Vorträge aus dem Warburg-Haus: Band 6 9783050081434


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Vorträge aus dem Warburg-Haus: Band 6
 9783050081434

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VORTRÄGE AUS DEM WARBURG-HAUS BAND 6

VORTRÄGE AUS DEM WARBURG-HAUS BAND 6 HERAUSGEGEBEN VON

WOLFGANG KEMP GERT MATTENKLOTT MONIKA WAGNER MARTIN WARNKE

SIMONE M I C H E L Der Pantheos auf Magischen Gemmen STEPHEN BANN Der Reproduktionsstich als Ubersetzung URSULA HARTER Le Paradis artificiel Aquarien, Leuchtkästen und andere Welten hinter Glas U L R I C H RAULFF „Idea vincit": Warburg, Stresemann und die Briefmarke SILVIA EIBLMAYR Hysterie, Körper und Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts

Akademie Verlag

Redaktion: Catharina Berents

ISBN 3-05-003768-7 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Werksatz Schmidt & Schulz, Gräfenhainichen Druck: Primus Solvero, Berlin Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

INHALTSVERZEICHNIS

SIMONE MICHEL Seele der Finsternis, Schutzgottheit und Schicksalsmacht: der Pantheos auf Magischen Gemmen 1 STEPHEN BANN Der Reproduktionsstich als Ubersetzung 41 URSULA HARTER Le Paradis artificiel. Aquarien, Leuchtkästen und andere Welten hinter Glas 77 ULRICH RAULFF „Idea vincit": Warburg, Stresemann und die Briefmarke 125 SILVIA EIBLMAYR Die Ekstase der Moderne. Hysterie, Körper und Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts 163 Abbildungsnachweis 203

Seele der Finsternis, Schutzgottheit und Schicksalsmacht: der Pantheos auf Magischen Gemmen SIMONE MICHEL

Magische Gemmen - in der früheren Forschung auch „Abraxen", basilidianische oder „gnostische" Gemmen genannt 1 - sind 2 - 3 cm kleine Edel- und Schmucksteine, in die in Tiefschnitt-Technik Bilder und Inschriften hinein geschnitten sind (Intaglii), und zwar direkt im Positiv lesbar, da es sich nicht wie bei den antiken Gemmen üblich um Siegel, sondern um Amulette und Talismane handelt. Wenngleich Fundorte nur in seltenen Fällen bekannt sind 2 , weisen die zahlreichen synkretistischen Einflüsse auf einen Ursprung 1 C. Bonner: Studies in Magical Amulets, c h i e f l y Graeco-Egyptian, Ann Arbor 1950, S. 133f., S. 138f.; A.A. Barb: Rezension von A. Delatte und Ph. Derchain: Les intailles magiques greco-egyptiennes, Bibliotheque Nationale, Cabinet des Medailles, Paris 1964, in: Gnomon 41,1969, S. 298 Anm. 4, 5; P. Zazoff: Die antiken Gemmen. Handbuch der Archäologie, München 1983, S. 350; H. Philipp: Mira et Magica. Gemmen im Ägyptischen Museum der Staatlichen Museen Preussischer Kulturbesitz BerlinCharlottenburg, Mainz 1986, S. 8; E. Zwierlein-Diehl: Magische Amulette und andere Gemmen des Instituts für Altertumskunde der Universität zu Köln (Abhandlungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Sonderreihe Papyrologica Coloniensia 20), Opladen 1992, S. 14. 2 Zu magischen Gemmen mit gesicherten Fundorten: Philipp, ebd., S. 8 ff., Anm. 18; L.Y. Rahmani: Α Magic Amulet from Nahariyya, in: Harvard Theological Review 74, 1981, S.387-89, Abb. 1, Taf. 1; Hämatit C.Dauphin: Α Graeco-Egyptian Magical Amulet from Mazzuvah, in::'Atiqot 22, 1993, S. 145, Abb. 1; E. Stern und I. Sharon: Tel Dor, 1993: Preliminary Report, in: Israel Exploration Journal 45, 1995, S. 32f. Abb. 5; S. Michel: Die Magischen Gemmen. Eine Studie zu Zauberformeln und magischen Bildern auf geschnittenen Steinen der Antike und Neuzeit (in Druckvorbereitung), Anm. 7.

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Simone Michel

dieser Gemmen vor allem im antiken „Schmelztiegel" Alexandria bzw. Werkstätten im hellenistischen Ägypten hin. Besonders im 2. und 3.Jahrhundert n. Chr. waren die magischen Gemmen weit verbreitet, doch wird durch ihre Nachwirkung in Mittelalter und Neuzeit ein weitaus breiterer Zeitraum umspannt 3 . Religion, Mythos und Kosmologie werden durch die Bilder und Inschriften dieser Amulette in typisch magischer Manier stets in Parenthese zur reellen Welt des Menschen gestellt, der sich mit Hilfe magischer Formeln und Praktiken die imaginären Kräfte dienstbar machen will. Ägyptische, orientalische, griechisch-römische sowie jüdische und christliche Einflüsse fanden in den synkretistischen Bildern und Inschriften ihren Niederschlag 4 , zahlreiche gegenseitig bedingte Ideologien und Lehren bieten zudem ein breites Spektrum an Inhalten. So reflektieren die Gemmen beispielsweise sowohl auf Religion und Aberglaube (antikes Zauberwesen, gnostische Sekten, okkulte Lehren) als auch auf Weltbild, Astrologie und kosmisches Zusammenspiel sowie schließlich auf Medizin und Heilkunde 5 . Der Prozeß der Verschmelzung verschiedener Kulturen, Religionen und Lehren wird auf Magischen Gemmen besonders anhand der komplexen Pantheos-Thematik evident. Der sogenannte (Bes)-Pantheos ist im römischen Ägypten seit ptolemäischer Zeit als Statuette und auf magischen Stelen bekannt (Horusstelen) 6 . Seine berühmteste Darstellung findet sich

3 S. Michel: „Solche Abdrücke sind der größte Schatz". Nürnberg und die Gemmenkunde der Goethezeit, in: Nürnberger Blätter zur Archäologie Heft 16, 1999/2000/ 2001, S. 65 ff.; S. Michel: Bunte Steine - Dunkle Bilder: „Magische GemmenMünchen 2001, S. 16f., S. 103 ff., Taf. 19, 20, 115-23. 4 Bonner [wie Anm. 1], S. 22 ff. 5 Ebd.; Delatte und Derchain [wie Anm. 1]; Philipp [wie Anm. 1]; Zwierlein-Diehl [wie Anm. 1]; S. Michel: Medizinisch-magische Amulettgemmen. Schutz und Heilung durch Zauber und edle Steine in der Antike, in: Antike Welt 26, Heft 5, 1995, S. 1-17; Michel, Steine [wie Anm. 3], S. 65 ff., Taf. 11-15, 62-92; S. Michel: Die Magischen Gemmen im Britischen Museum I, II, hrsg. von P. u. H. Zazoff, London 2001; Michel [wie Anm. 2]. 6 Ζ. B. Ptolemäische Serpentin-Zauberstele I. Woldering: Ausgewählte Werke der Aegyptischen Sammlung. Bildkataloge des Kestner-Museums Hannover I, Hannover 1958 2 , S. 82, Nr. 84.

Seele der Finsternis, Schutzgottheit und Schicksalsmacht

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auf der Rückseite der sogenannten Metternichstele 7 , wobei diese PantheosDarstellungen - im Hochrelief - den zahlreichen Bildern dieses Gottes auf magischen Intaglien entsprechen (Abb. I ) 8 . Der G o t t schreitet über einer Kartusche mit Tieren von links nach rechts, d. h. von Osten nach Westen, w o nach Vorstellung der Ägypter die Unterwelt lokalisiert w a r 9 (Abb. 2). Die Kartusche wird durch einen Ouroboros - Symbol der Ewigkeit

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gebildet 10 . Die Tiere innerhalb dieser sich in den Schwanz beißenden Schlange sind einerseits dem Menschen gefährliche Tiere wie Schlange, Skorpion, Krokodil oder Löwe, andererseits scheinbar harmlose Tiere wie Antilope, Schildkröte und Nilpferd. D a sie jedoch mit dem großen Gegen7 Zur Metternichstele: W. Golenischeff: Die Mettemichstele in Originalgröße, Leipzig 1877, Taf. I, III (Vs. Horns, Rs. Pantheos); E.A.W. Budge: The Gods of the Egyptians II, London 1904, S. 273; C. Ε. Sander-Hansen: Die Texte der Mettemichstele (Analecta Aegyptiaca 7), Kopenhagen 1956; Bonner [wie Anm. 1], S. 158 f., Taf. 24, 6; H. Sternberg-El Hotabi: Untersuchungen zur Uberlieferungsgeschichte der Horusstelen. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte Ägyptens im 1. Jt. v. Chr. (Ägyptologische Abhandlungen 62), hrsg. von U. Rößler-Köhler, Wiesbaden 1999, S. 106f., S.259, Abb. 55a, b, S. 298 Abb. 113. 8 Zu Motiv u. Thema allgemein: Bonner [wie Anm. 1], S. 156ff., 253, 259; A. A. Barb, in: Gnomon 41, 1969, S. 304; F. M. Schwartz und J. H. Schwartz: Engraved Gems in the Collection of the American Numismatic Society I. Ancient Magical Amulets, in: Museum Notes. The American Numismatic Society 24, 1979, S. 173 f.; Delatte und Derchain [wie Anm. 1], S. 126ff.; Philipp [wie Anm. 1], S. 18f., S. 109f. zu Nr. 176; Zwierlein-Diehl [wie Anm. 1], S. 18ff.; N. Vlassa: Interpretarea unei gerne magice greco-egiptene, in: Acta Musei Napocensis 17, 1980, S. 483-93; W. Fauth: Arbath Iao. Zur mystischen Vierheit in griechischen und koptischen Zaubertexten und in gnostischen oder apokryphen Schriften des christlichen Orients, in: Oriens christians 67, 1983, S. 103, Anm. 231; E. Doetsch-Amberger: Bes auf der Blüte, in: Religion und Philosophie im Alten Ägypten. Festgabe für Ph. Derchain zu seinem 65. Geburtstag am 24. Juli 1991 (Orientalia Lovaniensia Analecta 39), hrsg. von U. Verhoeven und E. Graefe, Leuven 1991, S. 126. 9 A. Erman: Die Religion der Ägypter. Ihr Werden und Vergehen in vier Jahrtausenden, Berlin und Leipzig 1934, S. 411; G. Grimm: Die römischen Mumienmasken aus Ägypten, Wiesbaden 1974, S. 78. Zu den Blickrichtungen der Figuren auf Gemmen ferner: Philipp [wie Anm. 1], S. 11 f. 10 W.M. Brashear: Rezension Zwierlein-Diehl [wie Anm. 1], in: Gnomon 68, 1996, S. 452.

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Simone Michel

spieler der ägyptischen Götter, Seth, verbunden waren, konnten auch diese Tiere als gefährlich empfunden werden 11 . Kartusche und Tiere sind auf vielen Gemmenbeispielen nur flüchtig mit groben Kerben angedeutet (Abb. 4). Ägyptischen Darstellungen entsprechend sind die Beine des Gottes im Profil, Oberkörper und Kopf dagegen frontal zu sehen. Detailliert gearbeitete Stücke lassen wie auch die Reliefdarstellungen der Stelen erkennen, daß die Füße des Gottes als Schakalköpfe visualisiert sind und aus seinen Knien Schlangen- oder Löwenköpfe ragen 12 . Seitlich sichtbar hängen ein Vogel- und ein Krokodilschwanz herab. Eines der beiden Armpaare ist ausgestreckt vor große, ausgebreitete Flügel gesetzt und dadurch optisch kaum auszumachen, in den Händen Messer und Zepter. Dem zweiten Armpaar sind Flagellum und Tiere wie Löwe, Skorpion oder Gazelle als Attribut gegeben, wobei die Hand nicht nur diese Tiere am Schwanz hält, sondern zusätzlich auch ein hohes Was-Zepter umklammern kann. Das bärtige Gesicht des Gottes mit einer rundlichen Nase gleicht dem des zwergenhaften Bes, der mit dieser löwenähnlichen Fratze Dämonen vertreibt. Seitlich des Pantheos-Kopfes ragen mehrere kleine Tierköpfe hervor, bisweilen ist stark stilisiert auch die Atefkrone erkennbar - beides auf Gemmen oft wiederum nur durch Kerben angedeutet (Abb. 4). Auf der Rückseite eines Lapislazuli des Britischen Museums, London (Abb. 2) 1 3 ist eine griechisch geschriebene lange Inschrift zu lesen: das aus dem Ägyptischen abgeleitete, vorwärts und rückwärts gleichermaßen lesbare Iaeo-Palindrom, das gemäß der Magischen Papyri für das Gebet zur Sonne benötigt wird und auch auf den Magischen Gemmen häufig in Verbindung mit den Sonnengottheiten erscheint 14 , und schließlich eine Dos11 12

Sternberg-El Hotabi [wie Anm. 7], S. 14 ff. Siehe auch Vignette des Papyrus Brooklyn: S. Sauneron: Le papyrus magique illustre de Brooklyn (Brooklyn Museum 47.218.156), Brooklyn 1970. 13 Michel, Gemmen im Britischen Museum [wie Anm. 5], S. 101 f., Taf. 22,159. 14 IAEWBΑΦΡΕΝΕΜΟΥΝΟΘΙΑΑΡΙΚΡΙΦΙAEYEΑΙΦΙΡΚΙΡΑΛΙΘΟΝΥΟΜΕΝΕΡΦABWEAI - Iao ßj.f-m-imn 'd mr (=rw) R'(m-)kir.f, „Iao ist der Träger des geheimen Namens, der Löwe des Re, wohlbehalten in seinem Schrein". K. Preisendanz: Papyri Graecae Magicae. Die griechischen Zauberpapyri herausgegeben und übersetzt von K. Preisendanz. I, II, hrsg. von A. Henrichs, Stuttgart 1973 2 , III Index

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Charin-Bitte (Charitesia), eine Art Kurzgebet, mit dem Erfolg, Gunst oder Wohlgefallen für den Träger des Amulettes erbeten wird: δ ό τ α ι χ ά ρ ι ν Ή ρ ω ν ι μ α π ρ ο ς π ά ν τ α ς , „Gunst sei der Hieronima in den A u g e n aller gegeben" 15 . A u c h die Inschrift auf der Rückseite eines weiteren LapislazuliFragments mit Pantheosbild (Abb. 3) 1 6 enthält eine solche D o s - C h a r i n Bitte, hier klein zwischen die Zeilen der Chabrach-Formel geschrieben, die wiederum als geheimer N a m e des Sonnengottes gilt 17 . Lesbar ist nur noch der Anfang 6 0 s χ ά ρ ι ν und stark verschrieben das W o r t Φ ο ρ ο ΰ ν τ ι „dem Träger (dieses Amuletts)". Häufig sind solche Bitten auf den G e m m e n an Harpokrates, den jungen Sonnengott, oder - wie hier - an den Pantheos gerichtet 1 8 . A u c h weitere, s o w o h l auf den Magischen G e m m e n als auch in

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unter Mitarbeit von E. Diehl und S. Eitrem, Leipzig und Berlin 1941, I, 140, 195 f., siehe auch H. D. Betz (Hg.): The Greek Magical Papyri in Translation. Including the Demotic Spells, Chicago 1986; Bonner [wie Anm. 1], S. 141, 204; W.M. Brashear: The Greek Magical Papyri: an Introduction and Survey; Annotated Bibliographie (1928-1994), in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 18, 5, Berlin und New York 1995, S. 3587. s.v. iaew ... (Lit.), S. 3594 s.v. οθιλαρικριφι (Lit.), S. 3596 s.v. πεκρηφ (Lit.). Zu Dos-Charin-Bitten: Bonner [wie Anm. 1], S. 48f.; Michel, Gemmen im Britischen Museum [wie Anm. 5], S. 78f. zu Taf. 17, 120; Michel, Steine [wie Anm. 3], S. 59f. zu Taf. 9, 55; Michel [wie Anm. 2], Anm. 1066,1067. Michel, Gemmen im Britischen Museum [wie Anm. 5], S. 102 f., Taf. 23, 160. XABPAX «DNECXHP ΦΙΧΡΟ «MMYPW evolutionistische< ästhetische Theorie - Konzept und Wirkung, in: Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, hrsg. von E.-M. Engels, Frankfurt/M. 19951, S. 347-94, bes. S. 363-66. Vgl. auch: D. L. Silverman: Art Nouveau in Fin-desiecle France. Politics, Psychology and Style, Berkely, Los Angeles und Oxford 1992 (1989), S. 289-91, bes. S. 290f.

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Die Aquariumsbilder Odilon Redons 7 0 Der wohl wichtigste Repräsentant dieser Symbiose war Odilon Redon, der Künstler, dem die Lektüre von Jules Michelets La Mer zum Schlüsselerlebnis geworden war, und dem es nicht zuletzt deshalb gelang, die metamorphotische Phantastik und Hybridität der Meerestiere und die „bebenden Farben" des Submarinen dergestalt der eigenen Kreativität anzuverwandeln, daß sie zum Spiegel der Bewußtseinsevolution wurden. Die beiden den Geschöpfen des Meeres gewidmeten Lithographien gehören zur dritten, 1896 geschaffenen Serie der an Flaubert inspirierten Tentation de saint Antoine, 1874. Die erste Lithographie zitiert als Titel ein Satzfragment aus Flauberts Text: Die Tiere des Meeres, rund wie Schläuche (Abb. 18). Dargestellt sind aber zwei grazile Geschöpfe mit gespenstischen, haubenförmigen, von haarfeinen Fäden behangenen Leibern, die, einem Schwärm von Kugeltierchen folgend, mongolfierengleich dem Licht entgegenschweben. Ihre realen Äquivalente, die Medusen, nannte Michelet die „Töchter des Meeres". Während ihr Daseinsraum den Eindruck macht, sich in Wasserspiegelnähe zu befinden, scheinen die Wesen im zweiten Bild in derjenigen Tiefe des Ozeans zu leben, die keinem Tageslicht mehr zugänglich ist, in der ihre eigenen phosphoreszierenden Leiber die einzigen Lichtquellen sind. Verschiedene Völker bewohnen die Länder des Ozeans (Abb. 19) lautet die lakonische Legende. Das Ungeheure des Raumes, das sie suggeriert, macht das Bild ahnbar durch die Weise, wie die Repräsentanten auf der Blattfläche verteilt sind. Die größeren Wesen erscheinen randnah und zum Teil überschnitten, die kleineren hauptsächlich in der entleerten Mitte und in sternbildähnlichen Formationen. Die Distanzen zwischen den „verschiedenen Völkern" scheinen so immens zu sein wie die zwischen den Sternen am Nachthimmel.

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Redon bezeichnete das Gemälde Mysteries of the Sea (verkauft bei Sotheby, New York, 16. Nov. 1989, Nr. 347), das Gabriel Frizeau 1903 erworben hatte, als „Aquarium". Seit 1900 besuchte er regelmäßig im Sommer das Aquarium von Arcachon (ggr. 1866).

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Redons wunderlich zusammengesetzte, mit Zangen, Bockshörnern, Schildern, Stacheln, Zähnen gewappnete und nur über ihre Panzerscharniere beweglichen Tiere gehören evolutionsgeschichtlich der barbarischen Spätphase, dem „Eisernen Zeitalter" an.71 Eingegraben in die Nacht des Meeres wie fossile Abdrücke lebender Kampfmaschinen, scheinen sie den mit der zeitlichen Progression einhergehenden moralischen Abstieg widerzuspiegeln.72 Ihre asymmetrischen Formen, Zeichen der Unvollkommenheit, zeugen von vergangenen und künden von künftigen Metamorphosen. Die unheimlichen Wesen tragen ihre Erlösung aus der Gefangenschaft der eigenen Rüstung in sich. Ein Symbol dafür ist das Seepferdchen, dessen Leibeskurve in einem Pferdekopf kulminiert und den Ubergang vom Fischartigen zum wasserüberwindenden Wirbeltier verkörpert. Dieses anmutige, zwischen Pferd und Schlange zwitternde, wie eine vegetabile Arabeske geschwungene Geschöpf, scheint für Redon die vollkommene Verkörperung der metamorphotischen und ästhetischen Kräfte der Natur gewesen zu sein. Es inspirierte den Künstler zu einer seiner faszinierendsten Schöpfungen, dem um 1904 gemalten „Aquariums-Bild" Le Reve. Dieses Bild suggeriert eine geheimnisvolle Brutstätte am Ozeangrund, wo drei leuchtende Lebewesen - eine rote Seeanemone, ein ultramarinblaues, mit zwei langen Tentakeln behangenes Molluskengebilde und ein zitronengelbes Röhrenwurmtier - sich aus Dämpfen zu materialisieren und um das braune Fossil zu einer Liebesgruppe zusammenzuwachsen scheinen. Ihre Dreieinheit, die sich zusammen mit dem fossilen Leib zur Silhouette eines künftigen Seepferdchens formiert, wird vom Phantom einer langgewandeten Brahmanengestalt hinterfangen. Es ist der schöpferische Urakt des Bildens selbst, welcher hier Bildgegenstand wurde.

71 Die in ihrem Chinin-Panzer eingeschlossenen Krustaceen mit Rittern zu vergleichen, war ein Topos: J. Michelet: Crustaces - La guerre et l'intrigue (Kap. X), in: Ders: La Μer, hrsg. von J. Borie, Paris 1983, S. 182-89, hier S. 185; Mangin [wie Anm. 38], S. 289; M. Du Camp [wie Anm. 42], S. 1231; H. Filhol: La Vie au fond des Mers, in: La Nature 630,27. Juni 1885, S. 55-58, hier S. 55. 72 Ihre Härte und ihre stachelige Natur macht Redon spürbar, indem er die Helligkeiten mit dem Radiermesser aus dem schwarzen „Reliefgrund" herauskratzte.

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Redons Aquariums-Konzeption kulminiert in Vision sous-marine (Abb. 20). Hier gelang ihm das, was er an Delacroix zutiefst bewunderte, den Inhalt durch Farben und nicht durch Attribute auszudrücken. Das Bild markiert biographisch und kunsthistorisch eine Zäsur: die radikale Loslösung von der Gattung Landschaft, die Umwandlung in einen komprimierten, nach allen Seiten hin offenen spirituellen Farbraum, der der Phantasie freien Raum läßt. Auf den ersten Blick könnte man es für ein um 1950 gemaltes informelles Bild halten; es scheint keinen erkennbaren Gegenstand, kein bestimmtes Motiv zu haben, ist ikonographisch auch nicht mehr deutbar. Orientierungshilfe leisten allein der Titel und das vertikale Format, das an die Vorstellung vom „Bild-Fenster" anknüpft. Der Betrachter, in eine Taucherglocke unter Wasser versetzt, wird vom opalisierenden Zaubermeer überwältigt. Redon gelang es hier, das Undarstellbare zu visualisieren - das proteushafte Meerwasser in seiner Unbeständigkeit und Formlosigkeit, in seinen zahllosen Zwischenzuständen, mal luzid hellblau, dann wieder opak und schleimig verfestigt. Die Ursubstanz und Wiege. Die kugelförmigen Mikroorganismen und aufgußtierchenartigen Gebilde scheinen mit ihrem flüssigen Lebenselement eins zu sein. Vor- und zurückflutend suggeriert ihr Gewimmel zusammen mit den hintergründigen seladon-hellblau changierenden Farbwolken einen Raum von unbestimmbarer Tiefe, in dem alles in beständiger Wandlung begriffen zu sein scheint, in einem Schwebezustand zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Werden und Auflösung. Ein fließendes Ganzes, eine Grundidee des Buddhismus. Die Embryogenese wird zum Analogon für das künstlerische Schaffen. Nichts gebietet dem Wirbel und Schäumen der evolutionären Schöpfungskraft Einhalt. Wir glauben uns in eine Geburtsstunde des Lebens, eine Zeit vor allen Zivilisationen versetzt, in ein Paradies der Humanität und des Glücks, wo die Kleinsten unter den Kleinen sich in Freiheit und geschwisterlicher Liebe tummeln. Ausgedrückt ist diese Harmonie in der Zartheit einer reich nuancierten, „feminin" perlmuttenen Farbenpalette. Changierendes Blau und Seladongrün bilden den Hintergrund. Darauf sind die mit Weiß abgemischten Lichtfarben Hellgelb, Goldgelb und Beige gesetzt. Ihre Zerlegung in feinste Nuancen und kleinmustrige Flächen evoziert die atmosphärische Einheit, die Allverbundenheit der weit verstreuten Areale.

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Es ist, als wäre dieses Schöpfungsbild selber aus einer Vielzahl von Schöpfungsakten hervorgegangen, von deren Ergebnissen jedes spätere das frühere durchscheinen läßt. Wie ein Kommentar dazu klingen die Worte Odilon Redons: „Vom Schoß des Ozeans, zur unsterblichen Quelle, der Fischfang, die Schatzkammer, die Beute war so schön. Und das Wehen der Lüfte und der Rhythmus der Wogen wiegen den Geist wie eine zarte Harmonie. Ο Meer, ο mächtige Freundin!" 7 3 Dieser Freundin widmete Redon zwischen 1905 und 1908 eine Serie von pantheistischen Andachtsbildern, unter denen dasjenige mit dem Alternativtitel Le Vitrail oder VAllegorie (Abb. 21) wohl das brisanteste ist. Es zeigt ein gotisches Kirchenfenster, das seiner Pflicht, von draußen nur das abstrakte Licht ins Innere zu lassen, offensichtlich zuwiderhandelt. Es läßt eine wirbelnde Aquariumswolke mitsamt ihrer aus Würmern, Schnecken, Seeanemonen und Quallen bestehenden Blütenpracht in den Kirchenraum einströmen. Ein Plädoyer für die schöpferische Natur, die mehr Anspruch auf Verehrung hat als die beiden verkrusteten Heiligen - Sinnbilder der verknöcherten Zivilisation und Moral. 74 Als Sinnbild von Eden haben die aquarischen Unterwassergärten auch im 20. Jahrhundert nichts von ihrer utopischen Kraft eingebüßt. Die hybride Mischung aus Realität und Fiktion, die „kinematografische" Beweglichkeit, ja Verflüssigung der Realitätsbilder verzaubern ebenso wie das ballettartige

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„Du sein de l'Ocean, ä la source immortelle, la peche, le tresor, la prise etait si belle. Et le souffle des airs et le rythme des flots bercent l'esprit comme une douce harmonie. Ο mer, ö grande amie!" (O. Redon: A soi-meme. Journal 1867-1915, Librairie Jose Corti, Paris 1989 [1961'], S. 88.) 74 Jules Laforgue beschwört in Salome, einem der sechs Prosastücke aus Moralites Legendaires (1887) die submarine, ahistorische Glückseligkeit: „L'Aquarium! Ah! 1'Aquarium, par exemple! Arretons-nous ici! Comme il tournoie en silence! [...] Ni jour, ni nuit, Messieurs, ni hiver, ni printemps, ni ete, ni automne, et autres girouettes. Aimer, rever, sans changer de place, au frais des imperturbables cecites. Ο monde de satisfaits, vous etes dans la beatitude aveugle et silencieuse, et nous, nous dessechons de fringales supra-terrestre. [...] Et que ne savons-nous aussi nous incruster dans notre petit coin pour γ cuver l'ivre-mort de notre petit Moi?" (J. Laforgue: Moralites Legendaires, hrsg. von D. Grojnowski, Paris und Genf 1980, S. 201-05.)

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Theater unentwegter Metamorphosen. Von einer ästhetischen, uns in einen träumerischen Zustand versetzenden Verführungskraft zeugen Jean Painleves (1928-72) Aquariumsfilme,75 Nam June Päiks (geb. 1932) stimmungsvolles hypnotisierendes Video-Decken-Environment Fish flies on Sky, 1985, Pipilotti Rists (geb. 1962) Eros-Traum Sip my ocean, 1996, Carsten Höllers (geb. 1961) Installation Glück/Skop, 1996, Peter Fischiis & David Weiss' (geb. 1952 und 1946) wie durch die Aquariumsbrille gesehenen, provokativ schönen Blumenfotos von 1997/99, Ingo Maurers (geb. 1932) Licht-Inszenierung der Münchner U-Bahnstation Westfriedhof als mysteriös-submarine Passage von 1998, Pierrick Sorins (geb. 1960) burlesker BallettZirkus in Choreographie d'aujourd'hui, 2001.76

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Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts filmte Jean Painleve (1902-84) die zwischen Kunst und Wissenschaft zwitternden, populären zoologischen Unterwasser-Dramen: u. a. La Pieuvre, 1928, L'Oursin, 1928, Le Bernard-L'Ermite, 1929, Hyas et stenorinques, 1929, L'Hippocampe, 1934, sowie Oursins, 1954, Acera ou le bal des sorcieres, 1972. (Freundlicher Hinweis von Dietmar Rubel.)

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Ein Buch über die Geschichte und Ästhetik des Aquariums und dessen Einfluß auf die Künste ist in Vorbereitung.

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Abb. 1 Les Cadres-Aquarium (in: La Nature 583, 2. August 1884, S. 144).

Un Aquarium. — Dessin de Freeeuii.

Abb. 2 U n Aquarium, Dessin de Freeman (in: Le Magasin pittoresque 1859, S. 4).

Abb. 3 Gustave Moreau, Galatee, 1880, Paris, Musee D'Orsay.

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Abb. 4 Gustave Moreau, Le Poete et la Sirene, 1896/99, Paris, Mobilier national.

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Abb. 5 Seeanemonen (in: Philip Henry Gosse: Actinologia Britannica: A history of the British Sea-Anemones and Corals, London 1860, Tafel IV).

4. Β Ooff,, .

Sit.

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Abb. 6 Gustave Moreau, Aquarellzeichnung von Seeanemonen nach Philip Henry Gosse, Paris, Musee Gustave Moreau.

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Abb. 8 Fish House, 1853, London, Zoological Garden, Regent's Park.

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Le Paradis artificiel. Aquarien, Leuchtkästen

und andere Welten hinter Glas

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Abb. 9 L'Aquarium, Jardin zoologique d'acclimatation, Paris, Bois de Boulogne (in: L'Illustration. Journal universel 13. Oktober 1860, S. 252).

Abb. 10 L'Exposition au Museum d'Histoire naturelle, des collections formees pendant les croisieres du Travailleur et du Talisman (in: La Nature 560, 23. Februar 1884, S. 201).

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Abb. 11 L'Aquarium, Exposition Universelle, Paris 1867 (in: Le Magasin 1867, S. 341).

Abb. 12 L'Aquarium, Exposition Universelle, Paris 1867.

pittoresque

Le Paradis artificiel. Aquarien, Leuchtkästen und andere Welten hinter Glas

Abb. 14 L'Aquarium, Exposition Universelle, Paris 1878.

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Abb. 15 L'Aquarium, Exposition Universelle, Paris 1900.

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Abb. 16 Emile Galle, Eaux dormantes, 1889/90, Paris, Musee d'Orsay.

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Abb. 17 Rene Binet, Eingangspforte zur Pariser Weltausstellung 1900.

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Abb. 18 Odilon Redon, Les Betes de la mer rondes comme des outres, 1896, Frankfurt am Main, Städelsches Kunstinstitut.

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Abb. 19 Odilon Redon, Des peuples divers habitent les pays de 1'ocean, 1896, Frankfurt am Main, Städelsches Kunstinstitut.

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Abb. 20 Odilon Redon, Vision sous-marine, Paris, Privatbesitz.

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Abb. 21 Odilon Redon, Le Vitrail oder Γ Allegorie, New York, The Museum of Modern Art, Gift of the Ian Woodner Family Collection.

Der aufhaltsame Aufstieg einer Idee „Idea vincit": Warburg, Stresemann und die Briefmarke * ULRICH RAULFF

Am 3. Oktober 1929 hielt der Hamburger Kulturhistoriker Aby Warburg ein historisches Datum im Notizbuch fest: „Stresemann gestorben. Ein nationales Unglück."1 War dieser Eintrag mehr als eine pathetische Gelegenheitsnotiz, ein patriotischer Pflichtpunkt? Wie stand Warburg zu Stresemann? Von dem Bankier Max Warburg, Abys jüngerem Bruder, ist bekannt, daß er dem Politiker eng verbunden war 2 . Offenbar teilte Aby diese Schätzung, auch wenn er selbst nicht Stresemanns Partei, sondern der D D P angehörte. Verwunderlich wäre das nicht bei einem Mann, der sich vom leidenschaftlichen Anhänger des Kaiserreichs zum überzeugten Republikaner gewandelt hatte und bereit war, seine „republikanische geistige

* Besonderer Dank gilt Anne-Marie Meyer, die mich auf die Verbindung zwischen dem Warburg Institute und den Free French Forces hingewiesen und mir die Korrespondenz im Archiv zugänglich gemacht hat. 1 Warburg Institute Archive, London (im folgenden stets als WIA zitiert), III, 11.5. Es ist Warburgs letztes Notizbuch; drei Wochen später, am 26. Oktober, ereilt ihn selbst der Tod. 2 M.M. Warburg: Aus meinen Aufzeichnungen, New York 1952, S. 134 f.: „Ich stand sehr gut mit Stresemann. Mit Genugtuung erfüllte es mich, ihn gestützt zu haben, als nach 1928 die Deutsche Volkspartei auf nur wenige Männer zusammengeschmolzen war. Ich bin der Partei treu geblieben als Mitglied, obzwar ich mit ihrem Kurs oft nicht einverstanden war. Es geschah nicht zuletzt aus Verehrung für Stresemann."

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Freiheit gegen jedermann (zu) verteidigen" 3 . Weniger bekannt ist, daß sich die beiden, der Politiker und der Kulturwissenschaftler, dank der Vermittlung von Max Warburg tatsächlich einmal begegnet sind. A m 20. Dezember 1926, kurz nachdem er gemeinsam mit Aristide Briand den Friedensnobelpreis erhalten hatte 4 , besuchte Stresemann die Bibliothek Warburg und ließ sich von deren Begründer durch das Haus führen. 5 A b y Warburg hatte sich auf diesen Tag gründlich vorbereitet. Stresemanns Besuch fiel in eine Phase seines Arbeitslebens, in der er sich erneut einem Gegenstand widmete, der ihn dreizehn Jahre früher schon einmal beschäftigt hatte - der Geschichte und der Ästhetik der Briefmarke. 6 Aber anders als im Jahr 1913, als er dem Verlag Teubner in Leipzig eine „kunstgeschichtliche Entwicklung der Briefmarke" anbot 7 , interessierte er sich nicht länger nur für das ikonographische Vorleben der Marken. Wie bei allen Themen, denen er sich in den letzten Jahren seines Lebens zuwandte,

3 Laut Abys Brief an Max M. Warburg vom 23.1.1928, WIA. 4 Zu diesem Preis gratuliert ihm Max M. Warburg am 11.12.1926. In seinem Brief heißt es u. a.: „Sie haben mit Mut, Weitsicht und Ausdauer für den Frieden gekämpft und wirklich eine neue Basis geschaffen. Das Unglück war, daß bisher die Pazifisten immer glaubten, daß man auch nur in friedlicher Weise, d. h. ohne Risiko den Frieden erreichen könne, während zu gewissen Zeiten zu nichts größerem Mut gehört, als zum Friedensbekenntnis." Nachlaß Gustav Stresemann, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Bonn, Bd. 47. 5 Besuche und Besucher dieser Art waren nichts gänzlich Ungewöhnliches; erst drei Monate zuvor, am 30.9.1926, hatte Warburg seinen früheren Kollegen und nachmaligen preußischen Kultusminister C. H. Becker durch die Bibliothek geführt. 6 Am 16.12.1926 schreibt er an Ludwig Binswangen „So packte mich zu meiner eigenen Verwunderung ein jugendlicher Enthusiasmus für die Freimarke, deren Kunstgeschichte zu schreiben ich schon 1913 plante. Tatsächlich habe ich vor ganz kleinem Kreise eine Entwicklungsskizze, besser die Lebensgeschichte des Briefmarkenstiles analysiert und fand bei sachverständigen Leuten völliges Verständnis." Zit. nach: U. Raulff: Zur Korrespondenz Ludwig Binswanger - Aby Warburg im Universitätsarchiv Tübingen, in: H. Bredekamp u. a. (Hg.): Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 55-70, hier S. 64. 7 Brief Warburgs an B. G. Teubner, Leipzig, vom 24.12.1913, WIA III, Kopierbuch V, S. 307.

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traten jetzt gegenwartsbezogene und politische Interessen deutlicher in den Vordergrund. So auch bei der Briefmarke: Gewiß erfreute sich Warburg immer noch am Bild von Rotys Semeuse,

der Säerin auf den Briefmarken der franzö-

sischen Republik, in der er nächst der antiken Fruchtbarkeitsgöttin Ceres auch die Nympha oder Mänade, seine alte Ariadne im Labyrinth der Antikenrezeption, wiedererkannte (Abb. I). 8 Daneben aber richtete sich sein Blick stärker auf Herkunft und gegenwärtige Gestaltung der Hoheitszeichen, welche die Briefmarken trugen. 9 E r scheute keinerlei epistolarischen Aufwand, um dem Nachleben des antiken Seegotts Neptun auf den Briefmarken der Insel Barbados nachzuforschen. 1 0 Aufmerksam studierte er die politische Symbolik des italienischen Faschismus und die Metamorphosen des Liktorenbündels. Auch das Nebeneinander des heraldischen Löwen (auf den Marke von Fiume) und der fasci der Faschisten im italienischen

8 „Der innere Sinn und das eigentliche Wesen der Ceres im Geiste der Antike", sagt Warburg in seinem Vortrag vom 14. April 1928 vor der Hamburger Handelskammer, „ist von dem Franzosen Barre, der die Wechselstempelmarke schuf, durchaus gefühlt. Sie tritt als verehrungswürdiges Symbol der Fruchtbarkeit Frankreichs vor die Augen des Publikums. Freilich, praktisch genommen, ist sie eine servierende Göttin; wenn sie auch nicht Geflügelgelatine bringt, so muss sie doch im Dienste des fliegenden Wortes den Gedanken dorthin tragen, wohin die Post d. h. das nur dem Staat tributpflichtige Volk es will." (WIA 98.3.1) 9 „Natürlich hatte er längst erkannt", schreibt sein Schüler und Freund Carl Georg Heise, „daß die ältesten und weiterhin alle besten Bildmotive der Briefmarke ihren Zusammenhang mit der Münze, deren Ersatz sie sind, erkennen lassen und ausdrücklich wahren. Hoheitszeichen in geprägter, also stilisierter Form sind die legitimen Wahrzeichen, die besonders schön und eindeutig die englischen, lange Zeit hindurch aber auch die wechselnden Folgen der deutschen Briefmarken bestimmten." (C. G. Heise: Persönliche Erinnerungen an Aby Warburg, New York 1947, S. 18.) 10 Vgl. die ausführliche Korrespondenz hierzu in WIA, Notizkasten 3, „Briefmarke". Wie nachhaltig ihn das Nachleben des antiken Meergottes auf den Wertzeichen der Gegenwart beschäftigte, geht auch aus der Warburg-Anekdote hervor, die Olga Herschel überliefert; vgl. dazu unten, Anm. 32.

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Markenbild (in dem das symbolische Beil des Liktorenbündels realistischer und damit bedrohlicher wurde 1 1 ) beschäftigte ihn (Abb. 2, 3). 1 2 Deutlicher denn je begriff Warburg jetzt die Marken als Embleme und Werbezeichen der Macht. D o c h er verkannte auch nicht die Lehre des Ersten Weltkriegs, der gezeigt hatte, daß nicht mehr die Politik allein das Schicksal der zeitgenössischen Welt war. Verbunden mit ihr und durch sie hindurch herrschte die moderne Technik. N o c h im geringsten und alltäglichsten Bild, in dem die politische Macht sich präsentierte, in der Briefmarke, mußte sich diese Moderne niederschlagen. „Wenn alle Documente verloren", notierte Warburg im November 1926, „genügt ein vollständiges Markenalbum zur Total-Reconstruction der Weltkultur im technischen Zeitalter." 1 3

11 Vgl. E. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/M. 1981, S. 354. 12 Hier ist daran zu erinnern, daß in Warburgs erstem Seminar in der neuerbauten Bibliothek im Wintersemester 1925/26 Genealogie und Heraldik zu den Schwerpunkten gehört hatten; vgl. Cl. Naber: „Heuernte bei Gewitter": Aby Warburg 1924-1929", in: R. Galitz und B. Reimers (Hg.): Aby M. Warburg: „Ekstatische Nymphe ... trauernder Flußgott". Portrait eines Gelehrten, Hamburg 1995, S. 104-29, hier S. 113. 13 Notiz vom 28.11.1926, WIA, Notizkasten 3, Bl. o. Nrg. Kein Zweifel, daß die Bibliothek sich hierauf einzurichten hatte: „Wenn die K.B.W.", heißt es unter den Notizen für den Briefmarkenvortrag, den Warburg im August 1927 hält, „ein Museum f. Gesch. und Psychologie d. kosmischen Orientierung ist gehört d. Bfm. mit hinein, da sie das Wort magisch beflügelt, vom Träger loslöst und einem Dritten übermittelt." (WIA III, 96.4, S. 56.) In der Bibliothek selbst finden sich ingesamt 126 Bände und gebundene Separata zur Briefmarkenkunde und -geschichte, darunter auch zahlreiche Jahrgänge von Briefmarkenjournal (1904-1931), Illustriertes Briefmarkenjournal (1887-1891) und Deutsche Briefmarkenzeitung (1897-1923). Sie lassen erkennen, daß Warburgs Interesse an Briefmarken bis in seine Studentenzeit zurückgeht. In umgekehrter Richtung lassen sich die an Briefmarken gewonnenen Einsichten - wie auch jene selbst - bis in das Spätwerk des Bildertlas hinein verfolgen; vgl. auch das Themenverzeichnis des Bilderatlas, das Warburg im Mai 1928 anlegte; dort heißt es unter dem letzten, sechsten Punkt: „Lebensdynamik in antikischer Prägung als Quellurgrund für moderne energetische politische Machtsymbolik (Briefmarke)." Siehe dazu A. Warburg: Tagebuch der Kulturwissenschaft-

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Die Führung Stresemanns durch die Bibliothek Warburg endete vor einer Schautafel mit Briefmarken. Warburg erläuterte Stresemann die volkspädagogische Bedeutung dieser massenhaft verbreiteten Bilder, verglich ihre Gestaltung durch verschiedene europäische Nationen und zog daraus Schlüsse auf deren politische Mentalität. Dann, so berichtet sein Schüler Klaus Berger, „folgt die damals gültige deutsche Briefmarke mit einem Goethekopf. Darauf Warburg: . H e r r Reichskanzler, wollen Sie mal bitte die Inschrift hier lesen, wenn Sie können.' Stresemann lächelnd verlautet: J o h a n n Wolfgang Goethe.' .Falsch gelesen, H e r r Reichskanzler. Sehen Sie mal, steht hier nicht J o h Punkt, Wolfg Punkt Goethe (Joh. Wolfg. Goethe)? U n d das ist eben das ganze Unglück mit unserer Weimarer Republik, daß hier alles abgekürzt und deshalb zu kurz i s t . ' " 1 4 E s blieb aber nicht bei der kritischen Demonstration; Warburg wollte eine eigenständige Alternative bieten. E r hatte Vorschläge für eine Briefmarke ausgearbeitet. 15 Bei allen Rücksichten auf die Kulturgeschichte der

liehen Bibliothek "Warburg mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl (Gesammelte Schriften 7. Abt., Bd. VII), hsrg. von K. Michels und Ch. Schoell-Glass, Berlin 2001, S. 253, Eintrag vom 3. Mai 1928. 14 K. Berger: Erinnerungen an Aby Warburg (1979), in: Mnemosyne, hrsg. von S. Füssel, Göttingen 1979, S. 49-57, hier S. 52. Die Anrede Stresemanns als Reichskanzler ist schmeichelhaft, aber falsch; das war er nur für kurze Zeit im Jahr 1923. 15 In dem halben Jahrzehnt, das vergangen ist, seit ich die erste Fassung des vorliegenden Texts ausarbeitete, hat die Warburg-Forschung und -Edition erhebliche Fortschritte gemacht. Dazu gehört die Edition des Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg durch Karen Michels und Charlotte Schoell-Glass im Rahmen der Gesammelten Schriften Aby Warburgs (siehe Anm. 13), aus dem auch einiges Licht auf die Geschichte von Warburgs Briefmarkenprojekt seit 1926 fällt. Um die Identifizierung des Graphikers haben sich ebenfalls Michels und SchoellGlass sowie Dorothea McEwan verdient gemacht, der es in unermüdlicher Suche gelungen ist, ein Exemplar des von Otto Heinrich Strohmeyer nach Warburgs Wünschen und Entwürfen gefertigten und als Linolschnitt gedruckten Blattes Idea vincit ausfindig zu machen (im Nachlaß des mit Warburg befreundeten Paul J. Sachs in der Harvard University). Ihren im November 2001 in Rom gehaltenen, bislang ungedruckten Vortrag „,Idea vincit', the .Victorious, Flying Idea': An Artistic Commission by Aby Warburg", hat sie mir liebenswürdigerweise zur Verfügung

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Hoheitszeichen sollten sie doch den massenpsychologischen Bedürfnissen der Gegenwart Rechnung tragen (und überdies der Eitelkeit des Gastes schmeicheln). Der Entwurf für eine Briefmarke, den Warburg zunächst als Bleistiftskizze zu Papier gebracht hatte (Abb. 4), um sie dann von dem Hamburger Grafiker O t t o Heinrich Strohmeyer als Linoldruck ausführen zu lassen, zeigt ein aus einem angedeuteten Hangar aufsteigendes Flugzeug, das auf der Unterseite seiner Tragflächen die Inschrift Idea

vincit

trägt

(Abb. 5). A u f der Schriftleiste, die das Bild nach unten abschließt, lesen wir: Chamberlain - Briand - Stresemann, die N a m e n der Hauptbeteiligten von Locarno, alle drei Empfänger des Friedensnobelpreises (Abb. 6). 1 6 Die Auslassung des Namens von Charles E . Dawes, der mit Chamberlain gemeinsam den Friedensnobelpreis erhalten hatte, könnte darauf hindeuten, daß Warburg den Akzent auf die europäische Leistung setzen wollte.

gestellt. Diesem kenntnisreichen Text verdanke ich zahlreiche ergänzende Informationen. Siehe jetzt auch dies.: Facetten einer Freundschaft: Aby Warburg und James Loeb, in.· Kunstsammler und Mäzen, Ausstellungskatalog, Murnau 2000, S. 88 ff. 16 Warburg hat die Geschichte des endlich von Strohmeyer ausgeführten Druckes im Tagebuch der KBW unter dem Datum vom 21. Dezember 1926 festgehalten: „Ich erhielt von dem Maler-Radierer Alex Liebmann [Alexander Liebmann, genannt „Seehund", war ein Freund Warburgs aus der gemeinsamen Militärzeit; U. R.] einen Hilferuf 4/XII aus München, den ich mit einem Auftrag beantwortete, mir eine neue deutsche Marke im Querformat erstmals zu zeichnen, die unten das Meer, darüber das steil auffliegende Flugzeug zeigen solle: mit der Inschrift Briand Chamberlain Stresemann. 3 banale allerdings sehr schnelle Probebogen waren die Antwort. Verbesserungsvorschlag (deutsches Reich im Wasser) besserte nichts. Unterdessen befruchtete einerseits eine Fliegermarke (Kopf des Fliegers) auf der Schweizer Flugmarke (gezeichnet von Bickel) und andererseits einen Japanischen Flugpoststempel gegenüber einer Botticelli Nymphe [...]." Dann sei ihm, so fährt Warburg fort, eingefallen, „daß Strohmeyer der richtige Künstler sein dürfe, in dessen phantastischrealer Statik ich immer [...] ein besonderes Instrument gesehen hatte." Er rief Strohmeyer an, traf sich mit ihm, zeigte ihm seine „schäbigen Skizzen", Strohmeyer „skizzierte in sein winziges Taschenbuch das Flugzeug" und brachte schon am nächsten Tag den ersten Entwurf im Hochformat, der, nochmals überarbeitet, am übernächsten Tag durch ein Querformat ersetzt wurde. Jetzt trug der Flieger die Inschrift Idea vincit. (Warburg, Tagebuch der KBW [wie Anm. 13], S. 23 f.)

Der auflialtsame

Aufstieg einer Idee

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Der Erfolg der Demonstration hielt sich in Grenzen. Stresemann sei zu spät gekommen, beklagte sich Warburg sowohl in seinem Notizbuch wie im Tagebuch der Bibliothek, und ihn selbst habe man in gröblicher Weise zur Kürze genötigt, so daß er auf alle Finessen seiner Argumentation habe verzichten müssen.17 Insgesamt lautete das Resümee des großen Ereignisses kurz und bündig „Na ja". 18 Stresemann erhielt einen der Abzüge des Strohmeyerschen Blattes (mit dem Warburg in den folgenden Tagen noch eine Reihe von Bekannten und Freunden bedachte 19 ) und empfahl sich. Die erhoffte Reform des Briefmarkenwesens blieb aus.20 Um so erfreuter reagierte Warburg, als zwei Jahre später aus den Vereinigten Staaten eine Anfrage zwecks Abdruck des Idea vincit-Blattes (im „Survey", der Zeitung der Deutsch-Amerikaner) kam.21 Und als Stresemann kurz darauf, nach der Unterzeichnung des Kellog-Pakts, im Interview mit einer französischen Zeitung sagte, „höher als die materielle Gewalt steht die Macht der Idee, die die Menschheit mit sich fortreißt", da meinte Warburg, darin ein Echo seiner eigenen Ideen zu vernehmen, und er triumphierte: „Seht ihr wohl, er hat also ganz zu Recht 1926 die „Idea vincit" empfangen."22 Aber auch dem Briefmarkengedanken scheint sich 17 Vgl. Warburgs Notizbuch 75, WIA III, S. 8321. 18 Ebd. Der Eintrag im Tagebuch der KBW ist etwas differenzierter und positiver: „Freue mich doch, den Mann ,an die Trambahn rangebracht' zu haben. Die Jugend schandmault etwas zu leicht. - Hinter Stresemann's plumpem Stil muss doch viel geistige Civil-Courage stehen." (Warburg, Tagebuch der KBW [wie Anm. 13], S. 37.) 19 So u. a. Binswanger; vgl. die Karte von Warburg an Binswanger vom 23.12.1926, in: Raulff [wie Anm. 6], S. 64. 20 So konstatiert es auch C. G. Heise, der den Besuch in ein etwas günstigeres Licht taucht: „Bei einem Besuch des Reichsministers Stresemann in Hamburg hielt Warburg im Anschluß an einen Rundgang durch seine Bibliothek einen kurzen Briefmarkenvortrag, mit durchschlagendem persönlichen Erfolg, doch leider ohne die erhoffte Wirkung einer grundlegenden Wertzeichen-Reform." (Heise [wie Anm. 9], S. 19). 21

22

Vgl. Warburg, Tagebuch der KBW [wie Anm. 13], S. 332. Warburg kommentiert: „Also: Unsere U.S.A. haben das zwingend symbolische des Blattes begriffen, während wir von Deutschland doch nur zaghafte Zustimmung hörten." Ebd., S. 340.

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Stresemann nicht verschlossen zu haben, wie Aufzeichnungen aus seinen letzten Lebenswochen belegen.23 In der Ansprache vor dem Völkerbund am 10. September 1929, seiner letzten Rede, propagierte er den Gedanken, all das zusammenzufassen, was die europäischen Staaten einte, plädierte für die Schaffung einheitlicher Maße und Gewichte, forderte eine gemeinsame Münze - und eine europäische Briefmarke.24 Noch einmal, zwölf Jahre nach seinem Tod, acht Jahre nach der Emigration seiner Bibliothek nach England, sollten Warburgs Überlegungen zur Ikonographie der Hoheitszeichen späte Früchte tragen. Im Frühjahr 1941 beriet Fritz Saxl, Warburgs Nachfolger in der Leitung der Bibliothek, die Mitarbeiter des Generals de Gaulle, die beauftragt waren, für die französischen Kolonien, die sich auf die Seite der Free French geschlagen hatten, neue Wertzeichen zu entwerfen (Abb. 7).25 Anders als im Jahr 1926 fand 23

In einem Entwurf für „Betrachtungen zum Verfassungstage" aus dem August 1929 etwa heißt es: „Aber schneller als manche glaubten, hat sich doch in zehn Jahren [...] das Neue durchgesetzt, trotz der schweren psychologischen Fehler, die man gerade in den ersten Jahren nach der Revolution begangen hat: vom Flaggenwechsel bis zum Kampf gegen die Fridericus-Marke. Man hat nicht bedacht, daß unüberlegter Kampf gegen die Werte der Vergangenheit mit bereitwilliger Anerkennung des guten Neuen so wenig zu tun hat, wie die Bilderstürmerei in den Kirchen mit wahrer Frömmigkeit. Aber diese Kämpfe sind heute ausgekämpft [...]." (Nachlaß Stresemann [wie Anm. 4], Bd. 84, 9.8.-24.8.29).

24

Unter „Stichworte f. Schluß d. Genfer Rede vom 10.9.29" im Nachlaß Stresemann, ebd., Bd. 85, heißt es: „Weshalb sollte der Gedanke, das, was europäische Staaten eint, zusammenzufassen unmöglich sein? [...] Politische Gedanken, namentlich mit irgend einer Tendenz gegen andere Erdteile, lehne ich ab. Ebenso alles, was wie eine wirtschaftliche Autarkie Europas aussieht. Wohl aber erscheint mir eine Zusammenfassung dessen, was heute getrennt ist, wirtschaftlich möglich. [...] Neue Maße, Gewichte, Usancen, Münzen entstanden. W o bleibt das europäische Geldstück, wo die europäische Briefmarke?"

25

Saxl half nicht nur mit Rat, sondern auch mit Tat: Er selbst besorgte für Toni Mayer, den vormaligen Kulturattache, der jetzt im Service Financier de Gaulies tätig war, die Bildvorlagen für die Entwürfe, die der Grafiker Dulac ausführte. In seinem Brief vom 25.2.1941 schlug er für die Marke der französischen Städte in Indien den Lotus vor, „symbol of life and promise for the future", und schickte das Foto eines Reliefs in Sanchi. Am 17.3.1941 schickte er drei Fotos für die afrikanische Marke und fünf weitere für die von Tahiti: „The model for the African stamp is a Roman

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diesmal der humanistische Berater der politischen Macht Gehör: Nicht unter den Hoheitszeichen des Deutschen Reiches, wohl aber unter denen der France Libre sind Warburgs philatelistische Intentionen postum verwirklicht worden. 26 Damit nicht genug, erbaten die Männer der Free French, die ihren Kreuzzug zur Befreiung Frankreichs unter das Zeichen des Lothringer Doppelkreuzes stellten, vom Warburg Institute Aufklärung über die Geschichte ihres Wappens. Im November 1941 erhielten sie die gewünschte Auskunft. In wenigen Zeilen resümierte Anne-Marie Meyer die Geschichte des Croix de Lorraine - von seinem ersten Auftauchen im 7.Jahrhundert über das Wappen der Patriarchen von Jerusalem bis zu den Lothringer Herzögen des 15. Jahrhunderts (Abb. 8). 27 So lieferte das Warburg Institute den Leuten um de Gaulle gleichsam die historische Subscriptio zu ihrem Feldzeichen, das neben dem christlichen Kreuz, dem Davidstern und dem Halbmond bestehen, vor allem aber dem Faschistenbündel und dem Hakenkreuz widerstehen sollte. Zurück zur Weimarer Republik und ihrem immer wieder aufflackernden Streit um Symbole. Zwar hatte die Republik nach dem Untergang des inszenierungsfreudigen, zitatenseligen Kaiserreichs eine kühle, neusachcoin representing Africa as a woman, her head covered with an elephant hide [...]." Und weiter: „For Tahiti I am sending you some details taken from Gauguin paintings [...]." Da er mit der Wahl der Gauguin-Details selbst nicht zufrieden war, schrieb Saxl am nächsten Tag ein weiteres Mal an Mayer: „I am not quite happy about the Tahiti stamps, and am following up two other ideas: one a very good model for a cocoa-nut palm, and the other a Tahiti canoe." Drei Tage später schickte er die nötigen Bildvorlagen. 26

27

Vgl. die Broschüre unter dem Titel The Story of the Free French Colonial Stamps, ο. Ο. u.J. (The Warburg Institute, Bibliothek, Sigle N O P 175), in der die Geschichte der Motivwahl und Gestaltung berichtet wird. Anne-Marie Meyer an Toni Mayer, Brief vom 6.11.1941, WIA: „The Croix de Lorraine is the coat-of-arms of the Dukes of Lorraine, in token of their descent from Godefroi de Bouillon. It is a form of the double cross, and appears on Eastern Christian reliquaries as early as the 7 th century. It frequently occurs in Mediaeval Byzantine and Russian art, and is found in the Latin West as a reminder of Jerusalem and the True Cross. It served as the coat-of-arms of the Patriarchs of Jerusalem, of the Order of the St. Sepulchre, and also of the Kings of Hungary. It was assumed by the Dukes of Lorraine in the late 15th century."

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liehe Linie in der Staatssymbolik eingeschlagen. Orden und Ehrenzeichen waren nicht vorgesehen.28 „Die Reichsfarben", hieß es in Artikel 3 der Verfassung, „sind Schwarz-Rot-Gold." Doch schon im nächsten Satz wurde der Kompromißcharakter der Verfassung deutlich - und damit ihre Sollbruchstelle: „Die Handelsflagge ist schwarz-weiß-rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke." 2 9 Die Flagge sollte aber nicht das einzige Symbol bleiben, um das zwischen den politischen Lagern der Republik Streit entbrannte. Ahnlich umstritten waren die Stellung des Reichspräsidenten, der Verfassungstag als offizieller Nationalfeiertag, der Ort und die Form des Totengedenkens - und oft genug auch die Wertzeichen des Reiches. Eine einheitliche Zusammenfassung der Nation in verbindlichen Symbolen und Zeremonien erschien kaum denkbar. Im Mai 1926 stürzte ein deutsches Kabinett (das zweite Kabinett Luther) über dem Versuch, nach der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten die schwarz-weißrote Flagge aufzuwerten und künftig in den europäischen Seehäfen und in den außereuropäischen Vertretungen neben der Fahne der Republik die Handelsflagge zu hissen.30 So schied der Streit um die Flagge die Gegner der Republik von ihren Anhängern. Gleichzeitig erhärtete sich bei diesen die Gewißheit, daß die Republik nicht länger untätig zusehen könne, wie die Symbole der Kaiserzeit weiter fortwirkten und die Massen der Republik entfremdeten. Aus sich heraus müsse die Republik neue Symbole schaffen, welche den Deutschen zu einem neuen, der Demokratie gemäßen Lebensgefühl verhelfen soll-

28 29

30

In diesem Zusammenhang ist an Stresemanns Wort von der „Bilderstürmerei" zu erinnern; vgl. oben, Anm. 23. Vgl. dazu P. Reichel: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München 1995, S. 263. „Ausgerechnet dort, wo die Revolution begonnen, wo die aufständigen Matrosen die Flagge des verhaßten autoritären und imperialen wilhelminischen Staates niedergerissen hatten, wehte wieder die Fahne der gestürzten Monarchie." Vgl. Reichel, ebd.; B. Buchner: Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik, Bonn 2001; E. Zechlin: SchwarzRotGold und SchwarzWeißRot in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1926.

Der aufhaltsame

Aufstieg einer

Idee

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ten. 3 1 E s ist kein Zufall, d a ß s o l c h e B e s t r e b u n g e n b e s o n d e r s M i t t e d e r z w a n z i g e r J a h r e s p ü r b a r w u r d e n : E s w a r e n die „ g u t e n J a h r e " d e r W e i m a r e r R e p u b l i k ; politisch e n t s p a n n t e sich die L a g e , die D e m o k r a t i e zeitigte erste E r f o l g e , u n d a u c h die ö k o n o m i s c h e L a g e stabilisierte sich. D i e Z e i t schien reif a u c h für eine s y m b o l i s c h e Stabilisierung. So scheint es a u c h A b y W a r b u r g e m p f u n d e n z u haben, als er sich d e n B r i e f m a r k e n des R e i c h e s z u w a n d t e , u m sie e i n e m kritischen V e r g l e i c h m i t d e n W e r t z e i c h e n a n d e r e r N a t i o n e n z u u n t e r z i e h e n ( A b b . 9 ) . 3 2 So w e n i g für W a r b u r g

ästhetische

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Am 13.10.1927 schreibt Max M. Warburg, Abys Bruder, an den preußischen Kultusminister C. H. Becker - einen Mann, den Max Warburg noch aus dessen Zeit als Dozent im „Allgemeinen Vorlesungswesen" der Hansestadt (von 1906-1913) kannte und als pragmatischen Kulturpolitiker und Vernunftrepublikaner schätzte. Sein Brief enthält die Zusammenfassung eines Gesprächs über die sittliche Stellung und Aufgabe der Deutschen mit einem gewissen Dr. Müller-Claudius (vermutlich Hermann Müller-Claudius), der mit Unterstützung Warburgs einen Verlag aufmachen wollte und offenbar großen Eindruck auf den Bankier gemacht hatte. Die deutsche Republik, so heißt es hier, „wird solange keinen Boden in der Masse des patriotischen Deutschland finden, als sie die alten Symbole weiterwachsen und weiter revoltieren lässt. Freilich: Ausrotten kann man diese Symbole nicht. [...] Aber etwas andres muss geschehen: Die deutsche Republik muss für ihr Amt werben wie einst das Kaisertum. Sie darf nicht warten, bis ,sich' alles, alles ändert, sondern sie muss aktiv, bewusst am deutschen Geist umschaffend meisseln. Sie muß der Nation neue Symbole aufrichten, die vom Wesen und Fühlen des Deutschen her ergriffen werden können." Diese Symbole, so heißt es weiter in Max Warburgs Paraphrase, brauche man nicht zu erfinden: „Sie liegen in der Auferstehung des alten Humanitätsideals des Deutschen [...], die heute [...] eine stahlharte biologische Notwendigkeit ist - ein energetischer Imperativ." Und abschließend heißt es: „Das Leben der deutschen Republik hängt davon ab, ob sie dem Deutschen das neue Lebensgefühl gibt." (Nachlaß C . H . Becker, Preußisches Geheimes Staatsarchiv Berlin, I. H A Rep. 92, Becker, C. H. 4927).

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So berichtet Olga Herschel, eine ehemalige Studentin Warburgs, von einem zufälligen Treffen auf der Straße im Sommer 1927, bei dem Warburg plötzlich eine Reihe von Briefmarken aus der Tasche zog, u.a. „jenen deutschen Briefmarkensatz mit den Bildern von Friedrich dem Großen, Beethoven, Goethe usw., dabei einige englische Marken, an denen er demonstrierte, wie richtig die Engländer auf ihren Marken einen Kopf im Verhältnis zum Hintergrund behandelt hätten, und wie falsch dies auf den deutschen Marken gehandhabt worden sei". (O. Herschel: Erinnerungen

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Kriterien eine Rolle spielten, wenn er den „psychohistorischen" Wert eines Werks zu bestimmen suchte, so entscheidend wurden sie, wenn es um die politische Wirkung eines Kunstwerks, seine Stellung im öffentlichen Raum ging. Das hatten bereits früher, noch im Kaiserreich, seine Interventionen in Debatten um Denkmäler (das Hamburger Bismarck-Monument von Lederer) und Wandbilder (die Fälle Vogel und Beckerath, ebenfalls in Hamburg) gezeigt. Mit anderen Worten, Kategorien wie „schön", „häßlich" oder „gelungen" waren für Warburg solange ohne Belang, wie es nicht um Kunstwerke ging, die öffentliche oder offizielle Funktionen hatten. Da dies aber bei den Briefmarken der Fall war, trat Warburg bald mit dem Mann in Verbindung, dem die ästhetische Pflege der Reichsinsignien unterstand. Am 14. Dezember 1926, eine Woche vor dem StresemannBesuch, schrieb er an den für die Formgebung des Reichs Zuständigen, Edwin Redslob, und bat um die „Ergebnisse der Briefmarkenkonkurrenz" 33 . Der Kunsthistoriker Edwin Redslob hatte das 1920 eingerichtete (und bis 1933 bestehende) Amt des Reichskunstwarts inne. Dieses Amt, in der deutschen Geschichte einzigartig, wenngleich innerhalb der Machtstruktur der Republik schwach34, war nicht nur für die Verfassungs- und Gedenkfeiern der Republik zuständig. Redslob wirkte mit bei der Gestaltung von Hoheitszeichen, Siegeln, Stempeln, Münzen, Banknoten und Briefmarken der Republik, beteiligte sich an den Diskussionen um eine zentrale Totengedenkstätte des Reichs und beriet die zuständigen Behörden in Bau- und

an Professor Aby Warburg, in: Hamburgische Universitäts-Zeitung XI, 1929/30, Heft 7, 10.12.1929, S. 154-56, zit. nach H. Dilly: Sokrates in Hamburg. Aby Warburg und seine Kulturwissenschaftliche Bibliothek, in: Bredekamp [wie Anm. 6], S. 125-40). 33 Warburg an Redslob, Brief vom 14.12.1926, WIA IV. Am 21.12.1926 antwortet Redslob, sendet ihm das „Heft über Briefmarken" und ebenso „den Führer durch die Ausstellung ,Die künstlerische Formgebung des Reichs'". 34 Vgl. den instruktiven Aufsatz von W. Speitkamp: „Erziehung zur Nation". Reichskunstwart, Kulturpolitik und Identitätsstiftung im Staat von Weimar, in: H. Berding (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Bd. 2, Frankfurt/M. 1994, S. 541-80, der eine Fülle bibliographischer Hinweise enthält.

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Architekturfragen. Zwischen ihm und Warburg entspann sich im Anschluß an einen Besuch Redslobs in der Hamburger Bibliothek am 7. April 192735 ein hoffnungsvoller Briefwechsel. Große Erwartungen verknüpfte Warburg besonders mit der Aussicht, das Aufgabenfeld des Reichkunstwarts zum Gegenstand eines Vortrags in seiner Bibliothek zu machen: „Ich sehe dem Zeitpunkt, wo wir zusammen in Anknüpfung an die Ausstellung .Formgebung des Reichs' in meiner Bibliothek die Neugestaltung der offiziellen Kunst als lebendiges Problem einem größeren Kreise fühlbar machen werden, mit Freuden entgegen."36 Offensichtlich schickte der Kulturwissenschaftler sich an, Beraterfunktionen zu übernehmen bei dem, was wir heute das Design der Republik nennen würden. Wie ernst es ihm mit dieser Absicht war, zeigen die Schreiben Warburgs aus den folgenden Monaten. In einem Brief beschwerte er sich über die Reklameaufdrucke auf Postverzeichnissen und -fahrzeugen und tadelte die Vermischung von kommerzieller Ikonographie mit den Hoheitszeichen des Reiches: Mit dieser unseligen Praxis habe das faschistische Italien immerhin gebrochen.37 In einem anderen Brief äußerte sich Warburg (alarmiert durch ein Schreiben des Redslob-Mitarbeiters Siegmund von Weech38) höchst beunruhigt über den Entwurf einer Hindenburg-Brief35 Von diesem Besuch am 7. April 1927 hat Warburg ein dreiseitiges Protokoll anfertigen lassen, das die ihm wichtigen Punkte des Gesprächs festhält. Besonders der Schluß ist interessant: „Die .Kreuzung unserer Lebenskurven' scheint mir Erspriessliches in Aussicht zu stellen. Seine Erfahrung ermöglicht auch eine ganz andersartige Kritik. Er arbeitet nicht allein mit .Marken oder nicht', sondern weiss sehr fein auch künstlerische Schöpfungen zu würdigen, falls sie nicht den Zwecken der Marke, auf der sie sich befinden, eigentlich entsprechen. So hat er m. E. der Leninmarke gegenüber das richtige Wort gefunden, indem er sie aus dem Bereich der Briefmarke entfernte und sagte: .das ist eine illustrierte Traueranzeige von höchster Wucht, wenn auch keine Marke'." (WIA IV, 49.5, S. 3.) 36 Warburg an Redslob, Brief vom 19.4.1927, WIA IV. 37 Warburg an Redslob, Brief vom 27.4.1927: „Die Italiener haben jetzt (der Demagoge Mussolini hat nach der Richtung wenigstens eine gute Nase) mit solcher Käuflichkeit der staatlichen Verkehrsmittel gebrochen." Die Deutschen dagegen meinten immer noch, jeden Unsinn der Amerikaner nachmachen zu müssen. (WIA IV). 38 Vgl. Schreiben von Weech in WIA, Notizkasten 3, „Briefmarke".

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marke, die den Reichspräsidenten nicht in Zivil, sondern mit Generalsspiegeln zeigte (Abb. 10). 3 9 Die Antworten Redslobs zeigen, daß ihm die Monita des gelehrten Ratgebers nicht unwillkommen waren. Gemeinsam bereiteten sie sich auf den Vortragsabend im August 1927 in der Bibliothek Warburg vor, bei dem zunächst Redslob einen Uberblick über seine Tätigkeitsfelder gab, bevor Warburg anhand von Lichtbildern zu einer kritischen Geschichte der Briefmarke ausholte. 40 Ihren gleichsam natürlichen Zielpunkt fand diese Geschichte, wie sollte es anders sein, in Warburgs eigenem Entwurf v o m Vorjahr, der Idea Victrix oder Idea

vincit.41

39 Warburg an Redslob, Brief vom 1.8.1927: „Ohne auf das Künstlerische zunächst einzugehen, möchte ich fragen, ob Sie in der Tat beabsichtigen, Hindenburg als General mit den Gardestreifen am Kragen darstellen zu lassen. [...] Denn so sehr ich, wie jeder vernünftige deutsche Mensch, zu den rückhaltlosen Bewunderern von Hindenburg gehöre, so meine ich, gehört die Verehrung die der 80jährige heute geniesst, doch ganz im wesentlichen dem Manne, der den gefürchteten Generalszylinder wieder zu einem Zeichen höchster Ehre gemacht hat. Daß das nicht heissen soll, daß man ihn entwa im Zylinder poträtiert, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Aber ihn in der Uniform darzustellen, halte ich für bedenklich [...]." (WIA IV). 40 Im dem Bericht des Hamburger Fremdenverkehrsblatt vom 14.8.1927 über die beiden Vorträge vom Vortag heißt es, Professor Warburg habe noch „ein paar Randbemerkungen" gemacht, „die sich allerdings zu einem ausgedehnten Vortrag voller Humor und scharfem Sarkasmus auswuchsen. Er setzte seinen Hörern [...] auseinander, daß sich auf der Briefmarke der Kampf zwischen Realismus und Idealismus klar abspielt, und daß die Briefmarke Elemente miteinander zu verbinden hat, die sich künstlerisch zuwider laufen: das Wappen der Zahl und das Porträt des Herrschers. Auch er lehnte die Germania-Marke ab, ironisierte „die Leiden des Löwen" auf der Briefmarke, erklärte das Mißlingen des Kant-Bildnisses auf der jetzigen 15-Pfennig-Marke aus dem bei deren Herstellung angewandten ungeeigneten Verfahren heraus, und besprach besonders den Einfluß der Antike auf die Marke." Auch die Philatelisten-Zeitung (35. Jg., Nr. 9, 1.9.1927, S. 118) und die Hamburger Nachrichten vom 15.8.1927 berichten von den Vorträgen und zitieren Warburgs Wort von den Briefmarken als der „Bildersprache des Weltverkehrs". Zu der Anekdote von der Germania als einer verkleideten Köchin (in Wahrheit einer Schauspielerin), die Warburg ebenfalls in seinen Vortrag einbaute, vgl. Heise [wie Anm. 9], S. 18. 41 Der Inhalt des Lichtbildervortrags, der insgesamt 37 Diapositive umfaßte, läßt sich anhand der handschriftlichen Liste im Warburg-Archiv (WIA IV, 49.2) der teilweise

Der aufljaltsame Aufstieg einer Idee

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Wendet man sich nun wieder diesem Entwurf zu, so erscheint zweifellos das dynamisch hervorschießende Flugzeug in der Mitte als das am stärksten ins Auge fallende Element. Zugleich aber auch als das erstaunlichste jedenfalls wenn man bedenkt, daß es von Aby Warburg stammt. Immerhin hatte er erst drei Jahre zuvor, in seinem Kreuzlinger Vortrag, das Motorflugzeug unter die großen Bedrohungen der Menschheit gerechnet: ein Zerstörer der Distanz, des Denkraums und somit der Vernunft. „Der moderne Prometheus", hieß es da zum Schluß, „und der moderne Ikarus, Franklin und die Gebrüder Wright, die das lenkbare Luftschiff erfunden haben, sind eben jene verhängnisvollen Ferngefühl-Zerstörer, die den Erdball wieder ins Chaos zurückzuführen drohen." 4 2 Doch so eindeutig negativ bestimmt, wie es hier scheint, war Warburgs Einstellung zur Fliegerei nicht. Die kleine Ungenauigkeit in seiner apodiktischen Behauptung - zwar waren die Gebrüder Wright die Pioniere des Motorflugs, das lenkbare Luftschiff aber war eine Erfindung des Grafen Zeppelin - verrät den Schwankenden. Warburg bewunderte den Grafen Zeppelin und war von seiner Erfindung fasziniert. 43 In späteren Jahren,

noch erhaltenen Briefmarkentafeln in III, 96.4 sowie der Fotos von anderen, nicht mehr erhaltenen Tafeln (WIA, ebd., Photographie Collection, Abtlg. „Postage stamps") einigermaßen rekonstruieren. - Was in der bisherigen Beschäftigung mit Warburgs Spätwerk immer übersehen wurde (so noch zuletzt von P. Huisstede: „Laboratorium der Bildgeschichte", in: Galitz und Reimers [wie Anm. 12], S. 1 3 0 171), ist die Tatsache, daß Warburgs „Briefmarken-Projekt" der Jahre 1926-1927 (mit den Besuchen von Stresemann und Redslob als den herausragenden Ereignissen) einen selbständigen Platz in der Reihe der Vorarbeiten und Projekte hat, die, anfangend mit dem Franz-Boll-Vortrag von 1925, schließlich in das „Mnemosyne" Projekt einmünden sollten. Dabei stellt der Briefmarkenvortrag vom 13. August 1927, obwohl er mit Lichtbildern statt mit Tafeln arbeitet (darunter allerdings wiederum Lichtbilder von Tafeln), selbst ein Tafelwerk im kleinen oder einen Bilderatlas en miniature dar: gleichsam das den großen Andachtsraum ersetzende Reisealtärchen.

42 A.M. Warburg: Schlangenritual. 43

Eine Reisebericht

(„Bilder aus dem Gebiet der

Pueblo-Indianer in Nord-Amerika"), Berlin 1988, S. 59. Bilder vom Zeppelin begleiten Warburg bis zu den Tafeln des Bilderatlas; vgl. Α. M. Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne (Gesammelte Schriften 2. Abt., Bd. II. 1),

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nach seiner Rückkehr aus Kreuzlingen, übertrug Warburg diese Schätzung auf H u g o Eckener und ließ keinen Vortrag des populären Mannes aus, der wie kein anderer technischen Pioniergeist und deutschen Willen zur Wiederaufrichtung verkörperte. 4 4 Das ging so weit, daß er bei den Reichspräsidentenwahlen des Jahres 1925 Eckeners N a m e n ins Spiel zu bringen versuchte und in einem Brief an Felix von Eckardt, den Chefredakteur des ger Fremdenblatt,

Hambur-

schrieb, es müsse ein Ende haben mit der „Schlagbaum-

politik": „Die Vereinigten Staaten von Europa liegen in der L u f t . " 4 5 Faszination durch die Luftfahrt und die phantastische Vorgeschichte des modernen Motorflugs sprach bereits aus Warburgs Text von 1913 über die Darstellungen der Himmelsreise Alexanders des Großen auf burgundischen Bildteppichen des 15. Jahrhunderts. Schon damals gefiel es ihm, den „modernen Aviatiker" über seine geistige Genealogie zu belehren, die „über Karl den Kühnen [ . . . ] in direkter Luftlinie hinaufreicht bis zum

hrsg. von M. Warnke unter Mitarbeit von C. Brink, Berlin, 2000, Tafel C, S. 13, dort figurieren die jüngsten Aufnahmen vom Zeppelin vom September 1929 neben den Planetenbahnberechnungen und -darstellungen Keplers. 44 Auch im Briefmarken-Vortrag am 13.8.1927 wurde Eckeners in Wort und Bild gedacht. Warburgs Stichworte dazu lauten: „Aus d. Mneme. Eckener an sich; Undankbarkeit. Die Landungshalle in Lakehurst. Akt der Wiedererhellung deutscher Eigendynamik." Mitte der zwanziger Jahre wollte Warburg, wie C. G. Heise berichtet, eine Abteilung für Luftschiffahrt in seiner Bibliothek aufbauen, vgl. Heise [wie Anm. 9], S. 24. Hier ist auch daran zu erinnern, daß die Jahre 1925/26 mit der „Zeppelin-Eckener-Spende" und nach Eckeners Transatlantikfahrt in die USA einen zweiten Höhepunkt (den ersten hatte das Jahr 1908 erlebt) der Zeppelinbegeisterung in Deutschland brachten; vgl. dazu H. Reinicke: Opfer und Nation. Die Eroberung des Luftreiches, unveröffentlichtes Manuskript, S. 55; Peter Fritzsche: A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge/Mass. 1992, Kap. IV; Y. Jean: „Mental Aviation" - Conquering the Skies in the Weimar Republic, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXVIII/1999, S. 429-58; Ch. Asendorf: Super Constellation - Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien und New York 1997, hier bes. S. 9 ff. 45 Warburg an F. von Eckardt, 10.9.1925, WIA, GC (General Correspondence) Α. Ich verdanke den Hinweis auf diesen Brief dem in Anm. 15 zitierten Vortrag Dorothea McEwans.

Der aufhaltsame Aufstieg einer Idee

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,grand Alixandre'" 4 6 . Aber Warburg näherte sich dem Gegenstand nicht nur als Historiker mit wissenschaftlicher oder ironischer Distanz. Die gemischten Gefühle, welche die moderne Technik bei ihm hervorrief, schärften seinen Sinn für die Zeichen des Neuen: So wie er vor dem Krieg den deutschen Traum von der Seemacht mitgeträumt und sich als Ausstatter von Luxusdampfern versucht hatte 47 , wie er im Dampfschiff gleichsam das emblematische Leitobjekt der technischen Welt erblickt hatte, so erkannte er jetzt, in den zwanziger Jahren, den technischen (und vielleicht auch den politischen) Primat der Luftfahrt. Zugleich aber sah er im motorisierten Luftfahrzeug einen verwirklichten Menschheitstraum, und er ging so weit zu behaupten, „die technische Beherrschung des Luftraumes sei ein Abkömmling jenes uralten Versuches, sich mit magischen Mitteln im Weltraum zu orientieren und gehöre daher auch zum Bemühen der Menschheit um eine Orientierung im geistigen Raum" 4 S . Technik war mithin für Warburg nie „bloße Technik", sondern stets gleichrangig Ausdruck eines Erkenntnis- oder vielmehr Orientierungsstrebens. So gesehen war es vom Flieger zur Idee in der Tat nur ein kurzer Schritt. In anderer Hinsicht war dieser Schritt gewaltig. Ähnlich wie C . H . Becker, sein zum preußischen Kultusminister aufgestiegener ehemaliger Kollege, sah es Warburg als vordringlichste Aufgabe deutscher Kulturpolitik an, gegenüber der auf die Macht des Schwertes gestützten Politik des Kaiser-

46 47

48

A. Warburg: Luftschiff und Tauchboot in der mittelalterlichen Vorstellungswelt, 1913 (Gesammelte Schriften I), Leipzig 1932, S. 241-49, hier S. 249. Zu diesem Ausflug des Kulturwissenschaftlers in die Ausstatterpraxis vgl. M. Diers: Warburg aus Briefen. Kommentare zu den Kopierbüchern der Jahre 1905-1918, Weinheim 1991, S. 85-90. So überliefert es Heise [wie Anm. 9], S. 24. Dennoch bleibt zu fragen, ob Warburgs mit der „Idee" verbundener Assoziationshintergrund nicht komplexer ist. Als „Ideenmacht" (die „Ideen von 1914") hatte sich schließlich auch das Deutsche Reich im Krieg begriffen. Und als „Verbrechen an der Idee" hatte Warburg selbst den im Namen der Freiheit geführten Krieg der Entente bezeichnet; vgl. die Passage aus einem Brief an Fritz Warburg vom Mai 1917, zit. von J. Becker: Ursprung so wie Zerstörung: Sinnbild und Sinngebung bei Warburg und Benjamin, in: Allegorie und Melancholie, hrsg. von W. van Reijen, Frankfurt/M. 1992, S. 64-89, hier S. 73.

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reiches, die im Weltkrieg gescheitert war, eine nationale Politik zu fördern, welche sich auf die „Macht der Idee" gründen sollte. 49 Aber anders als bei der überwiegenden Mehrzahl kulturkritischer Schriftsteller im damaligen Deutschland, anders auch als bei Becker selbst, verband sich diese Absage an den Materialismus der Macht bei Warburg nicht mit einer Rückkehr zu den Werten des 19.Jahrhunderts. Und was angesichts der diskursiven Optionen jener Zeit noch viel erstaunlicher ist: Sie bedeutete auch keine Absage an die moderne Technik. Warburg, dem die Technik tief unheimlich war, weil sie die Distanz vernichtete und den „Denkraum der Besonnenheit" bedrohte, war zugleich imstande, das Reich der Technik und das der Ideen für einander transparent und vermittelbar zu halten. Um 1900, in seinen Florentiner Jahren, hatte er an Jolles geschrieben, er sei „in Platonien geboren" und möchte mit dem Freund „auf einer hohen Bergspitze dem kreisenden Flug der Ideen zuschauen". 50 Ein Vierteljahrhundert später hätte sich vermutlich derselbe Platoniker nicht gescheut, in ähnlichen Termini die Ereignisse eines Deutschen Flugtags wiederzugeben. In jedem Fall stand der Aeroplan, den Warburg ins Zentrum seines Markenentwurfs rückte, für weit mehr als einen banalen Triumph der Technik. Darüber belehren die neoplatonisierenden Stichworte zum Vortrag, die ihn begleiten: „Eigendynamik der europaeischen Seele, die trotz allem befreit auffliegt. - Br., Ch., Stresemann." 51 Die Namen der drei Politiker weisen darauf hin, daß es sich für Warburg nicht nur darum handelte, die Macht der Ideen mit der Macht der Technik zu versöhnen. In erster Linie ging es darum, der Republik zu den ihr gemäßen Symbolen zu verhelfen. Sie sollten es dem Volk ermöglichen, mit der neuen Staatsform einen Pakt auf die Zukunft zu schließen, der gleichwohl die Vergangenheit nicht auslöschen sollte. In den letzten Jahren seines Lebens entwickelte Warburg einen geschärften Sinn für die Insignien

49 50 51

Vgl. hierzu die Programmschrift von C. H. Becker: Kulturpolitische Reiches, Berlin 1919. Zit. nach Gombrich [wie Anm. 11], S. 146. WIA III, 96.4, S. 119.

Aufgaben

des

Der aufhaltsame Aufstieg einer Idee

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und Rituale der politischen Macht. Neben der diachronen Betrachtung seiner auf Ikonographie und historische Psychologie gestützten Kulturwissenschaft etablierte sich immer stärker die synchrone Erforschung des politischen Gebrauchs von Bildern und Symbolen. Zugleich zeigte sich ein Wandel bei den Objekten und Trägern der politischen Symbolik: Hatte Warburgs Kritik vor dem Krieg in erster Linie Denkmälern und Wandbildern gegolten, also typisch bürgerlichen Formen der Repräsentation, so richtete sie sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre auf ephemeres Bildgut wie Briefmarken, Werbebroschüren und die Fotos der illustrierten Presse. Besonders deutlich zeigt sich das an seiner Wahrnehmung der Symbolik und Bildpropaganda des italienischen Faschismus, deren Spuren sich bis auf die Tafeln des „Mnemosyne"-Projekts, des Bilderatlas, verfolgen lassen. 52 Gleichwohl waren es nicht die Wertzeichen des Faschismus, in denen Warburg ein Widerlager fand, um sein eigenes Konzept zu bilden. Der Weg vom antiken Liktorenbündel zu den fasä des modernen Italien brachte mit der Brutalisierung eines alten Symbols nur eine „vermessene Symbolik" 53 zustande. Überdies rief sie den Affekt der Furcht hervor. Warburg hingegen suchte ein Symbol, das dem Betrachter Orientierung bot, ohne ihm die Distanz zu rauben. Er stieß auf die bereits erwähnte Marke der Insel Barbados: Neben dem Porträt des englischen Königs zeigte sie eine Britannia, deren Wagen von den gefügelten Rossen Poseidons über die Wellen getragen wurden. Zu seinem Vergnügen stellte Warburg fest, daß

52

Vgl. die letzten Tafeln des Bilderatlas Mnemosyne, auf denen sich Warburg mit dem Konkordat zwischen dem Vatikan und dem italienischen Staat auseinandersetzt. Im Briefmarken-Vortrag vom August 1927 geht Warburg an vier Stellen auf Mussolini und die Zeichenpolitik des Faschismus ein; daneben an drei Stellen auch auf Lenindarstellungenn auf Briefmarken. - Besonders auf den jungen Percy Ernst Schramm, der zeitweise sein Schüler gewesen war, scheinen Warburgs Beobachtungen zum Wandel der politischen Symbole nachhaltigen Eindruck gemacht zu haben: So jedenfalls lassen es Schramms zahlreiche spätere Studien zu den Herrschaftszeichen des Mittelalters vermuten. Vgl. auch P. E. Schramm: „Mein Lehrer Aby Warburg", in: Mnemosyne [wie Anm. 14], S. 3 6 - 4 1 .

53

Briefmarkenvortrag, W I A III, 96.4, S. 27.

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sich in dieser Allegorie der Herrschaft (die sich in traditioneller Weise in der Bezwingung der Elemente bewährte: was bei Alexander die Luft, war beim englischen König die See) ein modernes Reich in den traditionellen Attributen der Souveränität darstellte.54 Die Moderne aber führte, wie Warburg demonstrierte, einen Wandel in der Symbolik des Herrschaftszeichens herbei: „Das Verkehrsmittel als technischer Bezwinger d. Elements drängt zur Darstellung."55 Offensichtlich legte Warburg den Akzent weniger auf die Ersetzung des Monarchen durch das Volk als vielmehr auf die Selbstermächtigung der Technik. Aber auch bei der Emanzipation des technischen Objekts, zumal des Verkehrsmittels, konnte die Antike Geburtshilfe leisten. Warburg verwies auf die Alexander-Ikonographie: „Die Antike als dynamische Anstachlerin d. nordischen Erfindung. Greifen-Wagen = Auto." 56 Sein eigener Briefmarkenentwurf stand somit am Ende einer Entwicklungsreihe, die von der alten Allegorie zum modernen Symbol führte. In ihm hatte als Bezwinger des Elements das technische Verkehrsmittel den Platz des Herrschers eingenommen: der motorisierte Aeroplan, der Wind und Wellen überwand. Zugleich aber versinnbildlichte der Flieger den befreiten Aufschwung der Idee. So bildete er das zeitgemäße Gegenstück zu der Marke aus der britischen Kolonie: Ihrer stolzen Botschaft Britannia rules the waves setzte er das Versprechen vom Wiederaufstieg Deutschlands entgegen - als Macht

54

„Ein überraschend einleuchtendes Beispiel für die aktuelle Lebenskraft eines solchen nachlebenden heidnischen Natursymbols gibt der englische König in seinem von Seepferden gezogenen Triumphwagen auf den heutigen Briefmarken von Barbados; das Vorbild dieses Neptun-Weltbeherrschers ist bei seinem Urahn Karl II. zu suchen, dem das gleichzeitige Festwesen ebenso wie die virgilianischen Kenntnisse seiner Hofantiquare zu dieser eindrucksvollen machtpolitischen Metapher verhalfen." (Warburg [wie Anm. 46], S. 258.) Vgl. auch Olga Herschels bereits erwähnten Bericht oben in Anm. 32.

55 56

Briefmarkenvortrag, W I A III, 96.4, S. 98. Briefmarkenvortrag, W I A II, 96.4, S. 101. Neben Alexander ist Phaeton der andere große Himmelsreisende, dessen Vehikel, Reiseumstände und schließliches Scheitern Warburg bis in den Bilderatlas hinein verfolgt; vgl. Bilderatlas Mnemosyne, Tafeln 4 (Phaeton) und 34 (Alexander, Malachbel), Warburg, Bilderatlas [wie Anm. 43].

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im Reich des Geistes, als Ideenmacht. Daß dieser Sieg im friedlichen Wettstreit, im Konzert der europäischen Nationen errungen werden sollte, dafür standen die drei Namen Chamberlain, Briand und Stresemann.57 Kühn wie die Ideenpolitik, die Warburg in dieser Miniatur skizzierte, war auch ihre Ästhetik. Nicht nur ihrem Programm nach war sie auf der Höhe der Moderne - im Jahr 1926 nahm die Hansestadt Hamburg den Bau eines Flughafens in Angriff, die Deutsche Lufthansa errang den ersten Platz im internationalen Flugverkehr, Hugo Junkers propagierte die Vorstellung, die Deutschen müßten zu einer „Air minded nation" werden 58 , und das folgende Jahr, für das Warburg den Sieg der Idee verhieß und aviatisch versinnbildlichte, sah den Triumph des Atlantikbezwingers Lindbergh. Auch in ästhetischer Hinsicht brach Warburgs Briefmarke, ausgeführt von Strohmeyer, mit den Konventionen der Wertzeichen des Deutschen Reiches. Orientiert an der eleganten Moderne der Schweizer Luftpostzeichen, weist der Warburg-Strohmeyersche Entwurf eine eigene Dynamik auf, in der sich die federnden Linien technikgestützten Aufschwungs mit Andeutungen heraldischer Bilderinnerung (in der adlerhaft gekrümmten „Nase" des Flugzeugs) verbinden. So mag sich auch der Anklang erklären, den der Strohmeyersche Druck bei Stresemann und anderen Adressaten fand. 59 Und doch steckte auch in diesem kühnen Blatt eine Kompromißbildung. Warburg wollte, wie der hoffnungsvoll begonnene Briefwechsel mit Redslob zeigt, sein Scherflein dazu beitragen, der Republik zu einer eigenständigen Symbolik zu verhelfen. Sie sollte attraktiv genug sein, um das Volk davon abzuhalten, hinter den alten Symbolen der Monarchie oder den neuen

57

58

Nicht auszuschließen ist bei der Wahl des Flieger-Motivs auch eine polemische Spannung (der Versuch einer Gegen-Aneignung) zu dem von Warburg gehaßten Aviatiker und Dichter des Faschismus, d'Annunzio - wie überhaupt die gesamte Symbolpolitik Warburgs, wie sie sich konkretisiert, in spürbarer Konkurrenz zum italienischen Faschismus steht.

Vgl. D. Siegfried: Der Fliegerblick. Intellektuelle, Radikalismus produktion bei Junkers 1914 bis 1934, Bonn 2001, S. 211 f. 59 Vgl. McEwan [wie Anm. 15].

und

Flugzeug-

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Feldzeichen von Faschismus und Sozialismus herzulaufen. Zu diesem Zweck entwarf er eine Briefmarke, die die Massen ansprechen und für den demokratischen und europäischen Weg in die Zukunft gewinnen sollte. Soweit war seine Diagnose richtig und auch die Therapie nicht übel. Kritisch wurde es erst in dem Augenblick, als er die Inschrift wählte, die der Flieger tragen sollte. Warburg wußte wohl, daß es kein klassisches, ciceronisches Latein war, das er hier prägte. Immerhin aber, so beruhigte er sich selbst, „ist es schlechtes altes Latein, sei's drum; drum ist es gutes modernes Deutsch; das ist eben was wir brauchen" 6 0 . Genau das war es aber nicht; es war und blieb Latein; eine Rede, die das O h r der Massen nicht erreichte, eine Verlautbarung der Gelehrtenpolitik. Es war dem ambitionierten Erfinder einer neuen politischen Zeichensprache nicht gelungen, über den Schatten seines humanistischen Politikverständnisses zu springen. An diesem Punkt könnte die kurze Geschichte der Begegnung von Aby Warburg und Gustav Stresemann enden. Es wäre die Geschichte eines Zusammentreffens von zwei herausragenden Vertretern ihrer jeweiligen Sphären, Kulturwissenschaft und Politik: politisch wenig folgenreich, ideengeschichtlich eine Anekdote. Deutlich sähe man beiderseits den Willen, Symbolpolitik in einem aufgeklärt nationalen und europäischen Sinn zu treiben. Man fände bestätigt, daß Aby Warburg auch auf diesem Terrain Pionier und Avantgardist gewesen ist und brauchte sich am Ende, angesichts der Konjunktion von Aviatik und Neuhumanismus, den leisen Spott darüber nicht zu verkneifen, daß dem Vernunftrepublikaner der Kontakt zu den Massen fehlte. So bliebe Warburg, was viele gern in ihm sehen: das hochgeehrte Hausgespenst im Bau der Kulturwissenschaften, ein genialer Vorläufer, der indes kein intellektueller Zeitgenosse mehr ist. Weil wir, die Nachlebenden, sehen, was er nicht sehen konnte, fühlen wir uns als legitime Erben: Wer als Zwerg auf Schultern eines Riesen steht, tut gut daran, an einen Fortschritt in der Geschichte zu glauben. Aber die Geschichte von Aby Warburg und der Wiederkehr seiner jugendlichen Leidenschaft zur Briefmarke muß nicht hier enden. Tatsäch60 Warburg, Tagebuch der KBW [wie Anm. 13], unter dem Datum des 21.12.1926, S. 24.

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lieh bietet das Idea vincit-Projekt Anlaß zu Beobachtungen, die das allgemeinere Problem der Verknüpfung von Wort, Bild und Technik durch Warburg betreffen. Zwar lassen sich ähnliche Beobachtungen auch anhand anderer Texte und Themen Warburgs machen, aber vielleicht nicht in derselben Deutlichkeit wie hier, wo er sich den symbolischen Bilder der Gegenwart zuwendet. Die erste dieser Beobachtungen betrifft das Verhältnis von Sprache und Technik. Von jeher zeichnete sich Warburgs Formulierungskunst durch den kreativen Gebrauch einer blühenden Metaphorik aus. Warburg benutzte nicht nur fertig vorgefundene Sprachbilder, sondern arbeitete sie um und trieb sie, einem Goldschmied gleich, zu neuen, plastischen Gebilden aus. Neben der floralen Metaphorik des Wachsens, Aufgehens, Knospentreibens, wie sie der Humanismus verbreitet hat und wie sie (in linguistischer Analogie zum Jugendstil) besonders um die Jahrhundertwende blüht, findet sich bei Warburg schon früh die Metaphorik der Wanderwege und der übertragbaren, überlieferbaren Prägungen angewendet - eine ganze SprachbilderWelt zur analytischen Beschreibung von Traditionsbildung. Ein Repertoire, das man als sprachlichen Widerpart zu jener bodensüchtigen Metaphorik der „Verwurzelung" und des „Einwachsens" ansehen kann, wie sie die deutsche Wissenschaft auf dem Weg ins völkische Lager begleitet hat. 61 Verbunden mit diesen Bildern von der Wanderschaft tauchten ebenfalls schon früh die bekannten Prägungen von den „Bildfahrzeugen" auf, wie sie Warburg in Gestalt von Truhen, Teppichen und Flugblättern erkannte. Ihre Wanderschaft wurde mit zunehmender Dynamik des Weltverkehrs der Bilder und Zeichen technisch mobil gemacht. Die bedeutendsten Umwälzungen brachten, wie Warburg in seinem Luther-Aufsatz 6 2 zeigte, Buchdruck und Holzschnitt. Weitere Beschleuniger kamen mit der

61

Vgl. U. Raulff: „Quis custodiet custodes?" Über die Bewahrung und die Erforschung von Tradition, in U. Raulff und G. Smith (Hg.): Wissensbilder. Strategien der Überlieferung, Berlin 1999; ders.: „Die Bodenlosigkeit der Geschichte", in: Tagungsband des Bonner Symposiums „Erde" im Oktober 2001, erscheint demnächst. 62 Vgl. A. Warburg: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (Gesammelte Schriften Bd. II), Leipzig 1932, S. 487 ff.

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Eisenbahn und der Elektrizität ins Spiel: Die „Bildfahrzeuge" motorisierten sich. Am vorläufigen Ende dieser modernen Entwicklungen stand, so sah es Warburg, die Luftpostmarke: ein Objekt, das den Weltverkehr der Bilder und das modernste technische Verkehrsmittel verkörperte und gleichzeitig in der symbolischen Darstellung seines Markenbildes reflektiert wurde. Eine der Konsequenzen aus seiner Genealogie der modernen technischen Massenmedien war es, daß Warburg seine Metaphorik dem Einstrom der Technik öffnete. „Bild und Wort werden durch die Druckkunst auf Papierblätter automobil," heißt es in seinem Briefmarkenvortrag. 63 Doch schon im nächsten Augenblick wird aus dem Adjektiv oder Adverb „automobil" ein Substantiv: „Die Bilder-Vehikel. Das Automobil im Weltverkehr ist das gedruckte Flugblatt." 64 Daß Warburg dabei nie zum Techniker im ingenieurhaft-positivistischen Sinne wurde, sondern auch die Technik als magisch inspiriert ansah, beweist die folgende Notiz, ebenfalls aus dem Briefmarkenvortrag: „Wunder: Bildhaftes Symbol setzt sich sofort in Bewegungsenergie magisch um." 6 5 Und in der nächsten Notiz auf derselben Seite geht es wieder um die energetische Transformationsleistung, welche die Briefmarke als Bildträger vollbringt: „Das Bild als Transformator des menschlichen Lautes in Bewegungsenergie." Auch dies ein metaphorisches Feld, das Warburg früh für sich entdeckt und bestellt hatte: die Umwandlung von Energie und die Nutzung der Elektrizität - man denke an seinen Gebrauch der Termini „Pole", „Ladung", „Feld", „Transformatoren" etc. 66

63

Briefmarkenvortrag, WIA III, 96.4, S. 45. Neben dieser Notiz steht, durchgestrichen, das Wort „Engel". 64 Ebd., S. 44. 65 Ebd., S. 57. Die Notiz datiert vom 11.12.1926. 66 Am Schluß des im Winter 1927/28 gehaltenen Seminars über Nietzsche und Burckhardt etwa heißt es: „Wir haben in den unheimlichen Hallen der Transformatoren innerster seelischer Ergriffenheiten zu künstlerisch bleibender Gestaltung einen Augenblick verweilen dürfen..." Zit. nach Gombrich [wie Anm. 11], S. 347. Erinnert sei auch an die ebenfalls häufig verwendete Metaphorik der Seismographie, die Beschreibung der Bibliothek als „Seismograph" bzw. als „Empfangsanlage für die

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Zunehmend aber verwendete er jetzt, 1926-1927, die Metaphorik des motorisierten Verkehrs, und dies nicht nur im unmittelbaren Zusammenhang mit Briefmarke, Luftpost, Fliegersujet, sondern auch auf ganz anderen Feldern, etwa wenn von der Rolle Ovids in der Antikenrezeption der Renaissance die Rede war. So heißt es in den Notizen für die Ovid-Ausstellung im Januar 1927 in der Bibliothek Warburg: „Das Problem nach dem Einfluss der Antike hat im Lauf der Jahre natürlicherweise dazu geführt, die Hauptvehikel, auf denen die antike Götterwelt in die europäische einfährt zu untersuchen. Das Hauptverkehrsbureau für reisende Götter lag offenbar jahrhundertelang in den Händen der bewährten Firma Publius Ovidius Naso u. Epigonen." 67 Das Verhältnis Warburgs zur Technik, zutiefst ambivalent, geprägt von einer Mischung aus Furcht und Faszination, ist somit um eine spezifische Nuance zu erweitern. Für Warburgs Arbeiten blieb die Technik nicht nur ein Thema (wie im Alexander-Aufsatz) oder etwa ein Arsenal von Hilfsmitteln (wie in dem technisch hochgerüsteten Neubau der Bibliothek von 192568). Sie drang vor bis ins Medium der Darstellung selbst - bis in die mnemischen Wellen der Vergangenheit" etc. Durchgängig präsent bleibt daneben die mit der Energetik verknüpfte Bildwelt des Finanz- und Bankwesens („Das energetische Engramm als antikisch geprägter Ausdruckswert mit Zwangs-Höchstkurs wertbeständig im Safe der symbolischen Funktion."). Es wäre der Mühe wert, Warburgs Metaphorik, ihre Entwicklung und vor allem ihre eigenartige Kombinatorik (wie im voranstehenden Beispiel) einer eigenen, systematischen Untersuchung zu unterziehen. 67 Notizen zur Ovid-Ausstellung, WIA III, 96.2.3. 68 Vgl. dazu T. von Stockhausen: Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg. Architektur, Einrichtung und Organisation, Hamburg 1992, insbes. die Abb. auf S. 95 ff.; vgl. auch S. 100: „Mit effizienter Kommunikation und Transportlogistik innerhalb der Bibliothek soll die zeitaufwendige Suche nach dem Buch kompensiert werden. Der technische Apparat spiegelt aber auch eine Begeisterung für die Technik an sich wieder. Der Keller des Bibliotheksgebäudes ist voller aufwendiger Maschinerie [...]." Ebenso S. 110: „Die Technisierung und die auffällig aufwendige innere Vernetzung soll die Bibliothek effizienter gestalten. Warburgs Verhältnis zu technischen Innovationen ist also durchaus positiv." So ungebrochen, wie der Autor es hier darstellt, ist Warburgs Verhältnis zur Technik gewiß nie gewesen. Allerdings hatte seine Ambivalenz einen „positiven Pol", den Stockhausen richtig erfaßt. Vgl.

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Sprache des Wissenschaftlers. Warburg duldete es, ja erzwang es geradezu, daß in seiner Rede zu Wort kam, was er doch (nach eigenem Bekunden) für eine akute Bedrohung des „Denkraums der Besonnenheit" und insofern für eine Gefahr der menschlichen Vernunft hielt. Diese Tatsache hat um so mehr Gewicht, als Warburgs Sprache, all ihren Bildern und allem zuvor Gesagten zum Trotz, letzten Endes doch nicht wirklich metaphorisch war: Die sichere „Distanz der Metapher" 69 , nach der sie strebte, vermochte sie selten vollständig zu erreichen. Meist blieb in Warburgs Sprache ein Hauch von Sprachmagie lebendig, für die das Aussprechen des Namens einem Berühren der Sache selbst gleichkam.70 Aber nicht nur seine Sprache hatte sich der Technik gegenüber geöffnet auch Warburgs Umgang mit Bildern, seine Praxis als Ikonograph hatte es. Verschiedentlich, zuletzt durch Peter van Huisstede, ist die Art und Weise beschrieben worden, in der Warburg seit 1924/25 die großen Wandtafeln, auf denen sich Bilder anbringen und verschieben ließen, gebrauchte.71 Diese Tafeln, die beides gleichzeitig waren, Erkenntnisinstrument und Darstellungsmedium 72 , ermöglichten es dem Bildwissenschaftler, immer neue Bildgruppen herzustellen und zueinander in unterschiedlichste (chronologische, typologische, genetische oder thematische) Verhältnisse zu setzen. Eine an sich einfache und leicht transportable Versuchsanordnung von Tafeln, Bildern und zugehörigen Texten erlaubte es Warburg, die Zweidimensionalität der Bilder und die diskursive Linearität des Texts zu überschreiten und dergestalt sowohl die Dimension (die raum-zeitliche Vertikalität) wie die Dynamik (die sich wandelnden Bedeutungsnetze), die seine Argumentation voraussetzte, zu simulieren. auch K. Forster: Warburgs Versunkenheit, in: Galitz und Reimers [wie Anm. 12], S. 184-206, hier S. 202. 69 Gombrich [wie Anm. 11], S. 354. 70 Vgl. Forster [wie Anm. 68], S. 189: „Warburg war unermüdlich bei seinen Versuchen, die begrifflichen Formeln zu finden, mit denen er der Phänomene, die ihn beschäftigten, habhaft werden wollte. [...] Was Warburg betrieb, war eine Art Begriffsmagie." 71 Vgl. van Huisstede [wie Anm. 41], hier bes. S. 140ff. 72 Vgl. ebd., S. 150.

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Diese gleichsam protokybernetische Bild-Text-Bearbeitung wiederum hatte eine einfache technische Voraussetzung: die Fotografie mit ihren Möglichkeiten der Vergrößerung und Verkleinerung. Sie erst begründete die „uferlose Vergleichbarkeit von allem und jedem in der Kunst", der Warburg, wie Kurt Forster richtig bemerkt, „ein ganz neues Potential abzugewinnen vermochte" 73 . Anders als noch Jacob Burckhardt begriff Warburg die Fotografie nicht mehr als Stellvertreterin eines originalen Kunstwerks, das in situ erkannt sein wollte. Im Gegenteil: Die Warburgschen Bilderreihen führten zur Vertauschung des Stellenwerts von fotografischem Dokument und künstlerischem Monument. Warburgs Versenkung ins Detail hatte, ebenso wie die Raum und Zeit, Stile und Genres übergreifende Komparatistik, die seinem „Mnemosyne"-Projekt zugrunde lag, die Ubiquität und Dimensionslosigkeit des Kunstwerks, die dessen fotografische Reproduktion mit sich brachte, zur Voraussetzung. Was das konkret bedeutet, zeigt sich, wenn man die Art und Weise, in der Warburg etwa die Hindenburg-Briefmarke des Jahres 1927 oder andere Proträtbriefmarken der Zeit (Friedrich II., Goethe) betrachtete, mit seinen Bemerkungen zum Hamburger Bismarck-Denkmal von Lederer und Schaudt (aus dem Jahr 1906) vergleicht. Ebenso interessant wie der Kommentar, den Warburg zu dem Denkmal abgibt (zu zwei Dritteln schiere Polemik gegen die Kleinbürger in aestheticis)74, sind hier die Dokumente, auf die sein Urteil sich gründete. Denn seine Unterlagen enthalten nicht nur eine Reihe von Aufnahmen von der Enthüllung des Denkmals, sondern auch etliche fotografische Teilansichten desselben. In ihnen werden das steinerne Haupt Bismarcks oder die gewaltige Faust mit dem Schwert wieder zu Stücken (Abb. 11, 12), die beliebig mit anderen Detailstudien jedes denkbaren Formats vergleichbar sind. Das Kolossalhaupt des Denkmals und das gestrichelte Porträt der Briefmarke sind fortan kompatibel: im Auge des Betrachters. 75 73 Forster [wie Anm. 68], S. 193. 74 Vgl. WIA III, 52.6.1-2. 75 Daß umgekehrt der Bismarck-Kopf des Denkmals von Lederer plötzlich wie das Blow-up einer Briefmarke erscheint, beruht nur teilweise auf der Wirkung der Fotografie.

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Ähnlich wie im Fall der Technik, die Warburg fürchtete und doch auf dem Weg über die Metaphorik in seine Sprache einziehen ließ, operierte er auch mit dem historischen Bilderfundus in einer Weise, die das Bild aller seiner „natürlichen" Bestimmungen - Ort, Zeit, Material und Dimension und übrigens auch all seiner ästhetischen Valeurs beraubte, um seine Lebensgesetze im „Labor" der Bibliothek zu rekonstruieren. Wieder also dieselbe Beobachtung: Das, was seine Angst erregte - die grenzenlos gewordene Technik, das uferlos gewordene Bildermeer - , machte Warburg zum Teil seiner eigenen Praxis. Gewiß blieb auch für den späten Warburg die Schaffung von Distanz, ob im Symbol oder in der Theorie, das erklärte Programm; oft genug wiederholte sich in den Notizen der letzten Jahre die Devise Keep your distance! Doch diese Distanz beruhte nicht mehr auf einem externen Standpunkt. Warburgs Kulturwissenschaft erschloß sich, bewußt und gewollt, der Immanenz des Gefährlichen. Im Fall der Luftpost-Briefmarke76, die Warburg entwarf, war ihm eine besondere Verdichtung gelungen. Das winzige Bild zeigt einen Flieger, das mächtigste Symbol forcierter Beschleunigung und Raumbeherrschung, und dieses Bild wird seinerseits getragen von einer Luftpostmarke, bestimmt dazu, in einem internationalen Kommunikationssystem zu zirkulieren. Mit anderen Worten: Ein winziges Bild, ein „Dynamogramm", bestehend aus wenigen Strichen, wird befördert von einem weltumspannenden System der Großtechnik. Als Symbol aber, als die sie gedacht ist, hat diese grafische Abbreviatur eine gewichtige Bedeutungsfracht zu transportieren: Sie soll den Aufschwung der europäischen Idee propagieren, welche berufen ist, den engen Nationalismus zu überwinden; darüber hinaus aber soll sie neoplatonisch - die Kraft der Seele zum Aufstieg und zur Selbstbefreiung evozieren. In diesem Sinn ist Warburgs Briefmarke tatsächlich ein „energetisches Symbol" - ein humanistisch-minimalistisches Programmbild, das die zerstörerische Macht der Technik, das Prinzip Hoffnung und den 76

Die von Liebmann entworfene Freimarke - freilich nicht das von Strohmeyer ausgeführte Blatt - trägt als Wertbezeichnung 25 Pfennig, ist also ein für die damalige Zeit besonders hoher Wert, wie er nicht im gewöhnlichen Briefverkehr, wohl aber bei der Luftpostbeförderung verlangt wurde.

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moralischen Imperativ verschmilzt. Es verdichtet sie zu einem polar geladenen ikonischen Atom, welches im Teilchenbeschleuniger des Weltverkehrs seine Ladung austauschen wird.

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Abb. 1 Briefmarken der französischen Republik mit der säenden Marianne, Entwurf von Louis Oscar Roty, London, The Warburg Institute Archive.

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Abb. 2 Briefmarken verschiedener Nationen zum Motiv des Liktorenbündels, London, The Warburg Institute Archive.

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