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German Pages 181 [168] Year 2014
VORTRÄGE AUS DEM WARBURG-HAUS BAND 3
VORTRÄGE AUS DEM WARBURG-HAUS BAND 3 HERAUSGEGEBEN VON
W O L F G A N G KEMP GERT MATTENKLOTT M O N I K A WAGNER MARTIN WARNKE
GEORGES D I D I - H U B E R M A N Die Ordnung des Materials EGON FLAIG Soziale Bedingungen des kulturellen Vergessens M A R T I N WARNKE Spätmittelalterliche „Ausgleichserzeugnisse" J O A N R. B R A N H A M Blutende Frauen, blutige Räume
Akademie Verlag
Redaktion: Catherina Berents
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Didi-Huberman, Georges: Die O r d n u n g des Materials / Georges Didi-Huberman. Soziale Bedingungen des kulturellen Vergessens / Egon Flaig [u. a.]. - Berlin : Akad. Verl., 1999 (Vorträge aus dem W a r b u r g - H a u s ; Bd. 3) ISBN 3-05-003461-0
© Akademie Verlag G m b H , Berlin 1999 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Werksatz Schmidt & Schulz, Gräfenhainichen D r u c k : G A M Media, Berlin Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
INHALTSVERZEICHNIS
GEORGES D I D I - H U B E R M A N Die Ordnung des Materials Plastizität, Unbehagen, Nachleben 1 E G O N FLAIG Soziale Bedingungen des kulturellen Vergessens 31 MARTIN WARNKE Spätmittelalterliche „Ausgleichserzeugnisse" 101 J O A N R. B R A N H A M Blutende Frauen, blutige Räume Menstruation und Eucharistie in der Spätantike und im Frühen Mittelalter 129 Abbildungsnachweis 161
Die Ordnung des Materials Plastizität, Unbehagen, Nachleben GEORGES DIDI-HUBERMAN
Ein Stoff der Spaltung Mir scheint, daß die Haltung des Kunsthistorikers dem Material gegenüber gespalten ist. Auf der einen Seite ist das Material als äußerliches Kennzeichen eines jeden Kunstgegenstands eine unmittelbare und konkrete Evidenz: Es sagt ganz einfach aus, woraus ein Gegenstand gemacht ist. Auf der anderen Seite wird diese konkrete Evidenz von einer spontanen Philosophie, die sich der Historiker angeeignet hat - was er im allgemeinen nicht einmal zugibt - , von vornherein bestritten. Diese Philosophie wurde von Panofsky überaus deutlich expliziert, als er die gesamte Geschichte des Konzeptes der Kunst unter die Autorität der Idea stellte und nahe legte, sich diese Geschichte ganz einfach als eine Ausdehnung platonischer Problemstellungen zu denken: „Plato [hat] den metaphysischen Sinn und Wert der Schönheit in einer für alle Zeiten gültigen Weise begründet, und [seine Ideenlehre] ist auch für die Ästhetik der bildenden Künste von immer größerer Bedeutung geworden." 1 Historisch gesehen hatte Panofsky ohne Zweifel recht, als er die Intelligibilitätsmatrix hervorhob, die der Platonismus - „Metaphysik der Schönheit" und „Ideenlehre", wie er sagt - seinem *
Deutsch von Hella Faust
1 E. Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte 1993, S. 1.
der älteren Kunsttheorie,
Berlin
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Georges
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Wesen nach im Laufe der Jahrhunderte für die Entwicklung der „Ästhetik der bildenden Künste" hat annehmen können. Heute kann man sich jedoch die Frage stellen, was eine solche Prämisse in bezug auf das für jeden Kunstgegenstand natürlich äußerst wichtige Material für Folgen hat. Egal ob sich das Material aus der philosophischen (bei Piaton allgegenwärtigen, von den Kantianern wieder zu ihrem Recht verholfenen, für den Kunsthistoriker für die Erarbeitung einer Stilistik wahrscheinlich notwendigen) Polarität Stoff/Form ableitete oder sich aus der (bei Piaton allgegenwärtigen, von den Kantianern wieder zu ihrem Recht verholfenen, für den Kunsthistoriker für die Erarbeitung einer Ikonologie wahrscheinlich notwendigen) Polarität Stoff/Geist erschloß, in beiden Fällen blieb das Material in guter philosophischer Tradition „an zweiter Stelle", „potentiell" oder „undeterminiert". Genauso reagierte die „spontane Philosophie" der Kunstgeschichte zum Zeitpunkt ihrer Entstehung: Sprach Vasari vom Stoff etwa nicht als von etwas, das der Form, das heißt der Idea unterworfen (sugetta) sei? Als von etwas, das sich als das mehr oder weniger undeterminierte Sammelbecken des disegno und des Intellekts darbietet 2 , das sonst ans Nicht-Sein, an die Unordnung, an die Zerstreuung grenzen würde. Etwas, das sich stets in Erwartung einer „Form" befindet, durch die es freikäme, die allein ihm gestatten würde, würdig aufzutreten. Im schlimmsten Fall war das Material unförmig - eine Revolte gegen die Form —, im besten Fall eine Instanz der Passivität, der Unterwerfung unter die Form. Wenn wir von den „bildenden Künsten" sprechen, gehen wir etymologisch gesehen implizit davon aus, daß die visuellen Künste nur mit dieser Passivität einhergehen können, die der Stoff der Aktion der Formen bietet. „Bildende Künste", das bedeutet zunächst Plastizität des Materials: das bedeutet zunächst, daß der Stoff beliebig geschmeidig, biegsam, modellierbar, bearbeitbar ist. Mit anderen Worten, daß er sich bescheiden der Möglichkeit hingibt, geöffnet, bearbeitet, verarbeitet, in eine Form gebracht zu werden. 2 Zu Vasari siehe G. Didi-Huberman: L'image-matière. Poussière, ordure, saleté, sculpture au X V I e siècle, in: L'Inactuel 5, 1996, S. 6 3 - 8 1 .
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Gedächtnisstoff Sprechen wir jedoch vom Wachs: Es ist stets unkorrekt, allgemein von „Stoff" zu sprechen (über „Stoff" allgemein nachzudenken, heißt, von Stoff nichts zu verstehen, denn man versucht, sich eine einfache, fatal abstrakte „Vorstellung" davon zu machen 3 ). Warum Wachs? Zunächst, weil es ein geschmeidiges Material, das plastische Material schlechthin ist. Mit einem Stück Wachs in der Hand erhält die sehr alte und sehr philosophische Frage des Verhältnisses zwischen Form und Stoff - ja jene des Verhältnisses zwischen Geist und Stoff - eine sehr greifbare Konsistenz und Wärme. Es ist kein Zufall, wenn einige wichtige Momente in der Geschichte dieser Fragen davon geprägt waren, daß man sich plötzlich gezwungen sah, auf das Wachsparadigma zurückzugreifen. Allen voran Piaton: Es ist das ursprüngliche Wachs, das der Halbgott in der Art und Weise von Lehm modellieren kann 4 ; es ist das reine und „zarte" Wachs, mit dem das Neugeborene in Nomoi verglichen wird und das seine Mutter „einwickelt, solange es noch biegsam ist", bevor der Stadtstaat es endgültig „formt" 5 ; hinter den „Zärtlichkeiten" steht das gefährlichere Wachs des Begehrens, das den „Sinn auch von Männern, die sich gar würdig dünken, biegsam [macht]" 6 ; es ist vor allem das Wachs des Gedächtnisses, das in Theaitetos in Gestalt einer Hypothese auftritt: „So setze mir nun, damit wir doch ein Wort haben, in unseren Seelen einen wächsernen Guß, welcher Abdrücke aufnehmen kann [...]." 7 . Das Schicksal, das diese Metapher bei Aristoteles erfährt, ist bekannt: Da das Gedächtnis den im Vorstellungsbild gesehenen Gegenstand zum Inhalt hat, ist es der Abdruck im Wachs, der künftig als wirksames Modell der eigentlichen Sinnesempfindung fungiert: 3 George Bataille nannte dies „Idealismus der Materie", eine in seinen Augen besonders dumme philosophische Position. Siehe den Aufsatz von G . Bataille: Matérialisme, in:
Documents
3, 1929, S. 170, den ich in Ressemblance
selon Georges
Bataille,
informe ou le gai savoir
4 Siehe L. Brisson: Le Même et l'autre dans la structure ontologique Platon, Paris 1974, S. 54. 5 Platon: Nomoi, VII, 789 e. 6 Ebd., 1 , 6 3 3 d.
7 Theaitetos, 191 c-d.
visuel
Paris 1995, S. 2 6 8 - 2 8 0 , kommentiert habe.
du Timée chez
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„[...] die mit der Wahrnehmung auftretende [Empfindung] läßt gleichsam einen Abdruck des Wahrnehmungsbildes zurück, wie wenn man mit einem Ring siegelt. Daher haben Leute, die sich aufgrund ihrer Affekte oder ihres Alters wegen in großer Erregung befinden, kein Gedächtnis, der Wahrnehmungseindruck und das Siegel treffen gleichsam auf fließendes Wasser. Andere wieder sind verwittert wie alte Gebäude und zu verkümmert, um einen Eindruck aufzunehmen: Auch da kommt kein Abdruck zustande. Daher haben ganz junge und ganz alte Leute ein schlechtes Gedächtnis. Die einen sind wegen des Wachsens, die anderen wegen des Vergehens in einem fließenden Zustand. [...] Die einen sind nämlich gegenüber der Norm in zu flüssigem, die anderen in zu trockenem Zustand. Bei den einen verbleibt das Vorstellungsbild nicht in der Seele, bei den anderen vermag es sich gar nicht erst festzusetzen." 8
Hier wird eine materielle Vorstellung vom Wachs eingeführt, die für sehr lange Zeit Gültigkeit haben wird. Sie erreicht einen ersten H ö h e p u n k t in der kartesianischen Analyse des Wachsstücks, welche die Unterscheidung zwischen Stoff und Geist illustrieren w i l l 9 , einen zweiten im Freudschen Modell des „ W u n d e r b l o c k s " 1 0 , das zum kritischen U m s t u r z sämtlicher Unterscheidungen dieser Art beigetragen hat. Merken wir uns zunächst, daß Aristoteles in dieser Passage bei der Erörterung des materiellen Bildes dem Problem des Substrats oder des Materials außergewöhnliche theoretische Aufmerksamkeit zukommen läßt: Auf einem zu flüssigen, zu schnellem, zu „jungem", zu feuchten Material bleibt die F o r m nicht haften, „als träfe das Siegel auf fließendes Wasser". Auch auf einem verwitterten, zu „alten" oder zu trockenen Material bleibt die F o r m nicht haften, wenn auch aus ähnlichen Gründen. Wie gewöhnlich hat Aristoteles in der Ausführung seiner Beispiele die Kernfrage getroffen. Es handelt sich in der Tat um eine Frage der Plastizität: Damit eine F o r m haften bleibt, damit ganz allgemein eine Individuation erfolgen kann, muß ein Stoff jene subtile Eigenschaft aufweisen, weder zu trocken, noch zu flüssig, weder zu hart noch zu weich zu sein. Indem Aristoteles zur U n t e r mauerung seiner konzeptuellen Beweisführung ausgerechnet eine Eintei8 Aristoteles: Parva naturalia, 450 a-b. 9 Siehe R. Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, 2. Untersuchung. 10 Siehe S. Freud: Notiz über den Wunderblock, in: Gesammelte "Werke XIV. Werke aus den Jahren 1925-1931, hrsg. von A. Freud, E. Bibring u.a., Frankfurt/M. 1948, 7. Aufl. 1991, S. 3-8.
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lung materieller Eigenschaften vornimmt, erschloß er ein Gebiet, das wir gründlicher untersuchen müssen. Das bedeutet, daß wir über den metaphorischen Gebrauch von Wachs hinaus - und auf die Gefahr hin, die theoretischen und imaginären Grundlagen dieses Gebrauchs neu zu überdenken - die Frage der Plastizität vertiefen müssen, indem wir uns nicht mehr an den Philosophen des Stoffes, sondern an den Techniker des Materials wenden. Das Wachs erweist sich bei der Verarbeitung von so schwindelerregender qualitativer Vielfalt, daß der Wachsbildner selber über die drei oder vier von Aristoteles geltend gemachten Kriterien hinaus - Weichheit und Härte, Trockenheit und Feuchtigkeit - gar nicht mehr von nur „einem" Wachs" spricht: „Das Wachs ist nicht nur ein Wachs, es gibt so viele davon! [...] H u n d e r t e und Aberhunderte, und sie verbinden sich miteinander. [...] - Worin der Unterschied besteht? - In der Mischung, in der Verarbeitung der unterschiedlichen Wachstypen und in den Kompositionen, die man daraus herstellt." 1 1 D e r Mann, der hier zu W o r t k o m m t , ist Girolamo Spatafora, einer der letzten Wachsbildner Siziliens, Lieferant von Ex-Votos und Krippenfiguren. Er wurde 1991 von einem Ethnologen befragt. Seine ganze Rede schwankt zwischen dem Gefühl des Verschwindens, denn niemand wolle diesen vergammelten Plunder mehr, das H a n d w e r k des Wachsbildners gehe verloren, er sei gezwungen, Waschmaschinen zu reparieren, u m seinen Lebensunterhalt zu verdienen usw., und dem Gefühl eines dem Material eigenen Nachlebens, ein Nachleben, daß sich gerade der außergewöhnlichen Plastizität des Wachses verdankt: „Meravigliosa. Tutto si può fare. [...] Si muove pure'1, vertraute er zwischen zwei ernüchterten Bemerkungen über die seltenen Aufträge an. 1 2 Es ist möglich, daß der sizilianische Wachsbildner, indem er im selben Atemzug das Verschwinden, aber auch das Nachleben und die „wunderbare" (meravigliosa) Plastizität 1 1 R . Cederini: Il sapere vissuto, in: Arte popolare in Sicilia. Le tecniche, i temi, i simboli, hrsg. von D. D'Agostino, Palermo 1991, S. 177: „La cera non è una sola, ce ne sono tante. [...] Centinaia et centinaia e si combinano tra loro. [•••]- In cosa consiste la differenza? - Nella miscelazione, nella lavorazione dei vari tipi di cera, nelle composizioni che si fanno." 12 Ebd., S. 178-180.
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des Wachses erwähnt - Plastizität, die sich demjenigen Material verdankt, das die unterschiedlichsten Verwendungen möglich macht (tutto si puo fare) sowie dem „Leben", das es durch seine Geschmeidigkeit zeigt (si muove pure) - das Wesentliche der historischen, anthropologischen und ästhetischen Probleme zum Ausdruck bringt, welche die eigenartige Konstellation der aus Wachs gefertigten Gegenstände aufwirft. Darüber hinaus knüpft er unwissentlich an den technisch-mythischen Diskurs bei Plinius dem Alteren an, dessen Naturgeschichte bereits die „plastischen" und „wunderbaren" Aspekte eines Materials abhandelte, dessen Ursprünge recht rätselhaft sind: Was es mit der Art auch immer auf sich haben mochte, in der Bienen in der Verborgenheit des Bienenstocks „aus Blumen" Wachs herstellen (ceram ex floribus), für Plinius zählten vor allem die vielfältigen „Verwendungsmöglichkeiten im Leben" (mille ad usu vitae).li Und er erläuterte dieses Motiv in einem Satz, in dem sich die Funktion der similitudo nicht zufällig mit der Antiphrase der mortales zur Bezeichnung der lebendigen Menschheit (die lebendig, aber dazu bestimmt ist, ihre eigene Sterblichkeit symbolisch zu „verwalten") verbindet. Das Wachs, das wird man immer wieder feststellen, ist das für diesen Prozeß geeignete Material: „[...] mit Hilfe von Farbstoffen stellt man es in verschiedenen Farben her, um den Sterblichen, neben unzähligen [anderen] Verwendungen, die Ähnlichkeit wiederzugeben (variosque in colores pigmentis trahitur ad reddendas similitudines et innumeros mortalium usus)."14 Die „Ähnlichkeit der Sterblichen" (similitudo mortalium), die in diesem Text erwähnt wird, muß natürlich als Verweis auf den römischen Brauch der imagines verstanden werden, jene bemalten Wachsmasken, die mittels eines Abdrucks vom Gesicht des Verstorbenen hergestellt wurden und deren genealogische Funktion für die gesamte Geschichte der Ähnlichkeit und des Bildes in Westeuropa von grundlegender Bedeutung zu sein 13 Plinius d. Ä.: Naturgeschichte, XI, 11 und 14. Siehe auch 18. Zur Anthropologie der Bienenzucht konsultiere man unter anderem die Arbeit von P. Marchenay: L'Homme et l'abeille, Paris 1979 (Überarb. Ausgabe 1984). 14 Plinius d. Ä: Naturgeschichte, X X I , 85.
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scheint.15 Über die überragende Bedeutung hinaus, die der similitudo mortalium hier bereits zukommt, müssen wir die von Plinius erwähnten „unzähligen Verwendungen" notieren, unter denen sich wahllos durcheinander Bienenzuchttechniken, medizinische Verwendungen, künstlerische Arbeiten und volkstümliche Erzeugnisse ausmachen lassen, wie etwa jene Wachsmodelle, die auf den Ständen der Händler Obst oder andere verderbliche Lebensmittel nachbildeten (man findet sie noch heute in den Schaufenstern bestimmter Restaurants, selbst wenn Thermoplast den jahrhundertealten Gebrauch von Wachs ersetzt hat). 16 Hinter diesen „unzähligen Verwendungen" zeichnet sich letztlich eine außergewöhnliche anthropologische Schichtung des Materials ab: magisches Wachs, Votivwachs und Totenwachs, Wachs für den liturgischen Gebrauch und Wachs für die volkstümliche Verehrung, Wachs für den künstlerischen, handwerklichen oder anatomischen Gebrauch und Wachs für den Jahrmarkt etc. Erwähnt sei ebenfalls, wahllos und ohne Anspruch auf Vollständigkeit (selbst Diderot und d'Alembert geben in ihrer Enzyklopädie zu, daß „man nicht weiß, zu wievielen Dingen [die Menschen] es zu allen Zeiten verwendet haben" 17 ), Malwachs (Wachsmalerei) und Textilwachs (Batik); Bohnerwachs und Siegelwachs; Schuhwachs und Industriewachs; Wachs, das als Klebstoff gebraucht wird und Kosmetikwachs etc. 18 Man hat begriffen: Plastizität reimt sich hier mit funktionaler Viel15 Plinius d. Ä.: Naturgeschichte, X X X V , 1-14. Siehe G. Didi-Huberman: L'imagematrice. Généalogie et vérité de la ressemblance selon Pline l'Ancien, Histoire naturelle, X X X V , 1-7, in: L'Inactuel 6, 1996, S. 109-125. Ders., L'Empreinte, Paris 1997, S. 3 8 - 4 8 . 16 Plinius d. Ä.: Naturgeschichte, VIII, 215; X X I , 83-85. 17 Stichwort „Wachs" in D. Diderot und J. L. R. d'Alembert (Hg.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, III, Paris 1753, S. 471. Zu den Verwendungen von Wachs in der Antike, siehe E. Saglio: Cera, in: Dictionnaire des antiquités grecques et romaines, 1-2, Paris 1887, S. 1019-1020. 18 Die vollständigste Bestandsaufnahme der Wachstechnologien füllt die beiden umfangreichen Bände von R. Büll: Das große Buch vom Wachs. Geschichte - Kultur Technik, München 1977 - ein von einem deutschen Industrieunternehmen finanziertes Lebenswerk. Hingewiesen sei auf einige Arbeiten, die sich mit bestimmten Aspekten beschäftigen, auf die wir nicht speziell zurückkommen werden: T. R.
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falt. Genauer gesagt erleichtert die eine die andere, instrumentalisiert sie und, wer weiß, erfindet sie. Wie? Vielleicht dank einer nicht weniger außergewöhnlichen Schichtung von Materialeigenschaften, die das Wachs in sich vereint. Auf den ersten Blick sind die unzähligen Verwendungen des Wachses bei der Suche nach einer funktionalen Kohärenz eher entmutigend; wenn wir das Wachs jedoch selbst befragen, haben wir vielleicht eine Chance, die materielle Stütze dieser Vielfalt zu entdecken.
Stoff der Seltsamkeit Worin besteht (consiste) also die Plastizität des Wachses? Kann eine Plastizität streng genommen bestehen (consister)? Wenn man die technischen Schriften von Fachleuten liest, hat man den seltsamen Eindruck, daß Wachs sich dadurch kennzeichnet, daß es sich nicht kennzeichnen läßt. Jedesmal, wenn wir Wachs eine Materialeigenschaft zuerkennen, sind wir umgehend gezwungen, ihm auch die genau entgegengesetzte beizulegen. Wachs scheint also ein Material zu sein, das die Widersprüche von Materialeigenschaften nicht kennt. Wachs ist fest, es läßt sich jedoch leicht verflüssigen; es ist wasserundurchlässig, läßt sich jedoch leicht in Wasser auflösen (eine leichte Veränderung reicht dazu aus) 19 . Es kann gehauen, modelliert oder gegossen werden, die herkömmlichen Hierarchien der bilNewman: Wax as Art Form, London und South Brunswick, 1966, S. 14 und 202-292 (Wachs als Restaurierungs- und Konsolidierungsmaterial, vor allem von Tizian für seine eigenen Gemälde benutzt). T. Brachen: Die Techniken der polychromierten Holzskulpturen, in: Maltechnik III, 1972, S. 153-178 (Wachseinsätze in der mittelalterlichen Skulptur). J.-B. Lebrun und M. D. Magnier: Nouveau Manuel complet du mouleur en plâtre, au ciment, a l'argile, a la cire, à la gélatine, suivi du moulage et du clichage des médailles, Paris 1926, S. 169-194 (Wachsgüsse). M. Duhamel du Monceau: L'Art du drier, Paris 1762 und L. S. Le Normand: Manuel du chandelier et du cirier, suivi de l'art du fabricant de cire à cacheter, Paris 1827 (Wachsbildnerhandwerk). F. Margival: Les cirages: encaustiques, cires à frotter, modeler, cacheter, crèmes pour chaussures, mixtures pour entretiens et cuirs, Paris 1922, (Pflegewachs). H. Bennett: Industrial Waxes, New York 1975 (Chemie, Industrie). 19 Siehe Newman, ebd., S. 11 und 99-104.
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denden Künste sind ihm daher von vornherein unbekannt. 2 0 Es kann mit den Händen oder mithilfe aller möglichen Werkzeuge bearbeitet werden; es kann bemalt oder in der Masse gefärbt werden, es kann undurchsichtig oder durchsichtig, matt oder poliert, glatt oder klebrig sein; seine Konsistenz kann durch den Zusatz unterschiedlichster Harze unendlich abgeändert werden. 2 1 Es ist ein zerbrechliches und vergängliches Material, wird jedoch meist - gerade aufgrund seiner texturalen Reichhaltigkeit für die Herstellung von Gegenständen verwendet, die von Dauer sein sollen. Die Plastizität des Wachses „bestünde" also vor allem in dieser Bandbreite physikalisch ambivalenter Eigenschaften - Thelma Newman gelang es, dreiundzwanzig davon ausfindig zu machen und zog folgende, ihrem Wesen nach ästhetische Schlußfolgerung: „Seine Plastizität ermöglicht sowohl den spontanen Ausdruck als auch die Genauigkeit des Details." 2 2 Diese Plastizität „bestünde" also in einem Paradox der Konsistenz, dem natürlich zugrundeliegt, daß Wachs, egal ob es flüssig, teigig, fest oder gar brüchig ist, für jedermann Wachs bleibt, ohne daß sich sagen ließe, wie sein „ursprünglicher" oder „hauptsächlicher" Zustand lautet (im Gegensatz dazu sagt man, daß Wasser im „ursprünglichen Zustand" flüssig ist: festes, 20 Die beste Synthese bleibt ohne Zweifel R. W i t t k o w e r s : Qu'est-ce que la sculpturef Principes et procédures, Paris 1995 (1977 1 ). 21 Siehe J. Murrell: Methods of a Sculptor in Wax, in: La ceroplastica nella scienza e nell'arte. Atti del I Congresso internazionale, hrsg. von B. Lanza und M. L. Azzaroli, Florenz, II, S. 709-713. Zur chemischen Identifizierung der Wachse, siehe H. Kühn: Detection and Identification of Waxes, Including Punic Wax, b y Infra-Red Spectography, in: Studies in Conservation, V, 1960, S. 71-81. Zu in Skulpturen verwendeten Bienenwachszusätzen siehe S. Colinart: Matériaux constitutifs, in: Sculptures en cire de l'ancienne Egypte à l'art abstrait, hrsg. von J . - R . Gaborit und J. Ligot, Paris 1987, S. 4 1 - 5 7 , w o einige Rezepte auf der Grundlage von Talg (Rinder- oder Schafsfett), von Schweineschmalz (Schweinefett), von Olivenöl, von Terpentin (besonders das von Venedig), von Mehl, von Stärkemehl u s w . untersucht werden. Siehe auch die allgemeineren Bemerkungen von J. C . Rich: The Materials and Methods of Sculpture, N e w Y o r k 1947, S. 5 2 - 5 6 und von N . Penny: The Materials of Sculpture, N e w H a v e n - L o n d o n 1993, S. 215. 22 N e w m a n [wie A n m . 18], S. 20.
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gefrorenes Wasser nennt man spontan nicht mehr Wasser, sondern Eis). Bereits diese Elementarphänomenologie gibt uns Auskunft über das Wesen des hier zur Diskussion stehenden Paradoxons und ermöglicht uns eine erste Benennung desselben. In gewissem Sinne bedeutet Plastizität Geschmeidigkeit. Für diese Eigenschaft gilt Wachs als das Material der Ähnlichkeit schlechthin: Es ist das Material der „wahren Formen", der „genauen Formen". Plinius der Altere erzählt, daß Lysistratos aus Sikyon, der erste griechische Künstler, der „es sich zur Aufgabe [gemacht hatte], den Bildern Ähnlichkeit zu verleihen" (similitudines reddere instituit), auch der Künstler war, der es zur gleichen Zeit - im gleichen Vorgang - „[als erster] unternahm, das Bild eines Menschen am Gesicht selbst in Gips abzuformen und Wachs in diese Gipsform zu gießen" (e facie ipsa [...] expressit ceraque in eam formam gypsi infusa)23. Sowohl der Fachmann als auch der Historiker betonen, daß sich Wachs als „plastisches" Material von Natur aus für jene uralte Leidenschaft der Menschen eignet, solche - Bilder genannte - „Sachen" herzustellen, „die ähnlich aussehen". 24 Die Dehnbarkeit des Materials erlaubt nicht nur die Wiedergabe kleinster Details, sondern die Eigenschaften seiner Textur machen - durch die Einverleibung von Farbstoffen oder angemessenen mineralischen Füllstoffen - die Imitation sowohl von Haut als auch von Bronze, Alabaster oder Blei möglich. 25 23 Plinius d. Ä.: Naturgeschichte, XXXV. 24 Siehe vor allem J. Labarte: Histoire des arts industriels au Moyen Age et à l'époque de la Renaissance, Paris 1864, I, S. 330: „Das weiche Wachsmaterial eignete sich zu sehr für die Plastik, als daß es von den Bildhauern nicht schon in grauer Vorzeit verwendet worden wäre." G. Le Breton: Histoire de la sculpture en cire, in: L'Ami des monuments et des arts VII, 1893, S. 150: „Das Wachs ist das plastische, geschmeidige und zarte Material schlechthin, für die Feinheit des Beitels ist es am besten geeignet. Es gehorcht dem geringsten Fingerdruck des Wachsbildners, der ihm Wärme und Leben einflößt; so ist es nicht verwunderlich, daß sich die Künstler seit dem frühesten Altertum seiner bedient haben, um ihre Modelle für die Darstellung der menschlichen Figur oder der zartesten Dinge aus der Natur auszuführen." 25 Siehe vor allem S. Anderson: Basic Techniques for Modelling Plants and Animais in Wax, in: La ceroplastica nella scienza e nell'arte [wie Anm. 21], II, S. 578.
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In einem anderem, vom ersten untrennbaren Sinne bedeutet Plastizität Unbeständigkeit. Es gibt nichts Unbeständigeres, nichts Veränderlicheres als der physikalische Zustand eines Wachsstücks: Die brüchige Substanz, die ich in meine Hände nehme, wird durch meine Körperwärme in wenigen Augenblicken geschmeidig. Sie macht es möglich - weit einfacher als bei einem anderen Material - die zarten Formen eines Körpers, eines Gesichts genau wiederzugeben. Eine einfache, in der Nähe stehende Flamme jedoch reicht aus, damit sich die so überaus „wahre" Form unausweichlich verzerrt, damit sie in sich zusammenfällt, sich verflüssigt. Das „Paradoxon der Konsistenz", welche das Wachs durch seine Plastizität auferlegt, kann folglich als Möglichkeit eines H i n und Her zwischen Ähnlichkeit und Formlosigkeit verstanden werden. Ein H i n und Her, welches nicht mehr an die Welt des disegno - der Zeichnung, des Entwurfes - und die der Idea gebunden ist, sondern an die inneren Eigenschaften des Materials. Zuzuschauen, wie ein Stück Wachs „lebt", läßt sehr schnell den Verdacht aufkommen, daß in den herkömmlichen Hierarchien zwischen Form und Stoff so etwas wie eine Zensur zugange ist. Plastizität bedeutet dann nicht mehr nur Passivität. Natürlich bleibt das Wachsstück in meiner Hand gefügig, es wird die Form annehmen, die mein „Entwurf" ihm vorgibt. Es wird jedoch auch, ohne daß ich daran gedacht hätte oder dies beabsichtigt gewesen wäre, den Abdruck meiner Finger und die Spuren meiner ungewolltesten Bewegungen festhalten. Die Gefügigkeit des Materials ist so umfassend, daß sie sich an einem Punkt umkehrt und zu einer Macht des Materials wird. Wie läßt diese sich jedoch bezeichnen? Vielleicht durch einen Begriff, den bestimmte Denker der Moderne nicht zufällig der alten Polarität zwischen Stoff und Form entgegengesetzt haben: Gemeint ist der Begriff der Klebrigkeit. Es ist ein Paradoxon ein Paradoxon, dem man auf den Grund gehen müßte - , daß dieser Begriff im Kontext der Erschließung der Psyche einen Sinn bekommen hat. Georges Bataille schrieb 1929, daß sich ein relevantes Konzept des Stoffes von wissenschaftsgläubigen „Abstraktionen" oder „physikalischen, künstlich isolierten Phänomenen" nichts erhoffen könne; ihm zufolge müsse man bei Freud nachlesen, um herauszufinden, was Stoff bedeute: Freud hatte versucht, sein „metapsychologischstes" Konzept - den Trieb - mit-
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hilfe der zusammengehörigen Begriffe Plastizität und Klebrigkeit zu 26 definieren. Sowohl bei Freud als auch bei Aristoteles öffnet uns der theoretische Einsatz von Materialeigenschaften die Perspektive einer phänomenologischen Spannung, die der Kunsthistoriker guten Gewissens für seinen Forschungsgegenstand übernehmen kann. Aurel Kolnai, ein junger ungarischer Psychoanalytiker und Schüler Husserls, veröffentlichte zur Frage des Ekels (das Wachs steht dieser Problematik nicht fern) 1929 einen Essay „dinglicher Phänomenologie". In diesem Essay sprach er von lebenden und von toten, von plastischen und von klebrigen, von psychisch stets souveränen Stoffen. 27 Bataille hatte diesen Essay aufmerksam gelesen28, gefolgt wahrscheinlich von Jean-Paul Sartre, der vierzehn Jahre später die psychischen und phänomenologischen Motive der Klebrigkeit in einer anthologiehaften Passage umgrenzt, die Das Sein und das Nichts nahezu abschließt. Sartre forderte darin auf, die „Materialeigenschaft" als „seinsenthüllend" anzusehen und entfaltete ein ganzes Netz von Bedeutungen, die mit dem Paradox eines weder flüssigen noch festen Stoffes zusammenhängen, der aus diesem Grund die Psyche wie ein Alptraum von Metamorphosen heimsucht: „ [ . . . ] das Klebrige erscheint mir bereits als Andeutung einer Verschmelzung der Welt mit mir; und was es von sich zeigt, seine Eigenart eines Saugnapfes,
der mich ansaugt,
ist
bereits eine A n t w o r t auf eine konkrete Frage; es antwortet mit seinem Sein selbst, mit seiner Seinsweise, mit seiner ganzen Materie. [ . . . ] Eine klebrige Substanz wie Pech ist ein entartetes Flüssiges. Sie scheint uns zunächst das überall fliehende und überall sich selbst
26 G. Bataille [wie Anm. 3], S. 170: „Der Materialismus ist als ein seniler Idealismus anzusehen, insofern als er sich nicht unmittelbar auf psychologische oder soziale Tatbestände stützt, sondern auf Abstraktionen wie etwa physikalische, künstlich isolierte Phänomene. So müssen wir bei Freud, neben anderen [ . . . ] eine Darstellung des Stoffes entnehmen." Siehe S. Freud: Vorlesungen
zur Einführung
in die
Psychoanalyse
( 1 9 1 6 - 1 7 ) [wie Anm. 10], Bd. X I . 27 A. Kolnai: Le Dégoût,
Paris 1997 (1929 1 ). D e r Ausdruck „dingliche Phänomenolo-
gie" befindet sich auf S. 48. 28 Siehe G . Bataille: Randbemerkungen zu „L'abjection et les formes misérables", in: Œuvres
complètes
II, Paris 1970, S. 4 3 8 - 4 3 9 . Es sei daran erinnert, daß Georges
Bataille sich 1929 theoretisch auf das Formlose bezieht. Siehe ders., Informe, in:
Documents 7, 1929, S. 382.
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gleiche Sein zu manifestieren [...]. Das Klebrige [enthüllt sich] seinem Wesen nach als nicht geheuer, weil das Flüssigsein bei ihm verlangsamt existiert; es ist Verdickung des Flüssigseins, das heißt, es stellt an ihm selbst einen beginnenden Triumph des Festen über das Flüssige dar [...]. Diese erstarrte Unbeständigkeit des Klebrigen entmutigt den Besitz. [...] Nichts bezeugt den nicht geheuren Charakter einer ,Substanz zwischen zwei Zuständen' besser als die Langsamkeit, mit der das Klebrige mit sich selbst verschmilzt [...]. Der Honig, der von meinem Löffel auf den im Topf enthaltenen Honig fließt, skulpiert zunächst die Oberfläche; er hebt sich auf ihr als Relief ab, und sein Verschmelzen mit dem Ganzen stellt sich wie ein Einsinken, ein Schlucken dar, das gleichzeitig wie ein Zusammenfallen erscheint [...] und wie das Breit- und Flachwerden der etwas reifen Brüste einer Frau, die sich auf den Rücken legt. In diesem Klebrigen, das mit sich selbst verschmilzt, gibt es ja einen sichtbaren Widerstand, wie eine Weigerung des Individuums, das sich nicht im Ganzen des Seins vernichten will, und gleichzeitig eine bis zur äußersten Konsequenz getriebene Weichheit: denn das Weiche ist nichts als eine Vernichtung, die auf halbem Wege haltmacht [...] Das Klebrige erscheint wie eine im Alptraum gesehene Flüssigkeit, deren Eigenschaften sich alle mit einer Art Leben beseelten und gegen mich richteten. [...] Schon im Wahrnehmen des Klebrigen, einer klebenden, kompromittierenden Substanz ohne Gleichgewicht, ist so etwas wie die Angst vor einer Metamorphose. Das Klebrige berühren heißt Gefahr laufen, sich in Klebrigkeit aufzulösen. [...] Das Grauen vor dem Klebrigen ist das Grauen davor, daß die Zeit klebrig wird, daß die Faktizität kontinuierlich und unmerklich fortschreitet [...] als Symbol eines Antiwerts, das heißt eines nicht realisierten, aber drohenden Seinstypus, der dauernd das Bewußtsein heimsucht als die ständige Gefahr, vor der es flieht." 2 9
Zwar weist das Wachs nicht das klebrige Haften auf, wie es für Honig oder Pech typisch ist. Es besitzt auch nicht unmittelbar jene Kraft des „Saugnapfes" oder des „Blutegels", die Sartre in seinem Text erwähnt. Aber sowohl in seinem Herstellungsprozeß als auch in der Phänomenologie seiner „unmittelbaren Erkenntnis" weist der wächserne Gegenstand durchaus jene seltsame Zusammensetzung von Plastizität und von Klebrigkeit auf, die es „überall fliehend und überall sich selbst [gleichend]" macht, die es als „erstarrte Unbeständigkeit" und als „Substanz zwischen zwei Zuständen" begründet. Der wächserne Gegenstand weist durchaus jene Ambivalenz des „dickflüssigen Entrinnens" auf, von der Sartre spricht:
29 J. P. Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hrsg. von T. König, übers, von H. Schöneberg und T. König, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 1037-1045.
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zugleich „sichtbarer Widerstand" und Möglichkeit des „Zusammenfallens", des „Breit- und Flachwerdens", kurz, eine „Vernichtung, die auf halbem Wege haltmacht". Das ist der Grund, weshalb das Wachs, mehr noch als Honig oder Pech, mit Werten wie der Heimsuchung, der Bedrohung, des Alptraums, der Metamorphose und des Entrinnens besetzt worden ist. Das ist der Grund, weshalb es ein Material sein kann, das „sich an mir festklammert und mich kompromittiert", eine Material-Falle, „deren Eigenschaften sich alle mit einer Art Leben beseelten und gegen mich richteten". Das ist es, was Freud so überaus treffend - Sartre scheint das hier zu vergessen - mit seinem Konzept des Unheimlichen30 erfaßt hatte: Wir begegnen ihm auf unserem Rundgang im Land des Wachses fast auf Schritt und Tritt.
Stoff des U n b e h a g e n s Was lehrt uns diese erste Annäherung an das Material? Zunächst, daß sich die Plastizität nicht auf die kanonische Passivität begrenzt, die „Herr" Form unter Meißelstößen und Siegeldrucken „Frau" Stoff ewig aufzwänge. 31 Die Wirklichkeit des Materials erweist sich als noch unheimlicher und zwar deshalb, weil es eine Klebrigkeit, eine Art Aktivität oder innewohnende Macht aufweist, hinter der die Macht des Metamorphismus, des Polymorphismus, der Unempfindlichkeit gegenüber dem Widerspruch (vor allem gegenüber dem abstrakten Widerspruch zwischen Form und Formlosen) steht. Sartre bringt im Zusammenhang mit dem Klebrigen
30 S. Freud: D a s Unheimliche (1919) [wie A n m . 10], Bd. XII., S. 229-268. 31 In Aristoteles' E m b r y o l o g i e ist es ein Gemeinplatz, daß der Vater Form ist (Sperma) und die M u t t e r Stoff („geronnenes" G e b ä r m u t t e r b l u t wird durch das Sperma „in eine F o r m gebracht"). Siehe Aristoteles: Uber die Fortpflanzung der Tiere, II, 1. Siehe Aristoteles: Physik, I, 9, w o gesagt wird, daß der Stoff nach der F o r m verlangt „wie das Weibchen nach dem Männchen und das Häßliche nach dem Schönen."
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überaus treffend zum Ausdruck, weshalb diese Aktivität, diese „Art Leben" nur als Antiwert symbolisiert oder sozialisiert werden konnte. Damit sind wir in der Lage, die Spaltung besser zu verstehen, die die epistemische Position des Kunsthistorikers dem Material gegenüber auszeichnet. Die technische Evidenz auf der einen Seite ist Sache der Restauratoren und, grundlegender noch, der „Materialwissenschaft" 3 2 : Niemand zweifelt ihre Legitimität und ihr Interesse an. Das philosophische Vorurteil der Idea, in Piatons Umkreis erfunden, von Vasari gerade zu dem Zeitpunkt vulgarisiert, als der akademische, „Kunstgeschichte" genannte Diskurs entstand und im 20. Jahrhundert vom Neokantianer Panofsky verlängert, macht auf der anderen Seite aus dem Material im allgemeinen und aus dem unbeständigen Material Wachs im besonderen, aus dieser „Substanz zwischen zwei Zuständen" einen Antiwert. Bezeichnenderweise sind es die Museen der „zweitrangigen", der „angewandten" oder „dekorativen Künste" wie etwa das wunderbare Victoria and Albert Museum in L o n d o n 3 3 , die es verstanden haben, diesen anthropologischen, aber auch ästhetischen Wert des Wachses nicht zu zensieren. Zensur gibt es nur da, w o Unbehagen herrscht. In seinem 1925 entstandenen Essay über die Entmenschlichung der Kunst faßte der Philosoph José Ortega y Gasset die Phänomenologie dieses Unbehagens recht treffend zusammen: Wachsfiguren haben stets etwas mehr oder etwas weniger als normale Bilder. Ihr mimetisches Vermögen beruhe nicht auf einer simplen Virtuosität, sondern auf einer viszeraleren und unheimlicheren, plastischen oder klebrigen Macht, die natürlich mit den inneren Eigenschaften des Wachses zusammenhängt. Ortega y Gasset legte nahe, daß wir uns beim Anblick einer Wachsfigur nie richtig von dem distanzieren können, was wir sehen, daß wir es aber auch nie richtig festhalten können. Wir sind einer unbequemen und faszinierenden Doppeldistanz ausgeliefert, einem „fatalen Zögern", einer „unmittelbaren Zweideutigkeit". Wir stehen zwischen dem 32 Siehe insbesondere die Textsammlung, die in Techné 2, 1995, S. 29-82 zusammengestellt wurde. 33 Zur Wachssammlung dieses Museums, siehe J. Pope-Hennessy und R. Lightbown: Catalogne of Italian Sculpture in the Victoria and Albert Museum, London 1964, II, S. 417-432, 467-474, 556-560, 632-637.
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Geheimnis des Lebenden und dem des Toten. Wir stehen zwischen einem unbelebten Gegenstand und einem Wesen, das uns anschaut. Dieses Zögern nun, schlußfolgerte der Philosoph, birgt das Risiko, in uns nichts anderes als Ekel hervorzurufen. Zumindest stürzt es uns in Unbehagen: „Sehen ist ein Akt aus der Ferne. U n d jede der Künste benutzt einen Projektionsapparat, der die Dinge entfernt und sie verklärt. Auf ihrer magischen Wand betrachten wir sie, entwurzelt, Herren eines unerreichbaren Sterns und unendlich fern. W e n n diese Entwirklichung fehlt, fallen wir einem fatalen Zögern anheim: wir wissen nicht, ob wir die Dinge erleben oder sie betrachten sollen. [ . . . ] V o r den Wachsfiguren empfinden wir ein besonderes Unbehagen. Dieses kommt von der unmittelbaren Zweideutigkeit, die sie bewohnt und die uns daran hindert, in ihrer Gegenwart eine klare und stabile Position zu beziehen. Wenn wir sie als lebende Wesen ansehen, machen sie sich über uns lustig, indem sie uns das leichenhafte Geheimnis von Puppen enthüllen. Sehen wir sie als Fiktionen an, scheinen sie vor W u t zu schäumen. Es ist unmöglich, sie auf die Kategorie simpler Gegenstände zu reduzieren. Bei ihrem Anblick sind wir erschrocken, weil wir den Verdacht haben, daß sie es sind, die uns anblicken. U n d zum Schluß empfinden wir für diesen T y p von Leichen aus dem Verleih nur E k e l . " 3 4
Ein Unbehagen ist zunächst nur eine Empfindung. Was tut man dann? Entweder man nimmt es nicht zur Kenntnis und flüchtet sich in andere Dinge. Oder man versucht zu verstehen: zu verstehen, was uns diese Wachsfiguren trotz allem trotz ihrer Exzesse, trotz ihrer Mängel über das Darstellbare selbst lehren und darüber, was uns die zivilisiertesten Bilder in der Regel erfolgreich verheimlichen. Was tun die Kunsthistoriker? Es gibt zwei Schulen. Die eine, zahlenmäßig überlegene, unterwirft das Unbehagen einer Zensur. Sie spürt sehr wohl, daß Wachs ein ästhetisch klebriges Material ist, insofern als es - „sich überall gleich", aber „überall entfliehend" die ihm eigene Funktion der Ähnlichkeit der doppelten Gefahr der Veränderung und des Exzesses verschreibt. In beiden Fällen sind die üblichen Konzepte der Form und der Imitation von einer Katastrophe bedroht. Was den ersten Fall, die Veränderung betrifft: Wenn das ehrwürdige Dictionnaire de l'Académie des Beaux-Arts diesem Material trotz seiner Eingangs-
34 J . Ortega y Gasset: Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst (1925), in: Gesammelte W e r k e Bd. 2, Stuttgart 1978, S. 2 2 9 - 2 6 4 , hier S. 2 4 4 - 2 4 5 .
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behauptung, „das Wachs [sei] für die Künste von großer Hilfe" 3 5 , so wenig Platz einräumt, dann vor allem deshalb, weil sich Wachs, ein „lebendiges", ja organisches Material, leichter verändert, stirbt und verschwindet als andere Materialien. Von der gewaltigen Wachsfigurenproduktion haben unsere Museen heute aus physikalischen, aber auch aus ideologischen Gründen 36 nur einen winzigen Teil aufbewahrt (man kann sich natürlich die Frage stellen, ob das Verschwinden eines Gegenstandes uns davon befreit, dessen Geschichte zu schreiben; die Antwort lautet natürlich „nein"). Was den zweiten Fall, den Exzeß betrifft: In der Frage der Ähnlichkeit übertreibt das Wachs. Es heißt, daß es „die feinsten Details der Natur" 3 7 wiederzugeben vermag, daß es sich plastisch den winzigsten Krümmungen der Gipsformen anpaßt, in die man es gießt, daß es alle Spielarten, alle winzigen Unterschiede in der Textur wiederzugeben vermag. Es fügt dem jedoch einen so subtilen Exzeß hinzu, daß nur wenige Autoren versucht haben, diesen zu definieren. Auf jeden Fall handelt es sich dabei um etwas, das wie schlechter Geschmack oder, wie man sagt, aufdringlich wirkt. Horst Janson zum Beispiel legte nahe, daß jene Ähnlichkeit durch Exzeß, die von den „mechanischen" Herstellungsweisen eines Abgusses und von plastischen und einfärbbaren Materialien wie Wachs abhängig ist, letztlich jeden Stilbegriff, ja jeden wirklichen - man verstehe: künstlerischen - Realismus (von dem er sagte, es sei ein „belebender Realismus" 38 ) ruiniere. Was Ernst Gombrich anbetrifft, so scheinen die beiden Zeilen in seinem umfangreichen Werk Kunst und Illusion, in denen er das Wachs erwähnt, keinen Widerspruch zu dulden: „[...] die [geradezu als zu lebens35 Dictionnaire de l'Académie des Beaux-Arts, Bd. V, Paris 1878, S. 40. 36 Zu den ideologischen - religiösen, ästhetischen - Gründen des Verschwindens der florentinischen Votivstatuen, siehe G. Didi-Huberman: Ressemblance mythifiée et ressemblance oubliée chez Vasari: la légende du portrait ,sur le vif', in: Mélanges de l'Ecole française de Rome - Italie et Méditerrannée CVI, 1994, 2, S. 383-432. 37 G. Le Breton: Histoire de la sculpture en cire, in: L'ami des monuments et des arts, VII, 1893, S. 150. 38 H. W. Janson: Realism in Sculpture. Limits and Limitations, in: The European Realist Tradition, hrsg. von G. P. Weisberg, Bloomington 1982, S. 290-301.
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nah empfundenen] oft zitierten Wachsfiguren sind uns so unheimlich, weil sie tatsächlich eine Grenze zwischen Symbol und Wirklichkeit überschreiten." 3 9 Gombrich erklärt freilich nicht, was er unter der „Überschreitung der Grenze zwischen Symbol und Wirklichkeit" versteht. Wir können es jedoch aus einem Beispiel ableiten, das er einige Zeilen weiter oben anführt: Vor einer Marmorbüste „wissen wir sofort, daß es sich [dabei nicht um die Darstellung eines abgeschnittenen Kopfes handelt]." 4 0 Man muß annehmen, daß damit „die Grenze zwischen Realität und Symbol" gemeint ist. Das Befremden tritt ein, wenn dieselbe Büste farbig getönt ist, und um so stärker, wenn sie aus farbigem Wachs modelliert ist: Dann „[erleiden wir einen Schock und nicht unbedingt einen angenehmen]" 4 1 beim Anblick von etwas, das zwangsläufig von schlechtem Geschmack ist, etwas, bei dem in der Kunstgeschichte „die Grenze zwischen Symbol und Wirklichkeit [überschritten]" wird. „Schock" und „Befremden" sind zwei Worte mit stark psychologischem, wenn nicht psychopathologischem Widerhall. Gombrich hat nie verheimlicht, daß eine Kunstgeschichte gerade aufgrund ihres Gegenstandes, der Bilder, nicht ohne die Voraussetzungen einer Psychologie auskommen kann (nicht das Prinzip dieser Feststellung läßt sich heute in Gombrichs Analysen anfechten, sondern „seine" besondere Psychologie). Steht der „Schock" und das „Befremden" beim Anblick einer farbigen Wachsbüste etwa nicht im Zusammenhang mit der psychischen Wiederkehr jener Evidenz des abgeschnitten Kopfes, die die Marmorbüste so leicht zu „symbolisieren", d.h. zu verdrängen vermag? Wie kann man vergessen, daß unsere heutigen Wachsmuseen - Madame Tussaud in London, das Musée Grévin in Paris - ihren Ursprung in der Revolutionszeit haben, in all den von der Guillotine abgeschnittenen und anschließend für die Herstellung von Wachsbildnissen sorgfältig in Gips gegossenen Köpfen, die eine fast 39 E. H . Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, dem Englischen übers, von Lisbeth Gombrich, Stuttgart und Zürich 1986, S. 80. 40 Ebd., S. 78-79. 41 Ebd., S. 79.
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religiöse Bestimmung hatten? Wenn dies zutrifft, dann müssen wir zugeben, daß das Wachs ein psychisch klebriges Material ist, das heißt ein Material, das, um ein letztes Mal mit Sartre zu sprechen - „seinem Wesen nach nicht geheuer" ist, „den Besitz entmutigt" und das mich in meiner Einbildung zugleich „festhält und kompromittiert", mich der Angst vor einer Metamorphose aussetzt und vor „einer Vernichtung, die auf halbem Wege haltmacht". Die beiden von Janson und Gombrich zum Ausdruck
gebrachten
Zurückweisungen haben nicht genau dieselbe Bedeutung. Sie bilden nichtsdestoweniger ein System und scheinen mir sehr repräsentativ für den epistemologischen Zustand einer angelsächsischen Kunstgeschichte zu sein, die im Zusammenhang mit der Nachkriegszeit steht und mit dem, was Panofsky selber eine Kunstgeschichte „versprengter E u r o p ä e r " 4 2 genannt hat. Janson weist die marktschreierische Seite der Ähnlichkeit zurück, ihren „schlechten Geschmack", d. h. die Art von Madame Tussaud oder die des Musée Grévin. Er tut es im Namen einer stark ausgeprägten Hierarchie zwischen Gegenständen, die Kunstgegenstände sind (Gegenstände einer Geschichte, die diesen Namen trägt) und jenen, die es nicht sind (zu denen die meisten der Wachsgegenstände gezählt werden müssen). Gombrich weist seinerseits die morbide oder todbringende, ja leichenhafte Seite einer Ähnlichkeit zurück, die „die Grenze zwischen Symbol und Wirklichkeit überschreitet". Die von Janson gepriesene Kunstgeschichte ist folglich eine Kunstgeschichte ohne Anthropologie, die es vorzieht, sich an Marmorbüsten zu halten und den „zweifelhaften" Geschmack polychromer plastischer Werke zu ignorieren und seien sie aus dem Quattrocento. 4 3 Die von
42 Siehe E. Panofsky: Drei Jahrzehnte Kunstgeschichte in den Vereinigten Staaten. Eindrücke eines versprengten Europäers (1953), in: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1996, S. 378ff. 43 Daher die Zurückweisung durch Janson der berühmten polychromen Terracottabüste, genannt Niccolo da Uzzano, die die Mehrzahl der Spezialisten heute Donatello zuspricht. Siehe H. W. Janson: The Sculpture of Donatello, Princeton 1957, S. 2 3 7 - 2 4 0 . Siehe dazu G. Didi-Huberman: Portrait, Individual, Singularity. Remarks on the Legacy of Aby Warburg, in: The Image of the Individual: Renaissance, hrsg. von N . Mann und L. Syson, London 1998.
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Gombrich gepriesene Kunstgeschichte beruft sich durchaus auf eine Psychologie, aber sie bleibt eine Kunstgeschichte ohne Metapsychologie im Freudschen Sinne des Wortes - eine Kunstgeschichte vor allem ohne Todestrieb. 44 Janson war ein direkter Schüler Panofskys: Seine Wahl bestätigt in Wirklichkeit die implizite Zurückweisung durch die Post World WarKunstgeschichte gerade desjenigen, dessen Schüler Panofsky vermeintlich gewesen war. Ich meine natürlich Aby Warburg. 45 Den „exzessiven Realismus" der Wachsskulptur - von den Votivstatuen des Mittelalters über Madame Tussauds Wachsfiguren bis zu den Bildnissen Duane Hansons aus der Kunstgeschichte zu verweisen 46 , hieße, die von Warburg in seinem 1902 verfaßten Essay über das florentinische Porträt erteilte Anthropologie-Lektion wortlos zurückzuweisen.47 Dort entwirft Warburg zum einen eine Kunstgeschichte, die imstande ist, ihren Korpus über die von den Kunstmuseen seit Vasari (der bekanntlich großen Anteil an der Entstehung der Uffizien hatte) vorgenommend Auswahl - sprich Zensur hinaus zu erweitern. Das erklärt die wissenschaftliche Zuhilfenahme der florentinischen Archive, die bestimmten, vom Verschwinden heimgesuchten Bildern so weit wie möglich „wieder eine Stimme verleihen" sollte. Zum anderen hatte Warburg mit den boti von Santissima Annunziata etwas entdeckt, das als wahres missing link der gesamten Geschichte der visuellen Kultur der Renaissance angesehen werden kann. 44 Siehe E. H. Gombrich: Psychoanalyse und Kunstgeschichte (1953), in: Meditationen über ein Steckenpferd. Von den Wurzeln und Grenzen der Kunst, Frankfurt/M. 1978, S. 65-89, wo vor allem die Rede ist von „Symbolismus" und „ästhetischem Genuß". 45 Zu dieser impliziten Zurückweisung siehe G. Didi-Huberman: Pour une anthropologie des singularités formelles. Remarque sur l'invention warburgienne, in: Genèses. Sciences sociales et histoire 24, 1996, S. 145-163. Siehe auch ders., Savoir-mouvement (l'homme qui parlait aux papillons), in: Vorwort zu P.-A. Michaud: Aby Warburg et l'image en mouvement, Paris 1998. 46 Janson [wie Anm. 38], S. 291-294. 47 A. Warburg: Bildniskunst und florentinisches Bürgertum. Domenico Ghirlandajo in Santa Trinita. „Die Bildnisse des Lorenzo Medici und seiner Angehörigen", in: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. von Dieter Wuttke, Baden-Baden 1992, S. 65 ff.
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Der Brauch der realistischen Votivbilder war von den Historikern lange Zeit als eine Singularität, eine Ausnahme, eine einfache „historische Kuriosität" 4 8 beschrieben worden. Warburg hatte als erster begriffen, daß diese Singularität als ein wahres anthropologisches, historisches und ästhetisches Bindeglied verstanden werden muß. Diesem in Vergessenheit geratenen Phänomen der florentinischen Zivilisation Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, bedeutete aber, sämtliche Intelligibilitätsschemata zum Umsturz zu bringen, in deren Rahmen das Konzept der Renaissance seit Vasari überhaupt gedacht wird: Mit den boti drängte sich die Wirklichkeit eines nicht-humanistischen, mittelalterlichen, andächtigen, handwerklichen, durch Abdruck erzeugten 4 9 „Hyperrealismus" auf, den Alessandro Parronchi später den naturalismo integrale del primo Quattrocento50 genannt hat. Die Wirklichkeit dieser florentinischen Renaissance war folglich unrein. U n d es ist eine Wirklichkeit, in der dem Wachs sein Platz als plastisches Material zurückgegeben werden muß. Das ist es, was Janson, Verfechter einer als „humanistischen Disziplin" verstandenen Ikonologie, aus dem Werk eines Renaissancekünstlers wie etwa dem Donatellos zu entfernen versuchte. Gombrichs Urteil - Zurückweisung - ist noch bedeutsamer. Bevor Gombrich der „Warburgianer" wurde, als den man ihn kennt, war er in Wien Schüler von Julius von Schlosser 51 . Schlosser war aber nun nicht nur der große Historiker von Textquellen zur Kunstgeschichte, der große Historiker der Kunstliteratur gewesen. Mit seinem außergewöhnlichen, 1911 veröffentlichten Buch über das Wachsporträt erfand er auch eine Geschichte, in der der Genreblickwinkel, ein für den herkömmlichen
48 Siehe G. Mazzoni: I boti della SS. Annunziata di Firenze. Curiosità storica, Florenz 1923. 49 Siehe D i d i - H u b e r m a n [wie A n m . 36], S. 417-432. Siehe auch ders., P o u r une anthropologie des singularités formelles [wie A n m . 45], S. 145-163. 50 A. Parronchi: Ii naturalismo integrale del p r i m o Q u a t t r o c e n t o (1967), in: Donatello e il potere, Florenz u n d Bologna 1980, S. 27-37. 51 Siehe E. H . G o m b r i c h und D. Eribon: Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen: ein Gespräch mit Didier Eribon, aus dem Französischen übers, von J. Kalka, Stuttgart 1993.
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Historiker beruhigender Blickwinkel, eine Art „unliebsame Begegnung" mit dem Materialblickwinkel, mit dem Wachs, jenem Material schlechten Geschmacks, hatte: Schlosser gesteht bereits in den ersten Zeilen seines Vorworts ein, daß das „Genre" - im Text wird als Hinweis auf Ferdinand Brunetiere das französische Wort verwendet - hier einer Sache Platz machen wird, die er „methodisches Präparat" nennt 5 2 . Es handelt sich folglich um eine problematische Geschichte, eine paradoxe Geschichte, die sich aus Geburten, aber auch aus Unterbrechungen, aus Vollendungen, aber auch aus Veränderungen, aus natürlichen Toden, aber auch aus gespenstigen Wiederauferstehungen zusammensetzt. Auf jeden Fall handelt es sich nicht um eine Naturgeschichte und aus diesem Grund um eine Geschichte, die „methodisch zu errichten" ist 5 3 . Eine Geschichte, in der das Material selbst, das Wachs, die Position eines kritischen Werkzeugs einnimmt. Was kritisiert es? Es kritisiert das Geschichtsmodell Vasaris, eine orientierte, teleologische Geschichte. Es kritisiert das akademische, hierarchisierte, ästhetisierende Modell der Kunst. Man begreift, daß die Kunstgeschichte bei dieser Kritik nicht unbeschadet davonkommen konnte.
Stoff des Nachlebens Die Frage lautet, in welcher Hinsicht der Materialblickwinkel unsere Position zur Geschichte verwandelt. Ich glaube, Nietzsche hatte Schlossers Position vorweggenommen, als er im zweiten Stück seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen feststellte, daß die Geschichte vor etwas, das er bezeichnenderweise Plastizität nannte - „die plastische Kraft des Werdenden" und des Lebens 54 , ständig ihre eigene Grenze spüren muß. Auch Warburg nahm Schlossers Antwort vorweg, als er jeder historischen Teleologie vom Typ 52 J. von Schlosser: Tote Blicke. Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch, hrsg. von T. Medicus, Berlin 1993, S. 9. 53 Ebd., S. 9-10. 54 F. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, Werke in zwei Bänden, auf Grund der dreibändigen Ausgabe von Karl Schlechta, hrsg. von Ivo Frenzel, München 1967, Bd. 1, S. 116.
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Vasaris den komplexen Begriff des Nachlebens entgegensetzte. Schlosser spricht daher gleich am Anfang seines Buches bezüglich der Wachsskulptur vom Nachleben und unterstreicht dabei das Vermögen von Wachs als plastischem Material, zu überdauern, für lange Zeit zu verschwinden, und plötzlich wiederaufzutauchen, all das über einen langen Zeitraum hinweg und den „Metamorphosen" der „großen" Stilgeschichte relativ gleichgültig gegenüberstehend. D e n k e n wir an die Ex-votos, jene dem historischen „Fortschritt" gegenüber so außergewöhnlich widerstandsfähigen F o r m e n : Besser noch als die Totenbildnisse zeigen sie das erstaunliche Vermögen der Wachsbilder, ihre ursprüngliche Kondition, ihren besonderen Archaismus, d. h. um mit Warburg und Schlosser zu sprechen, ihren eigenen „belebenden Zauber" in der Geschichte nachleben zu lassen: „Im besonderen handelt es sich nun um einen Kunstzweig, der heute fast nur mehr auf einem Gebiete anzutreffen ist, das der ,Kunst', wie wir sie [gewöhnlich] auffassen [...] nahezu ganz entrückt ist, in Jahrmarktsbuden, Friseur- und Schneiderläden, das aber mehr als zwei Jahrtausende, bis an die Schwelle unserer Zeit selbst, geblüht hat und eine merkwürdige Vergangenheit aufweist. An sich ist ja die Erscheinung nicht selten, daß ein altes Kulturprodukt in tieferen Regionen der sozialen Schichtung als ,survival' [,survival' und nicht Nachleben, Uberleben oder Fortleben, D.-H.] eines abgelaufenen Entwicklungsprozesses weiterlebt. Manches Gerät, das seinen Ursprung im harten Daseinskampf uralter Menschheit hat, wie Schleuder, Bogen oder Klapper, ist heute in unserer Kultursphäre zum Kindertand geworden. Die alte Romanliteratur, einst Lektüre der ritterlichen Höfe des Mittelalters, lebt nur mehr in den niedersten Volksschichten der deutschen und romanischen Länder, in löschpapiernen Volksbüchlein mit grellen, bunten Umschlägen, die in Jahrmarktsbuden verkauft werden [...]." 5 5
Es ist leicht erkennbar, daß Schlossers Gebrauch des englischen Wortes survival
der Ethnologie Edward B . Tylors direkt entliehen ist. Dieser hatte
1871 mehrere Kapitel seines Buches Primitive Begriffes survival
Culture
der Einführung des
gewidmet und dabei unter anderem das Beispiel von
Kriegsgerät angeführt, das als solches verschwindet, aber anderswo und andersartig in F o r m von Kinderspielzeug überlebt. 5 6 Jede Gegenwart, so 55 von Schlosser [wie Anm. 52], S. 10. 56 Siehe E. B. Tylor: Primitive Culture: Researches into the Development of Mytbology, Philosophy, Religion, Art and Custom, London 1871, I, S. 1-22 und 63-144. Das Beispiel des Kinderspiels befindet sich auf den Seiten 65-75.
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Tylors substantielle Aussage, sei eine wahre Schichtung geschichtlicher Zeitabläufe: eine Blätterschicht heterogener Zeiten, eine Summe unzähliger Vergangenheiten, eine archäologische Uberdeterminierung, die sich an der Oberfläche des Sichtbaren beobachten läßt. Es reiche aus, schrieb Tylor, sich in der eigenen häuslichen Umgebung umzuschauen, um diese Vielfalt von Nachleben unmittelbar wahrzunehmen: Die Lilienblüten der Tapete erinnern an die mittelalterlichen Königsherrschaften, der Deckenfries verwendet ein Motiv des archaischen Griechenlands, der Sessel ist ein Stück im Stil „Louis XVI", das nachlebt, d.h. umgewandelt und von anderen Erinnerungen kontaminiert wurde usw. 57 Das Nachleben wäre demnach so etwas wie ein Unterbewußtsein der Zeit, das sich in visuellen Symptomen äußert. Die Art aber, in der Schlosser - nach Warburg - diesen Begriff in der Kunstgeschichte zum Einsatz bringt, ist für uns in mehr als einer Hinsicht interessant. Zunächst stoßen wir mit dem Begriff des Nachlebens zu einem wirksamen Gegenmodell zur Geschichtlichkeit ä la Vasari vor: Er ermöglicht es, die Geschichte der Kunst mit einer anderen Zeitlichkeit zu dialektisieren, die ich Anachronismus des Bildes nennen würde. Dieser Anachronismus setzt eine Schichtung und Uberdeterminierung der Zeit voraus. Er setzt ein Gedächtnis voraus, das sich nicht auf die Identifizierung von Erinnerungen beschränkt: ein Gedächtnis, das aus unzerstörbaren Virtualitäten besteht, aus Abdrücken, die trotz ihres Verschwindens an der Oberfläche archäologisch überleben, ein Gedächtnis auch, das aus endlosen Verformungen besteht, in denen Auslöschungen und plötzliches Wiederauftauchen einander abwechseln. Ein Gedächtnis, das aus langsamen Latenzen und rißhaften Ereignissen, aus Stasen und Symptomen besteht. Schon diese wenigen Hinweise lassen den ganzen theoretischen Reichtum von Freuds Wunderblock erkennen, in dem er im Wachs sowohl das technische Material des Gedächtnisses als auch das symptomale Substrat der Aufzeichnung erkennt. 58 57 Ebd., I.S.16. 58 S. Freud: Notiz über den Wunderblock, Gesammelte Werke XIV. Werke aus den Jahren 1925-1931, hrsg. von A. Freud, E. Bibring u.a., Frankfurt/M. 1948, 7. Aufl. 1991, S. 3-8.
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Warburg und Schlosser waren Freuds Zeitgenossen. Sie brauchten „die Psychoanalyse" nicht auf die Kunst „anzuwenden", um mit ihrem Begründer die Uberzeugung zu teilen, daß Geschichte und auch die Kunstgeschichte als eine Geschichte von O b j e k t e n ohne theoretische Stellung zum Subjekt, d.h. ohne eine Metapsychologie, unmöglich ist (es sei daran erinnert, daß Warburg sich selbst nicht als Historiker, sondern als „Psychohistoriker" ansah 5 9 ). Sie teilten folglich eine bestimmte Auffassung von Material und von Gedächtnis, was wiederum eine bestimmte Auffassung von Abdruck, von Aufzeichnung, von Vergessen, von der Wiederkehr der Erinnerung voraussetzt. D i e stark „sexualisierte" Ikonographie, die heute in der Kunstgeschichte praktiziert wird, ist ohne Zweifel die schlechteste Lehre, die man aus Freuds Wissenschaft ziehen kann. Dafür sollten uns die Zeitmodelle, die das Konzept des U n b e w u ß t e n impliziert, die schwierigere Aufgabe ermöglichen, über jede Evolutionstheorie ä la T y l o r hinaus zu erkunden, was „Nachleben" bedeutet. Das Warburgsche Nachleben entstand zur gleichen Zeit wie bestimmte Konzepte Freuds, die - das ist meine Hypothese - ersteres erhellen und dessen Verlängerung darstellen: Das trifft zu auf Konzepte wie das vom bewußten Wiederauftreten bis dahin verdrängter Gefühle und das der Nachträglichkeit, das Konzept der Latenz und der Wiederholung, das der Verdrängung und der Regression, das der Verarbeitung und der Wiederkehr des Verdrängten, das der Gedächtnisspur und des Erinnerungsschirms.
Stoff der Ausmusterung Zuletzt gilt es zu verstehen, weshalb dieser Material- und Gedächtnisblickwinkel unsere Position zur Kunst selber grundlegend verändert. Auch hier entwickeln Warburg und Schlosser einen Gedanken aus Nietzsches unveröffentlichten Fragmenten von 1869 weiter, in denen dieser, Semper zitierend, schrieb, daß „der Rauch der Karnevalskerzen die wahre Atmosphäre 59 Siehe E. H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle 1981, S. 406.
Biographie, Frankfurt/M.
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der Kunst" 60 sei. Die Plastizität des Werdenden impliziere, Nietzsche zufolge, eine konstante Ausmusterung dessen, wovon man in der Vergangenheit vielleicht glaubte, es durchgesetzt zu haben. Bei der ewigen Wiederkehr ist es nicht das Gleiche, das wiederkehrt, sondern seine ambivalente und veränderliche Kondition, seine konstante ausmusternde Verformung: So hätte die apollinische Harmonie der Griechen nicht ohne den „erschreckenden Hintergrund" (Nietzsche) „wiederkehren" oder „nachleben" können. Auch Schlosser spricht in bezug auf die Wachsskulptur davon, daß jedes Nachleben eine Ausmusterung impliziere, d.h. eine Verlagerung „in ein Gebiet [in eine Klasse von Gegenständen], das der ,Kunst', wie wir sie [gewöhnlich] auffassen, nahezu ganz entrückt ist" 6 1 . Das Votivbild lebt in der Kinderpuppe nach, das königliche Porträt in den Jahrmarktsfiguren. Die ritualisierten Bezauberungen der Antike leben in den Statuetten der Magiermessen nach. Das Begräbniszeremoniell der römischen Patrizier lebt in der steifen Strenge der militärischen Bestattungen nach. Die Wachspuppe, die Julius Cäsar am Tage nach seiner Ermordung darstellte - mit der detaillierten Darstellung seiner dreiundzwanzig Verletzungen - lebt in Marats marionettenhafter Darstellung im Musée Grévin nach. In allen Fällen haben wir es mit einer Ausmusterung zu tun. Wir müssen jedoch achtgeben, daß wir mit diesem Ausdruck nicht zum Blickwinkel des Bildzensors, d.h. zum Blickwinkel Jansons zurückkehren. Wir müssen achtgeben, daß wir das Wachs nicht ausmustern, daß wir ihm nicht seine formalen Anforderungen und seine Rolle in der Geschichte der Kunst nehmen. Wir müssen im Gegenteil davon ausgehen, daß es das Wachs selber ist - vom Blickwinkel des Materials aus - , das nicht nur die akademische Idee des Genres, sondern auch die der Kunst allgemein ausmustert. Schlosser, dem vor allem daran lag, die vasarische Ideologie vom „Fortschritt der Künste" und von der normativen Ästhetik der Neokantianer umzukehren, verstand diese Ausmusterung als eine Deklassierung nach 60 F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, M. Montinari, Berlin und New York 1980, Bd. 7, S. 16. 61 von Schlosser [wie Anm. 52], S. 10.
hrsg. von G. Colli und
Die Ordnung
des
Materials
29
unten. Es gilt jedoch zu verstehen, daß der Begriff der Ausmusterung mit jeder Art von Teleologie - und sei sie negativ 6 2 - , einen Bruch darstellen muß. Sicher ist die Verlagerung der Königsporträts in eine Jahrmarktsfigur eine Ausmusterung, die große Kunst von Degas oder von Medardo Rosso, Zeitgenosse Schlossers, den dieser leider nicht kannte, verstand es aber im Gegenzug, wiederum das Trivialbild auszumustern, es neu zu gestalten, zu desorientieren und mit dieser Desorientierung ein heuristisches Gebiet zu erschließen, das wir moderne Kunst nennen.
62 Das verstanden einige Jahre später die russischen Formalisten. Siehe B. Eikhenbaum: La théorie de la ,méthode formelle' (1925), in: Théorie de la littérature. Textes des formalistes russes, Paris 1965, S. 69. Siehe ebenfalls die berühmte Arbeit von M. Bachtin: Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur, hrsg. von R. Lachmann, aus dem Französischen übers, von G. Leupold, Frankfurt/M. 1995.
Soziale Bedingungen des kulturellen Vergessens EGON FLAIG
Marcel Proust choreographiert in seinem Riesenwerk „A la recherche du temps perdu" die Anstrengungen der Erinnerung, das Gelebte vor dem Vergessen zu retten. Eine seiner Romanfiguren wird zum Opfer einer vollständigen Umwertung des sozialen Urteils über ihn. Es handelt sich um Charles Swann, einen assimilierten Juden, hochgebildet und steinreich, verkehrend in den vornehmsten Kreisen. Er hat viele Freunde, gute Freunde, er wird trotz einer gewissen Eigensinnigkeit sehr geschätzt. Doch er heiratet eine Frau, die man nicht heiraten kann. Er selber wird weiterhin eingeladen, trotz der mésalliance; doch weil er seine Frau liebt, schlägt er fast alle Einladungen aus. Der Kontakt zu seiner peer group lockert sich, wird sporadisch, schließlich vereinsamt er, d. h. das Ehepaar Swann schafft sich neue Beziehungskreise, die aber von den vornehmen Zirkeln, denen er angehörte, verachtet werden. Das Urteil der sozialen Gruppe, der er angehört hat, wandelt sich. Sogar Freunde, die lange Zeit zu ihm gehalten haben, verlieren ihn aus den Augen; und er verliert an sozialem Wert, weil sein soziales Kapital, d.h. seine Beziehungen und sein Einfluß immer weiter abnehmen. Als nun die Dreyfuß-Affäre ihren Lauf nimmt, wandelt sich das Bild, das man in jenen gesellschaftlichen Kreisen von Swann hat, von Grund auf. Plötzlich ist es nicht mehr die mésalliance, die zählt; sie wird langsam vergessen, sondern die Tatsache, daß er Jude ist und obendrein noch Dreyfusard. Und dann geht alles schnell. Die Erinnerung an Swann wie er war, erlischt; die soziale Gruppe, der er statusmäßig angehört
34
Egon
Flaig
aber mit der er keinen Umgang mehr pflegt, retuschiert sein Charakterbild, das in ihr zirkuliert, mit kräftigen Strichen. Man erinnert sich nun vor allem an Szenen, in denen der ehemals befreundete und beliebte Swann einem unsympathisch vorkam. Die positiven Erfahrungen, die man mit ihm gemacht hat, entwerten sich rasch, sie verlieren ihre kommunikative Bedeutung; schließlich werden sie marginalisiert und vergessen. Zurück bleibt das Bild eines eigensinnigen Dreyfusard, welches mit den konkreten Erfahrungen in der Vergangenheit fast nichts zu tun hat. Er stirbt vereinsamt. Seine Frau hingegen, um deretwillen Swann die Absonderung auf sich genommen hat, dringt nach seinem Tode genau in diese Kreise ein, die einst die seinigen waren und aus denen er ihr zu Liebe sich verabschiedet hatte. Seine Tochter nimmt den Namen des Stiefvaters an und verheiratet sich in diesem Milieu, aus welchem die Mutter so lange ausgeschlossen war. Keiner erinnert sich mehr an die mésalliance, bzw. diese Erinnerung hat keine Bedeutung mehr; und die Erinnerung an Swann wird desto schneller gelöscht, je unangenehmer sie für alle Beteiligten ist. Der Romancier schildert, wie kommunizierbare Erinnerungsinhalte, die für eine spezifische Gruppe Relevanz besitzen, unter dem Druck von Veränderungen
umorganisiert werden: Unablässig
bewirkt eine
Semanti-
sierung, daß bestimmte Vorkommnisse Bedeutung erhalten, andere an Bedeutung verlieren. Die Gruppennormen und die hegemonialen Ansichten liefern die Signaturen, um die Geschehnisse mit zugewiesenen Bedeutungen zu stempeln. N u r mit Bedeutung versehen behält Geschehenes seinen kommunikativen Kurswert und bleibt in Erinnerung. Das individuelle Gedächtnis unterliegt den Zwängen eines sozialen Rahmens; eine gravierende Änderung dieses Rahmens - z. B. durch eine so schwere politische Krise, wie die Dreyfuß-Affäre eine war - bringt neue Zwänge mit sich, denen die kommunikativen Inhalte nun ausgesetzt sind; diese Zwänge haben neuerliche Semantisierungen zur Folge, die ihrerseits die Gedächtnisinhalte neu selektieren. Das Vergessen von Vorkommnissen und T a t sachen' ist eine Begleiterscheinung der Umstrukturierung des sozialen Gedächtnisrahmens und der Neubewertung von Gewußtem oder Kommuniziertem.
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1. Das Gedächtnis als soziales Phänomen und die Korrelierung von Erinnern und Vergessen Was der Romancier Proust beschreibt, ist der „sozial-konstruktivistische" Charakter des Gedächtnisses, wie Jan Assmann ihn nennt. Seine Beschreibung antizipiert in aquarellhafter Nüanciertheit jene Entdeckung, die später Maurice Halbwachs macht, als er mit energischen Strichen seine Theorie des kollektiven Gedächtnisses entwirft. Das Gedächtnis ist nach Halbwachs ein soziales Phänomen; das gilt sowohl für das individuelle wie für das kollektive Gedächtnis: „Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden". 1 N u r indem ein Individuum sozialisiert wird und sich die verbindlichen Symbolsysteme seiner Gruppe - bzw. seiner Gruppen - aneignet, entsteht ihm ein Gedächtnis. Die „cadres sociaux" - die sozialen Rahmen - des Gedächtnisses liefern die Bezugspunkte, um das Wahrgenommene und Kommunizierte zu semantisieren. Auch wenn die Erinnerungen noch so individuell erscheinen, sie sind sozial konstituiert, denn das Wahrgenommene wird nur deswegen erinnerungswürdig, weil man ihm Bedeutsamkeit zuschreibt. Die Bedeutungen aber entstammen der Kultur, d. h. dem Sozialen. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß sogar allerpersönlichste Erinnerungen nur durch Kommunikation im Rahmen sozialer Gruppen entsteht. 2 Nur teilnehmend an kommunikativen Prozessen baut sich das Gedächtnis auf und erhält es sich. W o bleibt nun aber das Individuelle am individuellen Gedächtnis? Individuell ist die von Mensch zu Mensch unterschiedliche Eingliederung in Kollektivgedächtnisse
-
denn jeder Mensch
gehört
immer
mehreren
Gruppen an; und außerdem ist die Verbindung der Inhalte des jeweiligen
1 M . Halbwachs: Das Gedächtnis
und seine sozialen Bedingungen,
Frankfurt/M. 1985,
S. 121. 2 J . Assmann: Das kulturelle frühen
Hochkulturen,
Gedächtnis.
Schrift, Erinnerung
München 1992, S. 36.
und politische Identität in
36
Egon
Flaig
Kollektivgedächtnisses mit den eigenen Wahrnehmungen ganz singulär.3 Halbwachs zieht daraus die radikale Folgerung, daß streng genommen nur die Empfindungen individuell sind, nicht die Erinnerungen. Denn die Empfindungen haften an unserem Körper; die Erinnerungen hingegen haben „ihren Ursprung im Denken der verschiedenen Gruppen", denen wir uns anschließen. Das ,kollektive Gedächtnis' als Begriff zu gebrauchen, wirft Schwierigkeiten auf. Es ist ebenfalls sozial konstituiert. Aber inwiefern kann eine Gruppe überhaupt ein Gedächtnis haben? Halbwachs bezeichnet tatsächlich das Kollektiv als Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung. Andere Theoretiker des kulturellen Gedächtnis, wie z. B. Jan Assmann, sind ihm darin nicht gefolgt. Mit Recht nicht. Denn die Träger von Gedächtnissen können immer nur Menschen, und zwar lebende Menschen sein. Gruppen können nur in einem metaphorischen Sinne Gedächtnisträger sein.4 Von kollektivem Gedächtnis sprechen heißt jedoch nicht, einer ,Individualmetaphorik' zu verfallen. Denn so wie Halbwachs es definiert, hat es überhaupt nichts zu tun mit einem kollektiven Unbewußten etwa im Sinne von C. G. Jung. 5 Gruppen selektieren das Erinnerungswürdige und organisieren die Erinnerung nicht auf dieselbe Weise wie Individuen. Nimmt man den Begriff ,Gedächtnis' als einen Begriff sensu stricto, als ein logisch konstruiertes Konzept, und faßt man den individualpsychologischen Gehalt als semantisches Zentrum des Konzeptes, dann bestimmt man den Begriff vom materiellen Träger her, nämlich vom Einzelnen. Im Horizont der
3 M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/M. 1985, S. 127. 4 Es ist jedoch nicht unproblematisch anzunehmen, daß der einzelne Mensch Subjekt von Erinnerung und Gedächtnis sei (Assmann [wie Anm. 2], S. 36). Wenn das Gedächtnis sozial konstituiert ist, kann der einzelne nicht mehr Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung sein, auch wenn er selbstverständlich der materielle Träger ist und bleibt. In der Tat könnte man Halbwachs darin Recht geben, daß die Gruppe insofern eine Subjektfunktion wahrnimmt, als sie das Gedächtnis des einzelnen organisiert, auch wenn sie kein reales Subjekt sein kann. Auch hier zeigt sich, daß der Subjektbegriff der neuzeitlichen Philosophie als analytisches Instrument in den Kulturwissenschaften nicht mehr verwendungsfähig ist. 5 Diesen Unterschied streicht Assmann, ebd., S. 47, zu Recht heraus.
Soziale
Bedingungen
Halbwachsschen
des
37
Vergessens
Theorie
ist diese
Bestimmung
einseitig
und
damit
unzulänglich. Mit demselben Recht läßt sich der Begriff von den Funktionen und der Organisiertheit her bestimmen. Diese sind per se kulturell und damit sozial. Das hat eine konzeptionelle Konsequenz, deren wissenschaftspraktische Tragfähigkeit zu überprüfen ist: Das individuelle Gedächtnis kann nicht beanspruchen, das Gedächtnis überhaupt, das ,eigentliche' Gedächtnis zu sein. Das kollektive Gedächtnis ist als Sachverhalt sui generis ebenfalls im vollen Sinne ein Gedächtnis. Das kollektive Gedächtnis ist somit keine Metapher. Die theoretische Konzeption muß sich hier von der Alltagssprache lösen, um überhaupt formulierbar zu werden, wie das in der Wissenschaft so häufig der Fall ist. Was das Wort bezeichnet steht nicht in einem Abbildverhältnis zum individuellen Gedächtnis; der individualpsychologische Gehalt des Gedächtnisses ist nicht die proprieBedeutung des Wortes, 6 die man auf das Phänomen des kollektiven Gedächtnisses wie auf ein Abbild beziehen könnte. Das kollektive Gedächtnis ist keine Metapher, sondern ein Konzept: es ist theoretisch definierbar, logisch auf benachbarte Phänomene beziehbar, in Funktionen und K o m ponenten zerlegbar und forschungspraktisch operationalisierbar. Ein maßgeblicher Vorzug, den die Theorie von Halbwachs für das hier gestellte Thema hat, ist nun der: Sie vermag das Vergessen entlang derselben Operationen und Effekte zu erklären wie die Erinnerung. 7 Entscheidend dabei ist der Bezug zur Gruppe und der spezifische Zwang und Drang zur Konformität, die Gruppen zusammenhält. Jeder kann auf der individuellen Ebene experimentell Beispiele für die Inkonstanz unseres Wissens nach Belieben erzeugen: wir werden unsicher, wenn Angehörige der eigenen Bezugsgruppe uns intensiv widersprechen an einem Punkt, wo 6 In der Alltagssprache mag das so sein. Aber in der Alltagssprache geht die Sonne immer noch unter, 500 Jahre nach Kopernikus. 7 „Das Vergessen erklärt sich aus dem Verschwinden dieser Rahmen oder eines Teiles derselben, entweder weil unsere Aufmerksamkeit nicht in der Lage war, sich auf sie zu fixieren, oder weil sie anderswohin gerichtet war [...]. Das Vergessen oder die Deformierung bestimmter Erinnerungen erklärt sich aber auch aus der Tatsache, daß diese Rahmen von einem Zeitabschnitt zum anderen wechseln." (Halbwachs [wie Anm. 1],S. 368.)
38
Egon Flaig
wir geglaubt haben, wir wüßten mit Gewißheit, was wir zu wissen meinten. Sogar biographische Daten, die wir ganz sicher zu halten glauben, beginnen dann zu wackeln. Unser Gedächtnis erlangt offenkundig nur dadurch Stabilität, daß unsere Bezugsgruppen uns diese Daten bestätigen, quasi beglaubigen. Plastische Beispiele für die kulturelle Herstellung von Vergessen finden sich zu Häuf, wenn man Ereignisse betrachtet, die das Verhältnis von Gruppensolidarität und verbindlichem Wissen berühren. Mit Hilfe eines halbwegs regelmäßig geführten Tagebuchs kann wahrscheinlich jeder von uns verfolgen, wie wir unser Urteil über Menschen abändern, weil sich das Urteil unserer peer group über diesen Menschen verändert hat, vielleicht weil dieser Mensch sich einen Verstoß gegen die Konventionen der peer group hat zuschulden kommen lassen. Was mit Swann geschah, ist in abgewandelter Form überall zu beobachten. Die Gruppenmitglieder bringen ein Gedächtnisopfer zugunsten des normativen Konsenses und der emotionalen Eintracht - in doppeltem Sinne: der Verfemte wird zum Sündenbock und damit zum Sühneopfer; und ein Teil der Erinnerung wird semantisch entwertet und damit geopfert. Das Ausmaß, in welchem die Akteure diese Veränderung bewußtlos durchlaufen, hängt überhaupt nicht von ihren individuellen Qualitäten ab, sondern von dem Grad, in welchem sie sich mit der Gruppe, mit ihren impliziten Normen und ihren kommunikativen Usancen identifizieren. Akteure, die sozial und kommunikativ am Rande der Gruppe stehen, sind stärker gegen diesen Prozeß der Umwertung und des Vergessens gefeit, sind eher in der Lage, Handlungen und Situationen in Erinnerung zu behalten, die auf die nun verfemte Person ein günstigeres Licht werfen, als es der Gruppenkonsens zuläßt. Das hat Maurice Halbwachs scharf analysiert im 1. Kapitel seines posthumen Werkes La mémoire collective: „II nous arrive bien souvent que nous attribuons à nous-mêmes, comme s'ils n'avaient leur source nulle part qu'en nous, des idées et des réflexions, ou des sentiments et des passions, qui nous ont été inspirés par notre groupe [...]. C'est ainsi que la plupart des influences sociales auxquelles nous obéissons le plus fréquemment nous demeurent inaperçues".8 8 M. Halbwachs: La mémoire collective, Paris 1968, S. 28f.
Soziale Bedingungen des Vergessens
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W i e sehr sein Urteil und damit auch seine Erinnerung sozial konstituiert sind, bleibt dem einzelnen Akteur verborgen; ja er wird - zunächst - diesen Sachverhalt bestreiten. D e r Mechanismus der Gruppensolidarität, welcher hier wirkt und die Meinungen homogenisiert, gelangt nirgendwo innerhalb der betreffenden Gruppe zur Reflexion. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Handarbeiter, um Politiker, um Büroangestellte oder um Professoren handelt. Es bedarf meist wissenschaftlicher Analysen, um den gruppendynamischen Prozeß freizulegen, der das Urteil über eine Person festlegt; das hat René Girard in seinen Werken über den Sündenbock-Mechanismus brillant herausgearbeitet. 9 Girard würde sagen: diese soziale Konstitution des Gedächtnisses und damit eines enormen Vergessens muß sogar verborgen bleiben, sonst könnte der Sündenbockmechanismus nicht funktionieren. D a m i t ist angedeutet, daß es in diesem Beitrag weder um Memorialkunst, noch um Vergessenskunst geht. O b es letztere überhaupt gibt und welche Bedeutung sie haben kann, ist für hier gestellte Frage nach dem kulturell relevanten und sozial bedingten Vergessen nicht von Belang. Ich orientiere mich an jenen Forschungen, die M . Halbwachs, N . Loraux, Y . Yerushalmi, J . und A. Assmann, und O . G . Oexle den Memorialpraktiken und ihren sozialen Funktionen gewidmet haben. Dabei halte ich die Zweiteilung des kollektiven Gedächtnisses in ein k o m m u n i k a t i v e s ' und in ein ,kulturelles' Gedächtnis, wie J . Assmann sie vornimmt, für theoretisch sinnvoll und forschungspraktisch ergiebig. 1 0 Daraus ergeben sich einige theoretische Festlegungen. Halbwachs hat das Vergessen als Korrelat des Erinnerns aufgefaßt, welches denselben kulturellen Regeln gehorcht. D i e Folgerung lautet: „Nicht nur Erinnern, sondern auch Vergessen ist daher ein soziales P h ä n o m e n " . 1 1 Trifft das zu, 9 R. Girard: La violence
et le sacré, Paris 1972.
10 Assmann [wie Anm. 2], S. 4 8 - 6 5 . 11 Ebd., S. 37. Damit sind alle pathologischen Formen des Vergessens, wie sie individuell auftreten können, allerdings aus dem Untersuchungsfeld ausgeschlossen. Das kann einen Erkenntnisverlust bedeuten. Der Grenzfall ist für die Struktur eines Phänomens von entscheidender Bedeutung. Falls die pathologischen Formen des Vergessens - z. B. die Amnesien durch einen Schock oder durch die physische Beein-
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Egon Flaig
dann kann das individuelle Vergessen nicht das Modell des Vergessens überhaupt darstellen. Wenn das individuelle Gedächtnis nicht mehr das eigentliche' Gedächtnis ist, dann kann auch das individuelle Vergessen nicht mehr das eigentliche' Vergessen sein. Yerushalmi hat auf die Implikationen hingewiesen: Der Begriff des kollektiven Vergessens, psychologisch verstanden, entleert sich von Sinn. 12 Der Begriff des Vergessens ist demnach genausowenig an individuelle Vorgänge gebunden wie der Begriff des Gedächtnisses überhaupt. Individuelles Gedächtnis und individuelles Vergessen sind dann Spezialfälle. Völker und Gruppen können strenggenommen nur die Gegenwart vergessen, nicht die Vergangenheit. Wenn ein Kollektiv nichts sensu stricto vergessen kann, was es nicht erfahren hat, dann kann es auch nichts sensu stricto erinnern, was es nicht erfahren hat. Genausowenig wie die heute lebenden Generationen des jüdischen Volkes den Auszug aus Ägypten vergessen können (denn sie haben am Exodus nicht teilgenommen), genausowenig können sie ihn erinnern, und zwar aus demselben Grund. Darum empfiehlt es sich, den Begriff des Vergessens überhaupt zu entleeren von allen psychologischen Konnotationen. Alle Begriffe, die von der Analyse psychischer Vorgänge abgeleitet sind, wie z. B. die ,Verdrängung', sind daher zu vermeiden. Faßt man nun Erinnern und Vergessen nicht mehr als psychologische Vorgänge auf, dann gilt der Umkehrschluß: Wenn die Deutschen den 3. Oktober feiern und dieses Feiern ein Erinnern an die wiedererlangte nationale Einheit ist, dann ist es ein Vergessen, wenn der 18. Januar als Tag der Reichsgründung kaum noch Beachtung findet. Dieses Vergessen verträchtigung der Hirnfunktionen - Grenzfälle auf der breiten Skala der Vergessensformen darstellen, dann müßte eine allgemeine Theorie des Vergessens sie in ihre Systematik einbeziehen. 12 „L'oubli collectif est assurément une notion aussi problématique que celle de la mémoire collective. Si nous l'enfermons dans une acception psychologique, elle perd virtuellement tout son sens. Strictement, les peuples et les groupes ne pouvent oublier que le présent, pas le passé. En d'autres termes, les individus qui composent le groupe peuvent oublier des événements qui advinrent dans leur propre existence; ils ne sauraient oublier le passé qui leur est antérieur, au sens où 1' individu oublie les premiers stade de sa propre vie." (Y. H. Yerushalmi: Réflexions sur l'oubli, in: Usages de l'oubli, Paris 1988, S. 8-21, hier S. 11).
Soziale Bedingungen
41
des Vergessens
dankt sich einer politischen Entscheidung und ist konstitutiv für die deutsche Demokratie. Dieses Vergessen heißt aber nicht, daß das Wissen um die Umstände, wie der preußische König zum deutschen Kaiser wurde, nicht mehr existierte. Dieses Wissen liegt in Büchern und vielen Medien abrufbar bereit. Aber es wird zunehmend irrelevant für das politische Selbstverständnis der Deutschen. Der Begriff des kulturellen Vergessens scheint somit komplexer zu sein als derjenige des kulturellen Gedächtnisses. Denn was auf einem bestimmten kulturellen Gebiet nicht erinnert wird, kann auf anderen Gebieten gelegentlich erinnert werden, vielleicht sogar ständige Relevanz besitzen. Es kann auch in Archiven aller Art,ruhen'. Erinnern hieße dann: etwas mit Bedeutung aufladen und in der kommunikativen Zirkulation gebrauchen. Vergessen hieße: etwas nicht mit Bedeutung versehen und daher auch nicht in der Kommunikation zirkulieren lassen. Doch ein solcher Begriff des kulturellen Vergessens ist theoretisch unterbestimmt, was sich in seiner mangelnden
forschungspraktischen
Handhabbarkeit zeigt: Der erste Mangel besteht im Problem der Gruppenkontinuität. Wenn die französischen Arbeiterparteien am 18. März der Pariser Commune gedachten, dann war dieses Eingedenken ein Akt des kulturellen Gedächtnisses der Arbeiterbewegung. Mit dem Niedergang der Arbeiterbewegung und mit dem Zerfall ihrer Parteien entschwindet dieser Tag immer mehr aus der Kommunikation; diese Verflüchtigung ist als ein Vergessensprozeß anzusehen, der sich der historischen Tatsache schuldet, daß die ehemals gut organisierte Bewegung zu existieren aufhört, weil ihre soziale Trägergruppen sich auflösen. Bezeichnet man diesen Vorgang als Vergessen, dann setzt man voraus, daß jene Großgruppe, die einst Träger eines spezifischen proletarischen Gedächtnisses war, immer noch dieselbe Gruppe ist. Zieht man diese Identität in Zweifel, dann ist es sehr schwierig, das Verschwinden des 18. März als Vergessen zu bezeichnen. Demnach hat es eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses leichter als eine Theorie des kulturellen Vergessens: Wenn die Humanisten
des
15. Jahrhunderts in Italien in einem nicht dagewesenen Ausmaß jene Teile der antiken Literatur und Kunst rezipieren und zur Geltung bringen, die bis dahin unbeachtet geblieben waren, dann kann man diesen Prozeß als
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Egon Flaig
eine A k t i v i t ä t des kulturellen G e d ä c h t n i s s e s b e s c h r e i b e n , o b w o h l völlig klar ist, d a ß die kulturell d o m i n a n t e n G r u p p e n der italienischen R e n a i s sance nichts zu tun h a b e n m i t den rezipierten A u t o r e n und K ü n s t l e r n . E s liegt o f f e n k u n d i g k e i n e G r u p p e n k o n t i n u i t ä t vor. I n d e s , die D i f f e r e n z der Gruppen
beeinträchtigt
n i c h t die A n w e n d b a r k e i t
des B e g r i f f s .
Anders
b e i m B e g r i f f des kulturellen V e r g e s s e n s . E r m a c h t n u r Sinn, w e n n eine s o l c h e K o n t i n u i t ä t vorliegt. U n d diese k a n n j e d e r z e i t a n g e z w e i f e l t w e r d e n , d e n n sie ist abhängig v o n P e r s p e k t i v e n u n d ( S e l b s t - ) D e f i n i t i o n e n . I d e n t i s c h e R e p r o d u k t i o n ist in der G e s c h i c h t e e b e n nicht m ö g l i c h . B e r e i t s an dieser Stelle k ö n n t e m a n a u f h ö r e n , ü b e r das kulturelle V e r g e s s e n als einen eigenen G e g e n s t a n d
nachzudenken: W e n n
Stabilität u n d Identität
von
G r u p p e n n u r sehr p r e k ä r e E r g e b n i s s e der sozialen u n d kulturellen R e p r o d u k t i o n sind, die u n e n t w e g t starken V e r s c h i e b u n g e n unterliegen,
dann
k a n n das ,kulturelle V e r g e s s e n ' kein selbständiger B e g r i f f sein. D a n n ist das kulturelle
Vergessen
schlicht
ein
millionengestaltiger
Prozeß,
den
die
u n v e r m e i d l i c h e n V e r ä n d e r u n g e n im sozialen L e b e n als B e g l e i t e r s c h e i n u n g mit sich b r i n g e n .
Diese mögen
interessant
sein, sie k ö n n e n
aber
nur
e r f o r s c h t w e r d e n v o m t h e o r e t i s c h e n u n d m e t h o d i s c h e n B o d e n des k u l t u rellen G e d ä c h t n i s s e s aus. D e r z w e i t e M a n g e l betrifft das V e r h ä l t n i s v o n N i c h t b e a c h t u n g u n d V e r gessen. K o m p l e x e n G e s e l l s c h a f t e n ist ein sektorielles N i c h t b e a c h t e n s t r u k turell inhärent, weil sie sich aus vielen G r u p p e n z u s a m m e n s e t z e n ,
die
jeweils eigene E r i n n e r u n g s k u l t u r e n pflegen. W i e soll man die T a t s a c h e charakterisieren, d a ß die f r a n z ö s i s c h e N a t i o n als G a n z e den T a g der C o m m u n e nie feierte? D i e auf z e n t r a l e b ü r g e r l i c h e W e r t e ausgerichtete N a t i o n als
Ganze
hat
ihr politisches
Gedächtnis
um
andere
Referenzpunkte
organisiert als die A r b e i t e r b e w e g u n g . D i e N i c h t b e a c h t u n g , b z w . negative S e m a n t i s i e r u n g desselben Ereignisses hat es erleichtert, daß der T a g der C o m m u n e aus d e m p o l i t i s c h e n D i s k u r s völlig v e r s c h w u n d e n ist. A b e r in w e l c h e m Sinne ist diese N i c h t b e a c h t u n g selber ein T e i l des V e r g e s s e n s ? U n d in w e l c h e m Sinne k a n n m a n die A b d r ä n g u n g aus d e m
offiziellen
p o l i t i s c h e n D i s k u r s als V e r g e s s e n b e z e i c h n e n , w e n n der 18. M ä r z 1871 f ü r die H i s t o r i k e r der A r b e i t e r b e w e g u n g keineswegs aus d e m B l i c k f e l d v e r s c h w i n d e t , s o n d e r n w e i t e r h i n einen E c k p u n k t für ihre F o r s c h u n g e n dar-
Soziale Bedingungen des Vergessens
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stellt? D i e Verlagerung eines Bewußtseinsinhaltes von einem kulturellen Feld in ein anderes ist ganz offensichtlich eine andere Operation und somit eine andere F o r m des Vergessens als die Umsemantisierung
desselben
Bewußtseinsinhaltes (insofern er für den Sozialhistoriker etwas anderes bedeutet als für den Politiker der Linken). D i e Unterschiedlichkeit droht in der gemeinsamen Bezeichnung als .Vergessen' verloren zu gehen. Es scheint mit dem vorhandenen theoretischen Instrumentarium kaum möglich zu sein, eine kollektive Nichtbeachtung in einen sinnvollen Bezug zum Begriff des Vergessens setzen. Augenfällig besteht für die U n t e r suchung der Memorialpraktiken diese Schwierigkeit nicht. Jan Assmann hat vorgeführt, wie die negative Beachtung des anderen, von dem eine Gruppe sich abgrenzen wollte, erstaunliche Abgrenzungstechniken, z . B . ,Inversionen' hevorbrachte. 1 3 D i e Techniken der Nichtbeachtung sind hingegen kaum zu fassen. Eine Forschung, die ihr Augenmerk auf die A b wesenheit von Techniken und Praktiken richtet, hat mit größeren konzeptionellen Schwierigkeiten zu kämpfen, als eine Forschung, die faßbare Praktiken und Techniken des Erinnerns untersucht. Aus diesen Schwierigkeiten käme man zwar dadurch heraus, daß man das individuelle Vergessen als das eigentliche' einem nur metaphorischen kollektiven entgegensetzte. Aber das wäre auf der theoretischen Ebene ein Rückschritt. Daher sei es gestattet, um sie einen Bogen zu machen und den Begriff des Vergessens nur auf Phänomene anzuwenden, die sich ergeben, wenn in ein und derselben Gruppe Bewußtseinsinhalte, die einmal signifikant waren, aufhören es zu sein. O b es dann noch dieselbe Gruppe ist, darüber läßt sich streiten; war doch Proust der Meinung, daß sogar die Individuen sich wandeln, wenn sich ihre essentiellen Gedächtnisinhalte verändern.
13 „Eine andere Technik des Vergessens ist normative Inversion. Hier wird das Verworfene weder verdrängt noch totgeschwiegen, sondern im Gegenteil sorgfältig in Erinnerung gehalten: nicht um seiner selbst willen, aber als Gegenbild des eigenen
Selbstbildes" 0 . Assmann: Moses der Ägypter. München und Wien 1998, S. 8 8 - 1 0 3 , hier S. 279).
Entzifferung
einer
Gedächtnisspur,
44
Egon Flaig 2. Das sozial relevante Vergessen der Habitualisierung
Ein Vergessen sui generis, von der Kultur gesteuert und das Individuum betreffend, ist jene tagtägliche Ausblendung der Bedingungen, unter denen Individuen zu den Personen werden, die sie für die anderen sind. Sie scheinen ihre soziale Position und das dieser Position angemessene Verhalten auf quasinatürliche Weise zu besitzen. Pierre Bourdieu hat in umfangreichen Forschungen über den Habitus die Struktur und die Genesis dieser zweiten Natur erforscht und dabei die Bedeutung des nichtreflexiven Lernens in der Sozialisation hervorgehoben. Der Lernprozeß wird bereits vergessen während er stattfindet. Das Gewicht, welches in jeder Kultur das Antrainieren von Reflexen einnimmt, ist gar nicht zu überschätzen: Reflexartig müssen die Worte, Gesten, Körperbewegungen und Handlungen kommen, schnell und zuverlässig, wenn man technisch und sozial reüssieren will. Wer bei der roten Ampel lange überlegt, hat entweder keine hohen Uberlebenschancen oder keine Chancen, mit sozial durchschnittlicher Geschwindigkeit seine Aufgaben zu erledigen. Aber rote Ampeln gibt es in sämtlichen sozialen Räumen. Das ist einer der maßgeblichen Gründe dafür, weshalb Intellektuelle auf vielen sozialen Gebieten sich schwer tun, und sogar im universitären Raum nur schwer überleben, wie Bourdieu in seinem Buch Homo academicus ausführlich darlegte. Die Wahrnehmungsschemata und noch mehr die Reaktionsschemata einer Person müssen in einem überdurchschnittlichen Maße an den akademischen Raum angepaßt sein, die spezifischen Verhaltensmuster müssen total inkorporiert, einverleibt sein, damit sie ohne Reflexion funktionieren - jede Reflexion behindert die vorbehaltlose und tiefgreifende Inkorporation der kommunikativen Normen der akademischen Hierarchie und ihrer hierarchisierten Kommunikation. Die gelungene Sozialisation - meist, aber nicht immer meßbar am sozialen Erfolg innerhalb der Institutionen - erscheint den Individuen als eine ihnen von Natur aus zugehörige Qualität. Diese Selbstverkennung wird vom sozialen Umfeld konstant gefördert und je nach den Rhythmen der akademischen Karriere mit starken Ausschlägen der Anerkennungsamplituden bestätigt. Hörte das Umfeld mit dieser Unterstützung auf, gelänge
Soziale Bedingungen
des
Vergessens
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die Edukation nicht oder wiese beträchtliche Defizite auf. Kein anderer hat das in solcher Schärfe formuliert wie Marcel Proust, der nicht Soziologe war sondern Romancier: „Unsere Persönlichkeit innerhalb der Gesellschaft ist eine geistige Schöpfung der anderen". 1 4 A n der Selbstverkennung arbeiten die anderen unentwegt mit; sie beruht auf einem Vergessen. D e r beträchtliche Sozialisationsaufwand wird kaum wahrgenommen, weil vor allem die Bedingungen der familiären Sozialisation als unhintergehbare Gegebenheiten erscheinen und kaum thematisiert werden. Gerade die nicht-spektakulären Vorgänge der Sozialisation, die in ihrer Regelmäßigkeit, Wiederholung u n d Konstanz wirken, entziehen sich leicht der Wahrnehmung. U n d auch der wahrgenommene Teil des Sozialisationsaufwandes wird rasch vergessen. So erscheint die reibungslose, quasi natürliche Rolle, die man ausübt, als „auf den Leib zugeschnitten", oder gar als angeboren. 1 5 Es erfordert harte soziologische Arbeit, diese allernatürlichst erscheinenden Qualitäten wieder in Prozesse und Konstellationen aufzulösen, zu analysieren. Ein Großteil der Bourdieuschen Soziologie besteht in der methodischen Rekonstruktion dessen, was die sozialen Akteure vergessen haben, was sie aber bis in die elementarsten Formen ihres individuellen Verhaltens hinein bestimmt; diese Soziologie leistet eine methodisch verfahrende soziale Anamnesis der individuellen Sozialisation. Ein besonders plastisches Beispiel f ü r das Vergessen individueller Vergangenheit hat Bourdieu am ,Geschmack' gefunden - im umfassenden Sinne: Geschmack an guten Weinen, an Kunst u n d Musik. Der alte Spruch „De gustibus non est disputandum" heißt: Geschmack hat man oder man hat ihn eben nicht. Das ist logisch, denn zwischen zwei Geschmäckern gibt es keine Vermittlung - es sei denn die Genese selber; aber die genau ist ver14 „Mais même au point de vue des plus insignifiantes choses de la vie, nous ne sommes pas u n tout matériellement constitué, identique p o u r tout le m o n d e et dont chacun n'a q u ' à aller prendre connaissance c o m m e d ' u n cahier des charges ou d ' u n testament; notre personnalité sociale est u n e création de la pensée des autres." (M. Proust: A la recherche du temps perdu, hrsg. von P. Clarac u n d A. Ferré, Paris 1954, Bd. I, S. 19). 15 Siehe dazu das brillante 4. Kapitel „Glaube u n d Leib" von P. Bourdieu: Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, F r a n k f u r t / M . 1987, S. 122-146.
Sozialer
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gessen. Wird die Genese des individuellen Geschmacks zum Problem und damit zum Gegenstand der Analyse, dann ändert sich so gut wie alles. Dann ist der Geschmack nicht mehr ein unmittelbar Gegebenes, sondern etwas unter spezifischen Bedingungen entstandenes.16 Auf rund 900 Seiten hat Bourdieu in seinem Werk Die feinen Unterschiede vorgeführt, welchen sozialen Konstitutionsbedingungen die Geschmacksbildung gehorcht; 17 seine kapitale Entdeckung ist die, daß gar nicht die Inhalte einer ästhetischen Erziehung für die Eigenarten des individuellen Geschmacks maßgebend sind, sondern der Lernmodus - ob man schulmäßig, langsam und systematisch zum Umgang mit dem Schönen erzogen wird, oder ob man familiär, huschend und plaudernd diesen Umgang sich einverleibt.18 Dieser Lernmodus wird normalerweise vergessen19; und dann stehen sich die Individuen hinterher gegenüber als Inhaber von Geschmackskapital oder als dépourvus. Von allen Ansätzen in der Soziologie des vergangenen Vierteljahrhunderts hat keiner eine so starke Wirkung auf die Kulturwissenschaften ausgeübt, wie dieser von Bourdieu. Aus gutem Grund. Er berührt die Beziehung von Gruppenkonstitution und Gedächtnis und Erinnern direkt, und er stellt ein nüanciertes theoretisches und konzeptuelles Instrumentarium bereit, soziale Anamnesis kultureller Gegebenheiten zu befördern. Darum der starke Anklang seines Werkes bei der Mikrohistorie, der Alltagshistorie, der Historischen Anthropologie, welche am scheinbar Allerindividuellsten archäologisch arbeiten und nun einen riesigen Wissensbestand aus den Archiven in die wissenschaftliche Zirkulation werfen. Denn jene Art des Vergessens ist für das reibungslose Funktionieren der kulturellen Prozesse von ebenso großer Wichtigkeit wie die Erinnerung an die politischen Eckdaten für die nationale Identität.
16 Ders., Die feinen Unterschiede. furt/M. 1982, S. 761-768. 17 Ebd., S. 57-63 und S. 768-773. 18 Ebd., S. 120-150. 19 Ebd., S.134-150.
Kritik
der gesellschaftlichen
Urteilskraft,
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Bedingungen
des
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3. Vergessen als Enteignung und Übereignung kultureller Produktivität aller Art Jede komplexe, auf Literalität beruhende Kultur braucht ein Korpus von Texten, die relevanter sind als andere. U m einen solchen Kanon zu bilden, müssen andere Texte relativ entwertet werden. Anders kann man gar keine ,Geschichte' von etwas machen: „Solange die Geschichte nach Signifikanz strebt, verurteilt sie sich dazu, Gebiete, Epochen, Menschengruppen und Individuen in diesen Gruppen auszuwählen und sie als diskontinuierliche Figuren gegen ein Kontinuum abzuheben, das gerade noch als Hintergrund dienen kann". 2 0 Solange die historischen Kulturwissenschaften Geschehnisse kultureller, sozialer, ökonomischer, militärischer oder sonstiger Art in chronologische Abläufe zu bringen suchen, bleiben sie in einer virulenten Paradoxie gefangen: Sie konstruieren stets ihre Geschichte, indem sie unendlich vieles aus der Konstruktion ausschließen, jenes ,Irrelevante', das aber auch Geschehen ist. 2 1 Eine Kultur - oder auch ein beliebiges kulturelles Feld - kann gar nicht umhin, in noch stärkerem Maße zu selektieren als die spezialisierte Historie das tut. Man könnte dafür die Philosophie als
20 C. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt/M. 1968, S. 296. 21 Georg Simmel hat darin eine Aporie gesehen: „Man kann das Einzelne nicht beschreiben, wie es wirklich war, weil man das Ganze nicht beschreiben kann. Eine Wissenschaft von der Totalität des Geschehens ist nicht nur wegen ihrer nicht zu bewältigenden Quantität ausgeschlossen, sondern weil es ihr an einem Gesichtspunkt fehlen würde, den unser Erkennen braucht, um ein Bild, das ihm genüge, zu formen, an einer Kategorie, unter der die Elemente zusammengehören und die bestimmte derselben mit einer bestimmten Forderung ergreifen muß. Es gibt kein Erkennen überhaupt, sondern immer nur eines, das durch qualitativ determinierte, also unvermeidlich einseitige Einheitsbegriffe geleitet und zusammengehalten wird; einem schlechthin allgemeinen Erkenntniszweck würde die spezifische Kraft mangeln, irgendwelche Wirklichkeitselemente zu erfassen. Dies ist der tiefere Grund, weshalb es nur Spezialgeschichten gibt und alles, was sich allgemeine oder Weltgeschichte nennt, bestenfalls eine Mehrzahl solcher differentieller Gesichtspunkte nebeneinander wirken läßt oder eine Heraushebung des nach unserem Wertgefühlen Bedeutsamsten innerhalb des Geschehenen darstellt." (G. Simmel: Die Probleme Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, Leipzig 1905 2 , S. 46).
der
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Beispiel nehmen oder auch die nationalen Literaturen. Diese Ausschließung ist Vergessensarbeit, denn die kanonisierten Texte verlieren plötzlich ihren konkreten Kontext und werden disponibel für immer erneute semantische Aufladungen. Diese Ausschließung ist eine Sache. Eine ganz andere Sache ist es, die Autoren der kanonisierten Texte als die Schöpfer ihrer Werke aufzufassen. Der Künstler als Schöpfer ist eine Erfindung der deutschen Romantik. Dieser Schöpferideologie sind spätestens seit Michel Foucault die theoretischen Grundlagen entzogen. Aber sie war noch vor wenigen Jahrzehnten eine hegemoniale Vorstellung in den Literaturwissenschaften. Die Schöpferideologie hat sich erwiesen als ein wunderbares Dispositiv, mit dem man isolierte schöpferische Genies quasi fabrikmäßig herstellen konnte. Die klassische Literaturgeschichte war der ideale Diskurs um diese Ideologie in plausibler Gestalt auftreten zu lassen. Sie hat serienmäßig Genies in ihrer eigenen Apparatur erzeugt. Allerdings mußte sich die Literaturgeschichte dem herrschenden historistischen Paradigma beugen: das Genie wurde immer in die Geschichte gestellt, und zwar mittels seiner Biographie. Die Biographie erschien so als der Ort, w o das zeitliche Individuum, das der Geschichte unterworfen bleibt, schöpferisch tätig ist und ein überzeitliches Werk schafft. Dafür mußten eine enorme Menge von Autoren, aus denen die großen Schöpfer geschöpft hatten, aus dem Umfeld verschwinden. Schöpfer brauchen um sich herum einen sehr großen Hohlraum. Fehlt dieser, dann werden sie allzuleicht als Akteure auf einem Feld erkennbar, die unentwegt aus anderen schöpfen. Hier steckt das Problem dieses besonderen Vergessensmodus: er betreibt symbolisch gesteuerte Ubereignung und Enteignung. Damit meine ich, daß eine bestimmte Kultur etwas, was kulturell bedeutsam ist, wie z.B. eine Leistung, ein Werk, eine Errungenschaft, ein Sieg, einer bestimmten Person oder einer bestimmten Gruppe zuspricht, obwohl auch andere beteiligt waren. Je höher die Beteiligung der anderen, desto stärker trägt eine solche Zusprechung den Charakter einer symbolischen Enteignung. Diese Enteignung führt dazu, daß man vergißt, wer alles mitgeholfen hat. Indem die biographisch verfahrende Kulturwissenschaft ausblendete und retuschierte, um Schöpfer zu erzeugen, betrieb sie in gewisser Weise Blas-
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phemie. Obendrein partizipierte sie an einem Schuldzusammenhang: sie übereignete die kulturelle Produktivität vieler auf das Konto weniger; genauso wie das industrielle Kapital sich den Mehrwert aneignet, den andere erzeugen. Nicht die Tilgung selber war so schwerwiegend - denn es ist unmöglich, alle vorhandenen Autoren in einer Literaturgeschichte zu erwähnen - , sondern die Ubereignung der Produktivität der Getilgten auf die Erinnerten im Rahmen des Schöpfermythos. Der analoge und chronologisch parallele Vorgang im Bereich der politischen Geschichte war fataler, weil die Schöpferideologie sich hier unmittelbar auf die politischen Dispositionen derjenigen Schichten und Gruppen auswirkte, die ihr in den Bildungsanstalten ausgesetzt waren. Dieser Vorgang der symbolischen Enteignung und Ubereignung von kultureller Produktivität - sei sie künstlerisch, literarisch, wissenschaftlich, alltäglich, edukativ, politisch, militärisch oder welcher Art auch immer - hat Stufen und Intensitätsgrade. Auf einer sehr alltäglichen Ebene begegnet er als ubiquitäres diskursives Ereignis; sprachliche Kürzel können zum spontanen Vehikel symbolischer Enteignungen werden. Und fachdisziplinäre Diskurse können mit ihrer Autorität diese Spontaneität legitimieren, systematisch verstärken und gezielt auf politische Dispositionen hin orientieren. Beidem ist nachzusinnen: 1. Man nehme den Ausspruch „Cäsar eroberte Gallien". In dieser Aussage kann das Wissen enthalten sein, daß er dazu ohne seine 6 und schließlich 10 Legionen nicht auskam. Aber dieses Wissen kommt in der Aussage selber nicht zum Ausdruck. Das heißt, der Satz weist eine militärische und politische Leistung der politischen Gemeinschaft einem namentlich bekannten Akteur zu. Es reicht nicht, jenes Wissen zu aktivieren. Das Wissen, sogar aktiviert, kann sich zunächst der Wirkung der Aussage nicht entziehen: selbst wenn Caesar dafür 10 Legionen brauchte, die ,eigentliche' Leistung gehört doch ihm. Die Aussage suggeriert somit eine Annahme über die Verteilung des Verdienstes an einer ,historischen Leistung'. Nun könnte man einwenden: aber der Ausspruch ist doch bloß eine Kurzfassung des Satzes: „Unter dem proconsularischen K o m mando von Gaius Iulius wurde Gallien erobert". Doch das stimmt nicht. Die sprachliche Kurzfassung ist nicht neutral. Der Satz „Cäsar eroberte
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Gallien" steht nämlich im Spannungsfeld von sozialer Distanz und politischer Rivalität: zwischen den römischen Senatoren und den einfachen Bürgern bestand eine große soziale Distanz, u n d zwischen den Nobiles herrschte eine scharfe Rivalität u m den Anspruch auf noch größere ruhmvolle Taten. Die strittige Aussage stellt sich in diesem Spannungsfeld einseitig auf die Seite eines Senatoren gegen andere, die ebenfalls mit dem Proconsul in Gallien waren; und sie stellt sich auf die Seite der Senatoren als den Angehörigen der herrschenden Klasse Roms, welche kommandierten, während die bewaffneten Bürger als Legionäre gehorchten. Somit ist sie nicht neutral. Hinter ihr steht eine bestimmte Auffassung von Geschichte und von Politik. U m diese geht es und u m ihr Verhältnis zur U n t e r d r ü c k u n g von gewußten Tatsachen. D e r Satz „Cäsar eroberte Gallien" ist zwar nur eine sprachliche Abkürzung; aber das Verflixte an solchen Abkürzungen ist, daß sie eine spontane Suggestionskraft haben. Wir sind immer nahe daran, solchen Sätzen zu glauben, wenn wir uns innerhalb des Alltagswissen bewegen. Erst die Reflexion auf ihren Gehalt macht diesen Glauben zunichte. Wenn man sich daran erinnert, daß Cäsar in einer sozialen Konfiguration stand, als er Proconsul in Gallien war, dann ändert sich alles. In einer Konfiguration stehend machen die Individuen nicht mehr Geschichte, sondern sie handeln entlang von Spielräumen und Erwartungen. 2. Ein fachdisziplinärer Diskurs mit all seiner wissenschaftlichen Autorität kann nun diese spontane Enteignung und Umeignung legitimieren, indem er aus ihr ein systematisches Axiom seiner Geschichtsauffassung macht und daraus methodische Regeln f ü r die empirische Forschung herleitet. Dazu gehört nicht viel. D e n n die symbolischen Operationen, u n d nicht zuletzt die Sprechweisen in einer herrschaftsmäßig aufgebauten sozialen O r d n u n g zahlen immer eine Prämie an die Sichtbarkeit und an die Namentlichkeit, und das heißt vor allem an die Machthaber. Genauer: sie läßt die Vergessenen an die Erinnerten zahlen. Die Kultur selber produziert unentwegt Vergessen an einer f ü r die Legitimation der Machthaber entscheidenden Stelle. D e r fachdisziplinär Befugte braucht nur zu wiederholen, was die vergangene Kultur - und nicht nur sie selber schon getan hat; freilich hat er diese Wiederholung in einen neu-
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artigen theoretischen Diskurs zu fassen. So fängt er explizit die sich möglicherweise einstellende Reflexion ab; denn diese würde augenblicklich dem obigen Satz ihre spontane Suggestionskraft nehmen, somit ihn eines Teils seiner semantischen Wirkung berauben und folglich der spontanen Enteignung kultureller Produzenten entgegenarbeiten. D e r geschichtstheoretische
Diskurs
bremst
diese
Reflexion
auf der
ihr
eigenen Ebene ab: er begründet, daß der achtlos formulierte Satz „Cäsar eroberte Gallien" in der Essenz zutrifft, daß er geschichtsmetaphysisch legitimiert ist. Wie das zu machen ist, hat der deutsche Historismus Ranke, Droysen, Treitschke - auf beeindruckende Weise vorgeführt: die Akteure in der Geschichte, d. h. die Akteure in jeder Kultur überhaupt, sondern sich in eine winzige Gruppe von schöpferischen' Individuen und in die restliche Menschenmasse. Droysen spricht das in seiner „Historik" mit selbstbewußter Gewißheit aus: nur die „geschichtliche G r ö ß e " vermag in der Bewegung der sittlichen Welt „die neuen Gedanken zu ahnen, auszusprechen, zu verwirklichen"; denn „die Vielen" k ö n nen nur ihren „kleinen Z w e c k e n " leben; sie „arbeiten für die Geschichte ohne Wahl und Willen, unfrei, als M a s s e " . 2 2 D i e geschichtliche B e w e gung, d. h. die kulturelle Bewegung überhaupt, wird hier gedacht unter dem Modell der dichotomischen Aufspaltung der Produktion in die Planung und Organisation und in die unter Befehl stehende Ausführung, wobei es unerheblich ist, ob letztere als Lohnarbeit oder als Sklavenarbeit auftritt. Droysen spricht diesen ,Vielen' einen kardinalen Teil des Menschseins ab - nämlich mit Wahl und Willen zu leben - und entzieht ihnen damit den Status, Individuen zu sein. 2 3 U n d wenn die
22 J. G. Droysen: Historik, hrsg. von P. Leyh, Stuttgart 1977, S. 443 ( siehe §79 in der „Systematik"). Der folgende Satz ist ein Zitat aus Piatons Phaidon: „Sie sind die lärmenden Thyrsophoren im Festzug des Gottes, Boot/oi öe JtauQoi". Der Theologe Droysen wußte um die Radikalität dieses Satzes: nur die geschichtlich Großen' werden erlöst; die anderen kreisen endlos weiter. Der Satz gehört in die Archäologie des elitären Extremismus, der in Deutschland politischen Ausdruck fand. 23 Siehe dazu G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971; O. G. Oexle: Meineckes Historismus. Uber Kontext und Folgen einer Definition, in: ders.,
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Egon
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50000 Legionäre, die Cäsar brauchte, um Gallien zu erobern, keine Individuen waren, dann kann man mit Fug und Recht sagen: „Cäsar eroberte Gallien". Die deutsche Geschichtswissenschaft im 19.Jh. hat unterm Paradigma dieses Historismus explizit sich als Ubereignungsanstalt verstanden, in welcher - nach strengen methodischen Regeln die Vergangenheit systematisch an die sogenannten großen Individuen zu übertragen ist, wozu man die Produktivität aller anderen enteignen muß. Diese Aberkennungen stellen eine spezifische Form von Vergessen dar und steuern selber andere Vergessensweisen, die harmloser scheinen, weil sie weniger Vorsätzlichkeit und Brutalität bergen. Wir umkreisen den Fetischismus des Sozialen. Die kulturelle Welt produziert unentwegt den Anschein, als hafte eine geschätzte Qualität am Objekt selber. Max Weber hat dies am Charisma vorgeführt, Marx am Tauschwert, am Warenpreis. Weber zeigt, daß Charisma nicht an der Person selber haftet, sondern im Glauben der charismatisch Beherrschten sich ereignet. Deren Glaube und sonst gar nichts macht den Charismatiker zu dem was er ist. Was die Charisma-Gläubigen vor sich verborgen halten müssen ist die einfache Tatsache, daß die Qualität, die sie an einer Person verehren, nichts anderes ist als ein Produkt ihrer Zurechnung, ihrer Erwartung und ihres Glaubens. Die soziale Qualität ist nichts Substantielles; die Qualität ist das Ergebnis von Relationen. Die Rückverwandlung der fetischisierten Substanzen, der regelrecht zu ,Dingen' gewordenen Resultate in Prozesse und Relationen sind genuine Tätigkeiten der Kulturwissenschaften, also von methodisch geleiteter intellektueller Anstrengung. Wäre das Soziale transparent, bräuchten wir uns nicht in dieser Weise anzustrengen. Die Mühe findet im Diktum Adornos - „alle Verdinglichung ist ein Vergessen" - ihre Rechtfertigung. Gleichzeitig leistet sie eine unablässige Exegese dieses Diktums. Die gesamte Geschichtswissenschaft
im Zeichen
des Historismus,
Göttingen
1996, S. 9 5 - 1 3 6 ;
E. Flaig: Identität gegen Autonomie. Vexierspiel mit der Individualität, in: O . G . Oexle und J . Rüsen (Hg.): Historismus konzepte,
historische
Einschätzungen,
in den Kulturwissenschaften. Grundlagenprobleme,
Wien 1996, S. 2 2 1 - 2 3 8 ; anders: J . Rüsen: Konfigurationen zur deutschen
Wissenschaftskultur,
Geschichts-
Köln, Weimar des Historismus.
Frankfurt/M. 1993, S. 2 4 3 - 2 6 6 .
und
Studien
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des
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Soziologie Bourdieus, die wie keine andere die zu Substanzen geronnene Welt in Prozesse, Konfigurationen und Relationen auflöst, kann im Lichte dieses Diktums mit demselben Recht als Kampf gegen das Vergessen gelesen werden wie Prousts „A la recherche du temps perdu". Die strukturelle Homologie der Ausblendungsverfahren rückt die Politik und die Kunst und ,Kultur' in unmittelbare Nähe zueinander. Die historistische Ubereignung von historischen Vorgängen an die Machthaber impliziert nicht nur eine Enteignung, sondern ein Vergessen von gigantischem Ausmaß. Das große Individuum in der Geschichte ist ebenso wie das schöpferische Genie in der Kunst ein Resultat von Vergessen - in beiden Fällen braucht man nur die soziale Konfiguration vergessen, und schon erscheint ein Individuum als groß. Größe ist das perspektivische Produkt von Ausblendung des Kontextes und von Isolierung der Akteure - Größe ist das Resultat eines Vergessens im nicht-emphatischen Sinn. Eine Prämie der Kultur an diejenige Sichtbarkeit und Namentlichkeit, die sie selber produziert.
4. P o l i t i s c h inszenierte A n e i g n u n g v o n h i s t o r i s c h e m M e h r w e r t Sprechweisen und ihre spontane Suggestionskraft blenden aus und lassen vergessen; fachwissenschaftlich legitimierte Doktrinen fixieren und methodisieren Perspektiven, die vorsätzlich ausblenden und vergessen machen sollen. Eine noch größere soziale Reichweite haben meistens die regelrechten politischen Inszenierungen der Ubereignung von kulturell Erzeugtem an die Mächtigen. Ein Beispiel aus der römischen Kultur möge den Sachverhalt veranschaulichen, der Triumph in der römischen Republik. Einen Triumph erhielten Feldherrn nach einem großen Sieg. Diese Feldherrn gehörten dem senatorischen Adel an; und die Senatoren rivalisierten miteinander um die höchsten Ehren. Die allerhöchste Ehre für einen Römer war die, einen Triumph feiern zu können. Das konnten nur Feldherrn, fast immer als Konsuln oder von konsularischem Rang, die unter eigenem Kommando einen großen Sieg über Feinde davongetragen hatten. Wenn der Senat den
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Sieg eines Triumphes für würdig befand und ihn bewilligte, konnte der Feldherr ihn feiern. Das war ein zeremonielles Ereignis allererster Ordnung: der Triumphator durfte in einem Wagen mit seinem Heer in die Stadt einrücken; die pompa triumphalis, der Triumphzug war lang und dauerte manchmal mehrere Tage; da fuhren Wagen, beladen mit der Beute, vorbei, dahinter schleppten sich die Gefangenen, dann kamen die Reihen des siegreichen Heeres, zwischen den Gefangenen und dem römischen Heer gingen die Senatoren, um den Triumphator zu geleiten; dieser stand auf einem Wagen, in ein Kostüm gekleidet, das nur Triumphatoren tragen durften und auch nur am Tag des Triumphes, ein purpurrotes Gewand, das ihn heraushob aus der Sphäre seiner Mitsenatoren, einen Lorbeerkranz auf dem Kopf; der Zug nahm eine vorgeschriebene Route durch Rom, übers Forum, hinauf aufs Kapitol, wo der Triumphator den Göttern ein großes Opfer darbrachte. Triumphalspiele konnten sich anschließen. In diesem Ritual bestätigte die Bürgerschaft, daß sie den Sieg nicht nur unter den Auspizien des Triumphators errungen hatte, sondern daß der Sieg dem Triumphator gehörte. Im Triumph besiegelten die Senatoren und das Volk auf zeremonielle Weise diese Ubereignung des Sieges. Für diese Umeignung leistete sich die römische Republik einen semiotischen Aufwand, der horrende Summen verschlingen konnte. Der Sieg gehörte fortan diesem Triumphator, und nur ihm. Stets konnte er sich darauf berufen; bei passenden Anlässen versäumte er nicht zu erwähnen, was er für die Res publica geleistet hatte. Sämtliche anderen Bürger, die mit ihm gekämpft hatten, wurden regelrecht symbolisch enteignet. Denn sie mochten noch so oft ihren Freunden und Nachkommen erzählen, wie sie damals siegten unter dem Kommando jenes Feldherrn; doch daß sie siegten, findet auf der Ebene der politischen Inszenierung keine Ausdrucksform. Sie wurden vergessen. Er aber blieb als Triumphator im offiziellen Gedächtnis Roms. Diese kulturelle Praxis der römischen Republik fungierte als eine gigantische Maschine zur Produktion großer Männer; diese wurden in der Tat serienmäßig mit Hilfe dieses Rituals und seiner Wiederholbarkeit produziert. Aber um welchen kulturellen Preis? Die Enteignung und Ubereignung war in gewisser Weise überdimensioniert. Sie ist in vieler Hinsicht problematisch; das brisanteste Problem an ihr ist der bestürzende
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Umstand, daß römische Feldherrn manchmal - oder auch sehr häufig tatsächlich das glaubten, was das Ritual inszenierte. Als 187 v . C h r . der Senat von Lucius Scipio nach dessen Sieg über Antiochos III. Rechenschaft über die Waffenstillstandszahlungen des Königs verlangte, zerriß sein älterer Bruder Scipio Africanus, der berühmte Sieger über Hannibal, die Rechnungsbücher und wies darauf hin, daß nicht er und sein Bruder dem Staate Rechenschaft schuldete, sondern der römische Staat ihnen beiden die Unterwerfung Spaniens, Nordafrikas, und Vorderasiens verdanke. 2 4 Scipio Africanus nahm also die explizite Ideologie in der Choreographie des Triumphes wörtlich und verwandte sie politisch auch gegen den Senat. Ahmten andere dem nach und geschah das häufiger, dann
konnten
Triumphatoren dem römischen Staat ihren Willen aufzwingen, denn sie waren die überlegenen Geber, denen die Res publica Dankbarkeit zu erweisen hatte. Die römische Republik wurde zum Opfer ihrer eigenen kulturellen Übereignungspraxis, ihrer eigenen symbolischen Operationen, mit denen sie sich gegen die selbstgemachten ,großen' Männer wehrlos machte. Die Römer konnten selbstverständlich nicht allen Bürgersoldaten, die einen Sieg erfochten hatten, diesen Sieg auch namentlich zuschreiben. Eine Erinnerung von allem und an jeden ist nicht möglich; die sozial relevanten Erinnerungen benötigen Abbreviaturen. Aber wie die Abbreviaturen aussehen, für die eine Kultur sich entscheidet, ist politisch nicht neutral. Das ist daran abzulesen, wie sich die Athener, auf dem Weg zur D e m o kratie, sich in einem solchen Falle verhielten. Sie vermieden bis zum Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. Ehrungen für einen siegreichen Feldherrn. Und auch danach hielten sich diese Ehrungen in Grenzen, waren vergleichbar mit Ehrungen für andere Leistungen und hoben den Geehrten niemals über die Bürgerschaft. Plutarch berichtet über Miltiades, jenen Feldherrn, der an dem Tage das Oberkommando innehatte, als die Athener 490 v. Chr. bei Marathon die Perser besiegten und damit die erste persische Invasion zurückschlugen, eine charakteristische Anekdote. Miltiades habe nach der Schlacht einen Ölkranz für sich verlangt, während einer Volks24 Polybios: Historien,
X X I I I 14.
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Versammlung. Da habe sich ein Athener erhoben und ihm zugerufen: „Wenn du einmal allein mit den Barbaren kämpfst und sie besiegst, Miltiades, dann kannst du auch für dich allein eine Auszeichnung verlangen." 25 Die Bürgerschaft spendete diesem Manne Beifall. Der Vorfall kontrastiert die römische und die athenische Praxis, mit gemeinschaftlichen militärischen Errungenschaften umzugehen. Denn während derselbe Miltiades in seiner Heimatstadt Chersonesos nach seinem Tode als Heros verehrt wurde, 26 taten die Athener nichts dergleichen, obwohl sie Gedenktage für die Schlachten von Marathon, Salamis und Plataiai feierten. 27 Daher ist diese Anekdote bedeutsam, auch wenn sich der Vorfall so nicht zugetragen haben mag. Der empörte Athener beharrt darauf, daß der Sieg der athenischen schwerbewaffneten Bürger gegen die Perser eine gemeinschaftliche Leistung war. Dieselben Athener, die es sich nicht nehmen ließen, in Wettbewerben aller Art die Sieger über die Maßen zu feiern, sahen in einer gewonnenen Schlacht einen gemeinsamen Sieg, der allen Bürgern gehörte. Die demokratisch organisierte Bürgerschaft ließ keine symbolischen Enteignungen im militärischen Gebiet zu und wehrte sich gegen das Vergessen ihrer gemeinschaftlich getragenen Leistung. Auch in Athen brauchte man Abbreviaturen, um zu erinnern. Aber das stets gebrauchte Kürzel „die Athener siegten" enthält keine symbolische Ubereignung des Sieges.
5. Exemplifizierung und Zensierung im politischen Gedächtnis A) Dem Vergessen entgehen. Die Masken im Leichenzug. Die eindrucksvollste und wirkungsvollste Inszenierung der politischen Erinnerung in Rom war das adlige Leichenbegängnis mit dem Leichenzug, der pompa funebris. Der wichtigste Teil des Leichenbegängnisses war 25 Plutarch: Kimon, 8. 26 Herodot: Historien, VI 38. 27 A. Chaniotis: Gedenktage der Griechen. Ihre Bedeutung für das Geschichtsbewußtsein der griechischen Polis, in: Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt, hrsg. von J. Assmann in Zusammenarbeit mit Th. Sundermeier, Gütersloh 1991, S. 123-145, hier S. 124.
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die lange Reihe der Ahnen, die man im Prozessionszug der hauptstädtischen Bürgerschaft vor Augen führte ( a g m e n imaginum). Von Senatoren, die mindestens den Rang eines kurulischen Adils erreichten, bewahrten die Familien Masken aus Wachs auf, die im Innenhof ihrer Häuser in Schreinen untergebracht waren, auf denen der Name und die Laufbahn des Betreffenden verzeichnet waren. 28 Was mit diesen Masken geschah, darüber berichtet uns Polybios als Augenzeuge aus der Zeit um 160 v. Chr.: „Bei öffentlichen Festen öffnen sie die Schreine und schmücken die Bilder mit Sorgfalt, und wenn ein angesehener Verwandter stirbt, nehmen sie sie im Trauerzug mit, indem sie sie Leuten aufsetzen, die den T o t e n an G r ö ß e und Erscheinung möglichst ähnlich sehen. Diese ziehen die entsprechenden Gewänder an, wenn der Verstorbene Konsul oder Prätor war, eine Toga mit Purpursaum, wenn er Zensor war, eine Toga ganz aus Purpur, wenn er aber sogar einen T r i u m p h gefeiert hatte oder dergleichen vollbracht hatte, eine goldbestickte Toga. Sie fahren alle auf Wagen, vorangetragen aber werden ihnen Rutenbündel, Beile und die übrigen Amts-Insignien, je nachdem worauf ein jeder zu Lebzeiten in Staatsämtern Anspruch hatte. Wenn sie aber bei den Rostra angelangt sind, nehmen sie alle in einer Reihe auf kurulischen Stühlen Platz. Es gibt schwerlich ein schöneres Beispiel f ü r einen jungen Mann, der sich f ü r den R u h m und das Gute begeistert. D e n n die Bilder der wegen ihrer Trefflichkeit hochgerühmten Männer dort alle versammelt zu sehen, wie wenn sie noch lebten und beseelt wären, wen soll das nicht beeindrucken? Welcher Anblick könnte schöner sein als dieser? - Übrigens, wenn der Redner mit dem Lob des Mannes, der begraben werden soll, fertig ist, spricht er von den übrigen Toten, die anwesend sind, indem er bei dem Altesten anfängt, und nennt ihre Erfolge und Taten. Da so der Ruf der Trefflichkeit tüchtiger Männer stets erneuert wird, ist der R u h m derer, die eine edle Tat vollbracht haben, unsterblich, zugleich aber wird der R u h m derer, die dem Vaterland gute Dienste geleistet haben, der Menge bekannt u n d den N a c h k o m m e n weitergegeben. Was aber das wichtigste ist, die jungen Männer werden dazu angespornt, f ü r das Allgemeinwohl alles zu ertragen, u m nämlich ebenfalls des Ruhmes, der verdienten Männern folgt, teilhaftig zu werden."^
28 Zu den Ahnenmasken siehe n u n das W e r k von Harriet I. Flower: Ancestor Masks and Aristocratic Power in Roman Culture, O x f o r d 1996. 29 Polybios: Historien, VI 53-54. Ich übernehme die Ubersetzung von W. Kierdorf: Laudatio funebris. Interpretation und Untersuchungen zur Entwicklung der römischen Leichenrede, Meisenheim 1980, S. l f .
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Das ist eine in der gesamten Antike singulare Memorialpraxis. Es lohnt sie genauer anzusehen: 3 0 1. Das Leichenbegängnis inszenierte anschaulich die politische Binnenorganisation der Aristokratie: Präzise gaben sich die Ränge und der Status der Ahnen zu erkennen, nicht nur in der Amtstracht, sondern sogar in der abgestuften Anzahl der Liktoren, die jeden Ahnen begleiteten. D i e römische Aristokratie war in Rangklassen gegliedert. Ein gewesener Konsul gehörte der Rangklasse der Konsulare an; er war ranghöher als ein gewesener Prätor; die Prätorier wiederum hatten einen höheren Rang als gewesene Adile, diese ihrerseits waren ranghöher als gewesene Tribüne und Quästoren. D e r Rang eines Senators entschied darüber, welches Gewicht seine Stimme im Senat hatte; die Reihenfolge der Wortmeldungen im Senat erfolgte entlang der Rangklassen. U b e r den bloßen Konsularen standen die Zensoren; und die Triumphatoren überragten alle anderen. 2. D i e hierarchische Gliederung der T o t e n war endgültig. D e r hierarchische Aufbau war nicht nur im Diesseits gültig und notwendig, damit der Adel seine Handlungsfähigkeit behielt, sondern die Hierarchie galt über den T o d hinaus und ordnete die erinnerungswürdigen T o t e n . 3. Genauso wie die Lobrede (laudatio funebris)
mit dem ältesten Ahn
begann, genauso führte der älteste Ahn die Prozession der Ahnenmasken (imagines) an. D e r chronologische Stellenwert jedes einzelnen Ahnen war unverrückbar. Deswegen war das Ritual fast identisch reproduzierbar. Es veränderte sich bloß insoweit, als immer wieder eine einzelne Maske sich hinten an den Zug anschloß. Wären die imagines
nach
Rängen geordnet gewesen, dann hätte man den Aufbau der pompa jedesmal leicht verändern müssen. Das Ritual sollte sich jedoch noch viele Male genau auf dieselbe Weise wiederholen; denn derjenige Teil, den der aktuell lebende R ö m e r sah, war unverändert auch von seinem Urenkel
30 Das Ritual ist systametisch analysiert bei E. Flaig: Die Pompa funebris. Adlige Konkurrenz und annalistische Erinnerung in der Römischen Republik, in: G. O. Oexle (Hg.): Memoria als Kultur, Göttingen 1995, S. 115-148.
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so zu sehen. Die identische Wiederholung erleichterte die Einprägsamkeit der entscheidenden B o t s c h a f t e n ' des Rituals. 4. Je erfolgreicher eine Familie war und je mehr ihrer Mitglieder in höhere A m t e r aufstiegen, desto länger wurde die Serie der Ahnenbilder. Das familiäre Prestige konnte bei jedem Leichenbegängnis genau abgemessen werden: man brauchte nur abzuzählen, wer die meisten Triumphatoren, dann die meisten Zensorier, dann die meisten Konsuln hatte. Die Valerier, Claudier, Fabier und Cornelier konnten bei jeder pompa funebris demonstrieren, daß sie den Manliern, Ämiliern und Quinctiern überlegen waren. Die Ahnenmasken stellten somit das geronnene symbolische Kapital 3 1 einer römischen Adelsfamilie dar. Es empfahl sich, genau mitzuzählen, um immer wieder zu erfahren, wieviel symbolisches Kapital ein Geschlecht im Augenblick innehielt. 5. Die Prozession der Ahnen im Leichenzug stellte keine biologische Kette dar. Von den biologischen Vorfahren gelangte ein beträchtlicher Anteil nicht zur kurulischen Ädilität - dies auch bei sehr vornehmen und mächtigen Geschlechtern. Diese erfolglosen Ahnen tauchten überhaupt nicht auf, sie erhielten kein Bildnis und wurden folglich auch nicht
31 Dieser Begriff von Pierre Bourdieu bezeichnet denjenigen Vorteil einer bestimmten G r u p p e oder Person vor einer anderen, der weder ökonomischer noch direkt politischer Qualität ist und die Sphäre des Anerkanntseins berührt. Siehe: P. Bourdieu: Sozialer Raum und ,Klassen' - Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, F r a n k f u r t / M . 1985, S. 22f.; ders. [wie A n m . 15], S. 215, 235f. u. 255ff. Bei Bourdieu bezeichnet der Begriff allerdings eine Gesamtheit an Zeichen und Gesten, die immer wieder unter Risiken eingesetzt w e r d e n muß, u m als sozialer Vorteil reproduziert werden zu k ö n nen. Dieses Merkmal fehlt der Ahnenserie des römischen Adels; denn sie m u ß zwar immer wieder ,vorgezeigt' werden, kann aber nicht mehr verloren gehen. Das liegt daran, daß die römische Kultur einen großen Teil der sozialen Autorität nicht dem wechselnden Auf und A b von Prestigegewinn u n d Prestigeverlust überließ, sondern ihn streng formalisierte, kodierte, registrierte u n d tradierte. Sie entwickelte f ü r das symbolische Kapital ein reiches Repertoire an memorialen Symbolen und Zeremonien; d . h . wegen dieser besonderen Organisation und Leistung des kulturellen Gedächtnisses w u r d e das s y m b o l i s c h e Kapital' plötzlich unverlierbar. D e r Terminus bezeichnet in meiner U n t e r s u c h u n g also streng g e n o m m e n das ,geronnene' symbolische Kapital.
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repräsentiert. Sie schieden aus der adligen Erinnerung aus; pointiert gesagt: sie hörten ganz einfach auf, zu existieren.32 Die Ahnenserie in der Prozession war eine nach politischen Kriterien ausgewählte Minderheit der biologischen Vorfahren. Das Ritual schied gnadenlos die Erinnerungswürdigen von den Vergessenen. 6. Es war den zuschauenden jungen Adligen klar, daß nur ein Teil ihrer Vorfahren hier vorbeidefilierte, daß eine stattliche Quote ihrer Verwandten es nicht bis zu einem kurulischen Amt geschafft hatte und daher der Vergessenheit anheimgefallen war. Diese Absonderung der unvergessenen Vorfahren von den vergessenen hatte einen nachhaltigen Mahnwert: sie schärfte allen zusehenden Römern ein, daß sie äußerste Anstrengungen auf sich nehmen mußten, um diesem Schicksal zu entgehen. Um in der Ämterleiter so weit zu kommen, bis man das Anrecht auf ein individuelles Bildnis und auf ein bleibendes Gesicht erhielt, mußte man den sozialen Anforderungen in hohem Maße genügen. 7. Die vorbeidefilierenden Ahnen waren Vorbilder für die Familienangehörigen: „Die im Leichenzug mitgeführten imagines stellen die explizite Inkarnation der Verhaltensregeln dar, die von den Nachfahren gefordert werden". 33 In chronologischer Reihenfolge wurden diese Vorbilder gezeigt, benannt und in der Leichenrede (laudatio) wegen ihrer Taten gerühmt. Die gesamte Zuschauerschaft, ob adlig oder nichtadlig, frischte bei der pompa funebris eines prestigereichen Geschlechtes das eigene historische Wissen auf. 8. Dieses historische Wissen war sozusagen genealogisch gerastert; und es gab kein anderes genealogisches Gedächtnis als das, imagines zu besitzen. 34 Die Vergangenheit war keine abstrakt bleibende verstrichene 32 Sie behielten jedoch ihren Platz (falls sie Kinder hinterließen) im familiären Ahnenkult. Sie blieben drei Generationen lang dei parentes. Danach schieden sie auch aus dem Ahnenkult aus. Siehe F. Börner: Ahnenkult und Ahnenglaube im Alten Rom, Leipzig 1943, S. 6. 33 M. Bettini: Familie und Verwandtschaft im antiken Rom, Frankfurt/M. 1992, S. 150. 34 F. Dupont: Les morts et la mémoire: le masque funèbre, in: La mort, les morts et l'au-delà dans le monde romain. Actes du Colloque de Caen, hrsg. von F. Hinard, Caen 1987, S. 167-172, hier S. 168.
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Zeit, sie materialisierte sich sichtbar in der Vielfalt der imagines, deren Namen verknüpft waren mit Daten und Taten. Die Prozession der Ahnen lieferte demnach die Matrix für das historische Wissen in Rom. Das Wissen, das in der Leichenrede reproduziert und mit Hilfe der personifizierten Ahnen an mnemische Signale gebunden wurde, hatte direkte Auswirkung auf die Gehorsamsbereitschaft des Volkes. Immer wieder rememoriert, stärkte es das Vertrauen in die Dauerhaftigkeit der römischen Ordnung und in die Stabilität der sozialen Hierarchie. 35 Es bestätigte den einfachen römischen Bürgern, daß die adligen Familien zur Gänze im Dienste der res publica standen, daß der Adel wie eh und je sich den Normen der politischen Kommunikation unterwarf und seinem Ethos treu blieb. Indem es dieses Vertrauen stärkte, half es mit, den einzigartigen Gehorsam der römischen nichtadligen Schichten auf Dauer zu stellen.
B) Exemplifizierung. Was wird dabei vergessen? Politisches Handeln in Rom war prinzipiell auf den Konsens hin orientiert: auf den Konsens des einzelnen Adligen mit der gesamten Senatorenschaft und auf den Konsens des Senats mit dem Volk. Dieser Umstand wirkte sich auf das historische Wissen aus, auf seine politische Verwertung. Denn eine dermaßen konsensorientierte Politik war angewiesen auf viele unbestrittene, für den ganzen Adel verbindliche Fixpunkte. 36 Das Ritual kam
35 Siehe dazu Flaig [wie Anm. 30] und K.-J. Hölkeskamp: Exempla und mos maiorum. Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis der Nobilität, in: H.-J. Gehrke und A. Möller (Hg.): Vergangenheit und Lebenswelt. Soziale Kommunikation, Traditionsbildung und historisches Bewußtsein, Tübingen 1996, S. 301-338. 36 Zum Verhältnis von Konsens und dem Repertoire an aktualisierbaren Referenzen in der Vergangenheit siehe Theissen, der eine einleuchtende Unterscheidung zwischen Tradition und kulturellem Gedächtnis vornimmt. (G. Theissen: Tradition und Entscheidung. Der Beitrag des biblischen Glaubens zum kulturellen Gedächtnis, in: J.Assmann und T.Hölscher: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, S. 171-196.)
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diesem Bedürfnis in zweifacher Hinsicht entgegen: Erstens lieferte es lauter präzise Daten. Das historische Wissen, das auf diese Weise aktualisiert und rememoriert wurde, enthielt - im Unterschied zu jenem historischen Wissen, welches bei den Griechen politisch verwandt wurde - eine enorme Menge unstrittiger Daten, die sich außerdem über ein lange Zeitstrecke verteilten. Zweitens lieferte es ,Vorbilder', und das waren in Rom die exempla. Exemplum heißt hier: eine vorbildhafte und nachahmbare Handlung eines konkreten Individuums in einer bestimmten Situation; das exemplum. war an einen Namen und an ein fixiertes Datum gebunden. 37 Da man in den politischen Kontroversen mit exempla argumentierte, mußten diese verbindlich sein für den gesamten Adel. Die Verbindlichkeit war entscheidend für das Gelingen der politischen Kommunikation: indem alle auf dieselben exempla Bezug nahmen, war es fast ausgeschlossen, daß gänzlich entgegengesetzte politische Vorstellungen auftauchten. Die römische Manie, in allen politischen Fragen mit exempla zu argumentieren, verstärkte die Konsensfähigkeit, auch wenn die Rivalitäten es oft schwer machten, einen Konsens herzustellen. Aber gleichzeitig waren die exempla eine wirksame Bremse für politische Innovationen. Man konnte zwar exempla so deuten, wie man es im Augenblick brauchte, doch es ließen sich eben keine neuen erzeugen. Bestimmte Handlungen, die ohnehin nicht konsensfähig waren, blieben immer ,illegitim', weil kein Exempel sie abdecken konnte. Als der Volkstribun Tiberius Gracchus einen Kollegen hatte abwählen lassen, und sich für den unerhörten Schritt rechtfertigen wollte, da konnte er sich unglücklicherweise auf kein exemplum berufen, sondern mußte sich mit Analogien behelfen. 38 Dieser Erinnerungsmodus, der exemplarisch und annalistisch verfährt, beinhaltet ganz spezifische Ausblendungen, die - solange nicht andere Faktoren dem entgegenwirken - zu einem besonderen Vergessen führen: 37 Man kann das römische Exemplum als einen historischen Sonderfall von Kanonisierung im Sinne von Assmann [wie Anm. 2], S. 103ff., auffassen. Siehe dazu H. Kornhardt: Exemplum. Eine bedeutungsgeschichtliche Studie, Diss. Göttingen 1936. 38 Plutarch: Die Gracchen, 15.
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1. Dieser Erinnerungsmodus läßt alle Nichtadligen, alle Frauen und alle erfolglosen Adligen dem Vergessen anheimfallen. 2. In ihm wird nur ein sehr schmaler Ausschnitt von dem, was eine Person war, bedeutsam: die Daten der Laufbahn und die ,Taten'. Alles was darüber hinaus geht, wird nicht im formalisierten Erinnern aufbewahrt. Übrig bleiben in den meisten Fällen wenige Daten, von Vorfahr zu Vorfahr fast völlig gleichartig (sie werden so gut wie immer erst Quästor, dann Ädil, dann Prätor oder gar Konsul; sie
gewinnen
Schlachten, unterzeichnen Friedensverträge und bringen Anträge vor die Volksversammlung). Und das macht die Personen so verzweifelt ähnlich. Die distinkten Konturen der Individuen verschwimmen. Skelette ähneln sich. Was an den einzelnen sonst noch interessant wäre, wird nicht erinnert, geht daher dem kulturellen Gedächtnis verloren. Und deswegen wirken alle diese Senatoren so merkwürdig gleichartig. Dabei haben sie sich sicherlich so weit voneinander unterschieden wie Cäsar von Pompeius. Erst der biographische Erinnerungsmodus, der auf dem literarischen Feld entsteht und ganz anders funktioniert als der annalistische, färbt die römischen Adligen individuell'. 3. In diesem Erinnerungsmodus konnte man durch Weglassen von Vorfahren - z. B. der durch Heirat erworbenen Masken - politische Distanz zu anderen Familien ausdrücken. Bei Spannungen und Gegnerschaft konnte man die alten Verschwägerungen buchstäblich ,vergessen'. Die Adressaten des Rituals verstanden diese Botschaft und die enthaltene Drohung. Dieses „generative Gedächtnis" 3 9 ließ zu, daß man nötigenfalls die Ahnen selektierte wie man sie brauchte. Cicero beriet einen jungen Adligen aus dem Geschlecht der Papirii Paeti, welche Ahnenbildnisse dieser in seinem Atrium aufstellen solle: eine ganze Reihe plebeiischer Papirii - aus dem Zweig der Turdi und dem der Carbones solle er weglassen, die hätten sich schimpflich benommen. Er empfahl, die imagines dreier agnatischer Seitenlinien - die Mugillani, die Cursores und die Masones - in den Stammbaum aufzunehmen, diese waren 39 J. Goody: Mémoire et apprentissage dans les sociétés avec et sans écriture, in: L'homme 17,1977, S. 29ff.
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Patrizier: „Alle diese Patrizier sollst Du als Deine Ahnen betrachten!" 40 Man erfand seine Genealogie nicht, aber man manipulierte sie. Dieses Verhalten berührte eine heikle Stelle im kulturellen Gedächtnis der römischen Aristokratie. Das Weglassen von Ahnenbildern war eine hochpolitische Angelegenheit. Denn es war ein Bekenntnis zu Normen und Werten sowohl der Familie als auch der gesamten Aristokratie. Da die Ahnenbilder normativ aufgeladen waren, ließ sich das Dilemma gar nicht vermeiden. Nicht immer war der aristokratische Konsens herstellbar, wenn es um die Beurteilung eines Adligen ging. Ob ein bestimmtes Handeln ,vorbildlich' wurde oder nicht, ergab sich gelegentlich erst durch schwere Auseinandersetzungen. Als 340 v. Chr. der Konsul Manlius Torquatus seinen Sohn, der als Anführer der Reiterei gegen seinen Befehl die Schlacht eröffnet und gewonnen hatte, hinrichten ließ, gab er mit dieser harten Handhabung seiner patria potestas ein exemplum triste, das von der römischen Jugend lange nicht akzeptiert wurde. 41 War der Kampf um die Bewertung einer Handlung jedoch entschieden, dann wog ein exemplarisches' Handeln schwer. Denn hinfort konnte man es immer wieder zitieren und für eigene Zwecke verargumentieren. Da die Exemplifizierung darauf abhob, normative Verbindlichkeit zu personifizieren, stieß ihr dasselbe zu wie dem typologischen Verfahren, mit dem die jüdische Gedächtniskultur operiert: die exempla gehen ihrer Einbettung in eine konkrete historische Situation verlustig, und zwar desto mehr, je mehr sie sich mit Bedeutsamkeit aufladen, an argumentativer Relevanz gewinnen und zu Zitaten schlechthin aufsteigen.42 Der Zeitindex eines Exempels mußte dabei nicht abhanden kommen, da die Zeitachse entlang der Konsullisten und der Jahreszählung jederzeit aktivierbar war. Aber er entwertete sich tendenziell, weil die postulierte Wiederholbarkeit
40 Quorum
quidem
omnium patriciorum
imagines habeas volo (Cicero: Ad
familiares,
9.21). 41 Livius: Ab urbe condita, 8, 7.17. 42 J . Ebach: (Schrift) und Gedächtnis, in: H . L o e w y und B. Moltmann (Hg.): Erlebnis Gedächtnis
- Sinn. Authentische
und konstruierte
N e w Y o r k 1996, S. 1 0 1 - 1 2 0 , hier S. 123 u. 126f.
Erinnerung,
-
Frankfurt/M. und
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des exemplarischen Verhaltens keine Rücksicht nahm auf die Verschiedenheit der historischen Situationen. Ein dermaßen von Ritualisierungen
gezeichnetes
Erinnern wie das
Zitieren eines Exempels fördert keinesfalls das Verständnis der Vergangenheit, liegt weitab von jeglichem Motiv, Aufschlüsse über sie zu gewinnen. Das Zitieren enthistorisiert die Ereignisse. 4 3 D i e R ö m e r haben ihre V e r gangenheit nicht besser verstanden' als die Griechen, obschon sie viel präzisere Daten der Vergangenheit in ihrem offiziellen poltitischen Gedächtnis erinnerten und zitierten. E h e r trifft das Gegenteil zu. Gerade weil bei den Griechen das offizielle Gedächtnis von mythischen Schematisierungen organisiert, ungenau, widersprüchlich und umstritten war, deswegen war kein Bild der Vergangenheit herstellbar, das verbindlich hätte werden können für alle Gruppen einer Polis oder gar für alle kulturellen Gebiete (Bildniskunst, Poesie, Historiographie, politische Rhetorik). Es konnten immer neue Varianten auftauchen, andere Sehweisen zur Geltung k o m men. Diese Erschwernis, im politischen R a u m selektierte Vergangenheitselemente (fiktive oder reale) zu kanonisieren, eröffnete die Chance, daß kritische Diskurse sich zu eigenen Wissensgebieten verfestigen konnten wie etwa die Historiographie und die politische Philosophie - , die gemäß eigenen Wahrheitskriterien die Vergangenheit methodisch zu erschließen suchte. Genau das ist in R o m nie geschehen. Kein historiographischer D i s kurs konnte auftauchen, der grundsätzlich vom senatorischen Selbstverständnis abwich. Auch die unter literarischen Gesichtspunkten entfaltete römische Historiographie - wie z . B . Sallust, Livius und Tacitus - blieb an den fundamentalen Maximen des senatorischen Selbstverständnisses haften; darum konnte sie nie die theoretische und methodische E b e n e etwa von Thukydides oder Polybios erreichen. Anders gesagt: der starke Vergangenheitsbezug des aristokratischen Selbstverständnisses verhinderte die H e r ausbildung einer relativ autonomisierten Geschichtsschreibung.
43 D . Neuhaus: Gottes-Dienst als Erinnerungspraxis. Sinn und Gestalt des Erinnerns in Religion und Kultur, in: Loewy und Moltmann, ebd., S. 174 ff.
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C) Verdammte Memoria - und doch nicht vergessen Manchmal stellte sich kein Konsens ein; dann gab es zwei Beurteilungstraditionen zu einer Person. Das passierte mit Gaius Flaminius, der 232 v. Chr. ein Ackergesetz gegen den Widerstand der Nobilität durchbrachte. Und es geschah auch mit den beiden Volkstribunen Tiberius und Gaius Gracchus und in der unruhigen Zeit danach mit vielen anderen.44 Der Dissens über solche exempla tangierte den Vorrat an zitierbaren Figuren von symbolischer Prägnanz, und damit die argumentative Basis für die Konsensfähigkeit des römischen Adels. Denn es ging ja darum, welcher Bestand an exempla zitierfähig war. Es ist von daher zu verstehen, daß die römische Republik gelegentlich mit einem harschen Akt in die familiäre Erinnerungspraxis eingriff, was die griechischen Städte in der Weise nicht taten: über Römer, die zu Staatsfeinden erklärt worden waren, konnte der Senat eine damnatio memoriae verhängen. Die damnatio memoriae beinhaltete je nach Einzelfall: das Begräbnisverbot, das Verbot, den betreffenden Namen nochmals in der Familie zu gebrauchen, das Verbot, seinen Namen auf offiziellen Dokumenten (Kalender, Inschriften) zu gebrauchen oder stehen zu lassen (daher die Rasuren in Inschriften), das Verbot, seinen Geburtstag zu feiern, das Verbot, seine Bildnisse aufzustellen oder überhaupt zu bewahren. Seltsamerweise war die damnatio memoriae aber kein verordnetes Vergessen. Es war sehr wohl möglich, den so Verfemten literarisch zu erwähnen, seine Biographie zu schreiben. Die damnatio memoriae zielte also nicht darauf, diesen vollkommen vergessen zu machen. Sie strich ihn lediglich aus dem Inventar der zitierfähigen exempla. Sie machte aus ihm sozusagen ein exemplum schlechten Verhaltens, so wie Coriolan ein schlechtes' exemplum war. Solche negativen Gestalten wurden zwar auch unentwegt erinnert, aber eben nicht als ,Vorbilder'. Negative exempla wurden somit negativ semantisiert, aber nicht per se vergessen. Im Unterschied zu den Griechen vergaßen die Römer verlorene Schlachten nicht, sondern machten daraus Unglückstage, die sie im Gedächtnis
44 Siehe dazu J. Martin: Die Populären
in der Geschichte
der späten Republik,
Freiburg 1965.
67 bewahrten; 45 ebenso behielten sie schwere innenpolitische Zwiste (Umsturzversuche, Konfrontationen zwischen Adel und Volk) im Gedächtnis und nahmen ihre Beilegung in offizielle Feiern auf. In diesem Sinne muß man auch die damnatio memoriae verstehen; sie löschte das Andenken nicht, sondern semantisierte es negativ. Die damnatio memoriae war sozusagen jedesmal ein Zitiergesetz, welches das Inventar der positiv zitierfähigen exempla schützte. 46 Bei schwerem Dissens half auch das nicht, weil die momentan unterlegene Gruppierung diesen Ausschluß aus dem Inventar der exempla nicht hinnahm und bei der nächsten Gelegenheit versuchte, die damnatio memoriae de facto unwirksam zu machen. Der spätere Diktator Julius Cäsar tat so etwas auf ganz spektakuläre Weise, als er seine Tante väterlicherseits bestattete. Sie war die Frau des Gaius Marius gewesen; über den hatte Sulla eine damnatio memoriae verhängen lassen. Cäsar durchbrach diese und ließ das Ahnenbildnis des Onkels in der pompa funebris seiner Tante mitführen. 47 Er hatte Glück, das Volk begrüßte jubelnd diesen demonstrativen Angriff auf die sullanische Ordnung.
6. Ein politisch verordnetes Vergessen: Die athenische Amnestia von 403 v. Chr. Wenn die damnatio memoriae kein politisch verordnetes Vergessen war, wie sieht dann ein solches Vergessen aus? Dazu müssen wir von Rom nach Hellas gehen. Das Politische bei den Griechen ist ein Feld verordneten Vergessens - so Nicole Loraux, die glänzende Studien darüber vorgelegt hat. 48 Das poli45 Plutarch: Lucullus, 27. 46 Die damnatio memoriae läßt sich auf der Skala der Ausschließungstechniken in die Nähe dessen rücken, was Assmann „normative Inversion" nennt. 47 Plutarch: Cäsar, 5, 2 f. 48 N. Loraux: L'oubli dans la cité, in: Le Temps de la Réflexion 1, 1980, S. 213-242, hier S. 228 ff. Allgemeiner siehe auch dies., Pour quel consensus, in: Politiques de l'oubli. Le genre humain Oktober 1988, S. 9-23.
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tisch verordnete Vergessen hatte H o c h k o n j u n k t u r im klassischen Griechenland. W a r u m ? In den griechischen Stadtstaaten tobten immer wieder Bürgerkriege; 4 9 stabile Staaten wie etwa Athen waren selten. Solche Bürgerkriege endeten meist damit, daß die Obsiegenden die Unterlegenen vertrieben. Aber manchmal bemühten sich beide Seiten, weiterhin in der Heimatstadt zusammen zu leben. U n d dann kam es zu einem sonderbaren Ritual. Die soeben noch verfeindeten Bürger versammelten sich, opferten den Göttern und hoben dann die H a n d , um einen Eid zu schwören. Dieser Eid enthielt in der klassischen Zeit immer die Klausel „fxri ^vrioLxaxrioco" „ich werde nichts Böses erinnern". Einen solchen Schwur leisteten z.B. 425 v. Chr. die Bürger von Megara, um ihre Polisgemeinschaft wieder herzustellen. 50 Vielleicht reicht diese Praktik in die archaische Zeit hinauf: in der O d y s see beauftragt Zeus die Athene, die Fehde beizulegen, zu der es wegen der E r m o r d u n g der Freier gekommen ist; die Göttin solle die Ithakesier ogxia Jtiaxa (Treueide) schwören lassen. Die Götter werden eine 8X^015 (ein Vergessen) des Massenmordes schaffen, und die Ithakesier werden in Frieden leben. 5 1 Die Betroffenen müssen hier noch nicht schwören, das Geschehene zu vergessen. Aber am Vergessen hängt der innere Friede dieser noch schwach institutionalisierten Polis. U n d dieses Vergessen liegt in den H ä n d e n der Götter. Dagegen machte die spätere Schwurpraxis - so beim oben genannten Fall von Megara - das Vergessen selber z u m Gegenstand des Eides; man schwur, etwas Bestimmtes nicht zu erinnern. Man tilgte die Erinnerung an die Bluttaten während des Bürgerzwistes aus, damit die Bürger wieder zusammen leben konnten. Aber w a r u m die Erinnerung auslöschen? Weil die griechische Kultur eine Kultur der Rache war. D e r enge semantische Zusammenhang, den die griechische Kultur herstellt zwischen der Unvergessenheit u n d dem Wiederaufbrechen von 49 Siehe dazu H.-J. Gehrke: Stasis: Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jh. v. Chr., München 1985. 50 Thukydides: Der Peleponnesische Krieg, IV 74.2. Siehe dazu Gehrke [wie Anm. 49], S. 262 A.7 und vor allem Loraux, L'oubli dans la cite [wie Anm. 48]. 51 Siehe Odyssee, XXIV, 481 ff.
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Feindschaften, findet seinen Grund in den sozialen Praktiken. 5 2 Die E r innerung an Erlittenes provoziert im Kontext der griechischen Kultur stets Rache; die Verzeihung findet in einer so ausgeprägten Vergeltungsethik keinen Platz. Kein Racheverzicht, wie ihn altorientalische Ethiken forderten, kein „Mein ist die Rache, spricht der H e r r " ; und ein Versöhnungsfest, bei welchem jeder jeden um Vergebung bittet wäre in der hellenischen Kultur lächerlich; hier bestand Rachepflicht. 5 3 Ist es in der Lebensführung der ägyptischen Weisheit geradezu Ehrensache, sich nicht zu rächen - wie ähnlich, obwohl mit minderer Betonung, in der israelitischen - , so macht das Griechische sogar etymologisch aus der Rache geradezu eine Ehrwahrung. W e r sich nicht rächte, mußte damit rechnen, daß seine Ehre büßte. 5 4 Was das bedeutet, darüber belehren uns in grausiger Deutlichkeit ethnologische Untersuchungen über die Racheregeln in Ostanatolien, Korsika und vor allem
Albanien. 5 5
Rachekulturen
pflegen
brutale
und
sehr
intensive
Mnemotechniken. W i e sollten die Friedenswilligen nach einem Bürgerkrieg wieder zusammenleben, in einer Kultur, in der Verzeihung kaum möglich war - weil der Ehrenkodex das nicht zuließ? Sie konnten nur ein allgemeines Vergessen schwören, welches die Rache abschneiden sollte. D e r Schwur sollte verhindern, daß die geschädigten Familien Prozesse gegen
diejenigen
anstrengten,
die ihnen
in der
Bürgerkriegssituation
schwerstes Leid zugefügt hatten. Gerade solche Racheprozesse pflegten die innenpolitischen Gegensätze erneut anzuheizen und den soeben mühsam erreichten inneren Frieden zu destabilisieren; und dann konnte der Bürger-
52 Siehe dazu N . Loraux: L'âme de la cité. Reflexions sur une ^Pu/1! politique, in:
L'Ecrit du Temps 14/15 1987, S. 35-54, hier S. 37f.; D. Cohen: Law, Community in Classical Athens, Cambridge 1995, S. 87-118.
Violence
and
53 Loraux, L'oubli dans la cité [wie Anm. 48]; H . - J . Gehrke: Die Griechen und die Rache. Ein Versuch in historischer Psychologie, in: Saeculum
38 (1987) S. 1 2 1 - 1 4 9 ;
Cohen, ebd. 54 Siehe dazu Gehrke, ebd., S. 130ff.
55 J. Black-Michaud: Cohesive Force. Feud in the Mediterranean and the Middle East, O x f o r d 1975, S. 1 1 6 - 1 4 0 , 1 8 4 - 1 9 4 ; W . Schiffauer: Die Bauern
von Subay.
in einem türkischen Dorf, Stuttgart 1987, S. 50-61; St. Wilson: Feuding, banditry in nineteenth century Corsica, Cambridge 1988, S. 91-128.
Das
conflict
Lehen
and
70
krieg rasch wieder aufflackern. U m es pointiert zu sagen: Eben weil die Griechen keine Versöhnung in dem Sinne wie die jüdisch-christliche Tradition anerkannten, praktizierten sie die Wiederherstellung der Polisgemeinschaft durch ein gründendes Vergessen. 5 6 Doch damit gewann ein solcher Eid unmittelbar konstituierende Kraft. Was die Polis nach einem Bürgerkrieg zusammenhielt, war eben dieser Eid und der unbedingte Wille, ihn zu befolgen - eventuell unter Einsatz rigoroser Mittel, falls es sich jemand einfallen ließ, dagegen zu verstoßen. Ein eindringliches Beispiel dafür bietet die Beilegung des athenischen Bürgerkrieges nach dem peloponnesischen Krieg, 403 v. Chr. Nachdem der spartanische König Pausanias beide Bürgerkriegsparteien im Sommer 403 zum Frieden genötigt hatte, schwuren die athenischen Bürger (0,r| |ivr|aixaxrioeiv - nichts Böses zu erinnern. 5 7 Und diese Wiederherstellung der politischen
Gemeinschaft in Athen war erfolgreich und von
Dauer,
während sie in so vielen anderen Städten bloß der Auftakt zu erneuten inneren Kämpfen war. Sie gelang auf so vorbildliche Weise, daß das Wort, 56 Gibt es für eine Gemeinschaft von Schuldlosen eine andere Möglichkeit? Die Polis stellt ihre Reinheit stets durch ein Sündenbock-Ritual wieder her (R. Parker: Miasma. Pollution and Purification in Early Greek Religion, Oxford 1983, S. 267 ff). Schuldlose haben einander weder etwas vorzuwerfen noch - und hier hegt die fundamentale Differenz etwa zur israelitischen Praxis beim Versöhnungsfest - sich einander zu vergeben. Siehe im Gegensatz dazu A. P. Dorjahn: Political Forgiveness in Old Athens. The Amnesty of 403 b. Ch., New York 1970, Reprint der Ausg. von 1946. Piaton, Menexenos 244b charakterisiert jene Amnestia mit der singulären Formulierung „wir üben gegeneinander Nachsicht". Berücksichtigt man, daß Piaton die Vergeltungsethik radikal beiseite räumt, um überhaupt für die Fundamente seiner politischen Philosophie Platz zu schaffen, dann wird die Formulierung verständlich; sie ist entschieden platonisch, und entstammt nicht der griechischen Ethik. Der Witz war ja, daß die Athener vergessen mußten, weil sie gar nicht bereit waren, gegeneinander Nachsicht zu üben. Auch hier fassen wir bei Piaton einen Einbruch orientalischer Ethik in das griechische Denken. Siehe dazu E. Flaig: Ehre gegen Gerechtigkeit. Adelsethos und Gemeinschaftsdenken in Hellas, in: J. Assmann, B. Janowski und M. Welcker (Hg.): Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, 97-140. 57 Andokides: Reden, I 90.
Soziale Bedingungen
des
Vergessens
71
mit dem man den Vorgang bezeichnete - Amnestia - , schon in der Antike zu einer politischen Formel wurde. Aber diese erfolgreiche Amnestia hätte rasch verspielt werden können. Natürlich versuchte einer der siegreichen Demokraten sofort nach dem Eid und nach der Wiederherstellung der Demokratie, gegen einen politischen Feind gerichtlich vorzugehen, unter klarer Verletzung seines Eides. Was dann passierte, darüber berichtet Aristoteles: „Damit hat Archinos offensichtlich politisch klug gehandelt und auch später [...] als er einen, der anfing, an vergangene Untaten zu erinnern, vor den Rat führte und durchsetzte, daß er ohne Urteil hingerichtet wurde. Er plädierte dafür, man solle jetzt zeigen, ob man die Demokratie retten und die Eide einhalten wolle; denn wenn man diesen Mann freilasse, ermuntere man auch die anderen dazu, wenn man ihn dagegen hinrichten lasse, könne man für alle ein Exempel statuieren. Damit drang er auch durch. Nachdem der Mann hingerichtet war, rührte niemand mehr später die alten Untaten auf [...]."
58
Aristoteles rechnet das einem der damaligen athenischen Politiker, Archinos, als löbliche Tat an. Dieser wählte eines der merkwürdigsten Verfahren der attischen Rechtspraxis, die Apagogè: der Täter wird ergriffen und sofort zur Vollstreckung abgeführt. 5 9 In der Aufeinanderfolge von a) Flagranz des Delikts, b) Bedrohung der Öffentlichkeit durch das Delikt und c) prompter Vollstreckung gemahnt die Apagogè ganz unverhohlen an die Lynchjustiz. 6 0 Nicht ohne Grund: in kaum einem anderen Verfahren erfährt die Gemeinschaft dermaßen intensiv ihre Eintracht wie bei lynchähnlichen Vorgängen. 6 1 Eine
lynchähnliche
Hinrichtung
schrieb
das ,Tabu'
ins
kollektive
Gedächtnis ein. Selbstredend gelang eine solche Tabuisierung nie vollständig; doch das berührte die Stabilität der neu konstituierten politischen Verhältnisse nicht. Die Tabuisierung bewirkte, daß diejenigen, die sich über sie 58 Aristoteles: Der Staat der Athener, 40. 59 Siehe dazu L. Gernet: Notiz zur 22. Rede, in: Lysias. Discours, tome II, Paris 1926, S. 82 f. 60 L. Gernet: Sur l'exécution capitale, in: ders., Droit et Institutions en Grèce Antique, Paris 1982, S. 195-211. 61 Dies hat Girard [wie Anm. 9], S. 137ff. u. 413ff. herausgearbeitet.
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hinwegsetzen wollten, das nicht geradewegs zu tun wagten. Sie mußten ihre Anklagen an den Punkten vorbeikonstruieren, die von der Amnestie abgedeckt waren; sie mußten andere Anklagepunkte vorbringen, und mit denen wurden die Gerichte leicht fertig. Diese Nötigung, ungehbare oder chancenlose U m w e g e einzuschlagen, genügte zur Entschärfung der Brisanz, reichte aus, damit die Athener den politischen Alltag bewältigten. D a s , k o l l e k t i v e Gedächtnis' der Bürgerschaft kollidierte folglich mit dem individuellen Gedächtnis sehr vieler Athener. Diese waren gezwungen, essentielle Inhalte ihres individuellen Gedächtnisses zu unterdrücken, für das soziale Handeln wirkungslos zu machen. Wollen wir diese Spannung erklären, dann versagt das psychoanalytische Modell. D e n n eigentlich hätte doch die erzwungene Verdrängung und das verordnete Vergessen dazu führen müssen, daß ein Wiederholungszwang sich einstellte; bei den Athenern hätte bald wieder ein Bürgerkrieg ausbrechen müssen. D o c h es war genau umgekehrt: in jenen Städten, w o man zwar Vergessen schwur, dann aber sich nicht zum Vergessen zwang, eben dort dauerte es nie lange, bis man sich wieder bewaffnet gegenüberstand. D e r ,Wiederholungszwang' meldete sich dort, wo der Konsens der Bürger nicht ausreichte, um das Vergessen wirkungsvoll zu erzwingen. In Athen hingegen wiederholte sich der mörderische Bürgerkrieg nicht, und zwar deshalb nicht, weil die sozialen, politischen, institutionellen und symbolischen Mechanismen
stark
genug waren, um repressiv die schmerzlichen Gedächtnisinhalte aus der politisch relevanten Kommunikation abzudrängen. 6 2 Das kollektive Gedächtnis der Polis war also ein Resultat: alle Athener hatten auf ihr individuelles Gedächtnis so einzuwirken, daß sie mit dem Tabu leben konnten. Auch wenn viele gar nicht daran dachten, zu vergessen - es blieb ihnen auf Grund des hohen politischen Konsenses nichts anderes übrig, als ihre W o r t e zu kontrollieren. D a ß Aristoteles die Episode breit berichtet, läßt ermessen, welches politische Gewicht er ihr beilegt. Sein Augenmerk richtet sich auf die politische
62 Loraux [wie Anm. 52], versucht das psychoanalytische Modell auf den Bürgerkrieg und sein Vergessen anzuwenden, unter Benutzung der Kategorien ,Verdrängung' und ,Wiederkehr des Verdrängten'.
Soziale Bedingungen des Vergessens
73
Auswirkung jener Hinrichtung. Diese ist freilich keineswegs eine rein politische Handlung. Ihr lynchartiger Charakter berührt die sakrale Sphäre, insofern sie an die T ö t u n g eines Sündenbocks erinnert. 6 3 U n d das war den Athenern ein sehr bekanntes Ritual; sie trieben nämlich mindestens zwei menschliche Sündenböcke jährlich aus, beim Thergalienfest. 6 4 Die politische Praktik des Vergessenmachens fand ihr Gegenstück in der rituellen Ausschließung des ,Schuldigen', nämlich desjenigen, der an die Basis des neuen Konsenses tastete. Das verordnete Vergessen schloß eine genau umrissene Portion der politischen Erfahrung jedes Bürgers aus der Erinnerung aus, verwarf und verfemte sie; dem entsprach auf der E b e n e der politischen Semantik sehr genau die Verfemung eines eindeutig bestimmten, winzigen Teils der Gemeinschaft - in diesem Falle eines einzigen - , um die Gesamtheit zu entschulden. A u f der Ebene politischer Semantik stellen beide Praktiken Korrelate dar. Die exemplarische Abstrafung dessen, der als erster den Eid brach, 6 5 ist bedeutsam; die politische Gemeinschaft - in Gestalt des Rates der Stadt gesteht ein, wie sehr dieser Eid es ist, was sie zusammenhält. 6 6 Freilich: Die Amnestie bei den Griechen ist eine Amnesie, ein Erinnerungsverlust. G e schehenes wurde aus dem offiziellen und öffentlichen Erinnern ausgelöscht; damit blieb eine stattliche Menge von verübtem Unrecht außerhalb jeglicher Verfolgung. Dabei war völlig unerheblich, daß jener Hingerichtete vielleicht Genugtuung für schweres Unrecht verlangte. D e r Schwur hatte den Weg zur Erlangung von Gerechtigkeit verbaut. Y . H . Yerushalmi vermutet eben 63 Jede Vollstreckung der Todesstrafe kann als Neugründung der Gemeinschaft gelesen werden (Girard [wie Anm. 9], S. 413 ff.). Doch manche Hinrichtungen sind es im eminenten Maße, sobald nämlich die jeweilige Gemeinschaft ihre eigene Kohäsion die Respektierung derjenigen Regeln, ohne die sie sich sofort entzweien würde - in symbolischen oder sonstwie expliziten Zusammenhang mit der Vollstreckung bringt. 64 J. Bremmer: Scapegoat Rituals in Ancient Greece, in: Harvard Studies in Classical Philology 87, 1983, S. 299-320. 65 Der Hingerichtete verstieß gegen kein Gesetz, sondern gegen den Eid (P. Krentz: The Thirty at Athens, Ithaca und London 1982, S. 107ff.; Dorjahn [wie Anm. 56], S. 29). 66 N. Loraux: De l'amnistie et de son contraire, in: Usages de l'ouhli (Colloque de Royaumont), Paris 1988, S. 23-45.
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das: der Gegenbegriff zum Vergessen sei vielleicht gar nicht das Erinnern, sondern die Gerechtigkeit? 6 7 Trifft das zu, dann ist jegliches politisch verordnete Vergessen von höchster Brisanz; denn es zerreißt den Vorhang, der den Zugang zur Frage verborgen hält, welchen Preis man zu zahlen bereit ist für welchen Konsensus. An diesem Preis bemißt sich, welcher politischer Identität man im extremsten Falle gehorcht. Und das nicht zu wissen kann in den pluralistischen Gesellschaften der Moderne heilsam sein.
7. Eine verlorene Gründungsgeschichte für die athenische Demokratie Gründungsmythen spielen eine immense Rolle für das Selbstverständnis ganzer Nationen: Was wäre die freie Schweizer Konföderation ohne den Rütli-Schwur? Was wäre Israel ohne den Auszug aus Ägypten? Was die U S A ohne die Unabhängigkeitserklärung? Was Frankreich ohne die Revolution und den Sturm auf die Bastille? Mit dem Gründungsmythos setzt sich eine Gruppe, oder gar eine G r o ß gruppe, eine Nation, einen absoluten Anfang, d.h. meistens eine Neukonstituierung von absoluter Geltung. Dieser absolute Anfang garantiert die Identität der gesamten Gemeinschaft, stiftet ihre Identität und sichert sie im Krisenfalle. Ihn anzugreifen kann politisch gefährlich sein. Der Gründungsmythos mag sehr nahe an der historisch rekonstruierbaren Wirklichkeit liegen, wie z . B . die Unabhängigkeitserklärung
der
U S A . Doch ob er auf wahren Begebenheiten beruht, oder nicht, spielt für seine Wirksamkeit keine Rolle. O b wahr oder unwahr, Gründungsmythen wirken, weil das gründende Ereignis semantisch bis zum Bersten aufgeladen ist. Und diese Aufladung mit Bedeutung nimmt nicht ab, solange der Konsens der betreffenden Gemeinschaft bestehen bleibt. Freilich ist es für den Kulturwissenschaftler etwas anderes, ob der Gründungsmythos nahe an der rekonstruierbaren Wirklichkeit liegt, oder ob er schlicht und einfach 67 Yerushalmi [wie Anm. 12], S. 20.
Soziale Bedingungen des Vergessens
75
eine Legende ist. Die Gründungslegende setzt meist voraus, daß anderes auf rigide Weise ausgeblendet wurde - also ein massives Vergessen. Als Beispiel dafür stehe hier das demokratische Athen der klassischen Zeit. Folgt man dem griechischen Historiographen Herodot und den politischen Analysen des Aristoteles, dann wurde die Polis Athen mit den Reformen des Kleisthenes 508/507 demokratisch. 68 Doch die offizielle Tradition der athenischen Polis feierte ein anderes Datum und ein anderes Ereignis. Sie gründete den Ursprung ihrer demokratischen Ordnung auf eine Legende besonderer Art. Sie verehrte die Tyrannentöter Aristogeiton und Harmodios als die Befreier Athens. Vor der Zerstörung Athens 480 v. Chr. durch Xerxes stand auf der Agora eine auf öffentliche Kosten von Antenor errichtete Statuengruppe der Tyrannentöter; schon 477 wurde an Stelle der von Xerxes verschleppten Statuen eine neue Gruppe von Kritios und Nesiotes aufgestellt. Bis tief ins 4. Jahrhundert waren diese beiden die einzigen Bürger, deren Statuen auf der Agora aufgestellt waren. Ihre Nachfahren erhielten besondere Privilegien. Ihr Grab hatte einen prominenten Platz im demosion sema. Der Polemarch brachte den Tyrannentötern Totenopfer, als hätten sie den Status von Heroen. Ferner wurde ihre Tat in Liedern gefeiert - in mindestens zwei Liedern gelten sie als die Befreier Athens oder gar als diejenigen, die Athen isonom - rechtlich gleich gemacht hätten. 69 68 Legt man streng politologische Kriterien an, dann wurde die Demokratie in Athen erst mit den Reformen des Ephialtes 4 6 3 / 2 institutionalisiert. Siehe dazu J . Martin: V o n Kleisthenes zu Ephialtes. Zur Entstehung der athenischen Demokratie, in: Chiron
4, 1974, S. 5 - 4 2 . Die Auslöschung der realen Gründer aus dem politischen
Gedächtnis zeigt sich eklatant bei Ephialtes. Derjenige Politiker, unter dessen Führung 462 v. Chr. der Areopag entmachtet wurde und der somit jene Ordnung durchsetzte, die - wahrscheinlich von den Gegnern -
den N a m e n
Demokratie
erhielt, wurde nicht nur ermordet, sondern geradezu aus dem Gedächtnis der Athener ausgetilgt. Nicole Loraux hat einleuchtend die Spuren dieser ,Verdrängung' nachgezeichnet, welche sie „den zweiten T o d des Ephialtes" nennt (Loraux [wie A n m . 52], S. 44). 69 Siehe J . W . Day: Epigramms and History: T h e Athenian Tyrannicides - A Case in
Point, in: The Greek A. E. Raubitschek,
Historians.
Literature
and History.
Papers Presented
Saragota 1985, S. 27f. Zu den Liedern siehe D . L. Page:
to
Poetae
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Das isonome, tyrannenfreie Athen schuf sich also blitzschnell nach dem Sturz der Tyrannis seine Gründungsheroen. Das Problem dabei ist, daß diese offizielle Version eine Fälschung der athenischen Geschichte darstellt. Der Sturz der Tyrannis und die Gründung der Demokratie fielen nämlich keineswegs zusammen; zwischen beiden Ereignissen lagen zwei Jahre. A) Warum zelebrierte das demokratische Athen nicht die Gründung der Demokratie? Herodot berichtet über die Zeit nach dem Sturz der Tyrannis, daß im Adel Kämpfe um die führende Stellung ausbrachen; es ist unklar, ob die prestigereichsten Adligen selber die freigewordene Stellung des Tyrannen einzunehmen trachteten, oder ob sie uneins waren, wie die Organisation der Polis nun aussehen sollte. Jedenfalls gelang es Kleisthenes, der anfangs seinen Gegnern unterlegen war - d.h. innerhalb des Adelsrates nicht durchdrang
die athenische Bürgerschaft völlig neu zu strukturieren
(Phylenreform) und sich damit eine große Popularität und Anhängerschaft zu sichern. Das erreichte er, indem er Anträge direkt vor die Volksversammlung brachte, ohne auf den Adelsrat Rücksicht zu nehmen. Er veränderte also die Spielregeln der Politik. Sein Rivale, Isagoras, rief die Spartaner zu Hilfe. König Kleomenes forderte daraufhin von den Athenern, sie sollten Kleisthenes vertreiben. Dieser floh. Herodot berichtet weiter: „Trotzdem erschien bald danach Kleomenes mit einem unbedeutenden Heer in Athen. Er vertrieb 700 athenische Familien, die ihm Isagoras genannt hatte. Darauf versuchte er als nächstes den Rat in Athen aufzulösen und wollte die Regierungsämter dreihundert Anhängern des Isagoras übertragen. Als der Rat sich widersetzte und sich nicht fügen wollte, besetzten Kleomenes, Isagoras und seine Anhänger die Burg. Von den übrigen gleichgesinnten Athenern wurden sie zwei Tage belagert. Am dritten Tag kam es zu einer Vereinbarung. Daraufhin mußten die Lakedaimonier die Stadt verlassen [...]. Die Athener aber nahmen die anderen fest, um sie hinzurichten [...]. In Fesseln nun wurden diese getötet." 70
Melici Graeci, Oxford 1962; M. Ostwald: Nomos and the Beginning Democracy, Oxford 1969, S. 121-137. 70 Herodot: Historien, V 72.
of the
Athenian
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Es ist nicht wahrscheinlich, daß Kleomenes den Adelsrat
auflösen
wollte; denn im Adelsrat hatte Isagoras eine größere Anhängerschaft als Kleisthenes. Es ist wahrscheinlich, daß es sich um den Rat der 400 handelte, welcher die Volksversammlung einberief, die Tagesordnung aufstellte, den Ablauf der Versammlung organisierte und die Beschlüsse
registrierte.
Durch diesen Rat war die Volksversammlung überhaupt erst handlungsfähig. Und wenn der Adelsrat die volle Herrschaft gewinnen wollte, mußte der Rat der 400 verschwinden. Falls allerdings die Spartaner vorhatten, nicht dem Adelsrat die führende Stellung zu geben, sondern den Isagoras zum Tyrannen zu erheben, der sich auf eine Anhängerschaft stützte, dann wäre es für sie sinnvoll gewesen, den Adelsrat ebenfalls aufzulösen. Egal welche Annnahme man zugrundelegt, entscheidend für den weiteren Verlauf der Dinge war, daß das athenische Volk sich mobilisierte, um den Rat sei es den Rat der 400 oder den Adelsrat - zu unterstützen. Als der Rat sich weigerte, sich aufzulösen, vermochte er das nur zu tun, weil die Ratsmitglieder darauf setzten, daß die athenische Bürgerschaft bereit war, sich für die politische Ordnung und die Beibehaltung des Rates zu engagieren und zu kämpfen. Wenn die Spartaner und die Anhänger des Isagoras sich sofort auf die Akropolis zurückzogen, dann, weil sie überrascht wurden von der Massivität des Widerstandes und von der breiten Mobilisierung der Bürgerschaft - nicht für eine Person, sondern für ihre Institutionen. Mit dieser Mobilisierung trat die athenische Bürgerschaft zum ersten Mal als eine eigene politische Kraft auf den historischen Plan. 7 1
Und
bezeichnenderweise begnügten sich die Athener diesmal nicht, die unterlegene Bürgerkriegspartei einfach zu vertreiben, wie das üblich war. Sie kriminalisierten die Unterlegenen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. Indem sie diese in Fesseln hinrichteten, signalisierten sie, daß es kein Kavaliersdelikt mehr war, eine fremde Macht zu Hilfe zu rufen, um sich im Innern durchzusetzen, sondern schlicht und einfach ein politisches Verbrechen, ein Verbrechen an der gesamten Bürgerschaft. Mit dieser Hinrichtung sonderten sie die Spartaner als Fremde, denen man freien Abzug gewährte, ab von jenen Athenern, die versucht hatten, die politische O r d 71 Josiah O b e r , T h e Athenian Revolution, Princeton 1996, S. 3 2 - 5 2 .
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nung umzustürzen. Damit zog die Bürgerschaft eine scharfe Trennungslinie zwischen Innen und Außen, zwischen der Zugehörigkeit zur Polis und der Nichtzugehörigkeit; und zugleich schärfte sie den institutionellen G e h o r sam blutig ein: den Institutionen der Gemeinschaft war zu gehorchen, ihre Entscheidungen waren zu akzeptieren, ob sie einem paßten oder nicht. Diese Massenhinrichtung zielte darauf, ein gründendes Ereignis zu sein und zu bleiben, indem die guten Bürger, die der Ordnung die Treue gehalten hatten, jene töteten, die rebellierend gegen deren Verfaßtheit sich selber aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hatten - ein Ereignis, das die Geltung der neuen Ordnung blutig siegelte und allen Gruppen der Polis, ob adlig oder nicht, ins Gedächtnis schrieb, was es hieß, athenischer Bürger zu sein. Beides zusammengenommen, der Aufstand der Bürger gegen die Allianz einer Adelsclique mit einer fremden Macht und die Hinrichtung der politischen ,Verbrecher' hätten sich hervorragend angeboten, zur Gründungssage der athenischen Demokratie zu werden. Sie hätten mühelos eine semantische Wirkung entfalten können wie die Schüsse von Lexington und C o n c o r d und der Sturm auf die Bastille. Besieht man die Geschichte der inneren Entwicklung der athenischen staatlichen Organisation näher, entdeckt man, daß dieser Aufstand des athenischen Volkes die einzige größere Mobilisierung des Volkes zur gewaltsamen Verteidigung oder
Durch-
setzung populärer Errungenschaften war bis zum Sturz des ersten oligarchischen Regimes 411 v . C h r . ; sie war de facto - unter dem Aspekt der Beziehungen zwischen den innenpolitisch relevanten Faktoren - ein gründendes Ereignis, welches die innenpolitische O r d n u n g Athens auf eine neue Entwicklungsbahn
leitete. D o c h
derjenige Teil
der
athenischen
Führungsschicht, der auf hegemoniale Weise das politische Selbstverständnis der Polis und ihrer neuen Ordnung definierte und rituell inszenierte, nahm diesen Vorgang überhaupt nicht als solch ein gründendes Ereignis wahr. Das gründende Ereignis - welches de facto (für den interpretierenden Wissenschaftler) eines war - wurde nie zum Gründungsereignis, weil die athenische Polis es nie in die offizielle Erinnerung aufnahm. D a die offizielle Erinnerung mit ihren Reden, Monumenten und Riten dem Volksaufstand keinen Platz gab, konnte er nur in anderen K o m m u n i -
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kationsformen überleben; in den Termini von Jan Assmann ausgedrückt, bewahrte ihn nicht das kulturelle Gedächtnis, sondern das kommunikative Gedächtnis. Aus diesem hat ihn der Historiograph Herodot - oder seine verlorenen Vorgänger - festgehalten, und zwar in einer Gattung, die sich zunehmender Beliebtheit erfreute, der Historiographie, eine Gattung, die sich dem offiziellen Diskurs der politischen Identitätssicherung nicht notwendigerweise fügte. Die Frage ist, warum die athenische Polis es vorzog, nicht den Volksaufstand
zu erinnern, sondern
den Sturz der Tyrannis
durch
zwei
Tyrannentöter. Beide Male verliefen blutige Frontlinien innerhalb der politischen Gemeinschaft; doch die Qualität dieser Entzweiung ist idealiter grundverschieden. Beim Sturz der Tyrannis - so wie das politische Imaginäre der Polis ihn vorstellte - erhoben sich zwei Helden gegen einen Tyrannen, der als solcher schon nicht mehr zur Gemeinschaft gehörte, sondern außerhalb ihrer stand. Beim Volksaufstand hingegen verlief die Front zwischen einem kleineren Teil des athenischen Adels und dem Rest der Bürgerschaft. Der Tyrannenmord war kein Bürgerkrieg; der Volksaufstand enthielt - nach griechischer Vorstellung - den Bürgerkrieg, die Stasis. Was 508 v. Chr. geschah, ist einem Sieg im Bürgerkrieg zu verdanken. Und der Sieg im Bürgerkrieg war der böse Sieg schlechthin. 7 2 Die Substitution des Volksaufstandes durch den Tyrannenmord beschwor eine einträchtige Polis, die es damals nicht gegeben hatte. B) Die doppelte Tilgung im politischen Gedächtnis der athenischen Polis Aber zelebrierte die Polis Athen wenigstens den Sturz der Tyrannis zurecht? Blicken wir auf die Vorgänge, wie sie bei Herodot und Thukydides überliefert sind: Die beiden Tyrannentöter töteten nicht Hippias, den Tyrannen, sondern nur den jüngeren Bruder des Tyrannen, Hipparchos. 72 In den Eumeniden des Aischylos nennt die Göttin Athene den Sieg, den man gegen äußere Feinde erringt, einen Sieg, der nicht böse ist (Aichylos: Eumeniden, 903). Die Göttin denkt also den Sieg über äußere Feinde vor dem Hintergrund des Sieges über innere Feinde, eines Sieges, der immer neue Kämpfe erzeugt, daher die Gemeinschaft bedroht oder gar zerstört und somit böse ist.
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D a s war 514 v. C h r . A t h e n war damit keineswegs von der Tyrannis befreit, sondern Hippias regierte noch vier J a h r e weiter, anscheinend rigider als vorher, so daß immer mehr adlige Familien ins Exil gingen und von dort aus den Sturz der Tyrannis betrieben. Es gelang ihnen, einen der spartanischen Könige, Kleomenes, auf ihre Seite zu ziehen. Zweimal fiel ein spartanisches H e e r in Attika ein, um Hippias zu vertreiben; beim erstenmal blieb der T y r a n n siegreich, beim zweitenmal übernahm Kleomenes selber das K o m m a n d o über das Invasionsheer; diesmal unterlag Hippias, und er ging ins Exil. D a s geschah 510 v. C h r . , vier Jahre nach der E r m o r d u n g des Tyrannenbruders. D e r Sturz der Tyrannis in Athen ist also ein W e r k der Spartaner gewesen. D i e Verherrlichung der T y r a n n e n m ö r d e r in der offiziellen Polisideologie ist - wenn man die Maßstäbe des Historikers anlegt - pure Geschichtsklitterung. W a s wurde mit dieser offiziellen Erinnerung in die Bedeutungslosigkeit versenkt? 1. D i e athenische Bürgerschaft als kollektiver Held wurde getilgt. An ihre Stelle wurden
ein adliges Liebespaar, H a r m o d i o s und
Aristogeiton,
gesetzt. Freilich, wie der Archäologe Burckhardt F e h r nachgewiesen hat, wurde ihr D e n k m a l so gestaltet, daß die tyrannenmordenden Adligen in der Gleichartigkeit kämpfern
ihrer Bewegungen
aufnehmen;
die Tugenden von
und die Hoplitenphalanx
ist dem
Hoplitenarchaisch-
adligen Einzelkampf radikal entgegengesetzt, galt - lange Zeit - als die Kampfesweise der Polisbürger schlechthin. D i e beiden T y r a n n e n m ö r d e r repräsentieren somit einen T y p u s des griechischen Adligen, der bereits zum disziplinierten Polisbürger geworden ist. 7 3 D e n n o c h : die Gründung der Bürgerfreiheit ist nicht auf jenen Volksaufstand bezogen, ist diesem geradezu entrissen, und ist einem adligen Liebespaar gutgeschrieben. 2. Getilgt wurde das F a k t u m , daß der athenische Adel es nicht aus eigener Kraft vermocht hatte, die Tyrannis abzuschütteln. E i n e spartanische Intervention war dazu vonnöten gewesen. D e r G r o ß t e i l des athenischen Adels verstand sich aber nach den Kleisthenischen R e f o r m e n m e h r und 73 B. Fehr: Die Tyrannentöter. Frankfurt/M. 1984.
Oder: kann man der Demokratie
ein Denkmal
setzenr1,
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mehr als Führungsschicht in einer nun stark institutionell organisierten Polis. Es war ihm daher sehr daran gelegen, daß man ihn als solche anerkannte. Und es konnte kaum eine bessere Legitimierung geben als den Umstand, daß zwei namentlich bekannte Adlige selber die neue Ordnung gegründet oder zumindest maßgeblich mitbegründet hatten. Das dürfte uns bekannt vorkommen. Der 20. Juli 1944 als Datum des Widerstandes gegen die Nazi-Diktatur ist spät relevant geworden - just bei der Debatte um die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Und wenn man die Texte las, konnte man schnell feststellen, daß ein Großteil dieses Widerstandes keinesfalls demokratisch gesinnt war. Aber ein breiter Konsens sorgte dafür, beharrlich darüber hinwegzusehen, daß die Brüder S t a u fenberg als Feinde der Demokratie alles andere wollten als ein freies Deutschland. Der volle Wortlaut jenes unbequemen Eides, in dem sie ihr politisches Ziel - die Errichtung einer Diktatur über ein zu führendes deutsches Volk - klar benennen, wurde lange Zeit nicht erwähnt; erst seit einem Dutzend Jahren wird - gelegentlich - bei öffentlichen Anläßen bedauernd darauf hingewiesen, daß die beiden gescheiterten deutschen Tyrannentöter leider keine Befreiung des deutschen Volkes anstrebten. 74 Wenn das demokratische Nachkriegsdeutschland am 20. Juli gescheiterten Tyrannentötern gedenkt, die geschworene Feinde der Demokratie waren, dann huldigt es einer noch schwerwiegenderen Fälschung der Vergangenheit als es der politische Mythos war, welcher die athenischen Tyrannentöter umstrahlte. 74 „Wir wollen eine Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge und beugen uns vor den naturgegebenen Rängen [...]. Wir wollen Führende, die aus allen Schichten des Volkes wachsend, verbunden den göttlichen Mächten, durch großen Sinn, Zucht und Opfer den anderen vorangehen". Die Attentäter waren nicht imstande, eine andere Sprache zu sprechen als die Nazi-Diktatur: Jedes einzelne Wort hätte ein glühender Anhänger des Nationalsozialismus mitsprechen und mitschwören können. Falls die Stauffenbergs die Sprache Stefan Georges nachahmten, dann ist der Eid ein bestürzendes Zeugnis für die Nähe der Sprache des „Meisters" zur Sprache des Führers. Siehe dazu Steven Krolak: Der Weg zum Neuen Reich: Die politischen Vorstellungen von Claus Stauffenberg, in: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, hrsg. von J. Schmädecke und P. Steinbach, München und Zürich 1985, S. 546-559.
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Die demokratische Nachkriegsordnung nimmt daran aber desto weniger Schaden, je mehr es dem politischen Diskurs gelingt, die Erinnerung an die tatsächlichen politischen Ziele der Attentäter auszulöschen, die Attentäter restlos ihrer Konkretheit zu entkleiden, sie zu reduzieren auf Name und Tat und mit gnadenlosem Vergessen bloße Silhouetten von ihnen übrig zu lassen. So, als entindividualisierte Münze, mit einem eindeutigen Prägestempel versehen, behalten sie ihren memorialen Wert für die bundesdeutsche Demokratie. Anderes an ihnen zu erinnern hieße, den memorativen Akt gegen die Demokratie zu kehren, was freilich ganz im Sinne der Memorierten lag. Trotzdem kann dem deutschen Mythos ein langes Leben beschieden sein, so lange es den definitionsmächtigen Gruppen nicht gelingt, sich auf ein anderes identitätsstiftendes Ereignis zu einigen, dessen politische Semantik auf eine weite Resonanz stößt und einen breiten K o n sens stimuliert. Aber zurück zu Athen. Das mythogene Gedächtnis der griechischen Polis erlaubte diese grandiose Fälschung der Vergangenheit. Dem entspricht, daß nach dem peloponnesischen Krieg die Demokratie selber sich immer ältere Gründungsväter suchte. Als die politische Ordnung Athens in der zweiten Hälfte des peloponnesischen Krieges und danach erneut zur Frage stand, rangen die Befürworter einer oligarchischeren Regierungsform und die Verteidiger der auf breite Partizipation gelagerten Demokratie gegeneinander, um die Namen von Gesetzgebern und Reformern der attischen Vergangenheit für ihre Version der ,Demokratie' zu vereinnahmen. Dabei zitierten sie zeitlich immer weiter zurückliegende Gestalten, so daß sie Solon, dann sogar Drakon und schließlich gar Theseus zu Stiftern der Demokratie erkoren. 7 5 Diese Tilgung der realen Gründer der Demokratie und ihre Ersetzung durch Figuren fernerer Vergangenheiten diente nicht allein dazu, die gegenwärtige Ordnung mit der höheren Weihe althergebrachten Bestehens auszustatten, sondern weit mehr der ,Verdrängung' des Bewußtseins, daß diese umstrittene Ordnung der athenischen Polis sich schweren inneren 75 Siehe dazu E. Ruschenbusch: Theseus, Drakon, Solon und Kleisthenes in Publizistik und Geschichtsschreibung des 5. und 4. Jh. v.Chr., in: Historia 8, 1958, S. 423ff.; M. I. Finley: The Ancestral Constitution, Cambridge 1971.
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Entzweiungen verdankte, gewaltsamen zumal, welche den Charakter von Bürgerkriegen annahmen oder anzunehmen drohten. Die maßgeblichen Gruppen der athenischen Führungsschicht verschoben das Gedenken an den Ursprung der herrschenden Ordnung - also an eine brisante Veränderung - in eine gefahrlosere Zone der Vergangenheit, indem sie konfliktferneren oder schlankweg mythischen Figuren die Urheberschaft an der Demokratie zuschrieben. Eine derartige Verschiebung entschärfte das Risiko, daß die athenische Führungsschicht bei der Reflexion über ihre Bürgeridentität auf eine Vergangenheit stieß, die für einen Teil dieser Schicht schmerzhafte Erinnerungen weckte, Erinnerungen an die schwere, dauerhafte Niederlage der eigenen politischen Gruppierung. Die politische Integration des unterlegenen Teils des athenischen Adels erforderte geradezu eine Tabuisierung der Ursprünge der Demokratie. C ) Die Rebellion der Kritik gegen das kulturelle Gedächtnis der Polis Der Athener Thukydides verfaßte ein historiographisches Werk über den Peloponnesischen Krieg. Es ist wohl dasjenige Werk der antiken Historiographie, welches den Anforderungen der autonomisierten
historischen
Fachdisziplin am meisten entspricht, falls man überhaupt deren Anforderungen als Kriterien gelten lassen will, um die Wissenschaftsnähe antiker Werke einzuschätzen. Thukydides greift im 6. Buch seines Werkes die Gründungslegende der athenischen Demokratie frontal an: „Denn das Volk wußte vom Hörensagen, wie die Tyrannis des Peisistratos und seiner Söhne gegen Ende drückend geworden war, dazu nicht einmal von den Athenern selbst und Harmodios gestürzt worden war, sondern von den Spartanern [ . . . ] . " 7 6 Das Volk wußte es also. Es wußte, daß die Tyrannentöter der Polis nicht die Freiheit gebracht hatten. Und trotzdem feierte der offizielle politische Diskurs Aristogeiton und Harmodios als Befreier - mit den größten Ehren, die je Athener bekamen. Wenn ein substantieller Teil der athenischen Bürger wußte, daß das nicht stimmte, was die Amtsträger und Redner bei fest-
76 Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, VI 53.
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liehen Anlässen und mit politischem Zeremoniell behaupteten; und wenn sie in feierlicher Eintracht dennoch mitmachten, dann hat der moderne Historiker ein Definitionsproblem: Wie ist diese Pluralität der Wissensmodi in Kategorien zu fassen? 7 7 Ist das vergleichbar mit dem Verhalten moderner Christen, die selbstverständlich die Evolutionslehre für zutreffend halten, aber trotzdem ergriffen lauschen, wenn in einem zeremoniellen kirchlichen Rahmen die Schöpfungsgeschichte gelesen wird? Falls ja, dann bieten sich zwei Erklärungen an: Zum einen könnte es sein, daß die offizielle Polis-Ideologie als hochgradig formiertes kulturelles Gedächtnis 85 Jahre nach dem Sturz der Tyrannis es zwar noch nicht geschafft hatte, die wirklichen Vorgänge vergessen zu machen, aber mit Sicherheit es bald schaffen mußte, da diese Vorgänge nur im kommunikativen Gedächtnis - im ,Hörensagen' - weitergereicht wurden. Zum anderen könnte es sein, daß beide Versionen im Bewußtsein eines substantiellen Teils der Bürgerschaft koexistierten. Von Vergessen konnte dann gar keine Rede sein. Beide Wissensmodi waren dann sektorialisiert: Im offiziellen politischen Diskurs galt ein anderes Wissen als bei informelleren Anlässen. Freilich kann diese sektorielle Koexistenz dann nicht mehr bestehen, wenn eine andere Wissensform auftaucht, die verlangt, daß beide Erzählungen kohärent sein sollen. Da sie das nicht sein können, weil sie einander sachlich ausschließen, wird der Kohärenzzwang eine Entscheidung darüber herbeiführen, was nun als Wahrheit zu gelten hat. Was zuvor im Medium des politischen Mythos und im Medium der familiären Erzählung nebeneinander existieren konnte, kann das hinfort nicht mehr, da mindestens eine der beiden Erzählungen falsch ist. Der Kohärenzzwang macht aus ihr eine Lüge, in diesem Falle eine Gründungslüge. Der Athener Thukydides sprengte im 6. Buch diese Gründungslüge auf; stellte ihr eine andere Version entgegen. Natürlich hat das nichts genützt; der offizielle politische Diskurs blieb der Gründungslegende treu, ohne daß die athenischen Bürger darin eine Gründungslüge gesehen hätten. Aber neben dem offiziellen politischen Diskurs konstituierte sich nun ein zwei77 Siehe dazu N . Loraux: Enquête
sur la construction
L ' E c r i t du Temps 10, 1985, S. 3 - 2 1 .
d'un
meurtre
en histoire,
in:
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ter Diskurs, der mit dem Anspruch auf Wahrheit auftrat und auf einem schmalen intellektuellen Feld ein eigenes Leben führte und eine eigene Tradierung generierte: Aristoteles folgt in der Schrift „Der Staat der Athener" nicht der offiziellen Polis-Ideologie, sondern der Erzählung des Thukydides. Die rebellische Gegendarstellung des Thukydides könnte man auffassen als die inaugurale Geste der Historie als eines autonomen Wissensgebietes - wollte man eine mythische Gründungsgeste für die Historie als Wissenschaft suchen, dann müßte man diese Stelle aus dem ThukydidesText herausgreifen, der eine eigene Wahrheit gegen die identitätsstiftende Beschwörung von Vergangenheit setzt. Daß die Historie des Thukydides wie überhaupt die gesamte griechische Geschichtsschreibung
politisch
bedeutungslos blieb, ist weniger wichtig. Entscheidend ist, daß sie sich vom kulturellen Gedächtnis der politischen Gruppe dezidiert verabschiedete, sich als eigenes Feld konstituierte und relativ autonomisierte und sich gegen das ,Vergessen' und die Vergangenheitsklitterung des kulturellen Gedächtnisses der eigenen politischen Gemeinschaft stellte. In differenzierten Gesellschaften hat man stets mit einer Pluralität von
kulturellen
Gedächtnissen zu rechnen. In diesem Fall gelingt es einem, sich gegen das politisch dominante dauerhaft zu behaupten.
8. Vergessen durch fachspezifische Kanonbildung Nach tiefgreifenden historischen Umbrüchen wird in der Regel die Vergangenheit umgeschrieben, so daß sie als Vorgeschichte des momentanen Zustandes erscheint und diesen historisch legitimiert. Dabei kann es passieren, daß Menschen und Gruppen, die für eine Sache gekämpft und womöglich außerordentliche Opfer für sie gebracht haben, vergessen werden. Die offiziellen Verwalter des offiziellen kulturellen Gedächtnisses Publizisten, Schriftsteller, Historiker, die Pädagogen der Bildungsanstalten schreiben die Geschichte in ihrem Sinne um. Das läßt sich illustrieren an Hand des Kampfes gegen die moderne Sklaverei. Ein heikles Thema für Philosophen, denn es ist kein Ruhmesblatt der neuzeitlichen Philosophie. Das wirklich entscheidende und moralisch wie
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politisch durchschlagende Argument gegen die Sklaverei auf den karibischen Zuckerinseln und auf den Plantagen der späteren U S A war, daß die Freiheit des Menschen prinzipiell unverlierbar ist. Mit jedem
anderen
Argument wurden die Verteidiger der Sklaverei rasch und leicht fertig, zumal ihre Sprecher im Römischen Recht bewandert und in Philosophie beschlagen waren. 7 8 N u r das Argument der bedingungslosen Unverlierbarkeit der Freiheit konnte keiner parieren; es machte die Sklaverei von Grund auf illegitim. N u n lernen wir in der Schule, daß dies eine Leistung der Aufklärungsphilosophie sei. U n d unsere kontinentaleuropäischen Philosophiegeschichten nennen auch den N a m e n und zitieren die Texte. U n d so scheint es klar, daß Jean-Jacques Rousseau als erster die bedingungslose Unverlierbarkeit der menschlichen Freiheit formuliert hat. In den Schulbüchern steht dann noch, daß diese Idee von der Philosophie aus eingewirkt habe auf die Politik, zunächst auf die amerikanische Revolution und die Unabhängigkeitserklärung, dann auf die französische Revolution. Ein schönes Modell, dem auch Hegel gehuldigt hat: Mit diesen Revolutionen hat der Mensch sich auf den K o p f gestellt, also auf den Gedanken; und der Gedanke erschuf Wirklichkeit. U n d natürlich können Gedanken nur aus philosophischen
Köpfen entstammen. Man kann ohne
Über-
treibung sagen, daß dieses Bild im kulturellen Gedächtnis der meinungsführenden Gruppen in Kontinentaleuropa kanonisch ist. Freilich hat man in der angelsächsischen Kultur dieses Bild nicht übernommen; bestimmte Signalereignisse der eigenen Vergangenheit wurden dort nicht auf allen Ebenen vergessen. Was wir heute wissen, dank einer ausgedehnten mikrohistorischen F o r schung, ist, daß dieses Bild eine Legende ist. V o r Rousseau hat kein einziger Philosoph der sogenannten Aufklärung sich grundsätzlich gegen die Sklaverei ausgesprochen - alle ohne Ausnahme akzeptierten sie nolens volens; die meisten fanden sie legitim nach dem ins gentium,
die anderen
78 Th. E. Drake: Quakers and Slavery in America, N e w Haven 1950; P.A. Milani: La schiavitù nel pensiero politico dai Greci al basso medio evo, Mailand 1972; D . B . Davis: The Problem of Slavery in Western Culture, Ithaca 1966, S. 291 ff., 333 ff.
Soziale Bedingungen
des
87
Vergessens
sahen in ihr ein notwendiges Übel. Kein sogenanntes Naturrecht kam den Sklaven zu Hilfe. 7 9 Und diejenigen Philosophen, die dann Rousseau folgten, haben auf den Kampf gegen die Sklaverei nur einen geringen Einfluß gehabt, falls überhaupt einen. Nun könnte man einwenden: Aber die entscheidenden Sätze stehen doch bei Rousseau, im Contrat social heißt es doch klipp und klar, daß die Freiheit wesensmäßig zum Menschsein gehört, daß die Freiheit prinzipiell unverlierbar ist, daß man sie nicht veräußern kann, weder durch einen Vertrag noch durch Gefangennahme im Kriege. Die Kapitel 3 und 4 des 1. Buches des Contrat social müßten zum Großartigsten gehören, was ein Philosoph jemals geschrieben hat. Das mag sein. Bloß haben 70 Jahre vor Rousseau viele puritanische Publizisten und vor allem evangelikale Prediger in England und in den nordamerikanischen Kolonien genau das gesagt. Und sie hatten einen viel größeren Einfluß als später die Philosophen um die Enzyklopädie. Ihre Predigten hörten zehntausende, ihre Pamphlete zirkulierten in den Quaker- und Mennonitengemeinden von South Carolina und Georgia bis nach London; sie wurden als Flugschriften in englischen Schulen und Kirchen verteilt. In ihrem sozialen Umfeld entstand ein spezifischer politischer Diskurs über die menschliche Freiheit mit der Kernaussage, daß alle Menschen gleich geschaffen und mit unveräußerlichen Rechten versehen sind. Damit ist nicht geleugnet, daß Rousseau eine große Leistung vollbrachte. Denn er faßte diesen evangelikalen Diskurs der wesensmäßigen Unverlierbarkeit der menschlichen Freiheit in die prägnante Sprache der Philosophie. Und er tat das mit einer schonungslosen Schärfe gegen die dominanten Namen der politischen Philosophie, gegen Hobbes und Pufendorf, gegen Locke und Montesquieu, gegen Hume und Voltaire. Als sozialer Außenseiter hatte er den Mut, einen von den Philosophen verachteten religiösen Diskurs aufzunehmen und ihn gegen die herrschende Philosophie zu kehren; ihn zu ,übersetzen' und argumentativ zu verdichten. Was kann große Philosophie mehr leisten? 79 Siehe dazu E. Flaig: Artikel „Sklaverei", in: Historisches Bd. I X , 1996, Sp. 976-985.
Wörterbuch
der
Philosophie
Egon
Flaig
Indes, als Literaturgeschichte hat die kontinentaleuropäische Philosophiegeschichte den Kontext, in unserem Falle den Haupttext, systematisch ausgeblendet. 80 Das geschah nicht mit bösem Vorsatz. Diejenigen, die in Kontinentaleuropa die Geschichte umschrieben, waren sozial anders positioniert als jene Kämpfer gegen die Sklaverei und betrieben andersartige intellektuelle Aktivitäten. Zum einen waren die Umschreiber in jener mythischen Annahme befangen, alle Ideen müßten einen Schöpfer haben, einen, der den betreffenden Gedanken ,als erster' dachte; dieser Mythos schmeichelt jenen, die kulturell legitimiert sind, Wissen zu verwalten; daher wird er nie verschwinden. Zum andern fiel die legitime Verwaltung kulturellen Wissens im 19. Jh. definitiv den Universitäten zu; die dort tätigen Wissenschaftler mit spezifischer ,humanistischer' Bildung, institutionsinterner Laufbahn, disziplinären Fertigkeiten und akademischem Habitus kannten jene politisch relevanten Texte großenteils nicht: es waren fremde Textgattungen, nämlich Predigten und Pamphlete, eine fremde Diskursform, eine tief religiös getränkte Sprechweise. Daß man die politischen Ideen
von
Puritanern,
Mennoniten
und
Quakern
einfach
Rousseau
zuschrieb, sie ihm übereignete, liegt also an dem banalen, aber sozial ganz entscheidenden Umstand, daß die Wissensorganisation sich einschneidend verändert hatte. Die stärkste Bewegung nicht zur Selbstbefreiung sondern zur Befreiung anderer Menschen, die es in der uns bekannten Weltgeschichte gegeben hat, fiel einfach durch die Maschen der Fachdisziplinen, die eine Geschichte des politischen Denkens im Modus einer Literaturgeschichte erstellten.
80 Auch der Disput zwischen den Rechtshistorikern G. Jellinek und E. Boutmy, ob die Erklärung der Menschenrechte in der französischen Revolution sich von der Verfassung Verginias hat inspirieren lassen oder nicht, nahm lediglich Bezug auf die .großen' Texte; die entscheidende Diskussion um die Sklaverei nahmen sie nicht zur Kenntnis. Die konventionelle kontinentaleuropäische Sicht führt ein munteres Weiterleben. So schreibt Marcel Thomann 1988: „On notera d'abord que la plupart des (principes) américains de 1776 avaient été importés du XVIIe siècle européen et ne dépassaient guère, au plan doctrinal, le modèle déjà centenaire de Pufendorf ou de Locke." (M. Thomann: Origines et sources doctrinales de la déclaration des droits, in: Droits. Revue française de théorie juridique VIII, 1988, S. 57.)
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Die kontinentaleuropäische Wissenschaft hat ein gefälschtes, aber brauchbares Bild von der Geschichte der Befreiung aus der Sklaverei angefertigt und nachhaltig dafür gesorgt, daß man die tatsächlichen Akteure vergaß. Doch das ist ihr nicht gelungen, weil ihr universitärer Diskurs sich international nie völlig durchsetzen konnte. In den USA waren die außeruniversitären Erinnerungsformen viel zu stark, um sich einfach beiseite schieben zu lassen; und dort hat man sich zu gut erinnert, wem man die Befreiung wirklich verdankte. Das kanonisierte Bild der politischen Philosophie zerfällt nun auch an den kontinentaleuropäischen Universitäten, weil die unterdrückten Diskurse in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen als Forschungsgegenstände an Relevanz gewinnen. Die aufkommende Mentalitätsgeschichte hat ihnen die Tore geöffnet; eine neue historische Kulturwissenschaft, die sich bemüht, die Kontexte genauer zu beachten, hat jene abolitionistische Bewegung, ihre Organisationsformen und ihre Textgattungen ernst genommen. Sie bringt stummgemachte Stimmen wieder zum Sprechen und setzt jene abolitionistische Strömung als eine der gewaltigsten weltgeschichtlichen Tatsachen in ihr Recht ein. 81
9. K a n o n z e r s t ö r u n g u n d K o n t e x t r e k o n s t r u k t i o n A ) Die Barbarei der Tradition Es ist nicht unproblematisch, vergessene Texte und Namen wieder in den Bestand des Wissenswerten aufzunehmen. Dadurch verändern sich die Relationen zwischen den markanten Punkten des Wissens. Das oben gebrauchte Beispiel aus der Geschichte des politischen Denkens belegt das. Als eigene Disziplin ist die Geschichte des politischen Denkens auf Referenzpunkte, auf kanonisierte Texte und Namen angewiesen. Andernfalls 81 Im Artikel „Sklaverei" des Historischen Wörterbuchs der Philosophie (Bd. 9, 1996) finden sich nun die N a m e n einiger evangelikalen Prediger und Publizisten und nehmen einen größeren R a u m ein als Grotius, Pufendorf und Locke. Damit w i r d das Verhältnis von religiösen Diskursen und streng philosophischen Texten erkennbar und diskutierbar.
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können weder ein fachlicher Gegenstand und disziplinare Grenzen, noch eine Matrix von Fragestellungen und Methoden entstehen; und die Disziplin ist dann auch nicht lehrbar. Die Geschichte des politischen Denkens hat sich analog der Philosophie- und Literaturgeschichte konstituiert. Dies erforderte, daß man die kulturellen Umfelder der kanonisierten Texte und Namen größtenteils tilgte. Das schuf Übersichtlichkeit innerhalb der Disziplin und hatte verheerende Konsequenzen für die Erforschung dessen, wer wo wie konkret politisch dachte. Intellektuelle produktive Umfelder ausblendend, erlaubt sich die Fachdisziplin, das Kernfeld auf eine spezifische Weise zu behandeln - erstens ermächtigt sie sich, Texten eine Originalität zuzusprechen (und damit die Autoren zu ,Schöpfern' zu machen), die sie nie hatten; zweitens vermag sie die polemischen Gehalte eines Werkes, seine aktuelle Stoßrichtung, zu übergehen und das Werk in einen kommunikativen Rahmen zu stellen, der so nicht bestanden hat und in den es nicht hineingehört. Dann geschieht, was Arnold Goldberg an talmudischen Texten aufzeigte: Die unterstellten Intentionen in der kanonisierten Literatur stimmen mit „den ursprünglichen Funktionen, bzw. Intentionen der Texte nicht mehr überein". 8 2 Indem man vergessene Texte, die ins Umfeld der kanonisierten gehören, zurückholt und zur Geltung bringt, relativiert man die kanonisierten Texte und Namen; man relativiert sie, indem man sie relationalisiert. Rekontextualisierung schwächt die identitätsstiftende Kraft der ,großen' Texte oder beraubt sie ihrer disziplinär verbürgten Bedeutung. Goldberg hat darauf hingewiesen: „Die Auflösung des Kanons, der Verlust der kanonischen Texte,
beginnt
mit der
historischen
Rekontextualisierung
durch
die
Wissenschaft [ . . . ] " 8 3 So wie Kanonisierung die Zerstörung von Kontext zur Voraussetzung hat, so führt die Rekonstruktion des Kontextes überall dort, wo sie noch möglich ist und auf überzeugende Weise geleistet wird,
82 A. Goldberg: Die Zerstörung von Kontext als Voraussetzung für die Kanonisierung religiöser Texte im rabbinischen Judentum, in: A. und J. Assmann (Hg.): Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, S. 202. 83 Ebd., S. 208 f.
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d a z u , d a ß das k a n o n i s i e r t e B i l d eines W e r k e s o d e r eines A u t o r e n v e r l o r e n g e h t , w e i l es u n h a l t b a r w i r d . D a s hat e i n e u n a n g e n e h m e K o n s e q u e n z f ü r die h e r k ö m m l i c h e L i t e r a t u r u n d K u n s t g e s c h i c h t e : D e n n s o geht u n w e i g e r l i c h j e g l i c h e , K l a s s i k '
ver-
l o r e n . A l e i d a u n d J a n A s s m a n n h a b e n d a r a u f a u f m e r k s a m g e m a c h t . Sie haben
die
Merkmale,
die
Gadamer
zur
Bestimmung
a n f ü h r t , als g e n a u die P h ä n o m e n e i d e n t i f i z i e r t , die d e m
des
Klassischen
Kanon-Syndrom
e n t s p r e c h e n . 8 4 D a m i t ist d e r B e g r i f f d e r K l a s s i k als o p e r a t i o n a l e r B e g r i f f 84 Assmann [wie Anm. 82], S. 6 - 2 7 . Auch hier geht es nicht um das Vergessen von Vergangenem, sondern Ausblendung von Gegenwärtigem, um Vergessen durch Fokussierung der Wahrnehmung. Es zeigt sich daran, daß wir die ,großen' Werke scheinbar mühelos zu lesen imstande sind. Nehmen wir sehr folgereiche Texte als Beispiel: Jesaia und Homer erscheinen als Riesenwerke, unerschöpflich, jede Epoche und fast jeder Leser holt aus beiden eine neue Sinnschicht heraus. In dieser Formulierung ist eine spezifische Eigenschaft des modernen Werkbegriffs enthalten; dieser Werkbegriff - entstanden im späten 18. Jahrhundert, zusammen mit dem Geniebegriff - , postuliert, daß das Werk objektiv Sinnschichten enthält; Sinnschichten, die ihm substantiell eignen, die man nur freizulegen braucht. Dabei ist die Lesbarkeit dieser Werke selbstverständlich vorausgesetzt. Diese Lesbarkeit und die Möglichkeit, Sinnschichten zu entdecken, erscheint als die Leistung und Eigenschaft des Werkes selber. Somit ergibt sich eine fundamentale Differenz: Ramayana und Tao te king sind nicht in der Weise lesbar wie die Ilias und Jesaia - für uns. Es bedurfte einer rezeptionsgeschichtlichen Wende um nicht nur zu bemerken, sondern systematisch darüber zu reflektieren, daß die Lesbarkeit keine Eigenschaft des Werkes selber darstellt. Das Werk ist nichts weiter als Pergament, Buchstaben, Farben und Formen erst in einem Bezugsraum von Exegese, Kommentar und dauernder Zitierung wird das Werk zum Werk. Exegese, Kommentar, Zitierung, Tradierung stellen allerdings eine beträchtliche soziale Arbeit dar. Diese soziale Arbeit konstituiert den ,Sinn' des Werks, ohne diese Arbeit wäre das Werk behauener Stein und bekritzeltes Pergament. Genau genommen ist der behauene Stein und das bekritzelte Pergament ein materieller Referent für Aufladung mit ,Sinn'; findet diese Aufladung nicht statt, dann ist es schlicht kein Werk (P.Veyne: Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt/M. 1992 [franz. Orig. 1978], S. 70-73). Die Rezeption bedarf dieser semantischen Aufladung, demnach einer sozialen Arbeit des Tradierens und Kommentierens, die ihr vorangeht, die in der familiären wie schulischen Unterweisung die kulturell selektierten Texte als relevante, aussagekräftige und der Interpretation zugängliche präsentiert. Sie bedarf jener immensen kulturellen Arbeit, die Jan Assmann die ,Sinnpflege' nennt (Assmann [wie Anm. 2], 87-97). Diese Sinnpflege
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der wissenschaftlichen Analyse verabschiedet. Wenn wir auf die Knie gehen vor den sogenannten Klassikern, dann beten wir im Grunde nicht diese an, sondern die institutionelle und definitorische Macht jener Gruppen, denen es gelungen ist, ein paar Autoren zu selektieren und sie zu kanonisieren - meist gegen den Widerstand anderer Gruppen, ein Widerstand, der fast immer vergessen wird; weswegen die Kanonisierung als selbstverständlich, quasi als natürlich erscheint. Der Kanon als Resultat eines Prozesses, die Tradition als Prozeß der Weitergabe und Reaktualisierung dieses Resultates, ist nicht in naiver Neutralität hinzunehmen. Walter Benjamin hat hier Vorsicht eingeklagt. Wenn wir das Uberlieferte einer Kultur dankbar rezipieren, dann reproduzieren und besiegeln wir das Vergessen, mit welchem diese bestimmte Kultur selber semantische Enteignungen vornahm und symbolische Ubereignungen an die Sichtbarkeit und an die Namentlichkeit vollzog. Wissenschaft - wie etwa die historistische Geschichtswissenschaft - reproduziert dann die barbarische Seite der Kultur selber: „Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugute [...]. Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute
füllt die Texte mit relevanter Bedeutung und die Bildnisse mit relevanten und verständlichen Aussagen. Sie interpretiert immer neu; reichert also den materiellen Referenten mit immer neuem ,Sinn' an. Findet sie nicht mehr statt, oder hat sie in unserem Kulturkreis noch nicht stattgefunden, werden die Texte unlesbar. Deshalb lesen wir die Ilias so mühelos und haben solche Schwierigkeiten mit dem Tao te king. Doch der romantische Werkbegriff verlegt den Sinn in die Materialität des ,Werkes' selbst, also in den materiellen Referenten. Es scheint dann tatsächlich, als ob das Werk selber immer neuen Sinn bereithielte. Dieser Anschein beruht auf einem Vergessen. Vergessen wird die Einübung in die Fähigkeit, das Werk selber mit Sinn anzureichern und der beträchtliche Aufwand der Kultur (an Bibliotheken, Personal und Kommunikationsformen), diese Fähigkeit auf Dauer zu stellen. U m religiöse, poetische, philosophische und bildkünstlerische Werke als Werke zu fassen, denen substantiell ein eigner Sinngehalt eingefleischt ist, leistet freilich dieselbe Kultur eine beträchtliche Vergessensarbeit. Wir vergessen die Tätigkeit und die semantische Produktivität unserer Tradierungsapparate.
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wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann [...]. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Uberlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab." 8 5
Denken, das kulturelle Produktivität im allerweitesten Sinne als Gegenstand ernst nimmt, muß demnach die Tradierung befragen und die Tradition in Frage stellen. Tradierung ist nie neutral, und noch weniger ist sie es in einer Kultur, die herrschaftlich organisiert ist. Die soziale und politische Distanz zwischen Herrschenden und Beherrschten erzeugt Zerrbilder von den Bedingungen der Herrschaft, die beim Tradieren mitgeschleppt werden. Den gemeinsamen Bezugspunkten, die politische Gruppen brauchen, um sich rasch zu identifizieren, und die auf Feldern wie Kunst oder Wissenschaft vonnöten sind, damit die Akteure sich problemlos verständigen und mittels gemeinsamer Maßstäbe zu einem Konsens gelangen, diesen semantischen Knotenpunkten kommt im Mahlwerk der Rekontextualisierung ihre zeitenthobene Gültigkeit abhanden und ihre Harmlosigkeit verflüchtigt sich. B) Sinnloses retten für eventuellen Sinn Auf der anderen Seite entgeht keine Gruppe in der Gesellschaft dem Zwang, das kulturelle Gedächtnis zu formieren und ,Wichtiges' von ,Unwichtigem' zu unterscheiden. Jede Kultur, jede Gruppe muß aus der Unmasse von Geschehnissen, Sachverhalten und Namen einige wenige semantisch stark anreichern, sie hervorheben aus allen anderen, um Referenzpunkte zu gewinnen, auf die sich alle Gruppenmitglieder beziehen. Erinnerte man sich an alles, hätte nichts mehr Bedeutung. Ohne Vergessen ist auf individueller Ebene Leben nicht möglich und auf kollektiver Ebene
85 W. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte furt/M. 1974, Bd. I, 2, S. 691-704, hier S. 696 (VII. These).
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Kultur nicht machbar. 8 6 Ausblendung und Absonderung von ,Unwichtigem' ist ebenso illegitim wie unvermeidlich. Vergessen reicht nicht. Eine riesige Datenmenge ist aus der Wahrnehmung auszublenden, weil das Bewußtsein nicht dazu da ist, die Welt zu erkennen, sondern dazu dient, sich in der Welt zu orientieren. Orientierung ist etwas anderes als Erkennen; Orientierung heißt meistens geradezu nicht zu erkennen, sondern zu verkennen. Wenn wir alles erinnerten und wahrnähmen, dann wäre ein kultureller Konsens darüber, was bedeutsam ist, nicht herzustellen. Solche Konsensbildung ist ohnehin schwierig, da nie unumstritten ist, was bedeutsam sein soll. Aber wenn man überhaupt darauf verzichtete, sich innerhalb definierter sozialer Zusammenhänge eines Registers von Bedeutsamkeiten zu bedienen, dann geriete die Kommunikation ins Stocken. Alles befände sich an der Grenze der Bedeutungslosigkeit, weil den Bedeutungen die Verbindlichkeit abhanden käme. Orientierung ist ein Problem der kulturellen Semantik, also der Art und Weise wie Bedeutungen verliehen werden, was als bedeutsam gilt und für wen diese Bedeutsamkeit relevant ist. Da stets umkämpft ist, was bedeutungslos sein soll oder nicht, ist das Vergessen und die Ausblendung in der Regel ein Ergebnis sozialer Schwäche und historischer Niederlagen. Wenn das kulturelle Gedächtnis der Orientierung dient, dann dient es nicht oder nur zufällig, der Erkenntnis; vor allem schafft es lebensnotwendige Referenzpunkte von mythischer Qualität. Insofern Wissenschaft der Erkenntnis dient, hat sie die Orientierungsmythen der Kultur immer wieder zu destruieren, die kulturell produzierten Mythisierungen rückgängig zu machen, gegen ,das Leben' anzuschreiben, darin besteht wohl das eigentliche Pathos der Erkenntnis. Da es in komplexen Gesellschaften nie eine homogene Kultur gibt, sondern unterschiedlichste Gruppenkulturen, ist nicht zu vermeiden, daß die einen der Destruktionsarbeit zujubeln und die anderen darüber erbittert sind. 8 7 86 R. Lachmann: Gedächtnis und Weltverlust. Borges' memorioso - mit Anspielungen auf Lurijas ,Mnemonisten', in: Memoria.. Vergessen und Erinnern, hrsg. von A. Haverkamp und R. Lachmann, München 1993, S. 492-519. 87 Darin sieht Pierre Nora den entscheidenden Grund, weshalb die verschiedenen kulturellen Gedächtnisse (von Nora ,mémoire' genannt) der vielen Gruppen einer kom-
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Was aus dem offiziellen Gedächtnis ausgeschieden und nicht von marginalen Gruppen auf formalisierte Weise erinnert und tradiert wurde, hat wenig Chancen, in irgendwelchen ,Archiven' Spuren zu hinterlassen. Wir verlieren eine Unmenge von Vergangenheit, die schon in der damaligen Gegenwart verloren ging und nirgendwo Spuren hinterließ. Daher ist das allerkleinste Detail von nicht abschätzbarer potentieller Bedeutung, wie Walter Benjamin in seiner III. These zum ,Begriff der Geschichte' schreibt: „Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben i s t . " 8 8 Das kleinste Detail, das in der Uberlieferung gerettet wurde, kann eines Tages dazu dienen, eine Konstruktion der Vergangenheit aufzubrechen, die einseitig war und daher letztlich unzutreffend. Aber es muß wenigstens in die Archive gerettet werden, darf nicht ganz und gar verloren gehen. Der Preis dieser Rettung ist, daß nach Benjamin der Chronist auch ihm irrelevant Erscheinendes festhält, so als wäre sein Aufschreiben von keiner Semantik gesteuert, als müßte er sinn-los aufschreiben. Ist dem so, dann kann er das nur in Ansätzen (denn er kann nicht alles aufschreiben) und in der blanken Hoffnung, daß diese Einzelheiten alle eines Tages eine Bedeutung erhalten, obschon er keine solche zu erkennen vermag. Ein solcher Lumpensammler des Gewesenen müßte die Regeln des Selektierens auf irr-sinnige Weise suspendieren, um dem Bedeutungslosen die Chance zu geben, daß ihm irgendwie und irgendwann ein Sinn zufalle. C ) Postmodernes Allerinnern und messianisches Vergessen Unverkennbar benötigt eine radikal verfahrende Kulturwissenschaft, die auf die belanglosesten Details zu achten versucht, einen geschichtstheologischen Funken, um Bedeutsamkeiten zur Zündung kommen zu lassen, die plexen Gesellschaft heute w a h r n e h m b a r i m m e r schwächer werden. V o n wenigen Ausn a h m e n abgesehen, erkennen die G r u p p e n der Gesellschaft in einem h o h e n M a ß die Wissenschaft - N o r a spricht von ,histoire' - als diejenige Instanz an, die ü b e r richtig und unrichtig entscheidet. D a s kann die kulturellen G e d ä c h t n i s s e nicht unangetastet lassen. 88 B e n j a m i n [wie A n m . 8 5 ] S. 6 9 4 .
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ansonsten im Dunkel der Bedeutungslosigkeit verharrten. Welcher Art dieser Funke ist, deutet sich an, wenn die Benjaminsche These an jenen Auftrag heranrückt, den Yosef Hayim Yerushalmi der Geschichtswissenschaft erteilt. Die Geschichtsforschung kann, wenn sie sich einmal abgelöst hat von den Interessen der Nationen, bestimmter sozialer Klassen, Religionen, Geschlechter, Ethnien, und entlang den relativ autonomisierten Regeln und Fragen der Disziplin betrieben wird (wie die Mathematik), keiner Mneme, keinem kulturellen Gedächtnis mehr dienen: „L'historiographie - c'est-àdire l'histoire comme récit, discipline ou genre ayant ses règles, ses institutions et ses procédures - ne peut j'insiste encore, se substituer à la mémoire collective ni créer une tradition alternative qui puisse être partagée."
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Damit zieht Yerushalmi einen Schlußstrich unter die vergeblichen Anstrengungen der historischen Kulturwissenschaften, sich selbst mit der Aufgabe zu betrauen, der modernen Gesellschaft Halt in der Vergangenheit zu geben. Den Anschein, dies sei möglich, erweckte der Erfolg, den die Historie im 19. Jahrhundert kurzfristig hatte, als sie beanspruchte, die Rolle des kulturellen Gedächtnisses der sich neu konstituierenden Nationen zu spielen. 9 0 Unter dem Eindruck eines allgemeinen Historismus 9 1 konnte Jacob Burckhardt auf die Idee verfallen, die Historie verschaffe der Gegenwart Halt im beschleunigten Wandel, insofern sie ihr Maßstäbe aus der Vergangenheit nahebrachte. 9 2 Doch Burckhardt forcierte später immer 89 Yerushalmi [wie Anm. 12], S. 19. 90 Dieses Pathos der Historie des 19. Jahrhunderts nimmt Paul Ricoeur für bare Münze, wenn er die Arbeit der Historiker an der Vergangenheit von Kollektiven gleichsetzt mit der Rekonstruktion des Lebenstextes, die der Psychoanalytiker an der einzelnen Person vornimmt: „L'histoire d'une vie se constitue par une suite de rectifications appliquées à des récits préalables, de la même façon que l'histoire d'un peuple, d'une collectivité, d'une institution procède de la suite des corrections que chaque nouvel historien apporte aux descriptions et aux explications de ses prédécesseurs." (P. Ricoeur: Temps et récit, Bd. III, Paris 1985, S. 356). 91 Dazu jetzt: O. G. Oexle: Geschichtswissenschaften im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996. 92 J. Burckhardt: Über das Studium der Geschichte. Der Text der ¡Weltgeschichtlichen Betrachtungenhrsg. von P. Ganz, München 1982, S. 247 f. Siehe dazu W. Hardtwig:
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entschiedener die Absetzbewegung einer ,freien' historischen Bildung von einer betriebsmäßigen Fachhistorie. V o n jener versprach er sich die rettenden Impulse, welche die abendländische Kultur benötigte, um die bevorstehenden Katastrophen zu überstehen. Damit die Fachwissenschaft die ,freie' historische Bildung nicht erdrückte und marginalisierte, hatte diese sich zu orientieren auf die Bilder der griechischen Kultur und auf die Kunstgeschichte. 9 - 5 Sein Begriff von Kulturgeschichte war eigens dazu k o n struiert, diese außerwissenschaftliche Bildung mit Maßstäben, Gesichtspunkten, Sehweisen und Referenzmarken
auszustatten, mit denen sie
eigenständig neben dem öden fachwissenschaftlichen Betrieb überleben und das kulturelle Gedächtnis einer entscheidenden Gruppe strukturieren sollte. N a c h Yerushalmi war ein solches Projekt von Anfang an aussichtslos. Ferner entzieht Yerushalmi jener kulturkritischen Aufgeregtheit
ihr
Doping, welche Pierre N o r a in seinem großen W e r k über die Gedächtnisorte Frankreichs als Antrieb seiner Forschungen ausgibt. N o r a bezichtigt die Historie als Wissenschaft, das Gedenken (die mémoire) aller Gruppen zu zerstören, diese Zerstörungsarbeit betreibe sie einträchtig mit den Massenmedien, mit der allgemeinen Demokratisierung; sie befördere die Nivellierung der Kulturen (mondialisation). N o r a bringt damit Nietzsches These kulturpolitisch zur Geltung, daß die historischen Wissenschaften ein Feind des Lebens seien -
mit deutlichen Anklängen an die Formulierungen
Nietzsches und mit ähnlichen organologischen Metaphern. 9 4 D i e Klage Noras „Ii y a des lieux de mémoire par ce qu'il n ' y a plus de milieux de m é m o i r e " 9 5 stellt die Historie unter Anklage - wegen Mordes am Spontanen und am Leben überhaupt. Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen 1974, S. 40. 93 J. Rüsen, Jacob Burckhardt, in: H.-U. Wehler (Hg.): Deutsche Historiker, Bd. III, Göttingen 1972; E. Flaig: Angeschaute Geschichte. Zu Jacob Burckhardts griechische Kulturgeschichte', Rheinfelden 1987, 187-250. 94 Siehe Oexle [wie Anm. 30], S. 16-18. 95 Entre Mémoire et Histoire. La problématique des lieux, in: Les Lieux de Mémoire, Bd. I: La République, hrsg. von P. Nora, Paris 1984, S. XV-XLII, hier S. XVII.
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Yerushalmi hält dagegen, daß histoire sich aus strukturellen Gründen nicht an die Stelle von mémoire setzen kann. Freilich, wenn das Gedenken eine besonders intensive Form des kulturellen Gedächtnisses einer Gruppe ist, dann erleidet es dessen Schicksal, sobald die Gruppe einem starken Druck zur Veränderung ausgesetzt ist. Die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Vielfalt der Gruppenzugehörigkeiten ein und desselben Individuums tangieren die kulturellen Gedächtnisse - und damit jede Form der mémoire. Je weiter sich die Kohäsion der Gruppen abschwächt, desto mehr entkräftet sich deren kognitive Immunität: die histoire beeinträchtigt die mémoire in demselben Maße, in dem die betreffenden Gruppen bereit sind, die mythisierten Referenzpunkte ihres kulturellen Gedächtnisses einer kritischen Revision seitens der Wissenschaft unterziehen zu lassen. Falls eine Gruppe sich weigern sollte, den historischen Kulturwissenschaften diese Autorität zuzugestehen - und das ist bei religiösen Gruppierungen nicht selten - , dann könnten deren kritische Destruktionen zwar die wissenschaftlichen Bibliotheken füllen und vielleicht von gegnerischen Gruppen lebhaft rezipiert werden, doch am Selbstverständnis und damit am kulturellen Gedächtnis der betroffenen Gruppe müßte solche Kritik abprallen. Den ,moralischen Imperativ' der Historiographie sieht Yerushalmi darin, der offenkundigen Verfälschung entgegenzuarbeiten. Gegen die Gedächtnismörder, die Enzyklopädienfälscher, die Geschichtsklitterer und die Erfinder mythologischer Vergangenheiten kann der Historiker „Wache stehen". Indem er vor dem Vergessen bewahrt, schützt er vor flagrant unwahren Aussagen über das Gewesene. 96 Dieses Wachestehen bringt allerdings eine unlösbare Aufgabe mit sich: Die Historiker - und das heißt, alle, die historische Kulturwissenschaften betreiben - müssen Sorge dafür tragen, daß soviel wie nur möglich dem Vergessen entzogen bleibt. Denn die einseitige Erinnerung und die unhaltbaren Behauptungen gehen Hand in Hand. Die Mühe dieses Wachestehens ist so lange zu leisten, bis die Menschheit eine neue Halacha, einen neuen, menschheitsumspannenden ,Weg' ge96 Yerushalmi [wie Anm. 12], S. 19 f.
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funden hat. Bis dahin kann sie es sich nicht leisten, bestimmte Elemente der Vergangenheit herauszufiltern und sie mit identitätsstiftender Signifikanz zu versehen, um alle anderen der Vergessenheit zufallen zu lassen. Die Konsequenzen spricht Yerushalmi allerdings unzweideutig aus: Es droht eine Hypertrophie des historiographisch festgehaltenen Wissens; eine solche Geschichtswissenschaft produziert unweigerlich riesige Uberschüsse von Wissen, die von keiner sozialen Gruppe mehr in ihr spezifisches kulturelles Gedächtnis mehr aufnehmbar ist und dies selbst dann, wenn man die Mannigfaltigkeit
der Interessen
und Ausrichtungen
all der
diversen
Lebensstil-Gemeinschaften in der postmodernen pluralistischen Gesellschaft berücksichtigt. Die allgemeine Bedeutungslosigkeit des Wissens um Vergangenes wird so unerbittlich zunehmen. Sie müßte sich dem annähern, was Lévi-Strauss als extreme Möglichkeit ins Auge gefaßt hat: „Eine wahrhaft totale Geschichte würde sich selbst neutralisieren: ihr Produkt wäre gleich N u l l " . 9 7 Dennoch hält Yerushalmi dafür: „Es ist entsetzlich, sich an zuviel erinnern zu müssen, noch entsetzlicher aber ist das Vergessen". 9 8 Der messianische Windstoß, den er damit in die kulturwissenschaftlichen Hallen hereinwehen läßt, scheint aus einer Zukunft zu kommen, die einige Lösungen für das kulturelle Vergessen bereithält. Eine allgemeine Halacha setzt voraus, daß die Menschheit eine Konsensgemeinschaft geworden ist - mit unverbrüchlicher Zustimmung zu gemeinsamen Grundnormen. Ein neues menschheitsumspannendes Wertesystem würde auch einen Kanon zulassen, dem idealiter alle zugestimmt hätten: Buddhas Erleuchtung könnte dieselbe politische Relevanz gewinnen wie die Erklärung der Menschenrechte. Wenn sich das Vergessen entlang diesem Kanon organisierte, dann benachteiligte es niemanden mehr. So lange freilich ein globaler menschheitsumspannender Wegweiser eine regelrechte Halacha - in weiter Ferne ist, und jede Kanonisierung auf Verfälschung hinausläuft, müssen die Kulturwissenschaften die abnehmende 97 Lévi-Strauss [wie A n m . 20], S. 296. 98 Y . H . Yerushalmi: Ein Feld in Anatot. 1991, S. 19.
Versuche
über jüdische
Geschichte,
Berlin
100
Egon Flaig
Signifikanz aushalten. Das hieße, Wissenschaft von der Kultur betreiben unterm Sternzeichen der kontinuierlich fallenden semantischen Profitrate. Wie lange müßten wir diesen Zustand ertragen? Indes, die historischen Bemühungen ständig auszuweiten, hinaus über die Grenzen dessen, was ,Sinn' hat und ,bedeutsam' ist, bringt neue Chancen, auch wenn diese Ausweitung kognitiver Aufmerksamkeit ins Territorium des Bedeutungslosen stets von einer Einbuße an Sinn begleitet ist. Denn, wie Lévi-Strauss gegen Sartre vorbrachte: „Die eigentliche Frage ist nicht, ob man, wenn man zu verstehen versucht, Sinn gewinnt oder verliert, sondern ob der Sinn, den man bewahrt, mehr wert ist als der, auf den man weise verzichtet." 9 9 Die historischen Kulturwissenschaften entgingen allerdings nicht dem Druck, unentwegt selber ihre fachinterne Kanonbildung zerstören und sich ihrer disziplinären Geschlossenheit zu berauben; und damit müßten sie sich langfristig delegitimieren. Entlegitimiert, verfügten sie nicht mehr über genügend Autorität, um ernsthafte Destruktionsarbeit zu leisten. Ein dialektischer Trost fällt für alle an. In diesem Zustand hat sich die Postmoderne eingerichtet und kuschelt sich darein: N o c h nie wurde soviel erinnert wie im Augenblick; noch nie spürte man die Datenverluste so schmerzlich wie jetzt, wo die Archivierung unüberschaubare Ausmaße angenommen hat. Die diversen kulturellen Gedächtnisse sogar innerhalb einer einzigen Kultur waren ohnehin wohl nie homogen. Wieso sollte man in der weitgehenden Heterogenität der Erinnerungen und Gedächtniskulturen sich nicht wohlfühlen können? Die Produktivität des Chaos ist allerorten spürbar. Maurice Halbwachs hat a priori ausgeschlossen, daß ein kulturelles Gedächtnis, welches die Menschheit umspannt, möglich wäre. Behält er Recht, dann nährt sich das methodische Abwarten, welches Yerushalmi empfiehlt, einzig an einer messianischen Hoffnung.
99 Lévi-Strauss [wie Anm. 20], S. 292.
Spätmittelalterliche Ausgleichserzeugnisse" MARTIN WARNKE
Wenn von den Anfängen eines realistischen Stiles, von einer neuzeitlichen Annäherung an die sichtbare Wirklichkeit in der Skulptur des 15. Jahrhunderts in Deutschland die Rede ist, dann wird unter den frühesten Beispielen über kurz oder lang ein Grabmal genannt, das sich in der St. Jakobskirche zu Straubing befindet (Abb. 1): Es ist das Grabmal des Ulrich Kastenmayr, dessen Todesdatum 1431 auf der Schriftleiste nachgetragen ist, woraus sich ergibt, daß das Grabmal noch vom Lebenden bestellt worden ist f ü r eine ebenfalls von ihm gestiftete Kapelle in St. Jakob, der bedeutenden großen Pfarrkirche von Straubing. Die Inschrift meldet den T o d Kastenmayrs im Jahre 1431 „an dem heyligen, phyngst abent dem got gnedig sey". 1 Die 2,25 m lange und 1,15 m breite Marmorplatte ist so ausgemeißelt, daß der Tote wie in eine Mulde des Steins eingebettet ist. Der Kopf mit dem großen Pelzhut liegt tief in dem Kissen, doch abgeknickt, so als habe der Körper eingepaßt werden müssen. D e r Kopf mit dem markanten Gesicht sitzt einem schmalschultrigen Körper auf; diesem gibt die pelzverbrämte Schaube einen kompakten Umriß. Der gürtellose Rock fällt in
* Dieser Text wurde als Vortrag am 13. Juni 1996 anläßlich des 130. Geburtstags von Aby M. Warburg im Warburg-Haus der Universität Hamburg gehalten. 1 Ph. M. Halm: Studien zur süddeutschen Plastik, Altbayern und Schwaben, Tirol und Salzburg, Augsburg 1924, Bd. 1, S. 68.
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Martin Warnke
geraden, wie vom Lineal gezogenen Falten nach unten. Die Falten münden in einen breiten Pelzsaum. Dieser umschwebt dünne Beine und zwei lebhafte Wappen. Die vertikalen Bahnen der Rockfalten werden über dem Unterleib von den quergelegten Armen überlagert, so daß der Oberkörper wie eine Büste ausgegrenzt erscheint. Der Eindruck einer letalen Zuständlichkeit, einer endgültigen Abbuchung ergibt sich für die Grabfigur daraus, daß jede Eigenbewegung der Form sogleich eingefaßt und stillgelegt wird: Der Körper insgesamt liegt nicht auf einer Platte, sondern er ist in die tiefe Mulde versenkt und knapp unter dem Niveau des Rahmens abgelegt. Die Krempe des Hutes umkreist das tief zerfurchte Gesicht mit den sterbenden Augen. Das Kissen ist durch vier markante Quasten in den Rahmen gekeilt. Der glockenförmige Außenkontur der Figur entsendet die Falten des Sackärmels nach innen, damit sie in kurvigen Linien die Ellenbogen überspielen, und danach um die Knöchel herum sich wieder verlaufen. Die Handrücken mit dem geschwollenen Adernetz leiten die querlaufenden Umrisse der Arme wieder in eine vertikale Richtung. Die rechte Hand ist leblos in eine Faltenbahn hineingelegt, und der kleine (abgebrochene) Finger hat der Kette des Rosenkranzes aufgelegen, die mit ihrer Quaste die leicht verschobene Mittelachse der Figur in das linke Bein weiterleitet. Im untersten Teil der Grabmulde bleiben die leichten, über den Ballen geschnürten Schuhe hinter der vorderen Kante der Randschräge. Diese scharfkantige Bodenleiste wirkt wie eine Türschwelle, weil die den übrigen Rahmen begleitende profilierte Hohlkehle unten nicht fortgeführt ist. Wappen und Helm, die ja die weitergeltenden N o r m e n des wirklichen Lebens vertreten, sind fast die bewegtesten Partien der Anlage: Doch die Helmdecke läßt ihre reich bewegten Lappen an den Rahmenkanten abprallen, und der Kopf des Fabeltieres auf der Helmzier ordnet sich wie ein Wasserspeier der Faltenröhre über ihm zu. Dieses Bemühen, Formenergien nach innen zu wenden, wie es sich in dem Grabmal des Kastenmayr ausprägt, steht in Gegensatz zu Grabdenkmälern der gleichen Zeit, etwa dem des Probstes Petrus Pienzenauer ( f l 4 3 5 ) in der Stiftskirche zu Berchtesgaden (Abb. 2), ein Grabstein, den man dem gleichen Meister zugeschrieben hat. Er teilt mit Kastenmayr nur
Spätmittelalterliche
„
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Ausgleichserzeugnisse"
den neuen, wahrscheinlich aus Italien herkommenden Todeszustand; sonst aber drängt alles prall aus dem Rahmen und über den Rahmen hinaus; oder zu der Grabplatte des (ebenfalls tot gegebenen) Jörg Frauenberger (1435) im Kloster Gars (Abb. 3), wo das Kissen sich fast zu einem Federbett ausweitet, so daß Engel darunter einschlafen können. Gegenüber der Extrovertiertheit gleichzeitiger, möglicherweise auch aus der gleichen Werkstatt stammender Grabmäler, muß Kastenmayr darauf bestanden haben, daß das seinige von einer Introvertiertheit bestimmt sein sollte, die alle Detailformen, alle aktiven, eigensinnigen Bewegungen immer wieder auf den Hauptinhalt eines scheidenden Lebens zurückführt.
Einer Fußnote in einem Aufsatz von Philipp Maria Halm über die spätgotische Grabplastik Straubings von 1914 entnahm man die Angabe, daß Ulrich Kastenmayr seit 1383 als Bürger von Straubing nachweisbar ist und daß er von 1417 bis 1426 die Stelle eines Stadtkämmerers, also eines Bürgermeisters von Straubing bekleidet hat 2 ; bei Panofsky taucht später aus mir unerfindlicher Quelle noch die Mitteilung auf, Kastenmayr sei auch Apotheker gewesen 3 . Diese Nachrichten ließen eine eindeutige soziologische Bestimmung zu, die vor allem Wilhelm Pinder 1937 festgelegt hat: „Der Kastenmayr ist nun schon wirklich ein echter Ratsherr der siegreichen Bürgerzeit." 4 N o c h Kurt Bauch wird das 1976 in die lapidare Formel bringen: „Es ist ein bürgerlicher Grabstein." 5 Damit schien auch die naturalistische K o m ponente erklärt. Sie war Ausdruck bürgerlicher Weltzugewandtheit und 2 Ebd., S. 66. 3 E. Panofsky: Grabplastik. Ägypten
bis Bernini,
Vier Vorlesungen
über ihren Bedeutungswandel
von
Alt-
hrsg. von H. W . Janson, Köln 1993 2 , S. 64; nach ihm auch
H. Boockmann: Die Stadt im späten Mittelalter, München 1986, S. 182. 4 W . Pinder: Die Kunst der Ersten Bürgerzeit
bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts,
Frank-
furt/M. 19523, s. 265. 5 K.Bauch: Das mittelalterliche
Grabbild.
Figürliche
derts in Europa, Berlin und N e w Y o r k 1976, S. 274.
Grabmäler
des 11.-15.
Jahrhun-
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Martin
Warnke
Selbstgewißheit. Schon bei Philipp Maria Halm spielt eine Rolle, daß dieser realistische Impuls den Straubinger Bürgermeister dadurch erreicht haben konnte, daß in Holland Jan von Eyck Untertan und Hofmaler des Straubinger wittelsbachischen Grafen war, und schon Halm bringt den Hinweis auf den Arnolfini des Jan van Eyck, der seither in kaum einer Würdigung des Grabmals fehlt und der seine klassische Formulierung bei Panofsky gefunden hat, es handele sich bei Kastenmayr um einen Arnolfini in extremis. Tatsächlich signalisiert die burgundische Mode in Gewand, Ärmel und Haarschnitt, daß Kastenmayr mit diesem Kulturkreis in engere Berührung gekommen ist 6 . Das holländische, das italienische und das bayerische Bürgertum schienen in diesem Grabmal ihre Welterfahrung auszutauschen. Freilich war das holländische Erbe seit 1425 der Straubinger Linie abhanden gekommen; aber die Beziehungen blieben bestehen. Bei der Annahme eines optimistischen bürgerlichen, weltläufigen Selbstbewußtseins, das sich mit Kastenmayr Geltung verschafft haben soll, wurden zwei Nachrichten außer Acht gelassen, die geeignet waren, jene Annahme empfindlich zu stören. Die eine Nachricht ist auch schon in jener Anmerkung bei Halm 1914 enthalten, aber nie mitberücksichtigt worden: „Nach Band 1 der Neuburger Kopialbücher [...] kam es während der Amtsführung Ulrich Kastenmayrs in den Jahren 1424 und 1425 zu Straubing zu ernsten Bürgerunruhen, da er im geheimen einer großen Handelsgesellschaft angehörte, die ihren Vorteil zum Schaden der Allgemeinheit suchte und die Bürgersteuer hinterzog [...] Vom 21. Mai 1426 an wird er nicht mehr als Kämmerer erwähnt." Halm meint, daß er „von seinem Amt abtreten mußte". 7 Der Bannerträger einer bürgerlichen Kunst also ein Steuerbetrüger und ein abgesetzter Bürgermeister? Dieser irritierenden Nachricht hat sich erst in jüngster Zeit eine weitere hinzugesellt: Ulrich Kastenmayr sei zugleich „herzoglicher Kämmerer" gewesen, ein Hofbeamter, dessen Sohn im November 1429 von den wittelsbachischen 6 Halm [wie Anm. 1], S. 80; Panofsky [wie Anm. 3], S. 64 wird auch zitiert in: G . Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Bayern II: Niederbayern, München 1988, S. 688. 7 Halm [wie Anm. 1],S. 66.
Spätmittelalterliche
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H e r z ö g e n Ernst und Wilhelm z u m Stadtrichter von Straubing ernannt worden w a r 8 . Schon Halm hat auf den engen Zusammenhang dieses Grabmals mit der Deckplatte des Hochgrabes des Herzogs Albrecht in der Karmelitenkirche zu Straubing hingewiesen und sie dem gleichen Künstler zugeschrieben (Abb. 4). Diesem wittelsbachischen Herzog, der schon 1397 im C h o r der Bettelordenskirche bestattet worden war, ließ man erst zwischen 1415-1420 den Grabstein setzen. Man wählte für ihn den weißgefleckten Salzburger Marmor aus, den sogenannten Rotscheck, ein exotisches, teures, besonders wert gehaltenes Material, dessen unruhige Scheckigkeit in unserem Jahrhundert ästhetisch so gestört hat, daß man bis zum heutigen Tage alle Abbildungen von diesem Grabmal nach einer Gipskopie im Germanischen Nationalmuseum anfertigte 9 . Der bürgerliche herzogliche Kämmerer und vermögende Kaufmann und Bürgermeister Kastenmayr hat mit der Wahl Adneter Rotmarmors, der fast den Eindruck von Bronze vermittelt, für sein Grabmal ein weniger bizarres und auffälliges Material gewählt, das es erlaubt, dem Auge alle Details zu verdeutlichen. Der Kastenmayr sucht den Vergleich mit dem Herzogsgrab und gelangt dabei zu einer eigenen Aussage. D e r H e r z o g ist voll gerüstet, in der Rechten hält er die Fahne, deren Gonfalon oben ein Engel entfaltet, deren Stab unten ein Löwe in halsbrecherischer Bewegung mit den Pranken umklammert; in der Linken hält der überlebensgroß gegebene H e r z o g einen geweckten Rautenschild. Allenthalben sind Engel zugange, oben auf dem Rahmen halten sie das gewundene Schriftband in die Rahmenkehle, unten die Wappen, neben dem Kopfkissen richten sie die Stoffmassen, die im Hintergrund herabfließen. All diese repräsentativen Requisite eines fürstlichen Pomps entfallen bei Kastenmayr, dessen Stein etwa 80 cm kürzer ist, weil er keine Herrschaftszeichen unterbringen m u ß und auch so seine Lebensgröße erhalten kann. Der H e r z o g liegt in einer Mulde, die ebenso tief ist wie die 8 So in G. Dehio [wie Anm. 6] und W. Schäfer: Straubings große Grabdenkmäler, in: 1250 Jahre Kunst und Kultur im Bistum Regensburg. Berichte und Forschungen, München u.a. 1989, S. 311-321, den mir Frau Dr. Krenn freundlicherweise zugänglich gemacht hat. 9 So auch Bauch [wie Anm. 5], S. 274, Abb. 408.
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Martin
Warnke
bei Kastenmayr, um so deutlicher m u ß seine Rechte das Banner herausstemmen. Dagegen hat Kastenmayr seine H ä n d e frei f ü r die einfache Lage auf dem Totenbett. Die Platte des Herzogs liegt auf einer Tumba, die seinen Sarg enthält; dort ist sein sterblicher Körper untergebracht, so daß die Platte den zweiten, amtlichen Körper mit allen seinen Abzeichen ausbreiten kann. Von solchen Amtslasten unbedrängt, kann Kastenmayr seine persönlichen Identitätsmerkmale, sein Gesicht mit den scharf eingeschnittenen Falten und seine H ä n d e mit den geschwollenen Adern, deutlicher zur Wirkung k o m m e n lassen. Bei allen Unterschieden gibt es doch auch so viele Gemeinsamkeiten, daß das spätere Grabmal Kastenmayrs erst im Vergleich mit dem des Herzogs erklärbar wird. Nicht nur die Anlage im Großen, die von einem Rahmen eingefaßte Mulde, sondern auch Einzelzüge wie den dominanten H u t , die kurzgeschnittenen Haare, das Liegekissen haben beide gemeinsam. Wesentliche Züge des Verhaltens und Gebarens werden von Kastenmayr aufgegriffen, so der Todesschlummer, die gebrochenen Augen unter halboffenen Lidern, und vor allem das zur Seite geknickte H a u p t , eine Eigenheit, die das H a u p t m e r k m a l dieses Grabmals ist. Der Kopf war beim H e r z o g Albrecht schon leicht geneigt, doch bei dem Kämmerer steigert sich dies zu einem Charakteristikum, das ihn in der deutschen Grabmalskunst unverwechselbar macht: D e r Kopf fällt von einem kurzen Hals zur Seite. In die strenge, unbewegte Gesamtform bricht dadurch plötzlich eine Zeitform ein, die den Austritt aus der Zeit signalisiert; der Sterbende gibt im Wegkippen des Hauptes die Haltung, die man auf der Grabplatte einzunehmen hatte, auf. Diese Geste des zur Seite geneigten Hauptes war auf italienischen, insbesondere florentinischen Grabmälern geläufig, wie das Beispiel eines Abtes aus der Werkstatt des Arnolfo di Cambio zeigen kann (Abb. 5); aber auch Kaiser Heinrich VII. des Tino da Camaino in Pisa war sie zugelegt (Abb. 6). Wahrscheinlich hat das Albrechtgrabmal sie von dorther ü b e r n o m m e n 1 0 . Das H a u p t des H e r -
10 G . S c h m i d t : T y p e n und Bildmotive des spätmittelalterlichen Monumentalgrabes, in: Skulptur und Grabmal des Spätmittelalters in Rom und Italien, hrsg. von J. G a r m s und A. M. Romanini, Wien 1990 (= Akten des Kongresses Scultura e Monumento Sepolcrale del Tardo Medioevo a Roma e in Italia, R o m 4.-6. Juli 1985), S. 61 f.
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zogs, so steht es im Dehio, „ist geneigt, nicht geknickt wie beim Kasten«11 mayr " . Da Kastenmayr seinen Grabstein noch lebend bestellte, darf man sein geknicktes H a u p t als eine ehrerbietige N a c h a h m u n g seines Gebieters, als eine Demutsgeste deuten, die er noch bei Bewußtsein vollzogen haben wollte. D e r Repräsentant der „siegreichen Bürgerzeit" ist so ganz ein ergebener Diener, welches Gebaren er sich allerdings in einem selbstbewußten Vergleich herausnimmt.
In seiner Analyse der Grabkapelle des Francesco Sassetti, f ü r die er auf ein ausführliches Testament zurückgreifen konnte, hat Warburg 1907 die persönliche und gesellschaftliche Krise als den Bedingungsgrund jener Grabanlage angesehen: „In der Krisis von 1488", als Francesco Sassetti nach L y o n geschickt wurde, u m die erschütterte Medicibank zu retten, habe ihm die Windgöttin Fortuna als „Ausgleichsformel zwischen mittelalterlichem' Gottvertrauen und dem Selbstvertrauen des Renaissancemenschen" gedient. W a r b u r g nennt das seine „Ausgleichspsychologie", daß er die Lebenssituation ergründen will, aus der heraus Francesco Sassetti in seiner Grabkapelle „das Pathos der (antikischen) Sarkophagdämonen mit althergebrachter mittelalterlicher Weltanschauung in Einklang zu bringen" versuchte; die Grisaillen mit jenen Szenen aus dem kriegerischen Leben römischer Imperatoren gehören dem „Kreise jener energetischen Ausgleichssymbole" an, die „schattenhaft unter dem (christlichen) Heiligen verweilen müssen" 1 2 . In der Bevorzugung solcher Antinomien, die ihn innerlich erweitern, stimmt Sassetti überein mit Lorenzo Medici, von dem Warburg 1902 sagt, daß er beständig einen Spannungszustand aufrecht erhielt, „nicht etwa, weil er die Gegensätze nicht in ihrer Schärfe spürt, 11 So in Dehio [wie Anm. 6], S. 692. 12 A. Warburg: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Bibliothek Warburg, Leipzig und Berlin 1932, Bd. 1, S. 151-157. Dort ist die Rede von „plastischer Ausgleichsformel", von „Ausgleichshoffnung", von „mittlerer Linie", „ethischem Gleichgewichtszustand".
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sondern weil er sie für vereinbar hält; darum entströmt gerade den künstlerischen Ausgleichserzeugnissen zwischen Kirche und Welt, antiker Vergangenheit und christlicher Gegenwart die enthusiastische und doch gesammelte Kraft des frisch gewagten Versuches" 1 3 . Der historischen Verrechnung schließt W a r b u r g eine allgemeine Aussage an, die die sozialen Auseinandersetzungen seiner Zeit spiegeln: „Gegensätze der Lebensanschauungen, wenn sie, die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft mit einseitiger Leidenschaft erfüllend, z u m Kampfe auf Leben und Tod anstacheln, sind die Ursache des unaufhaltsamen gesellschaftlichen Verfalls und doch zugleich die zur höchsten Kulturblüte treibenden Kräfte, wenn ebendieselben Gegensätze innerhalb eines Individuums sich abschwächen, ausgleichen und, anstatt sich gegenseitig zu vernichten, sich wechselseitig befruchten und damit den ganzen U m f a n g der Persönlichkeit zu erweitern lernen" 14 . Es kommt mir nicht darauf an, die einzelnen inhaltlichen Bestimmungen von Florenz nach Straubing zu übertragen, sondern ich versuche, mithilfe dieser Warburgschen Denkfigur unseren Blick zu schärfen für mögliche Widersprüche und deren Vermittlung in der scheinbar so einfältigen deutschen Kunst aus jenem Jahrhundert der Frührenaissance. Ulrich Kastenmayr vergleicht sich in seinem Grabmal mit dem Herzog, wobei er aber auf einen repräsentativen A u f w a n d verzichtet, obwohl das burgundische Gewand und der pelzbesetzte H u t ihn nicht gerade deklassieren; w o der Herzog sich nach Außen wendet, nimmt Kastenmayr sich zurück und baut doch gerade dadurch, daß er alle zentripetalen Eigenbewegungen der Formen zu sich hineinzieht, erst seine unverwechselbare Individualität auf. Es wäre ebenso falsch, von einem siegreichen Bürgerstolz zu reden, wie es falsch wäre, von einem höfischen Fürstenknecht zu sprechen. Ich vermute auch, daß die Spannung zwischen bürgerlichem und höfischem Selbstverständnis aus einem sehr akuten Krisenbewußtsein anderer Art genährt war: In Straubing rechnete man seit 1420 mit Überfällen der Hussiten. Der Herzog baute sein Schloß festungsartig aus. Im 13 Ebd., Bd. 1,S. 100 f. 14 Ebd., Bd. 1,S. 100.
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August 1430 hielt Kaiser Siegmund einen Reichstag in Straubing ab, u m eine Streitmacht gegen die Hussiten zusammenzubringen 1 5 . Da die Hussiten in Grabmälern den nichtigen P r u n k der Amtskirche sahen, könnte Kastenmayr darauf so reagiert haben, daß er auf seinem Grabstein nichts als die ungeschminkte Dokumentation seines Ablebens wiedergegeben sehen wollte. Auch in dieser Richtung also wäre das Grabmal ein „Ausgleichserzeugnis", in dem widerstrebende Tendenzen aufeinander einwirken.
Fragt man, ob es entsprechende Zeugnisse einer Ausgleichskultur seitens der Fürsten gab, so ist man nicht angewiesen auf jene Sühnekapelle für Agnes Bernauer auf dem Petersfriedhof zu Straubing, die H e r z o g Ernst 1435 errichtete und mit dem Grabstein für die Augsburger Bürgertochter ausstattete, welche er zuvor hatte ertränken lassen, weil er (wie übrigens auch die Augsburger Patrizier) die eheliche Verbindung mit seinem Sohn und Nachfolger nicht dulden konnte. In Ingolstadt hatte ein anderer Wittelsbacher, Ludwig der Gebartete, nach langen Jugendjahren in Frankreich, w o seine Schwester Isabella Königin war, den Herzogstuhl von 1413 bis 1443 inne. D e r ebenso streitsüchtige wie glanzvolle H e r z o g hat sich frühzeitig und in fast panischer Maßlosigkeit u m seine Grablege g e k ü m m e r t 1 6 (Abb. 7). Während er den C h o r der neuen Pfarrkirche in Ingolstadt, den C h o r der Liebfrauenkirche, f ü r eine dynastische Grabanlage nach Art der französischen Könige ein-
15 Schäfer [wie A n m . 8], S. 86. 16 T h . Müller: Die wittelsbachische Grablege, in: Ders. u n d W. Reißmüller (Hg.): Ingolstadt, die Herzogsstadt, die Universitätsstadt, die Festung, Ingolstadt 1974, S. 3 5 7 372; Kunst und Kunsthandwerk im Bayerischen Nationalmuseum München, Festschrift z u m hundertjährigen Bestehen des Museums, M ü n c h e n 1955, N r . 31; Hans Multscher, Bildhauer der Spätgotik in Ulm, Ausst.-Kat., U l m 1997, N r . 16; S. Reisner und P. Steckhan: Ein Beitrag zur Grabmalvisier H a n s Multschers f ü r H e r z o g L u d w i g den Bärtigen, in: R. Schreiber (Hg.): Das geschnitzte und gemalte hild auf den altaren stehen ist nutzlich und christenlich, Meßkirch 1988, S. 9-74.
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zurichten begann, bemühte er sich zugleich seit 1429 darum, ein geeignetes Modell für sein Grabmal zu finden, das seine Nachfahren errichten lassen sollten 1 7 . Am 9. Mai 1438 legt er schriftlich seinen Willen fest, „unser grab und stain [...] selbs lassen machen, und nämlich den roten großen marbelstein, den wir dartzue hieher gen Ingolstat haben furn lassen"; dort hat er in seiner gewaltigen Größe von 3,77 m x 1,80 m noch bis 1848 gelegen 1 8 . Erhalten ist das Modell aus Solnhofner Stein, ein 58 cm hohes und 31 cm breites Relief, das seit 1910 Hans Multscher zugeschrieben wird, eine Zuschreibung, die im Laufe der Jahre immer weniger bezweifelt wurde, obwohl sie seinerzeit nicht stilkritisch und auch wenig stichhaltig begründet worden war. In jener Urkunde hatte Ludwig nur verlangt, „das das alles von dem pesten Werkhman unnd Visierer gehaven und geuisiert werde, den man den finden m a g " 1 9 . Ludwig der Gebartete könnte auf Hans Multscher, der doch dort gerade das Rathausfenster mit Kaiserfiguren ausstattete, durch den Kaufmann und „Finanzier" des Herzogs von Bayern-Ingolstadt Konrad Karg in Ulm hingewiesen worden sein, dem Multscher zwei Jahre zuvor ein Epitaph geliefert hatte. Der Fürst bestellte also in der stolzen Stadt Ulm, die so lange die antifürstlichen Städtebünde angeführt hatte, sein Grabmal bei demjenigen Bildhauer, der seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts von den Kunsthistorikern
zum
Heros einer kompromißlosen bürgerlichen Kunst erklärt worden ist. Bis Ende des 16. Jahrhunderts gab es auch noch das zugehörige Modell der Tumba; das Relief trägt an der Rückseite noch Spuren eines Aufliegens. Die Darstellung eines verstorbenen Stifters, der vor einer heiligen Gruppe kniet, war in italienischen und französischen Wandgräbern üblich, in Deutschland aber den Epitaphien vorbehalten gewesen, die seit um 1350 an den Kirchenwänden für Bürger und Adlige angebracht wurden. Dieses vertraute Schema läßt der Herzog auf die Grabplatte über seiner Tumba anbringen, so daß er also nicht mehr, wie unter seinesgleichen üblich, in
17 Ph.M.Halm und G.Lill: Die Bildwerke teilung, Augsburg 1924, S. 55. 18 Bauch [wie Anm. 5], S. 209. 19 Halm und Lill [wie Anm. 17], S. 55.
des Bayerischen
Nationalmuseums,
I. Ab-
Spätmittelalterliche
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voller Gestalt auf einer Platte zu liegen kam, sondern als fürstlicher Adorant in einer verbindlichen Handlung Zeugnis für seine Frömmigkeit ablegte. Für diese Übertragung eines Epitaph-Schemas auf eine ehrwürdige Grabplatte gab es auf Fürstenebene wohl keine Vorläufer. Dagegen war die Verehrung der Dreifaltigkeit in der funeralen Ikonographie gerade der französischen und burgundischen Herrscherhäuser sehr geläufig (Abb. 8); neu war die szenische Zusammendrängung auf einer Tumbaplatte 2 0 . Ludwig hatte das Programm bis in Einzelheiten ausformuliert: Er verweist auf den Stein „darauf man hawen sol die heiligen drivaltichait und ain gewappenden man mit unserm heim und schilt von unsern wappen. Der kniee vor der heiligen drivaltichait auf ainem oder zwain knieen, welches das pesser sey, und das er die paner in der hanndt hab, und die wort für die Trinität gehawen: , 0 sancta trinitas miserere mei und vergib mir all mein sundt' [...] Auch unser librey [Turnierabzeichen] den Spiegel, und Oswaltz Raben sunst darauff gesträt, und ain wintten [Gewinde] von kesten leubern sol umb den stain geen" 2 1 . Daß der Herzog von sich als von „einem gewappneten Mann mit unserm Helm und schild" schreibt, entspricht der ritterlichen Mentalität, welche die Person im Wappen vertreten sieht. Doch wird Ludwig von Frankreich her gewußt haben, daß es durchaus üblich war, vom Grabbildmacher die ähnliche Wiedergabe, eine individuelle semblance,
zu verlangen 2 2 . Ludwig im Barte hat von Multscher den ihn kenn-
zeichnenden Oberlippenbart erhalten. Wenn die Tumba diesen Deckel bekommen hätte, dann hätte es ausgesehen, als laufe sie nach allen Seiten hin über: Die Fläche ist so vollgepackt mit Sachen und Figuren, daß Überschneidungen des umlaufenden Rahmens schon fast beabsichtigt scheinen.
20 Bauch [wie Anm. 5], S. 198ff., 209; zur Trinität auf Grabmälern vgl. E. Hertlein: Masaccios Trinität, Florenz 1979, S. 81 ff., 94 ff., der als frühestes Beispiel den Grabstein für ein Mitglied der Würzburger Familie von Steren ( t 1329) nennt (Abb. 42) und das Thema dann vor allem in Burgund verbreitet sieht, woher Multschers Grabplatte abzuleiten wäre. 21 Halm und Lill [wie Anm. 17], S. 55. 22 Bauch [wie Anm. 5], S. 202.
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Die Programmpunkte, die Ludwig dargestellt sehen wollte, sind in dem Relief auf zwei Ebenen dargeboten. Es ist einmal die Ebene der Utensilien, Impresen, heraldischen Wesen und Zeichen, also die Ebene der fürstlichen Amtsdarstellung auf Erden: die runden Konvexspiegel, das Banner, die Raben, das gewundene Schriftband, der Tartschenschild, die gekrönte Sonne als Emblem des französischen Ordens der Sonnenritter, dem der Herzog angehörte. Da ist andererseits die Ebene der Sorge um das Seelenheil, die sich gegen die erste Ebene durchzusetzen versucht: Das Knien des Fürsten links unten vor der Heiligen Dreifaltigkeit rechts oben. Die erste Ebene vertritt das politische Außenleben des Herzogs, die zweite sein religiöses Innenleben. Man kann beide Ebenen vielleicht gedanklich verbinden, indem man Herrschaft aus religiöser Überzeugung begründet denkt; aber man kann sie kaum anschaulich verbinden. Der Löwe, von altersher dem herrscherlichen Grab zugehörig, bietet hier dem Fürsten den Rücken zum Knien an, wobei sich sein Schwanz in die Radsporen des Herren verstrickt. Als Zeichen herrscherlicher Macht ist auch die lange Lanze des Banners wirksam, doch ist sie, als der Fürst ergriffen die Hände erhob, gegen seine Schulter zurückgefallen, so daß sie dem Herrscher das Andachtsziel fast verstellt. Die Anordnung dieses repräsentativen Apparates bleibt unstrukturiert - „darauf gestreut", wie der Herzog es angewiesen hatte. Das Wappen mit dem Helmschmuck mit den gerauteten Flügeln eines Löwen spreizt sich unten rechts hoch. Wie aufdringliche Füllselstücke, die einer stillen Andacht eine laute Umgebung verschaffen, breiten sich die Abzeichen und Symboltiere ohne Rücksicht auf den religiösen Akt aus: Jedem Spiegel und jedem Raben des Hl. Oswald ist ein sperriger Strahlenmedaillon mit Krone hinterlegt; die Raben, mit Ring im Schnabel auf einem Ast sitzend, und die Spiegel besetzen den Hintergrund wie ein Teppichmuster; hinter dem linken O h r Gottvaters erscheint ein Rabenschnabel, so wie hinter dem geflochtenen Hut des Herzogs. 2 3
23 Zu den Wappen, die Anspruch auf das ganze Teilherzogtum Straubing erheben, vgl. W. Volkert: Die Bilder in den Wappen der Wittelsbacher, in: Wittelsbach und Bayern, Ausst.-Kat., München und Zürich 1980, Bd. III, S. 16.
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Vielleicht hätte eine farbige Fassung die Hauptszene deutlicher in den Vordergrund gerückt. Der Fürst ist trotz vollständiger Plattenrüstung und trotz des Hutes mit dreireihiger Perlenkette körperlich eher schmächtig und feingliedrig. Doch der diagonale Einsatz der weiten Zaddeln und der Beinröhren unterstützt die fromm erhobenen Hände und den andächtigen Aufblick des Herzogs. Sein Hilferuf wird an der Diagonale entlang vom Spruchband hochgetragen zu der rechten Bildecke oben, wo sein Andachtsziel, das Bild der Dreifaltigkeit, erschienen ist. Der greise Gottvater mit Kaiserkrone sitzt auf der Bank und läßt sich vom herbeischwebenden Cherubim das T-Kreuz mit dem eingeknickten schweren Körper Christi halten. Einer der beiden links oben aufgereihten Engel hat das zweilätzige Fahnentuch mit den wittelsbachischen Rauten, soeben weggezogen und durch diese theatralische Aktion dem überraschten Herzog den Blick auf die Gruppe des Gnadenstuhls freigegeben (Abb. 9). Die Gruppe selbst hat noch nicht zu der hierarchischen Ordnung gefunden, die man von ihr gewohnt war, und die zahlreichen Nachbildungen dieses Modells, die es wie ein Besitzzeichen im Herrschaftsgebiet verbreiten 24 , haben hier korrigierend eingegriffen: Gottvater muß gerade auf dem Thron, die Taube unter seinem Kinn, der Gekreuzigte vor seinem Schoß genau in der Achse plaziert sein. Selbst das unbedarfte Relief, das sich heute wieder in der Liebfrauenkirche befindet, und das im übrigen den Herzog abschichtet von der Himmelszone, rückt die Gnadenstuhlgruppe ordnungsgemäß zurecht (Abb. 10). Daß für den Gnadenstuhl bei Multscher kein Himmelstück frei ist, weil der Hintergrund einheitlich von den Abzeichen besetzt ist, scheint beabsichtigt, - vielleicht, um den Status der Gruppe mit Gottvater zu verdeutlichen: Hier wird ein Bild, eine Skulpturengruppe verehrt, der Fürst hat nicht die himmlische Erscheinung des Gnadenstuhls, sondern das plastische, sich komponierende Bild des Gnadenstuhls, nicht aber die Drei-
24 G . v o n Bezold u n d B.Riehl: Die Kunstdenkmale des Regierungsbezirkes Oberbayern, M ü n c h e n 1892, S. 2086, f ü h r t auf: Rathaus in Friedberg, Pfarrkirche in Schrobenhausen. D o r t sind sie ebenso wie in Wasserburg und Aichach „Zur Erinnerung an die Verstärkung der Befestigung" durch L u d w i g hergestellt. A u c h Lauingen, Rein u n d Kufstein haben Varianten.
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einigkeit am H i m m e l selbst v o r sich. E r kniet, w i e damals i m m e r breitere K r e i s e , v o r e i n e m A n d a c h t s b i l d . D e r k a m p f b e r e i t e , vollgerüstete R i t t e r ist v o r d e m B i l d d e r dreifachen G e g e n w a r t G o t t e s in die K n i e g e s u n k e n ; der weltliche L a n d e s h e r r p r o b t die m o d e r n e F r ö m m i g k e i t . 2 5 Fünf Jahre, nachdem
in S t r a u b i n g ein b ü r g e r l i c h e r H o f b e a m t e r
mit
s e i n e m G r a b m a l das G r a b eines H e r z o g s in sein M i l i e u ü b e r s e t z t hatte, versucht in I n g o l s t a d t ein H e r z o g eine seigneurale G r a b p l a t t e m i t einer A n d a c h t s z e n e zu versehen, die aus adligen u n d b ü r g e r l i c h e n E p i t a p h i e n vertraut war, versucht er also den traditionellen S y m b o l a p p a r a t
seines
A m t e s mit einer v e r i n n e r l i c h t e n F r ö m m i g k e i t s h a l t u n g zu v e r e i n b a r e n . E s kann dabei auch eine R o l l e gespielt h a b e n , d a ß das G r a b m a l im C h o r einer städtischen P f a r r k i r c h e z u r W i r k u n g k o m m e n sollte. D i e s e z w e i B e i s p i e l e aus d e m 15. J a h r h u n d e r t zeigen B ü r g e r u n d F ü r sten, städtische u n d l a n d e s h o h e i t l i c h e I n s t a n z e n in einer gespannten p r o duktiven Ausgleichslage. D i e Beispiele stehen im W i d e r s p r u c h zu einer h i s t o r i s c h e n Sicht, die im 15. J a h r h u n d e r t eine allgemeine K r i s e , einen Zerfall aller haltenden u n d s i c h e r n d e n W e r t e sieht: D e n Zerfall der K a i s e r gewalt, des R e i c h e s , der S t ä d t e b ü n d e , des k i r c h l i c h e n U n i v e r s a l i s m u s , der K i r c h e n e i n h e i t u n d K i r c h e n o r d n u n g , w ä h r e n d gleichzeitig ein E g o i s m u s der l o k a l e n u n d regionalen G e w a l t e n , der F ü r s t e n u n d G r a f e n , d e r S t ä n d e u n d Städte, der Z ü n f t e , P a t r i z i e r u n d R i t t e r einen Z u s t a n d der W i l l k ü r entstehen ließen. D i e neuere F o r s c h u n g j e d o c h sucht m e h r I n d i z i e n e t w a f ü r eine Staatsfähigkeit der Stände, f ü r v e r a n t w o r t l i c h e K o o p e r a t i o n auf u n t e r e r und mittlerer E b e n e , v o r allem f ü r eine S y m b i o s e städtischer u n d landesfürstlicher I n t e r e s s e n . 2 6
25 Im Ausstellungskatalog Hans Multscher, Bildhauer der Spätgotik in Ulm heißt es auf S. 30 zu Recht: „Die Gründe für die Übertragung einer Epitaphkomposition mit der persönlichen Anbetungsszene auf die viel repräsentativere Monumentalform eines Tumbengrabes bleiben im Dunkeln." (Hans Multscher, Bildhauer der Spätgotik in Ulm [wie Anm. 16], Nr. 16.) Deshalb darf hier ein Vorschlag zur Erhellung gemacht werden. 26 E.Schubert: Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, München 1996 (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 35).
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D e r Begriff des künstlerischen Ausgleichserzeugnisses kann unsern Blick f ü r solche Prozesse und Phänomene im Bereich der Kunstgeschichte schärfen. In München hat sich dieses Ausgleichsdenken ebenfalls niedergeschlagen, und dort scheint Warburg es auch bemerkt zu haben (Abb. 11). In der Tafel 32 des Bilderatlas hat W a r b u r g links unten zwei der Moriskentänzer des Erasmus Grasser aus dem gotischen, 1480 beendeten Festsaal des Rathauses aufgenommen, den auch der Hof f ü r Feste nutzte, und der heraldisch ganz wittelsbachisch besetzt war. Dieser herzogliche Anteil am Rathaus, so wurde bemerkt, werde „heute zugunsten des dominierenden bürgerlichen Anteils zu wenig gewürdigt." 2 7 Bei Warburg stehen Grassers Morisken, die herzogliche Stiftungen in das Rathaus waren, u m dort die Symbiose von landesherrlicher und ratsherrlicher Gewalt zu popularisieren, zusammen mit volkstümlichen Hosenkämpfen, Fasnachtsveranstaltungen, Weiberkämpfen. W a r b u r g rückt in seine Tafel eine Anzahl weiterer O b j e k t e aus der hochkulturellen Hofsphäre ein: Da ist oben das vornehme Schachbrett, das auf dem Rahmen ebenfalls Mauresken trägt; da sind die beiden wertvollen höfischen Pokale ebenfalls mit Bauernszenen besetzt; da sind aber auch einzelne Zeichnungen von Cossa, Karikaturen, die dem ferraresischen Hofmilieu entstammen; schließlich eine Reihe von hohen Frauen, zu deren Füßen sich die Kobolde tummeln. Die Tafel variiert die Beobachtung, die Warburg 1907 in seinem kleinen Aufsatz über „Arbeitende Bauern auf burgundischen Teppichen" beschäftigt hatte, daß nämlich ein „aristokratisches Fossil" wie ein Teppich dennoch „demokratische Züge" haben könne, 2 8 daß es also immer wieder zu diesen Ausgleichs-
27 G . D e h i o : Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Bayern IV: München und Oberbayern, M ü n c h e n 1990, S. 664. Diese von H . Habel benutzte Formulierung ist bezeichnenderweise in der M ü n c h e n e r Ausgabe des gleichen Dehio (1996, S. 15) d u r c h ein „vielleicht" abgeschwächt. 28 A. Warburg: Arbeitende Bauern auf Burgundischen Teppichen, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von der Bibliothek Warburg, Leipzig und Berlin 1932, Bd. 1, S. 223 ff. Drei Herzöge, Adlige, sowie M ü n c h e n e r Bürger u n d Bogenschützen erscheinen gemeinsam auf dem Votivbild in der Georgskapelle zu H o f l a c h bei Alling, das z u m G e d e n k e n an die dort stattgefundene Schlacht gegen Ludwig von Ingolstadt in der
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erzeugnissen zwischen unten und oben k o m m e n könne, ohne welche es zu Akten primitiver Devoration und einseitiger Vernichtung k o m m e n müsse, die auf der Tafel ebenfalls gezeigt werden. Es kann hier offen bleiben, ob es sich bei der Warburgschen Ausgleichsformel u m ein historisches Symptom oder u m ein allgemeines Theorem handelt; ob wir es mit einem heuristischen Begriff f ü r die frühe Neuzeit oder um ein Wesensmerkmal des lebensfähigen Kunstwerks zu tun haben. Es hat aber den Anschein, daß W a r b u r g in dem Augenblick, da die Moderne die bedingungslose Negativität zur bestehenden Welt proklamierte, noch etwas von der affirmativen oder geselligen Funktion alter Kunst festhalten wollte. Er hat den Begriff des Ausgleichserzeugnisses, wenn ich richtig sehe, nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr benutzt. Weder die Kunst, noch die Welt waren daran interessiert, es in einem Ausgleichsverhältnis miteinander auszuhalten.
gleichzeitig, 1422, errichteten Kapelle gemalt wurde. Vgl. O. G. Oexle: Memoria und Memorialbild, in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hrsg. K. Schmid und J. Wollasch, München 1984, S. 403 f.
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„Ausgleichserzeugnisse"
Abb. 1 Grabstein des Ulrich Kastenmayr, vor 1431, Straubing, Pfarrkirche St. J a k o b .
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Abb. 2 Grabmal des Probstes Petrus Prinzenauer Berchtesgaden, Stiftskirche.
1435),
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Abb. 3 Grabmal des Jörg Frauenberger von Haag, Marmor, 1435, Kloster Gars.
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Abb. 4 Tumba des Herzogs Albrecht II., Marmor, (f 1397), um 1410-20, Straubing, Karmelitenkirche.
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Abb. 5 Grabmal eines Bischofs ober Abtes, Werkstatt des A r n o l f o de C a m b i o , Florenz, Museo Bardini.
Abb. 6 Grabmal Kaiser Heinrich VII. (Zustand vor 1921), Pisa, Camposanto.
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Abb. 7 Hans Multscher, Modell des Grabmals für Herzog Ludwig VII. den Gebarteten von Bayern-Ingolstadt ( t 1447), um 1430, München, Bayerisches Nationalmuseum.
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Abb. 8 Epitaph des Guillaume de Peissant (f 1409) und seiner Gattin, Möns, St. Waudru.
Abb. 9 Hans Multscher, Modell des Grabmals für Herzog Ludwig VII. den Gebarteten von Bayern-Ingolstadt ( t 1447), um 1430, Detail, München, Bayerisches Nationalmuseum.
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Abb. 10 A n o n y m e Nachbildung des Grabmal-Modells für Ludwig den Gebarteten von Hans Multscher, nach 1430, Ingolstadt, Liebfrauenkirche.
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Abb. 11 Tafel 32 aus dem Bilderatlas von A b y W a r b u r g mit den Figuren des Erasmus Grasser aus dem M ü n c h e n e r Rathaus.
Blutende Frauen, blutige Räume Menstruation und Eucharistie in der Spätantike und im Frühen Mittelalter JOAN R. BRANHAM
Eine Vielzahl von Faktoren trägt dazu bei, sakrale und profane Räume in der Spätantike und im Mittelalter zu definieren. Ein Faktor hat bisher nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die er verdient, und das ist Blut. Ganz gleich, wie es aufgefaßt wird oder woher es stammt, reales, symbolisches, göttliches Blut, Opferblut, Menstrualblut - Blut ist ein mächtiger Wirkstoff, der alle Arten von Räumen determinieren kann: heilige, profane, öffentliche, private oder geschlechtsspezifische Räume. Darüberhinaus bewirken verschiedene Typen von Blut, die in demselben Raum vorkommen, unvereinbare und gefährliche Beziehungen zwischen den Benutzern des fraglichen Raums. In meiner Betrachtung über Blut und Raum werde ich zwei räumliche Kontexte betrachten: den Altarraum kirchlicher Architektur, das heißt ein blutiger Schauplatz, der dem Opferblut Christi gewidmet ist, und den Raum des weiblichen Körpers, den Ort also, an dem im monatlichen Rhythmus generatives, reproduktives Blut fließt. 1
Deutsch von Catharina Berents 1 Ich möchte mich bei der W a r b u r g - S t i f t u n g und bei M o n i k a W a g n e r und W o l f g a n g Kemp für die Einladung nach H a m b u r g bedanken. Der Gegenstand meines Vortrags ist aus einem Beitrag zu einer Konferenz über weibliche R ä u m e hervorgegangen, die in D u m b a r t o n O a k s 1996 stattfand, und ist im größeren Zusammenhang mit einem Buch zu sehen, das im Verlag C a m b r i d g e University Press unter dem Titel Sacred Space in Ancient and Early Medieval Arcbitecture erscheinen wird.
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U m die historischen und konzeptionellen Kräfte zu verstehen, welche die Beziehung zwischen R a u m und Blut definieren, muß ich mich zunächst der klassischen Antike zuwenden und folge damit der Tradition, die A b y W a r b u r g gestiftet hat. Die Antike und speziell die jüdische Antike stellt die Bühne für das Auftreten des Christentums in religiöser und kultureller Hinsicht. Im heiligen Bezirk der jüdischen, griechischen und römischen Tempel ist Blut eine Substanz, welche den Göttern gefällt und welche reinigt, was unrein ist. Oft ist es die unabdingbare Präsenz von Blut, welche einen R a u m heiligt. Dagegen ist das weibliche Blut der Regel ein ganz anderer Wirkstoff. Es hat die Macht, zeremonielle Komplexe zu verunreinigen, und ist deswegen fast überall aus ihnen verbannt. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß diese zwei Arten von Blut und ihre gegensätzlichen Effekte entlang der Opposition „heilig" - „profan" bestimmt werden. Aber die dramatische Spannung zwischen den derart belasteten Substanzen und die unzähligen Vorschriften, die menstruierende Frauen aus heiligen Räumen verbannen, drücken mehr aus als die typischen frauenfeindlichen Haltungen. W i r werden vielmehr sehen, daß die scheinbar absolute Antipathie der beiden Flüssigkeiten aus ihren verwandten oder ähnlichen Kräften entsteht: Beide sind sie befähigt, reinigend, lebenspendend und wiederbelebend zu wirken. Das Verhältnis zwischen christlichen liturgischen R ä u m e n u n d heidnischen Opferräumen, welches manchmal substantiell, manchmal s y m b o lisch ist, findet seine stärkste A u s f o r m u n g in der schwierigen Beziehung der Kirche zur jüdischen Mutterreligion. Die selektive A u f n a h m e jüdischer Reinheitsgebote und O p f e r s y m b o l i k durch die Kirche betrifft auch die heikle Frage nach Opferblut und reproduktivem Blut. Schriftliche u n d andere Quellen aus dem Mittelalter, aus dem Osten w i e aus dem Westen, bezeugen die ängstlichen Vorkehrungen, mit denen man menstruierende Frauen aus den heiligen Räumen, vor allem aber aus der U m g e b u n g der Eucharistie fernhielt. Diese räumliche Trennung nahm materielle Gestalt an - w i r sprechen von den architektonischen Barrieren, die ausdrücklich dazu bestimmt waren, nicht kongruente R ä u m e und Substanzen und damit Gruppen von Gläubigen zu trennen. In einem ersten Teil w i r d sich mein Beitrag mit den U b e r e i n s t i m m u n g e n beschäfti-
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und Eucharistie
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gen, die zwischen den jüdischen Praktiken im Tempel von Jerusalem und den frühchristlichen Vorstellungen von geschlechtsbestimmten Bereichen bestehen.
Der blutige Tempel Der Tempelberg in Jerusalem war als der Ort der Gegenwart Gottes und als Opferstätte das absolute Sakralzentrum der Juden. Nach und nach wurden an dieser Stelle verschiedene Tempel errichtet, beginnend mit dem Tempel Salomos im 10. Jahrhundert und endend mit dem enormen, 14 Hektar umfassenden Komplex, den Herodes der Große im 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung errichten ließ (Abb. 1). Dieser Bau, der im Jahr 70 nach unserer Zeitrechnung von den Römern zerstört wurde, war der Tempel für Jesus von Nazareth und seine Jünger, besaß also auch für die Christen und ihre Architektur modellhafte Bedeutung. Für unsere Zwecke werden wir uns auf die Reinheitsgebote, welche das Auftreten von Blut in dieser Umgebung regulierten, und auf die räumlichen Parameter konzentrieren, welche für die Frauen galten. Der Grundriß des herodianischen Tempels (Abb. 2) zeigt ein Gebäude, das rigoros in Hofbezirke unterteilt ist; diese wiederum waren nach der Art der zugelassenen Substanzen und Personen definiert. 2 Religionszugehörigkeit, Geschlecht und Stellung in der Hierarchie waren die Kriterien, welche Räume und Personen zuordneten. Die äußere Umgebung des Tempels, der Hof der Heiden, war Nichtjuden zugänglich und von einer niedrigen Balustrade umgeben, an welcher Warnschilder angebracht waren, die den heidnischen Besuchern bei Androhung von Todesstrafe das Ubertreten der Barrieren verboten. Wie ich an anderem Ort gezeigt habe, funktionierte diese Balustrade, soreg genannt, als Modell für die Lettner2 Die gründlichste Behandlung der räumlichen Disposition des Tempels in Jerusalem findet man bei M. Hara: Temples and Temple Service in Ancient Israel, Winona Lake 1985. Siehe auch E. P. Sanders: Judaism and Belief, 63 BCE -66, Philadelphia 1992.
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schranken, die in der christlichen Architektur des frühen Mittelalters heilige Bezirke ausgrenzten. 3 Wenn die jüdischen Männer und Frauen diesen peripheren H o f durchschritten, kamen sie in den H o f der Frauen, w o beide
Geschlechter
gemeinsam G o t t verehrten - besonders während der drei großen jüdischen Feste. Anders als sein N a m e sagt, war dieser H o f also nicht geschlechtsspezifisch definiert. E r repräsentierte aber für die Frauen die Grenze ihrer räumlichen Beteiligung am göttlichen Ritual. Es war den jüdischen Männern vorbehalten, aus diesem H o f in den H o f der Israeliten weiterzugehen, und nur eine ausgewählte Kaste von Priestern hatte das Privileg, eine weitere niedrige Barriere zu überwinden und an den Altar im H o f der Priester zu treten (Abb. 3). Hier wurden in den Opferzeremonien tagtäglich H e k t o liter von Blut vergossen. Das innerste Ziel des Tempels, das Allerheiligste, der W o h n o r t Gottes, lag in einem abgeschlossenem Raum, der nur an einem Tag des Jahres vom Hohepriester betreten werden durfte. Dieser kurze Gang durch den Tempel offenbart mehrere Qualitäten des heiligen Raumes nach jüdischer Vorstellung. Die H ö f e des Tempels waren nach
Heiligkeitsgraden
unterschieden,
und dementsprechend
war
der
Zugang strukturiert. Es existierten zwei abgetrennte Bezirke, w o der K o n takt zwischen der irdischen und der göttlichen Sphäre stattfand. D e r wichtigste war das innere Heiligtum, der O r t von Gottes Anwesenheit. H i e r o phanie, das göttliche Erscheinen an dieser Stelle, sicherte dem Tempel überhaupt erst seinen herausragenden Status als Sakralort. 4 Die zweite Stelle, an der menschliche und göttliche Sphären zusammenkamen, war der Altarbezirk im H o f der Priester. D o r t sicherten blutige O p f e r Israels K o m munikation mit G o t t . W i e wir sehen werden, wird die Unterscheidung zwischen diesen beiden Bezirken, dem O r t der göttlichen Gegenwart und dem O r t des Opfers, eine wichtige Rolle bei der christlichen Neubestim-
3 Siehe meinen Aufsatz: Sacred Space Under Erasure in Ancient Synagogues and Early Churches, in: The Art Bulletin, 74, 1992, S. 375-394. 4 Diese Definition des sakralen Raums als Ort der Hierophanie wurde von M. Eliade entwickelt und seitdem vielfach revidiert und erweitert, siehe ders.: Das Heilige und das Profane, Reinbek 1957, S. 25 ff.
Menstruation
und Eucharistie in der Spätantike
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Mittelalter
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mung des heiligen Raumes und speziell bei der Positionierung der Frauen spielen. Unsere Hauptquelle in bezug auf den Tempel in Jerusalem ist der jüdische Schriftsteller Josephus, der im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebte. Was die räumlichen Beschränkungen für Frauen angeht, so schreibt er: „Der äußere Hof war allen zugänglich, Fremde eingeschlossen. Nur Frauen war in den Tagen ihrer Unreinheit der Zutritt verwehrt. Zum zweiten Hof waren alle Juden zugelassen, auch ihre Frauen, wenn sie frei von jeglicher Unreinheit waren, zum dritten nur männliche Juden im Zustand der Reinheit und Läuterung, zum vierten nur die Priester." 5 Die Betonung, die hier auf dem reproduktiven Blut liegt, ist bemerkenswert. Der äußere Hof stand allen offen, unreine männliche Juden und Heiden inklusive. Nur Frauen, die mit reproduktivem Blut assoziiert wurden, also Frauen in der Menstruation oder nach der Geburt, wurden als Träger einer tabuisierten Substanz ausgesondert. Im Unterschied zu allen anderen Arten der Verunreinigung kommt dem Blut der Frau die einzigartige Bedeutung zu, den Zugang zu den Tempelbezirken zu regulieren und die Heiligkeit eines ganzen liturgischen Komplexes auszulöschen. Die Regulierung des Raumes hat ihre Ursprünge in den Levitischen Reinheitsgesetzen. 6 Im Zusammenhang anderer Träger von Unreinheit (Aussätzige z. B) schreibt Levitikus 12 einer Wöchnerin die längste Reinigungsperiode vor, bis sie wieder heiligen Boden betreten kann - vierzig Tage, wenn sie einen Jungen, achtzig, wenn sie ein Mädchen geboren hat. Während dieser Zeit „darf sie nichts Geweihtes berühren und nicht zum Heiligtum kommen, bis die Zeit ihrer Reinigung vorüber ist" (Lev 12, 4), sie soll „in ihrem Reinigungsblut bleiben" mnü 'Bl-^y . 5 Meine Hervorhebung, siehe Josephus: Gegen Apion 2.8, 102-105; Der Jüdische Krieg, 5.5.2, 193-194. Kelim 1: 6 - 9 in der Mishnah, ein Jahrhundert später geschrieben kennt diese Unterscheidungen nicht: The Mishnah, übers, von H. D a n b y , O x f o r d 1933, S. 605. 6 S. C o h e n s hervorragende Erschließung der altjüdischen Quellen hat die Forschungen zu diesem Thema neu orientiert. Siehe ihren Aufsatz: Menstruants and the Sacred in J u d a i s m and Christianity, in: S. B. P o m e r o y (Hg.): Women's History and Ancient History, Chapel Hill 1991, S. 273-299.
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Die Wurzel f ü r das W o r t Reinigung "IHD spielt eine Schlüsselrolle, wenn es nicht nur u m die Bezeichnung von reproduktivem Blut, sondern auch von O p f e r b l u t geht. Denselben Begriff gebrauchend, befiehlt Levitikus 16, 14-19 dem Hohepriester Aaron, Tierblut auf dem Altar zu vergießen, u m ihn zu „reinigen" VinBl. Nach Aussage dieser und anderer Bibelstellen scheint die Funktion der beiden Arten von Blut untrennbar zu sein. Reproduktives Blut reinigt. Opferblut reinigt. Konzeptionell und sprachlich gehören diese Substanzen als Wirkstoffe zusammen, die unreine Menschen und Gegenstände reinigen können. Darüber hinaus werden beide als lebensspendende Kräfte angesehen. Im Falle des reproduktiven Bluts liegt das auf der H a n d . Aus diesem Stoff entsteht Leben, wachsen die N a c h k o m m e n . Aber auch das Opferblut gilt als vitale Substanz. In Levitikus 17, 11 befindet Gott: „Die Lebenskraft des Fleisches sitzt nämlich im Blut. Dieses Blut habe ich euch gegeben, damit ihr auf dem Altar f ü r euer Leben die Sühne vollzieht; denn das Blut ist es, das f ü r ein Leben sühnt." Die reinigenden und lebensspendenden Qualitäten von Blut machten es zu einer hochbelasteten und überdeterminierten Substanz für die Kultur des Alten Israel. Die vieldeutige N a t u r des Blutes wird auch darin erkennbar, daß Blut, das aus demselben reproduktiven System kommt, unterschieden wird. Das monatlich fließende Blut verlangt nach vierzehn Tagen der Reinigung, während das Blut der G e b u r t vierzigbzw. achtzigtägiges Warten nach sich zieht. 7 Diese Diskrepanz unterstreicht die Gefährlichkeit der Kräfte, die mit der menschlichen Fortpflanzung verbunden sind. Eine Frau, die gerade einem Mädchen das Leben geschenkt hat, also das generative Potential vermehrt hat, scheint mit den göttlichen Kräften in Konkurrenz zu treten; ihr Eintritt in die geheiligten Bezirke interferiert mit den anderen übermenschlichen Mächten, die dort herrschen. 8
7 Siehe J. Milgrom: Table of Purification Procedures and Effects, in: The Anchor Bible, N e w York 1991, S. 986-987, eine Aufstellung der Vorschriften nach Levitikus 1-16. 8 Ich verkürze hier aus Platzgründen einen sehr komplexen Sachverhalt. Siehe z u m Thema weibliches und O p f e r - B l u t im griechischen, römischen u n d jüdischen Kontext meine Studie: Blood in Flux, Sanctity at Issue, in: RES 31, 1997, S. 53-70.
Menstruation und Eucharistie in der Spätantike und im Frühen Mittelalter
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Bloody Mary D i e Aneignung und Interpretation des Tempels durch die frühe Kirche zeigt uns, welche ungebrochen zentrale Rolle Blut auch in der christlichen Tradition spielt, sowohl das Opferblut (Eucharistie), als auch das reproduktive Blut. In ihrem Aufsatz „Menstruants and the Sacred" hat Shaye C o h e n überzeugend nachgewiesen, daß nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 „die Christen menstruierende Frauen aus der Kirche ausgeschlossen haben, noch bevor die Juden dies in ihren Synagogen t a t e n " . 9 Dies mag seinen Grund darin haben, daß die Kirche die rituellen Traditionen des Tempels fortsetzte und die Synagoge dies nicht tat. D i e Zulassung von menstruierenden Frauen in der frühen Synagoge scheint anzuzeigen, daß die Konkurrenz zwischen reproduktivem und sakralem Blut, die im Tempel gefürchtet wurde, jetzt nicht mehr bestand. Diese Situation sollte sich Jahrhunderte später ändern, als die Synagoge sich mehr und mehr dem Tempel anzugleichen begann. 1 0 Das N e u e Testament gibt uns einen ersten Einblick in das heikle V e r hältnis, das für die Christen zwischen Menstruation und Heiligem bestand, in der Geschichte der blutflüssigen Frau, die Christus berührt. In den drei synoptischen Evangelien (Mt 9, 2 0 - 2 2 ; M k 5, 2 4 - 3 4 , L k 8, 4 3 - 4 8 ) kehrt Christus die Reinheitsgesetze des Buches Levitikus um, indem er eine Blutflüssige in die N ä h e des Göttlichen kommen läßt. Lukas berichtet: „Darunter war eine Frau, die schon seit zwölf Jahren an Blutungen litt und bisher von niemandem geheilt werden konnte. Sie drängte sich von hinten an ihn heran und berührte den Saum seines Gewandes. Im gleichen Augenblick kam die Blutung zum Stillstand. D a fragte Jesus: W e r hat mich berührt? Als alle es abstritten, sagten Petrus und seine Gefährten: Meister, die Leute drängen sich doch von allen Seiten um dich und erdrücken dich
9 Cohen [wie Anm. 6], S. 287. 10 Zu den räumlichen Veränderungen, die in der frühmittelalterlichen Synagoge stattfanden, siehe meinen Aufsatz: Vicarious Sacrality: Temple Space in Ancient Synagogues, in: D. Urman und P. V. M. Flesher (Hg.): Ancient Synagogues: Historical Analysis and Archaeological Discovery, Leiden 1995, Bd. 2, S. 319-345.
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fast. Jesus erwiderte: Es hat mich jemand berührt; denn ich fühlte, wie eine Kraft von mir ausströmte. Als die Frau merkte, daß sie es nicht verheimlichen konnte, kam sie zitternd zu ihm, fiel vor ihm nieder und erzählte vor allen Leuten, warum sie ihn berührt hatte und wie sie durch die Berührung sofort gesund geworden war. Da sagte er zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden." (Lk 8, 43-48) Hier kommt eine Frau, die aus ihrem Unterleib blutet 11 , in direkten Kontakt mit dem inkarnierten Gott, der Eucharistie, und empfängt von ihm eine beträchtliche Gabe des göttlichen Geistes, man könnte sagen, sie empfängt eine frühe Art der Kommunion, aber sie beschmutzt das lebende Opfertier nicht. Im Gegenteil: Jesus segnet sie für ihr mutiges Handeln. Aber ist diese Begegnung mit Christus so direkt und konkret, wie sie scheint? Alle drei Evangelien halten fest, daß sie nur den Rand seiner Kleider berührt, nicht seinen Körper - und dies obwohl Christus fragt: „Wer hat mich berührt?" Dieses Detail wurde wichtig, als die Theologen das Problem von Menstruation und Eucharistie angingen. Die frühesten Bilder, die wir von Frauen in eucharistischem Kontext haben, gehen auf diese Geschichte zurück und sind in den Katakomben zu finden. Ein Fresko in der Katakombe der hl. Petrus und Marcellinus in Rom aus dem späten 3. Jahrhundert zeigt die Blutflüssige und bleibt insofern der Textquelle treu, als es keinen physischen Kontakt zwischen der Frau und dem Körper Jesu herstellt (Abb. 4). Eine Spannung zwischen Christus und der Frau entsteht daraus freilich nicht, denn die Geste, mit der er sie anspricht, bindet seinen göttlichen Raum mit ihrem Raum, der durch ihr weibliches Blut bestimmt ist. Ein anderes Bild aus derselben Katakombe (Abb. 5) zeigt eine Frau, die einen Weinkelch hält und ein Agape-Mahl anleitet.12 Hier wird eine frühe Form der Eucharistie explizit 11 M. J. Selvidge macht in ihrem Aufsatz: Mark 5, 25-34 und Levitikus 15, 19-20: A Reaction to Restrictive Purity Regulations, in: Journal of Biblical Literature 104, 1984, S. 619 klar, „daß das griechische Wort für blutflüssig absichtlich als ein Euphemismus für normalen oder anormalen Menstruationsfluß von Markus gebraucht wird". 12 Zur Stellung der Frauen in Religion und Gesellschaft siehe K. J. Torjesen: When Women Were Priests, San Francisco 1993, S. 9 ff., 154.
Menstruation
und Eucharistie
in der Spätantike und im Frühen
Mittelalter
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von einer Frau wahrgenommen. Was jedoch in diesen und anderen Bildern fehlt, welche Frauen als Anführerinnen von Agape- oder AbendmahlFeiern zeigen, sind klare Aussagen über den architektonischen Kontext. Ein Werk, das diesen herstellt und Aussagen über die räumlichen Verhältnisse in bezug auf Frauen und Eucharistie macht, findet sich unter den berühmten Mosaiken von San Vitale in Ravenna (Abb. 6 - 8 ) . Zu beiden Seiten des Altarraums im Osten der Kirche sind Justinian und Theodora abgebildet, er zu Christi rechter, sie zu seiner linken Seite. Im Kontext eines ikonographischen Programms, das sich um reale und symbolische Opfer dreht, bringt das Paar liturgische Geräte zum Altar. Justinian präsentiert die goldene Platte, auf die das eucharistische Brot gelegt werden wird, während Theodora den Kelch trägt, der den eucharistischen Wein aufnehmen wird. Im Falle von Justinians Darstellung gibt es keine architektonische Auszeichnung seines Raumes; dagegen ist Theodoras räumlicher Kontext sorgfältig ausgearbeitet: als eine Art Bühnenraum mit Eingängen, einem Brunnen, einer zentraler Nische oder Apsis usw. O t t o von Simson schreibt dazu: „Die implizite Annahme ist die, daß Justinian genau dort erscheint, wo sein Bild ist, im Altarraum von San Vitale. Die Kaiserin aber erscheint im Kontext einer Eingangsituation und neben einem zierlichen Brunnen. Dieses Setting ist kein imaginäres, sondern gibt in verkürzter Form den Narthex wieder, der neben der Apsis von San Vitale liegt. Dieser Hinweis auf die bauliche Topographie hat etwas Paradoxes: Theodoras Porträt erscheint im Presbyterium, aber zur gleichen Zeit wird der Betrachter davon abgehalten, sie sich an diesem heiligen Ort vorzustellen." 1 3 Wir müssen uns also Theodora an zwei Orten vorstellen, im Altarraum und im Narthex. Diese Spannung zwischen der Positionierung des Bildes im Altarraum und seiner impliziten Ortsangabe Narthex heißt aber auch, daß Theodora keinen Raum einnimmt. Sie ist im Altarraum präsent und ist es auch wiederum nicht. Die Gleichstellung mit dem kaiserlichen Gatten, ihre liturgische Rolle, die sie speziell mit Christi Blut verbindet, ihre Präsenz im Altarraum werden durch diese Angaben eines
13 O . G . von Simson: Sacred Fortress: Byzantine ton 1987 ( 1 9 4 8 ' ) , S. 30.
Art and Statecraft in Ravenna,
Prince-
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Branham
alternativen Ortes wieder ausgelöscht. Und die Einführung eines Brunnens spielt auf die Gesetze an, die von den Unreinen Reinigung verlangen.14 Darüberhinaus hält Theodora den vorbereiteten Kelch von ihrem Körper weg, so daß er vor einem männlichen Begleiter erscheint. Anders als Justinians Platte ist der Kelch ganz und gar außerhalb von Theodoras körperlichem Raum angesiedelt. Auf diese Weise wird durch eine Reihe visueller Anzeichen die Präsenz der Kaiserin im Altarraum und ihre Assoziation mit der Eucharistie wieder verneint - der heilige Raum und der weibliche Raum werden mit bildlichen Mitteln ängstlich auseinandergehalten. Diese Art von Ambivalenz finden wir auch in den Schriftquellen der frühen Zeit der Kirche ausgedrückt. Das Protoevangelium des Jakobus, das aus dem 2. Jahrhundert stammt, versucht z.B. das Faktum einer menstruierenden Maria mit den jüdischen Tempelgesetzen in Ubereinstimmung zu bringen. Die apokryphe Geschichte erzählt, wie Maria am Fuße des Opferaltars im Jerusalemer Tempel aufwächst: „Der Priester [...] stellte sie auf die dritte Altarstufe, und der Herr segnete das Kind. Und Maria wurde im Tempel wie eine Taube großgezogen und erhielt ihre Nahrung aus der Hand eines Engels. Als sie zwölf Jahre alt wurde, fand ein Rat der Priester statt, die sagten: ,Siehe, Maria ist im Tempel des Herrn zwölf Jahre alt geworden. Was sollen wir tun, damit sie nicht das Heiligtum Gottes befleckt.' Und sie sprachen zum Hohenpriester: ,Du stehst am Altare Gottes, geh hin und bete für sie. Was der Herr dir offenbaren wird, werden wir tun.'" 1 5 Um dem Konflikt aus dem Wege zu gehen, der aus Marias Einsetzen der Regel und ihrer Präsenz im heiligen Raum entstehen könnte,
14 Den Gebrauch von Wasser und Brunnenanlagen zu Reinigungszwecken findet man im Kontext frühchristlicher Architektur zum ersten Mal angesprochen in Beschreibungen der Basilika von Tyros. Eusebius sagt, daß Brunnen vorhanden waren, „gleich rechts gegenüber der Kirche, deren reichlicher Fluß denen zur Reinigung diente, die in den heiligen Bezirk eintreten wollten". Siehe Kirchengescbichte X.IV.40. 15 Protoevangelium Jacobi 7.3-8.3. Zu anderen Apokryphen, die ebenfalls Maria im Tempel ansiedeln, siehe Evangelium de nativitate Mariae Kap. 4-7 und PseudoMatthäus Kap. 4 - 8 , der berichtet, daß Maria im Alter von 14 Jahren aus dem Tempel entfernt wurde.
Menstruation
und Eucharistie in der Spätantike
und im Frühen
Mittelalter
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entscheiden sich die Priester dafür, Maria mit Joseph zu vermählen, der sie praktischerweise dann aus dem heiligen Bezirk entführt. In diesem Text ist die christliche Aneignung der jüdischen Vorschriften in bezug auf Frauen und heiliger Raum von Ambivalenz und Selektion geprägt. Der Autor unterwirft eine menstruierende Maria den Reinheitsgesetzen des Buches Levitikus, die Frauen in der Regel den Zugang zum Tempel untersagen. Zur gleichen Zeit weicht er aber von diesen Gesetzen ab, indem er Maria neben dem Altar im Hof der Priester aufwachsen läßt - eine sakrale Zone, wo Frauen in keinem Fall geduldet wurden. Maria spielt hier eine entscheidende Rolle als die Vermittlerin zwischen den alten jüdischen Praktiken und ihrer Identität als die herausragende Frau des Christentums. Indem sie sich auf den räumlichen Kontext des Tempels bezieht, macht die Erzählung zwei wichtige Aussagen: Sie antizipiert die Schwierigkeiten, welche menstruierende Frauen in christlichen Räumen haben werden, und sie bestätigt, daß sogar die blutende Mutter Gottes das blutige Haus Gottes verunreinigen kann. 16 Dieser Text leitet noch eine andere christliche Neuerung ein, die den Kirchenraum durch das Mittelalter hindurch bis in unsere Tage formt. Joseph sagt im Protoevangelium des Jakobus zu Maria: „Du wuchsest im Allerheiligsten auf und erhieltest deine Nahrung aus der Hand eines Engels." 1 7 Wie wir jedoch gesehen haben, war das Allerheiligste der Ort der Präsenz Gottes, wohingegen Gott an einem Altar geopfert wurde, der in einem ganz anderem Bezirk, im Hof der Priester, lag. Die Uberblendung dieser verschiedenen Bezirke verweist auf eine radikale Umorientierung des Christentums in bezug auf Liturgie und Theologie. Der Altarraum und das Allerheiligste werden eins, weil für die frühen Christen Gottes Gegenwart und Gottes Opfer identisch sind. Gott ist das Opfer geworden. Dieses
16 Zu widersprüchlichen Aussagen über die menstruierende Maria im Mittelalter siehe A. Demyttenaere: The Cleric, Women, and the Stain, in: Frauen in Spätantike und Frühmittelalter, Sigmaringen 1990, S. 144-65 und Ch. T. Wood: The Doctor's Dilemma: Sin, Salvation, and the Menstrual Cycle in Medieval Thought, in: Speculum 56, 1981, S. 710-27. 17 Protoevangelium Jacobi 13.2.
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Zusammenfallen räumlicher Einheiten, die Überblendung von Hierophanie und Opfer und die Übertragung von Gottes Präsenz in den Bezirk der Priester spielen wichtige Rollen bei der Definition des christlichen Raums und der Positionierung der Frauen in ihm. Marias Eindringen in die innersten Bezirke des Tempels ist der Gegenstand einer Reihe von Darstellungen, die sich dem Leben der Jungfrau widmen. 1 8 Das bemerkenswerteste Beispiel für den weitreichenden Einfluß des zitierten apokryphen Textes ist ein byzantinisches Mosaik in der Kariye Djami in Istanbul, eine Arbeit des 14. Jahrhunderts (Abb. 9). Bezeichnenderweise im Kuppelgewölbe am Eingang des Schiffes angebracht, vereint es die Szenen von Mariä Tempelgang und ihrer Speisung durch die Engel. 1 9 Maria nähert sich unten dem Hohenpriester Zacharias und läßt ihre Eltern zurück; darüber sitzt sie hinter dem Altar, der von einem Baldachin überwölbt und von Altarschranken umgeben ist. Dort empfängt sie Nahrung von einem Engel. Die griechische Inschrift, die einfach „Das Allerheiligste" sagt, umgibt die Komposition und schließt den Opferraum und den Raum der Gotteserscheinung zusammen. Darüberhinaus erinnert die Plazierung des Mosaiks die Kirchenbesucher daran, daß nicht nur Maria den allerheiligsten Raum des Tempels in Jerusalem betrat, sondern daß auch sie, wenn sie sich dem Schiff der Kariye Djami nähern, einen neuen Kirchenraum betreten, der das alte Haus Gottes ablöste. Trotz der Nostalgie für den Tempel in Jerusalem, die sich in der Geschichte von Marias Kindheit verrät, und trotz des offenkundigen Bedürfnisses, den jüdischen Prototyp liturgisch und symbolisch zu überbieten, ist das Verhältnis der Kirche zum ruinösen Tempelberg doch auch durch eine gewisse Ambivalenz bestimmt. Wir haben Zeugnisse dafür, daß zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert die Christen nicht nur dem heiligen Berg den Rücken zukehrten und lieber woanders in der Stadt bauten, son-
18 Siehe zur Ikonographie J. Lafontaine-Dosogne: Iconographie de l'enfance de la Vierge dans l'Empire byzantin et en Occident, Brüssel 1964-65, Bd. I, S. 136-137 und den Abschnitt: „Iconography of the Cycle of the Life of the Virgin," in: P. Underwood: The Kariye Djami, Princeton 1975, Bd. IV, S. 179-183. 19 Ebd., Bd I, S. 72-74, Bd. II, Taf. 91-92.
Menstruation
und Eucharistie
in der Spätantike und im Frühen
Mittelalter
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dern die Stelle als eine Müllabladestelle benutzten. 2 0 Islamische Quellen sagen, daß Umar auf Händen und Knien sich durch Dung und Abfall bewegte, als er im 7. Jahrhundert den Tempelberg bestieg. Eine späte islamische Chronik von 1351, der Muthir al-Ghiram, berichtet von Umars Begegnung mit dem Felsen, über dem sich einmal der Felsendom erheben sollte: „Zu der Zeit aber lag über dem Felsen in der Heiligen Stadt ein großer Misthaufen, der die Gebetsnische Davids völlig überdeckte und welchen die Christen dort angelegt hatten, um die Juden zu beleidigen. Auch pflegten die christlichen Frauen dort ihre von der Menstruation befleckten Kleider abzulegen, so daß dort ein ganzer Haufen von ihnen war."21 Wie auch immer man den polemischen Charakter dieser Quelle bewertet, der Text markiert genau reproduktives Blut als die schlimmste Verunreinigung in diesem Kontext. Er weist auch auf ein Motiv hin, das Christen, Juden und Muslime während des Mittelalters gemeinsam haben: die Unvereinbarkeit von Mentsruationsblut und sakralem Raum. 2 2
Blutige Kirchen Die spätantike Kirche, die im zeitlichen Zusammenhang mit dem Tempel in Jerusalem sich formierte, war in Fragen Menstruation und Raumheiligkeit sehr besorgt. Hippolytos schreibt in der ersten Hälfte des 3. Jahrhun-
20 Eine gute Übersicht über den Tempelberg in frühmittelalterlicher Zeit gibt F. E. Peters' Kapitel „The Holy of Hohes," in: Jerusalem
and Mecca: The Typology of the
Holy City in the Near East, N e w Y o r k 1986, S. 8 0 - 1 2 2 . 21 G. Le Strange: Palestine
under
the Moslems,
A Description
of Syria and the
Holy
Land from A.D. 650 to 1500, Reprint, Beirut 1965 (18901), S. 139. Siehe auch F. E. Peters: Jerusalem:
The Holy City in the Eyes of Chroniclers,
Prophets from the Days of Abraham
to the Beginnings
Visitors, Pilgrims,
of Modern
and
Times, Princeton
1985, S. 187. 22 Grundlegende Quellen zu nichtchristlichen Frauen im Mittelalter gibt das Kapitel „Outsiders: Jewish, Muslim, and Heretic W o m e n " , in: E. Amt (Hg.): Women's in Medieval
Europe: A Handbook,
N e w Y o r k 1993, S. 2 7 9 - 3 1 7 .
Lives
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Joan R.
Branham
derts in Rom: daß „eine Frau, die ihre Monatsregel hat, zurückgestellt werden und an einem anderen Tag getauft werden soll." 2 3 Bei Dionysios von Alexandria, einem Schüler des Origines, der im 3. Jahrhundert schreibt, lesen wir zu diesem Thema: „Was die durch Menstruation abgesonderten Frauen angeht, so denke ich, so ist noch nicht einmal die Frage angebracht, ob sie unter diesen Bedingungen das Haus Gottes betreten können. Denn wenn sie gläubig und fromm sind, dann würden sie es aus eigenen Stücken nicht wagen, dem heiligen Tisch nahezukommen oder den Leib und das Blut Christi zu berühren." 2 4 U m seine Meinung zu bekräftigen, verweist Dionysios auf das Neue Testament und führt aus: „Denn sogar die Frau, die seit zwölf Jahren blutflüssig war und Heilung suchte, berührte nicht ihn, sondern nur den Saum seines Gewandes." 2 5 Und abschließend überblendet er explizit den christlichen Altarraum mit dem Tempelraum und erklärt im Sinne der jüdischen Reinheitsgesetze, daß alle, „die nicht vollständig rein an Seele und Körper sind, davon abgehalten werden sollen, sich dem Heiligtum und dem Allerheiligsten zu nähern". 2 6 In direktem Gegensatz dazu steht, was eine andere Quelle aus dem 3. Jahrhundert konstatiert - die Didascalia Apostolorum, die in Palästina oder Syrien verfaßt wurden: „Du sollst nicht die Frauen, die ihre Monatsregel haben, absondern, denn die Frau, die den Blutfluß hatte, wurde nicht zurückgewiesen, als die den Saum des Mantels unseres Heilands berührte, sondern ihr wurde vielmehr die Vergebung aller Sünden versprochen." 2 7 Für diesen Autor ist die Berührung des Mantels so viel wert wie die Berührung des Körpers; er benutzt die Quelle des Neuen Testamentes, um die Spannung zwischen den menstruierenden Frauen und dem Kirchenraum aufzuheben. Diese Widersprüche scheinen sich bis in die frühe mittelalterliche Zeit fortzusetzen. Wenn die Bestimmungen 11 und 45 der Synode von Laodikeia im 4. Jahrhundert festlegen, daß „Frauen keinen Zugang zum Altar 23 Traditio Apostolica 20, 6; G. Dix: The Apostolic Tradition 1937, Reprint 1968, S. 32; Cohen [wie Anm. 6], S. 288. 24 P G 10, S p . 1 2 8 1 - 2 ; siehe Cohen [wie Anm. 6], S. 288. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Didascalia
Apostolorum
26, 62, 5.
of St. Hippolytus,
London
Menstruation
und Eucharistie
in der Spätantike
haben sollen"28, spricht das Testamentum
und im Frühen
Mittelalter
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Domini Nostri Jesu. Christi, eine
syrische Quelle aus dem 5. Jahrhundert, davon, daß Witwen in der Tat sich mit dem Klerus in dem durch Vorhänge abgeteilten Altarraum aufhielten, u m dort die K o m m u n i o n zu empfangen. 2 9 Dasselbe D o k u m e n t verbietet aber, daß eine Witwe in ihrer Regel die K o m m u n i o n empfangen oder dem Altar nahetreten durfte. 3 0 Ähnlich lauten die Bestimmungen eines anderen
syrischen Textes von 538, Die Fragen
des Priesters
Sargis:
Frauen ist es
danach erlaubt, das Heiligtum zu betreten, die heiligen Gefäße zu berühren und Wein in den Altarkelch zu gießen. Wichtig ist an diesem Text die Stelle, welche die Grenzen f ü r das Wirken der Diakonissinnen festlegt: „Frage: Ist es ihr während der Menstruation gestattet, die K o m m u n i o n auszuteilen oder den Kelch zu berühren, wenn es nötig ist? Antwort: Während der Menstruation ist es ihr nicht gestattet, das Heiligtum zu betreten oder die heilige Eucharistie zu b e r ü h r e n . " 3 1 In beiden syrischen Texten werden Frau und Sakralraum nicht als sich ausschließende Entitäten begriffen; es geht ihnen spezifisch u m die Unvereinbarkeit zweier Arten von Blut in demselben Raum. Im Westen schrieben drei Bischöfe des nördlichen Gallien Ermahnungsschreiben an die Priester der Bretagne, die mit Frauen reisten - sie werden conhospitae genannt - und im Freien die Messe lasen. Wir entnehmen diesem Schreiben, daß die Priester zur Meßfeier provisorische Altäre (tabulae) aufschlugen und bei den sakramentalen Handlungen von den Frauen unterstützt wurden, die den Kelch nahmen und das Blut Christi an das Volk verteilten. 3 2 Hier gibt es keinen Sakralraum. Stattdessen ist es die
28 R. G r y s o n : The Ministry of Women in the Early Church, Collegeville, Minnesota 1976, S. 53. 29 Testamentum Domini 1, 23, 1; G r y s o n [wie A n m . 28], S. 64-67; J. LaPorte: The Role of Women in Early Christianity, N e w York 1982, S. 126-29. 30 Testamentum Domini 1, 23, 13; G r y s o n [wie A n m . 28], S. 67. 31 Ein Bischof aus der Gegend bei Edessa, J o h n bar Q u r s o s , antwortet auf diese Fragen, die Diakonissen in Frauenklöstern betreffend. Siehe A. G. Martimore: Les Diaconesses, R o m 1982, S. 139-140. 32 G r y s o n [wie A n m . 28], S. 106 gibt die Quelle. Papst Gelasius schreibt im S . J a h r h u n dert einen Brief an einen Bischof im Süden Italiens, der es zugelassen hatte, daß
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Branbam
N ä h e der Frauen, ob menstruierend oder nicht, zur Eucharistie, welche die Bischöfe zu einem Verbot veranlaßt. In einem revolutionären Schritt bricht Gregor d. Gr. am Ende des 6. Jahrhunderts mit den bisherigen Vorstellungen bezüglich Menstruation und Sakralraum. Augustinus von Canterbury fragt ihn, ob es einer Frau gestattet sein soll, die Kirche während ihrer Regel zu betreten, und ob sie die K o m m u n i o n während dieser Zeit empfangen darf. Gregor antwortet emphatisch: „Einer Frau darf der Zugang zur Kirche während ihrer Periode nicht verwehrt werden, denn dieser natürliche Uberfluß kann nicht als Vergehen betrachtet werden. [...] W e n n die Blutflüssige sich demütig von hinten dem H e r r n näherte und den Saum seines Kleides berührte [...] und in ihrem kühnen T u n bestätigt wurde, warum soll das, was für sie galt, nicht f ü r alle Frauen gelten? [...] Einer Frau soll man in dieser Zeit auch nicht den Empfang der heiligen K o m m u n i o n verw e h r e n . " 3 3 Das ist unmißverständlich: Gregor will dem Aufeinandertreffen zweier machtvoller Substanzen in einem Raum das Gefährliche nehmen, das viele darin sahen. Aber trotz seiner Bemühungen hielten die Ängstlichkeiten an, und im Jahr 688 kehrte T h e o d o r von Tarsus, der Bischof von Canterbury, die Lehrmeinung Gregors wieder um und verbat Frauen in der Menstruation den Zugang zur Kirche und den Empfang der K o m m u n i o n . Darüber hinaus erneuerte er alttestamentliche Vorschriften und ordnete eine 40tägige Wartezeit f ü r Wöchnerinnen an. 3 4 U n d ein Jahrhundert später konstatiert Jonas von Orleans ausdrücklich, daß im Westen Frauen beim Altardienst „all das taten, was den M ä n n e r n vorbehalten w a r " . Siehe Gelasius von R o m : Epistola 14, 13, 21, 26; G r y s o n [wie A n m . 28], S. 105. 33 In diesem Schreiben von 597 fährt Gregor fort: „Wenn sie es nicht wagen, das Sakrament von Leib u n d Blut Christi in ihrer Periode anzurühren, dann sind sie f ü r ihre rechte Gesinnung zu loben, w e n n sie aber in der G e w o h n h e i t eines gläubigen Lebens von der Liebe zu diesem Mysterium davongetragen werden, dann sollen sie nicht gehindert werden." Epistola 64, in: PL 77, Sp. 1183-1199. Siehe auch W o o d [wie A n m . 16], S. 713. 34 Z u r Geschichte der Kirche in England und der Beteiligung der Frauen siehe J. M o r ris: The Lady Was a Bishop, N e w York 1973, S. 109-112. Siehe auch P. J. Payer: Sex and the Penitentials: The Development of a Sexual Code 550-1150, T o r o n t o 1984, S. 36.
Menstruation und Eucharistie in der Spätantike und im Frühen Mittelalter
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die Frauen während der Zeit ihrer „fleischlichen Unreinheit" die Kirche nicht betreten. 3 5 In der Spätantike und in der frühmittelalterlichen Zeit bleiben die Räume des symbolischen Bluts den realiter blutenden Frauen verschlossen. W e n n wir mit diesen Erkenntnissen an das spätere Mittelalter herantreten, so können wir einige vorsichtige Beobachtungen machen. Während des 12. bis 14. Jahrhunderts sprechen byzantinische Texte sich gegen die Anwesenheit von menstruierenden Frauen in liturgischen Kontexten aus. 3 6 Matthaios Blastares aus Thessaloniki zeigt den Frauen des 14. Jahrhunderts deutlich die Grenzen auf, wenn er sagt, daß „diejenigen, die vom monatlichen Fluß behindert sind, vom Altarraum [ausgeschlossen sind], w o ihnen vor noch gar nicht so langer Zeit der Zutritt gestattet w a r " 3 7 . Blastares bezieht sich wie andere Autoren vor ihm auf die einschlägige Geschichte des Neuen Testaments, k o m m t aber zu einer anderen exegetischen Begründung: „Die blutflüssige Frau wagte nur den Saum Seiner Außenkleider, nicht aber den Körper des Herrn zu berühren."
38
Ein Mosaik aus dieser Zeit wiederum in der Kariye Djami illustriert die Spannung, die der oft zitierte T e x t der Heilung der Blutflüssigen immer wieder ausgelöst h a t 3 9 (Abb. 10). I m Kontrast mit dem früheren Katak o m b e n - F r e s k o erscheint die Frau hier in der Mitte der Komposition zwi-
35 Jonas von Orleans: De
institutione
laicali
2, in: P L Bd. 1 8 7 - 1 8 8 , Sp. 106. Siehe
Demyttenaere [wie A n m . 16], S. 160. 36 D e r Kirchenrechtler Zonaras verbietet z . B . den Kirchenbesuch
menstruierenden
Frauen, siehe C a n o n 44, in: P G Bd. 137, Sp. 1400. H e n r y Maguire gab mir dankbarerweise diesen Hinweis in seinem Vortrag „Abaton and E c o n o m i a " , gehalten auf einer Konferenz über Zypern in byzantinischer Zeit, Princeton 1993. 37 Syntagma
A. 16, zitiert in P. Viscusos Aufsatz: Purity and Sexual Defilement in Late
Byzantine Theology, in: Orientalia christiana periodica 57, 1991, S. 401. 38 Ebd. 39 Siehe N . Teteriatnikovs Diskussion dieses Mosaiks in: T h e Place of the N u n Melania (the Lady of the Mongols) in the Deesis Program of the Inner Narthex of Chora, Constantinople, in: Cahiers
Archéologiques
43, 1995, S. 171. Siehe N . Teteriatnikovs
Diskussion dieses Mosaiks in: T h e Place of the N u n Melania (the Lady of the M o n gols) in the Deesis Program of the Inner Narthex of Chora, Constantinople, in:
Cahiers Archéologiques 43, 1995, S. 171.
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sehen zwei Gruppen: Christus und die Apostel befinden sich auf der Linken, und Jairus, der Synagogenvorsteher, steht mit seiner Begleitung auf der R e c h t e n . 4 0 D i e ondulierende F o r m der Frau, welche von der wellenförmigen Rahmenverzierung darunter gespiegelt wird, trägt zur Verbindung der beiden getrennten Lager bei: des Alten Bundes, der durch die Synagoge repräsentiert wird, und des Neuen Bundes, den Christus vertritt, der eine Schriftrolle, die U r k u n d e des Neuen Bundes, in der H a n d hält. Zwischen diesen nicht kongruenten Welten steht die Blutflüssige am D r e h punkt, und das genau zu dem Zeitpunkt, da ihre Nachfolgerinnen im 14. Jahrhundert zum Gegenstand eines schwierigen theologischen Diskurses werden. Blastares geht sogar soweit, daß er den Kontakt einer menstruierenden Frau mit der Eucharistie als „gefährlich" bezeichnet 4 1 und daß Frauen sich durch die Nachblutungen nach der Geburt „reinigen". 4 2 Eine solche Auffassung der Monatsblutung als gefährlich und reinigend steht in klarer Nachfolge der Bestimmungen im B u c h Levitikus und betrachtet Opferblut und reproduktives Blut unter demselben Gesichtspunkt. Theodor
Balsamon, ein byzantinischer Autor des
12. Jahrhunderts,
schlägt vor, daß eine Art von architektonischer Lösung gefunden werden müßte, um menstruierende Frauen vom Rest der Kirche fernzuhalten. E r erklärt: „Es ist also angemessen, daß solche Vestibüle für die unreinen Frauen nicht in der Kirche liegen [ . . . ] sie sollen deutlich getrennt sein, so daß die unreinen Frauen in ihnen ohne Verurteilung stehen k ö n n e n . " 4 3 Hier schafft das reproduktive Blut Sonderräume. Balsamons Initiative zeigt auch, daß die Marginalisierung der Frauen nicht nur zum Schutz des Altarraums, sondern der Kirche als ganzer geschieht. In der Tat legt die s y m b o lische Auffassung des Neuen Testaments der Kirche als Christi K ö r p e r 4 4 den Grund dafür, daß die Schutzbestimmungen
für Altarräume
ent-
40 Das Erscheinen von Jairus dient als Uberleitung zum nächsten Wunder Christi, siehe Underwood [wie Anm. 18], Bd. I, S. 146-147. 41 Syntagma A. 16; Vicuso [wie Anm. 37], S. 401. 42 Syntagma G 28; Viscuso [wie Anm. 37], S. 402. 43 P G Bd. 138, Sp. 465-468. 44 Siehe z.B. Epbeser 5, 23-30 und 4, 4, 12-16, Römer 12, 4 - 5 und 1 Korinther 12, 11-27.
Menstruation und Eucharistie in der Spätantike und im Frühen Mittelalter
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sprechend ausgeweitet werden können. D e r Körper der Kirche kann dann zur G ä n z e als der K ö r p e r des Herrn, sprich: der Eucharistie gelten. Im Westen scheinen mittelalterliche Autoren ebenfalls die analoge Beziehung der gefährlichen Kräfte beider Arten von Blut empfunden zu haben. Allerdings dürften diese Vorstellungen nicht so sehr auf jüdische, als vielmehr auf pagane Modelle zurückgehen. Angefangen bei Isidor von Sevilla in der Mitte des 7. Jahrhunderts bis hin zu Albertus Magnus und seinem Schüler T h o m a s von Aquin im 13. Jahrhundert beziehen sich westliche Autoren auf antike Quellen -
von Aristoteles, Pseudo-Demokrit
Aelian bis hin zu Plutarch und Plinius d. Ä .
und
wenn es um die sakralen und
magischen Kräfte des Menstruationsblutes geht. 4 5 Plinius z. B. erklärt, daß „man wohl nichts Bemerkenswerteres finden könne als den monatlichen Blutfluß bei Frauen" und daß ihr Blut die Kraft habe, Bäume verdorren zu lassen, Bienen zu töten, Metall stumpf zu machen und gewaltige Mengen Asphaltes in Judäa zur Spaltung zu b r i n g e n ! 4 6 Wichtiger noch ist, daß Plinius das Blut der Frauen „als den Stoff zur Fortpflanzung des Menschen" ansieht, eine Materie, welche Leben einflößt und ins Leben schickt. 4 7 D i e Fähigkeit des Regelblutes, Leben zu schenken, magisch zu wirken, zu verunreinigen und zu reinigen, wird ein stehendes Motiv in der mittelalterlichen Diskussion. Christliche Theologen wie Rabanus Maurus im J a h r 856, Sighard von C r e m o n a im J a h r 1215 und Innozenz III. ein Jahr später zitieren diese Plinius-Stellen, wie sie ihnen Isidor überliefert hatte, und nehmen Stellung zu den normalerweise nur dem Göttlichen zugeschriebenen, übersinnlichen Kräften des reproduktiven Blutes. 4 8 Im 13. Jahrhundert arbeiten Miniaturen, wie wir sie in der Bible M o r a lisee finden (Abb. 11), auf die mimetische Beziehung zwischen Eucharistie und Menstruation hin. Historikerinnen wie Caroline Walker B y n u m haben 45 Siehe Wood [wie Anm. 16], S. 723. Weitere Diskussion zu den medizinischen Aspekten der Menstruation bei H. Lemay: Women and the Literature of Obstetrics and Gynecology, in: J. T. Rosenthal (Hg.): Medieval Women and the Sources of Medieval History, Athens, GA 1990, S. 189-209. 46 Plinius d. Ä.: Naturgeschichte, 7.15.64-65. 47 Ebd. 48 Morris [wie Anm. 34], S. 111.
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gezeigt, daß weibliche wie männliche Autoren des H o h e n Mittelalters die Macht des weiblichen Blutes mit den Schrecken erregenden Kräften des blutigen Opfers verbinden, zumal in Beschreibungen des Kreuzestodes Christi, die sich wie Schilderungen einer Geburt lesen. 49 In den zwei Medaillons aus der Wiener Bible Moralisee wird eine typologische Doppelgeburt gezeigt: Eva entspringt der Seite Adams u n d Ekklesia der Seite Christi. 5 0 Christus aber „gebiert" die einen Kelch haltende Kirche aus seiner vaginalen Seitenwunde. Hier nehmen die lebensspendenden und reinigenden Affinitäten, die zwischen Opferblut und reproduktivem Blut bestehen und auf die zuerst das Buch Levitikus hinwies, sichtbare F o r m an. Hier werden O p f e r b l u t und reproduktives Blut eins.
49 C . Walker B y n u m : Jesus as Mother, Berkeley 1982, S. 129 ff. 50 Bible Moralisee: Codex Vindobonensis 2554, G r a z 1973, S. 7, 25. Siehe auch Bynum: Fragmentation and Redemption, N e w York 1992, S. 99.
Menstruation
und Eucharistie
in der Spätantike
und im Frühen
Mittelalter
A b b . 1 Modell des Herodianischen Tempels. D e r Soreg, die Balustrade, umgibt die inneren H ö f e und markiert Reinheitsgrenzen.
Abb. 3 Vogelperspektive auf das Tempel-Modell mit den räumlichen Abgrenzungen zwischen den Höfen der Frauen, Israeliten und Priester (mit Altar).
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Abb. 2 Plan der Höfe des Herodianischen Tempels nach Leen Ritmeyer.
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Menstruation
und Eucharistie
in der Spätantike
und im Frühen
Mittelalter
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Abb. 4 Christus und die Blutflüssige, Fresko in der Katakombe SS. Marcellino e Pietro, spätes 3. Jahrhundert, R o m .
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Abb. 5 Agape-Mahl, Fresko in der Katakombe SS. Marcellino e Pietro, spätes 3. Jahrhundert, Rom.
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A b b . 6 J u s t i n i a n u n d T h e o d o r a im A l t a r r a u m von San Vitale, M o s a i k , u m 5 4 7 , R a v e n n a .
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Abb. 7 Kaiser Justinian und Gefolge, Mosaik, um 547, Ravenna, San Vitale.
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Menstruation und Eucharistie in der Spätantike und im Frühen Mittelalter
Abb. 8 Kaiserin Theodora und Gefolge, Mosaik, um 547, Ravenna, San Vitale.
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A b b . 9 M a r i a im T e m p e l , M o s a i k , 14. J a h r h u n d e r t , Istanbul, K a r i y e Djami.
Menstruation
und Eucharistie
in der Spätantike
und im Frühen Mittelalter
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Abb. 10 Christus und die Blutflüssige, Mosaik, 14. Jahrhundert, Istanbul, Kariye Djami.
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Abb. 11 Geburt der Eva, Geburt der Kirche, Bible Moralisee, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2554.
Branham
ABBILDUNGSNACHWEIS
Warnke Archiv des Autors: Abb. 1, 4, 7, 10, 11 Bildarchiv Foto Marburg: Abb. 3 Fotothek des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg: Abb. 2, 5, 6, 8, 9
Branham Alec Garrard and Ritmeyer Archaeological Design: Abb. 1, 3 Alinari/Art Resource New York: Abb. 6, 7, 8 Archiv der Autorin: Abb. 2 Dumbarton Oaks, Washington, D C Copyright 1999: Abb. 9, 10 Osterreichische Nationalbibliothek, Wien: Abb. 11 Pontifica Commissione di Archeologia Sacra: Abb. 5 Scala/Art Resource New York: Abb. 4