Kronprinzessin. Königin Marie von Bayern. Bismarc. - General v. Herwarth.

249-263

264-288

289-346 Behnter Abschnitt : Krieg von 1866 Einmarsch in Kurhessen. - Marburg, Kirchhain. Kaffel. - Kur: Falckenstein . - ZivilFeldzug in Böhmen. hessische Armee. kommissar in Frankfurt a. M. - Kontribution in Frankfurt a. M. Thurn und Tarissche Post. - Frizz Reuter. - Reiſe zu Manteuffel. Zivilkommissar in Wiesbaden. - Waffenstillstand mit der Armee in Zustände in Wiesbaden vor Mainz. - Manteuffel. -- v. Goeben. dem Frieden. Der Friedensschluß. Einverleibung von Naſſau. Einrichtung meiner Verwaltung. Bisherige Verwaltung Naſſaus. Finanz- und Domänenverwaltung. - Eisenbahn- und JustizverwalDie nassauischen Beamten. tung. Nassauische Spielbanken. Biebricher Kabinettsweine. -- Volk und Presse. Kirchliche Zustände. Plan eines Attentates auf König Wilhelm.

347-387 Elfter Abschnitt : Regierungspräsident in Wiesbaden . s Meine Wahl zum Reichstag. König GeTrauriges Jagdgeseh. burtstag 22. März 1867. - Neue Landräte. Seiner Majestät Urteil über die Miniſter. - Gefahr eines Krieges mit Frankreich. - Des -

Inhaltsverzeichnis.

VII

Seite

Königs Reise nach Wiesbaden. - Des Königs Aufenthalt in Wiesbaden. Der König in Ems. - Feuer im Dom zu Frankfurt a. M. Direkte Urwahlen zum Reichstag. - Abeken. - Reichstagsfessionen. Stimmung in Frankfurt a. M. - Mein PrivatGraf Roon. leben. Meine Versehung aus Wiesbaden. Bismarck. Lasker. Meine Versehung nach Danzig. - Abschied von Wiesbaden. 388-452 Zwölfter Abschnitt : Regierungspräsident in Panzig Die katholischen Bischöfe. Reichenhall . Empfang in Danzig. Der König in Königsberg. Landwehroffizier. Todesstrafe. Ausbruch des Krieges Trauriges Schulwesen in der Kaſſubei. 1870. Tod meines Bruders Wilhelm vor Straßburg. Mein Bruder Otto und meine Neffen im Kriege. Bitte des Reichstags um Villa Stern vor Paris . Annahme der Kaiserkrone. — Versailles. Beſchießung von Paris. Schlachtfelder von 1870. Wieder MitBismarck. - Fest in Marienburg. Meine glied des Reichstags. BisWohnungsnot in Danzig. -- Bismarck. - Die Kirchengeseye. Bismarck. - Kulturkampf. mards Bruch mit den Konservativen. - Überschwemmung der Weichsel. Abschied Aufforstungen, Miſſion. aus Danzig. 453-531 Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg . Kaiser und Kaiſerin in Merseburg. - Schönheit des Merseburger Be Provinzial- und GeneralKirchenbauten. Aufforstungen. zirks. synoden. Vereinswesen. Eisenbahnbauten. Tod meines Schwagers v. Quaſt. — Verwaltungsreform. — Bericht an den Kaiſer. — Erſte ordentliche Generalſynode. Ertrinken zweier Fräulein in Norderney. - Morisburg in Halle. 250 Jahr nach Gustav Adolfs Tod in Lügen. „ Bambino " in Rom. Gregorovius. Luther-Halle in Wittenberg. Kronprinz (Friedrich III. ). - Kaiser Wilhelm I. Enthüllung des NiederwaldPrinz Wilhelm (Kaiſer Wilhelm II.) . Arbeiterkolonie Seyda. denkmals. Meine silberne Hochzeit. Generalsynode. Einweihung des Doms in Merseburg. ― KronOffenhalten der evanprinz (Friedrich III.) . — Siegfried v . Quaſt. Tod Kaiser Wilhelms Kaiser Wilhelm I. gelischen Kirchen. des Großen. ― Familienereignisse. - Kaiser Wilhelm II. -- Einweihung der Schloßkirche in Wittenberg. Reise nach Norwegen. Abschied aus dem Staatsdienst. Vierzehnter Abſchnitt : Dechant des Domkapitels in Merseburg . . Die Domdechanei. Abschiedsovationen . - Handwerkertag 2c. 25jähriges Jubiläum des Deutschen Reiches. - Todesfälle. -· Schrift ſtellerei.

532-541

VIII

Inhaltsverzeichnis.

Anhang. Seite 1. Brief des Kronprinzen Friedrich Wilhelm an den Staatssekretär v. Thile und Briefe des Königs und Kaiſers Wilhelm I. an den General v . Thile 545-548 2. Brief von Frau Johanna v . Bismarck an Guſtav v . Dieſt. Briefe Bis548-564 marcks an den Staatssekretär v. Thile

Anlagen.

Anlage 1. Stammbaum der Familie v. Dieſt = 2. Die Vorfahren der Familie v. Diest 3. Kaiserliche Diplome über die Familie v. Diest .

267-274 275-284 285-289

Alphabetisches Namenverzeichnis

290-291

Alphabetisches Orts- und Sachverzeichnis .

292

Erfter Abschnitt. Kindheit.

eboren bin ich am 16. Auguſt 1826 in Poſen.

Die frühesten Er-

innerungen aus meiner Kindheit gehen zurück in das Jahr 1829.

Damals mußte ich nach einer Krankheit zum zweitenmal laufen

lernen, und ich sah meine Mutter einige Schritte vor mir knien, mit einem Brötchen in der Hand, damit ich mich entschließen sollte, in ihre Arme zu laufen . Zur Erholung wurde ich nach Pinne, einer kleinen Stadt sechs Meilen westlich von Posen, geschickt, da dort Frau v. Rappard, die intime Freundin meiner Mutter, wohnte. - Frau v. Rappards Bruder, Georg v . Maſſenbach, war gerade von seiner Hochzeit mit Fräulein v. Gemmingen in Württemberg nach Pinne zurückgekommen, wo er die gesamte Verwaltung der großen Herrschaft Pinne, zur Unterstüßung seines gelähmten Schwagers, schon seit längerer Zeit führte. In einem kleinen sogenannten „Inspektorhause" wohnte das junge Ehepaar in einigen kleinen, höchst bescheidenen, niedrigen Stuben. Pinne ward mir zur zweiten Heimat, denn ich wurde in dem Maſſenbachſchen Hause untergebracht und herrlich verpflegt, ſo daß ich in kurzer Zeit völlig genas . — Ich war ein immer vergnügter, dicker Bengel, den alle lieb hatten.

Das junge Paar nannte mich seitdem immer seinen

ältesten Sohn, ich aber hieß bei meinen Geschwistern, bis ich erwachsen war : „der Dicke“ oder „ das Dickchen". Ein alter Hausfreund des Rappardschen Hauses wie unzählige Hausfreunde hatte dieses Haus ! — mit Namen Schlatter aus dem Schwabenlande hatte sein besonderes Wohlgefallen an mir und rief mir in seiner Mundart immer zu : „Guſchtav, bischt du luschtig !" Eine andere meiner frühesten Erinnerungen aus Poſen iſt die, daß ich eines Abends im Jahre 1830 zum Fenster hinaus ſah, als mein Vater mit einem großen Gefolge von Offizieren nach dem unserer Wohnung gegenüber liegenden Wilhelmsplay ritt, auf welchem blinde Kanonenschüsse 1 v. Diest, Lebenslauf eines Glücklichen.

2

Erster Abschnitt: Kindheit.

abgefeuert wurden, um die vor der Stadt befindlichen Insurgentenbanden aufmerkſam zu machen, daß die Garnison auch in der Nacht wachſam ſei. Ich schrie meinem Vater, so laut ich konnte, immerzu nach : „Papa, laß dich nur nicht totschießen!" Mein Vater war damals Chef des Generalstabes des V. Armeekorps und hatte den abwesenden kommandierenden General zu vertreten . Wie er den Befehl zur Mobilmachung des ganzen Armeekorps, ohne den Auftrag Seiner Majestät des Königs abzuwarten, auf eigene Verantwortung ausführte, iſt aus seiner Lebensgeschichte* ) zu ersehen. Daß ich von meiner Mutter die ersten Schreib- und Lesestunden bekam, schwebt mir nur noch ganz dunkel vor ; ebenso wie sie selbst in ihrer lieblichen Gestalt mir wie ein Engel in weiter Ferne erscheint ; ihr Sterbebett aber steht mir deutlicher vor der Seele, wie sie mit heller Stimme eine Choralmelodie sang, wie ihr das neugeborene Kindchen (meine Schwester Adelheid) auf das Bett gelegt wurde, und wie alle herum knieten. Sie starb am 11. Januar 1832 und ruht auf dem Kirchhof in Pinne, neben den Gräbern von Herrn und Frau v. Rappard . Noch heute sehe ich den schwarzen Leichenwagen, hinter welchem wir Kinder mit unſerem Hauslehrer Müllensiefen auf schlechten sandigen Wegen von Posen nach Pinne fuhren. Gewiß fragt sich jeder einmal, wie weit in die Kindheit zurück ſeine Lebenserinnerungen gehen, und da muß ich des von mir hochverehrten Oberhofpredigers Kögel gedenken, deſſen Gedächtnis viel weiter in die Kindheit zurückging als das meinige. Er war im Februar 1829 geboren, war also noch nicht drei Jahre alt, als meine Mutter begraben wurde, und doch wußte er mir genau von dieser seiner ersten Lebenserinnerung zu erzählen ; er sei von seinem Vater, welcher Superintendent in Birnbaum war, auf die Fußreise nach dem vier Meilen entfernten Pinne auf ſein dringendes Bitten zum Begräbnis meiner Mutter mitgenommen worden. Den ermüdeten Knaben habe der Vater auf die Schulter genommen, zumal ein Sturmuvind immer ärger wurde, je näher sie an Pinne kamen. Die hohen Pappeln am Wege seien vom Winde tief gebeugt worden, er aber habe sich gedacht, das müßten die Bäume tun, wenn eine Generalin, und noch dazu eine ſo ſchöne fromme Frau begraben werden sollte. ** ) Er habe mich nun darum beneidet, daß ich an der Hand meines Hauslehrers in neuen Kleidern dicht hinter dem Sarge auf den Kirchhof habe gehen können ; der Kirchhof liege dicht an dem großen Pinner See, auf welchem durch den Sturm gewaltige Wellen wogten, die eine Menge von Schaum auf das Ufer geworfen hätten ; mit diesem Schaum habe er sich mit mir und anderen Jungen nach dem Begräbnis geworfen. *) Vergl. Heinrich v . Diest. Berlin 1898. E. S. Mittler & Sohn. **) Vergl. Rudolf Kögel , sein Werden und Wirken. I. , S. 19. Berlin 1899 . E. S. Mittler & Sohn.

Kögel.

flottwell.

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In dem Hinterhauſe unserer Wohnung in Pojen wohnte eine brave Tischlerfamilie, bei der ich sehr heimisch war. Als ich 30 Jahre nachher Posen besuchte und mein Elternhaus wiedersehen wollte, schwankte ich zwischen zwei Häusern, welches das rechte sei ; ich stand davor unter den Bäumen an der Promenade, als ein alter Mann, der mit seinem Zollstock an einem der Häuſer etwas vermeſſen hatte, auf mich zukam, mit der Frage, ob ich in Posen fremd sei, und als ich ihn ziemlich unsanft abwies, weil ich nicht belästigt sein wollte, kam er doch wieder mit der Frage, ob ich etwas an den Häusern suchte ; nochmals abgewiesen, rief er mir entgegen : „ Sie müſſen ein Herr v. Dieſt ſein.“ Es war der alte Tischler, der mich nun in das richtige Haus hineinführte, welches jezt zu einer Filiale der Reichsbank ausgebaut ist.

Er brachte mich in seine Wohnung im Hinterhause

und stellte mir seine Kinder- meine früheren Spielgefährten - und ſeine Enkelkinder vor. Wie sah mich alles so vertraut an, und doch dabei so klein und winzig, namentlich der Birnbaum auf dem Hofe, den ich als Junge so oft erklettert. Dem alten Tischler mußte ich meine Photographie schicken, nachdem ich ihm viel neue Kundschaft bei den mir bekannten Familien in Posen verschafft hatte. Ganz nahe an unserem Hause wohnte der Oberpräsident Flottwell, deſſen kleine Tochter Friederike (ſpäter Frau Konſiſtorialpräſident Hegel) mein ganzes Herz erobert hatte. - Eines Abends wurde ich überall vergebens gesucht und endlich eingeschlafen unter einem Baume gefunden, welcher im Flottwellschen Garten, gegenüber der Schlafſtube meines lieben Mädchens stand, - „nach dem Fenster noch das bleiche stille Antlik sah" ! Meine ganze Kinderzeit schwebt mir wie ein Paradies vor ! Selbst eine für meine Eltern nicht gerade angenehme Begebenheit diente nur zum Vergnügen für uns Kinder. Bei dem Ausbruch der asiatischen Cholera in Pojen entschloß sich mein Vater, alle die Seinigen nach Berlin reiſen zu laſſen. Meine Mutter, begleitet von ihren sechs Kindern, reiſte nun mit unseren eigenen Pferden aus der Choleragefahr heraus, während mein Vater ganz allein in Poſen zurückblieb. Die Reisenden wurden aber plöglich in dem kleinen Städtchen Zielenzig festgehalten und mußten mehrere Wochen in der sogenannten „Quarantäne" liegen bleiben. Meine arme Mutter mag schwer darunter gelitten haben, daß wir in einem kleinen, ja erbärmlichen Hause, entblößt von allem Komfort, wohnen mußten. In Berlin kehrten wir bei den Eltern meiner Mutter ein, deren Gestalten mir nur noch ganz dunkel vorschweben. Nach ein paar Monaten jedoch kehrten wir zu meinem einsamen Vater nach Posen zurück, da auch in Berlin trop aller Absperrungsmaßregeln die Cholera heftig ausgebrochen war. Im Frühjahr 1832 wurden wir aber wieder von Posen nach Berlin zurüdtransportiert, weil unser Vater zum Artillerieinspekteur ernannt 1*

Erster Abschnitt: Kindheit.

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worden war. In einem wunderschönen Hauſe — Münzſtraße Nr. 20*) —, welches das Ansehen eines kleinen Schlosses hatte, fanden wir unser neues Heim. Vorn an der Straße am Eingang lagen links und rechts die herrschaftlichen Stallungen, dann folgten auf jeder Seite eines tiefen Vorhofs große Nebengebäude, und endlich gelangte man auf einer breiten steinernen Flügeltreppe in das Haupthaus hinein.

Die zahlreichen Stuben waren

hoch und sehr geräumig, und aus einem Saale in der Mitte führte wieder eine Flügeltreppe hinunter in den Garten, welcher breit und lang bis an die Hirtengaſſe reichte. Vorn waren Blumen-und Rasenbeete, in der Mitte ein ganzer Wald von stattlichen Bäumen aller Art, und hinter diesem folgte ein großer Gemüse- und Obstgarten. Unter den Bäumen war eine herrliche Schaukel, rechts von dieser eine Reitbahn, links aber mitten in dickem Gebüsch das sogenannte Rehhäuschen, in welchem wir ein zahmes Reh, Kaninchen und Meerschweinchen zum kindlichen Zeitvertreib hatten. Die schönsten Kinderspiele wurden in diesem Garten, vereint mit vielen Spielgefährten, getrieben. Mit unseren Jagdhunden wurden Jagden auf Kazen und Marder, deren es eine Menge in den Schuppen am Ende des Gartens gab, vorgenommen. Viele Feste wurden hier gefeiert, wie z. B. das Suchen von Ostereiern und Ordensfeſte, bei denen der älteste unſerer Spielgefährten, mit Namen Penzig, zum König gewählt und die schönsten Orden, je nach Verdienst bei den Jagden, verteilt wurden. Auch sehr arge Tollheiten wurden von uns Jungens ausgehect ; so gruben wir z . B. tiefe Löcher in die Erde, in welche sich sämtliche Jungens hineinstellen mußten, so daß nur die Köpfe herausguckten ; ein einziger Junge blieb uneingegraben, und mußte die herauslugenden Köpfe mit Speise und Trank versehen. Sehr nett war auch das Verhältnis zu unseren zahlreichen

Dienstboten,

welche

ganz

als

Familienmitglieder

behandelt

wurden. Zu meinem großen Ärger wurde ich von dieſen Dienstboten aber oft arg genect. Eine besondere Mode war es damals , daß an jedem 1. April einer den anderen „in den April schickte" . So wurde ich einmal in die Küche gerufen, weil dort schöne Lachtauben angekommen seien ; als ich in die Küche stürzte, standen dort sämtliche weibliche Dienstboten und lachten mich aus. Ein andermal hieß es, ich solle hinkommen und schön gebrannte Kaffeebohnen von der Erde aufleſen ; als ich aber in dem Heißhunger, den ich immer auf alles irgend Eßbare hatte, die sogenannten Kaffeebohnen aufheben wollte, wurde ich inne, daß unser Ziegenbock kurz vorher in der Küche gewesen war. Sehr häufig kam Sonntags das Musikkorps der Garde-ArtillerieBrigade oder das des benachbarten Alexander-Regiments, dessen Kom*) Dieses Haus war von einem Grafen Néal erbaut ; später wurde es niedergeriſſen, um dem Victoria-Theater Plaz zu machen. Jezt ist auch dies verſchwunden, um die Kaiser Wilhelmstraße hindurchzuführen.

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In der Münzstraße .

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mandeur, Oberst v. Voß , einen kleinen Teil unseres Hauses bewohnte, in unseren Saal und machte nach meinen damaligen Begriffen überirdisch schöne Musik.

Dabei sangen die Kapellen auch vierstimmige

Männerlieder, unter welchen unser Lieblingslied immer wieder von uns gewünscht wurde, welches mit den Worten begann : „Rasch von seiner Lagerstatt hebt der Bursche sich empor 2c. ", und welches dann in jedem Verse damit schloß, daß eine Stimme der anderen in prachtvollem Kanon zurief: „Guten Morgen, gu'n Morjn, gu'n Morjn, gu'n Morjn !" Selbst Krankheiten waren uns Kindern nichts als ein Vergnügen, weil wir dabei aufs ſorgſamſte verpflegt wurden ; einer von uns bekam die Masern, da befahl unser Hausarzt, der allverehrte Geheimrat Dr. Barez, daß wir anderen von dem krank gewordenen Kinde nicht abgesperrt werden sollten, weil die Maſernkrankheit gerade damals einen sehr leichten Charafter hatte. Sehr bald waren denn auch wir Geschwister alle angesteckt und lagen maſernkrank in sieben Betten mehrere Wochen lang nebeneinander.

Welch eine Heiterkeit von früh bis spät !

Zwei Jahre später,

im Jahre 1834, ſtarben zwei meiner geliebten Brüder, Karl, 10 Jahre alt, und Adolf, 4 Jahre alt. Mir aber, dem Kinde, erschien der Tod nicht anders als ein Eingang in das Himmelreich, und ich habe mir, als ich erwachsen, später oft die Worte unseres Heilands zugerufen : „ So ihr nicht werdet wie die Kinder, so könnt ihr nicht ins Himmelreich kommen ! " Nach dem Heimgang eines jeden meiner Brüder nahm mich mein Vater zu einem Spaziergang nach Pankow mit, wobei ich ihn gründlich über die Bedeutung des Todes ausfragte. In derselben Stube, in welcher auch meine beiden Brüder gestorben, waren, wie ich später hörte, wenige Jahre vorher zwei Brüder meiner Frau derselben Krankheit erlegen .

Denn der General v. Thile hatte die-

selbe Wohnung vor uns inne gehabt, und mehrere Mitglieder seiner Familie hatten auch nach unserer Ankunft noch einige Stuben im Nebenhauſe inne. Es waren dies die Schwester der Generalin v. Thile, Fräulein v. Schöning, mit ihrem taubstummen Bruder und ihrer Haushälterin, Mamsell Hünefeld. Der arme Taubstumme hatte sein großes Malertalent ausgebildet ; so entzückte mich namentlich ein Bild von ihm, auf welchem er eine Baumpartie aus dem Berliner Tiergarten und darin ein paar lustige Eichhörnchen gemalt hatte ; auch die Porträts meiner Brüder hat er nach ihrem Tode gemalt, auf welchen sie zu meiner großen Freude von Himmelswolken umgeben sind . Tante Schöning und Mamjell Hünefeld fütterten uns Knaben fast täglich mit Süßigkeiten, weshalb wir sie denn tief in unser Herz geſchloſſen hatten . Eine große Originalität zeichnete die Tante Schöning aus ; davon zeugt eine kleine Anekdote, welche sie selbst gern erzählte : Mamsell Hünefeld sei von einem argen Fieberanfall heimgesucht worden und sie sei mitten in der Nacht zum Arzt gelaufen, der sie

Erster Abschnitt: Kindheit.

6

in seinem Bett empfangen und nach den Krankheitserscheinungen ausgefragt habe. Sie habe denn berichtet, daß Mamſell die wunderlichsten Reden führte, u. a. habe sie auch gesagt : „Amelie, was bist du so wunderschön!" (Die Tante Amelie Schöning war nämlich furchtbar häßlich. ) Der Arzt springt nun sofort im Bette auf, schreit nach seinem dienstbaren Geist: „Hanne, bring' mir meine Hosen, denn Mamsell muß sehr krank sein." Bei dieser Tante Amelie war denn auch das jüngste, erst einjährige Töchterchen des Generals v. Thile in guter Obhut zurückgelaſſen worden. Dies reizende Kind habe ich oft im Garten auf meinem Arm herumgetragen, ohne zu ahnen, daß es später meine Frau werden sollte. Das geliebteste Mitglied unserer Familie war aber all die Jahre mein Hauslehrer Müllensiefen. Abgesehen von den herrlichen Religionsund anderen Stunden, die er uns gab, besaß er in hohem Grade das Talent, lange Geschichten, die mehrere Abende hintereinander ausfüllten, erzählen zu können im Winter in der Stube, im Sommer in einer Gartenlaube.

Nicht nur wir Kinder lauschten andächtig seinen Worten

und hingen an seinen Lippen, sondern oft fanden sich auch die Erwachsenen ein, um ihm zuzuhören. Eine seiner Hauptgeschichten war natürlich Robinſon, die er viel schöner erzählte, als ich sie später gedruct gelesen habe (das Rehhäuschen im Garten stempelten wir daraufhin zur Wohnung Robinsons und seines Genossen Freitag) . Aber auch lange Walter Scottsche oder Bulwersche Romane verstand er für uns Kinder umzumodeln. So war u. a. sein Thema lange Wochen hindurch Bulwers „Eugen Aram “ und „ Die leßten Tage von Pompeji“ . Mit welcher Spannung erwartete ich allabendlich die Fortsetzung der Geschichte vom vorigen Abend! Er war es denn auch, mit dem ich täglich von Herzen gern spazieren ging, am häufigsten vor das Tor nach Pankow und Schönhausen.

Dort trafen wir auch im Park des Schlosses Schönhausen mit

der Prinzeß Marie zusammen ( der späteren Königin von Bayern) , mit welcher ich, da sie gleichalterig war, herrlich spielen konnte.

Auf der

Pankower Chaussee begegneten wir fast täglich einem jungen halbblinden Prinzen, deſſen Gouverneur sich mit Herrn Müllenſiefen angefreundet hatte. Wir wilden Jungens spielten mit dem Prinzen „Zeck“, d . H. ein Spiel, wobei einer den anderen fangen muß, und brachen in helles Lachen aus, wenn der arme Halbblinde statt eines Jungen einen Baum umarmte, den er für einen Jungen gehalten hatte.

Es war der später ganz er-

blindete König von Hannover, welcher noch lange Jahrzehnte nachher meinen ältesten Bruder Otto in Norderney fragte, ob er einer von den „Diestschen Jungens" jei, mit denen er auf der Pankower Chaussee so wundervoll gespielt.

Otto wußte aber nichts davon, da er nie dabei ge-

wesen. Auch dem Vater dieses armen blinden Königs bin ich oft begegnet ; er wohnte als Herzog von Cumberland in seinem Palais an der

Celloſtunden.

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Ecke der Wilhelmſtraße und Unter den Linden und beſtieg von dort aus den Königsthron in Hannover als König Ernst Auguſt, nachdem das deutsche Land Hannover so lange Zeit von London aus regiert worden war.

Wenn mein seliger Vater von den königlichen Jagden zurückkehrte,

teilte er mir wiederholt mit, wie lebensgefährlich es sei, bei einer Treibjagd nahe dem Herzog von Cumberland zu stehen, denn er habe oft in der leichtsinnigsten Weise in das Treiben hineingeschossen und Treiber verwundet, die er für ein Stück Wild angesehen. Auch habe sein Leibjäger, hinter dem Herzog stehend, gleichzeitig mit ihm geschossen und habe ihn dann dafür beglückwünſcht, daß der Herzog das Stück Wild erlegt. Nicht genug danken kann ich es mein Leben lang, daß mir mein seliger Vater schon in der Münzſtraße die erſten Stunden im Spielen des Violoncells geben ließ, so daß ich jetzt seit bald 65 Jahren dieses herrliche Inſtrument spiele.

Mein Lehrer war der beste Cellist in der Königlichen

Kapelle, ein dicker, alter, origineller Kammermusikus Kelz , welcher mit dem größten Eifer und Ernſt ſeine Stunden betrieb. Er war auch als Komponist sehr fleißig, so daß er die Zahl seiner Musikstücke bis auf etwa 450 gebracht hat.

Sehr glücklich war ich, als ich einstmals auf der Berliner

Kunstausstellung sein lebensgroßes Bild in ganzer Figur, das Cello zwischen den Beinen und das Flageolett a angebend, zu Gesicht bekam. Der damalige Hauptmann im Franz-Regiment, Freiherr v . Senfft-Pilsach auf Sandow, hatte dieſes höchſt ähnliche Bild malen laſſen, weil er auch ein Schüler von Kelz war.

Da Kelz einen Taler für die Stunde erhielt,

und ich bis zum Tode meines Vaters zwei Stunden wöchentlich bekam, so hat mein Vater bei all den anderen Ausgaben für Instrumente und Noten mindestens 1500 Taler für meinen Cellounterricht ausgegeben ; denn es wurde auch noch ein Bruder von Kelz, der nur 10 Silbergroſchen für die Stunde nahm , als Aushilfslehrer angenommen. Wenn ich fleißiger gewesen wäre, hätte ich gewiß ein großer Cellospieler werden können.

Der alte Relz spielte übrigens außer dem Cello noch sehr gut

Violine und Klavier und jang uns Kindern oft die drolligſten Lieder vor, unter denen namentlich eins dauernd unter uns geſungen wurde, welches mit den Worten begann : „Mutter, was kochst auf den Abend ? - Nudeln, daß es donnert und kracht !"

Auch im Generalbaß war Kelz ein großer

Meister, so daß er einen achtstimmigen Pſalm komponiert hat, von welchem Grell, der berühmte Direktor der Singakademie, in welcher der Psalm gesungen wurde, sagte, daß Kelz der einzige neben ihm Grell — sei, der achtstimmig komponieren könne. Mein Vater nahm mich oft zur Sonntagsparade nach dem Lustgarten mit, und da war es im Frühjahr 1833, daß ich zum erstenmal den jungen Prinzen Wilhelm (ſpäter Kaiser Wilhelm der Große) von Angesicht zu Angesicht sah; denn der schlanke blonde Prinz trat an meinen Vater heran

8

Erster Abschnitt : Kindheit.

und legte mir während des längeren Gesprächs die Hand auf meinen Kopf. Das Gespräch betraf die Verhältnisse in Rußland, mit denen mein Vater sehr vertraut war, da er ja vom Jahre 1809 bis 1818 Flügeladjutant des Zaren Alexander I. und vom Jahre 1815 bis 1818 Militärattaché bei der ruſſiſchen Geſandtschaft in Berlin gewesen war .

Ich merkte dem Prinzen

an, daß er meinen Vater gern mochte, und ich wußte, daß er auch einen Bruder meines Vaters lieb gehabt hatte, welcher schon 1828 an den Folgen einer in der Schlacht von Dennewit erhaltenen Verwundung gestorben war. Ein großes Vergnügen wurde uns Kindern dadurch bereitet, daß unſer Vater uns manchmal in die Konditorei von Josty an der alten, sogenannten Stechbahn mitnahm , wo er die Zeitungen las, ein jeder von uns aber seinen Lieblingskuchen auf dem Konditortisch aussuchen konnte. Jeder Junge hat wohl in seiner Kindheit einen Wunsch lebendig in ſeinem Herzen getragen, was er wohl im Leben werden möchte, so gestaltete sich denn mein Herzenswunsch dahin, daß ich Konditor werden wollte ! Einige Jahre später aber, als mich mein Vater auf seinen häufigen Reiſen mit Extrapost mitnahm, stand es mir fest, daß ich Postillon werden müſſe. Erst viel später änderte sich meine Neigung in die Sehnsucht, Soldat zu werden. Von meinem geliebten Hauslehrer Müllenſiefen wurde ich damals auch zum erstenmal in einen Zirkus geführt. Diese hölzerne Kunstreiter-bude - denn eine solche war es nur stand vor dem Brandenburger Tore, da, wo jezt das Reichstagsgebäude steht. Die Kunststücke auf den Pferden erregten mich aufs äußerste, und als plöglich einer der Kunstreiter mitten zwischen die Pferde fiel und von ihnen getreten wurde, war ich so außer mir, daß ich Herrn Müllensiefen flehentlich bat, den Zirkus sofort zu verlassen.

Ich bin später zu der festen Erkenntnis gekommen,

daß man Kinder nicht in einem zu frühen Alter in derartige Schauspiele führen darf, denn sie werden dadurch vor der Zeit blasiert, wie man das an vielen Kindern in den Großstädten beobachten kann. Meine erste Fußreise trat ich im Jahre 1834 mit meinem Hauslehrer nach Freienwalde a. Oder an.

Dort wohnte im Königlichen Schloß die

Prinzeß Elise Radziwill, zu welcher in den vergangenen Jahren der junge Prinz Wilhelm eine tiefe Neigung gefaßt hatte. Der Prinz mußte entsagen, weil sie nach ihrem Stammbaum nicht für ganz ebenbürtig gehalten war; er brachte seinem Vater das große Opfer im kindlichen Gehorsam, ihr aber brach das Herz.

Da die Familie Radziwill in Posen mit meinen

Eltern eng befreundet gewesen war, so wurden wir aufs Schloß geladen und vortrefflich bewirtet ; auch ließ uns die Fürstin Radziwill ein paar Stunden in den schönen Anlagen und Wäldern der Umgegend Freienwaldes umherfahren. Die Prinzeß Elise war sehr lieb und gut zu mir,

Prinzeß Radziwill.

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dem achtjährigen Knaben, und zwar so, daß, als sie mir freundlich die Wangen strich, ein brauner Affe plöglich eifersüchtig auf mich lossprang und mir seine Zähne entgegensletschte. Ihr Leichenzug steht mir noch deutlich in Erinnerung, der Jahr und Tag später abends bei Fackelschein durch die Behrenstraße ging und die Leiche der jungfräulichen Prinzeß zu Grabe geleitete. Wenig bekannt wird es sein, was mir von zuverläſſiger Seite mitgeteilt wurde, daß König Friedrich Wilhelm III . das stattliche Voßsche Palais am Wilhelmsplay, an dessen Stelle jezt die Voßstraße auf den Wilhelmsplay stößt, für das junge Prinz Wilhelmsche Paar hat ankaufen wollen, und daß der junge Prinz Wilhelm seinen Vater flehentlich gebeten habe, er solle ihm doch gerade dieses Haus nicht kaufen, weil er von ihm aus stets den Radziwillschen Garten (jezt Garten des Reichskanzlerpalais) , in welchem er die glücklichsten Stunden seines ganzen Lebens genossen habe, vor Augen sehen würde ; jedes andere Haus in Berlin würde auf Befehl seines Vaters von ihm gern bezogen werden. Darauf unterblieb der Ankauf des Voßschen Palais, und das neue Palais am Opernplatz wurde gebaut. Unweit von Freienwalde liegt ein Alaunwerk, bei welchem wir eine sehr hohe und schmale Holzbrücke — die sogenannte „Teufelsbrücke“ — paſſieren mußten. Ich ging voran und gleich hinter mir Herr Müllenfiefen. Da packte mich plötzlich ein furchtbarer Schwindel und ich sette mich auf die Brücke, weil ich ganz fest glaubte, ich müsse in den Abgrund herunterfallen; nur mit Mühe brachte man mich bis ans Ende der Brücke. Müllensiefen war bei diesem Vorfall in argen Schrecken geraten und ſelbſt schavindlig geworden ; er erzählte mir die Geschichte eines Dachdeckermeisters, welcher auf einer hohen Kirchturmspiße mit dem Decken des Dachs neben seinem Lehrling beschäftigt war und von letterem plöglich angeſchrien wurde : „Meister, ich werde schwindlig " ; der Meister habe darauf den armen Jungen heruntergeschleudert und nachher behauptet, das sei ein Akt der Notwehr gewesen, denn der Schwindel stecke an, und darum ſei er unrettbar ein Kind des Todes geweſen, wenn er den Jungen nicht sofort aus seiner Nähe entfernt hätte. Bei meinen späteren vielen Bergbesteigungen bin ich wiederholt an schlimmen Stellen vom Schwindel befallen worden, noch vielmehr aber bei der Besteigung von Kirchtürmen. Goethe sagt zwar irgendwo, daß der Schwindel durch festen Willen überwunden werden könne, ich glaube dies aber nicht, denn der Schwindel kommt von dem Andrang des Blutes nach dem Herzen und nach den Augen, und den kann man auch durch den festesten Willen nicht verhindern. Bei dieser Fußreiſe kamen wir auch nach dem reizenden Cöthen, wo der alte Major v. Jena (mit meinem Vater ſeit langem befreundet) neben ſeiner ehrwürdigen Gemahlin, geb. v. Puttlig, auf seinem Herrenſize

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wohnte.

Erster Abschnitt: Kindheit.

Ein solch herrliches Paradies, wie es mir in den Gartenanlagen

von Cöthen vor die Augen trat, war mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen, und so hat denn dieser Ort, an welchen ich im Laufe meines Lebens gar oft gekommen, immer die gleiche Zauberkraft, wie damals in meiner Kindheit, auf mich ausgeübt. Freilich wurde dieser Zauber noch durch andere Kräfte hervorgerufen als nur durch die Parkanlagen. Müllensiefen wollte auch gern bei uns reiten lernen und setzte sich ohne weiteres auf eines der Reitpferde meines Vaters in unserer Reitbahn hinter dem Garten.

Das Pferd ging zuerst ganz ruhig, dann aber, weil

der Reiter es zum Traben bringen wollte, fiel es bald in Galopp und sogar Karriere ; es raste um die Reitbahn herum, und zu meinem Schrecken fiel mein geliebter Müllenſiefen an einer Ecke, in welcher ein Steinhaufen lag, herunter . Auf ein Haar wäre er mit der Schläfe gegen die scharfe Kante eines Steins gefallen.

Wie bewunderte ich aber seinen

Mut, als er sofort das Pferd wieder besteigen wollte, was aber mein Vater nicht zugab. Unſer unschuldiger Müllenſiefen wurde plößlich eines Abends ins Gefängnis abgeführt, aber freilich, da mein Vater für ihn die Bürgschaft übernahm, nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Sein Verbrechen bestand darin, daß er sich als blutjunger Student von 19 Jahren an eine Burschenschaft zu Halle angeschlossen hatte, und die Demagogenriecherei, welche in den 30er Jahren vom Justizminiſterium ausging, hatte einen solchen Höhepunkt erreicht, daß die frömmsten und aufrichtigsten Patrioten berfolgt wurden. Als Erinnerung an die Zeit seiner Verhaftung hat er sich den Deckel eines Aktenstückes aufbewahrt, der ihm geschenkt worden war, als die Akten selbst nach 50 Jahren vernichtet wurden.

Auf diesem Akten-

deckel stand : „Untersuchung gegen den Kandidaten Müllenſiefen.“ Auch eines anderen kurzen Vorfalls muß ich hier noch Erwähnung tun, welcher mir damals arg an die Seele ging.

Nicht weit von unserer

Wohnung führte die sogenannte Rochbrücke von der Münzstraße nach der Neuen Friedrichstraße, und es wurde von jedem Passanten dieser Privatbrücke ein Zoll erhoben, welcher billiger zu stehen kam, wenn man gleich 100 Brückenmarken für 1 Taler auf einmal in dem Brückenhäuschen kaufte. Da gab mir mein Hauslehrer einen ganz zerlumpten Papiertaler, um Brückenmarken dafür zu holen. Als ich aber vor das Brückenhäuschen trat, hatte mir der Wind die Hälfte dieses Kassenscheines aus der Hand geweht. Bei meiner Rückkehr in unser Haus und nach meiner Meldung, daß der Brückenwärter mir für den halben Schein keine Marken habe geben wollen, erhielt ich von Herrn Müllensiefen eine Ohrfeige, die einzige, die ich je von ihm bekommen. Ich war empört darüber, und auch heute noch halte ich diese strenge, an die Ehre rührende Strafe für eine ungerechte.

Übrigens wurde der halbe Tresorschein gegen einen neuen

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Pinne.

eingewechselt, weil die Nummer des zerlumpten alten Scheins noch erkenn bar war. Zu unserem Hausſtande in der Münzstraße gehörten auch zwei alte Damen, Fräulein Charlotte v. Sommerfeld (Tante Lottchen) und Fräulein Auguſte Schmalz. Beide sollten unſere ſelige Mutter in der Haushaltung und in der überwachung von uns sieben Kindern ersetzen. Das gelang ihnen nun gegenüber uns wilden Buben recht schlecht.

Aus einem

Tagebuche, welches sie im Mai und Juni in der Abwesenheit meines Vaters über das Betragen der Kinder führen mußten, geht hervor, welche Kleinigkeiten sie uns zum Verbrechen anrechneten.

So z . B. gereichte für

Otto zum Tadel, daß er an einem Abende das Fenster öffnete, um Maifäfer fliegen zu laſſen; für mich, daß ich ohne Nachthemd im Bett betroffen wurde ; für Wilhelm, daß er seinen Ball verloren glaubte, obwohl er ihn in der Hand hatte 2c.

Diese Damen verließen unser Haus, als meine liebe

Schwester Marie 16 Jahre alt geworden war und nun mit inniger Liebe und dabei mit großer Energie Mutterſtelle an uns vertrat und den Haushalt in die Hand nahm. Zu den schönsten Erlebnissen unserer Kindheit gehörten die häufigen Reisen, teils mit eigenen Pferden, teils mit Extrapost, nach dem geliebten Pinne. Die Namen der Poſtſtationen, welche zwiſchen Berlin und Pinne lagen, waren von uns in einen Vers gesezt, der mit eigener Melodie gefungen wurde ; den Schluß dieses Verſes bildete der Name einer Station Waldows-Trenk, wo jedesmal die uns höchlichst interessierende Glasfabrik besichtigt wurde. Da muß ich nun zuerſt erzählen, auf welche eigentümliche Weise die innige Freundschaft zwiſchen meinen Eltern und der Rappard-Maſſenbachschen Familie entstanden ist. Der König Friedrich Wilhelm III . lag in den 20er Jahren an einem Beinbruch krank danieder und konnte vor Schmerzen nicht schlafen ; da dachte er in einer schlaflosen Nacht darüber nach, wen er in seiner langen Regierung vielleicht zu ſtreng behandelt hätte, dem er darum eine Gnade erweiſen müſſe.

Da fiel ihm der Oberst v . Maſſenbach ein, der eine

Festungshaft in Glatz wegen schlechter Führung der Armee in dem unglüdlichen Kriege von 1806 verbüßen mußte. Sofort in jener Nacht gab der König den Befehl, den Oberst aus der Haft zu entlassen, welcher nun die letzten Jahre seines Lebens im Kreise seiner Familie in Bialokosch bei Pinne zubringen durfte. Nach seinem Tode wurde der damalige Oberst v. Diest zu Posen von dem Könige beauftragt, die sämtlichen Schriften, Karten und Bücher, welche der verstorbene v . Massenbach aus seiner früheren militärischen Stellung als „ Generalquartiermeisterleutnant der Armee" bei sich gehabt, in Beschlag zu nehmen und nach Berlin einzusenden.

Zum Schrecken der Familie v . Maſſenbach erschien der Oberst

Erster Abschnitt: Kindheit.

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v. Dieſt plöglich in Bialokoſch und hatte einen großen Trainwagen dorthin bestellt, in welchen alle jene Dienstpapiere verpackt werden sollten. Die Durchsicht der Maſſenbachſchen Hinterlaſſenſchaft dauerte längere Zeit und wurde von meinem Vater so freundlich und zart vorgenommen, daß die Hinterbliebenen Massenbachs ebenso wie das damals noch junge Ehepaar Rappard in Pinne nicht genug davon zu rühmen wußten . übrigens hatten sich meine Mutter und Tante Rappard schon in ihren Kinderjahren liebgewonnen. In Pinne stand in Wahrheit „eine Hütte Gottes bei den Menschen"; das Rappardsche Haus bildete den Mittelpunkt für alle positiv christlichen Bestrebungen in der Provinz Poſen und weit darüber hinaus.

Die Gaſt-

freundschaft, die in Pinne geübt wurde, war ohnegleichen, und ſo ſammelten sich jahraus, jahrein die bedeutendsten und intereſſanteſten Männer um das Lager des Herrn v. Rappard und um die tatkräftige, die ganze große Wirtschaft leitende, fromme Chriſtin

Tante Rappard“.

Das

Leiden des gichtbrüchigen edlen Mannes bestand in einer Lähmung des ganzen Körpers, die mit den Jahren immer mehr zunahm, und die er sich dadurch zugezogen, daß er während einer Masernkrankheit plöglich einem Zugwinde ausgesezt worden war.

Er hatte damals schon die juristischen

Examina bestanden und war ein ausgezeichneter Jurist. Im corpus juris mußte er so Bescheid, wie man es nur bei juristischen Professoren gewöhnt ist. Wich, den Studenten, hat er wiederholt aufgefordert, schwere Stellen aus dem corpus juris zu überſeßen, weil er mich dabei eraminieren wollte. Rührend war die Pflege, die Tante Rappard dem gelähmten Manne zu teil werden ließ. In meinen Kinderjahren habe ich ihn noch auf zwei Krücken gehen sehen, später aber konnte er nur noch im Rollstuhl gefahren werden. Das Ehepaar hatte keine Kinder, und so bewies es seine tiefbegründete Liebe an fremden Kindern. Wenn man, wie ich, das Glück hatte, lange und oft im Pinner Hause zu weilen, so wurde man inne, welch einen unaussprechlich tiefen Eindruck der Verkehr mit dem Rappardschen Ehepaar auf die Seelen der Menschen übte. So habe ich auch immer den Eindruck gehabt, daß auch meine Eltern erst durch die innige Freundschaft und durch den Verkehr im Pinner Hauſe zum positiven Glauben gelangt sind. Die Macht des Gebets , namentlich der Rappardschen Eheleute wie auch der Massenbachſchen Familie in Bialokosch, regierte das ganze dortige Leben, welches darum mir wie jedem anderen Gaste wie ein Paradies vorkam. An dem Emporblühen der evangelischen Kirche und Schule mitten unter der teils katholischen, teils jüdischen Bevölkerung wurde emsig gearbeitet.

Schon in den 20er Jahren

war in dem großen, fast ganz unausgebauten Schloß zu Pinne, neben welchem Rappards ein kleines niedliches, langgestrecktes Häuschen bewohnten, ein Saal für den Gottesdienst hergerichtet worden, und nach ein

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Familie Rappard -Maſſenbach.

paar Jahrzehnten wurde die schöne evangelische Kirche erbaut.

In der

auch von Rappards gegründeten evangelischen Schule, in der auch ich am Unterricht teilnahm , wirkte ein ausgezeichnet tüchtiger Lehrer, namens Reiche, durch und durch ein origineller Schultyrann, der vor niemand Respekt hatte als nur vor Tante Nappard . Später, als die Zahl der evangelischen Schulkinder immer zunahm , wurde der Lehrer Kobelt als zweiter Schullehrer berufen, welcher dem Onkel Rappard als Vorlejer diente und einen großen Teil der umfangreichen Korrespondenz diktiert bekam. Welch eine Freude hatte Tante Rappard, als sich der fromme Lehrer Kobelt verlobte und verheiratete. Auch die Kinder dieses ausgezeichneten, leider früh verstorbenen Mannes sind von Tante Rappard mit mütterlicher Liebe erzogen worden ; der bekannte Pastor Kobelt, der die großen Neinstädter Anstalten lange Jahre jegensreich geleitet hat, verehrt in Tante Rappard seine Laufpatin und nennt sie in unauslöschlicher Dankbarkeit seine größte Wohltäterin und „ geistliche Nährmutter". Gegenüber allen ihren Dienstboten stand Tante Rappard nicht wie eine Herrin, sondern wie eine Herzensberaterin. So hatte sie auch ein Dienstmädchen mit Namen Fronsca (polnisch Franziska) , ein kluges, ganz verwachſenes Geschöpf, welche uns Kindern aber die schönsten Geschichten erzählte, ſo daß sie von uns sehr geliebt wurde. Fronscchen stand im Hauſe am frühesten auf und ging am ſpäteſten zu Bett ; einen Beweis von Mut legte das kleine Wesen einstmals an den Tag und stieg darum sehr in aller Achtung.

Denn, als sie in dunkler Nacht die Bodentreppe

hinaufging, da glaubte sie an einen Menschen anzustreifen ; ohne irgend etwas zu sagen, ging ſie in ihre Stube, steckte ein Licht an und ging wieder hinunter ; da ſie auf der Bodentreppe niemanden fand, ging ſie in die Wohnstube, neben welcher das Rappardsche Ehepaar, nichtsahnend, schlief; sie leuchtete überall hin und zuletzt unter das Sofa, von wo zwei nackte Männerfüße sie in Angst und Schrecken sezten ; sie schwieg aber auch jezt noch und ging zur Türe hinaus, um Männerhilfe zu holen. der Kerl ihr aber nach und zur Haustüre hinaus .

Da sprang

Alles Suchen nach ihm

ist vergeblich geblieben. Wie wunderbar hat Gottes Güte in jener Nacht das Rappardsche Ehepaar vor dem überfall eines Räubers und vielleicht eines Mörders behütet ! Eine Hauptperson in Pinne war der Bediente Band. Er stand Anfang der 30er Jahre als Garde- Artillerist in Berlin. Als nun Rappards und die verehrungswürdige Mutter von Tante Rappard, die damals noch nicht ganz ihr Augenlicht verloren hatte, bei uns in der Münzstraße Nr. 20 zu Besuch waren, zeichnete sich Band durch eine „Burschen“ auffallende Zartheit aus.

bei einem solchen

So näherte er sich z . B. täglich der

alten Frau v. Massenbach mit der Frage : „Wünschen Frau Oberst vielleicht

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Erster Abschnitt: Kindheit.

noch ein Gläschen Wasser ? " Nach Beendigung seiner Dienstzeit wurde Band in Pinne angestellt, verheiratete sich dort und wurde das Faktotum des ganzen Hauses, namentlich bei der Pflege seines armen, gelähmten Herrn. Bei der alten, später ganz erblindeten Frau Oberst v. Maſſenbach in Bialokosch, deren Liebe ich besonders genoß, und die mich, den kleinen Knaben, in der Münzstraße in damals noch selbst geschriebenen Briefen mit Einkäufen in Berlin beauftragte, lebte noch eine besonders liebenswürdige Tochter, Fräulein Albertine v. Maſſenbach. Sie, im Verein mit Tante Rappard, hat mich einmal aus der Gefahr des Ertrinkens im Bialokoscher See errettet, als ich aus einem Kahn am Ufer, mich schaukelnd, hineingefallen war.

Tante Albertine ist leider früh gestorben.

Auch mein Hauslehrer Müllensiefen war wiederholt mit uns in Pinne; er hat bisher nicht veröffentlichte „ Erinnerungen aus seinem Leben" hinterlassen, welche er erst am Ende seines Lebens in Wernigerode begann und leider nur bis zum Jahre 1848 fortgeführt hat. Am Tage vor seinem Heimgang hat er noch daran gearbeitet. Es wird gewiß für jeden interessant sein, das zu lesen, was dieser bedeutende Mann über sein Leben in unserem Hause niedergeschrieben hat. mir dafür dankbar sein.

Seine vielen Verehrer werden

Der Hauptinhalt dieſer Erinnerungen Müllen-

fiefens gehört aber zu dem, was ich mit erlebt, und darum in dieſe meine Lebensgeschichte ; so ist u. a. die Charakteristik der damaligen Berliner Geistlichen mir aus der Seele geschrieben. fannt und ihre Predigten oft gehört.

Habe ich sie doch alle gut ge-

Müllenfiefens Erinnerungen. Es war gewissermaßen eine Notwendigkeit, daß ich mich zur Annahme einer Hauslehrerſtelle bequemte. Ich war beim Abſolvieren meines Trienniums erst 20 Jahre alt und konnte natürlich noch lange nicht auf ein Amt lossteuern. Mir ward eine vafante Stelle bei dem Generalmajor v . Diest in Posen, der bei dem Hofprediger Strauß um einen Hauslehrer für ſeine Kinder angefragt hatte. Ich ward nun vorgeschlagen und angenommen ; die Stelle sollte mit dem 1. Oktober 1831 beginnen. Aber ich sollte schon eher meine Sporen verdienen.

In Posen war die

Cholera ausgebrochen und wütete so stark, daß der General beschloß, seine Frau und Kinder, um sie der Scuche zu entziehen, schon zum 1. Auguſt nach Berlin zu senden. Zunächst waren es drei Kinder, die auf meinen Unterricht warteten : Marie, etwa 13 Jahre alt, Otto, etwa 10, Carl, etwa 7 Jahr (der fünfjährige Gustav kam bald dazu ) . Mir wurde es sehr leicht, mit ihnen fertig zu werden. Meine eigene Jugend half mir am meisten ; denn ihre Gedankenwelt lag mir noch nahe, und ich merkte bald,

Müllensiefen.

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was ihnen Freude machte; daß ich selbst noch so jung war, gewann mir ihr Vertrauen. Nachdem sie mich gründlich beschaut und dann über alle nur möglichen und unmöglichen Dinge ausgefragt hatten, waren wir bald gute Kameraden geworden, und daß ich mich ihnen vielfach gleichſtellte und an ihren Spielen teilnahm, hat meinem Ansehen niemals Eintrag getan, ſo daß ich niemals Ursache hatte, über ihren Mangel an Gehorsam Klage zu führen. Bald aber änderte sich die Sachlage. Am 1. August hatte ich meinen Unterricht in Berlin angefangen, am 30. Auguſt 1831 brach die Cholera auch hier aus ; die ersten Kranken zeigten sich auf einem Kahn am Schiffbauerdamm . Die Seuche breitete sich in großer Schnelligkeit weiter und weiter aus; in allen Teilen der Stadt wurden Cholera-Erkrankungen gemeldet, die sehr oft mit dem Tode endeten. Ein panischer Schrecken erfüllte die Bewohner der Stadt. Die Obstmärkte waren verödet ; niemand wollte sich der Gefahr aussehen, durch Obstgenuß die Krankheit zu fördern. Tausende verließen Berlin in eiliger Flucht, um der drohenden Krankheit zu entrinnen, vielen von ihnen ward die Furcht verhängnisvoll, und sie wurden auf der Flucht hingerafft. Die öffentlichen Maßregeln, die gegen die Seuche oder als Vorbeugung ergriffen wurden, waren aber auch ganz danach angetan, Furcht zu erwecken. Jeder Leichenzug, der einen an der Cholera Verstorbenen beförderte, erinnerte schon durch die in Wachsleinwand gekleideten Träger an die Gefahr der Ansteckung ; alle von mit Cholera behafteten Orten kommenden Briefe waren mehrfach durchViele Bande der Liebe wurden aus Todesfurcht gelockert und

stochen 2c.

zerrissen. Mancher verließ den ihm anvertrauten gefahrvollen Posten ; selbst der Zusammenhang in manchen Familien begann sich aufzulösen ; aber auch Beispiele der hingebenden Treue, der todesmutigen Opferung des eigenen Lebens traten zu Tage. Aber auch Gottes Hand offenbarte sich in Gericht und Segen. Man erzählte sich viele Beiſpiele von Flüchtlingen, die, ohne mit Kranken in Berührung gekommen zu ſein, lediglich der Furcht zum Opfer fielen, während diejenigen, die auf den gefährdetſten Poſten Tag und Nacht treu aushielten, am Leben erhalten wurden. Der Vorsichtsmaßregeln gab es endlose, und sie waren dem täglichen Vertehr ein großes Hindernis und setzten den geselligen Zusammenkünften wesentliche Schranken. Kurz, das Leben war nach allen Seiten hin gehemmt. Die Menschen schienen verwandelt zu sein ; keiner traute dem . andern, und jeder hatte Sorge, mit Menschen zusammen zu kommen, in deren Häusern sich Kranke befanden. Und doch gab es auch weite Schichten, die von dieser Furcht ganz unberührt blieben und die ruhig in gewohnter Weise ihr Leben fortsetten. Zu diesen gehörten wir auch. Ich selbst war fröhlichen Mutes, die Furcht war mir völlig fremd. Meine Kinder teilten meinen arglosen Sinn und

Erster Abschnitt : Kindheit.

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die verständige tapfere Mutter kämpfte mutig alle Sorgen nieder und wollte nicht, daß in unserer gewohnten Lebensordnung irgend eine Änderung eintreten sollte. Nur in Bezug auf die Kleidung verfuhren wir mit besonderer Vorsorge ; die Cholerabinde durfte keinem fehlen.

Mäßig-

teit in jedem Genuß war ohnehin an der Tagesordnung, aber keine Speiſe ward uns gewehrt, ſelbſt der Genuß friſchen Obstes blieb während der ganzen Zeit gestattet. So lebten wir glücklich und harmlos in einer Zeit, die unter dem Vanne des Schreckens stand. Da aber die Krankheit in Berlin in stetem Wachstum begriffen war, während sie in Posen längst ihren Höhepunkt erreicht hatte, ward der weise Beschluß gefaßt, von Berlin nach Posen überzusiedeln. Es war im Anfang des Oktober, als wir in zwei Ertraposten in Poſen eintrafen.

Der General war uns von der Stadt aus etwa 10 Minuten

weit entgegengekommen, und diese kurze Strecke legten wir zu Fuß zurück. Ich ging an der Seite des schönen, edlen Mannes, vor dem ich mich doch nicht wenig gebangt hatte.

Er merkte mir meine große Befangenheit an,

die aber bald seinem freundlichen Zuspruch weichen mußte.

In dieser

ersten Stunde unseres Zuſammenſeins, die er mir vornehmlich widmete, knüpfte sich das Band einer Gemeinschaft, die auf dem Grunde einer Liebe sich aufbaute, welche von meiner Seite mit einer gewissen ehrfurchtsvollen Bewunderung verbunden war. Der Unterricht nahm nun eine ernſtere Gestalt an.

In Berlin sollten nach den Bestimmungen der Eltern die

Knaben nicht geistig angespannt, ſondern eben nur notdürftig auf dem laufenden erhalten werden, und es war der Mutter ganz recht gewesen, wenn ich manche Stunde dem Unterricht entzog , um sie mit der Erzählung von Geschichten auszufüllen .

An denen war ich reich, denn ich hatte viel

gelesen und lernte bald, einen ganzen Roman in faßlicher Weiſe dem Verständnis der Kinder zu vermitteln. Die bedeutendsten Männer, die ich hier kennen lernte, waren der kommandierende General v . Grolman, einer der ersten damaligen Militärs, und der Militäroberprediger Spelter, der mir sehr wohl wollte und mich auch zu überreden versuchte, mich auch der Militärpredigerlaufbahn zu widmen, wozu ich aber gar keine Neigung hatte.

In Poſen machte ich mein

erstes theologisches Examen, in welchem ich nur aus dem Grunde eine vorzügliche Zensur - Nr. 1 — erhielt, weil mein Nebenmann, ein gewiſſer Zachariä, der früher schon ein- oder zweimal durchgefallen war, sich durch ſo auffallende Unwiſſenheit hervortat, daß auch die leichtesten Fragen ihm zu schwer dünkten. Ich mußte dann immer die Antwort sagen, die er nicht gefunden hatte.

Auch das Hebräische brachte mir einen unerwarteten

Vorzug. Ich war im ganzen gut darin beschlagen, und als ich den Pſalm, den wir durchnahmen, mit Leichtigkeit behandeln konnte, sagte der Eraminator, Konsistorialrat Middeldorff aus Breslau : „Für Sie will ich

Cod meiner Mutter.

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etwas Schwereres suchen ! ", und legte mir einen Abschnitt aus Hiob vor, mit dem ich freilich nur schwer fertig wurde.

In kirchlicher Hinsicht sah

es traurig aus . Den meisten Zugang von allen gesitteten Leuten fand der Pastor Wermelskirch, welcher den separierten Lutheranern angehörte, mit welcher Richtung ich hier zuerst in nähere Verbindung trat. Er war ein gern gesehener Gast im Dieſtſchen Hauſe und warb hier wenn auch ohne äußerlichen Erfolg - für seine Sache. Ich konnte merk würdigerweise niemals ein rechtes Herz für den Mann gewinnen, weil schon damals jede ſeparatiſtiſche Richtung mir fremd blieb. Ein wichtiges Ereignis war der Tod der Generalin, die im Wochenbette ihr Leben einbüßte.

Sie war eine schöne, hohe Geſtalt, eine ganz

aristokratische Erscheinung.

Zu mir war sie wie eine Mutter, die für

meine Bedürfnisse sorgte, mir z . B. gleich bei der ersten Weihnachtsbescheerung den großen Mangel an Hemden erseßte und mich mit aller Wäsche verſah, deren ich bedurfte. Grund meines Herzens .

Ich verehrte die treffliche Frau von

Als nach der Geburt ihres Kindes, eines Mäd-

chens, ihr Zustand ein bedrohlicher wurde, offenbarte sich der Schmerz des Generals in erschütternder Weise. Er schluchzte laut und kniete an ihrem Bette nieder, indem er in brünstigem Gebet Gott um die Erhaltung des bedrohten Lebens anrief.

Pastor Wermelskirch wurde gerufen, betete an

ihrem Lager und teilte ihr das heilige Abendmahl aus . Der Todeskampf währte nicht lange ; als er beendet war, knieten wir alle um das Bett der Entschlafenen und lauschten dem innigen Gebet von Wermelskirch. selber war aufs tiefste bewegt und zerfloß in Tränen.

Ich

Ich hatte nie eine

eigene Mutter gekannt ; sie starb, als ich zwei Jahre alt war ; jezt hatte ich wieder eine Heimat mit einer zweiten Mutter gefunden, und ich kam mir unendlich verlassen vor. Die Tiefe und die Aufrichtigkeit meines Schmerzes war dem General sehr wohltuend ; er schloß mich in seine Arme, füßte mich und bat mich zu wiederholten Malen, ich sollte ihn nicht verLassen und ihm helfen, seinen Kindern die verlorene Mutter zu ersetzen . Ich fühlte, daß ich durch dieses Erlebnis mit festen heiligen Banden an dies Haus gebunden war, und war bemüht, meine Aufgaben an den verlaſſenen Kindern deſto gewissenhafter zu erfüllen. Ich beschrieb dem Hofprediger Strauß alle die Einzelvorgänge, welche das Sterben der edlen Frau begleiteten, mein Brief war bei Hofe vorgelesen, wo die Entschlafene fich großer Liebe zu erfreuen gehabt hatte, er hatte die erste Nachricht gebracht und allgemeine Teilnahme gefunden. Es war am 11. Januar 1832, als die Generalin starb ; wir alle begleiteten ihre Leiche, die in Pinne ihre Ruhestätte fand .

Hier sollten wir

den demnächstigen Schauplaß unseres Lebens finden ; hier sollte ich auch zum erstenmal die Höhen und Tiefen des Lebens kennen lernen. 2 v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

Erster Abschnitt: Kindheit.

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Die Bewohner von Bialokosch besuchten den sonntäglichen Gottesdienst, der in der Schloßkapelle zu Pinne stattfand, während die allabendlich vor dem Schlafengehen stattfindende Familienandacht von mir geleitet wurde. Diese Andacht fand in dem Rappardschen Hauſe ſtatt. Dies war ein einfaches, langgestrecktes, einstöckiges Gebäude, während das schöne neue Schloß unvollendet geblieben war ; nur die Kapelle war ausgebaut und einige große schöne Wohnzimmer, die für Gäste reserviert wurden, und die ich jezt mit den Kindern bewohnte. An den großen und schönen Obst- und Gemüsegarten, der zum Schloß gehörte, grenzte ein ziemlich breiter See ; und ein am Ufer befindlicher Kahn, den ich gut zu lenken wußte, diente mir häufig zu den Wasserfahrten, an denen ich mich in den Stunden der Muße erfreute. Die Knaben durften an diesem Vergnügen nicht teilnehmen.

Während ich nun mit den Knaben, wie

schon erwähnt, die unbejezten Räume des Pinner Schlosses inne hatte, wohnte meine Schülerin Marie, damals etwa 13 Jahre alt, mit ihrer gleichalterigen Freundin Ida v. Cräwel, die als Mariens Gesellschafterin Aufnahme im Diestschen Hause gefunden hatte, in Bialokosch.

Da nun

meine Schülerklasse sich an zwei getrennten Orten befand, hatten wir die Bestimmung getroffen, daß alle Donnerstag der Unterricht- und zwar nur der Mädchen — in Bialokoſch ſtattfand . Die Knaben waren dann durch häusliche Arbeiten beschäftigt und pflegten nach Tische, wo überhaupt kein Unterricht mehr stattfand, zum Kaffee und zum Anhören meiner Geschichten herüber zu kommen. Dies waren nun für mich ganz köstliche Tage.

Ich unterrichtete in den Morgenstunden in meinen Lieb-

lingsfächern : Literatur, Geschichte und Deutsch, teils Aufsäte, besprochen und durchgenommen, teils Stücke aus klaſſiſchen deutschen Schriftstellern vorgelesen.

Ich hatte den Grundsaß, beim Unterricht mich keines schrift-

lichen oder gedruckten Hilfsmittels zu bedienen ; ich sprach alles frei, und das gab mir große Gewandtheit und verlieh auch dem Unterricht eine viel größere Frische und Unmittelbarkeit. Natürlich mußte ich den Stoff mir vorher ganz sicher eingeprägt haben, weil ich nur unter dieser Voraussetzung im stande war, meinen Gegenstand völlig zu beherrschen. Der Höhepunkt des Tages, auf den wir uns alle freuten, war von 5 Uhr an, wo ich ein bis anderthalb Stunden lang im Freien eine Geschichte erzählte. Es pflegten auch wohl ältere Familienglieder solcher Erzählungsstunde beizuwohnen, wie z . B. einmal der General v. Quadt die Erzählung eines großen Bulwerschen Romans von Anfang bis zu Ende anhörte.

Die Bevölkerung von Pinne und der nächsten Umgebung trug einen von den gewöhnlichen Landbewohnern abweichenden Charakter. Sie be stand aus vor etwa einem Jahrhundert eingewanderten Koloniſten, sogenannten „Hauländern “ ; es war ein fleißiger, stiller Menschenschlag von

Müllenstefens erster Gottesdienst.

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ernſtem Sinn und kirchlichen Sitten. Die sonntäglichen Gottesdienste sowie die kirchlichen Katechisationen waren sehr gut besucht, wozu allerdings auch der sehr tüchtige Prediger Fritsche das Seinige beitrug .

Er

war ein wirklich frommer Mann, von dem man den Eindruck gewann, daß er stets in der Gegenwart Gottes zu wandeln gewöhnt sei ; seine Predigt war schlicht und einfach, kräftige, geſunde Schriftauslegung ; sie war warm und anfassend ; ſie kam aus dem Herzen und ging zu Herzen. Er gehörte zu den separierten Lutheranern und hat einige Jahre später, als dieſe, ich weiß nicht, durch welche kirchliche Maßregel, sich in ihrem Gewissen bedrängt fühlten, sich den Auswanderern nach Australien angeschlossen, wo er ein geachteter Prediger geworden ist. Ich hatte ihn überaus lieb , wie meinen geistlichen Bruder, da auch er noch in jungen Jahren stand ; ich war in Bezug auf die lutherische Abendmahlslchre anders gerichtet als er, aber ich habe als Andersdenkender nie auch nur die geringste Anfechtung von ihm erfahren ; er wußte von mir, daß ich erst kürzlich zum Glauben gekommen war und daß ich es mit meinem Seelenheil ernst nahm, damals mehr, als in den erſten Amtsjahren, wo das Feuer, das in Pinne meine Seele durchglüht hatte, sehr erkaltet war. Wir beide ſtanden auf dem besten Fuße, und er fühlte mir es ab, wie ich mit verehrungsvoller Liebe ihm anhing. Eines Sonntags kam er gegen 12 Uhr mittags, nicht lange nach beendetem Morgengottesdienst, zu mir ins Zimmer, wo ich allein über einem Buche saß, und meldete mir, er jei durch eine wichtige Amtshandlung genötigt, sogleich einige Meilen über Land zu fahren, und verlaſſe sich darauf, daß ich für ihn den um 3 oder 4 Uhr stattfindenden Katechismus-Gottesdienst in der Schloßkapelle übernehmen würde. Ich erschrak zum Tode und erklärte ihm, daß ich mich ohne längere Vorbereitung dieser Aufgabe durchaus nicht gewachſen fühlte. Er drängte, ich aber blich fest, und als er sah, daß all ſein Bitten vergeblich und nur das Gefühl meines Unvermögens überwältigend war, sah er mich mit einem liebevollen Blick an, der sich bedeutsam nach oben wendete und sagte: „Nun, ich sehe, lieber M., Sie allein können's nicht, aber der Herr kann es durch Sie, und nun wollen wir mal niederknien und Ihn um seine Hilfe anrufen !“ Und nun hielt er ein so herzliches, kindliches und brünſtiges Gebet, daß ich schon vor dem Schlusse desselben innerlich überzeugt war, es würde gehen ; ich sagte aber nichts, sondern gab ihm schweigend die Hand, und so trennten wir uns. Ich hörte hernachmals, daß es sehr gut gegangen sei, was mich wunder nahm ; aber es war mir doch lieb, daß ich vor der zahlreich versammelten Gemeinde und vor der ganzen anwesenden Familie nicht zu Schanden ward ! Seit jener Zeit hat der Glaube an eine unmittelbare Erhörung des Gebets mich nicht mehr verlassen, und so mancher Zweifel 2*

20

Erster Abschnitt : Kindheit.

über diese oder jene Wahrheit mich auch später ankam, an der Erhörung des Gebets zweifelte ich nimmer. Vier Jahre meines Lebens sind es, in denen ich als Hauslehrer gearbeitet habe.

Denn eine Arbeit war es , wie ich sie bis dahin nicht

kennen gelernt hatte und erst recht harte Arbeit, die auch dadurch nicht leichter wird, daß sie an einer nur fleinen Schülerzahl ausgerichtet werden mußte.

Allerdings, der Lehrer in einer Schule oder sonstigen

Anstalt hat zwanzig, vielleicht bis zu fünfzig Schüler vor sich, während der Hauslehrer nur vier oder fünf Zöglinge um sich sammelt.

Aber der

erstere ist frei, wenn er seine Stundenzahl gehalten hat, während der Hauslehrer den ganzen Tag seinen Zöglingen verpflichtet und an ſie gebunden bleibt. Ich hatte im Dieſtſchen Hause gemeiniglich Unterrichtsſtunden von 9-12 Uhr morgens und (außer Mittwochs und Sonnabends ) von 2-4 Uhr nachmittags ; aber vor und nach dein Unterrichte hatte ich die Kinder bei ihrer Arbeit zu beaufsichtigen und in den Spazier. stunden galt es, sie zu unterhalten. Erst des Abends von 9 oder 10 Uhr an konnte ich mich an meinen Schreibtisch jeten und meine Arbeit beginnen ; es war jelten, daß ich vor Mitternacht oder halb ein Uhr zu Bett kam. - Es war diese Zeit aber sonst eine gute Schule für mich; ich lernte auch mit feingebildeten Menschen verkehren und meine anfangs noch sehr groben Manieren abschleifen ; durch die vielen hoch gebildeten und geistig bedeutenden Menschen, die in diesem Hauſe verkehrten, wurde mein eigener Gesichtskreis erweitert, und fremde Erfahrungen, die hier in vertraulichen Stunden ausgesprochen wurden, kamen mir für meinen eigenen späteren Bedarf zu gute. Ein regelmäßiger Besuch der Kirche, wie er im Hause dcs Generals Sitte war, entſprach ganz meinem Bedürfnis.

Ich fing an, zu einem

bewußteren Glaubensleben zu erwachen, und war brünstig im Gebet, so daß ich alles , was äußerlich oder innerlich Bedeutsames an mich herantrat, mit meinem Gott zu besprechen gewohnt wurde. Besonders innig war mein Verkehr mit dem späteren General- Superintendenten Julius Spiesmann. Er kam oft des Abends gegen 10 Uhr auf meine Stube, und wir besprachen Theologisches — auch inneres Leben kam zu seinem Rechte. Es wurde oft 1 bis 2 Uhr, ehe er ging, wo ich ihn dann leise zur Hintertür hinausließ. Die bekanntesten Geistlichen jener Zeit waren Lisco an der Spittelkirche, der ganz positiv gerichtet war, Arndt an der Parochialkirche, Theremin und Strauß am Dom und Goßner an der böhmischen Kirche. Jeder von diesen übte irgend einen Einfluß auf mein Glaubensleben. Mit dem Diestschen Hause standen vielfach in persönlichem Verkehr Arndt, Theremin, Strauß, Goßner.

Die Geistlichen in Berlin.

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Lisco ward kaum dort gesehen, weil er immer für sich lebte. Aber er hatte den meiſten Einfluß auf mich. Seine kleine „ Spittelkirche" (am Ende der Leipziger Straße) , seine einfache, herzliche Sprache und die häufigen Predigten, denn er predigte wöchentlich dreimal, hatten für mich große Anziehungskraft. Mein Hunger nach diesen Gottesdiensten war so groß, daß ich mindeſtens einen, oft zwei Nachmittags -Gottesdienſte besuchte. Als einmal eine Kollekte für das Gehalt des Geistlichen angekündigt wurde, gab ich, worüber ich verfügen konnte. Zu den Frommen, die fleißig in diesen Gottesdiensten gesehen wurden, gehörte auch die Prinzeß Wilhelm, die Mutter der späteren Königin von Bayern, die auch bei Couard in der Georgenkirche sehr oft zu treffen war.

Es gab fromme

Handwerker, die man in jedem Gottesdienste wiedertraf, und einer von diesen hatte auch mich bemerkt und bat mich, ich möchte doch in einem kleinen Kreise von Gläubigen, die einmal in der Woche zusammenfämen, eine Andacht halten. Ich war über dieſe Zumutung in den Tod erschroken und lehnte den Antrag auf das beſtimmteste ab, da ich mich solchem Unternehmen nicht gewachsen fühlte. Arndt war ein frommer, liebenswürdiger Mann, seine Kirche sehr besucht

aber das, was eine so große Anziehungskraft auf viele seiner

Zuhörer ausübte, die intereſſanten Vergleichungen und Bilder, die Frucht einer umfassenden Lektüre, die in seiner Predigt Verwendung fand, machte ihn mir innerlich weniger zugänglich, ich konnte mich bei ihm nicht erwärmen, weil ich in seinen Predigten mehr eine Fülle zusammengelejener Gedanken fand als den überstrom eines liebeglühenden Herzens, dem sich das entsprechende Wort ungesucht darbietet.

Es warübrigens cine

edle Persönlichkeit, durch viele Reisen (in seiner Domkandidatenzeit) gebildet und ein liebenswürdiger Gesellschafter, der in den höchsten aristokratischen Kreisen von Berlin gern gesehen wurde. Strauß verkehrte viel im Diestschen Hause : ich vermißte in seinen Predigten die Einfalt, die Einfachheit. seiner Zuhörer anzog, stieß mich ab.

Das Pathos aber, das so viele

Im übrigen war ich dem trefflichen

Manne und seiner geistvollen Frau, geb. v. der Heydt (der Schwester des späteren Ministers ) , zum größten Danke verpflichtet ; das Straußsche Haus stand mir in meiner ganzen Kandidatenzeit offen und ich habe sehr viel Güte erfahren und Gelegenheit gehabt, vieles zu lernen . Theremin.

So wenig ich sonst der Kunst in der Rede hold war,

so machte doch Theremin bei mir eine Ausnahme.

Jede seiner Predigten

war ein Kunstwerk, jeder Saß harmoniſch aufgebaut, seine Sprache Muſik ; es war ihm Bedürfnis, jeden Gedanken harmonisch abzurunden, und er verwandte den größten Teil seiner Zeit auf die Ausarbeitung seiner Predigten.

Dann eignete ihm eine großartige rührende Einseitigkeit in

seiner Predigtweise : es war kaum eine Predigt bei ihm denkbar, die nicht

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Erster Abschnitt: Kindheit.

in irgend einer Weise auf den Tod hingewiesen oder von dem Todesgedanken getragen gewesen wäre, und seit dem Tode seiner innig geliebten Frau war sein ganzes Wesen dem Jenseits zugewendet ; eine mächtige Sehnsucht zog ihn nach oben, er sprach gern und oft von der Herrlichkeit des himmlischen Lebens, und dieser Hauch der Ewigkeit, der alle ſeine Gedanken durchzog, dies Gefühl der steten Allgegenwart Gottes, das sie heiligte, übte auf den Hörer einen wunderbaren Einfluß : ich hörte ihn sehr gerne, aber doch nur selten, ich sehnte mich doch mehr nach dem täglichen Brot, das mir bei Lisco, Couard und Goßner geboten wurde. Im übrigen war er ein sehr demütiger Mann, ein geborener Seelsorger, und wenn er in jenen Zeiten, wo der General seiner heimgegangenen Gattin tief nachtrauerte, des Abends bei uns sich zum Tee einfand und sogleich mit dem General sich auf eine halbe Stunde zu einem ernſten Gespräch zurückzog, dann fühlte ich mich in ehrfurchtsvoller Bewunderung zu dem edlen Manne hingezogen . Couard toard mir ein sehr gesegneter Prediger ; bei ihm hörte ich Gottes Wort am häufigsten ; ſeine frische, kräftige, eindringende Art und Weise hatte für mich etwas sehr Anziehendes. Gofner war der Typus eines Volksredners . In den mehr weltlich gerichteten Kreisen als Pietist und Schwärmer verschrieen, als Sonderling -verspottet von suchenden Seelen verehrt , waren es doch nur wenige aus den höheren Ständen, welche den Mut hatten, seine Gottesdienste regelmäßig zu besuchen ; es blieb für die meisten so vieles an ihm fremdartig, und nur wenige konnten mit der oft etwas derben und draſtiſchen PopuIarität seiner Rede sich befreunden. Der Grund lag wohl darin, daß die damalige vom Sauerteige des Rationalismus durchsezte Zeit die Bekehrung und den übertritt von Goßner gar nicht verstehen konnte . Man hielt ihn für einen überspannten Sonderling, und als er von dem da maligen Kronprinzen, späteren König Friedrich Wilhelm IV., an die böhmische Kirche in Berlin berufen war, weil er in Rußland, wohin er nach seiner Bekehrung sich geflüchtet, und wo sich in Petersburg eine gläubige Gemeinde aus den höheren und höchsten Ständen sich um ihn sammelte, trop dcs kaiserlichen Schußes den Verfolgungen der griechischen Geistlichkeit weichen mußte, da war ihm der Ruf nach Berlin eine willkommene Rettung.

Aber sämtliche Berliner Geistliche verschlossen ihm

ihre Kanzel zu einer Gaſtpredigt, und der alte, damals allmächtige Bischof Neander tat sein Möglichstes, um die Anstellung des ihm so wider. wärtigen Mannes zu hintertreiben. Schleiermachers Gerechtigkeitsgefühl nahm sich des Geschmähten an, er öffnete ihm willig seine Kanzel, und der Kronprinz wußte Goßners Anstellung durchzusetzen. Dieser hatte bald eine zahlreiche Gemeinde um sich versammelt, meist den arbeitenden Klassen angehörig ; aber auch eine nicht ganz unerhebliche Schar von

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Goßner.

Leuten aus den höheren Klaſſen Klassen hielt sich zu ihm.

Der

General

v. Diest, der früher in russischen Diensten gestanden und wahrscheinlich auch in Rußland von Goßner gehört hatte, wünschte seine nähere Bekanntschaft, und da Goßner grundsäßlich keine Gesellschaften besuchte, so wurde es vermittelt, daß wir zu wiederholten Malen zum Tee bei Goßner eingeladen wurden. Ich selbst ward auch eingeladen, was mich ganz glücklich machte ; ich habe Goßner deshalb näher kennen gelernt ; wie ich auch wohl ohne Ruhmredigkeit sagen kann, daß er mir persönlich sehr wohlwollte. Ich habe infolgedessen auch einige Male den Gottesdienst in der böhmischen Kirche gehalten und später von Cöthen aus öfter mit ihm korrespondiert, wozu die von ihm gestiftete Khols-Mission, die ich lebhaft mit gesammelten Gaben unterstüßte, näher Anlaß bot. über die eingegangenen Gaben wurde dann in seinem Miſſionsblatte, der „Bien", quittiert. Als ich nun einst diese Quittung durchſah, erschrak ich über einen Posten, der da lautete : „ Aus Cöthen eine reiche Sammlung von Wäscheſtücken “ mit dem Zusaß : „ aber nicht von dem Töthen der Lichtfreunde, sondern aus dem Cöthen der Freunde des wahren Lichts ".

Nun war aber das bewußte Paket wirklich aus dem lichtfreund-

lichen Cöthen und nicht von mir abgeſandt, und ich schrieb ihm das auch, worauf er antwortete : „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“ und dabei behielt denn die Sache ihr Bewenden. Unsere Teeabende waren überaus interessant. Goßner hatte ein heiteres Temperament, viel Humor, fast Schelmerei, die sich im Gespräch geltend machte; er erzählte gern aus seinem reich bewegten Leben, auch aus Rußland, wo er sich der Gunſt des Kaisers Alexander und vieler Großen erfreut hatte. Bevor wir auseinandergingen, hielt er eine kurze erbauliche Ansprache und dann ein erhebendes Gebet, wobei wir alle niederknieten. Er war unverheiratet geblieben ; sein Hauswesen führte eine fromme, gebildete Bäuerin aus Süddeutschland, welche mit zu Tische saß, aber niemals an der allgemeinen Unterhaltung teilnahm ; ich habe viel mit ihr geplaudert und mich ihres heiteren Sinnes und ihres treffenden Wortes gefreut, das manchmal an Goßner erinnerte. Goßner war ein Volks redner im ganzen Sinne des Wortes ; er war stark im Individualisieren und konnte mit der größten Seelenruhe die Einfachheit der Mahlzeit beschreiben , welche die Jünger ihrem Meister am Brunnen zu Samaria bereiteten, im Gegensatz gegen die üppigen Mahle der Vornehmen . Er machte uns öfter über seine Rede lächeln, aber sein Wort verlegte nie durch seine Kühnheit ; die Kirche war immer gedrängt voll. Er hatte eine tüchtige theologische Bildung und hat auch in seinen Schriften Proben. davon abgelegt. Das Haus des Hofpredigers Strauß war damals berühmt durch ſeine glänzenden Abendgesellschaften, nicht als ob es da hoch hergegangen

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Erster Abschnitt: Kindheit.

wäre; die Bewirtung war die bei einem Teeabend übliche und sehr einfach, aber was an geiſtiger Aristokratie zu haben war, wenn es nicht gerade der freien Richtung angehörte, konnte man da antreffen. Zu den Stammgästen gehörten der Geograph Ritter, ein sehr freundlicher Mann, den ich in dem ihm verwandten Kramerschen Hause kennen gelernt hatte ; Steffens, der Norweger, der damals durch seine lutherische Richtung viel von sich reden machte, gesprächig, wizig, aber doch auf sehr ernstem Untergrunde ; der Geschichtsschreiber Leopold Ranke, schon damals eine Berühmtheit ersten Ranges, etwa 37 bis 40 Jahre alt, sehr liebenswürdig, sprach wenig. Dann der Graf Stolberg-Roßla, General v. Thile, unter den Damen die alte Gräfin Bernstorff, die bedeutendsten Geistlichen von Berlin, und wer sonst als Fremder von Bedeutung Berlin paſſierte. Die kostbare Harfe, welche in der Ecke des Saales stand, wurde nicht mehr gespielt ; Frau Hofprediger Strauß hatte früher etwas in dieſem Spiele geleistet, aber der Arzt hatte es ihr später verboten, weil es die Nerven so angriff. Ich selbst spielte in diesen Kreisen gar keine Rolle ; ich war glücklich, daß ich hören, sehen und lernen konnte und freute mich, wenn einer und der andere mal aus Rücksicht auf den Wirt, der mich immer mit einlud, ein paar freundliche Worte an mich richtete. Ich denke noch heute mit inniger Freude an diese schönen, reichen Abendstunden zurück und an das ganze Straußsche Haus, das mir immer offen stand. Im Diestschen Hause waren für den Winter sehr interessante Abende arrangiert, in welchen ein liebenswürdiger

Ingenieur,

Hauptmann

Bertram, einem auserwählten Kreise von Herren und Damen die Geseze der Astronomie erklärte, an mitgebrachten Instrumenten die Himmelserscheinungen erläuterte und zu lebhaftem Austausch der Gedanken AnLaß gab. Eine eigentümliche Begegnung, die bald verhängnisvoll für mich geworden wäre, hatte ich mit dem sogenannten Wasser-Schulz . Er war pensionierter Leutnant, ein schöner, intereſſanter Mann, der es sich zur Lebensaufgabe gesetzt hatte, alle Leute zum Wassertrinken zu bekehren. Ich begegnete ihm an einem Sonntage, ohne ihn zu kennen ; ein fremder Mann hielt mich an und sagte mir : „Mein Herr, wissen Sie wohl, daß Sie ein Verschwender sind !"

Ich konnte ihm erwidern, daß ein Kandidat

wohl selten über Schäße verfüge ; aber er sagte : „ Sie haben von Haus aus schöne Zähne, aber Sie haben leichtsinnig mit ihnen gewirtſchaftet. ” Mein starkes Rauchen hatte sie etwas geschwärzt. In der liebenswürdigsten Weise nahm er mich unter den Arm und führte mich in sein Zimmer, wo er die Folgen meiner schlechten Wirtschaft wieder gut machen wollte.

Mit scharfen Feilen wurden die Zähne gereinigt und dadurch,

wie mir der Zahnarzt später sagte, für immer gründlich verdorben, ſo daß ich früh zu künstlichem Ersatz schreiten mußte. Damals hatte ich von

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Strauß.

diesen Wirkungen noch keine Ahnung ; ich schwärmte für den schönen Mann, der sich für das Wohl der Menschheit aufopferte, und gab mich nur zu leicht seinen verführenden Lehren hin, mich durch die sogenannte Waſſerkunst, d. h. recht vieles Wassertrinken, auf die Höhe des irdischen Wohlseins zu erheben.

In dem am Hauſe liegenden großen Garten des

Generals v. Diest, in welchem eine Pumpe stand, fing ich meine Waſſerfur an, alle Morgen von 5 bis 7 Uhr ; mit zwei Glas beginnend , brachte ich es schließlich dahin, daß ich in den zwei Stunden sechzehn Glas frisches Waſſer zu mir nahm ; natürlich promenierte ich dabei und lernte in dieſen Sommerfrühstunden den ganzen Römerbrief auswendig.

Meine eben

damals wankend gewordene Gesundheit hat vielleicht durch dieses maßlose Wassertrinken den ersten Anstoß empfangen. Den Abschluß meines Hauslehrerlebens bildete eine achtmonatliche Reise nach Schweden. Es war nicht gewöhnliche Reiselust, die dieſes Unternehmen veranlaßte.

Eine gedrückte Stimmung, die in über-

arbeitung ihren Grund hatte, weckte in mir den Wunsch, gerade dieſes einsame Band aufzusuchen, nach welchem zu jener Zeit die Wanderlust noch nicht ausgeschaut hatte ; auch Schuberts Werk über die schwedische Kirche weckte in mir den Wunsch, dies eigenartige Kirchenwesen aus eigener Anschauung kennen zu lernen . Mit der Erlernung der schwedischen Sprache hatte ich mir bei einem ungeschickten Lehrmeister leider vergebliche Mühe gegeben, auch Empfehlungen an den berühmten Bischof Tegner und an andere bedeutende Männer in Schweden hatte ich nicht erlangen können. Das erste Gerät, was ich mir für die Reise anschaffte, war eine Tabakspfeife. Als nämlich 5 Jahre zuvor der General v. Dieſt mir einmal eine freundliche Warnung zugehen ließ, nicht so stark zu rauchen, da man auf diese Weise in Knechtschaft gerate, erklärte ich ihm, daß ich nach Ablauf dieses Tages das Rauchen ganz einstellen würde, bis ich nicht mehr in seinem Hauſe weilte. Er lachte und hielt die Ausführung nicht für ernstlich gemeint, auch bei der mächtig gewordenen Gewohnheit von meiner Seite nicht durchführbar. Aber ich hielt Wort ; trot vieler Neckereien, die ich in der nächsten Zeit zu erleiden hatte, weil sie die Hal. tung meines Versprechens bezweifelten, blieb ich stark und kehrte erst bei Beginn meiner Reise zu meiner Pfeife zurück.

Soweit die Lebens- Erinnerungen, welche der verehrte Pastor Müllenſiefen in seinem 82. Lebensjahre niedergeschrieben .

Bis zu seinem seligen

Heimgang, über 60 Jahre lang, bin ich eng befreundet mit ihm geblieben. Es ist mir kaum ein anderer Mensch begegnet, der so wie er in allen , was er sprach und tat, niemals an sich, sondern stets an all die vielen, die er lieb hatte, dachte.

Darum ist auch die Zahl derer, die ihn lieb

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Erster Abschnitt: Kindheit.

gewonnen, übergroß ! Seine Predigten waren getragen von dem Wesen der Christenliebe und des Christenglaubens , aber auch in alle seine Amtshandlungen hat er sein Liebeswesen hineingetragen. Wie viele hat er getauft, wie viele konfirmiert und getraut, wie viele hat er zur ewigen Ruhe bestattet!

Der Jünger, den der Herr lieb hatte, ist sein Vorbild

gewesen ! Seine Abreise aus unserem Hauſe im Mai 1835 war ein Trauertag für uns. Mir besonders, der ich sein Lieblingsschüler gewesen war, kam seine Trennung von uns ganz unerklärlich vor, denn ich hatte keine andere Meinung und Hoffnung gehabt, als daß er ein unentbehrliches Glied unſerer Familie ſei und darum ſein ganzes Leben mit uns teilen müſſe. Am Schluß dieser meiner Erinnerungen an den verehrten Freund möchte ich noch einen Brief mitteilen, den er mir am 4. Mai 1869 schrieb, nachdem ich ihm an seinem Geburtstag ( geb. d . 28. April 1811 ) ein großes weißes Marmorkreuz zum Schmucke für seine schmucklose Stube geschenkt hatte, die er in der Wohnung des ersten Pfarrers von St. Marien in Berlin in der Bischofstraße innehatte. Der Brief lautete : „Wie herzlich danke ich für das wunderschöne Geſchenk, es hat mich so überrascht und beſchämt, daß ich glaube, nicht beſſer dafür danken zu können, als indem ich es mir immer aufs neue sagen lasse, was das Kreuz einem Menschen sagen kann. Und das ist bekanntlich recht vieles, ja eigentlich alles, was ein Mensch für ſein Leben zu wiſſen und zu lernen nötig hat.

Es ist die schönste Zierde meines Studierzimmers geworden,

und an dieser Stätte, wo ich eigentlich mein innerstes Leben lebe, ist das Kreuz mir der willkommenste Mahner und Tröster zugleich. Ich werde, so hoffe ich, durch Gottes Gnade für das, was es mir zu sagen hat, mir ein offenes und empfängliches Herz bewahren.

Für die mensch.

liche Schwachheit ist die sinnliche Ausprägung der höchsten Wahrheiten so oft ein Bedürfnis, und darum kann und wird die Gestalt des sichtbaren Kreuzes mich auch davor bewahren, daß die in diesem Zeichen eingeschlossenen Gottesgedanken und Gottesmahnungen auch nicht einen einzigen Tag von mir unbeachtet bleiben. Insonderheit danke ich Ihnen, daß Sie den eingegrabenen Spruch Offenb . 2, 10 wählten : „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“ ; es ist mein Konfirmationsspruch, der mir schon vielfach auf meinen Lebenswegen lieb und wert geworden ist. Kommen Sie bald einmal, um sich davon zu überzeugen, wie ſtattlich das schöne Kreuz seine Stätte ausfüllt und dem etwas dunkeln und dürftigen Gemach eine höhere Weihe gibt ! " Ein Nachfolger von Müllensiefen - ein Domkandidat Kretschel -ist nur wenige Monate bei uns geblieben, denn es zeigte sich bald, daß er uns Jungens nicht den nötigen Respekt einflößen und die Disziplin nicht aufrecht erhalten konnte.

Während mein älterer Bruder Otto das

Diesterwegsche Schule.

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Friedrich Werderſche Gynaſium besuchte, mein jüngerer Bruder Wilhelm aber Privatstunden durch eine große Reihe von Hauslehrern erhielt, wurde ich in die Diesterwegsche Schule geschickt, welche in der Oranienburgerstraße nahe der jetzigen Judensynagoge lag.

Der als Pädagoge berühmte

Direktor dieser Schule, Diesterweg, kümmerte sich wenig um uns jüngere Schüler, er genoß auch keine Liebe von unserer Seite,

da ſein Wesen

barsch und sehr kurz angebunden war. Dagegen liebten wir unseren Klassenlehrer, mit Namen Prahl, von ganzer Seele ; um so tiefer schmerzte es mich, daß ich diesen Lehrer einstmals ' arg belog. Denn, als ich ihm eine kurze deutsche Hausarbeit in der Schule abliefern sollte, erklärte ich ihm, daß ich sie zu Hauſe vergeſſen habe, und auf seine Weisung : „ Dann hole sie“, lief ich, so schnell ich laufen konnte, nach Hauſe, in der Meinung, ich könnte durch schnelles Hin- und Herlaufen die Zeit gewinnen, um die Arbeit schnell zu fertigen. Wie ein Verbrecher lief ich durch die Straßen und beneidete alle Menschen, die müßig auf den Straßen standen und ihre Zeit vergeudeten, während ich doch so notwendig Zeit gebrauchte. Mein Versuch, die Arbeit schnell nachträglich zu fertigen, glückte mir Gott sei Dank nicht, ich kehrte vielmehr reumütig und mit dem offenen Geständnis meiner Lüge zum Lehrer zurück, welcher mir auch bald Verzeihung gewährte.

Aber das böse Gewissen, welches ich nach dieser meiner

erſten Lüge in mir schlagen fühlte, hat noch lange Zeit nachher seine Stimme in mir vernehmen laſſen. Mein Vater war von der Münzstraße in das prächtige Haus „ Unter den Linden Nr. 78", an der Ecke des Pariser Plates gezogen, nachdem schon in unserer alten Münzstraßenwohnung die älteste Schwester meines Vaters - die Witte des Generalleutnants v. Cardell zu uns gezogen war. Diese Frau hatte die vortrefflichsten Herzenseigenschaften und neben einer schönen Geſtalt ein herzgewinnendes Gesicht. Ihr Bild als liebliches junges Mädchen hängt noch heute in meiner Stube und wird viel bewundert.

Ihr Mann, den ich niemals kennen gelernt, muß ein sehr

rauher General gewesen sein ; eine Menge von Anekdoten über seine freilich oft sehr drolligen Grobheiten in und außer Dienst kursierten noch lange Zeit nach seinem Tode in der Armee ; namentlich wurden sie mir in Danzig, wo er zulezt Brigadekommandeur gewesen und wohin ich 1869 als Regierungspräsident verſezt wurde, erzählt. Tante Cardell, selbst kinderlos, hatte die beiden Kinder ihrer früh verstorbenen Schwester v. Wigleben zu sich genommen und sie erzogen, als seien sie ihre eigenen. Die Herzen von uns Kindern allen hatte sie bald im Sturm erobert, ſie selbst aber widmete sich namentlich der Erziehung meiner jüngsten Schwester Adelheid, welche ihr viel zu danken hat. In dem ersten Stockwerk des Hauses am Pariser Plat wohnte eine sehr reiche und vornehme Familie v. Davidow , welche mein Vater schon von Rußland her kannte.

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Erſter Abſchnitt: Kindheit.

In der Lebensgeschichte des uns befreundeten Tribunalpräsidenten Goege* ) wird sehr nett erzählt, daß die Familie Davidow einstmals mit ihrem Galawagen in den Torweg einfahren wollte, denselben aber vollständig mit Tischen besett fand, welche von meiner Schwester Marie und ihren Freundinnen zur Weihnachtsbescherung für arme Kinder hergerichtet waren. Diese Weihnachtsbescherungen hat meine Schwester schon in der Münzstraße begonnen und bis zu ihrer Verheiratung fortgesezt. Zu meinem großen Verdruß wurde ich in dieser Wohnung zum ersten Male angehalten, vor eingeladenen Gästen auf meinem Cello etwas vorzuspielen, denn ich war mir wohl bewußt, daß mein Spiel nicht wert war, angehört zu werden. Eines Abends, als eine größere Gesellschaft bei uns versammelt war, merkte ich, daß ich wieder vorspielen sollte, machte mich nun aber dadurch unsichtbar, daß ich bei voller Dunkelheit in den Tiergarten hinauslief, erst nach längerer Zeit zurückkehrte und mich unbemerkt ins Bett legte. Diese Seelenangst, vorzuspielen, habe ich zeitlebens behalten.

In späteren Jahren war der Beweggrund meiner Angſt

der, daß ich der heiligen Musika, die ich so lieb gewonnen, dadurch Schaden zufügen könne, daß ich in meinem Spiel irgend etwas daran verfehlte. Große und bescheidene Musiker, wie z . B. mein späterer Freund Joachim, haben sich über den Grund meiner Angst vor dem öffentlichen Musizieren sehr gefreut, weil sie mir versicherten, daß sie nun auch den Grund ihrer Angst, welche sie oft vor einem Konzerte in unerklärlicher Weise befallen, kennen gelernt hätten. Vom Pariser Plat zog mein Vater nur auf einige Monate in das Haus Schiffbauerdamm Nr. 20. Hier hatten wir wieder einen großen Hof und Garten, und weil die vorbeifließende Spree damals noch in ihrem vollen Naturzustande war, so hatten wir viel Vergnügen am Spreeufer entlang dadurch, daß wir unserem beliebten braunen Hühnerhund Karo Holz in den Fluß warfen, um es zu apportieren, was er mit wahrem Feuereifer zur Freude aller Vorübergehenden tat, oder daß wir Hechte mittelst einer Schlinge aus Pferdehaar fingen, bei welcher Jagd eine gewisse Geschicklichkeit nötig war, um dem im Wasser stehenden Hecht von hinten her die Schlinge über den Schwanz zu ziehen. Mein Bruder Otto legte sich hier einen großen Taubenschlag an und war glücklich, wenn er fremde Tauben ebenfalls mit einer gewissen Geschicklichkeit in seinem Schlage einsing.

Es war dies ein Sport, welcher unter den Tauben-

beſizern selbst für völlig erlaubt angesehen wurde.

Furchtbare Auf-

regung herrschte, wenn ein Habicht den Taubenschwarm verfolgte und sich *) Dieſe Lebensgeschichte, betitelt Soli Deo gloria und geſchrieben von der jüngſten Tochter Hildegard Goeße , iſt eins der lesenswertesten Bücher, die neuerdings erschienen sind.

Leipzigerstraße 65.

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einen Braten daraus holen wollte ; mit Pfeifen und Schreien sollte er davon abgehalten werden, denn er flog viel zu hoch, um ihn herunterzuschießen.

Die Badeanstalten von Tichy und Luze (zwei sogenannte

Halloren) besuchten wir täglich; jie lagen nebeneinander an der Spree unterhalb des Unterbaums . Das Spreewasser war dort entseglich schmuzig, denn alle Kloaken Berlins hatten sich oberhalb in den Fluß ergossen.

Was machten wir Knaben uns aber daraus, wenn das Waſſer

nur kühl und naß war.

Da, wo jezt ganze Häuſerviertel stehen, waren

nichts als Holzpläße, durch welche unser Weg hindurchführte und welche von tiefen und breiten Kanälen durchschnitten wurden, auf denen das Holz von der Spree aus hinaufgeschafft wurde. An einem solchen Kanal traf mich einmal ein nach meiner Meinung schweres Unglück. Für meine Wappensammlung hatte ich nämlich einen Siegelring von meinem Vetter, dem Leutnant v. Quadt, geborgt, um Siegelabdrücke davon zu nehmen. Als ich nun zu Karos Vergnügen ein Stück Holz zum Apportieren in den Kanal warf, slog mir der Siegelring von meinem Finger, dem Holze nach, in den Kanal. Ich ließ zwar einen Bagger kommen, um den Ring zu retten, aber es glückte nicht. Ich war untröstlich ; es wurde nun zwar ein neuer Ring, ganz ähnlich dem versunkenen, gekauft, aber die Abzüge an meinem monatlichen Taschengeld erinnerten mich noch Jahr und Tag lang an dieses Ereignis. Mein Vater zog nun in das erste Stockwerk des herrschaftlichen Hauses Leipzigerstraße Nr. 65, nur mit einem kleinen Hofe und ohne Garten. Hier war es nun, wo an meinen Vater die Frage herantrat, ob er einen von uns beiden Brüdern, Wilhelm oder mich, mit dem Prinzen Friedrich Karl oder mit dem Prinzen Friedrich Wilhelm (Kaiser Friedrich III.) erziehen lassen wolle. Mein Vater lehnte dies aber ab, und ich bin ihm später immer dafür sehr dankbar gewesen.

Denn unter uns

gleichalterigen Knaben genossen die sogenannten „Prügelknaben“ ( jo hießen die, welche mit den jungen Prinzen erzogen wurden) wenig Ansehen; ich kannte aber alle die Spielgefährten der beiden jungen Prinzen ; zu diesen letzteren gehörte später auch mein lieber Vetter Friedrich v. Bodelschwingh ( jezt Pfarrer in Bethel bei Bielefeld ) . Der letztere hat mir schon damals viel von der Herzensgüte des jungen Prinzen Friedrich Wilhelm erzählt, namentlich wie er zu inniger persönlicher Freundschaft geneigt gewesen sei. Nur einmal habe sich der Prinz im Ärger beim Spielen zu den Worten hinreißen lassen : „Wenn ich einmal König bin, lasse ich euch allen die Köpfe abschlagen" ; darüber hätten ihn alle Jungen kräftig ausgelacht.

kabababababa

Sweiter Abschnitt. Gymnasialzeit.

ch kam nun als Schüler in das Friedrich Wilhelms - Gymnaſium und zwar nach einem, wie es nrir schien, sehr leichten Examen vor dem Direktor Spillede in die Quarta. Während mein Bruder Otto nach wie vor das Friedrich Werdersche Gymnasium besuchte, wurde mein Bruder Wilhelm in die nahe bei unserer Wohnung belegene Schule von Blenz getan. Wilhelm war von Kindheit an von allen, die ihm begegneten, sehr geliebt ; so hatte er denn auch bald eine große Menge von Spielgefährten, oft hatte er auch die drolligsten Einfälle : So sahen wir ihn einstmals mit seinen jungen Freunden das Eis in den Rinnſteinen aufhauen und in möglichst großen Stücken in die Konditorei schleppen, welche sich an der Ecke der Markgrafen- und Leipzigerstraße befand. Ganz enttäuscht war er, daß der Konditor das Eis nicht hatte nehmen und bezahlen wollen. Einst kam er mit der freudigen Nachricht, daß er Erster im Französischen geworden sei, zu meinem Vater, der ihn fragte, „wie heißt der Mann ? “ „,la fomme" war die Antwort, „und wie die Frau ? “ „ le femme" (deutſch ausgesprochen) . Mit herzlichem Lachen sagte mein Vater, wenn du der Erfte im Französischen bist, dann möchte ich mal die anderen examinieren".

Bei großem

Eifer stotterte Wilhelm etwas , und gehörig wurde er von uns geneckt, wenn er erzählte von Pi --- Pi Pi -Pinne und von Po Bo

Po - Posen. Für mich war die erste Gymnasialklaſſe, die ich besuchte, von hoher Bedeutung, denn ich befreundete mich damals mit zwei Knaben, für deren Liebe ich auch heute noch nicht dankbar genug sein kann.

Der eine war

Arthur v. Wolff, mit welchem mich 61 Jahre lang ( 1837-1898 ) die engſte Freundschaft verband, der zweite war Anton v. Roeder, welcher leider schon 1845 als junger Student aus diesem Leben abgerufen wurde. Aber auch eine andere Begegnung wurde mir für mein fünftiges Leben sehr wichtig. Unser Klassenlehrer wollte uns nach dem Schluß

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Streichquartett.

unseres Nachmittagsunterrichts noch eine längere Geschichte erzählen , da meldete ich ihm , daß ich nach Hause müsse, weil ich dort Cellostunde hätte. Sofort erhob sich hinter mir ein anderer Schüler, er müſſe auch nach Hause, weil er Violinstunde habe. Als wir nun beide das Gymnaſium verließen, sagte mir mein Mitschüler, er habe heute keine Violinstunde, aber er spiele mit solcher Liebe sein Instrument, daß er hören wolle, wie weit ich's auf dem Cello schon gebracht. Es war niemand anders, als der später nicht so sehr als Violinspieler, sondern als Komponist bekannt gewordene Richard Wuerst. Bald hatten wir noch einen anderen Mitschüler, den Sohn des Juweliers Thum in der Mohrenstraße, welcher die zweite Violine übernahm, und einen jungen Kandidaten Busch, welcher Bratsche spielte, aufgetrieben, so daß das Streichquartett fertig war. So habe ich denn von Quarta ab bis zum Abiturienteneramen, also sieben Jahre lang, das höchste Vergnügen, was ich auf dem Gebiete der Musik kenne, genießen können. So oft wir nur irgend konnten, haben wir Quartett gespielt und so die Werke aller größten Komponisten gründlich kennen gelernt.

Denn es ist doch nicht zu leugnen, daß von

dem alten Haydn ab alle großen Meister ihre tiefsten Gedanken gerade im Streichquartett niedergelegt haben, ſo Mozart, Beethoven, Schuberi, Schumann 2. Auch Mendelssohn hat es versucht, aber er selbst sagte mir ſpäter einmal, daß er mit seinen Quartetten nicht zufrieden sei, denn es sei ja wahrlich das Streichquartett die schwerste Aufgabe für einen Eine besondere Komponisten, an die sich nicht jeder wagen dürfe. Freude war es mir, welch innigen Anteil mein lieber Vater an unserem Quartettspiel nahm .

Schon als Tertianer fing Wuerst an, uns von ihm

selbst komponierte Trios oder Quartette mitzubringen, und wir waren auf unsern Mitschüler deshalb besonders stolz und nicht wenig erstaunt, als er eins dieser Erstlingswerke, weil es nach seiner Meinung nicht gelungen war, sofort in das Feuer des Kamins warf.

Wuerst spielte die

Geige schon damals nicht als Dilettant, ſondern als Künſtler. Über uns im zweiten Stockwerk wohnte der damals berühmte Liederkomponist Kurschmann mit seiner herrlich singenden Frau Rose geb. Behrendt.

Wie oft habe ich das herrliche Lied von Rose : „Wach auf, du

goldenes Morgenrot“ von den beiden vortragen hören.

Meine Schwester

Marie hatte eine schöne, sonore Altſtimme und war eine der besten Schülerinnen des großen Opernsängers Mantius. Wir Brüder mußten die Turnstunden besuchen, welche auf der Turnanstalt von Eiselen in der Dorotheenstraße gegeben wurden.

Sehr beliebt

unter uns Jungen war der alte Turnlehrer Feddern, ein Schüler Jahns. Mein Vater erlaubte mir, eine sogenannte Turnfahrt unter Fedderns Leitung mitzumachen.

Wir versammelten uns ganz früh morgens auf

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Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

dem Alexanderplat, und ich war mit meinen 11 Jahren weitaus der jüngste unter den stattlichen Turngefährten.

Es ging nun in einem

Zuge hinaus bis Bernau - 3 Meilen von Berlin

, dort wurden die

Huſſitenwaffen besehen, welche von der Schlacht gegen die Huſſiten bei Bernau herrührten, dann wurde weitergewandert bis nach dem Dorfe Wandlip - 1½Meilen hinter Bernau-. Nach einem erquickenden Bade im Wandliger See lagerten wir uns am Ufer desselben, verzehrten die von uns mitgebrachten Butterbrote und spielten auf mitgenommenen kleinen Brettern Schach. Dann ging es mit nur ganz kurzen Unterbrechungen zum Ausruhen zurück nach Berlin, wo wir abends um 11 Uhr ankamen. Das war ein Weg von 9 Meilen und noch dazu im märkiſchen Sande, denn Chausseen gab es damals noch wenige.

Die Folge davon

war, daß ich wohl acht Tage wie gelähmt war und kaum gehen konnie. Mein Vater aber war außer sich über solch eine unnatürliche Zumutung an jugendliche Kräfte und hat seine Stimme gegen solche übertreibungen der sogenannten Turnfahrten mit Erfolg erhoben. Obwohl ich in meinem ganzen späteren Leben ein guter Fußwanderer und Bergsteiger gewesen bin, ſo entſinne ich mich doch nicht, jemals einen so weiten Tagemarsch, wie den oben beschriebenen, zurückgelegt zu haben. Ich durfte damals, wie auch in späteren Jahren, meinen Vater oft auf seinen Dienſtreiſen begleiten, die meistens mit Extrapost, oft auch mit eigenen Pferden unternommen wurden. Mein Vater war immer nur von einem Adjutanten begleitet (Hauptmann Baehr oder Premierleutnant Elten), ich aber saß neben dem Postillon oder unserem Kutscher Schiforra auf dem Bock. pfleger, wohnte

Dieser Kutscher war ein ganz besonders guter Pferdemit Frau und Kindern, die unsere

Spielgefährten

waren, stets in unserem Hause und mein Vater hatte ihn bereits in dem Kriege 1812 zu sich genommen. Auf dieſen Reiſen wurde ich ganz heimisch bei den verschiedenen Artillerie-Brigaden und namentlich auf ihren Schießplätzen, denn ich wurde immer bei diesen Truppenbesichtigungen beritten gemacht und durfte auch selbst Kanonen abschießen. Die sogenannte 25pfündige Haubize gab einen ohrenbetäubenden Knall ab, und der sie Abschießende und darum dicht Dabeistehende mußte den Mund weit auf machen, um dadurch die Erschütterung des Trommelfelles zu mäßigen. Zum Gelächter der Offiziere sperrte ich meinen Mund bis zur Verzerrung auf. Bei Gelegenheit solcher Reiſen kam ich nach Jüterbog und auf dem Wege dahin besichtigten wir die alten herrlichen Bauwerke des Kloſters Zinna (berühmt zu Luthers Zeiten durch Tezels Ablaßkram) . In einer Kiefernheide zwischen Zinna und Jüterbog sah ich meinen ersten lebendigen Fuchs über den Weg laufen ; leider waren die Jagdgewehre, die mein Vater immer mitnahm, in ihrem Futteral und sie herauszuziehen, kostete zu viel Zeit.

Der Fuchs war fort ! Ein anderes Mal führte unsere

Reisen mit dem Vater.

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Reise nach dem Schießplat bei Mühlberg a. d. Elbe, und mir wurden . genau die Orte gezeigt, wo Kaiser Karl V. mit seinen Truppen über die Elbe ging, den Kurfürsten von Sachsen, der im Gottesdienst war, überraschte und ihn leider aufs Haupt schlug. Auch an der Stelle waren wir, wo der fliehende Kurfürst von den Kaiserlichen, an deren Spite ein Offizier namens v. Trotha stand, gefangen genommen wurde, und wo der Kurfürst sich mit den Worten gefangen erklärte : „Ich übergebe mich Trotten (Trotha) . " Wieder ein anderes Mal kam ich nach Garz a. Oder, nach Stettin und nach ückermünde, wo damals auch Artillerie stand. Als wir die pommersche Grenze überschritten, fragte mich mein Vater ganz ernsthaft, ob ich nicht fände, daß in Pommern eine ganz andere, schönere Luft wehe ? Zu seinem Ergöten beantwortete ich diese Frage mit einem überzeugungstreuen „ Ja “. Auch nach Sandow, hinter Frankfurt a. D. , dem Gute des uns befreundeten Herrn v. Senfft-Piljach, nahm mich mein Vater mit, wo ich die erste Treibjagd auf Rehe und Hasen mitmachen durfte. Der Rehstand war in den Sandowschen Forsten berühmt, und meine Jagdpassion hat dort ihren Anfang genommen, die mir in den vergangenen 60 Jahren manchen frohen Tag gebracht hat, und die auch heute noch mein Herz erfüllt . Besonders erinnerlich sind mir auch noch einige Fahrten nach Spandau, wo der General Peteri als Kommandant auf der Zitadelle residierte.

über diesen Mann habe ich immer

herzlich lachen müssen, weil er die originellsten Anekdoten erzählte, und je mehr ich lachte, desto mehr erzählte er.

Ich habe mich damals oft ge-

wundert, daß man mich oft mit meinem herzlichen Lachen neckte, ich muß also wohl eine besondere Art des Lachens gehabt haben. In der Leipzigerstraße fand auch die Verlobung und Hochzeit meiner Schwester Marie statt. Der berühmte Maler Begas, der Vater des jetzigen noch berühmteren Bildhauers, malte kurz vor der Hochzeit zwei ausgezeichnete Porträts meiner Schwester, die noch im Quastschen Hause zu Radensleben hängen. Begas wohnte am Ende der jezigen Straße am Karlsbade und sein Atelier stand dicht an dem alten Landwehrkanal, mitten im Freien ; dort habe ich oft mit den beiden sehr hübschen, aber sehr wilden Söhnen von Begas im Garten gespielt. dort mit Häusern beseßt.

Jezt ist die ganze Gegend

Das Weihnachtsfest 1837 feierten wir noch fröhlich im Beisein unſerer lieben, schon sehr schwachen Tante Cardell ; ich sehe sie unter dem Weihnachtsbaum ſizen mit ihrem ehrwürdigen Gesicht und ihren schneeweißen Haaren. Wie uralt kam sie mir vor, und doch war sie erst 57 Jahre alt, als sie bald nach dem Weihnachtsfeste selig entschlief. Nach der Hochzeit meiner Schwester beauftragte mich mein Vater mit der Führung der Hausrechnung und mit der Auszahlung des Lohnes für die Dienstboten . Dieses Amt habe ich viele Jahre lang zu meinem 3 v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

Zweiter Abschnitt: Gymnasialzeit.

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großen Nußen verwaltet, denn ich lernte dadurch den Umgang mit den Leuten, die Preise der Lebensmittel und manches andere fürs Leben Nügliche kennen . Auch finanziell war ich sehr gut dabei gestellt, denn ich erhielt neben meinem Taschengelde einen Pfennig für jeden Taler, den ich ausgab. Noch eines Ereigniſſes aus dieser Zeit muß ich Erwähnung tun, es war dies die längere Anwesenheit des Prinzen Mar von Bayern (fünftigen Königs ) in Berlin, zu dessen Generaladjutanten mein Vater ernannt wurde.

Er war ein sehr liebenswürdiger Herr und fuhr oft bei meinem

Vater vor, um ihn abzuholen. Es war eine eigentümliche Mode, daß die Prinzen bei solchen Gelegenheiten sehr schöne und kostbare Tabaksdosen zum Geschenk gaben ; obwohl mein Vater niemals Tabak geschnupft hat, so erhielt er doch nach der Abreise des Prinzen eine solche Dose mit dem Buchstaben M darauf und mit herrlichen Diamanten besetzt. Auf dem Gymnaſium wurde ich nun nach einem Jahre von Quarta nach Unterteria, dann wieder nach einem halben Jahre nach Obertertia versezt. Welch Schrecken packte mich aber, als wieder nach einem Jahre, im Herbst 1840, alle meine Mitschüler nach Untersekunda versetzt wurden, ich aber nicht. Ich konnte im Verein mit meinen jungen Freunden nicht anders glauben, als daß mein Name nur aus Versehen nicht mit verlesen worden sei, stürzte darum zum Direktor Spillecke, um mir Aufklärung zu erbitten ; dieser sagte mir aber sehr freundlich, daß ich doch eine Versezung nicht verlangen könne, da ich so oft die Schulstunden wegen der vielen Reisen mit meinem Vater versäumt habe. Auf meine Frage, was wird mein Vater dazu sagen, antwortete der Direktor nicht, aber auch mein Vater empfing die nach meiner Meinung höchst aufregende Nachricht mit höchstem Gleichmut, ja, er suchte mich sogar zu trösten. Erst nach Jahr und Tag habe ich erfahren, daß mein Vater selbst den Direktor um meine Nichtversetzung gebeten habe und wie dankbar muß ich auch heute noch meinem Vater dafür sein, denn die Vorteile meiner Nichtverſeßung waren viel größer als die Nachteile ; der Hauptnachteil für mich war nur der, daß meine mir vertrautesten Schulgenossen in jedem Jahr sechs Monate in einer anderen höheren Klasse jaßzen, als ich, was freilich damals meinem Ehrgefühl einen harten Schlag versezte. Ziemlich gleichgültig war es aber, ob ich 18 oder 18½ Jahr alt zur Univerſität reif erflärt wurde. Die Vorteile aber bestanden darin, daß ich die letten 52 Gymnasialjahre fast spielend durch die Klaſſen kam, daß ich immer der Erste in der Klaſſe und schließlich der primus omnium war, daß ich von einer Menge von Hausarbeiten entbunden wurde, weil die Lehrer sie nicht mehr nötig für mich hielten. Wie traurig war ich oft, wenn ich während meiner fröhlichen Gymnasialzeit beobachten mußte, wie arg sich manche Gymnasiasten gerade in den Berliner viel verlangenden Gym-

Nicht versetzt.

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Direktor Spillecke.

nasien mit Aufopferung ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit durchquälen mußten. Je leichter mir so der Unterricht gemacht worden war, desto freudiger nahm ich an ihm teil. Das Friedrich Wilhelms- Gymnaſium hatte mit wenigen Ausnahmen nur gute, ja vortreffliche Lehrer und, indem ich sie nachstehend schildere, sage ich mit Goethe in der Iphigenie : „Wohl dem, der seiner Lehrer gern gedenkt, der froh von ihren Taten, ihrer Größe die Hörer unterhält ! " An der Spitze der drei großen vereinigten Schulen in der Kochstraße, der Elisabethschule, der Realschule und des Gymnaſiums ſtand der berühmte Pädagoge Spillede.

Er stand in hoher Achtung bei den

Lehrern ebenso wie bei den Schülern, allen gegenüber hatte er die Autorität eines trefflichen Vaters, jedem waren der Ernst und die Strenge bekannt, mit der er auf Ordnung und Disziplin hielt. Sein nur ihm eigener Blick für die ſittliche Haltung einer Klaſſe oder auch des einzelnen war so geübt, daß er häufig Unordnungen in ihrem ersten Entstehen erkannte und zu verhüten verstand, noch ehe die Strafe nötig wurde.

Der Zorn

seiner gewaltigen Rede, deren Ton man oft mehrere Klassen hindurch vernehmen konnte, erschütterte den Schuldigen bis ins Mark. Eine ganz eigentümliche Art von Strafe hatte er sich erdacht, sie verfehlte ihre Wirkung nie und beſtand einfach darin, daß er den Schüler, der etwas begangen hatte, plöglich mit „ Sie" und nicht mit „ Du" anredete, denn er nannte alle Schüler bis zu den Oberprimanern einschließlich „ Du “.

Wie

der Sohn dem Vater gegenüber, suchte nun der Schüler dieser Respektsperson gegenüber die Schuld wieder gut zu machen, um die Gnade, „Du" genannt zu werden, wieder zu verdienen. Außerordentlich liebte cr die Musik und war oft gerade dann in der einzelnen Klasse zugegen, wenn, wie es jeden Morgen geschah, der Unterricht mit dem Singen eines Chorals begonnen wurde. Die Primaner suchten diese Musikliebe zu ihrem Vorteil auszunußen ; wenn ihnen nämlich eine Sophoklesstunde bevor ſtand, fingen ſie ſchon in der vorangehenden Pauſe vierſtimmigen Gesang an, 3. B. ,,integer vitae". Dann erschien Spillecke sofort in der Klaſſe, ging leise zum Katheder, sezte sich, beugte sein Haupt auf seinen Krückstock und lauschte.

Die Schüler sangen immer weiter, bis in die Sopho-

flesstunde hinein und bis dann endlich der Direktor mit verständnisvollem Blicke sagte: „Nun, Kinderchen, wollen wir nur an unseren Sophokles gehen" ; denn er war ja viel zu schlau, als daß er den Zweck des Singens nicht gemerkt hätte. Er ging stets an einem Stock, da er stark am Podagra litt und darum einen Gang hatte, daß er die Füße beim Gehen viel höher in die Höhe hob, als andere gesunde Menschen.

Wer wird

jemals die Figur dieſes edlen Mannes vergessen können, der täglich in der Kochstraße, in der er auch wohnte, auf- und niederging . Mitten aus dem tätigsten Arbeitsleben heraus wurde er an einem Sonntage, den 3*

Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

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9. Mai 1841 , heimgerufen.

Sein Nachfolger, der Direktor Ranke , der

Bruder des berühmten Geschichtsschreibers , war zivar auch sehr tüchtig in ſeinen Unterrichts-, namentlich in den Religionsſtunden, die er in Prima gab, aber er konnte die Liebe und die Achtung von uns Schülern nicht erringen, die der selige Spillecke besessen hatte.

Ich glaube, es lag

daran, daß Ranke nicht einfach und kindlich genug war, sondern mehr der gelehrte Philologe. Ein sehr geschäßter Lehrer war der Professor

Siebenhaar ,

welcher lateinischen Unterricht gab ; er hatte eine sehr kleine schwächliche Figur, ein sehr runzliges Gesicht und über seiner Stirn befand sich eine braune, schon sehr abgetragene Perücke. Sein Unterricht war ausgezeichnet. Eines Morgens hatte er die erste Stunde zu geben, erſchien aber nicht ; da mußte ich mich als Primus der Klasse entschließen, in seine Wohnung herabzuſteigen, die er im ersten Stockwerk des Gymnasiums innehatte. Auf mein Klingeln wurde nicht aufgemacht ( er war unverheiratet, einige 70 Jahre alt und hatte nur eine alte Köchin) .

Ich rief

nun den Direktor herüber, und wir fanden unter der Eingangstür von Siebenhaars Wohnung einen weißen Zettel.

Der Direktor las ihn mit

Bestürzung, wir Schüler haben aber nie erfahren, was darauf stand ; der alte gute Siebenhaar hatte sich aber in einem Anfall von Schwermut, an der er ohne unser Wissen schon länger gelitten, in der Nacht vorher das Leben genommen. Unbeschreiblich war die Trauer unter allen Schülern bei dieser Kunde. In Sekunda war der Professor Bresemer , ein gewaltiger Schultyrann, der wegen seiner scharfen Logif arg gefürchtet wurde, aber auch er gab einen vorzüglichen Unterricht im Griechischen und im Horaz ; er hat später den Spitznamen Breke befommen, und eine Menge von sogenannten Brekiaden kamen in Umlauf, d . h. Anekdoten, welche von seinen unbewußten ergöglichen Wißen Zeugnis gaben .

So fragte er einen von zwei

Brüdern, die ihm gesagt hatten, daß sie Zwillinge seien : „Wo sind Sie geboren ?" In Berlin" war die Antwort ; und Sie ", fragte er den zweiten : Auch in Berlin, Herr Professor". Das schallende Gelächter der Umstehenden kann man sich denken. Einen anderen fragte er : „Was ist Ihr Vater ?" „ Der ist tot, er war Besitzer einer Mineralwaſſeranſtalt." „So schreiben Sie", wandte sich Bresemer an den Primus, der die Liste führte, unter die Rubrik Stand des Vaters : Witwe einer Mineralwasseranstalt !"

Den Primus fragte Bresemer :

Welchen Teil der Geschichte

haben Sie zuletzt durchgenommen ?" Den Dreißigjährigen Krieg", antwortete dieser. „Nun, dann ſagen Sie mir mal, in welchem Jahre fand die Schlacht bei Lutter und Wegener statt?"

In dieser berühmten Wein-

handlung trank Breſemer seinen Abendschoppen und so dachte er an sie, statt an die Schlacht bei Lutter am Barenberge.

Direktor Ranke.

Die Professoren Siebenhaar, Bresemer, Schellbach.

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Ich komme nun zu dem Professor Schellbach , unserem Lehrer in Mathematik, Physik und Chemie. Er trat 1841 in das Friedrich Wilhelms- Gymnasium ein, bei welchem der bekannte Meteorologe Dove in den genannten Fächern sein Vorgänger gewesen war. Man sollte es kaum glauben, daß ein Mathematiker eine solche Frische, Fröhlichkeit, Herzensgüte und Engelsgeduld in ſich vereinigen konnte.

Mit der größten Heiter-

feit trug er die für Knaben doch recht trockene Mathematik in seinen Stunden vor ; ſein Mutterwiß war dabei ſo reizend, daß mir jede Stunde so erquickend erſchien, als tränke ich frisches Quellwaſſer ; dabei konnte er aber auch, wenn ein Schüler unnüß war, sehr böse, ja sogar sehr grob werden, so daß bei seinem Unterricht die Disziplin niemals vergessen wurde.

Auch er wohnte zu ebener Erde im Gymnaſium und sein Fa-

milienleben mit seiner liebenswürdigen Frau und seinen schönen Kindern war muſterhaft ; so besaß er denn eine grenzenlose Liebe bei all ſeinen zahllosen Schülern. Denn er ist vom Jahre 1841 bis 1889 Lehrer am Friedrich Wilhelms- Gymnasium gewesen und außerdem auch an der Kriegsakademie ; auch unseren Kronprinzen hat er lange Jahre unterrichtet. Eine kurze Lebensgeschichte hat er mir später zugeschickt, in welcher er am Schluß sagt: „Liebenswerte Schüler und Schülerinnen fand ich in allen Schichten der Gesellschaft und gerade in den höchsten Höhen ; bei unserem erhabenen Thronfolger selbst war die Liebe des Kindes und später die Zuneigung des Mannes der schönste Schmuck meines Lebens."

Er

bezeichnet in dieser Lebensgeschichte die Tätigkeit eines Lehrers als die glücklichste der Menschen und überschreibt sie mit den Worten : „ Sechzig Jahre aus Mühe und Arbeit.“ Ich hatte ihm zu seinem 50jährigen Jubiläum einen Glückwunsch gesandt und kann es mir nicht versagen, dic Antwort, die er mir unter dem 16. Mai 1884 geschrieben, hier mitzuteilen, obwohl sie voll unverdienter Lobeserhebungen für mich ist. im Auszuge :

Sie lautet

„ Ihr herzlicher Glückwunsch hat mich wirklich glücklich gemacht. Schon seit vielen Jahren iſt in mir der sehnliche Wunsch entstanden, von einem meiner geliebten Schüler wieder einmal eine Kunde zu erhalten. Während jezt in wenigen Jahren, zu meinem großen Schmerze, Namen und Gesichtszüge meiner Schüler aus meinem Gedächtnis faſt ganz verschwinden, ist mir die Erinnerung an Sie, hochverchrier Herr Präsident, noch treu geblieben. Ein unauslöschlich schöner Moment schwebt mir vor. Ich sehe

Sie

als

Primus

in der Morgenandacht

vor

mir sigen mit

den freundlich-schönen Zügen der vollen Unschuld und höre aus allen anderen heraus Ihre fromme liebe Stimme den ersten Vers des Liedes singen: Sollt' Er was jagen und nicht halten

.

Es wurde immer nur

ein Vers gesungen. Natürlich sagte ich leise : noch einen Vers ! So hatten sich Auge und Ohr verbunden, mir die Erinnerung unauslöschlich zu

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Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

machen. Von mir kann ich nur sagen, daß ich der überschwenglichen Gnade Gottes es verdanke, noch jezt meine Arbeit im Gymnaſium, in der Kriegsakademie, in der Wiſſenſchaftlichen Prüfungskommiſſion und im Seminar fortseßen zu können." Noch möchte ich erwähnen, daß Schellbach gerade in meinem Jahrgang einige ganz bedeutend für die Mathematik beanlagte Schüler vorfand ; sechs von uns, und darunter auch mich, brachte er schließlich ſo weit, daß wir weit über das Penſum hinauskamen, welches auf Gymnaſien erreichbar erscheint. So ging er denn auch mit uns abends auf die Berliner Sternwarte, wo wir den berühmten Astronomen Ende (den Entdecker und Berechner des Enckeschen Kometen) vorfanden und ihm bei den schwierigsten astronomischen Berechnungen Hilfe leisten konnten.

Zwei

von uns sechs, Lottner und v. Arnim, haben sich nach dem Abiturienteneramen ganz der Mathematik gewidmet. Unser geliebter Schellbach starb - 87 Jahre alt am 29. Mai 1892. Einer der bedeutendsten und originellsten Lehrer, der nur in Prima Unterricht im Griechischen, Deutschen und Literaturgeschichte gab, war der Professor Yren . Wer diesen körperlich ganz gebrochenen Mann, welcher noch dazu so furchtbar schnupfte, daß der Schüler nicht gern in seiner nächsten Nähe ſizen wollte, zum erstenmal gesehen hätte, würde nicht geahnt haben, was für einen geheimnisvollen Einfluß er ausübte, und welch ein geistiges Band, das nie sich wieder löste, zwiſchen ihm und ſeinen Schülern sich knüpfte. Eine andächtige Stille herrschte bei seinem Unterricht, die Schüler hingen an den Lippen des Lehrers und folgten mit innerster Teilnahme seinen Ausführungen.

Er war faum mit irgend

jemandem zufrieden, berichtigte und beſſerte jede Antwort, die er auf ſeine Frage erhielt. In seinen Platoſtunden, wie auch bei den übersetzungen aus dem Lateinischen des Cornelius nepos ins Griechische stellte er die größten Anforderungen an die Aufmerksamkeit der Schüler. Die Wahl der Themata zu den deutschen Aufsäten, von denen jeder nur zwei im Jahre zu liefern hatte, überließ er uns Schülern selbst ; die Kritik eines jeden Auffages war strenge, ja scharf, aber immer richtig ; immer, ohne den Verfaſſer zu nennen, füllte die Beurteilung einer einzigen Arbeit die ganze Stunde aus. Für den betreffenden Verfaſſer des Auffages , welcher sein Heft in den Händen Yrems natürlich sofort erkannte, war eine solche Stunde höchst aufregend, für alle aber ein Genuß. Kurz will ich nur erwähnen, daß er einstmals einen Aufsaß von mir über „ Iphigenie" friti ſierte und dabei im Anfang die Frage an mich richtete : „ Diest, wie schreiben Sie Goethe ?" Sollte ich diesen allbekannten Namen falsch geschrieben haben ? Ich ahnte, worauf Yrem hinaus wollte und antwortete mit Willen ganz dreiſt : G - ö - t - h - e.

Der zweite, der dritte Schüler

und so alle der ganzen Klasse beantworteten dieselbe Frage in derselben

Professor Nyem.

Musikdirektor Rer.

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Weise wie ich. Ganz außer sich rief der Lehrer uns zu : „Nein, Go - e - th - e. " (übrigens fand ich, als ich später Landrat in Wezlar wurde, in einem alten Hause der Gewandgasse, in welchem Goethe gewohnt hatte, eine alte Fensterscheibe, in welcher Goethe selbst seinen Namen mit Göt - h - e eingefragt hatte ; Yrems Figur stand vor mir, als ich diese Fensterscheibe fand . )

Merkwürdig war auch seine

Leitung der Deklamationen und freien Vorträge, wobei seine Sorgfalt und seine umfassenden Kenntnisse von uns Schülern allen bewundert wurden. Die schönsten Stunden aber, die Yrem gab, waren die, in denen er deutsche Literatur uns vortrug ; hier gab er seine eigenen Forschungen und ſeine eigenen tiefen Gedanken, so daß ſein ganzes inneres Leben uns vor die Seele trat. Eine Sage, deren Richtigkeit niemals festgestellt worden ist, machte unter uns Schülern die Runde, dahin, daß Yrem einen eigenhändigen Brief und einen goldenen Ring dazu von Goethe ſelbſt erhalten habe, als er dem Dichter eine Schrift über den zweiten Teil des „Faust“ zugesandt.

Ich kann nur bezeugen, daß ich noch Jahrzehnte

nach dem Abgang vom Gymnaſium den sehnlichen Wunſch im Herzen getragen habe, die Vremschen Literaturgeschichtsstunden noch einmal wieder mitmachen zu dürfen. Yrem, geboren 1799, starb am 14. April 1867. Auch viele andere Lehrer in meinem alten lieben Kasten (so hieß unser Gymnasialgebäude unter uns Schülern) , wie z . B. Heidemann, Walter (mit Spitznamen Bulle) , Böhm, Rehbein, Drogan, Wigand 2c. haben ihr Amt mit großer Treue und Gewissenhaftigkeit verwaltet. Nur einer konnte so wenig die Disziplin aufrecht erhalten, daß wir den furchtbarsten Unsinn und Lärm in seinen Stunden machten ; er war auch nur kurze Zeit Mathematiklehrer in Tertia. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, die Untertertianer zuerst im ersten Jahre mit „Du “ die Obertertianer aber mit Sie" anzureden. Jedesmal nun, wenn er sich in Obertertia versprach, entstand ein fürchterliches Getrampel mit den Füßen in der ganzen Klaſſe; ja, als er einmal die Redensart gebraucht hatte : „Mir nichts, dir nichts ", verlangten wir unter großem Lärm von ihm, daß er „Mir nichts, Ihnen nichts" sagen sollte. Recht erbärmlich waren auch die Religionsstunden in den mittleren Klaffen, die ein alter Universitätsprofessor erteilte ; die meiſten Schüler arbeiteten während dieser Stunden unter dem Tisch ihre noch nicht fertigen Hausarbeiten aus oder lernten für die nächſte Stunde auswendig.

Einen aber muß ich noch kurz erwähnen, und das war unser Gesanglehrer, der Musikdirektor Rer , ein gewaltiger Kontrapunktist. wurde zwar auch bei ihm in der Aula, wo der Flügel stand, viel Unsinn getrieben, ich aber hatte einen großen Stein bei ihm im Brett, weil ich die Tonarten, die er auf dem Klavier angab, richtig bezeichnen konnte und

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Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

auch bei den musikalischen Aufführungen des Gymnaſiums das Altsolo zugewiesen erhielt.

Ich sang Alt bis nach Obersekunda, dann erſt änderte

sich meine Stimme zum Tenor, den ich durch zu vieles Singen, namentlich später in Heidelberg arg gemißbraucht habe. Von meinen Gymnasialfreunden möchte ich außer den vorher schon genannten, Arthur v. Wolff, Anton v. Roeder und Theodor Thum besonders nennen : Eduard Scholler, der als armer Knabe mit dem Grafen Louis Perponcher von dem Hauslehrer Kuhlov, dem späteren vortrefflichen Prediger im Elisabeth-Krankenhaus, erzogen worden war und als Gymnasialdirektor in Valparaiso früh gestorben ist ; er war dem Kopf und dem Herzen nach sehr bedeutend beanlagt und war vor mir immer Primus in allen Klaſſen geweſen.

Ferner nenne ich die Grafen Otto und

Victor Weſtarp ( der erstere zulegt Regierungspräſident in Gumbinnen, der andere Oberförster) , Friedrich Eichmann (später Gesandter in Konstantinopel und Stockholm) . Alle diese, mit denen ich in regelmäßiger Korrespondenz geblieben bin, sind längst schon heimgerufen.

Ein Ter-

tianer begleitete mich, den Primaner, täglich auf dem Schulwege durch die Mauer- und Leipzigerstraße, dann packte er, mir nachlaufend, mich an der Hand und bat mich, ihm Geſchichten zu erzählen ; es war ein bildschöner Junge mit wundervollen Augen und langem schwarzen Haar. Ich erzählte ihm namentlich Märchen aus „Tausend und eine Nacht", und wenn ich an einem Tage nicht fertig wurde, mußte ich am nächsten Tage die Geschichte fortseyen

Es war niemand anders, als der später ſo be-

rühmt gewordene Schriftsteller und Dichter Paul Heyſe. Einen gewaltigen Eindruck machte auf mich im Jahre 1838 die Eröffnung der zweiten Eisenbahn in Deutschland von Berlin nach Potsdam (die erste Eisenbahn war bekanntlich auf der ganz kurzen Strecke von Nürnberg nach Fürth) . Mein Freund Wolff war derjenige unter uns Schülern, welcher mit der Eisenbahn nachPotsdam fahren durfte ; er wurde wie ein Wundertier von uns angeſtaunt und mußte uns den genaueſten Bericht erstatten. Man kann es heutzutage kaum mehr faſſen, daß die Reisen auf Eisenbahnen zuerst für höchst gefährlich gehalten wurden und daß das ganze Eisenbahnwesen mit Mißtrauen beurteilt wurde. Ein berühmter Prediger erklärte jogar von der Kanzel herab die Eisenbahn für ein Teufelswerk. übrigens habe ich schon in Sekunda als Thema für den deutschen Aufsaß die Frage erhalten : „Welchen Einfluß wird die Anhaltische Bahn auf die Entwickelung Berlins und namentlich des an dem Anhaltischen Bahnhof gelegenen Stadtteils haben ? "

Meine Prophe-

zeiungen, die ich) in diesem Aufsatz niederlegte, sind später natürlich weit übertroffen worden . Noch jezt gehe ich oft durch die Anhaltische und die Königgräzerstraße mit Staunen in der Rückerinnerung an mein Aufſaßthema.

Eröffnung der Eisenbahn von Berlin nach Potsdam.

Friedrich Wilhelm III.

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Der Tod des Königs Friedrich Wilhelms III . am 7. Juni 1840 hat auf mich einen ernsten, nachhaltigen Eindruck gemacht. Er war mir, dem Knaben, stets als ein sehr moroser, in sich gekehrter, einſilbiger und leicht verleglicher Herr geschildert worden. Mein Vater hat mir mehrere Begegnungen mit ihm beschrieben. Nach einem Diner beim Prinzen Albrecht, dem jüngsten Sohn Friedrich Wilhelms III ., sei der damals einige Monate alte Prinz Albrecht- Sohn von seiner Amme in die Geſellschaft getragen worden. Mein Vater habe das Kindchen auf die Schulter geklopft mit den Worten : „Der Junge ist ja prächtig dick und fett", und als die Amme ihm erwiderte : „Ja, Seine Königliche Hoheit nehmen auch reichlich Nahrung zu sich “, habe mein Vater erst recht seine vorigen Worte wiederholt. Plößlich habe Alles Plaß gemacht, denn der alte König ſei herangetreten ; er hatte die Scene von vorher beobachtet, denn er redete meinen Vater mit den Worten an : Diest, Sie haben ganz recht, denn es ist ein Unsinn, ein solches Kind schon Königliche Hoheit zu nennen !" Darauf folgte ein längeres Gespräch über die Erziehung der Kinder aus dem Königshause und mein Vater vertrat die Meinung, daß sie nicht allein aufwachsen dürften, sondern mit Altersgenossen sich die Hörner auf der Schule und auf der Univerſität ablaufen müßten. Der König ging gnädig auf diese Vorschläge ein, und mein Vater hatte die Freude, es noch zu erleben, daß einige Jahre nachher der Prinz Friedrich Karl und der Kronprinz die Univerſität Bonn bezogen, was bei Königlichen Prinzen früher unerhört gewesen war. Auch eine andere, für das Wesen des Königs interessante Geschichte habe ich von meinem Vater Der König fuhr mit seinem Flügeladjutanten v. Malachowski spazieren und auf einmal sagte er ärgerlich : „ Sie treten mich ja immerzu, warum treten Sie mich denn mit Ihren Füßen ?" Der schlagfertige Adjutant fragte aber sofort ſeinerseits : „Majeſtät, was sollte ich denn davon haben ?" Der alte Herr besaß neben vielen anderen vortrefflichen Eigenschaften eine große Gutmütigkeit, und da er mit seinem ganzen Volke die furchtbaren Geschicke Preußens unter napoleonischem Drucke in wahrhaft edler und christlicher Weise durchlebt und durchfämpft hatte, so besaß er auch die Liebe ſeines ganzen Volkes . In den Tagen kurz vor seinem Tode standen immer Tausende von Menschen lautlos vor seinem Palais, um noch einmal den kranken König zu sehen, der manchmal an das Fenster trat. Auch ich habe ihn da gesehen an dem Tage, an welchem die Grundsteinlegung zu dem herrlichen Denkmal Friedrichs des Großen stattfand und der König am Fenster erschien, um nach dem Plate, wo die Feier vor sich ging, hinzusehen. Die Trauer um seinen Tod war rührend, und die beiden schriftlich hinterlassenen Ansprachen, die eine anfangend mit den Worten „Mein Leben in Unruhe, meine Hoffnung zu Gott“ und die andere An Meinen lieben Friz" machten die Trauer um ihn noch besonders

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Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

wehmütig . Was hat er auch während seiner 43jährigen Regierung an schweren Schicksalsschlägen zu tragen gehabt, am schwersten wohl an dem Heimgang seiner geliebten und vom ganzen deutschen Volke noch heute bewunderten Gemahlin. Hier möchte ich einschieben, daß die Königin Louiſe in dem Unglücksjahre 1806 auf der Flucht vor Napoleon in Flatow, der Besizung meiner Großeltern v. Gerhard, eingekehrt war. Mein Großvater selbst fuhr sie in einem vierspännigen Wagen von Flatow weiter nach der Weichsel zu, und die Königin zog zum Dank hierfür einen Ring von ihrem Finger und schenkte ihn meinem Großvater. Leider ist dieser Ring, der noch existiert, an eine Nebenlinie der v. Gerhardschen Familie gekommen. Die Huldigung für König Friedrich Wilhelm IV . fand einige Monate nach dem Heimgang seines Vaters in Berlin statt. Ich konnte dieſe großartige Feier von einer Tribüne aus, welche zwiſchen dem Dom und der Hofapotheke gebaut war, als Augen- und Ohrenzeuge miterleben. Vor dem Schloſſe nach der Lustgartenſeite war ein langer und breiter Anbau, in Gold und Purpur prangend, angebracht ; eine breite Treppe führte vom Plaß aus herauf zum Throne, vor welchem der König stehend zu jeinem Volke eine ergreifende Rede hielt.

Eine ungeheuere Menschen-

maſſe bedeckte den mächtigen Plat, auch an den Fenstern und auf den Dächern war alles voll von Menschen. Der damals hochberühmte Maler Krüger hat auf einem großen Bilde, welches im Schlosse hängt, diesen Moment der Nachwelt erhalten. Der König richtete an die ungeheuere Versammlung die Frage :

Wollen Sie mir helfen und beistehen, die

Eigenschaften immer herrlicher zu entfalten, durch welche Preußen mit seinen 14 Millionen den Großmächten der Erde zugesellt ist ? - Nämlich : Ehre, Treue, Streben nach Licht, Recht und Wahrheit, Vorwärtsschreiten in Altersweisheit zugleich, und heldenmütiger Jugendkraft ? Wollen Sie in diesem Streben Mich nicht verlassen, noch versäumen, sondern treu mit Mir ausharren durch gute wie durch böse Tage ― o, dann antworten Sie Mir mit dem klarsten, schönsten Laute der Muttersprache, antworten Sie Mir mit einem ehrenfesten Ja ! " Und als nun das Ja von den vieltausenden Lippen ertönt war, da rief der König : " Dies Ja war für Mich, das ist Mein eigen, das lasse Ich nicht, das verbindet uns unauflöslich in gegenseitiger Liebe und Treue, das gibt Mut, Kraft, Getrostheit, das werde ich in Meiner Sterbestunde nicht vergessen." Unbeschreiblich war der Eindruck dieser königlichen Worte und des vieltausendstimmigen Ja, auch auf mich ; selbst ein heftiger Regenschauer, der plöglich herniederprasselte, störte die allgemeine Verzückung nicht. Welch ein Kontrast zwischen dieser Scene um das Berliner Schloß herum, und den fürchterlichen Schreckensscenen kaum acht Jahre nachher, in und um dieses selbe Schloß ! Das momentane Zujauchzen der Volksmengen,

Friedrich Wilhelm IV.

Ernst v. Bodelschwingh.

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worauf oft selbst einſichtige Männer und gekrönte Häupter ein großes Gewicht legen, erscheint mir seit jenen Tagen ohne alle und jede Bedeutung. Der Karfreitag folgt eben bald auf den Palmsonntag ! Zu den Huldigungsfeierlichkeiten war neben allen anderen Oberpräsidenten auch mein Onkel, Ernst v. Bodelschwingh, als Oberpräsident der Rheinprovinz nach Berlin gerufen

und wohnte bei uns in der

Leipzigerstraße. Eine lebensgefährliche Lungenentzündung warf ihn aufs Krankenbett, und zu seiner Pflege kam seine Frau, die geliebte Schwester meines Vaters, von Koblenz her in unser Haus . Während der Krankheit meines Onkels , welche mehrere Wochen dauerte, vertrat ihn sein Bruder, der damalige Landrat des Kreiſes Hamm, Karl v. Bodelschwingh, in den Oberpräsidialgeschäften und erledigte diesen Auftrag mit einer solchen Gewandtheit, daß es mir gar nicht auffallend war, daß er nach kurzer Zeit Regierungspräſident in Arnsberg und 1851 Finanzminister wurde, obwohl er niemals irgend ein höheres Examen gemacht hatte. Von jener Zeit ab verband mich mit diesem, auch stets Onkel Karl" genannten Manne, wie auch mit seiner Frau und allen seinen vielen Kindern ein engeres Freundſchaftsverhältnis, das bis zu ſeinem Tode währte.

An meinem Onkel Ernst und meiner Tante Lottchen, seiner Frau, sah ich aber von jener Zeit ab stets mit einer solchen Verehrung empor, daß ich nicht umhin kann, einige Erinnerungen aus dem Leben beider mitzuteilen, welche ich zum größten Teile den Aufzeichnungen des Sohnes, jezigen Pfarrers Friedrich v. Bodelschwingh zu Bethel bei Bielefeld verdanke: Erst 17 Jahre alt, zog mein Onkel Ernst v. Bodelschwingh auf die Universität zu Berlin, um Jura zu studieren. Es war dies in dem Frühjahr nach dem furchtbaren Gottesgericht in Rußland, als der Kaiser Napoleon mit seiner geschlagenen Armee nach Deutschland zurückchrte, und nun sich auch Preußen aufmachte, das schreckliche Joch des Bösewichts abzuschütteln . Kaum war der Ruf des Königs erschallt, da drängten sich die Jünglinge Deutschlands zu den preußischen Fahnen. In Schlesien sammelten sich die preußischen Freiheitskämpfer. Da eilte auch der Onkel, damals ein schlanker sechs Fuß hoher blonder Jüngling, nach Breslau und stellte sich bei dem Hauptmann ein, welcher die Rekruten annahm. Scharen von Freiwilligen stehen hinter dem schreibenden Offizier, jeder muß seinen Namen nennen, da mit einemmal heißt es:

Ernst v. Bodelschwingh" ; der Offizier dreht sich um und sagt :

Junge, Dich nehm ich nicht !" Der junge Ernst v. Bodelſchwingh macht da kurz Kehrt und sagt : „ Dann meld ich mich wo anders ! " Da hält ihn der Offizier an den Rockſchößen feſt und sagt : „ Du weißt doch, lieber Ernst, daß Deine Eltern in Westfalen unter franzöſiſcher Herrschaft stehen ; kommt

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Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

es heraus, daß Du unter preußischer Fahne dienst, wird Deinen Eltern alles Hab und Gut weggenommen und sie werden vielleicht ins Gefängnis gesteckt." Der Offizier, der so redete, war der Hauptmann v. Quadt, der nachher sein Schwager wurde, da er seine Schwester Sophie heiratete . So wurde denn ausgemacht, daß er unter einem fremden Namen dienen müßte und statt Ernst v. Bodelschwingh wurde Ernst v. Bode eingetragen ; daher kam es auch, daß die Eltern im Kriege fast nichts von ihm erfuhren. Er trat nun bei dem Jäger-Bataillon Yorck ein.

Wie war aber dem sieb-

zehnjährigen schlanken Studenten zu Mute, als nun die ganze Laſt auf ihn gehängt wurde, der schwere Tornister, in dem noch 60 Patronen sein mußten, außerdem die Patronentaſche mit ebensovielen Patronen.

Als

er nun auch die Jägerbüchse in die Hand nahm, glaubte er : „Nein, das hältst du nicht aus". Zum Glück war nicht lange Zeit zum Besinnen und zum Exerzieren, es ging schnell vorwärts auf den hereinbrechenden Feind, und auf dem Marsche mußte das Notwendigste gelernt werden. Wie war ihm zu Mute, als beim Annähern des Feindes kommandiert wurde : ,,Geladen !" und als es nun bald darauf auf dem Schlachtfelde von Großgörschen bei Lüßen in die erste Feuerprobe hineinging. Er kämpfte die Schlacht, in der das wieder erwachte Preußen sein. erstes Examen beſtand, noch als gemeiner Soldat mit.

Er hat mir ſpäter

eine lebhafte Beschreibung davon gegeben, wie jeder Soldat, der Spielfarten in seinem Tornister hatte, dieje Karten vor Beginn der Schlacht auf die Straße geworfen habe, weil der Besitz dieses wenig gottgefälligen Spielzeugs für unheilbringend gehalten wurde ; so sei denn der ganze Weg wie besäet mit Spielkarten gewesen. Auch das überschreiten der Leiche eines gefallenen Soldaten hat den Onkel mit seinem weichen Herzen tief erschüttert.

Als nach der Schlacht die müden Soldaten wieder durch

Lützen kamen, liefen viele von ihnen mitten in den großen Teich hinein. und tranken von dem grünen schmutzigen Wasser, er aber ging in ein Bauernhaus und bat die Bauernfrau um einen frischen Trunk. Da sah ihn die Frau ganz erschreckt und verwundert an, er guckte in den Spiegel hinein und sah, daß er kohlschwarz aussah, wie ein Schornsteinfeger. Er hatte von seinen 120 Patronen über 100 verschossen .

Ach, es war ja frei-

lich keine siegreiche Schlacht, denn die Preußen mußten noch einmal zurück. Bei Baußen kämpfte Onkel Ernst zum zweitenmal mit, und noch einmal mußten die Preußen rückwärts weichen . Wie todmüde wankte der junge Soldat aus der Schlacht ! Schlafend kam er in Baußen an und ſank so auf dem Straßenpflaster nieder, das harte Lager zu seinem Ruhebette nehmend.

Zum Kummer aller tapferen Freiheitskämpfer wurde mit

Napoleon ein Waffenstillstand abgeschlossen und es ging noch einmal zurück nach Breslau .

Der junge Jäger hatte sich so tapfer geschlagen, daß

er nach der Schlacht von Baußen bereits zum Offizier befördert wurde.

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Ernst v. Bodelschwingh.

Es dauerte nicht allzulange, da ging es wieder vorwärts, da kam der alte Blücher angeritten und hielt Heerschau ; wohl eine Stunde lang galoppierte er auf seinem Schimmel an den Regimentern vorüber und der dicke Schimmel keuchte, daß man es weithin hören konnte. Der Onkel durfte wieder dabei sein, als an der Kazbach der Marschall Macdonald mit seinen 80 000 Franzosen von 40 000 Deutschen geschlagen wurde. Das war auch ein heißer Tag, ein heißer Arbeitstag für den Onkel ; den ganzen Tag in strömendem Regen hatte er mitgefochten, die Franzosen hatte er bis in die Nacht hinein verfolgen helfen . Und nun lag die Kompagnie im Freien zwischen ein paar kleinen Gehölzen und hatte sich mühsam ihre Wachtfeuer angemacht. Alles fror und klapperte nach der heißen Tagesarbeit in den nassen Kleidern. Ein Soldat hatte ein Fäßchen Bier herbeizuschaffen gewußt, da sagte der Onkel : „Ach, wenn wir doch etwas Milch noch dazu hätten, dann könnten wir uns Bierſuppe kochen." Kaum hatte er das gesagt, da sprang der Schneeberg, ſein Burſche, auf und lief in die Nacht hinaus. Nach zwei Stunden kam er wieder und hatte einen großen Topf voll Milch in beiden Händen. Geblendet von der Nähe des Wachtfeuers, sieht er einen Kloß nicht, der im Wege liegt, und pardauz liegt mein Schneeberg auf der Naſe, der Topf ist entzwei und der kostbare Inhalt verschüttet. Ohne ein Wort zu sagen, steht Schneeberg wieder auf, macht Kehrt und stürzt wieder in die Nacht hinaus . „ Schneeberg ! Schneeberg !" klingt es hinter ihm her, bleibt hier, wir wollen keine Milch mehr," aber Schneeberg hört nicht. Er läuft abermals in die Nacht hinaus und nach einer Stunde ist er wieder da, und die kostbare Biersuppe erquickt alsbald die naſſen müden Krieger. Der Onfel pflegte oft zu sagen : „Mit hunderttausend Schneebergs getraue ich mir die Welt zu erobern", denn Schneeberg fannte weder Müdigkeit noch Furcht. Von der Kazbach nun ging es in unaufhaltsamem Siegeslaufe nach Leipzig. Da hat der Onkel auch mitgefochten in dem mörderischsten Teile der Schlacht bei Möckern, und Gott hat ihn in dieser Schlacht bewahrt. Nun aber galt es, die flüchtigen Franzosen zu verfolgen, da mußten die Jäger voran. Einmal dringen sie in ein Gehöft ein, in welchem die Franzosen sich verborgen hatten, da fliegt dem Onkel eine Kugel vor den Kopf und er denkt auf der Stelle : „Ich bin tot ! ", aber die Kugel war nur eine matte und fiel ihm herunter auf die Füße.

Er bekam aber eine

Beule, halb so dick wie eine Fauſt und konnte seinen Tschako nicht mehr aufſeßen, sondern mußte mit einem großen Tuch um den Kopf weiterfechten. Sie kamen kurz darauf nach dem kleinen Städtchen Lauchstädt bei Merseburg, da sollten sie die Nacht einquartiert werden.

Im Tor-

schreiberstübchen saß ein alter Torschreiber in höchster Not und konnte mit den Quartierbillets nicht fertig werden, da tritt ein junger Jägeroffizier heran und sagt freundlich : „Alterchen, soll ich Ihnen ein wenig helfen ? "

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Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

Und nun sind die Quartierbillets geſchrieben und ausgeteilt. Den andern Morgen ging's wieder vorwärts ; die Franzosen unter Napoleons persönlichem Befehl hatten sich bei Freyburg a. Unstrut feſtgeſeßt, da kam's wieder zum Kampf. Plöglich fühlte der Onkel einen Stich, wie mit einem Degen und im Augenblick finkt er zusammen. Eine Franzosenkugel hatte ihm die linke Bruſt durchbohrt. Der Kampf tobte eine Weile hin und her, Schneeberg hatte auch vorwärts gemußt, dem Feinde entgegen. Endlich find die Franzosen in die Flucht geschlagen, die Verwundeten werden zusammengetragen und auf Wagen geladen.

Ein Doktor geht beim durch-

schossenen Leutnant v. Bode vorbei und sagt : „Den laßt nur liegen, mit dem geht's doch zu Ende." Da kommt der treue Schneeberg daher, findet seinen Herrn und trägt ihn allein mit seinen Armen auf einen Wagen, auf dem ſchon mehrere Verwundete liegen.

Die Verwundeten ſollten so-

fort weiter transportiert werden nach Halle, viele Meilen weit, sie fuhren durch Lauchstädt. Der treue Schneeberg denkt, bis Halle hält's mein Herr nicht aus und läuft in Lauchstädt zu dem alten Torschreiber, welchem der Onkel die Quartierbillets geschrieben hatte ; der kommt gleich gelaufen und trägt den Todesmatten in ſein kleines Häuschen.

Da lag nun der

Onkel im kleinen Torwärterſtübchen auf der Erde auf Stroh, denn die Leute hatten kein Bett, was so lang war, wie der lange Leutnant. Er war so matt, daß er nicht sprechen konnte, und die armen Leute hatten in dem ausgehungerten Städtchen nichts wie Kartoffeln zu eſſen, aber sie taten ihm alles Gute, was sie ihm nur an den Augen absehen konnten. Schneeberg macht sich nun sein Lager quer zu den Füßen des tödlich Verwundeten ; wenn der Kranke in der Nacht etwas wollte, so brauchte er, damit er nicht zu sprechen brauchte, den treuen Schneeberg nur zu treten. Allmählich fing die Wunde an zuzuheilen, aber der Kranke konnte doch schlecht Atem holen, es war, als wenn noch Unreines in der Wunde geblieben wäre. Inzwiſchen wußten die Eltern in Westfalen nichts von ihrem Sohne. Die Preußen hatten darauf alles Land bis an den Rhein von den Franzosen gesäubert, auch Westfalen war wieder frei und alles jubelte und dankte Gott. Nun war die Gefahr wieder vorüber, daß die Eltern wegen ihres Sohnes, der im preußischen Heere diente, bestraft würden. Da dauerte es auch nicht lange, da kam Nachricht vom alten Tormeister : „Leutnant v. Vodelſchwingh liegt schwer verwundet in Lauchstädt.“ In dem armen Torschreiberstübchen war inzwischen Schmalhans Küchenmeister gewesen und Schneeberg, der eine Leidenschaft hatte, nämlich, daß er ein Schnäpschen liebte, war oft mit dem Beutel an das Lager des Leutnants getreten mit den Worten : „Herr Leutnant, es piept mich im Magen. " Aber es dauerte nicht lange, da war nur noch ein einziger Sechser vorhanden, und doch merkte der Leutnant wohl, daß er jeden Tag hinausging, sich ein Schnäpschen zu holen. Da fragt er ihn, wie

Ernst v. Bodelschwingh.

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machst du das, daß du immer noch auskommst mit deinem einzigen Sechser ? Es 30gen aber damals noch immer viele Truppen durch Lauchstädt und es war in der einen Schenke großes Getümmel von Soldaten. Herr Leutnant, sagte Schneeberg, ich habe jedesmal, wenn mir mein Kümmel eingeschenkt war und ich ihn ausgetrunken hatte, meinen Sechser hoch in die Höhe gehoben und gerufen : „Hier ist mein Sechser" und es hat mir niemand ihn abgenommen. So glaubte Schneeberg seinen Durst zu stillen und seinen ehrlichen Namen zu retten. Es nähert sich ein Wagen dem kleinen Lauchstädt, vor dem ein ſteiler Berg liegt, in dem Wagen sißt die Mutter des verwundeten Leutnants, da fährt ihr der Wagen zu langsam.

Sie springt heraus und eilt auf das

Städtchen zu und begegnet einem Wandersmann, den sie fragt : „Kennen Sie den Leutnant v. Bode ?" - „Ja, den kenne ich." - „Lebt er noch ?“ - Ja, er lebt noch !"

Und eilenden Fußes läuft die Mutter in das

Städtchen hinein.

Sie tritt in das Zimmer, wo auf einem Lehnstuhl der blaſſe Leutnant sitt. Welch eine Freude, als nun die Mutter dem Sohne im Arme liegt. Aber das Herz klopft zu mächtig vor Freude und ein Blutstrom dringt plöglich aus der Wunde hervor. Welch Schrecken in der großen Freude ! Aber es diente zum Heil. Die Wunde war zu früh zugeheilt, denn mit dem Blute und dem Eiter kommen noch allerlei Tuchfeyen heraus, welche die völlige Genesung erschwert hatten. Nun konnte die Mutter den Sohn selbst pflegen. Sie brachte ihn in einem besonders dazu hergerichteten Wagen nach Halle, dort genas er völlig ; aber er konnte doch nicht seinem inzwischen nach Frankreich voraufgeeilten Jäger-Bataillon folgen. Paris wurde ohne ihn erobert und Napoleon nach der Insel Elba geschickt. Er selbst wanderte nach seiner Genesung zur Fortſegung seines Studiums zur Univerſität Göttingen. Da kommt mit einem Male, wie ein Donnerschlag, die Nachricht: „Napoleon ist wieder in Frankreich gelandet, und seine alten Soldaten strömen den Fahnen wieder zu . " Preußen erklärt aufs neue den Krieg dem falschen Kaiser. Der Onkel aber ergriff sofort seinen Wanderstab und ging zu Fuß von Göttingen nach „Haus Heide“ bei Hamm in Mutter", so tritt er ins Zimmer, ich fann wieder marWestfalen. schieren, ich bin zu Fuß von Göttingen hierher gekommen, Du mußt mich wieder in den Krieg ziehen lassen !" -Da half kein Widerstreben, die Eltern mußten ihren Sohn abermals ziehen lassen. Um diese Zeit fuhr ein Wagen von Camen nach Unna hinauf ; in demselben siten zwei junge Mädchen. Wie der Wagen nach Königsborn kommt, scheuen die Pferde und gehen durch. Sie rennen gegen ein Haus und der Kutscher fliegt vom Bock und liegt schwer verwundet da, und sie tragen ihn ins Haus des Salineninspektors Pilgrim. Die beiden jungen Damen, welche mit dieſem Wagen nach dem Rhein reisen wollten, mußten sich entschließen, mit der

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Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

Und nun ſind die Quartierbillets geſchrieben und ausgeteilt. Den andern Morgen ging's wieder vorwärts ; die Franzosen unter Napoleons persönlichem Befehl hatten sich bei Freyburg a. Unstrut festgesetzt, da kam's wieder zum Kampf. Plötzlich fühlte der Onkel einen Stich, wie mit einem Degen und im Augenblick sinkt er zusammen . Eine Franzosenkugel hatte ihm die linke Bruſt durchbohrt. Der Kampf tobte eine Weile hin und her, Schneeberg hatte auch vorwärts gemußt, dem Feinde entgegen.

Endlich

sind die Franzosen in die Flucht geschlagen, die Verwundeten werden zuſammengetragen und auf Wagen geladen. Ein Doktor geht beim durchschossenen Leutnant v. Bode vorbei und ſagt : „ Den laßt nur liegen, mit dem geht's doch zu Ende." Da kommt der treue Schneeberg daher, findet seinen Herrn und trägt ihn allein mit ſeinen Armen auf einen Wagen, auf dem schon mehrere Verwundete liegen. Die Verwundeten sollten sofort weiter transportiert werden nach Halle, viele Meilen weit, sie fuhren durch Lauchstädt.

Der treue Schneeberg denkt, bis Halle hält's mein

Herr nicht aus und läuft in Lauchstädt zu dem alten Torſchreiber, welchem der Onkel die Quartierbillets geſchrieben hatte ; der kommt gleich gelaufen und trägt den Todesmatten in sein kleines Häuschen. Da lag nun der Onkel im kleinen Torwärterſtübchen auf der Erde auf Stroh, denn die Leute hatten kein Bett, was so lang war, wie der lange Leutnant. Er war so matt, daß er nicht sprechen konnte, und die armen Leute hatten in dem ausgehungerten Städtchen nichts wie Kartoffeln zu eſſen, aber sie taten ihm alles Gute, was sie ihm nur an den Augen abjehen konnten. Schneeberg macht sich nun sein Lager quer zu den Füßen des tödlich Verwundeten ; wenn der Kranke in der Nacht etwas wollte, so brauchte er, damit er nicht zu sprechen brauchte, den treuen Schneeberg nur zu treten. Allmählich fing die Wunde an zuzuheilen, aber der Kranke konnte doch schlecht Atem holen, es war, als wenn noch Unreines in der Wunde geblieben wäre. Inzwischen wußten die Eltern in Westfalen nichts von ihrem Sohne. Die Preußen hatten darauf alles Land bis an den Rhein von den Franzosen gesäubert, auch Westfalen war wieder frei und alles jubelte und dankte Gott.

Nun war die Gefahr wieder vorüber, daß die Eltern

wegen ihres Sohnes, der im preußischen Heere diente, bestraft würden. Da dauerte es auch nicht lange, da kam Nachricht vom alten Tormeister : „Leutnant v. Vodelschwingh liegt schwer verwundet in Lauchstädt." In dem armen Torschreiberstübchen war inzwischen Schmalhans Küchenmeister gewesen und Schneeberg, der eine Leidenschaft hatte, nämlich, daß er ein Schnäpschen liebte, war oft mit dem Beutel an das Lager des Leutnants getreten mit den Worten : Herr Leutnant, es piept mich im Magen." Aber es dauerte nicht lange, da war nur noch ein einziger Sechser vorhanden, und doch merkte der Leutnant wohl, daß er jeden Tag hinausging, sich ein Schnäpschen zu holen.

Da fragt er ihn, wie

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Ernst v. Bodelſchwingh.

machst du das, daß du immer noch auskommst mit deinem einzigen Sechser ? Es zogen aber damals noch immer viele Truppen durch Lauchstädt und es war in der einen Schenke großes Getümmel von Soldaten. Herr Leutnant, sagte Schneeberg, ich habe jedesmal, wenn mir mein Kümmel eingeschenkt war und ich ihn ausgetrunken hatte, meinen Sechser hoch in die Höhe gehoben und gerufen : „Hier ist mein Sechser“ und es hat mir niemand ihn abgenommen. So glaubte Schneeberg seinen Durst zu stillen und seinen ehrlichen Namen zu retten. Es nähert sich ein Wagen dem kleinen Lauchstädt, vor dem ein steiler Berg liegt, in dem Wagen sitt die Mutter des verwundeten Leutnants, da fährt ihr der Wagen zu langsam. Sie springt heraus und eilt auf das Städtchen zu und begegnet einem Wandersmann, den sie fragt : „Kennen Lebt er noch ?" Sie den Leutnant v. Bode ?" - ,,Ja, den kenne ich.“ --

Ja, er lebt noch !"

Und eilenden Fußes läuft die Mutter in das

Städtchen hinein. Sie tritt in das Zinner, wo auf einem Lehnstuhl der blaſſe Leutnant sist. Welch eine Freude, als nun die Mutter dem Sohne im Arme liegt. Aber das Herz klopft zu mächtig vor Freude und ein Blutſtrom dringt plötzlich aus der Wunde hervor. Welch Schrecken in der großen Freude ! Aber es diente zum Heil. Die Wunde war zu früh zugeheilt, denn mit dem Blute und dem Eiter kommen noch allerlei Luchfeyen heraus, welche die völlige Genesung erschwert hatten. Nun konnte die Mutter den Sohn ſelbſt pflegen. Sie brachte ihn in einem besonders dazu hergerichteten Wagen nach Halle, dort genas er völlig ; aber er konnte doch nicht seinem inzwischen nach Frankreich voraufgeeilten Jäger-Bataillon folgen. Paris wurde ohne ihn erobert und Napoleon nach der Insel Elba geschickt. Er selbst wanderte nach seiner Genesung zur Fortſebung seines Studiums zur Universität Göttingen. Da kommt mit einem Male, wie ein Donnerschlag, die Nachricht: Napoleon ist wieder in Frankreich gelandet, und seine alten Soldaten strömen den Fahnen wieder zu." Preußen erklärt aufs neue den Krieg dem falschen Kaiser.

Der Onkel aber ergriff ſofort ſeinen Wander-

stab und ging zu Fuß von Göttingen nach „Haus Heide “ bei Hamm in Westfalen.

„Mutter“, so tritt er ins Zimmer,

ich kann wieder mar-

schieren, ich bin zu Fuß von Göttingen hierher gekommen, Du mußt mich wieder in den Krieg ziehen lassen ! " Da half kein Widerstreben, die Eltern mußten ihren Sohn abermals ziehen lassen.

Um diese Zeit fuhr

ein Wagen von Camen nach Unna hinauf ; in demſelben ſizen zwei junge Mädchen. Wie der Wagen nach Königsborn kommt, scheuen die Pferde und gehen durch. Sie rennen gegen ein Haus und der Kutscher fliegt vom Bock und liegt schwer verwundet da, und sie tragen ihn ins Haus des Salineninspektors Pilgrim. Die beiden jungen Damen, welche mit diesem Wagen nach dem Rhein reisen wollten, mußten sich entschließen, mit der

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Zweiter Abschnitt: Gymnasialzeit.

Post weiterzureisen und wandern deswegen nach Unna zu Fuß hinein. Wie sie dort auf dem Marktplay in Unna auf den Abgang der Post warten, kommt ein Wagen vorgefahren vor dem Posthause, und aus demselben steigt ein hoher blasser Offizier, der auch mit der Post nach dem Rhein reisen will. Das war Ernst v. Bodelschwingh, und die jüngere der beiden jungen Mädchen hieß Charlotte v. Dieſt, und das war die Schwester meines Vaters . Auf dieſer Reise hatten sich die beiden kennen gelernt ; ſo müſſen denen, die Gott lieben, alle Dinge, auch das Durchgehen der Pferde, zum Besten dienen. Mein Onkel hat diesmal auf einem Schimmel den Feldzug mitgemacht und ist unversehrt in Paris mit eingezogen . kehr studierte er fleißig in Göttingen weiter.

Nach seiner Rück-

Sein König hatte ihn für

ſeine Tapferkeit bei Leipzig mit dem Eisernen Kreuz 1. Klaſſe geziert, vorher bei Lüßen mit dem 2. Klasse. Manchmal mußte er den Studenten zu Liebe seinen Rock mit dem Eisernen Kreuz anziehen und mit ihnen an der Wache vorübergehen, damit

diese vor ihm herausrufen müßte.

Übrigens war er troß seiner Wunde der tapferſte Fußgänger der Göttinger Studenten. Er war es, der mit nur noch zwei anderen Göttinger Studenten in einem Tage auf den Brocken heraufging, das sind fünfzehn Stunden, um dort die Sonne aufgehen zu sehen, und dann an diesem Lage wieder nach Göttingen zurückzukehren. Einmal ist auch der Onkel von „ Haus Heide" in 11 Wochen nach Neapel und zurück marschiert, ohne ein Rad unter den Füßen zu haben, außer dem der Dampfschiffe der Schweizer Seen. Schon vor dem Kriege war der Onkel einmal in den Weihnachtsferien von Berlin nach Heide gegangen und zwar über die zugefrorene Elbe hinweg. Er war zugleich mit der Post weggegangen und kam einige Stunden vor der Post in Hamm an. Als er seine Studien beendet hatte und sein Examen bestanden, zog er eines Tages , nur mit seiner Jagdtasche, in welcher er seine Wäsche und Kleidungsstücke hatte, und mit seiner Flinte bewaffnet, nach dem Schlosse Kappenberg hinauf, woselbst dazumal der Freiher vom Stein, der tapfere Vorkämpfer deutscher Freiheit gegen französische Tyrannei, ſein Daheim einrichtete.

Der junge

Referendar wurde der Liebling des greisen Miniſters, der ihn längere Zeit in seinen persönlichen Angelegenheiten beschäftigte. Nicht lange darauf ist der Onkel Aſſeſſor bei der Regierung in Cleve und von da aus Landrat des Kreises Tecklenburg geworden. In das freundliche „Haus Mark" bei Tecklenburg, ein jeit alten Zeiten der Familie v. DiepenbroickGrüter gehöriges Landgut, hat er jenes Fräulein, das er im Postwagen zwischen Unna und dem Rhein kennen gelernt, als seine treue Hausfrau eingeführt und dort, wie er mir später oft erzählt, die glücklichste Zeit seines Lebens zugebracht. Nachdem er nur wenige Jahre Oberregierungsrat und Regierungspräsident in der Rheinprovinz gewesen war, wurde er schon 1835 — alſo

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Leipzigerplatz 14.

verhältnismäßig ſehr jung

-

Oberpräsident der Rheinprovinz.

Im

Jahre 1842 berief ihn Seine Majestät als Finanzminister nach Berlin, ein Ministerium, welches er später mit dem Kabinettsministerium und endlich mit dem Miniſterium des Innern vertauschte.

In dem kleinen

Buche, welches ich über meine Erinnerungen aus dem Jahre 1848 herausgegeben, habe ich die Stellung, welche Onkel Ernst an der Spize der Staatsregierung bei der März-Revolution eingenommen, des näheren dargelegt und freue mich, daß es mir gelungen ist, endlich nach Verlauf von 50 Jahren den Vorwurf gänzlich zu widerlegen, welcher gegen meinen Onkel immer wieder erhoben worden war, als habe er am 19. März die Zurückziehung der siegreichen Truppen von den Straßen und Plägen Berlins veranlaßt. Nachdem er einige Jahre auf seinem Familiengute Velmede ein stilles, aber reizendes Familienleben geführt, übrigens auch noch ein Mandat zum Abgeordnetenhause angenommen hatte, ließ er sich im Jahre 1850 zum Regierungspräsidenten von Arnsberg ernennen. Denn er wollte,

wie

er sich selbst mir gegenüber ausdrückte, „seine

Miniſterpenſion nicht ohne eine Gegenleistung

an Arbeit gegenüber

König und Vaterland sich zahlen lassen". Auf einer Dienstreise suchte ihn 1854 sein wiederholtes böses Leiden, die Lungenentzündung, wiederum heim, und er schloß nach einem tatenreichen Leben seine geliebten Augen, zur Trauer all der vielen Tausende, die ihn verehrt und geliebt haben. Doch ich kehre nun zu meiner Lebensgeschichte zurück :

Mein Vater

zog 1840 in eine sehr schöne Wohnung auf dem Leipzigerplatz Nr. 14. Hier hatten wir drei Söhne jeder ein eigenes großes Zimmer, und der geräumige Hof wurde bald mit zahllojen Tieren bevölkert. Mitten in Berlin befanden wir uns wie auf dem Lande, denn neben den Wagenund Reitpferden meines Vaters hatten wir eine Menge von Hunden aller Art, von Hühnern, Puten und Enten.

Für die letteren wurde ein

besonderer Teich gegraben und ausgemauert. Mein jüngerer Bruder Wilhelm hatte einen Hauslehrer, der besonders tüchtig als Theologe war und als Tierfreund stets einen kostbaren Humor entwickelte ; es war der spätere Pfarrer in Westfalen, Kupsch. * ) Er hatte z . B. allen den 14-16 Hähnen, die wir hatten, einen beſonderen Beinamen gegeben, und da unsere Schlafſtuben nach dem Hofe heraus lagen, und wir die Hähne morgens in unseren Betten frähen hören konnten, ſo mußten wir schleunigst den Namen des Hahnes ausrufen, welcher gerade gekräht hatte. Wer richtig riet, erhielt eine Belobigung. Der kleine Garten, dicht am Hofe, stieß mit seiner Mauer gegen den großen Park des Voßschen Palais am Wilhelmsplay. Da kletterten wir denn häufig auf einen Baum *) Gestorben 1889 als Superintendent in Drechen bei Rhynern. v. Diest, Lebenslauf eines Glücklichen.

4

50

Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

diesseits herauf und an einem Baum jenseits herunter und betrachteten den Voßschen Garten ganz wie unser Eigentum. Besonders erfreute uns aber, daß im Nachbarhause der Pferdehändler Fürstenberg * ) eine bedeckte Reitbahn hatte, so daß wir bei schlechtem Wetter in dieser Bahn, bei gutem Wetter aber in dem nahen Tiergarten gründlich reiten lernen konnten. Sei es zusammen mit meinem Vater, sei es allein, habe ich so täglich ein und zwei, ja manchmal sogar drei Pferde ausgeritten. Eine unſerer Stuten bekam ein Fohlen, und dies begleitete uns zur Freude aller uns Begegnenden bei unseren Spazierritten im Tiergarten. So find wir Kinder alle durch meinen Vater zu großen Tierfreunden erzogen worden, und wir haben ihm das immer herzlich gedankt. Ein Kinderherz, so sagte er, wird besser, wenn es Liebe, auch zu Tieren, in ſich aufnimmt, wenn es lernt, ſein Brot mit ihnen zu teilen. Mein Vater erteilte mir damals den Auftrag, die Anciennetätsliſte der Generale abzuschreiben.

Eine solche Liste für alle Offiziere der Armee

eriſtierte damals nur im Kriegsministerium, aber der alte Freund meines Vaters, der General v. Quadt, der schon 1792 Offizier geworden war, besaß eine solche Liste. Ich erbat sie mir von ihm, und er gab sie mir mit der Bemerkung : " Gustav, Du stehst mir dafür mit Deinem Kopfe, daß dieses Geheimnis , das ich Dir hiermit gebe, nirgend bekannt wird. “ Ich habe nun nach dem Staatsanzeiger jahrelang alle Personalveränderungen in der Generalität in meine Liste eingetragen, und nur ganz selten fragte mich mein Vater : Wie stehe ich in meiner Anciennetät ? “ Erst 1848 (angeblich durch eine Indiskretion im Kriegsminiſterium veranlaßt) erschien die Anciennetätsliste für die gesamte Armee, nachdem schon vorher eine solche Liste für die Generale und Stabsoffiziere erschienen war.

Wie anders ist es jetzt gegen damals !

Jeder Offizier

betreibt das Studium der Anciennetätsliste mit maßlosem Eifer, und Leider ist dieses Studium meistens mit bitterem Beigeschmack versehen ; denn fast kein Offizier ist mit seinem Avancement völlig zufrieden, und auch noch nach seinem Abschied denkt er immer daran, was er seiner Anciennetät nach sein würde, wenn er nicht den Abschied genommen. Meinen Vater besuchten viele bedeutende Männer, und da konnte ich denn oft Ohrenzeuge sein von den Gesprächen, die sie führten, denn ich erledigte meine Schularbeiten in meines Vaters Zimmer .

So hörte

ich denn viel von den damaligen politischen Ereignissen und namentlich von der Gefahr eines Krieges gegen Frankreich. Ich erfuhr mehr als mancher Junge in meinem Alter von der " grämlichen Verdrießlichkeit", wie Treitschke sie nennt, welche damals das große Publikum beherrschte, *) In diesem Hause wohnte derzeit der junge Major v. Moltke, damals noch von niemandem als der spätere größte Feldherr erkannt.

Hofprediger Theremin.

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welches nach der erhebenden Huldigungsfeier zuversichtlich gehofft hatte, daß irgend etwas Außerordentliches sich ereignen müsse und nun vergebens auf dieses Außerordentliche wartete. Meine Gymnasialfreunde und ich waren aber im großen und ganzen völlig antiliberal geſtimmt, und diese Stimmung steigerte sich bei verschiedenen einzelnen Anläſſen. So war z . B. der frühere furhessische Minister Hassenpflug an das Berliner Obertribunal berufen, und ſeine Söhne besuchten mit uns das Friedrich Wilhelms - Gymnaſium. Das liberale Berliner Publikum war nun aufgebracht über die Berufung eines solchen Reaktionärs und ein Gedicht wurde nach der Melodie des damals neuen Rheinliedes gesungen mit folgenden Reimen :

„Wir wollen ihn nicht haben, Den Herrn von Haß und Fluch! Scheinheiliger Gespiele Im frommen Höflingstroß Der Stolberg, Gerlach, Thile, Der Radowih und Voß."

Alle diese fünf patriotischen Männer kannte mein Vater, und dadurch auch ich, persönlich, und ich fühlte die Beleidigung, die ihnen in dieſen Versen zugeschleudert wurde, als ob sie mir selbst zugefügt wäre. Ebenso wurde der berühmte Professor Stahl, als er damals an die Berliner Universität berufen wurde, mit den entsetzlichsten Schmähungen überhäuft, obwohl er doch einer der bedeutendsten Juristen und Politiker war, welche die preußische Geschichte aufzuweisen hat. Er war ein getaufter Jude und jah entseglich jüdisch aus , so daß mein kleiner dreijähriger Neffe, Siegfried v. Quast, der Aufforderung seiner Eltern, dem Professor die Hand zu reichen, nicht Folge leisten wollte, denn einem Juden gebe er keine Hand. Dabei war aber Stahl tief durchdrungen von den Glaubenswahrheiten des Christentums, und ich bin bis an seinen Tod sein großer Verehrer geblieben. Vom Jahre 1841 bis 1843 genoß ich den Konfirmanden- Unterricht bei dem Hofprediger Theremin, dieſem bedeutenden Theologen und Kanzelredner. Jeden Dienstag und Freitag von 11 bis 12 Uhr ging ich mit Freuden in das Voßsche Palais, in welchem Theremin zu ebener Erde seine Wohnung hatte. Auch der Faulste unter uns Knaben wurde bei diesem Lehrer fleißig, so belebend und wirksam war sein Unterricht.

Es

standen ihm bei seiner Gründlichkeit keinerlei äußere Mittel zur Verfügung, um die Disziplin aufrecht zu erhalten ; so strafte er die manchmal zu spät kommenden Schüler nur mit den einfachen Worten : „ Sie kommen zu spät“, aber diese Worte wurden in einem Tone und mit einer Stimme gesprochen, die tief zu Herzen ging und mir noch heute in den 4*

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Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

Ohren klingt.

Meine Einsegnung erfolgte im Dom am 9. Mai 1843 vor zahlreich versammelter Gemeinde, denn die Gelegenheit, Theremin zu hören, der nur alle vier Wochen predigte, wurde von keinem versäumt,

der ihn je mit Andacht gehört hatte. Zu meiner großen Beängstigung gereichte es mir, daß ich von Theremin auserwählt wurde, im Namen aller meiner Mitkonfirmanden ein Glaubensbekenntnis vom Altare aus vor der ganzen großen Gemeinde abzulegen. Leider habe ich das Konzept zu dieser meiner ersten öffentlichen Rede verloren ; froh war ich nur, daß ich dabei nicht zu Schanden wurde. Mein Einsegnungsspruch war : „Kämpfe den guten Kampf des Glaubens ; ergreife das ewige Leben, dazu du auch berufen bist und bekannt haft ein gut Bekennt nis vor vielen Zeugen" ( 1. Tim. 6 , V. 12) . Unvergeßlich wird mir die erste Abendmahlsfeier an der Seite meines Vaters bleiben. Bei jedem meiner späteren Besuche der Gottesdienste im Dom und auch in der jezigen Dom- Interimskirche sehe ich mir mit herzlichem Intereſſe den schönen Altar immer wieder an, vor welchem und an welchem ich so ergreifende Erlebnisse gehabt habe. Theremin hatte übrigens auch meine Liebe Schwester Marie eingesegnet und getraut, ja meine Schwester war sogar noch ein ganzes Jahr nach ihrer Einſegnung in den Konfirmandenunterricht gegangen, auch war sie eng befreundet mit der schönen Tochter des Hofpredigers, Anna Theremin. Ich habe in späteren Jahren Theremins Werke gern gelesen und namentlich für seinen Vorschlag mich sehr erwärmt, wonach der Unterricht auf den Universitäten mehr in Form eines Dialogs zwischen Lehrern und Schülern stattfinden solle. Wohl glaube ich, daß die Art, wie Plato den Sokrates in einem Dialoge ſeine Schüler unterrichten läßt, dem Hofprediger Theremin bei seinem Vorschlage vorgeschwebt hat. Freilich würde nicht jeder Profeſſor für dieſe Art des Unterrichts geschickt genug sein, auch ist es ja viel leichter, jahr aus, jahrein denselben Vortrag im Monolog zu halten oder gar abzulesen. Aber lernen würden Lehrer und Schüler gewiß viel mehr, wenn sie in einem Gespräch miteinander den oft langweiligen und doch so wissenswürdigen Stoff der sogenannten Vorlesungen besser beherrschen Iernten. Im Herbst 1844 fand auf meinem Gymnasium eine höchst gelungene Aufführung der Antigone in griechischer Sprache ſtatt. Es war dies ein Ereignis, welches uns Primaner alle lange Zeit vorher und nachher mit dem lebhaftesten Interesse erfüllte. Dieses klassischste Stück des großen Sophokles hatten wir unter Leitung unseres verehrten Profeſſor Yrem gründlich durchstudiert und gaben uns nun alle Mühe, die Aufführung so klassisch wie möglich zu gestalten. Die Auswahl der Rollen war nicht leicht zu treffen, erfolgte aber schließlich unter voller übereinstimmung der Lehrer mit uns Schülern.

Vor allem machte die Besetzung der weib-

Antigone.

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lichen Rollen besondere Schwierigkeiten. Von allen Seiten erfuhren wir die erfolgreichste Unterstüßung. So übernahm der bekannte Professor Strack, der bedeutendste Kenner des griechischen Theaters, die Einrichtung der Bühne wie des Plates für den Chor. Felix Mendelssohn half unserem alten Musikdirektor Rey bei der Einübung seiner nicht lange vorher komponierten Chöre, welche natürlich auch griechisch gesungen wurden. Vom königlichen Theater bekamen wir die Kostüme bereit willigst geliehen. Die Einladungen ergingen an Seine Majestät und die Prinzen des Königlichen Hauses, die Staatsminister und alle Spizen der Behörden, namentlich der Schulbehörden. Die Pläße der Aula waren sämtlich beseßt, da die meisten der Geladenen erschienen waren, mit Ausnahme Seiner Majestät, der, so weit ich mich erinnere, verreiſt war. Die Titelrolle war dem Primaner v. Arnim (dem Mathematiker) übertragen, Antigones Schwester Ismene stellte der Graf Victor Westarp dar, auch waren zwei Hofdamen auserwählt, unter denen mein spezieller Freund, Arthur v . Wolff, durch seine schönen roten Vacken besonders wahrscheinlich erschien, während Antigone und Ismene nicht gerade durch äußere Schönheit glänzen konnten, aber doch mädchenhaft aussahen. Die Hauptrolle, König Kreon, wurde meiſterhaft durch den primus omnium, Eduard Scholler, gegeben, ja, das allgemeine Urteil ging dahin, daß er diese Rolle viel besser vertreten habe, als der damals berühmte Schauspieler Rott auf dem Königlichen Theater. Ich selbst sollte als Angelos die lange Rede am Schluß des Stückes übernehmen, trat aber schließlich kurz vor der Aufführung diese Aufgabe dem mir auch befreundeten Abiturienten Gallwit ab, da ich als erster Tenor im Chore für notwendig befunden wurde.

Man kann sich denken, was für vergnügten Unſinn wir jungen Leute vom Stapel laufen ließen, namentlich, als bei den letzten Proben die Theaterkostüme angelegt wurden . Die alten griechischen Heldinnen wurden in ihren Kostümen auf die Schultern

gehoben und im Triumph durch die Korridore und Flure des Gymnasiums herumgetragen. Die Aufführung selbst ging ohne Tadel und Anstoß von statten; wir Mitwirkenden alle waren aber natürlich fest davon überzeugt, daß wir unsere Sache vortrefflich gemacht hätten. Ich habe auch sonst wiederholt ähnliche Aufführungen von klaſſiſchen Theaterstücken durch Gymnaſiaſten erlebt. So hatten z . B. die Schüler des Friedrich Werderschen Gymnasiums, und darunter auch mein Bruder Otto, Ende der 30er Jahre die Captivi von Plautus in lateinischer Sprache aufgeführt, bei welcher Gelegenheit auch die von Taubert komponierten Horazschen Oden für vierstimmigen Männergesang vorgetragen wurden.

Ich lernte damals zu meiner Freude Taubert selbst kennen

und war beſonders entzückt, als ich das später ſo oft gesungene „ Integer vitae" zum erstenmal hörte.

Die Hauptrolle in diesem Stück gab ein

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Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

langer Primaner, v . Mellenthien, ganz vortrefflich, und ich ſtand dabei, als der junge Prinz Wilhelm (Kaiser Wilhelm der Große) dieſen jungen Mann mit den Worten belobte : „Ich habe zwar kein Wort von dem ganzen Stück verstanden, da ich nicht so viel Lateinisch kann, aber es scheint mir doch, als ob Sie Ihre Rolle meisterhaft durchgeführt haben." Auch bei späteren Aufführungen dieser Art, wie z . B. vor einigen. Jahren die des „Philoktet“ von den Gymnaſiaſten zu Wittenberg und noch vor ganz kurzer Zeit die der „Phönizierinnen " des Euripides von den Schülern der Frankeschen Anstalten zu Halle, habe ich stets die Beobachtung gemacht, daß eine Menge von Kräften auf dem Gebiete der darstellenden Künste in unserem deutschen Volke schlummern, die nur einmal bei solchen Gelegenheiten wachhgerufen werden . Jammerſchade iſt es, daß diese Kräfte fast nie wieder, als nur das eine Mal, zum Vorſchein kommen, da sie ja von keiner Seite her gebraucht und gerufen werden. Wie anders war dies bei den Griechen und Römern, wie mächtig wirkte da das Theater auf die Bildung des Volks ! Ja selbst ein Sokrates foll das Theater stets besucht haben, wenn ein Stück des Euripides aufgeführt wurde ; und nach dem unglücklichen ſiziliſchen Feldzuge 413 vor Chriſti Geburt erfuhren viele der gefangenen Athener von den Feinden nur darum eine mildere Behandlung, weil sie Stellen aus den damaligen griechischen Theaterstücken vorzutragen wußten.

Wie schön wäre es,

wenn diese Macht, welche der Dichtergenius auf die Menschenherzen auszuüben vermag, auch von den Bühnen unserer modernen Theater herab zur Geltung fäme ! Die Idee, deutsche Volksbühnen zu schaffen, auf welchen nicht Schauspieler von Profeſſion, sondern Kräfte aus allen Berufsarten des Volfes heraus ihre Talente verwerten können, hat mich darum von jeher lebhaft interessiert. Die Oberammergauer Festspiele, die Volkstheater in Rothenburg, die Lutherfestspiele in der neuesten Zeit 2c. liefern den Beweis, daß solche Unternehmungen sicheren Erfolg versprechen. Der Dichter Herrig, welcher diese Idee durchzuführen sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte, ist leider zu früh verstorben . Als er mich nach der sehr gelungenen Aufführung seines Lutherfestspiels in Wittenberg und Halle auf dem Schloſſe in Merseburg besuchte, kam ich mit ihm darauf zu sprechen, daß nicht gerade viele historische Stoffe sich so gut für eine Volksbühne eigneten, wie gerade Luthers Leben, ich schlug ihm aber den Fall Jerusalems " als einen solchen Stoff eindringlichst vor, weil gerade in denselben Tagen das schöne Oratorium unter des Komponisten Blumner Anwesenheit in der Domkirche zu Merseburg aufgeführt worden war. Herrig schwieg auf diesen meinen Vorschlag, aber wie erstauni war ich, als er mir schon am folgenden Tage von Berlin her sein ergreifendes Volkstheaterstück „Der Fall Jerusalems " zusandte. Herrig

Harzreise.

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hat ja eine ganze Reihe von solchen Dramen für die Volfsbühne hinterLassen; Gott gebe, daß sie nicht bloß auf dem Papier gedruckt und von dem deutschen Publikum ungekannt bleiben . Hat ja doch unseres Kaisers Majestät an dem Jubiläumstage seiner zehnjährigen Regierung eine Anrede an die Mitglieder des Königlichen Theaters gehalten, welche ein Vorwärtsschreiten dahin hoffen läßt, daß der Materialismus der heutigen Zeit durch den Idealismus , der bei den Griechen und Nömern durch das Theater so mächtig gefördert wurde, auch in unserem deutschen Volke siegreich bekämpft werde. Noch muß ich einiger größerer Reisen gedenken , welche ich als Primaner der unerschöpflichen Liebe meines seligen Vaters verdanke. Ich habe später oft als die schönste Reise meines Lebens die bezeichnet, welche mich, vereint mit meinen beiden intimsten Freunden, Arthur v. Wolff und Anton v. Roeder, in den Harz führte. Jeder von uns bekam zu dieser Reise die nach unseren damaligen Begriffen unermeßliche Summe von 25 Talern geschenkt mit der Erlaubnis, so lange reiſen zu dürfen, als dies Geld es uns gestatte. Welche Seligkeit erfüllte uns auf dieſer ganzen Reise, die uns zuerst auf der einzigen fertigen Eisenbahn von Berlin nach Magdeburg führte, von wo wir dann über Egeln bis Halberstadt in großartiger Weise Extrapost nahmen, da drei Billets auf der Fahrpoft teurer gewesen wären als eine Extrapost. Jeder Tag dieser Fußreise steht mir noch heute vor der Seele. Wir wanderten im Zickzack durch den ganzen Harz hindurch. Die Viktorshöhe, der Brocken wurden bestiegen und all die herrlichen Täler wurden durchschritten, die gerade den Harz auszeichnen. Meine beiden, wenig musikalisch angelegten Freunde waren sehr erstaunt über meinen Vergleich, daß die Harztäler den Werken der damals schon von mir am höchsten verehrten Komponisten entsprächen. Das sanfte Selke-Tal erinnere an Haydn, das liebliche Jlse-Tal an Mozart, das rauschende Holzemme-Tal an Mendelssohn, und vor allen Dingen das mächtige Bode-Tal an Beethoven . Auch bei meinen späteren häufigen Harzreisen bin ich immer wieder auf diesen jugendlichen Gedanken zurückgekommen. Es würde zu weit führen, all die einzelnen Erlebnisse auf dieser herrlichen Wanderung hier zu schildern, an jedem Tage aber von früh bis spät 30g durch unsere Seelen der Gesang der beiden schönen Lieder, das erste von Mendelssohn schon damals, das zweite von meinem Freund Keudell später komponiert : Leise zicht durch mein Gemüt liebliches Geläute ", und : „ Klinge, kleines Frühlingslied, kling hinaus ins Weite".

„Ein Blatt aus sommerlichen Tagen, Ich nahm es so im Wandern mit, Damit es einst Dir möge sagen, Wie hell die Nachtigall geschlagen, Wie grün der Wald, den ich durchschritt."

56

Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

Manches Mal freilich haben wir drei uns auch gezankt, namentlich im Streite darüber, welcher Weg einzuschlagen sei .

So z . B. trennten wir

uns im oberen Selke-Tal, und jeder ging ſeinen eigenen Weg nach dem Städtchen Stolberg zu . Hundemüde, nach Beſteigung der Josephshöhe dort angekommen, folgte beim erquickenden Glaſe heiterſte Versöhnung. Solch kleine Streitigkeiten dürfen ja eigentlich in dem treusten Freundschaftsbunde, wie auch in der glücklichsten Ehe nicht fehlen, sonst würde ja das gemeinschaftliche Leben sehr langweilig sein.

Sehr groß kamen wir

uns vor, als wir in unserem schon etwas mitgenommenen Reiſeanzug auf das Schloß in Wernigerode geladen wurden.

Der damalige Vor-

mund des erst fünfjährigen Besizers, Graf Stolberg, war von den Kriegszeiten her sehr bekannt mit dem Vater meines Freundes, dem General Karl v. Roeder, dem Adjutanten Friedrich Wilhelms III ., dieſem vortrefflichen Manne, dem bei Leipzig ein Auge ausgeschossen worden war . Wir wurden herrlich bewirtet. - Auf der Roßtrappe versezten wir uns ganz unbewußt in unseren ersten Rauſch, denn das Birkenwaſſer, welches wir bei unserem Durst nach langer heißer Wanderung uns fredenzten, tat das Seinige, ohne daß wir ahnten, daß dies Getränk so böse Folgen hat.

Nach unserer Rückkehr in Berlin erfreuten wir unsere Familien

durch die lebhaftesten Erzählungen von unseren Reiseabenteuern . Mein Vater mußte 1842 eine Kur in Karlsbad gebrauchen; dorthin nahm er mich mit, ja sogar mein Cellokasten wurde auf den Wagen hinten aufgeschnallt. Auch Karlsbad kam mir wie ein Paradies vor, und es iſt ja auch eins, wenn man nicht gerade in der heißen Zeit dort ist. Neben meinen Ferienarbeiten und neben den Telloſtunden, die ich bei einem Solospieler der dortigen ausgezeichneten Kapelle mit Namen Hünten täglich erhielt, konnte ich gründlich in den herrlichen Bergen und Wäldern umherstreifen. Da mein Vater sehr schöne Angeln besorgte, so gingen wir häufig nach der Eger, aus der wir manchen großen Fisch herauszogen. Das schöne Karlsbad habe ich erſt 50 Jahre später wiedergeſehen, als meine Frau dort eine wirksame Kur gebrauchte. Ich kam mir wie ein Methusalem vor, als ich 1892 den Karlsbader Einwohnern, die zwischen 50 und 60 Jahre alt waren, genau erzählen konnte, welches Bild Karlsbad in seinen einzelnen Stadtteilen gehabt habe, wie die neue Wiese faſt noch gar nicht bebaut gewesen sei, wie dort am Ende derselben ein altes, häßliches Gebäude als Theater gedient habe, wie gegenüber, am Ende der alten Wiese, ein einfaches, sogenanntes Kurhaus gestanden, wo jezt die gewaltigen Bauten des Gasthofs und der Vergnügungslokale von Popp ihre Stelle gefunden, wie die schöne evangelische Kirche 1842 noch nicht vorhanden gewesen, wie herrlich die Verschönerungsanlagen sich entwickelt, und ebenso die Pflege der Musik durch die klassischen Kon-

Karlsbad.

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zerte von drei Orchestern. Nur alt war geblieben und hoffentlich auch fünftig für alle Zeiten wird ewig jung bleiben : die Karlsbader Quelle mit allen ihren Kindern, dem Sprudel, dem Mühlbrunnen, dem Schloßbrunnen 2c. Glänzend waren die Erfolge der Kur 1842 für meinen seligen Vater, wie 1892 für meine Frau. Noch einer anderen schönen Reiſe muß ich Erwähnung tun, welche mich 1843 mit meinem Bruder Wilhelm und dessen Hauslehrer, dem Kandidaten Klewig (später Superintendent in Eilsleben) , nach Heringsdorf führte. Die Küsten der Inseln Uſedom und Wollin find mir genau bekannt geworden, da mich schon 1840 mein Vater in das Seebad Swinemünde mitgenommen hatte, und da ich auch in späteren Jahren die Badeorte Misdron und Zinnowitz aufgesucht habe, sowie außerdem auch noch bei meinem alten Gymnasialfreund Auguſt Götze in seiner Oberförsterei Budagla, unweit Heringsdorf, auf die Jagd gegangen bin.

Die Veran-

lassung, daß wir Brüder im Jahre 1843 nach Heringsdorf geschickt wurden, war die, daß meine Tante Lottchen Bodelschwingh mit ihren Kindern zur Seebadekur für

ihren

gelähnten

Sohn

Karl

mehrere

Wochen in einer Fischerhütte unweit des Strandes der Ostsee sich niedergelaſſen hatte. Heringsdorf war damals ein Rittergut eines alten Herrn v. Bülow, und wir beiden Brüder wohnten in einer Giebelstube des sogenannten Inspektorhauses auf der Höhe mit herrlicher Aussicht. In dem Hause des Herrn v. Bülow aber wohnte die Frau des Oberhofbuchdruckers Decker mit ihrer wunderschönen Tochter Anna.

Täglich

wurde gebadet, und nach dem Vade ging ich gewöhnlich allein in den Hochwald, um Stellen aus dem Homer oder den des Horaz auswendig zu lernen.

Bei einem solchen Waldspaziergang begegnete mir Fräulein

Anna Decker mit ihren lang herunterhängenden, nach dem Seebade noch aufgelöſten blonden Haaren, und wir gingen miteinander. Da war es denn ganz natürlich, daß der kleine Gott Amor seinen Pfeil tief in mein Herz schoß, und daß ich die Wunde dieses Pfeils noch lange Jahre nachher spürte, wenn ich die junge Dame bei den verschiedensten Gelegenheiten in Berlin wiedertraf. Sie hat demnächst einen Herrn v. Reuß in Schlesien geheiratet. Die Mutter lud mich zu Tanzvergnügungen, welche in dem Inspektorhause unter unserer Wohnung stattfanden, ein, aber niemals habe ich es mehr bedauert, als dort in Heringsdorf, daß wir Geschwister alle niemals Tanzstunden gehabt hatten, und daß ich darum nicht wagte, mich als einen des Tanzens ganz Unfundigen zu blamieren . Der Neid packte mich, daß meine beiden Gymnasialfreunde, die Grafen Westarp, die auch in Heringsdorf waren, mit all den jungen Mädchen zu Tanze gehen konnten. Auch mein Onkel Ernst Bodelschwingh kam damals zum Besuch seiner Familie nach Heringsdorf ; es begleitete ihn ein Geheimrat Aster vom Finanzministerium

( Sohn des berühmten In-

58

Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

genieurgenerals After und Bruder meines Gymnasialfreundes ) , welcher uns alle durch seine unglaubliche Geschicklichkeit in allerlei Künſten eines Clowns in Erstaunen sette. Wie hat sich auch Heringsdorf verändert ! Als ich 1896 von Zinnowiß aus wieder dorthin kam , konnte ich mich gar nicht mehr zurechtfinden, denn statt der lieblichen Idylle von früher fand ich eine Art von Vorstadt von Paris oder ein französisches Seebad à la Trouville vor. Diese Menge von großartigen Hotels, Restaurants, Kurhäusern, ein langer, in die See hineingebauter Steg, eine Unzahl von Villen waren inzwischen entstanden. Der geliebte „ Gollm ", eine hohe Sanddüne mit alten Buchen darauf, der frühere Lieblingsplatz aller Naturschwärmer und liebender Herzen, war bis an seinen Gipfel von Lurushäusern und Lurusgärten eingenommen. Kurz, Heringsdorf wollte mir gar nicht mehr gefallen, wenn auch freilich die Wälder und die Seen (wie z . B. der Corswand- und Gothensee) , und auch das Meer dieselben geblieben find. Was ist auch aus dem erbärmlichen Fischerdorf Ahlbeck und aus dem früher so öden Seebad Swinemünde geworden! Doch nun muß ich eines Hauptereigniſſes für unser ganzes Familienleben gedenken, durch welches dasselbe reicher, fröhlicher und ſegensvoller wurde als je vorher. Mein geliebter Onkel Ernst Bodelschwingh war 1842 als Finanzminister von Koblenz nach Berlin versezt worden. Wie kann ich dem lieben Gott genug Dank jagen für alle die Liebe, die ich von allen Gliedern dieser so reich gesegneten Familie erfahren habe. Ich ritt bei ihrer Ankunft in Berlin bis hinter Schöneberg dem Extrapostwagen entgegen, in welchem meine Tante Lottchen und ihre mir noch unbekannten Kinder Frieda und Sophie und der gelähmte Sohn Karl saßen.

Der älteste Sohn Ludwig ſtudierte ſchon seit 1841 in Berlin, und

die anderen Söhne Franz, Friedrich und Ernst hatten die Reise für sich allein gemacht.

Welche

Völkerfeste“

so nannten wir sie - wurden

nun gefeiert, die uns zwölf Vettern und Cousinen mit ihren Freunden und Freundinnen zuerst im Finanzministerium, dann im Kabinettsminiſterium in der Wilhelmſtraße und endlich im Ministerium des Innern Unter den Linden oder auch in unserem Hause auf dem Leipziger Plat sechs Jahre lang, von 1842 bis 1848, zusammenführten. Mit Bodelschwinghs kam auch meines Vaters Schwester, unsere gute drollige Tante Jette, nach Verlin ; eine liebe einfältige Seele, die aber gerade nicht mit besonderer irdischer Klugheit behaftet war. Sie wohnte uns gegenüber auf dem Leipziger Plaz, und uns Kinder alle ergriff immer ein unverwüstliches Lachen, wenn ihr die ergötzlichsten Geschichten passierten. So z . B. erzählte sie uns im vollen Ernst, daß sie in ihrer Jugend stets von ihren beiden Schwestern dadurch gekennzeichnet worden ſei, daß Tante Cardell den Beinamen gehabt habe ,,la belle", Tante Bodel-

Abiturienteneramen.

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schwingh ,,la bonne", sie selbst aber la spirituelle"! Sie beschwerte sich auch über die Kostspieligkeit ihrer Reijen, auf welchen sie stets bei Verwandten längere Wochen Quartier nahm . Dabei mußte sie uns aber endlich gestehen, daß ihre Reisen ihr halb so teuer kamen, als wenn sie zu Hause in Hamm geblieben wäre. Wir quälten sie oft, sie sollte uns ein Morgenfrühstück geben, da sie das aber nicht wollte, so wurde ausgehect, daß wir mit ihr zusamunen ein Vohnenfest feiern wollten, was darin bestand, daß jeder Teilnehmer einen Berliner Pfannkuchen essen mußte und in einen dieser Pfannkuchen eine Bohne hineingebacken wurde. Wer nun gerade diesen Kuchen zu essen bekam, wurde Bohnenkönig oder Bohnenkönigin und mußte die ganze Zeche für Essen und Trinken bezahlen. Tante Jette ging bereitwilligst auf dieses Spiel ein und glaubte nicht, daß unter den vielen 20 bis 30 Teilnehmern gerade sie das Los treffen würde. Natürlich wurde aber nun in alle Pfannkuchen je eine Bohne gebacken, die dann jeder Teilnehmer, in das Geheimnis eingeweiht, entweder verschluckte oder versteckte ; nur Tante Jette ahnte nichts von dieser Bosheit. Als nun mein Vater, Onkel Ernst und all die älteren Teilnehmer mit besonderer Vorsicht ihren Pfannkuchen auswählten und mit größter Behutsamkeit ans Essen gingen, da ertönte ein lauter Schreckensschrei, denn Tante Jette hatte auf die Bohne gebissen. "Es ist wahr, Betrug konnte nicht dabei sein“, versicherte sie dann, denn ich konnte ja wählen, welchen Kuchen ich wollte", und sie hatte nicht bemerkt, daß Tante Lottchen ihre Bohne ganz gemütlich auf ihren Teller gelegt hatte. Tante Jette gab uns nun als Böhnenkönigin ein großes Frühstück, bei welchem es hoch herging, aber das Geheimnis des Betrugs hat die arglose Seele nie erfahren. Sie starb in Hamm im Glauben an ihren Heiland , der niemand betrügt. Jedesmal, wenn ich fie in Hamm auf der Durchreise besuchte, schenkte sie mir, dem armen Referendar oder Assessor, einen Doppel-Friedrichsdor ! Im Februar 1845 begann nun mein Abiturienteneramen.

Es be-

ſtand außer in einem mündlichen Examen in Klausurarbeiten, zu denen wir viele Tage hintereinander unter Aufsicht der Lehrer eingesperrt waren. Ich habe nie erfahren, wie meine Examenarbeiten ausgefallen, aber ich bestand das Examen und wurde ſogar von der mündlichen Prüfung entbunden, was bis dahin noch nicht Mode gewesen war. Wir Abiturienten alle hatten eine gründliche Angst vor dem Eramen, und ich namentlich ahnte nicht, daß diese Angst ganz unbegründet war ; erst später kam ich zu der Einsicht, daß das ganze examinierende Lehrerkollegium, welches den zu examinierenden Schüler seit vielen Jahren (bei mir seit 7 Jahren) durch und durch kennen gelernt hat, nicht erst durch dieses Examen von der Dauer einiger Tage prüfen will. Dadurch unterscheidet sich das Abiturienteneramen von allen anderen, in denen der Examinator seinen

60

Zweiter Abschnitt : Gymnasialzeit.

Prüfling zum erstenmal vor sich hat.

Das Abiturienteneramen hat eine

hohe Bedeutung für die Schule, denn der Kommiſſar, welcher, von der höheren Schulbehörde abgeschickt, das Examen zu leiten hat, soll sich dabei überzeugen, ob die Schule selbst auf der Höhe ihrer Aufgabe geblieben ist, und es muß eigentlich jeder Schüler das Examen bestehen, wenn er von einem gewissenhaften Lehrerkollegium überhaupt zugelaſſen worden ist. Ich habe diese Ansicht in den lezten Jahren mit Erfolg vertreten, als ich als Domdechant den Abiturientenprüfungen bei dem Merseburger Domgymnasium beigewohnt habe und als der Direktor dieses Gymnasiums verschiedene Schüler durchfallen lassen wollte, welche sonst genügende Kenntnisse gezeigt hatten und nur wegen zu großer Schüchternheit schlechte oder gar keine Antworten gegeben hatten. Das Mitglied des Provinzial- Schulkollegiums und die übrigen Gymnasiallehrer traten nach langer Debatte ganz meiner Ansicht bei, kamen durch .

und die jungen Leute

Bei der Feier der Entlaſſung der Abiturienten Anfang März 1845 sollte ich als primus omnium nach der Rede des Direktors Ranke die Abschiedsrede im Namen der Abiturienten halten und ein paar Tage vorher gegenüber dem Professor Orem eine Probe für dieje Rede ablegen.

Ich schwärmte damals für das schöne vierstimmige von Mendels-

sohn komponierte Lied „ Es ist beſtimmt in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden“ und brachte in meiner Rede den Schlußvers dieſes Liedes an : „ Doch mußt du mich auch recht verstehn, wenn Menschen auseinandergehn, so sprechen sie : Auf Wiedersehn." Da stellte sich der alte Orem vor mich hin, schwenkte seinen rechten Arm so herum, als ob er einen Leierkaſten drehte und fuhr mich mit seiner näselnden Stimme und mit den Worten an : „Was sind das für Leierkaſtenreime : Doch mußt du mich auch recht verstehn 2c. “

Das ärgerte

mich so sehr, daß ich auf meine ganze Rede Verzicht leisten zu wollen erklärte.

Es wurde nun natürlich ein großartiger Abiturientenfommers

auf dem Gesundbrunnen bei Pankow gefeiert, wie ich denn schon in den beiden vorangehenden Semeſtern die Abiturientenkommerſe mitgemacht hatte. Mein Vater gab mir drei Flaschen Wein, wie jeder Teilnehmer sie mitbringen mußte, war aber mit Recht erstaunt über die große Menge des Getränkes, was wir zu uns nehmen wollten. Ich muß übrigens nachträglich bemerken, daß wir in auserlesenem Freundeskreise reizende Kneipereien in den verschiedensten Bierlokalen Berlins mit völlig geregeltem Studentenkomment abgehalten haben, obwohl ein sehr strenges Verbot gegen solche Gelage wiederholt eingeschärft wurde. Ich erhielt als Prämie nach meinem Abiturienteneramen vom Lehrerkollegium ein dickes Buch geschenkt, das ,,Corpus juris ", in dem ich aber wenig gelesen habe.

Gymnasialzeugnis.

61

Meine Klaſſenzeugnisse aus den letzten vier Jahren meiner Gymnasialzeit sind faſt alle überschrieben mit der Nummer IIa, einige tragen ſogar die Nummer I ; IIa bedeutet soviel wie „ gut “, I soviel wie „sehr gut". Das Zeugnis der Reife für die Universität enthält folgende Notizen: Durch völlig tadelloje Aufführung hat sich Gustav v. Diest die Liebe und Achtung seiner Lehrer erworben, auch mit seinen Mitschülern hat er stets im besten Vernehmen gestanden.

Seine guten Anlagen hat

er durch treuen Fleiß und anhaltende, auf seine wissenschaftliche Ausbildung gerichtete Tätigkeit auszubilden gesucht. Seine Auffäße zeichneten sich schon seit längerer Zeit bei genügender sprachlicher Korrektheit durch sinnige und geschmackvolle Darstellung aus.

Auch in den alten

Sprachen genügt er vollkommen den geseßlichen Anforderungen ; Homer und Sophokles sind ihm lieb geworden und werden mit Leichtigkeit von ihm aufgefaßt.

über den Gang der Weltgeschichte hat er sich eine durch-

aus genügende übersicht angeeignet ; auch die Lehren der Mathematik hat er stets mit lebhafter Teilnahme verfolgt und seine Leistungen in dieser Wissenschaft befriedigten vollständig .“

Dritter Åbschnitt. Universitätszeit.

o konnte ich denn am 5. April 1845 bei der Berliner Univerſität immatrifuliert werden und in meinem ersten Semester die VorLesungen des Professors Puchta über Institutionen des römischen Rechts und Geschichte der Rechtsquellen, des Professors Trendelenburg über Logik, des Professors Gneist über Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspflege und des berühmten Geschichtsprofessors Ranke über die neueste Geschichte vom Jahre 1815 an hören. Der Beſuch aller dieser Kollegien, wie auch der in den späteren Semeſtern ist mir von den betreffenden Professoren mit dem Prädikat „ Sehr fleißig “ oder „Ausgezeichnet fleißig" testiert worden.

Ich muß es aber hier als eine große

Unfitte, die wohl auf allen Universitäten herrschte, bezeichnen, daß diese ausgezeichnet lobende Zensur durchaus nicht der Wahrheit entsprach, denn der Student mochte faul oder fleißig sein, er bekam gleichmäßig die oben genannten Prädikate ; wenn er sogar kein einziges Mal das Kolleg besucht hatte, der Herr Professor brummte ihm doch das Zeugnis auf, daß er ausgezeichnet oder sehr fleißig im Kolleg erschienen sei, und es ist darum kein Wunder, daß diese Atteste nicht in irgend welcher Achtung bei den jungen Männern ſtanden. Nachdem ich im Herbst 1845 bei der Universität in Genf immatrikuliert gewejen, aber wegen meines Aufenthalts in Rom keine Vorlesungen gehört hatte, bezog ich zu Ostern 1846 bis 1847 wiederum die Berliner Universität und besuchte dort folgende Vorlesungen : Beim Profeſſor Heffter : Völkerrecht, Heydemann : Naturrecht, Homeyer : Wechselrecht, Kasper: medicina forensis ; ferner im Wintersemester 1846/47 : Römische Rechtsgeschichte bei Professor Rudorff, deutsche Rechtsgeschichte bei Homeyer, Kirchenrecht bei Richter, Nationalökonomie und Polizeiwissenschaft bei Dönniges, Staatsrecht bei Stahl und Physik bei Dove.

Juristenstudium.

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Im Sommersemester 1847 besuchte ich in Heidelberg die Vorlesungen über Kriminalrecht und Zivilprozeß bei Mittermeyer, über Zollwesen und Zollverein bei Rau, über Geologie und Mineralogie bei Leonhardt. Endlich hatte ich im Wintersemester 1847/48 wiederum in Berlin folgende Kollegia belegt : über Pandekten mit Einschluß des Erbrechts bei Profeſſor Keller und im Sommersemester 1848 über deutsches Privatrecht bei Homeyer, Kriminalprozeß bei Gneist und Preußisches Landrecht bei Heydemann . Welch eine Fülle von Kenntnissen hätte ich mir aneignen müſſen, wenn ich die Vorlesungen so bedeutender Universitätslehrer wirklich fleißig besucht hätte. Dessen kann ich mich aber nicht rühmen und muß umgekehrt bekennen, daß ich eine Menge von Kollegien geschwänzt habe, ja sogar in manchen Semestern sehr selten in die Vorlesung gegangen bin. Zum größten Teil war dies meine eigene Schuld und Faulheit; aber freilich glaubte ich damals in manchen äußeren Umständen meine Entschuldigung zu finden.

So hielt mich z . B. von Ostern 1846-47 der

einjährige Militärdienst bei manchen körperlichen Anstrengungen vom Studieren ab. Ebenso war es die Naturschönheit Heidelbergs, welche mich viel öfter in die Berge, Täler und Wälder als in die Hörsäle lockte, und endlich waren es im Sommersemester 1848 die Aufregungen der Revolutionscpoche, welche einen lebhaft empfindenden Studenten außerhalb der Univerſität ſo vollſtändig in Beſchlag nahmen, daß er seinem eigentlichen Lebensziel - dem Studium - mindestens in der Hälfte der Zeit entzogen wurde.

Einen Beweis dafür, daß ich die Kollegia viel

fleißiger hätte besuchen müssen, finde ich auch heute noch in dem Umstande, daß ich die Vorlesungen, welche mich innerlich interessierten, regelmäßig besucht habe, dagegen die anderen, die mich langweilten, und deren innerlichen Wert ich damals nicht schätzen konnte, verabsäumte. Einige meiner Universitätslehrer, die mich mächtig anzogen, muß ich hier namhaft machen. Es waren dies : Ranke, Gneist, Stahl, Dönniges, Mittermeyer und Dove, mit allen denen ich auch persönlich näher bekannt wurde. Im allgemeinen teile ich das Schicksal der meiſten Jura ſtudierenden Jünglinge, daß die Kenntnisse, die ich in sechs Semestern mir erworben, sehr geringe ſind, daß ich aber die Art und Weise, wie die Jurisprudenz den jungen Anfängern gelehrt wird, für viel zu wenig anregend erklären muß. Stand es doch bei mir, wie bei fast allen meinen Universitäts -Kameraden fest, daß das monotone und meist sehr gedankenlose Nachschreiben beim Vortrag des Lehrers viel weniger Nußen bringt, als das Selbststudium aus den Büchern, welche dieselben Lehrer über dieselben Rechtsmaterien veröffentlicht haben, und welche man in jeder Buchhandlung kaufen kann. Das Goethesche Spottwort im Faust : „Was du

Dritter Abschnitt : Universitätszeit.

64

schwarz auf weiß besitt, kannst du getrost nach Hauſe tragen," wurde oft genug spottweise den fleißig nachschreibenden Mitstudenten entgegen. gehalten, ja zu den Spöttern gehörten oft gerade die besser beanlagten Jünger der Themis, während die fleißig schreibenden Kollegienhörer ihrer Begabung nach den Spott verdienten. Im Sommersemester 1845 besuchte ich viel einen jungen Dozenten der Geognosie, Dr. Girard , welcher meinem Vater durch den berühmten Geognosten Leopold v. Buch empfohlen worden war. Mein Vater hat nämlich Jahrzehnte lang dem Studium der Geognosie und Mineralogie obgelegen, hatte auf seinen Reisen stets einen Hammer mit, um das Gestein zu untersuchen und eine schöne Steinsammlung durch eigene Sammlung sowie durch Ankauf zusammengebracht. Er war daher sehr einverstanden damit, daß ich mich dem Dr. Girard, der mit seinen Zuhörern eine Harzreise unternahm, anschloß. Ich habe mit der sehr anziehenden Gesellschaft den ganzen Harz kreuz und quer durchwandert. Den Tag über wurden Steine untersucht und ge ſammelt, um am Abend von uns Adepten bestimmt und definiert zu werden.

Es ist erstaunlich, welch eine Fülle von Steinarten gerade das

Harzgebirge in ſich hat, und Girard ſelbſt nannte den Harz ein Kabinettstück, das eigentlich, so , wie es da geschaffen sei , in eine Steinsammlung gehöre. Zu den Mitreisenden gehörten außer meinem Freunde Arthur v. Wolff die intereſſanteſten Persönlichkeiten, wie namentlich ein Graf Lecicz-Suminsky, der bereits eine Reise um die Welt gemacht hatte (was damals noch sehr selten) und dabei ein Zeichenkünstler ersten Ranges war. So zeichnete er z. B. im Fremdenbuch des Brockenhauſes die höchſt ähnlichen Gesichter der Mitreisenden, ein künstlerisches Blatt, welches leider schon bald aus dem Brockenbuch gestohlen worden ist . Auch der Graf BismarckBohlen und der Herr v. Redern beides Garde- Dragoneroffiziere machten mit mir diese Reise, nachdem der erstere den Prinzen Adalbert schon durch Brasilien und Indien begleitet hatte. Auch in späteren Jahren kam ich mit Dr. Girard noch manchesmal zuſammen und war mit seiner Hilfe beschäftigt, die Steinſammlung meines seligen Vaters zu ordnen, als im März 1848 die Revolution ausbrach. Den Umgang mit dieſem bedeutenden Geognoſten mußte ich leider aufgeben, weil er in der Revolutionszeit ganz zur Demokratie überging. Wie ich später gehört, ist Girard als Universitätsprofessor in Halle gestorben. Den Sommer 1845 brachte ich mit Studien für die von meinem Vater mit mir geplante Reise nach England zu und nahm, vereint mit meinem Freunde Wolff, englische Konversationsstunde bei einem gewiſſen Mr. Tremlet. Dieser war ein ganz origineller Engländer, der aussah

Rheinreise. Homburg.

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wie ein Lord und stets in meine Stube kam mit den Worten : „ How do you do ? Zwischenzeit gangen auch gut ?" Er kramte damit immer die einzigen deutschen Worte aus, die er sich eingelernt hatte.

Mit

Eifer lasen wir namentlich das intereſſante Buch : „ Hajji Baba of Ispahan by Morier"; aus diesem Buche lernten wir die Lehre des mohammedaniſchen Glaubens und die Anschauungen kennen, welche ein Perjer oder Türke über die Sitten des Abendlandes und vor allem über das Christentum hegt. Ganz plötzlich änderte der Arzt meines Vaters seine Ansicht dahin um, daß nicht eine Reise nach England, sondern nach Italien nach einer Brunnenkur in Homburg meinem Vater gut ſein würde. Ich habe die Reiſe ſchon in der Lebensgeschichte meines seligen Vaters im allgemeinen beschrieben * ) und will darum hier nur einige Ergänzungen der Reisebeschreibung, soweit sie mich persönlich betreffen, mitteilen : Am 28. August reiſten wir von Berlin mit der Eisenbahn bis Halle und von da mit Post nach Homburg ab . In Gotha waren große Festlichkeiten zu Ehren der anwesenden Königin Victoria von England veranstaltet.

Einige Wochen später sah ich sie nochmals in Coblenz, wo zu ihrem

Empfang alle Behörden auf den Beinen waren.

Homburg fing damals

gerade an, Modebad zu werden ; bei unserer Ankunft zählte die Kurliste schon weit über 5000 Fremde, ungerechnet diejenigen, welche die Spielbank täglich heranzog. Das Kurhaus mit seinen vielen Spieltischen war äußerst elegant, der größte Teil der Badegesellschaft aber war kleinstädtisch, klatschig und unangenehm ; den traurigsten Eindruck aber machte der alte Kurfürst von Hessen, welcher allabendlich stundenlang mit schweren Goldrollen an der Bank spielte und die Summen wieder verlor, welche er angeblich bei dem Verkauf seiner Landeskinder an eine ausländische kriegführende Macht verdient hatte.

Welche Gesichter von Spielern und

Spielerinnen sah ich da zum erstenmal um die Spieltische herum, und mein lieber Vater merkte, daß ich ein großes Interesse für das Spiel an den Tag legte; er handelte aber sehr klug und weise, indem er mir das Spielen nicht verbot, ſondern sogar fünf Taler schenkte, um damit mein Glück zu versuchen.

Das Geld ward bald von mir verspielt und ich vom

Spielteufel, der mich sonst vielleicht gepackt hätte, geheilt. Vom 4. bis 21. September reiste ich nun von Homburg nach Düſſeldorf und wieder zurück nach Homburg, um all die vielen Verwandten meines Vaters kennen zu lernen, welche am Rhein entlang wohnten ; es waren dies die Familien Delius in Coblenz und Laach, v. Lorch in Ariendorf, v. Ammon in Bonn, v. Hymmen in Endenich bei Bonn, v. Ammon und Fräulein v. Sobbes in Cöln, v. Hymmen und Camphausen in Düsseldorf. Welch eine Fülle ! *) Heinrich v. Diest , weiland General-Inspekteur der Artillerie. E. S. Mittler & Sohn. S. 68. v. Diest, Lebenslauf eines Glücklichen.

Berlin 1899. 5

Dritter Abschnitt : Universitätszeit.

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Ich kam zuerst nach Wiesbaden, wo mir eine Inschrift an einem Badehause zu den vier Jahreszeiten" sehr denkwürdig erschien: „ Curae vacuus hunc adeas locum, ut morborum vacuus abire queas ; non enim Am großen Teich in den Anlagen bat ich inständigst den lieben Gott, daß Er mir in meinem späteren Leben gewähren möge, in dieſem reizenden Wiesbaden einmal länger verweilen zu dürfen .

hic curatur, qui curat. "

Wie konnte ich ahnen, daß ich 21 Jahre nachher Regierungspräsident in Wiesbaden werden sollte ! Oberhalb Kreuznach wäre ich zwei Tage später beinahe in die Nahe gestürzt und verunglückt, denn ich hatte mich nach herrlichem Sonnenuntergang vom Rheingrafenstein aus über die „Gans" von der Nacht überraschen lassen und mich in den Weinbergen verirrt. Auf ein Haar wäre ich von einem Felsabhang in die Nahe, die dort sehr tief ist, gefallen ; sehr spät kam ich glücklich nach Kreuznach zurück. In St. Goar kehrte ich im Gaſthof „Zur Lilie“ ein und verlebte einen reizenden Abend mit dem Bürgermeister und einigen anderen ehrlichen Bürgern bei herrlichem Wein und hatte mein stilles Vergnügen an ihren Streitereien über kleinstädtiſche Fragen. Da holte der Gastwirt einen kostbaren silbernen Becher aus Karls des Großen Zeit hervor, auf dem folgende Worte eingraviert waren :

„ Ex Fundatione Div. Imper : Caroli

Magni in memoriam reconciliationis filiorum suorum Caroli et Pipini." Die drei Bildnisse des Vaters und der beiden Söhne waren erhaben auf dem Becher angebracht. Dieser Becher freiste nun an unserer fleinen Tafelrunde herum, denn der Wirt hatte ihn mit immer besserem Weine gefüllt. Wo dieser Becher geblieben, ich weiß es nicht, denn ich habe mich später oft vergebens nach seinem Verbleib erfundigt ; der Gasthof war eingegangen, der Wirt gestorben. Auf der Weiterreise fam ich nach Bornhofen, einem alten berühmten Wallfahrtsort mit einem wundertätigen Marienbilde. Eine große Menge von Wallfahrern fand ich hier vor und konnte zum erstenmal mit tiefer Wehmut die Verirrungen eines veräußerlichten Gottesdienstes beobachten, in welchem das mit bunten Kleidern ausstaffierte Marienbild angebetet wurde.

Dabei machten Hunderte von halbtrunkenen Menschen auf dem

Plage und in den Buden vor der Wallfahrtskirche einen greulichen Lärm. Nur kurz will ich die freundliche Aufnahme erwähnen, die ich bei der Familie Delius in Coblenz wie später bei allen anderen Verwandten fand . (Leider fand ich die Familie des kommandierenden Generals v. Thile in Koblenz nicht zu Hause ; wie schön wäre es gewesen, wenn ich schon damals die Bekanntschaft mit Fräulein Anna v. Thile hätte fortsetzen können, die ich im Jahre 1832 in der Münzstraße zu Berlin schon angeknüpft hatte. ) Zu meiner Freude erfuhr ich, daß mein lieber Gymnasialfreund Friedrich Eichmann, dessen Vater Oberpräsident der Rheinproving war, im Schlosse

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Rheinreiſe. Laach.

zu Engers bei seinem Vater weile.

Da blieb ich denn dort zu Gaſte und

machte mit meinem Freunde eine mehrtägige Fußreise über den Kühkopf nach Stolzenfels und Ems . Als wir von Ems nach Koblenz an einem dunkeln Abend zurückgingen, sahen wir auf der Höhe ein vierbeiniges Wesen, welches immer im Heidekraut herumfühlte ; es war ein Engländer, der nach dem von ihm verlorenen Fußwege suchte und kein Wort deutsch verstand ; welche Freude brach bei ihm aus, als wir ihn in unserem geläufigen Englisch anredeten. Sehr angenehm war mir dann mein mehrtägiger Aufenthalt in dem wunderschönen Kloster Laach, das damals der verwitweten Präsidentin Delius, der Mutter meines Onkels in Koblenz, gehörte. Einer gastfreieren Dame bin ich kaum jemals begegnet, als dieser alten klugen, liebenswürdigen ,,chère mère" in Laach. Eine Menge von Gästen beherbergte sie unter ihrem gastlichen Dache, darunter bedeutende Künstler. Der berühmte Landschaftsmaler Schirmer malte dort die herrlichsten Bilder von Kloſter und See, dirigierte die schönsten Ausflüge auf den See und den vierstimmigen Gesang in der akuſtiſch tadellosen Klosterkirche. Wie ein großer Chor klangen die vier Stimmen, welche durch Fräulein Klärchen Neuhaus im Sopran, Fräulein Marie Focke im Alt, einen jungen Herrn Gustav Bliesener und mich im Tenor und den Profeſſor Schirmer im Baß besett waren. Am Rande des Laacher Sees kommen in dem vulkanischen Gerölle kleine himmelblaue Diamanten mit Namen „Hauinen“ vor .

Zur

Suche nach ihnen wurde eine große Partie um den ganzen See gemacht, und schließlich war die Gesellschaft so gütig, mir alle diese Edelsteine zu schenken, damit ich sie schleifen lassen und meiner künftigen Braut verchren könnte. Nur schwer trennte ich mich von Laach. Jammerſchade ist's, daß diese herrliche Perle landschaftlicher und architektonischer Schönheit in den Besitz des Jesuitenordens gekommen ist. Der Aufenthalt in Bonn war mir besonders denkwürdig, weil ich dort die erste Bekanntschaft mit dem alten Dichter und Patrioten Ernſt Moris Arndt machte, dem ich durch meinen Onkel Hymmen zugeführt wurde und den ich, in seinem Garten auf dem Bauche liegend und Unfraut ausjätend, vorfand ; herzlich empfing er mich, und welches Feuer sprühte mir aus den Augen des kleinen Mannes entgegen !

Ich sollte ihm

ja noch häufig in späteren Jahren begegnen ! über Cöln, wo ich den beginnenden Ausbau des herrlichen Doms anstaunte, kam ich nach Düsseldorf, wo ich in der Familie v. Hymmen besonders herzliche Aufnahme fand. Ich trat dort in einen großen Kreis von Onkeln und Tanten, Vettern und Cousinen hinein, denn die allerliebste Tochter Klara feierte ihren 17. Geburtstag. Zwei Söhne - Karl (der spätere Generalleutnant) und Albert ( der als Student in Bonn von unbekannter Hand erschlagen auf dem Pflaster gefunden wurde) — hatten 5*

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Dritter Abschnitt : Universitätszeit.

schon früher uns in Berlin besucht, und ich habe von Albert als Primaner das Rauchen gelernt. Besonders wertvoll war mir die Bekanntschaft meiner Tante Camphausen, geb. v. Ammon, und deren Sohn, des berühmten Malers Wilhelm Camphausen, mit seiner schönen Frau. Es ist eine sehr hübsche Sitte in der Rheinprovinz , daß die Familienverwandtschaft auch in ferneren Graden viel wärmer und herzlicher gepflegt wird als im Osten der Monarchie, und so fand ich denn bei allen den Verwandten eine Aufnahme, als sei ich ein Sohn des Hauses . Meinen Vater traf ich am 21. September, Gott sei Dank, wohl und von der Kur gestärkt in Homburg, und schon am 23. traten wir unſere große Reise durch die Schweiz nach Italien an. Nur einige Hauptmomente auf dieser Reise, die sich meinem Gedächtnis besonders tief eingeprägt haben, kann ich hier erwähnen. Der erste Anblick der von der Abendsonne rötlich beschienenen Alpenfette mit ihrem ewigen Eis und Schnce ist mir zu teil geworden, als wir zwischen Basel und Bern durch die sogenannte Klus am 28. September kamen. Den 1. Oktober in Genf hielt ich für einen besonders verhängnisvollen Tag für mein künftiges Leben, denn dort entschied sich mein Vater dahin, daß ich die diplomatische Laufbahn ergreifen und darum in Genf ſtudieren und tüchtig franzöſiſch lernen sollte. Eine Penſion bei Madame Ruffer, hart am See, südlich von Genf, ſollte mich nach der italienischen Reise aufnehmen ; viele junge Engländer und Russen sowie engliſche und russische junge Damen umringten mich im Garten der Pension als neuen Ankömmling ; wie sollte sich das alles später anders geſtalten ! In Martigny im oberen Rhone- Tal trafen wir einen deutschen Herrn und zwei Damen beim Abgang der Poſt, die uns über den Simplon fahren sollte. Mein Vater befahl mir, dem deutschen Herrn, der sich mit dem Kondukteur wegen des Gepäcks nicht verständigen konnte, weil er nicht französisch sprach, auszuhelfen, was mir denn auch glückte. Da es furchtbar heiß wurde, holte ich auf einer Zwischenstation meinem Vater ein frisches Glas Waſſer vom Brunnen her, und da ich die sehnsüchtigen Blicke der beiden Damen bemerkte, verdiente ich mir ihren Dank, als ich auch ihnen frisches Wasser brachte. In Sion ( Sitten) nahm die ganze Postgesellschaft das Mittagessen ein, und als ich dabei meinem Vater ein Kupferstück für ein paar Harfeniſtinnen zuschob, während er ein silbernes Geldstück dafür haben wollte, so beobachteten uns bei dieſem kleinen Streite die erwähnten Damen und hielten mich für einen jungen Prinzen, der mit seinem Gouverneur auf Reisen ginge. Von Brieg aus , wo wir die Nacht geblieben, gingen wir fünf größtenteils zu Fuß bis auf die Höhe des Simplon, und dabei ging ich immer mit dem jungen Mädchen, mein Vater aber mit den Eltern desselben . Bei den Mönchen auf dem Simplon erkrankte ich infolge des Genuſſes von ver-

Italienische Reiſe.

Pompeji.

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dorbenen cingemachten Bohnen und wurde abends in Domo d’Oſſola, wo wir wiederum die Nacht blieben, von der Mutter der jungen Dame wahrhaft mütterlich gepflegt.

Am dritten Reisetage nahmen wir in Baveno

am Lago Maggiore voneinander Abschied und erfuhren da erſt gegenseitig, welche Namen wir trugen, denn mein Vater hatte sich nicht zu erkennen geben wollen. Ich erzähle dies alles so genau, weil das junge Mädchen niemand anders war, als Fräulein Meta v. Gr a ß aus Starzin, die spätere Frau v. Diest in Daber. Als viele Wochen nach unserem Abschied in Baveno mein Vater in Rom frank lag, teilte die junge Dame ihren Eltern mit, daß sie mich habe auf der Straße gehen sehen, und Herr v. Graß trat daraufhin - nachdem er unsere Wohnung mit Mühe aufgefunden - plöglich an das Krankenbett meines Vaters. Bei dem Gegenbesuche, den ich mit meinem Bruder Otto, der mittlerweile zu uns gestoßen war, machte, und zu dem ich ihn nur unter vielem Zureden bewegen konnte, da er wiederholt erklärte, das ſeien ja meine Reiſebekanntschaften und nicht seine, und er habe darum nicht nötig, mich bei dem Gegenbesuche zu begleiten, fand es sich, daß „Ehen im Himmel geschlossen werden" ; denn bei der ersten Begegnung sagten sich beide, die schon bald in Rom Brautleute werden sollten, der und kein anderer" und die und keine andere". Von meinen vielen Erlebniſſen in Neapel seien noch folgende aus meinem Tagebuche erwähnt : Am 16. Oktober kam ich zum erstenmal nach Pompeji. Was ist das für ein wunderliches, jeden beschleichendes Gefühl, wenn man in dieſe mumienhafte Stadt, in diese leblosen Straßen und Häuser tritt, die da zeugen von der Größe, besonders aber auch von dem praktischen Sinne der Alten. Leider nur zu schnell mußten wir dem Führer von Haus zu Haus, von Straße zu Straße folgen, und nur, wie es der Moment erlaubte, in der Hoffnung, wiederzukehren, Ergößung und Belehrung weghaschen. Rührend war mir die Erzählung des Führers im sogenannten Hause des Diomedes, und von besonderem Intereſſe waren mir die drei Amphitheater, als die ersten, die ich gesehen. Pompeji iſt viel lehrreicher als Herculanum, und doch sind aus letzterem noch schönere Kunstwerke ausgegraben worden als aus Pompeji ; was sind »der tanzende Faun« und » der sigende Merkur« für unerreichte Bronzestatuen , was für herrliche, lebendige Wunderwerke, die da recht zeigen, weſſen das Altertum in dieser seiner männlichsten und edelsten Kunst der eigentlichen Plastik fähig war ; unsere Zeit fommt einem ganz klein und winzig vor, wenn man so etwas sicht, was schon vor 2000 Jahren geschaffen." Der Besuch von Camaldoli ist wohl der Mühe wert ; der Anblick, den man von dort oben genießt, ist kaum zu beschreiben von dem gewandtesten Schriftsteller, noch zu malen von dem geschicktesten Künstler . In gejättigten Farben hat man vor sich den unvergleichlichen Golf mit dem

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Dritter Abschnitt : Universitätszeit.

rauchenden Berge und Capri, wie eine Sphinx in der Ferne, rechts den kleineren Busen von Pozzuoli mit Procida und Ischia und im Rücken die weite, erinnerungsreiche Ebene zwischen dem Vesuv, dem Meere und den Apenninen, in der Nola liegt und Capua und weiterhin die Caudinischen Pässe und so viele alte Villen der vergangenen Geschlechter .

Über diesem

Schauspiel den rötlich glänzenden Wagen des Phöbus in Thetis Arme zwischen grauen Wolken, ihren Gewändern ähnlich, stürzen zu ſehen, begeistert in Wahrheit auch einen prosaischeren Geist wie den meinigen, man ahnt, was ein Homer dabei empfinden mußte, deſſen Gesänge lebendige Worte werden, wie auch die Mythen der Alten mit Händen zu greifen ſind. Da erst, nachdem ich die Schulstuben frohlockend verlaſſen, ward mir die Schule, und was ich in ihr gehört und gelernt, immer lieber und lieber. über das Leben des neapolitanischen Volkes machte mein Vater in Rückerinnerung an sein Leben in Rußland eine treffende Bemerkung . „Es sei eine eigentümliche Erscheinung “, sagte er, „ daß ebenso bei einem Volke, wie das neapolitanische, welches frei und ungebunden aufwachse, unbeschränkt, weder durch Etikette noch durch strenge Geseze, sklavisch geknechtet werde, wie bei dem ruſſiſchen Volke der einzelne Mensch nicht geachtet und die Persönlichkeit hintangesetzt werde." In Caserta -- so schrieb ich in mein Tagebuch fanden wir ein enormes Schloß mit den weitläufigſten und dabei geschmackvollſten Gartenanlagen, wie man sie selten sieht ; nur ist es öde da, und man ärgert sich über den Kontrast zwischen der Armut der Einwohner und der Pracht des Schlosses. Auch in Santa Maria, wo das alte Capua gestanden, wird man ganz melancholisch, wenn man die jetzigen Zustände des immer mehr und mehr verarmenden Landes mit dem Zurus vergleicht, der bei den Alten hier geherrscht haben muß. Ich komme dahin, zu glauben, daß es hauptsächlich die Geistlichkeit ist, welche das Volk in Unwissenheit hält und so die Verarmung der Einwohner auf dem Gewissen hat. Tief ergriff mich auch der Besuch von Puteoli und Bajae mit ihren alten Bädern ; Cicero begleitete mich hier auf allen meinen Schritten, als er, von der Verwaltung Siciliens zurückkehrend , hier landete und in seiner Eitelkeit glaubte, ein berühmter Mann geworden zu sein, seine Bekannten aber unter den Badegästen ihn kurzweg fragten, wo er denn eigentlich herkäme. Bei den vortrefflichen Austern, die wir am Lago Fusaro verzehrten, kamen uns die lukulliſchen Feste der alten Römer in Erinnerung. Im alten Cumae aber, wo jetzt kein Haus mehr steht, werden melancholische Gedanken wach ; hier war zu seiner Zeit der Hauptsit römischer Ausschweifung und höchſter üppigkeit, jezt ſicht man nur völlige Verarmung; hier schlossen Cäsar, Pompejus und Crassus ihr Triumvirat, jetzt tanzten drei zerlumpte Buben in dem verlassenen Tempel die Tarantella vor ; der Eingang in die Unterwelt, der hier gelegen haben ſoll, iſt

Musikleben in Rom.

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völlig verschollen, aber auch der Eingang in die obere Welt scheint dem armen Volke verſperrt zu ſein. Es würde zu weitläufig werden, wenn ich von meiner zweimaligen Besteigung des Vesuv, von den längeren Ausflügen nach Capri und Sorrent, der Reise nach Rom 2c. näheres erzählen wollte ; nur das eine erwähne ich, daß wir fast immer von der liebenswürdigen Familie v. Andlaw aus Hugstetten bei Freiburg i . Br . begleitet waren. Welch ein Anblick war es, als wir endlich von der Höhe der Albaner Berge das mächtige Rom mit seinen Kuppeln vor uns liegen sahen, als wir näher und näher herankamen, die Trümmer der großartig praktiſchen Bauwerke der Römer bewunderten und endlich durch das mittelalterliche Tor, nicht weit vom Lateran, hineinfuhren. Zur Freude meines Vaters schaffte ich mir bald ein Cello an und kam, beſonders als Mitglied des deutſchen Künſtlervereins, in eine Menge von musikalischen Kreiſen hinein ; aber wunderbar iſt es, daß bei den großen muſikaliſchen Gaben, die dem italieniſchen Volke eigen sind, nirgends so wenig gute Musik gemacht wird als gerade in Rom. Ein Breslauer getaufter Jude,,,Signore Landsberg", der eine Menge von Instrumenten aller Art vermietete, hatte sich nach und nach zum Leiter aller klassischen Muſik aufgeſchwungen ; er lud den ganzen Winter über zu vielen Dilettantenkonzerten in seiner Wohnung ein, und jeder Fremde, der sich bei ihm eingefunden, mußte sich dann verpflichtet fühlen, ein sehr teures Billet zu den öffentlichen Konzerten zu nehmen, die er am Schluß des Winters gab. Da Cellisten nur selten sind , so packte mich Landsberg sofort mit unwiderstehlicher Energie, und ich habe zu meiner Freude mit anderen Dilettanten ſehr häufig die ſchönſten Trios und Konzerte spielen dürfen. Ein dänisches Fräulein Tügjen und der später so berühmte Maler Karl Becker waren meine tüchtigsten Mitspieler ; dem lieben Becker jagte ich damals, daß er seinen Beruf verfehlt habe, weil er nicht Violinist geworden sei ; und auch die Dänin spielte wahrlich meisterhaft.

Mit den

beiden damals erst erschienenen Klaviertrios von Mendelssohn machten wir großes Furore. Auch der Major v. Moltke, der Adjutant des in Rom viele Jahre lang krank liegenden Prinzen Heinrich von Preußen geworden war und faſt täglich an meines Vaters Krankenbett sich einſtellte, forderte mich auf, in der Vorstube des Prinzen ein Streichquartett zu stande zu bringen. Der Prinz hatte diesen Plan genehmigt, und ich übte mit drei anderen Dilettanten Quartette von Haydn, Mozart und Beethoven ein; als wir aber unsere Vorübungen beendet hatten, brachte uns Moltke traurig die Nachricht, daß der Prinz seine Genehmigung wieder zurückgezogen habe.

Der Prinz Heinrich Bruder des Königs Friedrich Wilhelm III . lag seit dem Jahre 1829 in einem großen Saale, dessen Fenster nach

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Dritter Abschnitt: Universitätszeit.

dem Corso hinausgingen, im Bette, ließ sich nur von seinem Privatsekretär, dem liebenswürdigen Vollardt, täglich Vortrag halten, hatte ſich aber im übrigen so sehr des Umgangs mit Menschen entwöhnt, daß auch sein Adjutant ihn faſt niemals zu sehen bekam . Nur wenn Prinzen oder Prinzessinnen des Königlichen Hauses nach Rom kamen, setzte sich der Prinz im Bett aufrecht und zog weiße Handschuhe an.

Durch Moltke

ließ der Prinz meinen Vater von Bett zu Bett fragen, ob er sich entsinne, wo sie sich zulegt geſehen, und als mein Vater wieder durch Moltke antworten ließ: In der Schlacht bei Baußen bei den Windmühlen neben dem Kaiser Alexander" (dessen Adjutant mein Vater damals war) , kam Moltke mit der Gegenantwort des Prinzen lächelnd zurück, der Prinz erkläre, daß er meinen Vater zulegt beim Einzug in Paris 1814 getroffen habe.

Bei der Gedächtnisstärke des Prinzen, die Moltke bewunderte,

und bei seiner großen Gelehrsamkeit, die er sich durch anhaltendes Lesen aller irgend bedeutenden Bücher verschafft hatte, beklagte es Moltke tief, daß der Prinz ein so wenig fruchtbringendes Leben geführt habe. Moltke dagegen benußte seine lange Mußezeit in Rom auf das ausgiebigste, namentlich auch dadurch, daß er eine Karte der weiten Umgebung von Rom aufnahm und herausgab, deren Güte noch kaum durch spätere Aufnahmen übertroffen worden ist. Er war damals noch nicht lange mit seiner reizenden jungen Frau verheiratet und diese überaus glückliche Ehe breitete ihre Strahlen über das ganze Wesen des jungen Ehemannes, der stets harmoniſch, ja heiter und mitteilſam geſtimmt war, obwohl seine militärische Aufgabe in Rom wenig erheiternd und angenehm war. Unter Moltkes Anleitung habe ich damals ordentlich Whist spielen gelernt und erinnere mich deutlich, wie er die Feinheiten des Spiels dem Anfänger beizubringen verstand . Nicht lange nach seinem Aufenthalt in Rom wurde Moltke Adjutant meines seligen Schwiegervaters, des damaligen kommandierenden Generals des VIII . Armeekorps zu Koblenz, v. Thile. Im Jahre 1880 schickte ich Moltke meine telegraphischen Glückwünsche zu seinem Geburtstage ; er antwortete mir darauf: „Ich danke Ihnen um so herzlicher für Ihre Glückwünsche, als Sie mich an die glücklichste Zeit meines Lebens in Rom mit meiner ſeligen Frau erinnern. “ Ein sehr schönes, wenn auch wehmütiges Weihnachtsfest feierte ich auf dem Kapitol, im Gottesdienst zuerst und dann in der Familie des preußischen Gesandtschaftspredigers Thiele. Als Weihnachtsbaum diente ein Lorbeerbaum, und auch meinem Vater brachte ich einen kleinen Weihnachtsbaum mit einem Geschenke in unsere Wohnung ; wir beide aber wünschten uns sehnlichst zurück nach Haus. Ja, was ist doch die Heimat so schön, das spürte ich recht, als ich am 24. Dezember abends durch die öden Straßen Roms vom Kapitol aus zu meinem Vater ging .

Statt des

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Epiphaniasfest in Rom.

Weihnachtsfestes feiern die Römer das Epiphaniasfest und beſchenken sich . da ebenso, wie man sich in Paris am Neujahrsfeste beschenkt. Am 6. Januar ist der Kudud in Rom los mit all den Pfeifen und Knarren, die jung und alt ertönen läßt. Geradezu fabelhaft ist an dem Tage das Fest, welches in der Ara coeli (Himmelsaltar, ein früherer römischer Jupitertempel, hoch oben auf dem Kapitol) gefeiert wird. Hier reſidiert nämlich der kleine Bambino, eine hölzerne Puppe, die das Jesuskind darstellen soll und die einen vollſtändigen Hofſtaat von Geistlichen und Bedienten, ja jogar einen Marstall für sich hat. Zu Ehren dieſer Puppe findet nun ein reichbesuchter Kindergottesdienst in Ara coeli statt, bei welchem ein kleines Kind nach dem andern die Kanzel besteigt und die Geburt des Jesuskindchens lobpreist. Viel ergreifender wirkte an demselben Tage die Feier der Geburt unseres Heilandes, welche in der Propaganda (dem Institut zur Ausbreitung des katholischen Glaubens) stattfindet . Die Zöglinge dieses die Geburt Instituts verkündigen -- jeder in seiner Muttersprache Christi ; dabei war eine unermeßliche Zahl von Sprachen aus allen Weltteilen vertreten.

Der damals als Sprachenkundiger berühmte Kardinal

Mezzofanti thronte auf einem großen Seſſel vor den predigenden Jünglingen und soll der einzige gewesen sein, der alle die Sprachen verstand. Ich ging zu dieser Vorstellung in Begleitung eines intereſſanten Mannes, welchen ich kurz vorher kennen gelernt hatte ; es war der erste vom preuBischen König ernannte evangelische Bischof von Jerusalem, Gobat, welcher von Rom aus zur übernahme seines Bischofssites reiste. Im November 1841 war der erste evangelische Bischof von Jerusalem durch den Erzbischof von Canterbury geweiht worden und hatte sein schwieriges Amt ſehr würdig ausgeführt ; er war ein Breslauer Jude, der in der Taufe den Namen Alexander angenommen hatte ;

die Weihepredigt

feierte

den

Bischofssit auf Zion als die Erstlingsfrucht der Union aller Evangelischen. Der würdige Gobat wurde nun 1845 der erste Nachfolger seines Vorgängers Alerander. Leider sah sich die Krone Preußen nach fast einem halben Jahrhundert ( 1887) genötigt, das phantastische Unionsbistum aufzugeben und ihre Gemeinde auf Zion ganz selbständig auszugestalten. Nicht lange nach dem Epiphaniasfest wurde in der Jesuitenkirche zu Rom eine Predigt gehalten, die ein Zeugnis dafür ablegte, wie die Mönche bei ihrer mittelalterlichen ausklaubenden Gelehrsamkeit stehen geblieben sind, und wie sie alles bei den Haaren herbeiziehen, was als Argumentum für die Wahrheit der allein jeligmachenden katholischen Kirche gelten soll. Dieser Jesuit sprach über 1. Buch Mofis Kap . 25 Vers 1, über die dritte Ehe Abrahams mit der Ketura und ſagte, es wären drei Gründe, weshalb Gott dies gewollt und zwar: 1. una ragione

moralica,

2. una ragione

dogmatica und 3. una ragione

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Dritter Abschnitt : Universitätszeit.

mystica. Wie spißfindig war es nun herausgeklaubt : denn erſtens hätte es eine ragione moralica, Abraham habe nämlich noch einmal heiraten müssen, damit er nicht in seinem hohen Alter in Fleischessünden verfiele ; zweitens eine ragione dogmatica, denn Gott hätte vorher gewußt, daß im 3. Jahrhundert nach Chriſti Geburt sich eine gottloje Sekte von der allein heiligen Kirche lossagen würde, das wären die Leute geweſen, die eine zweite Ehe verboten hätten, und hier habe Gott an Abraham ein lehrreiches Beispiel des Gegenteils hingestellt .

Und endlich drittens, was

das Tollste ist, habe dieſe dritte Heirat Abrahams eine ragione mystica : denn die Nachkommen der Sarah hätten die ganze Erbschaft Abrahams bekommen, sie wären die einzig Auserwählten gewejen, wogegen den Kindern der Hagar und der Ketura nur einige von der Erbschaft abgelöſte Geschenke zugefallen wären ; die Nachkommen der Sarah, das wären die Auserwählten, die jest in dem Schoße der katholischen Kirche ruhten, sie hätten die Erbschaft des Reiches Gottes überkommen, ihnen gebühre alles allein, ſie hätten die Verheißung dieſes und des zukünftigen Lebens. Dagegen, ach !, die Armen, die da jenseits, außerhalb der alleinigen Kirche stehen, das wären die Mohammedaner und die Heiden des Orients, das wären die Protestanten und die anderen Sekten in Deutschland, England und Rußland, die hätten nur jo einzelne Geschenke bekommen, aber es fehle ihnen der Kern, es fehle ihnen die Wahrheit, es fehle ihnen das Licht, das von Rom ausstrahle, sie seien verlassen, verraten und verkauft und bestimmt für die ewige Verdammnis .

O, kommt doch alle, kommit

ihr Unglückseligen und stürzt euch blindlings in den Schoß unſerer Kirche ! Das war der Inhalt dieser erbarmungswürdigen Predigt. Dabei muß man sich einen Redner vor die Augen stellen, der mit fanatiſchem Eifer mit wirklich glänzender Beredsamkeit auf der Kanzel hin und her läuft und seine Rede mit leidenschaftlichen Gesten begleitet, so hat man das wahre Bild und einen richtigen Begriff von einem Jesuiten. Im Anfang des Januar 1846 war ich Zeuge eines geschichtlich denkwürdigen Ereignisses . Es erschien plößlich der Kaiser Nikolaus von Rußland an den Toren des Vatikans und hatte eine Unterredung mit dem Papste Gregor XVI., und ich stand in der Vorhalle des Vatikans, als der Kaiser anlangte. Mein oft genannter Reisebegleiter v. Andlaw, der mit den Kardinälen so gut bekannt war, beschrieb diese Scene in folgender Weise : Der Kaiser trat in schöner gerader Haltung in das Audienzzimmer des Papstes hinein und legte, nachdem er bis auf drei Schritt an den Papst herangetreten, eine gewisse innerliche Ergriffenheit an den Tag . Er küßte dem Papste die rechte Hand, und beide Päpste haben sich dann brüderlichst zweimal umarmt und gefüßt. (In den Künstlerkreisen wurde. nachher gespottet, das möge ein schöner Judaskuß gewesen sein, den sich

Kaiser Nikolaus I. in Rom.

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die beiden gegeben.) Dann seien beide, nur begleitet vom Adjutanten Butenieff und Kardinal Akton, in die inneren Gemächer des Papstes gegangen und hätten sich dort über eine Stunde lang unterhalten.

Für

beide mag es wohl eine etwas peinliche Lage gewesen sein : Dieſer Kirchenfürst mit seiner, oder vielmehr der Kirche Konsequenz , deren Oberhaupt er ist, gegenüber dieſem allmächtigen, wenigstens in ſeinem Reiche allmächtigen Autokraten mit seiner ebenfalls großen Halsſtarrigkeit. Der Papst sah vor seinen Augen einen anderen geistlichen Machthaber, den bewaffneten Schatten seiner selbst, und diese eindrucksvolle Gestalt, halb Papſt, halb Grenadier, war der lebende Vertreter der großen Glaubensſpaltung im Osten, jener Kirche, die seit den erfolglosen Bemühungen des Konziliums in Florenz mit ihrer unbeugsamen Schwester im Abendlande kaum in Berührung gekommen war.

Und gleichsam zu

noch größerer Steigerung dieses Gegensatzes sah der altersschwache römische Pontifex vor sich einen strengen herkulischen Fürsten, deſſen unumschränkte Macht auf mehr als einer halben Million Bajonetten ruht und dessen Person in seinen Reichen beinahe göttliche Verehrung genießt. In einem früheren Zeitalter des Christentums , wenn da die griechische und lateinische Kirche sich in den Personen ihrer erhabenen Oberhäupter begegnet wären, würden sie den Streit über die Homouſie erneuert haben ; aber Päpste der Jeztzeit haben Kontroversen über irdisch konkretere Dinge zu bestehen, und die Kaiser, welche Päpste besuchen, kommen nicht in der demütigen Haltung Valentinians oder Heinrichs IV. Ich möchte hier einiges einschalten, was mir damals vom ruſſiſchen Kaiser bekannt geworden : Der Kaiser Nikolaus I. steht mir als einer der schönsten und stattlichsten Männer, die Gott geschaffen, vor der Seele. Als Knabe schon konnte ich ihn bewundern, wenn er in Berlin erschien und in seiner Stellung als Schwiegersohn des Königs Friedrich Wilhelm III . einen so feinen Takt entwickelte, daß alle Preußen für ihn schwärmten. Von seiner kolossalen Kraft und Gesundheit machten mir schon damals die Erlebnisse meines Onkels, des Generals v. Quadt, der in außerordentlicher Mission nach Petersburg geschickt worden war, einen gewaltigen Eindruck.

Bei furchtbarem Sturm und Regenwetter mußte Quadt mit

dem Zaren viele Meilen zu einer Truppenbesichtigung fahren. Ganz durchnäßt bis auf die Haut kamen sie nach Petersburg zurück, und Quadt, der sonst jeden Tag zum Diner befohlen war, an diesem aber nicht, freute sich, daß er sich in warmer Stube umkleiden und erquicken konnte. Plötzlich aber bringt ein Lakai ihm die Einladung zum Mittagessen.

Schnell

kleidet sich Quadt in eine trockene Uniform, und der Zar empfängt ihn mit der Frage : Wie ist Ihnen das Sauwetter bekommen ?" Auf seine Antwort, daß er sich, umgekleidet, ganz wohl fühle, ruft der Zar er-

Dritter Abschnitt : Universitätszeit.

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staunt aus : „Was, Sie haben sich umgezogen, dazu habe ich keine Zeit gehabt“, und dabei schlägt er sich mit der flachen Hand auf die Lende, so daß das Wasser aus der Hose heraussprißt. Von der Drillung des russischen Militärs war Quadt aufs höchste erbaut, wenn auch manches zu weit gehe.

So besuchte er abends mit dem Zaren ein großes Ka-

dettenhaus ; sämtliche Zöglinge standen vor ihren Betten aufmarschiert, mußten aber, wenn der Zar in zehn Minuten wieder durch die Schlaffäle ging, nicht bloß in den Betten liegen, sondern auch schlafen und schnarchen. Von Rom aus ging der Kaiſer nach Palermo, wo er mit der Kaiſerin Alexandra die paradiesische Villa Butera längere Zeit bewohnte, weil die Kaiſerin von ihren Ärzten zur Genesung dorthin geschickt worden war. Der Prinz Georg von Preußen, der mit meinem Vater und mir die Villa di Roma in Neapel zu jener Zeit bewohnte, schickte seinen Adjutanten, Major v. Alvensleben, nach Palermo, um den Zaren im Namen des Prinzen zu begrüßen.

Alvensleben beschrieb seinen Empfang dahin,

daß er, die Treppe in voller Paradeuniform heraufsteigend , den Kaiser oben habe stehen sehen, indem er gerade einen Kurier nach Petersburg abschickte.

Auf seine stramme militärische Meldung habe der Kaiser

zuerſt ſeinen offenen Uniformrock von unten bis oben zugeknöpft, und erſt beim letzten Haken am Halse habe er ihn freundlichst eingeladen, bei ihm ein Frühstück anzunehmen, an welchem auch der Prinz Albrecht von Preußen teilnahm.

Das Gespräch zwischen dem Zaren und Alvensleben

gestaltete sich höchst lebendig, der Prinz Albrecht aber habe ganz erstaunt nachher den Major v. Alvensleben gefragt : „Wie können Sie nur so fordialiter mit dem Kaiser umgehen, denn ich vermag es nicht, weil der Kaiser mir zu sehr imponiert ! "

Darauf entgegnete Alvensleben :

„Königliche Hoheit, den Grund davon will ich Ihnen sagen.

Die Lerchen

haben viele Jahrhunderte über den Feldern der Alvenslebens ihr Lied gesungen, che noch das Geschlecht der Romanoffs auf der Erde bekannt war!" Diese Erklärung hat nicht bloß dem Prinzen Albrecht, sondern auch meinem Vater und mir große Freude bereitet, denn darin liegt in der Tat der Grund eines freimütigen Umganges zwischen Monarchen und deutschen Edelleuten, welchen ruſſiſche Zaren, da ſie an ihn bei dem Umgange mit ihren russischen Untertanen nicht gewöhnt sind, ganz besonders gern mögen. Im Jahre 1852 wurde ich in Potsdam vom König Friedrich Wilhelm IV. dem Kaiser Nikolaus im Stadtschlosse vorgestellt und war selbst dort wieder erfüllt von der gewaltigen Persönlichkeit und Schönheit des Kaisers . Unter den vielen Kunstsammlungen Roms muß ich noch der be rühmten Galerie in der Villa Ludovici gedenken .

Da ist der kolossale

und älteste Junokopf, der exiſtiert, der herrliche ſizende Mars mit dem

Abreise von Rom.

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spielenden Amor an seinen Füßen, die Gruppe des Orestes und der Electra, in deren Zügen die Freude des Wiedererkennens ſchön ausgeprägt ist, die Gruppe des Barbaren, der seine Frau und sich selbst tötet, um sich von der ihm drohenden Sklaverei zu befreien, und neben diesen antiken Statuen nicht unwürdig der moderne Raub der Proserpina von Barbarini. Und vor der Villa der herrliche Garten mit einem Gartenhause und mit der reizenden Aussicht auf Rom, die Campagna und die Gebirge ! Am 14. Februar begann nun der berühmte römische Karneval , von dem ich nur den lezten Abend mit den sogenannten moccoli hervor. heben will . Ein brennendes Stümpfchen Licht, das moccolo, hat jeder in seiner Hand, und jeder ſucht's dem andern auszublaſen und schreit, wenn ihm das geglückt ist, hämisch die Worte : ,,Oh, senza moccolo !" Besonders werden die jungen Damen in der doppelten Reihe der Wagen, welche Schritt für Schritt durch den Korso aneinander vorbeifahren, als Ziel zum Ausblasen des Lichtchens von den jungen Herren erkoren, und so gab denn die schöne Braut meines Bruders ein besonders gesuchtes Ziel ab. Eine Menge von jungen Malern und Künſtlern umſtürmten den Wagen, mein Bruder aber hielt seine Braut hoch oben auf dem Bock stehend, so daß niemand an ihr Lichtchen herankonnte. Endlich, am 2. März , erfolgte unsere Abreise aus Rom, wie ich sie in der Lebensgeschichte meines Vaters schon beschrieben. *) Auch von der dort erzählten langen Rückreise - ganz zu Wasser, wie es der Arzt angeordnet, bis Berlin - will ich besonders hervorheben, daß ich in der Deputiertenkammer zu Paris war und dort die bedeutendsten Redner Thiers und Guizot über die damalige politische Lage Europas reden hörte und mich verwunderte, als die Wache vor der Deputiertenkammer vor diesen beiden berühmten Männern in Zivil heraustrat und präsentierte. Das verstieß gegen meine militärisch-preußischen Anſichten . ―― Einige Tage nach der Rückkehr von der langen Reise also sofort nach dem Osterfeste - war ich bereits eingekleidet als Einjährig-Freiwilliger bei der 1. Schwadron des 2. Reserve- Garde- Ulanen-Regiments . Es war ein gewaltiger Wechsel : der Militärdienst gegenüber dem freien Leben eines fahrenden Schülers, die enge Uniform gegenüber dem bequemen Matrosenkleide. Es war eine große Vergünstigung, daß ich erſt ein paar Wochen nach dem 1. April eintreten durfte, und ich war besonders froh, daß ich gerade bei der genannten Schwadron angenommen. wurde, denn ein tüchtiger Schwadronschef war der Rittmeister v. Schmeling, und auch der Wachtmeister Stroinsky war eine allgemein beliebte Persönlichkeit. Der lettere — ein Mann mit großem grauen geringel-

*) Heinrich v. Diest, S. 74.

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Dritter Abschnitt: Universitätszeit.

ten Schnurrbart - hatte schon die Freiheitskriege mitgemacht, und alle Offiziere des Gardekorps, ja ſelbſt die königlichen Prinzen, zeichneten ihn stets durch freundliches Entgegenkommen aus. Die drei Leutnants der Schwadron, Graf Lippe, v. Ehrenstein und v. Ostau, bekamen wir gemeinen Ulanen wenig zu ſehen, nämlich nur in einigen Reitſtunden und beim Exerzieren auf dem Tempelhofer Felde und bei den Manövern. Für uns waren im Dienst die Hauptpersonen : der Wachtmeister, der Quartiermeister und die Unteroffiziere.

Die acht Schwadronen des 1 .

und 2. Garde- Ulanen-Regiments hatten acht verschiedene Farben; es waren dies die Farben der acht Provinzen des preußischen Staats . Das erste Garde-Ulanen-Regiment in Potsdam hatte weiße, das 2. in Berlin gelbe Knöpfe; dabei hatten die ersten Schwadronen weiße Kragen, Rabatten und Aufschläge, die zweiten Schwadronen rote, die dritten Schwadronen gelbe und die vierten Schwadronen blaue.

Es war angeblich

bei Errichtung dieser Regimenter die Absicht gewesen, daß jede Provinz durch ein volles Ulanen-Regiment vertreten sein sollte, statt eines Regiments war es bei einer Schwadron verblieben. Da ich früher schon genügend reiten gelernt hatte, so brauchte ich nur mit dem Säbel und mit der Lanze ausererziert zu werden, und schon wenige Tage nach meinem . Eintritt durfte ich die Schwadronsübungen auf dem Ererzierplatz zwischen dem Kreuzberg und Tempelhof mitmachen. Die Lanze ist mir sofort als eine so interessante Waffe erschienen, daß ich mich auch privatim mit Lanzenübungen abgab, ja später sogar als Offizier bei den Landwehrulanen als Lehrmeister für das Exerzieren mit der Lanze fungieren konnte, da ja bei der Landwehr alle früheren Küraffiere, Husaren und Tragoner als Ulanen bewaffnet waren . Es erschien mir dies schon damals als ein großer Fehler, denn die gewandte Handhabung der Lanze durch den Reiter ist wahrlich nicht leicht zu erlernen, und die ungeschickten Leute ( und das sind ja die meisten) haben es niemals weit genug in der Gewöhnung an diese Waffe bringen können . Hatte man einen solchen ungeschickten Kerl neben sich in der Front, so hatte man oft genug die Lanze des Nachbars zwischen seinem Knie und dem eigenen und das verursachte einen Schmerz zum Aufschreien. Es ist darum wohl sehr richtig, daß man neuerdings die ganze Kavallerie mit Lanzen bewaffnet hat, damit der junge Rekrut schon gleich bei seinem Eintritt so gründlich wie möglich mit der Lanze umgehen lernen kann. Hoffentlich wird man auch bald alle Kavalleristen mit derselben Uniform versehen und zwar gewiß am besten mit der einfachsten und praktischsten Uniform der Dragoner, die ich selbst später über 20 Jahre lang getragen habe. Denn die Uniformen der Kürassiere sind doch für den Kriegsdienst entsetzlich unpraktisch ; die Kürasse dienen nicht mehr zum Schutz gegen Kugelschüsse, und die weißen Koller leuchten auf weite

Garde-Ulan in Berlin.

Entfernung hin, werden außerdem auch noch leicht schmuzig.

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Auch die

Ulanen- und Huſarenuniformen laſſen für den Kriegsdienst viel zu wünſchen übrig, und nur für diesen Dienst allein, nicht für den Friedensund Paradedienſt, ſollten die Uniformen zugeschnitten sein. Welch enorme Kosten verursachen die verschiedenartigen Kavallerieuniformen dem Militäretat ; welche oft unerschwinglichen Kosten dem einzelnen Offizier, der von einem Kavallerie-Regiment zum andern verſezt wird, zumal da auch die Pferdebekleidung für die genannten vier Sorten von Kavallerie eine verschiedene ist.

Dabei hat doch der Unterschied zwischen schwerer und

leichter Kavallerie, welchen man in früheren Jahrzehnten so scharf betonte, ganz aufgehört, denn alle Kavallerie soll doch nur leicht und schnell sein. Ich selbst hätte in meiner Stellung als Reserveoffizier mir in wenigen Jahren vier verschiedene Kavallerieuniformen anschaffen müſſen, denn meine vielen Versetzungen als Zivilbeamter führten mich hintereinander in die Bezirke der verschiedensten Kavallerie-Regimenter, deren Uniform man je nach dem Wohnort als Zivilbeamter tragen sollte. Nur durch die gütige Vermittelung meines alten Gönners von Posen her, des General-Feldmarschalls v . Wrangel, bin ich in die Lage gekommen, nur die Uniform eines Reserveoffiziers des 2. Dragoner-Regiments tragen zu dürfen, nachdem ich die Uniform eines Landwehr-Ulanenleutnants in den ersten Jahren nach meiner Ernennung zum Offizier angeschafft hatte. Die fürchterlich unpraktische Uniform, wie ich sie als Garde-Ulan tragen mußte, entsprach wahrlich nicht den Bekleidungsbedürfniſſen eines wohlgebauten männlichen Körpers, wie ihn der liebe Gott geschaffen hat. Ich fange von oben an : Auf dem Kopfe saß ein Schapka, der in seiner Höhe mit seinem Federbusch, seinen Schuppenketten unter dem Kinn und seinen Fangschnüren jeder Bewegung des Kopfes, namentlich bei windigem Wetter, entseßlich hinderlich war ; der Hals war eingeschnürt in einen festen hohen Kragen, welcher ſelbſt mir, der ich einen ziemlich langen Hals habe, namentlich bei Hiße unerträglich war und das Blut nach dem Kopfe drückte ; noch schlimmer wurde diese Halsbekleidung, als die Unteroffiziertreſſen, die ich schon nach sechs Monaten meiner Dienſtzeit anzulegen hatte, den Kragen noch breiter und steifer machten. Die breiten Rabatten über der Brust mußten mit zahlreichen kleinen Häkchen ganz nach Art von Weiberkleidungen zuſammengehakt werden, eine Beſchäftigung, die mühselig und zeitraubend war. Der Unterleib war nicht genügend bedeckt und darum allen Erkältungen ausgejezt, denn das Oberkleid bestand aus einer Art Frack, bei welchem nur der Schniepel hinten fleiner war als beim Zivilfrack und darum keine ordentliche Tasche hatte.

Die Hosen waren mit einem Gurt nebst großer Schnalle hinten

80

Dritter Abschnitt : Universitätszeit.

festgebunden, und da die Hoje keinen Obergurt hatte, so mußten auch die Hosenträger in jedem Falle mit abgeknöpft werden ; der schwere Säbel hatte einen breiten ledernen Riemen, welcher unter dem oberen Teil der Hose zusammengehakt wurde, so daß die Hose den Säbel selbst mittragen mußte. Der Mann, welcher beim Eyerzieren austreten mußte, bedurfte immer mindestens zehn Minuten, um fertig zu werden, obwohl er dabei durch einen Unteroffizier, der ihm Pferd und Lanze halten mußte, unterstügt wurde. Dabei war es völlig verpönt, namentlich gegenüber älteren Offizieren, daß man irgend etwas an der Art dieser Uniformierung zu tadeln fand, denn die Uniformen wurden einfach für schön und dar um für gut befunden, und in der Jacke des armen gemeinen Ulanen hatte ja keiner von diesen Offizieren gesteckt.

Dabei hatte doch Friedrich Wilhelm IV.

nur wenige Jahre vorher bei der gesamten Infanterie die kleidſamen Waffenröcke statt der abgeschmackten Fracks eingeführt und damit seinen Infanteristen die zweckmäßigste und schönste Kleidung gegeben, an der in späteren Jahren noch so manche Verbesserungen vorgenommen worden sind. Ich hatte damals schon die Uniformen der anderen europäischen Armeen kennen gelernt, die mir so viel praktischer und namentlich für den Krieg geeigneter erschienen, daß ich ordentlich traurig über die beschriebene Uniformierung unserer Kavallerie gestimmt war, und ich freute mich darum doppelt, daß mein seliger Vater wie andere hohe Generale mit mir übereinstimmten, wenn ich ihnen die schlimmen Eigenschaften meines bunten Rocks an mir ſelbſt erklärte. Die Kasernen und Ställe sowie die offenen Reitbahnen zwischen diesen Ställen lagen nahe der großen Artilleriefaserne, unweit der Universität. Der innere Dienst in unserer weißen Schwadron war durch unseren Rittmeister und Wachtmeister vortrefflich geregelt, so daß wir stets von den Vorgesetzten belobt wurden, während die rote Schwadron dicht neben uns unter dem Rittmeister Grafen Schlippenbach stets schlechter abschnitt. Bei uns herrschte große Ruhe in der Schwadronsführung, dort wurde fortwährend geschimpft. Von unserer Wohnung bis zum Stall hatte ich fast 20 Minuten zu gehen, so daß ich oft sehr früh aufstehen mußte, um rechtzeitig zum Dienst zu kommen, namentlich in den vielen Wochen, in denen ich täglich mein Pferd pußen und futtern mußte. Als ich bei einem kalten Morgen einmal in den warmen Stall hineintrat, fiel ich plöglich neben meinem Pferde in Ohnmacht, was mir sonst nie, auch bei den stärksten Strapazen, begegnet ist. Ich kam aber sofort wieder zum Bewußtsein, als mir der oben erwähnte hohe Kragen aufgehakt worden war.

Mein Vater hatte zuerst ein sehr schönes eigenes Reitpferd für mich in die Schwadron eingestellt, nahm es aber dann auf meinen Rat wieder

Militärdienst.

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zurück, weil es doch zu schade für diesen Dienst war, und kaufte dafür ein Schwadronspferd für 120 Taler.

Es wurde mir dafür ein unförmlich

großes Pferd, dabei ein fürchterlicher Hochtraber und Krippensezer geſtellt, an deſſen Untugenden mich zu gewöhnen ich längerer Zeit bedurfte ; namentlich war das Beſteigen des Pferdes ohne Sattel und Steigbügel nicht leicht, auch war der Trab auf dem Woylach oder dem blanken Pferde erschütternd. Aber man gewöhnt sich ja schließlich an alles, und ich gewann doch mein Pferd recht lieb.

Schade war es nur, daß nach da-

maliger Unfitte am Schluß des Dienstjahres das Pferd an den Wachtmeister geschenkt werden mußte. Es gab auch noch eine Menge anderer ähnlicher Unsitten. Den Unteroffizieren mußte man manche Gabe reichen, und auf den Wachen wurde stets das ganze Unteroffizierkorps eingeLaden und mit gutem Essen und Getränken in der Wachtstube beköſtigt. Die Garde-Kavallerie hatte damals die Wache am Anhaltischen Tor zu beſeßen, und als ich dazu kommandiert, war ich sehr gespannt darauf, wie lang mir die zwei Stunden werden würden, in welchen ich viermal bei Tag und Nacht auf- und abzugehen haben würde.

Aber ich hatte

mich getäuscht, denn auch diese Pflicht mußte man sich abkaufen laſſen, wenn man nicht in ganz schlechten Ruf kommen wollte : der Ulan, der ſtatt meiner Schildwach stand, bekam für jede Stunde 5 Silbergroschen. So habe ich denn nur einmal 2 Stunden selbst Schildwach gestanden und zwar am späten Abend, so daß ich doch die Langeweile, die sich der armen Schildwache bemächtigen muß, selbst gekostet habe. Aber auch diese Stunden mußte ich erst dem betreffenden Ulanen abkaufen. Es gab damals noch eine Unmasse von Schilderhäusern in Berlin, ihre Zahl ist seitdem bedeutend verringert worden, aber doch erscheint sie noch immer zu groß gegenüber der Nichtstuerei, zu der die Wacheſtehenden verdammt werden.

Auch vor unserer Wohnung standen jahraus, jahrein

zwei Schildwachen, die der über uns wohnende General der Infanterie v. Luck als solcher zu beanspruchen hatte.

Gott sei Dank ging dadurch

die eine Schildwache, welche mein Vater hätte bekommen müſſen, in die Brüche. Bei arger Hite oder bei strammer Kälte habe ich die armen. Posten oft herzlich bedauert, wenn sie vor meinem Fenster auf- und abgingen und nicht einmal ſogenannte „Honneurs “ zu machen hatten, da unser Haus in der Mitte des Rundells des Leipziger Plates lag, wo kein Offizier vorbeiging . übrigens machte mir der Militärdienst große Freude, so daß ich auch zwei Jahre später gar zu gern Kavallerieoffizier geworden wäre. Manche Parade habe ich unter Führung des Prinzen von Preußen, der damals das Gardekorps kommandierte, mitgemacht. Eine von diesen Paraden wurde auf dem kleinen tiefsandigen Ererzierplatz abgehalten, welcher zwischen dem jezigen Reichstagsgebäude und dem Krollschen v. Diest, Lebenslauf eines Glücklichen.

6

Dritter Abschnitt: Universitätszeit.

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Theateretablissement lag, auf deſſen Mitte jezt die große Siegessäule ſteht und der jezt mit den schönsten Gartenanlagen bedeckt ist . So oft ich diesen Plaz betrete, muß ich über die Veränderung staunen, die derselbe in verhältnismäßig so kurzer Zeit erfahren hat. Bei dieser Parade hielt Seine Majestät auf der Längsseite des Plates mit dem Rücken gegen die Alsenstraße. Mein seliger Vater hielt mit vielen anderen Generalen dicht neben dem König, und ich freute mich wie ein Kind, als er mich mitten aus der Ulanenschwadron heraus erkannte und mir zunickte. Besonders interessant aber waren mir die Felddienstübungen .

Bei

einer von diesen durfte ich selbst einen Zug von etwa 30 Mann kommandieren, und als meinen Feind hatte ich den zweiten Sohn des damaligen Hausministers v. Massow, der mit mir bei derselben Schwadron als Einjährig-Freiwilliger stand und auch einen Zug von 30 Ulanen befehligte. Unser beider Ehrgeiz bei diesem Kriege im kleinen erreichte den höchsten Grad, nur haben wir nie erfahren, wer eigentlich Sieger geblieben ist. Außer dem genannten Herrn v . Maſſow diente noch ein v . Saucen aus Ostpreußen (den ich später als Mitglied der Fortschrittspartei im Reichstag wiederfand) und ein dicker gemütlicher Herr v. Schönermarck, der Sohn eines reichen Domänenpächters aus Priborn in Schlesien, bei der weißen Schwadron.

Bei der roten stand der Studiojus Homeyer (der

spätere Unterstaatssekretär im Staatsministerium) . Am Ende unserer Dienstzeit feierten wir Einjährigen ein solennes Abschiedsfest, bei welchem Schönermarck eine hohe Wette mit mir einging, da ich seiner Behauptung entgegentrat, es werde sich das damals erst beginnende Omnibusfuhrwesen in Berlin nicht halten können, zumal da die Wagen für die Pferde zu schwer seien. Ich habe die Wette gewonnen, aber es ist nie zum Austrinken des Weines gekommen, welcher der Preis der Wette war.

Welch gewaltigen Aufschwung hat seitdem das

Omnibusfuhrwesen in Berlin genommen !

So wurden ja auch erst An-

fang der dreißiger Jahre die ersten Droschken in der Zahl von hundert in Berlin eingeführt, und wir Jungens schrieen immer ein kräftiges Hurra dem Kutscher entgegen, welcher die Droschke Nr. 1 führte. Und wieviel Tausende von Droschken aller Art befahren jetzt die Berliner Straßen! Sofort nach jenem

Abschiedsfest

legte Herr v. Massow

einen

mehrere Meilen langen Ritt nach seiner Heimat, dem Massowschen Gute Steinhövel zurück. Dort ging er nach der Ankunft an das Krankenbett seiner Mutter, die am Nervenfieber daniederlag, und nach wenigen Tagen war er selbst am Nervenfieber gestorben ein Todesfall, der mich tief erschütterte und mir darum unvergeßlich geblieben ist. Nach bestandenem Offiziereramen erhielt ich ein Qualifikationszeugnis, wonach ich mich als „ein sehr moralischer und gebildeter junger Mann “ bewiesen, vom Re-

83

Leipziger Platz.

gimentskommandeur Grafen Solms und dem Kommandeur der GardeKavallerie v. Tümpling ausgestellt. Unsere Wohnung am Leipziger Plaz lag für mich besonders günſtig : Uns gegenüber wohnte Robert v. Keudell, der ausgezeichnete Dilettant auf dem Klavier, den ich leider erst zwei Jahre später näher kennen lernte ; zwei Häuſer neben uns wohnte der intereſſante Aſſeſſor Graf v. der Golz, der spätere Botschafter in Paris ; vor allem aber war mir der tägliche Umgang mit meinem alten Freunde Arthur v. Wolff dadurch sehr erleichtert, daß er zuerst in der Leipzigerstraße Nr. 2, demnächst in dem eigenen Hause seiner Eltern, Leipzigerstraße 118, wohnte.

Die ganze Familie

des schon damals berühmten Felix Mendelssohn habe ich dadurch kennen gelernt, daß der Wolffsche Garten neben dem Mendelssohnschen Garten lag und nur durch einen niedrigen Zaun von ihm getrennt war.

Mein

lieber Freund hatte in der Leipzigerstraße 118 eine reizende Gartenstube inne, in welcher wir die schönsten Stunden verlebt haben .

Schon seit

längeren Jahren hatten wir jungen Leute ein Leſekränzchen, in welchem klassische Dramen mit verteilten Rollen gelesen wurden. Dies Lesefränzchen wechselte in den Wohnungen der verschiedenen Teilnehmer, und der Wirt mußte das erforderliche Getränk dazu liefern. Zu diesen Kränzchen, das hauptsächlich aus uns Gymnasialfreunden bestand, gehörte auch ein junger, sehr schöner Maler, Herr v. Binzer, der Sohn des bekannten Burschenschafters, der u. a. das Lied gedichtet hat, was damals unendlich oft und mit Begeisterung gesungen wurde : „Wir hatten gebaut ein stattliches Haus, und drin auf Gott vertraut, troß Wetter, Sturm und Graus . “ Wenn es aber im leßten Verſe dieſes Liedes heißt : „ Das Band iſt zerriſſen, war schwarz, rot und gold ", dann ſangen wir damals schon statt der Worte schwarz, rot und gold" diejenigen nach den Farben des Korps, dem jeder einzelne angehört hatte oder später angehören wollte.

Dieser Herr v. Binzer ist mir später noch oft begegnet,

in Heidelberg, in Rom 2c.; zulegt hat er noch viele Jahre lang auf dem Hohenthalschen Schloß Dölkau gewohnt, wo er viele Säle und Zimmer mit Freskobildern ausgemalt hat. Mir schenkte er in Rom 1854 die Photographie seines großen Bildes Abrahams Grablegung", welches er dort in seinem Atelier in dem Palazzo Venetia gefertigt hatte. Ich sollte nach seiner Meinung durchaus seine Familie und namentlich seine schönen Schwestern kennen lernen, welche in Aussee eine Villa bewohnten ; ich habe dieser Einladung aber niemals folgen können. In dem Kreise meiner frischen, lustigen Freunde wurde auch manches Spiel getrieben, namentlich Schach, Whist, manchmal auch Hazardspiel ; auch wurde mancher tolle, wenn auch unschuldige Streich vollführt. So wurde z. B. an einem Abend, oder vielmehr in einer Nacht, bei den beiden Brüdern Grafen Westarp, welche in dem Gouvernementsgebäude 6*

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Dritter Abschnitt : Univerſitätszeit.

in der Wallstraße bei ihrem Großvater, dem Feldmarschall v. Müffling damals Gouverneur von Berlin wohnten, die Erscheinung von Gespenstern ausgehect. In einer Stube dieses alten Hauses sollte es nämlich nach einer alten Sage spuken, so daß um Mitternacht hinter einer Nische dieser Stube Kettengerassel zu hören sei.

In dieser Nische wurde eines

Abends tüchtig gezecht, in der Mitte hatten Westarps eine große Schale aufgestellt, welche mit Spiritus und Salz gefüllt war. Dieser brennende Spiritus gab nun dem ganzen Zimmer einen wunderlichen Schein, und es nahmen die Gesichter der Zecher eine bleiche Leichenfarbe an. Auf dem Turm der nahen Werderschen Kirche schlug es 12 Uhr, und richtig - hinter der Nische wurde Kettengerassel hörbar, und durch die ſich von selbst öffnende Tür trat eine furchtbar lange weiße Gestalt. Mit Studentenschlägern, die ja niemals bei unseren Kneipereien fehlen durften, wurde in die Gestalt hineingestochen, und siehe da, man stach durch und durch, ohne Widerstand zu finden. Einer von uns - Felix Kundewar besonders tätig bei diesem Stechen und schrie dabei aus Leibesfräften.

Schließlich kam es denn heraus, daß Westarps einen Burschen

auf hohe Stelzen gesezt und ihn mit einem langen weißen Tischtuch von oben bis unten bedeckt hatten.

Der Kerl konnte aber von Glück sagen, daß

immer zwischen seine Stelzenbeine gestochen worden war und er ohne schwere Verwundung davonkam. Ein herrlicher Morgenspaziergang in den Tiergarten folgte dieser Nachtszene. Noch eines sehr lieben Freundes muß ich hier Erwähnung tun, es war Frit Braun, der

Sohn des Vorgängers

meines

Vaters, des

Artillerieinspekteurs General Braun. Er verließ das Friedrich-WilhelmsGymnaſium einige Zeit nach mir und studierte Theologie. Früh hatte er Vater und Mutter verloren und war ein recht armer Waiſenknabe.

In seinem gottesfürchtigen Ernst war er mir immer ein Muster,

und darum hatte ihn auch mein Vater besonders lieb. Ja, nach Heidelberg schrieb mir mein Vater : „Ich wünschte, Dein Braun wäre dort bei Dir, er scheint ein sehr gediegener, zuverlässiger Mann zu sein. " Nur eins mußte ich an Braun tadeln, daß er nämlich in seiner Freundschaft zu mir eifersüchtig war, ja sogar den Umgang mit mir darum immer mehr aufgab und nach langen Jahren die Freundschaft vollständig abbrach, weil ich ihm nicht versprechen wollte und konnte, daß er mein einziger, oder doch wenigstens mein bester Freund für immer bleiben würde ; dabei nannte ich ihm meinen Arthur Wolff, den ich ebenso lieb hätte wie ihn. Er trieb alles, was er trieb, mit großer Gewissenhaftigkeit : so hatte er sich denn schon als Student mit großem Eifer die Gründung des Theologenbundes Wingolf auf den verschiedensten Universitäten Deutschlands angelegen sein lassen und stand darum in hohem Ansehen bei allen damaligen jungen Theologen. Auch die damals noch seltene Kurzschrift,

Krankheit.

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die Stenographie, hatte er sich der Zeitersparnis wegen mit vieler Mühe selbst angeeignet und alle seinen viele Briefe an mich sind stenographisch geschrieben; denn er hatte mir während meiner Genesung von einer Lungenentzündung die Stolzesche Stenographie gelehrt, und ich habe sie mit großem Interesse gelernt, aber leider später aus Mangel an Übung wieder verlernt. In den späteren Jahren sind ja noch bedeutende Verbesserungen in die verschiedenen stenographischen Systeme eingeführt worden, so daß ich immer die Stenographen im Reichstage, in der Generalfynode und in anderen großen Versammlungen in ihrer Tätigkeit mit Vorliebe verfolgt und bewundert habe.

Leider aber muß ich fürchten,

daß diese schöne Erfindung doch kaum jemals in die Volksschulen eingeführt und so Eigentum des ganzen deutschen Volkes werden kann, aber immerhin würde es schon ein großer Gewinn sein, wenn etwa in der Sekunda der Gymnasien und Realschulen die Stenographie gelehrt würde. Ist es doch schon sehr erfreulich, daß viele Soldaten jedes Regiments jezt schon Unterricht in der Stenographie erhalten. Wenn ich vorher erwähnte, daß ich eine Lungenentzündung gehabt, so erfüllt mich besondere Dankbarkeit gegen Gott den Herrn, daß ich sehr selten ernstlich krank gewesen bin.

Freilich hatte mich schon ein-

mal Ende der dreißiger Jahre ein hißiges Fieber lange Wochen ergriffen ; ſeitdem kommt es mir bei jedem Krankenbett immer wieder in das Gedächtnis, wie wichtig es ist, daß der Kranke in der Fieberhiße seine Phantasien nicht an gewisse Gegenstände klammern kann, die er von seinem Bett aus sieht. Es ist auffallend, an welche unschuldigen Dinge der Kranke oft die schreckhaftesten Träume knüpft. Ich konnte damals von meinem Bett aus durch die Fenster den Himmel mit ſeinen Sternen sehen und dabei auch die Tatsache, daß die Sterne ihre Stellung veränderten.

Daraus machte ich mir die Phantasie zurecht, daß die

Sterne an großen Drähten befestigt waren, die durch meine Brust gingen, so daß der einzelne Stern, immer größer und größer werdend, auf mich los- und an meinem Rücken wieder herauskam. So waren ferner auf einem Schranke gegenüber meinem Bett drei antike Büsten von römischen Kaisern aufgestellt.

Diese drei Köpfe sprachen nach meiner

Meinung fortwährend miteinander, und ich hörte heraus, daß sie ein furchtbares Komplott gegen das Leben unseres Königs verabredeten ; ich wurde darüber immer trauriger, weil keiner meiner Lieben, die an mein Bett traten, ſelbſt mein Vater nicht, auf meine Fiebergedanken eingehen wollte. Nur dem Kandidaten Schmidt, dem Hauslehrer meines Bruders Wilhelm, schenkte ich mein volles Vertrauen, weil er die drei entsetzlichen Büsten vor meinen Augen entfernte.

Es scheint mir dies

auch jezt noch für die Krankenpflege keine unwichtige Tatsache zu sein, ebensowenig wie die, auf die mich in späteren Jahren der berühmte

86

Dritter Abschnitt : Universitätszeit .

Augenarzt Albrecht v. Graefe in Berlin aufmerksam machte, daß die Kopfkissen eines Bettes niemals so liegen dürfen, daß die Augen des Schlafenden oder Erwachenden gegen das Licht sehen. Er ( Graefe) habe eine Menge von schweren Augenkrankheiten, ja sogar völlige Erblindung bei denen erlebt, denen die Sonne in ihrem Bett ins Gesicht geschienen hatte. Ich habe darum später als Regierungspräsident alle Polizeibehörden angewieſen, die Aufmerksamkeit der Gastwirte auf die richtige Lage der Kopfkissen zu lenken. Eines sehr traurigen Todesfalles in meiner Familie, der sich im Jahre 1846 ereignete, muß ich gedenken.

Mein Vetter, der Referendar

Ludwig v. Bodelschwingh, starb an einem Schusse, welchen er in einem Piſtolenduell erhalten hatte. Die Veranlaſſung zu dieſem unglückseligen Duell hatte ein ganz unbedeutender Streit beim Glaſe Bier gegeben. In einem großen, damals sehr bekannten Bierlokal von Wallmüller fanden sich allabendlich viele alte Heidelberger an einem Stammtisch zuſammen ; da seßte sich ohne eine besondere Einladung ein Aſſeſſor, der als Hilfsarbeiter beim Miniſterium des Innern arbeitete (er wurde später Oberbürgermeister von Elberfeld) an diesen Stammtisch.

Das

ärgerte aber die Mitglieder des gewohnten Kreises, und sie fingen an, den Fremden fortzunecken und ihn aufzuziehen ; besonders beteiligte sich dabei ein Referendar Jagor, der Sohn des bekannten Hoftraiteurs Unter den Linden . Da aber Ludwig Bodelschwingh von seinem Vater gehört hatte, daß der Fremde, der sich ihm vorgestellt hatte, ein sehr tüchtiger Verwaltungsbeamter sei, so verteidigte er ihn gegen Jagor.

Ein Wort gab das andere, und da die Geſellſchaft einigermaßen

angetrunken geweſen ſein muß, ſo endigte der Streit damit, daß eine tumultuarische Scene bei Entfernung des Fremden von dem Stammtische entstand. Darauf forderte Jagor meinen Vetter auf Pistolen, und alle Bemühungen, einen friedlichen Ausgleich herbeizuführen , blieben gegenüber Jagor umsonst, und mein Vetter glaubte, nach dem, was man bei den unglücklichen Duellsitten in der Welt für ehrenhaft hält, die Forderung nicht ablehnen zu dürfen.

So kam denn dieser älteste und

begabteste Sohn meines Onkels Bodelschwingh eines Tages nach Hause, anscheinend ganz ruhig, aber bleichen Antliges ; er hatte die rechte Hand unter den Rock gesteckt und sagte seiner Mutter, sie möchte nicht erschrecken, er habe eine kleine Wunde ; eine Pistolenkugel war ihm über dem rechten Handgelenk in den Arm gedrungen. Man hielt die Wunde zuerst nicht für gefährlich, aber doch trot liebevollster Pflege Tag und Nacht ist Ludwig schon nach drei Tagen entschlafen.

Einen rührenden

Abschiedsbrief fand man in seiner Stube im Ministerium des Innern ; aber die Trauer um ihn beherrschte lange lange Zeit die ganze Familie. Ich entsinne mich noch genau, daß mein Onkel, als die Frage entschieden

Ludwig v. Bodelschwinghs Tod.

87

werden sollte, ob eine Schwester des Entschlafenen wieder ein neues Trauerkleid anschaffen sollte, die Entscheidung mit lateinischen Worten aus dem Tacitus gab : „Die Germanen pflegen ihre Trauer um einen Verstorbenen nicht lange äußerlich zu tragen, um so länger aber innerlich in ihrem Herzen." Der Verstorbene versprach ein bedeutender Mann zu werden ; kaum 17 Jahre alt, hatte er das Abiturienteneramen, und kaum 20 und 22 Jahre alt, die beiden juristischen Examina summa cum laude bestanden; er kam schon 1841 als Student nach Berlin in ein völlig ungebundenes Leben hinein.

Es ist immer ein großes Wagnis, wenn

namentlich lebhafte und hochbegabte junge Männer in so großer Jugend ſelbſtändig werden ; das gilt für jeden Lebensberuf, insbesondere aber für Studenten und Offiziere. Wie viele habe ich in meinem langen Leben nur deshalb untergehen sehen! Zwei Jahre später fuhr mich mit meinen Sekundanten, Arthur Wolff und Robert Puttkamer, derselbe Kutscher, der auch meinen ſeligen Vetter bei dieser seiner letzten Fahrt gefahren hatte, in demselben Wagen nach demselben Orte (dem Spandauer Berg ) zu einem Pistolenduell. Als mir der Kutscher dies mitteilte, wollte mir dieſer Zufall als unglückverkündend vorkommen.

Aber Gott hat es anders mit mir gewollt !

Freilich war mein Duell in ganz anderer Weise veranlaßt worden, als das von Ludwig Bodelschwingh. Sein Gegner, Jagor, blieb unbestraft, denn er suchte sofort das Weite und hat sich jahrelang nach den mir gewordenen Mitteilungen in China und Japan aufgehalten.

Jezt erscheint

es wahrlich die höchste Zeit, den traurigen Duellsitten in den höheren Gesellschaftskreisen mit aller Macht entgegenzutreten, wie es ja auch die Vertretungen der evangeliſchen Kirche und des deutschen Volkes energisch verlangt haben. Meine Sehnsucht, welche ich schon 1845 gehegt, aber wegen meiner Reisen und meines Dienstjahres hatte unterdrücken müssen, sollte nun doch zu Ostern 1847 erfüllt werden. Es wurde meinem Vater schwer, mir die Einwilligung dazu zu geben , daß ich noch zwei Semeſter in Heidelberg studieren wollte, aber er hatte mich viel zu lieb, als daß er mir diesen Herzenswunsch abschlagen sollte. Freilich stellte er mir eine Bedingung, die nicht leicht war, auf die ich aber sofort mit festem Entschlusse einging, daß ich versprechen sollte, gleich nach meinem sechsten Semester mein erstes juriſtiſches Examen zu machen. Wie schwer wurde mir aber der Abschied von meinem Vater ; er lag noch im Bett, als ich am frühen Morgen zur Eisenbahn abfuhr . Am Tage hatte ich auch noch meinen Onkel Bodelschwingh vor dem Königlichen Schloß begrüßen können,

als

er, kaum

genesen von

einer neuen lebensgefährlichen

Lungenentzündung, zu der Eröffnung des erſten vereinigten Landtages fuhr.

.

: Univerſitätsz

Abschnitt

Dritter

888

Auf dem Bahnhof in Halle empfing mich mein treuer Freund Braun und nahm mich mehrere Tage in seine Wohnung auf, welche vier Treppen hoch fast unter dem Dach auf einem kleinen Plaße, dem sogenannten Trödel, sich befand.

Neben Brauns fleißigem und ernſtem Wesen widerte

mich das Treiben der Halleschen Korpsstudenten arg an; ich fand z . B. einige Bekannte, die ich vormittags aufsuchte, kaum zurechnungsfähig in entseßlichem Kater nach dem Saufen in der vergangenen Nacht vor ; dabei wurde damals in einem fürchterlichen Biere, genannt die Gose, gekneipt. Wie ergriffen aber wurde ich schon damals über die geſegnete Wirksamkeit des Profeſſors Tholuck unter den jungen Theologen. Braun begleitete mich nun auf meiner Weiterreise per Eisenbahn bis Weimar und von da zu Fuß über das Thüringer Waldgebirge bis Suhl und Schleusingen. Ein gewaltiges Schneeunwetter pacte uns auf dem Rennsteig, und von dem Gasthof „Schmücke“ aus, wo wir die Nacht geblieben, mußten wir durch Schneemaſſen, welche einige Fuß hoch lagen, hindurchstapfen, und dabei war es Mitte April, ſo daß alle Zeitungen von dieſem Naturereignis berichteten. So lange wir im Walde blieben, hatten wir viel Vergnügen an den Schwierigkeiten, die sich unserer Wanderung entgegenstellten, als wir aber aus dem Walde herausfamen, ergriff uns die Besorgnis, schneeblind zu werden, so daß wir zu dem Mittel griffen, immer dicht einer vor dem andern zu gehen, um dadurch den schwarzen Rücken des Mitreisenden vor uns zu haben. Als wir endlich im Gasthof zu Suhl ankamen, sahen wir alle Gegenstände mit Regenbogenfarben umgeben. In Schleusingen besuchte ich den Forstmeister Klingner, bei welchem eine Menge von jungen Forstkandidaten in der Lehre waren, so auch mein Freund, der Graf Victor Westarp. Dieser freundliche Forstmeister lud mich sogleich zu einer für mich ersten Auerhahnjagd am folgenden Morgen ein, aber meine Jagdpaſſion erlitt einen argen Stoß, als ich, um 2 Uhr nachts aufgestanden, vergebens auf den Wagen des Forſtmeiſters wartete und er mir sagen ließ, daß die Jagd wegen des strammen Regens, der in der Nacht begonnen hatte, aufgegeben werden müſſe. Allein reiste ich nun per Post weiter nach Würzburg und dann den Main herab in herrlicher Dampfschiffahrt bis Miltenberg. Von da ging es zu Fuß durch den Odenwald über Amorbach, dem Neckar zu und dann dieſen lieblichen Fluß entlang nach Heidelberg. Ich befand mich auch bei dieser Reise wie in einem wunderſeligen Kindertraum ! Bald fand ich eine nette billige Wohnung auf der Hauptstraße bei der sehr ehrlichen Familie des Sattlers Dreher, und ebenjobald befand ich mich in einem großen Kreise von neuen Bekannten, deren Mehrzahl zu dem Korps der Saroborussia gehörten. Am meisten sympathisch war mir unter diesen der Graf Oswald Zedliz- Trüßschler, der leider sehr

Heidelberg.

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jung als Gerichtsassessor starb, (sein jüngerer Bruder war der spätere Kultusminister) , ferner v. Levezom (der spätere Reichstagspräsident) mit seinem damaligen Kneipnamen immer das „Ir" genannt und v. Hagemeister (der spätere Oberpräsident von Westfalen) mit Kneipnamen „Hobelmann “. Dieſe drei sind mir auch später treue Freunde geblieben ; erwähnen möchte ich aber ferner als nette und zum Teil höchst originelle Männer den Senior des Korps, Fizwilliam Roß (mit Kneipnamen „der Fig“) , v . Kardorff, der später bekannte Abgeordnete, Paul Jordan, der spätere Generalkonsul in London, Graf Hompesch, der spätere Mitführer der Zentrumspartei, v . Prizelwiß, v . Oven, v. Gerstenberg, der spätere altenburgische Miniſter, Mittelstädt (mit Kneipnamen „Pandur") , v. Könnerit (mit Kneipnamen der Gute", weil er jeden Menschen in seinem sächsischen Dialekt „mein Jutester" nannte) 2c. Aber auch unter den Nichtkorpsstudenten fand ich liebe neue Bekannte und nenne da namentlich den Sohn des Appellationsgerichtspräsidenten in Köslin, meines späteren Examinators , Eduard v. Baehr, mit dem ich bis zu seinem frühen Tode in dauerndem Briefwechsel geblieben bin. Ich wäre gewiß in das Korps der Saxoboruſſia eingetreten, wenn ich in früheren Semestern nach Heidelberg gekommen wäre und wenn ich nicht dem meinem Vater gegebenen Versprechen gemäß hätte fleißig sein müſſen. Die bedeutenderen Mitglieder des Korps legten mir es häufig sehr nahe, in das Korps einzutreten, obwohl sie mich nicht dazu pressen oder nach der Studentensprache dazu „keilen" durften. Aber ich mußte standhaft bleiben, hätte ich doch alle Kneipereien mitmachen, regelmäßig auf dem Fechtboden erscheinen und die Krankenpflege bei den schwerer, in den Paukereien Verwundeten übernehmen müſſen, und dann wäre aus meinen Arbeiten nichts geworden.

Das hinderte aber nicht, daß ich

ein häufiger und zu meiner Freude gern gesehener sogenannter „Mitkneipant" wurde. Von dem Korpsleben kann ich im allgemeinen nur voll Lobens und Rühmens sein, wenn es auch freilich nicht an Auswüchsen fehlt. So wurde von manchem übers Maß getrunken, so wurde ferner ziemlich kostspielig gelebt, so daß infolge davon Schulden, namentlich bei dem jüdischen Geldwucherer „ Papa Mais “ gemacht wurden. So wurden koloſſale Einkäufe in dem Porzellanladen von Lieber an Taſſen, Pfeifenköpfen 2c. (mit Malereien darauf) gemacht, so kam auch manche Rauferei auf den Straßen vor, die gewöhnlich nachts damit begannen, daß die verachteten ,,Büchsiers “ d. h. die Nichtkorpsſtudenten und Burschenschafter, „gerempelt" wurden ; es bestand z . B. auch eine sogenannte Tischlerverbindung, die sich zur Aufgabe machte, die Schilder an der Straßenseite der Häuſer abzureißen und zu vertauschen. Diese Verbindung hatte zu Korpsfarben dunkelgrau, eselsgrau, hellgrau, und ihre Devise lautete : „Wenn ich trinke, jo

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Dritter Abschnitt: Universitätszeit.

stinke ich, wenn ich nicht trinke, so stinke ich auch ; drum will ich lieber trinken und stinken, als nicht trinken und doch stinken." Großartig waren manche Feste des Korps, so insbesondere der zwei Tage dauernde „Neckarsteinacher", wo denn der Stiftungstag des Korps, der 3. August, höchſt feuchtfröhlich gefeiert wurde ; auf einem sehr schön ausgeschmückten Schiffe fuhr die ausgelaſſene Geſellſchaft ( das Korps bestand damals aus 45 Mitgliedern) den Neckar hinauf nach dem reizenden Neckarsteinach mit seinen drei romantischen Burgen. Der Gastwirt „Zur Harfe“, Papa Jungmann, machte alle Kncipereien gründlich mit, und alle Korpsſtudenten hatten mit ihm Brüderschaft getrunken. Sehr arger Blödsinn wurde in dem Städtchen getrieben ; es wurde z . B. in die Schulen gegangen, um statt des lachenden Lehrers die Kinder zu unterrichten. Das studentische Sprichwort : Kinder und Betrunkene haben ihre eigenen Engel, die sie vor Gefahren behüten", fand in Neckarsteinach bei den tollkühnſten Streichen seine Bestätigung. Ein Saroborusse mit Namen Parey wählte 3. B. sein Lager, um sich auszu schlafen, auf dem dicken Epheu, welcher die Mauern der alten Ruine Schwalbennest bedeckte ; die kleinste Bewegung im Schlaf hätte ihn zum Absturz und damit zu Tode gebracht. Der dicke katholische Pfarrer aus dem Dorfe Dielsberg auf der Höhe der anderen Seite des Neckar leistete uns stets bei unseren Festen gründlich mittrinkende Gesellschaft. Auch die Antritts- und Abschiedskommerse in der berühmten „Hirsch.

gaſſe", einer Kneipe in einem Seitental gegenüber Heidelberg, führten manchen heiteren, aber auch manchen stürmischen Auftritt herbei. Die Borussen und die Westfalen waren immer befreundete Korps gewesen gegenüber den ihnen mensurfeindlichen Korps der Vandalen und der Schwaben; die beiden anderen Korps, die Schweizer und Nassauer, kamen wenig in Betracht, da sie nur eine sehr geringe Zahl von Mitgliedern hatten. Die Freundschaft der beiden erstgenannten Korps erreichte ein plötzliches Ende auf dem Antrittskommerse im Herbst 1847. Wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel wirkte der Tusch : „Fik, dummer Junge", welchen der Senior der Westfalen, Graf Holstein, dem Senior der Borussen zuschleuderte. Die Mitglieder beider Korps sprangen sofort auf Stühle und Tische und schrieen sich gegenseitig dummer Junge" an ; daraus entstanden denn eine Menge von Mensuren für das nächste Semester. In dem Dörfchen Neuenheim (nicht wie früher auf der Hirschgaſſe) fanden damals die Mensuren statt. Mit höchstem Intereſſe verfolgten alle Zuschauer den Kampf der beiden Fechtenden ; denn es gab unter diesen recht viele, die sich eine große Fertigkeit auf dem Paukboden angeeignet hatten . Mit dicken Bandagen waren die Arme, der untere Teil der Brust und der Unterleib der Kämpfer geschützt ; aber doch kamen recht gefährliche Verwundungen vor,

Heidelberg.

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ich nenne nur folgende Fälle : der Westfale v. Quadt-Hüchtenbruck erhielt einen Schlag über die rechte Handwurzel, so daß ihm alle Sehnen der Hand zerschnitten wurden und er lange Jahre an dieſer Hand gelähmt war ; dem Vandalen Berg wurde in das linke Auge geschlagen und dasselbe aufs höchste gefährdet ; dem Sayoborussen v. Kardorff wurde die Nase abgehauen und er mußte sich eine künstliche Nase von Blech anjezzen lassen. Solche Fälle haben denn auch dahin geführt, daß in späteren Jahren noch mehr Mittel angewandt wurden, um den Kopf und die Augen besser zu schüßen, im übrigen aber dienen diese Mensuren unzweifelhaft zur Aufrechterhaltung eines guten Tons unter den jungen Herren und sind nichts als ritterliche Kampfspiele, welche nicht mit ernsten Duellen auf gleiche Stufe gesezt werden können. Mein Leben in Heidelberg verstrich in sehr angenehmer, ziemlich regelmäßiger Weise, so daß ich morgens und vormittags und auch einige Stunden nachmittags arbeitete, den Mittagstisch mit den Saroborussen - sei es im „Ritter" oder einem anderen Gasthof - teilte und dann nach einem Spaziergange nach den schönsten Punkten der umliegenden Verge und Wälder, der faſt täglich im Garten des Schlosses endigte, mich nach dem „Riesenstein“ verfügte, der höchst behaglichen Saxoborussenkneipe. Es bestand die löbliche polizeiliche Verordnung, daß alle Kneipen um 11 Uhr verlassen und geschlossen werden mußten, und zu diesem Zweck wurde von den Türmen der Stadt etwas vor 11 Uhr der Abend

ausgeläutet".

Es gingen dann Pedelle der Universität herum,

die eine scharfe Kontrolle führten, und jede übertretung wurde sei es mit Geld, sei es mit Carcer - bestraft. Hazardspiele waren von den Studenten selbst verboten.

Auch in den Musikverein habe ich mich auf-

nehmen lassen und spielte dort Zöpfle Cello

an einem Pulte mit dem Professor

in den verschiedensten

Ouverturen und

Symphonien.

Wundervoll anregend wirkte der gemeinschaftliche Gesang der besten Studentenlieder auf dem „Rieſenſtein“. An Begegnungen mit jungen Damen fehlte es auch nicht, und es wurde manches Ständchen durch Gesänge von Männerquartetten gebracht; freilich habe ich meine ziemlich hohe Tenorstimme in Heidelberg arg gemißbraucht und zu einem großen Teile dort gelassen. Ein älterer Student, namens Sack, der selbst ausgezeichnete Sololieder vortrug, brachte uns den höflichen Umgang mit jungen Mädchen bei ; ich erwähne nur einen Vorfall, der lange große Heiterfeit hervorrief : Eine Menge von uns Freunden gingen abends von Wolfsbrunnen nach dem Schloß, und wir wußten, daß ein sehr schönes Mädchen mit ihren Freundinnen bald nachher desselbigen Weges gehen würde ; da kommandierte Sack uns alle, daß wir Steine vom Wege und vom Acker herbeischaffen mußten, um einen großen Altar mitten auf dem Fahrwege aufzubauen ;

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Dritter Abschnitt : Univerſitätszeit.

von den Blumenverkäuferinnen, die am Schloßgarten allabendlich standen, wurden sämtliche Blumen aufgekauft und auf den Altar gelegt. In den Sand aber vor dem Steinhaufen zeichnete Sack mit seinem Stocke ein großes Herz, von einem Pfeil durchbohrt, und darüber schrieb er die Worte: „Für Evchen, wenig, aber von Herzen“, dann mußten wir uns alle hinter die nahen Büsche verstecken, um den Eindruck zu beobachten, den dieser Aufbau auf die Damen machen würde.

Bald

kam Evchen mit ihrer ganzen Schar um die Ecke des Weges, und es war reizend, zu sehen, wie Evchen geschmückt wurde, aber auch jeder ihrer Freundinnen einen Strauß abgab.

Mit großer Frechheit wurden

dann im Schloßgarten die jungen Damen

gefragt, wo sie denn die

schönen Blumen her hätten, und die heiterſte Geselligkeit folgte dieſem Scherze. Als die Herbstferien begannen, entschloß ich mich, eine Fußreise in die Schweiz anzutreten ; ich wollte aber lieber allein oder höchstens von einem Freunde begleitet sein und hatte mich darum mit einem sehr liebenswürdigen Saroboruſſen, v. Veltheim ( aus Ostrau, am Fuße des Petersberges bei Halle) , verabredet. Leider wurde aber dieser früh verstorbene echte Edelmann plöglich an der Mitreise verhindert, und so erklärte denn ein anderer Korpsbruder, Julius v. Oven, sich bereit, mit mir in die weniger besuchten Gegenden der Schweiz , namentlich nach Graubünden, zu wandern.

Bei Beginn unserer Reise fanden wir in

Baden-Baden eine große Zahl von Heidelberger Bekannten ; spät abends , es war schon dunkel, bestiegen wir die alte Burg bei Baden- Baden, mußten aber unser Ziel aufgeben, weil ein sehr lieber Korpsbruder, Graf Roedern, einen 50 Talerschein im dunkeln Walde verloren hatte.

Wir

alle begaben uns auf die Suche, aber troß vieler herbeigeholter Laternen wurde der Schein nicht wiedergefunden, und der arme Roeder mußte seine Reise aufgeben, weil jeder von uns nur so viel bei sich hatte, um die eigene Reise zu bestreiten.

Oven und ich fanden nun in der Schweiz

abscheuliches Wetter vor und wurden gezwungen, um dem Regen aus dem Wege zu gehen, die Alpen zu überschreiten, und richtig fanden wir jenseits den herrlichsten blauen Himmel an den lombardischen Seen vor. Vom Comerſee aus gingen wir dann das Veltlintal herauf über Sondrio , Tirano nach dem Wormser Joch.

Das kleine Städtchen Sondrio fanden

wir in großer Aufregung, weil gerade bei unserer Ankunft ein starker Bär in die Stadt gebracht wurde, gefolgt von den glücklichen Jägern, die das seltene Wild einige Meilen nördlich von Sondrio geschossen hatten. Einen merkwürdigen Einblick in die Sitten der Studenten in Padua tat ich auf dieſer Reise : Zwei Mediziner, die schon mehrere Jahre in Padua studiert hatten, begleiteten uns schon vom Comerſee ab in dem-

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Reise in die Schweiz und nach Italien.

selben Omnibus und unterhielten sich nur in italienischer Sprache miteinander und auch mit mir, ſo daß ich nicht anders glaubte, als es ſeien echte Lombarden. Als wir aber nach einem Frühſtück in Sondrio von dem Wirt furchtbar geprellt werden sollten, hörte ich auf einmal bei dem Streit mit dem Wirt den einen Paduenser zum anderen sagen : „Wart'n bisl ! " ; solche Worte konnten doch nur aus einem deutschen Munde kommen.

Sie lachten über unſer Erstaunen aus vollem Herzen ; der eine

stammte aus Wien, der andere aus Linz , sie hatten sich aber in Padua so an das Italienische gewöhnt, daß es ihnen ganz zur Umgangssprache geworden war. Aber wie erschraken wir nun, als sie uns in dem gemütlichen Wiener Dialekt das greulich unmoralische Leben der Studenten in Padua erzählten ; fast jeder lebe dort in wilder Ehe, wie ich's ja auch in Paris bei den ,,Messieurs les étudiants" gefunden habe. Durch den interessanten Badeort Bormio (früher immer Worms genannt, so hat leider die deutsche Sprache der italienischen weichen müſſen) , kamen wir entlang der großartigsten Alpenstraße, welche Napoleon über eine Sattelhöhe von über 8000 Fuß hat bauen lassen, in das Tiroler Land hinein. Wir standen gegenüber den gewaltigen Gletschern der Ortlerspitze, als ein Gewitter mit einem Wolkenbruch uns ereilte ; das Getöse des Donners , vereint mit dem Krachen der nahen Gletscher, brachte mir das erstemal in meinem Leben eine gewisse Herzensbeklemmung bei, denn ich liebe Gewitter aus vollem Maße.

Es schienen uns

die Blize dicht um uns herum sich zu entzünden, und die Luft war mit Elektrizität geladen, und auch das erste und einzige Mal in meinem Leben sah ich Blige unter mir in das Tal hineinschmettern. Wir nahmen nun die Beine unter den Arm und liefen aus Leibeskräften hinunter bis zum Städtchen Trafoi, wo wir denn bis auf die Haut durchnäßt unsere Kleidungsstücke vor den Küchenkamin hängen ließen und uns bis zum Trockenwerden derselben ins Bett verfügen mußten. Unten im Etsch-Tal und in Meran haben wir dann das heiterste Wetter vorgefunden. Unsere Reise führte weiter über Bozen und den Brenner nach Innsbruck. Auch auf dem Brenner begann ein fortwährender Regen uns die Reise zu verleiden ; wir mußten einen Wagen nehmen, das Traurigſte aber war, daß mein Reisegefährte durch unser Wetterunglück immer mehr in die bitterste Laune hineingeriet ; ich war froh, daß er mich in Innsbruck verließ, obwohl er wußte, daß ich nur eine ganz geringe Barschaft noch bei mir hatte und erst in München wieder Geld erwarten konnte. Aus dieser Klemme riß mich, ohne daß Oven es wußte, mein lieber Vater, der mir unerwarteterweise schon nach Innsbruck 25 Taler sandte.

Allein kam

ich nun so über den Achensee und Tegernsee in München an.

Auch auf

dieser einsamen Wanderung packte mich ein Gewitter hoch oben (über 5000 Fuß hoch) an der österreichisch-bayerischen Grenze ; ich hatte mich

Dritter Abschnitt: Universitätszeit.

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dabei troß einer ziemlich guten Karte in den Bergen verirrt und glaubte, von der Höhe herab einen Fußweg zu sehen, der mich nach dem Bade Kreuth herunterführen sollte ; dieser Fußweg war aber nichts als ein Ziegensteg, der über scharfes Gerölle hinweg steil in die Tiefe führte ; hätte ich nicht meinen großen Alpenstock gehabt, so wäre ich sicher bei diesem Abstieg verunglückt. Mit schlotternden Knien kam ich endlich unten in eine bewohnte Hütte, aber die Bewohner wollten es mir kaum glauben, daß ich diesen, einige tausend Fuß hohen Abhang unverlegt herabgeglitten sei . In München fand ich wieder im Gasthof „Zum Pollinger" eine lustige Heidelberger Gesellschaft vor. Derselbe Parey, den ich vorher in Neckarsteinach erwähnt, erlaubte sich hier den anscheinend kindlichen, aber zu großer Verwirrung führenden Spaß, frühmorgens die sämtlichen Stiefeln und Schuhe, die vor den Türen der Gäſte ſtanden, zu vertauschen.

Viele Gäſte, die mit der Eisenbahn fortmußten, konnten nicht

abreisen, da sie ihr Schuhwerk nicht wiederfinden konnten. Nach gründlichem Beſuch aller Münchener Kunstinstitute und Kirchen, nach ebenso gründlichem Kneipen im Bräuhaus und im Pschorr wanderte ich nun weiter über Augsburg und Ulm.

Diese Reiſe bis Heidelberg hin wurde

mir ausnehmend verſchönt dadurch, daß mein lieber Freund v. Levezow sich mir anschloß. Wir passierten die Donau bei Günzburg und kamen schon in Ulm - jeder mit ganz geringen Barmitteln in der Tasche an. Nach Bezahlung unserer Rechnung hatten wir nur noch ganz wenig Geld bei uns ; die Post oder einen Wagen konnten wir nicht mehr nehmen und machten uns nun zu Fuß über Göppingen, Eßlingen nach Stuttgart auf den Weg.

Mitleidige Fuhrleute nahmen uns manchmal ohne Geld,

aber gegen gute Worte, einige Meilen mit ; wir sahen ganz wie zwei Strolche aus, denn unsere Kleidungsstücke waren ziemlich defekt, die Stiefeln zerrissen, die Wäsche wenig sauber. Man muß in seinem Leben einmal in einem solchen Zustande sich befunden haben, um sich ganz in die Empfindungen eines geld- und arbeitslosen Vagabunden hineinzusetzen; ich habe darum stets besonderes Mitgefühl mit solchen Leuten gehabt und mich u. a. auch dadurch einige dreißig Jahre später bestimmen laſſen, eine Arbeiterkolonie zu gründen .

Unsere Laune erlitt durchaus

keinen Abbruch, umgekehrt, alles trug zu unserer Erheiterung bei . Endlich in Stuttgart angekommen, kehrten wir forsch in einem vornehmen Gasthof ein und ließen es uns herrlich schmecken, denn ich hatte die bestimmte Hoffnung, in Stuttgart zu Gelde zu kommen. Eine Jugendfreundin meiner Schwester, Alwine Strauß — die Tochter des Hofpredigers zu Berlin -· hatte sich nämlich mit Herrn v. Hardegg, dem Leibarzt des Königs von Württemberg, verheiratet ; zu der ging ich, freilich mit beklommenem Herzen, Levekow wartete unten auf der Straße

Tod des Vaters.

auf den Erfolg meiner Expedition.

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Mit offenen Armen wurde ich

empfangen und sofort eingeladen, im Hardeggschen Hauſe einzukehren, und als ich höchſt verlegen mein Pumpgeschäft zur Sprache brachte, wurde mir sofort eine große Rolle von 100 Talern unter vielem Lachen eingehändigt, ich bat aber nur um 50 Gulden. Levezom sprang hoch auf vor Freuden, als ich, unten angekommen, das Geld in meiner Hand klimpern ließ ; wir konnten nun nicht nur unsere Gasthofsrechnung bezahlen, sondern auch noch in dem lieblichen Heilbronn mit den Offizieren des 5. württembergischen Infanterie-Regiments kneipen und endlich mit dem Neckar-Dampfschiff in Heidelberg glücklich wieder anlangen.

Ich

bin mit Levezom bis heute eng befreundet geblieben und freue mich immer, wenn ich ihn in den Sizungen des Herrenhauses wiedersehe. Als er zum Reichstagspräsidenten gewählt wurde, schrieb er mir folgende liebe Zeilen: „ Gott wolle es mir anrechnen, daß ich, durchdrungen von meiner Schwäche, ohne Eitelkeit oder Selbstsucht diesen schweren Weg angetreten habe und weiter gehen werde. nicht vermeiden.

Ich konnte und durfte ihn

Als Odysseischen Trostspruch habe ich den bereit :

Τέτλαθι δή, κραδίη, καὶ κύντερον ἄλλο ποτ᾽ ἔτλης ! " In dem neu beginnenden Wintersemester wollte ich recht fleißig sein, um das meinem Vater gegebene Versprechen einzulösen, ich zog darum in eine ganz stille Wohnung in einem Hinterhause der Sandgaſſe und hörte die wichtigſte aller juristischen Vorlesungen, die Pandekten, beim Professor Keller. Schon damals spukte ganz unverkennbar das Jahr 1848 mit ſeinen aufrührerischen Bewegungen in Baden vor ; das Korps der Preußen, an ihren weißen Mügen erkennbar, war bei der Arbeiter- und Bummlerbevölkerung besonders verhaßt.

Wiederholt wurden einige Saroboruſſen

von einer überzahl von Bummlern überfallen, ja bei einem solchen überfall in Schweßingen, wohin die Saxoboruſſen einen Ausflug gemacht hatten, wurden mehrere Mitglieder des Korps mit Spaten und Beilen schwer verwundet, darunter namentlich Oswald Zedlig und mein alter Berliner Freund Hermann Reimer.

Unvergeßlich werden mir die

Nächte sein, in denen ich die Wunden an der Stirn meines lieben Zedlig gekühlt habe. Wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel traf mich die Nachricht von der schweren Erkrankung meines Vaters , und so eilig wie möglich verließ ich Heidelberg, um in mehreren Tagen und Nächten nach Berlin zurückzureisen. Ich kam zu spät, mein Vater war schon gestorben und be graben ! * ) Die tiefe Trauer wurde mir nur erleichtert durch tüchtige Arbeit, die freilich schon Ende Februar 1818 durch die revolutionären Bewegungen *) Heinrich v. Dieſt, S. 80 .

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Dritter Abschnitt: Universitätszeit.

in Berlin arg beeinträchtigt wurde. Kurz vor der 50jährigen Wiederkehr der Berliner Straßenemeute vom 18. März 1848 habe ich meine Erlebnisse in dem unglückseligen Jahre, die den ganzen bis dahin wohlgeordneten preußischen Staat aus den Fugen hob, ja ihn an den Rand des Abgrundes brachte, veröffentlicht und habe in diesem kleinen Geschichtswerke die Stellung meines Onkels, des Staatsministers v. Bodelschwingh, vor und an dem 18. März unter Wiedergabe von ausführ lichen Aktenstücken dahin klar gestellt, daß den seligen v. Bodelschwingh auch nicht eine Spur von Vorwurf wegen des Verlaufs der revolu tionären Bewegung zu Berlin_treffen kann . * ) Leider waren die genannten Aktenſtücke bis dahin niemals bekannt geworden, zumal da auch der Professor Heinrich v. Treitschke diese wichtigen Dokumente nicht mehr für den 6. Teil seiner „Deutschen Geschichte" hat verwerten können. Wenige Monate vor seinem Tode hatte ich Professor v. Treitschke in seiner Wohnung aufgesucht und ihm das gesamte Material übergeben ; ich hatte mit dem lieben, vollständig tauben Herrn, mit dem ich schon im Reichstage jahrelang zuſammengeſeſſen hatte, ein langes Gespräch, bei dem mich seine Tochter, Fräulein Maria v. Treitschke, als Dolmetscher unterstüßte, da dann ihr Vater in rührend ergreifender Weise jedes Wort, das sie mir nachsprach, von ihren Lippen ablesen und verstehen konnte. Treitschke drückte seine Freude darüber aus, daß er endlich in den Besit von so wichtigen Schriftstücken gelangt sei, die ihm die Schilderung der auch ihm noch so dunkeln Geschichte der Berliner Märztage erleichtern würde. Sein Tod machte diese seine Absicht zu Schanden. Unter Fortlassung der genannten Aktenstücke gebe ich nun hier meine eigenen Erlebnisse, wie ich sie bereits in jenem Buche veröffentlicht, wieder, da doch viele, die dieses lesen, meine frühere Broschüre nicht gelesen haben werden. Ich habe vom März bis zum August 1848 alle wichtigen Ereigniſſe in Berlin mit erlebt, die jedes patriotische Herz in Schrecken setten. Nur über eins war ich froh, daß mein seliger Vater diese entsetzliche Zeit nicht mehr erlebt ! Und darüber bin ich heute noch froh und dankbar, daß ich gerade durch jene Erlebnisse für alle Zeit inne geworden bin, wie Gott der Herr im Regimente sigt und der Ohnmacht der Menschen spottet, welche an seine heiligen Ordnungen die Hand anlegen.

Ich habe später

oft genug erklärt, daß ich für keine noch so hohe Summe die Erfahrungen mir abkaufen ließe, welche ich in der Berliner Schreckenszeit mir erworben.

*) „Meine Erlebnisse im Jahre 1848 und die Stellung des Staatsministers v. Bodelschwingh vor und an dem 18. März 1848" von Gustav v. Diest sind in der Königlichen Hofbuchhandlung von E. S. Mittler & Sohn in Berlin 1898 erschienen.

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Revolution in Paris und Wien.

Schon am 24. Februar war in Paris, dem Herde aller Revolutionen, wiederum eine Revolution ausgebrochen . Der "1 Bürgerkönig “, Louis Philipp, hatte abdanken müſſen, und Paris, sowie stets nach ihm das ganze Frankreich, war in furchtbare Gärung geraten.

Die Nachricht

hiervon kam erst vier Tage später nach Berlin und jezte auch hier sofort alles in fieberhafte Spannung. einer Muſikaufführung im

Ich befand mich am 28. abends bei

Schauspielhause, welche vor dem König

Friedrich Wilhelm IV . ſtattfand. Mehrere Gardeoffiziere, angeblich vom König selber kommend, verbreiteten die Nachrichten aus Paris . Das Fieber, später sehr bezeichnend ,,Morbus democraticus" genannt, stieg nun ſichtlich von Woche zu Woche, ja von Tag zu Tag, und es war, als ob alle auch vom Fieber nicht Angesteckten von einer Vorahnung erfüllt wären, daß die Ereigniſſe in Paris auch uns Verderben bringend ſeien, daß die französische Revolution bei uns mit Erfolg Nachahmung finden würde. Man gönnte zwar dem pfiffigen, unzuverlässigen Kunden Louis Philipp die Vertreibung vom Thron und von Frankreich, und doch waren unendlich viele, namentlich unter den jüngeren Leuten, erfüllt von dem diabolischen Nimbus, welcher um das Wort „Republik" von Paris aus verbreitet wurde.

Bei der Vortrefflichkeit der preußischen Armee, bei der

tüchtigen Einrichtung der gesamten Verwaltung Preußens, bei der Bejegung aller irgend wichtigen Stellen mit den treuesten, patriotischsten Männern, die fast alle noch die Freiheitskriege mitgemacht hatten, konnte eigentlich eine ernſte Besorgnis, daß man der Situation nicht Herr bleiben würde, nicht Plat greifen. Der seit lange, aber namentlich seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. herrschende Streit, den ich selbst oft genug zwischen den treuesten Männern habe ausfechten hören, ob es nicht ratſam ſei, daß der König dem vereinigten Landtag ein Gesetzgebungs- und Steuerbewilligungsrecht und darum regelmäßig wiederkehrende Einberujung gewähren möge diejer Streit brach von jenen lezten Februartagen ab auch unter uns jüngeren Leuten mit großer Leidenschaft aus . Die meiſten von uns waren mit mir für die Gewährung jener Rechte. Alle mir nahestehenden älteren Männer aber, vor allen auch mein Onkel Bodelschwingh, der mir wie ein zweiter Vater war, vertraten die Meinung, daß den Liberalen, auch den damals gewiß sehr patriotisch gesinnten Altliberalen, nichts einzuräumen jei. Bodelschwingh glaubte entschieden, verpflichtet zu sein, wie wir später sehen werden, die Ansicht seines Königlichen Herrn überall vertreten zu müssen, obwohl er persönlich anderer Ansicht war. Vom 6. März ab begannen nun die Volksversammlungen im Tiergarten unter den Zelten.

Von Tag zu Tag stieg die Zahl ihrer Besucher ;

der Ton, welcher aus den Reden der Agitatoren hervorklang, verſtieg sich immer mehr in die Fieberhitze, ja in die Tollheit hinein. v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

Als der 7

Dritter Abschnitt: Universitätszeit.

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König es nun einige Tage später abgelehnt hatte, eine Adreſſe einer in den Zelten formlos gewählten Volksdeputation entgegenzunehmen, da stieg die Wut der Volksredner auf die Siedehize. Begleitet von vielen meiner Altersgenossen habe ich täglich diese Volksversammlungen besucht und weiß noch wie heute, daß namentlich mein kampfluſtiger und redefertiger Bruder Otto mit Mühe von uns festgehalten werden mußte, weil er die Rednertribüne beſteigen und die Lügen der Aufrührer widerlegen wollte. Wenn er es getan hätte, wäre die Folge davon nur eine entsetzliche Prügelei gewesen, die von der aufgeregten Volksmenge gegen ihn und uns begonnen worden wäre. Auffallend war es schon damals, was für eine Menge von später sogenannten „Bassermannschen Gestalten“ (das Mitglied des deutschen Parlaments in Frankfurt a. M. Baſſermann brauchte zuerſt dieſen Ausdruck) sich bei diesen Volksversammlungen befanden. Es waren polnische und französische Gesichter, es befanden sich darunter Zuchthäusler der schlimmsten Art.

Wo sich Militär ſehen ließ, wurde ein fürchterliches

Geschrei, Johlen und Pfeifen ausgestoßen, und am 13. März fand der erste Zusammenstoß mit den Truppen bei einer ganz unbedeutenden Gelegenheit statt. Am 15. März erschienen die ersten " Schußmänner“ aus den Bürgerkreiſen mit kurzen Stäben in der Hand und mit weißen Binden am Arm zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Sie wurden von der Berliner Bande sofort verfolgt und verhöhnt, ihre Stäbe wurden „Ballkellen" genannt, und immer häufiger ertönte das Geschrei : „Fort mit dem Militär !" Am 16. März kam nun die Nachricht von der „siegreichen“ Revolution in Wien ; von da ab wurde es ganz schlimm.

Nur die gleichzeitige Nach-

richt, daß das bisherige Miniſterium entlaſſen werden solle, daß die Zenſur aufgehoben und Preßfreiheit bewilligt worden sei, brachte eine Art Freudentaumel hervor.

Am 17. März schien völlige Ruhe zu herrschen; es

war aber nur die Ruhe vor dem Sturm.

Das herrlichste Frühlingswetter

begünstigte während aller dieser Tage die Abhaltung der Volksverſammlungen und das wüste Treiben auf den Straßen.

Leider waren die

armen Regimenter der Garnison dadurch ermüdet worden, daß sie tagtäglich in den Kasernen konsigniert waren, ohne jemals zum Einschreiten befohlen zu werden. Am 18. März waren nun Tausende um das Königliche Schloß herum . versammelt, um angeblich nur ihre Freude über die lezten Königlichen Erlasse kundzutun. Der König erschien auf dem Balkon des Schlosses . Mein Onkel Bodelschwingh erzählte mir noch an demselben Nachmittag, daß er hinter dem Könige auf dem Balkon gestanden habe und in ſeinem kindlichen Optimismus den Volksjubel für wahr und echt gehalten habe. Der Polizeipräsident v. Minutoli habe aber den König fortwährend laut

Straßenkampf in Berlin.

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gewarnt : „Majeſtät, geben Sie auf dieſen Jubel nichts, die Revolution geht gleich los ! “ In der Universität hatten täglich schon Versammlungen aufgeregter Studenten stattgefunden ; als ich mich am 18. nachmittags dort über den Stand der Dinge informieren wollte, kamen mir mehrere bis dahin ganz vernünftige Bekannte mit gräßlich verzerrtem Gesichtsausdruck entgegengelaufen und schrieen, jczt müsse alles drunter und drüber gehen, denn es sei auf das jubelnde Volk geschossen worden.

Einer meiner in-

timsten Schulfreunde, ein begabter, positiver Mann, mit welchem ich noch am Tage vorher zuſammengewesen, war an diesem Nachmittag zum wütenden Demokraten geworden, weil ihm ein Dragonerpferd auf dem Schloßplate auf die Füße getreten habe.

Als ich nun von der Universität

durch die Dorotheenstraße nach dem Ministerium des Innern ging, waren die Baſſermannſchen Geſtalten mit Errichtung einer Menge von Barrikaden beschäftigt, über welche ich kaum noch hinwegklettern konnte.

In

den Hauptstraßen Berlins waren dieſe Barrikaden wie durch einen Zauberschlag entstanden, ein rechter Beweis dafür, daß der Straßenkampf durch Agitatoren diabolisch klug vorbereitet worden war. Das Schießen (oft ganze Bataillonssalven) nahm nun immer mehr zu, namentlich nach der Richtung des Alexanderplates und des Prenzlauer Tors . Daß mein lieber Freund v. Wolff ( der vor kurzem heimgegangene Chef der Oberrechnungskammer) an diesem Tore als Einjährig-Freiwilliger und Gefreiter des Kaiser Franz -Regiments eine Wache von drei Mann kommandierte, was er mir am Morgen des Tages mitgeteilt hatte, erfüllte mich mit großer Besorgnis. Er hat sich aber mit großer Umsicht zu seinem Regiment mit seiner kleinen Wachmannſchaft durchschlagen können. Ein anderer meiner Bekannten, der Sohn des Geheimen Legationsrats v. Bülow (später Gesandter beim Vatikan) , war ebenfalls Einjährig-Freiwilliger beim Kaiser Franz-Regiment und erhielt aus einem Kellerloch einen Schuß in das Fußgelenk, an welchem er lange Monate daniedergelegen hat. Ich blieb nun den Abend des 18. mit der Familie v. Bodelschwingh vereinigt im Ministerium des Innern.

Wir hörten bei offenem Fenster,

denn es war eine herrliche Frühlingsnacht, dem immer stärker werdenden Schießen zu, so daß wir ebenso wie alle anderen Berliner, die sich angſtvoll in den Häusern hielten der Meinung waren, es müßten von beiden Seiten der Kämpfenden Tausende gefallen sein. Schrecken erfüllte auch die Berliner Bewohner, als sie den furchtbaren Feuerschein aus der nördlichen Gegend Berlins wahrnahmen ; der Pöbel hatte dort die großen Artilleriewerkstätten in Brand gesteckt, und das Feuer leuchtete die ganze Schreckensnacht hindurch. Schnlichst warteten wir auf die Rückkehr des Onkels, der im Schloß beim Könige war.

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Am Abend hatte 7*

Dritter Abschnitt : Universitätszeit.

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ich noch dem Oberpräsidenten Eichmann und seinem Oberpräſidialrat Delius, meinem sehr geliebten Onkel, behilflich sein können, um ihre Koffer bei ihrer Rückreise nach Koblenz auf die Eisenbahn zu bringen, denn aller Droschkenverkehr hatte aufgehört. Sie reisten mit dem Eindruck ab, daß in Berlin mit der vollsten Energie gegen die Revolution vorgegangen werden würde, — eine Nachricht, welche in Koblenz von meinem späteren Schwiegervater, dem kommandierenden General v. Thile, besonders freudig begrüßt wurde. Endlich kam mein Onkel Bodelschwingh gegen Mitternacht nach Hauſe, ganz verhungert, weil er auf dem Schloß nichts zu essen bekommen hatte, und fragte mich ganz erstaunt, als wir am Fenster stehend dem furchtbaren Schießen zuhörten : Wie lange dauert das Schießen schon ? Auf dem Schloß fonnten wir nichts hören !" Das Schießen machte sichtlich einen tiefen Eindruck auf Onkel Bodelschwingh. Als ich ihm nun die Frage stellte : „ Sage mir, ist der König auch fest ? ", da pacte er mich mit beiden Händen oben an den Rock, schütelte mich mit seiner ganzen Kraft und rief mir leidenschaftlich entgegen : „Wie kannst Du nur so etwas fragen , wir haben A gesagt , wir werden auch Diese wichtigen, für die Stellung Bodelschwinghs als des Leiters der Staatsregierung bezeichnenden Worte habe ich oft genug in jener Zeit denen mit Erfolg mitgeteilt, welche einen leisen Zweifel aufkommen lassen wollten, als habe der König in jener Unglücksnacht B sagen !"

nicht treue und feste Ratgeber gehabt, und als sei Bodelschwingh derjenige, welcher wenige Stunden nachher die Zurückziehung der siegreichen Truppen vor dem aufrührerischen Pöbel veranlaßt habe. Gegen 1 Uhr nachts ging ich nun durch den öden Tiergarten nach der Lennéstraße Nr. 3, wo mein Schwager und meine Schwester v. Quaſt wohnten. Auch dort war alles noch wach, wie in allen Häusern Berlins . Mein kleiner, damals fünfjähriger Neffe Siegfried bat mich, ihn in mein Bett zu nehmen, weil er in seinem Bette lauter Blut und Leichen sähe, — so waren alle Menschen bis zu den kleinſten Kindern von fieberhafter Aufregung erfüllt . Schlaf konnte ich nicht finden, und schon bei Beginn des neuen Tages war ich beschäftigt, die Soldaten auf dem Leipziger Plat, welche dort die Nacht auf dem Pflaster zugebracht hatten, mit Kaffee und Gebäck zu erquicken. Sie waren alle des fröhlichsten Mutes, denn nach allen Nachrichten war man der „ Barrikadenhelden" Herr geworden.

Als ich dann zwischen 7 und 8 Uhr durch die Leipziger- und

Wilhelmstraße nach dem Ministerium des Innern ging, hatte ich überall denselben Eindruck, daß der Kampf beendet und der Sieg errungen sei. Dasselbe bestätigte mir auch der Kriegsminister v. Rohr, dem ich zu Pferde beim Palais des Prinzen Carl begegnete. Er machte mich darauf aufmerksam, daß bei der Deckerschen Oberhofbuchdruckerei (damals Rei-

101

18. März 1848.

mersches Haus, jezt Hausministerium) in der Wilhelmstraße, an der er eben vorbeigeritten, eine Ansprache des Königs An Meine lieben Berliner" unter das Publikum verteilt werde. Ich war tief schmerzlich bewegt, als ich diese Ansprache las, ging damit sofort zu Onkel Vodelschwingh und klagte ihm meinen Schmerz über diese verfehlte Maßregel.

Onkel Vodelschwingh teilte mir mit, daß

er mit Hilfe des Oberhofbuchdruckereibesizers Decker selbst den Druck dieser unseligen Proklamation auf Befehl des Königs habe vornehmen müſſen, und als ich ihm lebhaft einwarf: „Das hätte ich an Deiner Stelle nicht getan !" gab er mir die Frage zur Antwort : Was willst Du tun, wenn Dein König Dir ausdrückliche Befehle gibt ? " Am selbigen Tage sah ich in der Breiten Straße nur die überschrift „ An Meine lieben Berliner" dicht über eine Kugel geklebt, die in der Nacht in das Holz eines Brunnens eingeschlagen war. aber Kaum trauten wir weiteren Verlauf aus den Toren

So hämisch war der Berliner Pöbel ! unseren Augen, als wir im

des Tages ein Regiment nach dem andern Berlins herausmarschieren und die Entlassung

der bisherigen Minister auf einem Anschlage an den verkündigt sahen.

Straßenecken

Noch traf ich an jenem Vormittag den damaligen

Major v. Falkenstein, Kommandeur des Garde-Schüßen-Bataillons, der an der Ecke der Stechbahn, dicht am Königlichen Schloß, zu Pferde hielt und seinem Ingrimm über den Abmarsch der Truppen mir gegenüber mit lauten Worten Ausdruck gab. Er blutete an der Hand, die er mit einem Schnupftuch umwunden hatte, und ich lief noch in die Konditorei von Joſti, um ihm einen kalten Umschlag herauszubringen. Als ich beim Dunkelwerden wieder in das Miniſterium des Innern kam, fand ich Onkel Bodelschwingh in tiefem Ernst, aber in großer Selenstärke vor. Die Seinigen suchten ihn aufzuheitern, da er doch keine Schuld an dem traurigen Geschicke des Vaterlandes trage, und er lächelte sanft, wenn ihn seine Tochter Sophie, ein blühendes 16jähriges Mädchen, nicht anders nannte, als „ alter Ey“. Seinen tiefen Schmerz sprach er aus, als ich ihm mitteilte, daß die Schildwache am Brandenburger Tor schon seit vielen Stunden nicht abgelöst war, denn die dortige Hauptwache war bereits leer und die Ablösung war vergessen worden !

Welche Auflöſung der

militärischen Ordnung ! Am Abend des 19. waren alle Häuser Berlins auf Befehl der demokratischen Anführer illuminiert. Wehe dem Hausbewohner, der seine Fenster dunkel gelassen hätte !" Gleich in der Woche nach dem 18. März wurde die Meinung verbreitet, daß der Hofprediger Strauß in der Nacht vom 18. zum 19. den König veranlaßt habe, die Truppen aus der Stadt zu entfernen . Er selbst (Strauß) hat noch im August 1848 erzählt, er habe in jener Nacht einen

Dritter Abschnitt : Univerſitätszeit .

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Gottesdienst vor dem König und seiner Familie halten müssen, er habe den 25. Psalm vorgelesen, das Vaterunjer gebetet und den Segen gesprochen, der König habe sich auf die Knie geworfen und ſei lange Zeit in dieser Stellung geblieben. Unmittelbar darauf habe der König ihn allein genommen und lange mit ihm als seinem Seelsorger gesprochen, dabei habe er namentlich den König darauf hingewiesen, daß Gott denjenigen, der sich vor ihm demütige, erhöhen werde ; dieser Gottesdienst und das Gespräch darauf habe beim Könige den Ausschlag gegeben, den Befehl zum Zurückziehen der Truppen zu erteilen.

Neben Strauß wurde

damals oft auch der berühmte Landtagsabgeordnete Georg v. Vincke als derjenige genannt, der dem König in jener Nacht geraten, die Truppen zurückzuziehen. Ich möchte hier gleich einschalten, daß nach dem Tode des Freiherrn v. Vincke seine Witwe sich dahin ausgesprochen hat, daß ihr Mann dem Könige nur geraten habe, die Truppen um das Schloß zu konzentrieren, dann aber scharf einhauen zu lassen", damit der Straßenkampf die Truppen nicht ermüde ; der König aber habe darauf erwidert : „ Nein, das geht nicht", und Vincke jei entlassen worden. In den demnächst folgenden Tagen war ich teils in Teltow, wo bei dem dortigen Pfarrer v. Hengstenberg eine Menge von Offizieren des Kaiser Franz-Regiments einquartiert waren, teils in Potsdam. Alles war dort einmütig in der freudigen Erwartung, daß doch noch der Schlange Revolution der Kopf zertreten werde, und daß insbesondere der König zu seinen Truppen herauskommen werde, um dann Berlin wieder einzunehmen.

Der Ausmarsch der Truppen war allen unerklär-

lich, namentlich auch dem Onkel Bodelschwingh, welcher in der Dienſtwohnung des Oberpräsidenten v. Meding in Potsdam abgestiegen war. Dort hörte ich auch am 21. März, daß der Staatsschatz durch den Minister v. Thile bereits aus Berlin entfernt und in Sicherheit gebracht sei, daß der König aber am folgenden Tage in Potsdam oder Spandau erwartet werde. Der König kam aber nicht, obwohl alle Vorbereitungen zu seiner Abfahrt aus dem Berliner Schloß getroffen waren. Die den König umgebenden Herren rieten teils zu der Abreise, teils rieten sie davon ab. Der König sei namentlich dadurch schwankend geworden, daß man ihm entgegengehalten : „Noch nie ist ein Hohenzoller vor der Gefahr gewichen", oder nach anderer Lesart : „Euere Majestät würden der erste Hohenzoller sein, der vor seinem Volke flöhe !" Nur der damalige Adjutant v. Manteuffel sei mit den Worten vorgetreten : „Heinrich IV., König von Frankreich, hat Paris verlassen und dann im Sturm wiedergenommen." Nicht beschreiben kann ich den schrecklichen Eindruck, den nun die Kunde brachte, daß der König am 22., statt zu seinen Truppen herauszukommen, den Ritt durch die Straßen Berlins gemacht habe, geführt

Abmarsch der Truppen.

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von dem bekannten Demokraten Stieber mit der schwarz-rot- goldenen Fahne der angeblich siegreichen Revolution. Auf diese Nachricht hin reiste Onkel Bodelschwingh sofort nach Westfalen ab, und wir alle gaben mit ihm jede Hoffnung auf eine baldige Rettung des Vaterlandes aus der Herrschaft der Demokratie auf.

Wer hat denn nun aber den Abmarsch der Truppen aus der Stadt veranlaßt ? Außer den oben schon Genannten wurden auch noch andere Männer als die Schuldigen bezeichnet, aber nie haben wir damals den Namen Bodelschwingh nennen hören, denn diesem Edelmann von echtem Schrot und Korn, dieſem Soldaten durch und durch, der die Schlachten in den Freiheitskriegen mitgemacht und bei Freyburg a. U. tödlich verwundet worden war, der danach bis zum Obersten befördert war und dem die Ehre der Armee über alles ging er hätte sich lieber niederſtoßen laſſen, als den Abzug der Truppen aus der Stadt zu veranlassen und seinen König und Herrn den Händen des Pöbels preiszugeben.

In

der Armee selbst nannte man ihn den Ritter ohne Furcht und Tadel, ja, dem bescheidenen Manne war es zuwider, daß manches Fest ihm zu Ehren gegeben wurde, und daß bei einem solchen Feste die Rede dahin gipfelte, man werde künftighin nicht mehr sagen, daß man sich nach oben erhebe auf Adlerschwingen, sondern auf Bodelschwinghen. Wie war ich nun ergrimmt, als ich einige Zeit nach den Märztagen Bodelschwingh beschuldigen hörte, daß er die Truppen aus Berlin entfernt habe. Er selbst schwieg allen solchen Anschuldigungen gegenüber, wie es denn in seinem bescheidenen Wejen lag, lieber sich selbst anschwärzen zu lassen, als andere seinerseits anzuschuldigen.

Die oben er-

wähnten bedeutungsvollen Worte, welche er mir gegenüber in der Nacht vom 18. zum 19. März zugerufen hatte : „Wir haben A geſagt und werden auch B jagen !" diese Worte bürgten mir für die völlige Unſchuld Bodelschwinghs .

Er selbst äußerte wiederholt in jener Zeit : „Rein Mensch

wisse, wer den verhängnisvollen Befehl gegeben", und dasselbe haben auch noch lange Zeit nachher der General v. Prittwiß und der Prinz von Preußen erklärt. Wer hat es nun verschuldet, daß das alte Preußen am 18. März zusammenbrach, so ruhmlos, so würdelos, ja so schmachvoll ? Wer hat dieſen tiefsten Unſegen zu verantworten, der sich schwer genug an Preußen und an Deutschland gerächt hat, und den nach den Worten Friedrich Wilhelms IV. die Tränen kommender Geschlechter abzuwiſchen nicht im stande sein werden ? Die Antwort auf diese Fragen kann nur die ſein: Den seligen Minister v. Bodelschwingh trifft keine Schuld ! * ) *) v. Diest, Meine Erlebniſſe im Jahre 1848 und die Stellung des Staatsminiſters v. Bodelschwingh vor und an dem 18. März 1848. Berlin 1898. E. S. Mittler & Sohn.

Dritter Abschnitt: Universitätszeit.

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In Berlin traten entsetzliche Zustände ein. Der Pöbel herrschte, und die Unsicherheit auf den Straßen wuchs von Tag zu Tag. Der Laden eines Handschuhmachers Unter den Linden wurde geplündert, die Wohnung des Majors v. Preuß wurde ausgeraubt und die Möbel verbrannt, weil diese Männer angeblich Verrat an der Sache des Volkes " begangen hatten. Grauenvoll aber waren die Scenen, welche im Königlichen Schlosse mit den Leichen der Barrikadenhelden aufgeführt wurden.

Hans

Blum , der Sohn des in Wien standrechtlich erschossenen Robert Blum, muß der Wahrheit gemäß folgendes Bild von diesen Scenen entwerfen : Eine große Zahl von Bahren wurde mit Leichen belegt, absichtlich wählte man die am gräßlichsten entſtellten und zerfleischten.

Die Leichen

wurden mit Blumen und Lorbeer bedeckt und bekränzt, die Wunden aber sämtlich schauerlich bloßgelegt.

Dann wurden die Hinterlassenen dieſer

Opfer, wozu sie sich immer hergaben, hinter den Bahren dreingeführt, die Bahren von angeblichen Mitkämpfern der Gefallenen auf die Schultern gehoben, für eine tunlichst große Begleitung von Schreiern und gutbefeuchteten Stimmen gesorgt, und dann ſezte sich der graufige Zug, den das Volk überall durch Entblößung der Häupter ehrte, nach dem Schloſſe zu in Bewegung.

Hier stellte man zunächst sieben Bahren im Schloßhof

ab, und um das dort schon versammelte friedliche Volk aufzureizen, verkündeten die Träger beim Abjeßen jeder Bahre mit schallender Stimme, auf welcher Barrikade das Opfer gefallen, ob es „niederkartätscht“ oder von den Soldaten „meuchlings zusammengehauen“ worden sei. „Fünfzehn Jahre alt, an meiner Seite niedergeschossen, mein einziger Sohn ! ", lallte ein alter Mann. „Ohne Pardon niedergestochen, nachdem er sich ergeben hatte!", klagte ein zweiter bei Vorzeigung einer anderen Leiche. „Ein Familienvater von fünf unerzogenen Kindern ", rief ein dritter . „Eine Witwe, Mutter von sieben Waisen", jammerte ein vierter, und so ging es weiter.

Schweigend und tränenden Auges hörten die arglosen

friedlichen Bürger zu. Dann gaben die bestellten Leichenbegleiter aber plöglich die Lojung aus, die den Zweck und die Absicht dieſes in jeder Beziehung traurigen Aufzuges erklärte : „ Der König soll kommen, König raus ! Er soll die Leichen sehen !" schricen sie das Schloß hinauf. Diejenigen Angehörigen der Gefallenen, die sich in diese Theaterscenen hatten mit verflechten lassen, erhoben das jammernde Echo dieses Rufes, und nun fiel auch der Chor der friedlichen Bürger, gerührt und harmlos in die Losung ein : „ Der König soll kommen .

Er soll die Leichen sehen !“

„Wenn der König nicht kommt, so werden wir ihm die Leichen auf das Zimmer tragen !", schrieen andere, und die Bahren wurden erhoben und bereits der großen Wendeltreppe zugetragen.

Da erschien der König

auf dem Balkon, die bleiche, zitternde Königin am Arm. Hut ab ! " donnerten die Volfssouveräne von unten, und der König entblößte das Haupt.

„Barrikadenhelden."

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Hoch gegen den Balkon hinauf wurden die gräßlich entstellten Leichen emporgehoben.

Tausend Racheschwüre gellten von unten hinauf und mit

Knütteln und Waffen wurde gesuchtelt. Das war aber noch immer nicht genug der Demütigung für die den Aufrührern so verhaßte Krone PreuBens.

Denn nun erschien der gebietende Ruf : „ Der König soll herunter-

kommen in den Schloßhof, die Leichen sehen ! "

Der König fam in der

Tat herunter, er wußte selbst nicht wie, und verneigte sich vor den entseelten und entstellten Körpern barhäuptig .

Die Königin sank in Ohn-

macht und mußte hinaufgetragen werden. Die Krone Preußens hatte eine Demütigung erlebt, gegen welche die Schmach der Tage von Jena und Tilsit weit zurücktritt. Das feierliche Begräbnis der etwa 180 Leichen erfolgte am 22. März ; der König erschien wiederum, als der Zug das Schloß erreichte, auf dem Balkon und ehrte die Toten, indem er vor ihnen, so lange die Särge vorüberzogen, das Haupt entblößte. Es war traurig, zu sehen, daß faſt alle Geistlichen Berlins, mit Ausnahme unseres lieben Büchsel, im Talar an dem Leichenzuge teilnahmen , sie mußten es, denn sie standen unter dem Terrorismus ! Unvergeßlich wird es mir bleiben, als auch ich von ciner Restauration Unter den Linden aus im Verein mit mehreren Altersgenossen Zeuge der Ehrung dieser Barrikadenhelden war, von denen die meisten ihrer Person nach ganz unbekannt geblieben sind, denn es waren eben keine Berliner, ſonderen fremde Anarchisten.

Keinerlei Beteiligung

von seiten des „ Volks “ fand an der am 24. März erfolgenden Bestattung der gefallenen tapferen 2 Offiziere und 18 Soldaten statt.

Um es zu

verhindern, verbot sogar der Berliner Magistrat ohne Fug und Recht der Bürgerwehr, die an den Gräbern der Barrikadenleute amtlich die Ehrensalve abgegeben hatte, an dieser Bestattung teilzunehmen, und die Bürgerwehr gehorchte diesem ungefeßlichen Befehl ! Die Sucht, die Gräber im Friedrichshain zu besuchen und zu schmücken, nahm nun von Tag zu Tag zu und furchtbar war der Tumult vor der Singakademie, als die Nationalversammlung, die in diesem Konzertsaale tagte, am 6. Juni 1848 den Antrag der Linken ablehnte, daß die Kämpfer vom 18./19. März sich um das Vaterland verdient gemacht. Wie das Gift dieser Straßenemeute noch immer weiter wuchert, das zu beobachten ist traurig genug, wenn man erfährt, daß die große Majorität der Berliner Stadtverordneten nach bald 50 Jahren beschlossen hat, die Gräber der Märzhelden durch ein Denkmal auszuzeichnen.

Frei-

lich sind die Stadtverordneten hierbei im Stich gelassen worden.

Denn

nicht nur der Magiſtrat Berlins , sondern auch die große Zahl der deutschen Städte, die zur Mithilfe von den Stadtverordneten aufgefordert waren, haben ihre Beteiligung abgelehnt.

Dritter Abschnitt: Universitätszeit.

106

Die Bezeichnung „reaktionär“, und der Umstand, daß man keine schwarz-rot-goldene Kokarde an der Kopfbedeckung trug, war damals genügend, daß man auf den Berliner Straßen den ärgſten Inſulten ausgesezt war.

Kein Offizier und kein Soldat durfte sich in Uniform auf den

Berliner Straßen jehen lassen, und ich habe mehreren Offizieren des Kaiser Franz-Regiments Zivilkleider aus der Kaserne beschaffen müſſen, damit sie doch nach Berlin hinein konnten.

Mit mir sind alle meine gleich-

gesinnten Altersgenossen nur mit Mühe den gegen uns ausgestoßenen Drohungen und Schimpfworten entwichen. Nur eines Mannes muß ich hier Erwähnung tun, der mit unerſchütterlichem Mute zum vereinigten Landtage erschien, es war der damals vielgenannte, durch seinen chriſtlichen Glauben hervorragende Herr v. Tadden-Trieglaff. Als ich ihn zur Eröffnung des vereinigten Landtags begleitete, in welchem er seine berühmte Rede gegen das System der Urwahlen hielt, da jagte er mir beim Abschied die unvergeßlichen Worte : „Ich habe nur Furcht vor der Furcht !" Die bald nach dem 18. März errichtete Bürgerwehr sollte, da alles Militär die Stadt verlassen hatte, die Ruhe aufrecht erhalten, es glückte aber dieser unorganisierten Truppe recht schlecht, obwohl auch die besten Elemente des Volkes sich in ihre Reihen hatten aufnehmen lassen.

So

bildeten auch meine alten Heidelberger Studiengenoſſen und namentlich die Mitglieder des Korps der Saroboruſſia eine beſondere Kompagnie in dieſer Bürgerwehr ; wir bezogen Ende März die Wache in des Prinzen von Preußen Palais .

Es war entseglich , wie die Stuben und Säle des Pa-

lais verwüstet, ja ſogar in der kurzen Zeit, in welcher die Bürgerwehr die Wache gehabt hatte, scheußlich verunreinigt worden waren.

An die

äußere Ecke des Palais, gerade dicht neben dem später so berühmt gewordenen Eckfenster, war schon am 19. März mit Kreide und in großen Buchstaben das Wort „ Nationaleigentum " geschrieben worden .

Es mag

ja ſein, daß dies, wie später behauptet wurde, in der guten Absicht geschehen war, das Palais vor der Wut der Demokraten zu schüßen, uns alten Heidelbergern aber erſchien es als ein entehrender Hohn gegen den Prinzen von Preußen. Ich stand in der Nacht mit einem guten Heidelberger Freunde, dem Saxoborussen v. Schmeling, Schildwache vor dem Palais ; wir hatten unsere blanken Säbel in der Faust und empörten uns über die Inschrift an der Ecke. Mein Gedanke, sie wieder auszu wischen, wurde schnell ausgeführt ; wir holten uns Tücher und Wasser aus dem Palais , ich kletterte auf die Schultern des sehr langen Schmeling und reichte jo mit meinem lang ausgestreckten Arme bis an die Inschrift, die ich nun mit aller Kraft und mit Hilfe der nassen Tücher von dem Puz des Gebäudes entfernte.

Wir haben dann auch noch die riesen-

großen schwarz-rot-goldenen Fahnen, die von der Rampe des Palais

Erſtürmung des Zeughauses.

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als Zeichen der Empörung herunterhingen, mit unseren Säbeln zerfeßt. Am anderen Morgen war ganz Berlin erstaunt über diese Schandtaten, unsere Gesinnungsgenossen aber höchst erfreut. Als der Prinz von PreuerBen eine für uns viel zu lange Zeit ausblieb, und die Truppen bittert über ihre Ausweisung aus der Reſidenz — um Berlin herum lagen, da wurde das patriotische Gedicht eines Leutnants v. Gaudy beim Kaiſer Franz-Regiment, der mir gut bekannt war, mit wahrer Begeisterung gejungen. Es begann mit den Worten : Prinz von Preußen, ritterlich und bieder, Kehr zu Deinen Truppen wieder, Heißgeliebter General ! Weilst Du gleich am fernen Strande, Schlagen doch im Vaterlande Herzen für Dich ohne Zahl." Die Erstürmung und Plünderung des Zeughauses, dessen Bewachung dem Hauptmann v. Nazmer mit seiner Kompagnie am 14. Juni 1848 anvertraut war, iſt auf eine schändliche Weise ermöglicht worden ; er hatte sich von einem angeblichen Hauptmann im Kriegsminiſterium täuschen lassen, der ihm den erdichteten Befehl des Kriegsministers überbrachte, das Zeughaus zu verlassen.

Bald darauf fand ich den armen

Nazmer in der Kaserne des 2. Garde-Regiments, trostlos und bittere Tränen weinend, vor, während alle Waffen des Zeughauses in die Hände der gemeinsten Bummler gerieten.

Ein solcher Kerl, mit einem Gewehr

bewaffnet, ging an demselben Tage an der Wohnung meines Schwagers v. Quast in der Lennéstraße vorüber, und mein Schwager hatte den Mut, ihm die Waffe zu entringen.

In den Berliner Zeitungen aber er-

schienen scheußliche Lobhudeleien für den „ Bürgerfreund " v. Nazmer, der ja nichts als seine Pflicht getan und nicht Bürgerblut vergossen habe. Ich ließ darauf an die Ecken der Hauptstraßen ein Plakat heften, in welchem ich den armen Nazmer als einen durch schändlichen Betrug Verführten schilderte.

Vor diesem Plakat entstanden an vielen Straßenecken gehörige

Prügeleien, da der Pöbel bestrebt war, dasselbe wieder abzureißen. Große Freude aber war darüber bei allen, welche Nazmer liebten und bedauerten, so namentlich bei meinem alten Onkel, dem General v. Quadt, Nazmers Schwiegervater. Nazmer hat sich übrigens in späteren Jahren die Sporen wieder verdient, indem er den Feldzug gegen die demokratischen Rebellen in Baden zuerst als gemeiner Soldat mitmachte. Eine andere Gelegenheit, ein Plakat zu erlaſſen, glaubte ich ebenfalls nicht vorübergehen zu laſſen, als die „ Verliner Studentenschaft“ höchſt aufrührerische Ansprachen an das Volk von Berlin auf Straßenplakaten veröffentlichen ließ, nachdem kurz vorher die Studentenschaft zu Wien an die Spitze der dortigen revolutionären Bewegung getreten war.

Ich

sagte in diesem Plakat folgendes : Ein an das Volk von Berlin gerichteter, von der sich so nennenden Berliner Studentenschaft unterschriebener Anschlag bedeckte vor einigen

108

Dritter Abschnitt : Univerſitätszeit.

Lagen die Ecken der hiesigen Straßen. Wir protestieren hiermit auf das entschiedenste und ein für allemal gegen die Anmaßung, die sich ein unbedeutender, höchstens der zehnte Teil der hiesigen Studentenschaft erlaubt, im Namen der Berliner Studentenschaft Aufrufe an das Berliner Volk zu erlassen. Auch sollten doch jene Herren endlich einsehen, was des Schusters Leisten ist. Sie sollten sich ins Gedächtnis zurückrufen, daß sie noch „Studenten" sind, d. h. daß sie noch auf den Bänken siten und durchaus nicht dazu berufen sind, auf das Katheder zu steigen, um von da herab, wie es nicht nur hier, sondern auch in Wien geschehen ist, Königen und Miniſtern grobe Wahrheiten - nein, wahre Grobheiten - zu sagen, und nun gar den Völkern Lehren zu geben.

Das Volk von Berlin

wird jezt wohl wiſſen, was es von solchen Lehren und von solchen Lehrern zu halten hat. Dies ist die Meinung vieler Studenten, die sich mit demselben Recht oder Unrecht wie jene unterschreiben könnten „Die Berliner Studentenschaft". Berlin, den 3. August 1848. Auch um dieses Plakat, welches man natürlich abzureißen suchte, entstanden harte Kämpfe, denn die Soldaten des 9. Regiments suchten mit Erfolg das Abreißen des Plakats zu verhindern. Am folgenden Tage erſchien nun ein Anſchlag am schwarzen Brett der Univerſität, daß sich der Verfasser des „schändlichen“ Plakats namhaft machen möge. Ich schrieb nun meinen Namen und meine Wohnung an das schwarze Brett. Es dauerte mehrere Wochen, bis ich die verschiedensten Forderungen zum Duell von seiten vieler demokratischen Studenten bekam. Mehrere meiner Heidelberger Studiengenossen fochten an meiner Stelle viele Schläger. und Säbelduelle wegen dieses Plakats aus, während ich selbst nur gegen den Haupträdelsführer der Gegenpartei, einem mir bis dahin ganz unbekannten gewissen Goldschmidt, ein Pistolenduell auszukämpfen hatte. Es fand auf dem sogenannten „ Spandauer Berg" statt.

Es lautete

auf zwei Kugeln von jeder Seite bei fünf Schritt Barriere. Mein Freund Wolff war Unparteiischer, Robert v. Puttkamer, der spätere Staatsminiſter, war mein Sekundant, Graf Schlieffen, Leutnant beim Kaiser Alexander-Regiment, mein Zeuge, Dr. Völcker als Arzt. Ich schoß in die Luft, während eine Kugel meines Gegners hart an meinem Ohre vorbeiflog. Ich glaubte damals und glaube es auch heute noch, daß ich troß aller prinzipiellen Gegengründe dieses Pistolenduell habe annehmen müssen, denn ich wäre sonst von der demokratisch gesinnten Studentenschaft als ein Feigling verschrieen worden, und ich hätte die von mir vertretene Überzeugung im Stich gelassen.

Ich stellte mich vor den Pistolenlauf

und hatte nicht die Absicht, meinen Gegner, den ich nie gesehen, zu ver-

Pistolenduell.

lezen oder gar zu töten.

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Die Genugtuung hatte ich, daß die sogenannte

„Berliner Studentenschaft“ doch nicht mehr mit der Frechheit vorzugehen wagte, die sich damals von Tag zu Tag gesteigert hatte. Nach dem Duell besuchten wir den Gottesdienst in der Matthäikirche und hörten eine ergreifende Predigt vom lieben Büchsel. Unter den vielen Volksverſamınlungen, in denen auf öffentlicher Straße die tollsten Reden gehalten wurden, zeichnete sich besonders der sogenannte „ Lindenklub “ aus, welcher sich allabendlich Unter den Linden an der Friedrichstraßenecke versammelte. Tausende von Menschen wurden eines Abends von den Volksrednern, wie Ottenjoßer, Lindenmüller, Urban 2c., aufgereizt, vor das Kriegsministerium zu ziehen und von dem Kriegsminister v. Schreckenstein die Auflösung des 2. Garde-Regiments zu verlangen.

Dieses Regiment ſtand damals nämlich in Charlottenburg,

und es waren einige Demokraten, welche herausgekommen waren, um die Soldaten aufzuheßen, von diesen mit gründlichen Prügeln heimgeschickt worden. Aus Rache dafür forderte das Volk die Auflösung des Regiments. Ich hatte die wütenden Reden von dem Balkon eines Hauses mit angehört, und als nun, geführt von den Rednern, die ganze Maſſe sich in Bewegung setzte, um den Kriegsminister zur Rede zu stellen, schwebte mir das Bild des österreichischen Kriegsministers v. Latour vor der Seele, welchen kurze Zeit vorher die demokratischen Volksmassen an einem Laternenpfahl zu Wien aufgehängt und so ermordet hatten. Ich lief darum, ſo ſchnell ich laufen konnte, einen anderen Weg nach dem Kriegsminiſterium, als die Volksmaſſen ihn eingeschlagen hatten und kam darum auch früher als diese vor die Tore des Ministeriums, welche verschlossen waren und vor welchen auch keine Schildwache stand. Alles schien im Ministerium zu schlafen, denn alle Fenster waren dunkel, und auf mein Klopfen wurde nicht geöffnet . Es ſammelten sich nun die Volksmaſſen, so daß in der ganzen Leipziger Straße Mann an Mann stand. Die Rädelsführer verlangten schreiend, daß ihnen die Tore geöffnet werden sollten, und als das nicht geschah, wurde das Pflaster aufgerissen, und die Steine in die Fenster geworfen. Immer wütender wurde das Volk, da drängte ich mich durch bis zur Wilhelmstraße und lief nach einem Hauſe, deſſen kleiner Hof, wie ich genau wußte, an den mir wohlbekannten großen Garten des Kriegsministeriums anstieß. Auf mein Klingeln öffnete mir eine junge Frau in weißem Nachtgewande und redete mich mit den Worten an : „Kommst Du endlich !" Sie glaubte im Dunkeln ihren Mann vor sich zu haben, welcher, wie fast täglich, im Dienſte der Bürgerwehr abwesend war. Ich sette ihr nun die Sachlage auseinander und bat sie, mir beim übersteigen über die Mauer in den kriegsministeriellen Garten hinein zu helfen. In rührender Weise begriff sie sofort die Gefahr, führte mich durch die Schlafstuben, in denen ihre Kinder

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Dritter Abschnitt: Universitätszeit.

schlummernd in den Betten lagen, zeigte mir eine Leiter auf dem Hofe, auf der ich die Mauer erstieg.

Durch den stockfinsteren Garten ging ich

nun zur Hintertür des Miniſteriums ; ein einziges Fenster links neben der Tür hatte Licht und durch das Fenster konnte ich einen Bedienten schlafend auf einem Stuhle siten sehen. Das Geheul der Volksmassen drang dabei über das Dach des Gebäudes an mein Ohr. Als ich nun an das Fenster klopfte, um den Bedienten zu wecken, rief plöglich eine tiefe Baßſtimme aus einem dunklen Fenster mir zu : „ Was wollen Sie hier ?" Ich ſeßte dem Herrn, der im weißen Nachtkostüm zum Fenster hinauslag, die Sachlage auseinander und meine Absicht, den Kriegsminister zu retten. Als ich ihm auf seine Frage meinen Namen genannt, tönte das Trommeln der Bürgerwehr von der Leipzigerstraße her hinüber.

Es war der Kriegs-

minister selbst, mit dem ich gesprochen ; er hatte, wie er mir später mitteilte, mich für einen Menschen gehalten, welcher von hinten her das Miniſterialgebäude den Volksmaſſen habe öffnen wollen, und hatte die Angabe meines Namens für eine Lüge gehalten. Ich mußte nun denselben dunklen Weg durch den Garten zurücklegen, wo ich denn an der Mauer meine gute Kaufmannsfrau wiederfand, welche den Hof und die Stuben inzwischen erleuchtet hatte, um den Kriegsminiſter mit mir retten zu helfen. Schreckenstein rief mir später stets die Worte entgegen : „Mein Lebensretter, ich danke Ihnen !" Solche und ähnliche Erlebnisse, wie die vorerzählten, ereigneten sich damals fast täglich, denn die Haltung der Bürgerwehr wurde immer schlaffer, und die wenigen in Berlin anwesenden Truppen durften nicht einschreiten, wenn sie nicht ausdrücklich requiriert wurden . Ich kann nicht alle die sogenannten Volksversammlungen aufzählen, bei welchen es immer darauf ankam, die Monarchie zu untergraben und baldmöglichst zu Falle zu bringen. So manche Volksversammlung habe ich erlebt, ja sogar außerhalb Berlins auf den Bahnhöfen der Eisenbahn nach Hamburg, in welchen das von den Agitatoren fieberhaft aufgeregte „Volk" den feierlichen Beschluß faßte, daß der Prinz von Preußen des Thrones verlustig erklärt werde, da er nicht würdig sei, ihn jemals einzunehmen. Volksmassen zogen sehr häufig vor die Miniſterhotels, wie z . B. die der Minister v. Patow, v. Auerswald, Kühlwetter 2c. Die Zahl der Miniſterien und der einzelnen Miniſter, die in dieſen Revolutionszeiten den Staat leiten sollten, war ja eine übergroße.

Die Tumulte vor dem

Schauspielhause hörten gar nicht auf, und ich habe manche Rede eines „Volksbeglückers " von den Treppenstufen der beiden Kirchen auf dem Gendarmenmarkt mit angehört, denn in dem Schauspielhauſe tagte die Nationalversammlung, nachdem sie die Singakademie verlaſſen.

Fast

täglich besuchte ich auch die Sigungen dieser Nationalversammlung, in denen wahrlich fast noch unverschämtere und demokratisch frechere Reden

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Wrangels Einmarsch.

gehalten wurden als draußen auf den Straßen.

So war ich Zeuge, als

der bekannte Abgeordnete Schulze-Delitzsch die Worte in die Nationalversammlung hineinschrie: „Die Firma von Gottes Gnaden hat Bankerott gemacht !" und als die Beschlüsse gefaßt wurden über Abschaffung der Todesstrafe, über Aufhebung des Adels, über die „ Habeascorpus" Afte, welche die anarchische Partei mit allen möglichen Schußwaffen ausrüsten sollte, ja als in wohlerworbene Privatrechte durch die unentgeltliche Aufhebung des Jagdrechts auf fremdem Grund und Boden eingegriffen wurde.

Und das alles im Beisein Königlicher Miniſterien.

Kurz möchte ich nur erwähnen, daß in meiner Wohnung oft ein kleiner Klub von Alters- und Gesinnungsgenossen sich zusammenfand, in welchem der eine den andern durch lebendigen Austausch der Gedanken nach der monarchiſchen und patriotischen Richtung hin stärkte. Zu diesem kleinen Klub gehörte auch Friedrich Eichmann, der Sohn des damaligen Ministers des Innern, welcher eines Abends uns versprechen mußte, daß er seinen Vater dazu bewegen werde, öffentlich bekannt zu machen, daß bei fünftigen Tumulten und blutigen Zusammenstößen mit der Bürgerwehr das Militär, auch ohne eine ausdrückliche Requisition desselben durch das Bürgerwehrkommando, einschreiten werde. Und richtig, am folgenden Tage las das teils dadurch empörte, teils erfreute Publikum von Berlin ein solche Bekanntmachung an den Straßenecken. Ich besize eine Sammlung von demokratischen, an die Straßenecken geklebten Plakaten, welche die gemeinſten, ja unzüchtigsten Wiße enthalten. Als nun endlich das Maß des Unfugs voll war, da berief Seine Majestät das Ministerium Brandenburg-Manteuffel, und der alte General v. Wrangel rückte am 9. November an der Spiße einiger Regimenter durch das Hallesche Tor in Berlin ein. Wir hatten uns in unserm kleinen Klub verabredet, ihn zu empfangen, und gingen vom Halleschen Tor bis zum Schauspielhauſe neben seinem Pferde her, ihm und den Truppen zujauchzend. Wrangel winkte uns mit freundlichem Gruße zu. Außer uns war so gut wie fein einziger Mensch den ganzen langen Weg durch die Friedrich- und Mohrenstraße hindurch zu sehen.

Die Straßen waren

öde, wie ich sie nie gesehen ; man spürte ordentlich die Gewitterschwüle. Die Truppen marschierten auf dem Gendarmenmarkt um das Schauspielhaus herum auf, Wrangel aber stieg an der Ecke der Mohren- und Charlottenstraße vom Pferde und ließ sich einen Stuhl aus dem Hotel Brandenburg herausbringen, auf welchem sigend, er in völliger Seelenruhe das Weitere abwarten wollte. Ich stand dicht neben ihm (denn er war ja mein alter väterlicher Gönner und stand während meiner Kindheit als Kavallerie-Brigadier in Poſen) .

Die Nationalversammlung hatte

sich im Schauspielhause permanent erklärt, Wrangel aber hatte hineinſagen laſſen, daß er nicht eher seinen Platz mit seinen Truppen verlaſſen

Dritter Abschnitt: Universitätszeit.

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werde, bis die Nationalversammlung ihre Sizung aufgebe.

Eine Ewig-

keit erschien uns die Zeit, bis endlich Wrangels Ziel erreicht war, denn es war furchtbar aufregend, zu beobachten, wie sich eine Maſſe von Pöbel mit Schnapsflaschen in die Reihen der Regimenter hineindrängte, und wie ein Korps von Tausenden von Fabrikarbeitern in zweifelhafter Haltung in den benachbarten Straßen aufmarschiert war. Ein neuer Straßenkampf schien fast unvermeidlich, da war es, als Wrangel zu uns Umſtehenden die berühmten Worte sprach : „Ich bin doch neugierig, ob sie ihr hängen werden !" Es war ihm nämlich gedroht worden, daß man ſeine Frau in Stettin aufhängen werde, wenn er die Nationalversammlung auflöse.

Es war schon fast dunkel, als die Truppen endlich in ihre Quar-

tiere abmarschieren konnten, nachdem sie sich von neuem herrlich bewährt hatten. Der General v. Möllendorff - derselbe, den die Aufrührer in der Nacht vom 18. zum 19. März auf eine schändliche Weise gefangen genommen hatten - rückte mit seinen Bataillonen in das Schauspielhaus selbst ein. Sein Adjutant, der Leutnant v. Thile, bat mich, für große Kessel zu sorgen, damit den armen hungrigen Soldaten im Schauspielhause ein warmes Essen gegeben werden könne.

In dem nahen Hauſe

der Familie Mendelssohn in der Jägerstraße erhielt ich zwei große Kessel bereitwilligst gestellt und die Soldaten erhielten ein Abendessen . Das Bild, welches sich im Schauspielhause darbot, war für ein patriotisches Herz geradezu erbaulich, denn in all den großen Sälen des Schauspielhauses, wo kurz vorher noch die „Jakobiner“ und die „Bergpartei“ ſich gegen die göttliche Ordnung aufgelehnt hatten, ſaßen und lagen die Soldaten und erquickten sich. Ein sehr wichtiges Ereignis war im Sommer 1848 die Gründung der

Neuen Preußischen Zeitung" unter der Devise „ Mit Gott für König

und Vaterland ".

Diese Zeitung war eine Frucht der Märzrevolution

und man kann wohl ſagen, daß bis dahin in Deutſchland und ſpeziell in Preußen keine wirklich konservative Presse existiert hat. überall hatte der mit den Ideen der französischen Revolution versezte Liberalismus die Herrschaft, und mit diesen Anschauungen hatte sich vor allem auch der Beamtenstand durchtränken lassen. Damit war die „ öffentliche Meinung" des gebildeten und besitzenden Publikums genügend für die Revolution vorbereitet und widerstandslos gegen die auflösenden Bewegungen gemacht. Es ist ganz erklärlich, daß ich ein so tiefes Intereſſe für das Entstehen und Aufblühen dieser Zeitung besaß, denn mit allen ihren Gründern war mein Vater und durch ihn auch ich persönlich bekannt ; es waren dies vor allen die drei Gebrüder von Gerlach, der Herr v. Senfft-Pilsach, der Graf v. Voß und v. Bethmann-Hollweg (der spätere Kultusminiſter) , auch der Graf v. der Golz, der spätere Botschafter in Paris. Ebenso kannte ich die Komiteemitglieder v. Uhden (der spätere Justizminister) , v. Kröcher und vor allen v. Kleist-Rezow.. Alle

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Kreuzzeitung, Starzin.

Chefredakteure der Zeitung habe ich persönlich kennen gelernt, und von denen, welche Gelder zur Gründung der Zeitung beitrugen, waren mir faſt die Hälfte bekannt. Wie bedauerte ich, daß ich bei meinen damaligen geringen Mitteln nicht auch mein Scherflein bringen konnte, aber Nachrichten habe ich wenigstens der Zeitung zugetragen, wie auch kleinere Artikel geliefert. Ich erschien öfters auf dem Redaktionsbureau und hatte mit dem ersten Redakteur Wagener eines Abends einen scharfen Disput darüber, daß die Haltung des sogenannten „ Zuschauers " unter dem Strich der Zeitung mir zu wenig vornehm erschien.

Denn dieser Zuschauer

brachte manchmal die gehäſſigſten Notizen über die persönlichen und Familienverhältnisse der politischen Gegner der Zeitung. Bei der fieberhaften Aufregung, welche damals in der ganzen Berliner Presse herrschte, war dies freilich erklärlich ; später ist auch der Zuschauer viel weniger gehässig und klatschig redigiert worden, aber die Zeitung hatte sich gleich im Anfang unnüßerweiſe viele Feinde geschaffen. Wie herrlich aber hat ſie im Laufe eines halben Jahrhunderts das Panier des echten Konservatismus, der Gottesfurcht, der Königstreue und der Vaterlandsliebe aufrecht erhalten ! Während der ganzen Zeit des Beſtehens dieser Zeitung bin ich ihr Abonnent geweſen. Am 22. Auguſt reiste ich mit meinen beiden Schwestern und mit meinem Schwager Quast nach Starzin zur Hochzeit meines Bruders, welche am 25. August gefeiert wurde.

Große Festlichkeiten wurden uns

Hochzeitsgästen demnächst in Danzig gegeben. Dann aber blieb ich einen ganzen Monat bei den lieben und gaſtfreien Eltern meiner Schwägerin in dem reizenden Starzin, wo ich meine Zeit vom Morgen bis zum Abend gründlich mit den Vorbereitungsarbeiten zum ersten Examen benußte, auch habe ich in dieser Zeit sehr intereſſante Menschen kennen gelernt ; ich nenne vor allen den Polizeipräsidenten v. Clausewit in Danzig, den Sohn des berühmten Generals und Militärschriftstellers , den Dr. Förstemann, den Hauslehrer des jüngsten Bruders meiner Schwägerin, insbesondere den Kommerzienrat Heinrich Behrendt, den Vizekönig von Danzig und Umgegend, einen feingebildeten, aber erzentrisch liberalen Politiker.

Das letztere war auch mein lieber alter Freund, der Herr

v. Graß, welcher mir ja schon von dem gemeinsamen Aufenhalt in Rom so eng befreundet war. Fast allabendlich bekam ich von drei sehr netten jungen Damen Tanzunterricht, es waren dies die Schwestern meiner Schwägerin, Nelly Behrendt und Johanna v . Bernuth sowie eine Couſine, Melitta Behrendt, die spätere Frau v. Below-Ruzau. Es konnte natürlich nicht ausbleiben, daß in der damaligen aufgeregten Zeit die hißigsten politischen Gespräche geführt wurden, welche aber doch nicht imstande waren, unser harmonisches Zuſammenleben ernstlich zu gefährden.

v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

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Bierter Åbschnitt. Auskultator und Referendar.

m 4. Oktober reiste ich nach Cöslin und beſtand dort am 7. mein erstes juriſtiſches Examen . Meine Examinatoren waren : der Chefpräsident des Oberlandesgerichts, v . Baehr, und die Oberlandesgerichtsräte Heineccius und Möllhausen. Ich begreife nicht, wie in dem Prüfungsprotokoll angegeben werden konnte, daß ich die meisten Fragen richtig beantwortet habe, denn heute würde ich schwerlich dazu im ſtande sein. Vier Stunden lang wurde ich mit Fragen gequält und war herzlich froh, als mir am Schluß eröffnet wurde, daß sei".

ich vollkommen hinreichend für die Auskultatur vorbereitet

Vor dem Prüfungstermin mußte ich noch ein lateinisches Curri-

culum vitae einreichen ; ich bin erstaunt, wie ich jezt aus meinen Personalakten ersehe, daß dieſes Schriftstück einer auffallend genauen Durchsicht unterworfen worden ist.

Zwei Worte waren als fehlerhaft von einem

Examinator unterstrichen ; ich hatte nämlich geschrieben : ,, Baptismi ritu nomina mihi data sunt Gustavi Henrici - Friderici Pauli. “ Hierauf hatte aber ein anderer Examinator an dem Rand bemerkt : „Die Form >>Baptismi ritu« iſt nicht unrichtig, sie kommt im Neuen Testament, Hebräer 6, 2, und bei den Kirchenvätern vor. "

In einer zweiten Stelle

hatte ich geschrieben, daß ich auf die Universität gegangen sei,,, in jurisprudentiae studium incumberem".

Auch hier hatte der zweite Exami-

nator daneben geschrieben : ,, in ist gar nicht unrichtig, cfr. Cicero de Oratione 1 , s in id studium, quo estis, incumbite." Andere „Fehler" waren in meinem Lebenslauf nicht vorgekommen ! Ist es nicht rührend, mit welcher Sorgfalt bei einer so unwichtigen Prüfung eines armen Rechtskandidaten verfahren wurde ?

Zwei Umstände aber machten mich

Erster Ball.

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besonders froh : der eine, daß ich das meinem seligen Vater gegebene Versprechen, sofort nach meinem sechsten Semester das erste Examen zu machen, gehalten hatte, und der andere der, daß ich mich ganz auf eigenen Füßen, d. h. ohne Hilfe eines sogenannten Repetitors, für das Examen vorbereitet hatte . Auch vor Ablegung aller meiner späteren Prüfungen habe ich niemals einen Repetitor angenommen, wie das damals schon allgemein Mode geworden war. Nach einer Festlichkeit, welche mir die in Cöslin anwesenden Aſſeſſoren und Referendare gaben, reiste ich sofort am folgenden Tage zu meinem ersten Ball. Der Präsident v. Baehr hatte nämlich dem Grafen Golt in Creißig bei Cöslin versprochen, ihm aus der Zahl der jungen Gerichtsbeamten acht Herren zu stellen, damit der Ball dadurch möglich gemacht werde.

Durch die sandigen Wege Pommerns karrten nun per Extrapoſt

wir jungen fröhlichen Herren einen ganzen Tag lang von Cöslin nach Creißig. Hatte ich ja doch in Starzin nach meiner Meinung gründlich genug tanzen gelernt. Aber, o weh, gleich bei dem ersten Walzer trat ich einem wunderhübschen jungen Mädchen recht gehörig und schmerzhaft auf die Füße ! Die ganze Nacht wurde durchgetanzt, ſo daß die anderen Gäste erst fortfuhren, als der Tag schon angebrochen war.

Da setzte sich

der Referendar v. Keudell um 6 Uhr morgens an den Flügel und spielte eine Beethovensche Sonate nach der anderen, die folgende immer herrlicher als die frühere, der müden Ballgesellschaft vor.

Gleich damals prägte es

sich mir tief ein, welch einen wunderbar begabten Mann ich in Keudell kennen gelernt hatte. Und so sind wir denn bis heute über 50 Jahre lang die intimsten Freunde geblieben. Er und all die anderen jungen Herren fuhren nach Cöslin zurück, ich aber reiſte ſofort nach Berlin, um meinen Umzug von dort nach Frankfurt a. D. zu betreiben. Sehr schwer wurde es mir, mich von meinem Bruder Wilhelm trennen zu müssen, mit dem ich seit dem Tode meines Vaters zusammengewohnt hatte ; ich zog aber meinem Bruder Otto nach, der sich als Aſſeſſor in Frankfurt a. D. hatte anſtellen laſſen und dort mit seiner jungen Frau seinen ersten heimatlichen Herd gegründet hatte. Am 11. Dezember wurde ich in Frankfurt vereidigt und bei dem Landund Stadtgericht eingeführt ; 1½ Jahre habe ich dort als Auskultator gearbeitet, indem ich immer einem Dezernenten in jedem einzelnen Zweige des Gerichtswesens überwiesen wurde. Besonders günstig und lehrreich war es mir, daß ich sehr oft selbständig ein Dezernat verwalten konnte, wenn der betreffende Dezernent beurlaubt oder erkrankt war. So habe ich den Vormundschaftsrichter, der als Obervormund die Intereſſen von Tausenden von Mündeln wahrzunehmen hatte, längere Zeit vertreten, obwohl ich selbst noch unter Vormundschaft stand -- denn damals wurde man ja erst in einem Alter von 24 Jahren majorenn.

Auch für den

8*

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Vierter Abschnitt : Auskultator und Referendar.

Hypotheken-, Bagatell -und Kriminalrichter habe ich selbständig eintreten müſſen. Der lettere, Gerichtsaſſeſſor Mörs, überwies mir oft die widerlichsten Kriminalfälle, die mich aber doch höchlichst interessierten. Da ich natürlich ganz umsonst arbeiten mußte, so war ich besonders stolz , als ich in zwei Fällen mein erstes Geld als Staatsbeamter verdiente. Für eine Unterschrift, die ich als Rechtsbeistand einer Bäuerin unter eine Verhandlung sezte, erhielt ich 20 Silbergroschen ; fast schämte ich mich über die hohe Bezahlung für eine so geringe Leistung . In einer Raubmordsache aber, über die zwei Meilen von Frankfurt zu verhandeln war, mußte ich den ganzen Tag über das Protokoll führen und erhielt dafür nur 1 Taler 10 Silbergroschen, obwohl ich mir die Finger lahm geschrieben hatte. Mein Privatleben in Frankfurt war das angenehmste von der Welt ; wohnte ich ja doch dicht neben meinem Bruder und meiner Schwägerin und lernte ich doch eine Menge von lieben Familien kennen .

Die beiden

Generale v. Thile hatten im Herbst 1848 ihren Aufenthalt in Frankfurt genommen, und in ihrem gastlichen Hauſe verkehrte ich viel. Was waren das für herrliche Männer, wieviel hatten sie erlebt und welch reiche Erfahrungen hatten sie gesammelt, welches Vorbild waren sie in ihrem treuen Patriotismus und in ihrer echten Gottesfurcht !

Die Mitglieder der

Thileschen Familie waren mir überaus sympathisch. Die intereſſanteſten Männer sammelten sich fast allabendlich um dieses Brüderpaar. Aber auch die Muſik fand ich in Frankfurt gut vertreten.

Ich ließ

mich sofort in drei Gesangvereine aufnehmen ; den einen leitete der Musikdirektor Melcher, der mich sogar bei einer Aufführung des Schumannschen Paradies und Peri " Solo singen ließ, den anderen für gemischten Chor der auch als Komponist bedeutende Musikdirektor Vierling. Dieser hatte -damals die Leitung des dritten Vereins der Liedertafel für Männergesang niedergelegt, und es war schwer, für ihn einen Nachfolger zu bekommen. Der geeignetste Mann dafür wäre ein Regierungsrat Bitter gewesen, den aber die Mitglieder durchaus nicht haben wollten, weil er sich in der Revolutionszeit als arger Demokrat aufgespielt hatte.

Nach

langen heftigen Verhandlungen jezte ich es durch, daß ich ſelbſt Herrn Bitter die Frage vorlegen sollte, ob er die Direktion der Liedertafel übernehmen wolle, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, daß er seine demokratischen Ansichten keinesfalls zum Ausdruck bringen dürfe.

Bitter

war sehr erstaunt und erfreut über meinen Besuch, denn er stand damals ganz isoliert in der Frankfurter Gesellschaft. Er übernahm das ihm angetragene Amt und führte es vortrefflich aus, denn er war ein ausgezeichneter Musiker. Ich erzähle dies alles so genau, weil Bitter später so be kannt wurde als preußischer Finanzminister und als Verfasser des höchst gelungenen Buches über Johann Sebastian Bach. (Davon erhielt er später den Beinamen „ der Bachbitter“ zum Unterschied von dem „ See-

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Musik in Frankfurt a. Ø.

bitter", seinem Bruder, welcher Präsident der Seehandlung wurde.) Die Musik hatte uns beide ein für allemal miteinander verbunden. Seine demokratischen Ansichten von 1848 hat er später ganz abgelegt und war ein überaus liebenswürdiger und bescheidener Herr.

Mir gegenüber hat

er wohl niemals unsere erste Begegnung in Frankfurt a. D. vergessen, auch als er in die hohe Stellung eines Staatsministers gelangt war. Auch andere als Vokalmusik konnte ich in Frankfurt treiben.

Ein

tüchtiger Dilettant auf dem Klavier war der Referendar Ulrich v . Winterfeld, mit dem ich oft vor größeren Zuhörerkreisen zusammenspielte ; auch den damals berühmten Violinspieler Gulomy hatte ich als Gast bei mir, der einen Sturm des Beifalls sich errang, nachdem er ganz Sibirien bis zum Baikalsee mit seiner Violine durchreist hatte.

Das Zentrum aller

Vergnügungen war das Kaſino, wo großartige Bälle gegeben wurden und wo ich leider viel Lehrgeld im Chombrespiel habe bezahlen müſſen ein schweres Spiel, das mir der alte liebenswürdige Landrat Narbe beibrachte und das mir nächſt dem Schach das liebſte Spiel geblieben ist. Unſer gemeinsamer Mittagstisch im Gasthof „Zum Adler“ hatte besonders anziehende Mitglieder, darunter die Aſſeſſoren v . Schelling (ſpäter Justizminister) , v. Grolman und Graf Lippe (ebenfalls später Justizminister) , die Regierungsräte Winkler (später Präsident in Hannover), Kolbe (später Direktor der Porzellanmanufaktur) und v. Schwarzkoppen (später Ober-Forstmeister im Hausminiſterium) , der Küraſſierleutnant v. Lüderiz (später General) . Auch mit den Offizieren der Garnison, namentlich denen vom 2. Dragoner-Regiment, die ich schon 1846 in Pinne kennen gelernt, hatte ich sehr lieben freundschaftlichen Umgang.

Das Offizierkorps dieses Regiments

lebte miteinander wie eine glückliche Familie, und es war darum erklärlich, daß in mir der Wunsch lebendig wurde, ihm anzugehören. Nachdem ich am 14. Juli 1849 zum Leutnant der Kavallerie ernannt worden war - eine Ernennung, die ich bei dem längeren Aufenthalt in Pinne und Bialokosch erhielt - nachdem mein Bruder Wilhelm beim Franz - Regiment eingetreten war und auch der mir befreundete Referendar Rudolf v. Thile Offizier im Franz-Regiment geworden war, fragte ich den alten Minister v. Thile, ob er damit einverstanden sei, daß auch ich zum Militär überträte. Es war aber umsonst, daß ich ihm darstellte, das mir fehlende Familienleben werde mir in einem solchen Offizierkorps , wie das des 2. Dragoner-Regiments, ersetzt werden, und ich fände in meinem Beruf als Gerichtsbeamter nicht den Umgang und den sozialen Rückhalt, wie als Offizier, der sich stets in guter Gesellschaft befände - der „Onkel" v. Thile war durchaus nicht mit meinem Wunsche einverstanden. Und wenige Jahre nachher habe ich empfunden, daß er vollständig recht gehabt hatte.

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Vierter Abschnitt : Auskultator und Referendar.

So blieb ich denn Gerichtsauskultator, bis ich am 25. Mai 1850 mein zweites juristisches Examen absolvierte.

Auch in dieser Prüfung wurde ich

von drei Examinatoren unter dem Vorsiz des Präsidenten Scheller mehrere Stunden gründlich ausgefragt. Nach der mündlichen Prüfung mußte ich noch ein Probereferat in einer verwickelten Prozeßſache wegen Herausgabe eines Grundstücks erſtatten und in der Audienzſigung des Oberlandesgerichts vortragen. Das Erkenntnis, das nach meinem Votum aussiel, mußte ich ebenfalls abſeßen, ſo daß ich am 18. Juni 1850 zum Appellationsgerichts -Referendarius ernannt wurde. Ich glaubte, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, nach dem Wunſche meines seligen Vaters die diplomatische Laufbahn zu ergreifen, und meldete mich darum persönlich bei dem Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, v. Schleinig. Ich war höchlichst überrascht, daß derselbe mich nicht nur im diplomatischen Dienst annehmen wollte, sondern mir sogar anbot, ich könne ſofort Legationssekretär in Stockholm, in Konſtantinopel oder in Brüſſel werden, wenn ich nur die bestehende Vorschrift erfüllt und einige — etwa sechs Wochen bei einer Regierung gearbeitet hätte. Der Regierungspräſident v . Raumer zu Frankfurt a . O. führte mich nun am 17. Juli 1850 in das Regierungskollegium ein und überwies mich gleichzeitig der Abteilung I und IV zur Beschäftigung . Die Königliche Regierung zu Frankfurt hatte damals fünf Abteilungen ; die erſte Abteilung des Innern, die zweite für Kirchen- und Schulwesen, die dritte für direkte Steuern, Domänen und Forsten, die vierte für indirekte Steuern, und endlich die fünfte für Landwirtschaft, an Stelle einer besonderen Generalkommission . Bei dem Umfang des Geschäftskreises der Regierung war seit langer Zeit kein Referendar bei derselben eingetreten . Durch die Güte des Präsidenten v. Raumer wurde ich sofort wieder, wie früher beim Gericht, mit der selbständigen Vertcaltung von Dezernaten betraut, und so habe ich namentlich drei Monate hindurch das bedeutende Dezernat der Kommunalsachen der ländlichen Gemeinden, der Gesindepolizei, der Angelegenheiten aller nicht zur Landeskirche gehörigen Religionsgesellschaften, der landwirtschaftlichen Polizei, der Regulierung der öffentlichen Leistungen bei Dismembrationen von Grundstücken an Stelle des erkrankten Regierungsaſſeſſors Naumann bearbeitet. Ich blieb somit viel länger bei der Regierung, als der Minister v. Schleinig von mir verlangt hatte, und ich blieb gern, weil der mir sehr wohlwollende Präsident v. Raumer es wünschte, und weil ich selbst, wenn auch viel Arbeit, so doch viel Freude an meiner Beschäftigung hatte. Am schwersten wurden mir die mündlichen Vorträge in den Sitzungen des Regierungskollegii ; es war mir stets dabei zu Mute, als sei mir die Kehle zugeschnürt, ja, ich litt unter dieser Verlegenheit so sehr, daß mein

Mobilmachung 1850.

ganzer Gedankengang mir verloren zu gehen drohte.

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Es ist dies ein

Mangel, den ich auch in allen ſpäteren Jahren, troß der großen Zahl von öffentlichen Vorträgen, zu denen ich berufen wurde, immer wieder empfunden habe. Der politische Horizont wurde nun im Herbst 1850 immer umwölkter und düsterer, und Anfang November wurde die Mobilmachung der ganzen Armee zum Kriege gegen Österreich befohlen. So mußte denn auch ich als Sekondleutnant des 8. Landwehr-Ulanen-Regiments mich mobil machen ; es wurde mir dies entsetzlich schwer durch die großen Ausgaben, die mir mit der Anschaffung eines Pferdes und der Pferdebekleidung erwuchsen, hatte ich doch bis dahin nur über 300 Taler jährliche Einnahmen zu verfügen gehabt. In meiner Not suchte ich mir 100 Taler von einem uralten Freunde meines seligen Vaters zu erborgen, erhielt aber von dieſem reichen Manne einen abſchlägigen Beſcheid, denn es verstoße gegen ſeine Grundsäge, Geld zu verleihen. In dem Gefühl der Niedergeschlagenheit über dieſe Abweiſung erhielt ich plötzlich von dem Herrn v. Graß aus Starzin aus freien Stücken 100 Taler zugeschickt, mit der Bitte, mehr zu verlangen, wenn ich es brauchen sollte.

Da konnte ich nun von einem

Gendarmenwachtmeister einen sehr tüchtigen, vortrefflichen Fuchs für 120 Taler kaufen. Bei diesem meinem ersten Pferdegeschäft hat mir ein besonderes Glück zur Seite gestanden, denn alle meine Kameraden beneideten mich um dieses echte Kampagnepferd, und ich habe es sofort nach der Mobilmachung an den Landwehrrittmeister Bieler-Machern zum Einkaufspreis wieder verkauft . Ich hätte viel mehr dafür bekommen können, aber ich hatte das Pferd meinem lieben Bieler, der es für seinen alten Vater haben wollte, versprochen. Die Pferdeaushebung für mein Regiment machte entsetzliche Schwierigkeiten, weil sie in wenigen Tagen beendet ſein ſollte, und der Rittmeiſter v. Derzen vom 2. Dragoner-Regiment, den ich bei dem Pferdeankauf unterſtüşte, wurde vor überarbeitung ganz nervös . überhaupt war die Kommandierung der Linienoffiziere zu unserem Landwehr-Regiment nicht glücklich ausgefallen ; unser Regimentskommandeur wurde ein Major Sametti (bisher etatsmäßiger Stabsoffizier beim 3. Ulanen-Regiment) , der noch nie ein Regiment geführt hatte und darum sich bei den ersten Übungen fast stets versah, indem er bei den Befehlen nicht begann mit dem Wort „Regiment", sondern mit dem Worte „ Eskadron". Diese Kleinigkeit genügte, ſeine Autorität gegenüber den alten Landwehrleuten herabzusehen.

Als Regimentsadjutant fungierte der mir befreundete

Graf Schulenburg (späterer Besitzer der Herrschaft Filehne) , und unter den Schwadronschefs befanden sich ein Graf Gneisenau, der älteste Sohn des berühmten Feldmarschalls , und der vortreffliche Rittmeister v. Rohr. Gneiſenau erwies ſich bald als vollſtändig unfähig zum Kriegsdienſte, ja

120

Vierter Abschnitt: Auskultator und Referendar.

es folgte ihm sogar eine zweifelhafte Dame in die Quartiere nach ; er kümmerte sich um die Schwadron gar nicht, und es war lediglich das Verdienst des damaligen Vizewachtmeisters v. Levezow, meines alten Heidelberger Freundes, daß die Schwadron in Ordnung gehalten wurde. Der von uns allen hochgeschäßte v . Rohr, der schon ein recht alter Offizier war, hatte leider das Unglück, von gichtischen Schmerzen heimgesucht zu werden. Troß seines Alters war er erst der zweitälteste Rittmeiſter im 2. Dragoner-Regiment, denn der älteste, v . Sierks , war schon in den Freiheitskriegen eingetreten, und vier Leutnants dieſes Regiments hatten in Schwedt ihr 25jähriges Leutnantsjubiläum gefeiert, für welche Feier sie sogar einen Verweis bekommen haben sollen . Herr v. Rohr hatte einen Schnurrbart, der auf der einen Seite ziemlich dunkel, auf der andern ziemlich grau war und hatte so strenge Gesichtszüge, wie der Feldmarschall Yorck sie meiner Meinung nach gehabt haben muß. Die Folge seiner Kränklichkeit war die, daß ich als ältester Leutnant der Schwadron (noch jünger als ich war ein Leutnant v . Planiß) viele Monate während der Dauer der Mobilmachung die Schwadron führen mußte. Das Offizierkorps bestand im übrigen aus Gutsbesitzern der Neumark oder aus Söhnen solcher Gutsbesizer, und es war wie aus einem Guß zuſammengesezt. Für die Regimentsmuſik wurden sofort die nötigen Instrumente angeschafft und zwar aus Beiträgen der Offiziere. Wie wunderbar kam es mir vor, als ich plöglich im königlichen Dienſt bis dahin nie geahnte Einnahmen hatte, denn ich bekam nicht nur mein Leutnantsgehalt nebst Feldzulage, sondern auch eine Gratifikation als untersuchungsführender Offizier, hatte freic Ration für drei Pferde ( außer meinem eigenen für zwei mir unentgeltlich geſtellte, ſehr gut zugerittene) , dabei freies Quartier, wohin ich auch kam. Der Tag unseres Ausmarsches aus Frankfurt gestaltete sich zu einem dem Anger förmlichen Volksfest. Auf dem großen Plat war das Regiment aufmarschiert und rückte nun zum Karthausertor hinaus gen Südwesten, der sächsischen Grenze zu.

Mehrere Wochen bezogen wir

Quartiere in dem der bekannten Frau Bettina v. Arnim gehörigen sogenannten Siebendörferland in Meinsdorf und Wiepersdorf, nahe beim Städtchen Schönewalde.

Bei einer armen Pastorenfamilie lagen wir

4 Offiziere, an 50 Ulanen und außerdem noch Artillerie so eng zusammen, daß alle Ställe und Scheunen des Pfarrhofes mit Soldaten und Pferden . besetzt waren und die Mitglieder der großen Pfarrersfamilie an den Nahrungsmitteln teilnahmen, die uns von der Intendantur geliefert wurden. Dabei kam keine Klage über die Lippen dieser patriotischen Paſtorsleute. Der Regimentsstab lag bei Frau Bettina v. Arnim im Quartier, und manche drolligen Geſchichten wurden mir von dem Benehmen dieſer originellen Frau mitgeteilt, die sich rühmte, eine genaue Freundin Goethes gewesen zu sein .

Ulanenoffizier.

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Der Aufmarsch der ganzen Armee, entlang der sächsischen Grenze, war vollzogen, als die Nachricht von den Verhandlungen in Olmüß zu uns drang, nach welchen Preußen klein beigegeben und gegenüber Österreich die Waffen gestreckt hatte. Eine furchtbare Aufregung bemächtigte sich bei dieser Nachricht des Offizierkorps, und auch die Landwehrleute, die bis dahin von vortrefflichem Geiſte und von Kampfbegier erfüllt geweſen waren, wurden sichtlich nachlässiger in ihrem Dienste. Wir erhielten nun plöglich den Befehl, von der sächsischen Grenze nördlich nach der holsteinischen Grenze zu marschieren. Hierbei lernten wir fennen, wie viel Dörfer die Mark Brandenburg hat ; der Marsch war traurig genug, entweder über gefrorenen Boden oder auf Wegen, die von fortgeseztem Regen ganz durchweicht waren. Am 3. Januar 1851 nahm auch unser Regiment an einer großen Parade teil, die der Prinz von Preußen nahe bei Brandenburg abhielt. Im nordwestlichen Winkel der Priegnig hatten wir nun das Glück, ein herrliches Quartier in und bei dem Schlosse Gadow, dem Gute des Herrn v. Wilamowit, unweit Perleberg, zu erhalten ; ich selbst lag in einem Dorfe Lanz mit einer halben Schwadron, in einem reinlichen netten Bauernquartier. Fast täglich ritt ich nach beendigtem Dienste nach Gadow hinüber, denn die Wilamowißsche Familie war höchſt anziehend und gaſtfrei. Der Hausherr war einer der berühmtesten Wettrenner, und ſein Rennstall war höchst sehenswert ; hatte er doch mit einem Pferde sogar den großen Sieg im Derbyrennen errungen. Die Hausfrau mit ihren fünf lieblichen Töchtern war der Hauptanziehungspunkt für uns alle jüngeren Offiziere (so hat denn auch mein alter Heidelberger Freund v. Jagow - später Landrat der Westpriegniß- Fräulein Thekla v. Wilamowit geheiratet) . Die älteste Tochter Marie war damals schon mit meinem Vetter v. Brauchitsch-Katz verheiratet, der einzige Sohn war auf der Schule.

Es war ein unglaublich fröhliches Leben, das sich in Gadow

entwickelte, und niemals konnten wir vier Offiziere unsern Plan, Chombre zu spielen, ausführen, weil immer noch etwas Besseres uns geboten wurde. Auch die Bälle in Perleberg - vortrefflich arrangiert von der Königin des Kreiſes, der Frau Landrätin v. Saldern wurden nimmer versäumt. An einem dieser Winterabende fuhr ich mit Herrn v. Wilamowiß und zwei Töchtern durch den Wald hindurch bei schmußigem Regenwetter nach Perleberg ; Herr v. Wilamowit erzählte gerade von den vortrefflichen Federn, die den Wagen durch alle Löcher des primitiven Weges sicher hindurchführten, da brach eine dieser Federn . Es war aber eine Freude, zu sehen, mit welcher Energie die niedlichen Mädchen in ihren Ballschuhen durch Wind und Nässe hindurch den Weg nach Perleberg zu Fuß zurücklegten.

Solche und ähnliche Erlebnisse befestigten unsere Freundschaft.

Eines sehr traurigen Vorfalls muß ich noch Erwähnung tun, der zwei Landwehrleuten eine lange Strafe zugezogen hat, und der bewies,

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Vierter Abschnitt: Auskultator und Referendar.

daß es nicht ratsam ist, in die Landwehr-Regimenter Unteroffiziere von der Linie zu kommandieren, die an Jahren jünger sind als die meisten Landwehrleute, denn sie können sich nicht den gehörigen Respekt verschaffen. Schon war es bekannt geworden, daß auch an der holsteinischen Grenze für uns kein Krieg mehr zu erwarten war und daß das Regiment bald nach Hauſe marschieren und die Leute in ihre Heimat entlaſſen werden sollten, als ich an einem dunkeln Abend bei der Haferausgabe in einer Scheune große Aufregung unter den Landwehrleuten bemerkte . Ein junger Unteroffizier vom 2. Dragoner-Regiment machte mir die Meldung, daß zwei der ältesten Landwehrulanen ihm mit ihren geballten Fäusten unter die Nase gekommen wären. Ich ließ sofort die beiden Leute einstecken und meldete tags darauf dem Regimentskommandeur das Vorgefallene.

Dieser wollte zuerst die Sache nicht weiter verfolgt wiſſen, beauf-

tragte mich aber dennoch, die Untersuchung einzuleiten und die Schuldigen sowohl wie alle Zeugen zu Protokoll zu vernehmen . So wurden denn die beiden Familienväter, welche so arg gegen die Kriegsgesete verstoßen hatten, zu einer Strafe von vielen Jahren Gefängnis verurteilt. Bei dem Ausmarsch aus unseren Kantonnementsquartieren , die wir nur unter wehmütigem Abschied verließen, erhielt ich den Auftrag, als quartiermachender Offizier mit einigen Unteroffizieren und Ulanen vorauszumarschieren .

Für zwei Kavallerie-Regimenter (das 8. und 12. Land-

wehr-Ulanen-Regiment) sollte ich bis Frankfurt a. D. hin Quartier machen und zwar ohne all und jede Marschroute, so daß kein Landrat und keine Stadt- oder Dorfbehörde von dem Anmarsch einer so großen Zahl von Pferden Kenntnis hatte (die Mannschaften sind ja immer viel leichter unterzubringen als die Pferde) .

Bei diesem langen Marsch habe ich nun

meine drei Reitpferde Tag für Tag gründlich müde reiten müſſen, nur einmal aber habe ich einen Gutsbesitzer getroffen, der keine Einquartierung nehmen wollte, so daß ich von den Ställen und Scheunen mit Gewalt Vesit ergreifen mußte ; sonst habe ich aber überall das freundlichste Entgegenkommen, ja die gastlichste Aufnahme gefunden . Eins meiner Pferde war eine sehr flinke, aber dabei sehr nervöse braune Stute, durch welche ich zweimal in Lebensgefahr geriet. Einmal ritt ich neben einer dichten Schonung in scharfem Trabe entlang, als ein Holzjammler von oben bis unten mit Raff- und Leseholz bepackt, plöglich auf den Weg heraustrat.

Die Stute scheute vor ihm in einer so unerwarteten

Weise, daß ich über ihren Kopf hinweg mit dem Kopf nach unten auf den Weg fiel, und dabei ſticß meine Helmſpite ſo tief in den Boden, daß ich dadurch vor dem Bruch des Genicks oder Schädels bewahrt geblieben bin. Ein anderes Mal ritt ich in später Nacht bei einem Kirchhof vorbei ; ich fann mir nicht anders erklären, als daß das Pferd eine Witterung von den Leichen bekam, denn Schaum bedeckte dasselbe, obwohl ich ganz langſain

Regierung in Potsdam.

ritt, und es zitterte am ganzen Leibe.

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Als ich am Kirchhof vorbei war

und scharf zutrabte, ſtuzte plöglich meine brave Stute ; ich stieg ab und fand, im Dunkeln mit Händen und Füßen tappend, daß ich vor eine ſteile Erdwand geraten war, an welcher unten ein Torfmoor mit viel ſumpfigent Wasser sich befand ; ich hatte einen falschen Weg eingeschlagen und ritt nunmehr wieder die weite Strecke bis zu dem Kirchhof zurück, an welchem das Pferd wiederum dieselbe Seelenangſt offenbarte wie vorher. Als ich tags darauf diese Geschichte den Wirten in meinem Marschquartier erzählte, meinten sie, ich wäre unrettbar verloren gewesen, wenn ich in das Torfmoor gestürzt wäre. Sofort nach unserem Einmarsch in Frankfurt Anfang März 1851 wurde demobil gemacht, und unser viermonatliches Kriegsspiel hatte ein Ende.

Mein Gesamteindruck aus dieser Mobilmachungszeit war der, daß sowohl das Offizierkorps wie die Mannschaften und Pferde alles geleistet haben, was selbst bei den höchsten Anforderungen von ihnen verlangt werden konnte. Es mag ja bei anderen Regimentern als dem meinigen anders gewesen sein, aber die Vorwürfe, welche von seiten der Linienoffiziere gegen die Landwehr erhoben wurden, kamen mir sehr ungerecht vor, und es war mir später eine große Freude, zu erfahren, daß selbst ein so militärdienstkundiger Herr wie der Prinz von Preußen ausdrücklich die Geringschätzung verworfen hat, die sich gegen die Landwehr erhob. Aber freilich, verbessert mußte sie werden, und eine Menge von Fehlern, die bei der 1850er Mobilmachung gemacht worden waren, durften nicht wieder vorkommen, wie das denn auch durch die spätere Armeereorganisation glücklich erreicht worden ist. In Frankfurt hatte sich nun alles sehr verändert, namentlich dadurch, daß der mir besonders wohlwollende Regierungspräsident v. Raumer Kultusminister geworden und an seine Stelle der bisherige Landrat v. Manteuffel getreten war.

Auch hatten meine Absichten, zur Diplomatie

überzutreten, durch die Kapitulation von Olmüß einen gründlichen Stoß erhalten ; wer hätte nach solch einem schmachvollen Rückzug preußischer Diplomat werden wollen ? Ich entschloß mich also, bei der inneren Verwaltung wenigstens bis zu meinem großen Examen zu bleiben und erst danach einen endgültigen Beschluß zu faſſen.

Die Einladungen des alten

Freundes meiner Eltern von Posen her, des damaligen Oberpräsidenten v. Flottwell zu Potsdam, und ebenso die Aussicht, mit meinen lieben Freunden Wolff und Keudell an demselben Orte zu wohnen, beſtimmten mich, meine Verſeßung an die Regierung zu Potsdam zu beantragen. Schon am 14. März wurde ich dort vom alten Flottwell eingeführt, ja, ich erhielt sogar die Erlaubnis, an den Oberpräsidialgeschäften teilzunehmen, aber einen nicht geringen Schrecken bekam ich, als mich der Vize-

124

Vierter Abschnitt : Auskultator und Referendar.

präsident v. Metternich darauf aufmerksam machte, daß ich noch das Examen als Regierungsreferendar abzulegen hätte.

Es half mir nichts,

und ich mußte mich tüchtig an die Arbeit sezen, bis ich am 12. Mai die ,,wohlbestandene Prüfung “ hinter mir hatte. In Potsdam entwickelte sich nun ein reges und insbesondere auch musikalisches Leben ; ich bezog mit meinem lieben Keudell die beiden Parterrewohnungen in dem Hauſe Breitestraße Nr. 1, wohin später auch mein Freund Wolff uns nachzog.

Welch ein Glück !

Auch eine Menge von an-

deren jungen Männern lernte ich im Kreise der Offiziere und Zivilbeamten kenen und lieben ; ich nenne besonders Referendar v. Bronikowski (ausgezeichneter Baßfänger) , v. Holleben, Leutnant im 1. Garde-Regiment (Violinspieler) , Referendar Klüpfel

(Tenor) ,

Referendar Hesselbarth

(Bariton) 2. Aber auch bei den liebenswürdigsten Familien fanden wir näheren Umgang, vor allem bei Flottwells, Lucks, Barnecs, Bülows , Brühls, Arnims 2. In Frau v. Arnim entdeckten wir eine ausgezeichnete Sopranistin und auch an Altſtimmen (Frau v. Houwald, Fräulein Sieber) fehlte es nicht. So hatten wir denn Klaviertrio , gemischtes Quartett, Männerquartett, stets bei der Hand, und oft wurde erſt morgens in unserer Wohnung bestimmt, wo und was wir am Nachmittag oder Abend musizieren wollten. Keudell war natürlich die Seele und der Leiter aller dieser musikalischen Kräfte. Besonders gelangen uns die gemeinschaftlichen Wasserfahrten auf der Havel und den benachbarten Seen, bei denen sich denn eine große Zahl von Kähnen, die die Zuhörer trugen, um unseren Musikkahn sammelten. Schon Anfang und Mitte der 40er Jahre war ich mit dem Kronprinzen beim Schlittschuhlaufen oft zusammengetroffen, namentlich an der sogenannten Rouſſeau- Insel im Tiergarten und an den Zelten . Er lief gut und sicher und darum leidenschaftlich.

Seiner Einwirkung ist es

gelungen, daß die gesunde Bewegung des Schlittschuhlaufens immer mehr von alt und jung und auch von den Damen betrieben wurde, was bis dahin für unweiblich gegolten hatte. Als der Kronprinz 20 Jahre alt war, wohnte er in Potsdam in der Kommandantur, nahe bei meiner Wohnung. Der Kronprinz erhielt wöchentlich etwa zwei bis dreimal einen je einstündigen Unterricht bei dem Oberpräsidenten, welcher ihn mit den Gesezen und den Prinzipien der Verwaltung bekannt machen sollte.

Zu diesen Unterrichtsstunden er-

schien der Kronprinz gewöhnlich erst eine Viertelstunde nach voll, und der Unterricht selbst dauerte kaum länger als jedesmal 40 Minuten. Ich erfuhr das so genau, weil auch ich im Oberpräsidium arbeitete und täglich in der Flottwellschen Familie verkehrte. Nach einigen Wochen sollte der Kronprinz einer Plenarsizung des ganzen Regierungskollegiums beiwohnen.

Einen Tag vorher waren

125

Kronprinz.

jämtliche Mitglieder , der Regierung, und auch wir Referendare in die Wohnung des Kronprinzen befohlen, um ihm vorgeſtellt zu werden.

Der

alte Oberpräsident begann mit dem ältesten Rat des Kollegiums , dem würdigen Geheimen und Oberregierungsrat Schulze. Wir jungen Leute unterdrückten kaum ein respektwidriges Lachen, als der Kronprinz mit der Frage begann : „ Sind Sie vielleicht verwandt mit dem Herrn Schulze, der im Kultusministerium arbeitet ?" und , als dies verneint wurde, fortfuhr: „Oder vielleicht mit dem Schulze, der . . . . .?" 2c. Der Kronprinz bemerkte endlich, ſelbſt lachend, daß er vergeblich in dem Reiche der Tausende von Schulzes herumtappte.

Er war von bezaubernder Liebens-

würdigkeit, wenn auch sichtlich noch etwas verlegen.

Als er auf dem

linken Flügel zu uns, den jüngsten, die wir in Offiziersuniform erschienen waren (u. a. v. Rochow, v. Bronikowski, v . Keudell und ich) anlangte, war er froh, zu einem lustigen Gespräch übergehen zu können. Mich begrüßte er freundlichst als alten Bekannten, zu Keudell sagte er : „Man merkt Ihnen den Ostpreußen an, manches E wie A" ; von Rochow wußte er, daß er in Potsdam den Beinamen „ der kleine Oberpräsident“ bekommen hatte, von Bronikowski, daß er sehr schön singe. Am anderen Tage begann die Situng um 11 Uhr.

Alles war im

Frack erschienen, der Kronprinz trat, begleitet von seinem Adjutanten v. Heinze, im Militärüberrock und Müße, in den Sizungssaal.

Der alte

Flottwell führte ihn an den Präsidentenſtuhl und hielt eine ergreifende Anrede, an deren Schluß er ihn aufmerksam machte auf das bekannte große Ölbild, welches an der gegenüberliegenden Wand aufgehängt war und die Scene darstellt, in der Friedrich der Große an der Havel steht, umgeben von Verwaltungsbeamten und Landwirten, und seine Anordnungen wegen der Flußkorrektur und der Entsumpfung der Havelwiesen trifft. Flottwell schloß mit den Worten, indem er ihm das Bild erklärte : „Euere Königliche Hoheit sehen hier das Vorbild, welches Ihnen Ihr großer Ahnherr für alle Zeiten auch in der Verwaltung gegeben hat, und nun bitte, nehmen Sie Play, damit wir die Situng beginnen !" Der Kronprinz machte Vorstellungen, daß nicht er, sondern der alte Oberpräsident den Präsidentenstuhl einnehmen sollte, Flottwell aber sette ſich ſofort auf den Nebenſtuhl und überhob so den Kronprinzen jeglicher Antwort auf die feierliche Anrede, die ihm geworden.

Flottwell hatte

sechs Herren mit Vorträgen beauftragt über Gegenstände, die den Kronprinzen besonders interessieren sollten, so z . B. über ein Patent, das für ein neu erfundenes Gewehr erteilt werden sollte (das Gewehr lag als corpus delicti auf dem Sigungstisch) , über die damals vorliegenden Meliorationsprojekte an der Havel, über das Armenwesen und die Ausführung der Gewerbeordnung in Berlin 2c. Ich selber aber mußte als letter von dem Trompetertisch aus, einem besonders kleinen Tisch, an

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Vierter Abschnitt : Auskultator und Referendar.

welchem wir Referendare an der Wand unter jenem Bilde ſaßen, den lezten Vortrag halten über den Antrag der Stadt Brandenburg, eine Anleihe mit lettres au porteur im Betrage von mehreren Millionen Talern aufnehmen zu dürfen. Ich befürwortete diesen Antrag, weil die Stadt Brandenburg koloſſale Stadtwaldungen von einem so hohen Werte besaß, daß die beantragte Anleihe in jeder Beziehung für alle Zukunft gesichert war. Der Oberpräsident war ganz entschieden gegen meine Andie Ansicht ſicht und befahl , ohne natürlich wie er es niemals tat des Regierungscollegii zu hören, dessen Mitglieder mir zustimmten, den Magiſtrat zu Brandenburg abſchläglich zu bescheiden.

„ Das wäre noch

beſſer", erklärte Flottwell, wenn durch die Anleihen der Städte die Zahl der Börsenpapiere noch vermehrt werden sollte." Welche Menge von ſtädtischen Anleihen sind im Laufe der späteren Jahre und Jahrzehnte seitdem genehmigt worden.

Die Sizung wurde geschlossen, der Kronprinz dankte

in wenigen Worten für die Vorträge, die ihn sehr intereſſiert hätten, und sprach die Hoffnung aus, bald einer zweiten Sißung beiwohnen zu können ; er ist aber niemals wiedergekommen, sondern lud nur das ganze Regierungskollegium zu drei Abenden in seine Wohnung ein, wo denn unter lebendigen Gesprächen tüchtig getrunken und geraucht wurde. In jener Zeit wohnte auch mein Vetter v. Vodelschwingh einige Tage bei mir in Potsdam und wurde häufig zum Kronprinzen befohlen.

Er

kam einmal ganz traurig zurück in meine Stube, weil es ihm ſchien, als hege der Kronprinz nur Interesse für die Potsdamer Wachtparade und für die kleinen Verhältnisse der Garnison und ihrer Offiziere.

Bodelschwingh

war aber besonders beglückt durch die treue Jugendfreundschaft, die ihm der Kronprinz erwies . Er war genau so alt wie der Kronprinz , stand aber gerade damals in den schwersten Seelenkämpfen, da er seinen bisherigen Beruf als Landwirt aufgeben und in den Dienst der äußeren Mission zur Ausbreitung des Evangeliums in fernen Weltteilen übertreten wollte. Das waren nun freilich große innerliche Gegensäge, die sich in seinem Verhältnis zum Kronprinzen geltend machten. Bodelschwingh war tief ernſt geſtimmt, mit den höchsten Lebensfragen für ſich ſelbſt und für die Völker beschäftigt ; der Kronprinz aber immer lustig und guter Dinge.

Zu Scherzen mit seinen Altersgenossen aufgelegt, war es ihm un-

möglich, Bodelschwingh auf seinem Gedankengange zu folgen oder auch nur zu verstehen. Troßdem war er aber voll von Verehrung für diesen Jugendfreund und hat mir später oft genug seine bewundernde Liebe für Bodelschwingh ausgesprochen ; ja, einmal hat er mir noch in den 80er Jahren erklärt, „ da haben wir nun in Berlin eine Menge von Bildsäulen der Helden der preußischen Armee, aber der größte Held, den ich in Preußen kenne, hat doch kein Denkmal und wird auch schwerlich eins bekommen, und dieſer größte Held iſt mein Bodelſchwingh ! Denn dieſer Mann nimmt

Prinz Friedrich Karl.

127

Vagabonden und Diebe an sein Herz, lebt mit ihnen und macht sie wieder zu Menschen !" In den Jahren, die ich in Potsdam verlebte, traf ich in zahllosen Gesellschaften mit dem Kronprinzen zusammen . Es waren immer die heitersten Gespräche, die man mit ihm hatte, wie er denn überhaupt ſehr mitteilſam und offenherzig war. Er war kein besonderer Schwärmer für Musik, und doch mußte er oft genug unser Musizieren in den Geſellſchaften ruhig mit anhören. Mir machte er, wenn ich ihm begegnete, sehr oft das Zeichen, als ob auch er Cello spielen wollte, indem er seine Beine breit stellte und zwischen den Knieen mit seinem Säbel hin und her strich. Er genoß die Liebe aller derer, die jemals mit ihm in Berührung gekommen ; dabei war er ausnehmend fleißig, und oft genug, wenn ich spät nachts in meine Wohnung zurückkehrte, habe ich sein Zimmer in der Kommandantur noch erleuchtet gesehen, da er dann bei der Studierlampe seinen eigenen Studien oblag. Auch mit dem Prinzen Friedrich Karl kam ich in Potsdam wiederholt zusammen. Er hatte keine glückliche Jugend verlebt, denn der Vater behandelte ihn hart und lieblos . So neigte denn auch der Sohn zu einer gewiſſen Herzenshärtigkeit und Launenhaftigkeit, obwohl er im Grunde ein weiches Gemüt hatte. Zwei seiner Adjutanten waren mir eng befreundet, der Leutnant v. Diepenbroik-Grüter und der Leutnant v. Ziethen. Beide konnten mir nicht genug Rühmens von ihrem Prinzen machen, wie er namentlich höchst bedürfnislos jei, ein Stück Rindfleisch für genügend zum Mittagessen halte, für sich ſelbſt ſo gut wie nichts verlange, aber freilich sehr schwer zu behandeln sei . Als ich ihn in Potsdam 1851 zum erſtenmal ſeit unserer Jugendzeit wiedertraf, war er, 23 Jahr alt, Major bei dem Garde-Husaren-Regiment. Nach freundlichster Begrüßung sagte er mir: „Wir sollten ja miteinander erzogen werden, warum kam es nicht dazu ? "

Auf meine Antwort, daß ich zwei Jahre älter sei, als er, fragte

er mich, schon etwas ungehalten : „Was sind Sie denn jezt ? “ und wandte ſich ſofort ab von mir, als er erfuhr, daß ich Regierungsreferendar ſei . Sein Adjutant Grüter meinte, ich hätte ihm nicht sagen ſollen, daß ich älter als er und daß ich nun gar erst als Regierungsreferendar ihm gegenüber, dem Major, noch so weit zurück sei . In einem Friseurladen, wo er sich die Haare hatte schneiden laſſen so einfach war er —, traf ich ihn, indem er mit dem Beſizer um ein Schachbrett handelte, dessen Figuren in kleinen Löchern stehen und welches darum ſehr praktiſch auf Reisen im Wagen oder Dampfschiffen zu benutzen ist. Der Friseur forderte 5 Taler, der Prinz bot weniger, und es war ihm schließlich zu teuer . Da kaufte ich es denn als unbeſoldeter Regierungsreferendar und habe das Schachbrett seitdem schon 51 Jahre lang auf allen meinen Reiſen zu meiner und meiner Mitreiſenden Freude benußt.

Ich erzähle dies, um zu zeigen, wie ſparſam

Vierter Abschnitt : Auskultator und Referendar.

128

der Prinz war.

Seine Verlobung und Verheiratung mit der schönen

Prinzessin von Anhalt habe ich in Potsdam noch mit erlebt. Auch die Schwester des Prinzen Albrecht- Sohn, die leider so früh verstorbene Prinzeſſin Charlotte, lernten wir in der Familie v. Luck als eine selten begabte Klavierspielerin fennen . Sie hat uns alle trog ihrer großen Jugend in Erstaunen geſeßt, wenn ſie die Werke Sebastian Bachs und anderer großer Meister untadelhaft vorspielte und dabei alles auswendig. An öffentlichen Konzerten fehlte es natürlich nicht, und auch ich wagte es, im Palazzo Barberini öffentlich zu spielen ; Keudell und ich trugen dort einmal die Variationen von Mendelssohn auswendig vor, die schöne Prinzessin von Anhalt - später Prinzessin Friedrich Karl - saß dabei dicht vor mir unter den Zuhörern und brachte mich durch ihre Schönheit so aus dem Konzept, daß Keudell mich mit seinem Fortiſſimo zudecken mußte; ich fand mich Gott jei dank nach einigen Takten wieder hinein. Meine dienstliche Beschäftigung war eine sehr angenehme, nur einmal machte ich in derselben vollständiges Fiasko, denn ich sollte für das Oberpräsidium einen Gefeßentwurf mit Motiven ausarbeiten, betreffend eine Fischereiordnung für die Provinz Brandenburg.

Diese Aufgabe war mir

so neu, daß ich leider erklären mußte, sie nicht zu ſtande zu bringen zu können. Freilich waren die fortwährenden geselligen Vergnügungen auch daran schuld, daß ich die mich gar nicht intereſſierende Arbeit nicht allen Ernstes in die Hand nahm. Der alte Oberpräsident Flottwell war darüber gar nicht böse, um so mehr aber der Oberpräsidialrat Moser, welcher die Arbeit nun anstatt meiner machen mußte.

übrigens ist eine brauch-

bare Fischereiordnung erst in späteren Jahren zur Ausführung gelangt, wo der große deutsche Fischereiverein und seine Zweigvereine mit allen ihren fischereiverständigen Mitgliedern daran mitgeholfen haben. Immerhin haben die damaligen Erlebnisse in Potsdam dazu beigetragen, daß ich den deutschen Fischereiverein 1867 mit gründen half und zehn Jahre später einen besonderen Fischereiverein für den Bezirk Merseburg ins Leben . rief, der jezt die ganze Provinz Sachſen und das Herzogtum Anhalt umfaßt und sich bis heute immer segensreicher entwickelt hat. An den vielen Abenden, die Keudell und ich in der Flottwellschen Familie zubrachten, fand sich auch oft als Freund des Hauses Alexander v. Humboldt ein.

Ich habe mir den interessanten Kopf dieses Gelehrten

und die Art, wie er von seinen großartigen Reiſen erzählte, tief eingeprägt, so daß ich jene Abende noch so in der Erinnerung habe, als hätte ich sie erst vor kurzem erlebt. In einer solchen Tafelrunde am Teetisch wurde einmal über China und das wunderliche Volk dieses Reiches der Mitte" verhandelt.

Da ich gerade aus der von mir gehaltenen Baseler Miſſions-

zeitung den Aufstand der Taipings und ihre großartigen Siege im ein-

A. v. Humboldt.

129

zelnen kennen gelernt hatte und sie lebhaft dahin vortrug, daß es doch ein ganz besonders wünschenswertes Resultat dieser Taipingserhebung sein werde, daß das chinesische Volk dem Christentum zugeführt werde, legte der alte Humboldt, der neben mir ſaß, ſeine Hand auf meinen Arm mit den Worten : „Mein lieber junger Freund, Ihre Hoffnungen werden nicht in Erfüllung gehen, denn das Reich China und die in ihm herrschende Religion sind viel zu alt und feststehend , als daß sie von den noch so jungen Ideen des Christentums umgeſtürzt werden könnten. "

Es half mir nichts,

ihm mitzuteilen, daß die Erfolge der christlichen Miſſionare in China gar nicht zu unterſchäßen ſeien, und daß meine Kenntniſſe hierüber beſonders von dem großen aus Pommern gebürtigen Miſſionar Güzlaff herrührten, der schon 30 Jahre das Evangelium in China verkündige und dessen persönliche Bekanntschaft ich in Frankfurt a. D. gemacht hatte. Humboldt blieb bei seiner Meinung . Eifrig fragte ich ihn schließlich, ob er denn gar nicht an das Gebot und die Verheißung des Herrn Jesus glaube : „Gehet hin und lehret alle Völker und taufet ſie im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. " Da sah mich Humboldt nur mit einem gewissen mitleidigen Lächeln an.

Alle Anwesenden aber, und namentlich der

liebe Flottwell, traten mit großer Freudigkeit meinen Ausführungen bei. Ich meinerseits hatte nur Mitleiden mit dem sonst so liebenswürdigen Gelehrten, daß er so vollständig ein Heide war.

Auffallend war es mir,

daß er mit dem gläubigen König Friedrich Wilhelm IV. in ſo intimer Freundschaft verbunden war ; ärgerlich aber, daß der Witz der Potsdamer Gardeoffiziere aus seinem Namen Humboldt den Namen Krummhold gemacht hatte, weil Humboldt in seinem hohen Alter eine sehr gebückte Haltung angenommen hatte. Meinem Freunde Keudell und mir gab der hohe Gelehrte in rührender Weise die schönsten Empfehlungsbriefe nach Paris mit, als wir unsere Reise dahin antraten. Diese Briefe waren uns von großem Nußen. Noch muß ich die Familie des Generals v. Luck hervorheben, in der ich besonders viel verkehrte. Lucks hatten schon in den vierziger Jahren dasselbe Haus Leipzigerplatz Nr. 14 mit meinem jeligen Vater bewohnt. Der alte Herr, welcher der militärische Erzieher Friedrich Wilhelms IV . gewesen war, lebte ganz still und zurückgezogen.

Um so lebendiger nahmen seine Frau

und seine Töchter an allen geselligen Vergnügungen teil. Die älteste Tochter hatte bei uns den Namen ,,la belle Cécile" ; sie war in der Tat blendend schön und heiratete den Rittmeister von den Garde- Ulanen v. Kettler, den Bruder des Bischofs von Mainz .

Ihr Sohn war der in

Peking ermordete deutsche Gesandte. Die jüngere Tochter Lulu war ein hochbegabtes Wesen, voller Lebendigkeit und Witz. Schon in Berlin hatte. ſie mich oft mit ihrer Schulmappe unter dem Arm begleitet und mir ihre 9 v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

Vierter Abschnitt : Auskultator und Referendar.

130

vortrefflichen deutschen und franzöſiſchen Auffäße gezeigt.

Sie war der

Liebling der ganzen Potsdamer Geſellſchaft, namentlich zeichnete der König sie wegen der Schlagfertigkeit ihrer Unterhaltung durch längere Gespräche besonders aus. Die Mutter war eine geborene Pariserin und hatte den noch jungen preußischen Offizier v. Luck geheiratet, der sie aus dem Theater getragen hatte, als sie 1814 bei einer Festvorstellung ohnmächtig geworden war.

Auch Frau v. Luck gab uns sehr schäßenswerte Empfehlungsbriefe

nach Paris mit, wo wir durch ihre hochbetagte Mutter, Madame de St. Luce, Eintritt in die alten legitimistischen Kreise Frankreichs fanden. Lulu ist als Witwe des Generals v. Schenck gestorben. Leider wurde mein Aufenthalt in Potsdam durch lange Kommiſſorien, die ich erhielt, oft unterbrochen. So mußte ich im Mai 1851 nach dem Städtchen Pritwalk in der Priegniß reisen, um dort den erbitterten Kampf, der zwischen Magistrat und Stadtverordneten ausgebrochen war, in seinen Ursachen zu untersuchen und möglichst zu schlichten . Die Aufgabe war nicht leicht, denn ein höchst braver patriotischer, aber wenig energischer Bürgermeister stand hier einer seit 1848 ganz demokratisierten Stadtverordnetenversammlung gegenüber. Viele Wochen habe ich in Pritwalk gelebt und von früh bis spät gearbeitet. Die Stadtverordneten hatten den guten Bürgermeister auch in seiner Ehrlichkeit angefochten, um ihn aus seinem Amte herauszuärgern, und es handelte sich dabei namentlich um die Einkünfte aus einem großen Wald, welcher der Stadt Pritwalk gehörte. Nach überaus stürmischen Verhandlungen gelang es mir endlich, die völlige Unschuld des Bürgermeisters offenbar zu machen und eine Art modus vivendi wiederherzustellen. Die Ausarbeitung eines langen Berichts an die Königliche Regierung machte mich ganz krank und elend. Leider mußte ich es erleben, daß ich bei meiner Abreise aus Prizwalk den städtischen Behörden eine baldige Entscheidung der Regierung versprochen hatte, daß dann aber mein Bericht über ein halbes Jahr auf dem Aftentische des Oberregierungsrats liegen blieb. Hier in Pritwalk machte ich zum erstenmal die Erfahrung, die sich mir in meinen späteren dienstlichen Stellungen recht oft wiederholt hat, daß gerade die kleinen Städte der Herd der Demokratie und darum in ihrem sozialen Leben wahre In einigen guten Lustspielen, wie z . B. in den „ Mottenburgern", sind dieſe Zuſtände plaſtiſch geschildert, in der Tat aber ſind ſie kein Gegenstand des Lachens, sondern für den Vaterlandsfreund ein Ge-

Höllen sind.

genstand der Trauer ; denn gegen die Verbissenheit und Diabolik, gegen die furchtbare Tyrannei, mit welcher die gottloseste Demokratie in vielen Städten auftritt, scheint kein Kraut gewachſen zu ſein . Sie braucht die Freiheit zum Deckmantel ihrer Bosheit! Von Prißwalk aus kam ich auch wiederholt nach dem alten Stifte Heiligengrabe, wohin ich schon als quartiermachender Offizier mich selbst

Harzreise.

131

und meine Ulanen einquartiert hatte, und wo mich die uralten Kloſtergebäude und die herrlichen Bäume, die sie umgeben, entzückt haben. Weniger erbaut aber war ich von dem Leben der dortigen Stiftsdamen und von der Art, wie ſie die armen Kinder erzogen, die ihnen anvertraut waren. Mein seliger Vater hatte schon oft gesagt, daß er einen Hund nicht nach Heiligengrabe zur Erziehung geben möge, und meine liebe Tante Caroline, die Schwester meiner Mutter und selbst Stiftsdame von Heiligengrabe, hat mir das später bestätigt. es mir doch nicht gedacht.

Aber so schlimm, wie ich es fand, hatte ich

Jezt, wo die Damen längst heimgegangen sind,

die damals das Szepter führten, wird gewiß Friede in die heiligen Mauern des Stifts eingezogen sein. Eine herrliche Erholungsreise

machte ich im Verein

mit

mei-

nen beiden Freunden Arthur Wolff und Viktor Westarp von Ende August bis Mitte Oktober 1851. Der leztere war damals Verwalter der Oberfösterei Haſſerode bei Wernigerode, er besaß als

Reitpferd

einen

Schimmel,

den

er

vor

einen

kleinen

leichten

Korbwagen einspannte, in welchem wir drei eben Platz fanden. Mit diesem Gefährt reiſten wir nun durch den ganzen Oberharz im Zickzack hindurch. Der Schimmel hatte die berechtigte, von den Gewohnheiten jeines Herrn entnommene Eigentümlichkeit, daß er von selbst vor jedem Wirtshausschilde Halt machte. Wir stiegen alſo oft aus, um schöne Waldbestände oder Aussichtspunkte zu Fuß aufzusuchen und waren dann sicher, unser Gefährt beim nächsten Wirtshaus wiederzufinden. Man kann sich denken, wie heiter sich auch dadurch unsere Harzreise gestaltete .

Einen be-

sonderen Wit hatte sich Weſtarp damit ausgedacht, daß wir beim Sprechen untereinander hinter jedem Anfangskonsonanten ein „n“ einschieben sollten, es mußte also gesprochen werden : Schnimmel, Schnirm, Wneſtarp x ., und wer das vergaß, mußte einen Groschen Strafe in die Reisekaſſe bezahlen. Man sieht, wir waren wie fröhliche Kinder auf dieser Reise. Eines Tages, dicht vor der Stadt Herzberg, ging der sonst so zahme Schimmel plößlich durch, ein kalter Plazregen und Schulkinder, welche rote Tücher schwenkten, brachten ihn zu diesem verzweifelten Entschluß. Dicht vor einer Wassermühle konnten wir das Pferd mit aller Kraft von der schmalen Mühlenbrücke ab nach links hin vom Wege ab dirigieren, wo denn die Scheere des Wagens und der Kopf des Pferdes gegen eine Lehmscheune anprallten. Der Wagen stürzte um, wir alle drei lagen unter ihm, standen aber unverlegt und von der naſſen lehmigen Erde von oben bis unten beschmußt, lachend wieder auf. Da wir keinen anderen Anzug bei uns hatten, so zogen meine beiden Freunde im Gasthof ihre Kleider aus, um sie zu reinigen, ich aber ging sofort etwa zwei Stunden weit zu meiner Cousine, Frau Adelinde v. Minningerode geb. v . Valtier zu Wollershauſen, welche sich erst vor wenigen Wochen verheiratet hatte.

9*

132

Vierter Abschnitt: Auskultator und Referendar.

Wir drei verabredeten, uns in Klausthal am folgenden Tage wieder zu treffen. Mein Gang durch die herrlichen Wälder der Rothenberge und meine Aufnahme in Wollershausen waren herzerquickend ; nachdem ich Kleider meines neuen Vetters Minningerode statt der meinen angelegt und mich durch ein köstliches Mahl gestärkt hatte, erſchien der Bediente und meldete zwei Herren, die ihre Namen nicht sagen wollten ; wie erstaunte ich, als ich im Flur des Schlosses meine lieben Freunde traf und den Schimmel auf der Dorfstraße vor mir stehen sah. Solche und ähnliche Erlebnisse, namentlich auf dem Brocken, die alle zu erzählen zu weitläufig ſein würde, würzten unsere Reiſe. Vom Harz aus reiste ich nach Velmede, dem Bodelschwinghschen Gute ; auch dort wanderte ich zu Fuß von der Bahnstation Camen aus durch die lieblichen Hügel und fruchtbaren Felder Westfalens .

Eine in Reimen verfaßte geo-

graphische Beschreibung machte mir auf dieser Reise großen Spaß ; da heißt es zum Beiſpiel : ,,Nicht weit von Unna liegt das nahe Camen, Es hat wie Pisa seinen schiefen Turm ; Der Sämann ſtreut dort friedlich seinen Samen, Die Seseke bleibt ruhig selbst im Sturm.“ Dieses kleine Flüßchen schlängelt seinen Lauf durch herrliche Wiesen hindurch nahe an Velmede vorbei , und oft habe ich ein recht kaltes Bad in seinem Wasser genommen . Ganz unerwartet trat ich in einen großen Familienkreis, der dort versammelt war, ein ; ein sehr bescheidenes Häuschen das neue befand sich im Bau bewohnte dort mein Onkel und war immer seelenvergnügt, daß er, der frühere Premierminister, entlaſtet von der Bürde des Amts, ein liebliches Familien- und Landleben führen konnte. Die alte Ode des Horaz : „ Beatus ille qui procul negotiis" trat hier in ihrer poetischen Schlichtheit dem vor die Seele, der einen Blick in dieses Idyll tun durfte.

Als ich nicht lange darauf die Ruinen der Ho-

razschen Villa unweit Tivoli aufsuchte, kam mir Velmede in die Erinne rung, nur freilich mit dem Hauptunterschiede, daß Horaz ein Heide war, während das Bodelschwinghsche Familienleben auf festem christlichen Fundamente sich aufbaute. Eine Menge von Fußpartien wurde mit dem großen Kreise der Verwandten unternommen, so namentlich nach dem schönen Schlosse Cappenberg, wo der berühmte selige Minister vom Stein, „des deutschen Volkes Eckstein" und, wenn ich ihn kurz so nennen darf, der geistige Vater meines Onkels Bodelſchwingh, gewohnt hatte.

An

allen Büschen, in den Wäldern und an den Wegen wurden Blumen und Kräuter gepflückt und deren Namen und Gattung abends in Velmede nach einem botanischen Buche bestimmt. Jeden Sonntag gingen wir regelmäßig in den Gottesdienst nach dem eine Stunde entfernten Dorfe Methler, wo eine uralte romanische Kirche

Velmede.

jeden Geschichts- und Kunstfreund erbaute.

133

In dem Chor dieser Kirche

hatte mein Schwager v. Quaſt die wunderbarſten Freskogemälde, etwa aus dem 12. Jahrhundert, aufgefunden ; sie waren in der Zeit der Geschmacklosigkeit des 17. Jahrhunderts mit dickem Kalk überzogen worden, und nach dem Gottesdienst arbeiteten wir alle mit Freude daran, den Kalk abzuklopfen und die wohlerhaltenen biblischen Gemälde wieder zum Vorschein zu bringen.

Die Restauration der ganzen Kirche ist bald darauf

meinem Schwager besonders gelungen, wie denn die Zahl der Kirchen und anderer alten Bauwerke, die er in ganz Deutſchland stilvoll wiederhergestellt hat, unglaublich groß ist. Mit meinem lieben Vetter Friedrich Bodelschwingh, dem jezigen Paſtor bei Bielefeld, unternahm ich eine längere Fußtour nach Dortmund und Umgegend, wo wir dann bei all den vielen Bodelſchwinghschen Verwandten, z . B. auf dem alten Schloß Bodelschwingh, in Sandfort 2c. , auf das liebreichste aufgenommen wurden. Auf der Landstraße vor dem lettgenannten Schloß fand mein Vetter Friedrich einen dicken Ackergaul ſtehen, schwang sich auf denselben, und ich sezte mich sofort hinter ihm auf In diesem Aufzuge ritten wir vors Schloß, und die ganze Schloßfamilie empfing uns natürlich mit hellem Gelächter.

denselben Pferderücken.

Ganz Ohr war ich, als auf dieser kleinen Reise mein Vetter mir zuerſt von den eigentümlichen Wundererscheinungen erzählte, welche in der damaligen Zeit beim Pastor Blumhardt in Boll, bei der Nonne in Niederbronn und bei anderen Personen wahrgenommen sein sollten ; der lebendigste Austausch unserer Gedanken über alles, was in der heiligen Schrift von den Wundern unseres Heilands uns überliefert ist, verband uns aufs innigste -- ein Band, welches bis heute unauflöslich geblieben ist . Von Velmede ging ich mit meinem Onkel Bodelschwingh und mit meinem Bruder, der damals Landrat in Elberfeld war, nach dieser kirchlich hoch interessanten Stadt, um dort den evangelischen Kirchentag und den Kongreß für innere Miſſion mit zu erleben. Welche tiefen Eindrücke find mir geblieben von dieser hochehrwürdigen Versammlung aller kirchlich bedeutenden Theologen und Laien von ganz Deutschland !

Solche

Mäner, wie Bethmann-Hollweg, der ſpätere Kultusminiſter und damalige Präsident des Kirchentags, wie ferner die Pastoren Sander, Schmieder, Feldner, Jaspis , Taube und andere, die ich alle persönlich näher kennen lernte, sind mir für immer unvergeßlich ; die gewaltigen Predigten der genannten großen Kanzelredner sind, glaube ich, für alle, die sie vernommen, nicht vergebens gewesen, und es ist dort wahr geworden, daß das Wort Gottes nicht leer zurückkommen solle“. Auch den jungen Oberpräsidenten der Rheinprovinz v. Kleist-Rezow habe ich damals als echten Mann Gottes zum erstenmal näher kennen lernen dürfen.

134

Vierter Abſchnitt : Auskultator und Referendar.

Von Elberfeld aus unternahm ich eine Rheinreise zu den zahlreichen Verwandten und zwar zuerst nach Cleve, von wo ich unser altes Familiengut Rekerdom und die anderen uns gehörigen Grundstücke in den benachbarten Dörfern besichtigte. Cleve mit allen seinen lieben Bewohnern wurde mir sehr heimisch, ist es doch der Ort, wo meine Vorfahren einige Jahrhunderte gewohnt haben, und wo sie in einem eigenen Hauſe die höchsten Stellen als Verwaltungsbeamte einnahmen. Über Düſſeldorf und Köln ging's dann den Rhein herauf, und begleitet von Geschwistern, namentlich auch bon meiner Schwester meinen meiner liebsten Reisegefährtin, wurden höchst lohAdelheid, nende Ausflüge durch das Aar-Tal, das Siebengebirge und nach dem Laacher See gemacht. Auch von Koblenz aus machte ich mit meiner Schwester die schönsten Fußreisen in die Berge südlich von Koblenz . Der Schluß meiner Reise führte mich endlich wieder über Velmede-MindenMagdeburg nach Potsdam zurück.

In Minden gaben mir meine dortigen

Freunde ein sehr vergnügtes Fest bis zum Abgang meines Schnellzuges , d. h. bis in die tiefe Nacht hinein. Als ich erfuhr, daß in demselben Hauſe, in welchem das Feſt ſtattfand, der Regierungrat Bitter, mein muſikaliſcher Bekannter aus Frankfurt a. d. Oder wohne, fand mein Wunsch, ihn zu uns herunter zu rufen, lebhaften Widerspruch, denn er sei noch immer ein zu arger Demokrat . Endlich wurde meinem Wunsch gewillfahrtet, und Bitter entpuppte sich als ein sehr liebenswürdiger Patriot. Bei Vollmond ging es über die Weser-Brücke, da war plöglich der Forstassessor v. Hanſtein (ſpäter Oberförster in Thale ) verschwunden, und wir hörten aus dem Wasser von unten her klägliche Hilferufe. Mein Vetter, Constantin Quadt, der Referendar v. Bülow (jetziger Gesandter beim Papst in Rom) und die anderen alle liefen an das Geländer, um Hanstein zu retten. Was hatte er aber gemacht ? Er war die dicken hölzernen Brückenpfeiler herunter bis zum Wasser geglitten, hatte von dort aus Unsinn um Hilfe geschrien und kam dann auf die Brücke wieder heraufgeflettert ! Im November 1851 erhielt ich den Auftrag, die Verwaltung des Landratsamts Ruppin an Stelle des Landrats v. Schenckendorff auf Wulkow zu übernehmen , der als Landtagsabgeordneter in Berlin sich aufhalten mußte. Der Kreis Ruppin ist einer der größten der Monarchie, er hat 33 Quadratmeilen, damals über 80 000 Einwohner, 7 Städte und einige 60 Rittergüter. Ich wohnte nun über ein halbes Jahr in Wulkow , eine gute Meile von Ruppin entfernt . Ich machte mich sofort beritten und legte die meiſten meiner Dienstreisen zu Pferde zurück, denn mancher Termin bis zu sieben Meilen Entfernung von Wulkow kostete mir drei Tage einen Tag hingeritten, einen Tag verhandelt und den dritten

135

Kommissarischer Landrat des Kreiſes Ruppin.

Tag zurückgeritten. Dabei gab es nur wenig Chauſſeen und nur die eine Berlin-Hamburger Eisenbahn, welche den westlichen Teil des Kreiſes bei Neustadt a. Dosse durchschneidet. Jede Woche mußte ich zwei Tage in der Kreisstadt Ruppin lange Sprechstunden abhalten. Ich war erschreckt über die ungeheuere Zahl - Hunderte - von Briefen, die täglich einliesen. Ohne die Hilfe des fleißigen und in den Geschäften sehr bewanderten Kreissekretärs v. Banchet und zweier Bureauarbeiter wäre es mir nicht möglich gewesen, die Briefschaften zu bewältigen, wenn ich auch bis in die tiefe Nacht hinein arbeitete. Ich schrieb damals an Keudell :

Ich komme mir so vor, wie einer,

der noch nicht so recht schwimmen kann und immer tiefer und tiefer sinkt und endlich sich freut, daß er ohne sein besonderes Zutun wieder in die Höhe getrieben wird. Auch ich kam hineingesprungen in die Orte und in die Geschäfte, ohne doch von dem meisten eine Ahnung zu haben . Jezt fängt es an, wieder licht um mich zu werden, nachdem die Dunkelheit schon ein paar Wochen gewährt hat. Man steht doch gar zu isoliert da, wenn man einen so großen, sonst ganz unbekannten Kreis von einem kleinen Dörfchen aus regieren soll und wenn man doch den guten Willen hat, jeden Staatsstreich ( à la Napoleon vor kurzem) zu vermeiden." Viel Erholung hatte ich aber dadurch, daß Radensleben- das Gut meines Schwagers v. Quaſt und meiner Schwester - nur eine halbe Meile von Wulkow entfernt liegt. Auch bildete ich mir bald ein Streichquartett, dessen Mitglieder aus den muſikaliſchen Kräften Ruppins ſtammten, die allwöchentlich auf dem Milchwagen des Gutes Wulkow zu mir herausfuhren. Eine wahre Erquickung aber war es mir, den „ Elias“ von Mendelssohn zum zweiten Male von A bis Z einstudieren zu können ; meine beiden Schwestern, eine Cousine, zwei Hauslehrer und ich waren die Mitglieder dieses Singkränzchens . Mein einziger Hausgenosse und steter Begleiter war mein berühmter, schöner Windhund, der Solofänger Greiff. dieser Hund viel Furore gemacht.

Schon in Potsdam hatte

Als ich dort in den Gartenanlagen

hinter Sanssouci am sogenannten Ruinenberge mit Greiff spazieren ging, wohin man Hunde nicht mitnehmen darf, begegneten mir plößlich der König Friedrich Wilhelm IV. und die Königin Elisabeth.

Der Hund war

zu meiner Freude in den Büschen des Ruinenberges verschwunden, kam aber leider wieder an meine Seite, gerade als ich vor dem Königspaare Front machte.

Beide hohen Herrschaften blieben nun stehen, um sich mit

mir über den interessanten Köter zu unterhalten ; ja die Königin streichelte ihn fortwährend und lud mit Erfolg auch den König ein, dasselbe zu tun. Häufig hat man den Hund von weitem für ein Reh gehalten, weil er nach seiner Farbe und bei der großen Schnelligkeit seines Laufes in der Tat von ferne einem Reh ähnlich sah.

Als das 24. Regiment, aus Holstein

136

Vierter Abschnitt : Auskultator und Referendar.

kommend, nach seiner Garniſonſtadt Ruppin zurückmarschierte, ritt ich ihm bis an die Grenze des Kreises entgegen. Die Bataillone hatten sich in einem Walde gelagert, um auszuruhen und zu frühſtücken, da kam ich im Galopp heran, die Soldaten aber sprangen alle plößlich auf mit dem Geschrei : „Ein Reh, — ein Reh ! “, der Hund hatte sie getäuscht. Der Sohn des Oberpräsidenten, Adalbert v. Flottwell, welcher den Hund in Pflege nahm, wenn ich verreist war, diente bei den Gardejägern als Einjährig-Freiwilliger und ſtand in Reih und Glied bei einer großen Parade auf dem Lustgarten, da ſieht er zu seinem Schrecken, wie der Hund aus dem Oberpräsidium herausläuft, auf dem Paradeplaß ihn ſucht und ihn endlich auch findet, um dann mit beiden Vorderbeinen ihm gegen die Brust zu springen zum Gelächter der ganzen Garnison. In unser Hochzeitsalbum malte Fräulein Clara v . Flottwell das Tier wunderschön hinein und gab dem Bilde die überschrift : „Vergeß er nicht Greiff über dem wife". Auf der Spiße des Stoppelberges bei Weylar liegt das treue Tier begraben . Mein Leben in Wulkow war trog allem Vorangeführten ein recht einſames, denn ich bewohnte ganz allein ein großes Gutshaus , und in den langen Winterabenden bewegten sich in meiner Stube nur mein Herz, mein Hund und meine Uhr.

Die schriftlichen Geschäfte des Landratsamts

nötigten mich, bis in die tiefe Nacht hinein zu arbeiten, nachdem ich den Tag über in den verschiedensten Gegenden des Kreises hatte tätig sein müssen. Obwohl ich oft nach Radensleben hinüberritt, fonnte ich doch die Bitten meiner Geschwister nicht erfüllen, dort die Nacht zu bleiben.

So

interessant mir auch meine amtliche Tätigkeit in den meisten Beziehungen war, jo erlebte ich doch auch recht viel unangenehmes, vornehmlich durch die Tyrannei der Demokraten, die seit 1848 die Zügel der Stadtverwaltung in den kleinen Städten des Kreiſes in die Hand genommen hatten und darum mir, der ich mir das nicht länger gefallen lassen wollte, fortwährend knüppel zwischen die Beine warfen. Eine besondere Freude hatte ich aber daran, daß ich an den beiden Kreisdeputierten v . Quast-Vichel und v. Zieten-Wildberg und an den Mitgliedern des Kreistages kräftige Unterstützung fand. Auch die sämtlichen Gendarmen des Kreiſes, die alle Monat zum Rapport bei mir antreten mußten, waren auserlesen tüchtige Männer, und unter den vielen Rittergutsbesißern waren viele treffliche Charaktere und treue Patrioten, in deren Häusern und Familien ich mich sofort sehr heimisch fühlte. Einer der originellsten Menschen, denen ich je begegnet bin, war der Landrat a. D. und Ritter des Schwarzen Adler-Ordens v. Zieten auf Wustrau. Er war bereits 1769 als Sohn des alten „Zieten aus dem Busch" geboren und schon in der Wiege von Friedrich dem Großen zum Kornett ernannt worden. Sein Vater war 1699 und sein Großvater 1649 geboren, ſo daß also der leztere bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges

v. Zieten-Wustrau.

zurückreichte.

137

So war nun auch der ganze Mann wie eine Mumie aus

früheren Jahrhunderten, eine kleine zuſammengeschrumpfte Geſtalt mit ſrechenden Augen und voll bewundernswerten Gedächtnisses. Fast 40 Jahre lang war er Landrat des Kreiscs Ruppin geweſen und hatte den ganzen großen Kreis wie ein König beherrscht. Sein ganzes Schloß war voll von Raritäten aller Art, am liebsten zeigte er die Geschenke Friedrichs des Großen, darunter namentlich ein kleines Gewehr, mit welchem Friedrich der Große als zwölfjähriger Knabe ererziert hatte.

Im

oberen Saale des Schloſſes befand sich ein weißer Kasten, in welchem der Säbel des berühmten Zieten aufbewahrt wurde. Rings herum hingen die schrecklich unkünstlerischen Bilder der Offiziere und Generale, die unter dem Husarengeneral Zieten gedient hatten. In dem schönen großen Park am Ruppiner See befand sich auch die Nachbildung eines Kirchhofs mit einer Scheinkapelle daran. Die Grabhügel auf diesem Kirchhof hatten die fabelhaftesten Inschriften auf den Kreuzen, z . B. folgende : „Ich rat dir, Wanderer, flieh von hier, ſonſt ſteht sie auf und tanzt mit dir“, oder „Hier liegen meine Gebeine, ich wollt, es wären deine“ 2c . (Graf Zieten-Schwerin hat als Nachfolger im Beſize von Wustrau sofort diesen Friedhof einebnen laſſen.) Als nächster Nachbar von Radensleben, war der originelle, alte Zieten mit allem, was Quaſt hieß, eng befreundet, soweit man bei ihm von einer Freundschaft überhaupt reden konnie, und so übertrug er denn auch auf mich ein liebevolles Interesse und erkundigte sich stets aufs genaueste, ob ich auch sein geliebtes altes Landratsamt in richtiger Weise verwaltete und der Würde des Landrats nichts vergebe. Einem viele Stunden dauernden Termin, den ich in seinem Schlosse abhalten mußte, wohnte der alte Herr bis zur Fertigstellung des langen Protokolls bei , obwohl ich ihn wie derholt bat, die Sizung zu verlassen und der Ruhe zu pflegen.

Es

handelte sich bei dieſer Verhandlung darum, daß in einer Nacht kurz vorher in dem wertvollen Torfſtich des Wustrauer Luchs die Wände des Torfes durchſtochen und so die Zietenſchen Torfgräbereien unter Waſſer geſett worden waren ; der Täter sollte ein früherer Gehilfe auf dem Landratsamt mit Namen Frost gewesen sein, welcher lettere auch zu der Verhandlung vorgeladen und erschienen war. Der alte Zieten war über diesen Vorfall mit Recht sehr ergrimmt. Auf meine Bitte aber, diesen Grimm nicht zum Ausdruck zu bringen, überwand ſich der alte Herr in rührender Weise, so daß er sogar eigenhändig auf einem Präsentierbrett ein Glas Wein dem p. Frost, seinem Widersacher, anbot. Warum harrte aber Zieten bis zuletzt auf seinem Plaße aus ? Ich mußte herzlich lachen, als er mir den Grund sagte ; er wollte sehen, ob ich, der junge kommissarische Landrat, bei der Unterschrift des Protokolls meinen Namen ganz links auf den Ehrenplag sehen würde, vor den Namen der viel älteren Wasserbaubeamten, welche als Sachverständige

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Dierter Abschnitt : Auskultator und Referendar.

zu dem Termin geladen waren. Dies hatte ich nun getan, und danach wurde mir der alte Zieten ein besonderer Gönner bis zu seinem Lebensende. Kurz vor seinem Tode fuhr ich an seinem Schloß vor, um mich nur bei der Dienerschaft nach seinem Befinden zu erkundigen. Wie erstaunte ich, als er mich auffordern ließ, an sein Sterbebett zu treten. Dies stand hoch oben im Dachgeschoß in einem großen Bodenraum, in welchem eine Menge von Tauben hin- und herflogen. Der Sterbende nahm meine Hand fest in seine kalte Knochenhand, und ich mußte so gegen meinen Willen lange bei ihm ausharren und Zeuge sein von dem Abschied eines Mannes, der in seinem langen Leben, wie es mir wenigstens schien, wenig an das Gebot gedacht hatte: „Schaffet, daß ihr selig werdet mit Furcht und Zittern. " Nicht lange nachdem ich den Kreis Ruppin wieder verlassen und zu meiner Arbeit bei der Königlichen Regierung in Potsdam zurückgekehrt war, erschienen die Kreisdeputierten, um mich aufzufordern, daß ich eine Wahl zum Landrat, wie der Kreistag sie beabsichtige, annehmen möge. Ich schlug aber dieses Anerbieten aus, weil ich mich in meiner Jugend ich war ja erst 25 Jahre alt

, nicht fest fürs ganze Leben binden wollte,

weil ich ferner das große Examen erſt beſtehen wollte, um dann nach dem Wunsche meines seligen Vaters zur Diplomatie überzutreten, und weil ich endlich eine längst geplante -Reise mit meinem Freunde Keudell nach Paris, Rom, Athen 2. aufzugeben keine Lust hatte. Diese Reise sollte nämlich sofort nach meinem Examen von statten gehen. Immerhin wurde mir der Entschluß, die mir so ehrenvoll angetragene Wahl auszuschlagen, recht schwer. Hauptsächlich war aber das traurigste aller Ereigniſſe, das ein junger Mann erleben kann, bestimmend für meinen Entschluß : „Ein Jüngling liebte ein Mädchen, die hat einen andern erwählt —, es iſt eine alte Geschichte, doch wem sie just paſſiert, dem bricht's das Herz entzwei." Es ist auch heute mir noch klar, daß eine solche Seelenlage den Wunsch in mir zerstörte, mich fest an eine Stellung zu binden, in der ich einen eigenen Herd hätte gründen können und müſſen . Einen großen Vorteil verschaffte mir die lange Verwaltung eines Landratsamts dadurch, daß mir das Durcharbeiten in allen Dezernaten der Königlichen Regierung erlassen wurde, indem man zu meinen Gunſten annahm, daß ich den Inhalt aller dieser Dezernate schon in meiner selbständigen Beschäftigung als kommiſſarischer Landrat viel besser und gründlicher kennen gelernt hatte, als ich das unter der Leitung eines Regierungsmitgliedes hätte erreichen können. So kam es, daß ich schon im September 1852 das Generalattest erhielt, das bezeugte, ich sei zum Eramen genügend vorbereitet.

Fünfter Abschnitt. Grofses Examen.

Con der Examinationskommiſſion erhielt ich nun auch bald die Themata für die drei schriftlichen Examenaufgaben ; es sollten dies immer eine juriſtiſche, eine Verwaltungs- und eine allgemein wiſſenſchaftliche Aufgabe sein. Abgesehen davon, daß die Kandidaten jezt nur zwei Examina zu bestehen haben, während ich deren vier zu absolvieren hatte, scheint es mir, als ob damals beim großen Staatsexamen viel strengere Anforderungen an den jungen Beamten gestellt wurden, als heutzutage. Man höre die überschriften meiner Aufgaben : 1. Können bei Kaſſenverwaltungen Defekte entſtehen, ohne daß Kaſſenbeamte sie veranlassen ? Welches sind solche Fälle ? Inwiefern kann die Kasse die Betrogene sein ? und inwieweit sind die Kassenbeamten auch für einen gegen sie von einem dritten verübten Betrug, wodurch der Königlichen Kasse ein Nachteil entsteht, verantwortlich ? Inwieweit sind insbesondere bei Kaffen der Verwaltungsbehörden nach allgemeinen Kaſſenvorschriften und den Bestimmungen des allgemeinen Landrechts Rendant und Kaſſenbeamte in Bezug auf die Legitimation des Geldempfängers verantwortlich und regreßpflichtig ? Die Arbeit war nicht leicht, und ich schrieb an alle Regierungshauptfassen die Bitte, mir solche Fälle zu nennen, welche nach der ersten Frage angegeben werden sollten. Fast von allen Seiten erhielt ich die Antwort, solche Fälle seien nicht bekannt.

Nur ein besonders origineller wurde mir

aus Gumbinnen mitgeteilt, daß fünf von Fett durchzogene Fünftalerscheine in dem Tresor von Mäusen aufgefressen waren, wobei also den Kaſſenbeamten keine Schuld an dem Defekt beizumessen war.

Nach all den

vielen Erkundigungen, die ich eingezogen, konnte ich meine Arbeit wohl mit den Worten beginnen : „ Die Verwaltung einer Kaffe ist ein beschwer-

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Fünfter Abschnitt : Großes Examen.

lich Ding, und der bekannte parlamentarische Ausdruck von dem Aufhören der Gemütlichkeit in Geldsachen ist, da er auf naive Weise eine unbezweifelte Wahrheit ausspricht, bereits als Sprichwort in den Mund des Volkes übergegangen. Man kann auf die Frage : Was ist ein Kaſſenbeamter ? mit viel größerem Rechte als jener Rekrut auf die Frage : Was ist ein Soldat ? die Antwort geben : Ein armer, geplagter Mensch ! "

Und

der Schluß meiner Arbeit lautete : „Der redlichste und gewiſſenhaſteſte Kassenbeamte kann froh sein, wenn ihm am Schlusse eines Jahres die Decharge »ohne Vorbehalt « zu teil wird ; freilich beginnt ſeine Siſyphusarbeit alljährlich von neuem." Für die Lösung dieſer erſten Aufgabe erhielt ich das Zeugnis ſehr gut. Die zweite Arbeit lautete : Welche Gründe sprechen dafür und dagegen, die zur Aufbringung der Kommunalbedürfniſſe aufzulegenden Steuern und Lasten nach dem Maßstabe der Staatssteuern aufzubringen ? mit besonderer Bezugnahme auf die Klaſſen- und Einkommensteuer. Dieses Thema war derzeit noch ein vielumstrittenes, und es wurde mir darum nicht leicht, die Frage gründlich zu bearbeiten, zumal da die Frist, die für diese Examenarbeiten damals gestellt wurde -- nämlich sechs eine verhältnismäßig viel zu kurze war, und da das Gesetz,

Wochen

betreffend die Einkommensteuer, sowie auch die neue Gemeindeordnung, beide vom Jahre 1850, noch so neu waren, daß ein feſtes Urteil über den Segen oder Unjegen dieser beiden wichtigen Geseze noch nicht gefällt wer den konnte. Ich entschied mich in meiner langen Arbeit dafür, daß man die allgemeine Frage : „ Eignet sich der Maßſtab der Staatssteuern auch für die Aufbringung der Kommunalsteuern ?" weder mit Ja noch mit Nein beantworten, und eine allgemeine, auf alle Kommunen paſſende Antwort überhaupt nicht gefunden werden könne, namentlich, wenn man die geschichtliche Entstehung des preußischen Staats vor Augen habe ; daß vielmehr jede einzelne Provinz, jeder Kreis, jede Stadt, jedes einzelne Dorf die gehörige Berücksichtigung der korporativen Individualität verlangen dürfe und verlangen müſſe, und daß es nicht die Sache der abſtrakten Theorie und einer kodifizierenden Gesetzgebung, sondern die Aufgabe einer gewandten, lebensvollen, gehörig kontrollierten Praris sei, das Gewicht und Gegengewicht der Gründe in jedem einzelnen konkreten Falle abzuwägen. Diesem meinem Reſultate entsprachen denn auch die Beſtimmungen, die in die damaligen Entwürfe von Städte- und Landgemeindeordnungen aufgenommen sind, nach welchen die Gemeindeſteuern entweder in Zuschlägen zu den Staatssteuern oder in besonderen direkten oder indirekten Gemeindeſteuern bestehen können. Das dritte Thema für die allgemeinwissenschaftliche Arbeit war folgendes : Der Herr Regierungsreferendar v . Dieſt verſuche sich an einer gedrängten Darstellung der Momente, welche in dem Zeitraum von 510 bis

Examenarbeiten .

141

431 vor Christo Athens bürgerlicher, sittlicher und geistiger Entwicklung in dem Maße förderlich gewesen sind, daß Thukydides ( I 23) , indem er sich anschickte, die bekannten Ursachen des peloponnesischen Krieges anzugeben, mit Recht sagen konnte : „Für den wahrsten, aber weniger ge nannten Grund halte ich die zunehmende Macht der Athener, die den Lacedämoniern Furcht einflößte und sie zum Kriege nötigte." Diese Arbeit flößte mir einen wahren Schrecken ein, denn es waren ſeit meinem Abgange vom Gymnaſium über acht Jahre verflossen, und meine Kenntnisse der griechischen Sprache hatte sich seitdem nicht vermehrt, sondern bedeutend vermindert. Thukydides, dieſer größte, aber auch schwerste griechische Historiker, war mir bis dahin ganz unbekannt geblieben ; das erste, was ich tat, war, daß ich mir den Thukydides griechiſch und deutſch anſchaffte, das zweite, daß ich zu meinem alten Gönner, dem berühmten Geschichtslehrer Ranke, der mir seit den Vorlesungen, die ich bei ihm gehört, bis zu ſeinem Lebensende ein treuer Ratgeber gewesen iſt, ging, um mir Rat zu holen. In seiner herrlichen Lebendigkeit intereſſierte er ſich für meine Aufgabe, war erstaunt, daß jungen preußischen Verwaltungsbeamten solch eigentümlich schwere Aufgaben gestellt würden, und wies mich insbesondere auf ein damals erschienenes englisches Werk von Grothe über die Geschichte Griechenlands hin. Meine unverschämte Bitte, mir das Werf zu borgen, lehnte er ganz bestimmt ab, da er grundjäßlich keine Bücher verborge ; der liebe Mann hat's mir aber nachher doch geborgt, weil das Werk in der Königlichen Bibliothek stets vergriffen war. Je mehr ich mich nun in den Thukydides vertiefte, deſto freudiger und eifriger wurde ich bei meiner Arbeit, und ich faßte den Entschluß, nach meinem Examen nach Griechenland zu reisen. Der Examinator, der mir die Aufgabe gegeben, war der alte, damals weithin bekannte Griechenkenner Geheimrat Kortüm, der mir nach dem Eramen mitteilte, daß meine Arbeit ein sehr gutes Zeugnis erhalten habe, und wie er sich mit mir darüber freue, daß ich die Stätten aufsuchen wolle, in welchen die Ereignisse gespielt, die Thukydides so großartig plastisch beschreibt. Besonders intereſſant wurde mir meine Aufgabe, weil damals die Lage zwischen Preußen und Österreich derjenigen so ähnlich war, die vor 2300 Jahren zwischen Athen und Sparta obgewaltet hatte, und weil wir jungen patriotischen Gemüter noch so tief traurig waren über den Verlauf der Mobilmachung gegen Österreich im Jahre 1850/51 . Meine Arbeit selbst möchte ich im Anhange mitteilen ; denn sie hat schon bisher viele Leser interessiert, weil Athens Entwicklung und Größe kurz und lebendig dargestellt ist. Nachdem ich nun alle drei Arbeiten beendet und abgegeben hatte, bat ich, mir den Termin zum mündlichen Examen so bald als möglich anzu-

142

Fünfter Abschnitt : Großes Examen.

sezen, zumal da ich zu einer mehrwöchentlichen übung beim 2. LandwehrDragoner-Regiment einberufen war. Aber o weh!

Die Examinationskommiſſion wollte für mich allein

keinen Examenstermin ansetzen, da außer mir sich kein Kandidat zum mündlichen Examen gemeldet hatte ; ich erfuhr nun, daß zwei Referendare, v. Gundlach und Bünte, ſeit vielen Jahren mit den schriftlichen Arbeiten für das Examen beschäftigt gewesen seien. Ich besuchte nun sofort den ersteren und überredete ihn mit vieler Mühe, sich zum mündlichen Examen zu melden. Er hatte selbst gar keine Hoffnung, dasselbe beſtehen zu können. Wir beide ermittelten dann noch Bünte, welchen wir mehrere Treppen hoch in der Mittelstraße im Schlafrock vorfanden : er machte uns den Eindruck eines Greises, der schon zehn Jahre lang sich mit dem Examen abmühte, vollständig lebensunlustig geworden war und durchaus nicht mehr die Energie hatte, ſelbſtändig zum Entschluß zu kommen. Mit vielen überredungskünſten brachten wir ihn dazu. Ich hatte mir zwar vorgenommen und bisher auch durchgeſeßt, jede meiner vielen Prüfungen durch eigenes Studium und nicht mit Hilfe eines sogenannten Repetitoriums zu bestehen, aber jezt plagte mich doch der Wunsch, ſelbſt zu erfahren, inwieweit ich genügend in allen Fächern vorbereitet sei, und ich suchte darum im Verein mit Gundlach den berühmten Repetitor Förstemann in Baumgartenbrück bei Werder mit der Bitte auf, uns bei unseren Besuchen kreuz und quer aus allen Gebieten der Verwaltung und Jurisprudenz Fragen vorzulegen, so wie es im Examen selbst geschähe. Wir fanden in Baumgartenbrück eine Menge von Kandidaten vor, welche Jahr und Tag dort studierten. In Förstemann lernte ich einen höchſt liebenswürdigen und kenntnisreichen Mann schätzen, bin aber doch nur wenige Male von Potsdam aus zu ihm gefahren, weil er troß allen Bittens nicht im ſtande war, kreuz und quer zu fragen, sondern die ganze Stunde hindurch bei demselben Thema blieb, über welches zu fragen er angefangen hatte.

So blieb ich denn in

völliger Unkenntnis und in großer Spannung, ob ich das Examen bestehen würde. Nachdem ich so viele Monate gewartet, wurde endlich ein Termin zur mündlichen Prüfung auf den 17. Oktober 1853, 8 Uhr morgens, im Finanzministerium angesetzt. Ich holte Gundlach aus dem Hotel de Petersbourg mit einem Wagen ab, fand ihn aber in seiner Stube, noch nicht angezogen. Nervös zitternd ging er neben mir die Treppe hinab, kehrte aber sofort wieder um, weil er etwas vergessen habe Als er nicht wiederkam, und es schon bald 8 Uhr war, fand ich ihn wieder in seiner Stube mit seinen Schießzetteln" in der Hand, und er erklärte, er habe nur noch einmal nachsehen müſſen,

Große Reise mit Keudell.

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welche Gewerbe gewerbesteuerfrei seien ; ich riet ihm aber, er möge sich nicht zu guter Lezt noch den Kopf verteilen. Kaum hatten wir drei uns im Prüfungslokal gegenüber den fünf Examinatoren niedergesetzt, als Gundlach die erste Frage bekam: „Können Sie mir sagen, welche Gewerbe gewerbesteuerfrei sind ?" Bevor er antwortete, sah er sich mit fröhlich triumphierendem Blicke nach mir um, und gab nun eine überaus prompte Antwort, welche den Eraminatoren sichtlich einen vortrefflichen Eindruck machte

und hauptsächlich dazu bei-

getragen hat, daß er das Examen überhaupt bestand.

Wieviel Hundert-

tausende von Fragen können in einem solchen Examen gestellt werden, und gerade die eine , deren Beantwortung er kurz vorher gelesen, erhielt Gundlach ! -- Sechs Stunden lang wurden wir gequält, und grausam war es, daß uns nicht einmal eröffnet wurde, ob wir durchgekommen seien. Erst spät an demselben Tage erhielt ich die Nachricht von dem freudigen Resultat durch eine private Nachfrage bei meinem Onkel Carl Bodelschwingh, der damals Finanzminister war. Mein Patent als Regierungsaſſeſſor wurde mir übrigens zum 22. Juni 1853 vordatiert, weil mir die Zeit meiner Einziehung zur Mobilmachung 1850/51 angerechnet wurde. Mir war nun eigentümlich zu Mute, denn ich hatte seit Anfang 1845 immer ein Examen als das Ziel, nach dem ich zustrebte, vor Augen gehabt. Nach sechsmaligem Examiniertwerden hatte ich kein solches Ziel mehr zu erstreben.

Die ganze Welt stand mir jezt offen, und ich hätte dies mit

glückstrahlender Freude begrüßen können, wenn nicht der Herzenskummer während des ganzen Examens , und so auch nach demſelben, auf mir gelastet hätte. Die große Reise, die ich mit meinem Freunde längst geplant hate, sollte nun angetreten werden. Kurz vor Antritt dieser Reise schenkte mir meine liebe Tante Lottchen Bodelschwingh das bekannte „ goldene Schazkästlein" von Bogatky als treuen Reisebegleiter, und als Widmung für mich schrieb sie hinein :

Was Jch thue, das weißt Du jezt nicht, Du

wirſt es aber hernachmals erfahren. Ich habe nur Gedanken des Friedens, und nicht des Leides über Dich - Des Herrn Verheißungen sind alle Ja und Amen ! "

Wie ist dieses prophetische Wort an mir in Erfüllung gegangen, denn ich habe es "" hernach " erfahren, und zwar schon nach fünf Jahren, daß meine damalige Trauer in herrliche Freude verwandelt und mir gegeben wurde weit über Bitten und Verstehen !

Ich war sehr

unglücklich damals , denn „ wem es juſt paſſieret, dem bricht's das Herz entzwei !" Welch' ein glücklicher Mensch bin ich „hernachmals “ und durch mein ganzes Leben hindurch geworden ! höher als meine Gedanken.

Gottes Gedanken mit mir waren

Ein ganz unerwartetes Hindernis stellte sich plötzlich unserer Abreise entgegen : Die Minister verweigerten uns den Urlaub, welchen wir für ein Jahr erbeten hatten, weil zu wenig Arbeitskräfte bei den Königlichen Re

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Fünfter Abſchnitt : Großes Examen.

gierungen vorhanden ſeien, als daß zwei Regierungsaſſeſſoren auf ſo lange Zeit entbehrt werden könnten. Wir konnten es nicht begreifen, daß uns , die wir keinen Pfennig Gehalt noch sonstige Remunerationen bezogen, und deren Arbeitskraft schon zur Genüge vom Staate ohne jedes Entgelt ausgenugt war, nicht einmal soviel Freiheit gelassen werden sollte, um zu unserer weiteren Ausbildung und zur Erholung eine Reise antreten zu dürfen. Schon hatten wir beſchloſſen, unseren Abschied aus dem Staatsdienste zu nehmen, den man uns ja nicht verweigern konnte, und dann nach beendigter Reise wieder einzutreten, als plößlich ein ganz unerwartetes Ereignis uns den Urlaub verschaffte. Mein Freund Keudell und ich erhielten den Befehl, abends in Sanssouci beim Thee zu erscheinen und dort das Königspaar durch Musik zu unterhalten. Wir beſchloſſen, in unseren Uniformen als Küraſſier- und Dragoneroffizier hinzugehen, damit wir weniger als Musikanten behandelt würden.

Das wäre aber wahrlich nicht nötig gewesen, denn eine

überaus gnädige Aufnahme wurde uns zu teil.

Wir fanden außer den

Adjutanten und Hofdamen niemand als Alexander v. Humboldt vor . Der König sette sich dicht neben mich, und da ich mir die Uniform aufInöpfen mußte, um Cello zu spielen, weil sonst die Metallknöpfe beim Vibrieren des Instruments mitschnurren, fragte mich der König, weshalb ich das täte, und wünschte dann lustig, ich möchte ihm mal das Mitschnurren zeigen. Die Knöpfe taten auch zu ſeiner Heiterkeit ihre Schuldigkeit und schnurrten. Wir spielten zuerst die Variationen von Mendelssohn für Klavier und Cello ; der König schlug immer neben mir mit ſeiner Tabaksdose den Takt. Die lekte Variation beginnt für das Cello mit einem lehr lang anhaltenden Tone ; der König meinte nach dem Ende des Stücks, dieser Ton sei ja wohl ganz besonders schwer zu spielen, und war ganz erstaunt, als ich ihm das Gegenteil versicherte.

Immer von neuem

wurden wir vom Königspaar mit Lob und Dank für den genußreichen Abend überschüttet ; der König versicherte uns, daß ihm das Kommenlassen von musikalischen Professionisten trotz seiner Liebe zur Musik deshalb so zuwider sei, weil nachher alles in die Zeitungen käme.

Nach dem ein-

fachen Abendessen fragte mich der König plößlich, ob es denn wahr ſei, daß Keudell und ich eine große Reise durch viele europäische Länder antreten wollten.

Als ich ihm dies bejahte, aber hinzuseßte, daß uns der Urlaub

zu dieſer Reise von den Ministern abgeschlagen worden sei und wir darum vorhätten, als unbesoldete Assessoren unseren Abschied zu nehmen, um dann nach der Reise wieder einzutreten, da erklärte der König mit aller Lebendigkeit : „ Dann erteile ich Ihnen den Urlaub, denn ich habe es sehr gern, daß meine jungen Beamten sich auf solchen Reisen weiterbilden ! “ Durch Vermittlung des Oberpräsidenten v. Flottwell wurde diese allergnädigste Urlaubserteilung den Miniſtern kundgetan.

145

Tod Friedrich Wilhelms IV.

Wir waren voll Danks für diese Königliche Huld !

Es wurde mir

übrigens auch bei anderen Gelegenheiten viel gnädiges Entgegenkommen seitens des Königlichen Herrn zuteil. So unter anderem bei den Besuchen des österreichischen Kaisers Franz Joseph und des Kaisers Nicolaus von Rußland am Königlichen Hofe.

Im Stadtschloß zu Potsdam erfolgte die

Vorstellung der eingeladenen Herren beide Male durch den König selbst, und so wurde auch ich durch die Majestät den Majeſtäten vorgestellt.

Bei

dem Besuche des Kaisers Franz Joseph hatte der König die Uniform seines österreichischen Huſaren-Regiments angelegt ; sie saß ihm nicht recht und kleidete ihn noch weniger. Auf der Rampe des Schloſſes , kurz vor der Ankunft des Kaisers, geriet der König dicht neben mir in einen furchtbaren ärger, der sich gegen seinen Kammerdiener Luft machte, weil derselbe vergessen hatte, das große Ordensband eines österreichischen Ordens dem Könige umzutun. Nur mit Wehmut kann ich an den liebenswürdigsten aller Monarchen zurückdenken.

Wie oft habe ich erfahren, wie umfassend seine Kenntnisse,

wie tief ſein Gemüt, wie ſtark ſein Verſtand, wie überzeugend seine Redegabe gewesen ist, und wie alle, die an seine Seite als Ratgeber berufen waren, sich außer stande gefühlt haben, des Königs Willensmeinung auch in den Fällen sich zu widersetzen, in welchen unrichtige Wege eingeschlagen wurden. In dem Regierungsbezirk Merseburg, dessen Verwaltung mir später anvertraut wurde, kam die traurigste aller Krankheiten beim Könige zum Ausbruch, und zwar beim Manöver 1857 zuerst in Salzmünde, dann aber beim Diner in dem Hauſe des Domänenpächters Wagner auf dem Petersberge. Inmitten einer Rede ließen den König plößlich die Gedanken und Worte in Stich.

Nach einem langen Siechtum hauchte der ver-

ehrungswürdige und bis heute noch oft verkannte Dulder am 2. Januar 1861 seine fromme Seele aus .

v. Diest, Lebenslauf eines Glücklichen.

10

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Sechster Abschnitt. Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien .

eine Reise führte mich zunächst nach Arnsberg, um von der von mir The über alles geliebten Familie Bodelschwingh Abschied zu nehmen. Auf der Hinreise saß ich in der Postkutsche mit den Mitgliedern einer Deputation zusammen, welche den Präsidenten in Arnsberg aufsuchen wollten und dabei die bitterſten Reden über die Regierung in Arnsberg führten. Ich teilte dies meinem Onkel gleich am Abend meiner Ankunft mit, war aber nicht wenig erbaut davon, als ich am anderen Morgen in das Arbeitszimmer des Präsidenten gerufen wurde und dort jener Deputation gegenübergestellt wurde. Ich hielt natürlich meine Aussage aufrecht und die Herren mußten alles das, was sie vorher noch geleugnet hatten, zugeben und pater peccavi in Bezug auf ihre bitteren Redensarten sagen. Ähnliche Auftritte habe ich selbst später als Regierungspräsident manchesmal erlebt, und die Art meines Onkels, die Entschuldigungen der Herren entgegenzunehmen, ihnen zu verzeihen und sie dadurch aus Feinden der Regierung zu Freunden zu machen, ist mir ein unvergeßliches Vorbild geblieben. Meine liebe Cousine Sophie Bodelschwingh hatte sich damals eben mit dem Referendar Julius v. Oven, meinem früheren Bekannten aus Heidelberg, verlobt. Es waren herrliche Tage, welche ich in diesem Familienkreise zubrachte, auch machte ich mit meinem Onkel noch eine Fußreise durch die Berge des Sauerlandes und wurde schließlich von der ganzen Familie mehrere Meilen weit auf meiner Weiterreise nach Iserlohn und Elberfeld zu begleitet. Am Sonntag, den 6. November, traf ich mit meinem Freunde Keudell in Elberfeld zusammen.

Evangelischer und katholischer Gottesdienst.

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Dort hörten wir noch eine tief ergreifende Predigt des Pastors Feldner über die Kennzeichen eines evangelischen Christen . Als solche hob er hervor: 1. Ich kann nichts durch meine eigene Kraft. Buße ! 2. Ich kann alles durch den, der mich mächtig macht. — Glaube ! 3. Die guten Werke machen nicht den guten Christen, aber der gute Christ tut die guten Werfe - die Gerechtigkeit vor Gott, nicht durch des Gesezes Werke ! Welch ein Kontraſt, als wir an demselben Sonntage nachmittags in den Kölner Dom traten und eine katholische Meſſe mit allen ihren Äußerlichkeiten uns entgegenſchallte. In Elberfeld die Einfachheit des Gottesdienstes, die Prunklosigkeit, ja die Kahlheit des Gotteshauses , der Altar dicht umbaut mit Stühlen und Bänken, aber die Gemeinde wie eine Familie, höchste Aufmerksamkeit auf Gottes Wort, tiefste Innerlichkeit. — In Köln dagegen die Kompliziertheit der katholischen Messe, die Pracht der Architektur, der geschmückte Priester vor dem Sakrament, als Mittelsperson zwischen dem Altar und der Gemeinde, ein jeder für sich mit seinem Rosenkranze - denn er erwirbt sich ja die Seligkeit durch derlei gute Werke

, berauscht durch die Klänge einer stark weltlichen Musik, durch

den schrillen Ton der Meßglocke, aber während der Mund betet, richtet sich das Auge mit Aufmerkſamkeit auf den fremden Touriſten, der den Bau anstaunt, - es ist alles mehr die Anspannung eines Automaten, deſſen Uhrwerk durch den Priester aufgezogen wird, — kurz kraſſe Äußerlichkeit. ,,Gott ist ein Geist, und wer ihn anbetet, soll ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten."

Welch ein schweres Gebot, aber ohne Zweifel mehr

beobachtet in der evangelischen als in der katholischen Kirche ! Und doch wieviel können wir von den Katholiken lernen und annehmen ! Wieviel größer ist ihre Liebe zum Gotteshause ; wie stetig, ja jogar alltäglich und allstündlich der Besuch desselben, wie schmücken sie es aus, und was lassen sie es sich kosten ! Wie schön ist's , daß alle ihre Kirchen täglich offen ſtehen, während unsere evangelischen Kirchen in den Wochentagen hermetisch verschlossen, oder, wenn sie besichtigungswert, ein Eigentum des Küsters geworden sind, der sie gegen Trinkgelder öffnet. Wie ergreifend ist das Knien der ganzen Gemeinde vor dem Sakrament ; wie gewaltig die Disziplin, welche die Geistlichkeit auf die Gemeinde ausübt ! Bis zum Dunkelwerden blieben wir oben auf dem Dache des herrlichen Domes , dann ging es herunter in die beleuchteten Kirchen. Am prunkvollsten war die Beleuchtung der St. Martinskirche als am Martinstage : eine zahllose Menschenmasse war hier versammelt, die Kirche konnte ſie kaum alle fassen.

Dr. Martinus Luther und wohl der heilige Mar-

tinus selbst hätten die Lichter alle zum Tempel hinausgeworfen, um derentwillen sich die Menge herzudrängte.

Wir bejuchten außerdem noch die

Jeſuiten , die Ursula- und die Apostelkirche ; am schönsten aber war die Kirche St. Géréon ; alle waren prächtig erleuchtet.

10*

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Sechster Abschnitt : Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

Sogleich am ersten Tage unserer Reise wurde ein Paragraph unseres Reiſeſtatuts in Ausführung gebracht : auf der Eisenbahn IV. oder höchstens III. Klaſſe zu fahren. Abgesehen von der bedeutenden Gelderſparnis haben wir viel Vorteile von dieser Art zu reiſen verspürt. Denn während die Insassen der I. und II. Klasse meistens recht langweilige Reisegefährten sind, so haben wir in den unteren Klassen stets interessante Menschen getroffen, lebhafte Unterhaltungen gehabt, Land und Leute durch sie besser kennen gelernt und, was die Hauptsache iſt, nicht unbedeutende Fortschritte im Erlernen fremder Sprachen gemacht. Von Köln ging's über Aachen und Maastricht nach Hasselt ; dort ſegten wir uns in einen kleinen Planwagen, um noch am Abend die Stadt meiner Vorfahren im Lande Brabant zu erreichen. Bald konnten wir nur ganz langsam jahren, denn ein dichter Nebel lagerte sich um uns herum . Es war um Mitternacht, als plößlich unser Pferd vor einem dunkeln Tor und einer hohen Mauer stille stand ; die Festungsmauer der Stadt Diest lag vor uns. Wir klopften an das Tor und baten um Einlaß, wir schrieen endlich aus Leibeskräften, aber alles vergebens : „die Türe, sie bleibet verschlossen, und alles war wie ein Traum!" Wir mußten richtig nolens volens Kehrt machen und wohl eine halbe Meile zurückfahren, wo wir dann endlich in einem Hause, in welchem schon alles schlief, Einlaß erhielten. In echt flämischer Art, d . h. zugeknöpft und faſt grob, nahmen uns die Hausbewohner doch schließlich nach langen Bitten für die Nacht auf. Noch heute sehe ich den baumlangen Bauer in seinem weißen Nachthemd, eine weiße Zipfelmüße auf dem Kopf, wie er uns in einer unterm Dach liegenden, übrigens sehr reinlichen Stube zwei Betten anwies. Sehr drollig war der Eindruck, welchen meine Visitenkarte, die ich zur Unterstützung unserer Bitten übergab, auf den Mann machte, aber immerhin schien es uns, als ob diese Visitenkarte ihn in dem langſam reifenden Entschluß bestärkte, uns für die Nacht bei sich aufzunehmen. Erst am folgenden, sonnigen Morgen konnten wir in die Stadt, die seit vielen Jahrhunderten meinen Namen trägt, einwandern und in dem recht guten reinlichen Hotel du Coq, auf dem großen Marktplage gegenüber der prächtigen Kathedrale, Wohnung nehmen. Bei der Besichtigung der Stadt war mir der von meinem seligen Vater im Jahre 1839 aufgenommene und in Berlin lithographierte Plan zur Hand. Diest ist eine Stadt von etwa 20 000 Einwohnern und eine der stärksten Festungen Belgiens gegenüber der naheliegenden holländischen Feste Maastricht .

Die Stadt ist vollständig von den

Festungswerken eingeſchloſſen . Dieſe beſtehen, von innen gerechnet, aus einem etwa 80 Fuß dicken Wall, der so hoch ist, daß man von außen nichts von den Häusern der Stadt gewahrt ; dann folgt ein 140 Fuß breiter Festungsgraben mit Zugbrücken, dann ein zweiter Wall von 50 Fuß Dicke

Stadt Diest.

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und ein zweiter Graben von 140 Fuß Breite, endlich die kleineren Außenwälle. Zwei Forts erheben sich dicht bei der Stadt, Fort Leopold" im Norden und die „Zitadelle" im Südwesten auf dem südlichen Talrande des Demerfluſſes, der in drei Armen die Stadt durchſtrömt und eine Menge von Mühlen treibt. Eine ziemlich ſteil nach Nordoſt und Weſt abfallende Kuppe, welche Eisenstein enthält, wird von den Werken der Zitadelle umschlossen ; ein Kapellchen stand damals noch auf der Kuppe, sollte aber den fortifikatorischen Zwecken weichen ; auch ein alter sogenannter Römerturm (,,Tooders-torm“, mein Vater hat ihn auf der Karte mit „Cajusturm“ bezeichnet) war schon damals bis auf wenige überreste abgebrochen, die Mauern der Zitadelle sollten auch über ihn hinweggehen. Eine wunderschöne Aussicht belohnt die Besteigung der Zitadelle ; nach Nordost und Oſt hin liegt die ziemlich ausgedehnte Stadt ; auf der jenseitigen, östlichen Seite derselben erhebt sich eine zweite Kuppe, der der Zitadelle ähnlich, mit schönen hohen Buchen ganz bedeckt, die sogenannte Warrande (Park) . Hier hat früher der Palast der Fürsten von Oranien und das Stammhaus derer v . Diest gestanden. Besizerin war damals eine sehr reiche Madame Wastappen, welche die Warrande in den Kriegsjahren für etwa 50 000 Francs gekauft haben und welcher damals vom Könige der Belgier vergeblich 1 Million Franken geboten sein soll.

Nach

Nord und Nordwest überblickt man ferner die üppigen Wiesen am DemerFlusse mit Herden von Rindvich bedeckt und von dem rechten Talrande des Demer begrenzt, auf welchem sich das Fort Leopold erhebt.

Nach

Süden endlich sieht man in eine hügelige fruchtbare Landschaft. Fünf schöne alte Kirchen, natürlich katholische, besigt Diest, die kleinen und neueren Kapellen nicht gerechnet, die Kathedrale dem heiligen Sulpicius gewidmet, im Innern vollständig der Peterskirche zu Löwen ähnlich und gleich schön, die Croßheerenkirche (Kreuzherrenkirche) , die sehr eigentümlich in verschiedenen Jahrhunderten zusammengeflicte Liebfrauenkirche ; die Beggynhofkirche, der heiligen Begga, wenn ich nicht irre, der Schweſter Pippins von Landen gewidmet, die St. Janskirche (St. Johanneskirche) , deren Ruinen wunderschön sind. Nach einer Inschrift ist das Dach des Schiffes bereits im Jahre 1688S eingeſtürzt, und dasselbe Schicksal hatte 1852 das Dach des Chores. Die Leute im Wirtshaus machten große Augen, als ich ihnen meinen Namen nannte, und der Sohn vom Hause, der Herr Vars, übernahm freudig das Geschäft, mir auf meinen langen Besichtigungswegen ein kundiger Begleiter zu sein und mir eine Geschichte (Geschiedenes ) der Stadt Diest, von dem Univerſitätsbibliothekar van Even zu Löwen , zu verschaffen.

Auch der Burgemeester Peters wollte mir gern die Durchsicht

der Stadtarchive gestatten, welche aber eine monatelange Arbeit erfordern würde, weil sie damals noch ganz ungeordnet waren.

Leider bin ich aus

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Sechster Abschnitt : Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien .

Mangel an Zeit nie wieder nach Diest gekommen, um meinen Vorſay auszuführen und die Geschichte unserer Familie an Ort und Stelle zu studieren. Ich kann nicht leugnen, daß der damalige Besuch unserer Vaterstadt einen mächtigen 3Zauber auf mich ausgeübt hat, tros des un wirtlichen Empfanges, welchen ich vor ihrem geschlossenen Tore hatte erleben müssen. In Löwen fuhren wir durch die „ Dieſterſche Straße“ ein.

Das

dortige Rathaus ist zierlich, beinahe bis zur Übertreibung ; eine reiche, feine, ich möchte sagen heitere Bildhauerarbeit ziert vom Dache bis zur Sohle die ganze Vorderfront des Gebäudes ; Tausende von kaum spannenlangen Figürchen sind an jedem Fenster, an jeder Säule angebracht. In der Peterskirche gegenüber dem Rathause traten uns die ersten schönen Bilder der niederländischen Schule, „ ein Abendmahl “ von Memling und ,,die heilige Familie" von Quintin Massys, entgegen. sitätsgebäude, die früheren

Auch das Univer-

Hallen“ der Tuchmachergilde, wurde besucht.

Löwen hatte damals kaum 30 000 Einwohner, dagegen im 14. Jahrhundert 200 000. In Mecheln überraschte die Liebfrauenkirche durch ihre Ähnlichkeit mit der Peterskirche zu Löwen und der Kathedrale zu Diest ; hinter ihrem Altar hängt das berühmte Bild von Rubens „Petri Fischzug“ . Auch die Kathedrale zu Mecheln mit ihrem Koloß von Turm birgt ein herrliches Bild, van Dycks „Chriſtus am Kreuz “, das mich mehr ergriff als alles, was ich nachher in den Sammlungen gesehen. Durch die Schelde und Dyle hinauf zeigt sich die Ebbe und Flut des Meeres noch bis Mecheln hin wirksam. Antwerpen endlich, das Venedig Belgiens, ist voll von Schätzen. Die Kathedrale mit ihrem 466 Fuß hohen, schlanken, höchſt ebenmäßigen Turm enthält die beiden Bilder, welche jeden mit Peter Paul Rubens aussöhnen müssen, wenn er auch sonst noch so sehr (namentlich in München) durch die Fleischmassen degoutiert worden ist, welche Rubens jo gern darstellt ; etwas Würdigeres , Innigeres und zugleich Markigeres, wie „die Abnahme vom Kreuz " und die Aufrichtung des Kreuzes" gibt es nicht. Die erstere iſt die ergreifendſte, namentlich auch mit den Flügelbildern

die Begegnung Mariä mit Elisabeth“ und „die Darbringung im Tempel mit Simeon und Hanna". Der Turm der Kathedrale wurde

auch bestiegen, und wir jahen die Stadt, die breite Schelde mit ihren Ilfern wie eine Landkarte vor uns liegen . Ein Gegenstück zu dieser Umsicht gab uns eine Fahrt mit dem Dampfschiff nach dem linken Ufer der Schelde, wo wir von Vlams-Hoofd aus einen Anblick auf die Stadt genossen. Wie mußte ich hier des Bildes gedenken, welches in meines Vaters Stube hing, den heldenmütigen Verteidiger von Antwerpen, General Chassé, darstellte und die Unterschrift trug : Ewigkeit geschwornen Eiden. " Einen

Paris.

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eigentümlichen Eindruck machen die großen Seeschiffe hier mitten im Lande auf dem Schelde-Strom, ja jogar mitten in den Straßen der Stadt auf den verschiedenen Baſſins, in welche sie hineinbugsiert werden. Der damalige Generalkonsul in Antwerpen, Graf Frit Eulenburg (der spätere Miniſter des Innern) , war uns ein liebenswürdiger Cicerone, denn wer will alle die Kunstschäße auffinden, welche im Museum und in den Kirchen Antwerpens aufgehäuft sind. Ich nenne nur das Grabmal" von Rubens in der Jakobskirche und ein Altarbild, auf welchem Rubens sich selbst und seine beiden Frauen, seinen Vater und Großvater, seine Nichte 2. in schöner Gruppierung gemalt hat. Zwei junge, überaus liebliche Frauengeſtalten liegen auch dort auf den Särgen zweier Urenkelinnen von Rubens, welche damals nicht lange vorher gestorben waren. über Antwerpen und Brüssel sollte es nun weiter nach Paris gehen. Ich muß da aber noch eines Zwischenfalls gedenken, der uns zuerst viel Kummer, nachher aber viel Lachens machte. Wir hatten uns über den Bestand unserer Varmittel keinerlei Mitteilung gemacht ; ich hatte noch gerade genug, um bis Paris zu kommen, wo ich Geld beim Banquier erheben konnte, an der Kasse des Bahnhofs aber in Brüssel fand sich's, daß Keudell nicht mehr genug bei sich und darauf gerechnet hatte, daß ich ihm aushelfen könne. Es glückte ihm, gegen Abgabe seiner goldenen Uhr nebst Kette als Fauſtpfand das nötige Geld bei einem Bahnhofsbeamten zu leihen, und wir konnten richtig noch mit dem beabsichtigten Zuge weiter fahren. In Paris kehrten wir in dem sehr günstig gelegenen Hotel Louis le Grand, in der Straße gleichen Namens, ein, wo wir mehrere Monate in zwei Stuben des vierten Stocks eine intereſſante Zeit verlebt haben. Ein finderloses originelles Ehepaar besaß den Gasthof und präsidierte höchst gravitätisch an der Frühstücks- und Mittagstafel, an der wir sofort eine Menge von dauernden Bekanntschaften machten. Es wurde in allen möglichen Sprachen die Unterhaltung geführt.

Eine Polin, Madame du

Chateau Thierry, eine höchſt lebendige Dame, sprach gleich beim ersten Diner nicht bloß ihre Muttersprache, sondern auch französisch, englisch und italienisch, wie denn ja überhaupt die Polen durch eine beneidenswerte Sprachengewandtheit sich auszeichnen.

Als ich Keudell leise auf-

merksam machte, daß wir uns mit unserer deutschen Unterhaltung in acht nehmen müßten, weil die Dame uns gegenüber sicher auch deutsch verstehe, redete sie uns sofort mit den ohne allen Accent gesprochenen Worten an: „Ja, die Herren da drüben würden das, was ich eben gesagt habe, im Deutschen etwa so ausdrücken." Neben den französischen Stunden, die wir sofort bei einem tüchtigen Sprachlehrer nahmen, war diese Dame eine unermüdliche Lehrmeisterin .

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Sechster Abschnitt : Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

Sehr dankbar war ich ihr, als sie mir versprach, mich bei dem Dichter Heinrich Heine einzuführen, mit dem sie gut bekannt sei : Heine beſtimmte ihr auch richtig einen Tag, an dem er sie erwarten wolle ; sie erklärte mir aber, daß sie mich nur mitnehmen könne, wenn ich als ihr angeblicher Bedienter ihr den Mantel in Heines Zimmer abnehmen wolle, darauf könne ich ja auch im Zimmer bleiben ; Heine wolle absolut keinen ihm unbekannten Menschen mehr bei sich sehen, denn seine ganze Stube sei bedeckt mit weichen Matraßen, auf welchen der arme Dichter herumkrieche. Unsere Fahrt zu Heine sollte eben angetreten werden, als Madame du Chateau einen Absagebrief von ihm erhielt ; er sei zu elend, um irgend wen noch zu empfangen. So habe ich denn diesen so hochbegabten Mann, der leider auf so viele Abwege wegen seines Mangels an Vaterlandsliebe und wegen seiner unchristlichen Gesinnung geraten war, nicht zu sehen bekommen, denn nicht lange Zeit nachher starb er! Bald nach unserer Ankunft in Paris erschien ganz unerwartet auch mein alter Freund Arthur v. Wolff, welcher am Schluß einer langen Reiſe durch Spanien noch eine Woche lang in der franzöſiſchen Hauptſtadt mit uns weilen wollte. Von den vielen Erlebnissen in Paris kann ich nur wenige hier herausgreifen und nur im allgemeinen bemerken, daß wir weder in materieller noch in geistiger Beziehung Mangel gelitten haben.

Wir haben

unsere Zeit gründlich benußt und ausgekauft, und ich kann meinen Aufenthalt in Paris zu derjenigen Epoche meines Lebens rechnen, in der ich am meisten gesehen, am meisten genossen, am meisten gelernt habe. Wir haben Paris von einem Ende bis zum anderen durchstreift, wir ſind in allen Geſellſchaften gut, ja freundlich aufgenommen worden, wir haben ein Leben voll der vielseitigsten Interessen geführt, wir sind To u risten gewesen, welche die äußerlichkeiten der Weltstadt gründlichſt in Augenschein genommen ; Philologen , denn das Französische wurde nach Kräften gelesen, gesprochen und geschrieben, ja wir sprachen auch untereinander franzöſiſch, und ich schrieb französische Reiseberichte in die Heimat; Verwaltungsbeamte , denn die verschiedensten Männer und Bücher haben uns über die theoretische Leerheit, aber zugleich über die kräftige Praxis französischer Verwaltungskunst Auskunft geben müſſen ; Kunstliebhaber : den Louvre und andere Museen haben wir so oft besucht, daß die darin weilenden Aufseher uns kannten wie ihresgleichen und als ob wir seit Jahren Einwohner von Paris gewesen seien ; & esellschaftsmenschen: viermal sind wir auf den Tuilerienbällen, ungezählte Male in Privatgesellschaften und Theatern gewesen ; Muſikhörer und Musizierende : viele neue Stücke habe ich mir für das Violoncell erobert.

Leider habe ich aber auch kurze Zeit verspürt, was es

heißt, in Paris ein Kranker zu ſein ; eine arge Erkältung und die Wir-

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Paris.

kungen des ſpottschlechten Champagners auf einem Tuilerienball haben mich lange Tage in das Zimmer, ja sogar ins Bett gebannt.

Nichts ist

teurer in Paris als die Zeit ; und es ist nicht die geringste Lehre, die ich von dort mitgenommen, daß ich eben die Zeit höher anschlagen lernte, als dies früher meinerseits geschehen war. Unter den vielen Geſellſchaftskreisen, die wir besuchten, empfohlen durch eine Menge von Briefen, u. a. des Ministerpräsidenten v. Manteuffel, Alexanders v . Humboldt, der Generalin v. Luck in Potsdam, hebe ich nur folgende kurz hervor :

Der damalige preußische Gesandte Graf

Haßfeldt lud uns sofort zu Diners und Abendgeſellſchaften ein, in denen es steif genug und sehr nach franzöſiſchem Zuſchnitt herging. Er war verheiratet mit einer Tochter des Marschalls Castellane, den wir auch dort kennen lernten, und wir hatten den Eindruck, daß wir uns nicht in einer preußischen, sondern in einer echt Pariser Familie bewegten.

Auch die

ſonſt ſehr netten Kinder hatten keine Ahnung davon, daß sie Preußen ſeien. Als ich ihnen zu Weihnachten einige Schachteln bleierner Soldaten mit preußischen Uniformen schenkte und ihnen dieſe Uniformen erklärte, war die Mutter wenig erbaut davon, während der Vater seine Freude darüber aussprach, daß die Kinder auf diesem ihnen bis dahin ganz unbekannten Gebiete belehrt würden. Sehr bedeutsam war es mir, daß der Graf Haßfeldt, wie übrigens auch die anderen preußischen Geſandten, die ich auf meiner Reiſe kennen lernte, mir zugab, daß die Erziehung der Kinder eines preußischen Diplomaten im Auslande gerade in der Beziehung recht traurig sei, weil die Kinder ihr Vaterland nicht kennen lernten und darum leicht wie Expatriierte aufwüchsen. Es ist dies einer von den Gründen geblieben, die mich schon damals bedenklich machten, die Laufbahn eines Diplomaten zu betreten.

Wir trafen in dem Gesandt-

schaftshotel mit vielen französischen Miniſtern und Generalen zuſammen, so auch mit dem damaligen Generalmajor Canrobert, der später so berühmt und Marschall wurde ; er war passionierter Raucher und über die Maßen dankbar, als ich ihm nach einer Haßfeldtschen Geſellſchaft Zigarren anbieten konnte, die er nicht bei sich hatte.

Seine Empfehlungsbriefe nach

Algier hin, wo er früher gestanden, sind uns später sehr nüßlich geworden. Es waren in Paris sechs preußische Offiziere auf zwei Jahre kommandiert, nur um Französisch zu lernen, darunter namentlich der Leutnant Strubberg (jezt General der Infanterie) , der Leutnant v . Loë (jezt Generaloberst) , der Major v. Hahnenfeld (als Divisionskommandeur in Danzig gestorben) , und wir trafen oft mit ihnen zusammen . Wir fragten uns damals wohl mit Recht, warum schickte unsere Regierung nur Offiziere nach Paris und verſieht sie mit Reisekosten und Diäten ? Warum nicht auch Regierungsbeamte ? Warum nicht uns , die wir die Lust und den Trieb dazu hatten, und die wir aus unseren Privat-

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Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

mitteln das teure Leben in Paris bestritten, ja jogar den Urlaub dazu erſt von Seiner Majestät selbst erhalten konnten ? Mangelt es uns nicht gerade an solchen Beamten, die sich in der Welt umgesehen haben und unter Erlernung der fremden Sprache sich mit den fremden Zuständen und Einrichtungen bekannt gemacht haben ? Können nicht gerade Regierungsbeamte einen solchen Schaß von Erfahrungen ebenſogut wie Offiziere für unser preußisches Vaterland verwerten ? Gott sei Dank, ſo jagten wir uns schon damals, können unsere militärischen Friedenseinrichtungen kaum besser sein, als sie sind, es gibt nur wenig darin zu verbessern ich meine nur wenig im großen ganzen, wenn auch viel im einzelnen. Alle anderen Völker können, was das Militär betrifft, nur von uns lernen, nicht umgekehrt. Diese Meinung wurde uns auch von den preußischen Offizieren in Paris bestätigt. Wie nüglich könnten sich aber Regierungsbeamte durch längeres Studium im Auslande machen ; wie viel größer ist das Feld der Vergleichung ; wie viel konnten wir gerade damals von Frankreich lernen, was die umsichtige Venußung der Umstände und eine kluge Behandlung eines auffäſſigen Volkes betraf ; wie viel mehr noch von England in Bezug auf die Gediegenheit und Dauerhaftigkeit mancher dortigen Einrichtungen ! Wie wunderbar war mir zu Mute, als mir unser großer Bismarck in einem längeren Gespräche 14 Jahre nachher den obigen Gedankengang als den seinen darlegte und sich dabei über den Mangel an brauchbaren, in der Welt herumgekommenen, in fremden Sprachen bewanderten Regierungsbeamten beklagte. Allerdings, so war auch Bismards Meinung, müssen solche jungen Männer in das Ausland geschickt werden, welche sich durch einen längeren Aufenthalt daselbst nicht „ umnationalisieren“ lassen . Wie viel Deutsche haben wir nicht in Paris getroffen, die vollständig Franzosen geworden waren und noch dazu Franzosen von der schlechtesten Sorte. Graf Haßfeld führte uns auch bald bei Hofe ein. Freilich wurde der Napoleonische Hof in vielen Pariser Gesellschaftskreisen nicht als solcher anerkannt.

Unſere Einführung verlief denn auch geradezu komisch.

Wir

erschienen natürlich in unseren kleidjamen Kavallerieuniformen, und es schlossen sich uns sofort zwei riesig große österreichische Offiziere in ihren ebenso kleidjamen, weißen Uniformen als stete Begleiter bei den Hoffesten an. In einem großen Saale der Tuilerien wurden die Mitglieder der verschiedensten Völfer Europas und Amerikas in Gruppen aufgestellt, an deren Spitze der betreffende Gesandte stand, welcher nachher die Vorstellung übernehmen sollte.

Das Benehmen und die Gesichter der Na-

poleonischen Kammerherren, welche diese Aufstellung zu ordnen hatten, waren solche von Leuten, die mit einem derartigen Geschäft wenig vertraut und von untergeordneter Herkunft waren.

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Paris.

Der Oberkammerherr stieß mit dem Stocke auf den Fußboden, die Tür öffnete sich : Napoleon und Eugenie traten herein ! Sie führten sich mit hoch erhobenen Armen, wie ein Paar, das in der Polonaise einherschreitet. Die Schleppe der Kaiſerin wurde von Pagen getragen, die Hofdamen und Adjutanten folgten. In diesem Augenblick holten sich mehrere Engländer und Amerikaner Stühle herbei und bestiegen dieselben, um von der Höhe herab die ganze Szene beſſer überblicken zu können ; auch Operngucker wurden benut. Napoleon, klein von Statur, war nur ebenso groß wie seine Gemahlin, die mittlere Größe hat. gann .

Die Vorstellung be-

Mit uns sprach Napoleon nur deutsch und zwar recht geläufig

und ohne Accent.

Als ich ihm mein Erstaunen über sein vortreffliches

Deutsch ausdrückte, meinte er, daß sein Lieblingsaufenthalt in der deutschen Schweiz in Arenenberg, unweit des Bodensees gewesen sei, und darum ſpreche er wohl etwas schweizerisch. Sein Gesichtsausdruck und ſein ganzes Wesen waren wenig einnehmend : die Augen waren durch die fast stets gesenkten Lider so verhüllt, daß man ihre Farbe nicht erkennen konnte. Der Schnurrbart war künstlich zuſammengedreht. Um den zuſammengekniffenen Mund spielte fortwährend ein nervöses, frostiges Lächeln, und es schien immer, als ob er gähnen wolle.

Er trug die Uniform eines

französischen Generals und auffallend, faſt türkisch, weite rote Hoſen. Die Kaiſerin, welche mit großer Sicherheit auftrat, erschien mir nicht so blendend schön, wie sie mir vorher immer geschildert worden war ; aber einen lieblichen und weiblichen Eindruck machte sie doch. Da mir viel von ihrem früheren Leben als Gräfin Montijo bekannt war, jo fiel mir, als ich ihr gegenüberſtand, das alte Sprichwort ein : „ Stille Waſſer ſind tief. “ Nachdem sie mehrere gleichgültige Fragen an uns gerichtet hatte, kam neben uns ein Attaché der preußischen Gesandtschaft, ein Prinz C. an die Reihe: où est donc votre soeur à présent ?" " Elle est mariée " , antwortete er, aber sie je le sais ! " und ging weiter. Unser Gesandter war außer sich über die Antwort ſeines Attachés, die ja doch auf ihre Frage nicht gepaßt habe.

Ich führe diesen Fall nur an, um zu zeigen, mit welcher Ge-

nauigkeit die junge neue Kaiſerin ihre Unterhaltung zu pflegen liebte. Sie trug ein schwarzes Kleid und über die Brust ein violett und weißes Ordensband vom „ Goldenen Vließ“. Ihr schönes Haar, für eine Spanierin auffallend hell und fast blond, war geschmackvoll und bescheiden. mit Diamanten geschmückt. Sie ſah angegriffen, ja gelangweilt aus, was uns nicht wundernahm, neben einem solchen Mann ! Bei späteren Einladungen

zu Hofe" hatte ich auch noch mehrere Ge-

spräche mit Napoleon . Er erfundigte sich dabei mit großer Liebenswürdigfeit, wie es uns in Paris gefalle, wie lange wir bleiben wollten, wie unsere Stellung als Landwehroffiziere sei ; denn für das Institut der Landwehr habe er eine besondere Vorliebe und würde es gern in Frankreich ein-

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Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

führen zc.

Ja, auf dem lezten Balle fragte er zu meinem Erstaunen,

ob wir wirklich nach Algier reisen wollten ; denn es war mir rätselhaft, woher er diese unsere Absicht erfahren hatte. Für die Hofbälle war immer eine übergroße Zahl von Einladungen ergangen, so daß die Säle zum Erdrücken voll und für die tanzenden Paare kaum Platz war. Die Kaiſerin tanzte gern und viel. Man erzählte mir folgende Anekdote. Se non era vera, era ben trovata, denn sie bezeichnete plastisch das kaiserliche Ehepaar.

Nach einem Ball, auf dem die Kaijerin

viel und über ihre kaiserliche Würde hinaus getanzt hatte, ſtand das Ehepaar vor einem großen Spiegel, und er, verstimmt und an dem Abend besonders ärgerlich, fragte sie: " Quelle différence y a - t - il Elle : Je ne sais pas.

Lui:

entre

vous

et

ce miroir?

Je vous le dirai : il réfléchit

Elle : Mais quelle différence y a - t - il entre ce miroir et vous ? Lui : Je ne sais pas. Elle : Je vous le dirai : il est poli !" Ein Besuch des Kaiserpaares in dem großen Opernhauſe gab uns zu Beobachtungen Anlaß, die ganz anderer Art waren als die, welche wir in Berlin bei ähnlichen Gelegenheiten zu machen gewohnt waren . Eine große Menge von Polizisten zu Fuß und zu Pferde bewachten die Boulevards, auf denen entlang der kaiserliche Wagen, geleitet von einer Menge von Kavallerie, dahinfuhr. Kein Wagen durfte halten, kein Fußgänger stille stehen, und auch an den Straßenecken waren noch Schildwachen aufgestellt. Das Publikum zeigte sich sehr unzufrieden mit dieſen Maßregeln; fortwährend hörten wir scharf mißbilligende, ja jarkaſtiſche Äußerungen darüber, und es wurde geschrieen : Ah, c'est bien arrangé, ça ! "

„ Ah, voilà sa majesté !

Es war, als ob ein fremder Tyrann oder

feindlicher Sieger sich vor der Menge zeigte. Auf einem Feste in den Tuilerien trat ein junger franzöſiſcher Generalstabsoffizier an mich heran mit der Frage, warum wir denn immer mit den österreichischen Offizieren auf so gutem Fuße ständen, da ja doch vor kurzem erst ein Krieg mit Esterreich nur mühsam vermieden und für die Zukunft doch unvermeidlich sei ; das Richtige für uns Preußen wäre. doch nur, uns mit Frankreich zu verbünden und mit vereinten Kräften in Österreich Ordnung zu schaffen.

Auf diese unverschämte Anrede bin ich

natürlich die gehörige Antwort nicht schuldig geblieben. Als ich im Jahre 1855 zur großen Ausstellung wiederum in Paris war, sollte der Thronfolger geboren werden.

Durch Zufall wurde ich

Ohrenzeuge von den unehrerbietigsten Bemerkungen und den schlechtesten, unerzählbaren Wißen, welche auf die Kaiſerin von gemacht wurden.

vornehmen“ Herren

Paris.

157

Welch namenloses Unglück hat doch das franzöſiſche Volk mit ſeinen Herrscherfamilien erlebt !

Ich hatte damals den Eindruck, daß der Thron

Napoleons über kurz oder lang umgestürzt werden würde, wie ich denselben Eindruck auch 1846 in Paris gehabt hatte, als ich den König Louis Philipp wiederholt in Paris gesehen und ihn bedauern mußte, weil mir die Dynastie der Orleans nicht fest gegründet erschien. Als wir einst nach einem Fest in den Tuilerien spät aufgestanden waren, suchte ich nach einer Morgenzigarre, aber vergebens ; alle meine herrlichen Bremer Zigarren, die ich mit Mühe über die belgiſche und frandenn die franzöſiſche Zigarre war schlecht zösische Grenze gebracht hatte und furchtbar teuer- sie waren nicht aufzufinden. Bei weiterem Suchen vermißte ich meine eben erst gekauften 15 Paar Handschuhe, und noch viel schlimmer sah es in Keudells Kommode aus, die von einem liebenswürdigen Unbekannten ihres ganzen Inhalts an Wäsche, Westen 2c . beraubt war. Der Portier des Hauſes ſagte aus, daß um 8 Uhr morgens ein gut gekleideter Mann nach meiner Wohnung gefragt habe, daß er die Treppe hinaufgeſtiegen, aber von niemand beim Herausgehen bemerkt worden sei. Die uns gestohlenen Gegenstände hatten einen Wert von mehreren hundert Franken, aber unsere Laune, die immer die heiterste war, wurde auch hierdurch nicht getrübt, denn wir waren glücklich, daß unser bares Geld, unsere Kreditbriefe, unsere goldenen Uhren und Ketten, die unter unseren Militärmüßen neben unseren Betten lagen, nicht gefunden waren. Wie war es dem freundlichen Herrn, der mich hatte besuchen wollen, möglich gewesen, uns in unserem Beisein, aber unter Benußung unseres festen Schlafes so arg zu plündern ? Auf der Polizeipräfektur wurde ein langes Protokoll über die uns gestohlenen Gegenstände aufgesezt, aber wir haben niemals auch nur ein Stückchen davon wiederbekommen. Während meiner kurzen Anwesenheit auf dem Polizeibureau erlebte ich eine Menge von interessanten Szenen, so kam z . B. eine Mutter, welche ihr dreijähriges Kind seit 24 Stunden verloren hatte ; ein Herr, welcher den Selbstmord einer seiner Verwandten anzeigte ; ein Geistlicher, welcher ein mit Gold gespicktes Portemonnaie auf der Straße gefunden hatte und es abgab ; vier kaum zwölfjährige Bengel, welche eine förmliche Diebesbande bildeten und in flagranti erwischt worden waren 2c. Das äußerlich so glänzende Paris rollte sich bor meinen Augen auf als eine Stadt voll Unglück und voll Verbrechen ! „Sie haben keine Ahnung “, das waren die Worte des Polizeipräfekten, „von der Verworfenheit des größten Teils der Einwohner von Paris ; wenn die Polizei hier nur einen Tag, oder auch nur eine einzige Stunde die Augen zumachte, so würden Sie auf den öffentlichen Plägen bei hellem Tage Mord und Todschlag erleben."

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Sechster Abschnitt: Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

Kurze Zeit nach meiner Rückkehr von der Polizei besuchte mich der evangelische Pfarrer Meyer, welcher damals einen bedeutenden Ruf nicht nur in Paris, sondern auch in allen christlichen Kreisen in Frankreich und Deutschland genoß.

Auch er zeichnete mir ein ergreifendes Bild von

der Sittenverderbtheit, die in Paris herrsche, und rief aller Orten die christliche Barmherzigkeit auf, Hilfe zu schaffen. Er gründete damals eine Schule und ein Rettungshaus für die Kinder der ärmsten evangelischen Familien, welche meistenteils Deutsche waren und als Gaſſenkehrer auf den Pariser Straßen ihr trauriges Brot verdienten.

Auch ich veranstaltete

damals Sammlungen zu diesem Zweck, soweit meine Kräfte irgend reichten; auch rief ich die Hilfe unseres preußischen Gesandten an, der mir aber versicherte, daß das Betreiben der inneren Mission durchaus nicht seine Aufgabe sei und daß er schon einmal im Mai 1853 über die traurige Lage der vielen Tauſende von Deutschen in Paris einen Bericht nach Berlin erstattet, aber keine Antwort erhalten habe. Welch eine wunderbare Fügung war es, daß mein Vetter Friedrich Bodelschwingh einige Jahre nachher für diese ärmsten Gassenkehrer eine evangelische Kirche, ein Schulhaus und Pfarrhaus auf dem „ grünen Hügel" erbauen konnte! Und wie hat Gottes Segen dieses Werk gefördert und beschüßt, daß ſelbſt bei der Belagerung von Paris 1870/71 diese deutschen Einrichtungen von den Franzosen geschont wurden, während sie doch alles Deutsche gründlich zerstören und ausrotten wollten. Auf den Besuch der Theater in Paris verwendeten wir, schon der Sprache wegen, viel Zeit und Fleiß ; wir besuchten alle Theateraufführun gen, die damals die Pariſer Geſellſchaft in Erstaunen ſetzten, so z . B. die „Sieben Wunder der Welt" im Theater St. Martin, ein ganz verrücktes Stück, aber mit jo prachtvollen Dekorationen, wie ich sie nie wieder gesehen ; die ,,Trois filles de marbre", ein Stück, das einen gewiſſen moralischen Hintergrund hat, indem es die höllische Macht des Geldes über die Sittlichkeit der Evastöchter geißeln will. Nach dem Prolog hat Phidias die Statuen der drei Grazien soeben vollendet, Alcibiades verliebt sich in diese Statuen und will sie dem Bildhauer abkaufen, der sich aber nicht von ihnen trennen mag. In dem heftigen Streit zwischen beiden um den Besit der Schönen erscheint Diogenes mit seiner Laterne und schlägt vor, daß er die Statuen selber fragen wolle, wem sie am liebsten gehören möchten ; ob dem, welchem sie ihr Leben verdankten, welcher sein Herzblut für sie lassen wolle, dem Phidias, oder dem, der nur Geld für sie übrig habe und bei dem sie in üppiger Umgebung glänzen würden, dem Alcibiades . Als Diogenes seine Frage geendet, wenden die drei Statuen zu Phidias' Staunen und Schrecken ihre Köpfe dem Alcibiades zu .

In den nun folgenden fünf Akten des Stücks

wird diese selbe Idee in die moderne Wirklichkeit hineingetragen.

Paris.

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Da dieses Stück die Pariser Halbwelt doch zu sehr kränkte, so machte sich Alexander Dumas daran, ein Gegenstück zu schreiben, welches die Halbwelt entzückt hat, denn darin wird eine ganz sittenlose Donna faſt als eine Heilige geschildert, deren Handlungen nur in ihrer wahren und reinen Liebe ihr Motiv haben. Am Schluß dieses Stücks, betitelt ,,La dame au camélia “, mußte die berühmte Schauspielerin, welche die Titelrolle gab, einen ganzen Akt hindurch sterben und sie machte das so naturwahr, daß alle Zuhörer rings um uns herum bittere Tränen vergossen, ſie ſelbſt aber, mitten in ihrem Schluchzen und Todesröcheln, sagte leiſe zu dem nahe bei ihr hinter den Kulissen stehenden Vater des Stückes Mir. Dumas : „Cochon, qu'il faut jouer chaque jour ta pièce, oh ! qu'il faut mourir cent fois ! " Freilich hatte die Ärmſte noch mehr als hundertmal dieselbe Rolle faſt täglich spielen müſſen, und immer war das Haus ausverkauft gewesen. Der Pathos, welchen französische Schauspieler und Schauspielerinnen in ihre Rollen hineinlegten, war uns oft geradezu widerlich, ich erwähne nur als Hauptbeispiel davon, in welcher Weise die berühmte Schauspielerin Rachel die Jungfrau von Orleans darstellte.

Das Stück selbst war nach

dem Schillerschen geradezu verballhorniſiert, und Jeanne d'Arc schrie von vornherein so gewaltig, daß sie im lezten Akt ganz heiser geworden war, trozdem war das französische Publikum in den ärgsten Enthusiasmus verfallen. Die französische Sprache ist entsetzlich arm gegenüber dem Reichtum unserer deutschen, und doch hat sie eine Menge von Vorzügen. Ihre Armut trat mir beſonders entgegen, als ich eine berühmte Rede des bekannten Professors Stahl über Friedrich Wilhelm III . mit Hilfe meines französischen Sprachlehrers überseßte.

Die herrlichsten Gedanken trägt

Stahl in einer hinreißenden und bilderreichen Sprache vor, ich stieß sofort bei den ersten Säßen Stahls auf große Schwierigkeiten. Wie sollte ich z. B. folgende Säße Stahls in gutem Franzöſiſch wiedergeben : „Zur Gedächtnisfeier des königlichen Stifters unserer Hochschule (in Berlin) ist es mein Vorjaß, ein einheitliches Bild ſeiner ganzen Regierung, wie es in seinen großen, die inneren Beweggründe abſpiegelnden Zügen mir vor der Seele steht, zu geben. Der König Friedrich Wilhelm III . gründete das Staatsbürgertum in Preußen, das ist der Kern seiner Reformen! Das ist nicht Zerstörung geschichtlicher Zustände, sondern Herausbildung des Menschen aus geschichtlicher Unvollkommenheit oder Verküm merung nach dem Zuſtande hin, wie er aus Gottes Hand hervorgegangen, wieder in Gottes Hand zurückgehen soll ." Auch mein Lehrer konnte keine gute französische übersetzung für solche Gedanken finden ; er war entzückt von Stahls Ideen, konnte sie aber in seiner eigenen Sprache nicht wiedergeben .

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Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

Dabei ist aber das Französische die weitaus geeignetste Sprache, um eine niedliche Unterhaltung oder ein pikantes Geschwät zu führen und immer in einem Tone, als ob es sich um die ernſteſten und wichtigsten Fragen handele, und sie zeichnet sich außerdem aus durch eine vollkommene Präzision ihres Satbaues und ihrer Perioden und vor allem durch die Klarheit aller Ausdrücke, welche sich auf das politische und diplomatische Leben beziehen. Das ist auch der Grund , weshalb das Französische Weltsprache geworden ist. Bei einer großen öffentlichen Feier am 7. Dezember 1853 hatte ich Gelegenheit, mich an den eben gerühmten Eigenschaften der französischen Sprache zu erfreuen : Die Statue des Marschalls Ney ſollte auf dem Plate im Garten des Palais de Luxembourg, auf welchem er 1815 erschossen worden war, enthüllt werden. Der Kriegsminister und nach ihm derselbe Advokat Dupin, der Ney im Jahre 1815 verteidigt hatte,. hielten hier Reden, die muſtergültig für die Schönheit der franzöſiſchen Sprache waren. Als ich am folgenden Tage der Bitte folgte, diese Reden vor der großen Tischgesellschaft in unserem Hotel vorzulesen, war alles tief ergriffen, ja, ein alter Oberst, der Ney noch gekannt hatte, drückte mir seinen Dank in herzbewegenden Worten aus, ja, sogar seinen Wunsch, daß die Preußen und Franzosen für alle Zukunft vereinigt bleiben müßten !, ein Wunsch, den ich in meinem Herzen nicht teilte, und der später auch nicht in Erfüllung gegangen ist. Vor jener Statue Neys jah ich auch das erstemal eine große Parade aus allen Truppenteilen der französischen Armee.

Welch ein Unterschied

einer französischen Parade gegenüber einer solchen auf dem Opernplay zu Berlin, oder dem Lustgarten zu Potsdam ! Zuerst fiel mir die Rolle auf, die das große Publikum bei solchen Gelegenheiten in Paris spielt ; es gibt laut seine Bemerkungen kund, seine Beifallsäußerungen, seine Scherze, ja sogar seinen Spott.

Es mag nun das Urteil des Publi-

kums wahr oder falsch sein, es hat immer eine große Bedeutung, denn es kommt in die Zeitungen und macht Eindruck auf das ganze franzöſiſche Volk. Ferner vermißte ich jegliche Direction, jegliche feſte Haltung, ja sogar die Sauberkeit der Truppen, kurz, jede von den Hauptbedingungen, ohne die ein stehendes Heer bei uns nicht gedacht werden kann.

Freilich

zeichnet die französischen Soldaten eine große Behendigkeit und schnelle Auffassung aus und sie bleiben darum gewiß die besten Tirailleure der Welt ; obwohl sie nicht wie unsere Rekruten ausgebildet werden, konnte ich mir damals schon vorstellen, daß eine französische Armee einen Krieg fast ohne Offiziere und ohne Korporal gegen manche Feinde siegreich führen könne, weil fast jeder einzelne Soldat eine großartige Energie, auch unabhängig von den Befehlen seiner Vorgesetzten, zu entwickeln vermag . Aber eine bedenkliche Schattenseite wurde mir schon damals von

Paris.

161

allen Sachverständigen mitgeteilt, daß nämlich die ganze franzöſiſche Armee mehr oder weniger demokratisiert und darum demoralisiert sei. Es ist dies kein Wunder gegenüber dem Verlauf der ganzen franzöſiſchen Geschichte bis auf die Neuzeit. Dazu kommt, daß der Offizierſtand, damals wenigstens, zum geringsten Teile aus Leuten bestand , die gut erzogen oder doch in Kriegsschulen gut ausgebildet waren und die hierdurch die Stellung eines Vorgesezten gegenüber dem französischen Soldaten auszufüllen im ſtande waren. Es wurde mir damals versichert, daß fait zwei Drittel des gesamten Offizierkorps aus früheren Unteroffizieren bestehe, die zu Offizieren befördert worden wären, nachdem sie vier Jahre lang zur Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten gedient und dann eine sehr leichte Brüfung bestanden hätten. Dabei führten die Offiziere meistens ein recht trauriges Leben, sie kannten nichts als ihren Dienst und ihre Maitreſſen ; ein verheirateter Offizier galt wenig, er war aufgegeben und fast ausgestoßen aus der Gemeinschaft der anderen Offiziere. Eine große Ausnahme machten damals die Artillerie- und Ingenieuroffiziere, also die Offiziere gelehrten Waffe ", wie man sie früher bei uns nannte; selbst die höchsten Generale und Marschälle Frankreichs stammten damals aus ganz unbekannten Handwerker- oder Bauernfamilien, sie waren ,,homines

der

novi" und Emporkömmlinge (Parvenus) , wie Napoleon selbst. Der Marschall Castellane wurde mir als der einzige genannt, der von wirklich aristokratischer Herkunft wäre; der Marschall Bugeaud hatte sogar seit dem Beginn ſeiner militäriſchen Laufbahn tiefes Stillſchweigen über ſeinen aristokratischen Namen bewahrt ; denn sein wirklicher Name, als Sohn einer alten Familie aus dem Limousin, war de la Piconnerie-Bugeaud. Alle diese Notizen über das französische Heer und seine Offiziere wurden mir von preußischen Offizieren beſtätigt, die ſchon Jahr und Tag in Paris sich aufhielten. Endlich brauche ich wohl kaum des näheren zu beschreiben, wie viel Genuß wir in Paris an schöner Musik gehabt haben. Unter den berühmteren Komponisten, die wir persönlich kennen lernten, und die uns auch besuchten, befanden sich Männer wie Meyerbeer, Stephen Heller, Gouпоб 2с. Die Prinzeß Czartoryska, deren Mann von den Polen in Paris wie ein König geehrt wurde, nahm uns in ihrer fürstlichen Wohnung sehr freundlich auf und spielte uns, vereint mit dem Cellisten Franchomme, herrliche Sachen vor. Die Prinzeß war eine Lieblingsschülerin des damals vor kurzem gestorbenen Chopin und erzählte uns viel aus deſſen Leben. Besonders ausgiebig war für uns die Bekanntschaft mit den Mitgliedern eines Streichquartetts , die sich zur Aufgabe gestellt hatten, die letzten, schwer zu spielenden und schwer zu verstehenden Quartette von Beethoven der Vergessenheit zu entreißen und den echten Verehrern der Tonkunst klar und verständlich vorzuführen. v. Diest, Lebenslauf eines Glücklichen.

Die vier berühmteſten 11

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Sechster Abſchnitt: Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

Violoncellisten in Paris waren damals außer Franchomme, Chevillard, Mitglied des Beethoven-Quartetts, Seligmann und Offenbach ; ich habe sie alle persönlich kennen gelernt, der lettgenannte wurde später als Komponist der modernen „frivolen Opernmusik " hochberühmt. In den verschiedensten Familienkreisen, ja sogar in großen Abendgeſellſchaften haben Keudell und ich Duett gespielt ; man hätte uns überall für reiſende Artiſten oder Mitglieder irgend einer deutschen Kapelle gehalten, wenn uns nicht unsere gütigen Wirte immer sofort als

membres de la régence de

Sa Majesté le roi de Prusse" auspoſaunt hätten und wir daher nicht genötigt gewesen wären, dieſe Würde nach Kräften herauszubeißen . Auch in Versailles waren wir viel in Gesellschaften, und es war uns Potsdamern wahrhaft lächerlich, welche ähnlichkeit diese alte Residenz der französischen Könige mit Potsdam hat. Dieselbe Abhängigkeit von Paris, wie Potsdam von Berlin, darum ein fortwährendes Hin- und Herfahren von einem Ort zum andern, dieselbe royaliſtiſche Treue in den vornehmeren Geſellſchaftskreiſen, ja jogar der innere Gehalt der Offizierkorps derselbe, wie der in Potsdam. Vortrefflich wirkende Empfehlungsbriefe wurden uns von den Müttern der Offiziere, die damals bei der Kavallerie in Algier standen, nach Afrika mitgegeben. • Der Abschied von Paris wurde uns schwer gemacht, denn die vielen uns näher bekannt gewordenen Familien fonnten nicht begreifen, daß wir die glänzenden Pariser Salons mit den Zelten der Kabylen und Araber vertauschen wollten. Am 3. Februar 1854 traten wir indes die Reise gen Süden an ; ein Sohn der in Potsdam bekannten Familie Jacobs schloß sich als dauernder Reisegefährte uns an. Die Eisenbahn brachte uns über Fontainebleau und Mélun bis Mâcon, von wo wir die Saone herab per Dampfschiff bis Lyon fuhren. Dicht bei Mâcon liegt der Stammsiz der Familie Lamartines, der aber, wie jo vicles andere in Frankreich, aufgehört hat, der Stammsiz zu sein, weil der berühmte Träger dieses Namens alles verschwendet hat.

Die Saone hatte ich mir nicht so gewaltig groß und breit vorgestellt, auch ihre Ufer nicht so stattlich ; man baute in dem Jurakalk am rechten Ufer mit größter Emsigkeit an der Eisenbahn, welche die beiden größten Städte Frankreichs miteinander verbinden sollte. In Lyon, welches uns durch seine Ähnlichkeit mit Lüttich frappierte, bestiegen wir den Mont Fourvières mit seiner berühmten, ein wundertätiges Marienbild einschließenden Kirche und mit seiner herrlichen Aussicht bis zum Mont Blanc hin. Auch besichtigten wir in einer Seidenfabrik die unnachahmlichen Muster, in welchen die Franzosen Meister sind, wie sie denn in allem, sobald es sich um Phrase und äußeren Schein handelt, Herren sind - und solch ein Muster ist eigentlich eine Art Phrase. Die Rhone zeigte sich uns, indem wir auf ihr herabfuhren, in ihrem

Süd-Frankreich.

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schönsten Glanze : Städte und Burgen flogen an uns vorüber, und es boten rechts die Cevennen, links die Alpen immer neue wechselnde und mannigfaltige Bilder dar. Givors, Vienne (mit schöner Kathedrale), Valence und viele andere Städte zeigten sich uns in ihrer althiſtoriſchen Schönheit.

Man fliegt aber leider die Rhone schneller hinab, als viele

andere Ströme, denn die Stromschnellen sind hier und da ſo reißend, und die Fahrt stromauf so beschwerlich, daß der Fluß damals nur von Dampfschiffen befahren und die Kaufmannswaren fast durchweg per Achse transportiert wurden. Doch bei aller poetischen Schönheit dieses Teils von Frankreich möchte ich doch um keinen Preis dort wohnen ; man kann sich die Ufer der Rhone nicht fahl, ihre Berge nicht trist genug denken ; der Schnee, der von der Alpenkette herüberleuchtet, bringt allein Leben in die Landschaft; so braun und aschgrau oder gelblich, wie die Felsen, sind auch die darauf gebauten Städte und Dörfer ; jedesmal, wenn nach einer Biegung des Flusses neue Ortschaften zum Vorschein kamen, mußten wir uns beſonders darauf beſinnen, daß diese grauen Steinhaufen Menschenwohnungen seien .

Aber freilich, im Frühling und Sommer mag die

dortige Landschaft ein anderes Bild gewähren, denn wunderbar ist es, wie menschliche Betriebsamkeit auch diesem dürren Lande Früchte zu entlocken mit Erfolg bestrebt gewesen ist.

Die Uferberge sind bis hoch herauf

und troß ihrer Steilheit mit Weinreben bepflanzt, und welch herrliche Weinsorten wachsen dort.

So saßen wir denn auch bis Avignon hin auf

dem Deck unseres Schiffes und ließen uns den ,,Vin du Pays" gutschmecken; zu dem Wein wurden unsere guten deutschen Studentenlieder gesungen, und es dauerte nicht lange, so hatte sich die ganze Schiffsgesellschaft um die zuerst leiſe, aber dann immer lauter und lauter fingenden drei Deutschen herum gefchart. Avignons Türme kamen endlich zum Vorschein und im rötlichen Scheine der provençalischen Abendsonne präsentierte sich uns , graubraun wie alle anderen Rhone- Städte und doch so eigentümlich ſchimmernd, die alte Stadt der Päpste.

Wir unterbrachen unsere Reiſe auf

furze Zeit, weil wir lebhaftes Verlangen trugen, den Ort aufzusuchen, an welchem Petrarca seine Laura liebte. Vaucluse liegt, umgeben von . weißlichen Kalkfelsen, an einem Flusse, der mit seinen bedeutenden Wassermaſſen unmittelbar aus dem Berge heraustritt.

Ich habe nie wieder eine

jolche „Flußquelle“ gesehen. Daß hier auch die reiche Quelle der Poeſie viele Jahrhunderte lang hinein in alle Welt geflossen ist, umzauberte auch uns. Darum hatte ich auch meine helle Freude, als Julius Wolf sein provençalisches Gedicht „ Assalida" erscheinen ließ, in welchem er Landschaftsbilder der schönsten Art gezeichnet hat. Nachdem wir die ganze Umgegend von Avignon und Marseille, so namentlich Nimes mit seinem großartigen römischen Theater und Arles 11 *

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Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

mit dem gewaltigen Bauwerk einer Wasserleitung ,,Pont du Gard" abgesucht hatten, bestiegen wir das Schiff zu unserer Fahrt nach Afrika. Ich kam wieder, wie vor acht Jahren, nach Cette, und wir machten hart am französischen und ſpaniſchen Ufer entlang eine lange herrliche Fahrt ; in vielen Häfen wurde angelegt, so zuerst in Port Vendres am Fuß der Pyrenäen, Barcelona, Valencia, Alicante. Die Sierra Nevada mit ihrem Schnee wurde rötlich von der Abendsonne beschienen, welche zuletzt durch den Coup de Roland hindurchleuchtete, welchen der wütende Held in breiter Öffnung durch die First des Gebirges gehauen haben soll.

Die

Nacht umgab uns, als wir das europäiſche Gestade verließen, und am anderen Morgen lagen die Berge des Atlas am Horizont vor uns . Auch auf dieser Fahrt haben wir durch Gesang stundenlang alles um uns vereinigt, was sich von Menschen auf dem Schiff befand . vergeßliche Landung auf afrikanischem Boden. Hafen unweit Oran.

Nun kam die un-

Mers- el-Kebir heißt der

Wer niemals in derselben Lage gewesen, dem kann man es nicht genügend beschreiben, welch neue Welt einem aufgeht, wie der Horizont erweitert wird, eigenen Weltanschauung der wie alles rund herum , die Pflanzen, die Tiere und die Menschen, ganz anders ausschen, als man bisher gewöhnt war.

Das Dampfschiff war umgeben von zahl-

losen Canoes, von schwarzen Geſtalten geführt, das Wasser des Meeres war so klar, daß man weit in die Tiefe schauen und die Fische schwimmen sehen konnte. Jeder Tropfen des Meereswassers, der an den Rudern hängen blieb, erglänzte wie Kriſtall !

Und nun auf dem Lande die Hunderte

von Aloen und die Zäune von Kakteen und neben der Negerwelt die vielen Kamele ! Ein vortreffliches Gasthaus nahm uns in Oran auf, in welchem nur eines auffiel, daß keine Tür und kein Fenster zu verschließen war. In dem europäischen Stadtteil von Oran herrschte die spanische Sprache viel mehr als die französische ; nicht müde wurden wir, das Araber- und Negerviertel zu allen Tages- und Nachtzeiten zu durchſtreifen. Bei Vollmondbeleuchtung sah ich nicht die Reihen der Kamele, die in tiefem Schatten an den Mauern der Straßen entlang lagen. Diese Tiere sind Fremden gegen. über durchaus nicht gutmütig, und ich war nicht wenig erschreckt, als mich eins derselben mit seinen Zähnen herabzog und mitten unter die übrigen Kamele hineinbettete. Von Oran aus unternahmen wir einen sehr interessanten Abstecher über Arzeu nach Mostaganem, teils an der Meeresküste entlang, teils durch die Vorberge des Atlas . Ein Schakal lief dicht vor unserem Wagen schen über die Straße, das ist aber auch das einzige wirklich wilde Tier, was ich in Afrika geſehen habe ; nur an einem salzigen Binnensee wurden uns Spuren von Löwen gezeigt. Die Jagdabenteuer eines gewiſſen Gué-

Oran.

Mostaganem.

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rard, welche damals in Europa großes Aufsehen machten, wurden von Sachverständigen als Aufſchneidereien bezeichnet, ganz ähnlich denen des famosen Münchhauſen ; ja, Offiziere, die seit dem Jahre 1830, der franzöſiſchen Beſißnahme von Algier, in jenem nördlichen Afrika herumgefommen waren, hatten noch nie einen Löwen im Freien gesehen. Eine Gastfreundschaft ohne gleichen wurde uns von seiten der aristokratisch feinen Offizierkorps in Mostaganem zu teil ; ſie gehörten zu den imposanten Kavallerie-Regimentern „ Chasseurs d'Afrique“, jedes Regiment zu sechs Schwadronen und mit langen Gewehren bewaffnet.

Der

höchſtkommandierende General, ein Marquis de Laſtaidie, lud uns nicht bloß zu den Mahlzeiten im Offizierkasino ein, jondern gab uns auch das Schauspiel einer großen Parade der ganzen Garnison auf der glatten Tenne des Meeresufers und stellte uns die herrlichsten arabischen Pferde zu einem weiten Ritt in die Umgebung, bei welchem die Kaktushecken die schönsten Hinderniſſe boten. Auch hier war es wieder die Musik, welche uns die Herzen unserer Gastfreunde eroberte; wir mußten singen und spielen, selbst ein Cello wurde in der afrikanischen Stadt aufgetrieben, und der rauschende Beifall für Mendelssohnsche Musik und namentlich für die dort ganz unbekannten Schubertschen Lieder wollte nicht enden. Sehr rührend war uns der Besuch einer deutschen Kolonie, deren Mitglieder hauptsächlich aus der Eifel ausgewandert waren ; sie rühmten die Fruchtbarkeit des Bodens, welcher ihnen unentgeltlich überlassen war, klagten aber sehr über die tiefen Wurzeln der gelbblühenden Ginſterart , welche die ganze dortige, jogenannte Tell- Ebene bedeckt und immer wieder von neuem aus der Tiefe emporwächst und das gesäete Getreide überwuchert. Unvergeßlich wird mir der Gesichtsausdruck eines schönen deutschen Mädchens bleiben , welches in meinem Freunde Keudell ihren Bräutigam aus der Heimat bei Trier wiederzuerkennen glaubte und nun bitter enttäuscht war, einen ganz Fremden vor sich zu haben. Wir erhielten von der französischen Behörde in Mostaganem einen „Laufpaß“, welcher einen Tag vor unserer Abreise vorangeschickt wurde und allen Araberſtämmen befahl, uns bei unserem Ritte nach Maskara an vier Relaisorten je drei Reitpferde zu stellen, und pünktlich fanden wir den Sheikh eines jeden Tribus an dem befohlenen Orte mit einigen Begleitern vor, ſo daß wir immer neue Pferde besteigen konnten. Für diesen Laufpaß hatten wir nichts zu bezahlen und wir freuten uns zuerst über die auffallend billige Reise, kamen aber bald dahinter, daß bedeutende Trinkgelder von uns erwartet wurden ; mit vornehmer Miene und ohne ein Wort des Dankes steckte der Sheikh das Trinkgeld in seine Leibbinde, und wir merkten, daß die uns begleitenden Araber sofort bei der nächsten Station die Höhe des vorher gegebenen Trinkgeldes ihren Landsleuten meldeten; je mehr wir gaben, desto schneller wurde das Tempo auf un-

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Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

serem Weiterritt bemeſſen. Der arabiſche Sattel ist bei eng anſchließender europäischer Kleidung ein höchst unbequemer Sit, denn er besteht unten aus einem viereckigen Brett mit ziemlich scharfer Kante, aus einem anderen Brett, welches vorne bis beinahe an die Brust und aus einem dritten, welches hinten bis fast an die Schultern reicht ; bei arabiſcher, faltenreicher Tracht mag diese Art Sattel ganz bequem sein, wir aber merkten bald, daß wir bei dem langen Ritte uns an verschiedenen Teilen unseres Körpers durchritten. Wie bei unserem ganzen Aufenthalt in dieser eroberten Provinz, so auch bei dieſem kurzen Abstecher in die Berge des Atlas, hatten wir den Eindruck, daß der Araber in seiner vornehmen, ja faſt aristokratiſchen Erscheinung sich nach wie vor als den Herrn des Landes und die Franzosen und damit alle anderen Europäer als unberechtigte Eindringlinge betrachtet. Ich könnte in der Tat eine Menge von Beobachtungen mitteilen, nach welchen das französische Volk und seine Regierung sich recht schlecht auf die Verwaltung einer Kolonie verstehen, denn fast ein Vierteljahrhundert war verstrichen, seitdem sie in Algier eingedrungen, und noch recht wenig hatten sie erreicht. Endlos erschien uns der Werg durch die Tell - Ebene mit ihrem gelben Meere von blühenden Ginſterſtauden, aus welchen hier und da die Köpfe wild weidender Pferde und Kamele herausragten. Das Atlasgebirge lag immer vor uns und wollte nicht näherkommen, obwohl wir im scharfen Trabe, ja sogar oft im Galopp dahinritten; unsere Pferde waren sehr klein, ja sogar schwächlich, und doch hatten sie alle eine wundervolle Gangart und Ausdauer. Besonders auffallend war es , daß die uns begleitenden Araber uns bei derselben Gangart immer weit voraus kamen, und wir glaubten dies auf den Umſtand zurückführen zu dürfen, daß sie uns die schlechteren Pferde gegeben, ſelbſt aber die besseren bestiegen hatten. Dies war aber ein Irrtum, das Richtige war vielmehr, daß die Araber mit dem langen Stachel, den sie an dem Hacken statt der Sporen trugen, fortwährend an den Weichen des Pferdes hin und her streiften und dadurch dieſes zu schnellerer Gangart anfeuerten, während wir nur selten unsere Sporen gebrauchten. Jenseit der zweiten Atlaskette trafen wir zu unserer überraschung auf einen großen Marktplag mitten zwischen Bäumen und Büschen ; hier hatte sich eine Menge von afrikanischem Volk von weither zuſammengefunden, um Südfrüchte aller Art, Schafe, Pferde und Kamele zu kaufen oder zu verkaufen. Sier bet ich einem Araber Geld an, wofür er mir die Erlaubnis geben sollte, meinen ersten Kamelritt auf seinem Tier vorzunehmen, er sah mich aber verächtlich an und wies mich nur auf einen nicht fern davon stehenden, auch arabisch gekleideten Mann mit dem furzen Worte ,,Juif!".

Jest erst erkannte ich die jüdischen Gesichtszüge

Algier.

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dieses Mannes und wurde wiederum inne, daß dieses wunderbare Volf der Juden unter allen Völkern der Erde verbreitet ist, sich völlig an die Sitten und Gewohnheiten des Volkes, in dem sie leben, anzuschmiegen versteht und doch seinen eigentümlichen Volkscharakter beibehält.

Nach

einem kurzen Handel bekam ich auch sofort das Kamel des Juden zu dem von mir gewünschten Zweck, zu welchem der echte Araber sein ihm heiliges Tier nicht hergeben wollte.

Auch die Erzählungen des alten Testaments

über das Leben Abrahams und seiner Nachkommen mit ihren Heerden wurde mir hier inmitten des arabischen Volkes viel klarer und deutlicher vor die Augen geführt, als ich es bisher begriffen hatte; denn auch hier haben die Araber keinen festen Wohnsiz, sondern schlagen ihre Zelte auf und brechen sie wieder ab, je nach der Futtermenge, welche ihre Heerden an der betreffenden Stelle finden. Und welche Redlichkeit und Treuc, ja welche Gastfreundschaft herrscht in diesen Zelten! Spät abends endlich in Maskara angekommen, mußten wir uns vom Pferde heben lassen, so steif waren wir von dem langen Ritt geworden. Aber leider wurden wir auch inne, daß eine weitere Reise bis zur lezten. Atlaskette und bis zur Wüste Sahara hin für uns unmöglich war, weil die Bildung einer Karawane oder das Abwarten einer solchen uns zu viel Zeit gekostet hätte.

Ja sogar den Abstecher

nach der

altberühmten

Königsresidenz Tlemcen, an der marrokanischen Grenze, den wir beſtimmt uns vorgenommen hatten, mußten wir aus demselben Grunde unterlassen. Nach einer langen Postfahrt kamen wir nach Oran zurück und fuhren nun mit dem Dampfschiff nach Algier ; auch dort fanden wir durch unſere Empfehlungsbriefe die freundlichste Aufnahme in den Privatfamilien, machten die lohnendſten Ausflüge nach Blida und Medea, sahen dort das berühmte Gestüt echt arabischer Vollblutpferde, besuchten das romantische Tal des Sheliff, in welchem uns eine ziemlich starke Herde von kleinen braunen Affen, die von Baum zu Baum sprangen, uns wütend anfletschten und mit Steinen warfen, höchlichst ergößte. In dem großartigen Hotel zu Algier, das sich namentlich durch die herrliche Aussicht über Stadt, Hafen und das weite Meer auszeichnete, sezte sich ein Herr bei unserer Mahlzeit zu uns und lud uns ein, mit ihm zu der

gottgefälligen“ Andacht einer Mohammedanerjefte zu gehen, deren

Anhänger glühendes Eiſen in den Mund nehmen, giftige Schlangen und Skorpione verspeisen, auf scharfen Schwertern Tänze verüben 2. Als der Herr fortgegangen, teilte uns der Hotelwirt mit, daß dies der vertriebene Herzog von Braunschweig sei, der lange und oft in Algier sich aufhalte. Wenige Wochen vorher hatten wir denselben Herrn noch auf den napoleonischen Bällen in Paris gesehen und zwar gekleidet in einem Frack, deſſen Nähte mit den seltensten Diamanten bejäet waren.

Jezt steht seine

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Sechster Abschnitt : Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

Statue in Genf! entsetzlich arm !

Was für ein überreicher Mann war er und doch so

Von Algier ging es nun in ſtürmischer Seefahrt nach Marſeille zurück, aber von der Seekrankheit blieb ich auch diesmal, wie auch immer in späteren Jahren, verschont. Marseilles schönen Hafen, seine aschgrau-gelbliche Häuſermaſſe, ſeine mit Olivengärten und Villen bedeckten Umgebungen, die Art von Landkarte, die man von der Wallfahrtskapelle Ste. Vierge de la Garde aus übersieht, einen großen Karnevalszug mit bunten Masken und Koſtümen zum Besten der Armen !" (eine andere Art Wohltätigkeitsbazar) , alles das hatten wir in der Zeit von anderthalb Tagen in Marseille geſehen, als wir am 1. März nachmittags auf dem Schraubenschiff „ Newa" in See stachen.

Das Meer war spiegelglatt, die Sonne ging prachtvoll rötlich in

die bleigraue Waſſerfläche unter, die Inseln, südlich von Marſeille hoben sich aus diesen Farben wunderbar heraus ; das Meerschloß Monte Christo sowie die grotesken Felsfiguren der provençalischen Küste traten uns wie Nebelgespenster und doch deutlich entgegen. Wer kennt nicht eine solche Abendbeleuchtung nach Sonnenuntergang auf dem Meere! Der Phantaſie ist dabei ein weiter Spielraum gelaſſen : Das Meer scheint eine solche Beleuchtung länger festhalten zu können, die nackten, grauen Felsen aber schienen auch ohne Sonne glänzen zu wollen. In einem kleinen Golf, östlich vom Kap Margion, erhielten wir durch einen an sich unwillkommenen Zwischenfall Zeit, diese Beobachtungen länger fortzusehen. Vier Zähne, hölzerne Zähne ( ! ) , des Hauptrades der Maschine, das unmitelbar dazu beſtimmt ist, die Schraube in Bewegung zu setzen, waren aus heiler Haut gebrochen, und wir blieben drei volle Stunden in der Nähe der unwirtbaren Küste halten, bis die gebrochenen Zähne durch neugezimmerte ersetzt waren. Mit sämtlichen übrigen Passagieren wurden wir inne, daß wir uns auf einem erbärmlich schwachen, zu einer Seefahrt ganz untauglichen Schiffe befanden, das nur durch seine äußere Erscheinung für sich einnahm . Bald sollte sich zeigen, daß wir entsetzlich betrogen waren : Das Schiff hatte eine Maschine, nicht etwa von hundert, wie man uns geſagt, ſondern nur von vierzig PferdeDer Kapitän war wegen Krankheit nicht an Bord, und einen wahren Dummkopf von Leutnant hatte man an seine Stelle gesezt ; Kohlen waren nur für 30 Stunden an Bord, obwohl die Fahrt bis Genua

kräften.

bei bestem Wetter mit einem so schwachen Fahrzeuge 22 bis 24 Stunden in Anspruch nahm. Erst spät am Abend jezten wir uns endlich gen Often weiter in Bewegung. Die Gesellschaft der Passagiere beſtand aus einem Gemisch von allerlei wunderlichem Volke. Ein Bibliothekar aus Athen dünkte sich entschieden der Vornehmste ; er war weit gereist, Besizer vieler Orden, auch

Meeresfahrt von Marseille aus.

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des preußischen Roten Adler-Ordens dritter Gattung, vielgesprächig, wenn auch manchmal langweilig. Er versprach uns viel und prahlerisch, von welchem Nuzen er uns in Athen sein werde. Da war ferner ein ,,Courtier impérial“ aus Marſeille, gewandt und pfiffig, höchſt komiſch während seiner Seekrankheit ; seines ganzen Weſens wegen legten wir ihm den Namen „Tiger" bei. Einen italienischen Freiheitshelden tauften wir den Löwen", denn ein Löwengesicht hatte er, in seinem gelben langen Rock um den stattlichen Körper ; er erschien höchſt drollig, weil er schon alt war und doch so jugendlich dumm ſchwäßte, daß bei ſeinen ernſteſten politiſchen und nichtpolitischen Reden alles in Lachen ausbrach, was er dann immer gemütlich einsteckte ; drei Wochen vorher war er erst aus Newyork abgereist. Da waren ferner zwei Engländer, seltene Exemplare, denn sie waren römisch-katholische Priester ; zwei jüdische Seeleute, welche aus Kalifornien zurückkehrten ; ein wunderhübscher junger Spanier aus New-Orleans, mit ungewöhnlich langen Augenwimpern, sehr schweigjam, wenn er aber sprach, kam ein Gemisch von englischem und ſpaniſchem Patois heraus ; ein Genueser, der unter Rojas in Buenos Aires gefochten hatte ; ein Mailänder Musiker, der mir zuerst wieder eine längere italienische Unterhaltung beibrachte ; - eine Engländerin endlich, die einzige Dame an Bord, zum Glück grundhäßlich, immer seekrank, mindeſtens 40 Jahre alt, deren Herz wir drei aber zum Unglück gewonnen hatten, weil wir die einzigen waren, die sich ihrer in ihrer trostlosen Lage annahmen. Erwähnen muß ich endlich noch einen Sous-sous-Leutnant, einen wahren Schuft, der die Hyäne in dieser Menagerie abgab und den kommandierenden Sousleutnant unter seinem verderblichen Einfluß hatte. Auch unter den Matrosen und den Passagieren der dritten Klaſſe befanden sich einige, welche vortreffliche Genrebild- oder Karnevalfiguren abgeben konnten. Von dieser Gesellschaft, welche auf der langen Reise um uns herum leibte und lebte, hätte ich die schönsten Bilder malen können, wenn Das Schiff strich schlank, wie es ich ein Maler gewesen wäre. war, bei leichtem, nach und nach stärker werdenden Wellengekräusel durch die See ; das Land war von der Nacht umschleiert, nur ab und zu wurde ein Leuchtturm sichtbar ; wir freuten uns bis tief in die Nacht hinein an dem phosphoreszierenden Leuchten des von dem Schiffskiel fortgestoßenen Waſſers . Bei Morgengrauen wurde ich zwar gewahr, daß die Wellen heftiger geworden, kräftiger Schlaf aber umfing mich fest in der kleinen warmen, von etwa 15 Schlafenden bevölkerten Kajüte, bis ich bei Aufgang der Sonne bemerkte, daß das Vorderteil unseres Schiffes sich nicht gen Osten, sondern nach Westen zu bewegte, denn die schrägen Morgenstrahlen schossen von dem Hinterteil des Schiffes her durch die Fensterchen unserer Kajüte, die sich merkwürdigerweise in der Mitte des Schiffes befand . Als ich von meinem

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Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

Lagerplaß aus meine Sonnenstrahlenbeobachtung in den verschiedensten Sprachen den übrigen wach werdenden Passagieren mitzuteilen mich bemühte, kam der stets wache Keudell vom oberen Deck herunter mit der Aufforderung, schleunigst aufzustehen, denn es sähe recht scheu um uns aus. Gleichzeitig riß eine Welle das Fenster neben meinem Bette auf und ergoß ihre salzigen morgenkalten Fluten über mein Bett und mich ſelbſt hinweg in die Kajüte hinein. Sofort war nun alles auf dem Deck verſammelt, wo wir aber auch von den sprizenden Wellen erreicht wurden. Der Kapitän hatte sich genötigt gesehen, umzudrehen, weil er gegen eine kräftige Brise, die sich zwischen dem Festlande und den Hyerischen Inseln in eine Art von Zugwind verwandelt hatte, nicht ankämpfen konnte ; er behauptete, das hohe Meer verlassen und Schuß hinter dem ersten besten Felsen des provençalischen Gestades suchen zu müſſen.

Mir,

der ich schon so oft Seefahrten bei starkem Sturm gemacht hatte, kamen die Wellen unbedeutend genug vor, und doch schwankte das schwache Schiffchen so hin und her, daß oftmals selbst das eiserne Geländer des Oberdecks unter Waſſer war und die Wellen, die über das Bugspriet schlugen, auf dem Unterdeck hin- und herrollten. Da die längeren Bogen mit uns gingen, io befand sich die Schiffsschraube bald oben in der Luft, bald tief unten im Wasser und konnte im ersteren Falle natürlich keine Wirkung haben, so daß wir bei der geringen Kraft der Maschine nur von den Wellen und dem Winde vorwärts getrieben wurden.

In einer kleinen abgelegenen Bucht,

anderthalb Meilen östlich von dem Badcort Hyères, ging der Kapitän vor Anker, erlaubte aber keinem Passagier, ans Land zu gehen. Am Morgen des dritten Tages wurde von neuem versucht, die Reise gegen den noch immer wehenden Ostwind fortzuſeßen, aber nach einigen Stunden vergeblicher Arbeit der Maschine kehrten wir in unsere kleine Felsenbucht zurück. Nun wurde aber das einmütige Volk der Passagiere voll Unruhe und Auflehnung gegen die Machthaber des Schiffes, und das Schauspiel war interessant zu beobachten, wie „ Tiger“ und „Löwe“ die „ Hyäne" angriffen, welche diesmal die Macht in Händen hatte und sich auch beim Gebrauch ihrer Macht ihrem Charakter gemäß benahm.

Alle Paſſa-

giere verlangten nämlich ans Land gejezt zu werden, um über Hyères und Toulon nach Marseille zurückzukehren und ihre Reise mit dem näch ften Dampfboote von neuem zu beginnen oder um zu Lande wenigstens bis Nizza zu kommen. Der Kapitän aber, von der „Hyäne“ beherrscht, schlug diese Forderung rund ab, obwohl er uns tags zuvor versprochen hatte, uns in Toulon auszusehen, falls das Wetter sich nicht nach der dritten Nacht geändert hätte.

Unter der Einwirkung eines diabolischen

Ratgebers erklärte er, daß er seine Passagiere ebenso wie seine Warenkolli nur da abzuliefern habe, bis wohin für sie bezahlt sei. Keudell und ich, die wir natürlich auch nicht unsere Lage uns stehlen

Menterei auf dem Schiff.

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laſſen wollten, obwohl wir als ſimple Touriſten beſſer daran waren als alle die anderen, seßten nun ein großartiges Protokoll über die Tatsachen und über die an uns begangene Freiheitsberaubung auf, der Kapitän wurde vor die Versammlung der Passagiere geladen und nochmals ernstlich aufgefordert, uns unsere Freiheit wiederzugeben, widrigenfalls 2 . Hier folgten nun Drohungen aller Art, die natürlich nichts als Redensarten waren, weil wir ja keine Mittel in Händen hatten, sie wahr zu machen. In babylonischer Sprachverwirrung schrieen hierbei die fieberhaft aufgeregten Passagiere deutsche, spanische, französische, englische und italienische Schimpfworte durcheinander, und die letteren drei Sprachen waren noch in verschiedenen Dialekten vertreten. Die Spannung war groß, als danach die kleinen Schiffsboote ausgesezt wurden . Die Wut aber steigerte sich, als nur der Koch hineintreten und ans Land fahren durfte und nicht lange darauf mit einem großen Sacke voll Lebensmitteln zurückkehrte, die er aus einem hinter den Felsen gelegenen, für uns unsichtbaren Dorfe geholt hatte. Schöne Aussicht für uns Gefangene ! Eine Meuterei war nahe ! Da änderte sich endlich am Morgen des vierten Tages gegen 2 Uhr der Wind, der Kapitän und die Schiffsmannschaft wurden mit der Nachricht hiervon aus dem Schlafe geweckt, so daß wir endlich nach einigen Stunden wieder in See stachen. Bei herrlicher Fahrt, immer dicht neben der Küste, kamen wir an Fréjus, Cannes, Antibes, der Mündung des Var, dieser alten Völkergrenze, ferner bei Nizza, Monaco, Ventimiglia und Bordighera vorbei. Keine Schilderung kann die Schönheit dieser Küste hinreichend wiedergeben. Schon trauerten wir darüber, so schnell an diesem Gestade vorbeizufliegen, als gegen 5 Uhr abends zwischen Vordighera und St. Remo der Wind wieder stärker wurde und der Kapitän plöglich umkehrte, nunmehr angeblich wegen Mangels an Kohlen . Noch einmal jahen wir die ganze Küste, nun vom Abendsonnenschein rötlich beschienen. Die ganze Gesellschaft war in heiterster Laune auf dem Decke versammelt, denn wenn derlei Art von Unglück zu lange dauert, so wirkt es auf die Lachmuskeln .

Das Schiff ward übrigens wiederum ganz nied-

lich geschaufelt, und oft konnte man nur liegend auf dem Deck sich festhalten. Eine Stunde vor Nizza befahl der Kapitän zum allgemeinen Gaudium ſeinen drei Matrosen, ihre Entermesser umzugürten - eine Demonſtration uns gegenüber, von denen er auf Grund so mancher scherzhaften Erklärung, die im Laufe des Tages gefallen war, fürchtete, daß wir uns des Schiffes bemächtigen und uns auch eigenmächtig ausschiffen würden, um unsere Freiheit wieder zu erlangen. Der Kapitän wollte in die Bucht von Villafranca einlaufen, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn es nicht unjeren diplomatischen Unterhandlungen schließlich gelungen wäre, ihn zu

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Sechster Abschnitt: Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

bewegen, nicht in Villafranca, einem kleinen Städtchen, von wo wir faum hätten fortkommen können, sondern in Nizza ſelbſt einzulaufen. Namentlich schreckten wohl den Kapitän die Drohungen des „ Tigers ", daß er mit Erfolg auf Schadenersat klagen würde, weil er von der franzöſiſchen Staatsregierung den Auftrag habe, die Transportſchiffe für die französische Armee bei dem bevorstehenden Ausbruche des Krimkrieges in den italienischen Häfen anzukaufen. Noch an demselben Abend haben wir das Schiff verlassen, unsere Beschwerden gegen die Schiffsgesellschaft Horace Bucher & Co. zu Marseille bei den preußischen Konſuln in Nizza und Marseille eingegeben und die erforderlichen Artikel über die Unzuverlässigkeit der genannten Gesellschaft für verschiedene Zeitungen verfaßt. Diese Rache war süß, wenn auch freilich bei der Ohnmacht unserer Konjulate ganz erfolglos !

Die anderen

Paſſagiere mußten auf dem Schiffchen bleiben, aus dem einfachen Grunde, weil sie das Reisegeld auf einem anderen Schiffe nicht noch einmal bezahlen konnten. Wir drei gaben unsere Fahrkarten auf, für welche wir bis Livorno 202 Francs bezahlt hatten. Der preußische Konsul in Nizza, ein reicher Banquier, Avigdor, tat nun alles, um unseren Aufenthalt in Nizza angenehm zu machen.

So gab er uns zu Ehren ein reizendes Ball-

fest unter den Bäumen von Villafranca und hatte zu demselben auch die Mitglieder einer berühmten Zirkusgesellschaft eingeladen. Was für einen Genuß haben wir durch unſere unglückliche Meerfahrt unerwartet gehabt ! Denn die Tage an der Riviera, welche nun folgten, waren über alle Beschreibung schön. über Genua, Livorno und Pisa, alles Orte, die ich schon vor acht Jahren kennen gelernt, ging nun die Reise nach Florenz.

Da war es vor

allen Dingen der Palazzo Pitti mit seiner herrlichen Kunſtſammlung, welche, ein Kleinod wunderbarer Art, mich noch stärker anzog als die im Louvre zu Paris, weil sie übersichtlicher und deshalb instruktiver ist. Vor dem Palast spielten täglich die verschiedenen Kapellen der österreichischen Regimenter, und ihre Weisen hallten weithin wieder an den umliegenden Häusern.

Die gemütlichen österreichischen Offiziere, welche schon seit

mehreren Jahren eine starke Garnison in Florenz bildeten, waren häufig unsere Begleiter. Florenz war damals in der Tat der südlichste Punkt des österreichischen Kaiserstaates. Auch in Fiesole, eine Meile von Florenz, auf dem Gipfel der nächsten Berge, weilte ich mit besonderer Liebe und konnte mich, namentlich bei Sonnenuntergang, nicht satt sehen an den herrlichen Farben, welche über Florenz und das ganze Arno-Tal ausgegossen waren. Hier kann man auch sehen, wie die alten Römer es verstanden haben, die richtigen Pläge für ihre Amphitheater auszusuchen. Fra Fiesole aber ist mir seitdem einer meiner Lieblingsmaler aus dem Mittelalter geworden .

Coscana.

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Doch ich muß weiter cilen in der Beschreibung meiner Reise, welche mich nun durch die schönsten und erinnerungsreichsten Gegenden Italiens hindurch führte. Wie angenehm und lehrreich reiste es sich damals in dem hohen Kabriolett eines Vetturinowagens ; jezt sauſt man mit der Eisenbahn meist nur von einer großen Stadt zur anderen hindurch. Wie unendlich schwerer und mühseliger muß es früher, noch Ende des 18. oder Anfang des 19. Jahrhunderts

gewesen sein, Italien zu bereiſen, als

gerade auf dem Wege von Florenz nach Rom entsetzlich steile Straßen mit holprigem Pflaster auf die Berge hinauf und ebenso immer gerade aus ohne Serpentinen hinunter führten, als die damaligen Wagen ohne Federn oft arge Torturen dem darin Sizenden verursachten, als es noch an Wirtshäusern fehlte, an Reisehandbüchern zc. ! Und doch - welche Studien hat ein Winkelmann oder ein Goethe auf solchen Reisen zu stande gebracht.

Am meisten aber belebte mich der Wunsch, einen von den großen

Römerzügen unserer deutschen Kaiser vor meinen leibhaftigen Augen auf dieſen alten Straßen vorbeipassieren zu sehen. Solange wir im Großherzogtum Toskana waren, konnten wir uns nur über die Blüte dieses vortrefflich regierten Staates erfreuen. Die Straßen waren in musterhafter Ordnung, das ganze Land war übersäet mit lieblichen Landhäusern und schmucken Bauernhöfen. Und wie war doch jede Villa, jede kleine Kirche, jedes Kloster merkwürdig und sehenswert in Bezug auf die Architektur ; es ist da nichts kleinlich, alles schmuck, anziehend und edel, oft sogar verschwenderisch. An die Marmormaſſen hatte ich mich schon zu gewöhnen angefangen, aber nun blieben immer noch die zierlichen Treppen , die Hallen, die Vorhöfe, die gar kein Ende nehmen und ihre Mannigfaltigkeit um so reicher entfalten, je länger das Auge sie betrachtet.

Das Land nun zwischen diesen geschmückten Menschen-

wohnungen ist auf das ſorgſamſte bebaut, für die gehörige Be- und Entwässerung ist überall gesorgt, der Ackerplan ist in kleine oder vielmehr schmale, langgezogene, hochgewölbte Beete geteilt. Auf der Wölbung grünte der Weizen üppig und in den kleinen Kanälen zwischen den Wölbungen war das Frühlingswasser schon abgelaufen und verſiegt. Auf diesen Beeten standen nun außerdem zahllose Bäume in regelmäßigen Reihen, wie in einer gepflegten Baumschule : Ulmen, Weiden, auch viele Obstbäume, welche sorgsamst zu einer Art von Dach zugeschnitten sind, um dem Lande den nötigen Schatten zu gewähren. Jeder Baum hat endlich seinen Weinstock, der sich im Sommer und Herbst von einem Baum zum anderen herüberrankt. Durch die Art und Weise, wie man die Äſte, beschneidet, erhalten die Bäume die ſeltſamſten Figuren ; meiſtens sehen fie kegelförmigen Körben ähnlich, deren Kegelspige nach unten gesenkt iſt. Die Äste, welche sie bildeten, sind kreuz und quer durch und ineinander gewachsen.

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Sechster Abschnitt : Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

Wie kann ich aber alles beschreiben, was wir an Interessantem in Toskana noch sahen ! Solche Städte wie Arezzo und Cortona sind Perlen für jeden, der sich für alte Architektur, für pittoreske Landschaft oder für uralte Erinnerungen aus der Geschichte intereſſiert. Welch ein Abstand, wenn man die Grenze Toskanas überschreitet und die päpstlichen Staaten betritt, welch ein Abstand in jeder Beziehung, vor allem in der Kultur des Landes ! Ich hatte bis dahin nie geahnt, daß staatliche Grenzen so vollständige Scheidewände abgeben können als gerade dieſe. Erst in viel späteren Jahren habe ich gefunden, daß man denjelben Eindruck hat, wenn man die preußische Grenze südlich von Thorn überschreitet und über die Brücke des Drewenz-Flusses in das russische Reich hinübertritt. Dort, wie hier, auf der einen Seite alles in Ordnung und sauber, auf der anderen Seite in völliger Unordnung und im Schmuß. Der Trasimenische See ist über die Maßen schön und fesselnd ; wir konnten es nicht lassen, das Schlachtfeld Hannibals auf Schusters Rappen zu durchstreifen. Hannibals Heldengestalt begleitete uns auf diesem Wege.

Diese Ge-

ſtalt zeichnet Livius plastisch mit folgenden Malerstrichen : „Nie war ein und derselbe Geist geschickter zum Gehorchen und zum Befehlen ; darum ließ sich nicht entscheiden, ob er dem Feldherrn (Hasdrubal) oder dem Heere teurer war ; voll der größten Kühnheit ging er in die Gefahren, mit der größten Besonnenheit benahm er sich mitten in denselben, durch keine Beschwerde konnte sein Körper ermattet oder sein Geist ermüdet werden . Hiße und Kälte trug er mit gleicher Ausdauer, die Zeit des Wachens und Schlafens war bei ihm weder von dem Tage noch von der Nacht abhängig. Als vorderster ging er in die Schlacht, als letter aus derselben !"

Kurz

vor der Schlacht am Trasimenischen See hatte Hannibal im Arno -Tal durch eine Entzündung ein Auge eingebüßt. Diese für ihn so ruhmreiche Schlacht endete mit völliger Vernichtung des römischen Heeres und mit dem Tode des Feldherrn Flaminius . Plinius berichtet, daß das Jahr, in welchem diese Schlacht geschlagen wurde (217 v . Chr. ) reicher an Erdbeben gewesen ist als je eines seit Menschengedenken und an dem Tage der Schlacht selbst soll bei undurchdringlichem Nebel ein furchtbares Erdbeben stattgefunden haben, ohne daß Hannibals Krieger in der Hiße des Kampfes es gewahrten . Es hat mich gerade diese Schlacht von jcher gewaltig intereſſiert, und als fleiner Junge schon wünschte ich im stillen immer den Karthagern den Triumph über Rom. Mächtiges Unkraut und namentlich die unvertilgbaren Ginsterbüsche bedecken jest das Schlachtfeld und als ich mich dort, um auszuruhen, in diese Büsche niederlegte, fand ich dicht bei mir eine bronzene Spange, wie sie die Römer an ihrer Rüstung trugen, und zwei alte fupferne Münzen.

Welcher Soldat mag sie beiseite geworfen

Trasimenische See.

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haben, um die schwer hängenden Taschen auf der Flucht zu erleichtern, und wieviel Schäße dieser Art mag dieser denkwürdige Erdenplaß noch unter seiner Oberfläche bergen ? Wir zeigte aber wieder dieser beglückende Fund, daß ich ein Glücksfind bin! Der Trasimenische See ist sehr fischreich, trotzdem war auch in diesem natürlichsten aller Erwerbszweige der päpstliche Untertan noch unendlich zurück. Ein Grund davon ist auch wohl der, daß der Abſaß nach dem nahen Toskana hin durch die unverhältnismäßig hohe Abgabe von 212 Bajocchi (15 Pfg . ) für 1 Pfund Fische erschwert ist.

Die Leutchen

treiben aber ihren Fischfang nur mit Reusen und nur in der nächsten Nähe des Ufers ; so kam es denn, daß wir bei dem kalten Wetter, welches wir die lezten Tage gehabt, keine Fische (meine Lieblingsſpeiſe) für unseren Tisch ergattern konnten, weil man keine gefangen, und weil eben die Reusen nur am Ufer liegen, die Fische aber bei der Kälte sich in die Tiefe des Sees zurückziehen. Die Reusen sind übrigens von uralter Form, ja, sie gleichen fast den altetruskischen Vasen. Der Unterschied zwischen Kirchenstaat und Toskana zeigte sich auch darin, daß wir hier nur Ochsen zum Vorspann erhielten, in Toskana immer Pferde. Eine herrliche Aussicht über den ganzen See und das Hannibalsche Schlachtfeld belohnte mich vollkommen, nachdem ich links von der Straße. ein Dörfchen, auf dem Gipfel eines Berges gleichsam angeheftet, mit Mühe erklettert hatte.

Die alten Mauern dieses Gebirgsnestes waren merk-

würdig genug, und an den koloſſalen Mauerſtücken, die in das Tal hinuntergestürzt und dennoch ganz geblieben waren, konnte man die Güte des altrömischen Mörtels bewundern ; diese Stücke glichen vollständig natürlichen Konglomeraten.

Nach Süden lag das weite Land bis nach

Perugia hin ausgestreckt, vielfach zerrissen in einer ganz wunderbaren Formation durch Kuppen und „ Talebenen“, und geſchmückt mit Kaſtellen und alten Türmen der Dörfer Magione, Baddia 2. Ein alter Turm mit römischen Fundamenten dicht bei Magione war kräftig von dichtem Epheu umschlungen. Vor Perugia verließen wir den Wagen und klimmten die steile Straße zur Stadt hinauf.

St. Francesco dei Conventuali war die erste Kirche,

die uns anzog ; eine der zierlichsten Fassaden aus rötlichem Marmor ist mit zahllosen Reliefs in Terrakotta bräunlich-gelb ausgelegt. Oben im Giebel Christus auf dem Thron, links und rechts zwei dienende, knieende Engel, weiß (wie es scheint in Porzellan ) auf blauem Grunde. Darunter stand eingemeißelt : Augusta Perusia, mit der Jahreszahl 1461.

Wir

eilten auf den großen Platz ergöglichen Anblicks mit dem schönen Brunnen von Giovanni Pijano in der Mitte, der Kathedrale an der einen, dem Rathause an der anderen Seite.

Ich übergehe die Beschreibung der

Schäße, die in den Gemäldeſammlungen dieſer anziehenden Stadt, wie

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Sechster Abschnitt: Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

auch in der Sammlung etrusfiſcher Vasen verborgen sind, welche das Gebäude der Univerſität enthält. Nur 200 Studenten besuchten damals diese Hochschule, denn der kleine Kirchenstaat besaß nicht weniger als sieben Universitäten.

Auf vielen Vasen längst vergangener Jahrhunderte iſt

schon der geflügelte Greif, das Stadtwappen Perugias, abgebildet. Einige Kirchen suchten wir noch vergebens auf; wir fanden ſie verschlossen, da alle Mönche und Geistlichen zu dem großen Gottesdienste in der vollgedrängten Kathedrale abwesend waren, wo gerade an jenem Tage großer Ablaß (indulgenza plenaria) erteilt und zu diesem Zweck von allem Volk der Ring der Maria geküßt wurde, den sie bei ihrer Trauung von Josef erhalten haben soll . In der Mitte des Domes waren hoch oben die greulichsten Wachsfiguren von Maria und Josef ausgestellt.

Der

allgemeinen Not, der Teuerung und des Erdbebens wegen hatte man diesen Ablaß für alle Sünden ausgeschrieben, und darum war von weit her das Volk zusammengeströnt. Noch am Tage vor unserer Ankunft waren Perugia und einige Dörfer der Umgegend von einem argen Erdbeben heimgesucht.

Wir sahen nahe

an der Straße mehrere Häuser, deren Wände breite Riſſe von oben bis unten zeigten. Ein Teil der Bevölkerung hatte die Nacht im Freien zugebracht. San Pietro fuori di mura ist die Perle der Kirchen.

Sie enthält

Fresken von Raphael und Perugino und Chorſtühle mit Holzſchnißereien nach Raphaels Zeichnungen. Perugino wird übrigens hier immer kurzweg Pietro genannt, weil er ja doch in Perugia zu Hauje war. Erst kurze Zeit vorher hatten die österreichischen Truppen Perugia verlassen, und statt ihrer ſtanden drei päpstliche Kompagnien dort in Garnison, welche ganz aus deutschen Schweizern zuſammengeſetzt waren. Auch einen Preußen aus Köln trafen wir in dieser päpstlichen Schar, der uns erzählte, wie er in Hamburg als wandernder Handwerksbursche zum päpstlichen Dienſte angeworben sei. vier Jahre verpflichten lassen.

Der arme Kerl, er hatte sich für volle

Auf der Weiterreise kamen wir nach Santa Maria delli Angeli, um die Stätten der Wirksamkeit des heiligen Franz von Assisi, des Stifters des Franziskanerordens , zu besuchen. Die alte Betkapelle dieses Heiligen (1206 n. Chr. erbaut ) steht dicht an der Hauptstraße und ist mit einer großen Kuppelkirche überbaut. über dem Eingang zur Kapelle, deren alte Quaderſteine seltsam abstechen von der weiß angestrichenen Kirche, befindet sich ein modernes Freskobild von Overbeck, das Wunder darstellend, durch welches der Heilige vom Himmel herab mit Rosen überschüttet wurde. Dieses kleine Kapellchen steht, wie es vor bald 7 Jahrhunderten auf freiem Felde gestanden, jest mitten unter der großen

Aſſiſi.

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Kuppel, umgeben und umhängt von allem möglichen Flitterstaat ! Ich glaube, es hat dadurch nicht gewonnen und war früher gewiß schöner! Eine halbe Meile davon liegt nun das Städtchen Aſſiſi, malerisch lang und schmal ausgestreckt auf der Mitte eines hohen Vergabhanges. Die große Kirche, über dem Grabe des Heiligen erbaut, iſt eins der merkwürdigsten Bauwerke, die es gibt, sonderbar und schön zu gleicher Zeit. So kommen einem auch unwillkürlich bei Betrachtung dieser Kirche Gedanken darüber, wie verschieden die Anbetung Gottes in den verschiedenen Konfessionen sich gestaltet. Die Katholiken lieben es ja, ihre Heiligtümer einzukapſeln, ſie den Blicken des anbetenden Volkes zu entziehen und gerade dadurch einen gewissen Nimbus um das tote Körperliche zu verbreiten. Sie machen es so mit ihren Reliquien, ja sogar mit der Bibel selbst, um welche sie die harten Kapseln, um mich so auszudrücken, der versio vulgata, der Undeutlichkeit und völligen Unverſtändlichkeit beim Ablejen vom Altare aus, des Verbots endlich ihrer Lektüre seitens der Laien herumgebaut haben.

Sie erreichen durch diese Mittel (abgesehen

von der Ohrenbeichte) vortrefflich das, was sie wollen, und was sie vor uns Evangelischen auszeichnet : nämlich die vortreffliche Disziplin und die Unterordnung der Seelen unter den Ausspruch und die Macht der Geistlichen. Von mächtigen gewölbten Unterbauten getragen, erhebt sich hoch zum Himmel hinauf die Kirche St. Francesco, die von Jakob dem Deutschen 1229 erbaut ist, deren Wände völlig mit Fresken überdeckt sind und deren Decke der berühmte alte Meister Cimabue selbst mit den würdigsten seiner Figuren und den frischeſten ſeiner Farben bemalt hat. Aus dieser oberen Kirche steigt man eine kleine schmale Treppe durch die Sakriſtei hinab in eine faſt eben so große zweite Kirche; diese ist von Giotto und seinen Schülern ausgemalt. Das Licht erhält sie hauptsächlich aus dem Kreuzschiff, welches an einer Seite noch zu Tage steht, und aus der Eingangs„ indulgencia plenaria , quotür, über welcher eingemeißelt steht : Diese untere Kirche steht endlich nicht nur tidiana, perpetua 1487 " . in Verbindung mit den weiten Klosterräumen und Höfen, die mit Säulengängen geschmückt sind, sondern es führen auch aus ihr zwei Treppen hinab in eine dritte Kirche, in der über dem Altare, hinter vielfachen Gittern und Vorhängen das Stück natürlichen Felsens eingeschlossen ist, worin das Grab und der Körper des heiligen Franciscus gefunden wurden. Goethe zu Liebe durchwanderten wir noch die ganze lang ausgedehnte Stadt Assisi, in welcher übrigens jezt ein entsegliches Elend zu herrschen scheint : Scharen von Bettlern und Gestalten mit zerlumpten Kleidern umgaben uns, ja aus dem ersten und zweiten Stock der Häuser wurde ich von Frauen angebettelt, die ihre zerlumpten Kinder zum Fenster hinaushielten. Goethe spricht in seiner italienischen Reije mit höchster Be 12 v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

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Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

wunderung von einem altrömischen Minervatempel, und wahrlich, dies alte Bauwerk verlohnte sich der Mühe des Suchens : würdig, schwer und kräftig steht er wohlerhalten da, mit ſeinem graugelben Gemäuer und seinen tief kannelierten korinthischen Säulen. Welch reiche Reisetage führten uns nun weiter über Spoleto, den Paž über den Somma, den Wasserfall des Velino, dann über Terni und die alte Brücke des Auguſtus über die Nera, die uns an den Pont du Gare in Südfrankreich erinnerte !

Der Wasserfall bei Terni spottet aller Be-

schreibung! In seiner Nähe bemerkte ich zwei Kuriosa : sämtliche Bäume, Sträucher, Stämme und äſte, Vlätter und Gräser, kurz, alles in der Nähe des Wasserfalles war und zwar je tiefer im Tal, desto stärker — mit einer Kruste von feinem kalkigen Tropfstein überzogen, der sich nach und nach durch das Herabfallen des feinen Staubregens gebildet hatte und wie ein Feenschleier das ganze tausend Fuß tief eingeschnittene Tal von unten herauf anfüllt, nämlich von der Stelle aus, wo die Wassermasse auf den Felsen aufprallt ; unter dieser kalkigen Kruſte fand ist das friſcheſte Grün. Ein zweites eigentümliches Bild entdeckte ich an der hohen Bergwand : es war ein Felsengesicht in ungeheueren Dimensionen : die Augen, die Nase, der Mund hoben sich aus dem grauen Kalf hervor, dabei waren einige Teile des Gesichts an der richtigen Stelle gelblich gefärbt, durch das Herunterlaufen des Waſſers ; statt des Vartes und des Haupthaares hatten sich grüne Kräuter und kleine Gebüsche angepflanzt. Die optische Täuschung war so groß, daß alle meine Begleiter sich über den Felsenrieſen freuten und ich ihn sofort abzeichnete. Vielleicht haben römiſche Hände dem Spiele der Natur noch nachgeholfen. über Otricoli, Maglano ging es zur Tiber-Brücke bei Borghetto hinab. Ein dichter Wolkennebel lag träumerisch über der Campagna und nahm uns jegliche Aussicht . Nur der Monte Soracte, der weit gesehene, Horaziſchen Andenkens, erschien uns grau und fast schwarz zur Linken, mit einer Wolkenhaube bedeckt. Interessant, weil ganz besonders italieniſch, war unser letztes Nachtquartier vor Rom, in einem Gasthofe mit dem wunderlichen Namen „,Sette vene", zu den sieben Adern, mitten in der Campagna romana. Wie anders gestaltete sich meine jedesmalige Ankunft in Rom: 1845 in der Post mit meinem seligen Vater, 1854 im Vetturin, 1883 und 1899, als es hieß : „Station Rom , 10 Minuten Aufenthalt“. Die Poesie der Reisen ist mit den Eisenbahnen verschwunden. über den Ponte molle und durch die Porta del popolo fuhren wir in fröhlichster Stimmung die Hauptstraße des neuen Rom , den Corso, entlang, zur Visitation unseres Gepäcks auf der Dogana.

Ich überließ

die Viſitation meinen Reisegefährten und eilte mit ortskundiger Schnelligfeit nach dem Hause, in welchem diesmal zu wohnen ich mir vorgenommen . hatte.

Mit unerhörtem Glück fand ich im ersten Stock dieses Hauſes

Rom .

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Via del campidoglio Nr. 51 ein primitives und doch herrliches Quartier. Wieviel besser wohnte sich's hier als in einem modernen Hotel des neuen Rom ! Vor unseren Fenstern hatten wir die entzückende Aussicht über das ganze Forum romanum, und jeden Morgen hatte ich beim Aufwachen die Säulen des Vespasian- und des Saturn-Tempels vor meinen Augen. Dazu kam, daß ein alter Freund, der Leutnant v. Steinäder , Adjutant des Prinzen von Preußen, bald unser Stubennachbar wurde und wir alle einen großen gemeinschaftlichen Haushalt führten. Eine sehr nette und vor allen Dingen reinliche Wirtin beſorgte alles aufs beſte, und ihr niedlicher pfiffiger Sohn mit Namen Tito war unser Bedienter. Und nun gar erst die Billigkeit dieser Wohnung : 9 Scudi (36 Mark) zahlten wir alle pro Monat, während die schlechtesten Löcher von Fremdenquartieren im Corſo monatlich 25 Scudi ( 100 Mark) kosteten. Was die toten Mauern betrifft, stand alles in Rom noch richtig auf dem alten Fleck, aber die Welt der Menschen hatte sich gründlich verändert. Viel trug hierzu bei die Anwesenheit einer starken franzöſiſchen Garniſon, über 10 000 Mann, welche seit dem Juli 1849 der alten Stadt viel von ihrer früheren nationalen Eigentümlichkeit genommen hatte.

Auffallend

war mir der Unterschied zwischen der Einnahme Roms durch die Österreicher und der durch die Franzosen. Während die Österreicher in ihrer einfachen Weise Rom in drei Tagen genommen hatten, da sie von der Nord- und Ostſeite angriffen, haben die Franzosen sich, um „ éclat“ zu machen, gerade die einzige Seite, die Westseite, auf dem Janiculus und bei Aqua Paola zum Angriff ausgewählt, wo sie über zwei Monate mit der Belagerung zubringen mußten. Eine Eisenbahn gab es noch immer nicht in den päpstlichen Staaten, dagegen welch ein Wunder !, Rom war in seinen Hauptstraßen seit einigen Wochen mit Gas beleuchtet ! Allabendlich verfolgte eine Menge neugieriger kleiner und großer Römer die Gasanstecker und riefen kindlich erstaunt " Puff" aus, wenn das Gas in der Laterne in Brand geriet und die gewöhnliche kleine Exploſion erfolgte. Zwischen dem Palatin und dem Aventin, dicht bei den Trümmern der alten Kaiserpaläste reckt die Gasanstalt ihren hohen Schornstein in die Luft - den einzigen induſtriellen Schornstein, den man in Rom zu sehen bekommt. Seit dem Jahre 1848 ist der Besuch der Villen, Paläste und Privatſammlungen bedeutend erschwert.

Die vornehmen Familien Roms ver-

stecken sich noch mehr als früher vor den Fremden , und freilich scheinen die Fremden eine viel gewöhnlichere und alltäglichere Ware in Rom geworden zu sein.

Der deutsche Künstlerverein hält nicht mehr so fest zusammen,

wie damals vor 9 Jahren . Er hat ein anderes Lokal und ist vollständig umgestaltet. Die Preise aller Gegenstände sind bedeutend in die Höhe gegangen ; kurz, eine Menge von Dingen fiel mir auf, die sich in der 12*

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Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

„ewigen Roma“ in der kurzen Spanne Zeit von wenigen Jahren verändert hatten. Das herrlichste Frühlingswetter trieb uns bald wieder aus Rom heraus, um eine der schönsten Fußreisen, die ich je gemacht, durch das Albaner- und Volsker- Gebirge jowie durch die Apenninen anzutreten. Das Albaner-Gebirge mit all seinen herrlichen Orten, Frascati, Grotta ferata, Villa Aldobrandini, mit ihren Gartenanlagen, Waſſerfällen und uralten immergrünen Bäumen, wie Lorbeer, Cypressen, Pinien, Myrthen und Eichen, Villa Ruffinella, Tusculum, Monte Cavo , mit dem originellen Dörfchen Rocca di Papa, Palazuolo (das alte Alba longa) und am Lago di Castello entlang noch Castell Gandolfo und Genzano wurden gründlich abgesucht. An den Abhängen des aussichtsreichen Monte Cavo gingen wir faſt eine Stunde lang über die großen polygonen Bajaltflächen hin, welche sehr sorgfältig so ineinander festgeschoben sind, daß die Ecken des einen Polygons in die von den Kanten zweier anderer Polygone gebildeten Winkel hineinpassen. Der Bau dieser Straße soll schon in der Zeit der Könige Roms ausgeführt sein, und ſo trifft man denn hin und wieder auf den Steinen die Buchstaben V. N. eingemeißelt, und die Straße führt von alters her den Namen der Via Numinis (Numa Pompilius ) . Wie anders in seiner Rauheit und Schroffheit erschien uns das VolskerGebirge ! Coriolan.

Ganz entsprechend dem Charakter des gewaltigen Mannes In den uralten Städten Cori, Norma, Ninfa und Sermoneta

sind es namentlich die cyklopischen Mauern, welche unsere volle Bewunderung verdienten. Wie ist es den alten Volskern möglich gewesen, so ungeheuere Felsblöcke zu Mauern übereinander zu schichten und selbst die Tore in diesen Mauern mit solchen Koloſſen aufzubauen ! Es gab doch damals keinerlei Maschinen, und nur der böse Cyklop, welcher solche Felsen auf den vielgeprüften Odysseus herunterschmetterte, kann derartige übermenschliche Kräfte besessen haben, wie sie zur Erbauung dieser Cyklopenmauern notwendig waren. In Cori fesselten uns außerdem die Trümmer eines Dioskurentempels und noch mehr der wohl erhaltene und zierlich auf der Höhe thronende Herkulestempel. Auch eine Brücke aus der allerältesten Zeit, d. h. lange vor der Gründung Roms, steht jezt noch in Cori. Weit aber über die Schäße der Kunst und der Geschichte ging mir die krasse Eigentümlichkeit der Volsker-Landschaft. Diese öden Kalkberge, deren verwitterte Oberfläche nur hier und da mit Sträuchern bedeckt ist, sonst aber so geiſterhaft graublau schimmert, daß sie von weitem oft wie die verfallene Mauer einer einzigen ungeheueren Stadt ausschaut ; dieſe holperigen Fußpfade, welche von Städtchen zu Städtchen führen und fortwährende Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, weil sie nur selten ge-

Dolsker Gebirge.

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ſtatten, daß man während des Wanderns seinen Blick abwärts schweifen läßt auf die steilen Abhänge dicht neben dem Wege, auf die Pontinischen Sümpfe am Fuße des Gebirges, auf die Kanal- und Flußneße in diesen Sümpfen, auf die unermeßlichen Wälder am Meeresstrande, endlich auf das weite Meer selbst, mit all den Inseln, von Ponza mit dem Kap Circeo und Ischia in blauer Ferne ; diese Städte, die, eine malerischer als die andere, an das Gebirge angelehnt sind, meistens in einer Höhe von 1000-2000 Fuß über dem Meere, auf kleineren Vorhügeln des dahinter liegenden bis zu 4000 Fuß aufsteigenden Gebirges ; diese Häuſer, die nicht neben, sondern übereinander stehen, da die Abhänge zu steil ſind, verbunden durcheinander mit Treppen statt der Straßen, mit Arkaden und Durchgängen, gebaut aus dem am Orte gefundenen Material, daher kaum von den Bergen selbst zu unterscheiden, auf denen sie stehen ; diese Menschen endlich, natürlich, kindlich, neugierig, wie die Wachteln , auf alles Fremde, das sich ihnen hier noch, Gott sei Dank, so selten zeigt, mit vielen natürlichen Anlagen, aber vollſtändig wild und ohne Erziehung aufgewachsen, die Frauen immer mit bedeutenden Gesichtern und meistens angenehmen Zügen, oft sogar höchst anziehend, hier und da auffallend schön ; die Kinder sehr blöde, wie kleine Indianerkinder, die Männer endlich nicht besonders sich auszeichnend, häufig auffallend jüdisch und durchaus nicht faul, wie es aus der Bestellung der Äcker sich ergab, denn diese waren mit höchster Mühe bis oben hin, die steilen Abhänge hinauf, sorgfältig bearbeitet, unten mit dem Pfluge, oben, wo der Pflug nicht hinaufzutransportieren, mit der Hacke. Das Korn stand gut, Wein sieht man in dieser Höhe schon weniger, mehr Oliven und die von Afrika her uns lieb gewor denen Garteneinfaſſungen, nämlich die Alven und die indianische Feige, denn auf Kalk gedeihen diese Pflanzen reichlich, während sie im benachbarten, vulkanischen Albaner- Gebirge auf Tuff und Peperin viel weniger zu finden sind. Nach einem sehr anstrengenden Marsch mußten wir beim Dunkelwerden notgedrungen unser Nachtquartier nahe bei den Ruinen des uralten Norba aufschlagen.

Jedem Landſchaftsmaler möchte ich raten, hier

auf längere Zeit sich häuslich niederzulassen. Fast rührend war die Aufregung, in welcher wir die Bewohner von Cori bei unserer Wiederkehr fanden, denn da wir die Nacht ausgeblieben, meinten sie, daß wir uns in den Gebirgen verirrt oder von Räubern überfallen oder sonst verunglückt seien.

Von Cori aus ging es mitten durch das Gebirge der Volsker, an

dem höchsten aller Felsenneſter, Rocca Maſſimi, vorbei nach Segni. Welche Schluchten, welche Urwälder, welche Majjen von Schnee dicht über und neben uns ! Die Bewohner der größeren Stadt Segni, in ihren ebenfalls chklopischen Mauern, machten auf uns den Eindruck von wirklich wilden Indianern, nur mit dem Unterschied, daß sie uns auch noch zu betrügen suchten !

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Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien , Frankreich, Algerien und Italien.

Nach den mancherlei Entbehrungen in dem Volsker- Gebirge kamen wir uns in den Sabiner-Bergen bald heimischer vor, und lustig genug jah die Kavalkade aus, in welcher wir vier Forestieri (Neudell, Friedländer, Jacobs und ich) mit ihren Bündelchen auf dem Rücken einhertrotteten. Kleine, nie gepußte, scheußliche Kracken trugen uns bergauf, bergab . Sie waren besser als ihr Aussehen, denn auf ihren festen Bergschritt konnte man sich verlassen . Kein Wunder, daß sich die uns begegnenden Landleute staunend nach uns umjahen : außer den Malern im Sommer waren Fremde hier immer noch eine seltene Erscheinung. In Anagni waren der Portico del Palazzo, d. h. das Rathaus, und der Dom aller Ehren wert.

In letterem war Gottesdienst, die Kirche

gedrängt voll von den malerischen Gestalten, die Männer in kurzer Jacke, die Frauen mit rotem Kopftuche. Ein schöner Chor sang mit der Gemeinde abwechselnd vollständige Responsorien.

Wir betraten währenddeſſen leise

die geräumige zweite Kirche, die sich unter der anderen befindet. Während die obere weiß überstrichen, ist die untere an allen Wänden, Decken, in den vielen Nischen, ja ſogar an den Säulenkapitälen mit würdigen, ernſten Fresken aus der byzantinischen Schule, jedenfalls vor Giotto , überdeckt. Nicht weniger als 16 Säulen teilen diese kleine Kirche in drei Schiffe, und ein gut erhaltenes Moſaik bedeckt den ganzen Fußboden. Nach beendigtem Gottesdienst zeigte uns der Kanoniker im Ornate (ich hatte mich ihm als membro della regenza Prussiana

vorgestellt,

und er erzählte mir dann viel vom Ritter Bunsen) die großartigen Kirchenschätze und darunter die wohlerhaltenen, mit den kunstvollsten Stickereien bedeckten Meßgewänder der Päpste Innocenz III . und Bonifacius VIII., welche beide aus Anagni ſtaminen als Sprossen der noch dort wohnenden Familien Conti und Gaëtani. Der Marktplatz in Anagni erinnerte uns in mehr als einer Hinsicht an Algier mit seinem großen Promenadenplaße. Die Aussicht auf das Sacco-Tal und auf die gegenüber liegenden Volsker-Berge, in denen wir nun so schön uns Punkt für Punkt gegenseitig zeigen konnten, bildet den Glanzpunkt in Anagni ſowie auf dem ganzen Ritt bis Pagliano , dem alten Siz derer von Colonna und Palestrina. Der in der alten Welt so berühmte Tempel der Fortuna wurde sofort aufgesucht, aber leider, wie muß man nach ihm suchen ! Einige Säulen und der Altar in einem Keller, verschiedene Gesimse und Stirnsteine, ein Freskobild von der früheren Gestalt des Tempels, das war ungefähr alles, was jezt noch von Pränestinischer Größe zu sehen .

Was für gewaltsame Zerstörungen hat aber auch gerade dieses Städtchen erleben müssen ! Immer wieder ist es aufgebaut, einmal schon von Sulla, dreimal von der Familie Colonna. Traurig war der Blick auf den jezigen Zustand des Palazzo Barberini, früher Colonna.

Da haben

Sabiner Gebirge.

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seit dem Jahre 1849, also nur in den leßten fünf Jahren vor unserer Anweſenheit, päpstliche Soldaten, dann Garibaldi- Scharen, dann wieder päpstliche, dann neapolitanische Truppen gehaust, und wie gehaust ! Feuer auf dem Fußboden der Säle und dicht an den Wänden haben Deckenmalereien und Fresken geschwärzt, zahllose Namen sind in die Wände eingefragt, die Fenster zertrümmert, die Tapeten zerrissen ! Da konnte wohl kein Fortuna- Tempel stehen bleiben ! Das ärgſte aber war, daß auch das alte Mosaik von Präneste seit einigen Monaten nach Rom transportiert worden war, angeblich, um es auszubeſſern ; in einer Nische des Treppenflures sah man nur noch den Schutthaufen, über dem es einſt und so lange gelegen. über Palestrina erhebt sich der steile Kalkfelsen, von welchem aus Pyrrhus und Hannibal die stolze Roma anſchauten, aber vor ihrer Demütigung zurückschreckten ! Wie wunderbar die Geschichte dieser alten Kriegshelden und wie unbegreiflich namentlich, daß Hannibal sich mit dem bloßen Anschauen von diesem Verge aus begnügt hat ! So mußten denn auch wir den Felsen erklimmen, auf dessen alter, von Efeu umrankten Burgruine wir lange, lange die weite Landschaft überschauten . Wohl wurde uns klar, daß Olevano das Elysium aller Landschaftsmaler geworden ist, die hier Wochen und Monate lang im Sommer sich niederlaſſen und genug zu tun finden für Pinsel und Palette, aber auch für Herz und Hand. Zauberhaft wirkte der Mond, als sein Schein den dunkeln Bergen einen ganz besonderen ahnungsvollen Reiz gab . Hinaufgeflettert wurde nach Civitella, einem Bergdorfe, gebaut, mehr noch als alle die vorher von uns gesehenen, wie ein Adlerhorst hoch über Olevano. Die Aussicht nach Westen und Süden ist freilich von Olevano aus schöner, weil alles näher, die aber nach Osten und Norden auf das gesamte Sabiner- Gebirge mit allen seinen Tälern und wunderlichen Ortschaften, lohnte allerdings die Mühe des Erkletterns bei arger Sonnenhite. Eine Unzahl kleiner Kinder umlagerte uns, als wir oben zeichneten und frühstückten.

Ein Rätsel war es mir, wie auf diesen steilen Höhen

kleine Kinder überhaupt noch gedeihen können, und daß ſie nicht alle ein frühes Ende durch einen Sturz von den schroffen Kalkwänden finden. Den ganzen Tag über, während die Eltern auf Arbeit abweſend ſind, ſieht man diese kleinen gemeinschaftlich mit niedlichen schwarzen Ferkelchen oder mit Hühnern die schmalen Fußwege in der Nähe des Dorfes umherjagen.

Die Vierjährigen beaufsichtigen die Zweijährigen.

Ein etwa vier-

jähriges Mädchen legte sich sein kleines rotes Tuch mit gewandter Zierlichkeit in wenigen Sekunden zu dem charakteristischen sogenannten albanesischen Kopftuche zusammen. gelang die Faltenlegung ! hier malen können!

Es jah sehr drollig aus, und wie schön

Wieviel herrliche Bilder hätte Oskar Pletsch

184

Sechster Abschnitt : Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

In der gemütlichen Pharmacia von Ferdinandos Scossa waren wir in Subiaco herrlich einquartiert.

Wir verfolgten von dort den Leverone

aufwärts, welcher eine Menge von Mühlen und Hämmern am Fuße des Bergstädtchens treibt und in den verschiedensten Gestaltungen sein grünes Wasser aus den Mühlengräben wieder zurück in das Flußbett hinunterstürzen läßt.

Wir hatten ja in den Bergen lange kein gemütliches

Flüßchen mehr gesehen!

Wie verschönert sich das Tal bald oberhalb

Subiaco und steigert sich nach einer halben Meile schon zu nie gesehener Großartigkeit. Zuerst trifft man auf die Ruinen einer Villa Neros mit ihren römischen Gewölben und netförmigem Mauerwerk. Gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses, die Ruinen Neroscher Bäder mit ihren Nischen und Kanmern ; der grünliche Fluß mit seinen weißen Sturzwellen ist bis zu 150 Fuß Tiefe in die dicht belaubten Felswände eingeschnitten ; ein hoher Brückenbogen, über den die Straße führt, vollendet die Landschaft, deren Hintergrund die grau-weißlichen hoch aufsteigenden Kalkwände bilden. Eine zweite „ Via mala"! Am rechten Ufer des Leverone aufsteigend, besuchten wir die beiden Hauptmerkwürdigkeiten Subiacos : das Cassinenser Kloster Santa Scholaftica und dahinter, über der alten Einsiedelei des heiligen Benedikt, das Benediktinerkloster San Benedetto, beide im Felsental des Anio, da, wo es am schmalsten und grandiosesten ist, beide gleich merkwürdig durch ihre Architektur. Das Kloster der Scholastica, der Schwester des heiligen Benedikt, besitt neben verschiedenen überbleibseln aus der Römerzeit drei Klosterhöfe aus dem zehnten, elften und dreizehnten Jahrhundert ; in dem ältesten befindet sich, merkwürdig genug, ein gotischer Spitbogen mit vollkommen ausgeführten gotischen Verzierungen. Ein zwar kleines, aber in der Felseneinsamkeit um so mächtiger wirkendes Wäldchen von alten, immergrünen Eichen verdeckt wie ein Vorhang das große Benediktinerkloster dem Auge des nahenden Wanderers . Das Kloster liegt wohl mindestens 500 Fuß hoch steil über dem unten rauschenden Flüßchen, hart gegen die Felsen angelehnt, welche darüber senkrecht, oft sogar überhängend, emporragen. Beim Eintritt in die Vorhalle wird man begrüßt durch die vier Evangelisten in würdigen Freskobildern aus der Schule des Pinturicchio . Über den Türen des in- und auswendig modern angestrichenen Klosters liest man verschiedene bedeutungsvolle Sprüche, wie z . B.: „Peccasse pudeat, „Clausura petuum ".

corrigi non pigeat",

dann :

pro utroque sexu", vor allem aber ,, Silentium perDie Klosterkirche, oder vielmehr die vier Kirchlein überein-

ander, sind ein wahres Unikum! Man steigt aus einer in die andere auf kurzen Treppen hinab, und es sind eigentlich Kirchenterraſſen, mit einer Menge von Jrrgängen zu den kleinen Seitenkapellen. Ein Totaleindruc ist nicht möglich und das Ganze bleibt ein Kuriosum.

Nur die beiden

Hadrians Villa.

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untersten Terrassen geben, von einem bestimmten Standpunkt aus, ein Bild, in welchem der rohe Kalkfelsen die eine Seitenwand ausmacht und in einer Felsenniſche die knieende Statue des alten Einsiedlers mit Kreuz und Fruchtkörbchen, von Vernini, angebracht ist.

Sämtliche Wände, ja

die Rippen der Gewölbe, sind mit Fresfen überdeckt. Ein Bild in der obersten Kirche gefiel mir besonders : die Erscheinung Christi vor Maria Magdalena nach der Auferstehung ; Christus zeigt seine durchbohrte Hand der vor ihm knieenden Frauengestalt, welche beide Hände in anbetender Sehnsucht ihm entgegengestreckt.

Wenn auch nicht alles schön, so ist doch

hier alles geschichtlich hochintereſſant ! Den Anio entlang ging es nun schnellen Schrittes bis nach Vicovaro. Im Schatten eines schön gelegenen Klosters zeichnete ich das Tal der Licenza (Digentia) mit der Horazischen Villa und der Fons Bandusiae, sowie das Franziskanerkloster, das, von schwarzen Cypreſſen umgeben, über einem braun-gelblichen Felsabhange gelegen ist, an deſſen Fuß eine Mühle und ein Wasserfall des Teverone einen malerischen Hintergrund abgeben.

Auch in Vicovaro, wo eine Osteria mit kartenspielenden

Postillonen mich amüsierte, zeichnete ich ein wundervolles achteckiges Kirchlein und war dabei von einer großen Kinderschar umgeben ; von allen Seiten tönten mir die Rufe in die Ohren : bajocco !

Franco , da mi un cigaro ! "

„Pittore , da mi un

An der Tür dieses alten heid-

nischen Tempels ist folgende Inschrift angebracht : darunter:

Dio ti vede ! " und

„Finisce tutto e finisce presto , L'eternità non finisce mai !"

Innerlich froh zog ich einsam, denn meine Reisegefährten waren schon vorangegangen, die Straße gen Tivoli, welche einſt Horaz so oft gezogen, wenn er aus Roms Gewühl in seine Villa floh ! Wie unſtät aber, nie in wahrem Frieden, muß jener Römer doch gewesen sein, der von einer Liebe zu der anderen eilte : er suchte und suchte wieder und fand niemals ; wir wissen doch, wo sie zu finden ist, die wahre Liebe! Was geben diese Trümmer doch zu denken, die an des alten Anio Ufer jetzt verlassen stehen ? Wo sind sie hin, die Menschen, die ſeit zweimal tausend Jahren an dieses Tales Schönheit sich erfreuten ! Für das vielgenannte und weitbekannte Tivoli konnte ich mir diesmal genügend Muße gönnen, um die Eindrücke von meiner ersten Anwesenheit her mir einzuprägen. Die größte Anziehungskraft übte diesmal die Villa Hadriana auf mich aus, in welcher wir uns einen ganzen Tag herumtrieben. Die gewaltigen Trümmer bedecken in einer Breite von einer Miglie und in einer Länge von drei Miglien eine Fläche von über vier-

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Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

tausend Morgen.

Prachteremplare von Pinien und Cypressen stehen über

und neben den Ruinen.

Die unzähligen Sorten von Efeu und anderen Schlinggewächsen, sowie die verschiedensten Arten von Eidechsen, welche darin umherhuschen, fordern zu einem besonderen Studium auf. Wie erquicklich schön schien die Sonne auf die ganze Scene herunter, die uns umgab ! Noch jetzt sind an den Decken und Wänden der Ruinen, namentlich der sogenannten Cento camerelle, verschiedene interessante Malereien erhalten, auch eine wunderbare Stuftaturarbeit an der Decke cines hehen Gewölbes in dem Palaste der Kaiserfamilie. Ich konnte nicht satt werden, mir vieles abzuzeichnen. Ausgrabungen hatte man damals noch gar nicht gemacht, und welch herrliche Schätze sind später entdeckt worden, als man in den folgenden Jahrzehnten begann, nur wenige Fuß tief zu Davon konnte ich mich überzeugen, als ich 1883 zum drittenmal dieſe Hadrianiſche Villa besuchte. Nachdem ich so viel von Kunſtwundern täglich gesehen, zogen mich zwei sehr interessante Naturwunder mit Macht graben.

an. Sie liegen beide in der Campagna nicht gar weit von Tivoli entfernt. Das erste bilden die enormen Travertinbrüche, aus denen das alte und das neue Rom , sowie die umliegenden Ortschaften erbaut sind ; sie befinden sich so gut wie in der Ebene, auf dem rechten Ufer des Leverone, und nur eine kleine Erhebung des Terrains macht sie kenntlich ; sie sind zwölf bis achtzehn Fuß tief, und man braucht nur eine halbe Stunde, um sie gemählich zu durchschreiten. Das zweite Naturwunder ist der Lago solvatara.

Eine gute Viertelstunde von ihm ab roch ich schon den eigentümlichen Geruch des Schwefelwaſſerſtoffgases (nach faulen Eiern) und der Kohlensäure, die von dem See ausgehaucht werden. Durch eine grauenvolle Wüstenei, durch halbverdorrtes Gebüsch und über ganz versteckte Wiesen führte mich mein Weg bis zum Seeufer. Die Tiere

ſterben alle in dieser verpesteten Luft, ſelbſt die Büffel fallen tot um ; nur der Mensch kann darin aushalten und fühlt nur eine Art Stechen in der Nase und Lunge. Die Bäder sollen sehr zuträglich gegen manche Krankheiten ſein und ansehnliche Trümmer von angeblichen Bädern der Königin Zenobia liegen am westlichen Rande. Das Waſſer, wenn getrunken, ſoll noch stärker wirken als unſere ſtärksten kohlenſaueren Bitterwasser. Der freisrunde See hatte bei meiner Anwesenheit nur einen Durchmesser von 200 Schritt, veränderte sich aber täglich an seinen Ufern. Ein fortwährendes Aufsteigen von Vlasen und Bläschen, ein ewiges Zischen und Sprudeln hält den Beobachter trotz alles schlechten Geruchs fest. Kein Wunder, daß an dieſen Ort von urältester Zeit her die fabelhafteſten Legenden geknüpft wurden, und Virgil erzählt vom Äneas, daß auch er an der „ alta Albunea“ (das ist dieser See) sich von dem Orakel Rats erholt habe. Endlich, nach dieser reichen Gebirgsreise, kehrten wir in Rom wieder heim, an demselben Tage, an dem der junge Prinz von Preußen mit ſeiner

Rom .

187

ganzen mir bekannten Begleitung : General v . Schreckenstein, Oberstleutnant v. Alvensleben, Hauptmann v. Heinze, Leutnants vom Verg und v. Brandenſtein, von Neapel zurückkehrte, un das Osterfest in Rom zu verleben. Wie bei meiner ersten Anwesenheit im Jahre 1845, so lag auch jezt noch alles muſikaliſch-künstlerische Leben entseglich in Rom danieder ; mit Ausnahme davon, daß in den letzten neun Jahren einige Opern von Verdi und Konſorten entstanden waren, welche eine faſt unbedingte und alles andere ausschließende Herrschaft auf den römischen und den übrigen italienischen Bühnen ausübten, war alles in dem althergebrachten Schlendrian geblieben. Keine Musikalienhandlung fand man, wonach ich schon vor neun Jahren vergebens gesucht, keinen Verlag, keine Instrumente ; als Ursache hiervon oder als Folge

dergleichen steht immer in Wechsel-

wirkung iſt denn auch der Mangel an ausgebildeten Künstlern erklärlich. Aber auch Dilettanten gab es nicht, denn wie kann Dilettantismus wurzeln und gedeihen, wenn er nicht als Ausgangspunkt oder Untergrund eine schon vorbereitete und ausgebildete „Kunſt “ vorfindet. Nun könnten allerdings bei den angeborenen muſikaliſchen Talenten und den übrigen jo bedeutenden Naturanlagen, die noch immer in den heutigen Italienern schlummern, die Dilettanten unter den modernen Italienern sich auf der festen Basis deutscher oder italienischer Musik heranbilden, die sie doch oft genug hören könnten, wenn sie nur wollten. Aber auch das nicht ! Wo also der Dilettantismus ſo gänzlich fehlt, da kann man wohl mit Recht nicht bloß auf das Fehlen der Kunſt, ſondern auch auf den vollſtändigen Mangel an Kunſt ſ in n zurückschließen, und das ist wohl das traurigſte und schwerste Zeichen davon, daß die edle Muſika in Italien in den allerlezten Zügen zu liegen schien. Wie anders waren die Beobachtungen, die wir über dies Thema in Paris anzustellen Gelegenheit fanden : dort ein fortwährendes, raſtloſes Getreibe, alle Richtungen vertreten, jede Richtung von ihren Anhängern mit Leidenschaft, gewöhnlich auch mit Geschick, verteidigt, auch auf diesem Gebiete häufige Revolutionen ; bei uns in Deutschland mehr ruhiges, besonnenes, innerlich frohes Fortschreiten nach einem Ziele zu, größere Einigteit in Bezug auf die Beantwortung der Frage, was denn eigentlich „ gute -1 Musik" sei; hier endlich in Rom tiefes Schweigen, was ja dem Tode gleichkommt, wenn es gar zu lange andauert. Doch halt

da erklingen ja die Töne aus der Sirtinischen Kapelle

nach dem Kapitol hinüber ; hast du denn denen nicht mit tiefſter Herzensandacht gelauscht, wie so viele Reisende und namenilich Engländer es vor dir getan, oder, wenn das nicht der Fall, hast du nicht wenigstens einen großen musikalischen Genuß an ihnen gehabt ? Es tut mir leid, immer wieder „nein“ ſagen zu müſſen ; aber ich kann versichern, daß dieſes „ nein“

188

Sechster Abschnitt : Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

nicht etwa von einer musikalischen Blasiertheit, noch von einem protestantischen Vorurteil herrührt, das ich mit mir in den Vatikan und in die Sixtina hineingetragen hätte.

Ich habe vielmehr meinen

alten Grundſaß auch dort angewandt, den ich schon ſo häufig bewährt gefunden, keinen Genuß durch sofortige Ausübung der Kritik mir ſelbſt zu verderben oder mir von anderen verderben zu laſſen. So sette ich mich denn auch in den Tagen der Karwoche in ein Ecchen der Sirtinischen Kapelle, mit der festen Absicht, das Schöne lediglich auf mich wirken zu laſſen und zwar so , wie es mir geboten werde, ohne es zu zergliedern oder persönliche Meinung hineinzutragen ; ich war also kein Verächter von vornherein. Was ging nun aber vor sich ? Eine schreiende, gellende männliche Sopranstimme (denn auch Sopran und Alt werden am päpstlichen Hofe von Männern gesungen) unterbrach die lautlose Stille, in welcher sich eine zahllose Menge von neugierigen und hörlustigen Fremden verſammelt und während langer Stunden schon vor Beginn der Musik gewartet hatte. Man hoffte, dieſe Stimme und die noch ihr folgende und die dritte würden nur kurze Zeit, einleitungsweise, sich in den entseßlich verschnörkelten bizarren Figuren ergehen, welche sie alle gellend und schrillend, oft sich überschreiend, vortrugen. Nein, über 12, beinahe 2 Stunden lang, ging es in der Weise fort, daß sich die einzelnen Stimmen mit noch unerträglicheren unisono geſungenen Chören abwechselten ; viele nicht gerade besonders bedeutende Worte des Augustinus und anderer Bibelerklärer, ſelbſt die hebräischen Buchstaben, welche die Verse der Traktate bezeichnen, wurden lang und breit mit vielem Pathos von einzelnen Stimmen vorge sungen; die Psalmen dagegen und die Verse aus dem neuen Testament, ja sogar die Einseßungsworte des heiligen Abendmahls, wurden vom Chor unisono, in grauenhafter Schnelligkeit und natürlich in lateiniſcher Sprache heruntergeorgelt und abgehetzt. Jede Silbe wurde auf dem selben Ton gesungen und nur am Schluß jedes Sahes eine Art Modulation, aber immer dieselbe, angebracht. So wurden denn glücklich 15 Psalmen, fast ebensoviele Kapitel aus der Leidensgeschichte und den Klageliedern Jeremiä, endlich ebensoviele Lektionen aus dem Auguſtinus schreiend zu Ende gebracht. Eine so fürchterliche, nervös angreifende Ohrentortur habe ich ſonſt nie durchgemacht ! Lieber will ich neben einem Heer von Trommlern und Pfeifern oder dicht neben einer großen Glocke, wenn sie geläutet wird, stehen ! Nicht anders ist die Wirkung dieser sogenannten Musik der Sixtinischen Kapelle, nur mit dem Unterschiede, daß lebendige Menschenstimmen, so in Tätigkeit geſeßt, noch nervöser machen, als das tote Metall, nicht zu vergessen, daß die Glocken auf die Ferne berechnet sind und in der Ferne auch so wohltuend wirken.

Sirtinische Kapelle.

189

Noch eine andere Betrachtung drängte sich mir darüber auf, wie solche „Musik“ verschieden von den Nationen aufgenommen wird : der Südländer, Spanier und Italiener scheint sie fast nötig zu haben, um sich in eine bußfertige Stimmung, in Bußandacht, versetzen zu lassen, sie scheint bei ihm die Stelle jener körperlichen Züchtigungen und Entbehrungen, jener Kaſteiungen und Faſten zu vertreten, welche ja im Süden eine ſo große Rolle gespielt, ohne die ja früher nur selten eine Sündenvergebung, irgend ein Ablaß, erteilt wurde, und die namentlich in strengen Klöstern einen Hauptbestandteil der Sazungen abgaben. Der englische Tourist, welcher in wüsten Scharen auch in die Sirtinische Kapelle, besonders bei solchen Gelegenheiten, eindringt und ebenso an jenem Tage massenhaft um mich herum vorhanden war, brach häufig während der muſikaliſchen Marter in die Worte aus : most magnificent, denn in seinem roten Handbuch von Murray stand geschrieben, daß die Musik in der Sirtinischen Kapelle schön sei. Die Deutschen atmeten hoch auf, als das Ende der Lamentationen gekommen war und nach einer kurzen Pause ein vierstimmiges „Miserere“ anhub. Jede Musik muß wohltun, wenn Geſchrei ihr vorangegangen, und so war denn auch die Wirkung dieſes vierſtimmigen Gesangstücks von Baini jehr erhebend, wenn die Komposition auch an sich durchaus von keiner Bedeutung ist und von dem Tomchor in Berlin mit seinen unschuldigen Knabenstimmen viel besser ausgeführt werden könnte. Vaini war bis vor einigen Jahren Dirigent der Kapelle und hat in dieſem modernen Miserere nicht gerade mit Glück versucht, die alten Meister nachzuahmen .

Mit Ausnahme einiger kurzen, aus größeren Werken

herausgerissenen, ja teilweise verstümmelten Musikjäße von Palestrina, wurde in der ganzen Karwoche kein einziges altehrwürdiges Stück gejungen. Selbst das große berühmte Miserere von Allegri, welches in anderen Jahren sonst aufgeführt worden ist, bekamen wir nicht zu Gehör, denn statt dessen wurde jenes Miserere von Baini am Karfreitage wiederholt. Von dem Gesange, welcher bei den großen kirchlichen Feiern in der Peterskirche selbst ausgeführt wird, möchte ich noch folgendes mitteilen: Die Passionsgeschichte wird nach der Ambrosianischen Tradition abgesungen, jedoch während der großen Palmenprozeſſion so, daß die Sixtinische Kapelle teilweise die Prozession begleitet . Die Rollen sind dahin verteilt, daß ein Bariton Chriſti Worte singt, ein Tenor die Erzählung des Evangeliſten wiedergibt, ein Alt sowohl des Hohenpriesters Worte wie auch die des Pilatus, des Judas Ischarioth und der Magd übernimmt, wogegen der Cher, welcher die Prozession nicht begleitet, die Rolle des Volkes von der Tribüne aus zu singen hat.

Die Psalmen

werden sehr schnell, mit Silbenauslassung und Ineinanderziehung der

190

Sechster Abschnitt : Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

Worte, vorgetragen.

Sehr auffallend war mir das scharfe Einſeßen und

feste Drücken auf die Töne, ähnlich wie es sonst bei uns nur auf dem Saiteninstrumente gemacht wird, wenn von dem Komponisten vor der Note ein sf. (sforzando) geschrieben ist. In der Peterskirche fand am grünen Donnerstag die große Zeremonie statt, bei welcher der Papst an 13 (wunderbarerweise nicht an 12) jungen Geistlichen und Mönchen die Fußwaschung vornimmt . Der Kronprinz hatte eine kleine Loge für sich, der Prinz Georg von Sachſen aber wurde als katholischer Prinz viel mehr ausgezeichnet und hatte einen viel besseren Plat. Der Papst, Pio nono, saß in seinem vollen Glanze auf dem Throne, die roten Kardinäle links und rechts zu seinen Füßen. Der Papst wurde dann feierlichst von seinen glänzenden Kleidern befreit, ja, es wurde ihm eine Schürze vorgebunden, und er ging nun, gefolgt von vier Kirchenfürsten, auf die 13 Apostel los. Ich hatte meinen Plaß dicht neben diesen.

Zitternd vor Andacht streiften die

13, die in einem wunderlichen, hellgelben Kostüm waren, ihre Beinkleider in die Höhe und entblößten ihre Beine bis zum Knie. (Ich hörte die ſarkaſtiſchſten Bemerkungen der römischen Herren, ja ſogar auch der Damen über diese nackten Beine) . Die vier Trabanten des Papstes trugen der erste eine silberne Schüssel mit Wasser, der zweite ein Handtuch, der dritte 13 Blumensträuße, der vierte einen Sack mit Scudi. Der Papst strich nun, in die Waschschüssel fassend, das Bein des „Apostels “ herauf und dann wieder herab, trocknete dann mit dem Handtuch ebenso herauf und herab das Bein, stedte dem „ Apostel" einen Blumenstrauß in die rechte Hand und legte einen Scudo in die offene linke Hand.

Die

„Apostel" stellten ihre seltsam derangierte Toilette wieder her, der Papst aber ging feierlich auf seinen Thron zurück, wurde dort mit seinen gestickten Gewändern wieder bekleidet, während die Musik ( die Sirtinische Kapelle mit ihren Sopran und Alt singenden Männern)

und die

rauschende Orgel den Lobgesang auf die Demut des Kirchenfürſten erschallen ließen. Nach dieser Zeremonie drängte sich alles herauf nach einem großen pomphaften Saale hinter dem Balkon der Peterskirche. Die 13 "1 Apostel " saßen bereits um einen Tisch herum, welcher mit goldenem Tafelservice geschmückt war. Der Papst erschien an der Längsseite dieses Tisches und servierte nun selbst das Essen für die 13 Apostel. Der Kronprinz stand wieder in einer kleinen Loge und grüßte uns lächelnd, als wir, mein Freund Keudell und ich, uns im Gedränge der neugierigen Zuschauer vor den Ellenbogen eines riesigen Mönches, der sich vor uns durchdrängen wollte, sichern mußten. Leider reiste der Kronprinz viel früher von Rom wieder ab als wir. Auch am Ostersonntage wird der Papst in glanzvoller Prozeſſion durch die Peterskirche getragen. Voran ziehen, in nicht geringer Anzahl,

Rom.

die Kardinäle

191

( gegen 40) , jeder mit Gefolge, jeder mit der spigen

Bischofsmüße von weißem Atlas, dann die vielen anderen Bischöfe und Prälaten, dann die Schweizer Garde, in buntem, halb mittelalterlichem Koſtüm, zu welchem die seit Pio nono eingeführte preußische Pickelhaube wenig paßt, endlich die Nobelgarden dicht vor dem Papste. Eine Menge von Truppen bilden Spalier und fallen, unter dem Geraſſel der Säbel und Gewehre, beim Herannahen des Papstes in die Knie. Der Papst selbst, in schneeweißem Gewande, mit der runden päpstlichen Tiara auf dem Kopfe, hoch oben auf einer Sänfte sigend, erteilt mit der rechten Hand fortwährend den Segen. wird auf- und niedergefächelt.

Mit großen Pfauenwedeln hinter ihm Ein gewaltig schmetterndes Posaunen-

stück mit einer sehr oberflächlich modernen Melodie wird bei dieſem Umzuge geblasen, und seine Töne hallen von den Wänden dieser größten aller Kirchen wieder. Gerade so wie Felix Mendelssohn hat es mein Freund Keudell verstanden, unterstützt durch sein wunderbares Musikgedächtnis, die Hauptsächlichsten Gesangstücke der Sirtinischen Kapelle in Noten zu Papier zu bringen.

Denn herausgegeben und verbreitet wurde, wenigstens damals ,

von diesen Sachen gar nichts, sie wurden festgehalten wie Reliquien im Kasten, schön verwahrt . Wird ja doch auch die Vatikaniſche Bibliothek mit all ihren Schätzen fest unter Schloß und Riegel gehalten und kaum irgend jemandem geöffnet ; geschieht es aber, so werden noch alle mög lichen Reservate und Bedingungen daran geknüpft.

Durch die präch

tigen Bibliothekjäle, von denen sich der von Sirtus V. durch besondere Pracht auszeichnet, wird man hindurchgeführt, sieht aber nie mehr als die zugeschlossenen Schränke. Die tüchtigsten Gelehrten werden abgewiesen, wenn sie die Vatikanischen Bücherschätze zu ihrem Studium benußen wollen. Auch unserem berühmten Leopold Ranke soll es so ergangen sein, und dennoch ist Rankes Geschichte der Römischen Päpste ein Buch, welches auf jeden Leser packend wirkt, so daß auch ich es bei meinem wiederholten Aufenthalt in Rom zu meiner Lieblingslektüre gemacht habe. Auf dem Forum war in den vergangenen neun Jahren weiter nichts geschehen, als daß man von der Phokas - Säule ab bis zu den drei isoliert stehenden Säulen des Minerva-Tempels hier in länglichem Quadrate die alte Pflasterung der Basilica Julia bloßgelegt hat.

Viele Kunst-

schätze, namentlich marmorne Statuen, sind bei diesen Aufgrabungen gefunden und in dem sogenannten Museo Gregoriano im Lateran aufgestellt. Dieses Museum ist erst 1843 vom vorigen Papste gestiftet, und schon sind große weite Säle voll von neu aufgefundenen Antiken, und zwar nicht nach vorangegangenem Suchen, sondern mehr zufällig gefunden. Was würde man in Rom und Umgegend noch finden, wenn

192

Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

man, unterſtüßt von hinreichenden Mitteln, ju chen wollte.

Ein Nätſel

vor allem blieb es mir damals, weshalb man nicht das Forum vom Kapitol bis zum Titusbogen aufgräbt, denn es würden zwei Straßen für den Verkehr vollständig genügen, von denen die eine an den Kaiſerpaläſten und der Basilica Julia entlang, die andere an der Baſilica Constantina und dem Tempel des Antonin und der Faustina vorbei zu führen wären ; mit geringen Kosten würde das alte Forum von dem jezt darauf lastenden Schutte des Campo vaccino befreit werden können . Ein Besuch der neuen Basilica St. Paolo vor Porta Paolo, welche an Stelle der alten abgebrannten Kirche zu bauen begonnen war, fonnte mich wenig befriedigen. Es sind zwar ungeheure Räume mit prachtvollem Material hergestellt, aber doch läßt das Ganze nach meinem. Empfinden kalt. Man war damals gerade dabei, die Reihe der Päpste zu vollenden, welche in runden, moſaikartigen Brustbildern über den Säulen und unter dem Gesimje um die ganze Kirche herum und sogar in den Seitenschiffen angebracht werden ; es ist viel Plaz dazu nötig , denn 214 Papstbilder sollen hier verewigt werden . Die Reihe wird eröffnet rechts von der großen Altarnische mit dem Apostel Petrus , und unter jedem Bilde steht in großen goldenen Buchstaben die angebliche Dauer der Regierung eines jeden Papstes .

So

steht dort geschrieben : „ S. Petrus sedebat ann. XXV mes . II. dies VII ; S. Linus sed. etc., S. Cletus sed. etc. , S. Clemens I. sed. etc. Der 13. und 14. Papst sind als S. Eleuterius und S. Soter angegeben, fallen nach dieser Rechnung in die zweite Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. und sind schon mit einer Tonsur verunziert, welche doch erst so und soviel Jahrhunderte später, unter Gregor VII., wirklich Mode wurde. Die ganze Zuſammenstellung war mir höchst ärgerlich, denn man hat hier versucht, die schöne mystische Geschichte der ersten Christengemeinden zu Rom mit ihren unbestimmten und geheimnisvollen Umrissen in die Form von bestimmten, natürlich modern ersonnenen Porträts und in die Dauer von sogenannten „ päpstlichen “ Regierungen hineinzuzwängen. Was würde der heilige Petrus dazu jagen, wenn er hier lesen sollte : ,,sedebat S. Petrus !" Wie anders wirfte der wiederholte Besuch der Katakomben mit den Grabstätten der ersten Christen auf mich ein !

Von wie hohem Intereſſe

waren mir die Inschriften an diesen Gräbern und die vielen Geheimzeichen, welche neben den irdischen Resten eines Verstorbenen für alle Zeit beweisen sollten, daß er ein Christ gewesen sei . Am häufigsten sieht man hier die griechischen Anfangsbuchstaben des Namens Christi, oft auch in ihnen verschlungen das A und das 2, als des erſten und letten Buchstaben des griechischen Alphabets . Auch einen Palmenzweig oder eine Taube mit dem Ölblatt, sehr häufig aber einen Fisch findet

Rom.

man eingemeißelt.

Das

griechische Wort „Ichthys “

193

(Fisch)

enthält

nämlich die Anfangsbuchstaben der fünf griechischen Worte : „Jeſus Christus, Gottes Sohn, der Erlöser." Sehr rührend war die einfache griechische Grabſchrift, die ein Vater seinem Kinde gesezt hatte

und

welche mit den Worten begann : „Meiner glückseligſten Tochter “ ; nur an ihre Glückseligkeit dachte er, nicht an seinen Schmerz bei ihrem Heimgange. Das große Künstlerfest, welches früher bei den Cervaro- Grotten alljährlich gefeiert wurde, hatte während der Revolutionsjahre nicht mehr stattgefunden. Wir freuten uns, daß wir es in diesem Jahre wieder mitfeiern durften. Ein anderes Lokal, das Castello Jubileo, vor der Porta Salara an der Tiber war jest zu diesem Feste auserwählt ; früher wurde es nur von dem deutschen Künstlerverein gefeiert, jezt waren alle Künstler dabei beteiligt, deren Mehrzahl allerdings Deutsche Bei Ponte Salara war das allgemeine Rendezvous ; es waren etwa vierzig Mann zu Pferde, vierzig zu Esel, hundert zu Wagen und hundert zu Fuß erschienen. Die meisten hatten sich in irgend einer waren.

Weise mehr oder minder drollig kostümiert, ſo daß es ein nettes , in der grünenden Campagna lebhaft flimmerndes Farbengemisch abgab. Der gewählte Präsident der Künstlerrepublik war für diesen Tag der deutsche Landschaftsmaler Schweinfurt mit seinem vollen Bacchusgesicht, der im Triumph auf einem reich verzierten, von zwei prächtigen Ochsen gezogenen Wagen eingeholt wurde. Nach gehaltenen Reden, Absingung von deutschen Liedern, Austrinken einiger Fässer Wein jezte sich der Zug in langer Prozeſfion das Tiber-Tal aufwärts in Bewegung : voran die Reiter hoch zu Roß, darauf der Präsidentenwagen, dann die Infanterie, hierauf die Eselkavallerie, endlich die Reihe der Wagen. Alles das mit den wehenden Fahnen nahm sich von dem Tiber-Talrande, auf dem ich oben einherschritt, in der klassischen Landschaft und bei hellem Sonnenschein herrlich aus ; denn die vom Regen der letzten Tage hoch ange. schwollene Tiber, die Hügel der Campagna und Rom selbst bildeten den Hintergrund. Viele Familien mit Damen und Kindern folgten im Laufe des Tages nach, so daß schließlich das Ganze das Bild einer kleinen Völkerwanderung abgab.

Der Plaß bei dem Kaſtell eignet sich vortrefflich zu

solch einem Feste : auf dem von Hügeln eingeschlossenen Rasenplaye wurden Wettrennen zu Pferde, zu Esel und zu Fuß angestellt, die Sieger wurden festlich geschmückt und belohnt ; ein Mittagessen ward unter einem weiten Zeltdach am Fuße einer Travertinerfelswand eingenommen. Alles jaß dabei auf dem Rasen, Meſſer und Gabeln gab es nicht, es wurde nicht zu viel getrunken, um so mehr aber gesungen — kurz, alles hatte den netten, anständigen Anstrich, den ich schon so oft an dergleichen Künstler13 v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

194

Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

festen bewundert.

Es glückt diesen gottgesegneten Leuten alles unter der

Hand, ohne daß man weiß, was eigentlich zu der allgemeinen Heiterkeit beiträgt. An malerischen Scenen fehlte es nicht, und erst bei Dunkelwerden kehrte die ganze Gesellschaft, Mauern zurück.

höchlichst befriedigt,

in Roms

Ganz in der Nähe des Caſtello Jubileo fließt von der rechten Seite die Cremera und von der linken Seite die Allia in die gelbe Tiber hinein. Am ersteren Flüßchen fand die Schlacht der 300 Fabier gegen die Vejenter (vergl. Livius im ersten Buch) und am zweiten Flüßchen die Schlacht gegen die Gallier im Jahre 390 v. Chr. (vergl. Niebuhr in ſeiner römischen Geschichte) statt. Beide Täler konnte man vom Feſtplage aus gut übersehen : Cremera und Allia, was für Namen ! Wunderſames Gefühl, wenn man solch denkwürdige Erdenplätze, die an sich gar nicht bedeutend find, mit leiblichen Augen betrachten darf. Die Aussicht auf Rom und auf St. Peter von diesem Punkte aus möchte ich für eine der schönsten erklären, die ich gesehen. Unmöglich ist es, alle die Paläste und Villen, die Kunſtſammlungen zu beschreiben, mit deren Besuch wir unsere Zeit gründlich ausnußten. Auch an vielen herrlichen Ausflügen in die Umgegend fehlte es uns nicht. Welch poetische Landschaftsbilder in der Campagna, welche Baumgruppen in meinem besonders geliebten Veji ! Rom ist eine Welt ! so sagt selbst ein Goethe, und man braucht Jahre, um sich nur erst darin gewahr zu werden. So konnte also auch der Mann tros aller ihm zu Gebote stehenden Schnelligkeit der Auffassung, trog aller seiner Geistesgewandtheit, vor allem auch im Rubrizieren und Ordnen alles dessen, was er gesehen, trotz der Außerordentlichkeit seines Gedächtnisses hier in Rom nicht so bald und so leicht durchdringen.

Wie schwach und ohnmächtig

kam ich nun gar, als armer Erdenwurm, mir vor !

Und was für neues

Material hat sich nicht seit Goethes Zeit wieder aufgesammelt. Glücklich preist Goethe die Reisenden, die sehen und gehen", denn ihnen wird der Abschied von Rom nicht so schwer, nicht so unendlich sauer, weil sie nicht heimisch geworden sind. Wie kläglich aber ist in Rom die Existenz eines Touriſten vom reinsten Wasser ! Man sieht ja deren alltäglich so viele, die alles geſehen haben, überall einmal gewesen sein wollen ! Sie sind wirklich zu be dauern, die so in acht oder vierzehn Tagen Rom von einem Ende zum anderen durchstreifen, abends, müde zum Umfallen, doch wieder bei all und jedem sich erkundigen, wie sie am folgenden Lage am besten hunderterlei Sachen hintereinander besehen und miteinander verbinden können — und schließlich bei ihrer Abreise geht ihnen ein so großes Mühlrad im Kopf herum, daß sie eigentlich nur wiſſen und Zeit ihres Lebens

Neapel .

195

behalten, daß Rom viele Kirchen und neben vielen Ruinen auch viele Bildergalerien habe ! Mit meinen Reisegefährten war ich, Gott sei es gedankt, auch darin völlig einer Meinung, daß wir an jedem Tage nicht zu viel sahen, daß wir die Gründlichkeit vorwalten ließen, kurz , daß wir das multum den multis borzogen. Der Abschied von Rom wurde mir recht schwer, denn Rom hat es an sich, viel mehr als alle anderen Städte, die ich kenne, das Gemüt zu fesseln.

Meine Reise nach Neapel und meinen Aufenthalt dort will ich

nicht von neuem beschreiben, da ich ja all die herrlichen Plätze wiedersah, die ich schon früher beschrieben habe, nur hatte ich den Eindruck, daß der Genuß beim Wiedersehen viel höher und reiner als das erste Mal war, mein Intereſſe an den Schäßen der Natur und der Kunſt viel geläuterter. Zwei Damen, die wir schon in Rom kennen gelernt hatten, die Gräfin Dohna-Dönhofſtedt und ihre Nichte, Gräfin Marie Schwerin, fragten mich bald nach unserer Ankunft in Neapel, ob sie nicht von nun an die weitere Reise mit uns gemeinschaftlich machen könnten.

Keudell

und ich bekamen zuerst einen gewaltigen Schreck, und wir wurden uns klar, daß unsere Junggesellenreise sich nunmehr ganz anders gestalten würde als bisher ; nach kurzer Überlegung sahen wir aber ein, daß es ganz unritterlich sein würde, wenn wir die Frage der Damen mit Nein beantworten wollten :

Und wahrlich, wir haben unser Jawort nicht zu

bereuen gehabt ! Denn gerade durch diese liebenswürdigen Damen hat unser Aufenthalt in Neapel, wie auch unsere Reise in Sizilien viel an gemütlich freier Geselligkeit gewonnen.

Wir sorgten aber dafür, daß

noch andere Damen und Herren sich anſchloſſen, und forderten mit Erfolg die Frau v. Eichel mit ihrer Tochter Anna aus Weimar, meinen alten Heidelberger Freund Richard v. Pfuel

( den späteren Gesandten in

Stockholm) , einen Grafen Latour-Baillet (ein naher Verwandter des österreichischen Kriegsministers Grafen Latour, welchen die Rebellen im Sommer 1848 an einen Laternenpfahl gehängt hatten) , die beiden Maler v. Binzer und Ludwig auf, an unserer Reisegesellschaft teilzunehmen. Eine Beſteigung des Vesuv, die ich mit meinen Reisegefährten verabredet hatte, unterließ ich, weil ich nach Hause schreiben wollte. Der Vesuv lag mit seiner Feuer- und Rauchsäule vor meinen Augen, als ich in der Straße Santa Lucia meine Briefe schrieb. Es war Nacht geworden, und starker Regen war eingetreten, als ich wahrnahm, daß Leute mit Fackeln den Vesuv von zwei Seiten her hinaufstiegen. Ich lachte innerlich darüber, daß bei solchem Wetter verrückte Engländer es versuchten, den Sonnenaufgang an dem folgenden Morgen vom Gipfel des Vesuvs zu betrachten. Spät ging ich in den Gasthof, in welchem ich 13*

196

Sechster Abschnitt : Reise durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

mit meinen Reisegefährten wieder zusammentreffen wollte, dort ver sicherte mir aber der Oberkellner, daß die Herren schon alle da geweſen und in das Lustspieltheater San Carlino gegangen seien.

Ohne irgend

eine Besorgnis legte ich mich darum spät in der Nacht zum Schlafen nieder ; erst um 3 Uhr morgens kam mein Stubengenosse Keudell zurück und auf meine Frage, wo er so lange gewesen, antwortete er ruhig: „Schlaf nur weiter ! "

Welch Schrecken ergriff mich nun aber, als ich

bei heller Morgenſonne den schlafenden Freund in seinem Vette betrachtete. Sein Gesicht war von Staub und Asche bedeckt und die Schweißtropfen waren durch Asche und Staub hindurchgerieselt. Mit leiser Stimme sprach er nur die Worte : Delius ist in den Krater gefallen und ist tot!" Er und alle die anderen Herren, die den Vesuv mitbestiegen hatten, waren in der traurigsten Körper- und Gemütsverfassung, ja, für einen derselben (Pfuel ) fürchtete ich, daß eine ſeeliſche Verſtörung ihn ergriffen hätte. So wurde es denn nun meine Pflicht, für das Begräbnis des Verunglückten zu sorgen, wobei mir eine Menge von Schwierigkeiten erwuchsen, weil der katholische Pfarrer in Resina sich weigerte, die Leiche eines Kezers auf dem dortigen Kirchhof beerdigen zu laſſen ; alle meine überredungskünste und namentlich meine Versicherung, daß der Verstorbene ein guter Christ gewesen sei, scheiterten an der Halsstarrigkeit des fanatischen Priesters.

So mußte ich denn auch das Reisegepäck des

Verunglückten nach Bremen befördern und an seine mir unbekannte Familie den Unglücksfall melden . Der bekannte Shakespeare-Forscher, Profeſſor Nikolaus Delius zu Bonn, hat die Reisebriefe seines Bruders bald darauf herausgegeben und mir ein Exemplar mit einem erschütternden Briefe zugesandt. Am Schluß dieser Druckschrift ist nachfolgende Bemerkung und mein eigener Brief veröffentlicht : „ Vorstehendes war das lette Lebenszeichen, das der Reisende in die Heimat senden sollte ! Wenige Tage später folgte, statt des erwarteten nächsten Briefes aus Rom, noch einer aus Neapel, aber nicht mehr von der Hand dessen, der die früheren geschrieben, sondern von fremder Hand, welcher das schmerzliche Los gefallen war, den fernen Angehörigen ein entsetzliches Ereignis kundzutun. Wir lassen diese Mitteilung unverändert hier folgen : wissen wir doch kaum besser und dankbarer die rührende Teilnahme zu würdigen, die den teueren Dahingeschiedenen auf seinem Todesgange und darüber hinaus begleitet hat, als durch eine einfache Wiedergabe des Berichts in des Berichterstatters eigenen schönen Worten. Wir würden durch jede Zutat wie durch jede Auslassung die herzzerreißende und doch hebende Wirkung derselben nur schwächen :

Neapel (Delius' Cod).

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Neapel, den 12. Mai 1854. In dem Augenblicke, wo ich diese Zeilen beginne, sind erst 24 Stunden verflossen, daß der Doktor Delius in das Zimmer hereintrat, welches ich mit meinem Reisegefährten , dem Königl. preußischen Regierungsassessor v. Keudell, bewohne. Delius hatte das Zimmer neben uns inne (das Zimmer Nr. 3 im vierten Stockwerk des Hauses Santa Lucia Nr. 28) und hatte meinen Reisegefährten vor längeren Wochen in einer Abendgesellschaft zu Rom kennen gelernt. Er war bald darauf von Rom abgereist, hatte Sizilien nach allen Richtungen hin durchreist und hatte geſtern in aller Frühe meinem Freunde v. Keudell die genaueſte Auskunft darüber erteilt, wie die Nciſe durch Sizilien am besten einzurichten jei. Als er in unser Zimmer gegen halb zehn Uhr morgens hereintrat und Herrn v. Keudell, der schon ausgegangen war, nicht antraf, wollte er mich, der ich ihm ganz unbekannt war, sofort wieder verlassen. Ich bat ihn, näherzutreten , denn Reudell hatte mir ihn als einen höchst liebenswürdigen Mann geſchildert, und er ſelbſt mit seinen hellen, leuchtenden Augen, mit seinem gefunden, von der Sonne gebräunten Gesichte, mit seinem großen, schwarzen Bart, und mit seinem feinen, sofort einnehmenden Wesen machte einen tiefen Eindruck auf mich . Er teilte mir mit, daß er von Keudell gehört, daß wir an demselben Tage mit mehreren anderen Herren den Vesuv besteigen wollten, und daß er sich entschlossen habe, sich uns anzuschließen . Nachdem wir noch einige Worte über Sizilien gewechselt, gaben wir uns ein Rendezvous im Cafe di Europa, auf dem großen Plaße, dem Königlichen Schlosse gegenüber. Dort traf ich ihn denn um halb elf Uhr, machte ihn bekannt mit dem Regierungsreferendar v. Pfuel aus Potsdam und dem Herrn Jacobs, ebenfalls aus Potsdam, welche beide mit Herrn v. Keudell die Partie auf den Vesuv hinauf verabredet hatten. Ich selbst hatte mich entſchloſſen, da ich den Vesuv schon kannte und mehrere Briefe zu schreiben hatte, in Neapel zurückzubleiben. Delius entfernte sich dann noch erst auf einige Minuten, um einen deutschen Apotheker Bernkastel nach den Preisen der Wagen und Führer zu fragen, und kam zurück mit der Nachricht, daß er einen Fuhrmann gefunden habe, der für vier Piaſter bis zur Einsiedelei ( am Fuße des großen Lavakegels ) fahren wolle. Das sollten die letzten Worte sein, die ich aus dem Munde des schönen, kräftigen Mannes vernehmen sollte. Gegen elf Uhr mittags ist er in Begleitung der Herren v. Keudell, v. Pfuel und Jacobs aus Neapel herausgefahren , um nicht wiederzukehren. Gegen sechs Uhr nachmittags befanden sich die Herren auf dem Gipfel des Vesuvs und gingen an dem Rande des im Jahre 1850 ge bildeten Kraters entlang, indem Delius ihnen in seiner lebendigen, liebenswürdigen Weise Schilderungen aus Sizilien mitteilte. Delius

198

Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

selbst ging nicht weit vom Rande des Kraters, der Führer dicht neben ihm , die anderen Herren teils vor, teils hinter ihm, als ein Stein von dem Gerölle, über welches sie hinabgestiegen waren, von oben herabkam

und

schneller

und

schneller

auf

die

Herren

zurollte.

Delius wollte laufend ihm ausweichen, geriet dabei zu nahe an den Rand des Kraters, der Stein traf ihn am Fuß und Bein von hinten, Delius glitt aus, und in demselben Moment, als der Führer, der ihm am nächsten war, hinzusprang und ihn halten wollte, stürzte er den steilen Abhang hinunter. Alles das ging in einem einzigen Augenblick vor sich, so daß die anderen Herren ihn nur gleiten und verschwinden sehen konnten, der entferntere Keudell sogar erst durch das Geschrei des Führers aufmerksam gemacht und erst dann gewahr wurde, daß Delius aus ihrer Mitte entrissen und verschwunden sei. Der Abhang ist nach Aussage der Führer 400 Palmen, also über 200 Fuß hoch ; da er aber steil und faſt überhängend ist, so konnte der arme Verunglückte weder während seines Sturzes, noch später, als er unten lag, gesehen werden. Von feiner Seite her ist ein Zugang. Nichts war zu sehen noch zu hören. Kein Mittel zur Hilfe in der Nähe. Keudell und Jacobs liefen nun sofort den Berg hinunter, der eine nach Resina, der nächsten Ortschaft, der andere nach der Einsiedelei und den nächsten am Fuß des Berges liegenden Häusern. Bei der Höhe des Berges konnte erst nach Verlauf von zwei Stunden Hilfe zur Stelle geschafft werden, d . h. Mannschaften mit Stricken, Leitern und Fackeln ; denn die Nacht war inzwischen hereingebrochen, und der Regen, der faſt ununterbrochen herniederfiel, machte diese fürchterliche Nacht noch dunkler. Auch der Arzt traf ziemlich zugleich mit den Hilfsmannschaften ein, da Jacobs zwei deutsche Landsleute aus Hamburg zu Pferde auf dem Wege angetroffen hatte, die dann den Arzt schneller herbeirufen konnten. Alles das sollte aber vergeblich ſein. Pfuel war inzwischen oben an der Unglücksstelle zurückgeblieben. Lange Zeit hörte er gar nichts. Endlich hörte er auf seine Fragen stöhnende Töne von unten zur Antwort, die einzigen Worte, die Pfuel hat verstehen können, waren : » Ich sterbe ! Ich kann mich nicht bewegen. «< Und zulegt noch : » Ich sterbe! « Beinahe noch eine Stunde lang waren diese Worte von unten herauf zu vernehmen. Während dieser Zeit sprach Pfuel von oben herab dem Sterbenden Trost zu, so viel er vermochte ; er bat ihn, sich stille zu halten, da ja die Hilfe bald kommen würde, und nicht zu verzagen, da ja die anderen bald mit Stricken und Leitern zur Stelle ſein würden. Als Pfuel einige Schritte weit hinweggegangen war, um zu sehen, ob die anderen wohl von der Höhe aus sichtbar seien, und als er bei seiner Rückkunft wiederum fragte, wie sich Delius befände und ob die Schmerzen nicht etwas nachgelaſſen, erhielt er feine Antwort mehr.

Seine Fragen waren umsonst, so oft er sie auch

Neapel (Delius' Tod).

199

wiederholte ; Todesstille war eingetreten, kein Stöhnen mehr, auch keine Schmerzen mehr : Delius war eingegangen in das Land, wo es keine Schmerzen und kein Stöhnen gibt. Der Leichnam ward bald darauf aus dem Abgrunde herausgezogen,

nachdem sich einige an Stricken hinuntergelassen hatten. Er ward oben vom Arzte und von den Gefährten untersucht, aber kein Zeichen des Lebens fand sich mehr. Kein Glied war gebrochen, keine äußere Verlegung sichtbar ; es müssen die edleren, inneren Teile durch den Sturz zerschmettert worden sein. Das Gesicht war ruhig und ernst, nicht ent stellt vom Todeskampfe. Der Herr über Leben und Tod hat den Seligen schnell, aber ohne schweren Todeskampf zu sich berufen. Bei Fackellicht ist der Tote in der vergangenen Nacht nach Resina hinuntergebracht worden ; morgen soll er auf dem schönen protestantischen Kirchhof in Neapel bestattet werden. Meine drei Reisegefährten Keudell, Jacobs und Pfuel, von Angst und Anstrengung ganz erschöpft, sind nur auf wenige Stunden heute früh nach Neapel zurückgekehrt und sind jezt wieder nach Resina hinausgefahren, um die erforderlichen Schritte für die Bestattung zu tun. Zwei von ihnen haben wenige Zeilen aufseben können, indem sie den Hergang des entsetzlichen Unglücks als Augenzeugen erzählt haben ; ich konnte nur übernehmen, aus ihren mündlichen Erzählungen das Obige zuſammenzustellen . Nur wenige Stunden haben wir den seligen Dr. Delius gekannt, wir haben ihn in den wenigen Stunden wir alle liebgewonnen ; wir wissen nicht einmal, ob er nahestehende Verwandte hinterläßt. Daß aber wiſſen wir, daß ein solcher Mann viele hier auf Erden zurücklassen muß, viele na mentlich in seiner Vaterstadt, die ihn von Herzen lich hatten, und denen mit ihm vieles vom Herzen gerissen wird . Denen allen muß dann der kleinste Umstand seines Todes, jedes Wort, was er in den letzten Stunden vor seinem Tode gesprochen, jeder Schritt, den er getan, von Wichtigkeit sein, und so habe ich denn das alles auf das genaueste in höchster Eile aufgeschrieben, damit es eher nach dem Norden hingelange, als irgend welche andere unbeſtimmte Gerüchte und Erzählungen. Der Prediger der preußischen Gesandtschaft ist soeben benachrichtigt worden, um morgen früh 9 Uhr die Beerdigungsfeierlichkeit zu leiten ; die Familie vom Rath, mit welcher der Dr. Delius die Reise nach Sizilien gemeinschaftlich unternommen, ist nach der Aussage unseres Wirts gestern früh schon von hier nach Rom abgereist, so daß nur Landslente, nicht nähere Bekannte, dem Sarge morgen folgen werden. Sie werden aber dem Sarge folgen mit dem Gebet : » Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müſſen, auf daß wir klug werden ; Herr -Gott, Du allein bist unsere Zuflucht für und für — und ob ich schon wandere im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir, und

200

Sechster Abſchnitt : Reiſe durch Belgien, Frankreich, Algerien und Italien.

ich werde bleiben im Hauſe des Herrn immerdar.

Tröste aber alle die,

o Herr Gott, die den lieb hatten, den Du zu Dir genommen, tröſte ſie und mache sie fest in dem Glauben, daß denen, die Dich lieben, alle Dinge zum besten dienen.« Blut ist ein ganz besonderer Safts, aber der Nerv ist ein noch viel absonderlicherer Lebensfaden, an dem wir armen Menschenkreaturen zappeln. Daß ich in die Nähe von Danzig gehen werde, wie Sie in den Zei tungen gelesen haben, um

das Secbad zu brauchen, iſt nicht richtig. Ich

habe noch keine Sommerpläne gemacht, außer, daß ich nur fort muß, fort von Berlin und allen Geschäften. Sehen Sie, man sollte denken, daß mir der Umgang mit dem König und jeder Vortrag bei ihm im Lauf der vielen Jahre, die wir nun schon miteinander verkehren, leichter und leichter werden sollte; es ist aber das gerade Gegenteil der Fall ; die Schwierigkeit nimmt zu mit der Proportion der Zunahme der Schwäche seines Alters. kaput gemacht.

Gestern hat er mich völlig

Es war allerdings eine schwere Sache, in der ich ihn

Vortrag zu halten hatte.

Aber der Mangel an Entscheidungskraft bei ihm wird für mich immer unerträglicher . — Geſtern abend hatte ich nun Staatsministerialſizung. Da habe ich meinen partikularen Finanzminister streicheln müssen : Es handelte sich um die Verteilung der französischen Kapitulationsgelder unter die deutschen Staaten, und da wollte dieser Erzpartikularist um lumpige S Millionen, die Bayern mehr be kommen soll, als er für Recht hält, die deutsche Einheit zertrümmern, während wir doch wahrhaftig allen Grund haben, den auswärtigen Mächten gerade jezt zu zeigen, daß wir im eigenen Lager keinen Streit kennen. Ich habe ihn, wie gesagt, streicheln müssen, aber solch ein Streicheln macht nervenkrank. Ich werde nun in den nächsten Tagen die Reichstagsdebatten über den auswärtigen Etat und über die Jesuitenpetitionen noch mitmachen, aber dann schramme ich ab. Sie meinen, das mir wohlbekannte Seebad Kahlberg sei der richtige Plat, an dem ich Einsamkeit finden würde, und Erquickung in der Natur ! Nun, ich werde es mir überlegen, wenn dort ein so schöner Wald ist, wie Sie ihn beschreiben, und wenn man dort Adler, Reiher und Kormorane schießen kann.

Doch warum dulden Sie

diese infamen Bestien, die Kormorane, noch in Ihrem Bezirk ?

In

Varzin, wo sie keine Horste haben, fraßen sie mir bloß im Vorbeifliegen alle Fische auf. Doch nein nach Kahlberg kann ich nicht gehen, da finde ich meine Bequemlichkeit nicht, meine Familie keine vernünftigen Betten , und das Seebad ist mir doch zu schwach ! Wenn Sie glauben, daß ich in Varzin zu sehr behelligt sei, so irren Sie sich !

Ich bin da hermetisch verschlossen.

Bismarck.

429

Von Danzig hätten mich viele in Varzin aufgesucht ?

Der alte Van-

croft ? Ja, der ist freilich von Danzig aus zu mir gekommen ; der General Barnekow ? Ja, der auch, das sind aber doch seltene Ausnahmen. Aber ich muß zugeben, daß ich auch in Varzin wie in einer Menagerie size, und daß viele Leute glauben, sie brauchten nur hinzukommen, um ein Wundertier in Augenschein zu nehmen. Und das macht mich auch in Varzin wieder krank, daß ich absolut ein Wundertier ſein ſoll. Was sagen Sie dazu, daß die wildfremdesten Damen vornehmen Standes, die ich nie mit Augen gesehen, die nie meine Schwelle überschritten haben, sich in Varzin bei mir melden lassen und, nachdem ich sie favaliermäßig empfangen, sofort mir wieder den Rücken kehren : sie hätten nun genug, sie hätten mich gesehen !

Neulich haben sich zwei

Menschen aus Caracas in Varzin eingenistet und erklärt, sie würden nicht eher wieder fortgehen, bis sie mich gesprochen hätten, denn nur zu dieſem Zweck hätten sie die weite Reise gemacht. Kein Abweisen half. Ich ließ ihnen sagen, daß zwei Förster mit geladenen Gewehren jede Annäherung an mich verhindern würden ; ich ließ ihnen eine Abſchrift der Paragraphen des Landrechts zugehen, welche von der Verletzung des Hausrechts sprechen. Alles umsonst ! Ich konnte tagelang das Haus nicht verlaſſen, weil ich den Kerls den Gefallen nicht tun wollte ! Und bei solchen Erlebnissen sollen einem die Nerven nicht reißen ?! Gott bewahre jeden davor, für ein Wundertier gehalten zu werden. Und nun diese Reichstagssizungen !

Um 12 Uhr fangen sie schon

an, und wenn ich pünktlich erscheinen will, komme ich immer unausgeschlafen hin. Freilich, zur Jesuitendebatte komme ich immer noch pünktlich genug, wenn ich auch um 2 oder 3 Uhr komme! Nun aber muß ich doch die Damen, die noch nichts zu essen bekommen haben, zum Büfett führen.“

Am 14. Mai 1872, in der Reichstagsſißung, ließ mich Bismarck kurz vor der

Debatte

(wegen der Ernennung des Kardinals Hohenlohe)

herausrufen in seine Stube ; er wartete schon auf dem Gange auf mich ; ich dachte Wunder, was er wollte, anstatt dessen : „Ach, mein lieber Diest, es ist nur eine Kleinigkeit, weshalb ich Sie sprechen wollte ; ich wollte Sie gern heute mittag bei mir haben, nun geht's aber nicht, weil mir der Kronprinz für heute die Deputation aus Westpreußen fortgenommen hat, darum, bitte ich, schenken Sie mir doch den morgigen Mittag." Ich : Ja, Durchlaucht, ich habe heute eine Stunde vor der Situng Ihre freundliche Einladung zu morgen schriftlich erhalten und habe auch schon geantwortet, daß ich mir die Ehre geben werde.

430

Zwölfter Abschnitt : Regierungspräſident in Danzig.

Er : Also zu Donnerstag kann ich Sie dann erwarten ? Ich : Nein, ich dachte verstanden zu haben zu morgen ? Er : Nun, heute ist doch Mittwoch? Ich : Nein, heute ist Dienstag. Er

Ach so, ja !

Ich werfe die Tage durcheinander.

Also dann

ist ja alles in Ordnung. Ich : Nun aber, Durchlaucht, darf ich fragen, ob ich am vorigen Sonnabend recht geweisjagt habe, daß Sie sich heute schon viel wohler fühlen, weil Sie sich schon angeregt fühlen durch die Aussicht auf baldige Freiheit in der Natur? Er (mit tief tragisch-melancholischem Ausdruck) : Nein, ich fühle mich heute schlechter als je ; ich transpiriere vor Schwäche ; ich fürchte mich vor einem Nervenschlage, (mit einem tiefen Seufzer mir die Hand reichend) mit mir ist es aus ! Und damit ging er zurück in den Saal und hielt einige Minuten darauf die beiden fulminanten Reden gegen die Ultramontanen, die in allen Zeitungen standen.

Kurz vor Eröffnung der Reichstagsſeſſion im Frühjahr 1873 hatten die Kämpfe der preußischen Staatsregierung (betreffend die Kirchengeſetze) mit der starken Minorität (Katholiken und Konservative ) im Abgeordneten- und Herrenhauſe ſtattgefunden ; der Fürst Bismarck hatte die epochemachende Rede im Herrenhauſe zu Gunsten jener Geseze gehalten, in welcher Rede er den Konservativen, die gegen ihn gesprochen und gestimmt, scharf entgegentrat und ungefähr die Worte brauchte : „ Das Vertrauen zu den Konservativen ist in mir erloschen und wird nimmermehr wiederkehren." Ich reiste am 11. März, betrübt über die Gesamtlage des Vaterlandes und über die Isolierung, in welcher ich mich bei Beurteilung der Kirchengesete unter meinen politischen und kirchlichen Freunden zu befinden glaubte, zur Reichstagseröffnung nach Berlin, hatte viele Unterredungen mit den Mitgliedern der konservativen Fraktion des Reichstags und fand zu meiner freudigen Überraschung, daß faſt alle Mitglieder dieser Fraktion das formelle Vorgehen der Staatsregierung und namentlich auch jene Rede des Fürsten Bismarck entschieden mißbilligten, materiell

aber mit mir in dem Kampfe Deutschlands

gegen Rom auf ſeiten der Staatsregierung standen. Als eine schneidige Waffe in dieſem notwendigen Kampfe wurden die Kirchengesetze allgemein erkannt ; der Kultusminister Falk (welcher im Reichstag den leer gewordenen Plaz Keudells neben mir eingenom men hatte) bestätigte mir ebenfalls in einem längeren Gespräch am 14. März, daß die Kirchengeseße nur gegen Rom und den Papst gemünzt

Die Kirchengesetze.

431

seien, daß die evangelische Kirche aber auch nicht in die mindeſte Mitleidenschaft gezogen werden solle die einzige Änderung, die die evangelische Kirche erfahren würde, bestände tatsächlich darin, daß die Kandidaten der Theologie vielleicht etwas mehr als bisher in der Literaturgeschichte examiniert werden könnten ! -, daß die überschrift und Faſſung der Geseze, ebenso wie bei dem Schulaufsichtsgesetz, welches so viel unnüßen Staub aufgewirbelt habe, der Parität wegen nicht anders, wie geschehen, auch scheinbar gegen die evangelische Kirche hätte gerichtet werden müssen (dies lettere auf Beschluß des Staatsministeriums ) , daß er ja hoffe, die Verfaſſung der evangelischen Kirche bald zweifelloser und gesicherter als bisher hinstellen zu können, und daß ihm der Widerstand der evangelisch-konservativen Elemente im Herrenhause 2. ganz unverständlich bliebe. - Auf meine Einwendungen, daß die Mißverständnisse doch durch ein formell vorsichtigeres Vorgehen der Staatsregierung hätten vermieden werden können, daß aber jezt eine völlig babylonische Sprachverwirrung im ganzen Lande hervorgerufen sei, welche nicht mehr durch lange Reden, namentlich von seiner, Falks, Seite, oder durch so zweideutig mißverständliche Reden, wie die leste Bismarcksche im Herrenhause, sondern nur durch energische Taten und namentlich durch eine baldige Gesetzgebung zu Gunsten der evangelischen Kirchenverfassung gehoben werden könnte, erwiderte Falk, daß diejenigen, welche sich gern orthodox nennen, ihn (Falk) , Bismarck, die Staatsregierung, den Kaiser absichtlich mißverstehen wollten, und daß man auf sie bei der weiteren Entwickelung der Dinge leider keine Rücksicht mehr nehmen könne. Die Konservativen des Reichstags, mit denen ich Rücksprache genommen, namentlich v. Schöning, Graf Kleiſt, v. Helldorf, v . Denzin, v. Brauchitsch, v. Below, v . Minnigerode, v. Malzahn, v. Woedtke 2c ., rechneten die Zahl derjenigen Konservativen, welche im Abgeord netenhause gegen die Kirchengejeße seien, auf höchstens 20, im Herrenhause auf etwa 60 und im Reichstag auf 4 bis 5 heraus ( dagegen nur Bodelschwingh, Kommerstedt und vielleicht 2 oder 3 Schwankende) , ſo daß zu Gunsten der Kirchengesetze im Reichstage etwa 50, im Abgeordnetenhause etwa 30 bis 40, im ganzen also weit mehr als zwei Drittel der gesamten konservativen Volksvertreter gestimmt seien. Solcher Tatsache gegenüber erschien die Erklärung Bismarcks im Herrenhause, daß er mit der konservativen Partei brechen müſſe, um so auffallender, als er durch die vorausgehenden Reden gar nicht dazu provoziert worden war. Meine Auffaſſung, daß dem Fürsten Bismarck die obigen Tatsachen durch die konservative Fraktion des Reichstags vorgehalten werden müßten, wurde allseitig gebilligt, und ich wurde gebeten, den Fürsten über die Gesinnungen der konservativen Reichstagsfraktion zu vergewissern und ihn womöglich zu einer authentischen Inter-

Zwölfter Abschnitt : Regierungspräſident in Danzig.

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pretation seiner Herrenhausrede zu veranlaſſen. — Ich fragte daher am 18. März, abends gegen 8 Uhr, im Bismarckschen Palais an, ob er zu sprechen sei ; es wurde dies aber entschieden verneint mit dem Hinzufügen, daß der Fürst immer sehr böse würde, wenn sich jemand nur mündlich melden lasse.

Ich gab daher den zu diesem Zwecke bereits geschriebenen

Brief an jenem Abend ab und erhielt am 19. mittags durch den Grafen Arnim im Auftrage des Fürsten die Mitteilung, „daß sich Seine Durchlaucht freuen würde, mich am selben Abend um 9 Uhr zu sehen ". Ich fand mich pünktlich ein und kann nicht leugnen, daß ich in den mir so wohlbekannten Räumen einige Minuten mit einer gewiſſen Beklemmung antichambrierte ; denn die Sache, wegen der ich kam, ſchien mir sehr wichtig und heilig, und ich bat Gott, mir gegenüber dem gewaltigen Fürsten die rechten Worte in den Mund zu geben. Als ich eingelassen wurde, empfing mich Bismard in der gelben Küraſſieruniform, hinter seinem Schreibtisch stehend, streckte mir die Hand entgegen und forderte mich auf, ihm gegenüber am Schreibtiſch Plaß zu nehmen, indem er mir Zigarren hinschob, auch eine Maſchine zum Abschneiden der Spite präsentierte. Er selbst ließ sich eine große Meerschaumpfeife reichen.

Er war sichtlich in einer gewiſſen launisch-

gereizten Stimmung, indem er mit den Worten begann : „Verzeihen Sie, daß ich Sie etwas habe warten lassen müſſen, die Arbeit reißt bei mir nicht ab, und namentlich machen mich die vielen Unterschriften tot (er unterschrieb währenddessen noch einige Sachen) , da kommt nun wieder eine rote Mappe, die soll was Eiliges enthalten! (darin blätternd ) , Vorlage an den Landtag !

Ich will keine neuen Vor-

lagen dem Landtage mehr machen, der ist lange genug zusammen (heftig Klingelnd) , und das soll nun gar eilig sein ?

Können Sie sich denken,

daß irgend eine Landgestütssache eilig ist ?" Ich sah mit meinen guten Augen, daß die vor ihm liegenden Reinschriften bereits vom Grafen Roon an erster Stelle unterzeichnet waren, und er wollte an der zweiten Stelle schon die Feder zur Unterschrift ansezen, als der sehr ängstliche, fast zitternde Burcaubeamte eintrat, dem er die ganze Mappe hinreichte, er jolle die Sachen mal durchsehen, er könne das nicht alles ſelbſt tun, und es solle ihm gleich gesagt werden, ob die Sachen wirklich eilig seien.

Der Bureaubeamte entfernte sich,

und Bismarck jah mich nun mit seinen unheimlich blitzenden Augen ſtunim an, als wollte er fragen : „Was wollen Sie eigentlich hier ?" „Es ist nicht aus eigenem Antriebe allein“, begann ich, „ſondern auf den dringenden Wunsch einer großen Zahl der konservativen Fraktion des Reichstags, daß ich jetzt hier vor Ihnen size, um Sie zu bitten, die lezte von Ihnen im Herrenhause gehaltene Rede, welche geeignet ist, die allerverderblichsten Mißzverständnisse über Euer Durchlaucht Stellung zu

Bismarcks Bruch mit den Konservativen.

433

der konservativen Partei zu verbreiten, jo bald als irgend möglich, öffent lich und authentisch zu interpretieren , denn die konservative Partei des Reichstags ist sich bewußt, keinerlei Schwierigkeiten bisher Euer Durchlaucht Er unterbrach mich in lebhaftester Weise mit den Worten : „Wer gehört jezt zum Vorstand der konservativen Reichstagsfraktion ?" Zunächst antwortete ich : Herr v. Blankenburg, der sich noch nicht hat hierher begeben können", „Ha, Fahnenflucht ! " rief er dazwischen. „Ferner Graf Moltke, der aber mehr als Ehrenmitglied des Vorstandes figuriert, Herr v. Frankenberg-Ludwigsdorf, das älteste Mitglied des Hauses, Herr v. Denzin, wenn ich nicht irre, auch Herr v. Bodelschwingh -" „Halt ! “ ( jein Auge ſah dabei aus, wie das eines wilden, gereizten Löwen) , „ mit einer Fraktion, zu der Herr v. Bodelschwingh gehört, kann ich nicht verhandeln !" „Ich glaube“, entgegnete ich ruhig, „daß in jeder Fraktion sich Personen befinden, die Ihnen nicht genehm sind ; ich könnte Ihnen aus der nationalliberalen Fraktion so und so viele an den Fingern herzählen, und doch werden Sie deshalb den Verkehr mit der Fraktion nicht abbrechen." „Nun“, entgegnete er etwas milder, „ich kann mit Ihnen über Bodelschwingh nicht offen sprechen, die Namen Diest und Bodelschwingh find verkettet, und ich bleibe dabei, daß ich mit einer Fraktion, deren Mitglied Herr v. Vodelschwingh, mein abgesagter Feind, ist, unmöglich verhandeln kann . “ „Ich kann das Hindernis einer offenen Aussprache nicht einsehen, da ich mit Herrn v. Bodelschwingh zwar von alter Zeit her bekannt, aber nicht mit ihm verwandt bin, denn die Schwester meines Vaters war mit dem leider zu früh verstorbenen Miniſter v . Bodelschwingh verheiratet, und freilich muß ich Euer Durchlaucht bekennen, daß dieser lettere mir wie ein zweiter Vater gegenüberſtand ." „Ja, das war noch ein Mann “, rief er lebhaft dazwischen, „solche haben wir wenige gehabt !" „ Das tut nichts zur Sache, jedenfalls überschäßen Sie den Einfluß des Herrn v. Bodelſchwingh, der jezt sehr zurückgezogen von der Politik lebt, und namentlich überschäßen Sie seine Wirksamkeit in der konservativen Fraktion, wenn Sie bei der obigen Erklärung stehen bleiben wollen." „Ich überschätze den Bodelschwingh in seiner Gefährlichkeit nicht, wissen Sie, was er ist ?

Er ist der Fuchs, den man glaubt, totgeschossen 28

v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

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Zwölfter Abschnitt: Regierungspräsident in Danzig.

zu haben und ihn über die Schulter schmeißt, um ihn nach Hause zu tragen, und dann beißt einem das Biest hinten in die Wade." Bei dieſen Worten war er aufgesprungen und machte in Pantomimen den Jäger nach, der den über die Schulter hängenden Fuchs trägt. "Jedenfalls aber", erwiderte ich, „beißt Ihnen solcher Fuchs keinen Hasen mehr tot !" „Das sagen Sie nicht, dann kennen Sie Bodelschwingh schlecht ; der wirkt langsam, aber sicher mit ſeinem Gift ; ich sehe es ja, wie er in den Sigungen mal den einen, mal den anderen in die Ecke nimmt und dann leiſe ihm allerlei Märchen über mein Tun und Lassen vorerzählt und dabei lügt, wie gedruckt!" „Euer Durchlaucht sind hart und mißtrauisch in Ihrem Urteil ; freilich haben Sie mich neulich mit Bodelschwingh in der Reichstagssitung verhandeln sehen, aber wir haben nicht entfernt von Ihnen gesprochen, sondern von den Enkeln des von Ihnen verehrten Mannes, meines Onkels , deren Vormund ich bin ; ich sah wohl, daß Sie uns bei dieser Verhandlung fiirierten, aber Sie können sehen, wie sehr Sie sich geirrt haben.“ ,,So ?" entgegnete er gedehnt und ruhiger als bisher, „ das mag sein, aber über den Charakter von Bodelschwingh täuſche ich mich doch nicht ; wie er voll Lügen steckt, hätten Sie mit mir erleben sollen. Als wir kaum zuſammen Miniſter geworden waren, ging er mit mir in eine Staatsministerialsizung und wollte mir beweisen, daß er in einer Sache mir gegenüber recht habe, da er sich doch auf das Zeugnis des Herrn v. Kleist-Rezow berufen könne, den er an demselben Morgen gesprochen . habe. In der Situng fragte ich Roon, ob er v. Kleist-Rezow schon gesehen habe, da ich soeben erfahren, er sei in Berlin ; Roon antwortete erstaunt, daß er einen Brief von Kleist aus Süddeutschland erhalten habe. Als ich Bodelschwingh auf das Unwahre seiner Mitteilung aufmerksam machte, wurde er förmlich böse, blieb bei seiner lügenhaften Behauptung, daß Kleist in Berlin sei, und rief, es sei doch zu arg, daß ihm gar nicht mehr geglaubt würde. Roon aber stieß mich unter dem Tisch an und flüsterte mir zu : » Es iſt nicht recht von Ihnen, einem Menſchen auf seinem besten Hühnerauge herumzutreten ! « * ) Die konservativen Fraktionen haben Unglück, daß sie solche Mitglieder haben, denn so wie der Bodelschwingh ist z . B. auch der Glaser im Abgeordnetenhause, der als unfähiger Beamter erkannt worden ist, darum nicht mehr verwandt wird und nun alles tut, um der Regierung Verlegenheiten zu bereiten. " In einer Staatsministerialsizung, kurz vor Ausbruch des Krieges 1866, war Bodelschwingh einer Behauptung Bismarcks entgegengetreten mit den Worten : „ Bismarc habe gelogen". Bismarck aber hat Bodelſchwingh entgegengerufen : „ Nun, wenn man nicht einmal mehr lügen darf! “

Bismarck.

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„ Aber, Durchlaucht“, ſuchte ich zurückzulenken, „ ich komme wieder auf meine Mission zu Ihnen zu sprechen und muß Ihnen doch sagen, daß Ihre Worte im Herrenhauſe der größten Zahl der Konservativen um ſo unerwarteter gekommen sind, als wir bisher geglaubt haben, mit Ihnen in Fühlung geblieben zu sein ; wir hatten als stetige Vertreter Ihnen gegenüber bis zur Mitte vorigen Jahres den seligen Eberhard Stolberg, ferner den Geheimen Rat Wagner, deſſen traurige Angelegenheit freilich - "" jezt — „Traurig ? weshalb traurig ?" warf er fast wütend dazwischen. „Nun traurig auf jeden Fall“, erwiderte ich, „ er mag nun schuldig oder unschuldig ſein ; wir glauben alle mehr an ſeine Schuld, und jedenfalls kann er jezt nicht länger die konservative Sache bei Ihnen vertreten.“ „Wagner“, erklärte er wieder höchſt lebhaft, „iſt ein armer, von der ein Mann, dessen Regierung aufs schmählichste verlassener Mann, Taten ich nicht alle vertreten will (bei welchem Menschen kann man das ?) , der aber höchstens das getan hat, was Hunderte und Aberhunderte in allen Ehren stehende Männer auch getan haben —, Wagner hat kein Vermögen, ein Neſt von Kindern, drei Söhne in der Armee zu unterhalten und ist mit seinen vortrefflichen Gaben stets der Regierung dienstbar gewesen; ich habe mit aller Absicht in voller Uniform am hellen Tage vor allen Leuten ihm meinen Besuch gemacht, als die böse Nachrede über ihn hereinbrach, um ihm dadurch doch einige Genugtuung werden zu laſſen. Dagegen könnte ich Ihnen von einem Miniſter, der noch im Dienſt ist, viel erzählen.“ Ich suchte von neuem auf den wahren Zweck meines Besuches zurückzukommen und fuhr fort : „ Vor allem aber hatten wir doch zu einem faſt täglichen und Ihnen besonders genehmen Vertreter Ihren alten, beſten Freund, den Herrn v. Blankenburg, und zwar so, daß ich fast fürchte, Herr v. Blankenburg könnte es mir übelnehmen, daß ich heute in Fraktionsangelegenheiten zu Ihnen zu kommen gewagt habe. Wir alle wünſchen aber, keine Zeit, auch keinen Tag zu verlieren, ohne daß Sie von dem Mißton Ihrer Rede und von der wahren Stimmung der Konservativen durch dollzähliges Zeugnis unterrichtet seien.“ „Wissen Sie, wann Blankenburg kommt ?" Ich

Herr v. Woedtke jagte mir gestern, daß er erst in 8 bis

14 Tagen kommen könne, weil er noch durch Geschäfte in Stettin zurückgehalten würde.“ Er: " Geschäfte in Stettin !" rief er wieder wütend dazwischen -„wie können die ſein Ausbleiben hier entschuldigen ? Blankenburg will eben nicht kommen, und gerade er könnte es so gut ! Blankenburg ist ein Mann von mindeſtens 25 000 bis 30 000 Zalern jährlich Revenuen, dem es also ein Leichtes wäre, das Opfer zu bringen, welches von Reichstags28*

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Zwölfter Abschnitt: Regierungspräſident in Danzig.

mitgliedern verlangt wird, aber Sie ſehen eben aus seinem Wegbleiben“, und nun fing er in höchst elegischem Tone und mit fast melancholischem Gesichtsausdruck, der ihn im weiteren Verlauf des Gesprächs kaum mehr verließ, ich bin verlassen, wie ich es im Herrenhause gesagt, verlaſſen von meinen besten Freunden." Bei diesen Worten traten im vollen Ballstaat die Frau Fürstin und Komtesse Marie herein, musterten mich ängstlich mit den Blicken, als ob sie erforschen wollten, welchen Charakter unser Gespräch habe, und jagten dem Mann und Vater Adieu, da sie eben zu der feierlichen Eröffnung des neuen Bazars zwischen der Behrenstraße und den Linden sich begeben wollten.

Indem er ihnen beiden einen Kuß gab, sagte er weich : „Aber ,

hört Ihr, Ihr bleibt nicht länger, als der König bleibt ; es schickt ſich nicht für Euch, bei solchen Gelegenheiten Euch lange im Gedränge herumzutreiben!" Sie versprachen das, warfen mir einen freundlichen Gruß zu und gingen hinaus. Ich fand nunmehr endlich Muße, ohne Unterbrechung seinerseits die oben bereits auseinandergesette Sachlage und namentlich die Stellung der Konservativen zu den Kirchengesetzen, das Zahlenverhältnis innerhalb der konservativen Partei für und wider ausführlich zu schildern ; er hatte darauf nur die Antwort : „Ich danke Ihnen und kann nicht leugnen, daß mir Ihre Mitteilungen von hohem erfreulichem Intereſſe ſind, aber ich muß es doch wiederholen, ich bin ein verlassener Mann! Glauben Sie, daß Sie der Erste sind, der seit 7 Jahren, ja, ich kann sagen, seit 8 Jahren, meine Schwelle überschreitet, um mich über die Lage der konservativen Partei zu vergewissern ?" Obwohl ich einwarf, daß das nicht gut möglich sein könne, da ich ihm schon vorher die Männer genannt, die uns bisher bei ihm vertreten, behauptete er, daß Blankenburg mehr als Freund, Wagner mehr als Beamter und Eberhard Stolberg mehr in gesellschaftlicher Beziehung zu ihm gekommen seien.

Als ich ihm ferner einwarf, daß wir im vorigen .

Jahre viele Wochen lang mit ihm in lebhaften Verhandlungen über Inhalt und Faſſung des letzten konservativen Programms, in welches er selbst noch hinein korrigiert habe, gestanden hätten, schien er sich dessen kaum erinnern zu können und erwiderte zögernd : „Ach ja, nun ja, das Programm", in einem Zone, als ob er hinzusetzen wollte : „ Das will nicht viel bedeuten. “ - „Ich kann Ihnen nur meinen Dank wiederholen, und es ist um so auffallender, daß Sie als der Erste zu mir gekommen sind, als ich ausdrücklich den Befehl gegeben habe, daß niemand bei mir angemeldet wird, es müsse denn ein Minister oder ein Abgeordneter sein; mein Haus steht also offen für jeden konservativen Volksvertreter, und doch wird nicht davon Gebrauch gemacht. "

Bismarck.

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„Aber Durchlaucht, Sie müssen doch als Motiv des Nichtkommens manches konservativen Abgeordneten die Bescheidenheit anerkennen, die Furcht, Ihnen von Ihrer stark bejezten Zeit unnüt etwas rauben zu ſollen ; ja, auch ich muß erklären, daß ich heute aus einem solchen Motiv leicht weggeblieben wäre, wenn ich meiner eigenen Herzensſtimmung hätte folgen sollen, zumal da ich gestern abend an Ihrer Tür abgewiesen wurde

, aber ich komme wiederholt auf Durchlauchts Nede im Herren-

hauſe zurück“ -- er klingelte heftig und dem sofort eintretenden Kanzleidiener rief er entgegen : „ Bringen Sie mir mal die lezte Abstimmungsliſte vom Herrenhauſe herauf!" Er ergriff nun einen Bleistift und, Namen für Namen anstreichend, hatte er für jeden, der gegen die Kirchengesetze gestimmt hatte, eine bittere Bemerkung bei der Hand ; so z . B. bei Gottberg : „ Der will gern Präsident werden und iſt wütend , daß ſeine Hoffnung nicht schon erfüllt ist"; bei Puttkamer : „ Der Mensch hat sich nie aus der Kirche was gemacht und ist nichts weiter als der allergewöhnlichste Junker, von denen viele mir zeigen wollen, daß sie ganz meinesgleichen sind ; ſie zeigen das aber nur durch Grobheit und Oppoſition ; ſie ärgern sich, daß ich Fürſt geworden bin, und doch ärgern ſie ſich gleichzeitig, wenn ich sie einmal nicht zu Tiſch einlade oder ihnen einen Gegenbesuch oder eine briefliche Antwort schuldig bleibe ; ich kenne meine pommerschen Landsleute. " Bei Romberg : „Dieser Mensch stimmt gegen mich, den ich aus so vielen Fährlichkeiten heraus gerettet habe ! " ; bei Kleiſt-Reßow : „ Das ist ein beschränkter Idealist, ich verkenne aber wenigstens ſeine redliche Überzeugung nicht, und er iſt aufs schmählichste vom Hofe behandelt worden. Als ich ihm früher jahrelang eine Position wieder vermitteln wollte, fand ich namentlich bei der Königin Augusta den schroffsten Widerstand. "

Bei Gruner : „ Bei dem herrscht

nur versezter Ehrgeiz “, 2c. 2c.; und so hatte er für jeden ein schlechtes Motiv bei dieser wichtigen Abstimmung ausfindig gemacht. Als ich ihn auf dieſen Peſſimismus bescheidentlich aufmerksam machte, fing er an zu klagen : „Ich sage Ihnen, mit mir ist's aus ; ich sehe auch nicht ein, weshalb ich länger im Amte bleiben soll ; es iſt ja jezt gerade die beste Gelegenheit, ein vortreffliches neues Ministerium an meine Stelle zu sehen, sie wollen ja alle wieder ans Ruder, Manteuffel, Mühler, Lippe, Bodelschwingh 2c., es sind ja alle Miniſterien vortrefflich mit ihnen wieder zu beseßen und nun, der geborene neue Ministerpräsident : General Manteuffel ! Ich kann nicht mehr und habe alle Lust verloren ! In der Konfliktszeit, da habe ich freudig gekämpft, als ich viel Feinde hatte, jezt aber, da ich von den Meinigen verlassen bin, lege ich mein Schwert an die Seite ; grausames Verlangen, wenn Sie meinen, daß ich angesichts der Wahlen und angesichts des mit dem Unglauben vereinigten und erstarkten Liberalismus noch bleiben soll ; ich werde vielmehr die Kreise

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Zwölfter Abschnitt : Regierungspräsident in Danzig.

meiner Tätigkeit immer enger ziehen, es mag das Wettrennen dann ohne mich weitergehen ; Roon, Eulenburg , Camphauſen, ſie mögen ſehen, wer dem anderen zuvorkommt, Camphausen hat viele Chancen für sich ; es mag sein, daß er mit einigen Nasenlängen Sieger bleibt." In dieser krankhaften Weise sprach er immer weiter von der Notwendigkeit, sich zur Ruhe zu setzen; ich empfand geradezu Mitleid mit ihm und suchte ihn auf andere Dinge zu bringen, als ich ihm einwars: ,,Aber, Durchlaucht, ich wünschte Ihnen, Sie könnten sich pon solchen Anschauungen wieder losmachen durch körperliche und geistige Erholung ; mir scheint, es sei Ihnen z . B. die Beschäftigung mit größeren Verwaltungsfragen, die in der frischen Natur spielen, ratſam ; ich wünſchte, Sie kämen z . B. einmal in den Varzin benachbarten Danziger Bezirk und ließen sich interessieren für wohltätige Meliorationsprojekte, wie z . B. für den projektierten Durchstich der Weichsel, durch welchen die Landwirtschaft der ganzen großen Weichſelniederung vor den Gefahren des Eisganges und der Überschwemmung mehr als bisher geſchüßt werden fönnte." Er sah mich nur groß an ! „Oder ich wünschte Ihnen, Sie hätten die gestrige Aufführung des Julius Cäsar durch hiesige Studenten gesehen, das Stück packte den Hörer wieder mit seiner großartigen Gewalt und riß ihn heraus aus der Alltäglichkeit der Arbeit - " ,,So, -- waren Sie da ? Der Kaiser war ja wohl auch da ? Aber sie haben den Cäsar doch totgestochen." "Ja, aber wie hat Cäsar auch seine besten Freunde behandelt : » Jch stoße dich fort wie einen Hund« ruft er dem Bittsteller zu, der ihm kniet." Er :

Aber item, ſie haben ihn doch totgeſtochen !

ist alles nichts mehr für mich.

vor

Nein, nein, das

Wenn Sie wüßten, wie mir der Kaijer

die Geschäfte erschwert ! Gott mag wissen, wie das weitergehen soll ! “ Ich : Aber, Durchlaucht, gibt es jemanden auf Erden, der Gottes Führung mehr bewundern muß, als Sie, der ihm mehr Dank schuldet, der mehr erfahren hat, was Er vermag !

Denken Sie noch zurück an die

Zeiten des Dänischen Krieges, da kam Ihnen die glückliche Nachricht von dem Siege auf Alsen und gleichzeitig die von dem großen diplomatiſchen Erfolge gegenüber Österreich, und Sie legten die beiden Telegramme vor sich hin mit den Worten : » Da mag einen der liebe Gott vor Hochmut ſchüßen !«“ Er :

Ja, das waren andere Zeiten ! Aber jezt kann ich nicht anders,

als vor Gott klagen, daß ich von meinen Freunden verlaſſen bin !" Ich las ihm nunmehr Stellen aus einem Briefe von Brauchitsch vor und die Hauptstellen aus dem Leitartikel der Kreuzzeitung" vom

Bismarck.

18. März,

überschrieben :

„ Der

Reichskanzler

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und

die

konservative

Partei", und suchte ihm zu beweisen, daß die Mißverſtändnisse, welche durch die Kirchengeseze zwischen ihn und seine Freunde geraten, zu Gunsten der letteren ihre Erklärung finden könnten.

Er hörte auf-

merksam zu, insbesondere aber auch, als ich ihm mitteilte, daß ich kurz, ehe ich zu ihm gekommen, ein längeres Gespräch mit dem Hofprediger Kögel gehabt, welcher besonders beklagt habe, daß nicht wenigstens die Bestimmung in die Kirchengeseße zur Vermeidung von begründeten Mißverständnissen Aufnahme gefunden habe, wonach über „Lehre und Kultus" nicht von dem einzurichtenden Staatsgerichtshof zu entscheiden sei.

Sehen Sie, Durchlaucht", schloß ich, „es ist viel geschehen, um Ihre

Freunde unter den konservativen und gläubigen Leuten stußig zu machen. Schon seit dem unglücklichen Worte und Begriff: » Indemnität«< nach dem siegreichen Kriege von 1866, wo Sie mit den Konservativen alles in der Hand hatten " er ließ mich nicht ausreden. „Indemnität“, rief er,

was wollen Sie damit?

War es für mich

damals möglich, anders zu operieren, um einen starken Norddeutschen Bund zustande zu bringen ?

Mußten wir nicht mit den liberalen Frak-

tionen Frieden schließen, nachdem in Österreich dieselbe Operation vollzogen war, ja, nachdem Österreich versucht hatte, durch möglichst liberale Konzessionen Deutschland möglichst auf seine Seite zu ziehen ? Unsere gesamte Stellung in Europa machte damals die Nachsuchung der Indemnität mir zur Pflicht." „Aber doch werden Euer Durchlaucht, so viel Nachgiebigkeit Sie auch den Liberalen gegenüber zu Liebe des Beſtrebens, Preußens und Deutschlands Macht nach außen zu vergrößern, gezeigt haben, niemals von den Liberalen als der ihrige angesehen werden ; ich habe noch vor kurzem mehrere Artikel in den Zeitungen der liberalen Fraktionen gesehen, in welchen Sie nur geschildert werden wie der, welcher den Liberalen die Kastanien aus dem Feuer zu holen habe.“ Er :

Ich weiß das sehr gut, aber ist die Behandlung, die ich von

den Konservativen erfahre, nicht deshalb um so trauriger ?

Es ist nicht

anders, ich werde durch meine Freunde gezwungen, meinen Plah aufzugeben." Ich :

Aber, Durchlaucht, sollte es nicht möglich sein, das zerriſſene

Band wieder anzunüpfen, dadurch, daß Sie sich wieder in engere Verbindung mit den konservativen Fraktionen jezen, die nach Ihrer Rede im Herrenhauſe doch ferner nicht mehr wissen können, woran ſie ſind, wenn Sie selbst nicht den Sinn dieser Rede deklarieren ?" Ich stand nun auf und ergriff meinen Hut, denn es war bald Mitternacht geworden. Er kam um den Schreibtisch herum und begleitete mich bis zur Tür (an welcher ich übrigens einen losen Griff beim Aufmachen

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Zwölfter Abschnitt : Regierungspräsident in Danzig.

in der Hand behielt) , er wiederholte immer wieder, daß nur die Kon servativen selbst schuld ſeien, daß er von ihnen getrennt erscheine : „Es iſt nun einmal nicht anders, ich werde gehen ! "

In einer seiner Schluß-

bemerkungen rief er einmal lebhaft dazwiſchen : „Tun Sie mir den Gefallen und lesen Sie einmal wieder Luthers Schriften, wie ich es jetzt getan, lesen Sie vor allem Luthers Brief an den Adel deutscher Nation, und Sie werden finden, daß ich nur einen kleinen Bruchteil von dem, was Luther gegen Rom und den Papst durch die Staatsgewalt ausgeführt wissen will, jezt durch die Kirchengeſeße erstrebe.

Und dann erklären Sie

mir den Widerstand derer gegen die Kirchengeseße, die ſich mit Vorliebe >>lutherisch« nennen! "* ) Der oben erwähnte Artikel der „Kreuzzeitung “ vom 18. März 1873 (Nr. 65) , welchen ich Bismarck mitteilte, enthielt unter anderem folgende Sätze: „Ganz gewiß kann ein Miniſter, der einer politischen Partei angehört, verlangen, daß diese Partei ihn bei seinen Maßregeln unterſtüßt ; aber ebenso kann die Partei beanspruchen, daß der Minister sie von seinen Plänen in Kenntnis segt, falls er auf ihre Mitwirkung rechnet.

Wer

Vertrauen verlangt, muß solches seinerseits zeigen, und ohne Offenheit kein Vertrauen. Hat dies vertrauensvolle Verständnis zwischen dem Fürsten Bismarck und der konservativen Partei bestanden ? Mit Bedauern muß dies verneint werden. Die konservative Partei kann mit gerechtem Stolz sagen, daß Fürst Bismarck aus ihren Reihen hervorgegangen ist, allein sie hat es zu beklagen , daß er, solange er Miniſter ist, sich nie dazu verstanden hat, mit seiner Partei in geeigneter Fühlung zu bleiben und sie über die von ihm beabsichtigten Maßregeln zu orien tieren und aufzuklären. Wenn daher der Fürst Bismarck dem Herrenhause am 10. d. Mis . es offen ausspricht, daß er kein Vertrauen zur konservativen Partei mehr habe, und sich von ihr losjagt, so bedauern wir dies lebhaft, können aber die Tatsache, daß der Riß vorhanden ist, nicht leugnen.

Wenn er aber dann weiter geht und die Schuld dieser

Trennung in der jezigen Situation überhaupt der konservativen Partei zuschreibt, so können wir ein Verständnis für diese Behauptung nicht finden.

Sie erkennt mit dem Fürsten Bismarck an, daß der Liberalismus

in den lezten Jahren gewachsen ist und sich noch im Wachsen befindet ; aber sie muß darauf verweisen, daß derselbe groß geworden ist unter dem Schirm der Autorität, mit welcher die Staatsregierung bekleidet ist, und begünstigt von den Maßregeln, welche dieselbe vorzuschlagen und durchzusetzen für gut befunden hat.

Nicht die konservative Partei

*) Vorstehendes Gespräch habe ich am folgenden Tage sofort niedergeſchrieben und bin nur dadurch imſtande, es hier so wörtlich, wie oben geschehen, wiederzugeben.

Bismarck.

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hat das allgemeine direkte Wahlrecht für den Reichstag vorgeschlagen. Nicht von konservativer Seite sind die liberalen Geseze über die Freizügigkeit, die Koalitionsfreiheit, die Gewerbeordnung und andere ausgegangen, welche altbewährte preußische Institutionen und Grundſäße beseitigt und Zustände geſchaffen haben, die überall Unzufriedenheit und Unzuträglichkeiten erzeugen. Nicht die Konservativen haben den Konflikt mit der Hierarchie der katholischen Kirche heraufbeschworen, der das Deutsche Reich in seinen Grundfesten erschüttert und dessen endlicher Ausgang für den Staat nicht minder verderblich sein wird als für die betroffenen Kirchengeſellſchaften . * )

Und wenn wir dies alles nicht ge-

tan haben, so sind wir auch nicht gesonnen, Beschuldigungen zu ertragen, welche Zeugnis davon ablegen, daß man das Mißliche der Wege, die man eingeschlagen hat, zu erkennen anfängt und die Schuld für die Lage, in die man geraten iſt, auf andere Schultern wälzen möchte.

Auch jezt

begegnet man wieder den so oft gehörten Vorwürfen wegen des Verhaltens der konservativen Partei in den Beratungen über das Schulaufsichtsgesetz und die Kreisordnung.

Wenn aber von jeher die innige

Verbindung zwischen Kirche und Schule ein Fundamentalsaß jedes konservativen Programms gewesen ist, wenn die Konservativen stets mit Vorliebe und Zähigkeit an guten preußischen Institutionen festgehalten haben, so konnte die Staatsregierung nicht im Zweifel darüber sein, daß auf konservativer Seite keine Geneigtheit sein würde, auf die beabsich tigten Neuerungen einzugehen, und würde kein konservativer Minister, dem es darum zu tun war, sich die Unterſtügung seiner Partei zu sichern, es unterlassen haben, sie über seine Motive und Ziele aufzuklären und ihre etwaigen Bedenken zu beseitigen. Dies ist jedoch nicht geschehen. In der konservativen Partei besteht das Einverständnis, daß das Herrenhaus der Träger des stabilen Elements und selbständiger konservativer Anschauungen war, und kein Staatsmann wird auf die Unterſtützung der konservativen Partei rechnen können, der den konservativen Charakter des Herrenhauses schädigt oder sich sogar mit dem Plane trägt, dasselbe im liberalen Sinne umzugestalten oder ganz zu beseitigen, weil es liberalen Maßregeln Widerstand entgegenseßt. " Bismarck, der meiner Vorlejung dieses Zeitungsartikels aufmerkſam zugehört hatte, antwortete darauf nichts . Auch auf einen Brief meines Vetters v. Brauchitsch, welcher damals Führer der konservativen Partei im Reichstag war, schwieg er.

Der Brief, den mir Brauchitsch mitgeteilt

hatte, enthielt im Auszuge folgende Ausführungen : „Die Konservativen - auch der die große Mehrzahl bildende Teil *) Welch eine richtige Prophezeiung, die von den Konservativen schon damals verkündet!

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Zwölfter Abschnitt : Regierungspräsident in Danzig.

derselben, der im nationalen Sinne Euer Durchlaucht in den kirchlichen __ Fragen zu unterſtüßen zweifellos bereit war und iſt — ſind vollkommen zurückgedrängt, nachdem sie, die abgünstige Aktion der Regierungspresse und der Regierungsorgane vor sich sehend, jede umfassende Wirksamkeit in der früher üblichen, über das ganze Land verzweigten Organiſation unterlassen hatten. Durch ihr mißmutiges Wegbleiben von den meiſten Wahltischen erfolgten Minoritätswahlen von durchschnittlich nur 15 Prozent der Wähler, und statt ihrer zieht nun - ( lediglich durch die Hilfe der Regierung ! ) eine liberale resp. demokratiſche, anſehnlich gewachsene Schar, mit nahezu 80 souveränen Kreisrichtern und einigen freimaurerischen Ministerialräten verjet, wie dereinst, in die Halle am Dönhoffsplay ein, unzweifelhaft eine zweifelhafte Hilfstruppe, um damit einen gloriofen Kampf auszufechten. Von dort her keine Hilfe ohne Bezahlung, keine Leistung ohne dreifach werte Gegenleistung ! Da müſſen doch Euer Durchlaucht recht bedenklich werden, daß gerade feste, selbständige, ihrem Vaterlande selbstlos ergebene Männer ratlos, mutlos und voll Ärger und Mißmut sich zur Seite stellen, in dem Gefühl des Verkanntſeins und der falschen Beurteilung ihrer ehrenwerten Gesinnungen vonseiten derjenigen, welche die öffentliche Meinung machen. Wäre es nicht die höchste Zeit, Durchlaucht, die Männer, die ohne allen strebe rischen Eigennut, wie er sich in den Parlamenten reichlich breit macht, freudig auf die neuen Verhältnisse eingehen und dahin streben, dieſelben in frei fortschreitendem konservativem Geiſte zu ſtabilieren, dieſe Männer aufrecht zu erhalten, ihnen eine Direktion zu geben ( niemand läßt sich lieber leiten und ist leitungsbedürftiger als der treue Royalist) , und danach die Regierungsorgane mit veränderter Inſtruktion zu verſehen ? Oder wollen Euer Durchlaucht auch die Konservativen im Reichstage nicht wieder sehen, die durch einstimmigen Beschluß sich zur nationalen Sache bekannt haben." Soweit der Brief von Brauchitsch.

Die Reichstagsabgeordneten der

Provinz Preußen, an der Spitze der Graf Moltke, Abgeordneter für Memel-Heidekrug, und ich unter ihnen, veröffentlichten im Juni 1873 eine Erklärung, nach welcher sie, feſt vereint in unerschütterlicher Treue zum Kaiſer und Könige, auf dem Boden des monarchischen Prinzips der preußischen Verfassung und der des Deutschen Reichs, von folgenden Grundsägen geleitet ſeien : 1. Wir wollen die jeßige Regierung treu unterſtüßen, die Sicherung des Staates und des Reiches durch eine starke Armee und durch Einrichtungen und Gesetz für Recht und Ordnung nach innen. 2. Wir wollen die neue Kreisordnung praktisch und die Selbstverwaltung geregelt und gedeihlich zu machen suchen. 3. Wir streben danach, in der Freiheit des Gewerbes Ordnung und

Bismarck.

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Schuß der Arbeit herbeizuführen, das Los der Arbeiter und ihrer Familien zu bessern, die Sicherung der Ordnung gegen Kontraktbruch herbeizuführen. 4. Wir wollen die Kirche in freier, ſelbſtändiger innerer Organiſation unter Aufsicht und Gesez des Staates. 5. Wir wollen Förderung der Landwirtschaft und Berücksichtigung des überbürdeten Grundbesizes . 6. Wir wollen Pflege der Schule und Bildung der Arbeiterklaſſen init christlicher Erziehung und 7. Wir wollen Gegenwirkung gegen alle Bestrebungen, die dem demokratischen Sozialismus bewußt oder unbewußt in die Hände arbeiten und dadurch auf Familie, auf ſittliches Leben wie auf Moral und Rechtsbewußtsein zerstörenden Einfluß üben. Eine solche Erklärung ſieht heutzutage aus, als ob ſie ſich ganz von selbst verstände, aber damals erschien sie notwendig, weil der konservativen Partei durch Regierung und Presse die allerschlinunſten reaktionären Gedanken nachgesagt wurden, namentlich in bezug auf die Ausführung der Kreisordnung und der Kirchengeſetze. Alle diese Mahnungen und Wünsche, an die Adresse Bismarcks gerichtet, blieben erfolglos . Der große Kanzler stügte sich immer mehr auf die liberale Partei, deren Führer, insbesondere Lasker, immer allmächtiger wurden.

Die wichtigsten Geseze wurden im Reichstag mit

einer Majorität von durchſchnittlich drei Fünfteln gegen zwei Fünftel im liberalen Sinne angenommen . Der Besuch bei Bismarck, bei dessen Gelegenheit sich das oben mitgeteilte Gespräch entwickelte, ist der legte gewesen, der mich über die Bismarcksche Schwelle geführt hat.

Mein Verkehr in der Bismarckschen

Familie hatte über 16 Jahre gedauert und hatte mir viel Freude und viel Belehrung eingebracht . Es trafen aber zu viel Gründe zuſammen, die mich bestimmen mußten, den Verkehr abzubrechen . Die Auffassung von der politischen Lage der Dinge hatte mich dem Fürsten entfremdet, und ich teilte dies Schicksal mit vielen anderen seiner bisherigen Freunde; dazu kam aber die Art meiner Verſetzung von Wiesbaden nach Danzig, die Behandlung meines vortrefflichen Schwagers, des Unterstaatssekretärs v. Thile, und der Kampf, welchen mein Bruder gegen die Stellung Bismarcks zu den jüdischen Geldmächten begonnen hatte.

Besonders

traurig war es für mich, daß ich von nun an auch den Umgang mit der lieben, mir immer freundschaftlich zugetanen Frau Fürstin und ihrer Tochter entbehren mußte. Zu den neuen Gesetzen gehörte auch die Einführung der Zivilehe, und ich muß hier erwähnen, daß ich darüber mit dem Kultusminister v . Mühler kurz vor seiner Entlassung ein interessantes Gespräch hatte,

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Zwölfter Abschnitt : Regierungspräſident in Danzig.

bei welchem mir Mühler mitteilte, daß er gegen die Zivilehe nichts einzuwenden habe, wenn nur zwei Bedingungen vorher erfüllt würden. Es müßte erstens die Eingehung einer Zivilehe jo formlos wie möglich gemacht werden, so daß in jeder Zivilgemeinde, ja, in jedem noch so fleinen Dorfe der Gemeindevorsteher gedruckte Formulare erhielte, in welche die Brautleute lediglich ihre Namen einzutragen hätten. Zweitens aber müsse der Akt der Ziviltrauung mit einer Gebühr belegt werden, deren Höhe je nach der Höhe des Einkommens des betreffenden Paares zu bemessen sei ; von dem Ertrage dieser Gebühr sei dann aber die Abschaffung aller bisherigen Gebühren für die kirchliche Trauung zu ermöglichen. Vergebens teilte ich dem Nachfolger Mühlers, Falk, dieſe Bedingungen mit. Wieviel Schwierigkeiten sind dadurch entstanden, daß die Staatsregierung dieje Bedingungen nicht erfüllt hat, und wie schwierig gestaltete sich namentlich die Frage von der Abschaffung der Gebühren für die kirchliche Trauung, so daß gewiß eine Menge von kirchlichen Trauungen deshalb unterblieben sind. Bei den Verhandlungen der Generalsynode, deren Mitglied ich stets war, habe ich diese Unterlassungsfünde des Kultusministers Falk ins Licht geſtellt. Höchst interessant waren die Verhandlungen des Reichstags, be treffend die Einführung eines einheitlichen Gewichtes , Maßes und einer einheitlichen Münze für ganz Deutschland . Der in Geldverhältniſſen besonders bewanderte Abgeordnete Bamberger (er wurde immer der rote Jude genannt zum Unterschiede vom schwarzen Juden Lasker) , war bei der Mehrzahl der Reichstagsmitglieder maßgebend, und so wurde denn die Goldwährung eingeführt, deren Folgen ich von vornherein für unser gesamtes Geldweſen befürchtet habe. Nach Danzig zurückgekehrt, suchte

ich vergebens,

den herrlichen

Schmuck der alten Stadt, die sogenannten „ Beiſchläge“ , vor jedem Hauſe der Hauptstraße, zu erhalten. Die Stadtbehörden hatten ihren Untergang beschlossen, und es war freilich nicht zu leugnen, daß die „Beischläge" bei der Steigerung des Verkehrs von Wagen und Fußgängern sehr hinderlich waren. Vergebens war auch die Petition einer großen Anzahl von Hausbeſizern bei Seiner Majestät, denn sie erhielten vom Handelsminister Achenbach eine abschlägige Antwort, nach welchem der Grund und Boden, auf welchem die „Beischläge" schon seit Jahrhunderten standen, zum Privatbesitz der Hauseigentümer nicht gehöre und wonach deswegen die ganze Sache auf den Rechtsweg verwiesen werden müsse. Dieser letztere ist meines Wissens nicht eingeschlagen worden. Nach und nach ist nun der Hauptschmuck Danzigs zerstört worden, und nur noch in wenigen Nebenstraßen sind geblieben.

einige „Beischläge" stehen-

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Kulturkampf.

Der unjelige „Kulturkampf“ warf seine Schatten auch in den Regierungsbezirk Danzig hinein. Ich schrieb darüber an Keudell Anfang 1874: Ich habe eine recht unangenehme Aufgabe zu erfüllen, weil ich mich mit eigenen Sinnen an Ort und Stelle davon überzeugen muß, ob die Gerüchte von weitgehenden konfessionellen Agitationen mit der Absicht einer nationalen Schilderhebung der Polen irgend begründet ſind. Die Schlagwörter, die jezt von einzelnen katholischen Priestern ihren armen dummen kassubischen Beichtkindern beigebracht werden, lauten : » Der Kaiser will dem Papst seine geheiligten Rechte verkümmern,

unſere

Religion mit unserer Sprache soll von den deutschen Keßern unterdrückt werden !« Gott sei Dank, daß ich nur mit Ausnahme einzelner Fälle von Auflchnung, namentlich bei Gelegenheit der jüngsten Abgeordneten- und Reichstagswahlen , keinerlei schlimme Anzeichen einer beab sichtigen Generalrevolution habe entdecken können.

Für jezt ist noch keine

Gefahr vorhanden. Aber freilich stehen die schlimmsten Phaſen des konfessionellen Haders noch bevor. Wenn erst die Bischöfe in Haft genommen werden müſſen, was doch kaum anders gehen wird, wenn der niedere Klerus, auf dessen Haltung alles ankommt, sich auch ferner nicht botmäßig zeigt dann Ade, Ade, Ade ! so heißt es in dem alten Liede dann Ade Friede, auf lange Zeiten Lebewohl ! “ — Die Jagden im Regierungsbezirk Danzig sind gerade nicht berühmt, und doch waren die dazu einladenden Gutsbesitzer so freundliche Herren, daß ich stets mit Freuden ihren Einladungen Folge geleistet habe, wenn auch das Resultat der Jagd oft nur aus zwei oder drei Haſen für jeden Schüßen bestand. Eine selten interessante Jagd führte mich alljährlich auf die frische Nehrung, wo auf der Halbinsel zwischen dem Meere und dem Frischen Haff eine große Kolonie von Kormoranen, dieſem bei uns seltenen Vogel, auf den hohen Fichten ihre Horste aufgeschlagen hatte, neben welchen auch einige Horſte von Fiſchreihern und von Seeadlern sich befanden. Die Kormorane leben nur von Fischen und ſind vom Schöpfer mit wunderbaren Eigenschaften ausgestattet, sie können vortrefflich fliegen, schwimmen, tauchen, auf dem Grunde des Meeres spazieren, ja, ſogar die Bäume, auf denen sie horsten, hinaufklettern .

Sie tragen deswegen

in der dortigen Gegend den Namen die „Baumgans ". Die Jagd fand immer statt in der Zeit, wenn die jungen Kormorane flügge zu werden anfingen, und es wurde unter uns Jägern ausgemacht, daß der erste Schuß erst nach einer Stunde fallen durfte, nachdem jeder einzelne von uns sich, stille beobachtend, an dem Vogelleben und den Vogeltönen ergött hatte. Nach wenigen Stunden lagen 200 bis 300 Kormorane, einige Reiher und einmal auch ein Secadler auf der Strecke. Es hieß zuerst, daß die Kormorane ganz ungenießbar und darum wertlos seien ; der Revierförster aber aus dem Dorfe Pröbbernau am Frischen Haff ent-

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Zwölfter Abschnitt: Regierungspräſident in Danzig.

hüllte mir das Geheimnis , daß man die breite Vogelbrust in den verschiedensten Arten der Kochkunst sehr schmackhaft zubereiten könne, wenn nur der Koch es verstehe, nach einem Schmitt um den Hals herum, die Haut so vorsichtig abzuziehen, daß dabei keine der an der Wurzel jeder Feder befindlichen Drüsen plaße und ihren Saft in das Fleisch ergieße. In derselben Weise könne man auch die Reiher zubereiten.

Ich nahm mehrere

Kormorane nach Danzig mit und lud eine Menge von Feinschmeckern zum Mittagsmahle ein, bei dem zuerst gekochtes Fleisch, dann Klopſe und endlich gebratenes Fleisch als Kost gegeben wurde. Es mundete alles meinen Gästen vortrefflich ; sie konnten aber nicht erraten, von welchem Tiere das Fleisch stammte, denn es war so zubereitet worden, daß man nicht erkennen konnte, daß ein großer Vogel der Lieferant gewesen war. Nach wiederholten ähnlichen Versuchen stieg der Preis des bis dahin wertlosen Vogels auf mehrere Mark pro Stück, und der Förster hatte eine gute Einnahme. Bald entdeckte ich auf meinen vielen Reisen durch den Vezirk, daß ſehr große Flächen sich zu einer landwirtſchaftlichen Nußung gar nicht eigneten, weil sie überwiegend oder sogar ganz nur aus Sand bestanden, daß daher Aufforstungen dringend geboten waren.

Mein jeliger Freund , der Ober-

forstmeister Mueller, welcher 25 Jahre mit kurzer Unterbrechung mein Oberforstmeister und ich sein Präsident gewesen, war mit mir ein leidenschaftlicher Freund solcher Aufforſtungen, und so haben wir denn gemeinschaftlich, unterſtüßt noch durch den Forstmeister Wächter, Tauſende von Morgen in der Tuchelschen Heide und auch große Flächen auf der Frischen Nehrung und auf der Halbinsel Hela aufgeforstet.

Man war damals in

Berlin unter Führung des von mir hochverehrten Oberlandforſtmeisters v. Hagen so entseßlich ſparſam, daß die unglaublich geringen Forderungen der Grundbesizer für die vom Fiskus anzukaufenden Ländereien immer noch zu hoch befunden wurden, so daß wir viele Mühe hatten, die Kaufverträge abzuschließen.

Wenn 4 Mark für den Morgen gefordert waren,

wurden 2 Mark von Berlin aus geboten.

Und von solchem faſt wertlojen

Grundbesitz hatten seine Besitzer noch Grundsteuer und andere Abgaben zu zahlen ! Aber welche Freude war es, die jungen Kiefern bald herrlich gedeihen zu sehen, und dies war in der Tuchelschen Heide nur dadurch erklärlich, daß die Wurzeln des jungen Baumes genügendes Grundwasser haben. Es hatten unter Friedrich Wilhelm IV . der spätere Oberpräsident v. Senfft-Piljach und der Geheimrat Wagner (der Kreuzzeitungs -Redak teur) große Berieſelungen in der Tuchelſchen Heide angelegt, um aus den Sandflächen Wieſen zu machen . Man hatte dabei aber nicht bedacht, daß das Rieselwasser durch den Sand hindurchsickern und weit ab von den Rieselflächen zum Vorschein kommen würde, und daß so nicht die zu schaffenden Wieſen, ſondern die Forsten ringsum den Segen des Waſſers

Aufforstungen, Mission.

genossen.

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Auf den Sanddünen der Frischen Nehrung und von Hela

war es die feuchte Luft des Mecres, welche den Kiefernpflanzen Nahrung zubrachte.

Das Staatsministerium hatte damals große Hoffnungen

darauf gesezt, auf Grund des neuen Gesetzes Waldgenossenschaften zu gründen, damit die Grundbesitzer selber die Vorteile der Aufforstungen erleben sollten.

So sollte ich z . B. absolut eine Waldgenossenschaft auf

der Halbinsel Hela zustande bringen, und ich berichtete zunächst vergebens, daß jeder der Hela-Grundbeſizer, ohne einen Pfennig Vermögen, nicht das nötige Kapital beſiße, und daß darum 0+ 0 wieder 0 mache und das Arbeiten mit „ gemeinsamen Kräften“ auf dieſem Gebiete ganz vergeblich sei.

Das Waldgenossenschaftsgesetz blieb ein totgeborenes Kind, und es

erübrigte nur, daß der Fiskus ſelbſt die Sache in die Hand nahm. Wie ich in Wiesbaden die Sorge um das Königliche Theater hatte übernehmen müſſen, ſo blühte mir auch in Danzig dieselbe Aufgabe. Denn es befand sich auch dort ein sogenanntes „Königliches Theater", und der Regierungspräsident hatte die Verträge mit den Theaterdirektoren abzuschließen, die ihrerseits die Schauspieler und Sänger zu engagieren hatten.

Die Pacht dieser Theaterunternehmer, die sie an den Fiskus zu

zahlen hatten, reichte aber durchaus nicht hin, das alte, schon sehr baufällig gewordene Theatergebäude in gutem Stande zu erhalten, und es mußte faſt alljährlich ein Zuſchuß bei den Ministerien beantragt werden.

Der

Regierungspräsident hatte einen Plaz in der Mitte des 1. Ranges zu seiner freien Verfügung ; ich habe aber von demselben wenig Gebrauch gemacht, denn Schauſpiel ſowohl wie Oper waren meiſtenteils nicht erſten Ranges.

Aber eigentümlich ist es doch, daß ich in meinem Lebenslauf

mit so vielen Theaterleuten amtlich habe verkehren müssen ; hatte ich doch schon beim Oberpräsidium in Koblenz die Konzessionierung der Theaterdirektoren sämtlicher Theater in der Rheinproving in meinem Dezernat. So habe ich auch später in Merseburg die Pachtverträge für das kleine in der Literaturgeschichte bedeutsame Theater in Lauchstädt abzuschließen und viel Mühe mit dem polizeilichen Schluß des alten, in entsetzlichem Zustande befindlichen Theaters in Halle gehabt. Viel Freude hatte ich während meiner ganzen Danziger Zeit an meinen erfolgreichen Bemühungen auf dem Gebiete der Miſſion. Man hatte mich zum Vorsitzenden des Danziger Gustav Adolf- Vereins gewählt, welcher vor meiner Zeit einen schweren Verlust in seinem Kassenbestande durch Veruntreuung des Rendanten erlitten hatte. Auch gründete ich in Verbindung mit elf anderen gleichgesinnten Männern einen Verein für innere Mission in Weſtpreußen. Ein solcher Verein war schon einige Jahre vorher in Danzig gegründet worden, aber nicht in Wirksamkeit getreten.

Am 7. April 1875 traten wir zuerst in Dirschau zusammen .

und kamen darin überein, daß die Zeitverhältniſſe ein enges Zuſammen-

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Zwölfter Abschnitt : Regierungspräſident in Danzig.

schließen aller evangeliſchen Chriſten zu gemeinsamer Liebestätigkeit erforderten, und daß Westpreußen den übrigen Teilen unseres Vaterlandes nicht nachstehen dürfe, wenn es sich darum handele, den vorhandenen sittlichen und geistigen Notständen unter unjeren Brüdern abzuhelfen.

Am

19. desselben Monats fand die Konstituierung des Vereins in Dirschau statt, wo der rührige Pfarrer Ebel aus Graudenz die Aufgaben bezeich nete, deren Lösung der Verein ins Auge gefaßt habe.

Der Pfarrer Bour-

wieg aus Lenzen sprach dann über die Fürsorge für die Wanderbevölke rung bei Eisenbahn- und Chauffeebauten in Westpreußen und der Pfarrer Klapp aus Vandsburg über die Förderung einer guten Presse und die Kolportage. Dem Vereine gegen die Trunkjucht und vielen anderen ähnlichen Vereinen mußte ich beitreten. Die Danziger Kaufmannschaft feierte 1875 ihr 50jähriges Jubiläum . Aus den Sizungen des Reichstags reiste ich als eingeladener Gaſt nach Danzig, um dem Jubilar bei dem großen Feſteſſen in dem herrlichen Artushofe die wärmsten Grüße der Königlichen Regierung zuzurufen. In meiner längeren Rede brachte ich zur Sprache, daß man in Berliner Kreisen erstaunt gewesen sei über die Jugend des Jubilars, denn jedermann im deutschen Vaterlande wisse ja von der Ehrwürdigkeit einer der ältesten und schönsten Städte Deutschlands und wiſſe zugleich, daß die Blüte der alten Geduna ein Werk der Hansa, des Handels und speziell der Kaufmannschaft ſei ; es müſſe alſo die Ansicht begründet ſein, daß, wie der Sohn nicht älter sein könne als der Vater und Romulus nicht jünger als Rom, so auch die früheste Jugend Danzigs und seiner Kaufmannſchaft in dieselbe Zeit zusammenfalle. Woher darum das Jubiläum von wenig Jahrzehnten, während der Glanz dieser Stadt nach so vielen Jahrhunderten zähle ?

Weil nach Beendigung der Freiheitskriege, nach den

furchtbaren Drangjalen der Belagerung

und dem völligen Danieder-

liegen des Handels und Wohlstandes Danzig ein neues Leben beginnen mußte unter dem Zepter der Hohenzollern und im endlich erreichten feſten Anschluß an Preußen und damit an Deutſchland gleichsam wiedergeboren wurde. Wenn aber meine freundlichen Gastgeber auf den Zeitraum der leg ten 50 Jahre zurückſehen, so werden sie gewiß alle freudigen Herzens bekennen müssen, daß nur Empfindungen des Dankes für Gottes gnädige Führung uns bejeelen können.

Freilich haben in dieſem halben Jahr-

hundert auch Zeiten der Flut und Ebbe für den Handelsstand gewechselt ; freilich hat derselbe manche Fährlichkeit zu bestehen gehabt ; ich erinnere nur an die Kalamitäten, welche die Revolutionszeiten von 1830 und 1848, die Kriegsjahre von 1864 ab und manche andere politische und kommerzielle Konstellationen gebracht haben und doch brachte jede Krisis wieder neue und immer gesundere Entwickelung. So sind denn auch erst 1874 der Kaufmannschaft neue Statuten, welche den gegen.

Überschwemmung der Weichsel.

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wärtigen Verhältnissen entsprechen, von Seiner Majestät erteilt worden ! Daß diese Entwickelung stetig fortgesetzt werde, daß der Baum immer tiefere Wurzeln schlage, immer stärkere Äste treibe, immer schönere Früchte trage, das ist der Wille unseres Allergnädigſten Kaiſers und Herrn, das ist das Streben der Staatsbehörden, das ist mein Herzenswunsch. " Am Schluß meiner Rede ließ ich den alten und doch neugeborenen und darum noch so jugendkräftigen Jubilar hochleben. Ein großes Fest mußte ich in demselben Jahre noch in Elbing mitmachen, wo ich den zum Ersten Bürgermeister gewählten Herrn Thomale in sein neues Amt einzuführen hatte. Es war schön, dabei zu erleben, wie auch in dieser alten Handelsstadt die ganze Bevölkerung an diesem Feste teilnahm . Eine hochintereſſante Anſtalt in Elbing war schon damals in herrlichem Aufblühen ; es iſt die großartige Schiffbauwerft, deren Befizer, der alte, liebe Kommerzienrat Schichau, mir bei meinen wiederholten Besuchen gut befreundet wurde. Eine neue Wahl zum Reichstag, welche mir zum dritten Male angeboten wurde, lehnte ich definitiv ab, obwohl ich sicher wiederum die Majorität der Wähler erhalten hätte. Die Lage eines konservativen Reichstagsabgeordneten war damals in der Tat keine angenehme : schon mehrte sich die Zahl der Sozialdemokraten im Reichstage, die Reichsregierung neigte immer mehr nach der liberalen Seite hin, und es erschien ziemlich gleichgültig, ob eine Stimme mehr oder weniger bei der konservativen Minorität vorhanden war. Neben einem schweren Amte, wie das eines Regierungspräsidenten ist, war es kaum möglich, viele Monate alljährlich in Berlin zuzubringen, ohne die Pflichten des Hauptamtes zu vernachlässigen . Auch fielen die Geldopfer, welche ich sechs Jahre lang gebracht hatte, um ohne Diäten und ohne Eisenbahnfreikarte mit dem ganzen Hausstande nach Berlin überzuſiedeln, in die Wagschale, um die Stelle eines Statiſten im Reichstagsſaale nicht ferner beizubehalten. Im Anfang des Jahres 1876 nahm der Weichselstrom mit seinen Eisstopfungen eine drohende Gestalt an ; schon Ende Januar meldeten zahlreiche telegraphische Nachrichten die herannahende Gefahr . Die Weichsel fließt der Hauptsache nach von Süden nach Norden, und daher kommt es, daß ihre Gewässer und die ihrer Nebenflüsse im Süden schon früher auftauen, während im Norden nach dem Ausfluß zu das Eis noch feststeht.

Gerade wie am Rhein bei der 1855er überschwemmung mußte

ich hier die Erfahrung machen, daß die gewaltigen Deiche, welche der Deutsche Orden schon vor Jahrhunderten angelegt hatte, damals wohl die reiche Niederung zwischen Weichsel und Nogat geschüßt und immer reicher gemacht, im Laufe der Zeit aber mehr schädlich als nüßlich gewirkt hatten. Denn das Bett der Weichsel war nach und nach durch den Schlick, welchen der Strom mit sich führt, erhöht, während die Ländereien inner29 v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

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Zwölfter Abschnitt : Regierungspräsident in Danzig.

halb der Deiche in ihrer niedrigen Lage geblieben waren, so daß Durchbrüche mit entseglichen Schäden immer mehr zu fürchten waren, und das Quellwasser an vielen Orten durch den starken Druck des Waſſers im angeschwollenen Strom die Deiche in ihren Fundamenten unsicher machte. Dabei waren die Deichlasten, um die Deiche höher und breiter zu machen, immer schwerer geworden.

Mit den betreffenden Wasserbautechnikern

machte ich eine Menge von Reisen und sah die traurigsten, aber freilich naturschönsten Bilder, wie die Eismassen sich übereinanderschoben

und

namentlich an dem Trennungspunkte der Nogat von der Weichsel die Gefahr immer höher stieg. Eines Tages stand ich auf einem Querdeiche, den das Quellwaſſer ganz unsicher machte; ein Kommando von Pionieren, welches ich aus Danzig requiriert hatte, schaffte mit großer Energie eine Menge von Sandsäcken an den Fuß der Binnenseite des Deiches, das Quellwaſſer wurde dadurch verstopft und die Gefahr unter allgemeinem Jubel überstanden. Die Eisbrecher, welche dazu bestimmt waren, das Eis an beiden Ufern zu zerschneiden, um

dann die dazwischen liegenden Eismaſſen mit

Dynamit zu sprengen, brachten nur wenig Hilfe, wie denn auch vergebens versucht worden war, durch starke Dampfschiffe das erst entstehende Eis zu durchbrechen.

So wurde denn die Not groß, nachdem Deichbrüche in

der südlichen Niederung stattgefunden hatten.

Da jeit langer Zeit fein

Dammbruch mehr erfolgt war, so hatten auch die Bewohner keinerlei Sicherheitsmaßregeln zu ihrer Rettung getroffen, und es fehlte namentlich überall an Booten, um dem Wasser zu entkommen. Einen besonders traurigen Anblick gewährten die Häuser der ärmeren Leute, deren Öfen und Feuerherde, aus rohen, lufttrockenen Lehmziegeln erbaut, zusammengefallen waren .

Großartig war die Hilfeleistung, welche den über-

schwemmten zuteil wurde, die veranſtalteten Geldſammlungen ergaben ein schönes Resultat. Diese Überschwemmung hat mich veranlaßt, das alte Projekt, welches schon Napoleon angeblich ins Auge gefaßt hatte, wieder von neuem anzuregen :

das Projekt eines Weichseldurchstichs,

welcher dem Strom einen kürzeren Lauf bis zu seiner Mündung vorschreiben, dadurch ein stärkeres Gefälle verursachen und die Höhe des durchschnittlichen Waſſerſpiegels der Weichsel um einige Fuß erniedrigen sollte.

Lange, viel zu lange Zeit hat die Ausarbeitung dieses Projektes

in Anspruch genommen, bis es denn endlich, nachdem ich Danzig längſt verlassen hatte, zu großem Segen der dortigen Landwirtschaft ausgeführt worden ist. Schon im April 1876 erfuhr ich, daß die Staatsregierung mich nach Merseburg verseßen wolle. Ich nahm dies Anerbieten dankbar an. Bei den verschiedenen Abschiedsfesten, welche mir gegeben wurden, konnte ich

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Abſchied aus Danzig.

nur die Frage an die Versammelten richten :

Was hat mich von Danzig

vornehmlich fortgetrieben ?" Die Wohnungsnot, die in Danzig endemisch und so alt ist, als Danzig eine preußische Stadt geworden, an der meine Amtsvorgänger lange Jahrzehnte bereits laboriert haben. Wie Jakob um die Rahel sieben Jahre lang geworben, so auch ich um ein dauerndes Heim in dieser heimischen Stadt nur mit dem Unterschiede, daß ich nicht so glücklich war wie Jakob, das heißt, die Braut nicht heimführte. Ich bin nicht wert gewesen, führte ich ferner aus, all des Wohlwollens und all der Liebe und Freundschaft, die mir zuteil geworden.

Welche

Fülle von Erlebnissen im Amt sind mir begegnet, welche Menge von Gesetzen habe ich auszuführen gehabt, und nun soll ich einen Kreis von guten Bekannten und lieben Freunden verlassen, um fast hundert Meilen von Danzig entfernt einer ungewissen Zukunft entgegenzugehen ; verlassen soll ich auch die Schönheit Danzigs und seiner Umgegend und all den edlen Zeitvertreib, welcher mir durch Jagden und Musizieren in Danzig geboten war ! Auch das Regierungskollegium gab mir ein Abschiedsfest, an welchem die Generale und höheren Offiziere gleichfalls teilnahmen . Dabei ereignete sich ein eigentümlicher Vorfall :

Das Festkomitee hatte mich

beauftragt, den Toast auf Seine Majeſtät auszubringen.

Der neben

mir ſizende Diviſionsgeneral v. Bernhardi machte während meiner Rede in unartikulierten Tönen seinem mir unerklärlichen Mißmut Luft, und ich konnte nur die wiederholten Worte verstehen : „ Das ist zu arg !" Dabei war er vorher schon benachrichtigt worden, daß ich den Toaſt auf den Kaiser ausbringen sollte. Plöglich erhob er sich mit den wütenden Worten : „ Sie haben ein Recht in Anspruch genommen, was Ihnen nicht zukommt! " und verließ, gefolgt von fast allen Offizieren, das Lokal. Die ganze Festgesellschaft war über dieses Benehmen außer sich, und der Polizeipräsident erstattete sofort als Zeuge des Vorfalls amtlichen Bericht darüber an den Minister des Innern. Dieser lettere teilte mir mit, daß ich nichts, weder amtlich noch außeramtlich, in der Sache zu tun habe, denn der Bericht des Polizeipräsidenten sei bereits dem Kaiser mitgeteilt, und es jei viel besser, daß Seine Majestät den Vorfall nicht durch mich, sondern durch einen Dritten erfahre. Als ich am 15. August, früh gegen 6 Uhr, den kaiserlichen Herrn bei seinem halbstündigen Aufenthalt auf dem Bahnhof Wittenberg zu empfangen hatte - er kam von Bayreuth her , trat er sofort aus dem Eisenbahnwagen auf mich los und, nachdem ich meinen Dank für die Versehung nach Merseburg ausgesprochen, sagte er mir in freundlich-väterlicher Weise folgende ipsissima verba : „Nun, die Versetzung ist ja Ihren Wünschen entsprechend ; ich habe mich danach erkundigt, und es iſt mir gesagt, daß Sie gern nach Merse29*

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Zwölfter Abschnitt: Regierungspräſident in Danzig.

burg gingen. - Das ist ja aber ein ganz unangenehmer Vorfall, der in Danzig bei Ihrem Abschiedsfest vorgekommen .

Das ist ganz unerhört

und eine Taktlosigkeit, die ich strenge werde rügen müssen. So etwas iſt ganz unerlaubt und darf nicht wieder vorkommen. Ich begreife den Mann nicht, und nun gar die anderen Offiziere zu veranlassen, daß sie mit ihm herausgehen sollten !

Es ist wirklich halb verrückt ! “

Beim darauffolgenden Frühstück erhielt ich meinen Plaz neben Seiner Majestät, und er gab mir dabei noch weitere Beweise seiner väterlichen Freundlichkeit.

Er erzählte mir auch viele Einzelheiten von der

Anhörung der Wagnerschen Oper in Bayreuth : er habe die vielen Stunden lang nichts davon verstanden, wenn nicht seine Tochter, die Großherzogin von Baden, den Inhalt des Stückes, die ewig langen Monologe und Dialoge, ihm erklärt hätte ; er habe sich, noch dazu im Dunkeln ſizend, gehörig gelangweilt.

Mir aber war die Huld des Kaisers Genugtuung voliauf

für die unangenehme Schlußſzene, die ich wie einen Bliß aus heiterem Himmel in Danzig erlebt hatte.

Auch der Minister des Innern eröffnete

mir im Auftrag Seiner Majestät, daß ich wohl in der Eigenschaft als scheidender Ehrengaſt mir geſtatten durfte, auch in Gegenwart des Generalleutnants v. Bernhardi das Hoch auf Seine Majestät auszubringen . Erst am 21. Juli erhielt ich die offizielle Nachricht von meiner Versezung nach Merseburg mit der Weisung, bereits am 1. Auguſt mein neues Amt anzutreten .

Dreizehnter Åbschnitt. Regierungspräsident in Merseburg.

m 1. August 1876, genau an dem Tage, an welchem ich vor zehn K Jahren die Zügel der Regierung in Wiesbaden in die Hand gehatte, wurde ich von dem Regierungs-Vizepräsidenten nommen v. Schwarzhoff, der aus Magdeburg in Stellvertretung des Oberpräſidenten gekommen war, in das Regierungsfollegium zu Merseburg eingeführt. Von allen Seiten wurde ich aufs freundlichſte empfangen. Da ich Frau und Kinder noch in Danzig bei der Eile meiner Abreise hatte zurücklaſſen müſſen, ſo bezog ich allein Stube und Kammer in dem Dachgeschoß des Königlichen Schlosses. Eine herrliche Aussicht nach Norden und Often bietet dieſe Stube, und es war mir gleich sehr heimisch darin ; das Rauschen des großen Saalewehres umgab mich gerade so, als hörte ich das Rauschen der Meereswellen am Strande von Zoppot, wo ich so viele Jahre mit den Meinigen gewohnt hatte.

Die eigentliche

Präsidialwohnung war von allen möglichen Handwerkern eingenommen, denn es wurden neue Tapeten befestigt, die Decken gestrichen, die Malereien an den Wänden erneuert, eine Menge von Möbeln und Teppichen durch das Hofmarschallamt hineingebracht.

Alles dies galt dem Empfange

des Kaisers, welcher Anfang September ankam. Der hohe Herr wohnte zehn Tage lang in meinen Wohnzimmern auf der östlichen Seite des Schlosses, der König von Sachſen in den Zimmern daneben. Bald nach seiner Ankunft sagte der Kaiser zu mir : ,,Diest, Ich bin doch ziemlich herumgekommen in der Welt, aber eine so schöne Wohnung habe Ich noch kaum gefunden." Es war rührend, wie er sofort dafür gesorgt wiſſen wollte, daß der Saal, welcher zwiſchen den obengenannten Zimmern liegt, vom Könige gemeinschaftlich mit ihm als Empfangsjaal benutt würde. Der Kaiser schlief in meinem Arbeitszimmer in einem sehr einfachen eisernen Feldbett.

Für das Aufhängen

454

Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

seiner Uhr wurde über dem Bett ein Nagel eingeschlagen, welchen ich lange Jahre als Reliquie habe stecken lassen. Der König von Sachſen ſchlief in dem jogenannten Spiegelzimmer, welches von herzoglicher oder bischöflicher Zeit her in altem Renaiſſanceſtil mit Spiegeln an allen Wänden, ja jogar an der Decke versehen ist , und in welchem es nach alter Sage spuken soll .

Der König von Sachsen

empfing mich gleich nach meiner Ankunft, und in einem längeren Gespräch erkundigte er sich auch nach dem Spuken, von dem er gehört habe. Ich erzählte ihm von dem unschuldigen Pagen des Bischofs, welcher, beschuldigt, den Bischofsring gestohlen zu haben, seinen Kopf verlieren mußte, und nun mit abgehauenem Kopf unterm Arm in dem Spiegelzimmer bei Nacht umgehe. Ich schlug dem König vor, sein Bett lieber in der Nebenſtube aufschlagen zu laſſen, wie es der König Friedrich Wilhelm IV., welcher auch in der Spiegelstube habe schlafen sollen, in den 50er Jahren getan habe. Der älteste Bruder meiner Frau, der Staatssekretär v . Thile, habe bei seinen häufigen Besuchen bei uns ein Mittel gegen den Spuk anwenden wollen ; er habe dem armen Pagen, wenn er vor seinem Bette erscheine, höflichst sagen wollen : „Bitte, bedecken Sie sich, tun Sie, als ob Sie ganz zu Hauſe wären ." Der König von Sachſen lehnte es ab, sein Schlafzimmer zu verlegen, kam aber alle Tage, wenn ich ihn wiedersah, mit der Mitteilung zu mir, daß er noch immer nicht den Spuk erlebt habe. Auch die Kaiserin Augusta wohnte in dieser Zeit drei Tage lang in dem ersten Stock des Schlosses . Das tägliche Verkehren mit dem Kaiſer war für mich gerade so, wie in den Jahren zu Ems , herzerquickend. Täglich wurde ich zur Tafel eingeladen, und eines Abends waren noch sämtliche gekrönte Häupter und Prinzen zu einem höchst gemütlichen Tee, der im Saale eingenommen wurde, beiſammen.

Am ersten Abend

mußte ich dem Kaiser und dem Könige von Sachsen voranfahren, welche die festlich illuminierte Stadt in allen ihren Straßen und Gaſſen besichtigen wollten. Der Kaiser war bei der Rückkehr entzückt über die gelungene Illumination und meinte zum König, es wäre doch alles mögliche für eine so kleine Stadt von 40 000 Einwohnern ! (Merseburg hatte damals nur 15-16 000 Seelen. )

Bei einem Fackelzug und einem großen

Zapfenstreich aller Musikkorps wollte der Kaiser das Fenster öffnen, um besser zu sehen und zu hören. Die Kaiserin rief mich herzu, ich solle dem Kaiser das Fenster nicht aufmachen, denn er würde sich bei dem Luftzug ganz gewiß erkälten.

Der Kaiser wurde ärgerlich über diese Behauptung,

und das Fenster wurde geöffnet. Ein ungeheuerer Jubel erſcholl von dem Schloßhof nach dem Fenster herauf, ich aber mußte auf Befehl der Kaiserin des Kaisers Müze holen, die er sich dann auch geduldig aufſette. Der hohe Herr war von einer unglaublichen Elastizität ; die Wendeltreppe, welche die

Kaiser und Kaiſerin in Merseburg.

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beiden Etagen verbindet ( die Diners waren immer in der Beletage), ging er nicht herauf und herunter, sondern er sprang geradezu die Stufen herunter und herauf. Sehr eigenartig war oft die Art, in welcher der Kaiser mit den kleineren Fürsten umging ; der Fürst von Rudolstadt ſtand einmal oben an der Wendeltreppe, als der Kaiser heraufkam, mit heruntergenommenem Helm. „ Souverän, bedecken Sie Sich “, rief ihm der Kaiser zu. Bei dem Manöver der beiden Armeekorps, des IV. und des Königlich Sächsischen ( XII. ) , zu dem ich täglich mit hinausfuhr, ging es manchmal nicht ganz friedlich her. Der Kaiser war außer sich, daß scharfe Schüsse von seiten der Sachsen gefallen waren, durch welche mehrere Zuschauer schwer verwundet wurden. Dabei war es aber eine Freude, zu beobachten, ein wie herzliches Freundschaftsverhältnis zwischen dem König von Sachsen und unserem Kaiser obwaltete. In diesen unvergeßlichen Tagen war es mir auch vergönnt, von der herzlichen Fürsorge Ihrer Majestät der Kaijerin Auguſta für Arme und Kranke lebendige Eindrücke zu erhalten.

Die hohe Frau fuhr mit mir

zuerst in das „ Grüne Haus “, wohin sie, da die Straße sehr schmal war, eine längere Strecke zu Fuß gehen mußte.

In dieser Stiftung des Vater-

ländischen Frauenvereins wohnen zehn bis zwölf alte Frauen, die sonst fein Unterkommen haben. Mit jeder einzelnen von diesen Armen unterhielt sich die Kaiserin leutselig.

In einer Stube hing 3. B. eine Ansicht

von Koblenz, da erklärte die hohe Frau aufs genaueste, wo sie im Schloß zu Koblenz lange gewohnt und erzählte dabei den Alten von Weimar, als ihrem Geburtsort. Dann fuhren wir zum Chriſtianen-Waiſenhauſe. Auch hier wurde alles genauer Besichtigung unterworfen, und da in dem Andachtssaal ein Kruzifix fehlte, so versprach sie, ein solches zu schenken . Sie hat das Versprechen auch nicht vergessen ; das schön geschnitte Kreuz kam bald im Waisenhause an. Endlich fuhren wir in die Vorstadt Merseburgs, wo das städtische Krankenhaus liegt . Hier ging die Kaiſerin von Bett zu Bett und sprach den Kranken Troji zu. In einem Bett lag eine franke Frau, und als die hohe Frau hörte, wie lange Monate die Kranke darin liege, fragte sie, ob sich die Kranke noch nicht durchgelegen habe, und als dies bejaht wurde, da mahnte sie den Anstaltsarzt, er möge doch ein Rehfell der Kranken unterlegen.

Dieser entgegnete : „Majestät, dafür

reichen unsere Mittel nicht. " Da sah mich die Kaiſerin mit ihren großen Augen erstaunt an und sagte traurig : So steht es hier ?". Natürlich wurde das Rehfell angeschafft und das ganze Krankenhaus von nun an gründlich reorganisiert ; schon nach kurzer Zeit haben mehrere Diakonissinnen aus dem Elisabethkrankenhause zu Berlin die Verwaltung und Pflege in dieſem Hauſe übernommen.

Eine sehr alte Frau lag in

einem Zimmer für sich, da ſie eine ansteckende Krankheit hatte.

Täglich

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräſident in Merseburg .

wurde ihr Tod erivartet. Troß der Warnung, die Kaiſerin möge nicht ans Bett treten, tat sie es doch, ja, sie legte segnend ihre Hand auf die Stirn der Sterbenden und sprach ihr Troſtworte zu.

Verklärten Auges

sah die Kranke zur Kaiſerin hinauf, als sei es schon eine Erscheinung aus der anderen Welt.

Der Kronprinz wohnte damals nicht im Schloß, weil neben den Majestäten kein Plaß für ihn war, sondern im Hauſe der Frau v . Brandenstein, dicht hinter dem Schloßgartensalon. Ich begegnete ihm täglich bei den Diners , welche der Kaiser im Schlosse gab.

Er konnte mir nicht

genug rühmen, wie vortrefflich er bei der genannten intereſſanten Dame aufgehoben sei, die noch dazu damals eben erst einen schweren Beinbruch überstanden hatte und den Kronprinzen nur auf dem Sofa liegend empfangen konnte. Der hohe Herr ſah beſonders friſch und geſund aus, und jedermann bewunderte mit mir seine schöne, stattliche Gestalt in der Uniform des 8. Dragoner-Regiments, deſſen Chef er war. Dabei war er immer in der fröhlichsten Laune, und die Gespräche mit ihm über die verschiedensten Fragen waren stets von herzlicher Heiterkeit erfüllt. Fast jeden Abend nach dem Diner fanden sich alle Mitglieder des kaiserlichen Gefolges in meiner Giebelſtube ein, um dort, rauchend und trinkend, ſich von den Strapazen des Tages zu erholen. Besonders großartig gestaltete sich das Fest, welches die Provinzialstände dem Kaiſer im Schloßgartensalon gaben ; soll es doch auch über 100 000 Mark gekostet haben. Ein großer Anbau war in den Schloßgarten hinein gezimmert worden, um

Plaß für die Hunderte von Teilnehmern

am Festmahle zu schaffen . Wie die ganze Provinz Sachſen und namentlich die Stadt Merseburg sich durch ihre schönen und netten Frauen von jeher ausgezeichnet hat, so war auch auf diesem Feste ein Damenflor erschienen, welcher die verwöhntesten Herren aus Berlin und von allen Ländern Europas her in Erstaunen jette.

Dem Kaiser mußte ich eine

Menge von Damen vorstellen, und mit jeder einzelnen wechselte er freundliche Worte. Die Frau eines Merseburger Regierungsrats intereſſierte ihn besonders . Bald darauf kam der Großherzog von Heſſen mit der Aufforderung zu mir, ich solle ihm dieselbe Dame, deren Namen er nicht mehr wußte, die er aber in Göttingen, als er dort ſtudiert, als ein reizendes junges Mädchen aus Kurland kennen gelernt hatte, zuführen.

Ich sagte

dem Großherzog, er solle sich an die neben uns befindliche Säule ſtellen, ich wolle die Dame unter der großzen Gesellschaft aufzusuchen mich be mühen. Auf meiner Suche nach ihr kam der Fürst von SchwarzburgRudolstadt und gleich darauf als dritter der russische Militärbevollmächtigte, Fürst Dolgoruki, mit der gleichen Aufforderung an mich heran, und ich bestellte sie auch an dieselbe Säule. Ich fand endlich Frau

Schönheit des Merseburger Bezirks.

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Regierungsrätin Schönian geb. v. Strempel, führte sie an den verabredeten Plaß und freute mich an dem fröhlichen Wiedersehen der genannten Herren mit ihr. Übrigens zeichnete sich diese Dame auch durch eine herrliche Stimme aus, mit welcher sie Lieder von Schubert, Schumann, Franz 2. vortrug. Auch andere Damen des Regierungskollegiums wurden besonders ausgezeichnet, ich aber war stolz als neuer Präsident auf die Familien meiner neuen Kollegen. In der Tat zeichnete sich das Merseburger Regierungskollegium dadurch aus, daß alle seine Mitglieder vornehme und geschäftskundige Herren waren. Auffallend war es nur, daß eine große Zahl schon in hohem Alter sich befand. Viele waren über 60 und 70 Jahre alt, und dies kam wohl hauptsächlich daher, daß mein Amtsvorgänger, der vortreffliche Präsident Rothe, in den 14 Jahren ſeiner hieſigen Amtstätigkeit kein Mitglied des Kollegiums zur verdienten Beförderung vorgeschlagen hatte. Der Regierungsbezirk Merseburg mit seinen 17 landrätlichen Kreisen und 72 Städten ist einer der interessantesten der Monarchie ; mit seiner Einwohnerzahl von über 1 Million Seelen, welche fortwährend steigt, ist er faſt noch einmal ſo groß als der Danziger Bezirk und auch um einige hunderttausend Seelen größer als der Wiesbadener Bezirk. Seine Landräte waren der Mehrzahl nach Gutsbesizer in ihren Kreisen und zeichneten sich ebenso wie die Regierungsmitglieder durch Geschäftstüchtigkeit und innerliche Vornehmheit aus. Es war eine Freude, mit ihnen zu arbeiten und zu verkehren, und sind sie mir mit ihren Familien gut befreundet geworden. Dabei fehlte es nicht im Bezirk an sehr großen und tüchtigen Gutsbesißern und Domänenpächtern auf den 47 Domänen. Die Industrie blühte in den großen Städten in allen ihren Zweigen, namentlich stand die Zuckerinduſtrie in einer gewaltigen Zahl von Fabriken in höchster Blüte.

Die Hauptstadt des Bezirks, Halle, glänzte

durch ihre Univerſität, an der die besten Lehrkräfte tätig waren und noch sind, und deren Studentenzahl immer höher gestiegen ist, so daß Halle nächst Berlin und Leipzig die besuchteste Universität Norddeutschlands ist. Recht viele Städte des Bezirks waren auch durch ihr Alter und durch ihre Geschichte bedeutend, war doch Eisleben die Geburts- und die Todesstätte Dr. Martin Luthers, hatte er doch in Wittenberg die längste Zeit seines Lebens gewohnt, war doch sein Auftreten in Torgau, Merseburg und anderen bedeutungsvoll und eingreifend geweſen. Interessant zwar, aber traurig war es für mich, auf meinen vielen

Dienstreisen zu beobachten, wie schrecklich der Dreißigjährige und der Siebenjährige Krieg, ja, auch noch die Befreiungskriege gerade im Merseburger Bezirk gewütet hatten. Die Horden der kaiserlichen und leider auch der schwedischen Heere haben im Dreißigjährigen Kriege ganze Ortschaften der Erde gleichgemacht, und sogenannte „wüste Feldmarken “, die nur

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

noch den Namen der früheren Dörfer tragen, findet man weit und breit. über das Jahr 1648 hinaus findet man nur wenige Urkunden noch vor, die älteren sind verbrannt und vernichtet. Rings um Merseburg herum liegen die Schlachtfelder, auf denen die Geschicke Deutschlands entschieden wurden : Da liegen im Süden Roßbach, im Südosten Lügen und Großgörschen, im Osten Leipzig und Breitenfelde, und die Zahl kleinerer Gefechte, die im Merseburger Bezirk durchgekämpft worden sind, ist groß . Aber auch die frühesten Jahrhun derte deutscher Geschichte weisen viele Stätten mörderischer Schlachten auf: so fand südlich von Merseburg bei Dürrenberg die gewaltige Schlacht gegen die Hunnen statt, in der dieses furchtbare Nomadenvolk aufs Haupt geschlagen wurde, da bezeichnen noch die Namen der beiden Dörfer die Lagerplätze der beiden feindlichen Heere ; Sfortleben (scortum ) , weil dort die Unzucht unter den Kriegern eingerissen war, und Keuschberg, weil dort gute Disziplin herrschte. Auf dem rechten Ufer der Saale liegen dort die Dörfer Öbles und Schlechtewiß, denn zwischen dieſen beiden saß Kaiser Heinrich, um sein frugales Mittagessen, auf der Erde sigend, einzunehmen ; da fiel ein Hunnenpfeil ihm in seine Schüssel, er aber rief: „ Das ist ein schlechter Wit, das ist ein öbles Essen ! " Nicht weit von Freyburg a. U. liegt das Dorf Zscheiplit auf der Höhe ; dieser Dorfname ist entstanden aus dem lateinischen Worte ,,supplicium“, wie man es in den Urkunden verfolgen kann. Dort baute nämlich die schöne Landgräfin von Thüringen zur Strafe ihrer Sünden und zur Buße (supplicium) für dieſelben ein Nonnenkloster, denn sie hatte ihren Gemahl durch Heinrich den Springer ermorden laſſen, um ihren Buhlen zu heiraten. In der Forst bei Freiburg steht noch ein Gedenkſtein dieſer Mordtat, und es sind nur noch in dem verwitterten Sandstein die Worte zu lesen : „,hasta subjecit " (er erstach ihn mit dem Speere) . Weiter oben an der Unſtrut liegen die sehenswürdigen Ruinen des schönen Kaiserpalastes Ottos des Großen in Memleben, hier ist der große Kaiſer auch gestorben, wie es Leopold Ranke in seiner Geschichte der Deutschen Kaiser vortrefflich beschreibt (Rankes Geburtsstadt Wiehe liegt nicht weit davon) . Etwas weiter hinauf an der Unstrut liegt Wendelstein, wo sich eine Kaiserin, ihres Lebens froh, auf einem Steine stehend, an der herrlichen Aussicht ergözte und dabei die Worte rief : Wie wohl mir steht all hier mein Leben, wenn ich mich wend auf diesem Stein ! " Daher die Namen der umliegenden Ortschaften : Wiehe, Wolmirstedt, Allerstedt, Memleben und Wendelstein. Das schöne Schloß Burgscheidungen der gräflich Schulenburgschen Familie soll in den frühesten Jahrhunderten der Sit der thüringischen Könige gewesen sein, und die blutigſten Kämpfe zwiſchen den Sachsen und Franken sollen dort in den frühesten Jahrhunderten deutscher Geschichte stattgefunden haben, wie denn auch die beiden nahe

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Aufforstungen.

beieinander liegenden Ortschaften Frankenhausen und Sachsenhausen die Grenzen bezeichnen, innerhalb welcher die beiden feindlichen Volksstämme ihren Wohnsiz hatten. Nur eine kleine Zahl von geschichtlich denkwürdigen Orten habe ich vorstehend namhaft machen können ; der ganze Bezirk steckt voll von Geschichte, und meine Reisen waren voll von Belehrung. Bald nach dem Antritt meines Amtes begann ich mich einer meiner Lieblingsbeschäftigungen zu widmen, nämlich den Aufforſtungen öder Flächen. Im Dreißigjährigen Kriege war der Petersberg, jener etwa 500 Fuß hohe Berg nördlich von Halle mit seiner herrlichen Rundsicht, jo gut wie ganz entwaldet worden. Die umliegenden Gutsbesitzer freuten sich zwar sehr über mein Vorhaben, die öde Höhe wieder aufzuforſten, erklärten aber einstimmig, daß mir das ebensowenig glücken würde, wie dieselben Versuche in früheren Zeiten mißglückt seien. Aber es ist in schwerer Arbeit vieler Jahre geglückt, indem ich die Gelder dazu von dem Ministerium erbat, und sämtliche beteiligten Forstbeamten, der Oberforstmeister, der Forstmeister, der Ober- und Revierförster mich treulichst unterſtüßt haben. Der Berg mit seiner jungen Kultur bietet ein ganz anderes Ansehen als früher. Im Kreise Schweinig, auf dem rechten Ufer der Schwarzen Elster, fand ich viele Tausende von Morgen mit Flugsand, welcher sogar die anliegenden Äcker und Wiesen immer mehr zu überſanden drohte. Auch hier sollte ich, wie bei Gelegenheit meiner Danziger Aufforstungen, eine Waldgenossenschaft bilden. Dies gelang aber auch hier wie dort nicht. Die bäuerlichen Besitzer wollten nur an den Fiskus verkaufen, aber nicht sich miteinander verbinden, weil jeder einzelne dort zu arm sei, um diese neue Last zu tragen., welche erst nach vielen Jahrzehnten einen Ertrag liefern könne.

Nach vielen schwierigen

Verhandlungen mit den Hunderten von Grundbesizern wurden dann nach und nach einige tausend Morgen angekauft, und jezt ſieht man nicht mehr die weißen Sandflächen, sondern die fröhlich wachsenden grünen Kiefernbestände. Andere kleinere Flächen sind ebenso in den Kreisen Cölleda, Querfurt, Saalkreis mit Erfolg aufgeforstet worden. In nur wenigen landrätlichen Kreisen fand ich Kreishäuſer vor, viele Landräte und Landratsämter befanden sich in gemieteten Häusern. Zu meiner Freude ist es mir gelungen, daß jezt in allen landrätlichen Kreisen Kreishäuser gebaut sind, in welchen neben den Bureaus des Landrats meistenteils auch die Katasterämter, die Kreissparkassen und andere ihre dauernde Unterkunft gefunden haben .

Ebenso hatten auch

nur wenige Kreise Sparkassen, welche meistens nur in den größeren Städten vorhanden waren. Nach jahrelanger Arbeit ist jetzt in jedem Kreise eine Kreissparkasse vorhanden. Nach den Statuten der älteren Sparkassen, die ich vorfand, war viel zu wenig dafür gesorgt, daß ge-

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräſident in Merseburg.

nügende Reſervefonds zur Deckung von schlechten Konjunkturen vorhanden waren; so war 3. B. bei einer Sparkasse von über 12 Millionen Einlagen nur ein Reservefonds von 200 Talern vorgesehen.

Eine andere, noch

größere Sparkasse, machte beinahe Bankerott, weil ein nicht preiswürdiges Rittergut von ihr angekauft worden war. Eine besondere Mühe gab ich mir damit, daß die Hypotheken, zu denen das Geld von der Sparkaſſe entlehnt wurde, möglichst nur gegen jährliche Amortisation bewilligt werden sollten. Hier ist natürlich noch lange nicht das erstrebte Ziel erreicht, aber doch wenigstens ein gründ licher Anfang damit gemacht worden, daß die enormen Hypothekenschulden nicht auf unabsehbare Zeit auf den Schultern der Grundbeſizer haften bleiben. Nach dem Zuständigkeitsgesetz vom 26. Juli 1876 war den Regierungspräsidenten die Befugnis eingeräumt, den Kommunen die Verwendung eines Teiles der nach Deckung des vorgeschriebenen Reſervefonds etwa noch verbleibenden Sparkaſſenzins- Gewinnüberschüſſe zu öffentlichen Zwecken zu gestatten. Vielfach waren bisher dieſe Überschüſſe zu solchen Zwecken verwandt worden, welche, streng genommen, durch die Kommunalsteuern hätten gedeckt werden müssen. Ich erklärte nun allen betreffenden Landräten und Magistraten, daß bei der Verwendung von überschüſſen in erster Reihe solche Zwecke und Veranstaltungen Berück sichtigung finden müßten, welche vorzugsweise den ärmeren Klaſſen zugute kommen ; denn der größte Teil der Sparkassenbücher gehöre den Sparern der dienenden und arbeitenden Klassen, den Knechten, Mägden Tagelöhnern, Fabrikarbeitern, kleinen Handwerkern 2. Ich empfahl dabei namentlich die Einrichtung und Unterstützung von Kleinkinderbewahranstalten, von Rettungshäusern für die verwahrloſte Jugend, von Suppenanstalten, insbesondere im Winter, von Badeanstalten für die ärmeren Klassen, von Krankenanstalten, von Herbergen zur Heimat, ferner die Unterhaltung von Gemeindediakonissinnen

wie auch die

Prämiierung von Dienstboten für lange und treue Dienste bei derselben Herrschaft. Ich habe nach jahrelanger Arbeit in allen Spezialfällen die Freude gehabt, daß manches Werk der inneren Miſſion auf dieſem Wege gefördert worden ist. Der Merseburger Bezirk ist reich an besonders schönen, alten Kirchen ; obenan steht der Dom zu Naumburg, ein Stern erster Größe . Er war in den letzten Jahrhunderten durch eine Menge von hölzernen Einbauten entseßlich verunſtaltet worden ; auch hier hatte mein Schwager v. Quaſt die erste Anregung zu seiner Wiederherstellung gegeben, die im Jahre 1879 vollendet ward. Das Domkapitel, unter Führung des alten Dompropstes v. Rabenau, bezahlte die Kosten, der Baurat Werner war der Dombaumeister, und ich konnte als Vertreter der Königlichen Regierung

Kirchenbauten.

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die feierliche Einweihung vornehmen. Auch die beiden bis dahin noch fehlenden Kirchtürme wurden später aufgerichtet, so daß der Dom mit ſeinen vier Türmen als eine kostbare Perle unter allen Kirchenbauten Deutschlands vollendet dasteht. In Naumburg wurde ferner noch die Wenzels- und Ottmarskirche wiederhergestellt ; in der ersteren fanden sich interessante Tafeln mit Reliefbildern aus Alabaster und eine Sammlung von mittelalterlichen Musikinstrumenten vor. Wie in Frankreich die Sucht vorherrscht, alle wertvollen Kunſtſchäße nach Paris zu schleppen, so sind auch diese Musikinstrumente, welche ich gern für Naumburg erhalten wissen wollte, auf miniſteriellen Befehl nach Berlin gebracht worden . In Freyburg a. U. ist die reizende Annenkirche wieder in guten Stand gesezt worden, ebenso in Sangerhausen die Ulrichskirche, an welcher auch der Kronprinz ein besonderes Intereſſe nahm, in Zörbig die uralte Stadtkirche und auf dem Petersberge die Kirche, welche die Grabmäler der sächsischen Fürsten aus dem Hause Wettin enthält. Auf einer Fußwanderung im Jahre 1847 hatte ich dieses hiſtoriſch und architektonisch bedeutende Bauwerk als Ruine vorgefunden ; auf Anregung v . Quaſts wurde sie durch die Fürsorge Friedrich Wilhelms IV. herrlich wieder aufgebaut, mußte aber doch auf meine Veranlaſſung ſchon Ende der 70er Jahre wegen der Feuchtigkeit ihrer Mauern von neuem gründlich restauriert werden . Die Herstellung der Wittenberger Schloßkirche hat mir viel Arbeit gekostet, ich werde davon aber erst später bei Gelegenheit der Beschreibung ihrer Einweihung das Nähere erzählen . Eine große Zahl von neuen Kirchen ist unter meiner Mitwirkung im Bezirke gebaut worden, und in Gemeinschaft mit den Generalsuperintendenten Möller, Schulze und Textor habe ich die Feiern ihrer Einweihung mitgemacht. Eine besondere Freude war mir, daß zwei neue Kirchen, die Johannisund die Stephanskirche, in der an Bevölkerung mächtig wachsenden Stadt Halle eingeweiht werden konnten, wo seit etwa 300 Jahren keine neue Kirche gebaut worden war. Der Regierungsbezirk Merseburg ist der Mittelpunkt der großen religiösen Bewegungen zur Zeit der Reformation im 16. Jahrhundert geweſen; in ihm haben die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert am ärgsten gewütet, und im 18. Jahrhundert iſt Halle ein Mittelpunkt der evangelischen Theologie geworden. So hat denn nun auch in diesen drei Epochen die religiöse Liederdichtung in der evangelischen Kirche gerade im Merseburger Bezirk geblüht. Die Zahl dieser Liederdichter ist eine sehr große, und ich will hier nur die hauptsächlichsten anführen. Erstens Dr. Martin Luther, mit 24 Liedern im ProvinzialGesangbuch vertreten ; 2. Justus Jonas wirkte von 1521-1551 in Wittenberg und Halle ; 3. Martin Rindardt, zuletzt Archidiakonus in Eilenburg, der Verfasser des Kirchenliedes „Nun danket alle Gott !" ; 4. Paul Ger-

Dreizehnter Abſchnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

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hardt, geboren 1607 in Gräfenhainichen, mit 41 Liedern im Provinzial Gesangbuch vertreten ; 5. August Hermann France, gestorben 1727 in Halle, der Gründer der noch jezt blühenden Franceschen Stiftungen ; 6. Chriſtian Friedrich Richter, Arzt im Waiſenhauſe zu Halle, der Dichter des Lieblingsliedes Schleiermachers, „ Es glänzet der Christen inwendiges Leben"; 7. Karl Heinrich v. Bogatky, der Herausgeber des „ Schatkäſtleins", der Dichter des ersten nennenswerten evangelischen Missionsliedes „Wach auf du Geiſt der ersten Zeugen" ; 8. Klopstock, der in Schulpforta seine ersten dichterischen Versuche machte, mit seinen herrlichen Liedern „Auferstehn, ja auferſtehn “ und „ Selig ſind des Himmels Erben". Endlich sind noch namhaft zu machen Flemming und Gellert, die zwar in Leipzig gewirkt haben, aber in ihrer Wirksamkeit auch im Merseburger Bezirk tätig waren, welcher damals noch kurfürſtlich ſächſiſch war. Mit welchem Interesse habe ich die Spuren dieser herrlichen Männer in den Orten, wo sie gelebt und gedichtet, auf meinen Reiſen verfolgt. Gellert kam faſt alljährlich zu seiner Erholung nach Bedra, dem Gute seines Freundes v. Helldorf, und im dortigen Park ist ein großer Granitblock zur Erinnerung an ihn aufgerichtet, mit der Inschrift : „Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, sie bleibt geweiht für alle Zeiten ! “ Endlich gehört dem Merseburger Bezirk noch der Dichter an, der nach einer Zeit großer geistiger Dürre auf dem Gebiete des Kirchengesanges zuerst wieder herzbewegende, innige Töne anschlug : Friedrich v. Hardenberg (Novalis ) . Seine Lieder „ Was wär' ich ohne dich gewesen“ und „Wenn ich ihn nur habe“ und „Wenn alle untreu werden“, ſind weit und breit bekannt. Er starb 1801 als Bergamtsaſſeſſor in Weißenfels , und ſein Grabmal mit seiner Büste auf dem dortigen Kirchhofe habe ich wiederholt aufgesucht. Welch eine Fülle von theologischen Lehrkräften ist auf der Univerſität zu Halle zur Ausbreitung von Gottes Wort tätig gewesen ! obenan der selige Profeſſor Tholuck.

Da steht

Seine Frau, eine geborene v. Gem-

mingen, war eine Schwester meiner Freundin v. Maſſenbach in Pinne und Vialokosch, und so hatte ich Tholuck schon bald nach seiner Verheiratung in Pinne kennen gelernt. Er hatte, wie viele große Gelehrte, manche wunderlichen Eigentümlichkeiten ; so konnte er z . B. nicht schlafen, wenn frühmorgens

in seiner Nähe die Hähne

krähten, und Frau

v. Rappard in Pinne mußte alle Hähne entfernen, wenn Tholuck im dortigen Schlosse eingekehrt war !

Aber welch ein großartiger Charakter,

welch ein gläubiger Christ, welch ein wirksamer Lehrer der jungen Theologen ist er gewesen. Ergreifend wirkte auf mich, als ich bei einem Besuche seiner Frau kurz vor seinem Heimgang ihn zum letzten Male wiederſah ; aufgegeben von den Ärzten, erſchien er plöglich im Schlafroc aus seinem Krankenzimmer mit der Frage, wer denn bei seiner Frau ſei

463

Provinzial- und Generalsynode.

Er duldete es nicht, daß sie ihn wieder ins Bett bringen wollte, sondern sezte sich neben mich, und sein Gesicht wurde ganz verklärt, als ich nur den Namen Pinne nannte. Unvergeßlich wird mir dieses Erlebnis bleiben. Auch mit anderen großen Theologen bin ich eng befreundet geworden, ich rechne zu ihnen namentlich den Generalsuperintendenten Leopold Schulze und den Oberhofprediger Kögel. Eine große Freude war es immer für mich und die Meinigen, wenn Schulze in Merseburg bei uns zu Gaste war, denn er war nicht nur ein großer Theologe, sondern auch ein großer Musiker. Ich hatte ihn schon 1852 in dem Müllenſiefenſchen Pfarrhause zu Köthen in der Mark kennen gelernt, denn er wurde Nachfolger Müllensiefens . Er war Meister der Rede und der Schrift ; welch tief ergreifende Predigten habe ich von ihm gehört, welche Fülle von erquickenden Freundschaftsbriefen habe ich von ihm erhalten !

Die Er-

innerungen an Kögel habe ich auf das Ersuchen seiner Witwe geb. v. Bodelschwingh aufzeichnen müſſen, weil sie für die geplante Lebensgeschichte Kögels benutzt werden sollten. Eine große Menge von lieben Freunden und Bekannten habe ich dadurch kennen gelernt, daß ich vom ersten Anfang unserer Synodalverfassung an Mitglied aller Provinzial- und aller Generalfynoden geweſen bin, mit Ausnahme nur eine Provinzial- und einer Generalfynode, weil ich nach meinem Abschiede als Regierungspräſident nicht von Seiner Majestät, wie bisher immer, zum Mitgliede der Provinzialsynode berufen wurde. Es geschah dies ganz wider aller Erwarten, und es ist gewiß auch nicht richtig, daß eine Königliche Berufung nur erfolgt, wenn der Betreffende im Amte eines Regierungspräsidenten sich befindet.

Es

hat mir die Nichtberufung herben Schmerz gemacht, denn die Synodalverhandlungen hatten mich immer auf das lebhafteste interessiert, und ich hätte mich ja gewiß zur Provinzialsynode wählen lassen können, wenn ich meine Nichtberufung durch Seine Majestät vorher gewußt hätte.

So

war denn meine Freude groß, als ich bei dem nächsten Wahltermine durch die drei Kreissynoden Lüßen und Merseburg-Stadt und -Land in die Provinzialsynode wieder hineingewählt wurde. Die Fülle des Stoffes, welche in all den vielen von mir mitgemachten Synoden verhandelt worden, ist zu groß und auch zu bekannt, um sie hier wiederzugeben. Meinen liebsten Zeitvertreib ", die Musik, habe ich in Merseburg auf die schönste Weise hegen und pflegen können. Ich fand vortreffliche muſikaliſche Kräfte vor, durch deren Vereinigung das sogenannte „muſikalische Kränzchen" enstanden war, welches in jedem Herbst und Winter alle zwei bis drei Wochen ohne weiteres Programm auf das beste musizierte. An Klavierspielern sind besonders hervorzuheben : der Oberregierungsrat Bogge, meine Cousine, Frl. Anna v. Diepenbroik-Grüter, Graf Winzingerode, Frl. Lulu Schulz 2 .; als Violinspieler : die Regie-

464

Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg .

rungsräte Meyer und Scheringer ; als Celliſten : der Pfarrer Prehm und ich selbst. An tüchtigen Sängern und Sängerinnen und dadurch auch an vierstimmigen Gejängen hat es niemals gefehlt. Ebenso mangelte es auch nie an guten Dichtern in unserem Kreise. Dazu kamen nun noch die in jedem Winter wiederkehrenden drei bis vier Künstlerkonzerte, weide mein Freund Pogge ins Leben rief, und zu welchen er nur die Künstler ersten Ranges, die Virtuosen des Gesanges, auf dem Klavier, der Geige und dem Tello berufen hat. Das fünfzigſte dieſer Künſtlerkonzerte fand am 26. Februar 1900 statt, und dabei wurden dem Begründer dieier Konzerte schöne Ovationen bereitet. In dem Schloßgartenſalon , welcher vor über 200 Jahren von Auguſt dem Starken erbaut worden ist, befindet sich ein großer Saal, welcher durch seine vortreffliche Akustik berühmt ist, so daß mein Freund Joachim schon oft gewünscht hatte, in diesem Saale zu geigen, was er denn auch wiederholt getan hat.

Auch der Merseburger Dom eignet sich durch seine

Akustik zu Kirchenkonzerten, welche durch den ausgezeichneten Organiſten Schumann in großer Zahl veranstaltet worden sind. Die Nähe Leipzigs mit seinen Gewandhauskonzerten veranlaßte mich oft zu Reiſen dahin, wo ich in der großen Direktoriumsloge meinen Platz fand und viele Komponisten und Tonkünstler ersten Ranges persönlich kennen gelernt habe. Noch muß ich in wehmütiger Erinnerung eines Komponisten gedenken, welcher, wie Beethoven, am Schlusse seines Lebens völlig taub geworden war, denn es sind wohl die lieblichsten Lieder, welche Franz komponiert hat. Nach meinem ersten Gespräch mit ihm Anfang 1877 , bei welchem ich meine Fragen und Antworten aufschrieb, und er dann mit großer Lebendigkeit seinerseits das Wort ergriff, habe ich ihn wiederholt eingeladen, aber stets abschlägige Antworten erhalten : „Denn in welcher peinlichen Lage befindet sich ein tauber Mensch bei Gelegenheiten, wo er anderen Leuten und sich selbst nur im Wege steht ? " Und ein anderes Mal schrieb er : „Wer eine lange, lange Zeit wie im Eril gelebt hat, lernt den Wert einer solch sympathischen Begnung, wie mit Ihnen, erst recht schäzen !" Franz war ganz ohne Vermögen gewesen und hätte in ſeinem Alter troß seiner Bedürfnislosigkeit manchen Mangel gelitten, weil er ja gar nichts verdienen konnte. Der Sohn des Oberpräsidenten v. SenfftPilsach, mein Jugendfreund Arnold, war, nachdem er ſtudiert hatte, Konzertfänger geworden und machte es sich zur Aufgabe, die Einnahmen aus seinen Konzerten zu sammeln und im Betrage von etwa 50 000 Mark für Franz zu bestimmen . Rührend war die Dankbarkeit des letzteren für seine Verehrer und Wohltäter . Schon in meinem früheren Leben war ich Mitglied von vielen gemeinnütigen oder wohltätigen Vereinen geworden ; die Zahl dieser Vereine wuchs während meines Aufenthalts in Merseburg auf über

Vereinswesen.

465

fünfzig, und von etwa zwanzig war ich Präsident oder Ehrenpräsident. Die Vereine für innere und äußere Mission, die Krieger- und landwirtschaftlichen Vereine, die Gesang- und anderen Musikvereine, Jagdvereine und viele andere mußte ich mit meinen Beiträgen unterſtüßen. Besonders namhaft möchte ich den Vogelschutzverein machen, welchen mein Freund, der selige Regierungsrat v. Schlechtendahl, erst 1875 gegründet hatte, und dessen Präsidium bezw. Ehrenpräsidium ich auf Wunsch des Stifters übernehmen mußte. Bei ſeinem 25jährigen Jubiläum war die Zahl der Mitglieder dieses Vereins auf einige tausend in allen Weltteilen angewachſen. Die tüchtigsten Ornithologen gehören ihm an und geben allmonatlich eine intereſſante Zeitschrift heraus. Zwei große Vogelbilder mit den meisten Vögeln, die in Deutschland vorkommen, sind in vielen Tausenden von Exemplaren in den Schulen angebracht worden, um in der Jugend das Interesse für unsere Vögel anzuregen ; auch ist der Verein besonders tätig gewesen, die Gesetzgebung zum Schuße der Vogelwelt in Gang zu bringen. An Geflügelzuchtvereinen gab es im Merseburger Bezirk eine übergroße Zahl ; viele Ausstellungen dieser Vereine zu eröffnen, wurde ich oft berufen, und eine große Freude war es mir, daß es mir gelang, alle diese Vereine so miteinander zu vereinigen, daß sie sich an den großen Landwirtschaftlichen Verein der Provinz anschlossen und eine besondere Abteilung in dem landwirtschaftlichen Zentralverein bilden . Wie wichtig es ist, die Bestrebungen der Geflügelzüchter zu fördern, erhellt daraus, daß Deutschland in nationalökonomischer Hinsicht bisher noch große Verluste dadurch erleidet, daß eine Menge von Geflügel und insbesondere auch von Eiern aus dem Auslande alljährlich eingeführt werden muß. Allein für Eier zahlt Deutschland an das Ausland mehr als 80 Millionen Mark. Ich wurde ferner auch zum Direktor der Ressourcengeſellſchaft in Merseburg gewählt und habe von diesem Amt viel Arbeit, aber auch viel Freude gehabt. Bald nach den Freiheitskriegen war die Bildung dieser Gesellschaft dadurch möglich geworden, daß der damalige kommandierende General , Graf Kleist v. Nollendorf, es durchseßte, daß ein sehr geeignetes Haus nebst großem Garten durch den König der Geſellſchaft geschenkt wurde. Ich fand die Räume der Ressource in einem ganz verwahrlosten Zustande vor, ebenso auch waren ihre Finanzen in völliger Unordnung. Es ist nach und nach geglückt, dieſe Mißſtände abzuschaffen. Endlich möchte ich noch mein Intereſſe und meine Tätigkeit für die große Zahl von Verschönerungsvereinen erwähnen . Es ist mir gelungen, eine Menge von öffentlichen Pläten in den Städten und Dörfern, die ich ganz öde und kahl vorfand, mit Bäumen bepflanzen zu lassen. überall fand ich treue Mitarbeiter, und was haben Städte, wie Halle, Wittenberg, Zeiß, Weißenfels und andere, für die Verschönerung mit Hilfe der Vereine getan. Seit der Gründung des Verschönerungsvereins in Merseburg, v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen. 30

466

Dreizehnter Abschnitt: Regierungspräsident in Merseburg.

1842, war der jedesmalige Regierungspräsident der Vereinsvorsitzende ; es war aber in der Tat vor meiner Zeit sehr wenig geleistet worden, und ich arbeitete nun mit großer Freude und gutem Erfolge daran, mein liebes Merseburg mit Anlagen aller Art und mit Spaziergängen, die bis dahin fast ganz gefehlt hatten, zu versehen. Die Herstellung einer Art Park in " Arnims Ruhe“ (so genannt, weil der Regierungspräsident Graf Arnim-Boizenburg dorthin seinen Spaziergang richtete) war das Erste, was mir geglückt iſt, dann kamen die Anlagen um den Gotthardtsteich), deſſen Ufer bis dahin ganz wüſt und ſumpfig gewesen waren, und die weiten Spaziergänge um den Teich herum. Großartig ist das Vogelleben in dem Schilfrohr, welches in dem hinteren Teil des Teiches wächst; ja, der berühmte Naturforscher Brehm hat mir selbst erzählt, daß er seine Vogelstudien zuerst am Gotthardtsteiche begonnen habe, denn Lausende von Staren haben ihr Nachtquartier in dem Schilfrohr, Tausende von Schwalben sammeln sich vor ihrem Abzug nach Süden in dem Schilfe, und Tausende von Wasservögeln aller Art nisten in diesem für einen menschlichen Fuß unzugänglichen Sumpfterrain. Für einen Naturfreund ist das Beobachten dieser Vogelwelt ein unerschöpflicher Quell des Vergnügens . Noch viele andere Anlagen sind um Merseburg herum entſtanden, und manche Straße und mancher Play ist mit Bäumen geſchmückt worden, denn die städtischen Behörden haben bald angefangen, die Ve strebungen des Verschönerungsvereins zu unterſtüßen. Einen schweren Kampf hatte ich sofort bei Beginn meiner Amts tätigkeit in Merseburg dadurch zu beſtehen, daß die Gewäſſer des Bezirks, Flüsse, Bäche und Teiche, durch die ungereinigten Abwässer der Fabriken, namentlich der Zuckerfabriken, auf das scheußlichste verunreinigt, ja, ver pestet wurden. Auch der vorgenannte Gotthardtsteich stank oft so entsetzlich, daß die Bewohner in seiner Umgebung es kaum aushalten konnten. Täglich gingen bei der Königlichen Regierung aus allen Teilen des Bezirks zahlreiche Beschwerden ein, aber es geschah nichts, um ihnen Abhilfe zu verschaffen. Als ich nun die Behörden angewieſen hatte, mit aller Strenge gegen die Urheber dieser Verunreinigungen vorzugehen, wurden von dieſen wieder Beschwerden gegen mich erhoben, und zu meiner Betrübnis fanden diese Beschwerdeführer einen Rückhalt bei dem damaligen Oberpräsidenten. Im weiteren Verlauf der Sache hat ihnen dieser Rückhalt aber wenig genügt. Es war freilich nicht leicht, den betreffenden Fabrikdirektoren, die sich nach und nach immer williger zeigten, die Reinigung der Abflüsse, es koste, was es wolle, herbeizuführen, ein Mittel anzugeben, wie dieſe Reinigung zu ermöglichen sei.

Ein für alle Spezialfälle wirksames Mittel

ist auch bisher nicht gefunden worden, soviel Mühe sich auch meine tüch tigen Gewerberäte und andere Techniker gegeben haben, ein solches Univerſalmittel ausfindig zu machen. Am geeignetsten für viele Fälle erſchien

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Eisenbahnbauten.

es mir sofort, die Abwässer auf Berieſelungsfelder zu leiten, wo ſie teils durch die Luft, teils durch das Einsickern in die Erde eine Reinigung erfahren; wo aber solche Berieselungen wegen Mangels an Gefälle nicht eingerichtet werden konnten, wurden die verschiedensten chemischen Stoffe angewandt, um die Ausflüsse entweder ganz oder doch teilweise unſchädlich zu machen.

Nach vielen Jahren der Arbeit ist es dann endlich gelungen,

die meisten Beschwerden abzustellen und dadurch namentlich die Fischereibesizer in ihren Rechten zu schüßen, deren Fischbeſtand faſt ganz verwüstet worden war, den Gestank der Gewässer abzuschaffen und das Wasser in Flüſſen und Bächen wieder zu anderen wirtſchaftlichen Bedürfniſſen, insbesondere auch zur Viehtränke, nußbar zu machen. Freilich ist ja auch bis heute noch nicht alles auf diesem Gebiete erreicht, aber die Aufgabe aller Behörden ist wenigstens in ihrer ganzen Wichtigkeit erkannt und wird nicht ruhen, solange nicht das Ziel erreicht ist.

Etwas gebeſſert

hat sich ja schon die Lage der Bewohner an den Ufern der beiden Flüſſe, der Weißen Elster und der Luppe, welche bei meiner Ankunft in Merseburg durch die schmußigen Wässer aus der großen Stadt Leipzig entsetzlich verpestet waren.

Auch die Leipziger Staats- und Stadtbehörden haben

endlich ihre Pflicht erkannt, ihre preußischen Nachbarn ferner nicht mehr zu schädigen; sie haben mir dies schon wiederholt versprochen und, nachdem sie schon vieles getan, werden sie hoffentlich bald völlige Abhilfe durch großartige Berieselungswerke schaffen. Nur kurz noch die Bemerkung, daß der Gotthardtsteich seit mehreren Jahren gar nicht mehr ſtinkt. Der Wege- und Chauſſeebau, mit welchem ich mich in meinen bisherigen Dienststellungen besonders gern beſchäftigt habe, war 1876 auf die Landesdirektion, den Provinzial-Ausschuß und -Landtag gegen eine Staatsdotation übergegangen ; so konzentrierte ich denn meine Tätigkeit auf den Eisenbahnbau und suchte deshalb enge Fühlung mit den Herren Eisenbahnministern .

Ein ganzes Neß von Eisenbahnen ist zustande ge-

kommen, und bei jeder einzelnen Bahn mußten mancherlei Hindernisse aus dem Wege geräumt werden. Ich mache hier nur namhaft die Bahn von Torgau nach Wittenberg, die von Eilenburg nach Düben über Schmiedeberg nach Pretsch ( wo mir immer noch die Ergänzungsstrecke von Düben nach Bitterfeld fehlt) , ferner die Bahn von Merseburg nach Mücheln und von Merseburg über Lauchstädt nach Schafftädt und bon Lauchstädt nach Schlettau ; die Unstrutbahn von Artern bis nach Naumburg sowie die von Naumburg nach Deuben und von Deuben über Hohenmölsen nach Korbetha und über Lüßen nach der säch fischen Grenze und Leipzig zu, ferner die Bahn von Oberröblingen am See nach Querfurt und die von Oberröblingen (Kreis Sangerhausen) nach Allstedt ; endlich die Bahn von Sangerhausen über Artern nach Sömmerda und die von Zeit nach Camburg. Der Bau mancher anderen

30*

468

Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

Bahnen ist während meiner Verwaltung schon geplant, aber noch nicht bis zur Ausführung gelangt. Sehr erschwerend wirkte die Stellung der Königlich sächsischen Eisenbahnbehörden gegenüber den preußiſchen ; ſo konnte z . B. eine Bahn von Torgau nach Riesa oder nach Wurzen nicht zustande gebracht werden, weil die Sachſen kein Entgegenkommen zeigten ; ja, es wurde sogar eine Bahn von Meuſelwiß--Kayna nach Gera , welche von den Behörden und von den Bewohnern des Kreises Zeit lebhaft gewünscht worden war, dadurch vereitelt, daß die Sachsen eine Konkurrenzbahn in derselben Richtung nahe an der preußischen Grenze entlang erbauten. Auch ein anderes großes Projekt hat mich jahrelang beſchäftigt, auf dessen Ausführung ich vergebens geharrt habe, weil auch hier die ſächſiſchen Staatsbehörden sich nicht willfährig gezeigt haben : es war das Projekt eines Kanals von Leipzig zur Saale hin mit der Ausmündung unweit Merseburg.

Ich berief eine stattliche Versammlung von Millionären aus

Leipzig und Halle, um zunächſt auf dem Wege der Freiwilligkeit die Koſten für die Aufstellung eines Vorprojektes gewährt zu erhalten, und dies gelang mir, da die eingeladenen Herren nicht nur die Idee ſelbſt lebhaft billigten, sondern auch die erbetene Geldsumme bereitwilligst zur Ver fügung stellten. Die tüchtigsten Wasserbautechniker haben dann in meinem Auftrage Jahr und Tag an der Fertigstellung des Projektes gearbeitet. War es doch für den großen Verkehr der ganzen Handelswelt von hoher Wichtigkeit, eine Wasserstraße herzustellen, deren Endpunkte die größten Handelsplätze Deutschlands, Leipzig und Hamburg, verbinden und die dabei die bedeutenden Induſtrieſtädte Halle und Magdeburg berühren sollte ! Die Gründe, welche im Verlauf der Sache der Ausführung des Projektes sich entgegenstellten, sind mancherlei Art gewesen, und es würde zu weitläufig werden, sie alle hier darzulegen, aber ich habe noch immer bis heute nicht die Hoffnung verloren, daß namentlich gegenüber der gegenwärtigen Kanalschwärmerei dieses naturwüchsige Projekt nicht ganz auf die lange Bank geschoben werden wird. Eine merkwürdige Szene erlebte ich, als ich die Versammlung von reichen Kanalinteressenten zu mir eingeladen hatte ; als ich nämlich die Verhandlungen mit ihnen bereits begonnen hatte, hörte ich vor dem Saal des Schlosses eine laute Stimme, die den Regierungsboten fragte, wo ich zu finden ſei, und bald darauf trat der miteingeladene Millionär aus Halle, der mir bis dahin persönlich unbekannte Bergwerksbesitzer Riebeck, ein und sofort vor der ganzen Versammlung mit der Frage auf mich zu, ob ich ihn nicht zum Zuchthaus verurteilt hätte. Ganz erstaunt über diese Anrede, bat ich ihn, Platz zu nehmen, denn wir seien schon in die Verhandlungen eingetreten, und ich würde ihm nachher die Frage beantworten.

Am Schluß der mehrstündigen Sizung wiederholte Riebeck

Tod meines Schwagers v. Quaſt.

469

seine Frage mit der bestimmten Erklärung, ich sei sein Richter geweſen. Als ich ihm dies bestimmt verneinte, frage er mich weiter, ob ich nicht 1848 bei dem Gericht in Frankfurt a. D. beſchäftigt gewesen sei. Dies mußte ich ihm bejahen, aber auch hinzufügen, daß mein älterer Bruder damals Vorsitzender des Richterkollegiums gewesen sei, welches über Kriminalfälle zu entscheiden hatte.

„ Dann sehen Sie “, rief er lebhaft, „Ihrem

Bruder sprechend ähnlich, und ich bitte Sie, Ihrem Bruder den Dank auszusprechen, welchen Ihnen auszusprechen ich heute mir vorgenommen. hatte, dafür, daß er mich zum Zuchthaus verurteilt hat, denn diese Strafe ist mir für mein inneres Leben sehr wohltätig gewesen!"

Riebeck war

nämlich als republikanischer Agitator, als Führer der aufrührerischen Banden, 1848 in Zeit verhaftet und wegen Aufruhrs und Hochverrats angeklagt worden.

Zur Entscheidung des Prozesses wurde das Ober-

Landesgericht in Frankfurt a. D. bestimmt, bei welchem mein Bruder angestellt war. Ich entsann mich nunmehr sofort des damals sehr bekannten Prozesses gegen die Demokraten, nur war mir der Name Riebeck völlig in Vergessenheit geraten. Nach der Entlaſſung aus dem Zuchthause hatte Riebeck sich mit einem reichen Engländer verbunden und kaufte mit dessen Gelde die Felder zusammen, von denen er als früherer Bergwerksarbeiter wußte, daß die ergiebigsten Kohlenlager sich unter ihnen befanden. So gelangte er in kurzer Zeit zu enormem Reichtum.

Mir hat er bis zu

seinem Ende eine herzliche Zuneigung an den Tag gelegt, so daß er ſtets bereit war, mir Geldſummen im Intereſſe der inneren Mission zur Verfügung zu stellen . Sein Sohn hat der Stadt Halle in seinem Testament ein großes Kapital zum Geschenk gemacht, durch welches das Riebedstift zu dauerndem Segen zu gründen möglich gewesen ist.

Es ist eigen-

tümlich, daß gerade in der Provinz Sachsen mehrere Männer, welche von der „Pieke“ ab gearbeitet haben, zu großem Reichtum gelangt ſind und ihren Reichtum im Dank gegen Gott den Herrn zu wohltätigen Zwecken verwendet haben! Einen schmerzlichen Verlust erlitt ich im März 1877 durch den Heimgang meines seligen Schwagers v. Quast. Er war einer der liebenswürdigsten und kenntnisreichsten Männer, die mir je begegnet sind, vor allem war er ein Kunstkenner ersten Ranges . er

Seit dem Jahre 1842 war

Konservator der Kunstdenkmäler Preußens " und setzte alle seine

Kräfte daran, dieses neue und unendlich schwierige Amt bei einer ganz minimalen Besoldung nicht nur für die preußische Monarchie, sondern auch für ganz Deutschland und die angrenzenden Länder zu verschen. Durchseine Tätigkeit führte er eine ganz neue Epoche für die künstlerische Erhaltung und Wiederherstellung der alten verfallenen Bauwerke an Kirchen, Schlössern und Burgen ein ; und dies gelang ihm, obwohl er bei den damaligen Architekten wenig Verständnis für diese seine Aufgabe

470

Dreizehnter Abschnitt: Regierungspräsident in Merseburg.

vorfand, und obwohl ihm keinerlei Staatsgelder zur Erreichung seiner Ziele zur Verfügung standen. Und doch, wie viel hat er geschaffen, wie viel ehrwürdige Baudenkmäler verdanken ihm ihre Erhaltung und Wiederherstellung für alle Zukunft. Auch ich bin ſein Schuldner geworden do durch, daß er mein Interesse für eine Menge von Kunstwerken erit wachgerufen hat. Waren es ja doch nicht nur die Baudenkmäler der alter. Zeit, sondern auch die Produkte der Malerei und der Bildhauerkunst, für welche er ein tiefes Verständnis hatte.

Er war ein Schüler Schinkels,

ein Verehrer Winkelmanns, ein Freund Stülers, ein Kenner der ägyp tischen, griechischen, römischen Kunstwerke und namentlich auch der italienischen Kunstperiode des 15. Jahrhunderts. Dabei war er ein Zeichenkünstler, welcher in kurzer Zeit die vortrefflichsten Skizzen entwerfen konnte. Auf seinem Rittergute Radensleben sind große Samm lungen aller seiner Zeichnungen vorhanden, und in dem leſenswerten Buche Fontanes, Wanderungen durch die Mark Brandenburg ", sind die Kunstsammlungen Radenslebens vortrefflich beschrieben. Bei einer solchen Künstlernatur Quaſts ist es erklärlich , daß er ſein schönes Gr bis 1849 immer durch einen Amtmann hatte verwalten lassen und dabä nicht ahnte, daß dieser Verwalter ihn Jahrzehnte hindurch um große Geldſummen betrogen hatte. Bei der Regelung dieser traurigen Geldgeschäfte konnte ich seiner Frau, meiner Schwester, als junger Referendar behilflich sein und die Aufnahme von Pfandbriefen bewirken, um dadurch das ganz verworrene Hypothekenbuch in Ordnung zu bringen. Es ist schade, daß die Lebensgeschichte dieses bedeutenden Mannes nicht zustande gekommen ist, alle Materialien dazu wurden dem bekannten Kunstkenner Professor Bergau übergeben, welcher durch seine lange Krankheit an der Ausführung der von ihm übernommenen Arbeit verhindert worden i.. Die Hauptklage meines seligen Schwagers war Jahrzehnte hindurch ſtets die gewesen, daß die Staatsregierung zu wenig Mittel zur Verfügung stellte, und daß er zu wenig Mitarbeiter hatte. Er stand ganz allein auf seinem Posten !

Sein ältester Sohn Siegfried regte als Mitglied des

Abgeordnetenhauses die Frage mit Erfolg an, daß in allen Provinzen der Monarchie Kräfte aufgerufen werden müßten, um die Arbeiten seines seligen Vaters fortzusetzen. Welche Freude würden nun beide, Vater und Sohn, jezt daran haben, daß faſt in jeder Provinz Vereine zur Erhaltung der Kunstdenkmäler zuſammengetreten und beſondere batoren" angestellt sind !

„Konier-

Im Februar 1878 erhielt ich den Auftrag, über die Abänderung der Verwaltungsreform - Gesetzgebung Bericht zu erstatten. Es war dies feine leichte Aufgabe.

Denn an Stelle der früheren einzigen Bezirksverwal

tungsbehörde waren getreten : die Kreisausschüsse, der Bezirksrat, der Provinzialrat, das Bezirksverwaltungsgericht, die Landesdirektion, der

Verwaltungsreform.

471

Provinzialausschuß, und neben allen diesen neuen Behörden war das Regierungskollegium bestehen geblieben und für viele Spezialfälle noch gesondert der Regierungspräsident als solcher oder als Vorsitzender des Bezirksrats.

Der Hauptvorwurf, den man gegen die Regierungen, wie

sie vor Erlaß der Kreisordnung organisiert waren, erhob, war der, daß die Verwaltung an übermäßiger Schwerfälligkeit und Langſamkeit litte, auch der Bureaukratismus zu ſehr gepflegt würde. Jedermann, der in Verwaltungsangelegenheiten Anträge oder Beschwerden anzubringen hatte, wußte wenigstens genau, wohin er sich zu wenden hatte ; er konnte sicher sein, daß seine Sache nach gründlicher, unparteiischer Prüfung nach gleichmäßigen Grundſäßen entschieden wurde und zwar von Beamten, die durch langes Studium und jahrelange Praris der Mehrzahl nach unzweifelhaft dazu befähigt waren. Diese im Anfang unseres Jahrhunderts von unseren großen Staatsmännern erdachte Organisation hat, so lange sie bestand, segensreich gewirkt.

Wenn nur gegen die in der

Kollegialverfassung begründete Schwerfälligkeit dadurch Abhilfe geſchaffen worden wäre, daß die Entscheidung, wie in den Ministerial- , Oberpräſidial- und landrätlichen Instanzen, so auch in den Geschäftszweigen der Regierungsabteilungen des Innern, auf die Schultern und die Verantwortlichkeit eines Beamten , des Regierungspräsidenten, gelegt worden wäre, und wenn ferner eine energische, mehr der militärischen Praxis entsprechende Disziplin in bezug auf rechtzeitige Pensionierung verbrauchter oder überhaupt ungeeigneter Regierungsmitglieder gehandhabt worden wäre, so hätte meiner Auffassung nach die altbewährte Organiſation noch damals den Bedürfnissen durchaus genügt. Was hatte man aber durch die Organisationsgeseße der 70er Jahre erreicht ? Das Leben des Volkes läßt sich nicht ſo zergliedern und wie ein Skelett behandeln, wie dies eine doktrinäre Parteitheorie damals geglaubt hatte. Selbst für den Berufsbeamten bedurfte es fortgesetten eingehenden Studiums, um sich in dem . neugeschaffenen Labyrinth zurecht zu finden ; die gewählten Mitglieder der neuen Behörden vermochten den verschlungenen Pfaden nur mit Mühe zu folgen ; das Volk endlich stand schon der Frage, an welche Behörde ein Antrag, eine Beschwerde zu richten, ratlos gegenüber ein Zuſtand, der fast so bedauerlich war als die Unsicherheit des Rechtes selbst. Die speziellen Ausführungen in meinem damaligen ausführlichen Bericht will ich hier nicht wiedergeben und nur einzelnes daraus hervorheben. Der Provinzialrat erſchien mir von vornherein als ein totgeborenes Kind ; der Bezirksrat aber, dessen Vorsitzender ich war, konnte seine Geschäfte alle zwei Monate in einer Sizung von einigen Stunden vollkommen bewältigen ; das Bezirksverwaltungsgericht erledigte seine Arbeiten bequem in der allmonatlich an zwei hintereinander folgenden Tagen anberaumten Sizung.

Wieviel Laienmitglieder verloren ihre

472

Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

kostbare Zeit, und wie kostspielig wurde die ganze Verwaltung !

Sehr

interessant und für die künftige Gesetzgebung höchst lehrreich bezeichnete ich die Tatsache, daß die Wahl der Laienmitglieder fast ausnahmslos auf Personen gefallen war, welche ſtudiert und entweder alle oder doch einige juristische Examina bestanden hatten, also auf Landräte a. D., auf Assessoren und Referendarien a. D.,

oder auf Bürgermeister

größerer

Städte, welche die volle juristische Vorbildung besaßen . Diese Männer erschienen den Wählern zu jener Wirksamkeit berufen, nicht weil sie Laien, sondern weil sie geschulte Beamte waren.

Besonders scharf griff ich die

gesetzliche Anordnung an, nach welcher ein Königlicher Beamter, um ſeine Verfügung zu verteidigen, bei der mündlichen Verhandlung als Partei der Privatperson gegenübergestellt wurde, wie dies nicht nur dem Amtsvorſteher, ſondern auch dem Regierungspräsidenten (z. B. bei Verſagung von Gewerbescheinen) auferlegt war. Ich erklärte diese Parteiſtellung für völlig unangemessen und ganz besonders geeignet, das Ansehen der Behörden zu schwächen ; sie sei auch eine innere Unwahrheit, weil der be treffende Beamte, wie das Verwaltungsgericht selbst, Vertreter des staatlichen Hoheitsrechts sei ; er habe keine Parteirolle zu übernehmen, sondern dürfte nur zur schriftlichen oder mündlichen Auskunft aufzufordern ſein. Insbesondere stellte ich auch noch die Frage, ob es der Autorität der Regierungsabteilungen für Kirchen- und Schulwesen förderlich sein könne, wenn diese Behörden behufs Durchführung der zu ihrem Bereiche gehören. den Angelegenheiten erſt ihre Zuflucht zu einem Kreisausſchuſſe nehmen, dort sich nicht als amtliche Vertreter in Hoheitsangelegenheiten sondern als eine Partei , als Kläger oder Verklagter gegenüber dem Privatpublikum behandeln lassen und sich von den Mitgliedern des Kreisausschusses (meistens Gutsbesitzer, Rechtsanwälte, Kaufleute) in öffentlicher Sigung eines Beſſeren im Bereiche ihres Amtes belehren lassen müßten. Viele Spezialfälle erläuterten das übermäßige Schreibwesen, welches durch die neue Kompetenzgesetzgebung eingeriſſen war. Ich führe z . B. nur den folgenden Fall an : Um festzustellen, ob in der Schulgemeinde Muschwig statt eines Schulgeldes von 2½ Silbergroschen pro Kind, ein nach deren Alter verschiedenes von 5, 34 und 2½ Silbergroſchen erhoben werden dürfe, bedurfte es in einem Zeitraum von zwei Jahren zweier Entscheidungen des Kreisausschusses, zweier desgleichen des Bezirksverwaltungsgerichts und vier Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts . Unter meinen Vorschlägen, die Gesetzgebung zu verbessern, möchte ich nur den hervorheben, daß das „Laienelement“ für die Berufungsbehörde gänzlich auszuschließen sei, so, wie dies auch beim Königlichen Oberverwaltungsgericht bereits für angemessen erachtet worden. Mein Vorschlag beruhte auf den Erwägungen, daß die für die Berufungsbehörde gediehenen Fragen meistens auf Auslegung von Gesetzen und Urkunden

Verwaltungsreform.

473

oder auf Entscheidung mehr juristischer Streitpunkte hinauslaufen, auch eine umfassende Gesetzeskenntnis verlangen und hierzu Berufsbeamte zweifellos befähigter ſeien ; daß ferner der für die erste Instanz anerkannte Vorzug gewählter Mitglieder, die einschlagenden persönlichen bezw. lokalen Verhältnisse genauer zu kennen, für die zweite Instanz wegfällt, und daß endlich die in zweiter Instanz zu fällenden Entscheidungen eine besonders eingehende Bearbeitung voraussetzen. Dagegen bat ich, bei den Berufungsbehörden in den dazu geeigneten Sachen einen Techniker zuzuziehen, welchem dann auch das Stimmrecht zu bewilligen sei ; der Mangel solcher Tedmifer - (eines Medizinalrats, Schulrats, besonders eines Landrats) war im Bezirksrate ebenso wie im Bezirksverwaltungsgericht lebhaft empfunden worden. Zu der Erſchwerung der übersichtlichkeit des Kompetenzgesetzes diente in nicht geringem Grade auch die Erzeption der Städte mit mehr als 10 000 Einwohnern ; in allen diesen Städten zeigte sich schon seit langer Zeit das Bestreben, sich der Kompetenz des Landrates und des Kreisausschusses zu entziehen, und diesem Streben hatte das Kompetenzgesetz nachgegeben: in einzelnen Verwaltungszweigen waren sie vom Kreisverbande eximiert, dem sie in kommunaler und sonstiger Beziehung einverleibt blieben. Diese Zwitterstellung, so führte ich des näheren aus, stärke nur den Antagonismus zwischen Stadt und Land, statt ihn auszugleichen. Stelle sich in der Tat heraus, daß in einzelnen Fällen die Interessen einer Stadt und des Kreises nicht zu vereinigen seien, so möge die erstere lieber vollständig für ausgeschieden erklärt werden und einen eigenen Stadtkreis bilden, selbst wenn sie die im § 4 der Kreisordnung vorgeschriebene Zahl von 25 000 Einwohnern noch nicht erreicht habe. Diese Zahl ist ja ohnehin, wie auch die von 10 000 Seelen im Kompetenzgeſeß und wie jede andere, eine ganz willkürliche und der Maßstab überhaupt ein unzutreffender, weil manche Stadt mit geringerer Einwohnerzahl vermöge ihrer hiſtoriſchen, wirtschaftlichen, geistigen Bedeutung sich ebensogut zur Errichtung eines selbständigen Kreises eignet. Es scheint mir ganz verfehlt und unorganisch gedacht zu sein, die Einwohnerzahl allein als entscheidend hinstellen zu wollen . Es muß ganz in das Ermessen der Staatsregierung gestellt werden, ob sie je nach dem vorliegenden Falle den gesetzgeberischen Faktoren empfehlen will, eine Stadt zu einem besonderen Stadtkreise zu erklären. Die dem Landkreiſe verbleibenden Städte aber müssen denselben Behörden unterstellt werden wie das platte Land. Die durch das Kompetenzgesetz beliebte Zerreißung hat ſich nicht bewährt, ja, sie ist den betreffenden Städten sogar nachteilig in bezug auf die Zusammensetzung des Kreisausschusses geworden. Am Schluß meines Berichtes hob ich besonders hervor, daß die Aktionsfähigkeit der Verwaltung vorzüglich in der Disziplin beruhe, und

474

Dreizehnter Abschnitt: Regierungspräfident in Merseburg.

daß die damalige neue Gesetzgebung nicht unwesentlich beigetragen habe, diese Disziplin zu lockern.

So habe z . B. der Landrat als Organ der

Regierung die Intentionen der Staatsgewalt den Gemeinden und einzelnen gegenüber zu vertreten. Solange aber eine Sache — mag ſie eine Wegebesserung, einen Schulbau oder polizeiliche Maßregeln betreffen —, in welcher die Regierung als Vertreterin eines Hoheitsrechts als Partei aufzutreten gezwungen sei, vor den Kreisausschuß komme, so nehme der ihr sonst untergebene Landrat die Stellung eines Richters ein und unterziehe die Anordnung seiner vorgesetzten Behörde einer Kritik, die oft in der Sache wie in der Form alles Maß überschreite.

Diese Duplizität der

Stellung des Landrats erklärte ich für krankhaft und unhaltbar, denn zur Milderung der falschen Situation des Landrats, Regierungspräsiden ten und der Bezirksregierung zueinander bedürfe es eines hochpatriotischen Sinnes aller Beteiligten.

In dem Merseburger Bezirk

wie in dem

größten Teil der altländischen Provinzen ſei man einer solchen patriotischen Gesinnung noch sicher, während man in andren Teilen der Monarchie nicht mit gleicher Bestimmtheit darauf rechnen könne.

Jedenfalls

würden der Staatsgewalt große Schwierigkeiten bereitet werden können, wenn eine polnische, ultramontane oder gar sozialdemokratische Majorität ihre Herrschaft in den Selbstverwaltungsbehörden, wie sie das Kompetenzgesetz geschaffen, geltend machen wolle. — Gott sei Dank ist ja eine Menge von meinen Bedenken durch die spätere Gesetzgebung ausgeglichen worden. Nach den beiden Attentaten gegen das Leben unseres geliebten Kaijers berichtete ich an Seine Majestät, im Juli 1878, daß auch im Merseburger Bezirk die tiefste Betrübnis über die fluchwürdigen Taten der beiden Frevler Hödel und Nobiling alle Gemüter ergriffen habe, und daß ins besondere die Abstimmung über das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokraten, deren antinationale und staatsgefährliche Bestrebungen das ernsteste Einschreiten der Staatsregierung zur unabweisbaren Pflicht mache, in allen Kreisen des Volkes gemißbilligt werde. Es stehe zu er warten, so berichtete ich weiter, daß diese Stimmung des Volkes einen heil. samen Einfluß auf die bevorstehenden Wahlen zum Reichstag ausüben werde und daß, soweit man bei diesen direkten und geheimen Urwahlen, welche stets eine Art Würfelspiel bleiben würden, irgend etwas voraus. ſagen dürfe, die Reichstagsabgeordneten dieses Mal aus den konser vativen Parteien hervorgehen würden. „ Ich glaube “, so lauteten meine Worte, " Eurer Majestät gegenüber nicht unausgesprochen lassen zu dürfen, daß als das Mittel, durch welches hauptsächlich die Sozialdemokratie in Deutschland gefährlich geworden, sich die Urwahlen erwiesen haben, sie mögen nun direkt und geheim oder indirekt und öffentlich abgehalten werden.

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Bericht an den Kaiſer.

Solange der großen Maſſe die geſeßliche Hoffnung auf die politische Herrschaft durch das Wahlrecht von einer Wahl zur anderen immer tiefer eingeprägt wird, darf man ſich nicht wundern, daß die Maſſen von dieſem gesetzlichen Rechte im Laufe der Jahrzehnte einen immer kräftigeren Gebrauch machen. Das Volk erträgt nicht ohne Schaden das Fieber, welches alle drei Jahre zweimal durch die Urwahlen für Landtag und Reichstag hervorgerufen wird. Auch im Merseburger Bezirk kann man die wachsende Ungesundheit bei den Urwahlen an den Zahlen der abgegebenen Stimmen deutlich erkennen. Nachdem in den ersten Jahren nach Einführung der direkten und geheimen Urwahl nur

ganz wenige sozialdemokratische

Stimmen abgegeben waren, wählte schon 1874 der zwölfte Wähler, ja, 1877 der achte Wähler sozialdemokratisch ! beredte Sprache !

Solche Zahlen reden eine

Es bricht sich deshalb auch in immer weiteren Kreiſen

die überzeugung Bahn, daß ohne Abänderung des allgemeinen Stimm rechts keine Möglichkeit einer gesunden Umkehr vorhanden ist .

Warum

kann, so fragt man, unſeren Kreis- und Provinziallandtagen, den Kreisund Provinzialſynoden getroſt das größte Vertrauen entgegengebracht, warum kann ohne Besorgnis ihren Beratungen und Beſchlüſſen entgegengesehen werden ? Weil , so lautet die Antwort, weil sie auf organische Weise, nicht auf dem Grunde von Urwahlen erwachsen sind . Darum wendet sich auch das Intereſſe in allen Kreiſen der gebildeten Bevölkerung dem großen Kampfe zu, den Eurer Majestät Regierung mit aller Entschiedenheit und, soviel sich bis jetzt übersehen läßt, auch mit gutem Erfolge gegen die Sozialdemokratie aufgenommen hat. Alle Behörden der Justiz wie der Verwaltung wirken in diesem Kampfe mit erfreulicher Energie und in einem wahren Wettstreit. überall ist man von der Notwendigkeit eines derartigen Einschreitens überzeugt, und es fehlt nirgends an der erforderlichen Unterstüßung durch die Bevölkerung selbst. Die Beſizer von Schanklokalen werden fast ausnahmslos unter Hintanseßung ihrer Geschäftsinteressen ihre Räume zu jozialdemokratischen Versammlungen ferner nicht mehr hergeben, und die Arbeitgeber sind dahin übereingekommen, nur solche Leute zu beschäftigen, welche nicht zu der vaterlandslosen und gottlosen Partei gehören oder sich doch von derselben lossagen.

Siebzehn Großinduſtrielle in Halle, welche nahe an 4000 Ar-

beiter beschäftigen, haben ihren Arbeitern durch einen Aushang in den Arbeitsräumen die wohlgemeinte Warnung ans Herz gelegt, auf dem beschrittenen Wege umzukehren, da sie sonst keine Beschäftigung mehr bei ihnen finden könnten. Die Direktion der Mansfelder Kupferschiefer bauenden Gewerkschaft zu Eisleben hat eine wiederholte Ankündigung an die vielen Tausende ihrer Arbeiter erlassen, nach welcher jeder Arbeiter, welcher sich an sozialdemokratischen Agitationen beteilige, seine Entlassung zu gewärtigen habe. Zu diesem Vorgehen ist die Gewerkschaft um so mehr

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräſident in Merseburg.

berechtigt, weil kaum in irgend einem anderen Induſtriezweige in so umfassender Weise für das Wohl der Arbeiter gesorgt wird ; darum ist auch bis heute niemals eine ſozialdemokratiſche Stimme in dem großen Gebiete der Mansfelder Gewerkschaft abgegeben worden, und es erklärt sich daraus die Wut, welche neuerdings wieder bei den staatsfeindlichen Parteien im Reichstag und Landtag gegen die Mansfelder Gewerkschaft zum Vorschein kommt. “ In meinem damaligen Bericht an Seine Majeſtät berührte ich auch noch einige nicht unwichtige Verwaltungsfragen, welche mir viel Arbeit gekostet haben.

Ich führe nur die wichtigsten davon an : Die Vertilgung

des Koloradokäfers, welcher 1877 in einigen Feldmarken des Kreiſes Torgau aufgetreten war, gelang endlich, hauptsächlich durch die Umſicht und die rastlose Tätigkeit des Oberförsters Passow in Sißenroda.

Aber

auch die Wanderheuschrecke war in den Kreisen Schweinit und Wittenberg aufgetreten, bei dem kalten und regnerischen Wetter aber nach einiger Zeit wieder verschwunden. Das rühmlichst bekannte und uralte Eisenwerk in Lauchhammer befand sich damals wegen Mangel an Bestellungen in der traurigsten Lage, ja, es war sogar nahe daran, sich vollkommen aufzulösen. Da gelang es mir, den Herrn Eisenbahnminister Maybach zu bestimmen, daß er die Herstellung einer größeren Eisenbahnbrücke den Lauchhammerschen Werken anvertraute, wodurch die Arbeiter wieder Beschäftigung fanden.

Ich habe später zu meiner großen Freude bei meinen

wiederholten Besuchen in Lauchhammer wahrgenommen, wie sich dieſes Werk zu seiner früheren Blüte von neuem entwickelt hat. Der Direktor. die Beamten und die Arbeiter in Lauchhammer dankten mir in einem rührenden Schreiben für meine wirksame Unterſtüßung und fandten mir zum Geſchenk eine herrliche Erzbüste des Kaiſers Wilhelm, in dem sie mir mitteilten, daß der seit einigen Monaten in dem dortigen Induſtriezweige eingetretene Aufschwung die Wiedereinführung normaler Arbeitszeit gestattet habe. Auch über mehrere große Bauten berichtete ich an Seine Majestät, so über den Umbau der Elbbrücke bei Torgau und der Saalebrücke in Weißenfels, wie auch über den fertiggestellten Restaurationsbau des Naumburger Domes. Am 12. Oktober 1878 endete mein hochverehrter Freund, der Oberpräsident a. D. v . Wigleben , jein langes tatenreiches Leben, und Seine Majestät beauftragte mich, sein Beileid der Witwe auszusprechen und ihm über Krankheit und Tod seines treuen Dieners Nachricht zu geben. Nach dem der selige Wizleben kurze Zeit Regierungspräſident in Merseburg gewesen war, hatte er über zwanzig Jahre lang als Oberpräsident die Provinz Sachsen verwaltet. Plöglich wurde er wegen seiner Abstimmung im Herrenhause gegen die neue Kreisordnung zur Disposition gestellt und zog als Dechant des Domkapitels in seine Kurie nach Merje-

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Erste ordentliche Generalfynode.

burg.

Kurz vor der Ankunft Seiner Majestät im Jahre 1876 fragte mich

Wizleben um Rat, ob er als Gemaßregelter und darum mißliebiger Beamter Seine Majestät am Merseburger Bahnhof begrüßen dürfe .

Auf

meine Erklärung, er dürfe das nicht nur, sondern er müsse es, erschien Wizleben, und wie groß war seine Freude, als er nicht allein vom Kaiser, sondern auch von allen Prinzen auf das herzlichſte begrüßt wurde. Wie viel habe ich dem Umgang mit dieſem teueren Mann zu verdanken, und wie groß war meine Trauer, als er nach einem schweren Leiden von mehreren Monaten heimgerufen wurde !

Sein letzter Wunsch gegenüber

dem berühmten Arzt, Geheimrat Weber aus Halle, war der geweſen, daß ihm noch soviel Kraft verliehen werden möge, um ein legtes notwendiges Schriftstück, nämlich ein Schreiben an Seine Majeſtät, zu verfaſſen . Mit diesem Wunsche auf den Lippen ist er eingeschlafen, um hier nicht wieder zu erwachen.

Die Vertreter des Provinziallandtages der Provinz Sachsen

erschienen bei der ergreifenden Leichenfeier im hiesigen Dom.

In Roß-

leben, der alten Stiftung der Familie v. Wißleben, ist seine Leiche beigesezt. Im März 1879 feierte mein alter Gönner, der Generalfeldmarschall Graf Moltke, sein Jubiläum ; auf meine Glückwünsche antwortete er mir in einem freundlichen Schreiben, daß ihm meine Worte von besonderem Werte gewesen seien, weil sie ihn in seinen Gedanken in eine Zeit zurückgeführt, welche zwar lange der Vergangenheit angehöre, ihm aber doch noch so frisch in der angenehmsten Erinnerung stehe. Er meinte damit die Zeit unserer ersten Bekanntschaft 1845 in Rom, wegen welcher er mich oft seinen ältesten Bekannten auf dieser Erde nannte. Am 11. Juni 1879 wurde die goldene Hochzeit unseres Kaiſerpaares in Merseburg großartig gefeiert. Ich ließ den inneren Schloßhof mit Tausenden von Lichtern, welche sich den Linien des Gebäudes anſchloſſen, und durch bengalische Flammen in allen Farben erleuchten. Ein Springbrunnen sprudelte zum ersten Male vor dem Erker

der kaiserlichen

Zimmer, vor welchem die Büſten des Kaiserpaares, von Palmenpflanzen umgeben, auf den Schloßhof herabſchauten. An dem feenhaften Eindruck erfreuten sich viele Tausende. Eine Menge von anderen Festlichkeiten hatte an diesem Tage stattgefunden und namentlich auch Gottesdienste in allen Kirchen. Ein besonders wichtiges Ereignis in meinem Leben war die Eröff nung der ersten ordentlichen Generalfynode am 9. Oktober 1879. Die verschiedensten Fragen, welche das kirchliche Leben in unserer Zeit berühren, waren in den Kreis ihrer Beratungen gezogen ; die mannigfachsten Schäden wurden zur Sprache gebracht und ihre Heilung in Angriff genommen, den vielseitigsten Wünschen und Beschwerden wurde zum ersten Male auf geordnetem Wege lauter Ausdruck gegeben. Die Sonntagsheiligung, die zu einer unerträglichen Höhe gelangten kirchlichen Not-

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräſident in Merseburg.

stände Berlins und anderer großer Städte, die materielle Lage der Emeritierten, die Stellung der Kirche zu dem Volksschulwesen und zu der religiösen Erziehung der Jugend, die Fürsorge der Kirche für ihre ver wahrlosten und verirrten Glieder, die Ausübung ihrer Zucht an den Verächtern der kirchlichen Segnungen und Gnadenmittel, die Abhilfe des immer bedenklicher werdenden Mangels an geistlichen Kräften für die Besetzung der Pfarrstellen diese und manche andere Fragen beschäftigten die Gemüter der Mitglieder der Synode und so auch meins . Die Zahl der Synodalmitglieder betrug 194, davon waren 150 von den Provinzialsynoden gewählt, 30 vom Könige ernannt, 9 Generalsuperintendenten und 6 Vertreter der theologischen Fakultäten an den Hochschulen.

Das ent

scheidende übergewicht lag bei den beiden Gruppen der „ positiv Unierten", zu denen ich gehörte, und der „Konfessionellen", welche beide Gruppen zwar getrennt marschierten,

aber vereint schlugen.

Die sogenannte

„Mittelpartei“ zählte nur 49 Mitglieder, und es hatte sich diesmal eine die liberale Richtung vertretende Linke gebildet, die aus acht Mitgliedern bestand. Ich führe die Namen der Hauptmitglieder der einzelnen Gruppen hier auf, weil sie mir persönlich näher bekannt, ja befreundet waren. Führer der „Konfessionellen" waren : v. Kleist-Rezow, Prinz Reuß, Oberpräsident v. Seydewitz, Generalsuperintendent Büchsel, Konſiſtorialpräsident Hegel 2c.

Die Gruppe der „positiven Union" wurde besonders vertreten

durch: Kögel, Leopold Schulze, Hofprediger Baur, Stöcker und Schrader sowie den ehrwürdigen v. Hengstenberg, ferner Frommel, meinen Schwager v. Thile, den Geheimrat Wiese und die theologischen Profeſſoren Cremer und Geß.

Die Gruppe der „ Evangeliſchen Vereinigung “ (Mittelpartei)

führten der Schulrat Schrader, die Profeſſoren Beyſchlag und Köstlin, der immer schlagfertige Landrat v. Rauchhaupt, der Propst v. der Golz und mein ältester Freund auf dieser Erde, Pfarrer Müllensiefen.

Der Graf

Arnim-Boizenburg wurde einstimmig zum Präsidenten gewählt. Auch er war mir schon seit lange befreundet, und sein vornehmes , ritterliches und doch bescheidenes Auftreten, seine Objektivität und Unparteilichkeit, ſeine Sach- und Formkenntnis - - alles das war geeignet, ihn zu einem Vorſizenden zu machen, der allen Parteien sympathisch war. Im Winter 1880/81 gründeten wir Mitglieder der „positiv unierten Gruppe" eine besondere Zeitschrift, welche unter der Redaktion des mir befreundeten Superintendenten Pfeiffer in Krakau nun schon seit bald zwei Jahrzehnten allmonatlich erscheint, die Anschauungen der Gruppe vertritt und sehr tüchtige, ( nicht nur für Theologen) leſenswerte Auffäße liefert. Einen lieben Freund hatte ich an dem liebenswürdigen Konsistorial präsidenten Noeldechen zu Magdeburg.

Er wurde durch Krankheit an

der Beteiligung bei der Provinzialfynode in Merseburg 1881 verhindert, ich aber durfte in einer besonderen Rede seine Verdienste um die Ent

Ertrinken zweier Fräulein in Norderney.

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wickelung der evangelischen Kirche in der Provinz Sachsen hervorheben. Eine herzliche Entgegnung dieses bedeutenden Mannes war die Antwort auf diese Rede. Im Sommer 1881 hatte ich mit all den Meinigen eine Erholungsreise nach Norderney unternommen . Welch ein Schrecken ergriff die ganze Badegesellschaft, als am 17. August am Damenbadestrande zwei junge Damen ertranfen. Die Strömung des Meeres bei Flut und Ebbe ist dort nahe am Strande besonders stark und hatte die beiden Mädchen erfaßt und mit sich geriſſen.

Unsere Wohnung war nahe bei der Unglücksstelle,

und so wurde ich aufgerufen, bei den Wiederbelebungsversuchen hilfreiche Hand zu leiſten ; es wurden mit Bürsten die Fußsohlen und die Hände gerieben, es wurde heißer Siegellack auf die Haut geträufelt, aber alles half nichts . Einige Badegäste riefen einen Engländer Kelgrien herbei, welcher angeblich durch Massage viele Wunderkuren schon vollbracht haben sollte. Er erschien mit siegesgewisser Miene, aber auch sein Massieren half nichts . „Ja“, riefen viele seiner Bewunderer, wenn Kelgrien früher gekommen wäre, die Mädchen wären nicht gestorben ! " Wie blasphemisch flang dieser Ruf im Hinblick auf den gegenüber unserm Herrn und Heiland : „Lazarus wäre nicht gestorben, wenn er da gewesen wäre.“ Die Leichen wurden in die Vorhalle der Kirche gebracht und Tag und Nacht bewacht, denn der Eindruck ihrer Gesichter war nicht der von Gestorbenen, sondern von Schlafenden. Sie waren die Töchter des Bankiers Weiß aus Reichenbach in Schlesien, und beide Eltern lernte ich bewundern, nachdem sie so plöglich ein so furchtbarer Schlag betroffen hatte. Ergreifend ist der Brief des Vaters, in welchem er mir die Leichenfeier seiner Töchter in Reichenbach beschrieb und unsern Herrn und Heiland freudig preisen konnte : „ Daß Er sich nicht unbezeugt gelassen habe, und so wunderbar ihm über den großen Schmerz hinweggeholfen, so daß es ihm sei, als hätte er ſeine geliebten Töchter nur auf kurze Zeit in Penſion gebracht, in welcher ſie ſo vortrefflich und so geborgen aufgehoben ſeien.“ Die älteste der beiden verunglückten Schwestern, die erst 19jährige Johanna, hatte noch kurz vor ihrem Tode eine Segelfahrt auf dem Meere gemacht und dabei mit herrlicher Stimme gesungen :

,,Wie mit grimmem Unverstand Wellen sich erheben, Nirgend Rettung, nirgend Land Vor des Sturmes Beben ! Einer ist, der in der Nacht, Einer ist, der uns bewacht, Chriſt Kyrie, komm zu uns auf die See!" Viel mühevolle Arbeit machte mir im Jahre 1887 die Nichtwiederwahl des Oberbürgermeiſters v. Voß in Halle, welche deshalb erfolgte, weil er

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Dreizehnter Abschnitt: Regierungspräsident in Merseburg.

die von den Stadtverordneten gestellte Bedingung, seine Nebenämter niederzulegen, nicht erfüllen wollte. Der Oberpräsident v . Patow beschuldigte aber die Königliche Regierung, daß sie v. Voß' Wiederwahl nicht energisch genug durchgesezt hätte. Hiergegen legte das Regierungs kollegium, dessen sämtliche Mitglieder den betreffenden Bericht eigen händig zu unterschreiben verlangten, Beschwerde bei dem Minister des Innern ein, und die Folge davon war, daß der Oberpräſident bald darauf seinen Abschied nahm.

Es dauerte lange, ehe Halle ein neues Stadt-

oberhaupt erhielt, denn der zuerſt als Voß' Nachfolger gewählte und von mir in ſein Amt eingeführte Oberbürgermeister Bertram starb schon nach wenigen Monaten.

Der dann gewählte, Staude, der schon zweiter Bür-

germeister von Halle war, mußte sehr lange auf seine Bestätigung warten. Beide Genannte, Bertram und Staude, haben mir vor ihrer Einführung in ihr neues Amt mittels Handſchlags versprechen müſſen, daß sie mit allen Kräften dahin wirken würden, den Verkehr in dem langgestreckten Halle durch den Bau von Straßen- oder elektrischen Bahnen zu erleichtern. Diesen Wunsch hatte ich schon seit langen Jahren den städtischen Behörden ans Herz gelegt, aber immer nur die Antwort bekommen : „Herr Präſident, Sie kennen Halle nicht mit seinen engen Straßen, auf welchen Straßenbahnen unmöglich sind. “ Und meine Gegenrede half mir nichts , daß ich viele Städte kenne, die eben so enge Straßen und doch Pferdebahnen besäßen.

Jezt kann man sich Halle ohne die Straßenbahnen gar nicht

mehr denken, und dieſelben Väter der Stadt, welche früher dieſe Verkehrsmittel für unmöglich bezeichneten, benußen sie redlich, und ich denke, zu ihrer eigenen Freude darüber, daß sie sich geirrt haben. Mit dem längst verstorbenen Stadtverordneten Fiebiger, dem ein Denkmal für seine Bemühungen um die Verschönerung Halles gesezt worden ist, hatte ich einen Promenadenring um die ganze innere Stadt herum verabredet, und bei Gelegenheit einer großen städtischen Feierlichkeit trug ich den Inhalt dieser Verabredung des näheren vor . Ein langes witiges Gedicht trug zur Festfreude bei ; es war überschrieben : „Der Spaziergang um das alte Halle oder der Zukunftsring, frei nach v. Diest." Der größte Teil dieses Promenadenringes iſt jezt schon fertiggestellt. Die Wiederherstellung der Morißburg iſt während meiner langen Amtsführung in Merseburg einer meiner Lieblingspläne geweſen. Die Anregung dazu verdankte ich auch, wie so vieles, meinem Schwager v. Quast, welcher schon in den 40er Jahren auf Befehl des Königs Friedrich Wilhelm IV. die Pläne entworfen hatte.

Die Ereignisse des Jahres 1848

brachten die Sache ins Stocken. Die Schönheit der inneren Moritzburg war den Hallensern selbst ganz unbekannt, denn die Militärbehörden, welche einen Teil der Baulichkeiten benußten, obwohl die alte Ruine dem

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Moritzburg in Halle.

Domänenfiskus gehörte, hielt sie permanent verschlossen.

Der Hauptplan

bestand von vornherein darin, daß die Kunſtſammlungen der Stadt, wie auch die archäologischen Sammlungen der Provinz, beide in ganz ungeeigneten Lokalen untergebracht, in den Neubauten auf der Süd- und Ostseite ihren Plaz finden sollten, daß ferner die großen Räume auf der West- und Nordſeite zu Turn- und Fechtsälen für die Univerſität umgebaut und die alte Schloßkirche zu einer Universitätskirche wiederhergestellt werden sollte. Die letzten beiden Ziele sind durch die Bemühungen des Universitätskurators, Geheimrat Schrader, erreicht, und der Stadtbaurat Genzmer hat schon herrliche Zeichnungen für die Neubauten zum Zwecke der Unterbringung der Sammlungen gefertigt, und alle zuſtändigen Behörden ſind gewillt, zur Ausführung zu ſchreiten, ſobald nur erſt die verhältnismäßig geringen Bauſummen zur Verfügung stehen, ſo daß ich hoffe, die ganze herrliche Morigburg in ihrem neuen Gewande bei meinen Lebzeiten noch vor mir zu sehen.

Wie das Heidelberger Schloß

wird auch die Morißburg ein Mittelpunkt für den allgemeinen Verkehr werden. Im Oktober 1882 erſchien der Großfürſt Wladimir von Rußland mit seiner schönen Gemahlin, als Chef des 12. Husaren-Regiments , in Merseburg und nahm einige Tage Aufenthalt im Königlichen Schloſſe. Eine Menge von Festlichkeiten wurde zu Ehren des großfürstlichen Paares veranstaltet : ein großartiger Fackelzug bewegte sich durch den Schloßhof, und die russischen Herrschaften waren erstaunt, zu erfahren, daß dieser Fackelzug auf den freiwilligen Entschluß der Bürgerschaft hin zustande gekommen war ; denn so etwas sei in Rußland nicht möglich, dort müſſe alles dergleichen von oben herab befohlen werden". Auch eine Treibjagd auf Hafen wurde auf dem Gebiete unseres Jagdvereins abgehalten, und der Großfürst war entzückt über die Menge der Haſen und über die Menge von Schüssen, die darauf abgegeben wurden.

Im ersten Treiben lief er

immer den ankommenden Hasen entgegen, verscheuchte sie damit, und es fostete mir große Mühe, ihn in den folgenden Treiben zurückzuhalten und einen „ Sack" zu bilden.

über das Jagdresultat von 40-50 Hasen,

die er selbst schoß, war er in seiner Jagdleidenschaft ganz erstaunt. Ein großer Ball in der Reſſource gab den Schluß ab. Die Frau Großfürſtin, die einzige deutsche Prinzeß, welche ihrem evangelischen Glauben troß der russischen Heirat treugeblieben ist, war von einer Liebenswürdigkeit ohne gleichen, auch schenkte sie meiner Frau ihr wohlgetroffenes Bildnis . Der Oberpräsident v. Wolff hatte, gestükt auf den einstimmigen Wunsch der lezten Provinzialsynode, eine Verordnung zur Heilighaltung des Sonntags erlassen, wonach das Offenhalten der Läden auf wenige Stunden des Sonntags beschränkt worden war. Ein Sturm der Entrüstung brach in den Lagern der Demokratie und des Liberalismus gegen v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merſeburg.

diese Verordnung les, und, nachdem sie nur wenige Monate beſtanden hatte, mußte sie auf Grund eines richterlichen Urteils vom Minister des Innern wieder aufgehoben werden.

Wolff war drauf und dran, deshalb

seinen Abschied zu nehmen, er folgte aber zu meiner Freude meinem Rate, es nicht zu tun.

Wunderbar war es, daß der Schluß der Läden

nach Aufhebung der Verordnung fast überall freiwillig erfolgte, da man denn doch einsehen gelernt hatte, daß das göttliche Gebot, am ſiebenten Tage zu ruhen, auch auf die Kaufleute, ihre Ladendiener und Dienerinnen vernünftigerweise Anvendung finden müsse. Wie oft schon ist seitdem der Demokratie und dem Liberalismus ein solcher Sturm der Entrüstung gelungen, wie z . B. 1892 der Sturm gegen das Zedlißsche Volksschulgeset, welches durch die Majorität des Abgeordnetenhauses angenommen und doch vor dieser angeblichen „ öffentlichen Meinung", einer Minderheit im Volke, zurückgezogen wurde. Wie traurig war ebenso der Verlauf des Vereinsgesetzes und der Arbeitswilligen-Vorlage !

Auch wird neuerdings

wieder Sturm gelaufen gegen das „Fleischschaugesetz“ und gegen die „ lex Heinze". Wie traurig dagegen war das Verfahren gegen die gemaßregelten Regierungspräsidenten und Landräte, welche als Abgeordnete an der Ablehnung der Kanalvorlage teilgenommen hatten ! All dieses Treiben erinnerte schon damals bei der Wolffschen Sonntagsverordnung an die französische Revolution, wo die Agitatoren der Klubs und das aufgewiegelte Volk auf der Straße den Ausschlag gaben, wenn der König, das Ministerium, die Mehrheit der Kammer sich nicht gefügig genug zeigten! Die Geschichte ist doch dazu da, wie der große Geschichtsschreiber Thucydides am Anfang seines Werkes sagt, um aus ihr zu lernen. Im Jahre 1882 machte ich mit dem Oberpräsidenten v. Wolff die erste von den vielen Dienſtreiſen, die uns in späteren Jahren oft zuſammenführten, und das Ziel dieser ersten Reise war Lüßen, wo der 250jährige Todestag Gustav Adolfs und der 50jährige Stiftungstag des Gustav Adolf-Vereins in großartiger Weise gefeiert wurden. Die berühmtesten evangelischen Kanzelredner aus ganz Deutschland, wie Gerock, Pand, Frommel u . a., hielten dort unter freiem Himmel ergreifende Ansprachen an die vielen Tausende der Festteilnehmer. Namentlich wird mir eine Tischrede meines alten Freundes Frommel unvergeßlich bleiben. Nach dem er sich erst auf mein dringendes Zureden dazu entschlossen hatte, stellte er sich mit verschränkten Armen an eine Säule des Festsaales und begann den Monolog Wallensteins mit den Worten : „ Es gibt im Menschenleben Augenblicke, wo man dem Weltgeist

näher ist

als ſonſt. ”

Schallendes Gelächter brach in der großen Versammlung aus, aber es verstummte bald, als Frommel den ganzen Monolog in packender Weije rezitierte, namentlich, als er an die Frage kam: „Wer ist der treueste hier im Lager mir ?", und als er schließlich auf den der Gustav Adolf-

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250 Jahre nach Gustav Adolfs Tod in Lützen.

sache treuesten Kämpfer, den Gründer des Guſtav Adolf-Vereins , Grohmann, zu sprechen kam, dessen anwesende Witwe er hochleben ließ. Wie lieb habe ich seit diesem Feste die erinnerungsreiche Stadt Lügen und das Guſtav Adolf- Denkmal gewonnen ! Die Wiederherstellung dieses Denkmals, wie auch der Stadtkirche und vieler anderen Baulichkeiten, habe ich mit durchführen helfen, und welch' große Freude habe ich gehabt, als ich von der Stadt Lüßen die getreue Nachbildung des Gustav Adolf- Denkmals in Erz zum Geschenk bekam — ein Geschenk, welches außer mir nur der König von Schweden und der Fürst Bismarck erhalten haben, und welches seitdem meine Stube schmückt. Vielen ist es unbekannt, daß Napoleon vor der Schlacht bei Großgörschen wiederholt den Turm des alten Schlosses in Lügen bestiegen hat, um von dort aus die Umgegend weithin zu muſtern und seinen Schlachtplan zu entwerfen. Nach meinem Vornamen Gustav und nach seinem, Arthur, nannte mein Freund Wolff unsere gemeinschaftlichen Dienstreisen die G. A.-Reisen und überschrieb seine Briefe, in denen er mich zu solchen Dienſtreiſen aufforderte, stets mit den Buchstaben G. A. Nr. 1 , G. A. Nr. 2 2c. Der liebe selige Missionsinspektor Wangemann war damals von seiner lezten langen Reise zu ſeinen vielen Miſſionaren in Transvaal zurückgekehrt und teilte mir zu meinem Erstaunen mit, daß die dortigen Buren und an der Spize ihr Präsident, der „ Ohm " Paul Krüger, den sehnlichsten Wunsch hätten, daß der Deutsche Kaiser die Oberhoheit über jene südafrikanischen Republiken huldreichst annehmen möge. Er (Wangemann) habe darüber schon dem Fürsten Bismarck Vortrag gehalten, der allmächtige Mann habe es aber abgelehnt, auf diesen Vorschlag einzugehen, weil er mit England nicht in Konflikt geraten wolle. Wangemann bat mich, auch meinerseits die für die evangelische Mission so wichtige Angelegenheit gegenüber Bismarck zur Sprache zu bringen. Es blieb aber bei der Ablehnung, wie denn Bismarck damals überhaupt noch nicht geneigt war, irgend größere Pläne für deutsche Kolonien in Afrika zur Ausführung zu bringen. Bei dem legten traurigen Burenkriege, in dem das kleine, heldenmütige Volk die großartigsten Opfer brachte, um gegen die Söldnerheere des übermächtigen Englands die Freiheit und Selbständigkeit zu behaupten, hätte es ein großes Gewicht in die Wagschale gelegt, wenn Bismarck damals den Wünschen der Buren Gehör geschenkt hätte, zumal, da Englands Macht im Jahre 1881 eine so gründliche Niederlage seitens der Buren erlebt hatte. Am Schlusse des Jahres 1882 erlicß ich an sämtliche Landräte und städtischen Magistrate eine Verordnung, die einiges Aufsehen erregte und deren Durchführung manche Mühe gekostet hat. Sie betraf den Gewerbebetrieb der Ausländer im Umherziehen , bei welchen ein Legitimationsſchein zu versagen war, wenn fürs Gewerbe, für welches der Schein nach-

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

gesucht wird, ein Bedürfnis nach weiteren Zulaſſungen zum Hauſierhandel nicht besteht. Ich hatte aber die überzeugung gewonnen, daß im allgemeinen das einheimische Gewerbe imſtande ſei, den Nachfragen des konsumierenden Publikums nach allen Richtungen hin zu genügen, und gab darum den genannten Behörden auf, daß sie bei Erteilung von Legitimationsscheinen vorsichtiger als bisher zu Werke gehen, und daß namentlich Ausländer nicht mehr zum Hauſierhandel, mit Ausnahme von wenigen, bestimmt bezeichneten Handelsartikeln, zugelassen werden dürften. Im Frühjahr 1883 unternahm ich mit Frau und Kindern eine sehr glücklich verlaufene längere Reise nach Italien. Es ging durch den St. Gotthardstunnel hindurch und nach längerem Aufenthalt am See von Lugano, über Mailand, Bologna nach Florenz .

Vergebens versprach

ich meinen Kindern, daß sie ein Geldgeschenk bekommen sollten, wenn ſie mir den ersten Blütenbaum zeigen könnten . Die Witterung war noch in der ersten Hälfte des April so rauh, daß selbst die am frühesten blühenden Bäume ihre Blüten zurückhielten.

In Rom aber wurde es anders . Dort

erwartete uns mein alter Freund Keudell, damals Botschafter in Rom , am Bahnhof und ließ es nicht zu, daß wir irgend wo anders als oben auf dem Kapitol im Palazzo Caffarelli bei ihm Wohnung nahmen. Dort haben wir denn mehrere Wochen von unseren Zimmern eine herrliche Aussicht auf das Albanergebirge genossen, und Keudell tat in seiner groß artigen Gastfreundschaft alles, um uns unseren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Aus den vielen Erlebnissen zu Rom möchte ich nur einige hervorheben. Die Wagnersche Tetralogie wurde unter Zeitung von Angelo Neumann in Rom aufgeführt, und Keudell hatte eine besondere Loge für uns genommen. Ich hatte durchaus keine Lust, nach den Anstrengungen, die das Leben zu Rom für einen Fremden mit sich bringt, viele Abende bis in die tiefe Nacht hinein in einer Theaterloge zu ſizen, wurde aber von Die Römer nannten meinen drei Familienmitgliedern überſtimmt. spottweise diese Musikleistung ,, La Tedescheria", trotzdem war das Theater überfüllt.

Waren doch auch die größten Wagner- Sänger und

-Sängerinnen in Rom erschienen, welche ihre Rollen meisterhaft vortrugen.

Keudell lud wiederholt diese großen Künstler, wie namentlich

Scaria und die Frau Reicher-Kindermann, zum Frühstück auf das Kapitol ein, wo wir sie denn alle persönlich kennen lernten, und sie mit ihren gewaltigen Stimmen noch eine größere Wirkung als auf der Bühne in den Musiksälen der deutschen Botschaft hervorbrachten. Den „ Erlkönig “ von Schubert fang die Reicher-Kindermann so ergreifend, daß mir die Größe des Dichters und des Komponisten noch viel deutlicher vor die Seele trat, als jemals früher.

Leider starb diese begabte Sängerin schon

„Bambino" in Rom.

wenige Wochen danach auf ihrer Kunstreise.

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Der Maler Lenbach gab der

,,Tedescheria" ein glänzendes Abendfest in dem Palazzo Borghese, dessen größten Teil er gemietet hatte.

Lenbach zeigte mir in seinem

Atelier eine große Zahl seiner Bilder, und charakteriſtiſch für ihn war es, daß er mitten in seine Bilder hinein ein herrliches Bildnis von Tizian gehängt hatte ; er teilte mir mit, daß er seine Freude daran habe, wie viele seiner Besucher dies Tizianſche Bild für ein solches hielten, was er, Lenbach, gemalt, und es für minder wert ansprächen als die übrigen. Keudell lud oft den ersten Geiger Roms, Prinelli, auf das Kapitol, damit wir mit ihm Trio spielen konnten.

Wie wenig aber die Kammer-

musik in Rom gepflegt wird, zeigte sich auch daran, daß dieser beste Violinspieler große Schwierigkeiten darin fand, die Violinstimme in unseren klassischen Trios zu spielen, ja, er mußte sogar die Schubertschen Trios erst nach Hause mitnehmen, um sie dort zu üben. Nicht weit von dem deutschen Botschaftshotel liegt dicht neben dem Kapitol die alte Kirche " Sta. Maria in Aracoeli " (Himmelsaltar) ; sie liegt an der Stelle eines alten Jupitertempels und ist eine der ältesten Kirchen Roms .

Den Anziehungspunkt dieser mit antiken Säulen und

bedeutenden Fresken geschmückten Basilika bildete eine Puppe aus Olivenholz, mit Gold, Edelsteinen und Orden aller möglichen katholischen Fürsten bedeckt : es ist das in der ganzen katholischen Christenheit berühmte „ Bambino".

Dies Christkindchen soll von einem im heiligen Lande weilenden

Franziskanermönch aus einer Olive vom Ölberge geschnißt sein.

Als

einen Mangel aber empfand es der Verfertiger, daß keine leuchtende Farbe der Figur den Anschein des Lebens verlieh. In einer Weihnachtsnacht erschien unserem Franziskaner in einem wunderbaren Traum das Bambino, und zwar mit roten Wangen und strahlenden blauen Augen. Voll Seligkeit über diesen Traum wachte der Schläfer auf, und siehe da ! vor ihm lag das Bild, wie er es im Traum geschaut.

Im Angesichte dieses

Wunders warf sich der Mönch vor der Puppe auf die Knie, betete sie an und gelobte, ſie in seinem Stammkloster auf Aracoeli unterzubringen. Dort wird nun das heilige Bambino alljährlich um Weihnachten dem römischen Volke gezeigt ; aber außerdem bringt das Bambino große Summen Geldes der Kirche ein, denn es wird gegen gehöriges Entgelt vor das Wochenbett der reicheren Frauen Roms gebracht, weil die Entbindung in seiner Gegenwart besser vonſtatten gehen soll.

Dorthin fährt

das Bambino , auf dem Rücksitz einer Galakutſche ſizend, mit zwei seiner Priester auf dem Rücksize, mit zwei Lakaien hinten auf dem Wagen ; und ein breites gelbseidenes Band, welches aus dem Wagenschlage heraushängt, zeigt denen, die dem Wagen begegnen, an, welch eine hohe, anbetungswürdige Person in dem Wagen jizt, vor welchem dann die Leute auf die Knie fallen. So zeigte auch ein Priester mir und den Meinigen

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräfident in Merseburg.

diese wunderliche Reliquie, welche er auf einer kleinen Eisenbahn aus dem Schranke hinter dem Altare hervorschob . Ein Grauen erfaßte uns über diesen entsetzlichen Gößendienst, ja, selbst der Priester lächelte verschmitt und fast höhnisch, als ich ihn fragte, ob er selbst denn an die Wundertätigkeit dieser Puppe glaube. Der berühmte Schriftsteller Gregorovius war unser steter Begleiter bei unseren Wanderungen durch Rom, denn er war jeit langer Zeit eng befreundet mit meinem Schwager v. Thile, dem früheren preußischen Gesandten in Rom.

So begleitete er uns auch auf unserer Fahrt nach

Tivoli und in die großartige Villa Hadriana.

War er doch zurzeit be

schäftigt mit der Lebensbeschreibung Hadrians , welche zu seinen beſten Werken gehört. Bei unserem Besuche in der Villa Hadriana wurde gerade ein großes Mosaik auf dem Fußboden eines alten Kaiserjaales aufgedeckt ; Gregorovius stieg auf eine Erhöhung in diesem Saale und rief uns die letten Worte, die Hadrian auf seinem Sterbebette gesprochen, von dort zu ; diese Worte lauten : „ Animula vagula blandula, hospes comesque corporis, quae nunc abibis in loca pallidula rigida undula, nec , ut soles, dabis jocos ! " (,,Du, mein unſtätes, schmeichlerisches Seelchen , du Wirt und Gefährte meines Leibes, du wirst jetzt fortwandern in bleiche, starre, verschwommene Stätten und wirst nicht, wie du gewohnt, Spaß damit machen !")

Wir Hörer waren tief ergriffen von der Art, wie dieſer

große Kaiſer als „ Sophiſt von der Weltkomödie", wie Gregorovius sich ausdrückte, Abschied genommen hat, und doch war Hadrian der erste Kaiser, der schon eine Ahnung in sich aufgenommen hatte von der Heilig keit der Lehre Christi. Ich kann nicht umhin, einen Brief von Gregoro vius an meinen Schwager v. Thile nachstehend mitzuteilen, obwohl er unverdientes Lob für mich enthält: „Es ist eine Stunde her, daß ich Ihre Verwandten mit der Eisenbahn nach Pisa habe abfahren sehen ; der großen Liebenswürdigkeit Keudells verdankte ich die Freude, mit ihnen noch bei ihm frühſtücken zu dürfen, nachdem wir gestern einen herrlichen Tag in Tivoli zugebracht hatten. Ihr Herr Schwager kannte bereits Rom und auch meinen Freund Lindemann-Frommel ( den Stiefbruder des Hofpredigers Frommel, den ausgezeichneten Landschaftsmaler ) . Möchten doch alle Präsidenten diesem Manne voll jugendlicher Idealität und sprühendem Geistesleben gleichen, dann würden uns Deutschen die Ausländer nicht jene bureaukratische Pedanterie vorzurücken haben, welche in uns so oft die innere Menschlichkeit verdeckt. In Wahrheit, die Stunden, welche ich mit Ihren Verwandten in Rom zugebracht habe, betrachte ich als die lichtvollsten hier seit langer Zeit, abgesehen davon, daß meine innige Teilnahme an Ihrem eigenen Familienleben dadurch erweitert worden ist.

Ihre Verwandten

haben sich in der kurzen Zeit einiger Wochen ein Totalbild dieser fremden großen Welt verſchaffen können . “

487

Gregorovius.

Während meines früheren Aufenthaltes in Rom hatte ich oft in einer Künstlerkneipe Mittag gegessen,

die ihren Namen „ i tre ladroni“

(Zu den drei Räubern ) mit Recht trug, denn sie lag in einer engen Seitengaſſe ; man stieg mehrere Kellerstufen hinab, ging durch eine schmußige, räucherige

Garküche für

Droschkenkutscher,

Gepäckträger 2c. hindurch

und gelangte endlich in ein altes gewölbtes Kellerlokal, in welchem viele große Künstler, wie namentlich Thorwaldsen, Riedel, Wolf u. a., ihr billiges, aber schmackhaftes Mittageſſen einnahmen. Gregorovius kannte sehr gut diese echt römische Spelunke und wollte uns in dieselbe begleiten, konnte sie aber nicht wiederfinden, da der ganze Stadtteil, in welchem sie gelegen hatte, einem völligen Umbau unterworfen worden war ; statt der engen Gassen waren breitere Straßen entstanden. Mit mir war auch Gregorovius, der Ehrenbürger Roms, erstaunt, wie das moderne Rom das Schicksal aller größeren Städte darin teilt, daß ganze alte Stadtviertel neu aufgebaut werden.

Gregorovius hat mich auch einige Jahre nachher

in München bei Gelegenheit der Zentenarseier herumgeführt, und ich bin bis zu seinem Tode mit ihm befreundet geblieben . In Neapel geſellte sich mein Nesfe, Siegfried v . Quast, welcher Landrat des Ruppiner Kreiſes war und schon 1879 seine junge Frau Marie geb. Hengstenberg verloren hatte, zu uns und trug viel dazu bei, daß unsere italienische Reise eine höchst angenehme war. Als wir nach Merseburg zurückgekehrt, hatte ich neben anderen Dienstgeſchäften viel Arbeit mit den Vorbereitungen für die Feier des 400jährigen Geburtstages Luthers in Wittenberg und für die Anwesenheit des Kaisers zu den Manövern des IV. Armeekorps .

Bei Gelegenheit der

Geburtstagsfeier Luthers sollte auch die von mir gegründete „ Lutherhalle" eröffnet werden. Als ich gleich nach Antritt meines Merseburger Amtes, 1876, die Wohnung Luthers so gut wie leer vorgefunden hatte, in welcher nur die Spinne an den Fenstern und der Holzwurm in den Dielen ihre Arbeitsamkeit bekundeten, hatte ich sofort beschlossen, alle Andenken an Luther, wie sie in ganz Deutschland in den verschiedensten Städten zerstreut waren, in diesen leeren Räumen zu sammeln und aufzustellen. Es ist mir dies weit über alles Bitten und Verstehen geglückt. In Wittenberg selbst befanden sich in einer feuchten Kapelle neben der Stadtkirche eine Menge von interessanten Bildern und alten Altären, welche nach und nach dort ihrem Untergange entgegengingen ; auch auf dem Rathause fand ich viele Gegenstände, welche in Luthers Wohnung Platz finden sollten. Es scheint faſt unglaublich, daß in einer Schublade eines schlechten Tisches Originalbriefe von Luther und Melanchthon sich befanden und dort den Fremden gezeigt wurden, und daß in derselben Schublade die verdorrte Hand einer Kindesmörderin und der Magen eines Vielfressers aufbewahrt wurden.

Ich fand bereitwilliges Entgegen-

488

Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

kommen für meinen Plan bei den Wittenberger Stadt- und Kirchenbehörden.

Es wurde ein Komitee gebildet und an alle Fürsten Deutsch

lands geſchrieben, daß ſie den Plan, jei es durch Geld, ſei es durch Übersendung der in ihren Ländern verstreuten Andenken an Suther und die anderen Reformatoren, fördern möchten.

So waren alle Wohnräume

Luthers in wenigen Jahren ganz angefüllt von Gegenständen aller Art, welche auf den größten aller deutschen Männer Bezug haben. Der Kronprinz hatte nun sein Erscheinen bei der Eröffnung der Lutherhalle zugesagt.

Nur wenige Tage vorher wurde ich im Auftrage

des Kronprinzen aufgefordert, umgehend das Konzept der Rede, die ich bei dieser Gelegenheit halten wolle, einzusenden, damit der Kronprinz die geeignete Antwort darauf erteilen könne. Ich mußte, was ich sonst nie bei meinen öffentlichen Reden getan, die von mir beabsichtigte Rede wörtlich zu Papier bringen und nach Berlin senden. hier wörtlich wieder.

Ich gebe sie darum

„Euere Kaiserliche und Königliche Hoheit wollen geruhen, zunächſt unſerer aller untertänigsten Dank entgegenzunehmen dafür, daß Sie dieſes Fest der evangelischen Kirche zu verherrlichen gekommen sind, daß Sie gekommen sind in diesen Bezirk, welcher unter vielen anderen seinen ganz eigenartigen Schmuck in den Städten hat, die durch Luthers Leben und Wirken ihre besondere Weihe erhalten haben - ich nenne nur Namen wie Mansfeld, Eisleben, Halle, Torgau, Merseburg, Zeiß —, daß Sie gekommen sind in diese Stadt Wittenberg, welche eine Perle ist unter den Lutherstädten, und in dieses Haus, welches jahrzehntelang Luthers Wohnstätte gewesen.

Euere Kaiserliche und Königliche Hoheit sind hier

als Stellvertreter Seiner Majestät, unseres Kaisers und Königs und Herrn, des freuen wir uns ! Aber noch mehr, unsere Freude und unser Dank sind wach und lebendig in dieser feierlichen Stunde, denn sie stammen aus dem Bewußtsein, daß alle Glieder unseres teueren Herrscherhauses auch lebendige Glieder der evangelischen Kirche sind, und daß Gott der Herr das Gebet in der sonntäglichen Liturgie erhört : » Erhalte Sie uns bei langem Leben zu beſtändigem Segen und chriſtlichem Vorbild ! «

Vor

wenig Tagen feierte das ganze deutsche Volk wiederum den Tag von Sedan und führte sich ins Gedächtnis die hehren Worte Seiner Majeſtät : » >Welch wunderbare Wendung durch Gottes Führung ! « Ja, Gottes Wege in der Geschichte unseres deutschen Volkes werden auch an dieser Stätte jedem überwältigend fühlbar.

» Die Stätte, die ein guter Mensch betrat,

ist eingeweiht ; nach hundert Jahren kehrt sein Wort und seine Tat dem Enkel wieder !« Dem Enkel, wenn er nur irgend lebhaft fühlen kann ! Und lebhaft fühlen wir alle, fühlt das ganze evangelisch-deutsche Volk bei dem Klange des Namens jenes Gottesmannes Martin Luther !

Ja, an

dieser geweihten Stätte beleben uns die Worte und Taten Luthers, nach-

Lutherhalle in Wittenberg.

489

dem vier Jahrhunderte von dem Tage seiner Geburt an dahingeflossen sind : Hier diese Schwelle hat sein Fuß betreten, an der Aussicht aus diesem Fenster hat sich sein Auge erquickt, diese Wände sind Zeugen seines echt deutschen, echt christlichen Familienlebens gewesen, hier hat sich sein Glaubensmut durch das Forschen in der heiligen Schrift, die er uns Deutschen wiedergegeben, und durch sein Gebetsleben, von dem wir so wunderbare Zeugnisse haben, gestärkt, ſo daß sein Vertrauen auf den lebendigen Gott und auf die Erlösung durch unseren Heiland Jesum Christum sich ausprägte in seinem Wahlspruch aus seinem Lieblingspſalm : ,,non moriar, sed vivam" - Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werk verkündigen.

Non moriar, sed vivam -

freilich haben der Psalmist und Dr. Luther in diesen prophetischen Worten den Blick auf die Ewigkeit gerichtet — und doch möchten wir sie auch über die Türen dieser Sammlung schreiben, welche wir zum ehrenden Gedächtnis an den großen Helden des deutschen Volkes seit einigen Jahren begonnen haben. Auch in dieser Sammlung von Denkwürdigkeiten aller Art soll er fortleben in den kommenden Jahrhunderten, und auch bei der Besichtigung dieser Hallen und der darin enthaltenen Schäße der Geschichte werden die kommenden Geschlechter innewerden, daß Luther des Herrn Werk noch fort und fort verkündiget. - Auf dem weiten Erdenrund gibt es wohl keinen würdigeren Plaz, an welchem Erinnerungszeichen an die große Zeit der Reformation niedergelegt werden könnten, als diese Lutherhalle. Dies Haus schenkte dem Reformator jein Landesherr, der Kurfürst Johann der Beſtändige, dies Haus wurde durch das huldvolle Intereſſe, welches weiland der hochselige König Friedrich Wilhelm IV. ihm widmete, in einen würdigen baulichen Stand gesezt ; und heute wollen nun Euere Kaiserliche und Königliche Hoheit im Namen und Auftrag Seiner Majestät des Deutschen Kaisers die darin hergestellte Luthersammlung durch Höchstihren ersten Beſuch eröffnen.

Wenn Luther diese Verwirklichung

seines Wahlspruchs doch hätte ahnen können !

Dann hätte auch er nur

Dankesworte gegen den Herrn aller Herren gehabt ! Daß aber der Dank in unserem deutschen Volke nimmer erſterbe, für alles das, was ihm geworden und womit es gesegnet, das walte Gott." Aufmerksam hatte die ganze große Versammlung meinen Worten zugehört, und eine große Spannung herrschte, als der Kronprinz, ſtattlich anzuschauen in seiner Feldmarschalluniform der gelben Dragoner, neben mich trat und eine Antwort leider nicht sprach, sondern ablas aus einem Hefte, welches ihm gereicht wurde. Er begann mit den Worten : „Es ist ein sinniger Gedanke gewesen, die Wohnung unseres großen Reformators auszuschmücken zc. " Die Rede selbst, die mir in ihrem Wortlaut nicht mehr vorliegt, ist ja bekannt und namentlich die Tatsache, daß der Kronprinz der Toleranz in kirchlichen Dingen ein überschwängliches Lob

4.90

Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

ſpendete. Der Kronprinz sprach am Schluß mit hocherhobener Stimme, und es klirrte sein Säbel, den er auf den Fußboden stieß, bei den Worten : „Ich verlange Duldung innerhalb der evangelischen Kirche!" Diese Rede hat damals lange Zeit große Freude, aber auch tiefe Trauer, je nach der inneren Stellung der Hörer oder der Leser, hervorgerufen. Unter den Trauernden befand sich gleich nach Beendigung der Rede der hochverehrte Oberhofprediger Kögel, welcher wehmütigen Angesichts gerade gegenüber dem Kronprinzen stand. Der Verfasser der Rede ſoll ein Hofprediger gewesen sein, welcher mich am Abend vorher angeblich im Auftrage des Kronprinzen aufgesucht hatte ; ich sollte meine Rede in Abschrift am anderen Morgen vor Eröffnung der Lutherhalle übergeben, weil meine und des Kronprinzen Rede sofort an alle Hauptzeitungen Deutschlands telegraphisch gesandt werden sollten. Es hielt mir schwer, in der Nacht noch einen Abschreiber durch die Güte des Landrats v. Koſerit zu erhalten. Schon tags darauf war die Rede des Kronprinzen in allen Zeitungen zu lesen, meine aber nicht, sie war einfach unterschlagen worden.

Der

Landrat v. Rauchhaupt, der hierüber außzer ſich war, hat meine Rede erst viele Tage nachher in der Kreuzzeitung veröffentlicht.

Dem Kaiſer mußte

ich auf seinen Befehl den Verlauf der Eröffnung der Lutherhalle genau berichten. Für die Lutherhalle hat der Kronprinz bei wiederholten Begegnungen ein sehr reges Intereſſe bewiesen ; so fragte er mich auf einem Ball im weißen Saal des Berliner Schlosses, ob ich noch Gegenstände für die Lutherhalle erworben hätte ; ich antwortete ihm , daß der Polizeipräsident v. Nathusius zu Posen einen sehr alten Folianten geschenkt habe, in welchem die sämtlichen Tischreden Luthers abgedruckt seien. prinz erklärte, daß er leider kaum

Der Kron-

etwas von dieſen ſo berühmten Tiſch-

reden kenne, und ich mußte ihm einige davon mitteilen.

Tief ergriffen

war er von der Art und Weise, wie Luther seine Tischgenossen zu eifrigem Gebet anfeuerte : Luther hörte des Nachbars Hund bellen, geht ans Fenster und sicht, daß der Hund auf sein Bellen hin die Schüssel mit seiner Nahrung vergejezt bekommt ; da sagt Luther zu seinen Gästen : „ Ich wollte, wir wären alle so fleißig beim Beten, wie der Hund beim Bellen, denn das jüngste Gericht ist doch die Schüssel, in der wir einst unser Fressen bekommen sollen. " Der Kronprinz meinte, solche Lutherschen Worte machen doch immer einen gewaltigen Eindruck, namentlich wenn beim Ball die Paare um einen herumtanzen. Bei den Manövern 1883 wohnte der Kronprinz bei uns im Schloß in denselben Räumen, welche der Kaiser 1876 innegehabt, nur mit dem Unterschiede, daß wir alle unsere Möbel und Bilder in den Zimmern stehen und hängen lassen durften.

Von solch einer Fülle der Liebens-

würdigkeit, die ich und alle die Meinigen von seiten des Kronprinzen

Kronprinz (Friedrich III.).

491

erfuhren, kann sich nur der einen Begriff machen, der selbst einmal so etwas erlebt hat. Beim Empfange führten wir ihn durch die einzelnen Zimmer; welche Freude sprach er aus, als er in der Nische seines Schlafzimmers eine Badewanne erblickte.

Wer hat sich denn das ausgedacht ?“,

wandte er sich an meine Frau, „ das ist mir ja ein liebgewordenes Bedürfnis, mich täglich morgens zu baden !"

Als er an das Fenster trat, sah

er in weiter Ferne den Petersberg und sprach sein Bedauern aus, daß er ſeit seiner frühesten Kindheit nicht oben gewesen sei ; er wolle gar zu gern die von meinem Schwager Quast restaurierte romanische Kirche, die ich selbst vor kurzem einer neuen Wiederherstellung hatte unterwerfen müſſen, in Augenschein nehmen. Auf meine Mitteilung, daß ich den ganzen oberen Petersberg schon seit mehreren Jahren mit unerwartet gutem Erfolge aufforsten lasse, rief er vergnügt : „ Solche Aufforstungen liebe ich ganz besonders, die möchte ich sehen !" Er beauftragte mich nun, im Anſchluß an die bevorstehende Enthüllung der Lutherstatue zu Eisleben, zu der er kommen wolle, ein Reiſeprogramm für die Besichtigung des Petersberges ihm zuzusenden, da er ja leider während der Manövertage keinen Tag für sich habe. Die Reise nach Eisleben unterblieb aber, weil der Kronprinz seinen Vater nicht rechtzeitig um Erlaubnis gebeten hatte. In meiner, nunmehr seiner Arbeitsstube hing das Bild meines seligen Vaters . Unvergeßlich wird mir der Eindruck ſein, den dieses Bild auf ihn machte, seine Worte aber waren etwa folgende : „ Da sehe ich ihn wieder, den ich von frühester Jugend ab so hoch verehrt !

Ja, das waren noch

Generale, die die Freiheitskriege mitgekämpft ; was hatten die alles durchgemacht, ehe sie ihre hohe militärische Stellung erreichen konnten. Wie unterscheiden sich die modernen Kriege von den Kriegen 1813-15 durch die furchtbaren Strapazen, die damals von hoch und niedrig ertragen . werden mußten !" Er wollte nun absolut auch sehen, in welchen Stuben wir wohnten, und behauptete, wir hätten uns seinetwegen viel zu sehr eingeschränkt. Er drang nun vor bis in unsere Schlafstube, die sich in dem letzten, sogenannten

Spiegelzimmer" befand.

Dort hing meine Sommerjagdmüße

an der Wand, und er nahm sie herunter und sagte zu meiner Frau : „Ich will doch mal sehen, wie er aussieht, wenn er auf die Hühnerjagd geht ! “ Er behielt nun die Müße auf dem Kopfe und setzte sich neben das Bett meiner Frau. Was habe ich nicht alles in diesem hiſtoriſch-merkwürdigen Zimmer erlebt, als ich hier mit meiner Frau viele Nächte im Jahre 1865 geschlafen habe. " Er ging auch an das Fenster, um von dort aus durch das damals noch unbemalte Chorfenster in den Dom hineinzuschauen. Dort sah er wieder, wie 1865, das Totengerippe des Satans, der unter den Füßen des auferstehenden Heilands an der Spitze des früheren Altars lag, und interessierte sich dafür, wie achtzehn Jahre zuvor. Auch

492

Dreizehnter Abschnitt: Regierungspräsident in Merseburg.

mußten wir ihm von der Akustik erzählen, welche in jenem Winkel des Schlosses es angeblich möglich mache, Worte zu verstehen, die auf der Saalebrücke gesprochen würden ; dieſe Akustik habe vielleicht die alte Sage veranlaßt, daß es in jenem Spiegelzinimer spuke. Tägliche Herzensfreude hatten wir nun in dem Umgange mit ihm; auch er hatte, wie sein Vater, das lebendigste Intereſſe für die heterogensten geistigen Fragen. Namentlich waren es die Abende beim Tee, an denen er eine reizende Gemütlichkeit entfaltete. Lethaft nahm er teil an dem Verlauf der Dinge, welche die Verabschiedung meines Schwagers, des Staatssekretär v. Thile, durch Bismarck herbeigeführt ; ebenso am Tode des einzigen Sohnes dieses meines Schwagers. Meine Frau mußte ihm alles genau erzählen, aber er hörte nicht etwa zu, wie ſonſt hohe Herren zu tun pflegen, sondern zwei Tage darauf kam er wieder zu meiner Frau, um sich von neuem diese beiden schweren Erlebnisse in unserer Familie. Verabschiedung und Tod, in den Einzelheiten erklären zu lassen.

Da hielt

er sich dann die Hand vor die Augen in tiefgefühltester Teilnahme mit den Worten : Wie schrecklich !" - Als ich ihm eines Tages mitteilte, daß dies der Hochzeitstag meines Freundes v. Keudell, des Botschafters in Rom , sei, welcher Fräulein v . Grünhof als zweite Gemahlin heimführe, ließ er sofort Papier und Tinte bringen und schrieb ein längeres Glückwunschtelegramm an Keudell nach Koburg. Eines Abends sagte er mir, daß er den Naumburger Dom, den er nach seiner großartigen Wiederherstellung noch nicht wiedergeſehen hatte, von dem Manövergelände aus , welches zwischen Naumburg und Merjeburg lag, beſehen wolle, aber mit mir allein.

Er wolle bei diesem Kunſt-

genuß nicht gestört sein, und deswegen dürfe niemand darum wiſſen. Als ich aber auf dem Manöverplate mit meinem Wagen anlangte, famen mir schon viele höhere Offiziere entgegen mit der Mitteilung, daß der Kronprinz mit mir nach Naumburg fahren wolle, und daß ich ihn an der nach Süden führenden Straße erwarten solle. Als wir dann vor dem Dom anlangten, standen Hunderte von Herren im Galaanzug und die Geistlichkeit im Talar vor dem Portal. Der Kronprinz sah sich ärgerlich nach mir um und sagte : „Ich wollte doch hier allein sein ! " Nach meiner Antwort, ich könne nicht dafür, ich hätte geschwiegen wie ein Grab, redete er die Erschienenen an, er bedauere, daß sie sich hierher bemüht hätten, er müsse aber bitten, seine Absicht, den Dom allein zu besichtigen, nicht zu stören.

Nun erfolgte die genaueste Besichtigung des Domes in allen

ſeinen wundervollen Einzelheiten .

Als wir vielleicht eine halbe Stunde

damit beschäftigt waren, wies der Kronprinz nach der Seitentüre und gab mir den Auftrag, die große Zahl von Damen, die sich dort eingefunden hatte, um den Kronprinzen zu begrüßen, an dieser Absicht zu verhindern.

An der Spize dieser Schar fand ich eine sehr energisch auf-

Kronprinz (Friedrich III.).

493

tretende Dame, welche mir erklärte, sie hätte vom Manöverfelde her den Auftrag von ihrem Manne, dem Grafen Gneisenau (der damals als Domherr in Naumburg wohnte) erhalten, den Kronprinzen im Dom zu begrüßen, und da hätten sich alle diese Damen ihr angeschlossen.

Ich

konnte nun nicht anders, als den Herrschaften die Frage vorzulegen, die sie selbst entscheiden möchten, ob der Wunsch des Grafen Gneisenau oder der Wunsch des Kronprinzen, im Dom allein zu ſein, maßgebend ſei. Darauf drehten sie langsam und traurig um und verließen den Dom. Ich aber ging zum Kronprinzen zurück, der herzlich lachte, als ich ihn bat : „Kaiserliche Hoheit, geben Sie mir niemals wieder den Auftrag, Damen hinauszuweisen!" Wie war es nun gekommen, daß alle Welt in Naumburg die Ankunft des Kronprinzen erfahren ? Der Kronprinz selbst hatte es auf dem Manöverfelde vielen Offizieren erzählt und hatte den Dombaumeister Werner telegraphisch beauftragt, sich zu der Besichtigung des Domes einzufinden. Bei der Eisenbahnrückfahrt von Naumburg nach Merseburg zum Diner beim Kaiſer war der Kronprinz durch das, was er besichtigt, innerlich gehoben, wie ich denn oft auch sonst beobachtet habe, daß die Beschäftigung mit der Kunst irgendwelcher Art ihm zu der frohesten Stimmung verhalf. So war es auch, als kurz darauf es sich um den Ankauf von zwei Lukas Cranachschen Bildern, welche Luther und Katharina v. Bora darstellen, handelte.

Diese Bilder waren mir von einem katholischen Großgrund-

besizer in Schlesien für die Lutherhalle in Wittenberg angeboten worden. Ich ließ sie nach Berlin kommen, um sie mit Hilfe des Geheimrats Jordan, Direktors der Nationalgalerie, einer Prüfung zu unterwerfen . Sie wurden für echt erkannt, und Herr Jordan war beauftragt, mit mir zum Kronprinzen zu kommen, um ihm die Bilder zu zeigen. Wir fanden uns nun im Palais des Kronprinzen ein, wo der hohe Herr mit großer Spannung uns erwartete. Hier teilte Jordan gleich beim Beginn unseres Gesprächs dem Kronprinzen mit, daß der Kaiser den Wunsch des Kronprinzen nicht genehmigt habe, wonach vor dem damals projektierten Standbilde Luthers an der Marienkirche die beiden Statuen des Kurfürsten von Sachsen, Friedrich des Weisen, und Philipps, Kurfürsten von Hessen, angebracht werden sollten. Der Kaiser schien eben nicht billigen zu wollen, daß gekrönte deutsche Fürsten wie Nebenfiguren unter Luthers große Hauptfigur geſtellt würden. Ich aber habe auf dieſe Mitteilung hin meinen alten Plan nicht weiter verfolgt, auf dem Marktplaße zu Wittenberg, auf dem rechts neben Luther Melanchthon steht, links durch die Statue Friedrichs des Weisen den leeren Raum auszufüllen . Zu der Konferenz hatte der Kronprinz gnädigerweise auch einen Nachkommen Lukas Cranachs, den Gardeleutnant v. Cranach, eingeladen. Das Malerzeichen von Lukas Cranach (beſtehend in einer einmal gewun-

494

Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

denen Schlange und oben auf der Rundung ein Flügel) , intereſſierte den Kronprinzen lebhaft ; er ließ sofort ein Bild, welches über seinem Bette hing, von seiner Großmutter, der Königin Luiſe ſtammte und Luther und Melanchthon mit einem Pelzkragen darstellte, herunterholen und nahm selbst Meißel und Hammer in die Hand, um den breiten Rahmen von dem Vilde zu entfernen , welcher das Malerzeichen von Lukas Cranach in der Ecke des Bildes verdeckt hatte.

Da fand sich nun, daß das Bild unecht

war, wie es der Geheimrat Jordan ſogleich erklärt hatte, denn das Malerzeichen bestand aus einer Schlange mit 3 wei Windungen und auf jeder ein Flügel.

Der Kronprinz war nicht gerade vergnügt über diese Ent-

deckung. Aber ein anderes erregte seine höchste Aufmerksamkeit, daß nämlich die alten Maler, wie Lukas Cranach, so genau porträtierten, daß in dem Augapfel das Spiegelbild des Gegenstandes sich befand, welcher dem Auge beim Malen gegenüber war.

So sahen wir denn zu unserem

Erstaunen in den Augen Luthers und seiner Frau die Spiegelbilder der charakteristischen Fenster inLuthers Wohnſtube zu Wittenberg. -— Schlimm war es, daß der Besißer der Bilder 30 000 Mark für dieselben forderte, während der Geheimrat Jordan sie zu einem Werte von höchſtens 6000 Mark ansprach. Eine kleine nette Epiſode war es noch, daß der Kronprinz, als ich ihm die Unmöglichkeit erklärte, dem Besizer nur ein Fünftel von dem zu bieten, was er fordere ; das könne man ja nicht einmal einem Juden gegenüber beim Pferdehandel wagen, der Kronprinz mir einwarf: „ Was wissen Sie denn vom Pferdehandel ! ", ich ihm aber neckend erwiderte : „Kaiserliche Hoheit, ich glaube, ich habe mehr Pferde in meinem Leben gekauft als Sie ! " Der Kronprinz meinte nämlich, wir könnten wohl die 6000 Mark bieten, da sie für uns erschwinglich seien, wenn er uns helfen wolle.

Der Handel zerschlug ſich.

Nachher erbot sich freilich der Beſizer,

die Bilder der Lutherhalle zu schenken , wenn ihm mit Hilfe des Kronprinzen der Titel eines päpstlichen Grafen, der ihm schon verliehen war, durch den Kaiser bestätigt werde.

Der Kronprinz erklärte mit Recht

durch seinen Adjutanten, daß er auf ein solches Ansinnen nicht eingehen könne.

Da wir schöne Bilder von Luther und seiner Frau in der Luther-

halle besigen, so war der Kronprinz mit uns nicht besonders traurig, daß wir die Bilder bei dem hohen Preise nicht erwerben konnten. Da ich gerade von Bildern spreche, will ich noch erwähnen, daß ich eines Nachmittags vom Dome ins Merseburger Schloß herauffam, wo ein herrliches Orgelfonzert auf der schönen Domorgel zu Ehren der muſikverſtändigen Herren, namentlich des Prinzen Albrecht und des Feldmarschalls Grafen Moltke, stattgefunden hatte. Durch alle Zimmer hindurch sehe ich plöglich, wie der Kronprinz ein großes Bild eigenhändig aus seinem Zimmer heraus in unsere Stuben tragen wollte ; es war das

495

Kaiser Wilhelm I.

schönste Bild des Kronprinzen ſelbſt, von Angeli in Wien gemalt, welches er mit eigenhändiger Widmung unter demselben uns schenken wollte, und welches seitdem eine besondere Zierde unseres Saales ausmacht. Auch an einem alten herrlichen Bild von Bellini in unserer Wohnung , Jesuskinde der Jungfrau Maria mit dem Jesuskinde auf dem Schoß, zwei Engelchen, musizierend auf dem Vildrande, ein Vögelchen auf dem Vorhange hinter dem Thron der Maria, hatte der Kronprinz ein stetes Wohlgefallen .

Sein Kunstsinn war großartig ausgebildet.

Manchmal freilich kritisierte er mir zu scharf.

So kam ich einmal in sein

Palais, nachdem ich kurz zuvor in dem Atelier des berühmten Bildhauers Siemering gewesen und dort an der Fertigstellung der Statue meines Freundes , des Augenarztes Albrecht v. Graefe, mitgewirkt hatte. Siemering hatte damals soeben die Reliefs, die an beiden Seiten der Statue angebracht werden sollten, beendet.

Von der rechten Seite kommen die

Gruppen der Augenkranken zu dem großen Arzte, und auf der linken ſind dieſelben Personen dargestellt, wie sie geheilt von ihm entlaſſen ſind . Nicht nur diese sinnige Idee hatte mich ergriffen, sondern auch der Umstand, daß diese Reliefs mit hellen, lebendigen Farben versehen sind. Der Kronprinz aber, als ich ihm voll Freude davon Mitteilung machte, sagte fast ärgerlich : „Ach was, wenn man so was machen will, dann muß man auch malen können, und das ist doch nicht Siemerings Sache. diesen Versuch durchaus nicht billigen ! "

Ich kann

Siemering sagte mir nachher,

der Kronprinz sei auch in seiner Werkstatt durchaus nicht besonders freundlich gegen ihn gewesen. Doch ich muß zu den Ereignissen im Herbst 1883 zurück. Seine Majestät der Kaiser war inzwischen während der im Merseburger Schloß angelangt ; diesmal ersten Stock, weil der Kronprinz oben bei mir zum Mittagessen und zu Abend eingeladen.

Lutherfeier in Wittenberg aber wohnte er unten im wohnte. Täglich wurde ich Bei einem Galadiner im

Schloßgartensalon von einigen hundert Kuverts hatte mich Perponcher zwischen die beiden militäriſchen Geſandschaftsattachés von England und Spanien gesetzt, sehr liebenswürdige und mitteilsame Herren. Als der Kaiser vom Diner aufſtand und die ganze Gesellschaft sich erhoben hatte, ging er an meinem Plaß vorbei, blieb aber stehen und fragte mich leise : "Wo sind wir eigentlich hier ?" Ich erklärte ihm nun, daß wir uns in dem von August dem Starken erbauten "" Gartensalon " befänden und gerade vor der Theaterbühne ständen, auf dem morgen abend ihm ein Lustspiel vorgeführt werden solle. Der Kaiser fragte nun weiter : Wo schlafe ich jetzt eigentlich ?" Ich sagte ihm: In dem oberen Teile der früheren bischöflichen Kapelle und zwar gleich hinter der schönen Statue des Königs David. " Er befahl mir, daß ich ihm dieſe am anderen Morgen zeigen sollte. Die ganze Tischgesellschaft war sehr erstaunt über dies lange

496

Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräſident in Merseburg.

Geſpräch, namentlich aber meine beiden Tischnachbarn.

Dem Spanier

sagte ich neckend, daß das Gespräch höchst wichtig gewesen sei, ich könne ihm aber davon nichts verraten. Am andern Morgen war ich, wie täglich, an dem Portal des Schlosses, von wo der Kaiser zu den Manövern abfuhr. Er stand nun lange finnend vor der Statue Davids . Sehr intereſſant waren ihm die Buchstaben unter Davids Statue ; ich hatte sie in umgefehrter Stellung vorgefunden, ſo daß ſie niemand hatte entziffern können ; es hatte Mühe gekostet, sie wieder gerade zu stellen. Es sind folgende Buchstaben : D. D. D. m. s . t. a. d. m. (Dixit Dominus Domino meo sede te ad dextram meam : Es sprach der Herr zu meinem Herrn, setze dich zu meiner Rechten .) Wie gefiel dem hohen Herrn diese Inschrift, die aus dem Psalm 110 Vers 1 entlehnt ist und die wunderbare Weissagung Davids auf Christum, als seinen Herrn, enthält (siehe auch Matth. 22 Vers 44) .

Seitdem ist der Kaiser täglich, bei seiner Abfahrt

wie bei seiner Rückkehr, vor stehengeblieben.

diesem Davidsmonument stillschweigend

Ein Photograph aus Naumburg bat mich dringend, ich möge es doch bewerkstelligen, daß er den Kaiser unter dem wunderschönen Hauptportale des Schloßhofes photographieren dürfe. Ich fragte Graf Perponcher, ob ich den Kaiser darum bitten dürfe. Um Gotteswillen nicht ", antwortete er,

der Kaiser hat solche Bitten immer abgeschlagen

darum streng verboten !"

und

Ich bat also nicht und fragte nur den Kron-

prinzen, ob er Lust dazu habe.

Er erklärte sich gleich bereit und

stand am andern Morgen in dem Portal, der Photograph mit seinem Apparat vor ihm. Eine Stunde darauf fuhr der Kaiser zum Manöver ab ; er fragte mich, ob ich noch etwas zu melden hätte, und da ſagte ich ihm , daß der Kronprinz sich eben habe photographieren laſſen . „Nun, da muß ich wohl auch antreten ?" und richtig, am andern Morgen stand auch er unter dem Portal.

Vor Beginn der Aufnahme strich er sich noch das

Haar zurecht und zupfte an seinem überrock, damit keine Falten darin seien. Leider ist sein Bild lange nicht so gut geraten, als das des Kronprinzen, weil er den Kopf nicht ganz stillgehalten.

Der Kaiser wollte

sofort wissen, wie das Bild ausgefallen, und ich mußte ihm erklären, wie aus dem negativen Bilde erst ein positives gemacht werden müſſe. Eines Sonntags morgens während des Aufenthalts des Kaisers im Schloß - (dieser hatte eine Einladung der Stadt Halle angenommen, wo große Vorbereitungen zu dem Empfange getroffen waren; auch sollte die Kapelle mitten in den mediziniſchen Univerſitätskliniken eingeweiht werden) erhielt ich vom Kronprinzen plöglich den Befehl, sofort so, wie ich sei, zu ihm zu kommen. Er war außer sich, daß er eben vernommen habe, der Arzt Dr. Leuthold habe dem Kaiser die Fahrt nach Halle verboten, und er solle nun den Kaiser vertreten, was er bei so festlichen Ge

Kaiser Wilhelm I.

legenheiten gar nicht könne.

497

Ich solle doch gleich zum Kaiſer hinunter-

gehen und ihm das auseinandersezen.

Wie auffallend würde es sein,

wenn die Hunderttausende, die in Halle den Kaiser zu sehen wünschten, erfahren würden, daß der Kaiſer am Sonnabend zu den Manövern, welche doch vielmehr Kraftanstrengung erforderten, herausgefahren sei und am folgenden Tage wieder herausfahren würde.

Der Kaiser wiederholte

mir, daß er doch dem Verbote des Arztes folgen müſſe, und erließ sofort folgende gnädige Kabinettsorder an den Oberbürgermeister von Halle : „Als die Einladung an Mich erging, bei Gelegenheit Meiner Anwesenheit in der Provinz Sachsen auch der Stadt Halle Meinen Besuch zu machen, war Ich von der Überzeugung durchdrungen, daß der Wunsch der Bürgerschaft, Mich persönlich zu begrüßen, aus den aufrichtigsten Gefühlen der Loyalität und Anhänglichkeit hervorging.

Um ſo angenehmer

war Mir der Gedanke, dieser Einladung Folge zu geben, als es Mir während der Zeit Meiner Regierung bisher nicht vergönnt gewesen war, in den Mauern der Stadt zu weilen und an dem kräftigen Aufblühen der lezteren Mich zu erfreuen.

Zu Meiner tiefsten Betrübnis habe Ich

Mich nun aber, inmitten der Anstrengungen dieſer bewegten Tage, auf den dringenden Rat der Ärzte noch in der letzten Stunde, allerdings nicht leichten Herzens, entschließen müſſen, diese längst und gern gehegte Absicht aufzugeben und Meinen Sohn, des Kronprinzen Kaiserliche und Königliche Hoheit, mit Meiner Vertretung zu beauftragen.

Aus seinem

Berichte vernehme Ich zu Meiner größten Genugtuung, daß die Vorbereitungen, welche zu Meinem festlichen Empfange getroffen waren, troß der Kürze des in Aussicht genommenen Aufenthalts über alle Erwartungen großartige waren.

Der Schmuck der Straßen und Pläge war nach der

Mir gewordenen Schilderung ein ſo reicher und mannigfaltiger, die Teilnahme, zu welcher sich alle Stände und Schichten der Bevölkerung vereinigten, eine so lebhafte, daß Ich es auf das schmerzlichste bedauere, nicht selbst Zeuge dieser begeisterten Huldigungen haben sein zu können. Immerhin bin Ich von dem wahrhaft glänzenden Empfange, wie er Mir zugedacht war, von den beredten Beweisen der Liebe und Verehrung, wie fie Mir entgegengebracht werden sollten, in Meinem landesväterlichen Herzen ungemein wohltuend berührt ; Ich kann es mir nicht versagen, Meinen herzlichsten und wärmsten Dank dafür auszusprechen mit der Versicherung, daß Ich das nachhaltige Gedeihen Meiner getreuen Stadt Halle auch ferner, wie bisher, mit Meinem aufrichtigſten Wohlwollen begleiten werde. Merseburg , den 16. September 1883. Wilhelm." v. Diest, Lebenslauf eines Glücklichen.

32

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

Bei der Abreise des Kaisers von Merseburg nach Erfurt, die um halb neun Uhr morgens mit einem Ertrazug erfolgen sollte, war die ganze Umgebung des Kaisers bereits längst nach dem Bahnhof gefahren, der Kaiser kam aber nicht aus seinem Zimmer. Als es schon 349 geworden war, fand ich den Flügeladjutanten und einen Lakaien im Vorzimmer, die mir ſagten, daß der Kaiſer von ihnen schon an den Aufbruch erinnert worden, daß er aber mit Schreiben noch beschäftigt ſei. Die Thüringer Bahn war gerade an dem Tage, wie immer am Schluß von Manövern, stark mit Zügen und Ertrazügen bejezt, und es quälte mich die Sorge, daß dem Kaiser ein Unglück zustoßen könne, wenn sein Extrazug so unpünktlich abführe. Ich ließ mich daher bei ihm melden. Er ſaß ruhig am Schreibtisch, und auf meine Worte, es sei die allerhöchste Zeit, sagte er nach der Uhr auf seinem Schreibtisch ſehend —: „Ich soll ja doch erſt um 9 Uhr fahren, und es iſt ja eben erst 4 vorbei ? “ „Nein, Majeſtät “, erwiderte ich, der Zug sollte um 129 Uhr abgehen ! " Da erhob er sich ; ich half ihm noch mit dem Kammerdiener den guten Waffenrock anziehen, denn er trug einen schlechteren überrock im Arbeitszimmer, und er ging nun langsam die Wendeltreppe herab. An dem Portal warteten bereits lange meine Frau und meine Kinder, um ihm Abschiedssträuße zu überreichen ; er blieb stehen mit den Worten : „Ei, sieh da, Frau v. Dieſt und die jungen Damen ! " Ich stand immer hinter ihm mit den wiederholten Worten : Majestät, es ist die höchste Zeit ! " Zwischen Portal und Wagen stand er aber wieder still vor dem König David und fragte mich : „Wo haben Sie denn die schönen Möbel her ?" Nach meiner kurzen Antwort ging er endlich an den Wagen, aber stieg doch noch nicht ein, sondern beugte sich auf meine Brust herunter und besah sich meine Orden. Ich besorgte, er würde da etwas nicht ganz in Ordnung finden, er aber hob den Kopf wieder in die Höhe und sagte die launigen Worte : „ Das Firmament entwickelt sich!" Ich hatte nämlich außer den beiden Sternen, die ich schon besaß, einige Tage vorher den Kronen-Orden 2. Klasse mit dem Stern von ihm erhalten. Nun fuhr ich im scharfen Tempo dem Kaiſer vorauf nach dem Bahnhof. Dort stand schon in ängstlicher Spannung die ganze Umgebung des Kaisers. Viele hatten gefürchtet, daß dem Kaiser etwas zugestoßen, und Perponcher fragte mich ärgerlich : „ Sie haben den Kaiser nochmals photographieren lassen, weil das erste Bild nicht geraten?" Ich antwortete ihm natürlich, daß ich Gott dankte, den Kaiser aus seinem Zimmer herausgeholt zu haben. Nach 9 Uhr ging der Zug erst ab, und die Fahrt nach Erfurt verlief ohne Unfall . Die Festlichkeiten, die dem Kaiſer in Erfurt bereitet, waren wunderbar schön, namentlich habe ich eine solche Fülle von Blumen nie geſehen, wie fie bei der Durchfahrt durch die Stadt bis zum Dom und vom Dom bis zum Rathaus auf den Straßen ausgestreut waren.

Eine großartige

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Prinz Wilhelm (Kaiser Wilhelm II.).

Begeisterung herrschte allüberall, und das Diner in dem herrlichen Rathaussaal mit seinen schönen Freskobildern, wo der Kaiser die wärmste Anrede an den Oberbürgermeister, Geheimrat Breslau, richtete, und dieſer sehr gut antwortete, verlief glänzend. Auch der junge Prinz Wilhelm (unjer jeßiger Kaiser) wohnte in jenen denkwürdigen Tagen beim Landesdirektor Grafen Winzingerode im Ständehaus . Nach einem kleinen Diner, an dem ich teilgenommen, und nachdem sich alle anderen Teilnehmer einschließlich unseres Wirtes in Dienstgeschäften hatten entfernen müſſen, hatte ich ein langes Gespräch mit dem Prinzen unter vier Augen. Ich erhielt dabei einen Einblick in die bedeutende Urteilskraft, die großartige Belesenheit und den tief empfundenen Kunſtſinn des damals erſt 24jährigen jungen Herrn . Unter anderm kamen wir auf die Ausstellung der Wereſchaginſchen Bilder zu sprechen, die damals eben in Berlin stattgehabt. Auch er war ergriffen von der historischen und der künstlerischen Bedeutung dieser Bilder ; er hob hervor, daß sein Urteil über diese Bilder, wie namentlich auch über die Malweise einiger größerer von ihnen, ganz abweiche von dem Urteil der Frau Kronprinzessin“, so nannte er seine Mutter im Laufe des Gesprächs wiederholt, während er vom Kronprinzen stets als von "seinem Vater" sprach.

Er sprach dann des längeren über die neue russische Literatur und fragte mich u. a., ob ich Turgenieff gelesen. Auf meine Antwort, daß ich nur zwei Werke, nämlich „Väter und Söhne“ und „Rauch" gelesen, daß ich aber von dieser Lektüre in eine ganz krankhafte

Stimmung geraten, weil alle Verhältnisse in Rußland grau in grau gemalt, alle Ruſſen, als jeglicher Liebe entbehrend, geschildert seien und weil dies unmöglich der Wahrheit entsprechen könne, da erklärte mir der Prinz, er habe alle Schriften Turgenieffs gelesen und es sei alles Wahrheit. Ich warf ihm ein, daß er doch selbst kaum in Rußland gewesen, er aber erwiderte, daß er sich fortwährend genaue Berichte erstatten lasse. Dies Gespräch machte mich sehr glücklich, und ich konnte, zu Hause angekommen, den Meinigen sagen, wie der liebe Gott es gut mit uns Preußen und Deutschen meine, daß ein solcher Mann künftig Deutscher Kaiser werden solle. Übrigens zog sich der Prinz in Merseburg eine Verlegung am Knic zu, die ihn verhinderte, sich in dem schönen Schloßportal, wie es sein Großvater und Vater getan, photographieren zu laſſen , was er wohl gewünscht hatte. Der Prinz Albrecht Sohn weilte damals ebenfalls in Merseburg . Ich hatte ihn in seiner großen Liebenswürdigkeit schon früher kennen gelernt ; zweierlei hatte uns näher geführt : äußerlich der Umstand, daß ich mit ihm dieselbe Uniform des 2. Dragoner-Regiments trug, innerlich, daß er ein großer Muſikfreund, vortrefflicher Klavierspieler, ja en tüch-

32*

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Dreizehnter Abſchnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

tiger Kenner der klaſſiſchen Musik von jeher gewesen. Leider habe ich niemals mit ihm musizieren können, weil er einen sehr tüchtigen Celliſten an dem Dr. Schaper zum steten Mitspieler hatte. Bei einer kleinen Abendgesellschaft 1883 bat ich ihn, doch etwas von Bach oder Beethoven auf meinem Flügel vorzuspielen ; er lehnte es aber ab und klagte, daß er vollständig außer übung sei.

Zulegt wurde ich von ihm in Sonnen-

burg zum Rechtsritter des Johanniterordens geschlagen. Durch die hohe Würde, mit welcher er diese Zeremonie vor dem Altar der Kirche leitete, gab er derselben einen sehr feierlichen Charakter, obwohl er doch hinter einander wohl hundertmal mit dem Schwerte des Hochmeisters dem vor ihm knieenden Ritter den Rücken berühren und dabei die Worte sprechen mußte: " Besser Ritter, als Knecht ! " Endlich muß ich noch der Anwesenheit des Grafen Moltke in Merſeburg Erwähnung tun. Sein Lieblingsplaß, wenn er sich auf dem Schloſie befand, war unser Balkon, auf welchem er, gemütlich rauchend, die weite Aussicht betrachtete ; es war ihm lieb, daß ich ihm von da aus alle die vielen Felder hiſtoriſch denkwürdiger Schlachten genau zeigen konnte, welche man von diesem Balkon aus wahrnehmen kann. übrigens hatte ich Moltke im Frühjahr desselben Jahres auf meiner italienischen Reise unverhofft in Genua wiedergeſehen. Er ging im einfachsten Zivilanzuge durch die dortigen Straßen, und niemand wußte von seiner Anwesenheit dort. Gleich nach den Merseburger Kaiserfesten erfolgte die Enthüllung des Nationaldenkmals auf dem Niederwald, zu welcher ich eine Einladung erhalten hatte, weil ich von vornherein bei der Frage, wo und wie ein solches Denkmal zu errichten jei, mitgewirkt hatte.

Ich selbst hatte den

Plan gehabt, auf dem Loreleifelsen, welcher ein wundervolles Poſtament für ein Siegesdenkmal abgegeben hätte, eine Kolossalstatue der Germania zu errichten. Der mir befreundete und bedeutende Bildhauer Drake hatte die Kosten dafür auf nicht ganz 100 000 Mark veranschlagt . Bei einer Vorberatung von Mitgliedern des Reichstags fand meine Idee vielfach Beifall ; namentlich war Moltke gegen die Errichtung eines Denkinals auf dem Niederwald, weil das Denkmal dort zu hoch stehen würde, um von unten gut gesehen zu werden, und weil der Berg in seiner Breite dem Eindruck des Denkmals Abbruch tun würde. Diese beiden Befürchtungen Moltkes sind auch tatsächlich eingetreten . Ich hob in jener Vorberatung besonders hervor, daß die Kosten für das Denkmal auf dem Niederwald schwerlich durch freiwillige Beiträge aufgebracht werden würden . Auch diese Befürchtung ist in Erfüllung gegangen, denn, obwohl jahrelang gesammelt wurde, ist das Denkmal doch nur dadurch zustande gekommen, daß unser lieber Kaiser an der Grundsteinlegung teilnahm und daß dadurch eine bedeutende Staatsbeihilfe gesichert wurde.

In jener Vor-

Enthüllung des Niederwald-Denkmals.

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beratung stimmten etwa drei Fünftel der Anwesenden für das Denkmal auf dem Niederwald und etwa zwei Fünftel für das auf dem Loreleifelsen. Bei der Enthüllungsfeier eröffneten Ihre Majeſtäten der Kaiſer und die Kaiſerin in ihrem Wagen die lange Reihe der Equipagen, welche zum Denkmal herauffuhren. Einer dieser Wagen, etwa der zehnte, war dem

Reichstagspräsidenten Simson, dem Reichstagsabgeordneten Dr. Köster und mir angewiesen. Es war eine enorme Menge von Hono

ratioren aus ganz Deutschland anwesend ; das Kaiserpaar nahm zwei Stühle vor einem Zelte ein, in welchem die Fürſtlichkeiten Deutſchlands sich aufgestellt hatten. Geradezu unzählbar war die Menge der aktiven und inaktiven Generale, die rechts vom Kaiserpaar, je drei und drei, nach ihrem Dienſtalter aufgestellt waren, an der Spite der Feldmarschall Graf Moltke. Es war ein feierlicher Augenblick, als der Kaiſer zu einer längeren Rede sich erhob ; die Tränen rollten ihm dabei über die Wangen. Leider krachten die Kanonen von allen Seiten auf den gegenüberliegenden Bergen mitten in die Rede des Kaisers hinein, und dieser wurde durch das Schießen sichtlich überrascht. Es war ein Versehen, weil die Kanonen erst bei dem Fallen der Hülle des Denkmals losgeschossen werden sollten. Aber wie herrlich war es , daß durch Gottes Gnade das Kaiserpaar und alle die andern in ihrer nächsten Nähe nicht ums Leben gekommen sind. Es war auch fast wie ein Zufall, daß das geplante Attentat nicht zur Ausführung gelangte ; erst einige Zeit nachher wurde die Zündschnur gefunden, die unter dem Fahrwege, nicht weit von dem Denkmalsplak, zu einem Dynamitlager führte.

Die drei Verschworenen sind ja dann er-

mittelt und zwei von ihnen im Hofe des Zuchthauses zu Halle hingerichtet worden. Es wurde nachher genau festgestellt, daß die Explosion des Dynamits schwerlich gerade unter dem Wagen des Kaisers erfolgt wäre, wenn die Zündschnur auch weitergebrannt hätte, sondern etwa unter dem Wagen, in welchem ich mit den beiden andern Herren saß. Nach der Feier gab der Kaiser für eine Menge von Festgästen ein großes Diner im Wiesbadener Schloß.

Mit einer Tischkarte, die ich schon früh für das Mittag-

essen in Rüdesheim gelöst hatte, konnte ich noch meinen Vetter, den berühmten Maler Wilhelm Camphausen ( der nicht lange darauf starb) , glücklich machen. Am Schluß der Enthüllungsfeier wurde von der großen Verſammlung das ganze Lied Heil dir im Siegerkranz " durchgejungen. Der Kronprinz, nicht weit von mir stehend, sah mir auf die Lippen und kam danach mit der Frage zu mir : „Können Sie das ganze Lied auswendig ?" Als ich erwiderte, ich könnte nur ein paar Verse, lachte er : „ Das habe ich Ihnen angemerkt, wer kann auch solch törichte Worte auswendig behalten -Handlung und Wiſſenſchaft — solchen unpoetischen Unsinn !" Ebenso war er bei derselben Gelegenheit sehr eigenartig, als ich ihm unten bei der

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

Festhalle am Rhein einige Ehrenjungfrauen auf ihre Bitten vorſtellen wollte. "1 Aber, Diest, lassen Sie doch die jungen Damen mit mir zufrieden, die gehen uns ja alle nichts an, denn sie sind ja alle aus Mainz !" Natürlich gewann er jojort die Herzen der schönen Mädchen .

Solche

rührend harmlosen Scherze haben den Umgang mit dem teueren Kronprinzen ganz besonders erheitert. Bald darauf hat mir meine Schwester die Lehnsessel geschenkt, auf welchen Kaiser und Kaiserin bei der Enthüllungsfeier geſeſſen, und welche seitdem meine Wohnung schmücken . Am 10. November 1883 fand nun ferner die Enthüllung der Lutherstatue in Eisleben statt, welche der Bildhauer Siemering gefertigt hatte. Man hatte mich zum Ehrenpräsidenten des betreffenden Komitees gewählt, und ich hatte manche Rücksprache mit dem liebenswürdigen Künstler über meinen Plan für diese Statue. An der Stelle, welche die Statue auf dem Marktplay von Eisleben einnehmen sollte, ſtand ein Brunnen mit vortrefflichem Wasser, und ich war der Meinung, daß man diejes Wasser aus dem Poſtament der Statue herausfließen lassen könne und über dem Ausfluß die Worte Joh. 7, 38 zu schreiben habe :

Wer an mich

glaubet, von dess' Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen !" Siemering stimmte dieſem Plane nicht zu, sondern brachte an die Seiten des Postaments schöne Reliefs aus Luthers Leben an. Bei der Enthüllungsfeier mußte ich die Rede an Stelle des erkrankten Oberpräsidenten halten, nachdem der Oberhofprediger Kögel im Lapidarstil die ergreifendsten Worte zur Weihe des Denkmals gesprochen hatte. Bei dem Feſteſſen bat ich wiederum , wie damals in Lügen, meinen Tischnachbar Frommel, einen Trinkspruch auf die Damen auszubringen ; in seiner Lebendigkeit bestieg er seinen Stuhl, um sich der großen Versammlung von vielen Hunderten besser verständlich zu machen, und namentlich auch den Damen, welche auf den Galerien des Saales ſich eingefunden hatten. Welch ein Beifall erdröhnte, als Frommel in seiner Rede etwa die Worte ſprach : „Ja, meine Damen und Herren, wie müssen wir es dem lieben Papſt in Rom von Herzen wünschen, daß er eine Frau hätte ; wie schnell würde Das Festkomitee machte

er dann von seiner Unfehlbarkeit geheilt sein. "

mir eine höchst gelungene, große Nachbildung der Eislebener Lutherstatue zum Geschenk, welche eine besondere Zierde meiner Wohnung ausmacht. Noch eine herrliche Feier durfte ich am 13. Dezember 1883 mit erleben, als die Arbeiterkolonie in Seyda eröffnet und eingeweiht wurde. Es hat mir eine Arbeit von Jahr und Tag gekostet, ehe ich diese Kolonie zustande brachte ; der Vater des Gedankens war natürlich der liebe Vodelschwingh, welcher mir, als ich ihm einwendete, daß ich niemand wiſſe, der sein Beispiel (mit der Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf) in der Provinz Sachsen ausführen könne, zurief : „ Du bist der Mann ! "

Ich entschloß

Arbeiterkolonie Seyda.

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mich nun, eine große Versammlung der bedeutendsten Männer der Provinz nach Halle hin einzuladen, und weit über hundert Herren folgten dieser Einladung.

Alle waren mit dem Ziele einverstanden, aber ebenso

alle im Zweifel, wie das Geld zu beschaffen sei .

Da erhob sich der Fabrik-

besizer Dehne (jeziger Geheime Kommerzienrat) und erbot sich zu einem Geschenk von 30 000 Mark.

Welche Freude in der ganzen Versammlung !

Sofort konnte nun mit dem Bau der erforderlichen Häuſer auf den vom Fiskus gepachteten Moorländereien vorgegangen werden. Ich verdanke es nur dem Oberforstmeister Müller, daß er dieses 600 Morgen große Grundstück ausfindig gemacht hat, denn es wäre kaum möglich gewesen, ein geeigneteres, durch die Koloniſten zu kultivierendes Moor in der ganzen Provinz zu finden. Welch ein Segen hat seitdem auf dieſer Anstalt geruht !

über 7000 arbeitslose Wanderer, welche faſt alle in

völliger Verwahrlosung die Hilfe der Kolonie in Anspruch genommen haben und die bis dahin nur ein Vagabundenleben ohne Arbeit, aber mit viel Branntwein geführt hatten, sind dort zu strammer Arbeit ohne einen Tropfen Branntwein angehalten worden.

Die 600 Morgen Moor

sind nach dem Rimpauschen Verfahren zu Äckern und einige auch zu Wiesen umgewandelt worden, so daß wir jezt eine jährliche Ernte im Betrag von rund 40 000 Mark von Ländereien haben, für welche wir nur rund 1000 Mark Pacht an den Fiskus bezahlen.

Ein vortreff-

licher geistlicher Inspektor in der Person des Pfarrers Cremer steht an der Spiße der Anſtalt * ) , der Hausvater aber und die mithelfenden Brüder sind aus dem Brüderhauſe von Neinstedt abgesandt worden.

Alljährlich

wird eine Sigung des Vorstandes in Halle sowie eine Generalversammlung des

Vereins zur Unterstüßung brotloser Arbeiter " in Wittenberg

abgehalten und dann eine Lokalbesichtigung unserer Kolonie und unserer Ländereien vorgenommen.

Freilich macht die Beschaffung der alljährlich

erforderlichen Geldsummen oft viele Schwierigkeiten, denn die Kolonie bedarf jährlich über 50 000 Mark und kann unmöglich aus den Erträgnissen der Landwirtschaft allein ihr Leben fristen. Aber Gott der Herr hat auch hier wieder über Bitten und Verstehen geholfen und wird uns gewiß auch weiter helfen ! Wie oft ist unsere Kolonie von Ministern und Oberpräsidenten, von dem deutschen Verein für Moorkulturen und vielen anderen besichtigt worden, und wie groß war immer das Erstaunen, nicht nur von unseren Erfolgen in der Landwirtschaft, sondern namentlich darüber, daß seit dem Bestehen der Kolonie kein einziger Erzeß vorgekommen ist, obwohl doch viele der Koloniſten in ihrem früheren zuchtlosen Leben die Straf- und die Korrigendenanstalten bevölkert haben. Die Ordnung wird wahrlich nur dadurch aufrecht erhalten, daß die Koloniſten zum ersten Male einen Begriff von der christlichen Liebe und Barmherzigkeit erhalten, welche an *) Starb leider im Dezember 1902.

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

ihnen in der Kolonie Seyda geübt wird .

Würden Gendarmen oder

Polizisten die Koloniſten in Ordnung halten, so wäre gewiß schon mancher Erzeß vorgekommen. Auch der Kronprinz und unser alter Kaiser haben das lebhafteſte Interesse an dem Aufblühen unserer Kolonie genommen. Seine Majeſtät Als ich ließ sich einmal mündlichen Vortrag über Seyda halten. ihm mitgeteilt, daß unsere Ernteerträge sich so gehoben hätten, daß wir von manchem Morgen Moorland, der früher höchstens nur 50 Pfennige Pacht eintrug, jegt eine Ernte im Werte von 60 Mark und darüber einheimsten, erklärte der hohe Herr, daß er gar zu gern selbst eine Besich tigung unserer Anstalt vornehmen wolle, und ich mußte mit ihm genau die Möglichkeit erwägen, wie er, vielleicht bei einer Reise nach BadenBaden, in wenigen Stunden von Jüterbog und Lindau aus nach Seyda und dann von da nach Zahna oder Wittenberg zurückreisen könne. Leider ist dieser von Seiner Majestät sofort gebilligte Plan nicht zur Ausführung gekommen. Auf dem Bahnhof zu Wittenberg beehrte mich der Kaiser mehrmals mit längeren Unterhaltungen, weil er dort bei seinen Rückreisen von Gastein nach durchfahrener Nacht das erste Frühſtück einnahm ; er war dabei immer wunderbar friſch und aufgelegt, alle möglichen Fragen zu besprechen ; zweimal konnte ich dort zu ſeinem Spaß als „Herr der Ratten und der Mäuse" auftreten : das eine Mal brachte ich ihm Heuschrecken in einem Glase mit, die ich auf dem Manöverfelde von vier Kavallerie-Regimentern auf den Sanddünen dicht bei Wittenberg gefangen hatte; dort waren die Heuschrecken in großen Mengen aufgetreten und fraßen vor den Augen des Kaiſers mit Gier die Halme, die ich ihnen in das Glas gesteckt hatte. Das zweite Mal aber waren es drei Koloradofäfer, die ich von einem Kartoffelfelde bei Torgau am Tage vorher entnommen hatte.

Dieses gefährliche Insekt war zum ersten Male aus

Amerika, wo es so furchtbaren Schaden an den Kartoffeln angerichtet hatte, in Europa erschienen. Zwei Amerikaner, die mir der General v. Blumenthal auf dem Wittenberger Bahnhofe als Sachkundige vorstellte, erkannten sie als die echten Koloradokäfer.

Der Kaiser hat sie sehr genau

betrachtet und konnte sich nicht genug von ihrer furchtbaren Schädlichkeit und von den erfolgreichen Vertilgungsmaßregeln gegen diese Insekten erzählen lassen. Dort in Wittenberg war es auch, wo der Kaiſer mich wiederum, wie schon früher öfter, väterlich ermahnte, ich solle meinen Schwager, den Divisionskommandeur v. Thile in Hannover, davon abhalten, seinen Abschied zu nehmen. Ebenso hatte auch der Chef des Militärkabinetts , General v. Albedyll, dasselbe Verlangen an mich gestellt, indem er be merkte, daß er Hunderten von Offizieren zum Abschied verhelfen müſſe, dagegen gerade den einen, den er gern festhalten wolle, nicht zum Bleiben

Meine silberne Hochzeit.

im Dienst bewegen könne.

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Der Kaiser legte, als er mir jenen Auftrag

erteilte, schließlich seinen Stock an meinen Hals mit den Worten : „Wenn Sie Ihren Schwager nicht im Dienſte festhalten, jo kriegen Sie es mit mir zu tun! " Leider half dies alles bei meinem Schwager nichts ; er nahm seinen Abschied, weil er nahe daran war, kommandierender General zu werden, und glaubte, nicht mehr völlig dienstfähig zu sein. Am 3. März 1884 feierte ich mit meiner lieben Frau das Feſt unſerer silbernen Hochzeit. Unsere Geschwister alle und eine große Zahl von Verwandten und Freunden kehrten in unserem schönen Schloß ein und feierten mit uns.

Alle Mitglieder und Beamten der Regierung, das Offi-

zierforps des 12. Husaren-Regiments, sowie viele Mitglieder des gerade versammelten Provinziallandtags, erschienen mit ihren Glückwünschen. Ein Fackelzug und Ständchen wurden uns gebracht, und reizende, zu diesem Tage gedichtete Festspiele, sowie lebende Bilder wurden aufgeführt. Besonders schön gelungen war das nach Knaus' goldener Hochzeit gestellte Bild, in welchem meine selige Schwester Marie v . Quast und mein seliger Schwager Hugo v. Thile das goldene Jubelpaar wirkungsvoll darstellten.

Die allerschönste Nachfeier unserer silbernen Hochzeit war

die Verlobung meiner Tochter Else mit unserem Neffen und Weglarer Pflegejohn Siegfried v. Quast, deren Hochzeit dann am Tage von Königgräß, am 3. Juli, desselben Jahres bei uns gefeiert wurde.

Der Bräuti-

gam wurde als Landrat des großen Ruppiner Kreiſes über alle Beſchreibung verehrt und geliebt, und alle unsere Hochzeitsgäste waren erstaunt über die vielen Hunderte von Glückwunschtelegrammen, welche allein aus dem Kreise Ruppin am Hochzeitstage anlangten. Nicht lange nach unserer silbernen Hochzeit begrüßte ich den Kronprinzen bei seiner Durchreise auf dem Merseburger Bahnhof.

Er reichte

mir die Hand aus dem Bahnzug heraus mit der Frage : Was macht der Versilberte ?" Ich wußte nicht, was er damit meinte, und glaubte zunächst, daß er gehört habe, daß ein kleiner versilberter Bischofsstab bei der Restauration des Domes dicht unter dem vorderen Altar gefunden worden war.

Er aber wußte davon nichts, sondern hatte nur die silberne

Hochzeit gemeint, die ich kurz vorher gefeiert hatte. Bei seiner Reise nach Spanien fuhr ich dem Kronprinzen bis Halle entgegen und hatte von Halle bis Merseburg ein lebhaftes Gespräch mit ihm. Gleich bei seiner Ankunft auf dem Halleschen Bahnhof rief er mir aus dem Zuge entgegen : „Diest, wie komme ich Ihnen jezt vor ? " Er wollte die Antwort, die ich ihm gab, haben : „ Spanisch" ; lachend über seinen Wit, rief er laut : „ Ach, Sie erraten doch alles ! " und fuhr fort : „Jezt sehen Sie wohl, warum ich nicht habe nach Eisleben kommen können; es ist mir spanisch genug vorgekommen, daß ich mich statt deſſen auf das Erlernen von etwas Spanisch habe einlassen müſſen !" Ich hatte

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg .

nämlich kurze Zeit vorher auf Befehl des Kronprinzen ein Programm für seine Reise von Eisleben aus zur Besichtigung der Werke der Mans felder Bergbaugesellschaft und zum Petersberge ausarbeiten müſſen, und diese Reise war plöglich telegraphisch abgesagt worden.

Er forderte mich

freundlichst und ganz ernsthaft auf, doch mit ihm nach Spanien zu reijen, ich könnte ihm ja nachkommen ; das ging nun leider nicht ! - Bei dieser Fahrt erkundigte er sich u. a. nach einer ihn von seiner Jugend her intereſſierenden Dame in Merseburg, und als ich ihm ſagte, daß ich sie erſt vor einigen Tagen in einem Konzert gesprochen, das der große Pianist Hans v. Bülow gegeben, da lachte er laut auf und rief : „ So weit ist Hans v. Bülow heruntergekommen, daß er schon in den kleinsten Städten Konzerte gibt ?" Ich mußte ihm darauf von unserem Muſikleben in Merseburg erzählen, an welchem die größten Künstler seit Jahren teilgenommen hätten. Wie glücklich ist des Kronprinzen Reise in Spanien verlaufen, und wie war er selbst voller Freude über die vielen Kunstwerke der Architektur und der Malerei, welche er dort gesehen.

Erwähnen möchte ich hier, daß

der Kronprinz besonders darauf aus war, alte Bilder oder Schnißwerke von Verunstaltungen zu befreien.

So hatte er z . B. im Dom zu Merje-

burg seinen Ärger darüber ausgclaſſen, daß die Holzschnitzereien der Kanzel und der Chorstühle aus dem 15. Jahrhundert in dem kunſtlojen 18. Jahrhundert dick mit weißer Kalffarbe überstrichen worden waren, und verlangte nach Soda, um damit selbst zu zeigen, wie man diese weiße Tünche wieder entfernen müſſe.

Auch im Schloſſe zu Rheinsberg ſind die

alten mit Malereien versehenen Tapeten mit grüner Farbe überſtrichen ; kurz, ehe ich nach Rheinsberg kam, hatte sich der Kronprinz, unterſtüßt von zweien seiner Söhne, lange und große Mühe gegeben, die grüne Farbe wieder zu entfernen.

In dem ganz öde gelaſſenen, hiſtoriſch ſo denkwür-

digen Schlosse zu Rheinsberg fand ich übrigens auf einem Kaminſims die Marmorbüste einer Schwester Friedrichs des Großen ; ich ließ die Büste photographieren und schickte das Bild dem Kronprinzen, erhielt aber dafür keinen Dank, und der Adjutant sagte mir später, der Kronprinz habe eine besondere Aversion gegen dieſe Urgroßtante gehabt. Die Generalsynode führte mich wieder im Oktober 1885 auf einige Wochen nach Verlin. Welch eine innerlich vornehme Gesellschaft von alten lieben Bekannten fand ich dort vor ; ich nenne nur einige der allbekannten Männer, mit denen ich ein Wiedersehen feierte : der Präsident der Synode Graf Arnim, der Präsident des Oberkirchenrais Hermes, mein Schwager Hermann v. Thile, die Generalsuperintendenten Leopold Schulze und Jaspis, mein Vetter Bodelschwingh, Wangemann, Graf Clairon d'Hauſſonville, meine alten Heidelberger Freunde Rothkirch und Levezzow, Graf Ziethen- Schwerin, v. Gerlach, Kögel, Graf Zedlig,

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Generalsynode.

Frommel, Reichard und der ehrwürdige Geheimrat Wieje, welcher im 94. Lebensjahre heimgerufen worden ist. Das Schönste aber war, daß ich meinen Platz in der Synode neben meinem alten Freunde Arthur Wolff fand, und welche Einmütigkeit im Glauben und in der Liebe verband die Seelen. Dies kam auch besonders zum Ausdruck, als unser alter Kaiser in der Kapelle des Domkandidatenstiftes, in welcher sich die Mitglieder der Generalsynode versammelt hatten, erschien.

Dort stellte

sich der hohe Herr neben den Altar, und der Oberhofprediger Kögel redete ihn mit den Worten an : „Euere Majestät betreten heute diese Kapelle zum zweiten Male ; das erste Mal mit Ihrer Majestät der Kaiſerin, als unser Stift sein 25jähriges Bestehen feierte, heute zur Besichtigung eines Altargemäldes, das Euere Majestät gestiftet, und die Meisterhand eines Künstlers (Pfannschmidt) wunderbar schön zur Ausführung gebracht hat. Könige beten vor Jesu an, vor dem Könige aller Könige legen sie Krone und Zepter nieder. Beides tragen sie von Gott zu Lehen, wie einſt Euere Majestät die Krone in ernster Stunde zu Königsberg entgegengenommen haben. Sie künden mit der Gaben drei, daß Christ und Gottmensch, Gott und König sei! Je profaner heute die Kunst auftritt mit Verwilderung des Geschmacks , mit Entthronung der Moral, um ſo willkommener soll uns allen die Gabe eines Bildes sein, welches bekundet, daß auch die fromme Kunst noch ihre Priester hat, die uns mit predigen helfen ! " Nach der Rede Kögels, und nachdem noch der Graf Arnim-Boizenburg den Dank der Synode für das Erscheinen Seiner Majeſtät ausgesprochen, erwiderte der Kaiſer etwa folgendes : „Zunächſt muß Ich Meinen Dank aussprechen, daß Sie (Kögel) für den Stifter dieses Gemäldes solche Worte aus dem Herzen an berufener Stelle ausgesprochen haben ; es sind die Worte eines wohlbewährten Geistlichen, der viel Gutes gestiftet hat, und Ich freue Mich daher, dies aussprechen zu können . Was Sie über Mich gesagt haben, nehme Ich gern hin, als ein Mann, deſſen Tage gezählt sind . Der Himmel hat Mich Zeit meines Lebens mit Wohltaten und Gnade überhäuft, namentlich in Meinem hohen Alter. Huldigungen, die Mir gebracht werden, lege Ich am Thron des Höchsten nieder, von dem alle Kraft zu allem Besten, was man auf Erden vollbringen kann, kommt. “ Gegenüber Graf Arnim sprach der Kaiſer ſeine Freude aus, daß die Generalsynode in Einmütigkeit gearbeitet und gute Resultate erzielt habe. Diese Worte unseres alten frommen Kaisers machten einen um so tieferen Eindruck, als er sie mit bewegter Stimme und mit Tränen in den Augen sprach. Am Schluß redete der Kaiser noch mehrere Mitglieder der Synode an und gab manchem ſeine Hand, ſo auch mir. Das Schloß, den Dom und den Kreuzgang in Merseburg hatte ich

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

bei Antritt meines Amtes in entseglich verwahrloſtem Zustande vorgefunden und die Wiederherstellung dieſer ſtattlichen Bauten beſchloſſen. Es ist ein wahres Wunder gewesen, daß das Schloß nicht längst einmal eine Beute der Flammen geworden war. Eine Unmaſſe von Aktenmaterial war in demselben aufgehäuft, und neben dieſen Papiermengen ſtanden etwa 120 eiserne Öfen, welche täglich frühmorgens im Dunkeln stark geheizt wurden. Dabei waren alle Räume ungewölbt, so daß beim Ausbruch eines Feuers sofort die hölzernen Decken herabgestürzt wären. Auch herrschte ein furchtbarer Gestank, weil die Aborte primitiv und schmußig waren.

Viele Projekte zum Umbau des Schloſſes wurden aufgeſtellt, und

endlich einer in Berlin genehmigt, bei dessen Ausführung aber sämtliche Abteilungen der Regierung ausziehen und auf lange Zeit mietweiſe in der Stadt untergebracht werden mußten. Auch die Bibliothek und das Archiv befanden sich in ganz ungeeigneten Räumen.

Ja, sogar die Regie-

rungshauptkasse mit ihren Geldbeständen von einigen Millionen befand sich in Lokalen, die völlig unsicher gegen Feuer und Diebstahl waren. Viele Jahre hat der Umbau gedauert, und alle erstrebten Ziele sind glüdlich erreicht worden. Mindestens eben so nahe als die Wiederherstellung des Schlosses lag die des Domes meinem Herzen. Schon Kaiser Otto der Große hatte den Dombau begonnen, und die nach Osten gelegene Altarnische stammt aus ſeiner Zeit. Die Geschichte der vielen Jahrhunderte, in welchen die Kirche so geworden ist, wie sie jetzt steht, kann ich hier nicht wiedergeben, aber das war mir klar, daß das Innere des Domes im 17. und 18. Jahrhundert immer liebloser behandelt worden ist. Scheußliche hölzerne Einbauten waren angebracht, ein weißer Kalkanstrich wirkte triibselig, die Sitze der Kirchgänger befanden sich auf schmußigen, unbequemen Bänken, und schon vorher habe ich erwähnt, daß die alten Holzschnitzereien aus dem 15. Jahrhundert dick mit weißem Kalk überzogen waren.

Schon im Jahre 1877

begann ich die Verhandlungen mit dem Domkapitel und mit dem Domdechanten, meinem Freunde v. Wizleben, über die Wiederherstellung des schönen Kreuzganges neben dem Dom, welcher ganz verwildert und durchfeuchtet war ; denn gegen Schnee und Regen war kein Abflußrohr vorhanden, und dabei waren die Erdmaſſen im Hofe des Kreuzganges so hoch aufgetürmt, daß keine Luft und kein Sonnenstrahl in den Kreuzgang selbst gelangen konnte. Das Domkapitel hat die westliche Hälfte des Domes und den Kreuzgang zu unterhalten, während die Unterhaltung des östlichen Teiles des Domes dem Fiskus obliegt. Nach vielem Sträuben des Domkapitels wurde endlich mit der Wiederherstellung des Kreuzganges begonnen, welche denn auch zu einem schönen Reſultate geführt hat. All die vielen alten Grabsteine, welche jest an den Wänden angebracht sind, wurden in der aufgetürmten Erde des Hofes gefunden.

Einweihung des Domes in Merseburg.

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Aber noch viel größere Mühe und Arbeit brachte die Restaurierung des Domes selbst sowie der alten ganz baufälligen Fürstengruft mit den zahlreichen Särgen der sächsischen Herzöge von Merseburg und ihrer Angehörigen. Viel verdanke ich der Mithilfe des tüchtigen Dombaumeiſters Weber und des berühmten Geheimen Oberbaurats Adler. Endlich war Mitte 1886 der Dom ſoweit fertig, daß seine Wiedereinweihung ins Auge gefaßt werden konnte. Nun komme ich zu dem leßten und fast schönsten Tage, den ich mit dem Kronprinzen erlebt, dem 7. November 1886.

Der Kronprinz hatte

gewünscht, von dem Tage der Einweihung rechtzeitig Nachricht zu erhalten. So meldete ich ihm denn das Ende des langjährigen Baues nachh der Riviera hin, mit der Bitte, den Tag der Einweihung selbst zu bestimmen. Er segte ihn auf den 7. November fest, und ich ließ nun in aller Eile die zahlreichen Einladungen dazu ergehen. Der Kronprinz kam schon morgens um 8 Uhr hier an und zwar fast unmittelbar von Pegli, nur mit einem kurzen Zwischenaufenthalt in Weimar zu den dortigen Hochzeitsfeierlichkeiten. Bei der Fahrt vom Bahnhof zum Schloß gefiel ihm Merseburg, das den schönsten Festschmuck angelegt hatte, ganz ausnehmend.

„Wieviel netter ſieht solch eine alte Stadt mit ihren engen

und krummen Gaſſen aus Straßen, wie Weimar ! "

als eine neue mit breiten langweiligen

Schon beim Frühſtück war der Kronprinz heiter

und guter Dinge ; ich hatte nur wenige alte Bekannte von ihm dazu eingeladen, wie z . B. den General v. Blumenthal, seinen früheren Generalstabschef in den Kriegen 1866 und 1870, den General v. Pape aus Berlin als Merseburger Domherrn und den Oberpräsidenten v. Wolff aus Magdeburg. Gleich nach dem Frühstück ging es zum Gottesdienst in den Dom. Herrliche Orgeltöne und schöner Chor- und Gemeindegesang gingen der vortrefflichen Predigt des Konsistorialrats Leuschner voran.

Nach dem

Gottesdienst besichtigte der Kronprinz alle Einzelheiten des Domes aufs genaueste und zeigte wieder in langen Gesprächen seine gute Kritik und seinen durchgebildeten Kunſtſinn . An all und jedem hatte er große Freude, an dem Anblick des Hauptschiffes mit der Aussicht auf die drei herrlichen, vom Kaiser geschenkten Chorfenster, an der Kanzel, auf der Luther wieder. holt gepredigt, und an den Chorstühlen, die in höchst naiver Weise Personen und Begebenheiten aus dem alten und neuen Testament darstellen. In den Seitenschiffen sowie in dem großen Raume vor dem Eintritt in das Schiff des Domes interessierten ihn alle Bilder und Grabdenkmäler auf das lebhafteste.

In der Bischofskapelle besichtigte er genau die

Freskobilder der langen Reihe von Merseburger Bischöfen, welche ich durch einen Münchener Maler hatte wiederherstellen lassen .

Es ergözte

ihn, daß nur noch ein Plaz neben dem lezten Bischof leer geblieben war

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg .

und daß ich auf dieſen letten Plaß einen Engel hatte malen laſſen, der mit seiner rechten Hand eine Abschiedsbewegung zu den Bischöfen hin macht ; unter diesem Engel aber stehen die Worte: ,,verbum Domini manet in aeternum“ (das Wort Gottes bleibet in Ewigkeit) N. B. auch ohne Euch! In der Tauffapelle war ebenso die lange Reihe der Bilder der weltlichen Herrscher wieder aufgefrischt, da waren noch sechs Felder frei und diese hatte ich für die Bilder Friedrich Wilhelms III., Friedrich Wilhelms IV ., Wilhelms I., des Konprinzen selbst, seines Sohnes und seines Enkels beſtimmt.

Nachdem die erſten drei obengenannten Könige

schon fertig gemalt waren, fand ich nach der Rückkehr von einer längeren Reiſe, daß sie viel zu schlecht ausgeführt waren, und zu arg gegen die früheren mittelalterlichen Bilder der Kaiser und Kurfürsten abſtachen. Es waren namentlich die modernen preußischen Generalsuniformen so häßlich gegenüber den früheren malerischen Gewändern, daß auch der Kronprinz meine Hoffnung teilte, daß diese sechs Bilder in späterer Zukunft mit würdigen Krönungsmänteln gemalt werden könnten. Die Fürstengruft, welche ich mit ihren vielen Särgen der Herzöge von Merseburg und ihrer Anverwandten in völlig ruinenhaftem Zustande vorgefunden hatte, war schön wiederhergeſtellt, auch die Krypta mit dem Grabgewölbe, in dem früher der Sarg Rudolfs von Schwaben geſtanden hatte, ferner die abgehauene, verdorrte Hand Rudolfs von Schwaben, die er in der Schlacht bei Merseburg 1086 verloren, die Gewänder Luthers und vieles andere wurde genau besichtigt.

Vor dem neuen Altar freute

sich der hohe Herr, daß der geſchmacklose alte, an dessen Spitze die barocke Figur des auferstandenen Heilands auf einem scheußlichen Totengerippe gestanden, entfernt worden war ; ganz einverstanden war er aber nicht mit dem neuen Altar, und es fehlte ihm namentlich ein besonderes Kruzifir darauf ; als er nun gleich hernach in der Sakristei ein Kruzifir aus Schildpatt mit einem silbernen Corpus Christi fand, hob er es ſofort auf und trug es selbst nach dem Altar.

Es bleibt mir ein unvergeßliches

Bild, wie der Kronprinz, das Kruzifir in der Hand, die Stufen des Altars heraufschritt, es dort aufstellte und dann, aus weiter Entfernung es be trachtend, sein Wohlgefallen daran hatte. Dann ging es in den Kreuzgang, und da teilte er mir mit, er habe sich schon 1883 so herzlich über die bereits damals vollendete Wiederherstellung des früher ruinenhaften Kreuzganges gefreut, daß er öfter spät abends bei Mondschein dort spazieren gegangen sei. In dem Kreuzgang steht u. a. auch ein Grabmonument in späterem Renaiſſanceſtil, welches der berühmte Maler A. Menzel herrlich abgezeichnet hatte, und welches ich auf ſeinen Rat aus einer verborgenen Ecke am Domkapitelhause nach vorn in den Kreuzgang hatte setzen lassen. Der Kronprinz bat mich, ihm dieses Monument, wie einige andere, in Photographie nach Berlin zu schicken, was ich natürlich sofort

Kronprinz (Friedrich III.) .

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ausgeführt habe. Ich mußte ihm dabei genau erzählen, wie Menzel viele Tage in Merseburg gewesen und die schönsten Zeichnungen im Dom und auf dem Schloßhof gefertigt, und wie ich ihn zuerst beim Zeichnen der herrlichen Wendeltreppe, die im Schloß nach meiner Wohnung heraufführte, getroffen habe. Auch die jezt erſt ſicher in der neu hergestellten Michaeliskapelle aufbewahrten Schäße des Domkapitels, die vielen Originalurkunden der Deutschen Kaiser von Otto dem Großen ab, vor allem aber die Unika des Althochdeutschen, die Merseburger Zauberſprüche und die Taufformel von Bonifacius , wurden einer genauen Prüfung unterworfen. Der Gottesdienst und die Besichtigung hatten recht lange gedauert, so schlug nun der Kronprinz vor, an dem neuen Rabenkäfig vorbei in den Schloßgarten spazieren zu gehen, um dort zu rauchen. Er bot mir eine Zigarette an, als ich ihm aber sagte, daß ich Zigaretten nicht rauchen. könne, weil sie mir die Kehle zu trocken machten, sagte er traurig : „Ich rauche ja auch viel lieber ordentliche Zigarren, aber seit kurzer Zeit sind mir meines Halses wegen nur Zigaretten erlaubt ! " Das hinderte aber doch nicht, daß er nachher im Schloßgarten mich um eine ordentliche Zigarre bat und meinte, nachdem er sie angesteckt : „Das schmeckt doch viel besser!" Freudig ging nun der Kronprinz auf meinen Vorschlag ein, einige ihm bekannte Damen in Merseburg zu besuchen ; es waren dies Frau v. Brandenſtein, Frau v. Schwarzkoppen, Frau v. Schönermarck und Frau v. Hinkeldey. Ich benachrichtigte sofort diese Tamen von der Ankunft des Kronprinzen und ließ anspannen.

Es war schön, zu beob

achten, welche Herzensfreude der hohe Herr bei diesen Besuchen hatte, und welch reizende Liebenswürdigkeit er dabei entwickelte. Er hatte mit allen diesen Damen viele alte Erinnerungen auszutauschen. Es folgte nun ein Diner von 36 Kuverts im Saale des Schlosses ; der Kronprinz führte meine Frau, ſagte mir aber beim Hineingehen : „ Aber, hören Sie, Reden werden nicht gehalten !" Dem Kronprinzen mundete Essen und Trinken vortrefflich, und von den Weinen mußte ich ihm besonders von der Freyburger Champagnerfabrik, deren Erzeugnisse nach der Suppe gegeben wurden, und von dem alten Rheinwein und dem Ort seines Ursprungs erzählen. Nach Tische war die ganze Gesellschaft durch die Leutseligkeit des Kronprinzen in die heiterste Stimmung versett ; auch rauchte er nur ordentliche Zigarren. Höchſt erstaunt war er, als plößlich ein Negerknabe im schönsten Nationalkostüm vor ihm niederkniete und ihm ein Prachtalbum mit zahlreichen Photographien aus dem Innersten Afrikas , das bisher noch kein Weißer betreten hatte, überreichte. " Was ist denn das ?", rief der Kronprinz , „ das steht nicht in meinem Reiseprogramm ! " Und als ich ihm nun erklärte, daß dieser Neger (mit Namen „Kianſi“ )

Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

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und diese Bilder von dem Gefährten Wissmanns, dem Forstkandidaten Hans Müller, der auch in der Gesellschaft sich befinde, von dem Kaſſai, dem Nebenfluß des Kongo, mitgebracht seien, da rief der Kronprinz : „Hans Müller ist hier ? den habe ich ja noch nicht gesehen !" Ich rief nun Müller herzu, und der Kronprinz schlang seinen Arm um ihn und erzählte der ganzen Gesellschaft, daß er diesen jungen Mann vom Tode gerettet habe, ebenso, wie dieser junge Mann den Negerknaben vom Tode gerettet. Der Kronprinz hatte nämlich den schwerkranken Müller durch einen Brief an den König der Belgier von seinem weiteren Verbleiben im Innern Afrikas , zu dem er sich verpflichtet hatte, freigemacht, und nun war es eine sehr sinnige Idee des dankbaren Hans Müller, durch ein so seltenes Geschenk den Kronprinzen zu erfreuen. Erst spät abends reiste der Kronprinz nach Berlin zurück ; er umarmte mich auf dem Bahnhof und sagte mit dem innigsten Ausdruck in Geſicht und Stimme : „Diest, ich danke Ihnen von ganzem Herzen für dieſen Tag, es war einer der glücklichsten meines Lebens !" Dies waren die letzten Worte, die ich auf dieser Erde von ihm gehört, denn nur wenige Tage darauf erhielt ich die schreckliche Nachricht, daß der Kronprinz ernstlich an einem Halsleiden erkrankt.

Was hat der hohe

edle Herr von da ab bis zu seinem Heimgange „ gelitten, ohne zu klagen “ ! Mit dem General-Feldmarschall Moltke hatte ich in jenen Jahren noch wiederholte Begegnungen ; auch er liebte, wie Bismarck, die Muſik, und so durften Keudell und ich ihm im Generalstabsgebäude Sonaten für Klavier und Cello vorspielen. Wir freuten uns über den rührenden Dank, den wir von ihm einernteten, wie auch über die Einfachheit, welche in Moltkes Hause herrschte. Ein anderes Mal hatte ich in Berlin freie Zeit genug, zwei Besuche hintereinander zu machen, nämlich zuerst bei dem Feldmarschall v. Blumenthal und dann bei Moltke. Ich erwähne dies nur, weil ich bei dieser Gelegenheit einen Einblic tat in die fast primitive Einrichtung des Hausstandes beider berühmter Feldherren ; denn beide traten auf meine Anmeldung sofort auf den Flur heraus , halfen mir meinen Paletot ausziehen und ebenso ihn wieder anziehen bei meinem Fortgehen.

Welch ein Kontraſt gegenüber dem franzöſiſchen Weſen und

gegenüber den modernen Einrichtungen vornehmer Familien auch bei uns ! Unwillkürlich merkte man, daß beide Feldmarschälle nicht gewillt waren, die Gewohnheiten einer viele Jahrzehnte dauernden entbehrungsreichen Leutnantszeit abzulegen, denn Moltke wurde 42 Jahre alt erst Major, Blumenthal aber, fast ebenso alt, erst Kompagniechef. Wenige Wochen vor seinem Tode nahm mich Moltke wiederum freundlich bei sich auf. Eine seiner ersten Fragen war : „Was halten Sie von der Stellung der Staatsregierung gegenüber der Sozialdemokratie ?" Als ich ihm nun meine Meinung gesagt, daß man über diese Frage

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Siegfried v. Quaſt.

stundenlang sprechen könne, daß ich aber die Aufhebung des Sozialistengesezes nicht so tief beklagen könne wie die meisten meiner Gesinnungsgenossen; denn die Sozialdemokratie jei eine Volkskrankheit, die ebenjo wie der morbus democraticus im Jahre 1818 nicht durch äußere Arzneien geheilt werden könne ; im Kampfe mit der Sozialdemokratie sei die einzig wirksame Waffe das Wort Gottes, welches seine Wirksamkeit in unserm ganzen Volke bei hoch und niedrig gar zu arg eingebüßt habe. Da reichte mir Moltke über den kleinen Tisch hinweg, der in der Fensternische zwischen uns stand, schweigend die Hand und mit einem Ausdruck des innigsten Einverständnisses . Bei meinem Fortgehen fragte er mich: „Ist eigentlich Ihr seliger Vater im Dienst gestorben ?" Nachdem ich ihm diese Frage bejaht, sagte er mit einem besonders herzlichen Ton in der Stimme: „Das war ein herrlicher Mann ! " Dies waren die lezten Worte, die ich aus Moltkes Munde vernommen. Anfang 1886 feierten wir in Merseburg die Verlobung meines Neffen Hans v. Diest mit Fräulein v. Doetinchem aus Löpit bei Merseburg. Der Bräutigam, der jüngste Sohn meines Bruders in Daber, hatte als Regierungsreferendar über zwei Jahre lang bei uns im Schloſſe gewohnt und war uns wie ein eigener Sohn geworden. Auch später haben zwei Neffen, die Söhne des mir eng befreundeten Regierungspräsidenten v. Quadt, ebenfalls als Regierungsreferendarien, jahrelang in unserem Schlosse Wohnung genommen . Im Mai 1887 wurde mir bei Quasts in Radensleben mein erſtes Enkelkind geboren, meine liebe Ehrengard ; aber leider wurde ihr Vater schon am 31. Oktober desselben Jahres plöglich heimgerufen. Es war für uns alle ein furchtbarer Schlag, als wir telegraphisch die Todesnachricht erhielten, denn Siegfried hatte die fröhlichsten Briefe von seiner Reise durch Kleinaſien geschrieben, wohin er mit seinem Bruder Wilhelm zur Durchforschung einer faſt unbekannten Gegend gereist war. Nach einer nur dreitägigen Krankheit starb er in dem kleinen türkischen Städtchen Eskijchir. Seine Leiche wurde auf dem Familienkirchhofe zu Radensleben bestattet, und seine Witwe, meine Tochter, zog mit ihrem Töchterchen zu uns . Rührend war die Teilnahme an unserem herben Verluste, welche nicht nur unsere vielen Verwandten und Bekannten, die Bewohner des Ruppiner Kreises, die Mitglieder des Abgeordnetenhauses, dessen Schriftführer er war, sondern auch viele Mitglieder unseres Hohenzollernhauses an den Tag legten.

Namentlich war es der junge Prinz

Wilhelm , der jezige Kaiſer, welcher tief traurig war über die Abberufung eines Mannes, von dem er, wie der Prinz mir selbst erklärte, gehofft hatte, daß er ihn dauernd zu seinem Ratgeber werde berufen können.

Der

Prinz hatte nämlich wiederholt in Radensleben in Quartier gelegen und dabei meinen Schwiegerjohn besonders liebgewonnen. v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräſident in Merseburg.

Im Herbst 1887 fand wieder eine Provinzialsynode in Merseburg statt.

Aus den inhaltreichen Verhandlungen dieser Synode will ich nur

meinen eigenen Antrag hervorheben, welcher eine einstimmige Annahme fand, nämlich, daß die Gemeindekirchenräte durch die kirchliche Behörde ersucht werden sollten, mit aller Energie es zu erstreben, daß die Kirchen ebenso wie die Kirchhöfe und Begräbnispläge täglich möglichst lange dem Besuche der Gemeindemitglieder geöffnet würden. Ich begründete meinen Antrag mit folgenden Worten : „Seit meiner frühesten Jugend hat mir die Frage auf den Lippen geschwebt : Weshalb sind die evangeliſchen Kirchen so hermetisch verschlossen ?

Meine persönlichen Eindrücke und Erlebnisse erlaube ich mir

nur deshalb vorzutragen, weil ich überzeugt bin, daß die meiſten von Ihnen sich ganz gleiche Erfahrungen ins Gedächtnis zurückrufen werden. Schon Anfang der dreißiger Jahre lebte ich als Kind in der Nähe dreier Kirchen in Berlin, die ich mit meinem seligen Vater am Sonntag besuchte, und in welchen die gläubigsten Paſtoren das Wort Gottes verfündigten ―― es waren die alte Spittelkirche, die böhmische und die Dreifaltigkeitskirche. Mein Weg führte mich an den Wochentagen oft an diesen Kirchen vorüber, und wir Schulknaben hatten untereinander die Streitfrage, wie es möglich sei, das Lob zu verdienen, welches der alten Hanna zuteil wird, wenn von ihr gejagt wird : »Sie kam nimmer vom Tempel.« Das waren nun wohl kindische Gedanken, aber immerhin sind Kindergedanken oft die tiefften und wahrsten, die es auf Erden gibt. Nun, nach Absolvierung der Schule, ging es hinaus in die Fremde, und überall, schon in Süddeutſchland und dann in Frankreich, Spanien und Italien, ja, drüben in Arika bei den Mohammedanern, fand ich die katholischen Kirchen, die Moscheen, die Synagogen alltäglich von morgens bis abends offen. Wie oft ist man in der Fremde froh gewesen, in solchem der Anbetung Gottes geweihten Gebäude eine Stelle und die richtige Stille zu anbetender Sammlung zu finden. Bei der Rückkehr ins Vaterland war ich darum ganz betroffen, die evangelischen Kirchen nach wie vor geſchloſſen zu finden. Ja, einen Ingrimm kann man nicht unterdrücken, wenn man die schönen evangelischen Prachtkirchen, wie den Ulmer Dom, die Lorenz- und die Sebalduskirche zu Nürnberg, die Marienkirche zu Danzig und viele andere, vollständig in der Gewalt, ja, man kann ſagen, im Eigentum der Küster so vorfindet, daß man nur aus Gnaden und gegen Trinkgeld zum Eintritt verſtattet wird. Und wie unsympathisch wirkt die stete Begleitung eines solchen, ewig erklären wollenden Cicerones .

Ein Gefühl der Andacht ist in dieſen

schönsten Erzeugnissen kirchlicher Baukunst nicht möglich, schon weil der Küster oder seine Familienangehörigen so schnell wie möglich den Fremden durch die Kirche wie durch ein Museum hindurchtreiben, um nur bald-

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Offenhalten der evangeliſchen Kirchen.

möglichst das Trinkgeld zu verdienen und wieder andere einzulaſſen. Ja, manchem unter uns ist es gewiß schon begegnet, wie mir, daß er lieber die benachbarte und offene katholische Kirche in der fremden Stadt aufsucht, als sich der unwirtlichen Behandlung in seiner evangelischen Kirche auszuseßen. Was für falsche Ideen über den Zweck und die Bedeutung unserer Kirchen für das kirchliche Gemeindeleben in unserem evangelischen Deutschland vorhanden sind, das iſt mir noch in diesem Sommer recht traurig flar geworden, als ich im Thüringer Waldgebirge am Eingang zur Kirche und zum Kirchhof eine Tafel mit der Bekanntmachung fand, daß der Eintritt bei Strafe von so und so viel, eventuell von Haft, verboten sei. Ich habe mir in meinem langen Beamtenleben es stets und überall zur Aufgabe gemacht, den Kirchenbau zu fördern und die Wiederherstellung alter verfallener, besonders schöner oder geschichtlich bedeutsamer Kirchen zur Ausführung zu bringen ; aber es vergeht einem in der Tat die Lust, auf diesem Gebiete energisch fortzuarbeiten, wenn man sich be wußt wird, daß das betreffende Gotteshaus von den etwa hundert Tagesſtunden in jeder Woche durchschnittlich nur drei Stunden am Sonntage geöffnet, in den übrigen 97 Stunden aber von keinem menschlichen Fuß betreten wird. Ich habe diese traurige Erfahrung schon an mancher schönen Kirche in dem meiner Verwaltung jezt anvertrauten Merseburger Bezirk machen müssen . Sehen Sie sich selbst nur von diesem Gesichtspunkte aus den hiesigen Dom an, deſſen Herstellung so viel Mühe gemacht hat und so herrlich gelungen ist. Denken Sie mit mir an die Wiege unserer evangelischen Kirche, deren Herstellung jezt endlich in vollem Gange ist und in wenigen Jahren vollendet sein wird, ich meine die Wittenberger Schloßkirche !

Soll auch sie in Zukunft unter die Schlüssel-

gewalt der Küster fallen ?! ein Jammer?

Wäre das nicht gerade in Luthers Sinne

Warum sind die evangelischen Kirchen ſo verschlossen ? Gewiß liegt ein innerer Grund vor, denn wir beten nicht wie die Katholiken die Monstranz hinter der ewigen Lampe an, und wir gedenken wohl des Wortes : »Der Allerhöchste wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. « Auch sind wir mit unserem Gebet und mit unserem Gottesdienst nicht gekettet, wie die Juden und die Mohammedaner, an die eine >>heilige Stätte «, aber doch ist's ein Mißbrauch auch im Sinne des echt evangelischen Christen, daß unsere Kirchen aufgehört haben, Gebetshäuser Sie werden mich darin nicht

zu sein, und daß sie herabgesunken sind mißverstehen

fast lediglich zu Predigthäusern.

Da könnte man ja viel

leichter und billiger noch zu diesem Zwecke Hörsäle bauen. Vergebens habe ich mich erkundigt, auch heute noch bei meinem hochverehrten Freunde, dem Biographen Luthers, Professor Köstlin, ob irgend

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräſident in Merseburg.

wo in Luthers Werken, namentlich auch in seinen Tischreden, in denen er doch alle Beziehungen des Christenlebens seiner Betrachtung unterzieht, irgend etwas über die Öffnung und Schließung der Kirchen enthalten ist. Von allen Seiten ist mir diese Frage verneint worden und dagegen geantwortet, daß es gar nicht möglich sei, daß Luther sich über diese Frage ausgesprochen, weil ja zu seiner Zeit noch alle Kirchen offen waren. Zugemacht sind sie erst worden, als die Zeit der leblosen, starren Orthodorie und des öden, kalten Rationalismus über die evangelische Kirche hereinbrach ! Wie würde Luther in seiner draſtiſch derben Art diesen Mißbrauch, die Kirchen verschlossen zu halten, gegeißelt haben ! Und vor allem unser Herr und Heiland selbst, als ihn der Eifer um Gottes Haus verzehrte, hat Er nicht die Worte ausgerufen : » Mein Haus soll ein Bethaus ſein allen Völkern !« < Wie sehen sie nun auch aus, unsere Kirchen, wenigstens ein sehr großer Teil derselben ?

Dumpfig, staubig, verkümmert, lieblos bieten sie den

Beweis und Spiegel von der ganzen Teilnahmlosigkeit der Gemeinde an - Unsere tüchtigsten Kirchenbaumeister, mit denen ich ihrem Gotteshause ! — viel verkehrte, klagen über den Schaden, der dem Gebäude als solchem durch das Abgeſchloſſenſein von aller frischen Luft zugefügt werde.

Beim

Eröffnungsgottesdienst der Synode wurde uns ſo treffend davon gepredigt, daß das Bewußtsein der gliedlichen Zusammengehörigkeit in der Kirche unserer Zeit am meisten fehle, und daß darum in unserer Kirchengemeinschaft dieſes Bewußtsein so wenig mächtig sei.

Wo ſoll aber bei

dem gemeinen Mann das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinde Wurzel faſſen, wenn ihm die Kirche seiner Gemeinde faſt immer verſchloſſen gehalten ist.

Denn oft genug kann so mancher vielgeplagte Arbeiter, Hand-

werker oder Kaufmann, jo manche im Haushalt überlastete Hausfrau gerade in den drei Stunden, in welchen die Kirche wöchentlich geöffnet ist, dieselbe nicht besuchen. Dieser Teil unserer Mitchristen wird ohne seine Schuld der Kirche entwöhnt ; er kennt sie gar nicht, er muß gleichgültig gegen sie werden. Aber nun ein Hauptgesichtspunkt ! Schon in der heiligen Schrift ist oft genug die Rede von dem »Kämmerlein«, in welches sich die Seele retten soll, und in der Bergpredigt ist der Befehl gegeben : »Bete zu deinem Vater im verborgenen. « Wo hat aber in dem heutigen modernen Leben und Wohnen der ärmere Mann und auch ein großer Teil der Wohlhabenderen nur noch ein stilles Kämmerlein in seinem Hause?

Die Kirchen

müſſen offen sein zur ſtillen Andacht ; kein Ort ist geeigneter dazu .

Es

liegt aber in unserem deutschen evangelischen Volkscharakter die Sehnsucht nach Sammlung ; aber der Ort zur Stillung dieser Sehnsucht ist unserem Volke seit Jahrhunderten geschlossen.

Wie leicht wäre es auch, weil wenig

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Offenhalten der evangelischen Kirchen.

kostspielig, wenn nach Öffnung der Kirchen einige Bibeln, Gesangbücher, Bibel-Lejezettel in der Kirche zu allgemeinem Gebrauch ausgelegt würden . Wie würden, wenn die Kirchen offen wären, kurze Morgen- und Abendandachten, kirchliche Gesänge und Orgelspiel, ja, selbst die Gesangvereine allerorten in die Kirche einziehen. Bei der muſikaliſchen Begabung unjeres Volkes werden seine Gesänge jezt statt in der Kirche im Wirtshaus oder in einem anderen beliebigen Lokale eingeübt und ausgeführt.

Wie

würde auch die Auswahl der Gesangstücke gewinnen, wenn der heilige Ort auf diese Auswahl einwirken könnte !

Jezt gerade tagt in Berlin der

große deutsche Verein zur Hebung des Kirchengesanges - wie würde ſein löbliches Ziel leichter und schneller erreicht werden, wenn die Kirchen zugänglich gemacht würden ! Der Weg von der Kirche zum Grabe auf dem Kirchhof und wieder der Weg vom Grabe zur Kirche ist nicht weit. Auch alle Kirchhöfe müſſen geöffnet werden . Die meisten kirchlichen Begräbnispläße sind nun wohl schon geöffnet ; aber auch manche von diesen sind es noch nicht. Die kommunalen Kirchhöfe habe ich noch an sehr vielen Orten meines Bezirks geschlossen gefunden und habe erst vor wenig Jahren an die Gemeindebehörden die Mahnung gerichtet, daß sie die Kirchhöfe täglich zu öffnen hätten. Weil ein kleiner Diebstahl von Blumen auf einem städtiſchen Kirchhofe vorgekommen war, hatte der Bürgermeister noch vor kurzem flugs den Zugang zum Kirchhof für alle Zeiten verboten. Man war sehr dankbar, als dies Verbot von mir wieder aufgehoben wurde, und es ist auch niemals wieder ein Unfug auf dem Kirchhofe vorgekommen. Es ist überhaupt einer .von den wenigen Einwänden, die gegen das Öffnen der Kirche und der Kirchhöfe erhoben werden, daß Diebstahl und Unfug dann ihr Wesen an dieſen Orten treiben könnten ; derselbe Einwand wird oft von engherzigen Seelen gegen die Verschönerung von öffentlichen Pläßen mit Baum- und Blumenanlagen, mit Bänken zc. geltend gemacht, aber ich habe die Erfahrungen vieler Jahrzehnte für mich, daß diese Befürchtung von der Roheit des Publikums nicht stichhaltig ist. Wenn öffentliche Denkmäler und die schönsten Anlagen auch ohne allen polizeilichen Schuß unversehrt bleiben , ſo werden doch wahrlich unsere Kirchen und Kirchhöfe vor Unfug und Diebstahl behütet bleiben, und wenn auch hier und da ein Fall der Bosheit vorkommen sollte, was hat er zu bedeuten gegenüber dem allgemeinen Segen, der dem Volke durch das Öffnen der Kirchen und Kirchhöfe erwiesen wird. Und nun der Einwand, daß die Küster auf die Einnahmen angewiesen sind, welche sie für die Besichtigung der Kirchen beziehen, und daß ihnen aus der Neuerung mehr Arbeit erwachsen würde.

Sollte diese rein

finanzielle Schwierigkeit nicht nach und nach aus dem Wege geschafft

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg .

werden können, wenn nur einiger guter Wille an die Erreichung des Zieles gesezt würde? Hindernisse und Schwierigkeiten können ja wohl an diesem oder jenem Orte vorhanden sein, und man muß Geduld und Beharrlichkeit zu ihrer überwindung daransehen ; man darf nicht hoffen, daß ein Mißbrauch, der sich Jahrhunderte lang eingebürgert hat, allerorten in wenig Jahren beseitigt werden kann. Aber hat man erst das übel erkannt, so wird seine Abhilfe mit Gottes Hilfe, die uns dabei gewiß, gelingen. »Wie lieblich sind deine Wohnungen« oder der andere Spruch : >>Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, daß der König der Ehren einziehe« — wie oft habe ich selbst, wie oft die verehrten Herren Generalsuperintendenten und die anderen Geistlichen, die unter uns ſind, diese hehren Worte der heiligen Schrift bei der Einweihung und Öffnung einer neuen oder wiederhergestellten Kirche vor der noch verſchloſſenen Lür des Gotteshauses gebraucht. Wahrheit werden.

Tun wir das Unsrige, daß diese Worte

Wir wünschen alle allüberall, so weit das reine Evan-

gelium gepredigt wird, das Wiedererwachen und das Erstarken des evangelisch- kirchlichen Bewußtseins .

Dazu wird, wie alle Taten der äußeren

und inneren Mission, auch die Tat führen, daß wir unsere Kirchen mit ihren Kirchhöfen dem deutsch-evangelischen Volke wiedergeben.

Nehmen

Sie meinen Antrag einstimmig an, und der gnädige Gott möge zur weiteren Ausführung seinen Segen geben !" Mein Antrag wurde zwar einstimmig angenommen, aber wenig iſt bisher zu seiner Ausführung geschehen . Ich hoffe, daß das Ziel doch nach und nach erreicht werden wird, zumal da auch Ihre Majestät die Kaiſerin sich in den letzten Jahren dieser edlen Aufgabe der evangelischen Kirche angenommen hat. Im Winter 1887 auf 88 stand ich im Weißen Saale des Berliner Schlosses bei einem großen Ballfest mitten unter den zahllosen Ballgäſten, die dem Tanzen zusahen . Der Kaiser kam in roter Garde du CorpsUniform, mit Damen sprechend, immer mehr in meine Nähe. Als er noch etwa zwanzig Schritte von mir entfernt war, sah er mich plößlich, wohl, weil ich größer war als meine Nachbarn.

Wie war mir zumute, als er

nun mit beiden vorgestreckten Händen auf mich loskam mit den Worten : Was ist da für ein seltener Gast in meinem Schlosse !"

Auf seine Fragen

gab ich ihm Auskunft, weshalb ich in Berlin sei, und weshalb ich so selten gerade in der letten Zeit von meinem Amte hätte abkommen können. Nun erkundigte er sich aufs genaueste nach den Bauten, die ich am Merse burger Schloß inzwischen vorgenommen hatte, das größte Intereſſe aber zeigte er für die drei franzöſiſchen Kanonen aus Mez, Sedan und Straßburg, die ich auf dem Schloßhofe hatte aufstellen lassen.

Er wollte wissen,

nach welcher Seite sie mit den Mündungen ſtünden, und besonders, wie

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Kaiser Wilhelm I.

viel Kanonen Friedrich der Große bei Roßbach erbeutet habe, weil ich unter die mittelste der im Kriege 1870/71 eroberten Kanonen einen Stein gejezt habe mit der Inschrift : „Auf diesem Schloßhof besichtigte Friedrich der Große die 53 in der Schlacht bei Roßbach eroberten Kanonen." Er war sichtlich erstaunt über die geringe Zahl.

Als ich ihm nun von den

Gedenktafeln an den Wänden des Einfahrtstores erzählte, auf welchen die deutschen Kaiſer mit Namen und Jahreszahl eingetragen sind, die seit dem Jahre 933 in etwas über 100 Fällen ihr Hoflager im Schloß zu Merseburg aufgeschlagen haben, daß er selbst zweimal auf dieſen Tafeln mit den Jahren 1876 und 1883 stehe und es doch sehr wünschenswert ſei, daß er, so wie Otto der Große und Friedrich Barbarossa, noch mindestens ein drittes Mal das Merseburger Schloß besuche, da ſagte er mir huldvoll einen solchen Beſuch zu, denn er wohne gar zu gern in den Räumten dieſes Schlosses. Nun begann er aber eine lange Erzählung, während die tanzenden Paare immer dicht an uns vorbeirauschten. „ Da muß ich Ihnen doch mitteilen, wie ich zum ersten Male ins Merseburger Schloß gekommen bin", und als er nun eine Pause machte, wie um sich zu besinnen, fragte ich ihn: „Majeſtät, meinen wohl 1829 ? "

( Denn er hatte nach seiner

Hochzeit in Weimar eine Nacht mit der jungen Frau Prinzessin im Merseburger Schloß gewohnt. ) „Nein, nein, das meine ich nicht “, rief er, „ im Jahre 1815 war es ! Da nahm mein Vater meinen Bruder Friß und mich nach Merseburg mit, weil er dort die Huldigung der Stände der neuen Provinz Sachſen entgegennehmen wollte. Wir fuhren eines Tages heraus nach Leipzig zu, weil mein Vater dort - ich weiß nicht mehr genau, ob Reserven oder Refruten - besichtigen wollte, die unserer Armee gegen Napoleon, der doch aus Elba geflohen war, nachgesandt werden sollten, und bei der Rückkehr nach Merseburg kamen wir an die Saalebrücke.

Mein Vater

und sein Adjutant fuhren im ersten Wagen, mein Bruder Frik und ich im zweiten. An der Stelle, wo die Brücke etwas steiler in die Höhe geht (er zeigte mir mit der schrägen Hand die Steilheit) , und wo man zum ersten Male das Schloß zu sehen bekommt, hielt plößlich der Wagen meines Vaters, und wir beiden Brüder sahen zu unserem Staunen einen Offizier auf schaumbedecktem Pferde neben dem Wagen meines Vaters halten und eine Meldung machen." (Ich mußte, weil der alte Herr nicht ganz deutlich sprach, mein Ohr möglichst nahe seinem Munde bringen und sagte nun für mich hin : „mein seliger Schwiegervater" .)

Der Kaiſer rief :

„Richtig ; ja, da muß ich Ihnen die Geschichte ganz genau erzählen ! Die Meldung des Offiziers dauerte gar lange. Ich sagte zu meinem Bruder, das ist gewiß ein Offizier von der Armee ; mein Bruder wollte in seiner Lebendigkeit zum Wagen herausspringen, um zu hören, was der Offizier berichtete, ich aber hielt ihn am Rockschoß fest, mit den Worten : » Du mußt

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

hierbleiben, das hat der Vater nicht gern, denn es ist Dienst.«

Die Sache

mußte sehr wichtig sein, denn der Offizier stieg vom Pferde ab und ſezte sich in den Wagen meines Vaters, was mein Vater sonst nie geſtattete. Nun ging's herauf ins Schloß ; uns beiden aber erschien es eine Ewigkeit, ehe wir etwas erfuhren. Auf einmal mußten alle Adjutanten, und wer ſonſt zur Stelle war, aus dem Schloß laufen, um die sämtlichen Mitglieder der Ständevertretung aus der Stadt nach dem Schlosse zu befehlen. Sie versammelten sich alle in dem Saale Ihrer Wohnung, und mein Bruder und ich waren auch dabei. Endlich trat mein Vater mit dem Offizier aus der Nebenstube in den Saal, und mein Vater trat mitten in die Verſammlung mit den sichtlich erregten Worten, auf den Offizier deutend : »Hier, der Oberst v. Thile - wird Ihnen erzählen, — was für neue Vorbeeren - meine Armee errungen hat ! « Und nun erzählte Ihr Schwiegervater den Verlauf des Feldzugs und den Sieg bei Waterloo . " Als der Kaiser geendet, erlaubte ich mir, meine Bewunderung aus zusprechen darüber, daß er nach 72 Jahren all dieſe Einzelheiten ſo im Gedächtnis behalten. Darauf der Kaiser : „Was denken Sie, ich kam damals aus der Nähe des Schlachtfeldes von Leipzig, auf dem ich leider nicht hatte mitkämpfen können, und erfuhr nun den Sturz Napoleons ! Was sind alle meine Kriege gegenüber den Freiheitskriegen !" Er hörte mir sehr ernst zu, als ich ihm mitteilte, daß mir mein Schwiegervater dieses große Erlebnis ſelbſt erzählt habe, und danach habe er, der Kaiſer, zweierlei Wichtiges mir nicht erzählt. „Was denn ? " rief der Kaiſer. „Erstens", antwortete ich, daß mein Schwiegervater den Schwarzen Adler-Orden, welcher Napoleon in dem unglücklichen Jahre 1807 in Tilſit verliehen und der bei Waterloo erbeutet war, mitbrachte und ihn dem König Friedrich Wilhelm III . überreichte. “ „Ja, ja “, rief der Kaiſer, „wie hat mein Vater sich über diesen Orden gefreut, daß er ihn wieder hatte ; und nun das zweite ?" „Das zweite, Majestät war, daß die Stände aus den neu annektierten sächsischen Landen lange und nicht gerade frohe Gesichter machten, als sie die Niederlage Napoleons erfuhren, denn auf Napoleons Sieg hatten sie die Hoffnung geſtüßt, geradejo wie die Welfen ſeit 1866, daß das Königreich Sachsen in seinen alten Grenzen und darüber hinaus wiederhergestellt werden würde." - „Nein“, sagte der Kaiser, ,,dessen entsinne ich mich nicht mehr, aber es ist mir höchst intereſſant, gerade wegen des Vergleichs mit den Welfen. “ Ich teilte ihm nun mit, daß vor kurzem erst im Merseburger Bezirk ein Großgrundbesizer begraben worden, der, ein Jahr älter wie er, der Kaiser, bis zuletzt in diesen alten Traditionen verharrt und dabei vollständig überzeugt gewesen sei, daß er ein echter deutscher Patriot wäre, weil er die alte Treue gegenüber den Beherrschern von Sachsen bewahrt habe.

Ich mußte dem Kaiſer den Namen dieſes Mannes nennen, und er

Tod Kaiser Wilhelms des Großen.

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interessierte sich lebhaft für ihn und teilte noch näheres über seine neueren Erfahrungen in der Provinz Hannover und im Elsaß mit. Das Gespräch hatte so lange gedauert, daß die ganze Ballgeſellſchaft erstaunt auf uns hinblickte. Der Kaiser reichte mir die Hand, die er aber zurückzog, als ich sie küssen wollte. Im Jahre 1888, am 29. Februar, war ich zum Tee beim Kaiser eingeladen. Wie mir Graf Perponcher sagte, würde ich allein da ſein, um den Kaiſer zu unterhalten. An demselben Tage hatte ich im Schloß dem jungen Prinzen Wilhelm, dem Enkel des Kaisers, gedankt für die rüh rende Teilnahme, welche er bei dem plötzlichen Tode meines Schwiegerjohnes v. Quast an den Tag gelegt. Ich ging noch herunter in das Hofmarschallamt, nur um mich zu erkundigen, in welchem Anzug ich beim Kaiſer erscheinen müſſe, da hörte ich zu meinem Schrecken, daß der Kaiſer niemand mehr sehen dürfe, denn soeben sei die telegraphische Nachricht von dem Tode seines Enkels in Baden eingetroffen. Das Befinden des Kaisers wurde täglich schlimmer und schlimmer, und bald schlossen sich am 9. März seine geliebten Augen. Von befreundeter Hand liegt ein Brief vor mir, welcher die tiefgehende Herzenstrauer des ganzen Volkes in den Sterbetagen des hochseligen Herrn in so ergreifender Weise schildert, daß ich mir nicht versagen kann, ihn hier mitzuteilen ; er lautet : „Es war mir das liebſte, ſtill vor der Kaiſers Palais zu stehen mit den Zehntausend stiller, weinender Menschen .

Es war jo ganz, als stürbe

der eigene Vater und als ſtänden die Kinder weinend vor der Tür des Sterbezimmers und dürften jedes Wort, jeden Blick wenigstens sich berichten lassen ; denn immer erfuhr man dort, was drinnen vorging. Das Palais war ja gar nicht abgeschlossen. Was ging dort nicht alles ein und aus.

Namentlich die Offiziere kamen einem besonders vor, wie des

Kaisers Kinder. Ich glaube, es ist keiner zurückgewieſen ; da ging jeder einfach bis ans oder gar ins Sterbezimmer, der sich selbst Nachricht holen wollte.

So erlebte man eigentlich jeden Seufzer, jede Hand-

bewegung mit und auch den ganzen, tiefen, vollen Frieden des echt christlichen und echt königlichen Sterbebettes — a Iles Friede und alles Stille, so habe ich kaum noch in meinem Leben ein einziges, großes, tiefes Gefühl von Liebe und Zärtlichkeit durch das eigene Herz und zugleich durch die Zehntausende von Herzen wogen fühlen - man war mit jedem verbunden in gleichem Schmerze. Unser Kaiser und unser Vater, anders hieß es nicht, und diese rotgeweinten Männeraugen, diese schluchzenden Mütterchen, diese Kinder, die auch noch dazwischen weinten und über dem allem dieses unbeschreiblich traurige Wetter, dieser unaufhörlich leise niederfallende Regen, es floß nur so über die Straßen hin wie Bäche und den Leuten an den Kleidern herunter ; es war auch

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

wie ein Weinen.

Und doch wurde man es so unmittelbar inne, daß

ein Gesegneter im Segen schied ; es kam über einen, wie Segen vom ſterbenden Vater und wie haben erst die, die drinnen waren, die Segensströme geſpürt ! Und kein Mißklang, auch hinterher nicht ein Mißton ; jeder wußte nur zu rühmen : » Ja, dem Herrn sei Preis und Dank für so viel Gnade, so viel Segen, auch im Sterben ! «" -Der Anblick der Leiche, die im Dom vor dem Altare aufgebahrt war, war mir herzerschütternd , und welchen tiefen Eindruck machte sein Leichenbegängnis, als der feierliche Trauerzug vom Tom nach dem Brandenburger Tor unter den Linden sich langsam einherbewegte, der Kronprinz wegen seiner Krankheit weitab in Italien war und der junge Prinz Wilhelm ganz allein als erster Leidtragender, dicht hinter dem Sarge, mit dem ernsten Ausdruck von großem , gehaltenem Schmerz in dem jungen Gesicht, vor den Königen und Fürsten Deutschlands einherschritt. Bald nach dem Heimgang Kaiser Wilhelms sagte mir der Oberhofprediger Kögel, daß er nie einer Frau begegnet jei, die so wohltuend pflegen könne, wie die Kaiserin Augusta ; er fügte hinzu : „ Und wie hat ihr Glaube in den lezten Jahren zugenommen und mit der Hoffnung auf das jenseitige Leben und auf die Erlösung durch Christi Blut diese Fülle der Liebe in ihr wachgerufen und zu voller Reife gebracht ! Ich komme mir selbst frommer vor, wenn ich von der Kaiserin Augusta heimkehre." Im Schloßgarten zu Merseburg steht die vom Bildhauer v . Woedtke gefertigte eherne Statue, aus freiwilligen Gaben errichtet, zu dauerndem Gedächtnis des Monarchen, der so viel für Merseburg getan. Als der Kaiser Friedrich III . nach dem Heimgange seines Vaters von der Riviera nach Berlin reiſte, um den Thron seiner Ahnen zu be steigen, suchte ich den schwerkranken hohen Herrn auf seiner Durchreise auf dem Bahnhof in Bitterfeld zu begrüßen.

Ich habe ihn aber nicht

ſehen und sprechen können, denn er ſchlief in dem langen Eiſenbahnzuge, der den Eindruck eines Leichenzuges machte. Welche Trauer aber hat mich täglich erfaßt bei den Nachrichten von dem Krankenlager des Kaisers Friedrich, bei den Mitteilungen über die Einzelheiten seines Leidens und schließlich bei dem genauesten Bericht, den mir mein Freund, der Professor v. Bramann, erstatten mußte, welcher den Kehlkopfschnitt an dem hohen Kranken vollführt hatte. Zum Leichenbegängnis des Kronprinzen habe ich nicht reiſen können, weil ich ſelbſt krank war. Auch seine Statue, vom Bildhauer Hundrieser gefertigt, schmückt seit einigen Jahren die Stadt Merseburg, in welcher er so oft und so gern geweilt hatte.

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Familienereigniſſe.

Das Jahr 1888 brachte mir das freudige Familienereignis der Verlobung meiner Tochter Maria mit dem Baron v. Bistram, Rittmeister im 12. Husaren-Regiment zu Merseburg.

Am 18. Oktober ( am Tage

der Schlacht von Leipzig ) wurde in großem Familienkreise die Hochzeit gefeiert. Drei liebliche Enkelkinder : Karola, Annalies und Gerhard, sind das tägliche Glück des glücklichen Paares. Zwei Söhnchen, Eberhard und Siegfried, find heimgerufen worden und ruhen auf dem Kirchhofe zu Merseburg. Auch meine zweite Tochter verlobte sich Mitte 1889 mit dem Bruder ihres erſten Mannes , Willy v. Quaſt auf Radensleben.

Nicht

lange nach der Verlobung traf ein harter Schicksalsschlag meine schwergeprüfte Tochter und mit ihr uns alle, denn bei einem Feuer, welches auf dem Radenslebener Gutshause in der Nacht ausbrach, wurde mein armer Schwiegersohn so arg verbrannt, daß alle Ärzte an seinem Aufkommen verzweifelten, denn mehr als die Hälfte seines Oberkörpers war mit den entseglichsten Brandwunden bedeckt.

Länger als ein Jahr hat

er seiner Genesung entgegensehen müssen, welche nur der treuesten Ve handlung der Professoren v. Bergmann, v. Bramann und des Dr. Roth zu verdanken ist.

Am 16. Auguſt 1890 ( an meinem Geburtstag ) wurde

die Hochzeit im Merseburger Schloß gefeiert. Auch hier sind vier liebliche Kinder, Mariechen, Wilfried, Günther und Kurt, neben der Tochter aus erster Ehe, Ehrengard, der schönste Schmuck des Radenslebener Hauſes . Ein großer Segen für unser Merseburger Leben war es, daß ich die Wahl des ersten Dompredigers und

Superintendenten Martius bei dem

Domkapitel durchſeßen konnte. Dieſer vortreffliche Mann ist unser treueſter Seelsorger geblieben, bis er Ende 1899 zum Konsistorialrat in Magdeburg ernannt wurde.

Aber auch einen Hausarzt, wie man ihn selten findet,

haben wir an dem in jeder Beziehung ausgezeichneten Geheimen Sanitätsrat Dr. Triebel gehabt. Wie oft hat er als berühmter Arzt und als Familienfreund in schweren Krankheitsfällen das Richtige getroffen ! Den beiden lieben Freunden, Martius und Triebel, sei darum hier der wärmste Dank abgestattet ! In jenen Jahren lag ich mit großer Leidenschaft der Jagd auf Rot-, Auer- und Birkwild ob.

Denn wie lockend auch für den Jäger oder

vielmehr Schießer die berühmten Haſen- und Hühnerjagden ſein mögen, die höchste Poesie der Jagd wird dem echten Weidmann nur klar, wenn er die Nächte im Walde zubringt und auf der Lauer steht, um die edelsten aller gottgeschaffenen Wildarten zu erbeuten. Wodurch entsteht überhaupt die echte Jagdpaſſion ? Dadurch, daß der schlaue Mensch dem oft noch viel schlaueren Wilde beizukommen trachtet und durch geschärfte Beobachtung in der Natur sein Ziel erreicht. Und wie herrlich ist unser deutscher Wald vor und beim Aufgang der Sonne !

Meine Freude an dieser Art

Jagd wurde von mir in einem Gedichte zum Lobe der Jagd auf den

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

Auerhahn zum Ausdruck gebracht, von dem ich nur einige Verse hier wiedergeben möchte : ,,Wenn die Buchen knospen, so denke d’ran, Und fürze den Schlaf, o Weidemann, Und zieh ' zum Wald, eh' graut der Tag, Viel schöne Lust dir blühen mag ! Des Morgens Zwielicht, das ist die Zeit, Wo er zu musizieren bereit, Wo zwischen Mond- und Sonnenglanz Die Hennen er lockt zum Hochzeitstanz. Horch! hörst du das leiſe Klipp und Klapp, Es trägt der Wind wohl auf und ab; Horch ! jezt der Hauptschlag, nun voran, Das Schleifen schließt sich deutlich d'ran!" Niemandem, der's nicht selbst erlebt, kann man die Freude an der Natur beschreiben, wenn fern von allem Menschengewühl in stiller Waldeinsamkeit die Waldvögel ihren Lobgejang beginen. Zuerst der Auerhahn, dann der Kuckuck, der Birkhahn mit seinen unnachahmbaren Tönen und endlich die kleinen Vögelchen, die Droſſeln und die Meiſen, die Finken und die Rotfehlchen! Was der Prinz Wilhelm, unser jeziger Kaiser, für ein gewaltiger Nimrod ist, habe ich bei einem Ballfest im Weißen Saale zu Berlin erfahren. Dort teilte mir eine Hofdame der Prinzessin mit, daß der Prinz an demselben Tage telegraphiert, er habe an der ruſſiſchen Grenze einen Bären geschossen und würde zwei junge Bären nach Berlin mitbringen ; die Prinzessin werde sich gewiß sehr freuen, wenn ich ihr meine Glüd wünsche für diese telegraphische Nachricht ausspräche. Die Prinzeß war ganz erstaunt, daß ich um die Bären wisse, weil noch niemand als sie und ihre nächste Umgebung, davon erfahren, aber diese herrliche Frau erſchien mir ganz besonders lieblich, als sie mir gegenüber von der Jagdpaſſion ihres Gemahls, von seiner Freude, die er über diesen Jagderfolg im Herzen trage, und über ihre Mitfreude sich ausließ. „Ich bin ja freilich auch voller Jagdpaſſion, denn ich bin ja unter Jägern groß geworden !" 1891 famt der junge Kaiser als solcher zum ersten Male nach Merse burg und zwar in Begleitung der Kaiserin und mehrerer Adjutanten und Hofdamen. Die hohen Herrschaften kamen vormittags an und reiſten abends wieder nach Berlin zurück. Der ganze Aufenthalt trug den Charakter der Heze, jede Minute war beſett und , wie die Kaiſerin ſelbſt einmal gesagt : „Wilhelm ist gar zu plöglich !" Die zahlreichen Kriegervereine bildeten vom Bahnhof bis zum Schloß Spalier. Etwa zwei

Kaiser Wilhelm II.

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Stunden vorher hatten mich die Vorstände dieser Vereine gebeten, sie wollten einen schön eingebundenen Frontrapport dem Kaiſer bei seiner Ankunft überreichen.

Ich hatte gerade noch Zeit, diese Bitte dem Hof-

marschall des Kaisers telegraphisch vorzutragen, fonnte aber nicht ahnen, daß eine abschlägige Antwort erteilt werden würde ; diese kam aber nicht lange vor der Ankunft des Kaiſers ſelbſt mit den telegraphischen Worten : Seine Majestät ist nicht gewohnt, Frontrapporte von Kriegervereinen entgegenzunehmen !" Die Vereinsvorstände machten lange, traurige Gesichter, als ich ihnen dies sofort auf dem Bahnhof mitteilte. Sie baten mich nun aber, meinerseits den wirklich schönen Rapport, für den gewiß viel Geld ausgegeben war, dem Kaiſer zu überreichen ; ich fand aber keine passende Gelegenheit dazu, und nachdem ich den Hofmarschall und den Flügeladjutanten um überreichung des Rapports gebeten, fand ich denſelben am Abend nach der Abreise in dem Vorzimmer des Kaiſers auf dem Tische liegen.

Als die vierspännigen Wagen vor dem Bahnhofsgebäude

bestiegen werden sollten, trat plötzlich zwiſchen Tür und Wagen eine wie eine Nire mit einem von Salzkristallen überdeckten hellgrünen Kleide angezogene junge Dame vor das Kaiserliche Paar und überreichte, ein langes Gedicht deklamierend, der Kaiſerin ein Bukett aus Salzkristallen. Der Kaiser sah sich mit ärgerlicher Gebärde nach mir um, und ich konnte ihm nur melden, daß ich nichts von der Dame wisse.

Dicht neben dieser etwas

unbescheidenen Donna bemerkte ich inzwischen die Ehefrauen von zwei Kriegervereinsvorsitzenden mit schönen Blumensträußen in der Hand. Ich fand noch eben Zeit, die Kaiſerin auf dieſe Damen aufmerksam zu machen, welche noch dazu in großer Gefahr waren, von den Hinterhufen der Trakehner Hengste getreten zu werden.

Die Kaiſerin nahm mit liebreizender

Freundlichkeit dieſe Huldigung entgegen, ehe sie einstieg. Während das Kaiserliche Paar den Umweg durch die Stadt machte und an dem Gotthardtstor bei der Ehrenpforte noch halten mußte denn es war ausdrücklich befohlen, daß nur der Landrat voranfahren solle, dessen Pferde übrigens dabei durchgingen, fuhr ich auf direktem, kürzerem Wege nach dem Schloß, mußte aber noch die Kammerfrau der Kaiserin in meinem Wagen mitnehmen, welche Diamanten und Perlen der Kaiſerin in einer Reisetasche bei sich hatte. Oben am Eingangsportal zu meiner Wohnung empfing meine Frau die Kaiserin, welche dabei noch herzlich lachte, daß das Salzbukett der Nire ihr Kleid von oben bis unten mit Salzkriſtallen besät hatte. Der Kaiser nahm sofort die Parade einer Schwadron des 12. Husaren-Regiments auf dem Schloßhofe ab. Meine Hoffnung, daß ich ihm alles Neue auf dem Schloßhofe, die französischen Kanonen, den Stein zur Erinnerung an Friedrich den Großen 2. zeigen und ihm auch meine Pläne, auf dem Schloßhof eine

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

Reiterstatue seines Großvaters ausführen zu laſſen, ſowie auch in der Loreinfahrt ein Kalendarium über alle Besuche der Deutschen Kaiser in Merseburg anzubringen, beschreiben könne, diese meine Hoffnung wurde ganz vereitelt, denn für alles das war feine Zeit. Ich hatte übrigens in das Zimmer des Kaisers verschiedene Abbildungen gelegt, nach welchen das obengenannte Kalendarium ausgeführt werden sollte. Das Fest, welches die Provinz dem Kaiserpaare im Schloßgartensalon gab, war zwar übermäßig kostspielig, aber freilich auch überaus glänzend . Beim Diner wollte der Kaiser auf die Begrüßungsrede, die eben gehalten, antworten. Plöglich ließ er mich rufen und fragte mich, ob ein deutscher Kaiser im Dom zu Merseburg begraben liege. Ich konnte ihm nur Rudolph von Schwaben nennen, der doch nur Gegenkaiser von Heinrich IV. gewesen sei. Da fragte er mich lebendig, was denn das für ein Heinrich II . ſei, der ſo auffällig oft in Merseburg seine Residenz genommen ? und nachdem ich ihm mitgeteilt, daß dieser Heinrich den Beinamen „des Heiligen“ führe und immer zur Feier des Pfingſtfeſtes nach Merseburg gekommen ſei, da gab mir der Kaiser den Befehl, ich solle dafür sorgen, daß er zwischen dem Diner und seiner Abreise noch zehn Minuten Zeit finde, um ihm über die Kaiserbesuche in Merseburg genaueren Vortrag zu halten. Hierauf freute ich mich, bin aber auch dazu aus Mangel an Zeit nicht gekommen. Bei dem Festmahl hatte ich meinen Plaz neben einer sehr netten Hofdame, welcher ich denn auch meine Trauer darüber mitteilte, daß die Kriegervereine so arg geschnitten worden seien. Welche Freude hatte ich nun aber, als ich schon am folgenden Tage den telegraphischen Auftrag von der Kaiserin bekam, ihr die Frauen der beiden Kriegervereinsvor sitzenden, welche sie am Bahnhof mit Blumen begrüßt hatten, namhaft zu machen, und als ich dann einige Tage später zwei höchſt wertvolle Broschen zur Aushändigung an die beiden Frauen erhielt.

Tränen der

Freude wurden darüber vergoſſen, und die Kaiserin hatte als rettender Engel sich zwischen den Kaiser und die Kriegervereine gestellt.

Der Grund

der Mißstimmung des Kaisers gegen die Kriegervereine soll der gewesen sein, daß in Schlesien sich Mitglieder von Kriegervereinen sehr disziplinlos an den Kaiser herangedrängt hatten. Gott sei Dank, daß die Kriegervereine in den letzten Jahren wieder ganz in Gnaden aufgenommen worden sind. Eine denkwürdige Feierlichkeit war die Einweihung der Schloßkirche Bei meinem ersten dienstlichen Besuche

zu Wittenberg im Oktober 1892.

Wittenbergs im Jahre 1876 fand ich die Schloßkirche, an deren Tür Luther 1517 seine Thesen anschlug, in recht verwahrloſtem Zuſtande vor und bildete sofort ein Komitee der Honoratioren Wittenbergs, welches sich die Wiederherstellung der Schloßkirche angelegen sein lassen sollte .

In

Einweihung der Schloßkirche in Wittenberg.

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den Akten der Regierung zu Merseburg fand ich demnächst einige kurze Ministerialerlasse vor, in welchen die Regierung auf den unwürdigen Zustand der genannten Kirche aufmerksam gemacht wurde. Diese Erlaſſe waren aber ohne jeden weiteren Erfolg geblieben, zumal da die Regierung weder genügende Kräfte an Baubeamten hatte, noch auch Geldmittel besaß, um an die Aufgabe heranzutreten. Dem Bauinspektor de Rège verschaffte ich einen Hilfsarbeiter, damit er selbst Zeit gewinnen sollte, um ein Bauprojekt auszuarbeiten, erhielt auch bei dem damaligen Kultus. und Finanzminister die Zusicherung, daß die überschläglich berechneten Koſten mit 120 000 Mark gewährt werden sollten. Das Bauprojekt wurde endlich nach Berlin gesandt, fand aber dort nicht die Genehmigung, nachdem sich der Kronprinz selber der Sache angenommen und mir mündlich erklärt hatte, er wolle viel höhere Ziele bei dem Ausbau dieser Kirche erreichen und aus ihr eine zweite Westminster- Abtei schaffen, in welcher alle berühmten Männer Deutschlands ihre Denkmäler erhalten sollten. So dauerte es nun viele Jahre, bis der Geheimrat Adler ein neues Bauprojekt ausgearbeitet hatte, und zwar unter Zuhilfenahme von Plänen meines Schwagers v. Quast, die sich in den Ministerialakten vorfanden. Leider sollte nun unſer Kronprinz die Einweihung der Kirche nicht mehr erleben.

Von dem deutschen Kaiser Karl V. war Luther und seine Lehre

heftig verfolgt worden, und jest zog ein deutscher Kaiser an der Spite vieler deutschen Fürsten und der bedeutendsten Männer der evangelischen Kirche in die herrlich wiederhergestellte Schloßkirche ein unter dem Geläute aller Glocken und unter dem Gesange des Lutherliedes „Ein feste Burg ist unser Gott". Es war eine der unvergeßlichsten Feiern meines Lebens ! In demselben Jahre, 1892, mußte meine Frau eine Kur in Karlsbad brauchen, und ich sah in ihrer Begleitung diesen berühmten Badeort wieder, welchen ich 50 Jahre vorher in Begleitung meines seligen Vaters kennen gelernt hatte.

Welch einen Aufschwung hat Karlsbad in diesem

halben Jahrhundert genommen, und mir machte es eine besondere Freude, alten Karlsbader Bürgern den Zustand ihrer Stadt fünf Jahrzehnte vorher zu schildern. Die Badekur, welche meiner Frau vortrefflich bekam denn es gibt doch kaum eine wirksamere Quelle für so manche Leiden war verschönt dadurch, daß mein Schwager Hugo v. Thile mit uns dort war, daß mein alter Synodalfreund, der Oberpräsident Schlesiens , v. Seydewiß, mit uns im selben Hauje wohnte und daß ich täglich mit dem Reichskanzler v. Caprivi verkehren durfte, welchen ich schon seit der Zeit kannte, als er Leutnant beim Franz-Regiment wurde. Auch der Graf Zedlig-Trüßschler wurde in Karlsbad leider vergebens erwartet, denn er war schwer erkrankt, nachdem sein Volksschulgesetz gefallen war, und er selbst deswegen seinen Abschied genommen hatte.

Gerade hierüber

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

hatte ich mit Caprivi, dessen Politik ich überhaupt nicht billigen konnte, lange Gespräche, nach welchen auch er damals seinen Abschied hatte nehmen wollen, aber dem Befehle, zu bleiben, hätte gehorchen müssen.

Nur aus

Gehorsam gegenüber dem Kaiser hatte er die Berufung zum Amte eines Nachfolger des großen Bismard angenommen, und als er von seinem ältesten Freunde, meinem Schwager Rudolph v. Thile, vor der Annahme eines solchen Amtes ernstlich gewarnt worden war, hatte er ihm geantwortet:

Ich weiß, daß ich in eine Brejche trete, in der ich untergehen

werde, und hoffe nur, daß ich mit Ehren untergehe !" Königstreue !

Eine seltene

Das Jahr 1893 brachte mir eine wunderschöne Reise nach Norwegen in der angenehmen Gesellschaft des Herrn v. Eller- Eberstein auf Mohrungen mit Frau und Töchtern und des Obersten v. Eberstein und seiner Frau.

Schon zweimal vorher hatte ich Schweden und Norwegen bereiſt :

zuerst im Jahre 1873 mit meinem Schwager Hermann v. Thile.

Damals

lernte ich das Widersachertum, ja, die Feindſchaft gründlich kennen, welche zwischen den Schweden einerseits und den Norwegern und Dänen anderseits besteht. Davon nur ein Beispiel aus meinen Reiſeerlebniſſen. In Malmö stiegen zwei Dänen, die zur Meſſe nach Nowgorod reiſen wollten, in den Schnellzug nach Stockholm mit uns ein ; ihr Gepäck war aber nicht mehr angenommen worden, obwohl noch genug Zeit dazu war.

Sie baten darum mich, ihr Gepäck auf unsere Fahrkarten eintragen

zu lassen, weil man sich ihnen gegenüber nur deswegen geweigert habe, weil sie an ihrer Sprache als Dänen erkannt worden seien. Mir war dies völlig unglaubhaft, ich erfüllte aber natürlich ihre Bitte.

Mitten in

der Nacht hielt der Schnellzug an einer kleinen Haltestelle zwischen dem Wetter- und Wenern- See.

Der ältere dänische Herr war mit Erlaubnis

des Schaffners einen Moment ausgestiegen, aber derselbe Schaffner ließ ihn nicht wieder einſteigen, da der Zug ſchon abgeläutet jei . half nichts, er wurde händeringend zurückgelaſſen .

Alles Bitten

Sein jüngerer Be-

gleiter war außer sich und erklärte wiederum, das ſei nur geſchehen, weil sie Dänen seien. Erst 24 Stunden nach uns kam der alte Herr in Stock holm an! Als ich am folgenden Tage einem Nachbar an der Mittagstafel des Grand-Hotels diese meine wunderlichen Erlebnisse mitteilte, war derselbe keineswegs erstaunt, versprach mir aber, der Sache nachzuforschen. Denn dieser, mein Nachbar, war der schwedische Eisenbahnminiſter, der mir seinerseits eine Menge von anderen Vorkommnissen berichtete, die in der Feindschaft der nordischen Völker ihren Grund hatten. Das Tollste von allem war doch das, daß die Norieger eine ganz andere Spurweite ihrer Eisenbahnen, als die ſchwediſchen, eingeführt haben, ſo daß auf der Bahn

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Reise nach Norwegen.

von Stockholm nach Chriſtiania die Züge an der schwediſch-norwegiſchen Grenze langen Aufenthalt haben, um umgeladen zu werden .

Die Absicht

der Norweger sei erreicht : den Verkehr zwiſchen ihrem und dem schwedischen Lande zu erschweren. Meine zweite Reise nach Norwegen war besonders interessant, weil ich mit meinen Reisebegleitern, meinem alten Freunde v. Jena- Cöthen, und meinem Neffen Heinrich v. Diest, die Einöden Norwegens in Telemarken aufſuchte, welche selten ein menschlicher Fuß betritt, da dort weit und breit keine Menschen wohnen. Wir waren jeder mit einer guten Flinte bewaffnet und lebten von dem Wilde, das wir schossen. Bei Beginn dieser Reise hatte ich den Hofprediger Stöcker kennen gelernt, der es gewagt hatte, ganz allein, nur mit einem Stock bewaffnet und mit Konserven in der Tasche, diese Einöden zu durchwandern . Auf meine Frage, was ihn zu solchem mutvollen Unternehmen veranlaßt habe, antwortete Stöcker, daß ihn die Faustſage und dann Byrons Manfred zu der Idee gebracht habe, in einſame Berghöhen hinaufzuklettern, daß aber hauptsächlich der Wunsch ihn bestimmt habe, selbst zu erproben, wie es dem Menſchen zumute ſei, wenn er allein Gott gegenüber in einer Wildnis sich befinde.

Nach einer solchen ersten Begegnung mit dem be-

deutenden Manne war ich durchaus nicht, wie viele andere, erstaunt, daß er einige Jahre nachher den Mut besaß, in großen Volksversammlungen mit kraftvollen Reden gegen das Judentum und gegen das unchristliche Wesen unserer Zeit aufzutreten. Nachdem wir den größten Wasserfall, den ich je gesehen, den Rjufanfoß, besichtigt hatten, stiegen wir drei in die unwirtbaren Höhen hinauf. Welche Fülle von Naturschönheiten birgt dieser Teil Norwegens ! Das Wasser ist hauptsächlich das Element, welches diese Schönheiten hervorbringt ; welch wunderbar schöne Seen, welche große Zahl von Wasserfällen, welche Gletscher und welche Eisfelder (die sogenannten Fonde) sieht der Wanderer dort täglich ! Und welch eine Menge von Wild! Zwar kamen wir auf Bären niemals und auf Renntiere nur einmal zum Schuß, aber dafür lieferten uns das Vogelwild, die Schneehühner, die Schnepfenarten, die wilden Enten 2c. leichte Beute.

Auffallend war es, daß die

genannten Vögel viel weniger scheu sind als bei uns ; doch sie wiſſen ja, daß es dort oben keine Menschen gibt, und ließen uns darum immer so nahe kommen, daß wir sie leicht schießen konnten. Ein wunderliches Tier fühlt sich in jenen Gegenden als der Alleinherrscher, es iſt der ſogenannte Lömming, sehr ähnlich unseren Meerschweinchen, aber größer ; zu Tausenden haben sie ihre Wohnungen unter großen Steinen und pflegen lange Wanderungen über Land und Wasser zu unternehmen, denn sie können wie die Waſſerratten stundenlang schwimmen. v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

34

Sie sind

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Dreizehnter Abschnitt : Regierungspräsident in Merseburg.

voller Mut und greifen in der Notwehr jogar den Menschen an.

Auch

ein schmackhafte Frucht kommt auf jenen Höhen vor, welche besonders geeignet war, unsern Durſt zu löschen : die Multebeere, welche unserer gelben Himbeere sehr ähnlich ist, nur größer und ſaftiger. In Christiania war uns von vielen Norwegern, die behaupteten, ihr Vaterland zu kennen, geraten worden, recht viel Angelgeräte mitzunehmen, da die Gewässer besonders reich an Fischen seien. Am ersten See, den wir trafen, dem Mjöswand-See, dessen Wasser den Rjukanfoß ſpeiſen, machten wir unſere teuer erkauften schönen Angeln zurecht und fuhren mit einem kleinen Boote, das wir am Ufer fanden, hinaus. Das Wasser war in größter Tiefe so klar, daß wir bis auf den Grund sehen konnten, aber kein Fisch war zu erspähen ; wir mußten unsere Versuche aufgeben und kamen endlich auf die richtige Schlußfolgerung, daß Fische dort gar nicht eristieren können, weil die Seen bei dem nordischen Klima und bei der Höhenlage von ein paar tausend Fuß über dem Meere bis auf den Grund ausfrieren.

Als wir endlich nach langer, aber herrlicher Wan-

derung in Odde an der südlichsten Spite des Hardanger-Fjords anlangten, hatten wir troß allen Hungers nur den Wunsch, Brot zu eſſen, weil wir so lange dieses Hauptnahrungsmittel behrt hatten.

des Menschen

ent-

Meine dritte norwegische Reise, 1893, führte mich weit in den Norden dieses herrlichen Landes hinein. Es würde zu weit führen, wollte ich meine Erlebnisse auch auf dieſer Reise hier wiedergeben, nur raten möchte ich einem jeden, der reiselustig und reisefähig ist, das Innere Norwegens aufzusuchen und nicht bloß an den Küsten entlangzufahren, wie dies heutzutage Mode geworden ist.

In Chriſtiania lernte ich Ibsen kennen, der

in einem langen Gespräch mit mir die Trennung Norwegens von Schweden, wie z . B. die damals schon begehrte Trennung des Konjulatwejens, für notwendig erklärte. Im Herbst 1893 wurde mein lieber Schwager Rudolf v. Thile nach einer schweren Operation, welche der Profeſſor v. Bramann in Halle vornahm, heimgerufen, und ſeinem Bruder folgte ein Jahr danach Hugo v. Thile. Beide Onkels ", wie ich sie mit meinen Kindern nannte, ruhen neben unseren beiden Enkeln auf dem Kirchhofe zu Merseburg . Die Todesfälle diejer Männer, die ich so lieb hatte, wie meine eigenen Brüder, erschütterten mich tief, aber noch mehr war es die schwere Krankheit meiner Frau, welche mich bestimmte, am 1. November 1894 meinen Abschied zu nehmen, zumal da mir mitgeteilt worden war, daß Allerhöchsten Orts die Willensmeinung zum Ausdruck gekommen sei, keinen Verwaltungsbeamten, welcher älter als 65 Jahre alt sei, in den höheren

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Abſchied aus dem Staatsdienſt.

Stellen zu belassen.

So jagte ich denn am 31. Oftober 1894 allen Be-

hörden, Beamten und Einwohnern des Merseburger Bezirks ein herzliches Lebewohl und fügte meinem Abschiedsgruß folgende Worte hinzu : „über 28 Jahre lang befinde ich mich in dem Amte eines Regierungspräſidenten, und über 18 Jahre lang ist dieser schöne Bezirk meiner Verwaltung anvertraut gewesen. selten lange Zeit zurück.

Mit Freude und Dank schaue ich auf diese

Vor allem aber danke ich für all die freudige

Unterstützung, die ich von allen Behörden stets erfahren, für all die warme Liebe, die mir in so reichem, unverdientem Maße zuteil geworden. Da mich Seine Majestät zum Kapitular des Merseburger Domstifts ernannt haben, so freue ich mich, meinen Wohnsiß hier behalten zu können."

34*

Bierzehnter Abschnitt. Dechant des Domkapitels in Merseburg.

as Domkapitel zu Merseburg hat nur drei Domherrenstellen , von denen damals die eine der Generaloberst v. Pape, die zweite der Generalpostsekretär v. Stephan innehatte, die dritte aber durch den Tod des bisherigen Dechanten, meines alten Freundes, des Wirklichen Geheimen Rats v. Brandenstein zu Naumburg, vakant geworden war. Der älteste Domherr führt den Titel Dechant, der nächſtälteſte den Titel Senior und der jüngste den Titel Kapitular. Herr v. Pape und v . Stephan wählten mich, obwohl ich der jüngste war, zum Dechanten, und ich konnie nun sofort in die alte Domdechanei (früher Dompropſtei) einziehen. Dies wohnliche Haus stammt nach einigen Inschriften aus dem Jahre 1545, ist rings von Gärten umgeben, welche bis an die Saalebrüde und an den Schloßgarten reichen, hat eine Front von 14 Fenstern und eine herrliche Aussicht, die mindestens ebenso schön ist als die von dem Balkon des Schlosses, unserer bisherigen Wohnung. Ebenso wie zum Dechanter: wurde ich auch zum Mitglied des Herrenhauses gewählt. Ich übernahm sofort die Verwaltung des Domkapitels, welche eine Menge von Ge schäften mit sich bringt, denn dieses uralte, früher fast souveräne Institut besitzt in der Stadt Merseburg eine große Zahl von Häusern, den soge nannten Domkurien, welche zu vermieten sind, da nur je eine den drei Domherren zur Benutzung überwiesen ist. Das Kapitel besitzt ferner eine Menge von Wiesen und Ackergrundstücken wie auch mehrere Waidparzellen, welche teils dem preußischen Oberförster in Schkeudit, teils dem sächsischen Oberförster in Zwenkau zur Verwaltung übergeben sind . Auch ein Kapital von rund 1 Million Mark befindet sich im Besiz des Domkapitels, welches ferner noch Patron von vielen Pfarreien ist, so daß die Besetzung der Pfarr- und der Schulstellen dem Domkapitel zuſteht.

Die Domdechanei. ---- Abschiedsovationen.

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Die Unterhaltung der vielen Pfarrhäuser und Kirchen wie auch die der südlichen Hälfte des Merseburger Doms, erfordert bedeutende Ausgaben. Endlich ist seit vielen Jahrhunderten das Domgymnasium ein Kind des Domkapitels,

für dessen Unterhaltung die Einnahmen des Kapitels

schon seit langem nicht mehr ausreichen, ſo daß die Staatsregierung Zuschüsse gewähren mußte.

Als Mitglied des Herrenhauses muß ich jährlich

zu dessen Sitzungen oftmals nach Berlin reisen. Welch eine Fülle von rührenden Briefen und von reichen und schönen Geschenken sind mir bei meinem Abschiede von allen Seiten zugegangen! Meine Wohnung ist auf das schönste geschmückt mit diesen wundervoller Zeichen wahrer Liebe und Anhänglichkeit. Hier liegt ein von den Landräten des Bezirks gestiftetes kostbares Album, in dem nicht nur deren Photographien, sondern auch aus jedem Kreise treffliche Abbildungen irgend eines Bauwerks enthalten sind, bei deſſen Herstellung ich mitgewirkt habe. Weiter steht auf hoher Staffelei das herrliche Album der Stadt Halle, das eine Deputation des Magiſtrats und der Stadtverordneten an dem letzten Tage meiner Amtszeit, während ich als Mitglied der Generalsynode in Berlin weilte, im Herrenhause überreichte, und in welchem die Bilder von Halle so gewählt sind, daß sie Kirchen, Pläge, öffentliche Gebäude darſtellen , deren Erbauung oder Einrichtung ich gefördert habe. Die Stadt Torgau schickte ein prachtvolles Aquarell, das die Stadt mit der Elbbrücke und dem Schlosse Hartenfels wiedergibt. Die Stadt Weißenfels verehrte einen Tischauffag von geschichtlichem Werte, denn sein oberer Teil ist aus dem Holze der Linde gefertigt, unter welcher Blücher am 21. Oktober 1813 den übergang seines Heeres über die Saale bei Weißenfels leitete, und der untere Teil besteht aus einem Stück der uralten Eiche, die bei dem Neubau des Weißenfelser Schlosses 1660 zur Verwendung gelangte. Die Stadt Lüßen schenkte ein wundervolles plastisches Kunstwerk, nämlich das Gustav Adolf- Denkmal mit dem Schwedenstein in Bronzeguß .

Mehr als 50 Städte des Bezirks hatten

sich zu einer gemeinsamen Stiftung vereinigt und überreichten eine der Trajansäule in Rom nachgebildete Ehrensäule aus Silber mit der ſinnigen, in den 28 großen Buchstaben die Jahreszahl 1894 wiedergebenden Widmung: VIro DILeCto praesIDI bene VoLentI e gente DIest

honorIs InsIgnIa CIVItates pLeraqVe gratIosae trIbVerVnt. Die Wappen der Städte umschlingen die ganze, in ihren Proportionen schöne Säule in farbiger Emaille. Vier allegorische Figuren in Silber, die Industrie, der Handel, die Landwirtschaft und die Obstbaumzucht,

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Vierzehnter Abſchnitt : Dechant des Domkapitels in Merseburg.

find, an den vier Ecken der zu der Säule aufführenden Treppe ſizend, angebracht.

Zwischen den vorderen Figuren prangt in bunter Emaille

mein Familienwappen, und zwischen den hinteren Figuren ist meine frühere und jezige Wohnung, auf Silber graviert, abgebildet. Die Handelskammer in Halle widmete eine prachtvolle, von allen Mitgliedern unterzeichnete Adresse.

Wunderschön sind auch die Dedikationen, welche

die Handwerker des Bezirks darbrachten, bestehend in einem großen Bilde ſowie in einem geschmackvoll ausgeführten Dankschreiben für meine Bemühungen um die Hebung des Handwerkerstandes. Bei einem Festkommers, an welchem viele Hunderte von Handwerksmeistern teilnahmen, wurden mir diese Geschenke überreicht . Ferner verehrten mir die Direktoren und Oberbeamten der drei großen Strafanſtalten in Halle, Lichtenburg und Delitzsch ein Album mit ihren Photographien

sowie

mehrere

Kriegervereine die Ehrenmitgliedsdiplome.

Endlich spendeten die Mitglieder und Beamten der Königlichen Regierung ein großes, das Schloß und die Dompropstei mit der Waterloobrücke und der Neumarktskirche darstellendes Ölbild von Professor Jakob in Berlin, welches sowohl durch die Detailausführung wie durch die Gesamtstimmung eindrucksvoll wirkt. Die Damen des Regierungskollegiums wandten sich außerdem in besonders sinniger Weise an meine Frau, indem sie derselben mit einer herzlich gefaßten Adresse einen künstlerisch geschnigten Lehnstuhl mit Teppich übergaben, deren Stickereien von den Damen eigenhändig ausgeführt waren,

und die Damen

des

Frauenvereins

sandten einen großen Korb mit dem herrlichsten Blumenschmuck, wie auch viele andere Blumen unsere neue Wohnung zum Willkommen schmückten. Das weitaus schönste Geschenk wurde mir von Gott dem Herrn zuteil, daß meine Frau, die drei Monate lang, so gut wie hoffnungslos und aufgegeben, in der Bramannschen Klinik zu Halle gelegen hatte, am Weihnachtsabend zu mir zurückkehren konnte und, seitdem wieder frisch und gesund, mich zum glücklichsten Menschen gemacht hat! Im Mai 1895 verlor ich meinen alten Freund, den Oberforſtmeiſter Müller, welcher als mein Mieter das untere Stockwerk der Dompropstei bewohnte. Es ist gewiß ein seltener Fall, daß zwei Beamte 25 Jahre miteinander im Königlichen Dienste arbeiten dürfen ; denn, abgeſehen von einigen Jahren, die Müller in Königsberg zubrachte, ist er seit 1869 mein Oberforstmeister und ich sein Präsident gewesen. So sind denn auch seine Söhne mir wohlbefreundet und seine Witwe in unserem Hauſe bis zu ihrem Tode wohnen geblieben. Zum Andenken an meine seligen Schwäger, die Generale v . Thile, die am Ende ihres Lebens lange Jahre in Hannover gewohnt haben, stifteten meine Frau und ich das erste Fenster des großen Chors der neuen Garnisonkirche in Hannover, während das zweite (Mittelfenster)

Abschiedsovationen. - Handwerkertag 2c.

535

vom Prinzen Albrecht, das dritte von den Hannoverschen Offizierkorps geschenkt worden sind.

Auf den drei Fenstern sind in Glasmalerei die

drei größten Feste der Christenheit, Weihnachten, Ostern und Pfingsten, dargestellt, und nach dem Urteil von Sachverständigen soll die Wirkung eine große und erhabene sein. Leider sind wir noch nicht dazu gekommen, die Fenster an Ort und Stelle in Augenschein zu nehmen. Der Ornithologische Zentralverein für Sachſen und Thüringen ernannte mich zu seinem Ehrenmitgliede, weil ich es während meiner Amtszeit mit Erfolg angeregt hatte, daß sich die zahlreichen Lokalvereine für Geflügelzucht zu einem Gesamtverbande verbunden hatten und eine beſondere Abteilung in dem Landwirtschaftlichen Zentralverein und später in der Landwirtschaftskammer bildeten. Ich hatte in meinem früheren Leben nie geahnt, daß die Förderung der Geflügelzucht eine so große, national-ökonomische Bedeutung hat. Deutschland muß endlich auch in dieser Beziehung unabhängig vom Auslande werden, wohin noch immer ungeheuere Summen deutschen Geldes durch den erforderlichen Import von Geflügel und Eiern fließen. Endlich muß ich noch des allgemeinen deutschen Handwerkertages, der im April 1895 in Halle tagte, Erwähnung tun. Es war ergreifend, mit welcher Wärme und welcher Rednergabe die schlichten Handwerker ihre Wünsche in bezug auf die Geſezgebung und speziell in bezug auf den von ihnen geforderten Befähigungsnachweis in der großen Versammlung von vielen Hunderten zum Ausdruck brachten. Ich schloß meine Rede unter stürmischem Beifall mit den Worten, daß die Handwerker ausharren müßten in ihrem Kampfe und Bismarcks legten Zuruf an die Innungen . zur Tat werden lassen möchten : „Alle für einen und einer für alle !" Unter den vielen Reisen, die ich in meinem Leben gemacht, und die ich hier nicht einzeln erwähnt habe, waren die nach Wildbad in Württemberg und nach Gastein die, welche mich körperlich und geistig am meisten erfrischt haben.

Ich bin in beiden Bädern je dreimal gewesen und hatte

stets das Glück, dort die interessantesten und liebenswürdigsten Menschen fennen zu lernen, so namentlich in Wildbad das musikalische Ehepaar v. Herzogenberg. Der Mann ist der große Komponist von klaſſiſchen Werken, die Frau war eine der bedeutendsten Klavierspielerinnen, die wohl je gelebt haben, wenn sie auch niemals in die Öffentlichkeit getreten ist. Leider ist sie schon vor einigen Jahren, viel zu früh für alle, die sie verehrt haben, heimgerufen worden . In Gaſtein wurde ich aufgefordert, zur Feier des Sedantages die Festrede vor allen deutschen Kurgäſten zu übernehmen und das Hoch auf den deutschen und den österreichischen Kaiser auszubringen. Mein Hauptthema waren die Erinnerungen an den alten Kaiser Wilhelm und zwar die Tränen des verewigten Herrn, deren Zeuge ich selbst gewesen war, nämlich 1857 bei seinem 60jährigen Ge-

536

Vierzehnter Abschnitt: Dechant des Domkapitels in Merseburg.

burtstag ; 1867, als er in Wiesbaden eingezogen und zum ersten Male die annektierten Lande betreten hatte ; 1870 in Versailles, als die Deputation des Reichstags mit dem Wunsche vor ihm stand, die Kaiserkrone anzunehmen ; 1872, als er meinen Schwager Hermann v. Thile bei deſſen Abschied aus dem Staatsdienste mit Tränen der Rührung umarmte und 1885, als die Generalsynode ihn vor dem Bilde der heiligen drei Könige in der Kapelle des Domkandidatenstiftes begrüßte. Nicht weit von dem Saale, in welchem das Sedanfest gefeiert wurde, steht das Denkmal, welches Gasteiner Badegäste zum Gedächtnis Kaiser Wilhelms des Großen errichtet haben, und kaum gibt es einen anderen Ort wie Gastein, ar welchem die Erinnerungen an den unvergeßlichen Herrn lebendiger gepflegt werden. Wie oft hat das segensreiche Gasteiner Wasser unserem seligen Kaiser neue und frische Lebenskraft bis an sein Ende verliehen! Großartig verlief die Feier bei dem 25jährigen Jubiläum des Deutschen Reichs und des deutschen Kaisertums am 18. Januar 1896. Bis ins kleinste Einzelne hinein hatte der Kaiser alles vorgesehen und bestimmt.

Der Zug in den Weißen Saal war pompös ; furz vor seinem

Eintritt in diesen kam ein Flügeladjutant herbeigeeilt, um den Musikkorps nach oben zuzurufen, daß sie sofort mit Blasen aufhören sollten, sobald der Kaiser selbst am Schlusse des Zuges seinen Fuß in den Weißen Saal sebe.

Während die Trompeten vorher laute Töne hatten erschallen

laſſen, trat eine lautlose Stille ein auf dem ganzen Wege, den der Kaiser von der Saalschwelle bis zum Throne in feierlich langsamstem Schritt zurücklegen mußte.

Seine Rede an den versammelten Reichstag und

Landtag war ergreifend, die Andacht in der Versammlung wurde nur durch brausende Zurufe unterbrochen, als der Kaiser in seiner Rede den Namen Bismarck nannte.

Ein hehrer und packender Moment war es ,

als der Kaiser die Fahne des 1. Garde-Regiments in die Hand nahm und die Worte sprach : „ Ein Gott, Ein Volk, Ein Reich! " Bei dem Diner von vielen hundert Kuverts saß ich dem Kaiser schräg gegenüber, nicht weit vom Reichskanzler, weil ich zu den Wenigen gehörte, welche als Mitglieder der Reichstagsdeputation im Dezember 1870 dem alten Kaiser die Bitte der deutschen Volksvertretung überbracht hatten, die Kaiserkrone anzunehmen. Alle diese noch lebenden Mitglieder hatten den Ehrenplay erhalten.

Der Kaiser, welcher zwischen seiner Mutter und seiner Gemahlin

saß, trug mit diesen Damen zum ersten Male den neugegründeten Wilhelms- Orden . Rührend war es, daß der Kaiſer ſich erdacht hatte, jeden Teilnehmer des Diners zu überraschen, denn ein jeder fand unter seiner Serviette auf dem Teller das blaue Kuvert mit dem genauen Faksimile des Telegramms des alten Kaisers Wilhelm an die Kaiſerin Auguſta vom Schlachtfelde von Sedan her. Die Ansprache des Kaiſers bei der Einweihung der Erlöserkirche in

25jähriges Jubiläum des Deutſchen Reiches.

537

Jerusalem am 31. Oktober 1898 hatte mir, wie jedem evangelischen Christen, so große Freude gemacht, daß ich sie zu dauerndem Gedächtnis in 25 Kirchen, deren Patrone das Merseburger Domkapitel und mehrere meiner Anverwandten sind, schön eingerahmt habe aufhängen lassen. Ich bat nun den Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats, in allen evangelischen Kirchen Deutschlands wie auch im Orient und namentlich in Palästina, das gleiche zu veranlaſſen, zumal ja dieſe köstliche Ansprache nur einem kleinen Teil der evangeliſchen Bevölkerung bekannt geworden und zwar nur durch die Zeitungen, deren Inhalt bald vergeſſen wird. Dieses Zeugnis des Glaubens unseres Kaiſers an unseren Herrn Jesum Christum verdiene es gewiß, für weite Zukunft hinaus allen evangelischen Gemeinden vor Augen geführt zu bleiben. dankbar ablehnende Antwort.

Ich erhielt eine freundlich

Schließlich möchte ich noch erwähnen, daß mir unsere erhabene Kaiserin, wie auch früher alljährlich, so auch bei Gelegenheit der Verſammlungen des Ausschusses für den evangelisch-kirchlichen Hilfsverein, welche im Elisabethsaal des Königlichen Schlosses schon frühmorgens vor 9 Uhr stattfinden, als ein ganz besonders von Gott begnadetes Wesen erschienen ist.

Mit welch inniger Teilnahme verfolgt sie da die langen Verhand-

lungen, und wie gewinnt sie dann im Gespräch das Herz eines jeden einzelnen. Welcher Segen ruht denn auch sichtbar auf ihrem Werke, bei welchem sie der furchtbaren Kirchennot in Berlin und in vielen anderen Orten zu steuern sucht. serem Kaiſer !

Gott erhalte sie uns als Schußengel neben un-

In all den Jahren, welche ich nach dem Austritt aus dem Staatsdienst verlebt habe bis heute, habe ich viel Mühe darauf verwendet, daß ein Gejez zur Regelung der Wandererarbeitsstätten stationen) erlassen werden möge.

(Verpflegungs-

Schon im Jahre 1895 hatte ein solcher

Gesezentwurf dem Abgeordnetenhause vorgelegen und war, nachdem er in erster und zweiter Lesung und in den Beratungen der Kommiſſion günſtige Aufnahme gefunden hatte, in dritter Lesung mit einer geringen Majorität abgelehnt worden, hauptsächlich aus dem Grunde, daß der Finanzminister jegliche Staatsbeihilfe verweigerte.

Nach weitläufigen

Verhandlungen ist von dem betreffenden Zentralvorstande aller deutschen Wandererarbeitsstätten unter der Leitung des Oberpräsidenten Studt (jezigen Kultusminiſters ) ein neuer Gesezentwurf ausgearbeitet worden, welcher zum Hauptziel die Errichtung von Arbeitsnachweisſtellen ins Auge gefaßt hat.

Die bedeutendsten Abgeordneten aus allen Fraktionen

haben diesem Entwurf im allgemeinen zugestimmt ; er ist aber trotz allen Drängens von unserer Seite von dem Herrn Minister des Innern noch nicht dem Landtag vorgelegt worden. Ich empfinde darüber eine beſondere Betrübnis, weil ich zum Nachfolger des Herrn Studt gewählt

538

Vierzehnter Abschnitt : Dechant des Domkapitels in Merseburg.

wurde,

denn

das

Intereſſe

an den

Wandererarbeitsstätten

iſt

in

vielen Gegenden Deutschlands sehr abgeschwächt, weil die Lage der Industrie die Zahl der arbeitslosen Wanderer fast auf die Hälfte herabgedrückt hat, darum die Plage der Wanderbettelei in viel geringerem Maße als früher das Publikum beläſtigt, und weil in Preußen die Aufhebung der lex Huene den landrätlichen Kreisen die Geldmittel benahm, welche sie in früheren Jahren für die Wandererarbeitsstätten verwenden konnten. So ist denn im Laufe der letzten Jahre eine Arbeitsstätte nach der anderen eingegangen, und es liegt die Besorgnis nahe, daß dieſe segensreichen Anstalten bald ganz verschwinden, wenn nicht von seiten der Gesetzgebung Hilfe geschafft wird. Wie ein Naturereignis erschütternd wirkte der Tod des Fürſten Bismarck hinaus in alle Welt, und tief betroffen stand an seinem Sarge trauernd die gesamte deutsche Nation.

Ein Mann war heimgerufen, ſo

gewaltig, wie dem deutschen Volfe außer Luther kaum ein anderer erstanden war. Bismarck war ein besonderer, alleinstehender, einzigartiger, ein durchaus deutscher Geist, nur denkbar auf dem Boden deutschen Volks. tums .

Bei den intimeren Beziehungen, welche mich mit ihm und seiner

Familie eine lange Zeit hindurch verbunden hatten, bin ich durch dies Ereignis in besonders tiefe Trauer versetzt worden. Viele andere Trauerfälle trafen mich in den Jahren nach meinem Abschiede aus dem Staatsdienst. Der Oberhofprediger Kögel ſtarb im Juli 1896 ; alle meine Erinnerungen an ihn habe ich besonders aufgeschrieben, damit sie in seiner Lebensgeschichte, * ) die jest bearbeitet wird, aufgenommen werden können. Im Januar 1898 starb plötzlich mein liebster Freund, Arthur v . Wolff, als Chefpräsident der Oberrechnungskammer in Potsdam ; ſeit dem Jahre 1837 hatte mich mit ihm die engſte Freundschaft verbunden, so daß ich einen ganzen Band ſeiner reizenden Briefe der Witwe und den Kindern übergeben konnte.

Im Mai 1898

wurde der Direktor des Mansfelder Bergbaues, Geheimrat Leuschner, abgerufen ; welche Sorgfalt hatte er, der etwa 17 000 Bergleute mit über 60 000 Familiengliedern zu beſchäftigen hatte, für die Wohlfahrt ſeiner Arbeiter angewendet, und mit welcher Energie stand er viele Jahrzehnte lang seinem Amte vor, so daß auch bei den Wahlen keine einzige sozial demokratische Stimme in dem Bereiche des Mansfelder Bergbaues ab gegeben worden ist.

Am Sonntag vor Pfingsten 1899 verließ ein Kind

Gottes das irdische Leben, der D. Heinrich Hoffmann, Paſtor zu St. Laurenzi in Halle ; auch diesem Manne, den ich noch kurz vor seinem Tode wiederholt besucht, habe ich viel zu danken.

Und endlich hat mich die

,,Rudolf Kögel. Sein Werden und Wirken." Bd . I., 1889 ; Bd. II. , 1902 ; Bd. III. in Vorbereitung. Berlin, E. S. Mittler & Sohn.

539

Todesfälle.

Erlösung Roberts v. Puttkamer, Oberpräsidenten von Pommern, von ſeiner langen Krankheit am 15. März 1900 tief ergriffen ; auch mit ihm war ich seit 60 Jahren befreundet, er war in allen seinen hohen Stellungen und namentlich als Minister des Innern ein durch und durch patriotisch und christlich gesinnter Mann, dem König und Vaterland viel zu verdanken haben ; er war in all den lezten Jahren mein Nachbar im Herrenhauſe. Wie hat der Tod auch in meinem Merseburger Freundeskreise neuerdings die Reihen gelichtet, und bei jedem einzelnen dieser schmerzlichen Ereignisse wird mir das Wort in die Seele gerufen : „Lehre mich bedenken, daß ich sterben muß, auf daß ich klug werde!" Diese Mahnung traf mich am eindringlichsten, meinen Bruder Otto verlor.

als

ich plöglich

Er war am 31. Juli 1901 80 Jahre alt ge-

worden und feierte seinen Geburtstag inmitten seiner großen Familie : Seine Frau, 15 Kinder und Schwiegerkinder und über 30 Enkelkinder waren um ihn versammelt. Er ging dann wie in jedem Sommer nach Kolbergermünde, wo er sich trot jeines Alters im Seebade erfrischen wollte.

Am 30. Auguſt früh ſchrieb er an mich den lezten Brief, worin er

mir seine Rückkehr nach Taber mitteilte.

Am Abend dieſes Tages war

er noch ganz wohlauf mit den Seinigen und ging zu Bett ; er erwacht aber um Mitternacht, bittet, ihm die Losung des Tages vorzulesen, welche lautete : „Heute noch wirst du mit mir im Paradieſe ſein! “ und tut ſeinen lezten Atemzug um 121 Uhr nachts mit den Worten : Wie Gott will " Er hatte ein „köstliches Leben voll Mühe und Arbeit“ geführt ; er besaß eine eiserne Festigkeit des Willens und lebte nach manchen Unbilden, die ihm widerfahren, wie ein Patriarch mitten unter seinen Kindern, die alle in der Nähe von Daber wohnen. Er war ein treuer Patriot und ein gläubiger, frommer Christ. Zu seinem Begräbnis konnte ich nicht reisen, da ich seit Mitte 1900 von schwerer Krankheit heimgesucht war, bei deren Beginn mich die Ärzte aufgegeben hatten. Welch ein glücklicher Mensch bin ich aber, daß mir Gott der Herr meine Gesundheit und Lebensfreudigkeit bis in meine alten Tage bewahrt hat. So konnte ich noch vom Februar bis zum April 1899 eine wunderschöne Orientreise trotz aller damit verknüpften Strapazen glücklich beendigen, deren Hauptziel das Land war, auf welchem unser Herr und Heiland gewandelt hat, und welches mit eigenen Augen zu sehen, meine Sehnsucht von frühester Jugend ab gewesen war.

Auch im Herrenhause konnte ich eine

nicht leichte Lanze für die gesetzgeberische Erklärung des Karfreitags zu einem vollen christlichen Feiertage einlegen, wobei freilich durch den Widerstand des katholisch- deutschen Episkopats der Zweck des Gesetzes nicht in seinem ganzen Umfange erreicht werden konnte.

Auch die evan-

gelische Bewegung in den katholischen Ländern, namentlich in Österreich

540

Vierzehnter Abschnitt : Dechant des Domkapitels in Merseburg.

und Frankreich, habe ich nach meinen schwachen Kräften fördern helfen. Nach langen Verhandlungen konnte ich das bis dahin vom Domkapitel unterhaltene hiesige Gymnasium den staatlichen Behörden übergeben ; es geschah dies auf meine eigene Anregung, weil dieses Gymnaſium eine Art Staat im Staate bildete, so daß insbesondere seine Lehrkräfte nicht an ein anderes Gymnasium verjetzt werden und an manchen Wohltaten, die den Staatsgymnaſien gewährt wurden, nicht ohne viele Weiterungen teilnehmen konnten. Eine besondere Freude erlebte ich noch im Jahre 1899, als die drei Kreissynoden, Lüßen, Merseburg- Stadt und -Land, mich zum Abgeordneten für die sächsische Provinzialsynode wählten ; hatte ich ja doch, so lange ich Beamter war, als Mitglied aller Provinzial- und Generalfynoden fungieren können und davon viel Gewinn für mich selbst bei meinem lebhaften Intereſſe für alle kirchlichen Fragen davongetragen. Kurz nur möchte ich erwähnen, daß der Burenkrieg in Südafrika mich ebenso, wie jeden ehrlichen Menschen in ganz Europa, in die tieſſie Mitleidenschaft gezogen hat. Kann es einen schandbareren und verdammenswerteren Krieg geben als den, in welchem England - dem Goldund Diamanten-Jobbertum dienſtbar - ein kleines , ruhiges Chriſtenvolk aus nichtigen Ursachen mit seinen Söldnermassen überfällt. Gott der Herr möge ein Strafgericht über den ruchlosen Angreifer herniederschicken, so wie Er 1812 den Despoten Europas geschmettert hat !

von seiner

übermacht

herab-

Dankbar muß ich bis zu meinem Lebensende dafür sein, daß ich nicht das Los so vieler Verabschiedeten teile, keine Arbeit zu haben, sondern daß ich noch jede Stunde meines Daſeins nüßlich verwenden kann. Von weit über 30 bis 40 Vereinen bin ich auch jetzt noch Mitglied oder Vorfizender, außerdem habe ich mich der Schriftstellerei ergeben. Zum 18. März 1897 veröffentlichte ich meine Erinnerungen an jenen Berliner Revolutionstag, * ) insbesondere auch zu dem Zweck, um meinen seligen Onkel Ernſt v. Bodelschwingh von dem Verdachte zu reinigen, als habe er die Truppen Seiner Majestät nach ihrem siegreichen Kampfe gegen die Barrikadenhelden aus Berlin herausgewiesen. Dieſem meinem hochverehrten Onkel habe ich auch noch an der Stelle, wo er als freiwilliger Jägeroffizier in dem blutigen Gefechte in Freyburg a. U. durch eine französische Kugel schwer verwundet und wie durch ein Wunder am Leben erhalten wurde, ein Denkmal gesezt, bei dessen Einweihung der Pfarrer v. Bodelschwingh die zerschossene Uniform feines Vaters mit ergreifenden Worten der großen Festversammlung und namentlich der zahlreichen Jugend vor die Augen führte. *) , Meine Erlebnisse im Jahre 1848 und die Stellung des Staatsminiſters v. Bodelschwingh vor und an dem 18. März 1848." Berlin 1898. E. S. Mittler & Sohn.

Schriftstellerei.

541

Ferner gab ich zum hundertjährigen Geburtstag Kaiser Wilhelms des Großen, dem 22. März 1897, meine Erinnerungen * ) an ihn heraus, welche den großen Zeitabschnitt vom Jahre 1833 bis zu seinem Tode am 9. März 1888 umfaßten. Viel herzlichen Dank habe ich aus ganz Deutschland für diese meine kleine Schrift geerntet. Mitte 1899 hatte ich endlich auch die Lebensgeschichte meines seligen Baters

fertiggestellt, und meine Freude ist, daß das Andenken an ihn

in dem großen Kreiſe ſeiner Nachkommen durch dieses Buch lebendig erhalten werden wird. Auch meine Orientreise ** habe ich zum Besten des Jeruſalemvereins zu Papier gebracht und drucken lassen. Sie ist viel gelesen worden, die erste Auflage iſt faſt vergriffen, und die Einnahmen dafür sind dem genannten Vereine vorläufig schon mit über 800 Mark übermittelt worden. Den Schluß meiner Schriftstellerei machen nun vorliegende Erinnerungen " Aus dem Leben eines Glücklichen". Mögen auch sie das Andenken an mich in dem großen Kreiſe meiner Verwandten und Bekannten wacherhalten ! Allen, die mir durch ihre unverdiente Liebe Freude bereitet haben, danke ich von ganzem Herzen ; namentlich meiner geliebten Frau, meinen Kindern und Enkelkindern, meiner einzigen Schwester Adelheid und allen den Ihrigen, meiner Couſine Anna v. Grüter, meinen Neffen und Nichten, Großneffen und Großnichten sowie allen meinen vielen Freunden! Ich kann aber mein Leben besonders darum ein glückliches nennen, weil ich, je älter ich geworden, um so tiefer davon durchdrungen bin, „ daß ich nicht wert geweſen all der Barmherzigkeit und Treue, die der Herr an mir getan“, und daß ich darum, wie mein seliger Vater vor seine Bibel, über mein ganzes Leben schreiben muß:

Domine non sum dignus .

„ Meine Erinnerungen an Kaiser Wilhelm den Großen." Berlin 1898. E. S. Mittler & Sohn. **) „Heinrich v. Dieſt, weiland General-Inspekteur der Artillerie.“ Ein Lebensbild nebst Mitteilungen zur Geschichte der Familie v . Diest. Berlin 1899. E. S. Mittler & Sohn. ***) ,,Meine Orientreise im Frühjahr 1899." Berlin 1899. E. S. Mittler & Sohn .

Anhang .

1. Brief des Kronprinzen Friedrich Wilhelm an den Staatsfekretär v . Chile und Briefe des Königs und Kailers Wilhelm I. an den General v. Chile.

Enter den Papieren

meines Schwagers v. Thile befindet sich fol-

gender eigenhändiger Brief des Kronprinzen Friedrich Wilhelm. Berlin , den 6. Januar 1864. Bereits seit 14 Tagen hier wieder anwesend, habe ich bisher noch keine Mitteilung unserer Gesandtschaftsberichte erhalten. Je bedeutungsvoller und entscheidender der gegenwärtige Augenblick iſt, um ſo größeres Gewicht muß ich darauf legen, von dem Gange der Ereignisse und der Gestaltung der europäischen Beziehungen in fortlaufender Kenntnis zu sein. Wenn es der Geſchäftsgang nicht wohl zuläßt, daß mir die betreffenden Aktenstücke bald nach ihrem Eingange zugestellt werden, wenn dieser, wie ich anerkenne, schwer zu beseitigende übelſtand meine Kenntnisnahme stets weit hinter den Ereigniſſen zurückbleiben läßt, so könnte demselben doch dadurch in etwas abgeholfen werden, daß Sie mir außer den Berichten Abschriften der eingehenden Telegramme vorlegen ließen. Es wird keine Schwierigkeit haben, Abschrift der gedachten Telegramme mir meiſt noch am Eingangstage selbst zuzusenden. Sendungen baldigst zu veranlaſſen.

Ich fordere Sie auf, dieſe

(gez .) Friedrich Wilhelm , Kronprinz ...

v. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

35

Anhang.

546

Ferner eine mit Bleistift eigenhändig geschriebene Notiz des Königs Wilhelm I. über die bei Düppel verwundeten und gestorbenen Offiziere. Sie lautet: „Am 17. vor Düppel

Verwundet : leicht

schwer

( Oberst Hartmann Hauptmann v. Bosse v. der Schulenburg

60te R. 55te = 15te = -

v. der Reck, zum 2ten mal { Pr. Lt. Gerhardt be Lt. v. Ranzau

64te = 24te =

leicht tot

v. Studniß, zum 2ten mal

55te =

Höltscher

15te Landwehr.



Dänen schlugen sich sehr tapfer und hatten sehr große Verluſte.“

Unter den vielen Briefen Seiner Majestät des Königs und Kaiſers Wilhelms des Großen an den Unterstaatssekretär v. Thile sind folgende die wichtigsten :

1.

Berlin , den 28. Dezember 1869.

Bevor wir wieder in geschäftliche Verbindung treten, muß Ich Ihnen Meine innigste Teilnahme* ) aussprechen zu der schweren, schmerzlichen Prüfung, welche Ihnen die Vorsehung auferlegt. Aber da diese Prüfung von dort kommt, von wo auch Ergebung und Hoffnung kommt, ſo werden Sie auch diese empfinden ! Anliegend sende Ich Ihnen 2 .

(gez.) Wilhelm.

2.

Berlin , den 15. März 1870. Das heute kleine Herren-Diner beim Fürsten Hohenzollern ist be

stimmt, um nach demselben die aufgetretene Frage : „ der Annahme der spanischen Krone durch den Erbprinzen von Hohenzollern “ zu besprechen. Da Fürst und Erbprinz große Abneigung zeigen, diese Krone anzunehmen, der Ministerpräsident aber in einem Mémoir sich für Annahme ausge sprochen hat, Ich aber bei Meiner Abneigung auch gegen die Annahme

*) v. Thile hatte seinen einzigen Sohn verloren.

547

Briefe Kaiser Wilhelms I.

aussprach, so will Ich nicht in einer so wichtigen Frage entscheiden, che Ich nicht die Ansicht der zum Diner eingeladenen Staatsmänner gehört habe.

(gez.) Wilhelm. 1/210 Uhr Vorm. Zirkular an General v. Moltke. Minister v. Schleiniz. : v. Roon. Delbrück. Staatssekretär v. Thile.

3.

Berlin , den

17. Januar 1873.

Sie werden es verstehen, wenn Ich Ihnen nicht g le ich beim Rücktritt aus Ihrer aktiven Stellung eine Auszeichnung zukommen ließ, denn einmal sind Sie noch im Dienst, und zweitens muß Ich in Meiner Stellung Rücksichten so vielerlei Art nehmen, um reizbare Nerven nicht zu überspannen und zugleich zu schonender Gesinnung Raum zu lassen ! Das Ordensfest gibt mir aber die gewünschte Veranlaſſung, nachdem vorstehende Rücksichten obgewaltet haben, Ihnen durch Verleihung des Kreuzes der Groß-Komthure Meines Hohenzollern-Ordens , Meinen dankbaren Gefühlen gegen Sie freien Lauf zu lassen, damit zugleich die Welt erkennen möge, wie hoch Ich Ihre Verdienste anerkenne und wie Ich nur mit Kummer Mich derselben entſchlagen mußte ! ! ! Ich sende Ihnen die Dekoration bereits heute, damit Sie nicht in der Maſſe morgen untergehen , weshalb Sie auch nicht in der Liste figurieren werden, welche Ausnahmen nur in ganz besonderen Fällen und aus besonderen Umständen gemacht werden ! Gern will ich es aber sehen, wenn Sie der Einladung der GeneralOrdenskommission Folge geben wollten und morgen beim Feste erscheinen . Ihr dankbarer König

(gez.) Wilhelm.

4.

Berlin , den 27. September 1873.

Nachdem Sie nun Ihre Dispositionsſtellung in förmliche Entlassung aus Meinem Dienst verwandelt zu sehen verlangt haben, konnte Jch nicht mehr anstehen, Ihnen dieselbe zu gewähren. Sie wissen, wie ungern Ich Sie damals Ihre Stellung niederlegen sah, um so tiefer muß Ich es beklagen, Sie nunmehr ganz eine Laufbahn verlassen zu sehen, in welcher Ich Sie seit so vielen Jahren von Stufe zu Stufe habe steigen sehen, immer konnte Ich wahrnehmen, wie Sie überall die Zufriedenheit Meiner Vorgänger in der Krone ernteten.

Und seitdem ich nun selbst diese Wahr-

35*

548

Anhang.

nehmungen anzuerkennen berufen war, ist es Mir eine Genugtuung gewesen, dieselben öffentlich zu belohnen.

So nehmen Sie denn beim

Schluß Ihrer ehrenvollen Laufbahn nun nochmals Meinen innigen und aufrichtigen Dank für Ihre treuen und ausgezeichneten Dienste hin, sowie die Verleihung des Großkreuzes des Roten Adler-Ordens mit Eichenlaub, von Ihrem stets dankbaren König

(gez.) Wilhelm.

5.

Gastein , den 29. Juli 1881 . Der Kultusminiſter hat Mir die Liste derjenigen Personen vorgelegt,

welche er Mir vorschlägt, durch Meine Ernennung zu Mitgliedern der bevorstehenden Provinzialſynoden zu bestimmen, und berichtet Mir zugleich, daß Sie von vornherein ihn gebeten hätten, Sie dieses Mal Mir nicht zur Mitgliedschaft zu bezeichnen. Ich bin auf diesen Ihren Wunsch nicht eingegangen, weil Mir Ihre Person und Ihr Name in dieser Versammlung von zu hoher Wichtigkeit ist. Es ist bekannt, mit welchem Vertrauen Jch Sie stets ausgezeichnet habe, ebenso weiß man, daß Sie ganz in den religiösen Ansichten und Grundsäßen übereinstimmen, mit Mir, die leider so schwankend

ge

worden sind, und die in jeder Beziehung zu beleben die Synoden berufen find. Wenn man Ihren Namen jezt unter den von Mir Berufenen fehlen ſieht, so muß dies zu Rückſchlüſſen führen, die nur nachteilig wirken müſſen und dem so glücklich begonnenen Werke schaden müſſen. Ich ersuche Sie daher dringend , Meine Berufung anzunehmen, da Ich nicht annehmen kann , daß Ihre Gesundheit bei der kurzen Dauer der Synoden nicht ausreichen sollte !

Ihr (gez.) Wilhelm.

2. Brief von Frau Johanna v .

Bismarck an Gustav v . Dieſt.

Briefe Bismarcks an den Staatsfekretär v. Chile.

Frankfurt a. M., 2. Dezember 1858. Gestern war ich von allen überstandenen und noch möglichen Kindersorgen, trop der Freude des Wiedersehens, doch etwas niedergedrückt, schwerfällig, langweilig ! Heute aber ist alles fröhlich aufgewacht, und die liebe Sonne scheint so lustig darein, daß ich zu allem aufgelegt bin,

Briefe Kaiser Wilhelms I. und der Frau Johanna v. Bismarck.

549

besonders, Ihnen behilflich zu sein, der liebenswürdigsten Braut die schönsten Dinge auszuwählen und auszuforſchen ! Ist's Ihnen also irgend lieb und angenehm , lieber Herr v. Diest, daß ich mit Ihnen gehe, so bin ich mit tausend Freuden bereit, so viel, und so lange Sie wünschen, in allen Läden mit Ihnen umherzuſtöbern. Lassen Sie mir ein geschriebenes oder mündliches Wort zufließen, ich rühre mich nicht von der Stelle und erwarte Sie so früh oder so spät Sie Lust haben, zum Sehen, Sprechen, Liebhaben und Lädenplündern. — Sie müssen sich doch so wie so noch einmal im hellen Sonnenschein den ganzen langen Taunus aus meinem Fenster anschauen -- der Blick ist fast so schön wie jene Pfingstmorgen-Spazierfahrt, nur — daß der Freund * ) fehlt, ist ein großer Mangel. Also auf Wiedersehen, lieber Herr v. Diest ! Ihre ergebene J. Bismard.

Abschriften von 13 Privatbriefen des Herrn v. Bismarck an Herrn v. Thile. 1.

Biarriz , 16. Oktober 1864. Verehrtester Freund ! Herzlichen Dank für Ihr Schreiben, dessen Anlagen ich wegen Mangel

an Regiſtraturlokal zurücksende. Ich verstehe die Gespensterſeherei in den Fachministerien wegen Artikel 25 ** ) nicht recht. Ist es Furcht vor fünftigen Schreibereien und Konferenzen ? schwerlich, die Herren lieben dergleichen ; ist es dialektische Verbiſſenheit, die, den Gegner geschlagen zu haben, nicht zufrieden ist, sondern ihn auch noch ärgern will ? oder ist es bewußter geheimrätlicher Liberalismus, der unserer auswärtigen Politik *

Anmerkung des Verfaſſers : Keudell. *) Der Artikel 25 des preußiſch-öſterreichiſchen Handelsvertrages von 1853 enthielt die Zuſage, daß nach 12 Jahren (alſo für den Vertrag von 1865) über eine vollſtändige Zolleinigung zwischen Preußen und Österreich verhandelt werden sollte. Aus dieser Zusage folgerten süddeutſche Gegner, daß Preußens Zollpolitik keine Richtung einschlagen dürfe, welche die Zollpolitik gegenüber Öſterreich erschweren würde, und das gab Anlaß zu mehrjährigen Streitigkeiten. Graf Rechberg legte nun entſcheidenden Wert darauf, daß ein gleichlautender Artikel auch in den neuen, 1865 abzuſchließenden Handelsvertrag aufgenommen würde. Bismarck fand das ungefährlich, da mit Sicherheit vorauszusehen, daß eine Zolleinigung mit Österreich 1877 ebenso unmöglich sein würde und ein pactum de paciscendo zu nichts Sachlichem verpflichte. Delbrück aber ſah als natürliche Folge dieser Zuſage neue Intrigen voraus und drohte mit ſeinem Rücktritt, falls sie gegeben würde. Der König entſchied zu ſeinen Gunsten. (Siehe Keudell , Fürst und Fürstin Bismarck, S. 169, 170, 172 bis 175.

Anhang.

550

absichtlich Schwierigkeiten bereiten und namentlich das verhaßte öſterreichische Bündnis vorzeitig sprengen will ? vielleicht ; der Geheimrat ( den Wirklichen natürlich ausgenommen) ist zu allem fähig. Ich bin auf die Lösung der Ehe mit Österreich ganz gefaßt, aber der Moment wäre verfrüht. Jedenfalls möchte ich, daß wir mit Dänemark bald abschlössen, und bitte Sie, Seiner Majestät dahin zuzureden, daß wir die Sache wegen Geldfragen nicht weiter verzögern . einfacht sich das Weitere schon mehr.

Dann ver-

Die Frage von Artikel 25 wird vielleicht in Wien nicht so heiß gegessen, wie gekocht, aber wenn Rechberg wirklich über die Schlinge ſtolpert, die er sich in seiner Unbeholfenheit von Schmerling hat daraus drehen lassen, so kann für uns doch la chandelle teurer werden als le feu. Keinesfalls aber lasse ich mir gefallen, daß die Herren in Finanz und Handel das Heft der auswärtigen Politik in die Hand nehmen, gibt der König das zu, ſo mögen sie es auch behalten ; ich bin ohnehin trunken von ungewohnter Freiheit ; meine hiesigen Freunde gehen in acht Tagen von hier nach Granada, und wenn ich mich in Berlin erſeßt fühle, ſo ſehe ich nicht ein, warum ich der Lust, mitzufahren, widerstehen sollte. In der schwebenden Frage finde ich, daß die Mitwirkung der Fachleute ihr Ziel überschießt ; die Frage, ob in sechs Jahren mit Österreich verhandelt werden soll, ist eine rein politische. Den Brief von Blume kann ich von hier aus, unter Berufung auf Trennung von Seiner Majestät nur dilatorisch beantworten. Herzliche Grüße an Abeken und Dank für seinen Brief. Mir tut das Wasser sehr wohl und das ganze Leben zwischen Ichthyophage und Troglodyt ; ich bin wenig im Zimmer, und troß scharfen Ostwinds seit vier Tagen ist die Sonne doch noch brennend, das Waſſer 14 ° .

In acht Tagen denke ich

den höhlenreichen Felsenstrand zu verlassen, einige Tage später in Berlin oder Granada zu sein.

Aufrichtigst der Ihrige.

(gez.) v. Bismard. 2.

Biarrit , 23. Oktober 1865.

Verehrter Freund, herzlichen Dank für Ihren Brief, den ich zunächſt in ſeinen geſchäftlichen Punkten beantworte, soweit es nicht durch Diftat à la Blanquart* ) geschehen ist. Manteuffel wünsche ich jedenfalls in Schleswig zu konjervieren und zweifle nicht, daß er sich nach einigen weiteren Unwilligkeiten der ihm seit zwanzig Jahren ungewohnten aber unvermeidlichen Disziplin fügen wird .

Er ist schließlich zu ſehr Soldat und Preuße, um ſein

*) Blanquart war ein Beamter des Chiffrierbureaus, welcher damals in Biarriş das Diktat schrieb.

Briefe Bismarcks an Staatssekretär v. Chile.

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aufbäumendes „Ich“ nicht zu überwinden. Ich habe ihm auf ſeinen mir vorgestern zugegangenen, rein prinzipiellen Brief vom 1. d . Ms. freundschaftlich telegraphiert.

Ekklesiastika bieten mir nach dem Gemeldeten

keinen Anlaß mehr, mich zu äußern ; die Stellung der, gelegentlich im Auftrage der Königlichen Hausoppoſition, ministerielle Funktionen übenden Oberpräsidenten ist eine unhaltbare. Die beiden Kranken werden dem Invalidenhause der Disponibilität verfallen müſſen. über den Abgeordnetentag erfolgt Amtliches ; haben wir einmal in das Drohnennest gegriffen, um Österreich an die Stange zu bringen, so wird es zum Wespennest, wenn wir nicht ƒ e ſt ſtehen und greifen ; brennen wir Frankfurt nieder, wenn es nicht gehorcht. Lauenburger Post amtlich erledigt, dänische Schuld desgleichen. Werthers Brief liegt wieder bei . Kübeck ist ein Schmerlingianer und von Natur Kammerherr ohne Knöpfe, Meysenberg Gegner der jezigen österreichischen Regierung.

ein Preußenfeind und Das Schmerling sche

Österreich macht schlechte Geschäfte, wenn es mit uns Frankfurt angreift, das Kaiserliche aber kann rebus sic stantibus besseres nicht machen, als mit unserer Hilfe das monarchiſche Deutschland auf die Beine bringen. Wollen die Herren in Wien das nicht einsehen, so können wir ihnen täglich mit einer kurzen und leichten Schwenkung im Galopp vorbeigehen ; sie find Narren, wenn ſie uns in ein Waſſer nötigen, was mir widerlich ist, in dem wir aber besser schwimmen als sie. Napoleon hat mich weder über Manteuffels Rede, noch über sonst etwas interpelliert, sondern nur den 29. Auguſt * ) in Vergessenheit zu bringen gesucht und sich bereit erklärt, den Kotillon mit uns zu tanzen, ohne daß ihm die Touren desselben und der Zeitpunkt des Anfangs schon klar wären. Er hat kein volles Vertrauen zu Golz' Dragomanat und wünscht im eintretenden Moment direktere Beziehungen, fand auch natür. lich, daß wir den Moment nicht machen, sondern abwarten wollen . Er hat mir körperlich und geiſtig einen sehr günstigen Eindruck gemacht, vermutlich nicht ohne Absicht.

über eine mir am Herzen liegende Sache habe ich amtlich nicht ge schrieben. Ich bitte Seine Majestät aus vollster Herzens- und Verstandesüberzeugung, jedes Erscheinen des Prinzen von Augustenburg auf ſchleswigschem Boden bei Verhaftung zu untersagen. Es war eine schwache Seite von Gaſtein, daß ſeine Ausweiſung nicht durchgesezt wurde ; in Schleswig aber kann er, solange er den „Friedrich VIII. " nicht abgelegt hat, nicht erscheinen ohne höhnische und erniedrigende Nasenstüber für Preußen. Auch ohne die Vorbyer Demonstration** ) wäre sein Betreten schles*) Datum eines unhöflichen Zirkulars des Ministers Drouyn de Lhuys über den Gaſteiner Vertrag. S. Keudell, Fürſt und Fürſtin Bismarck, S. 222, 229. **) Eine Demonstration ohne Zweifel für den Erbprinzen als Landesherrn, wie sie damals öfters vorkamen.

Anhang.

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wigschen Bodens , ohne vorgängigen Widerruf ſeines eigenmächtigen Regierungsantritts eine Beleidigung der Autorität des Königs geweſen ; und nun gar die Allokution und Antwort als regierender Herr ! Was werden ihm die Österreicher in Holſtein erst durchgehen lassen, nach solchem Präzedenzfall in Schleswig unter selbständiger preußischer Zulaſſung !

Daß

ihm bei sofortiger Einsperrung verboten ist, Schleswig zu betreten, solange er sich eigenmächtig und hochverräterisch den öffentlich bekannt werden.

Herzog" tituliert, muß

Was iſt denn geändert in seiner Stellung,

seit wir im Auguſt entſchloſſen waren, Krieg für die Bestätigung ſeiner Usurpation zu führen ? Die Teilnehmer an der Demonstration dürfen der Bestrafung nicht entgehen, damit die Bevölkerung sieht, woran sie ist. Ebenso fragt sich, ob die Schleswiger, die in Frankfurt als Abgeordnete getagt haben, nach den dortigen Gesezen nicht strafbar sind. Milde kann man gegen Konvertiten sein, aber nicht gegen troßiges Beharren ; schwach scheinen ist für uns gleich mit schwach werden.

Ich wollte Manteuffel

viele Wunderlichkeiten zugute halten, wenn er mit derselben Entschlossen. heit, mit der er uns im Ministerium die Stirn zeigt, den Augustenburger auf eigene Verantwortung ausgewieſen oder eingeſperrt hätte. Ich lebe hier in dem ganzen Behagen der lange entbehrten Trägheit bei viel Regen, aber stets 20° im Schatten, bade täglich, schlafe lange und eſſe viel. Meine Frau hat nicht den gehofften Erfolg von der Seeluft; vielleicht würde sie denselben haben, wenn sie den Winter hier bliebe ; ich habe ihr angeboten, die Kinder und Kegel herzuschicken, aber sie hat Heimweh und will mich nicht allein fortlassen. Meine Absicht ist, bis zu Ende des Monats hier zu bleiben, wenn ich nicht von Sereniſſimus gedrängt werde.

In Paris werde ich doch so lange bleiben müſſen, daß ich

den westlichen Zaren noch einmal sehe, ich denke also zwei Tage.

Danach

würde ich also Ende nächster Woche in Berlin ſein. Bringt der Telegraph allerhöchsten Befehl, so reise ich natürlich morgen.

Den beifolgenden

Artikel aus der Schleswig-Holsteinschen Zeitung möchte ich gern wiederholt bei uns abgedruckt haben, seiner verbissenen Dummheit wegen und aus noch einem Grunde. Jezt schließe ich mit herzlichen Grüßen, es ist 10 Uhr, pechschwarze Nacht, brausende See unter den Fenstern, bei weichem, warmem Südwest, was schlechtes Wetter ansagt. Viele Grüße an Kabel, Eudeken* ) und wen Sie sonst geeignet halten

der Ihrige (gez .) v. Bismarck. *) Bismarck sagte mitunter scherzweise Kabel und Eudeken statt Keudell und Abeken. Ebenso liebte er es, den Namen des bayerischen Gesandten in Berlin v. Perglas mit dem Namen des württembergiſchen Geſandten v. Spizenberg zuſammenzuſchweißen in die Namen : Perleberg und Spißglas .

Briefe Bismarcks an Staatssekretär v. Chile.

3.

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Putbus , den 11. Oktober 1866 . Verehrtester Herr v. Thile! Mit ergebenem Dank für Ihre gütigen Mitteilungen komme ich heute

wieder mit verschiedenen Aufträgen von meinem lieben Bismarck, dessen Interesse an der schauderhaften Politik troß aller Krankheit nicht ruhen noch schweigen will.

So bittet er Sie jezt, gütig zu erwägen :

1. Ob das Verhalten des amerikanischen Konsuls in Frankfurt, wie es nach den Zeitungen scheint, nicht Anlaß zu einer durch Gerold in Waſhington anzubringenden Beschwerde gibt. Eine so bösartige antipreußische Kreatur, wie jener Konsul, vermutlich ein deutsch- demokratischer Jude, zu sein scheint, kann in dem preußisch gewordenen Frankfurt unmöglich ein Exequatur behalten. Die Zeitungsnachricht, daß Wright sich in die Sache gemischt habe, ist bei aller Unbekanntschaft der Kanadier mit Europens übertünchten Gebräuchen doch nicht glaublich ; versuchte er es, so wäre die ernſteſte Zurückweiſung und Beschwerde in Washington unvermeidlich. 2. Die Art, wie die österreichische und sächsische Politik den baldigen Tod Napoleons in Berechnung zieht, gleichgültig, ob mit Recht oder Unrecht, könnte Goltz jedenfalls an der dabei intereſſierten Stelle zur Charakteriſtik der österreichischen Auffassungen verwerten, denn niemand hat es gern, wenn auf seinen Tod spekuliert wird, und kein Kranker pflegt an ein besonderes Wohlwollen derer zu glauben, die es tun. 3. möchte Bismarck gern wissen, wie es mit der ungarischen Legion steht ? Ob sie aufgelöst ist oder wird davon.

die Zeitungen melden gar nichts

Sodies wären heute seine Wünsche, und an dem Stil werden Sie merken, lieber Herr v. Thile, daß er sie mir in die Feder diktiert.

Es

geht ja, Gott sei Dank, heute ein wenig besser als gestern, und gestern besser als vorgestern - aber wenn ich ihn ansehe so furchtbar blaß und matt, ſo gräme ich mich ganz namenlos und weiß nicht, wie er sich aus dieſem kranken Zuſtande bald erholen soll. Gott möge in großen Gnaden dreinsehen und ihn und uns aus dieſem Elend erlösen ; es iſt eine Sorge, die mich tief niederdrückt und ganz aufreibt. Haben Sie nochmals herzlichen Dank für Ihren Brief, deſſen heitere Tonart mir recht wohlgetan, und Gott gebe, daß ich bald eine gleiche anstimmen könne. Empfehlen Sie mich Ihrer lieben Frau und empfangen Sie, verehrter Herr v. Thile, die herzlichsten Grüße von Bismarck und mir, und wenn Sie etwas Fröhliches wissen, schreiben Sie freundlichst wieder Ihrer ergebenen

(gez.) J. v. Bismard.

Anhang.

554

4.

Putbus , den 27. November 1866. Hochgeehrter Herr v. Thile! Wenn die Franzosen in der römischen Sache sagen : ,,Nous irons

aussi loin que vous“, ſo iſt dies eine dreiſte Umkehr der Sachlage.

Die

Lage des Papstes ist von Frankreich geschaffen und sowohl deshalb, wie aus anderen Gründen eine Verlegenheit für die Kaiserliche Regierung. Die Zumutung, daß wir ihr aus derselben, als ob es unsere eigene Verlegenheit wäre, heraushelfen sollen, indem wir selbst die Hauptrolle übernehmen, Frankreich aber, anscheinend aus Gefälligkeit für uns, Preußens Forderungen Italien gegenüber unterſtüßt, erscheint mir unglaublich und erstaunlich ; noch erstaunlicher aber wäre es, wenn wir uns auf einen solchen Freundschaftsdienst einlassen wollten. Derselben Richtung gehörte die Forderung an, daß wir auf alleinige Rechnung dem Könige von Holland Luremburg abgewinnen und es an Frankreich schenken sollten, ohne daß lezteres Hand und Mund rührt, um ſein Ziel zu erreichen. Frankreich hat uns in dem letzten Kriege die wohlwollende Neutralität zwar nicht zugesagt, aber doch bis zum 4. Juli faktisch gehalten. Mit dem Telegramm an Seine Majestät den König in Horsiz trat Frankreich aus der Neutralität heraus und stellte sich die Aufgabe, uns die Früchte unserer Siege möglichst knapp zu schneiden. Wir gingen nicht nach Wien und ließen Sachſen leben, aus Besorgnis vor der drohenden französischen Intervention.

Nichtsdestoweniger stellen uns die Berichte der Königlichen

Botschaft in Paris seitdem die Aufgabe, dem Kaiser Napoleon aus verschiedenen ernsten Verlegenheiten herauszuhelfen.

Wir haben uns dieser

Aufgabe unterzogen, indem wir Öſterreich zu einem für uns ungünſtigen Moment den Waffenstillstand gewährten, auf Erwerbungen in Bayern verzichteten, das Streben der Süddeutschen nach Aufnahme in unseren Bund zurückwiesen, auf Italien beim Friedensschluß mäßigend einwirkten, Luremburg aus unserem Bunde herausließen und den Anerbietungen Rußlands mit Zurückhaltung begegneten.

Diese unsere Nachgiebigkeit

hinderte nicht, daß uns Mainz 2. unter Androhung des Krieges abgefordert wurde und wir dieser Drohnung mit der analogen von unserer Seite begegnen mußten. Auch seit dem Miniſterwechsel in Paris fahren offi. ziöse Zeitungen, denen ein Wink von oben Stillschweigen auferlegen würde, fort, den katholisch- österreichischen Kreuzzug gegen Preußen zu predigen. Alle diese verdächtigen Erscheinungen halten mich nicht ab, das gute Einvernehmen mit Frankreich zu wünschen und zu pflegen, aber sie legen uns auch die Verpflichtung auf, die franzöſiſche Allianz als eine unsichere zu behandeln und die Verteidigungsmittel, die sich uns für den Fall des Bruches bieten können, den von Paris auftauchenden Velleitäten nicht

Briefe Bismarcks an Staatssekretär v. Chile.

555

voreilig zum Opfer zu bringen. Zu diesen Verteidigungsmitteln gehört einmal die günstige Stimmung, deren wir uns jezt in England und Amerika erfreuen, dann die Möglichkeit des ruſſiſchen Bündniſſes und endlich die Allianz mit Italien. Wir können in unserer Gefälligkeit für Frankreich nicht so weit gehen, daß wir die Garantien, welche jene Elemente uns für den Fall der Not gewähren, ohne eigene Sicherheit aufgeben. Wer bürgt uns dafür, daß die ſonderbaren Zumutungen, welche uns gemacht werden, nicht gerade darauf berechnet sind, uns zu iſolieren. Trägt man sich in Paris mit dem Gedanken, in ein oder zwei Jahren mit uns Händel zu suchen, so ist es nach der persönlichen Stellung Napoleons zu Italien für ihn von der höchsten Wichtigkeit, dem italienisch- preußischen Bündnis vorher ein Ende zu machen, Italiens Mißtrauen gegen Preußen soweit zu fördern, daß lezteres andere Anlehnung zu suchen sich veranlaßt sieht. Rußland, Italien, England, Amerika sind Mächte, welche durch fein eigenes Intereſſe getrieben werden, unsere Feinde zu sein, die Beziehungen zu ihnen müssen daher von uns gepflegt werden, und wir können von dieser Pflege Früchte erwarten, welche durch das bei Österreich und Frankreich naturgemäß wuchernde antipreußische Unkraut nicht unterdrückt werden. Namentlich unser Bündnis mit Italien ist ein naturgemäßes, von den Interessen beider Teile getragenes.

Wir können des-

halb in unseren Vermittelungen zwischen Florenz und Rom vernünftigerweise die Grenze nicht überschreiten, an welcher die Verstimmung und das Mißtrauen der Italiener beginnen würde. Frankreichs Hilfe ist gewiß eine sehr viel mächtigere als die Italiens, aber die lettere ist für uns weniger unsicher und gefährlich. Italien und der römische Stuhl sind uns beide befreundet, und wir können bereitwillig unſere freundschaftliche Vermittlung gewähren, um die Streitigkeiten, welche sie untereinander haben, gütlich beizulegen ; aber diese Vermittlung darf nach feiner Richtung so weit gehen, daß sie uns einen von beiden entfremdete, und wir würden töricht handeln, wenn wir uns vordrängen wollten, um auf eigene Gefahr die Lösung einer der schwierigsten europäischen Fragen zu unternehmen, welche Anderen als uns vor der Hand näher angeht. Eine Garantie, deren Spike gegen Italien gerichtet sein würde, dürfen wir nicht übernehmen, und daß Goltz ohne Auftrag die Hand dazu bietet, dergleichen zu formulieren, bedarf meines Erachtens einer bestimmten Rektifikation von Allerhöchster Stelle. Ich hoffe nun, in dieser Woche ganz gewiß einzutreffen, spätestens Sonnabend, und rechne nach Ihrer Mitteilung darauf, daß bis dahin nichts entschieden wird .

Mir scheint es das beste, Benedetti ganz offen

zu sagen, daß wir uns auf nichts einlassen würden, wodurch unsere Beziehungen zu Italien geschädigt werden könnten.

Daß wir dem Papst

556

Anhang.

ein Asyl in Deutschland, wenn er es beanspruchen sollte, nicht versagen können, scheint man auch in Paris einzusehen.

(ges.) b. Bismard. 5.

Zimmerhausen , 21. April 1867. Im Begriff, nach Schlawe (Varzin ) zu fahren, erhalte ich die De-

peschen; habe nur die Telegramme gelesen bisher. Meiner prima facie Ansicht ist danach die Lage dieselbe wie bei meiner Abreise. Wir können meines Erachtens auf Räumung von 2. nur eingehen, wenn uns die Neutralität von Land und Festung ebenso verbürgt wird, wie die Belgiens.

Dann aber halte ich die neue Situation für vorteilhafter als

die alte, und nur fraglich, wie die öffentliche Meinung fie aufnimmt ; auf lepteres kommt es schließlich an. Ich hoffe, Mittwoch abend in Berlin zu sein. Immer können wir die Räumung nicht zusagen und das Weitere der Verhandlung überlaſſen, sondern müſſen zuerst die europäiſchen Bürgschaften haben . Golz' „ gutem Vernehmen nach" erfordert noch feine Antwort ; wir sind überhaupt nicht en demeure, und können doch nicht freiwillig die Festung anbieten.

Ihr (gez. ) v. Bismarc.

6.

Varzin , 30. Juni 1867.

Verehrtester Freund! Nachdem ich endlich zu Papier und Federn gelangt bin, während ich Tinte schon länger besaß, begrüße ich Sie aus dieser waldesgrünen Einſamkeit, um einigen durch Zeitungslektüre veranlaßten Regungen Ausdruck zu geben. 1. An Bernstorff muß meines Erachtens über Garantie von Luxem burg geschrieben werden ; vertraulich, da die Sache zu erbärmlich ist, um offiziell etwas darüber schicklich formulieren zu können ; Auftrag : Sich in dem Sinne auszusprechen“, dann indiskret drucken. Inhalt: Erstaunen und Unglauben, daß Parlamentsreden und politisches Handeln Englands identisch sein würden, da follektive Garantie unmöglich eine solche bedeuten kann, von der jeder Kontrahent sich und zugleich die Mitgaranten durch einfache Nichteinlösung des gemeinschaftlich gezeichneten Wechsels entbinden kann. Gilt das für Luxemburg, jo gilt es auch für Belgien, und wenn kollektive Verbindlichkeiten keine ſind, ſo ſind faſt alle Verträge, auch der Pariser von 56 und der belgische, hinfällig. Hat keine einzelne Macht Pflichten, so hat auch keine Rechte aus kollektiven Abmachungen ; die Logik ist dieselbe.

Briefe Bismarcks an Staatssekretär v. Chile.

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2. Holland muß von neuem wegen der Hannoveraner erinnert werden ; eine gegen Preußen gerüstete Legion kann nicht in Arnheim bleiben. Aus demselben Motive dürfte in Wien von neuem gegen Hiting zu reklamieren sein. 3. Savigny muß verständigt werden, daß

er Vizekanzler wird,

Ministergehalt und Wohnung und die regelmäßigen Geschäfte des Präſidiums erhält ; ich werde als Kanzler nur die Kontraſignatur haben, die niemand als der Ministerpräsident in den Ressorts der betreffenden preußischen Miniſter wird üben können . Vor allem muß bald konstatiert werden, ob Savigny will , sans phrase . 4. Möchte ich Sie bitten, auf Ihren Schwager in Naſſau vertraulich zu wirken, daß er den Staatsmann nicht hinter den Jäger stellen möge ; die Handhabung des Jagdgesezes darf in Naſſau nicht um eines Haares Breite fiskaliſcher oder jagdgünſtiger ſein als in den alten Rheinlanden, eher im Gegenteil ; man kann später immer noch nachziehen, was jezt etwa zu lar gehalten würde. Ich liebe die Jagd sehr, aber ehe die Politik darüber stolpern sollte, würde ich sie wie ein findisches Spielzeug zerbrechen. Fortsetzung folgt, durch Besuch unterbrochen.

Der Jhrige Nach Berlin werde ich vor Ende Juli ſchwerlich kommen, fünf bis sechs Reise- und Geschäftstage würden meine beginnende Besserung sehr gefährden ! 7.

(gez. ) v. Bismarc.

Varzin , den 4. Juli 1867. Mir scheint, daß Goltz angemessen und erschöpfend über die Sache

geredet hat, und daß er, auf das Gesagte Bezug nehmend, kühl und ſchneidig abweisen kann , falls Moustier wiederum von den betreffenden Dingen anfangen sollte ; daß es sich für Golt aber nicht empfiehlt, irgendwelche Beunruhigung über Frankreichs weiteres Verhalten dadurch zu verraten, daß er seinerseits interpelliert oder anregt. Auf die PreßKoſaken müſſen wir das amtliche schwere Geschütz nicht leicht abfeuern, dabei kommen wir in unverhältnismäßigen Munitionsverlust. Dagegen müßte meines Erachtens unsere Presse, mit alleiniger Ausnahme von Braß und Korrespondenzen, viel paßiger ins Zeug gehen, drohend und aggressiv, von Mexiko und Algier, Lambeſſa, * ) Cayenne und Victor Hugo reden, innere Schäden, Steuerdruck und Beamtenwillkür, innere Kor-

*) Lambeſſa, Strafkolonie in Algerien. Brockhaus ſagt bei „ Lambuſa “ : Eine traurige Berühmtheit erlangte L. unter dem zweiten Kaiſerreich als Deportations- und Strafort für politisch Mißliebige und Kompromittierte.

Anhang.

558

ruption und dumme Politik nach außen (Polen und Italien) tagtäglich mit derselben Schärfe besprechen, als ob es gegen unsere eigene Regierung gälte. Wenn dann Benedetti bei uns flagt, so müssen wir genau wie Moustier an Golt antworten, daß wir das lebhaft bedauern.

Nur

persönliche Karrikaturen gegen Louis sollten nicht übertrieben werden. Dagegen finde ich, daß Goltz, wenn Moustier von bevorstehenden observations über unsere Politik spricht, sehr gut antworten kann, daß ich mir die meinigen über den gemeinschädlichen Charakter der französischen Politik im Junern und Äußeren ebenfalls vorbehielte. G.'s Äußerung, daß wir mit Luxemburg unsere äußerste Konzeſſion für den Frieden gemacht haben, muß die Basis seines Verhaltens bleiben, kühl und einſilbig wiederholt. Die frechen Schulmeiſtereien können wir nicht dulden. Kommen sie in „vertraulicher" Gestalt, so müssen wir sie auf das freie Feld der Öffentlichkeit zu drängen suchen, mit einem Blaubuch vor dem Reichstag drohen, in dem sich G.'s Depesche vom 28. schon recht hübsch ausnehmen würde.

Wir sind immer noch zu wohlerzogen

gegen die Leute dort, „Zahn um Zahn “ iſt uns auf dem Gebiete der Unverschämtheit in Worten noch nicht geläufig genug ; erst bei den Taten holen wir's ein. Ich schrieb dieses heut früh bei Regenwetter und füge heute abend nur hinzu, daß ich mich bis nach Poſtſchluß im Walde umhergetrieben und also noch 22 Stunden Zeit habe, ehe dieses abgeht. Den 5. Meo voto wäre also Golt zu antworten, daß er gesprochen wie ein Buch, daß er aber dem arroganten Schwäger nicht mehr den Ge fallen tun möge, sich impressionieren zu laſſen und zu dem Glauben Anlaß zu geben, als ob uns die französische Politik um ein Haar breit wichtiger wäre als den Franzosen die unsrige.

Wir müſſen, den Revolver in der

Tasche und den Finger am Abzuge, unserem verdächtigen Nachbarn genau nach den Händen sehen, und er muß wiſſen, daß wir ohne alle Schüchternheit schnell und tödlich feuern, sobald er über unsere Grenze spuckt. Aber wenn wir ihm zuviel zureden, Frieden zu halten, und uns zuviel ent schuldigen über unsere guten Absichten und Beſtrebungen, so fürchte ich, machen wir ihn dreiſt, weil er uns für ängstlicher hält, als wir sind. Unterbrechung durch Damenbeſuch. Benedettis Luxemburger Zollklagen und ähnliche seiner Vertreters lassen sich nur mit Achselzucken, unhöflichem Schweigen und der Frage, ob wir uns um französische Interiora bekümmern, abweisen.

Schlaftrunken der Jhrige (gez.) v. B.

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Briefe Bismarcks an Staatssekretär v. Chile.

8.

Varzin , den 9. Juli 1867.

Verehrter Freund ! Ich sehe in Savignys wieder beifolgendem Brief ein fin de non recevoir, Sie nicht ?

Ich bitte Sie, ihm meine anliegende, von Ihnen

mit Dienſtſiegel zu verschließende, Antwort zugehen zu laſſen, zuvor aber Abschrift der leßteren zu nehmen und dieſe ſowie, wenn es Ihnen unbedenklich ist, Savignys Brief an Sie, Abeken zum Vortrag bei Seiner Majestät zu schicken. werden.

Ein Vizekanzler muß in diesem Monat hergestellt

Will Savigny nicht umgehend zusagen, ſo ſind die Kandidaten

zur Auswahl für Seine Majestät : Werther, Richthofen, Scheel-Pleſſen, Möller, Grafen Eulenburg I und II , Delbrück, Günther u . a.; es braucht nicht notwendig ein Diplomat zu sein, im Gegenteil, der Mann muß vielseitiger und im Innern bewanderter sein, als Diplomaten meiſtenteils sind . In dieser Beziehung ist mir die Wahl von Savigny von Hauſe aus bedenklich gewesen ; er war, als Erbe der Bundestradition, als Führer der Verhandlungen während meiner Krankheit, der gegebene Faden, an dem sich die Sache fortspann . Aber seine steifstellige Empfindlichkeit und seine Ungewohntheit im Verkehr mit weniger privilegierten Menschenklassen machen ihn für parlamentarische und adminiſtrative Verhältnisse weniger wirksam, als er es ſeiner sonstigen Begabung nach sein könnte . Ich bin nicht so unglücklich, als ich schicklicherweise scheinen muß, wenn er bei seiner Weigerung beharrt. Nach den Erfahrungen dieses Winters ist die Zusammenwirkung von einer Woche mit ihm durch sechs Wochen boudieren jederzeit zu bezahlen, und das reibt mich auf.

Er ist zu an-

spruchsvoll, oder ich habe nicht die Zeit, ihm den Hof zu machen, hätte ich die, ſo ginge es . Wenn dem Könige Savignys Brief und meine Antwort vorliegt, so wird Seine Majestät Sich zu entscheiden geruhen, ob einer der eventuellen Kandidaten, die oben genannt, genehm ist. Man kann auch auf Kategorien wie Ujest, Stolberg, Münſter (Hannover) verfallen, ein Ehrenpräsident ; dann muß ich geschäftlich mehr herhalten ; bei den Obengenannten kann die Stellvertretung von Hause aus eingreifender sein. Man muß sich vergegenwärtigen, daß die ersten Verhandlungen des Bundesrats die Feststellung des Budgets und die Zollvertrags -Vorlagen sein werden. Kann Savigny das und intereſſiert es ihn ? Lehnt er ab, so würde ich den Titel Vizekanzler am Ende Seiner Majestät vorschlagen, vor der Hand fallen zu lassen.

Man kann dann den Vorsiz nach Bedarf

unserem Finanz- oder unserem Zoll-Bundesgesandten substituendo geben, und das pivot auf tüchtigem Protokollführer und Bureau gehen . lassen.

Eilig ist jedenfalls meine Ernennung zum Kanzler, damit ich

die Berufung des Bundesrats kontraſignieren kann.

Ich habe den Tert

der Verfassung nicht und weiß nicht, ob die Reichstags wa hlen von

Anhang.

560

Bundes oder von Staats wegen ausgeschrieben werden. Ist ersteres, so muß ich auch das schleunig verkanzeln, darüber wird mit Wagener in Beziehung zu treten sein, denn wir haben die Sache wiederholt im Staatsministerium besprochen und Vorakten gemacht, eventuell Miniſter des Innern.

9.

Varzin , den 19. Juli 1867. Verehrtester Freund,

vielen Dank für Ihre interessanten Mitteilungen. Mit Lefebvre*) würde ich Ihnen raten, sich nur einzulaſſen, wenn er amtliche Mitteilun gen macht, diese schriftlich zu erbitten und durch Golg zu beantworten. Die französischen Schritte in Baden und voraussichtlich in Süddeutſchland überhaupt ſind ſehr nüßlich in der Preſſe zu verwerten ; ſoweit Badens Zustimmung zu erlangen iſt, konkret im Detail ; ſonſt jedenfalls mit der allgemeinen, aber in eindrücklicher Form in Kurs gejezten Mitteilung, daß Frankreich das Zollparlament den Deutschen unter Drohungen verbietet.

Gortschakow sehr dankenswert, bitte, dies auch den Seinigen nicht

zu verschweigen. Auch hierüber wäre, um unsere öffentliche Stimmung bezüglich Rußlands zu beſſern, Publizität, wenn erlaubt, wünschenswert. Gegen Andeutungen" in der Richtung wird Dubril vielleicht keine Be denken geltend machen. Wenn Savigny, wie ich annehme, definitiv ablehnt, so wäre mir Delbrück der liebste Vertreter, von ihm könnte ich arbeitenden Beistand erwarten. Ob er dann mehr Bund- oder mehr Handelsministerium spielt, den Akzent hier- oder dorthin legt, den Titel Vizekanzler führt oder mich nur faktiſch vertritt und sich darin mit jemand von Krieg - Finanz- Diplomatie zc. abwechselt, je nach der verhandelten Materie, darin bin ich bereit, auf seine Wünsche einzugehen und möchte gern hören, wie er darüber denkt. Das

Publikandum

wegen

der

hessischen Parenthesen gereinigt haben.

Verfassung

möchte

ich

von

Die hessische Klauſel iſt ſelbſt-

verständlich, und die Erwähnung der Carolina** ) in dieſem ersten und feierlichen Akte hängt der Sache ein ridicule an, dem ich die Ungenauigkeit, die in der Nichterwähnung liegt, vorziehe. eine danach modifizierte Ausfertigung.

Ich bitte umgehend um

Der Kronprinz wird heut zu Mittag bei Blumenthal in Jannowig erwartet. Ungebeten kann ich dort nicht zum Essen kommen, und eingeladen bin ich nicht. Hoheit nicht sehen.

Ich werde also voraussichtlich Seine Königliche

*) Lefebvre de Behaine, damals Botschaftsrat in Berlin. **) Carolina, Das alte deutsche Strafrecht.

561

Briefe Bismarcks an Staatssekretär v. Chile.

Goltz wäre, glaube ich), mit Bezug auf Lefebvres Schritt zu beauftragen, vertraulich und gelegentlich zu erklären, daß wir auf dem Programm beharren, welches wir nach Kopenhagen kundgegeben haben, und nichts tun werden, solange Dänemark sich nicht unumwunden erklärt. Bürgschaften für Deutsche, oder keine Abtretung Deutscher. Regen, kalt, Unruhe von Handwerkern im Hauſe. Meine Gesundheit läßt noch viel zu wünschen, mir fehlt die Einsamkeit und das Schweigen, der liebende Pommer versagt mir beides.

Der Ihrige

(gez .) v . B. Ich habe große Lust, noch in ein englisches Seebad zu gehen.

10.

Varzin , den 21. Juli 1867. Verehrtester Freund,

daß der König den Bundesrat eröffnen hilft, halte ich weder nötig, noch einmal ratsam . Es würde unseren Bundesgenossen den Eindruck machen, als ob ihre ſtaatlichen Vertreter in die Kategorie einer preußischen parlamentarischen Körperschaft gerechnet würden. Sachlich kann eigentlich nur das Bundesbudget und der Zollvertrag zur Behandlung kommen, beides gegebene Größen, ohne Bedürfnis neuer Allerhöchſter Entschließungen. In den neuen Ländern gehen die inneren Minister mit unnötiger Schärfe vor, und ich möchte, der König hielte die Dinge wenigstens an ; sie haben gar keine Eile.

Die Personen fragen

ſind längst eilig, und darin geschicht nichts, kein Neupreuße wird befördert. Die Überführung des heſſiſchen Staatsschazes ist ein plumper Mißgriff. Meine erste Reise von hier ist jedenfalls zum Könige. An Ragaz glaube ich nicht. Savignys Schreiben erfolgt zurück, ich bitte, es dem Könige vorzulegen.

Es ist ganz die frühere Golzsche Theorie, z wiespältiger

Immediatvortrag in Sachen der auswärtigen Politik.

Ich hatte kaum

erwartet, daß er sich zu dieſem Ziele ganz offen bekennen würde, da ich ihm von Anfang an rückhaltlos gesagt hatte, daß ich den Kanzler, wie er damals und für ihn gemeint war, als abhängig von den Instruktionen des auswärtigen Ministers auffaßte.

Nicht einmal die wirklichen Staats-

miniſter ſind zu Immediatvorträgen ohne Konkurrenz des Ministerpräſidenten berechtigt.

Mein Wunsch ist, daß der König zunächſt einen Vize-

kanzler gar nicht ernennt. Nötig scheint mir, daß die Bundesregierungen von dem bevorstehenden Zusammentritt des Bundesrates und von den obengenannten Gegenständen der Beratung (Budget, Zoll) durch vertrauliches Zirkular benachrichtigt werden, sub signo auswärtiger Miv. Diest , Lebenslauf eines Glücklichen.

36

Anhang.

562

nister.

Zum Mitgliede des Bundesrats will ich Seiner Majeſtät zunächſt

den Geheimrat König vorschlagen, anderweite vorbehaltend. in Form revokablen Auftrags . erörtern.

Ernennung

Ob Gehalt, ist mit anderm später zu

Der Lefebvresche Schritt muß in die Preſſe, nachdem er die Depesche gezeigt hat. Zunächst an letzteres anknüpfend, „er zeige eine Depesche, die er vorgelesen zu haben behaupte" ; man muß ihn nicht mit Samt anfassen. Bisher finde ich nicht, daß die franzöſiſchen Einmischungsgelüſte in deutsche Sachen in der Preſſe ſcharf genug denunziert werden. Ich halte das unbedingt für nötig, trog Rouhers Brillanten . Ich leide viel an Migräne und heißem Kopf.

In der Ruhe meldet

sich alle Schwäche, die monatelang nicht Zeit dazu hatte.

Bitte, teilen

Sie Abeken diesen Brief pro informatione und als Inſtruktion mit. Meine Frau grüßt, ist wohl.

Aus dem anliegenden Johanniterbriefe meines Vetters bitte ich Abeken, für Trescow und Seine Majeſtät das sehr beachtenswerte post cr. in betreff des hannöverſchen Erſages mitzuteilen.

11.

Der Ihrige gez. v. Bismarc.

Varzin , den 22. Juli 1867. Was ist denn an der Wertherschen Depesche ?

Der größte Teil der

Phrasen ist mir als richtig in Erinnerung ; am Schluß scheint mir ein Zusatz gemacht zu sein.

Wie ist sie in die Öffentlichkeit gelangt ?

Die Antwort an Dänemark hat Zeit. Mit Frankreich müſſen wir in der Sache scharf ablehnen, Schriftliches, zur Veröffentlichung Geeig netes verlangen, bevor wir uns auf Antwort einlassen ; die Sache muß in gläsernem Hause verhandelt werden ; wir müſſen auf nichts antworten, was nicht in unserem blue book figuriert, und die Parlamente in jeden Schritt hineinziehen, alles carte sur table ; die dänische Antwort gelegentlich veröffentlichen, ich schicke sie mit Randgloſſen zurück.

„ Le Nord

du Sleswig" ist eine Fälschung der Frage. Die Reichstagswahlen haben auf die Frage gar keinen Bezug. Dies einstweilen für die Presse. Rüstungen in Flotte und Düppel müſſen etwas ostentiös betrieben werden. Zu mündlichen Verhandlungen sind wir natürlich bereit, wegen der Garan. tien;

den

Umfang der

Zession

werden

wir

einseitig

bestimmen.

Behandeln Sie Lefebvre nicht zu gut, und klagen Sie über ihn durch Golz, er mag sich benehmen, wie er will .

Er muß fort. Ihr

(gez .) v . B.

Briefe Bismarcks an Staatssekretär v. Chile.

12.

563

Varzin , 29. Juli 1867. Verehrtester Freund,

ich wiederhole, daß es meines Erachtens nicht angemessen ist, Lefèbvre irgend etwas zu antworten.

Es tritt jest ohnehin die Phaſe ein,

wo Napoleon sich zurückzieht, seine Organe anscheinend ohne Kontrolle handeln läßt, und sie nachher je nach dem Erfolge desavoniert. Dagegen muß in der Presse ein ganz anderer Ton als bisher über die französischen Unverschämtheiten angeschlagen werden. Meine bisher in diesen Beziehungen ausgedrückten Wünsche haben gar keinen mir erkennbaren Erfolg gehabt, und doch ist der Schrei der Entrüstung in der nationalen Presse kein biliöſer, ſondern ein kühl erwogenes politisches Bedürfnis ; dergleichen macht den Franzosen mehr Eindruck als alle Noten, es zeigt der französischen Bevölkerung die Gefahr, der die Regierung zuſtrebt. Die Sache muß als frivoles Händelſuchen denunziert werden ; die Depesche vom 13. muß veröffentlicht und zerpflückt werden.

Golt bitte ich, einſt-

weilen nur zu sagen, daß die Beantwortung erfolgen würde, sobald ich Seiner Majestät darüber Vortrag gehalten hätte, und daß ſie meines Erachtens nicht anders als scharf ausfallen könne und veröffentlicht werden würde. Auch die dänische vom 20. cr. wollen wir einstweilen nur in der Presse behandeln und die Beantwortung auf meine Rückkehr vertrösten. Einige Marginalien zur Berücksichtigung in der Presse liefere ich bleistiftlich. In bezug auf die Einmischung Frankreichs in Süddeutschland brauchen wir ja nicht gerade badische Depeschen zu veröffentlichen oder Baden auch nur zu nennen. Aber, daß gedruckt werde, daß Frankreich bei süddeutschen Höfen diese Sprache geführt habe und keinen Anklang gefunden, und daß dieses Thema acht Tage lang täglich in allen zugänglichen Blättern geritten werde, ist ganz unerläßlich, Baden mag es wünschen oder nicht.

Ich begreife die Stumpfheit unserer Presse nicht, daß

ſie den welfiſch-franzöſiſchen Bund auch nur einen Tag ruhen läßt, daß sie nicht aus der Situation, den sächsischen Seifenblasen, dem Stuttgarter Beobachter, natürlich ohne die Blätter speziell zu nennen, sich ihr reiches tägliches Futter holt. Man muß diese Blätter nur allgemein als „welfische“, „Jesuiten" oder „ Rheinbund "-Blätter zitieren, aber nie unterlassen, den Zusammenhang mit Frankreich anzudeuten. Wenn Mezler und Hahn das nicht leisten können, so verstehen sie das Geschäft nicht. Ich bin zwar noch wenig arbeitsfähig, aber ich fürchte, daß ich bei der Apathie der öffentlichen Meinung nach außen, jett, vor den Wahlen, und bei dem Verordnungsdurchfall, der in den Ministerien bezüglich der neuen Länder herrscht, doch schnell wieder an die Arbeit muß, mag ich gesund sein. oder nicht. Der Ihrige

(gez. ) v. Bismarc. 36*

Anhang.

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13.

Varzin , den 12. Mai 1870. Verehrter Freund !

Ich hoffe in den ersten Tagen der Woche zu kommen, wenn auch die Nerven mit den Muskeln noch nicht Schritt halten, oder der Kopf mit den Beinen, will ich lieber sagen.

Gehen kann ich, nur nicht rasch ; aber

wirtschaftliche Geschäfte, Rechnungen zc., machen mir den Kopf warm, politische vielleicht noch mehr.

Ich muß indes beim Reichstage meine

Schuldigkeit tun, zur Ruhe mag nachher Zeit sein. Den ruſſiſchen Bejuch mit dem dann unvermeidlichen Verkehr am Hofe gerade als Debut nach der Krankheit zu nehmen, wage ich nicht, sonst wäre ich etwa morgen gereist. So bitte ich Sie, mir bei Seiner Majestät noch Nachsicht zu er wirken, und Delbrück vorstehendes zu sagen.

Der Jhrige (gez. ) v. Bismard.

Anlagen .

Anlage 1.

(Is das Ergebnis meiner Studien des alten Dieſtſchen Stammbaums, verſchiedener Bücher und namentlich einer in Brüſſel und Utrecht erſchienenen Druckschrift: Notice historique sur les barons de Diest à Brabant" fann ich folgendes hier wiedergeben: Der älteste unserer Vorfahren, welcher in Urkunden genannt, ist Arnold I. v. Diest ; er sowohl wie seine Nachfolger führen den Titel » Dei gratia princeps de Diest« . Arnold iſt nach dieſen Urkunden der Sohn von Otto v. Diest, welcher am Ende des 11. Jahrhunderts lebte. In der Chronik der Abtei St. Pierre inter caeteras villas nostras steht folgende Notiz : » Interea Bruno vendidit viro cuidam forti et nobili Ottoni vidilicet de Diste , patri Arnulfi.