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German Pages 448 [444] Year 2023
STUDIEN ÜBER DIE DEUTSCHE GESCHICHTSWISSENSCHAFT BAND 2
Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft Band 2 Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung von der Reichseinigung von oben bis zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus
Herausgegeben von
JOACHIM STREISAND
deb
verlag das europäische buch
Dieser Band erschien unter der Redaktion von Hans Schleier zuerst 1965 als Band 21, Reihe 1 : „Allgemeine und deutsche Geschichte", der Schriften des Instituts für Geschichte bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.
das europäische buch
Iiteraturvertrieb gmbh Westberlin
ISBN 3-920 303-50-4 © 1965 by Akademie Verlag Berlin DDR Printed in the German Democratic Republic
1580
INHALT
Vorbemerkung des Herausgebers
6
Von der Reichseinigung von oben und der Pariser Kommune ltyi bis zum Beginn der imperialistischen Epoche Rigobert Günther: Theodor Mommsen
9
Helmut Meier: Zur Europa-Ideologie im 19. Jahrhundert (de Lagarde, Frantz)
25
Johannes Wenzel: Jacob Burckhardt
41
Günter Vogler: Max Lehmann
57
Vom Beginn der imperialistischen Epoche bis zum ersten Weltkrieg und der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution Hans Schleier: Die Ranke-Renaissance
99
Ernst Engelberg: Zum Methodenstreit um Karl Lamprecht
136
Frank Fiedler: Methodologische Auseinandersetzungen in der Zeit des Ubergangs zum Imperialismus (Dilthey, Windelband, Rickert)
15}
Joachim Streisand: Max Weber: Politik, Soziologie und Geschichtsschreibung
179
Hans Krause: Die alldeutsche Geschichtsschreibung vor dem ersten Weltkrieg
190
Fritz Klein: Die deutschen Historiker im ersten Weltkrieg
227
Von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution bis zur Befreiung Deutschlands vom Fasebismus 194; Hans Schleier: Die Historische Zeitschrift 1918-1943
ZJI
Gerhard Lozek: Friedrich Meinecke
503
Hans Schleier: Veit Valentin
-
326
Gerd Voigt: Aufgaben und Funktion der Osteuropa-Studien in der Weimarer Republik
369
Leo Stern: Die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie
400
Personenregister für die Bände 1 und 2 der Studien
. . .
426
Von der Reichseinigung von oben und der Pariser Kommune 1871 bis zum Beginn dei imperialistischen Epoche
Theodor Mommsen Rigoben
Günther
Theodor Mommsen wurde am 30. November 1817 in Garding (Schleswig) geboren; väterlicherseits stammt er aus einer Marschbauernfamilie, die seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts in Nordfriesland nachweisbar ist, mütterlicherseits führt seine Ahnentafel in den Kreis sächsischer Kaufmannsfamiiien. 1 Im Elternhaus - sein Vater war Diakonus in Garding, 1821 bis 1851 2. Prediger in Oldesloe (Holstein) - erhielt er die erste Schulbildung; 1834 bis 1838 war er Schüler des Königlichen Christianeum in Altona. Hier bekam seine philologische Ausbildung bereits die soliden Grundlagen, die ihn zum Meister der kritisch-philologischen Methode in der Altertumswissenschaft werden ließen. Seine allgemeine kritische Einstellung gegenüber den vormärzlichen Verhältnissen in Deutschland und gegenüber den „ewigen Wahrheiten" der Religion förderten sein Interesse für Liberalismus und Atheismus.2 Beiden Richtungen ist er bis zum Lebensende (1903) treu geblieben. Ebenso fällt seine Neigung für die Dichter des „Jungen Deutschland" schon in seine Schulzeit. Seinen Unmut über die Darstellung der Geschichte durch die Lehrer des Christianeum zeigte er 183; in einem Gedicht „An Athene": Ihr, die mir der Weisen Rollen kalt zur Lektion gesetzt, als ich eben mit dem vollen Becher meine Lipp' geletzt, die ihr mir die Weltgeschichte schüfet zu Tabellen um und im herrlichsten Gedichte spähtet nur nach Altertum l s Die liberale Einstellung.zeigte sich schon 1837 in einem Gedicht über Polen, in dem es im ersten Vers heißt: „Dort, wo fünfzig Millionen Menschen noch zu dieser Frist schweigend und geknechtet wohnen dorthin schaue, frommer Christ." 4 1838 begann Mommsen sein Studium an der Juristischen Fakultät der Universität Kiel.
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Wickert, Lotbar, Theodor Mommsen, Bd. 1: Lehrjahre (1(17-1844) Frankfurt a. M. 19J9, S. 10; vgl. auch die Ahnentafel auf S. 267 f. Hartmann, Ludo Moritz, Theodor Mommsen. Eine biographische Skizze, Gotha 1908, S. 4 f. Wickert, Lotbar, a. a. O., S. 107. Heuß, Alfred, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert, Kiel 1956, S. 9, nennt es „religiöse Indifferenz".
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Wickert, Lotbar, a. a. O., S. 64.
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1
Ebenda, S. 107.
IO
Rigabert Günther
Dort schloß er sich der Burschenschaft „Albertina" an. Als Historiker wirkte damals Johann Gustav Droysen (1808-1884) in Kiel; sicher hat Mommsen einige Vorlesungen Droysens besucht, aber als Schüler Droysens oder eines anderen Kieler Universitätslehrers kann man ihn nicht bezeichnen. Eine engere Freundschaft als mit anderen verband ihn mit dem Archäologen und Philologen Otto Jahn, die bis zum Tode Jahns (1869) dauerte. Wahrscheinlich ist er auch besonders durch Jahn in der kritisch-philologischen Methode geschult worden, denn diese hebt er vor allem im Nachruf auf Otto Jahn als besondere Anerkennung hervor.5 Im Frühjahr 1843 schloß er seine Universitätsstudien mit dem juristischen Amtsexamen ab, und am 8. November desselben Jahres verteidigte er seine juristische Doktordissertation „Ad legem de scribis et viatoribus et de auctoritatecommentationes duae". Die Fakultät erkannte ihm das Prädikat summa cum laude zu. 1844 bis 1847 war er auf einer Forschungsreise in Italien; dort arbeitete er die später im Corpus Inscriptionum Latinarum vorbildlich angewandten Editionsprinzipien zur Herausgabe der lateinischen Inschriften aus, wobei er sich die großen Erfahrungen des italienischen Altmeisters der Epigraphie Bartolomeo Borghesi (1781-1860) zunutze machen konnte. Mommsen selbst sammelte in diesen Jahren die Inschriften Samniums und des Königreichs Neapel und betrieb Studien über unteritalische Dialekte. Uber die kritisch-philologische Methode des 19. Jahrhunderts liegen bereits verschiedene kritische Einschätzungen und Würdigungen vor.8 Für Mommsen bedarf es in dieser Hinsicht noch einer Ergänzung. Trotzdem von Barthold Georg Niebuhr in Deutschland zuerst diese Methode entwickelt und mit Erfolg angewandt worden wac, hatte sich in der Mitte des ig. Jahrhunderts sowohl in der klassischen Philologie, der Archäologie und der Althistorie die quellenkritische Methode noch nicht durchgesetzt. Vor allem die Schüler Niebuhrs entwickelten - ausgehend von einigen Irrtümern Niebuhrs - noch gelehrte Konstruktionen der altrömischen Geschichte, die der Quellenkritik nicht standhielten.7 Die „antiquarische" Methode und die unsystematischen Einzelstudien, die den Zusammenhang der geschichtlichen Erscheinungen nicht berücksichtigten, waren noch lange nicht überwunden. Die moderne Altertumswissenschaft verdankt Mommsen die Erkenntnis, daß die einzelnen Zweige der Altertumswissenschaft - isoliert voneinander betrieben - zur Unfruchtbarkeit verurteilt sind. Mommsen hat nie außer acht gelassen, daß der Altertumswissenschaftler die lebendige Einheit aller antiken Erscheinungen und Vorstellungen in ihrer gegenseitigen Beziehung berücksichtigen muß. Für ihn standen die juristischen, numismatischen und epigraphischen Quellen nicht isoliert von den historischen Quellen oder von den Quellen der Dichtkunst der Antike. Alle Kenntnisse, die er aus den Quellen schöpfte, waren den Gedanken der römischen Geschichte untergeordnet.8 5
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7 8
Theodor Mommsen-Otto Jahn. Briefwechsel 1842-1868, hg. v. L. Wickert,
Frankfurt a. M. 1962.
Der Nachruf ist S. 362 f. abgedruckt. Zuletzt behandelt von Schilfert, Gerbard, Leopold von Ranke, in: Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Band 1. Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn d. 19. Jh. bis zur Reichseinigung von oben, hg. v. J . Streisand, Berlin 196$, S. 244-248. Vgl. Hartmann, Ludo Moritz, a. a. O., S. 27. Vgl. Wucher, Albert, Theodor Mommsen. Geschichtsschreibung und Politik, Güttingen 1956, S. 54 f.
Theodor Mommsen
Mommsen hat selbst die philologisch-kritische Methode folgendermaßen charakterisiert: „Sicherstellen des Positiven und Faktischen, 'jenes Bestreben zuerst und vor allem die Überlieferung rein und vollständig zu ermitteln und darzulegen,... die sogenannte streng philologische Methode, das heißt einfach die rücksichtslos ehrliche, im großen wie im kleinen vor keiner Mühe scheuende, keinem Zweifel ausbiegende, keine Lücke der Uberlieferung oder des eigenen Wissens übertünchende, immer sich selbst und anderen Rechenschaft legende Wahrheitsforschung..." 9 Es gab unter den Vertretern der philologisch-kritischen Richtung keine einheitliche Auffassung über die Aufgaben des modernen Historikers. Mommsen hat vom Beginn seiner historischen Forschungen an die" Geschichtsschreibung stets als eine politische Aufgabe angesehen. Während Ranke und seine Schule durch Überspitzung und Einengung der philologisch-kritischen Methode zu einem gewissen „Faktenfetischismus" gelangten, wußte sich Mommsen von diesen Dingen fernzuhalten: „Die rechte Geschichtsschreibung sucht nicht in möglicher Vollständigkeit das Tagebuch der Welt wiederherzustellen, auch nicht den Sittenspiegel zu exemplifizieren, sie sucht Höhen und die Überblicke, und von glücklichen Punkten in glücklichen Stunden gelingt es ihr herniederzusehen auf die unwandelbaren Gesetze des Notwendigen",.. . 10 Der philologisch-kritischen • Methode verdanken wir die ausgezeichneten Quelleneditionen, ohne die heute kein Altertumsforscher arbeiten kann. Wir verdanken ihr eine Darstellung „des Positiven und Faktischen" in der Geschichte der alten Welt, soweit es die Quellen zuließen. Aber die philologisch-kritische Methode war allein nicht in der Lage, die objektive historische Entwicklung in der Geschichte zu enthüllen, Zusammenhänge zu erkennen, die von den antiken Quellen nicht beschrieben wurden und die historische Bedeutung der Quellen (z. B. den Klassenstandpunkt eines antiken Autors) zu analysieren. Dazu bedurfte es der Verbindung der philologisch-ktitischen mit der historisch-kritischen Untersuchungsmethode, dem historischen Materialismus, unydie objektive Entwicklung der Gesellschaft zu erforschen. So ist z. B. Mommsens heißumstrittene „Römische Geschichte" von der Seite des „Faktischen und Positiven" entsprechend den Kenntnissen seiner Zeit - nicht angreifbar. Und doch verdient sie die Kritik des Historikers, weil die objektive historische Wirklichkeit in vielen Partien der „Römischen Geschichte" nicht berücksichtigt wurde; sein Caesar war nicht der historisch-echte Caesar, sondern der Wunschtraum des kleindeutschen Liberalen, der an der Spitze Preußens gern einen Mann sehen wollte, der die nationalstaatliche Einigung Deutschlands im liberalen Sinne betrieb. In seinen Optimaten und Populären der späten römischen Republik spiegelten sich die politischen Kämpfe des Liberalismus unc( der preußischen Hofkamarilla der-fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts wider. Durch eine übertriebene Anwendung des historischen Vergleichs erhob Mommsen den Subjektivismus in der Geschichtsschreibung zum methodischen Prinzip. 11 Dabei wäre • Theodor Mommsen-Otto Jahn. Briefwechsel 1S42-1S6S, a. a. O., S- 361, 363. Mommsens Nachruf auf Otto Jahn (1869). 10 Mommsen, Theodor, Die Schweiz in "römischer Zeit (1854), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Berlin 1908, S. 384 f. 11 Vgl. Mascbkin, N. A., Römische Geschichte, Berlin 1953, S. 53.
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Rigobert Günther
gar nicht so sehr zu tadeln, daß Mommsen in einer allgemeinverständlichen Darstellung aus den Konsuln „Bürgermeister" machte, daß in den Kriegen „Schwadronen" und „Bataillone" aufmarschierten oder daß für viele Begriffe des antiken Lebens eine moderne Umdeutung versucht wurde, um dem nichtakademischen Leser die römische Geschichte verständlich zu machen.12 Wieviel mehr muß davon noch im Erstmanuskript gestanden haben, denn als Otto Jahn über die zahlreichen modernen zeitgeschichtlichen Anspielungen im i. Band der „Römischen Geschichte" in einem Brief an Mommsen seiner Verwunderung Ausdruck gab, antwortete dieser: „Ich habe dergleichen Beziehungen massenweise herausgestrichen bei der Abschrift, aber das Herz ist einmal jeden Augenblick dieser Dinge voll, und wer kann sich immer beherrschen?" i» Noch viel irreführender war die Übertragung kapitalistischer Verhältnisse und moderner sozial-ökonomischer Kategorien in die Darstellung der römischen Geschichte. Mommsen wurde damit zum Vertreter der modernisierenden Geschichtsbetrachtung, die die kapitalistische Welt bis in die frühe Zeit nach dem Zerfall der Urgesellschaft zurückdatierte. Karl Marx hat sich für die Arbeit am „Kapital" gründlich mit der „Römischen Geschichte" von Mommsen beschäftigt. Er kritisierte das Werk; weil es die Grenzen der ökonomischen Gesellschaftsformationen verwischte und den „Kapitalismus" in die römische Antike zurückverlegte.14 Aber andererseits erkannte er auch den Wert des Buches in der sicheren und genauen Darstellung einzelner historischer Erscheinungen, die ihn für die Arbeit am „Kapital" interessierten, und er übernahm auch ein längeres Zitat aus der „Römischen Geschichte" 15 . Wohl gab es auch für Mommsen eine Entwicklung, aber die Modernisierung der Antike ließ eine weltgeschichtliche Entwicklung lediglich innerhalb Feudalismus und Kapitalismus Spielraum. Beeinflußt von der Kantschen Philosophie, sah er in der Geschichte eine allgemeine Entwicklung der Menschheit zum Fortschritt und zur Freiheit. 16 Aber die allgemein menschliche Freiheit war für ihn die Freiheit des bürgerlichen Fortschritts und des Liberalismus. Die sittliche Notwendigkeit, die sich in der Geschichte verwirklichen sollte, leitete sich aus dem bürgerlich-liberalen Nationalbewußtsein der Revolution von 1848 her. Die „Römische Geschichte" von Theodor Mommsen ist ohne Kenntnis der geschichtlichen Ereignisse der vierziger und fünfziger Jahre in Deutschland kaum zu ver18
Weitere Beispiele bei Wucher, Albert, a. a. O., S. 41 f. Theodor Mommsen-Otto Jahn. Briefwechsel i>4i-it6i, a. a. O., S. 194, Brief v. 18.12.18)4. " Z. B. Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 3, Berlin 1964, S. 79J, Anm. 45 (Marx/Engels, Werke, Bd. 2j): „Herr Mommsen in seiner .Römischen Geschichte' faßt das Wort Kapitalist durchaus nicht im Sinn der modernen Oekonomie und der modernen Gesellschaft, sondern in der Weise der populären Vorstellung, wie sie nicht in England oder Amerika, sondern auf dem Kontinent als altertümliche Tradition vergangener Zustände noch fortwuchert." Ferner ebenda, S. 539, Anm. 46; Derselbe, Das Kapital, Bd. 1, Berlin 1962, S. 182, Anm. 39 (Marx/Engels, Werke, Bd. 23): „Auch Herr Mommsen in seiner .Römischen Geschichte' begeht ein Quidproquo über das andere." 15 Ebenda, Bd. 1, S. 398. Vgl. auch ebenda, Bd. 3, S. 185, Anm. 43. " Hartmann, Ludo Moritz, a. a. O., S. 70 f. 1S
Theodor Mommsen
15
stehen.17 Sie ist eine politische Stellungnahme Motnmsens zu den geschichtlichen Erfordernissen seiner Zeit und noch 1903 konnte man folgende Würdigung des Werkes veröffentlichen: „Die römische Geschichte gehört zur unentbehrlichsten Kost für alle, die die geschichtlich-politische Bildung unserer Zeit sich aneignen wollen." 1 8 Mommsen wollte damit die Wissenschaft der alten Geschichte „in den Dienst der liberalen nationalen Propaganda stellen" 18 . Mommsen konnte dies wie auch andere Vertreter des kleindeutschen Liberalismus, weil er - wie sie - aktiv an der liberalen Bewegung in der Revolution von 1848/1849 teilgenommen hatte. Mommsen hatte, als er im Sommer 1847 aus Italien zurückgekehrt war, vorübergehend eine Stellung als Lehrer in einem Mädchenpensionat angenommen, das Verwandten gehörte. Dort befand er sich bei dem Beginn der Revolution, die auch in SchleswigHolstein in den Märztagen 1848 ausbrach. Am 21. März 1848 hatte der dänische König Christian VIII. (1839-1848) eine Verfassung verkündet, die Schleswig in den dänischen Staatsverband einbezog. Schleswig und Holstein sollten damit getrennt werden. Dagegen erhoben sich die Massen der Bevölkerung der beiden Herzogtümer. Noch in den Märztagen bildeten sie eine provisorische Regierung mit demokratischer Verfassung (allgemeines und direktes Wahlrecht) und Freiwilligenverbänden. Man rief den Deutschen Bundestag um Unterstützung an, und als Dänemark Schleswig militärisch besetzte, griff Preußen im Auftrag des Deutschen Bundes in die Auseinandersetzung ein. Marx und Engels charakterisierten diesen Krieg gegen Dänemark in der „Neuen Rheinischen Zeitung" als ersten „Revolutionskrieg, den Deutschland führt" 20 . Sie unterstützten deshalb die konsequente Fortsetzung des Krieges. Preußen führte jedoch nur einen Scheinkrieg und verriet die deutsche Revolution in Schleswig-Holstein durch den Waffenstillstand von Malmö (26. 8.1848). Mommsen hatte sich zu Beginn der Revolution sofort der provisorischen Regierung zur Verfügung gestellt. Als die provisorische Regierung sich ein Presseorgan, die „Schleswig-Holsteinische Zeitung" schuf, wurde er mit dem ersten Erscheinen des Blattes Redakteur der Zeitung (seit 15.4.1848). In seinen Artikeln bekämpfte er die Sonderinteressen der einzelnen Stände und trat'für ein einheitliches Deutschland ein. Das neue Nationalparlament sollte sich gegen die deutsche Zersplitterung, gegen die absolute Monarchie und gegen den Anarchismus erklären. Unter Anarchismus verstand Mommsen allerdings die radikale republikanische Richtung, die in Baden unter der Führung von Friedrich Hecker stand.21 Bei der Einrichtung einer künftigen deutschen Verfassung sollte der Schwerpunkt in da« Nationalparlament gelegt werden. Das Problem, ob der deutsche Staat eine Republik oder eine konstitutionelle Monarchie sein solle, war für Mommsens politische Anschauungen von untergeordneter 17
D i e ersten drei Bände erschienen in erster A u f l a g e in der Zeit von 18)4 bis I8J6. Bis 1904 erschienen insgesamt neun A u f l a g e n seiner „Römischen Geschichte".
18
" 80 a
Bardt, Carl, Theodor Mommsen, Berlin 1905, S. 35. Wucher, Albert, Marx/Engels,
a. a. O . , S. 25 f. (mit weiteren Literaturhinweisen).
Werke, Bd. j, Berlin 1959, S. 393 ( „ N e u e Rheinische Zeitung" v. 10. 9.1848).
Mommsen,Theodor,
Unsere
Wahlen
zum
Nationalparlament,
in:
„Schleswig-Holsteinische
Zeitung", Nr. 8, v. 24. 4.1848; wieder abgedruckt bei Hartmarm, Ludo Moritz,
a. a. O . , S. 162-171.
Rigobert Günther
14
Bedeutung. Allerdings schien ihm eine konstitutionelle Monarchie zweckmäßiger zu sein als eine „reine Republik" 22 , jedoch war er bereit, sich dem Mehrheitsbeschluß des Nationalparlaments zu unterwerfen. Die Masse des liberalen deutschen Bürgertums und der Intellektuellen standen einer konsequenten demokratischen Revolution 1848/1849 mißtrauisch und zum Teil feind-/ selig gegenüber. Lieber wollte man sich mit den Feudalmächten der Vergangenheit über eine Verfassung einigen, als die Revolution zu Ende zu führen. Auch Mommsen gehörte zu denen, die im Kampf gegen Feudalabsolutismus und Ständestaat auf halbem Wege stehenblieben.23 Andererseits aber agitierte er für die genaue Prüfung der Kandidaten für die Nationalversammlung vor der 'Wahl. „Die in die alte Staatsmaschine eingepreßten Geister, die Schreibmaschinen der Bureaus, die devoten Pfründner der Staatskirche, die unbedingt gehorsamen Lieutenants und Majore, die ihre beschränkten Untertanenverstandes sich bescheidenen Spießbürger, die Männer der Hundetreue allsamt sind der Vergangenheit und der Vergessenheit zu übergeben. Die neue Zeit braucht neue Menschen; Hüten wir uns vor den Anhängern des alten bureaukratischen Polizeistaates;..." 24 „Daß auch die Reste des alten feudalen Staates fernzuhalten sind, ist so klar, daß es keiner Worte darüber braucht Wir brauchen ritterliche und junge Herren, aber keine Junker und keine Ritterschaftliche." 2 8 Aber Mommsen hatte kein Vertrauen zu den Volksmassen. Das Volk sei politisch noch nicht reif, behauptete er in dem schon mehrfach zitierten Zeitungsartikel. Aber das Volk hatte seine politische Reife auf den Schlachtfeldern in Schleswig und Baden bewiesen. Vor dieser politischen Reife war die deutsche Bourgeoisie zurückgeschreckt, und sie warf dem Volke vor, woran es ihr selbst mangelte. Als allerdings Preußen den Krieg gegen Dänemark immer kraftloser führte und sogar zurückwich, rief Mommsen seine Landsleute zum Volkskrieg gegen Dänemark auf: „Wartet nicht auf Befehl von oben, sondern zeigt, daß ein freies Volk keines Befehles bedarf, wo die Pflicht so laut befiehlt. Wenn der Kampf des deutschen Volkes gegen Dänemark beginnen soll, so müssen die Bewohner Schleswig-Holsteins den Anfang machen mit dem Volkskrieg." 26 Für eine rasche Errichtung der deutschen Zentralgewalt schrieb er den Artikel „Die provisorische Centralgewalt und die .Deutsche Zeitung'" (Nr. 50 v. 10.6.1848), andere Artikel gegen den Partikularismus der schleswig-holsteinischen Stände folgten. Im Juli 1848 schied Mommsen aus der Redaktion der „Schleswig-Hölsteinischen Zeitung" aus, weil die provisorische Regierung des Landes seine nationale Kritik gegen den Ständepartikularismus nicht genügend unterstützte.27 Allerdings erschienen auch später noch einige Artikel von ihm 22 23
24 25 26
"
Ebenda, S. 165. „Soviel scheint klar, daß die reine Republik wie die dreiste Mediatisierung sämtlicher deutscher Fürsten wenig Chäncen bei uns und wohl auch überhaupt hat." (Ebenda, S. 16;). Ebenda, S. 167. Ebenda, S. 168. Mommsen, Theodor, Die Einheit Deutschlands practisch angewandt, in: „Schleswig-Holsteinische Zeitung", Nr. 40, v. 31. 5. 1848, wieder abgedruckt bei Hartmann, Ludo Moritz, a. a. O., S. 175-179 (Zitat auf S. 179). Hartmann, Ludo Moritz, a. a. O., S. 37.
Theodor Mommsen
IJ
in der „Schleswig-Holsteinischen Zeitung". Mit aufrüttelnden Worten forderte er das Land nach dem Abschluß des Waffenstillstandsvertrages von Malmö zum weiteren Widerstand gegen Dänemark auf. In den revolutionären Kämpfen von 1848 und 1849 festigte.sich Mommsens nationale liberale Weltanschauung, die er in den folgenden Jahrzehnten öffentlich und in Briefen und Gesprächen immer vertrat Im Herbst 1848 erhielt Theodor Mommsen einen Ruf als außerordentlicher Professor für Römisches Recht an die Universität Leipzig. In Leipzig verband ihn eine besonders enge Freundschaft mit Otto Jahn und Moritz Haupt. Mit diesen beiden zusammen gehörte Mommsen zu den führenden Persönlichkeiten des liberalen „Deutschen. Vereins" in Leipzig, der die sächsische Regierung aufforderte; die vom Frankfurter Nationalparlament ausgearbeitete Reichsverfassung anzunehmen.28 Als im Mai 1849 Arbeiter und demokratisch gesinnte Kleinbürger in offenem Aufstand die sächsische Reaktion für einige Tage vertrieben, traten Mommsen, Haupt und Jahn öffentlich für eine linksgerichtete Politik des „Deutschen Vereins" auf. 29 Sie organisierten zusammen mit demokratischen Vereinen am 4. Mai 1849 eine Volksversammlung und riefen zur militärischen Unterstützung des Dresdner Aufstandes auf. Danach zog sich der „Deutsche Verein" jedoch von einer weiteren fortschrittlich-aktiven Tätigkeit zurück. Mommsen, Haupt und Jahn wandten sich gegen diese Entwicklung des „Deutschen Vereins" und befürworteten seine Auflösung. Der Gang der Ereignisse und sein Nationalbewußtsein trieben Mommsen jedoch nur zeitweilig über die Gcenze der liberalen Politik hinaus. Im ganzen blieb er bei seinen liberal-konstitutionellen Auffassungen. Trotzdem machte die sächsische Reaktion vor Mommsen und seinen Freunden keinen Halt. Mommsen, Jahn und Haupt wurden zunächst suspendiert; in einem Gerichtsverfahren wurde Mommsen im Oktober 1850 in erster Instanz zu 9 Monaten Gefängnis wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt, in zweiter Instanz im Januar 1851 freigesprochen. Am 22. April 1851 verfügte die sächsische Regierung wegen seiner politischen Tätigkeit während der Revolution die Entlassung von der Universität. Die politische Kernfrage der Revolution war gewesen: „Für oder wider die demokratische Einigung Deutschlands,..." 3 0 Mommsen hatte sich gegen die demokratische Einigung Deutschlands (der Aufruf zum Volkskrieg gegen Dänemark blieb eine Ausnahme) und für die konstitutionelle Einigung Deutschlands ausgesprochen. Aber seinen Beitrag im Kampf gegen Feudalabsolutismus und Partikularismus, sein persönlicher Kampf um eine einheitliche deutsche Nation bleibt sein unauslöschbares Verdienst. Er hat nie über dem Wissenschaftler die aktuelle politische. Arbeit vergessen. 28
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Wucher, Albert, a. a. O., S. 56. Vgl. Weber, Rolf, Stadt und Universität Leipzig in der sächsischen Reichsverfassungskampagne 1849, in: Sächsische Heimatblätter, i960, H. 1, S. 40 f., S. 42 f. - R.Weber gelangte auf Grund von Archivstudien zu einer neuen" Beurteilung des Wirkens Mommsens in jenen Leipziger Revolutionstagen. Die neuere biographische Forschung über Mommsen hat bisher seine Leipziger demokratische Tätigkeit entweder ganz verschwiegen oder als harmlos hingestellt (z. B. Ludo Moritz Hartmann, Alfred Heuß). Engelberg, Ernst, Deutschland von 1849 bis 1871, Berlin 1959, S. IX.
i6
Rigobect Günther
Zu Beginn der Revolution schrieb er: „ . . . wenn ich über meine samnitischen Studien mein deutsches Vaterland auch nur einen T a g vergessen hätte, so würde ich mich unwert achten in dieser großen Zeit zu leben." 3 1 An den Dichter Theodor Storm, mit dem ihn seit den dreißiger Jahren ein freundschaftliches Band verknüpfte, schrieb er am 3. M a i 1848: „Wie können Sie sich sehnen nach der stillen Zeit? Jetzt braucht man sich keine künstlichen Interessen zu machen, keinen Bücher- und Silbendrang imaginieren, um wenigstens im Glase Wasser die Revolution zu haben; sie liegt in der L u f t und man weiß denn doch, warum man l e b t . " 8 2 Und noch der alte Mommsen schrieb 1893 an F . J o n a s , seinen Schüler: „ . . . der schlimmste aller Fehler ist, wenn man den. Rock des Bürgers auszieht, um den Gelehrtenrock nicht zu kompromittieren." 3 3 Nach seiner Vertreibung aus Leipzig erhielt Mommsen einen Ruf nach Zürich, wo er vom Frühjahr 1852 bis zum Sommer 1854 blieb. 1854 ging er an die Universität Breslau, bis er 1858 nach Berlin übersiedelte, zuerst als Leiter des geplanten großen Sammelwerkes der lateinischen Inschriften, das von der Preußischen Akademie herausgegeben w u r d e 3 4 , 1862 erhielt er dann die Professur für Römische Geschichte an der Berliner Universität. In jenen Jahren erschien seine „Römische Geschichte" in den ersten drei Bänden (18J4—1856). Darin beschrieb er die Geschichte Roms von den Anfängen bis zum Jahre 46 v. u. Z . E r wollte die Geschichte allgemein verständlich darstellen und wies außerdem der Geschichtsschreibung eine bedeutende erzieherische Aufgabe zu. Nach seiner Auffassung hätte der Historiker seinen Beruf verfehlt, wenn er lediglich kontemplativ die Erscheinungen beschreibe. Mommsen forderte dagegen vom Historiker die Parteinahme für oder gegen die Gestalten und Erscheinungen, die er in seinem Werk beschreibt: „Wer Geschichte, insbesondere Geschichte der Gegenwart, schreibt, hat die Pflicht politischer Pädagogik, er soll denen, für die er schreibt, ihre künftige Stellung zum Staat weisen und bestimmen helfen." 3 5 So entstand ein Geschichtswerk,' das in seiner politisch-weltanschaulichen Konzeption mit den liberalen Ideen der Revolution von 1848 übereinstimmte. A m Beispiel der Entstehung des altrömischen Staates und seiner Ausbreitung in ganz Italien suchte er die Leser für die kleindeutsche Lösung der deutschen Frage unter preußischer Führung zu begeistern. Das Problem der „nationalen Einheit" nimmt in der Konzeption seiner „Römischen Geschichte" großen Raum ein. 36 In der Tat übte Mommsens „Römische Geschichte" einen Einfluß auf die liberalen Gruppen in Deutschland aus. 1856 erhielt Mommsen die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald anläßlich „einer oppositionellen Universitätsfeier" 3 7 für seine 31
Bardt, Carl, a. a. O., S. 27 f. Zit. nach Wucher, Albert, a. a. O., S. jo f. 39 Jonas, Fritz, Erinnerungen an Th. Mommsen zu seinem 100jährigen Geburtstag, Berlin 1909, S. 43. (als Manuskript gedruckt). 94 Corpus Inscriptionum Latinarum, der 1. Band erschien 1863. " Zit. bei Wucher, Albert, a. a. O., S. tj. M Vgl. Mascbkin, N. A„ a. a. O., S. 51-jj. " Hartmann, Ludo Moritz, a. a. O., S. JJ. 38
Theodor Mommsen
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„Römische Geschichte" verliehen. Die reaktionäre „Kreuzzeitung" beklagte sich in Nr. 265 vom 1 1 . November 1856 deshalb über „die Promotion eines ehemaligen Demokraten von reinem Wasser, der nicht bloß in gerichtlicher Untersuchung gewesen, sondern auch bestraft ist"* 8 . Adolf Harnack konnte auf^der Begräbnisfeier für Theodor Mommsen hervorheben: „Mit einem Schlage erhielten wir Deutsche ein Geschichtswerk, wie wir es noch nicht besessen h a t t e n . . . Wie das eingewirkt hat auf unsere Geschichtsschreibung, auf unsere Kultur diese fünfzig Jahre "hindurch - wer kann das aussagen!" 3 9 Durch die historische Erfahrung der Revolution von 1848 bekannte er sich zur Rechtfertigung der Revolution in der Geschichte. Eine „unfähige und verbrecherische Regierung" müsse gestürzt werden; aus der „sittlichen Empörung der Tüchtigen und dem Notstande der Vielen" erwachse eine „legitime Revolution" 4 0 . In der menschlichen Gesellschaft gab es, auch das hatte er in den Märztagen 1848 erkannt, keinen Stillstand. „Auch die höchsten Offenbarungen der Menschheit sind vergänglich, die einmal wahre Religion kann zur Lüge, die einst segenhafte Staatsordnung zum Fluche-werden." 4 1 Wissenschaftsgeschichtlich war die „Römische Geschichte" Theodor Mommsens eine außerordentliche Leistung. E r hatte es wie kein anderer vorher verstanden, die Erkenntnisse seiner Zeit in einer leicht verständlichen Darstellung zu vereinen und die Geschichtsforschung über Niebuhr hinaus auf eine Höhe zu führen, die im 19. Jahrhundert von keinem Althistoriker mehr überschritten wurde. In Berlin schloß Mommsen sich den Liberalen an, die durch die Inaktivität der preußischen Regierung der „Neuen Ä r a " in der nationalen Frage enttäuscht waren. Als 1860 der Konflikt zwischen dem Landtag und der Regierung über die vom Kabinett gewünschte Heeresform ausbrach, unterstützte Mommsen. die Politik des liberalen Flügels in Wort und Tat. Nach der Spaltung der Liberalen in Fortschrittspartei und Altliberale im Jahre 1861 stand Mommsen auf der Seite der Deutschen Fortschrittspartei, die sich im Ergebnis der „Linksschwenkung" eines großen Teils der preußischen Bourgeoisie gebildet hatte. 1860 trat Mommsen wieder öffentlich im Deutschen Nationalverein auf, und 1861 war er Mitunterzeichner des Aufrufs des Zentralkomitees der Deutschen Fortschrittspartei. 42 Als die preußische Regierung begann, liberale Beamte zu maßregeln und strafzuversetzen 4S , befürchtete auch Mommsen seine Entlassung, die jedoch nicht eintraf. 44 Im Herbst 1863 wurde Mommsen von der Stadt Halle und dem Saalkreis als Landtagsabgeordneter gewählt. Die Verfassungskrise war auf dem Höhepunkt angelangt; wie 38
Zit. in: Theodor Mommsen-Otto Jahn. Briefwechsel
¡¡42-1/6!,
a. a. O., S. 216, Anm. 2.
a» Harnack, Adolf, Rede bei der Begräbnisfeier Theodor Mommsens am 5. November 1903, Leipzig 40 41 42 43 44
1903, S. 7 f. Mommsen, Theodor, Römische Geschichte, Bd. 3, 8. Aufl., Berlin 1889, S. 93. Ebenda, S. 430. Hartmann, Ludo Moritz, a. a. O., S. 112. Engelberg, Ernst, a.'a. O., S. 137. Brief Mommsens an Otto Jahn v. 24. 9.1863: „Zur Zeit bin ich noch nicht abgesetzt; man kann aber Kegel darum schieben, ob das zuerst erfolgt oder Bismarcks Beitritt zum Nationalverein." (Theodor Mommsen-Otto Jahn, Briefwechsel
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Geschichtswissenschaft, Bd. II
1S42-1S6S, a. a. O., S. 295.)
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Mommsen die politische Situation E n d e 1863 einschätzte, geht aus einem Brief an Wilhelm Henzen, seinem Freunde und Mitarbeiter in Rom, hervor: „ D a ß das Schicksal mich ereilt und mich ut imquae mentis asellum (Horat., sat. 1,9,20) in den Dönhoffspalast abgeführt hat, wissen Sie aus den Zeitungen. E s ist das um so schlimmer, da wir vermutlich statt einer kurzen stürmischen Session, die ich anfangs erhoffte, eine durch die Furchtsamkeit der Regierung sich lang hinauszerrende bekommen werden, welche aber sicherlich schließlich nur mit einem so ärgeren crasb endigen wird. Denn Bismarck weint zwar gelegentlich und sieht sich im Traume baumeln, und dem König ist auch gelegentlich etwas engbrüstig zumute, aber an Nachgeben ist nicht zu denken; es bedarf für diese Ohren noch anderer Posaunen, und die kommen auch, aber nicht vom Dönhoffsplatz." 4 5 Aber Mommsen schätzte die politische K r a f t der Fortschrittspartei zu hoch ein, und andererseits unterschätzte er Bismarck-. Z w a r fand Mommsen gelegentlich sehr scharfe Worte der Kritik gegen Bismarck und seine Regierung. A m 18. Januar 1864 schrieb er an seinen Freund Otto Jahn: „ O b ich es ertragen werde, wenn diese Spottgeburt von Dreck und Feuer, die uns jetzt regiert, ihr Werk vollenden sollte, mich noch preußischen Professor schelten zu lassen, weiß ich nicht; jetzt ist mir nicht so zu Mut als könnte ich es." 4 6 Nach den preußischen Siegen von 1864 und 1866 verstand es Bismarck geschickt, die Gegensätze im liberalen Lager für seine Politik auszunutzen; nach der Bildung der Nationalliberalen Partei, die das außenpolitische und nationale Programm Bismarcks unterstützte, gehörte auch Mommsen zu denen, die sich von der Fortschrittspartei in der Annahme getrennt hatten, daß Bismarck auf dem eingeschlagenen Wege fortschreiten und auch innenpolitisch sich dem liberalen Programm nähern würde. Obwohl von 1867 bis 1 8 7 } nicht Mitglied des Landtages 4 7 , unterstützte er die Politik der Nationalliberalen bis zu Beginn der achtziger Jahre. Allerdings gibt es auch aus seiner „nationalliberalen Periode" Hinweise, daß er sich in der Innenpolitik nicht Bismarck unterwarf. Jedoch blieb Mommsen immer auf dem Boden der preußischen Verfassung; dies war auch die Grenze seines Liberalismus in der Zeit des Verfassungskonfliktes gewesen. Deshalb suchte Mommsen auch nie Verbindung mit der radikalen Demokratie des Kleinbürgertums. E r fand 1 8 6 ; warnende Worte gegenüber dem preußischen Militarismus (Sitzung des Preußischen Abgeordnetenhauses vom 1 7 . März 1865), und er warnte als Jurist vor der Politik Bismarcks, der die Verfassung allmählich durch Interpretationen im konservativen Sinne ihres Inhalts beraubte ( S i t z u n g vom 9. Februar 1866). Aber es blieb bei Warnungen ; für eine konstruktive und konsequente Politik, die sich auf die linken K r ä f t e des Nationalvereins und der kleinbürgerlichen Demokratie, geschweige denn auf die sich in diesem Jahrzehnt seit 1848 wieder organisierende Arbeiterklasse stützte, konnte er sich nicht entscheiden. D i e Ursache hierfür lag in seinen bürgerlichen Ressentiments gegenüber der aufstrebenden Arbeiterklasse. In seiner „Römischen Geschichte" findet man eine Anzahl von Beispielen, in denen er das einfache Volk zum Dienen 45
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Zit. in: Theodor Mommsen-Otto Jahn. Briefwechsel 1! 42-1X6!, a.a.O., S. joo, Anm. 1. Brief v. 8.11.1863. 41 Ebenda, S. 302. Hartmarm, Ludo Moritz, a. a. O., S. 114.
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bestimmt 48 und die Führung der Intelligenz zuweist.49 Für Mommsen gab es nur die Vertretung des Volkes, die Herrschaft des Volkes war für ihn undiskutabel. 50 In der wissenschaftlichen Arbeit ist Mommsen in diesen Jahrzehnten in einer außerordentlich schöpferischen Periode seines Lebens. Neben vielen kleineren, aber deshalb nicht weniger bedeutenden Einzeluntersuchungen zum römischen Recht, zur römischen Geschichte, Epigraphik und zur lateinischen Philologie erschienen die Werke, die heute noch zum unentbehrlichen Arbeitsmittel des Altertumswissenschaftlers gehören. 1863 war der i . B a n d des Corpus Inscriptionum Latinarum mit der Sammlung der lateinischen Inschriften der republikanischen Zeit erschienen; 1872 und 1877 erschien der 5. Band mit den Inschriften von Gallia cisalpina, 187} folgte der 3. Band (Orient und Oesterreich) und 1883 konnten schon der 9. und 10. Band mit den süditalischen Inschriften der Öffentlichkeit vorgelegt werden. 51 Mommsen gab auch den ersten wissenschaftlich einwandfreien Text der römischen Digesten heraus, der 1866 bis 1870 in einer großen Ausgabe veröffentlicht wurde. Nach wie vor sind auch sein „Römisches Staatsrecht", d-s in drei Bänden von 1871 bis 1888 erschien, und sein „Römisches Strafrecht" (1899) die größten Leistungen der deutschen rechtsgeschichtlichen Forschungen auf dem Gebiet der altrömischen Geschichte. Für die Edition des Codex Theodosianus konnte er noch den Text und das Vorwort vollenden, ehe er krankheitshalber kurz vor seinem Tode die abschließenden Arbeiten anderen überlassen mußte. 1885 war auch noch ein 5. Band der „Römischen Geschichte" erschienen, der die Geschichte der römischen Provinzen in der römischen Kaiserzeit zum Inhalt hat. Dieser Band ging im wesentlichen von den Kenntnissen der Inschriften der Kaiserzeit aus, die Mommsen für das Corpus Inscriptionum Latinarum bearbeitet hatte. Der 5. Band der „Römischen Geschichte" ist auch heute trotz zahlreicher Neufunde von Inschriften, Münzen, Papyri und anderen Quellen vom Althistoriker der Gegenwart zu beachten, da Mommsen viele Erscheinungen des Provinziallebens trotz kargen Quellenmaterials richtig skizzierte und die Grundlinie zeichnete, die spätere Bearbeiter der römischen Provinzialgeschichte wieder bestätigten. Mögen die drei ersten Bände der „Römischen Geschichte" heute neben den Althistorikern besonders die Historiker des 19. Jahrhunderts interessieren, der 5. Band hat seine Bedeutung noch nicht eingebüßt. Mit der Forscherpersönlichkeit Mommsens verband sich ein hervorragendes Organisationstalent. E s gibt nur wenige bedeutende Forschungskomplexe der alten Geschichte im 19. Jahrhundert, die Mommsen nicht durch eine mustergültige Organisation der wissenschaftlichen Studien gefördert hat. Lange Jahre stand er an der Spitze des lateinischen Inschriftenwerkes der Preußischen Akademie . der Wissenschaften zu 48
Mommsen, Theodor, Römische Geschichte, Bd. 3, S. 377. « Ebenda, Bd. 1, 8. Aufl., Berlin 1889, S. 94; Belege aus den Jugendjahren Mommsens bei Wickert, Lotbar, Theodor Mommsen, Bd. 1, a. a. O., S. 107. 50
Wucher, Albert, a. 'a. O., S. 165.
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Vgl. Hartmann, Ludo Moritz, a. a. O., S. 86. - Vgl. für das Riesenwerk Mommsens die Bibliographie von Zangemeister, Karl/Jacobs, seiner Schriften, Berlin 1905.
Emil, Th. Mommsen als Schriftsteller. Ein Verzeichnis
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Berlin. Im Jahre 1874 wurde er ständiger Sekretär der philosophisch-historischen Klasse der Akademie. Mit seiner Hilfe entstand die kritische Ausgabe des Corpus iuris, er unterstützte ebenfalls die Herausgabe der Monumenta Germaniae Histórica. 88 1902 fand er im Nobelpreis für Literatur die Krönung seiner wissenschaftlichen Leistungen. Mommsen wehrte sich ausdrücklich dagegen, als Verteidiger des modernen Cäsarismus zu gelten, weil er den antiken Caesar verherrlicht hatte. E r nannte es eine „Einfalt" und „Perfidie", „geschichtliches Lob und geschichtlichen Tadel von den gegebenen Verhältnissen abgelöst als allgemeingültige Phrase zu verbrauchen, in diesem Falle das Urteil über Caesar in ein Urteil über den sogenannten Cäsarismus umzudeuten". In diesem Sinne ist die Geschichte Caesars und des römischen Cäsarismus, bei aller unübertroffenen Großheit des Werkmeisters, bei allpr geschichtlichen Notwendigkeit des Werkes wahrscheinlich eine schärfere Kritik der modernen Autokratie, als eines Menschen Hand sie zu schreiben vermag." 5 3 In diesem Sinne muß man auch noch einmal die Literatur überprüfen, die oft die Frage gestellt hat, weshalb Mommsen den 4. Band der „Römischen Geschichte", die Geschichte der römischen Kaiserzeit ungeschrieben ließ. 54 Man muß Albert Wucher in seinem Buche „Theodor Mommsen. Geschichtsschreibung und Politik" insofern recht geben, d a ß Mommsen in der Tat kein Lobredner des Cäsarismus war. 6 5 Was Mommsen in den fünfziger Jahren zunächst suchte, war eine Führerpersönlichkeit mit liberalen Grundsätzen, um die Einheit Deutschlands zu verwirklichen. Aber er trat später stets gegen die Autokratie auf, wie sie sich im Gefolge der Bismarckschen Reichsverfassung herauskristallisierte.ySo hat die liberale Partei in Deutschland in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kaum einen schärferen Gegner des Cäsarismus und des Bonapartismus besessen. Wohlbemerkt: die liberale Parteil Die Schwankungen Mommsens in dieser Hinsicht, die auftraten, gehören mit zum Liberalismus. Allerdings kann man Albert Wucher darin nicht folgen, wenn er Mommsen zu einem leidenschaftlichen Republikaner erhebt, und letztlich darin die Ursache sieht, weshalb der 4. Band ungeschrieben blieb. 56 Wenn man Mommsens Kaisergeburtstagsreden der siebziger und achtziger Jahre liest, die Reden, die er in der Akademie anläßlich des Geburtstages Friedrich II. von Preußen gehalten hat, oder die von ihm verfaßte* Ehrentafel der deutschen Städte zu Moltkes 90. Geburtstag (1890) 57 , so bleibt vom Republikaner Mommsen nichts mehr übrig. Aber Mommsen hat aus- seiner prinzipiellen Gegnerschaft zum Bonapartismus französischer und Bismarckscher Prägung - besonders seit 1882 - kein Hehl gemacht, obgleich er für die konstitutionelle Monarchie eintrat. Es fällt daher schwer, einen 53
Vgl. Heuß, Alfred, a. a. O., S. 106 (. Mommsen, Theodor, Römische Geschichte, Bd. 3, 2. Aufl., Berlin 1857, S. 457-459- Einschub in die 2. Auflage des 3. Bandes. M Eine Zusammenfassung der Hypothesen bringt Wucher, Albert, a. a. O., S. 126 f. 55 Vgl. seine Beweisführung: ebenda, S. 110-126. 5 « Ebenda, S. 135 f. 53
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Mommsen, Theodor, Reden und Aufsätze, 2. Aufl.. Berlin 1905, S. 50 f., 57 f., 68 f., 89 f., 104 f., I2i f., 132 f., 144 f., 157 f., 168 f., 185 f., 478 f.
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politischen Grund zu sehen, daß Mommsen - weil überzeugter Republikaner - letzten Endes eine Geschichte der Kaiserzeit nicht geschrieben hat. Eher kann man N. A. Maschkin Recht geben, der vermutet, daß der 4. Band nicht erschien, weil Mommsen über die „Regierung des geeinten Deutschen Reiches, für die er sich früher so leidenschaftlich eingesetzt hatte, enttäuscht war" Dies mag mit zutreffen; andererseits geht aber auch aus dem erstmalig bei Albert Wucher veröffentlichten Brief Mommsens an Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff 5 9 vom 4. Februar 1883 hervor, daß Mommsen von der Römischen Kaiserzeit „enttäuscht" war und daß er sich außerstande fühlte, deren Geschichte zu schreiben: „ . . . e s gibt einen Sandhaufen, aber keine Geschichte, einen Sumpf, keinen Fluß. Die grauenvolle Verlogenheit unserer Überlieferung für das 3. Jahrhundert, die öde Leere des zweiten haben mich geradezu seekrank gemacht, und mir die Empfindungen gelassen, daß dies Unternehmen umsonst mit dem Unmöglichen ringt und zu der beliebten Rede, ich allein könne so etwas machen, der kleine Zusatz gehört, daß ich es auch nicht k a n n . . . " Nach seiner eigenen Auffassung von der Pflicht des Historikers zur „politischen Pädagogik" hätte ihm die Geschichte der Kaiserzeit ein politisches Bekenntnis abgefordert, und da er dem Bismarckstaat keine Sympathie (besonders nach 1882) mehr entgegenbringen konnte, verzichtete er auf ein Bekenntnis, das er nicht mehr mit seiner politischen Überzeugung in Einklang bringen konnte. Selbst die schon erwähnten Kaisergeburtstagsreden sind zurückhaltend im Vergleich mit den Panegyrici eines Treitschke. In Maschkins „Römischer Geschichte" steht der Satz: „In außenpolitischen Fragen vertrat Mommsen reaktionäre, chauvinistische Ansichten" 80 . Zur Begründung werden die Artikel genannt, die Mommsen 1870/71 im Deutsch-Französischen Krieg veröffentlichte, um die italienische öffentliche Meinung im preußisch-deutschen Sinne zu beeinflussen und ein antitschechischer Artikel aus dem Jahre 1897. In der „Römischen Geschichte" finden sich verschiedene geringschätzige Bemerkungen über die antiken Kelten und Italiker. Auch die Rektoratsrede Mommsens 1874 - von Maschkin nicht erwähnt - kann als weiterer Beleg,hinzugezogen werden: „Lange bevor die deutschen Waffen auf dem Schlachtfeld den Sieg gewannen, hat die deutsche Forschung auf ihrem Gebiet die gleiche Anerkennung sich erobert und die Nachbarn gezwungen, unsere strenge, aber unentbehrlich gewordene Sprache widerwillig zu lernen." 6 1 Dieser Nationalismus wirft unbestritten einen Schatten auf Mommsens Wirken. 1895 bekennt er, als er zu dem offenen Brief von 1870 „Agli Italiani" Stellung nimmt: „Leichten Herzens ist das nicht geschehen." 6 2 Aber damit kann er natürlich nichts ungeschehen machen. Dennoch bleibt der Nationalismus Mommsens in gewissen Grenzen. E r bezeichnet den Krieg von 1870 als eine Katastrophe, er wünscht eine große französische Nation, die erhalten bleiben solle und mit welcher Deutschland 58 59 ,0 M
Maschkin, N. A., a. a. O., S. 54. Wucher, Albert, a. a. O., S. 131 f. Maschkin, N. A., a. a. O., S. 52, vgl. auch S. 53. Mommsen,Theodor, Rede bei Antritt des Rektorats (1874), in: Reden und Aufsätze, a . a . O . ,
S.7. « Derselbe, In eigener Sache (1895), in: Reden und Aufsätze, a. a. O., S. 429.
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in Freundschaft leben müsse. E s ist der Nationalismus der vorimperialistischen Bourgeoisie, dem er verhaftet ist. Gegen Weltreichpläne wendet er sich in der Kaisergeburtstagsrede 1885: „Wir wissen es, daß unsere ganze Nation durchdrungen ist von der Empfindung des ungeheuren Unglücks, welches über die Welt kommen würde, wenn also durch Ströme von Blut dieselbe zur einheitlichen Öde gemacht würde." 98 Mommsen wandte sich auch gegen die Alldeutschen, gegen Kolonialprojekte, gegen den deutschen Imperialismus und den „Pangermanismus" 6 4 . E r plädierte 1900 für die Abschaffung des Sedantages 6 9 und kurz vor seinem Tode mahnte er zum freundschaftlichen Zusammenleben der europäischen Völker. 6 6 Gegen v. Treitschke, G e schichtsprofessor an der Berliner Universität, gegen Hofprediger Stoecker und gegen den von beiden inszenierten Antisemitismus der achtziger Jahre wandte er sich in verschiedenen Briefen und in einer Schrift: „Auch ein Wort über unser Judentum" (1880). Den Feldzug der Antisemiten nannte er „die Mißgeburt des nationalen Gefühls" 8 7 , und den Professor Treitschke wies er mit den Worten in die Schranken: „ . . . wenn ein Teil meiner Mitbürger von einem Berliner Universitätslehrer, der zugleich noch manches andere tut als docieren, gemißhandelt wird, dann stecke ich den Professor in die Tasche, und ich rate Herrn v. Treitschke das gleiche zu tun." 6 8 A l s Treitschke in die Preußische Akademie der Wissenschaften gewählt wurde, was Mommsen zu verhindern versuchte, beabsichtigte er sogar, seinen Sitz in der Akademie aufzugeben. 69 Mommsens Nationalismus entsprach dem übersteigerten bürgerlich-liberalen Nationalbewußtsein, das im Taumel der Zeit von 1864 bis 1 8 7 1 viele deutsche Intellektuelle ergriffen hatte, die in der Schaffung eines einheitlichen Deutschen Reiches, wenn auch begründet durch eine Revolution von oben, das höchste Ziel sahen. Diese liberale Schattierung des Nationalismus hatte sich auch im Kampf gegen die aufstrebende und sich organisierende Arbeiterklasse und im Kampf gegen die demokratische Einigung Deutschlands gebildet. Andererseits kann jedoch der Nationalismus der liberalen und freisinnigen Intellektuellen in jener Zeit nicht mit dem Nationalismus und Chauvinismus des deutschen Imperialismus gleichgesetzt werden. Seit dem Anfang der achtziger Jahre verschärfte sich wieder der Gegensatz zwischen Mommsen und dem Bismarckregime. Mommsen trennte sich von den Nationalliberalen, der Partei der deutschen Großbourgeoisie, und schloß sich der liberalen Gruppe um Ludwig Bamberger an, die an die Politik der Fortschrittspartei der sechziger Jahre anknüpfte und die liberalen Gegner der konservativen Regierung 63
Derselbe, Rede zum Geburtstag des Kaisets (188$), in: Reden und Aufsätze, a. a. O., S. 142, ähnlich S. 194, wo er davor warnt, daß „die gewaltigen Massen, die zur Zeit (1891) in bewaffnetem Frieden sich einander gegenüberstehen, in naher oder ferner Zeit gegeneinander losbrechen..." (Rede zur Feier der Geburtstage König Friedrich II. und Kaiser Wilhelm II. 1891). 01 Belege bei Wucher, Albert, a. a. O., S. 19J-199. 6J Mommsen, Theodor, Ninive und Sedan, in: Die Nation, 17, 1900, S. 6j8 f. 68 Derselbe, Ein Deutscher an die Engländer, in: Die Nation, ai, 1903/1904, S. ai. 67 Derselbe, Auch ein Wort über unser Judentum (1880), in: Reden und Aufsätze, a. a. O., S. 411. »s Ebenda, S. 426. 09 Wucher, Albert, a. a. O., S. 195, Anm. JI.
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sammelte. 1881 bis 1884 war er Reichstagsabgeordneter dieser Fraktion, die wirtschaftspolitisch besonders die Schumollpolitik Bismarcks bekämpfte. Später gehörte er nicht mehr dem Reichstage an, jedoch unterstfitzte er in Aufsätzen und Reden die Deutsch-Freisinnige Partei, die 1884 gebildet worden war und welcher vor allem liberale Vertreter des Bank- und Handelskapitals und liberale Intellektuelle angehörten. E r blieb bis zum E n d e seines Lebens ein erbitterter Gegner Bismarcks, der nach seiner Meinung der Nation das „Rückgrat gebrochen" hatte. 79 E r haßte Bismarcks „wahnwitzigen und verbrecherischen Eigenwillen" 7 1 und bekämpfte ihn, wo es ihm angebracht schien. Bismarck wiederum warf Mommsen am 24. Januar 1882 im Reichstag vor, daß ihn die Vertiefung in die Zeiten, die 2000 Jahre hinter ihm liegen, den Blick für die Gegenwart getrübt habe. 7 2 Im Februar klagte Bismarck gegen Mommsen wegen „Ehrenbeleidigung"; am 15. Juni 1882 wurde Mommsen vom Berliner Landgericht freigesprochen, obwohl der Staatsanwalt eine hohe Geldstrafe (600 Mark) beantragt, hatte. So sehr der persönliche Mut Mommsens und anderer Vertreter der Fortschrittspartei im Kampf gegen den Kanzlerabsolutismus Bismarcks zu achten ist, so vermochte die in den liberalen Gruppierungen organisierte Bank- und Handelsbourgeoisie, der sich ein Teil des Kleinbürgertums angeschlossen hatte, keinen wirksamen und erfolgreichen Kampf zu führen, da sie in ihrer bürgerlichen Fehleinschätzung der politischen K r ä f t e die Arbeiterklasse und ihre Partei als Bündnispartner in diesen Auseinandersetzungen zurückwies, ja selbst grimmig bekämpfte. Mommsen und seine Partei stimmten 1884 für die Verlängerung des Sozialistengesetzes. Mit allen anderen Parteien könne man sich vertragen und unter Umständen paktieren, mit dieser (der Sozialdemokratie, R. G . ) nicht, schrieb er im gleichen Jahre. 7 3 Allerdings hatte Mommsen zur Politik Bismarcks gegen die deutsche Sozialdemokratie einige Vorbehalte; er wollte, daß im Reichstag eine sachliche Diskussion mit den Sozialdemokraten geführt werde, und befürwortete einen Übergangszustand, der letztlich zur Aufhebung des Gesetzes führen sollte. 74 A m E n d e seines Lebens revidierte jedoch Mommsen einige Ansichten über die Sozialdemokratie. D e r Sieg der „Sammlungspolitik" Bülows, die Ablehnung des neuen Zolltarifs im Reichstag durch Sozialdemokraten und Freisinnige 1902 und andere politische Erfahrungen führten ihn zu der Erkenntnis, daß das linksliberale Bürgertum und die oppositionellen Intellektuellen der Deutsch-Freisinnigen Partei sich mit den Sozialdemokraten im Kampf gegen den „Absolutismus eines Interessenbundes des Junkertums und der Kaplanokratie" verbünden sollten, wie er die „Sammlungsbewegung" des Reichskanzlers Bülow nannte. Diese Einstellung geht aus dem Aufsatz „Was uns noch retten kann" hervor, der in der Wochenschrift „ D i e Nation" am i j . Dezember 1902 veröffentlicht wurde. 7 5 70 71 7ä 71 74 71
Wucher, Albert, a. a. O., S. 157. Aus einem Brief v. 4.5.18961, im Auszug bei Wucher, Albert, a. a. O., S. 18z. Hartmann, Ludo Moritz, a. a. O., S. 123. Ebenda, S. 124. Ebenda, S. 124 f. Abdruck des Aufsatzes: ebenda, S. ijj-2)8.
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In diesem Aufsatz befürwortet Mommsen ein Wahlbündnis der Freisinnigen mit den Sozialdemokraten. „Es darf nicht mehr geschehen, daß der Freisinnige dem unverschämten oder verschämten Reaktionär seine Stimme lieber gibt als dem Sozialdemokraten." Zwar verhehlt er nicht seine prinzipielle Gegnerschaft zu den Zielen der Sozialdemokratie; der Kampf und die Opferbereitschaft der sozialdemokratischen Arbeiter ringen ihm jedoch Hochachtung ab. „Ich bin nie einer gewesen (ein Sozialdemokrat R. G.) und gedenke auch nicht es zu werden; aber es ist leider wahr, zur Zeit ist dies die einzige große Partei, die Anspruch hat auf politische Achtung. Von dem Talent ist es nicht nötig zu reden; jedermann in Deutschland weiß, daß mit einem Kopf wie Bebel ein Dutzend ostelbischer Junker so ausgestattet werden könnten, daß sie unter ihresgleichen glänzen würden. Die Hingebung, die Opferbereitschaft der sozialdemokratischen Massen imponiert auch dem, der ihre Zwecke nichts weniger als teilt. An der Disziplin der Partei, deren ungeheuere Schwierigkeiten uns ihre Parteitage drastisch vor Augen führen, könnten namentlich unsere Liberalen sich ein Muster nehmen." Mommsen hatte aus Altersgründen nach 1887 seine Vorlesungen und Seminare an der Berliner Universität eingestellt. 189; gab er das standige Sekretariat der Preußischen Akademie der Wissenschaften ab. In Mommsens letzte Lebensjahre war ein Zug der Verbitterung und Enttäuschung eingekehrt, weil er sah, daß das Bürgertum in Deutschland seiner Aufgabe, eine wirklich liberale Staatsverfassung herbeizuführen, nicht mehr gerecht wurde. Die Kräfte des Neuen, die sich in der Arbeiterklasse bildeten und die allein imstande waren, das nationale Banner, das von der Bourgeoisie fallengelassen worden war, wieder zu erheben, diese Kräfte erkannte Mommsen noch nicht. Diese Enttäuschung und Bitternis, daß seinem Kampf kein Erfolg mehr beschieden war, zeigt sich in verschiedenen Briefen und besonders in seiner Testamentsklausel vom 2. September 1899. 76 Am 1. November 190} starb Mommsen nach einem Schlaganfall. Seine Konzeption der Altertumswissenschaft, besonders von der römischen Geschichte, hat auch in den folgenden Jahren nachgewirkt. Seine bedeutendsten Schüler Otto Hirschfeld (184} bis 1922)) und Otto Seeck ( 1 8 5 0 - 1 9 2 1 ) haben Mommsens Forschungen zur Geschichte des römischen Kaiserreichs und der Spätantike fortgesetzt und auf diesem Gebiete bedeutende Arbeiten veröffentlicht. 77 7
* Abdruck der Testamentsklausel bei Wucher, Albert, a. a. O., S. 218 f.
"
Htrscbfeld, Otto, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten bis auf Diodetian. Berlin 1877. 1. Aufl. 1905; Seeck, Otto, Geschichte des Untergangs der antiken Welt, 6 Bände, Stuttgart 1895-1920.
Zur Europa-Ideologie im 19. Jahrhundert (de Lagarde, Frantz) Helmut Meier
Die Abendland- oder Europa-Ideologie in Westdeutschland und den anderen imperialistischen Ländern ist keine Erfindung unserer Zeit. Diese Ideologie besitzt bereits eine „Vergangenheit". Die Europaliteratur der Gegenwart beschwört daher eifrig die Geister dieser Vergangenheit, um heute ehr- und glaubwürdiger zu erscheinen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem 19. Jahrhundert zuteil, das ja in dieser Literatur als das Zeitalter des Nationalismus und damit des Zerfalls der abendländischen Einheit bezeichnet wird. „Die innere Auflösung der abendländischen Gemeinschaft trat in ihr letztes Stadium, so daß schließlich nichts mehr übrig war als eine Trümmerstätte mit Nationalitäten." 1 Die bürgerliche Geschichtsschreibung im allgemeinen und die westdeutsche im besonderen bemüht sich nun zu zeigen, daß es im 19. Jahrhundert eine Reihe „mehr oder weniger vergessene(r) und totgeschwiegene(r) große(r) Europäer" 2 gab, die die - nach ihrer Ansicht „verhängnisvolle" - Entwicklung des 20. Jahrhunderts, die zu dem Sieg des Sozialismus auf einem Drittel des Erdballs führte, vorausgesehen haben sollen. Nicht etwa den historischen Gesetzmäßigkeiten und dem Kampf der fort^ schrittlichen Kräfte -wird nachgegangen, sondern die als „Nationalismus" verunglimpfte Entstehung nationaler Staaten wird für die dem Kapitalismus so verhängnisvolle Entwicklung verantwortlich gemacht.3 Das Schicksal „Europas" wird also gleichgesetzt mit dem Schicksal des Kapitalismus, und das Ende des Kapitalismus als allein herrschender Gesellschaftsordnung erscheint dann als das Ende Europas. So gelangt heute eine Reihe von Vertretern des 19. Jahrhunderts zu neuen Ehren, die sich gegen das nationalstaatliche Prinzip ausgesprochen haben, 2. B. Novalis, Gentz, Metternich, Frantz, Lagarde, Planck, Schwarzenberg und Bruck, ja schließlich sogar Bismarck. Zudem soll die heutige Abendlandideologie durch solch glänzende Namen wie Kant, Herder, Goethe, Schiller, Freiherr vom Stein, Hölderlin und Heine nachträglich eine „höhere Weihe" erhalten, weil diese sich im Geiste des Humanismus als Weltbürger fühlten. Unsere Frage lautet nun: Welche Rolle spielte die Europa-Idee im 19. Jahrhundert? 1
Schnabel, Franz, Deutsche Geschichte ini 19. Jahrhundert, Bd. 1, 4. Aufl., Freiburg 1948, S. 151. Vgl. auch Foerster, Rolf, Helmut, (Hg.), Die Idee Europa 1300-1946, München 1963, S. 20; Rougemont, Denis de, Europa. Vom Mythos zur Wirklichkeit, München 1962, S. 221 ff. ' Wenger, Paul Wilhelm, Wer gewinnt Deutschland? Stuttgart 1959, S. 281. 3 Vgl. Drenker, Alexander, Überwindung der Verzweiflung, Köln 1946, S. 47. (Zeit- und Streitfragen, H. 2.)
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Das 19. Jahrhundert behauptet in der Menschheitsgeschichte einen bedeutsamen Platz. E s hat die Welt von Grund auf verändert. Mit der bürgerlichen Revolution von 1789 in Frankreich begann der Generalangriff auf die feudale Gesellschaftsordnung auf dem Kontinent. A m E n d e des 19. Jahrhunderts hatte die kapitalistische Produktionsweise in allen Ländern Europas gesiegt, ja sie hatte bereits ihren Höhepunkt erreicht. Z w a r vollzog sich dieser Prozeß nicht überall mit der gleichen Konsequenz, aber die Widerstände in einzelnen Ländern führten lediglich dazu, daß einige Reste der Feudalgesellschaft in die neue Epoche hinübergerettet werden konnten. In nahezu allen Ländern entstanden nationale Staatswesen, in denen die Bourgeoisie die ökonomische und auch meist die politische Macht an sich riß. Das 19. Jahrhundert erlebte aber zugleich die Entstehung der revolutionären Arbeiterbewegung, die Marx und Engels mit ihrer wissenschaftlichen Lehre vom Sozialismus ausrüsteten. D i e ersten Klassenschlachten waren die Flammenzeichen für die Tatsache, daß der Kampf um die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung noch nicht ausgekämpft war. Die Pariser Kommune ließ die Menschheit schließlich einen Blick in die Zukunft der Gesellschaft tun. Auf diesem Hintergrund haben wir die Europa-Ideologie des 19. Jahrhunderts zu sehen.
I D i e bürgerliche Europa-Idee drückt den internationalen Charakter der Auseinandersetzung mit der feudalen Reaktion aus. Die bürgerliche Revolution stellte ja einen Prozeß dar, der nicht auf ein Land beschränkt blieb. Die Bourgeoisie des einen Landes fühlte sich mit der des anderen in ihrem K a m p f e gegen die Feudalordnung verbunden. Man erträumte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Gestaltungsprinzipien für alle Völker der Welt. Man denke nur an die Sympathiebezeugungen von Klopstock, Schiller, Kant und Fichte für die Französische Revolution. Der deutsche Jakobiner Georg Forster zog die Zugehörigkeit zur französischen Republik der zum feudalen Reich vor. Weiter braucht nur an Guiseppe Mazzinis „Junges Europa" erinnert zu werden, wie auch an die „Griechenbegeisterung" jener Jahrzehnte. Aber diese Internationalität hatte in ihrem bürgerlichen Klassencharakter eine Grenze. 4 Zur Macht gelangt, vergaß die Bourgeoisie ihre Gemeinsamkeit mit dem Bürgertum anderer Länder, und sie verstand sich durchaus dazu, sich mit den feudalen Gewalten zu 'arrangieren. Die Entwicklung von der Französischen Revolution zu den napoleonischen Kriegen ist dafür ein sprechendes Beispiel: die französische Bourgeoisie benutzte bald die „Befreiungsmission" der Revolution dazu, sich andere Länder Untertan zu machen, sie als Konkurrenten auszuschalten und für ihre ureigensten Interessen
* Vgl. Heuer, Heinz, Der moderne bürgerliche Kosmopolitismus - Ideologie der Kriegsvorbereitung, Berlin 1960, S. 18. - Scheel, Heinrieb, Zur Problematik des deutschen Befreiungskrieges 181}, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG), Jg. n, 1963, H. 7, S. iz8j.
Zur Europa-Ideologie im 19. Jahrhundert
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auszubeuten. Dabei scheute sie sich nicht, Bündnisse mit feudalen Mächten i u schließen und gegen die Volksbewegung mit Waffengewalt vorzugehen.® Das hinderte Napoleon nicht daran, seinen im Dienste der französischen Großbourgeoisie geführten Kriegen nachträglich einen höheren Sinn zuzuweisen. In seinen „Denkwürdigkeiten von Sanct-Helena" schreibt Las Cases, daß der Kaiser seine Kriege nur geführt habe, um danach den Völkern Europas ein geordnetes, friedliches und glückliches Leben zu bescheren." Damit wandelte sich die bürgerliche Europa-Idee in eine Konzeption der Hegemonie eines Staates über Europa. Dieses Charakteristikum ist jedoch nicht auf Napoleons Konstruktionen beschränkt. Die Europa-Pläne tragen allesamt den Stempel des nationalistischen Hegemoniestrebens oder, wie Gollwitzer schreibt: „Jede große Nation des Erdteils hat ihren eigenen Europäismus entwickelt. Die Großstaaten gelangten im Bereich der höhen Politik - und das heißt bis tief in das 19. Jahrhundert fast ausschließlich europäische Politik - zu bestimmten, von ihrem Interesse diktierten europäischen Konzeptionen. . . . Es gibt darum kein Europabild, dessen nationale Färbung nicht zu erkennen wäre." 7 In Deutschland sah es allerdings etwas anders aus. Das deutsche Bürgertum, gehemmt durch die Zersplitterung, war zu schwach zum revolutionären Sturz der feudalen Verhältnisse. So flüchteten sich seine führenden Ideologen in das weite Reich der spekulativen, kosmopolitischen Freiheit, eine Erscheinung, die Heinrich Heine in jenen bekannten Versen des „Wintermärchens" persifliert hat: „Franzosen und Russen gehört das Land, das Meer gehört den Briten. Wir aber besitzen im Luftreich des Traums die Herrschaft unbestritten. Hier üben wir die Hegemonie, hier sind wir unzerstückelt; die anderen Völker haben sich auf platter Erde entwickelt." 8 Auf seine Art stellt jedoch der Kosmopolitismus der Kant, Herder, Goethe, Schiller und Humboldt immerhin einen Protest gegen die feudale Unterdrückung und Zersplitterung dar, die der bürgerlichen Entwicklung in Deutschland allenthalben Schranken .setzte. Der humanistische Grundgehalt ihrer Entwürfe behält seinen bleibenden Wert. Vgl. Scheel, Heinrich, a. a. O., S. 1284. ' Vgl. Las Cases, Denkwürdigkeiten von Sanct-Helena, Stuttgart 1813; Rougemoni, Denis de, a. a. O., S. 189 f. 7 Collwitzer, Heinz, Europabild und Europagedanke, München 1951, S. 409. 8 Heines Werke in fünf Bänden. Bibliothek deutscher Klassiker, hg. v. d. Nationalen Forschungsuad Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Bd. 1, Weimar 1961, S. 110. 5
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II Ihre eindeutig reaktionäre Ausprägung erfuhr die Europa-Ideologie im 19. Jahrhundert jedoch durch die feudale Reaktion. D i e klerikal-restaurative Abendland-Idee stellte eine direkte Reaktion auf die bürgerliche Revolution in Frankreich und damit auch auf die Zielsetzung der bürgerlichen Ideologie dar. Unter ihrem Banner sammelte sich die internationale feudale Reaktion gegen den gesellschaftlichen Fortschritt. Diese Konzeption fand ihre Entsprechung im System Metternichs und der Heiligen Allianz. Ihre ideologischen Hauptverfechter hießen Friedrich von Gentz (der „Sekretär Europas"), die romantischen Staatslehrer Franz von Baader und A d a m Müller, die Gebrüder Schlegel und Novalis. 9 Es ist in diesem Zusammenhang sehr interessant, daß die heutige imperialistische Europa-Literatur sich mit Vorliebe mit den Gedanken dieser Ideologen beschäftigt. So erfreuen sich Metternich und Gentz einer außerordentlichen Beliebtheit. Das beginnt bereits mit Srbiks großer Metternich-Biographie
10 ,
in der er Metternich zum
klassischen Politiker der Mitte und der europäischen Solidarität stempelte, der „Europa dreißig Jahre lang verhältnismäßig zwischenstaatlichen Frieden" verschaffte. 1 1 Auch hier offenbart sich, daß die imperialistische Bourgeoisie von heute mehr und mehr auf Ideologien zurückgreift, die bereits zu ihrer Zeit reaktionär waren und die Aufgabe hatten, eine zum Untergang verurteilte Gesellschaftsordnung ideologisch abzuschirmen. D i e Ähnlichkeit der Situation - cum grano salis - scheint die beste Empfehlung zu sein. Ein Abglanz des Glorienscheins, der um Metternich gewoben wird, fällt auf seinen Adlatus Friedrich von Gentz. 1 2 Gentz lieh seine Feder voll und ganz den Plänen Metternichs, die er in seinen größeren Werken
13
ausführlich darlegte und für deren
Verwirklichung er wirkungsvoll Propaganda machte. Seine Konzeption charakterisiert Gollwitzer als die eines „fast peinlichen Europabildes einer autokratisch regierten Familie, das die paterna potestas 'in den Händen der absolutistischen Staaten und die revolutionären Völker als mißratene Kinder zeigt". 14 Die Europa-Konzeption feudal-reaktionärer Observanz zeichnete ein Idealbild des • Vgl. Stern, Leo, D i e klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie, in diesem Band, S. 400 ff. 10
Vgl. Srbik, Heinrieb Ritter v., Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, 2 Bde., München 1925.
11
Ebenda, Bd. 2, S. 559. - Vgl. auch Muralt, Leonhard v., Grenzen der Macht, in: D e r Historiker und die Geschichte, Festgabe für L. v. Muralt, Zürich i960, S. 33}. Vgl. Mann, Golo,
Friedrich von Gentz 1764-1832. Geschichte eines europäischen Staatsmannes,
Zürich-Wien 1947. 13
Vgl. Gentz, Friedrich v., Von dem politischen Zustande von Europa vor und nach der französischen Revolution, Berlin 1801. Derselbe,
Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen
Gleichgewichts in Europa, St. Petersburg 1806. 14
Gollwitzer, Heinz,
a. a. O., S. 161. -
Wenger, Paul Wilhelm,
a. a. O., (S. 287/288), nennt Gentz
den „geistigen Vater" des Deutschen Bundes, der „Deutschland als mitteleuropäische, ringsum mit seinen Nachbarn verflochtene )natio germanica(, als organisch und elastisch gegliederte Völkerschaft, nicht als zentralisierten Machtstaat" sehen wollte.
Zur Europa-Ideologie im 19. Jahrhundert
29
„christlichen" Mittelalters, als der Blütezeit feudaler Herrschaft, die zudem durch die Weihe der Katholizität verklärt wird. Nicht ohne Grund sind die Hauptvertreter dieser Konzeption Katholiken und Konvertiten, und auch bei den protestantischen Vertretern sind krypto-katholische Anschauungen ganz offensichtlich. Für viele soll hier Friedrich von Haidenberg, Novalis, genannt sein. Wenger nennt ihn den „geistigen Vater aller bewußten deutschen Europäer des 19. Jahrhunderts" 15 . Novalis' rückwärts gewandte, mystische Europa-Idee begeisterte sich an der einheitlichen mittelalterlichen Welt, als es einen Gott, einen Papst und einen Kaiser gab. In hymnischer Sprache führte er aus: „Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reiches." 1 5 a Das .Bild, das Novalis zeichnete, entsprach ganz und gar nicht den historischen Tatsachen, es war ein Wunschbild, das ein politisches Programm begründen sollte. D a sich die imperialistischen Herren des heutigen Westdeutschlands besonders des politischen Klerikalismus bedienen, um Masseneinfluß zu gewinnen, genießt die klerikal-restaurative Abendland-Idee der Romantiker geradezu kanonisches Ansehen. Die Gläubigkeit ehrlicher Christen wird mißbraucht, indem man ihnen zu suggerieren versucht, christliche Religion und Abendland-Ideologie gehörten zusammen.
III In der Revolution von 1848/49 flammten noch einmal Formen der internationalen Verbundenheit der bürgerlichen Bewegung auf. 18 Aber schließlich erlitt sie das Schicksal anderer Ideale, die den Klasseninteressen geopfert wurden. Seit sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in den Hauptländern Europas so weit durchgesetzt hatten, daß sich die mit ihnen verbundenen Klassengegensätze voll auszuwirken begannen, wurde die Europa-Ideologie auch der Bourgeoisie zu einer reaktionären Doktrin im Interesse des Besitzbürgertums. Sie berührte sich dabei teilweise ganz eng mit den Gedankengängen der feudalen Reaktion. Die Europa-Ideologie der Großbourgeoisie hat wohl in Friedrich List ihren bedeutendsten Vertreter gefunden. In seinem Bannkreis standen Gagern, Rüge und auch Fröbel. Friedrich List, der ein gern zitierter Kronzeuge für die gegenwärtigen ökonomischen Europa-Pläne des westdeutschen Monopolkapitals ist 1 7 , war zugleich einer der 15 16
17
15a Ebenda, S. 289. Novalis, Christenheit oder Europa. Ein Fragmont, Hamburg 1946, S. 4. Vgl. Arnold Ruges Antrag in der 45. Sitzung des Frankfurter Parlaments vom 22.6.1848, in: Stenographischer Beriebt über die Verbandlungen der deutseben konstituierenden National-, Versammlung zu Frankfurt a. Main, hg. Franz Wigard, Bd. 2, Frankfurt a. M., Sp. 1097 ff. Schmidt, Hans-Ludwig, Arnold Rüge und der Völkerbundsgedanke 1848. Ein Beitrag zur Geschichte der Idee des Friedens und eines vereinigten Europa, phil. Diss., Münster 1952, S. 156. Erat, Berndt, Friedrich List und seine Bedeutung für die europäische Integration, Rechtsund Staatswiss. Diss., Tübingen 1954, S. 5, will „Parallelen zu unserer Gegenwart" in Lists Zeit sehen und in seinen Gedankengängen „gegenwartsnahe" Aussagen.
Helmut Meier
3°
geistigen Ahnherren der Mitteleuropa-Konzeption. Das steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, daß die marxistische Wissenschaft in Friedrich List einen deutschen Patrioten verehrt. 1 8 E r kämpfte für die Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts in seinem deutschen Vaterlande, der damals gleichbedeutend mit dem Sieg der kapitalistischen Produktionsverhältnisse war. E r strebte die Schaffung eines einheitlichen deutschen Staates an, der in der Lage sein sollte, der Wirtschaftsmacht Englands und Frankreichs ebenso zu begegnen wie der der U S A . Noch heute ist sein Hauptwerk „ D a s nationale System der politischen Ökonomie" ( 1 8 4 1 ) ein Denkmal seiner vorwärtsweisenden Gedanken. Darüber hinaus verfolgte er aber auch weiter ausgreifende Pläne. List hatte bekanntlich längere Zeit in den U S A verbracht, und er kannte auch die Wirtschaft Englands und Frankreichs. In dem Wunsche, seinem Vaterlande einen ähnlichen Aufschwung zu eröffnen, wollte er ein einheitliches Wirtschaftsgebiet in Mitteleuropa unter deutschem Einfluß schaffen. Seine besondere Aufmerksamkeit richtete er auf die Einbeziehung des Donaugebietes in den deutschen Machtbereich. Dorthin wollte er auch den in jenen Jahre'n beträchtlichen Auswandererstrom lenken, um die produktive K r a f t dieser Menschen für Deutschland zu erhalten und zugleich eine Erweiterung des deutschen Siedlungsgebietes zu erreichen. 19 Diese Gedanken machen die Tatsache deutlich, daß Friedrich List trotz aller progressiven Zielsetzungen als Vertreter der Bourgeoisie zugleich Gedanken entwickelte, die expansiven Charakter trugen.
IV Während bei List der Kampf gegen die feudale Zersplitterung. Deutschlands, die Hebung seines ökonomischen und politischen Gewichts im Vordergrund stand, also durchaus notwendige Forderungen, steht die Sache bei Paul de Lagarde und Constantin Frantz anders, die in ideologischen Teilfragen an ihn anknüpften. Sie repräsentieren den anderen Zweig der reaktionären Europa-Ideologie, der im wesentlichen die Interessen der feudalen K r ä f t e auch in der gewandelten Situation zu sichern trachtete. Frantz, Lagarde, Planck, Fallmerayer, Bruck und Schwarzenberg entwickelten ihre Konstruktionen Mitteleuropas nach dem Erlebnis der Revolution von 1848. Bei ihnen wurde das in kleinbürgerlichen bzw. bürgerlichen Kreisen zutage tretende Entsetzen über die „unberechenbaren" K r ä f t e des jungen Proletariats zum Anlaß für eine Propaganda des Klassenkompromisses mit der Aristokratie. Jhre 18
Vgl. Pabiunke, Gerbard, Zur historischen Rolle des deutschen Nationalökonomen Friedrich List (1789-1846). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Ökonomie in Deutschland, Berlin 1955; Gebrig, Hans, Friedrich List und Deutschlands politisch-ökonomische Einheit, Leipzig 1956. 1» Vgl. Scbnabel, Franz, a. a. O., Bd. 3, 3. Aufl., Freiburg 19J4. S. 366 f. - Daß List in der Zeit des Hitlerfaschismus gern zitiert wurde, läßt sich denken. Man pries seine „raumpolitische(n) und raumökonomische(n) Neugestaltung der europäischen Mitte". Vgl. Wiskemann, Erwin, Mittel. europa. Eine deutsche Aufgabe, Berlin 1933, S. 10 (Mitteleuropäische Schriftenreihe, Bd. 1).
Zur Europa-Ideologie im 19. Jahrhundert
JI
antirevolutionäre Haltung dehnten sie auch auf die nationale Bewegung aus, in der sie nicht zu Unrecht ein Kind der bürgerlichen Revolution erblickten. Ratlos standen sie dem stürmischen Aufschwung der Industrie gegenüber, die mit ihren Zusammenballungen von Produktionsstätten und Arbeitern das Ende der beschaulichen Atmosphäre des Biedermeier-Deutschlands bedeutete. Alle „Bindungen" der „guten, alten Zeit" zerbrachen. Die Entfernungen wurden geringer. Diese Erscheinungen wollten die genannten Vertreter in eine Form gefaßt sehen, durch Ebenda,
87
S. S. S. S. S.
128,145. 131. 132. 134. 136.
Ebenda, S. 137.
Jacob Burckhardt
55
Burckhardt sieht so eine jede Krise zusammenbrechen und erlahmen, wobei auch - wie er feststellt - das eintreten kann, „was man Reaktion nennt". 92 So erscheint „das bleibende Resultat zum Erstaunen gering im Vergleich mit den hohen Anstrengungen und Leidenschaften, die während der Krisis zutage getreten". Denn, „um relativ nur Weniges zu erreichen" - wobei Burckhardt offen läßt, „wieweit es sich um Gewünschtes oder gar um Wünschenswertes gehandelt haben wird" - „braucht die Geschichte ganz enorme Veranstaltungen und einen ganz unverhältnismäßigen Lärm".®3 Mit einer solchen Interpretation gesteht zwar Burckhardt den Krisen eine gewisse Berechtigung zu, zumal sie auch nach seiner Auffassung laicht aus der Welt zu schaffen sind, im großen und ganzen muß aber der Wert dieser „enormen Veranstaltungen" und das ist auch Burckhardts Absicht! - äußerst fragwürdig erscheinen. Das letzte Ergebnis einer Krise bleibt eben doch die Reorganisation der alten Kräfte, zunächst der Machtmittel wie Polizei und Militär, mit deren Hilfe „die gelösten Bande des Staats" neu geknüpft werden, schließlich aber auch „die Herstellung einer besiegten Partei" innerhalb eines Volkes, welche seines Erachtens im allgemeinen durch zurückgekehrte Emigranten erfolgt. 94 Damit schließt sich der Kreis, denn die Krise hat praktisch nichts anderes als ein erneuertes Altes hervorgebracht, sie hat zwar im einzelnen manches verändert, die Basis aber grundsätzlich unangetastet gelassen. Eine solche Auffassung und Interpretation revolutionärer Vorgänge dürfte den Grundcharakter der Burckhardtschen Historiographie eindeutig bewiesen haben. Sie erfüllte, was die Reaktion von ihr verlangte: die Verneinung historischer Entwicklung und, damit verbunden, die ideologische Abwertung revolutionären Handelns und revolutionärer Krisen. Abwerten konnte man aber nur dann, wenn es gelang, die Ziele und Absichten dieses Handelns und seine Resultate in Frage zu stellen. Eben das hoffte aber Burckhardt mit seiner Krisentheorie zu erreichen. So nimmt Burckhardt - insgesamt gesehen - eine Stellung ein, die ihn als einen typischen Vertreter spätbürgerlicher Ideologie ausweist. Zwischen Schopenhauer und Nietzsche stehend, half er bei der Herausbildung von Gedankengängen mit, die schließlich von imperialistischen Ideologen fortgeführt wurden. Das trifft auch auf die Ansätze zur Rassentheorie zu, die sich beispielsweise in seiner grundsätzlichen Unterscheidung von aktiver und passiver Menschheit zeigen. Unter aktiver Menschheit versteht er die „kaukasischen Rassenvölker, die Menschheit ums Mittelmeer und bis zum Persischen Busen". Nur sie erfaßt er als „ein belebtes Wesen", nur in ihr sieht er Entwicklung walten, aber keinen absoluten Untergang, sondern nur Übergang. 95 Diese Einteilung veranlaßt Burckhardt auch, wie er gleich zu Beginn der 9i 93 94 95
Ebenda, S. 138-. Ebenda, S. 139/140,132. Ebenda, S. 142/143. Ebenda, S. 123. - Derselbe, Historische Fragmente, a. a. O., S. 225. - Derartige Tendenzen benutzte Alfred Rosenberg, um Burckhardt als Vorläufer der Nazis in Anspruch zu nehmen. So hätte Burckhardts „Griechische Kulturgeschichte" erst durch die „rassenseelische Scheidung" von heute „ihre eigentliche Deutung und Bedeutung erhalten". (Rosenberg, Alfred, Det Mythus des XX. Jahrhunderts, 5. Aufl., München 1933, S. 55.)
Johannes Wenrel
56
„Weltgeschichtlichen Betrachtungen" ausführt, sich in seinen Überlegungen allein auf diese „aktiven Rassen" zu beschränken „und in denselben auf die Völker, deren Geschichte uns Kulturbilder von genügender und unbestrittener Deutlichkeit gewährt".90 „Der Geschichte im höhern Sinn gehören (eben) nur die Kulturvölker an, nicht die Naturvölker." 97 Ja, er gesteht dieser aktiven Menschheit sogar das Recht zu, alle passiven Rassen zu unterwerfen. Hatte sie sich zunächst - so sieht Burckhardt die Entwicklungslinie - in der Völkerwanderung durch Verbindung mit den Germanen, einem jungen kulturfähigen Volk derselben Rasse, in einer „gesunden Barbarei" heilsam aufgefrischt 98 , griff sie nach „abermals 1500-2000 Jahren... von neuem aus, assimiliert sich Amerika und ist jetzt im Begriff, Asien gründlich zu öffnen". Burckhardt, dem es in diesem Zusammenhang eine Selbstverständlichkeit ist, daß die „nichtkaukasischen Rassen" zurückweichen und schließlich aussterben müssen, interessiert sich nur noch für die eine Frage: „Wie lang es noch dauern wird, bis alle passiven Existenzen von ihr (der aktiven Menschheit - J. W.) unterworfen und durchdrungen sind?" 99 Das Gan2e nennt er dann „Königsrecht der Kultur zur Eroberung und Knechtung der Barbarei, welche nun blutige innere Kämpfe und scheußliche Gebräuche aufgeben und sich den allgemeinen sittlichen Normen des Kulturstaates fügen müsse". Der einzige, „äußerst humane" Vorbehalt Burckhardts besteht in der Ermahnung, „in den Mitteln der Unterwerfung und Bändigung die bisherige Barbarei" nicht zu überbieten.100 Wie für Gobineau, so dürfte auch für Burckhardt der Kampf gegen die demokratische Grundidee von der Gleichheit aller Menschen der Ausgangspunkt seiner Überlegungen gewesen sein. Wenn er nämlich die Geschichte auf die aktive Menschheit beschränkt, muß er eine einheitliche Menschengeschichte verneinen und eine naturgegebene Ungleichheit der Rassen voraussetzen. Gleich, ob gewollt oder nicht, gab Burckhardt damit den europäischen Großstaaten seiner Zeit, vor allem aber dem deutschen V o l k 1 0 1 , das er zur „geistigen Aristokratie der Welt" rechnete10®, das ideologische Recht, im Namen der Kultur und des Geistes über die noch unentwickelten Völker der Erde herzufallen und sie zu kolonisieren. Gehen wir von diesen Überlegungen aus, so zielt Meineckes Frage, die wir an den Anfang unserer Betrachtungen gestellt hatten, keineswegs auf die Möglichkeit einer echten demokratischen Neubesinnung, sondern lediglich auf eine imperialistischabendländische Neuorientierung der preußisch-deutschen Geschichtsschreibung. Und in diesem Sinne ist sie auch von den unterschiedlichsten Vertretern der westdeutschen Historiographie verstanden worden. M
M
18 100 101 102
Burckhardt, Jacob, Weltgeschichtl. Betrachtungen, a. a. O., S. 4. Derselbe, Historische Fragmente, a. a-. O., S. 22;.. Derselbe, Weltgeschichtl. Betrachtungen, a. a. O., S. 122/12}. - Nach Burckhardt ist nicht jede Invasion eine Verjüngung, „sondern nur die, welche von einem jungen kulturfähigen Volk gegen ein älteres Kulturvolk ins Werk gesetzt wird" (Ebenda). Derselbe, Historische Fragmente, a. a. O., S. 226. Derselbe, Weltgeschichtl. Betrachtungen, a. a. O., S. 27. 5.7.1870. Derselbe, Historische Fragmente, a. a. O., S. 226.
Max Lehmann Günter Vogler
A l s Franz Mehring 189} sein der Zerstörung der „Lessing-Legende"
gewidmetes
Werk veröffentlichte 1 und das friderizianische Preußen sowie die diesen
Staat
idealisierende Geschichtsschreibung einer unnachsichtigen, vom Gedanken des gesellschaftlichen Fortschritts getragenen Kritik unterzog, da „heutzutage die friderizianische Legende niemals ganz am unrechten Orte beleuchtet werden-kanri" 2 , schrieb Friedrich Engels an Mehring: „ . . . d i e Auflösung der monarchisch-patriotischen Legenden ist, wenn auch nicht grade eine notwendige Voraussetzung der Beseitigung der die Klassenherrschaft deckenden M o n a r c h i e . . . , aber doch einer der wirksamsten Hebel dazu". 3 Mehring entsprach diesem Anliegen mit allen seinen historischen Arbeiten in hohem Maße, wobei sich sein klarer, auf dem historischèn Materialismus begründeter Standpunkt mit polemischer Schärfe und faszinierender Logik paarte. 4 Mehring war einer der wenigen, die dem Preußentum im Klassenkampf mit der W a f f e der Wissenschaft Seite an Seite mit dem revolutionären Proletariat entgegentraten. Kurze Zeit nach dieser gelungenen Attacke gegen die borussische Festung erfolgte ein weiterer Angriff, allerdings aus anderer Richtung. Ein Jahr nach Mehrings Arbeit erschien eine Schrift, „Friedrich der G r o ß e und der Ursprung des siebenjährigen Krieges", die bei der „offiziellen" Geschichtsschreibung einen Sturm der Entrüstung hervorrief, weil ihr Verfasser am Beispiel der Politik Friedrichs II. die „fortdauernde Macht der Legende" aufzeigte 5 und dabei zu einigen Schlüssen gelangte, die sich nicht in das offizielle preußische Geschichtsbild einfügten. Der Autor war der angesehene bürgerliche Historiker M a x Lehmann. Franz Mehring schrieb später: „Lehmann wies nach, daß Friedrich in keiner Weise von deutschnationalen Gesichtspunkten geleitet gewesen sei, als er den Siebenjährigen Krieg begann."
1
6
D e r Vertreter der
Zuerst erschienen als Artikelserie in der „ N e u e n Z e i t " von Januar bis Juni 1892; im folgenden Jahr in Buchform veröffentlicht.
2
Mehring,
Franz,
D i e Lessing-Legende, Berlin 1963, S. }. (Gesammelte Schriften, hg. T h . Höhle,
H . K o c h , J. Schleifstein, B d . 9) 3
Marx]Engels,
Über Deutschland und die deutsche A r b e i t e r b e w e g u n g , B d . 1: V o n der Frühzeit
bis zum 18. Jahrhundert, Berlin 1961, S. 622. 4
V g l . dazu Schieilstein,
Jósef,
Franz Mehring. Sein marxistisches Schaffen 1891-1919, Berlin 1959,
S. 160 ff. 5
Lehmann,
Max,
Friedrich der G r o ß e und der Ursprung des siebenjährigen Krieges, Leipzig 1894,
S. V I . 6
Mehring,
Franz,
a. a. O . , S. 19.
GSntec Vogler
5«
noch jungen marxistischen Geschichtswissenschaft schätzte d i e A r b e i t e n des bürgerlichen Historikers hoch ein: „ L e h m a n n hat sich durch seine ehrlichen und gründlichen Biographien
Scharnhorsts
Wissenschaft erworben."
7
und S t e i n s . . .
wirkliche Verdienste
um
die
historische
M a x L e h m a n n v e r b a n d bei. seinen Forschungen G r ü n d l i c h -
keit und Sachlichkeit mit einer polemischen und k ä m p f e r i s c h e n N a t u r , d i e ihn aus d e r R e i h e d e r V e r f e c h t e r d e r preußischen L e g e n d e herausführen h a l f e n und einen r e l a t i v selbständigen S t a n d p u n k t gewinnen ließen. W i e es dazu k a m und welchen Standort er in der Geschichte der deutschen H i s t o r i o g r a p h i e einnimmt, soll in der v o r l i e g e n d e n Studie zu zeigen versucht w e r d e n . 8 A m 19. M a i 1 8 4 5 in B e r l i n geboren, "besuchte M a x L e h m a n n von 1 8 5 7 bis 1 8 6 } das Joachimsthalsche G y m n a s i u m , w o er sich neben d e m Unterricht ausgiebig der L e k t ü r e und auch das erste M a l d e m S t u d i u m eines W e r k e s v o n R a n k e w i d m e t e . ® A l s er im S o m m e r 1863 das S t u d i u m in B e r l i n begann, hätte er sich gern der Geschichte zug e w a n d t , a b e r sein V a t e r bestimmte ihm d i e klassische P h i l o l o g i e als Studienfach. E r besuchte auch d i e K o l l e g i e n D r o y s e n s über E n z y k l o p ä d i e d e r historischen Wissen• Ebenda. 8
Mit der Entwicklung von Lehmanns Geschichtsauffassung beschäftigt sich ausführlich bisher nur die Arbeit von Reichel, Waltraut, Studien zur Wandlung von Max Lehmanns preußischdeutschem Geschichtsbild, Göttingen-Berlin-Frankfurt 196;. Hier werden zwar zum ersten Mal zahlreiche archivalische Quellen verarbeitet und einige beachtenswerte Untersuchungsergebnisse vorgetragen, im ganzen jedoch bleiben wesentliche Fragen unbeantwortet, wird das Bild zum Teil verzeichnet und bedarf auch die Methode der Verfasserin der Kritik. Vgl. meine Rezension zu der Arbeit in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG), Jg. 13, 1965, H. 1, S. 135 ff. Wichtigen Aufschluß geben auch die Würdigungen aus der Feder Meineckes: Meinecke, Friedrich, Max Lehmann. Adresse der Berliner Akademie der Wissenschaften an Herrn Max Lehmann zum fünfzigjährigen. Doktorjubiläum, in: Preußen und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Historische und politische Aufsätze, München-Berlin 1918, S. 436-4)8; derselbe, Nekrolog Max Lehmann, in: Historische Zeitschrift (HZ), Bd. 141, 1930, S. 449-450; derselbe, Erlebtes 1862-1901, Leipzig 1941. Die aus einem engen persönlichen Verhältnis zu Lehmann resultierenden Eindrücke von dessen Persönlichkeit erlaubten es Meinecke, einige Züge in der Entwicklung und Geschichtsauffassung Lehmanns relativ frei von den Vorbehalten seiner Kontrahenten zu umschreiben. Lehmann nicht gerecht wird die auf den Studien von Reichel fußende Arbeit von Kaebler, Siegfried August, Max Lehmann und die Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, in: Nachr. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, Jg. 1958, Nr. 1, S. 19-44, der an Lehmanns Geschichtsauffassung Kritik von einer völlig subjektivistischen Sicht aus übt. Aufschlußreich sind die Arbeiten polnischer Historiker: Askenazy, Szymon, Wspommenenie 0 pramym histoviku, in: Szkice i portrety, Warszawa 1937, S. 338-350; derselbe, Glos nauki, in: ebenda, S. 351-363; Willaume, Juliusz, Max Lehmann, ein fortschrittlicher deutscher Historiker und Polenfreund, in: Wiss. Zeitschr. Univ. Leipzig, Ges. u. spr. R., Jg. 7, 1957/58, H. 1/2, S. 51-58. Beide heben insbesondere die positive Haltung Lehmanns zu den Problemen der Entwicklung in Polen und seine Ablehnung der imperialistischen Polenpolitik hervor.
9
Wir folgen bei den biographischen Angaben weitgehend seiner Autobiographie: Max Lehminn, in: Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von Sigfried Steinberg, Bd. 1, Leipzig 1925, S. 207-226 (im folgenden zitiert: Autobiographie). Diese werden vor allem ergänzt durch Angaben aus dem Briefwechsel, soweit er in der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin und im Deutschen Zentralarchiv, Abteilung II, in Merseburg aufbewahrt wird.
59
Max Lehmann
sthaften und Rankes über deutsche Kaisergeschichte. Während er Droysen gegenüber trotz späterer persönlicher Bekanntschaft immer distanziert blieb 1 0 , wurde die Begegnung mit Ranke zu eijiem der entscheidenden Ereignisse seines Lebens. E r hat nie aufgehört zu beteuern, wie sehr er sich als sein Schüler fühle u , und dies auch zu der Zeit, als seine Kritiker ihm vorhielten, mit seinen Ansichten und seiner Methode niemals in der Nachfolge von Ranke zu stehen. Ein Semester in Königsberg führte ihn in die Übungen von Karl Wilhelm Nitzsch, der - wie Lehmann später aus der Erinnerung schrieb - „mit dem Worte und der Form rang, aber eigene Ideen besaß". 1 2 An der Universität Bonn, in deren Historisches Seminar er im Herbst 1864 eintrat, begegnete er Heinrich von Sybel, dem er bis zu Beginn der neunziger Jahre aufs engste verbunden blieb. Sybel war est der ihm später den Weg in den Archivdienst ebnete und ihn in die Redaktion der „Historischen Zeitschrift" aufnahm. Lehmann hat der Zuneigung zu Sybel bis zu dem Bruch 189} immer wieder Ausdruck gegeben. 13 Im Sommer 1865 kehrte Lehmann nach Berlin zurück, besuchte erneut die Vorlesungen Rankes und fand jetzt noch einen neuen Lehrer in Philip J . Jaffe, dessen Sympathien er bald errang. „Zu Ranke, auf dessen Übungen Sie mich aufmerksam machten", schrieb Lehmann an Sybel, „bin ich eben durch Jaffes Vermittlung in ein näheres Verhältnis getreten: ich ordne seine Papiere, sowie seine kostbare Bibliothek, er diktiert mir das Manuskript seiner Werke, später werde ich auch auf dem Archiv Exzerpte besorgen es ist eine Tätigkeit, welche ich wohl als den Abschluß meiner Studienzeit ansehen d a r f . " 1 4 Diese in jugendlichem Überschwang geschriebenen Sätze werden später in der Autobiographie sehr abgemildert, indem es nur noch heißt, daß Ranke ihn „als höheren Handlanger, dem er äußersten Falls einmal diktierte", benutzte. 15 E r war sich bewußt, was ihm Ranke gegeben hatte,. überschätzte aber wohl dessen Einfluß auf seine Entwicklung. E r glaubte sich zwar in seiner Auffassung von der öeschichte als Weltgeschichte mit Ränke eins, vermochte aber nicht, die Klassenbedingtheit seiner Geschichtsideologie zu erkennen. Angesichts seiner kritischen Auseinandersetzung mit der kleindeutschen Richtung der Historiographie fällt seine Kritiklosigkeit gegen10
Sybel hatte Lehmann bereits einige Warnungen mit auf den Weg gegeben, als dieser von Bonn nach Berlin ging. Vgl. Lehmann an Sybel,. 10. 6.1866 (Ehemal. Preuß. Geh. Staatsarchiv, heute: Deutsches Zentralarchiv, Abt. Merseburg, Rep. 92, H. v. Sybel, B 1, X X V ; im folgenden zitiert: Nachlaß Sybel. Die Briefe des Nachlasses sind alphabetisch nach den Namen der Absender geordnet, in unserem Fall unter L und dem entsprechenden Datum zu finden.)
11
Lehmann schrieb am 3. 6. 1922 in Erinnerung an das Studium von Rankes Französischer Geschichte in der Bibliothek des Joachimsthalschen Gymnasiums an Jülicher: nach sieben Jahren war ich Rankes Amanuensis, nach knapp drei Jahrzehnten durfte ich vom Katheder einer Hochschule den Ruhm des Altmeisters verkünden" (zit. nach: Reichel, Waltraut, a . a . O . , S. 95, Anm. 8).
11
Autobiographie,
13
Über Sybels Revolutionsgeschichte schreibt er am 4.8.1874 an diesen: „Das Buch ist ein Stück
S. zu.
meines Lebens. Es hat in mir als Knaben die Liebe zur Historie entzündet, es belehrt und bildet mich Tag aus Tag ein, ich werde es nie auslernen" (Nachlaß Sybel). 14
Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybel, 19.1. 1867.
15
Autobiographie,
S. 213 f.
6o
Günter Vogler
über Ranke besonders auf. Diese ständig beschworene Ranke-Nachfolge führte ihn jedoch nicht an die Seite der Vertreter der sogenannten „Ränke-Renaissance". 1 6 Bei J a f f e promovierte Lehmann 1867 Ober das Thema „ D e annalibus qui vocantur Colonienses maximi quaestationes criticae" und arbeitete auch an dessen „Bibliotheca rerum Germanicarum" mit. 1 7 A l s ihm Sybel antrug, für ihn in London und Wien die Akten für die Fortführung seiner „Revolutionsgeschichte" zu exzerpieren, sagte er zu. Später zählte er den Londoner Aufenthalt zu den schönsten Erinnerungen seines Lebens. 1 8 E r bemühte sich im Anschluß daran, in den Archivdienst einzutreten. A b e r seine Vorsprache bei M a x Duncker, dem Direktor der preußischen Staatsarchive, endete mit einem Mißerfolg. 1 9 Enttäuscht trat er 1868 in den Schuldienst; doch sein sehnlichster Wunsch blieb die Hochschullehrerlaufbahn. Trotz der Unterstützung durch Treitschke wurden seine Bemühungen vorerst nicht von E r f o l g gekrönt. 20 Als Sybel 1875 das Direktorium der preußischen Staatsarchive übernahm, berief er Lehmann in das Geheime Staatsarchiv. Damit wurden günstige Voraussetzungen für seine weiteren Forschungen geschaffen, die jetzt. erst ihr Profil erlangten, indem Lehmann sich auf die Erforschung der ihn sein ganzes weiteres Leben bewegenden Probleme konzentrierte. Sein Studium war in zweierlei Hinsicht bedeutsam gewesen. E s hatte ihm ein handr werkliches Rüstzeug gegeben, das ihn zu strenger Kritik der Quellen befähigte. 2 1 Zweitens hatte es ihn mit den Vertretern der kleir.deutschen Schule der Geschichtsschreibung konfrontiert und zur Herstellung persönlicher Beziehungen zu deren führenden Köpfen geführt. Mit Sybel und Treitschke verband ihn bis in die neunziger Jahre enge Freundschaft. E r schloß sich deren politischer Konzeption zunächst vorbehaltlos an. D a die kleindeutsche Geschichtsschreibung vor der Reichseinigung von " „Diese Bewunderung für Ranke hat sich Max Lehmann durch sein ganzes Leben erhalten. Er sah in ihm den größten modernen Historiker, und ungezählte Male habe ich die Worte der dankbarsten Anerkennung und Verehrung aus seinem Munde gehört. Von Ranke glaubte er gelernt und übernommen zu haben, was das A und O aller Forschung und Geschichtsschreibung ausmacht: genauestes Studium der Quellen und kompromißlose Liebe zur Wahrheit" (Lebmann, Gertrud, Einleitung, in: Lebmann, Max, Bismarck. Eine Charakteristik, Berlin 1948, S. 7). 17 An Treitschke schrieb Lehmann am 23. 6.1874: „ . . . und kann mit Stolz sagen, daß ich sein vertrautester, vielleicht auch liebster Schüler war, auf den er seine Bibliotheca vererben wollte." (Deutsche Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlaß Heinrich von Treitschke). Weitere Belege vgl. bei Reichel, Waltraut, a. a. O., S. 115, Anm. 74. 18 Er nannte den Aufenthalt „eine ununterbrochene Quelle der Belehrung, intellektuellen Fortschritts wie Bildung des Charakters" (Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybel, 30.12.1867). '* Vgl. Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybel, 18.10.18(7. 20 Lehmann hatte sich um eine Anstellung an den Universitäten Berlin und Kiel benüht. Am 23. 6.1874 schrieb Lehmann an Trcitschke, daß an seinem „Berliner Mißerfolg einigermaßen auch böser Wille Schuld ist" (Nachlaß Treitschke) und am 24. 6.1874 über das Scheitern der Kieler Pläne an Sybel: „man will mich offenbar dort nicht". (Nachlaß Sybdl). Vgl. dazu auch: Treitschke, Heinrich v., Briefe, hg. von Max Cornicelius, Bd. 3/2, Leipzig 1920, S. j66, Anm..i. 21 Meinecke hob z. B. die „über das gewöhnliche Maß von Akribie und Gründlichkeit hinaus... ganz persönlich berührende Präzision der Quellenbefragung" hervor. (Meinecke, Friedrieb, Max Lehmann, a, a. O., S. 437).
61
Max Lehmann
oben mit ihrem politischen Wirken noch ein Vorwiegend progressives Ziel verband 2 i , bezeugt der Anschluß. Lehmanns an diese Kreise seine positive Haltung zu den nationalen Fragen in dieser Zeit. 1867 gab er seiner Stimmung in einem Brief an Sybel Ausdruck, als er seinen Wunsch nannte, „etwas - sei es auch noch so wenig - zum Verständnis der großen Zeit beizutragen, die wir im vorigen Sommer durchlebt haben." 2 3 Von dieser Haltung wurden seine ersten Forschungsarbeiten - von seiner Dissertation und einem Aufsatz zur mittelalterlichen Geschichte abgesehen 24 - bestimmt, die er zwischen 1869 und 1873 publizierte. Sie galten den Kriegen von 1866 und 1870, die - so urteilte er über den Mainfeldzug von 1866 - auch den Laien „etwas von dem Wehen des Geistes, der hier so Großes geschaffen" habe, fühlen ließen. 25 Und die Bedeutung des Generals Vogel von Falckenstein, dessen Wirken ihm den Anlaß für den Aufsatz bot, umriß er mit den Worten: „ E s war ein deutschet Arm, der die Kriegsverfassung der Kleinstaaten in Trümmer schlug, und wohl mögen wir den Mann segnen, welcher der Nation erspart hat, über den Aufbau ihres Staates von Fremden belehrt zu werden." 2 6 Seine eigene Position fügte sich folgerichtig in den Rahmen des preußisch-deutschen Geschichtsbildes seiner akademischen Lehrer und Treitschkes ein. Nach den ersten Schritten auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft trug sich Lehmann mit der Absicht, seine Kräfte auf eine größere Arbeit zu konzentrieren, mit der er der „vaterländischen Geschichte" einen Dienst erweisen wollte. 27 In dem Brief an Treitschke, in dem er diesen Gedanken aussprach, nannte er ein ihn interessierendes Projekt: „Meine Neigung zieht mich vor allem zu Scharnhorst hin, der ja auch bis jetzt keinen würdigen Biographen gefunden hat." 2 8 Treitschke bestärkte Lehmann 28
Vgl. dazu Schleier, Hans, Die kleindeutsche Schule (Droysen, Sybel, Treitschke), in: Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, hg. J . Streisand, Berlin 196}, S. 270 ff. (Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Bd. 1); derselbe,
Zur antidemokratischen
Geschichtsideologie Sybels und Treitschkes,
phil. Diss.,
Leipzig 196). (MS) 83
Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybel, 14. 8.1867.
24
Lehmann^ Max, Das Aufgebot zur Heerfahrt Otto II. nach Italien, in: Forsch, z. deutschen
25
26
87 28
Gesch., Bd. 9, 1869, S. 455 ff. Derselbe, Der Krieg in Westdeutschland und die vorangehenden Unterhandlungen des Jahres 1866, in: HZ, Bd. 22, 1869, S. 124 f. - Vgl. dazu auch Reichel, Waltraut, a . a . O . , S. 16 f. Im gleichen Sinne schrieb Lehmann 1870 in einer Rezension zum 4. Bd. von Sybels „Geschichte der Revolutionszeit": „In einem Augenblicke, wo draußen unsere Heere von Sieg zu Sieg eilen, muß es für die daheim Zurückgebliebenen tröstend sein, hier zu sehen, wie der nationale Geist seine Triumphe nicht nur auf den Schlachtfeldern feiert." (Lebmann, Max, Französischer Mythus und deutsche Kritik über die Jahre 179J-97, in: Die Grenzboten, Jg. 29, 2. Sem., Bd. 2, 1870, S. 322). Derselbe, Der Krieg in Westdeutschland, a. a. O., S. 147. Seine Darstellung der Schlacht von Vionville gipfelte in dem Schluß: „Ich wage es, den 16. August den größten Tag unserer Geschichte zu nennen" (Derselbe, Die Schlacht von Vionville und Mars-la-Tour, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 30, 1872, S. 41). Vgl. Nachlaß Treitschke, Lehmann an Treitschke, 2j. 8. 1872. Ebenda. Ähnlich urteilte er auch in seiner Rezension zu Klippels Scharnhorst-Biographie in: Literarisches Centraiblatt für Deutschland, Jg. 1872, Sp. 383.
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Günter V o g l e r
in seiner Absicht und erwiderte: „Ich fand es schon traurig genug, daß Stein und Gneisenau verpertzt wurden; daß aber Scharnhorst gar noch eine Verkuppelung erfahren mußte, ging mir über den Spaß."
29
1875 erhielt Lehmann die Erlaubnis zur Benutzung des preußischen Geheimen Staatsarchivs für die Erforschung der Biographie Scharnhorsts. D a sich 1875 mit seinem Eintritt in den preußischen Archivdienst auch noch der Auftrag zur Herausgabe der Akten über das Verhältnis Preußens zur katholischen Kirche hinzugesellte
30 ,
zwei
so umfangreiche Vorhaben zur gleichen Zeit aber nicht zu bewältigen wären, stellte er die Arbeit an der Biographie zunächst noch einmal zurück. 1886 und 1887 erschienen die beiden Bände, deren Ausarbeitung ihn bis dahin weitgehend in Anspruch nahm. 31 In der Einleitung erklärte er als sein Ziel, „tiefer in das Verständnis eines unserer größten Männer einzudringen und an seinen Taten das Herz zu erheben."
32
Wir haben
die Frage zu beantworten, inwieweit er seinem 15 Jahre zuvor vorgetragenen Wunsch, der „vaterländischen Geschichte" einen Dienst zu erweisen, gerecht geworden ist. Sehr frühzeitig ist Lehmann bereits mit einigen bei der Erforschung der Biographie Scharnhorsts gewonnenen Untersuchungsergebnissen hervorgetreten. Zum ersten M a l sollte er nun die Macht der feudalen Reaktion und die Gefährlichkeit des Dilettantismus zu spüren bekommen. In seiner Schrift „Knesebeck und Schön" widerlegte er 1875 die verbreitete Auffassung, Scharnhorst habe 300 preußische Offiziere 1812 zum Austritt aus der Armee bewogen, als Friedrich Wilhelm III. das Bündnis mit Napoleon schloß, und sich 1813 der Errichtung einer Landwehr widersetzt. D a diese A u f fassungen auf den Memoiren Knesebecks und Schöns fußten, unterzog er diese einer eingehenden Kritik. „Ich bedaure, das zarte Gewebe dieser Poesie mit brutaler Hand zerreißen zu müssen" 3S , lesen wir, womit er seine A u f g a b e hinreichend charakterisierte. Über die Motive für die Verdrehungen schrieb er in Hinblick auf Schön: „Seine Provinz mußte die erste sein, welche nach der Katastrophe von Jena mit dem Vorschlage der Volksbewaffnung vor die Krone trat, sie mußte sogar der von dem König
"
Zit. nach Autobiographie,
30
Von
1878-1894 erschienen
S. 217. Treitschke spielt auf die Publikationen von Pertz und Klippel an. sieben Bände der Quellenpublikation
„Preußen
und die
katho-
lische Kirche seit 1640". A u f Grund der Einleitung zum 1. Band kam es zu „erheblichen sachlichen Differenzen" mit Sybel, weil dieser die Einleitung für zu „protestantisch" abgefaßt hielt. D i e weiteren Bände blieben ohne Einleitung. - Vgl. dazu Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybel, 26. j. 1890. -
Im preußischen Abgeordnetenhaus klagte
die Zentrumsfraktion Lehmann
der
„systematischen Geschichtsfälschung" an, was Lehmann jedoch scharf zurückwies. V g l . dazu Lehmann, Max,
Das Centrum
S. 270 f.; derselbe,
und die Historisch-politischen
Blätter, in: H Z , . B d . 49, 1883.
Nachtrag zu dem Aufsatze ,Das Centrum und die
Blätter', in: H Z , Bd. 51, 1883, S. 191 f. -
Historisch-politischen
D i e politischen Hintergründe dieser _ Auseinander-
setzungen charakterisiert Lehmann in seiner Autobiographie,
S. 218 f. -
Vgl. auch
Willaume,
Juliusz, a. a. O . , S. 52. "
Vgl. Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybel, 26.3.1890. - Lebmann, Max, Scharnhorst, I . T e i l : Bis zum Tilsiter Frieden; 2. T e i l : Seit dem Tilsiter Frieden, Leipzig 1886/1887.
55
Ebenda, Bd. I, S. V I . E r sagte von dem Werk weiter: „es ist ein Stück meines Lebens geworden, und ich darf sagen, daß es auch ein Stück meines Herzens enthält."
33
Derselbe,
Knesebeck und Schön. Beiträge zur Geschichte der Freiheitskriege, Leipzig 1875, S. 36.
Max Lehmann
6}
zur Reorganisation der Armee eingesetzten Kommission, sie mußte dem General Scharnhorst, dessen Milizprojekte aus der Zeit nach dem Tilsiter Frieden sich nicht wegdisputieren ließen, den Rang ablaufen." 8 4 Lehmann stimmte mit seiner dargelegten Auffassung in den Hauptfragen durchaus mit der offiziellen Geschichtsschreibung überein, was ihm Treitschke mit den Worten bescheinigte, die konservative Geschichtsanschauung finde in Lehmann „einen ungewöhnlich streitbaren Vertreter", und er hob auch hervor, man müsse „der bündigen Beweisführung durchweg beipflichten". 35 Anders dachten die Anhänger der „Familienerzählung" 3 6 , die dem Kritiker ihrer Vorfahren verübelten, daß der Ruhm, mit dem sie selbst sich noch zu schmücken gedachten, im Feuer der Lehmannschen Kritik zerrann. D i e einen benutzten die Augsburger Allgemeine Zeitung 3 7 als ihr Sprachrohr, die anderen ließen eigens von einem „in allen Künsten demagogischer Rabulistik bewanderten" Verfasser 3 8 ein Pamphlet anfertigen 3 9 , in dem Lehmann verleumdet und beschimpft wurde, eine wissenschaftliche Widerlegung seiner Ausführungen aber, nicht erfolgte. So waren die Triebfeder der Polemik nicht die wissenschaftliche Wahrhaftigkeit, sondern der verletzte Adelsstolz und die Verteidigung der feudalen Standesehre, die durch die wissenschaftliche Kritik des überkommenen Geschichtsbildes in Mitleidenschaft gezogen wurden. Lehmann verteidigte Stein und Scharnhorst 4 0 ; es entstand eine mit Temperament geschriebene Streitschrift, die streng den Quellen folgte und alle Unzulänglichkeiten der Kritiker aufdeckte. Diese Auseinandersetzungen zeigten, welche Hindernisse der Durchsetzung eines wissenschaftlich begründeten Geschichtsbildes im Wege standen, auch dann, wenn dieses Geschichtsbild der preußischen Tradition-allerdings nicht ihrer reaktionärsten Spielart - verpflichtet blieb. D a s preußische Heer verkörperte für Lehmann zu dieser Zeit „die Vollendung unseres Staates", und die „Vereinigung von Gehorsam und Freiheit, welche geradezu einzig dasteht", sah er als Grundzug der preußischen Geschichte überhaupt an. 4 1 D a die Ereignisse der Jahre 1866 und 1870 Lehmann zuvor beschäftigt hatten, ist durchaus ein Zusammenhang zwischen seiner Auffassung von der Bedeutung dieser Kriege und seiner Vorstellung von der historischen Rolle des preußischen Staates zu sehen. Wenn Treitschke in Hinblick auf die deutsche Einheit sagte, daß die Vertreter der konservativen Geschichtsanschauung - und dazu zählte er Lehmann - die Tatsachen früherer Zeiten „an dieser mächtigen Erfahrung messen" 4 2 , so spüren wir dieses Herangehen in Lehmanns Urteilen. E r 54 35 38 37 38 M
40
41 a
Ebenda, S. 232. Treitschke, Heinrieb v., Knesebeck und Schön, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 37, 1876, S. 452. Lehmann, Max, Knesebeck': Memoiren, in: HZ, Bd. 36, ¡876, S. 436. Augsburger Allgemeine Zeitung, 1876, Nr. 19. Lebmann, Max, Stein, Scharnhorst und Schön. Eine Schutzschrift, Leipzig 1877, S. III. (Ewald), Zu Schutz und Trutz am Grabe Schöns. Bilder aus der Zeit der Schmach und der Erhebung Preußens, Von einem Ostpreußen, Berlin 1876. Paul Bailleu schrieb in seiner Rezension: „der Ton seiner Polemik ist der der niedrigsten Revolverpresse; überall sucht er die Gegner mehr zu beschmutzen als zu widerlegen" (HZ, Bd. 37, 1877, S. 538). Lebmann, Max, Knesebecks Memoiren, a. a. O., S. 433 f.; derselbe, Stein, Scharnhorst und Schön, a. a. O. Lebmann, Max, Knesebeck und Schön, a. a. O., S. 76. Treitscbke, Heinrieb v., Knesebeck und Schön, a. a. O., S. 451.
64
Günter Vogler
wollte der „vaterländischen Geschichte" einen Dienst erweisen. Die Analyse beweist, daß sich für ihn damit der kleindeutsche Standpunkt und die Auffassung von Preußens deutschem Beruf verband. Erschöpft sich darin seine Vorstellung von der „vaterländischen Geschichte"? Die Scharnhorst-Biographie kann uns helfen, eine Antwort zu finden.' In den beiden Bänden der Biographie Scharnhorsts hat Lehmann in umfassender Weise die Entwicklung Scharnhorsts zu dem bedeutenden deutschen Patrioten und Militärreformer beleuchtet, wobei sich intensive archivalische Forschung mit subtiler Kenntnis der Zeit, die Fähigkeit zur überschaubaren Ordnung komplizierter diplomatischer und militärischer Aktionen - bei aller Liebe zum Detail - mit dem Sichtbarmachen der Entwicklungslinien und Prozesse paaren. Lehmann verfolgt, wie sich Scharnhorst mit dem neuen militärischen System der Jakobiner auseinandersetzt und seine ersten Reformvorschläge entstehen. Vor der Niederlage von Jena und Auerstädt konnte sich Scharnhorst jedoch nicht durchsetzen. Daran ändern auch solche Bravourstücke wie der Rückzug Blüchers und Scharnhorsts nach Lübeck nichts. Aber die „Welt hatte gesehen, daß es noch einen preußischen General und einen preußischen GeneralQuartiermeister gab, welche Kapitulations-Aufforderungen, auch wenn sie von einem vielfach überlegenen siegreichen Gegner ausgingen, stolz abzuweisen verstanden, und daß die preußische Armee K r ä f t e des Widerstandes, Elemente der Wiedergeburt besaß, die nur der Entbindung harrten, um Großes zu vollbringen". 4 3 Nach dem Abschluß des Tilsiter Friedens begann ein zähes Ringen zwischen den Reformern und den dem alten System verhafteten Anhängern des Königs. D i e Reform des Offiziersstandes, die Beseitigung der Kantonverfassung, der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht, die Änderung der militärischen Strafen, die Neuorganisation der Militärverwaltung, die Beseitigung der Kompagniewirtschaft, die Aufstellung der Freiwilligen Jäger, der Landwehr und des Landsturms, kurzum, die Militärreform in ihrer Gesamtheit stand zur Diskussion, konnte aber nur schrittweise und im schärfsten Kampf gegen die Gegner der Reform verwirklicht werden. Lehmann urteilt: „alle und jede Arbeit an der Reform des preußischen Staates fand ihre letzte Rechtfertigung, ihren kräftigsten Antrieb in der Hoffnung auf den Sturz der Fremdherrschaft, und der künftige Freiheitskampf hinwiederum war, das wußten die Weisen und ahnten die Unmündigen, nicht möglich ohne die Reform." 44 Scharnhorst erlebte noch den Beginn des erstrebten Kampfes gegen den fremden Eroberer, erlag aber bereits am 28. Juni 1 8 1 3 in Prag den Folgen einer bei Großgörschen erlittenen Verwundung. Besondere Beachtung hinsichtlich des historiographischen Standortes Lehmanns verdient, wie er das Verhältnis Scharnhorsts zur Französischen Revolution und zum preußischen Staat sowie die Rolle des preußischen Königs darstellt. Lehmann zeigt Scharnhorst als Vertreter der besten militärischen Traditionen, der nach dem Erlebnis des Kampfes der französischen Truppen im ersten Koalitionskrieg zu selbständigen Auffassungen gelangte. E r urteilt über Scharnhorsts Reformvorschläge aus dieser « Lebmann, Max, Scharnhorst, a. a. O., Bd. x, S. 469. " Ebenda, Bd. 1, S. 168.
Max Lehmann
6j
Zeit: „Man ist überrascht, den weichen und sentimentalen Deutschen, d e r . . . den Ideen der französischen Revolution so gründlich abhold war, hier als Anwalt der Jakobiner und ihrer Gesinnungsgenossen auftreten zu sehen. Es treibt ihn dazu doch nur die zornige Erinnerung an die Erlebnisse von 179J und 1795 und der heiße Wunsch, dem vaterländischen Heere die gleiche Schlagfertigkeit und Sieghaftigkeit zu verschaffen, wie sie der Gegner gezeigt; wir sahen schon, wie fest ihm die Überzeugung stand, daß man die Franzosen nicht kopieren könne, ohne alle inneren Verhältnisse der Heere zu zerreißen. Nicht den Wohlfahrts-Ausschuß, sondern König Friedrich stellt er schließlich als Muster hin." 4 5 Scharnhorst hatte besonders beeindruckt, daß die Regierung in Frankreich mit den Hilfsmitteln der gesamten Nation Krieg führen konnte. Scharnhorsts Abneigung gegen die Französische Revolution vorausgesetzt, wird diese offenbar in erster Linie moralisch motiviert, was ihn nicht hindern konnte, die Resultate der praktischen Politik des Wohlfahrtsausschusses als Gegebenheiten hinzunehmen, mit denen man sich auseinandersetzen mußte. So verstanden, charakterisiert Lehmann Scharnhorst nicht als einen Anhänger der Ideen der Französischen Revolution, aber als einen den fortgeschrittensten Errungenschaften des Militärwesens gegenüber aufgeschlossenen Theoretiker, der sich überzeugen ließ, wenn Logik und Erfahrung ihm die Richtigkeit und Überlegenheit des Neuen vor Augen führten, auch wenn dieses Neue sich mit dem Jakobinertum verband. Eine solche Aufgeschlossenheit konnte nicht partikularistischem Denken entspringen. Lehmann hat deshalb Scharnhorst nicht als preußischen Militär dargestellt, sondern als deutschen Patrioten gesehen. Bereits bei der Behandlung des niederländischen Feldzuges 1794 räumte Lehmann ein, daß Scharnhorst „als Deutscher denkt und redet". 16 Wenn auch Scharnhorst noch im hannoverschen Dienst stand, so fällt doch auf, daß er seinen Blick auf das Ganze richtete, so daß Lehmann schreiben kann: „Sein Patriotismus war durchaus allgemein deutsch und über den Antagonismus zwischen Preußen und Österreich erhaben." 4 7 Ganz ähnlich heißt es über Blücher: „Er war ferner ledig der partikularistischen Schranken, welche so häufig dem Denken und S o l l e n geborener Preußen gesetzt waren, er fühlte sich ganz und gar als Deutscher, er trat dem .Tihrannen' gegenüber als Vollstrecker des Willens einer Nation." 4 8 Dasselbe Motiv variiert er an anderer Stelle und erhebt es aus der' Ebene eines subjektiven Urteils zu allgemeiner Gültigkeit: „Welch ein Schauspiel: dieser absolute König, umgeben von lauter Räten seiner Wahl, die, sehr verschieden von einander, doch wie Ein Mann ihrem Herrn gegenübertreten. Sie sind sich der Übereinstimmung mit den königlichen Prinzen bewußt und halten sich verpflichtet, die Meinung der Nation zum Ausdruck zu bringen." Es ist kein „preußischer" Standpunkt, den Lehmann bei den Reformern ausgesprochen « Ebenda, Bd. 1, S. 235. Ebenda, S. 190. « Ebenda, S. 283. 48 Ebenda, S. 449. 49 Ebenda, Bd. 2, S. 284. 48
5 Geichtchtawisfcnichaft, Bd. II
66
Günter Vogler
findet; für ihn verbindet sich mit der Tätigkeit Scharnhorsts und der anderen Patrioten ein nationales Anliegen. Diese Grundkonzeption des Scharnhorstbildes Lehmanns macht deutlich, daß er die preußische Reformtätigkeit von einem bedingt nationalen Aspekt aus wertet. Diese neue Qualität in seiner Geschichtsauffassung wird aber noch nicht als Loslösung von der Tradition empfunden. Das sollte erst einige Jahre später und in anderem Zusammenhang zum Bewußtsein kommen. Diese neue Wertung wird auch sichtbar in Lehmanns Urteil über den preußischen Staat und namentlich sein regierendes Oberhaupt, dem die borussische Geschichtsschreibung die Hauptleistung bei der Reorganisation des preußischen Staates zugeschrieben hatte. Bereits bei der Darlegung der Situation vor dem Zusammenbruch bei Jena und Auerstädt sagt Lehmann von der preußischen Regierung: „Sie war nicht im Stande, einen Neubau des morsch gewordenen Staates auszuführen: jetzt- noch weniger als die Jahre daher. All ihre Aufmerksamkeit, all ihre Kraft wurde in Anspruch genommen durch die fortwährenden auswärtigen Verwickelungen." 50 Im weiteren charakterisiert er den preußischen König immer wieder als den Zaudernden, den Unentschlossenen, dem „das Vertrauen zum eigenen Volke, das Vertrauen zu Österreich fehlte". 5 1 Der Gegensatz zwischen dem dynastisch orientierten König und den die nationalen Interessen aufgreifenden Reformern wird von Lehmann mehrfach aufgezeigt: „Der König vertrat das preußische Staatsinteresse als solches, losgelöst von jeder Rücksicht auf Deutschland und auf das Interesse der abendländischen Völkergemeinschaft; seine Räte waren mehr Deutsche als Preußen." V2 Lehmann sah im König deshalb auch in erster Linie den Monarchen, der das Bündnis mit Rußland abschlug und sich Napoleon unterwarf, der trotz des Drängens der Reformer die. allgemeine Wehrpflicht immer wieder verwarf und der von einem „revolutionären Volkskrieg, der alles übereinander und durcheinander stürzt" - wie er an Hardenberg schrieb - nichts wissen wollte. Oder an anderer Stelle: „Was das preußische Schwert in der Scheide hielt, war vielmehr die Abneigung des Königs gegen heroische Pläne, wie Hardenberg in jenen Tagen einmal diese Charaktereigenschaft seines Monarchen genannt hat." 5 3 Diese auf die Situation von i 8 i z bezogenen Worte verdienen insofern Verallgemeinerung, als sie die partikularistische Befangenheit eines feudalorientierten Monarchen deutlich machen, wobei - hier bleibt Lehmann in den Grenzen seiner eigenen Auffassung befangen - es nicht nur und nicht in erster Linie um die „Charaktereigenschaft" des Monarchen ging, sondern in dieser Situation von dem Repräsentanten der preußischen Adelskaste keine Rettung zu erwarten war. Auch sieht Lehmann Friedrich Wilhelm III. zu sehr als Einzelperson, nicht aber als Exponenten seiner Klasse, der den Willen der Mehrheit seiner Standesgenossen zum Ausdruck bringt. Mit der traditionellen Geschichtsschreibung verband Lehmann die Vorliebe für die Gestalten und Ereignisse der Befreiungskriege, die seit den fünfziger Jahren einer der häufigsten Gegenstände der Darstellung geworden waren. Wenn der 1875 in seiner 50 51 52 5:1
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,
Bd. 1, S. 589. Bd. 1. S. 188. S. 286. S. 474.
Max Lehmann
67
Schrift „Knesebeck und Schön" gewonnene Maßstab sich in der Scharnhorst-Biographie nicht mehr wiederfindet, wenn die dort vertretene These von der Kontinuität der preußischen Entwicklung jetzt fallengelassen wurde zugunsten der Auffassung, daß die Reform die wichtigste Voraussetzung für die Gestaltung eines neuen Staates war, so ist das das Ergebnis der kritischen Auseinandersetzung mit dem Geschichtsbild seiner Zeit und der intensiven Beschäftigung mit den Quellen. Dennoch blieb er der kleindeutschen Geschichtsauffassung verpflichtet. Die Hinwendung zur biographischen Darstellung führte dazu, die Rolle der Volksmassen weitgehend auszuklammern. Für ihn blieb die Geschichte primär vom Wirken der Persönlichkeiten bestimmt. Das erklärt auch, warum der Begriff der „Nation" bei Lehmann recht farblos bleibt und keinen fest umrissenen Klasseninhalt gewinnt. Gewiß setzt er die Nation dem hohenzollernschen Königtum entgegen, grenzt sie wiederum aber auch nicht klar davon ab, so daß ihr bürgerlicher Inhalt nicht sichtbar wird. Dieses Problem fällt besonders ins Auge, weil die „Partei der Reformer, die stellvertretend für die als Klasse unentwickelte Bourgeoisie die fortschrittliche Führungskraft darstellte" 54 , bei Lehmann wohl als die treibende Kraft erscheint, aber dies ohne die rechte Verbindung zu der gesamten Gesellschaft. Trotz dieser Mängel und Widersprüche bleibt Lehmanns Verdienst ungeschmälert bestehen, das Geschichtsbild vom Wirken eines der bedeutendsten Patrioten neu konzipiert zu haben. Im Verlauf dieser Arbeit hatte er sein eigenes einstmals vertretenes Geschichtsbild revidiert, so daß Friedrich Meinecke später schreiben konnte, Lehmann habe in der Scharnhorst-Biographie elf Jahre nach Treitschkes Urteil über. Lehmanns konservative Geschichtsauffassung das konservative Geschichtsbild des Befreiungskampfes und des Anteils Friedrich Wilhelms III. an demselben zertrümmert. 55 Auch Waltraut Reichel sieht in dieser Tatsache einen Fortschritt, schränkt aber sofort ein, wie wenig Lehmanns „von Wunschbildern diktierte Geschichtsauffassung den Realitäten menschlicher und staatlicher Existenz gerecht zu werden vermochte" und motiviert dies damit, daß „dem Menschen und Historiker Max Lehmann der Erfahrungsgehalt des ersten und zweiten Weltkrieges, der den Blick auf nicht-idealistische menschliche und staatliche Realitäten und ebenso auf das Walten dämonischer Kräfte hingelenkt hatte", fehle. 56 Mit dieser psychologisierenden Betrachtung werden die Ergebnisse von Lehmanns Forschungen bewußt entwertet. Sein Streben nach der Gewinnung objektiver Maßstäbe wird durch den Hinweis bagatellisiert, er habe die irrationalen Faktoren eliminiert, das „Preisgegebensein des Menschen im Wechselspiel dämonischer Kräfte" nicht berücksichtigt 57 und dadurch ein vereinfachtes ScharnhorstBild geschaffen. Sein Geschichtsbild war jedoch weniger von „Wunschbildern" geprägt als das der Vertreter der kleindeutschen Historiographie. Während z. B. die offizielle Geschichtsschreibung die bruchlose Kontinuität der preußischen Entwicklung nachzuweisen be54
Scheel, Heinrich, und Wirkung
55
Meinecke,
5
Friedrich,
« Reichel, Waltraut,
57
!*
Ebenda.
Die nationale Befreiungsbewegung, in: Das Jahr lii3. Studien
der Befreiungskriege,
Berlin 1963, S. 14.
Nekrolog Max Lehmann, a. a. O., S. 450. a. a. O., S. 68.
zur
Geschichte
68
Günter Vogler
müht war und dem König die Initiative im Befreiungskrieg zuwies 58 , hat Lehmann gerade diese Sicht überwunden. Führen wir uns zum Vergleich noch einmal seinen Standpunkt des Jahres 1875 vor Augen: „Durchaus zu brechen ist mit der hergebrachten Auffassung der preußischen Geschichte, welche, um das Licht der Epoche nach dem Tilsiter Frieden desto heller erscheinen zu lassen, auf die vorangehenden Dezennien die tiefsten Schatten legte. Jede Reform, welche gelingt, beweist eben dadurch, daß sie vorbereitet w a r . . , 59 . Vom Heer sagte er: „ . . . i n einen bewußten Gegensatz zu seinem Könige hat es sich nie gesetzt. Wie hätte es auch gekonnt? E s wäre eine Sünde wider seinen Geist gewesen." 6 0 Eine solche Darstellung war jetzt nicht mehr möglich. Sein Quellenstudium hatte ihn in Widerspruch zu seinen Lehrern und seinen eigenen einst ausgesprochenen Auffassungen gebracht. Damit hatte sich aber auch seine zu Beginn der Beschäftigung mit der Biographie Scharnhorsts formulierte Aufgabenstellung gewandelt. Das Bild der „vaterländischen" Geschichte zu. bereichern, hieß jetzt für ihn nicht mehr, den „deutschen Beruf" Preußens nachzuweisen, sondern die Legende von dieser besonderen Berufung zu zerstören. Sinnfällig zeigt diesen Wandel eine von Lehmann berichtete Episode, die sich während der Vorbereitung seiner Rede anläßlich der Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften zu Berlin zutrug: „Aus der Antrittsrede, die am Leibniz-Tage der Akademie Fazit und Programm meiner wissenschaftlichen Entwicklung darbieten sollte, entfernte ich auf stürmisches Verlangen von Sybel die These, daß, nachdem Deutschland durch Preußen geeint sei, die Historiker nicht mehr den deutschen Beruf Preußens zu beweisen brauchten; ich konnte in die Streichung willigen, denn es blieb genug übrig, um zu erkennen, wohin mein Schifflein steuerte." ei Mit der 1878/79 eingeschlagenen neuen Taktik gegenüber der Arbeiterbewegung und der endgültigen Preisgabe aller liberalistischen Tendenzen wurden auch die kleindeutschen Historiker die getreuesten Förderer der Bismarckschen Machtstaatspolitik. Diesen Weg ging Lehmann nicht. War die Scharnhorst-Biographie bereits Ausdruck der kritischen Haltung gegenüber der preußisch-deutschen Vergangenheit, so atmete auch seine Akademierede diesen Geist. Mit dem Blick auf Preußen und seine Geschichte erklärte er: „Die Entwicklung des Bruchteiles einer Nation kann nur begriffen werden aus der Entwicklung des Gesamtvolkes: also wird eine preußische Geschichte, die nicht beständig Rücksicht nimmt auf Deutschland, Torso bleiben." 6 2 Damit hatte er einen anderen Blickpunkt gewonnen als Sybel und Treitschke, die im Sinne Droysens fortfuhren, Preußens „Beruf für das Ganze" ideologisch zu unter-
58
Vgl. dazu Stressend, Joachim, Wirkungen und Beurteilungen der Befreiungskriege, in: Das Jahr iti), a. a. O., S. 243 f. 50 Lehmann, Max, Knesebeck und Schön, a. a. O., S. 287 f. Ebenda, S. 76. " Autobiographie, S. 220. Die Sätze fanden dann Aufnahme in Lehmanns Schrift „Friedrich der Große und der Ursprung des siebenjährigen Krieges", a. a. O., S. V. 05 Lehmann, Max, Antrittsrede, in: Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Akad. d. Wiss. zu Berlin, Nr. 33, 30. 6.1887, S. 634 f.
Max Lehmann
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bauen, weil sie allein darin die Rechtfertigung der Existenz des preußischen Staates sahen. 63 Mit dem Abschluß der Scharnhorst-Biographie trat in Lehmanns Entwicklung auch insofern eine Wende ein, als er jetzt, nach manchen gescheiterten Bemühungen, das erstrebte akademische Lehramt antrat. 1888 schied er - offenbar entgegen dem Willen Sybels - aus dem Archivdienst aus und nahm eine Berufung als Nachfolger von Max Lenz nach Marburg an. 64 B a l d danach ergingen weitere Anfragen an ihn, einen Ruf nach Straßburg oder Bonn anzunehmen, aber er war mit der errungenen Position zufrieden. A l s er 1893 dem Ruf nach Leipzig Folge leistete, war wohl der Gedanke ausschlaggebend, hier einen größeren Wirkungskreis vorzufinden. 65 Das Unverständnis für die Geschichtsauffassung K a r l Lamprechts veranlaßte ihn, Leipzig nach einem Semester bereits wieder zu verlassen. 66 Seiner neuen Wirkungsstätte Göttingen blieb er bis zu seinem Tode am 8. Oktober 1929 verbunden. Lehmann hatte sich als akademischer Lehrer schnell Achtung und Anerkennung erworben. A l f r e d D o v e konnte in seiner Begründung für eine Berufung nach Bonn schreiben: „ E r überragt als Erforscher, Darsteller und Lehrer moderner Geschichte im engeren S i n n . . . alle anderen, Treitschke selbstverständlich ausgenommen." 6 7 Auch K a r l Lamprecht hatte in seinem Gutachten ein außerordentlich positives Urteil abgegeben: „Seine Studien zeichnen sich durch Scharfsinn und klare Beweisführung aus; in seinen größeren Schriften, namentlich der Biographie Scharnhorsts erweist er sich als Geschichtsschreiber von warmer Darstellungsgabe, ausgebildetem Talent der Erzählung, reicher, gut gezügelter Phantasie." 6 8 In Göttingen setzte Lehmann den in der Forschung beschrittenen Weg der Abrechnung mit der borussischen G e schichtsauffassung fort, wie bereits die erste dort fertiggestellte Arbeit zeigte. Lehmann beschwor mit seiner 1894 veröffentlichten Schrift „Friedrich der Große und 83
Droysen, Jobann Gustav, Geschichte der Preußischen Politik, 1. Teil, 2. Aufl., Leipzig 1868, S. j. Autobiographie, S. 221. - Sybel unterstützte Lehmanns Berufung nicht, da er den schwer entbehrlichen Mitarbeiter nicht verlieren wollte. Althoff schrieb am 20.6.1888 an Sybel: „Jedenfalls aber dürfen Sie versichert sein, daß der Herr Minister nicht entfernt daran denken wird, Ihren Wünschen entgegen Herrn Lehmann, der uns ja sonst hochwillkommen sein würde, zu berufen." (Zit. nach: Schleier, Hans, Zur antidemokratischen Geschichtsideologie Sybels und Treitschkes, a. a. O., S. 368, Artm. >40). Treitschke schrieb am 28. 7.1884 über Lehmann an Dove: „Es ist ein Jammer, ihn hier seit vielen Jahren im Frohndienste des Archivs und der Hist. Ztschr. sich aufreiben zu sehen, wahrend er doch auf das Katheder gehört" (Treitschke, Heinrieb v., Briefe, a. a. O., S. J6J). Vgl. auch Autobiographie, S. 221. 65 Diesen Grund hatte er bereits 1890 in einem Brief an Althoff genannt (DZA Merseburg, Rep. 92, Althoff, B110, Bd. 2, 16.5.1890). 66 Vgl. dazu unten die Ausführungen über Lehmanns Leipziger Antrittsvorlesung. In der Autobiographie, S. 222, nennt Lehmann als einen der Gründe für seinen Weggang von Leipzig „die tyrannischen Neigungen des Spezialkollegen im Verein mit dem sinkenden Respekt vor dessen wissenschaftlichen Qualitäten". Zur Berufung nach Leipzig vgl. auch Schönebaum, Herbert, Karl Lamprecht, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 37, 19;;, S. 271. " Dove, Alfred, Ausgewählte Aufsätze und Briefe, hg. von Friedrich Meinecke und Oswald Dammann, Bd. 2, München 1925, S. 135. 88 Zit. nach Reichel, Waltraut, a. a. O., S. 169, Anm. 19.
M
Günter Voglet
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der Ursprung des siebenjährigen Krieges" einen Streit herauf, der die Situation der borussischen Geschichtsschreibung grell beleuchtete. Der Anstoß zu Lehmanns Darlegungen war durch das Studium des streng geheimgehaltenen Politischen Testaments Friedrichs II. von 1752 gegeben worden.'In seiner Autobiographie berichtet Lehmann: „ . . . ich werde die Stunde nicht vergessen, da ich in Friedrichs Testament politique von 1752 den Abschnitt las, der von seinen Eroberungs- und Annexionsabsichten handelte. Hieraus entnahm ich sofort, daß die von den preußischen Historikern entworfene Charakteristik des größten preußischen Monarchen unvollständig und falsch sei - eine Wissensbereicherung, die nicht isoliert bleiben konnte, sondern sich umsetzte in Mißtrauen gegen die landläufige Darstellung auch der übrigen Perioden preußischer Geschichte." 69 Das einmal gehegte Mißtrauen führte Lehmann zur weiteren Beschäftigung mit dem Fragenkomplex, so daß er 1890/91 in Seminarübungen zu den Ergebnissen gelangte, die er 1894 der Öffentlichkeit vorlegte. 70 Noch vor Erscheinen des Buches schrieb er an Hans Delbrück: „Nächstens hören Sie von mir - es wird einen Mord-Skandal geben, die ganze Rotte der Borussen und orthodoxen Friderizianer wird mich zu zerfleischen suchen." 7 1 Diese Befürchtung wird sofort verständlich, wenn man im Vorwort seiner Schrift liest, es sei seine Absicht, „den echten Friedrich aus den echten Urkunden zu zeigen" im Gegensatz zu dem „unechten Friedrich der Orthodoxie". 72 Seine Hauptthese besagt: „Zwei Offensiven also waren es, die 1756 aufeinander trafen: die der Maria Theresia gerichtet auf den Wiedergewinn von Schlesien, die von Friedrich auf die Eroberung von Westpreußen und Sachsen." 7 3 Zum Beweis analysiert er die Situation der preußischen und österreichischen Armee, das diplomatische Verhältnis beider Staaten zu Frankreich und Rußland, die Rüstungen des Sommers 1756, die Vergrößerungspläne nach dem Politischen Testament von 1752 und die anschließende Politik Friedrich II., wobei er die oft zitierte „Friedensliebe" des Königs dahingehend deutet, daß seine Politik „das ihr oft gespendete Prädikat der Friedlichkeit nur für die sieben Jahre von 1746 bis 1 7 5 2 " verdiene. 74 D a Lehmann damit an Grundfragen des preußischen Geschichtsbildes gerührt hatte, traten die Verfechter der Hohenzollernlegende auf den Plan, um ihn in die Schranken zu weisen. Sie inszenierten eine systematische Kampagne gegen Lehmann, die nicht os
71
7ä
" 74
Autobiographie, S. 218. Offenbar ist Lehmann das Politische Testament Friedrichs II. vor iSS; noch nicht zugänglich gemacht worden. Das muß man aus seinem Aufsatz schlußfolgern: Zui Charakteristik des Siebenjährigen Krieges, in: HZ, Bd. 61. 1889, S. Z90 f. - Vgl. zur Problematik des Politischen Testaments von 1752 ausführlich: Bosbach, Erika, Die .rêveries politiques' in Friedrichs des Großen Politischem Testament von 1752, Köln-Graz i960. Vgl. Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybcl, 27. 2.1895. Deutsche Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlaß Hans Delbrück. Lehmann an Delbrück, 2. 6.1894 (Die im Nachlaß befindlichen Briefe sind jahrgangsweise gebündelt und innerhalb der ein zelnen Jahrgänge alphabetisch geordnet.) Lehmann, Max, Friedrich der Große und der Ursprung des siebenjährigen Krieges, a. a. O. S. VII. Ebenda, S. 85. Ebenda, S. 70.
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auf die wissenschaftlichen Streitfragen beschränkt blieb. Als erster trat Albert N a u d é auf, da Lehmanns Schrift vor allem gegen ihn gerichtet war. Lehmann hatte ihm vorgeworfen: „ E r zitiert falsch, er übersetzt falsch, er vergißt wichtige Urkunden, die ihm notorisch bekannt gewesen sind, er unterläßt es, sich aus leicht zugänglichen Akten zu unterrichten." 7 5 In scharfer Polemik erklärte Lehmann: „Nach unsrem Autor darf also kein .preußischer' Historiker von der in Preußen durch Manifeste und Staatsschriften begründeten Tradition abweichen." 7 6 Dies richtete sich nicht nur gegen Naudé, damit attackierte Lehmann die borussische Geschichtsschreibung insgesamt, was die einmütige Abwehrreaktion erklärt. Naudé antwortete zunächst mit einer „Erklärung", in der er sich verteidigte und das vernichtende Urteil Lehmanns aus „persönlicher Gegnerschaft und verbitterter Stimmung" zu deuten suchte. 77 N a u d é spielte damit $uf die Auseinandersetzungen in der Marburger Fakultät im Zusammenhang mit seiner Berufung an. Lehmann hatte im Auftrage der Fakultät ein Gutachten angefertigt, in dem er sich energisch gegen eine Berufung Naudés wegen angeblich mangelnder wissenschaftlicher Qualifikation verwahrte. 7 8 Dies brachte ihm schwere Vorhaltungen Sybels ein, der ihn vor die Alternative stellte: „Entweder Sie erklären auch mich für einen bewußten oder unbewußten Lügner, oder Sie halten sich nach den mir gegebenen Aufschlüssen als Ehrenmann verpflichtet, der Fakultät zu erklären, daß Sie sich den dort in Umlauf befindlichen Gerüchten über Naudés Charakter angeschlossen, jetzt aber die Beweise für deren Grundlosigkeit und Naudés Ehrenhaftigkeit erhalten hätten." 7 9 Lehmanns hier behandelte Schrift fußte auf dem Fakultätsgutachten und bot Naudé somit Anlaß, zunächst seine Person zu verteidigen. In einem weiteren Beitrag hat er dann auf Grund eingehender Quellenstudien Lehmann ausführlich geantwortet. 80 Naudé schrieb: „Ich darf ruhig und siegessicher der weiteren Entwicklung dieses Kampfes entgegensehen. Immer höher werden sich im Verlauf meiner Arbeit die Anklagen auftürmen." 8 1 Schließlich triumphierend: „Und wie an der alten historischen Methode, so meine ich, halten wir auch an dem alten Friedrich fest, wie ihn schon Rankes Meisterhand in den Hauptzügen gezeichnet hat, ohne uns durch gehässige 55
Ebenda, S. 159. -
D i e Kritik bezog sich auf den Aufsatz von Naudé,
Albert,
Friedrich der
Große vor dem Ausbruch des Siebenjährigen Krieges, in: H Z , B d . 55, 188;, S. 425-462, u. Bd. 56, 1886, S. 404-462. 70
Lebmann,
Max,
Friedrich der Große und der Ursprung des siebenjährigen Krieges, a. a. O.,
S. 139. 77
Naudé,
Albert,
Erklärung, in: Deutsche Literatur-Zeitung ( D L Z ) , J g . 15, N r . 46, 1894, Sp. 1469.
Eine Erwiderung Lehmanns erfolgte in N r . 48, Sp. JIJI f. Mit Koser und Wiegand setzte sich Lehmann auseinander in: Göttingische gelehrte Anzeigen, 189), B d . 1, S. 106 f. 78
In Lehmanns Gutachten für die Fakultät hieß es z. B . : „ N a u d é hat keine Ahnung davon, daß die Wahrheit weder preußisch noch österreichisch, sondern eben nur die Wahrheit ist" (Zit. nach Kaebler,
" s
Siegfried
August,
a. a. O., S. 24).
Nachlaß Sybcl, Sybel an Lehmann, 9. 3.1893, Abschrift.
Naudé,
Albert,
Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Siebenjährigen Krieges, in: Forschungen
zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichtc, ( F B P G ) , B d . 8, 1895, S. 523-618, u. B d . 9, 1896, S. 101-329. 81
Ebenda, Bd. 8, S. 616.
Günther Vogler
7*
Angriffe auf den .Legendenglauben' beirren zu lassen." 8 2 Namhafte Historiker sekundierten Naude und brachen in Rezensionen zu Lehmanns Schrift über diesen den Stab. 83 Lehmann hat sich verteidigt und seinen Standpunkt zu unterbauen gesucht. Anfangs war er sehr optimistisch hinsichtlich der Wirkung seines Auftretens gewesen. Im November 1894 äußerte er gegenüber Delbrück, er werde Naude in der Deutschen Literaturzeitung „mit ein paar Keulenschlägen abtun". 84 Einen Monat später urteilte er, er habe „das nicht unbehagliche Gefühl, auf der ganzen Linie Sieger zu sein". 85 Zu Neujahr sandte er Delbrück den übermütigen Gruß: „Ich sage Ihnen, es bereitet mir ein unsagbares Vergnügen, meine Gegner einen nach dem anderen abzuschlachten, und die Skalpe an meinem Gürtel zu befestigen." 8 6 Anders klingen seine Worte im November 1896, nachdem er in den Göttingischen gelehrten Anzeigen noch einmal Stellung genommen hat: „Hoffentlich ist es das letzte Mal, daß ich genötigt bin, in dieser Sache das Wort zu ergreifen; ich habe längst die peinliche Empfindung, niemanden mehr zu überzeugen und kostbare Arbeitstage zu verlieren." 87 So verstärkten sich bei Lehmann mit der Zunahme der Kritiker und der massierten Verteidigung des hohenzollernschen Geschichtsbildes die Tendenzen der Resignation. Naud6 hatte geschrieben: „ D i e .Legende' vom preußischen Notwehrkrieg ist . . . doch nicht in Trümmer geschlagen worden, - sie steht neugefestigt aufrecht, ungleich stärker begründet als je zuvor." 88 Bei allen Wandlungen, die die preußische Geschichtsschreibung nach der Reichseinigung von oben durchgemacht hatte, erwies sich jetzt, daß sie an ihren Grundpositionen festhielt und nur beweglicher in der Argumentation und etwas undog8S
Ebenda, Bd. 9, S. 29?. In diesem Bestreben vereinten sich - im einzelnen differenziert, im ganzen aber einer Meinung Bailleu, Berner, Jahns, Koser, Mareks, Philippson, Schmoller, Wiegand u. a. Die Methoden, "deren man sich bediente, werden am besten durch einen Brief Lehmanns an Delbrück v. 28.10.1894 charakterisiert: „Soeben erfahre ich aus zuverlässiger Quelle, daß während des Sommers zwischen Koser, Mareks und Naud£ über die Vernichtung meiner Schrift F. d. Gr. u. d. Ursprung d. 7|. Kriegs', von der die Herren auch nicht einen Satz kannten, verhandelt worden ist. Koser wird mich, in dem nächsten Hefte der Histor. Zeitschr. abschlachten, Naude in den Forschungen, Mareks irgendwo sonst. Naudi hat die unglaubliche Naivität besessen, hinter meinem Rücken durch eine heuchlerische Redewendung sich ein Exemplar vom Verleger vor der allgemeinen Ausgabe der Schrift erschleichen zu wollen: in d e r . . . Absicht, mich zu töten, ehe ich auch nur das Licht der Welt erblickte." (Nachlaß Delbrück). An Althoff schrieb Naude über seine Entgegnung am 24.12.1S95: „Ich habe schon jetzt die Genugtuung, daß die Herren Prof. Schmoller, Mareks, Koser, denen ich die Korrekturbogen übersandte, die Arbeit als vollkommen durchschlagend und, wie der Ausdruck lautete, als geradezu vernichtend für das Verfahren des Prof. Lehmann in diesem Streite bezeichneten:" (DZA Merseburg, Rep. 92, Althoff, B 1 ) 6 , Bd. 1). 84 Nachlaß Delbrück. Lehmann an Delbrück, 19.11.1894. 83 Ebenda, 29.12.1894. s< Ebenda, 1.1.1891. 81 Ebenda, 2 6 . 9 . 1 8 9 6 . Vgl. auch Göttingische gelehrte Anzeigen, Jg. 158, 1896, S. 139-151 u.
93
81J-834. 88
Naude, Albert, Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Siebenjährigen Krieges, a. a. O., S. 293.
Max Lebmann
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matischer in einigen Detailfragen geworden war. So sind die Worte Lehmanns nur zu unterstreichen, die er 1896 niederschrieb: „Ich erwarte eine Besserung erst von einem Umschwünge in der gesamten Behandlung der preußischen Geschichte." 89 Mehring konstatierte in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Lessing-Legende von 1906, daß die „Auflösung der friderizianischen Legende seit dem Jahre 1892 erfreuliche Fortschritte gemacht" habe.90 Dabei hatte er auch Lehmanns Schrift im Auge. Die von Lehmann ausgelöste Kontroverse war ein Spiegelbild des Zustandes und der Krise der bürgerlichen Geschichtsschreibung am Vorabend des Übergangs zum Imperialismus. „Es bedurfte nicht mehr der überspannten Prussomanie eines Droysen und Treitschke, die vornehmlich' den äußeren Machtanspruch Preußens gegenüber den anderen Staaten, besonders Österreichs betont hatten, als vielmehr einer Rechtfertigung der Autoritätsansprüche der junkerlich-großbürgerlichen Koalition gegenüber den demokratischen Kräften, besonders der Arbeiterklasse." 9 1 Mit dem Aufschwung der deutschen Arbeiterbewegung nach dem Sturz des Sozialistengesetzes waren auch neue Bedingungen für die Ausarbeitung und Durchsetzung eines fortschrittlichen Geschichtsbildes entstanden. Die Aktualität von Mehrings „LessingLegende" ergab sich aus der Tatsache, daß er bei der Analyse der friderizianischen Politik deren Klassenwurzeln aufdeckte und die bewegenden Kräfte des historischen Prozesses aufzeigte. Lehmanns Bemühungen gingen zwar niemals so weit, fügten sich aber in den Gesamtprozeß der Gewinnung eines wissenschaftlichen Geschichtsbildes ein. Daß es Lehmann nicht nur um eine neue Variante des alten Geschichtsbildes ging, wie das bei den meisten der Fall war, die sich jetzt aus politischen Opportunitätsgründen mit der Vergangenheit auseinandersetzten, zeigt die Haltung Lehmanns in dem Konflikt mit Sybel, in dem zugleich die Methoden der Verfechter der Machtstaatspolitik sichtbar wurden. Lehmann war seit 1875 Mitarbeiter der „Historischen Zeitschrift", hatte diese im Namen Sybels redigiert und einen großen Teil seiner Arbeiten dort veröffentlicht. 92 Auch stimmte er im wesentlichen mit dem von Sybel im ersten Heft 1859 formulierten Programm überein, das sich gegen Feudalismus, Radikalismus und Ultramontanismus richtete.93 Lehmann hatte sich um die Herausgabe der Zeitschrift verdient gemacht und sprach 1889 gegenüber Sybel die Bitte aus, seinen Namen mit auf das Titelblatt der Zeitschrift zu setzen, was in den nächsten Heften auch geschah.94 Lehmann galt als der s
* Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 26. 9.1896. Mehring, Franz, Die Lessing-Legende, a. a. O., S. 15. 81 Schilfert, Gerhard, Zur neueren Geschichte an der Berliner Universität, in: Wiss. Zeitschr. Univ. Berlin, Beiheft Jg. 1959/60, S. 21. ,f Die meisten Beiträge Lehmanns zwischen 1877 und 1891 waren in der H Z veröffentlicht worden; manchmal waren es zwei und drei in einem Band. Meinecke urteilte, Lehmann habe „der Zeitschrift rasch und erfolgreich sein eigenes Wesen eingeprägt" (Meinecke, Friedrich, Nekrolog Max Lehmann, a. a. O., S. 449). " Vgl. dazu Scbieder, Theodor, Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der Historischen 90
w
Zeitschrift, in: HZ, Bd. 189, 1959, S. 4. Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybel, 28.4.1889. - Die Bände 62-70 (1889-1893) tragen neben Sybels auch Lehmanns Namen.
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aussichtsreichste Anwärter für die Nachfolge als Herausgeber 9 5 bis zu dem Zeitpunkt, als Sybel von Lehmann die Zurücknahme der Beschuldigungen gegen Naudé verlangte. Da er dies ablehnte M , erklärte Sybel, jede weitere Verständigung zwischen ihnen sei unmöglich: „ . . . mit großem Kummer sehe ich jetzt, daß Sie allmählich in allen diesen Beziehungen zu Auffassungen gelangt sind, die zu den meinigen in diametralem Gegensatz stehn." Er sehe keine Möglichkeit für „die Fortsetzung eines gemeinschaftlichen Wirkens", womit er die weitere Teilnahme Lehmanns an der Herausgabe der „Historischen Zeitschrift" meinte. 97 Lehmann lehnte es ab, eine Erklärung in der Zeitschrift zu veröffentlichen, daß er auf Grund der Übernahme einer neuen akademischen Stellung von der Redaktion zurücktrete: „Denn der Grund meines Ausscheidens ist ein anderer." 9 8 Er sah sich auch nicht veranlaßt, als Autor weiter in der Zeitschrift in Erscheinung zu treten. Als Meinecke, sein Nachfolger in der Redaktion, an ihn mit der Bitte um eine Rezension herantrat, antwortete Lehmann: „Ich darf mir wohl das Zeugnis ausstellen, daß mein Herz frei von Bitterkeit gegen H. v. Sybel ist; aber die Motivierung des Abschiedes, den er mir erteilte... war so peremtorisch, daß ich glauben würde, mir etwas zu vergeben, wenn ich neue Verpflichtungen gegenüber der Hist. Ztschr., deren Herausgeber er doch ist, übernehmen würde." 9 9 Der Bruch mit dem führenden Organ der bereits zur imperialistischen Politik tendierenden Geschichtswissenschaft war kein Zufall, sondern ein Symptom für die Krise. Lehmanns wissenschaftliche Bemühungen stellen den Versuch dar, neben dem Kampf der Arbeiterbewegung um ein nationales Geschichtsbild einen liberalen Standpunkt zu gewinnen und zu verteidigen. Dieses Bemühen brachte Lehmann in Gegensatz zur i 95
Vgl. Schiedet,
98
Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybel, 21.3.1893. - Lehmann schrieb: „Ihr letzter B r i e f . . . hat
Theodor,
a. a. O., S. 14.
mich auf das tiefste verletzt. Ich verdiene die mir gemachten Vorwürfe nicht, denn ich habe nichts als meine Pflicht getan. Die Alternative, die Sie mir stellen, muß ich ablehnen. Die Argumente, die Sie zu Gunsten von Naudé geltend machen, haben mich nicht überzeugt. Ich halte an meinem ungünstigen Urteil sowohl über seinen Charakter wie über seine wissenschaftliche Befähigung fest. Das Gutachten, das ich der Marburger Fakultät erstattet habe, ist wie .sich das bei einem nahezu fünfzigjährigen Manne versteht, auf das sorgfältigste erwogen; ich nehme kein Wort davon zurück und werde" es literarisch nachdrücklich verteidigen." Schieder, Theodor, 98
a. a. O., S. 75 f., Anlage Nr. 3.
Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybel, 27.3.1893. -
Lehmann schrieb am 27.3.1893
a
n
Kehr:
„Welche Interessen findet er bedroht? Will er sich um jeden Preis Liebeskind bei der Regierung machen, die ihn alle Tage aus seinem Amte entfernen kann? Oder spricht die Schwäche des Alters hinein?" ( D Z A Merseburg, Rep. 92, Kehr, A I Nr. 7, Lit. L). - Außer den Differenzen über die Fortführung der Publikation „Preußen und die katholische Kirche" kam es 1890 zwischen Lehmann und Sybel zum Konflikt wegen eines Aufsatzes von Lamprecht, den Lehmann in die H Z aufgenommen hatte. 1892 beschwor Lehmann Sybel, Belows Rezension über Lamprechts „Deutsche Geschichte" nicht in die Zeitschrift aufzunehmen und drohte mit seinem Rücktritt aus der Redaktion. Das Ausscheiden aus der Redaktion 1893 war also nur die Konsequenz eines schon länger schwelenden Konflikts. Vgl. dazu Schleier, Hans, Zur antidemokratischen Geschichtsideologie Sybels und Treitschkes, a. a. O., S. 366, Anm. 108; S. 273 f. M
Schieder, Theodor,
a. a. O., S. 79, Anlage Nr. 6.
Schönebaum,
Herbert,
a. a. Q.,
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preußischen Geschichtstradition. So wurde sein Wirken auch bereits von seinen Zeitgenossen gesehen. Karl Lamprecht schrieb in seinem Gutachten, Lehmann habe „die preußische Legende über die Jahre 1806 bis 1813 noch von Berlin aus ins Wanken gebracht". 100 Friedrich Meinecke urteilte später, Lehmann habe schon im zweiten Band der Scharnhorst-Biographie „die Bahn beschritten, die ihn von Treitschke und von dem bisherigen Borussismus in der Geschichtsschreibung innerlich entfernte". 101 Mehring war zu der Auffassung von der Geschichte als einer Geschichte -von Klassenkämpfen gelangt, sein Weg hatte ihn an die Seite und in die Reihen der revolutionären Arbeiterbewegung geführt. Lehmanns Versuch der Reaktivierung eines liberalen Geschichtsbildes wies ihm keinen Ausweg. Seine' Grundhaltung, die ihn von den führenden Vertretern der bürgerlichen Geschichtsschreibung abhob und entfernte, gab ihm keine echte Perspektive, sondern mußte unter den Bedingungen der imperialistischen Klassenherrschaft zu Resignation und Isolierung führen. Noch einmal wandte sich Lehmanns Interesse einer großen Persönlichkeit aus der Zeit der Reform und der Befreiungskriege zu, oder richtiger: gewann die seit den Jugendtagen gehegte Neigung für diesen Mann die Oberhand. Dieses schon einmal bekundete Interesse an der biographischen Darstellung findet seine Erklärung nicht nur in einer Vorliebe für bestimmte historische Persönlichkeiten, sondern hat auch methodologische Wurzeln. In seiner Antrittsvorlesung in Leipzig hatte Lehmann, ohne den Namen Karl Lamprechts zu nennen, gegen diesen polemisiert, indem er über Geschichte und Naturwissenschaften sprach und den Versuch zurückwies, Gesetzmäßigkeiten auf das Gebiet der Geschichte zu Überträgen. E r lehnte das Eindringen materieller Gesichtspunkte in die Geschichtswissenschaft ab, erklärte die Persönlichkeit zum eigentlichen Gegenstand der Geschichte und sprach sich gegen eine erkennbare fortschreitende Entwicklung in der Geschichte aus. Lamprecht antwortete schon am nächsten Tag in seiner Vorlesung mit der Erklärung, daß die Persönlichkeit durch das Zuständliche gebunden sei und nur dessen Behandlung eine extrem individualistische und eine extrem materialistische Betrachtungsweise verhindern könne. 102 Lehmann hatte sich zwar in seiner Akademierede dafür ausgesprochen, „zur Erforschung der unsichtbaren Beweggründe der handelnden Personen, zur Auffindung der Bedingungen alles individuellen Schaffens, zur Ergründung der Zusammenhänge zwischen dem politischen und dem geistigen Leben eines Volkes, zur künstlerischen Abbildung der Personen, der Völker, der Zeitalter" vorzudringen. 10 » Das schloß aber nicht die Anerkennung eines gesetzmäßigen historischen Prozesses ein. Der Stellung und dem Wirken der Persönlichkeit in der Gesellschaft galt seine Frage. Da er aber das „Zuständliche" in die Untersuchung einbezog, war der Graben zwischen 100 101 105
103
Zit. nach Reichel, Waltraut, a. a. O., S. 169, Anm. 19. Meinecke, Friedrieb, Erlebtes, a. a. O., S. 164. Scbönebaum, Herbert, a. a. O., S. 273 f. - Lehmann beabsichtigte zunächst, seine Antrittsvorlesung sofort drucken zu lassen. Ein Brief Lehmanns an Kehr vom 12.5.1893 erklärt, warum dies unterblieb: „Sie werden mich nicht schelten, wenn ich, um die Zahl meiner Widersachei nicht zu vermehren, von einem Druck meiner Antrittsrede absehe. Selbsterhaltung! Hier bin ich in wenigen Jahren tot" (Nachlaß Kehr). Lebmann, Max, Antrittsrede, a. a. O., S. 634.
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Lamprecht und ihm offenbar nicht so tief, wie er meinte, wenn beide auch von verschiedenen Richtungen aus herangingen. Unter diesen Vorzeichen begann Lehmann mit der Erforschung der Biographie des Freiherrn vom Stein, des deutschen Patrioten, in dessen Wirken sich alle Probleme dieses einschneidenden Abschnitts der deutschen Geschichte spiegeln. A m i . M ä r z 1888 hatte Lehmann die Erlaubnis zur Benutzung des preußischen Geheimen Staatsarchivs für seine Forschungen erhalten. 104 Aber sein Interesse für die Persönlichkeit Steins reichte mehr als zwei Jahrzehnte weiter zurück. In seiner Autobiographie erzählt er, wie er im Sommer 1865 auf dem Wege von Bonn nach Berlin in Nassau weilte und am Grabe des Reichsfreiherrn stand, von dem er bekennt, daß er ihn schon längst liebte. 1 ® 5 Immer wieder klagt er, daß zahlreiche Verpflichtungen ihn hinderten, die Arbeit in Angriff zu nehmen: „ . . . es ist mein heißer Wunsch, mich bald an die Biographie Steins machen zu dürfen", offenbart er Sybel im März i89O. 10e Obwohl bereits seit langem das fünfbändige Werk von G . H. Pert2 vorlag, hatte Lehmann sich dieses große Ziel gestellt, weil er der Auffassung war, „daß die von Pertz verfaßte Biographie Steins weder wissenschaftlichen noch künstlerischen Anforderungen entspricht". 1 ® 7 Nach zwölf Jahren lag der erste Band vor, und 1905 war die Wissenschaft um das dreibändige Gesamtwerk reicher. 1 ® 8 In noch größerer Ausführlichkeit als im Falle Scharnhorsts würdigte Lehmann die gesamte Entwicklung und Tätigkeit Steins und analysierte vor allem sein reformerisches Wirken. Der zweite Band war ausschließlich der Reform der Jahre 1807 und 1808 vorbehalten. Dabei sprengte Lehmann den engeren Rahmen einer biographischen Darstellung, indem er den Zustand des Staates und die' politische Situation zu den verschiedenen Zeiten ausführlich charakterisierte und auch die Mitarbeiter und Gegenspieler Steins in umfassender Weise in die Betrachtung einbezog. So entstand das Bild Steins aus der Synthese seiner persönlichen Entwicklung und seines politischen Wirkens auf dem Hintergrund der preußischen und europäischen Politik. Lehmann spürt in besonderem Maße den Aktionen nach, die Licht auf Steins Tätigkeit auf den verschiedenen Gebieten der Verwaltung werfen, sei es nun seine Tätigkeit im BergbauDepartement, bei der Märkischen Kammer, als Oberpräsident in Minden und Münster oder als Minister des Generaldirektoriums. Immer versucht Lehmann herauszuarbeiten, „daß bereits die späteren Reformideen in seiner Seele wuchsen". 1 0 9 Auch in der Stein-Biographie konfrontiert Lehmann den König und Stein, so wie er es zuvor im Falle Scharnhorsts und der anderen Patrioten getan hatte: „ D e r eine bedacht auf die Rettung der deutschen Nation und der abendländischen Völkergemeinschaft, von den höchsten Ideen der Menschheit geleitet, durch tiefe Neigung 104
Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybel, 26. 3.1890. Autobiographie, S. 213. ' 10 * Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybel, 15. 3. 1890. 107 D Z A Merseburg, Rep. 76, V a, Sekt, n , Tit. 4, Nr. 2, Bd. 8, Lehmann an Althoff, 2.1.1890. 106 Lehmann, Max, Freiherr vom Stein, 1. Teil: Vor der Reform 1757-1807; J.Teil: Die Reform 1807-1808; 3. Teil: Nach der Reform 1808-1831, Leipzig 1902-190J. 1921 erschien in 1. Auflage eine gekürzte einbändige Ausgabe. 105
,M
Ebenda, Bd. 1, S. 177.
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und unauflösliche Bande an das Ewige gekettet; der andere auch religiös veranlagt, aber vorlieb nehmend mit dem engen Kreise.der Alltäglichkeit, von der ihn besonders anzog die militärische Schaustellung, und niemals sein Auge über die Grenzen des ererbten Reiches erhebend. Der eine zu den gewaltigsten Gestalten der modernen Geschichte gehörend, der andere ein Durchschnittsfürst." 110 Mit der Niederlage des alten Preußen 1806 wurde eine wichtige Vorbedingung für die Reform geschaffen: „So schwes das Geständnis einem patriotischen Herzen wird, erst mußte das mit den Ansprüchen der absoluten Monarchie und den Aspirationen des Erbadels so eng verbundene friderizianische Heer auf dem Schlachtfelde unterlegen sein, ehe von einer Reform im Ernste die Rede sein konnte." 1 1 1 In der Nassauer Denkschrift vom Juni 1807 formulierte Stein wesentliche Gedanken eines Reformprogramms. „Stillschweigende Voraussetzung bei alle dem war, daß der gegenwärtig regierende Monarch nicht im Stande sei, den belebenden Impuls selbst Zu erteilen." 1 1 2 Als Stein wieder in die Regierung eintrat, begann die Periode, die ihn zur vollen Entfaltung seiner Persönlichkeit bei der Durchführung der Agrarreform, der Reorganisation der Staatsverwaltung und der Einführung der Städteordnung führte. Noch einmal siegte jedoch die Reaktion. 1 1 3 Stein mußte Preußen verlassen und förderte von Rußland aus die Vorbereitung der Befreiung Deutschlands vom fremden Joch, widmete seine Kraft dem Werk der Neuordnung der deutschen Verhältnisse und beschäftigte sich mit Verfassungsplänen. Lehmann setzt mit der Stein-Biographie die bereits bei der Darstellung von Scharnhorsts Wirken sichtbar gewordene Linie fort. E r sieht alle Aktionen im Zusammenhang mit der Erhebung der Nation: „Preußen sowohl wie Österreich sind ihm nur Mittel zum Zweck; Deutschland, ist es, das er erheben w i l l . " 1 1 4 An anderer Stelle lesen wir, die Steinschen Reformen gipfelten „in der Nationalisierung des preußischen Gemeinwesens", in den Denkschriften und Ratschlägen der Staatsmänner sei „Deutschland an die Stelle von Preußen" getreten. 115 E r formulierte seine Absage an die Politik Friedrich Wilhelms III. noch schärfer als zuvor und verwarf jetzt vor allem auch die autokratische Staatsform und das absolutistische Regiment. E r hob hervor: „was Stein in der Nassauer Denkschrift vorschlug, wich auf das stärkste von dem absolutistisch-bürokratischen Prinzip des preußischen Staates ab." 1 1 8 So sieht er auch die Grundlage des Konfliktes zwischen Stein und dem König 1807 in der Frage nach der Fortdauer oder Beschränkung der absoluten Monarchie. 117
111
113
Ebenda, S. 454. Ebenda, Bd. 2, S. 6 } . Ebenda, S. 67. Lehmann schrieb, daß Stein gegen „die preußischen Partikularisten und Reaktionäre" aus der
Umgebung des Königs - „zusammengesetzt aus Nichtigkeit und vielleicht aus Perfidie" - fechten mußte (Ebenda, Bd. 5, S. 257 f.). " « Ebenda, Bd. 1, S. 308. 1,5
117
Ebenda, Bd. 2. S. 555. Er übernahm diese Worte auch in seine Gedenkrede auf das Jahr 181}: Lehmann, Max, Die Erhebung von 181J, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 151, 1913, S. 405. Derselbe, Freiherr vom Stein, a. a. O., Bd. 2, S. 77. Ebenda, Bd. 1, S. 452.
7»
GQnter Vogler
A u f f ä l l i g ist die scharfe Absage an den Militarismus. E r nennt einmal den preußischen Staat ein „erzmilitärisches G e m e i n w e s e n " 1 1 8 und formuliert als Aufgabe für die Reform des bisher von der Armee bevormundeten und beherrschten Staates: „Dieser Militarismus mußte, wenn das neue auf Entfesselung der individuellen K r ä f t e gerichtete System der Staatsverwaltung Wurzel schlagen sollte, gebrochen werden." 1 1 9 An diesem Urteil wird sichtbar, wie der Übergang zur imperialistischen Machtpolitik auch Lehmann manche historischen Erscheinungen -schärfer sehen ließ. Der Vergleich mit Gerhard Ritters Auffassung vom Ursprung des Militarismus in der Französischen Revolution verdeutlicht die progressiven Züge der Anschauungen Lehmanns. Ritter hat bekanntlich den Versuch unternommen, das friderizianische Preußen vom Militarismus freizusprechen, dafür aber die französische Revolutionsarmee für dessen Entstehen verantwortlich zu machen. 1 2 0 Dies dokumentiert beispielhaft den Abstieg der bürgerlichen Geschichtsschreibung in der Epoche des Imperialismus, der in die Geschichtsfälschung einmündet. Auf der Suche nach den Kriterien für sein Urteil über das Reformwerk fand Lehmann immer wieder zu den Ereignissen der Französischen Revolution zurück. Deren Gesetzgebung brachte er besonderes Interesse entgegen. Lehmann vertritt den Standpunkt, daß die Patrioten sich von der Französischen Revolution besonders angezogen fühlten, denn sie „wollten für ihr Vaterland die Machtstellung erreichen, die jene Gesetze für Frankreich bewirkt hatten". 1 2 1 E r sagt, daß auf Grund der Quellen „di^ auffällend starke Anlehnung der preußischen Reformer an die Ideen von 1789 festgestellt werden k o n n t e " 1 2 2 , und verweist zum Vergleich insbesondere auf die Gesetzgebung der Konstituante.'Ferner vertritt er die Auffassung, daß Stein, Scharnhorst und Gneisenau sich nicht nur zusammenfanden „in dem Entschlüsse, das Vaterland zu befreien, sondern auch in der Wahl des wichtigsten der Mittel, die dies bewirken sollten: in der Nachahmung des revolutionären Frankreichs". 1 2 ' Mit dieser Auffassung verursachte Lelimann erneut eine Kontroverse, die an polemischer Schärfe der vorangegangenen über die Ursachen des Siebenjährigen Krieges nicht nachstand, wenn sie auch nicht so stark in den Vordergrund rückte. Ernst von Meier bestritt energisch, daß Steins Gesetzgebung in der Hauptsache eine Nachahmung der Französischen Revolution und der Gesetzgebung der Konstitutante gewesen sei. Obwohl Lehmann damit allgemeinen Beifall gefunden habe, erscheine ihm diese Art der Behandlung des Gegenstandes „als der volle Gegensatz zur geschichtlichen Wahrheit". 1 2 4 Sein zweiter Vorwurf galt der Darstellung des preußischen 118 Ebenda, S. 388. » • Ebenda, Bd. 2, S. 542. HO Vgl. dazu Ritter, Gerhard, Das Problem des Militarismus in Deutschland, in: HZ, Bd. 177, 1954, S. 27 f., derselbe, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus" in Deutschland, München 1954, S. 61 f. 181 Lebmann, Max, Freiherr vom Stein, a. a. O., Bd. i, S. 548. Ebenda, S. VI. Ebenda, S. 552. 1M Meier, Ernst v., Französische Einflüsse auf die Staats- und Rechtsentwicklung Preußens im XIX. Jahrhundert, Bd. 2: Preußen und die französische Revolution, Leipzig 1908, S. V. - Vgl. auch Autobiographie, S. 223.
Max Lehmann
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Staates im 18. Jahrhundert, von dem Lehmann angeblich „ein grau in grau gemaltes Bild entwirft und so den Hintergrund schafft, auf dem die Französische Revolution und die preußische Reform sich um so heller abheben". 1 2 5 Zum dritten wendet er ein, „man möge mit Stein keinen sinnlosen Personenkultus treiben". 1 2 * Wie sind diese kritischen Einwendungen zu beurteilen? Lehmann hat eine Biographie Steins geschrieben, die diesen als deutschen Patrioten zeigt. Wegen der aus diesem Grunde für seinen Helden bekundeten Sympathie kann Lehmann wohl schwer der Vorwurf gemacht werden, mit Stein einen neuen Kult getrieben zu haben, zumal sein Ziel ja gerade darin bestand, den Kult um Friedrich Wilhelm III. zu zerstören. Lehmann hat ohne Zweifel das friderizianische Preußen" sehr kritisch beurteilt, aber durchaus ,auch die Züge herausgestellt, die nach seiner Auffassung einer positiven Würdigung bedürfen.Wenn er die nationalen Aspekte zum bestimmenden Kriterium erhob, konnte das Bild nur wenig günstig ausfallen. Problematischer verhält es sich mit dem Einwand, Stein erscheine in Lehmanns Darstellung als Nachahmer der Französischen Revolution. Meier faßt sein Urteil wie folgt zusammen: „Nicht die französische Revolution, die ebenso wie der Napoleonismus spurlos an Preußen vorübergegangen war, ist der Stoß von außen gewesen, der die Kugel ins Rollen gebracht, die Reform beschleunigt hat, sondern 17 Jahre nach dem Ausbruch der Revolution die Schlacht bei Jena." 1 « Gewiß ist Lehmann teils sehr mechanisch, teils nicht genügend kritisch seinen Quellen gegenüber an die Frage des Verhältnisses der Reformgesetzgebung und Steins zur Französischen Revolution herangegangen, so daß durch eine vergleichende Betrachtung sich zwar manche Parallele anbot, ohne daß diese aber immer als Nachahmung verstanden zu werden braucht. Insofern sind nicht alle Einwendungen Meiers von der Hand zu weisen. A b e r was Lehmann dazu brachte, den Maßstab der Gesetzgebung der Französischen Revolution als Kriterium für das Urteil über die preußische Reformgesetzgebung zu wählen, war - ohne daß er es aussprach - der bürgerliche Charakter beider Erscheinungen. Das ist das wesentliche Moment, das Meier übersieht und das Lehmann ins Recht setzt, wenn er den fortgeschrittensten gesellschaftlichen Zustand im damaligen Europa zum allgemeingültigen Geschichtsmodell erhebt. Insofern verdient die Geschichtsbetrachtung Lehmanns Beachtung, weil sich ihm auf diese Weise die Möglichkeit bot, die borussische Tradition zu durchbrechen, die ihren Maßstab nur in sich selbst gefunden hatte. E s ging Lehmann im Grunde weniger um den Nachweis der Nachahmung revolutionärer Maßnahmen des bürgerlichen Frankreich in dem feudalen Adelsstaat Preußen - auch wenn er selbst die Frage so stellte--, sondern um die Herausstellung des französischen Modells als Ausdruck seiner Frontstellung gegen die Hohenzollernlegende und ihre historiographische Spiegelung. >
Meier, Ernst v, a. a. O., S. VII. 188 127
Ebenda, S. VIII. Ebenda, S. 199. „Selbst wenn alles wahr wäre, was Lehmann von der Nachahmung der französischen Revolution durch Stein behauptet hat, würde es sich doch nur um Nachahmungen handeln, die das eigentliche Wesen der französischen Revolution gar nicht berühren, um relativ gleichgültige Dinge" (Ebenda, S. 39;).
Günter Voglet
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Lehmann hat die Entgegnungen Meiers mit einem Aufsatz beantwortet, der im einzelnen nicht näher auf die Vorwürfe eingeht, weil er sie als gegenstandslos ansieht.188 Meier begnügte sich noch nicht, sondern setzte seine Bemühungen in einer eigens produzierten „Streitschrift gegen Max Lehmann" fort. 129 Er richtete jetzt den Hauptstoß gegen die Methode Lehmanns, was in diskriminierenden Auslassungen Ausdruck fand: „Das Charakteristische der Rankeschen Geschichtsschreibung besteht doch nicht bloß darin, daß innere und äußere Politik in steter Wechselwirkung stehen. Es ist geradezu die Grundtendenz Rankes, den historischen Verlauf so darzustellen, wie er wirklich gewesen ist, ohne sich dabei irgendwie persönlich zu engagieren, während Lehmann es niemals lassen kann, seinen Senf dazuzugeben, fortwährend zu moralisieren und zu schulmeistern; es ist das nicht Rankesche, sondern Schlossersche Methode, die man längst überwunden glaubte." 1 3 0 Dies zu lesen berührt eigenartig angesichts der Charakterisierung, die Otto Hintze - durchaus kein Anhänger Lehmanns - im ganzen zutreffend von dessen Art der Darstellung im gleichen Zusammenhäng gegeben hat: „Die literarische Eigenart Lehmanns ist ja bekannt; er ist der Repräsentant eines strengen Stils der historischen Darstellung, der gleichweit von dem Pathos Treitschkes wie von dem Räsonnement Delbrücks oder von der psychologischen Analyse eines Mareks oder Meinecke entfernt i s t " 1 3 1 Meier wiederholt seine wesentlichen Einwände, erweitert aber den Kreis der zu kritisierenden Probleme um das Verhältnis Steins zum preußischen Adel: Lehmann mache Stein zu dessen Feind. Meier trifft zwei Feststellungen, die seine Grundposition in charakteristischer Weise verdeutlichen: „Der preußische Adel war nach den Lorbeeren des Siebenjährigen Krieges ein ganz anderer als der französische zur Zeit Richelieus. Der preußische Adel befand sich im Aufsteigen als ein zukunftsreiches Element für Selbstverwaltung und Landesvertretung; der französische war schon damals zum bloßen Hofadel herabgesunken." 132 An anderer Stelle erklärte er, „daß die Unentschlossenheit Friedrich Wilhelms III. wie die Friedrich Wilhelms IV. tief in der angeborenen Naturanlage begründet war, daß diese Naturanlage als das Primäre anzusehen ist, daß der Satz .natura expellas' usw. auch bei Königen und gerade bei ihnen seine Geltung hat, daß also aus dieser Naturanlage sich bei beiden Königen die Zustände ergeben haben, 128
Lehmann, Max, Die preußische Reform von 1808 und die französische Revolution, in: Preußische Jahrbücher, Bd. i)i, 1908, S. 211 f. An Askenazy schrieb Lehmann am 8.1.1909: „ D i e Preußen wollen alles sich selbst verdankt haben, das ist der Refrain der Widersacher"
(Askenazy,
Szymon, a. a. O., S. 349). i a
Meier, Ernst v., Der Minister von Stein, die französische Revolution und der preußische Adel. Eine Streitschrift gegen Max Lehmann, Leipzig 1908.
IM
Ebenda, S. 53 f. Ahnlich lautet heute noch das Urteil Kaehlers, der Lehmanns Temperament verantwortlich macht, „welches ihn hinter Rankes Haltung zurückführte zu dem Richteramt der aufklärerischen Historiographie eines Schlosser und Rotteck" (Kaebler, Siegfried August,
a. a.
O., S. 41). 1,1
Hintze, Otto,
Stein und der preußische Staat. Eine Besprechung von Max Lehmanns Stein-
Biographie I—II, in: HZ, Bd. 94, 1905, S. 412. m
Meier,
Ernst v.. Der Minister von Stein, die französische Revolution und der preußische .
Adel, a. a. O., S. 60.
Max Lehmann
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nicht umgekehrt".138 Danach sind der Adel und nicht die bürgerlichen Reformer das progressive Element, die Naturanlagen der Regierenden das entscheidende Kriterium der geschichtlichen Bewegung und nicht' die objektiv wirkenden historischen Prozesse. Das wirft ein Licht auf Meiers Einwände gegen das Kriterium der Französischen Revolution in Lehmanns Geschichtsbild. Die Beschäftigung mit der Stein-Biographie war für Lehmann aus zwei Gründen bedeutsam geworden: Ein deutscher Patriot, der „Größte unter den Großen, der Urheber des modernen Preußens, der Besieger des Korsen, der Befreier Europas", wie Lehmann ihn in der Scharnhorst-Biographie nannte 134 , war in seinen Leistungen gewürdigt worden, und es war ein Werk entstanden, das Zeugnis von dem Streben Lehmanns nach einem objektiven Geschichtsbild ablegt. Zum anderen zeigt die Biographie, daß Lehmann sich zu den Idealen des Liberalismus bekannte und an diesen unter den Bedingungen der imperialistischen Klassenherrschaft festzuhalten suchte. Die Biographie wurde in der bürgerlichen Historiographie als „Höhepunkt der ausgesprochen liberalen Auffassung" angesehen.135 Otto Hintze vermerkt in seiner Besprechung, durch die Biographie gehe „unausgesprochen, aber doch unverkennbar die Anschauung hindurch, daß Preußen nur durch die Ideen der Reform zu neuem Leben, erweckt und zu einer großen Zukunft befähigt werden konnte, daß der Geist des friderizianischen Preußens bei Jena gleichsam sein Todesurteil empfangen habe"; und er konstatiert dann, im Gegensatz dazu, „daß die Epoche Bismarcks wieder an Friedrich den Großen angeknüpft hat mit ihrer kühnen Machtpolitik, wie mit ihren wirtschaftlich-sozialen Bestrebungen, und daß der Geist der Steinschen Reform nur ein Ingrediens, nicht aber das eigentlich konstitutive Element in unserem' heutigen Staate ist".138 Da das Bismarckreich immer noch ein mit feudalen Überresten belasteter und absolutistisch verbrämter Staat war, mußte ein Befürworter der Bismarckschen Politik wie Hintze zu diesem Urteil kommen. Weil Lehmann sich gerade gegen eine solche Betrachtungsweise wandte, konnte seine Stein-Biographie den Ansprüchen der imperialistischen Ideologen nicht genügen. Wenn Gerhard Ritter sich Ende der zwanziger Jahre dem Wirken Steins zuwandte, um eine zweibändige Biographie zu konzipieren, dann war der Ausgangspunkt die Revision des wesentlich durch Lehmann geprägten Stein-Bildes im Sinne der imperialistischen Geschichtsschreibung.137 ,3S
1M ,ss
Ebenda, S. 69. Et krönt diese Aussage mit det Feststellung, daß an dieser Entschlußlosigkeit „im letzten Grunde die Verfassungspläne gescheitert" sind (Ebenda, S. 69). Lebmann, Max, Scharnhorst, a. a. O., Bd. 2, S. 26. So 2. B. Heffter, Hei/trieb, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart 19JO, S. 77, Anm. 1. Hintze, Quo, a . a . O . , S. 426!. Weiter heißt es: „Als die eigentlich grundlegende Epoche für den preußischen Staat erscheint mir doch die Regierung Friedrich Wilhelms I. und Frie.drichs des Großen, nicht die Epoche Steins und Hardenbergs; die Richtung auf den monarchischen Militär- und Beamtenstaat ist dem preußischen Wesen immer geblieben, sie ist durch die Wirkungen der Reformideen nur modifiziert, nicht völlig von ihrem Ziele abgelenkt worden." (Ebenda, S. 417). Ritter, Gerhard, Stein. Eine politische Biographie, Bd. 1: Der Reformer, Bd. 2: Der Vorkämpfer nationaler Freiheit und Einheit, Stuttgart-Berlin 1931. - Im Votwort heißt es: „Selbstverständlich
6
Geschichtswissenschaft, Bd. II
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Lehmann sah Deutschland während des Überganges zum Imperialismus mit dem Maßstab der Reformzeit vor Augen und mußte mit seinem Geschichtsbild in immer stärkeren Widerspruch zu der imperialistischen Germanisierungs-, Expansions- und Rüstungspolitik geraten, die niemals einem solchen begrüßenswerten Ziel diente, wie es die Männer von 181} verfolgten. So gesehen, ist es kein Zufall, daß Lehmann seit der Mitte der neunziger Jahre zu politischen Ereignissen mehr und mehr kritisch Stellung nahm. Max Lehmann hat sich verschiedentlich als unpolitischen Menschen bezeichnet. Auch in seiner Autobiographie übergeht er die Seite seines politischen Wirkens fast völlig, und berichtet nur eine Episode, die im Zusammenhang steht mit seiner Mitgliedschaft in einem K l u b in Berlin, dem auch Heinrich von Treitschke und A d o l p h Menzel angehörten: „ D a s Vordringen der Sozial-Demokratie und die Attentate auf Kaiser Wilhelm führten unseren K l u b und mich in die politische Arena. Ich habe damals sogar einer Wahlversammlung präsidiert: wie ich bekennen muß, mit sehr geringem Geschick. Ein wenig tröstete mich, daß auch die beste Wahlmache uns nichts genützt hätte: unser Kandidat, Minister Falk, fiel glänzend durch." 1 8 8 Diese ironisch, gefärbte Einschätzung seines politischen Auftretens und die oft bekannte unpolitische Haltung dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß er alle Ereignisse des politischen Lebens mit wachem Sinn registrierte und in zahlreichen Briefen kommentierte. Für seinen langjährigen Freund Hans Delbrück, mit dem er in vielen Ansichten übereinstimmte 1 3 9 , und sich selbst nahm Lehmann einmal in Anspruch, daß sie „beide stolze Individualisten und Aristokraten" seien. 140 E r traf damit eine wesentliche Aussage über sein Verhältnis zu seinen Zeitgenossen und zu seiner Zeit, das bewußt auf eine individualistische Haltung abzielte. Meist war seine politische Aktivität auf eine individuelle A k t i o n gerichtet, seltener war er zu einem solidarischen politischen Handeln bereit. So müssen wir zunächst unterscheiden zwischen seinen politischen Einsichten und den daraus gezogenen Konsequenzen. Wieweit seine Einsichten reichten, soll an einigen Beispielen gezeigt werden. 1909 legte er in einem Brief an Hans Delbrück folgende Gedanken dar: „ . . . i c h werde ein höchst peinliches Gefühl darüber nicht los, d a ß wir im tiefsten Frieden 500 Mill. neue Steuern aufbringen sollen. Und welche Bürgschaft haben wir, daß nach weiteren 10 Jahren wir weitere 500 Mill. blechen sollen. hätte ich dieses Buch ohne die erstaunlich fruchtbare und ausgedehnte Stein-Forschung Lehmanns so nicht schreiben können, und nicht die Polemik, sondern der Neuaufbau ist dabei mein eigentliches Ziel gewesen", und er fügt hinzu, daß der Kundige erkennen werde, „wieviel die veränderte Fragestellung unserer Epoche an neuen Lösungen bedingt" (Ebenda, Bd. I, S. X). Das Ergebnis dieser Umwertung war ein Stein-Bild, das die Geschichtsauffassung
seines Urhebers
offenbarte und
an die
preußisch-konservative
antirevolutionären,
von
der
Machtstaatspolitik bestimmten Traditionen der Geschichtsschreibung anknüpfte. 158
Autobiographie,
S. 21c.
Lehmann selbst hat immer wieder betont, wie sehr sie in ihren Anschauungen übereinstimmten. Eine genaue Analyse würde jedoch erweisen, daß es auch wesentliche Differenzen in ihren politischen Auffassungen gab und der Grad
der Übereinstimmung nicht so weit
wie Lehmann annahm. lv>
Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, i j . 1.1895.
reichte,
Max Lehmann
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D a scheint doch auch die Forderung berechtigt: zuallererst Bürgschaft, daß die Motive zu neuen Steuerforderungen ausgerottet werden. Also z. B. durchaus keine neuen Dreadnaughts und ähnliches Gelichter - kein Ansiedlungsgesetz im Sinn der Hakatisten - keine Vergeudung von Millionen in Afrika usw. usw." 1 4 1 Die hier bekundete Frontstellung gegen Militarismus und Expansionspolitik wiederholt sich in zahlreichen anderen Zeugnissen und bestätigt, daß Lehmann durch die abenteuerliche Kriegspolitik des deutschen Imperialismus in der Verabscheuung des politischen Abenteurertums nur bestärkt wurde. Er verurteilte die „Pest des Chauvinismus" 142 und bezeichnete sich selbst als „Widersacher des Chauvinismus" 143 . Er wandte sich insbesondere gegen die Alldeutschen und den Bund der Landwirte, den er einmal „den gefährlichsten unserer politischen Schädlinge" nannte.144 Im Militarismus und in den Alldeutschen sah er „die beiden Feinde, die Deutschland im eigenen Hause beherbergte". 145 Er bekannte auch, er sei „von Jahr zu Jahr mehr in den Kampf wider Chauvinismus und Byzantinismus gedrängt worden". 148 Dabei wurde ihm auch klar, daß nationale Gesinnung in dieser Politik keinen Platz hatte, was ihn die bitteren Worte finden ließ: „Patriotismus ist heute so billig wie Brombeeren". 147 Man sollte erwarten, daß die sich hierin spiegelnde politische Verantwortung sich in politische Aktivität ummünzte, die auch in seiner Verantwortung als Wissenschaftler begründet gewesen wäre. Lehmann hat sich an verschiedenen Aktionen beteiligt, die ihren Ausdruck in von Intellektuellen unterzeichneten Petitionen fanden, aber er ist niemals einen Schritt weitergegangen und hat nie die Grenze der legitimen Eingabe an die Regierung überschritten. Er hat seine Haltung im Briefwechsel mit Delbrück selbst einmal treffend umrissen: „Sie gissen: ich eigne mich in keiner Weise für die praktische Politik und ich beschränke mich in folge dessen im Grunde auf die Abgabe des Stimmzettels, aber Sie müssen mich durchaus unter diejenigen Kollegen rechnen, von denen Sie zu Ihrem H. Vetter, dem Minister, gesagt haben, daß sie in die entschiedenste Opposition gehen würden." 1 4 8 Es blieb meist bei der Abgabe des Stimmzettels, in die entschiedenste Opposition ist er öffentlich auf politischem Gebiet niemals gegangen. „Aber verderben wir uns nicht die Zeit mit Dingen, die wir doch nicht ändern können", schrieb er 1904 einmal nieder. 149 Das unterstreicht noch einmal, daß er zu keiner Zeit von dem Bewußtsein durchdrungen war, eine Änderung der Politik nicht nur als notwendig, sondern auch als möglich anzusehen. Von dieser Warte aus beurteilte er auch die revolutionäre deutsche Arbeiterbewegung, für deren Kampf er kein Verständnis aufbrachte. Seine Tochter berichtet zwar, er 141
Ebenda, 19. }. 1909.
143
Ebenda, 6.12.1901.
141
Ebenda, 19. j. 1909.
145
142
Ebenda, 20. Ii. 1898.
Lebmann, Max, Wie uns das Elsaß wieder verlorenging, in: Berliner Tageblatt, Jg. 48, Nr. 39), 24. 8.1919.
,4a
Lehmann an Askenazy, 27. 9.1908, in: Askenazy, Szytnon, a. a. O., S. 349.
14i
Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 27. 7.1909.
148
Ebenda, 8. 2.1910.
149
Ebenda, IJ. 5.1904.
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habe in seinen letzten Lebensjahren mit der „gemäßigten Sozialdemokratie" sympathisiert 1 5 0 , aber seine eigenen Äußerungen belegen das nicht. E r hat aus seiner Verachtung der sozialdemokratischen Bestrebungen nie ein Hehl gemacht. „Mich ekelt die sozialdemokratische Bande ebenso wie das Liebäugeln mit ihr an", hatte er 1895 seiner Meinung Ausdruck gegeben 1 5 1 , also zu einer Zeit, wo nach dem Sturz des Sozialistengesetzes die Partei in der Wahlbewegung wie im Streikkampf von Erfolg zu Erfolg schritt. Sein tiefer Pessimismus wird in seiner ganzen Problematik sichtbar, wenn er schreibt: „Wohin sind wir gekommen, wenn Leute von meiner Kontemplation nach dem Lesen der Bebeischen Reden sagen: ,Er hat Recht'. Wir werden es nicht erleben, aber die Abrechnung wird furchtbar werden. Wäre ich j o Jahre jünger, ich ginge ins Feld .zu den Buren." 1 5 * In den Tagen der Novemberrevolution aber war sein ganzes Sinnen darauf bedacht, alles zu tun,, um eine Radikalisierung zu verhindern. So beweist sich bei allen Teileinsichten die Unfähigkeit zur Orientierung auf die in Zukunft weisenden Klassenkräfte, woran Lehmann vor allem seine individualistische und pessimistische Grundhaltung hinderte. Diese Haltung zur sozialistischen Bewegung hinderte ihn jedoch nicht, in einigen Fragen einen Standpunkt einzunehmen, der sich gegen die expansionistische und aggressive Politik des deutschen Imperialismus richtete. Mit wachsender Besorgnis verfolgte er die Politik des deutschen Imperialismus gegenüber den Polen. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts war dieser bei seiner Germanisierungspolitik zur Anwendung immer brutalerer und offen terroristischer Methoden übergegangen. 153 - Wie sehr ihn diese Fragen beschäftigten, belegt die 1894 in einer öffentlichen Sitzung der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen gehaltene Rede „Preußen und Polen", in der er sich mit dem gegenseitigen Verhältnis beider Staaten seit dem Mittelalter beschäftigte. 154 E r wollte mit der geschichtlichen Betrachtung beweisen, daß Deutsche und Polen nicht zu ewigem Hasse und Streite verurteilt sind. Wenn er auch nicht in der Lage war, die Wurzeln 150 151
,s
Lebmann, Gertrud, a. a. O., S. 24. Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 15.1.1895. - Am j. 1.1912 schrieb er an Delbrück: „Aber lieber Freund, wird es nicht Zeit, daß jemand, der nicht Soci ist, öffentlich unser Volk mahnt, einzuhalten mit der Flottenvermehrung, die doch einzig und allein die Ursache des englischen Mißtrauens ist?" (Nachlaß Delbrück). Auch hieraus spricht Lehmanns Mißachtung des Kampfes der deutschen Arbeiterbewegung.
- Ebenda, 20.12.1900.
153
An Delbrück schrieb Lehmann am 2. 6.1894: „Halte unsre Polen-Politik einfach für Blödsinn" (Nachlaß Delbrück).
154
Lebmann, Max, Preußen und Polen, in: Historische Aufsätze und Reden, Leipzig 1911, S. 83-99. Askenazy rezensierte die Rede kurze Zeit später in Polen sehr positiv. Vgl. Askenazy, Szymon, a. a. O., S. 351 f. - Willaume setzt sich in seinem Aufsatz ausführlich mit dem Inhalt der Rede auseinander. Er urteilt: „Sein Aufsatz über .Preußen und Polen' ist wiederum ein Beweis für seinen außergewöhnlichen Mut, mit welchem er mitten in der Hitze des Ausrottungskampfes, den die preußische Regierung gegen die Polen in der Provinz-Posen führte, sowohl den polnischen Nationalisten, als auch den deutschen Hakatisten und Chauvinisten vom Alldeutschen Verband solch eine Äußerung ins Gesicht zu schleudern wagte" (Willaume, Juliusz, a. a. O., S. 55).
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der preußischen Politik gegenüber Polen aufzudecken, spricht er doch aus, daß das annektierte polnische Territorium die preußische Politik belastete. Über die Entwicklung nach dem Tilsiter Frieden führte er aus: „Bei dieser letzten Teilung Polens erhielt Preußen nur wenig von seinem alten polnischen Besitz zurück: aber es war genug, um ihm bei der wachsenden Macht des Nationalitätsgedankens wachsende Verlegenheiten zu bereiten." 1 5 5 Mit der Verschärfung der Germanisierungsbestrebungen nach dem Übergang zum Imperialismus wurde auch Lehmanns Blick geschärft. Als polnische Schüler 1901 gegen den Gebrauch der deutschen Sprache im Unterricht Widerstand leisteten und die Eltern der Schüler gegen den Versuch protestierten, den Widerstand der Schüler mittels körperlicher Züchtigungen zu brechen und polnische Eltern wegen Landfriedensbruch zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden, gab Lehmann seiner Empörung nicht nur in Briefen an Delbrück Ausdruck 1 5 6 , sondern er unterzeichnete auch eine von diesem ihm vorgelegte Adresse. 1 5 7 Solche intellektuellen Proteste, die nicht immer aus nationaler Verantwortung und dem Bedürfnis nach Wahrung der Interessen des polnischen Volkes entstanden, sondern bei aller Bejahung der inhaltlichen Übereinstimmung mit den Zielen des deutschen Imperialismus dessen Mittel und Methoden als für das deutsche Ansehen diskreditierend und verwerflich ansahen, mußten jedoch ohne tiefere Wirkung bleiben. Dies empfand wohl auch Lehmann, denn in den folgenden Jahren mußte er erleben, daß die reaktionärsten Kreise ihre Bestrebungen im Interesse der Gewinnung von profitablen Ländereien und billigen Arbeitskräften unvermindert fortsetzten, wenn sie dabei auch seitens des polnischen Volkes auf energischen Widerstand stießen. 1907 forderte der deutsche Ostmarkenverein in Fortführung seiner chauvinistischen Politik ein Gesetz, das den Zwangskauf polnischen Besitzes ermöglichen sollte. Die preußische Regierung ging bereitwillig auf diese Forderungen ein. Am 18. Januar 1908 nahm das preußische Abgeordnetenhaus ein diesen Forderungen Rechnung tragendes Gesetz an. Als Lehmann die Pläne des Ostmarkenvereins bekannt wurden, gab er seinem Mißfallen „mit den neuesten Plänen der Hakatisten, die den Polen ja geradezu die Rebellion aufnötigen", Ausdruck: „Soll uns denn wirklich das Äußerste und Schlimmste, das Enteignungsgesetz für die Ostmarken,.bevorstehen?" wandte er sich wiederum fragend an Delbrück und regte eine „Notablen-Erklärung" an, wenn irgendwelche Aussichten auf Erfolg bestünde^. 158 Im zweiten Jahr des ersten imperialistischen Weltkrieges sprach er sich für die Wiederherstellung des polnischen Staates
15S 144
151 158
Lebmann, Max, Preußen und Polen, a. a. O., S. 99. „Und was sagen Sie zu der posenschen Religions-Prügelei? Der Staat Friedrichs und Steins und Kants! Anfang des 20. Jahrhunderts!" (Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 1.12.1901). Lehmann irrt allerdings, wenn er die Staatauffassung Friedrichs II. und Kants so undifferenziert in Beziehung setzt. Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 3.12.1901; 6.12.1901, 10.12.1901. Ebenda, 16. 9.1907. Vgl. auch 5.2.1902: „Sollte es wider Erwarten noch zu irgend einer Kundgebung gegen die Enteignungsvorlage kommen, so bitte ich recht herzlich, mich Teil nehmen zu lassen."
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aus. 159 Nach dem Kriege, im Jahre 1922, sprach er den Wunsch aus, die Verständigen in Deutschland und Polen mögen dazu beitragen, „die Spannung zwischen zwei Nationen, die doch auf einander angewiesen sind, zu lösen". 160 Woher rührt diese Besorgnis? Wo liegen die Motive für das Auftreten Lehmanns gegen die imperialistische Polenpolitik? Erstens verabscheute er die brutalen Unterdrückungsmethoden des deutschen Imperialismus, angesichts deren er die humanistischen deutschen Traditionen entwürdigt und in den Schmutz gezogen sah. Das mußte bei seiner humanistischen Geisteshaltung und seinem intellektuellen Empfinden seinen Protest hervorrufen, da er in diesen politischen Praktiken einen „Niedergang des öffentlichen Geistes" sah. 1 4 1 Zweitens fürchtete er, der Widerstand des polnischen Volkes könne durch die brutalen Germanisierungsbestrebungen in einem solchen Maße erregt werden, daß diese Politik Preußen in eine katastrophale Situation führt. Drittens schließlich - das steht damit in engem Zusammenhang - fürchtete er die sich daraus zwangsläufig ergebende Verstärkung der innenpolitischen Opposition in Deutschland, namentlich seitens der deutschen Sozialdemokratie. Bezeichnend ist folgende Äußerung, die er in Hinblick auf die möglichen Wirkungen des debattierten Enteignungsgesetzes tat: „Ich sehe schon im Geiste die Nachfolger von Bebel und Singer sich auf die Nr. der kgl. preußischen Gesetzsammlung sich berufen, die das unselige Gesetz enthält." 1 8 2 Eine solche Entwicklung zu verhindern, führte bei Lehmann zu der Ablehnung der imperialistischen Polenpolitik. Ähnliches zeigt sich auch im ersten Weltkrieg. In den Augusttagen 1914 noch auf einen Erfolg der deutschen Truppen hoffend, griff mit dem Fortgang des ersten imperialistischen Weltkrieges mehr und mehr ein tiefer Pessimismus bei Lehmann Platz. Sein seit Jahrzehnten bekundetes militärgeschichtliches Interesse ließ ihn den militärischen Operationen offenbar zunächst sein besonderes Augenmerk zuwenden, aber mit den militärischen Niederlagen des ersten Kriegsjahres schwand das Vertrauen in die Politik der deutschen Heeresleitung und wuchs das Verständnis für die politische Problematik des Krieges. 1 6 8 Bei seiner sensiblen Natur trat in seinen Äußerungen immer wieder die Klage über die durch den Krieg auferlegten Bürden in den Vordergrund. „Je länger der Krieg dauert, je größer die Zahl der Opfer wird, desto schwerer lastet er auf mir", schrieb er im Juli 191 j an Delbrück. 1 6 1 Seine Haltung wurde von der Ablehnung der chauvinistischen und annexionistischen Bestrebungen bestimmt. 165
158
161 m 184
Ebenda, 30.7.191;. Lehmann schrieb am 30.6.1916 an Askenazy: „Wäre nicht endlich jetzt d£r Moment gekommen, das Unrecht von 1772 gut zu machen?" (Zit. nach Askenazy, Szymon, a. a. O., S. 349). Lehmann an Askenazy, 2.4.1922, zit. nach Askenazy, Szymon, a. a. O., S. JJO. Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 5. 2.1908. 1,3 Ebenda, 16. 9.1907. Vgl. Lebmann, Gertrud, a. a. O ., S. i i .
Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 30.7.1915. - Vgl. auch Dove an Meinecke am 24. 6.1915: „Von Max Lehmann erzählte mir einer seiner Schüler, er sei innerlich ganz herunter von der Last der Gegenwart, was ich bei seinen Nerven begreife" (Dove, Alfred, Ausgewählte Aufsätze und Briefe, a. a. O., S. 304). I6J Lehmann an Delbrück am 7.12.1915: „Hoffentlich nimmt die Zahl der Annexions-Fanatiker ~ ab, und wir erhalten ein neues Stück der Friedens-Basis" (Nachlaß Delbrück).
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Deshalb unterzeichnete er auch die dem Reichskanzler am 9. Juli 1915 übergebene Erklärung von Intellektuellen, die als Antwort auf die Petition von 1341 Professoren, Regierungsbeamten, Industriellen und Lehrern vom 20. Juni entstanden war. 168 Die Initiative dazu war maßgeblich von Hans Delbrück ausgegangen. Die Eingabe trug u. a. die Unterschriften von Albert Einstein, Adolf von Harnack, Max Planck, Gustav Schmoller und Ernst Troeltsch. Die Motive, die diesen Kreis zusammenführten, waren sehr unterschiedlicher Natur. Neben aufrichtigen Förderern der Friedensbestrebungen zur Beendigung des imperialistischen Raubkrieges standen Männer, „denen es bei der Propagierung maßvollerer Kriegsziele vor allem darum ging, realistischer für die auch von - ihnen voll bejahte Machtsteigerung des deutschen Imperialismus zu wirken". 167 Lehmann hat in Göttingen unter seinen Kollegen weitere Unterzeichner gefunden und teilte Delbrück voller Freude mit, daß die Zahl der Willigen größer sei, als er zuvor angenommen habe. 168 Somit bestätigt auch dieser Schritt Lehmanns, daß er sich immer wieder von den chauvinistischen und expansionistischen Bestrebungen abzugrenzen suchte, wobei dies für ihn aber nicht in erster Linie eine politische Entscheidung bedeuten sollte, sondern eine 4us idealistisch-ethischen Motiven geborene Willenskundgebung. Als die Debatte über die „Kriegsschuldfrage" in den ersten Jahren der Weimarer Republik das Feld der Diskussion beherrschte, gewann Lehmann „die durch jede Lektüre— befestigte Überzeugung: das Unheil hätte vermieden werden können ohne Ludendorf und Consorten".16* Für ihn waren die militärische Niederlage und die Novemberrevolution vor allem eine Wirkung der Politik, wie sie von den reaktionärsten Kreisen des deutschen Monopolkapitals und der Junker geführt worden war, ein Resultat der Politik der imperialistischen Führungskräfte, nicht aber ein aus dem imperialistischen System und seinen inneren Widersprüchen zu erklärendes Ergebnis. So lange er aber diesen Zusammenhang nicht wahrnahm, mußte ihm die Niederlage des deutschen Imperialismus nur als Ergebnis des persönlichen Regiments des militaristischen und reaktionären Klüngels erscheinen. Lassen wir noch ein Zeugnis sprechen, das wenige Wochen nach dem Beginn der Novemberrevolution entstand: „Wie mir zu Mute ist beim Zusammenbruch des alten Preußens? Ach, diese Frage ist nur ein Bruchstück der umfassenderen Frage, die der ganzen Zeit seit dem Juli 1914 gelten müßte. Beide Male kann die Antwort nur lauten: '«« Vgl. dazu Klein, Fritz, Deutschland von 1897/9« bis 1917, Berlin 1961, S. 316; (Lehfbuch d. Deutschen Geschichte, hg. A. Meusel u. R. F. Schmiede, 9. Beitrag). - Basier, Werner, Zur politischen Rolle der Berliner Universität im ersten imperialistischen Weltkrieg 1914 bis 1918, in: Wiss. Zeitschr. Univ. Berlin, Jg. 10, 1961, Nr. 2/3. S. 186 f.; Tbimme, Anneliese, Hans Delbrück als Kritiker der wilhelminischen Epoche, Düsseldorf 1955, S. 120. - Vgl. dazu auch Danilow, A. /., Die deutschen Historiker der „liberalen Schule" während des ersten Weltkrieges und der Revolution von 1918 bis 1919, in: Sowjetwissenschaft, Ges. Beiträge, Jg. 1959, S. 500 f. 1,7 Klein, Fritz, a.a.O., S. )r7; Basler urteilt über die Gegenerklärung zu pauschal und undifferenziert, denn die Unterzeichner können nicht als einheitliche Gruppe angesehen werden. 148 Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 29. 8.191;; vgl. auch 30. 9.1915. Ebenda, 3. j. 1924.
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schauderhaft! Von Anfang an völlig klar darüber, daß das offizielle Deutschland im Unrecht war - keine Freude über die errungenen Siege - beständig neue Irrtümer und neues Unrecht beklagen und verurteilen müssen - die Katastrophe kommen sehen - endlich bei den Gegnern des alten Systems ihrerseits Unrecht und schwerste Mißgriffe - ach, könnte ich doch wenigstens in meinem Gedächtnis das Alles austilgen!""« Halten wir uns vor Augen, daß zu der Zeit, als diese Gedanken Lehmann bewegten, die deutsche Arbeiterklasse dem deutschen Volk den Weg aus der Katastrophe zeigte. Lehmann aber sah bei den Revolutionären von 1918 nur „Unrecht und schwerste Mißgriffe" und spähte in illusionärer Weise „nach jedem Fünkchen, das sich in ein neues Himmelslicht verwandeln könnte". 1 7 1 Trotz mancher richtiger Einsichten, die er vor allem auch aus seiner fundierten Kenntnis der deutschen Entwicklung in den letzten hundert Jahren schöpfte, vermochte er sich nicht von seinen Klassenpositionen zu lösen und einen Schritt in Richtung einer Annäherung an die K r ä f t e zu tun, die eine grundsätzliche Wende herbeizuführen vermochten. D a s weitestgehende war eine Annäherung an die pazifistische Bewegung, die in Lehmann einen Bundesgenossen erhielt. Im Januar 1918 berichtete er Delbrück: „dieser entsetzliche Krieg hat die in mir schon immer vorhanden gewesene antichauvinistische A d e r so verstärkt, daß, als pazifistische Gesinnungsgenossen an mich herantraten, ich nicht umhin konnte, mich ihrer Organisation anzuschließen: der Dämon im Busen redete allzu g e w a l t i g . " 1 7 8 Dieses zur Deutschen Friedensgesellschaft geknüpfte Band 1 7 5 war eine sich zwangsläufig ergebende Konsequenz; sie deutet aber auch die Grenzen seiner Erkenntnis und seines Wollens an. D a s wird auch noch in anderer Hinsicht deutlich. Lehmann sah gegen E n d e des Jahres 1918 die Aktionen der revolutionären Arbeiterbewegung in ähnlicher Weise als G e f a h r an wie zuvor die Politik der herrschenden reaktionären Kreise. Dies führte ihn ideell an die Seite derjenigen, die in der Übernahme der Regierung durch Prinz M a x von Baden den Rettungsanker sahen. 1 7 4 Aus der Erwägung heraus, für eine Reform der Politik in letzter Minute zu wirken, hatte er im Verlaufe des Jahres 1 9 1 7 bereits einige Artikel zu historischen Fragen im „Berliner Tageblatt" veröffentlicht. Dazu war er von dem Chefredakteur Theodor Wolff aufgefordert worden, der sein Anliegen damit begründete, daß es im Augenblick darauf ankomme, „den Menschen klarzumachen, daß ein Regimewechsel nötig ist, daß es ohne das parlamentarische Regime nicht mehr geht". 1 7 5
1,0 171 1,9 115 1.4
1.5
DZA Merseburg, Rep. 94 A, Autographensammlung Loewe. Lehmann an unbekannt, « . 12.1918. Ebenda. Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, zo. 1.1918. Lebmann, Gertrud, a. a. O., S. 25. „In den entscheidenden Wochen vor und während des Waffenstillstandes gehörte Max Lehmann zu den Männern, die auf die Kanzlerschaft des Prinzen Max von "Baden eine letzte schwache Hoffnung setzten, daß sie das Schlimmste für Deutschland vermeiden werde." (Lebmann, Gertrud, a. a. O., S. 13). Zit. nach ebenda, S. 22. Vgl. auch Danttow, A. /., a. a. O., S. 50; f.
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Lehmanns gewählte Themen - „ D i e Anfänge der parlamentarischen Regierung und des gleichen Wahlrechts", „Wie die Preußen das allgemeine und gleiche Wahlrecht wieder verloren" und „Der. Ursprung des Herrenhauses" 1 7 6 - standen mit der aufgeworfenen Fragestellung thematisch in Beziehung und mündeten in die Auffassung, das parlamentarische System und das allgemeine Wahlrecht könne „durch nichts aufgehalten werden: sie werden triumphieren, so leidenschaftlich auch die A l l deutschen und die durch den Talmiglanz ihrer Schlagworte geblendeten Übrigen sich gebärden mögen." 1 7 7 A n anderer Stelle hieß es: „Möge der preußische Landtag sich der politischen Notwendigkeit fügen, rasch fügen, indem er das Reichstagswahlrecht einfach auf Preußen überträgt. Lasse er sich nicht irre machen durch eine an sich berechtigte Scheu vor Verfassungsänderungen!" 1 7 8 Lehmann hat auch im Juni 1 9 1 7 gemeinsam mit Delbrück, Harnack, Meinecke, Nernst, Rohrbach, Thimme und Troeltsch eine öffentliche Erklärung unterschrieben, die die sofortige Inangriffnahme der Wahlrechtsreform für Preußen verlangte. 1 7 9 Wir beobachten hier den gleichen Vorgang wie bei der Behandlung der Polenfrage: obwohl Lehmann sich einerseits durchaus im klaren ist, daß die Politik der herrschenden Klasse nicht mehr in der alten Weise weitergeführt werden kann, schreckt er gleichzeitig vor den Konsequenzen zurück, weil er nichts so sehr wie die Radikalisierung der oppositionellen K r ä f t e fürchtet und immer wieder in gemäßigte Bahnen einlenken will. Hier berühren sich auch seine politische Haltung und das wissenschaftliche Interesse an der Reformperiode und der Geschichte ihrer Wegbereiter. 1 8 0 Was bleibt nun von dem Werk M a x Lehmanns? Als wichtigstes Ergebnis haben wir die Ausarbeitung der auf einem gründlichen Quellenstudium basierenden Biographien Scharnhorsts und Steins festzuhalten. E r hatte mit „den Männern der Erhebungszeit kongenialem S c h w u n g " 1 8 1 zweien von der „Handvoll Adliger", die zu Beginn des 19. Jahrhunderts Geschichte machten 1 8 2 , ein würdiges Denkmal gesetzt Seine Vorliebe für die Gestalten der Befreiungskriege wurzelte in den liberalistischen Anschauungen, denen er anhing, und die er bei ihnen vorgebildet fand. E r wandte aber nicht nur Scharnhorst und Stein seine ganze Liebe zu, sondern auch Gneisenau, dessen Biographie er gleichfalls gern geschrieben hätte, wenn ihm nicht Delbrück 176
1,8 179
180
161 181
Berliner Tageblatt, Jg. 46, 1917, Nr. 408, 538,,628. Ebenda, Nt. 408,12. 8.1917. Ebenda, Nr. 538, 21.10.1917. Tbimme, Anneliese, a.a.O., S. 142. Die Erklärung ist gedruckt in: Preußische Jahrbücher, Bd. 169, 1917, S. 156. In Hinblick auf die Französische Revolution hatte Lehmann 1870 die bezeichnenden Sätze niedergeschrieben: „Wir haben keinen 10. August und 21. Januar zu bereuen, und niemand wird es beklagen, daß wir auch der Segnungen einer großen Epoche, welche nur (Cr den engen Gesichtskreis verblendeten Naionälstolzes in der Staatsumwälzung des Einen Volkes aufgeht, nicht in dem Taumel einer Augustnacht, sondern auf dem sicheren Wege steter Reform teilhaftig geworden sind und noch werden" (Lehmann, Max, Französischer Mythus und deutsche Kritik über die Jahre 1795-97, a - a- O-. S. 328). ~Meinecke, Friedrieb, Max Lehmann, Adresse, a. a. O., S. 437. Lenin, W. /., Die Hauptaufgabe unserer Tage, in: Werke, Bd. 27, Berlin i960, S. 149 f.
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zuvor gekommen wäre 1 8 3 , und Grolman, den er als den radikalsten der Reformer ansah. 184 Die Hinwendung zu diesen großen Gestalten war jedoch nicht von einem in gleicher Weise bekundeten Interesse für die Volksbewegungen begleitet. Nur ein einziges Mal durchbricht er diese Grenze und widmet dem Tiroler Aufstand von 1809 eine Studie. 185 Aber im Grunde war es auch hier in erster Linie die Gestalt Andreas Hofers, die seinen Forschergeist entzündete.188 So wie der Begriff der Nation bei Lehmann blutleer blieb, gewann auch der Bürger, Handwerker, Bauer und jeder andere Angehörige der Nation keine tragende Rolle in Lehmanns Darstellungen. An Delbrück schrieb er einmal rundheraus, „daß es schließlich nicht auf den Pöbel ankommt, sondern auf die Aristokratie." 187 Nur einmal blitzt in der Stein-Biographie ein Gedanke auf, der an eine wesentliche Erkenntnis heranführt: „Steins System litt an einem Fehler, der sich je länger je mehr bemerkbar machen mußte: es ignoriert die Schichten unterhalb der Bürger und Bauern, die doch auch zur Nation gehören: die Häusler und Tagelöhner auf dem Lande, die Gesellen und Fabrikarbeiter in den Städten." 188 Lehmann hat diesen Gedanken nicht konsequent weitergeführt und keine Schlußfolgerungen für seine eigene Geschichtsauffassung und politische Haltung gezogen, sonst hätte er nicht bei der Negierung der historischen Rolle der Arbeiterklasse stehenbleiben können. Wenn für Lehmann die Geschichte primär vom Wirken der Persönlichkeiten bestimmt blieb und er sich damit immer noch in der Nähe der Treitschkeschen Geschichtsauffassung befand, so zeigen doch die von ihm konzipierten Biographien, daß die „individualistische" Methode nicht unbedingt zu einem reaktionären Geschichtsbild führen muß, sondern das Festhalten an den liberalistischen Auffassungen die Herausarbeitung der nationalen Aspekte im Wirken der genannten Persönlichkeiten möglich machte. Dieses positive Resultat beruhte auf Lehmanns gewonnenen und verteidigten liberalen Standpunkt, seiner kritischen Haltung gegenüber der borussischen Geschichtsschreibung und seiner Wertschätzung der Quellenforschung. Wenn auch nicht bis zur letzten Konsequenz vorstoßend, hat er sich um die Zerstörung der Hohenzollernlegende besonders verdient gemacht. Als er bei der Ausarbeitung der Scharnhorst-Biographie seinen Standpunkt in dieser Frage gewonnen hatte, kreiste sein ganzes Bemühen um diese Aufgäbe. Die Kontroverse um den Ursprung des Siebenjährigen Krieges war nur eine Form der Auseinandersetzung. Auch 18» Lebmann, Gertrud,
a. a. O., S. 16. Ein kurzes Lebensbild veröffentlichte Max Lehmann in:
Velhagen und Klasings Monatshefte, Jg. 1896/97, Bd. 1, S. 464 f. IM 185
Nachlaß Sybel, Lehmann an Sybel, 5. 7.1889. Lehmann, Max,
Die Erhebung Tirols im Jahre 1809, in: Historische Aufsätze und
Reden,
a. a. O., S. 241 (f. 188
Er sah in Hofer den Märtyrer, der „zu einer Gestalt der universalen, vornehmlich aber der deutschen Geschichte emporgewachsen war" (Ebenda, S. 260).
187
Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 5. 9.1900. - In Hinblick auf die Reform schrieb er, daß das, „was die Monarchie nicht vermochte, . . . eine Aristokratie, teils des Blutes, teils des Geistes, versuchen" mußte. (Lehmann, Max, Freiherr vom Stein, a. a. O., Bd. j, S. j).
188
Ebenda, S. 482.
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zahlreiche andere Arbeiten zeugen davon, wie ernst Lehmann diese Aufgabe nahm. 1 8 9 D a s beim Studium des Politischen Testaments Friedrichs II. von 1752 aufgekommene „Mißtrauen gegen die landläufige Darstellung auch der übrigen Perioden preußischer Geschichte" 1 9 0 hat ihn nie wieder verlassen, wenn ihn auch persönliche Rücksichten davon abhielten, die Preußenlegende in allen ihren Erscheinungsformen und bei allen ihren Vertretern zu bekämpfen. A l s er sich z. B . 1909 mit der Absicht trug, „die borussische Legende am Beispiel von M a x Duncker abzumachen", begründete er die W a h l dieses Verfechters der Hohenzollernlegende als Exempel wie folgt: „Zu ihm habe ich ja kein persönliches Verhältnis wie zu Droysen, Sybel oder Treitschke." 1 9 1 E r analysierte einen Aufsatz Dunckers aus dem Jahre 1 8 7 1 1 9 2 und wies nach, daß Duncker bei Friedrich Wilhelm III. „ein planmäßiges Wirken annimmt, während es ein Leben von der Hand in den Mund, ein Nachgeben gegen stärkere Gewalten w a r " . 1 9 3 A m Beispiel Droysens und Treitschkes zeigte er dann „die fortdauernde Sympathie mit der Dunckerschen Auffassung". 1 9 4 Dieser im Rahmen seiner Möglichkeiten von Lehmann gegen das Preüßentum in der Geschichtsschreibung geführte Kampf führt ihn ungewollt an die Seite Franz Mehrings, dem er bei allen Vorbehalten und bei aller Distanz zur revolutionären Arbeiterbewegung gerecht zu werden versuchte: „ D e r Autor ist und bleibt Fanatiker, aber sein guter Wille und seine Ehrlichkeit machen immer wieder Eindruck, und in einem Punkte behält er sogar vollkommen Recht: gegen den greulichen Kerl, den Scherer." 1 9 5 Noch ein anderes Beispiel zeigt, daß Lehmarm diesen Weg konsequent gegangen ist: seine Bismarck-Vorlesungen. E r teilt keineswegs den Standpunkt seiner akademischen Lehrer und vieler seiner Zeitgenossen, sondern sagt unverblümt, als was er Bismarcks Politik ansieht, nämlich als Machtpolitik der militaristisch-junkerlichen Kreise. Auch diesmal lenkt er den Blick vor allem auf die Person Bismarcks, läßt aber immer deutlich werden, daß er in ihm nur den Exponenten einer bestimmten Fraktion der herrschenden Klasse sieht. E r hatte diese Vorlesungen selbst einmal „Ketzereien" genannt. 19 ® Unter dieser Voraussetzung wundert es nicht, wenn er sich mit Sybels 18» Vgl. z. B. den Aufsatz: Derselbe, Aus der Geschichte der preußischen Volksschule, in: Historische Aufsätze und Reden, a. a. O., S. 109 ff. l n 181 Autobiographie, S. 218. Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 1.1.1909. ltl
1,8
104 1,5 196
Duncker, Max, Preußen während der französischen Okkupation, in: Zeitschr. f. preuß. Gesch. u. Landeskunde, Jg. 8, 1871, S. 643 ff. Lehmann, Max, Die Genesis des preußisch-russischen Bündnisses von I8IJ. Eine Studie über neuere Historiographie, in: HZ, Bd. 112, 1914, S. JIJ. Er sah io Dunckers Aufsatz „nichts andeies als eine Apologie Friedrich Wilhelms III" (Ebenda, S. 285). Er zeigt, daß Treitschke nach Erscheinen der Scharnhorst-Biographie gezwungen war; in der $. Auflage seiner „Deutschen Geschichte" einige Korrekturen vorzunehmen: „Aber die von Treitschke gemachten Zugeständnisse reichen nicht aus" (Ebenda, S. ?2J). Vgl. dazu auch Treitschke, Heinrich v., Briefe, a. a. O., S. 632 f. Lehmann, Max, Die Genesis des prcußisch-russischen Bündnisses von 1813, a. a. O.,'S. 326. Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 25.10.1908. Ebenda, 2.12.1906: „Bis jetzt bin ich wegen der in meiner Bismarck-Vorlesung begangenen Ketzereien noch nicht gesteinigt, aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben."
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und.Mareks' Bismarckbild kritisch auseinandersetzt, dies .als verfehlt ansieht 1 9 7 und Bismarck als den „skrupellosesten Politiker aller Zeiten" charakterisiert. 198 Lehmanns Bismarckbild, das allerdings nur die Entwicklung bis zur Reichseinigung von oben 1871 berücksichtigt, wird von der Tendenz bestimmt, die Doppelzüngigkeit Bismarcks, die Gewaltsamkeit seiner Diplomatie und den expansionistischen Charakter seiner Politik aufzudecken. E s ist verständlich, daß das Bild demzufolge von recht dunklen Farben bestimmt wird. Siegfried A . Kaehler rügt deshalb, die Vorlesung bewege sich „auf der schmalen Grenze zwischen wissenschaftlichem Bericht und politischem Plädoyer gegen das Preußen der Reichsgründungszeit"; er sieht darin „die Fortsetzung seines Angriffs auf Friedrich den Großen und den .Borussismus', für den jetzt ein anderer Vertreter dieses Geistes vor dem Richterstuhl des .Priesters der Wahrheit' steht". 199 Gewiß bieten die Vorlesungen nicht das ausgewogene Bild, das von einer umfassenderen Darstellung zu erwarten gewesen wäre. 204 Sieht man einmal davon ab, daß die Auseinandersetzung mit der Bismarckschen Machtstaatspolitik in den Jahren vor und während des 1. Weltkrieges eine höchst aktuelle Frage war und Lehmann mit seinen Vorlesungen in die ideologischen Auseinandersetzungen um die politische Konzeption der imperialistischen Politik seiner Zeit eingriff, so zeigen die Vorlesungen doch, daß er von der richtigen Erkenntnis ausging, daß das von ihm bekämpfte Preußentum friderizianischer Prägung in der Bismarckschen Politik in gewandelter Gestalt fortlebte. Karl Brandi schrieb über Lehmann: „Seine strenge Lebensgesinnung sträubte sich gegen die Maximen der Staatsräson, ihochte sie ihm In alten oder neuen Zeiten begegnen." 2 0 1 Wenn wir die Erklärung auch nicht in Lehmanns „Lebensgesinnung" suchen, stimmen wir zu, daß von hier eine Brücke zu Lehmanns politischen Auffassungen zu schlagen ist. Die Ablehnung der postulierten „Staatsräson" ermöglichte es ihm, dem Problem der nationalen Frage freimütiger zu begegnen als viele seiner Zeitgenossen. Aufschlußreich sind die folgenden Gedanken aus der Bismarck-Vorlesung: „Noch einmal: das Deutsche Reich von 1871 ist in einem solchen Maße die Schöpfung eines einzelnen Mannes, daß man sich hüten muß, diese Lösung des deutschen Problems als die allein mögliche anzusehen. Gestehen wir nur: aussichtslos waren die österreichischen Pläne mitnichten." 2 0 2 1ÖT
Über die Bismarck-Biographie von Mareks: „Bis jetzt habe ich noch kein zustimmendes Urteil gehört. Der Gießener Haller . . . hat erklärt: er denke nicht.daran das Buch zu studieren, für so unfähig zu seiner Aufgabe halte er den Vf. Das ist auch meine Meinung" (Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 28.1.1910). 1,9 Lebmann, Max, Bismarck, a. a. O., S. 135. Die Wandlung des Bildes wird an folgendem sichtbar: anstelle von „skrupellosesten" stand anfänglich „von dem klügsten und willenskräftigsten" (Ebenda, S. 210, Anm. 38). >•» Kaebler, Siegfried, August, a. a. O., S. 39. 3X1 Das Buch wurde 1948 aus dem Nachlaß veröffentlicht. Kaehler spricht sich überhaupt gegen die Tatsache der Publikation aus. 201 Brandi, Karl, Mittlere und neuere Geschichte, in: Aus fünfzig Jahren deutscher Wissenschaft. Die Entwicklung ihrer Fachgebiete in Einzeldarstellungen, hg. von Gustav Abb, Friedrich Schmidt-Ott zum 70. Geb., Berlin-Freiburg-München-Leipzig 1950, S. 190. /t4S Lebmann, Max, Bismarck, a. a. O., S. 107. - Vgl. auch S. 41. An Delbrück schrieb Lehmann am 28.12.1912: längst habe auch ich in meinen Vorlesungen betont, daß auch eine andere
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Lehmann hatte sich in in seinen Anfängen bewußt der politischen Geschichtsschreibung im Sinne der kleindeutschen Schule zugehörig gefühlt. Aber die Bismarck-Vorlesung macht noch einmal deutlich, wie sehr sich der Inhalt seiner Geschichtsauffassung im Laufe der Jahr2ehnte wandelte. Meinecke hat bemerkt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts habe man der „preußisch-deutschen Vergangenheit... freier und kritischer ins Auge schauen" können. 203 Lehmanns Forschungsarbeit ist daraus in ihrer Tendenz allein nicht zu erklären. Ihm ging es nicht nur darum, einigen historischen Plunder und Ballast abzuwerfen, sondern er fühlte, daß die bürgerliche Geschichtswissenschaft in eine Krise geraten war, und er rang um eine neue Sicht der deutschen Geschichte. Seine liberalistischen Anschauungen, seine gegen Nationalismus, Chauvinismus und Preußentum gerichteten Bestrebungen spiegeln sich in seiner Geschichtsschreibung wider, so wie diese ein Ausdruck der ideologischen Auseinandersetzung mit der Politik -der herrschenden Klasse war. Seine Geschichtsschreibung zeugt von dem Bemühen, ein Geschichtsbild zu konzipieren, das dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts verpflichtet war. E r hatte sich mit der feudalen Reaktion, den Machtstaatspolitikern, dem Preußentum, dem Militarismus und dem Klerikalismus auseinanderzusetzen. D i e Grenzen' dieser liberalistischen Geschichtsauffassung zeigten sich in den in seiner politischen Konzeption sichtbaren antidemokratischen Tendenzen, die sich vor allem in der Ablehnung der Revolution, der Bejahung der Reformen und der Negierung der sozialistischen Bewegung widerspiegelten. In methodologischer Hinsicht werden diese Grenzen, in der Ablehnung einer gesetzmäßigen historischen Entwicklung und der Vernachlässigung der Rolle der Volksmassen als treibende historische K r a f t sichtbar. Hierin zeigte sich die Tragödie des von den gesellschaftlichen Bewegungen losgelösten Intellektuellen. Seine bewußt betonte individualistische Haltung war keine Vorzugsstellung, sondern Ausdruck der Krise, in der sich die bürgerliche Geschichtsschreibung befand. Die Isolierung war kein Ausweg, sondern ein Irrweg. So ist es sicher nicht zufällig, daß Lehmann mit 60 Jahren im wesentlichen seine großen Arbeiten abgeschlossen hatte und nach dem Erscheinen des dritten Bandes der Stein-Biographie keine in ähnlicher Weise bahnbrechende Arbeit mehr vorlegte. In Lehmanns Entwicklung zeigt sich die ganze Widersprüchlichkeit, die der kapitalistischen Epoche immanent ist. Lehmanns Geschichtsschreibung war politische Geschichtsschreibung. E r selbst suchte dies immer wieder zu verdecken, indem er das Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit als den eigentlichen Zweck seiner wissenschaftlichen Arbeit herausstellte. 20 * In Anlehnung an Ranke forderte er, „daß wir Priester seien, Priester der Wahrheit, und weder nach rechts noch nach links schielen
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Lösung des deutschen Problems möglich gewesen wäre, und habe die Wunde beklagt, die 1866 dem Deutschtum geschlagen wurde" (Nachlaß Delbrück). Meinecke, Friedrich, Erlebtes, a . a . O . , S. Askenazy, Szymon, a. a. O., S. 349: „ . . . getreu dem Grundsatz, der das A und O unserer Wissenschaft isr: erst die Wahrheit und die Gerechtigkeit, dann alles Andere" (Lehmann an Askenazy, 29. j. 1912). In seinem Artikel „Wie uns das Elsaß wieder verloren ging" hatte er geschrieben: „Nein, nur diejenigen Reiche werden dauern, die absagen der Gewalt und der Lüge, die sich zuwenden der Gerechtigkeit und der Wahrheit" (Berliner Tageblatt, Jg. 48, Nr. 395, 24. 8.1919).
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sollten, Priester der Wahrheit, deren Bedingung wieder ist die Gerechtigkeit." 805 Diese ihm oft vorgeworfene Verabsolutierung des Suchens nach der Wahrheit hat wiederum gesellschaftliche Ursachen, die wir in folgendem sehen: Einmal mußte die Frontstellung gegen die Verfälschung der preußisch-deutschen Geschichte durch die borussische Geschichtsschreibung zu einer hohen Wertschätzung der historischen Wahrheit führen und das Suchen nach dieser Wahrheit als das erstrebenswerte Ideal erscheinen. Bei einem von Kantschen Ideen beeinflußten Historiker wie Lehmann mußte das außerdem zu einer stark ethisch und moralisch motivierten Beurteilung historischer Prozesse führen. Den Ausweg aus der Krise der bürgerlichen Geschichtsschreibung konnte Lehmann bei seiner Betonung des Individualismus und seiner Verkennüng der historischen Rolle der progressiven Klassenkräfte nur in einem abstrakten Suchen nach der historischen Wahrheit sehen. Zum anderen brachte er immer wieder zum Ausdruck, wie sehr er sich nach einer von humanistischen Idealen bestimmten Ausgeglichenheit des Lebens jenseits allen Parteikampfes sehnte. An Delbrück schrieb er einmal, er lege sich manchmal die Frage vor, ob er nicht den Beruf verfehlt habe, „ob ich nicht besser meine. Hand von der politischen und KriegsGeschichte fern gelassen und mich der Kunst- oder der Literatur-Geschichte zugewandt hätte." «>« Namentlich wenn er seiner Italienreisen gedachte, gab er solchen Stimmungen Ausdruck. 1925 schrieb er an Delbrück: „Sie glauben nicht, wie groß meine Sehnsucht, noch einmal das Land der Schönheit zu schauen, in dem ich so unbeschreiblich glückliche Tage verlebt habe." t m Bereits 1895 hieß es in einem Brief an Treitschke: „Wäre ich früher dorthin gekommen, ich wäre wohl nicht zurückgekehrt." 208 Auch dadurch mußte seine Wertschätzung einer als entpolitisiert erscheinenden Wahrheit gefördert werden. Dies hat jedoch mehr Bedeutung für die Aufdeckung seiner methodologischen Positionen als für die Analyse seiner historischen und politischen Auffassungen, weil sich in der praktischen Arbeit und im politischen Kampf die abstrakte Wahrheitsvorstellung sehr schnell zerschlug. Sie kennzeichnet aber Lehmanns idealistische Position und erklärt, warum er einen so erbitterten Kampf gegen seine Widersacher führte: er sah, daß sie die historische Wahrheit verfälscht• hatten.209 Im Kampf um die historische Wahrheit leistete er einen wichtigen Beitrag zur Zerstörung wahrheitsfremder Legenden und trug er zur Konzipierung eines progressiven Geschichtsbildes bei. Angesichts der neuen Versuche, seine Geschichtsauffassung zu bagatellisieren und zu entwerten, wie es in den Arbeiten von Waltraut Reichel und Siegfried A. Kaehler 205
20s 807 208 209
Lehmann, Max, Bismarck, a. a. O., S. 160. Derselbe, Friedrich der Große und der Ursprung des siebenjährigen Krieget, a. a. O., S. 140: Die Geschichte „erschließt ihre Geheimnisse immer nur denen, die ihr mit reinem und keuschem Sinn nahen: die historische Wahrheit ist an sich Religion". Nachlaß Delbrück, Lehmann an Delbrück, 7. 7.1907. Ebenda, 8.7.1925. Nachlaß Treitschke, Lehmann an Treitschke, 8.1.1895. Vgl. dazu KriU, Hans-Heinz, Die Rankerenaissance. Max Lenz und Erich Mareks. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken in Deutschland 1880-1955. Berlin 196^, S. iz f.
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geschieht 210 , muß die positive Leistung Lehmanns betont werden. Er war immer unbequem ,gewesen, er hatte gekämpft, aber er mußte unterliegen, solange die gesellschaftlichen Bedingungen sich nicht änderten. Sein Leben und sein Werk aber verdienen Beachtung und Anerkennung, weil er es nach seinen Möglichkeiten in den Dienst für den gesellschaftlichen Fortschritt stellte. W . Reichel rügt z. B. an Lehmanns Darstellung das „Unvermögen, die realen Notwendigkeiten des preußischen Staates in ihrer Zeit zu erfassen" (Reichel, Waltraut, a. a. O., S. 38); er erfasse das Preußen Friedrichs II. „in einem Bilde von wirkungsvoller Einseitigkeit". (S. 40); in seiner Darstellung werde „das stehende Heer Preußens vom Zeitpunkt der Veröffentlichung des zweiten Bandes seiner Scharnhorst-Biographie an in steigendem Maße diskreditiert" (S. 59 f.); er habe „die eigenen Wunschbilder immer dann in die Vergangenheit r e p r o j i z i e r t . . . , wenn er gegen die Wirklichkeit seiner Gegenwart eine vorgefaßte Meinung hegte" (S. 88); er habe sich „mehr und mehr von einer objektiven Darstellungsweise" entfernt, „indem er der .Historie' die Aufgabe zuschrieb, sittliche Werturteile zu fällen" (S. 91). - S. A . Kaehler betont gleichfalls, das subjektive Element habe Lehmanns Geschichtsschreibung beherrscht, und er fügt hinzu: „ D a s eigentlich Paradoxe an Lehmanns bedeutsamer Erscheinung bleibt nur der merkwürdige Widerspruch, daß dieser genuine Polemiker in dem fast naiven Glauben lebte, der ungefärbten, der absoluten Wahrheit gewissenshalber zu dienen" (Kneblet, a. a. O., S. 43 f.).
Siegfried. August,
Vom Beginn der imperialistischen JEpoche bis zum ersten Weltkrieg und der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution
Die Ranke-Renaissance Hans Schleier
In seiner bekannten Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung hob Srbik die Überwindung der preußisch-deutschen oder politischen Schule durch die sogenannte „Ranke-Renaissance im Zweiten Deutschen Reich" nachdrücklich hervor und pries den durch sie erzielten „Wiedergewinn wissenschaftlichen Ebenmaßes"'. 1 Ein jüngerer Historiker der Meinecke-Herzfeld-Schule bewertete diese Erscheinung als den „bedeutendsten Revisionsversuch der deutschen Geschichtsschreibung vor der zweiten großen Wende nach 1945". 2 Wobei allerdings zu sagen ist, daß hier neben den RankeEpigonen vor dem ersten Weltkrieg vor allem die Ranke-Rezeption durch einen Friedrich Meinecke und die anderen Vertreter der Historismus-Auffassung ins Auge gefaßt ist. Ein anderer bekannter Meinecke-Anhänger wie Walther Hofer antwortete 1956 auf die Frage, wieso Ranke wieder so stark diskutiert werde, mit Ranke sei die Frage einer idealistischen Geschichtskonzeption überhaupt aufgeworfen, die Diskussion erlange also weitreichende allgemeine Bedeutung für den Krisencharakter „unserer Situation" 3 (d. h. der imperialistischen). Schon hier wird deutlich: Seit der Wiederbelebung Rankes in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ist die Debatte um Rankes Geschichtsschreibung, sein Geschichtsdenken nicht verstummt. Die Ranke-Renaissance ist ein Symptom der damaligen Krise der bürgerlichen Geschichtsschreibung; und die Diskussion um Ranke begleitet auch die gegenwärtige Krise der westdeutschen Historiographie. Doch ist die Rankebewegung, wie man sie auch genannt hat, keinesfalls einheitlich und daher in ihrer Vielschichtigkeit nicht leicht zu charakterisieren. Auf Ranke berief man sich in den verschiedenen Epochen immer wieder - vom wilhelminischen Deutschland bis zur Bonner Republik. Auf Ranke berufen sich ganze Schulen und zahlreiche Einzelgänger der imperialistischen Geschichtsschreibung: Konseryative wie Liberale, Empiristen wie Geschichtsphilosophen, streitbare Anhänger einer theologischen Geschichtsbetrachtung wie Vertreter eines der Religion abgekehrten Agnostizismus, und auch heute wieder westdeutsche Historiker der unterschiedlichsten Schattierungen. Ebenso werden 1
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Srbik, Heinrich v„ Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. 2, München-Salzburg 1951, so lautet die charakteristische Überschrift des 1. Kapitels. Krill, Hans-Heinz, Die Rankerenaissance. Max Lenz und Erich Mareks. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken in Deutschland 1880-1935, Berlin 1962, S. 2. (Veröffentlichungen d. Berliner Histor. Kommission d. Meinecke-Instituts, Bd. 3.) - Vgl. dazu meine Rez. in Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG), Jg. 12, 1964, H. 3, S. 497 ff.
' Hofer, Waltber, Geschichte zwischen Philosophie und Politik. Studien zur Problematik des modernen Geschichtsdenkens, Stuttgart 1956, S. 4. 7*
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die verschiedensten Seiten der Geschichtsschreibung Rankes angesprochen. D i e Bemühungen reichen von der Kanonisierung seines gesamten Geschichtsbildes bis zur im ganzen sich der Distanz der Zeiten bewußten - Anknüpfung an wesentliche Grundgedanken seines geschichtlichen Denkens. Diese Kompliziertheit und Weitläufigkeit der Problematik gestattet es daher nur, auf einzelne Aspekte der Ranke-Renaissance einzugehen, die für unser Grundanliegen, das Wechselverhältnis von Politik und Geschichtsschreibung in der deutschen Geschichtswissenschaft darzustellen, von besonderer Bedeutung sind.
I. Betrachten wir zunächst die Ranke-Renaissance am Ausgang des 19. Jahrhunderts, für die dieser Begriff im engeren Sinne am häufigsten anzutreffen ist. Welches sind die hauptsächlichsten politisch-ideologischen Ursachen für die Wiederbelebung Rankes, der in den Jahren der Reichseinigung weitgehend von der preußisch-deutschen Schule in den Hintergrund gedrängt worden war? 4 Die beliebteste und nahezu überall anzutreffende Version der bürgerlichen Historiographiegeschichte ist die These von den 1871 erfüllten nationalen Forderungen, wonach der Geschichtswissenschaft nunmehr wieder Gelegenheit gegeben war, zu leidenschaftsloser, unbefangener wissenschaftlicher Betrachtung überzugehen, als deren großes Idol Ranke angesehen wurde. Doch kann dies nicht entscheidend sein, nahm doch die kleindeutsche Schule in den 70er und 80er Jahren noch einmal einen äußerlichen A u f schwung und hielt noch jahrelang die wissenschaftlich-organisatorischen Kommandostellen besetzt. Überhaupt ist der Lösung dieser Frage mit einer rein wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtung nicht beizukommen. Die in den 80er Jahren mit aller Deutlichkeit in Erscheinung tretende Krise der bürgerlichen Geschichtsschreibung, die in den 90er Jahren dann zum offenen Ausbruch kam, ist nur zu verstehen ^als die ideologische Begleiterscheinung der politischen Krise des Bismarckschen Bonapartismus und des Umschichtungsprozesses des gesamten gesellschaftlich-politischen Lebens in der Übergangsphase zum Imperialismus. In dieser Zeit gelangte die RankeRenaissance erst zum eigei.tlichen Durchbruch, wurde schulebildend. Die 1871 einsetzende rapide Entwicklung Deutschlands zu einem hochindustrialisierten kapitalistischen Staate, der allmählich eintretende Ubergang zum Imperialismus berührten mit ihren gewaltigen sozialen Umschichtungen alle Klassen bis hinauf zu den regierenden Schichter des Junkertums und der Großbourgeoisie. Immer beunruhigender für die herrsche .den Klassen erwies sich vor allem das Anwachsen der Arbeiterklasse, der Aufscnwung der rev olutionären deutschen Arbeiterbewegung und die Durchsetzung des Mirxismus in der Sozialdemokratie. " * Vgl. zu Ranke u. seinem geringen Einfluß in der Reichseinigungszeit sowie allgemein Gerhard,
Leopold von Fanke, in Bd. 1 der vorliegenden Studien, S. 241 ff. -
Schilfert,
Vgl. ferner
BaüHuinieiiH, O.JJ., JleOüOJiba i>OH PaHKe h conpeMeHiiaH 6ypi«ya3HaH HCTopHorpaHH, in: KpHTHKa HOBeftuieft Kya3HOii iKT0pH0rpa(j)HH, Moskau—Leningrad 1961, S. 113 ff.
Die Ranke-Renaissance
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In der dadurch ausgelösten akuten Krise des bürgerlichen Geschichtsdenkens erweist sich die zur Methode erhobene Rankeverehrung seiner Epigonen nur als ein vermeintlicher Ausweg unter vielen vergeblichen Lösungsversuchen. Denken wir aus der Vielzahl der neben- und auch gegeneinander herlaufenden Richtungen nur an die Tendenzen der Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie, an die Soziologie oder die Kulturgeschichte, in der Geschichtsphilosophie an den Neukantianismus oder die Lebensphilosophie. Von politisch-historischen Auseinandersetzungen griffen die Debatten über auf die Methodologie der Historiographie, auf die Frage nach der historischen Erkenntnis und dem Sinn der Geschichte. Direkt oder indirekt leuchtete durch die scheinbar abgelegensten Probleme der Geschichtsmethodologie der tiefgreifende Widerspruch der sozialökonomischen Entwicklung. Die bislang tonangebende preußisch-deutsche Schule 5 zeigte sich den politischideologischen Veränderungen aus einer Reihe von Gründen nicht gewachsen. Besonders seit 1878/79 wurde die Klitterung der preußisch-deutschen Geschichte bis zur Unglaubwürdigkeit getrieben, fand daher auch unter den Fachkollegen immer mehr offene oder heimliche Widersacher. Weiter erwies sich das offene Eingeständnis der pQlitischen Aufgabenstellung der Historie bei der Emanzipation der deutschen Arbeiterbewegung als ein Bumerang, da diese ja längst der bürgerlichen Ideologie entwachsen war und der historische Materialismus Eingang gefunden hatte. Ein auf Ranke bezogenes Objektivitätsideal für die Geschichtswissenschaft sollte noch einmal versuchen, das Geschichtsbild der Arbeiterklasse der bürgerlichen Geschichtsideologie unterzuordnen. Hinzu kommt, daß die vorrangig behandelte Geschichte der Staatsentwicklung, der Außenpolitik und das Tun und Lassen der großen Männer den Blick für die Massenbewegungen und die sozialökonomischen Verhältnisse versperrte. Nicht nur, daß die politischen Historiker das durch eine sich enorm ausbreitende Spezialforschung anfallende Faktenmaterial nicht mehr erfaßten und verarbeiteten, sie blickten auch, wie z. B. Schmoller in dem Nachruf auf Sybel und Treitschke versichert hat 6 , mit größtem Mißtrauen auf die Wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschungen. Die vornehmlich auf Preußen-Deutschland ausgerichtete Geschichtsschreibung der kleindeutschen Schule wurde durch die Entdeckung der außereuropäischen Geschichte in räumlich-geographischer, durch die Archäologie und die Urgeschichte in chronologischer Hinsicht förmlich gesprengt. Die Rückbesinnung auf den Universalismus eines Ranke, so unzureichend er sich gerade für diese Gebiete in der Folge auch erwies, wurde wieder aktuell. Schließlich bewirkte der ausgesprochen atheoretische und eklektische Zug in der Ge5
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Vgl. dazu meinen Artikel über „Die kleindeutsche Schule (Droysen, Sybel, Treitschke)" in Bd. 1 der vorliegenden Studien, S. 271 ff. Schmollet, Gustav, H. v. Sybel u. H. v. Treitschke, in: Charakterbilder, München-Leipzig 1915, S. uo. - Vgl. zu den Veränderungen innerhalb der bürgerlichen Historiographie Kon, I. S., Fragen der Theorie der Geschichtswissenschaft in der modernen bürgerlichen Geschichtsschreibung, in: Z f G , Jg. 7, 1959, H. j, S. 976 ff.; Markov, Walter, Zur Krise der deutschen Geschichtsschreibung, in: Sinn und Form, Jg. 2, 1950, H. 2.
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schichtsschreibung der preußisch-deutschen Historiker, daß die durch das Krisenbewußtsein und die Ausweitung der historischen Forschung jetzt verstärkt aufgeworfenen methodologischen Fragen nicht aufgegriffen, geschweige denn beantwortet wurden. Und das in dem Moment, wo die idealistische deutsche Geschichtsschreibung durch den anrückenden westeuropäischen Positivismus und den Aufschwung der Naturwissenschaften in ihrem Subjektivismus, Irrationalismus und Individualismus auch aus dem eigenen bourgeoisen Lager angefochten wurde. Entgegen der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Einstellung begannen jetzt auch in Deutschland vereinzelt Historiker und Nachbarwissenschaftler - ohne im allgemeinen den idealistischen Standpunkt zu verlassen - nach gewissen theoretischen Verallgemeinerungen, Gesetzmäßigkeiten bzw. typischen Erscheinungsformen der historischen Entwicklung zu suchen. Neben- und miteinander erhoben sich Historiker, Theologen und Philosophen, unter sich selbst wieder. divergierend, zur Rettung der individualistischen und irrationalistischen Geschichtsbetrachtung, immer wieder auf die verschiedenste Weise an Ranke anknüpfend. E i n weiteres Moment für die Wiederbelebung Rankes ist in der sich herausbildenden aggressiven Zielstellung des deutschen Imperialismus gegeben. Gegenüber dem plumpen Nationalismus der preußisch-deutschen Schule, der in der Folge von den alldeutschen Historikern und Publizisten noch gesteigert wurde, zogen es die RankeEpigonen vor, die imperialistischen Ansprüche in der Weltpolitik unter dem Deckitian'tel des Rankeschen Universalismus und in Anlehnung an seine These von dem sogenannten Gleichgewicht der Mächte verhüllter und zugleich mindestens ebenso umfassend zu vertreten. Ohne diese allgemeinen politisch-ideologischen Voraussetzungen, die hier nur angedeutet werden konnten, ist die seit den 80er Jahren einsetzende Ranke-Renaissance nicht richtig zu verstehen, die, erst von einzelnen getragen, immer breiteren Einfluß gewann und in organisierter Form in die bürgerliche Historiographie hineingetragen wurde. Auch sie konnte freilich die durch das Krisenbewußtsein aufgeworfenen Probleme nicht lösen und weigerte sich auch, manche dieser Fragen ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen bzw. sie in der Geschichtsforschung zu berücksichtigen. K a r l Lamprecht hat die ironische Bezeichnung „Jungrankeaner" in Umlauf gebracht, die das Epigonenverhältnis dieser Historiker zu ihrem Meister Ranke charakterisiert. Übrigens hat sich M a x Lenz selbst und seinesgleichen in einem ehrlichen Augenblick einmal als „wir Epigonen" 7 bezeichnet. Die Jungrankeaner strebten nicht nur danach, Rankes historische Methode fortzuführen, die ja auch in den zurückliegenden Jahren von Rankes engeren Schülern weiter gelehrt und von einer ganzen Schar sogenannter Spezialisten sogar zum Hauptkriterium für die Geschichtswissenschaft gemacht worden war, sondern sie erhoben darüber hinaus weitgehend Rankes Geschichtsbetrachtung und sein Geschichtsbild als noch gültig und wegweisend für ihre Zeit. Wie sehr das gesamte Werk Rankes kanonisiert wurde, kennzeichnet so recht M a x Lenz, der beispielsweise in Rankes „Politischem Gespräch" und in seinen „Großen Mächten" die „Summe der neueren ' Lenz, Max, Die großen Mächte. Ein Rückblick auf unser Jahrhundert, Berlin 1900, S. 5.
Die Ranke-Renaissance
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Geschichte und damit auch die Grundlage" für „alle Politik" enthalten sah und der aus Rankes Anschauungen die „Feststellung historischer K r ä f t e " schlechthin machte und ihnen daher „eine ewige D a u e r " wie den „Keplerschen Gesetzen" zuschrieb. 8 D i e Rankeschule hat, wie ein westdeutscher Soziologe formulierte, damals das „Monopol der "Wissenschaftlichkeit beansprucht und durchgesetzt". 9 D i e Ranke-Epigonen übertrugen die reaktionären Auffassungen Rankes aus dem Zeitalter der vormärzlichen Restauration und der Reaktionsperiode der 50er Jahre mit entsprechenden Abwandlungen auf die imperialistische Zeit. Als imperialistische Geschichtsideologen haben sie auf die bürgerliche Geschichtsforschung und darüber hinaus auf die breite Öffentlichkeit durch ihre historischen Darstellungen vor dem ersten Weltkrieg einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt. In den 80er Jahren setzte die systematische Beschäftigung mit den Werken Rankes in Vorlesungen und Seminaren ein. 1 0 Schon in die 70er Jahre zurück reichen die Huldigungen A l f r e d Doves ( 1 8 4 4 - 1 9 1 6 ) , der nach Rankes Tode im Jahre 1886 die Ausgabe seiner sämtlichen Werke fortsetzte und bereits 1888 eine Ranke-Biographie veröffentlichte. 1 1 B a l d folgte eine ganze Flut von Artikeln und Schriften über Ranke. 1893 kam eine zweite apologetische Biographie von Eugen G u g l i a 1 2 heraus. E r innerungen und einzelne Ranke-Briefe schlössen sich a n . l s E s wurde Mode, sich in historischen Arbeiten auf den „Meister", „Altmeister" oder gar „Großmeister" der Geschichtsschreibung Ranke zu beziehen. D i e schulebildenden Mentoren dieser Ranke-Renaissance waren Erich Mareks (1861—1938) und vor allem M a x Lenz ( 1 8 5 0 - 1 9 3 2 ) u , unter dessen Schülern in erster Linie Felix Rachfahl ( 1 8 6 7 - 1 9 2 5 ) und Hermann Oncken (1869-1945) und wiederum manche ihrer Schüler. Oncken war allerdings I m Gegensatz zu seinem Lehrer M a x Lenz Liberaler und wich namentlich später stark von ihm ab. Von Berlin aus gelang es den Jungrankeanern, auch auf andere einflußreiche Universitätslehrstühle überzugreifen. „Wir M e t h o d i k e r . . . " , sagte M a x Lenz einmal, 8
Derselbe, Leopold Ranke (188)), in: Kleine historische Schriften, Bd. 1, München-Berlin 1922, S. 9, 12. • Kesting, Hanno, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Deutungen der Geschichte von der Französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt, Heidelberg 1959, S. 129. 10 Felix Rachfahl z. B. berichtete von einem Seminar seines Lehrers . Lenz, der die Darstellungen Sybels und Rankes zur Vorgeschichte der Französischen Revolution verglich und ihn für Ranke gewann. (Rachfahl, Felix, Autobiographie, in: Die deutsche Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. S. Steinberg, Bd. 2, Leipzig 1926, S. 202). Oder: Hans Delbrück hielt eine Übung „Einführung in das Studium der Werke Rankes" ab. (Helmolt, Hans F., Leopold Rankes Leben und Wirken, Leipzig 1921, S. 184). 11 Seine Artikel über Ranke in: Dave, Alfred, Ausgew. Schriftchen vornehmlich historischen Inhalts, Leipzig 1898. 15 Guglia, Eugen, Leopold v. Rankes Leben und Werke, Leipzig 1895. 13 Helmolt, Hans F., der bereits eine „Ranke-Bibliographie" (Leipzig 1910) veröffentlicht hatte, zählte 1920 schon mehr als '400 Titel von Schriften über Ranke (Derselbe, Leopold Rankes Leben und Wirken, a. a. O., S. j). 14 Die Schriften von Mareks und Lenz und die bürgerliche Literatur über sie bei Krill, Hans-Heinz, a. a. O.
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„stehen in Reih' und Glied und schieben die Bastionen des Wissens vorwärts, langsam und geduldig. Wer fällt, findet leicht einen Ersatzmann . . . " 1 5 Hauptsächlich nach dem Tode der streitbaren Sybel und Treitschke verstärkte sich die öffentliche Kritik an den Grundsätzen der politischen Schule. 19 Der Einfluß der Ranke-Epigonen hätte aber vor dem ersten Weltkrieg kaum solche Ausmaße angenommen, wenn nicht neben den relativ geschlossen auftretenden „Methodikern" auch eine Reihe weiterer Historiker den Rückgriff auf Ranke mehr oder weniger stark unterstützt hätte. Hier seien nur genannt Moriz Ritter (1848 bis 1923), Max Lehmann (1845-1929) 1 7 , der Schweizer Alfred Stern (1846-195-6), Walter Goetz (1867-1958) und nicht zuletzt Friedrich Meinecke (1862-1954). Die Ranke-Nachfolger zerfallen, soviel läßt sich grob einschätzend sagen, in zwei Gruppen: eine konservative und eine gemäßigt-liberale Strömung. Zu der ersteren rechnen vor allem Lenz, Mareks und Rachfahl und zahlreiche ihrer Schüler, zu der letzteren gruppierten sich erst nach und nach Oncken, Lehmann, Delbrück, Meinecke, Goetz, die zum Teil von konservativen Anschauungen ausgegangen waren. Während es in bezug auf eine aggressive imperialistische Außen- und Weltpolitik nur kaum wahrnehmbare Unterschiede zwischen beiden Richtungen gab, treten diese in der Innenpolitik, etwa in der Haltung zum Parlamentarismus und vor allem zur Arbeiterbewegung deutlich hervor. Die strengen Methodiker unter den konservativen Rankenachfolgern bestimmten das Gesicht der Ranke-Renaissance bis in den ersten Weltkrieg hinein. Danach gewannen die mehr geschichtstheoretisch gerichteten Problemstellungen der liberalen Historiker die Oberhand, die Ranke als einen der wichtigsten Begründer der modernen Historismus-Auffassung zu feiern begannen. Im folgenden sollen einige Aspekte der Geschichtsschreibung und der Methodologie der Jungrankeaner hervorgehoben werden, wobei ein Eingehen auf die zahlreichen kleineren Divergenzen der einzelnen Historiker freilich nicht möglich ist und auch nicht als wesentlich erscheint. Die strammen Methodiker um Max Lenz als die eigentlichen Initiatoren der Rankebewegung stehen dabei im Mittelpunkt unserer Betrachtungen. Einen der unmittelbarsten Anknüpfungspunkte an Ranke bildete das bei jeder Gelegenheit hervorgekehrte Streben dieser Geschichtsideologen, nach der sogenannten 15
Lenz, Max, H. v. Treitschke, in: Kl. bist. Schriften, Bd. 1, a. a. O., S. 476. Zu den augenfälligsten Beispielen gehören neben Lenz' Treitschke-Rede (ebenda): derselbe, Die großen Mächte, a. a. O.; oder Oncken, Hermann, Bismarck und sein Werk in der neuesten Geschichtsschreibung (1902), in: Historisch-politische Aufsätze und Reden, Bd. 2, MünchenBerlin 1914.
" Vgl. den Beitrag von Vogler, Günter, Max Lehmann, in diesem Band S. 58 ff.; Lehmann, Max, Autobiographie, in: Die deutsche Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1, Leipzig 1925, S. 207 ff. - Die aus der Schule von S. A. Kaehler hervorgegangene Arbeit von Reichel, Waltraut, Studien zur Wandlung von Ma* Lehmanns preußisch-deutschem Geschichtsbild, Göttingen-Berlin-Frankfurt 1963, ist weniger charakteristisch dadurch, daß die Verfasserin Lehmann das Recht abspricht, sich Rankeaner zu nennen, als durch den massiven Angriff auf Lehmanns positive Bestrebungen, die Preußenlegende zu durchlöchern.
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Objektivität der Geschichtswissenschaft, einem der am meisten diskutierten, mißverstandenen und entstellten Probleme der bürgerlichen Geschichtsschreibung. In diesem Sinne hatten schon die Zeitgenossen und nicht zuletzt die politischen Historiker Ranke fehlbeurteilt. Jetzt meinte Max Lenz, daß sich nach der Reichseinigung die nationalen „Leidenschaften" gelegt hätten, „und so können wir wieder Gerechtigkeit üben". 18 Ohne wie die preußisch-deutschen Historiker Politik und Historie ineinander zu mengen, gelte es, „nichts wollen als lehren und forschen,... unbekümmert um die Folgen, welche sich für die Anschauungen und Ordnungen von heute daraus ergeben könnten . . . " 1 9 „Voraussetzungslos" die Vergangenheit zu sehen, wollte er zu einem „Kultus der Wahrhaftigkeit" erheben.20 Das glaubte Lenz auf dem „enggebahnten Weg" der strengen Quelleninterpretation zu erreichen, und sein Schüler Rachfahl warnte davor, „die Gebiete der Empirie mit denen transcendeoter Spekulation und Weltanschauung (zu) vermischen." 2 1 Nun hat es ja, wie wir seit Marx und Engels wissen, in der Klassengesellschaft noch nie eine „voraussetzungslose" Geschichtsschreibung gegeben; jeder Historiker ist, ob bewußt oder unbewußt, der Sprecher einer ganz bestimmten historischen Klasse oder oft einer ihrer ganz speziellen Schichten oder Strömungen. So kann historische Objektivität niemals von der sogenannten Voraussetzungslosigkeit hergeleitet werden, niemals von dem subjektiven Wollen eines Historikers, sondern allein von der Tatsache, ob seine Forschungsergebnisse das historische Geschehen wahrheitsgemäß widerspiegeln, ob es ihm gelungen ist, zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis des Verlaufs der Geschichte, ihrer Triebkräfte und Entwicklungsgesetze vorzustoßen. Gerade das hat aber die bürgerliche Historiographie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in wachsendem Maße abgelehnt und abgeleugnet, da sie die mit dem heranwachsenden Proletariat gesetzmäßig eintretenden Konsequenzen fürchtete. Den Jungrankeanerif machte die Fragwürdigkeit ihrer „Voraussetzungslosigkeit" stark zu schaffen; jedenfalls suchten die Lenz und Rachfahl die Objektivität nur als anzustrebendes, nie ganz erreichbares Ideal zu definieren und den „Kultus der Wahrhaftigkeit" auf diese Weise den Realitäten der bürgerlichen Historie anzunähern. Dieser Widerspruch ist natürlich auch einem kritischen Zeitgenossen wie Karl Lamprecht aufgefallen und in ironischer Form ausgebeutet worden. 22 Nicht zuletzt über diese für die Jungrankeaner unlösbare Klippe sollte daher die von der modernen Geschichtsphilosophie herausgearbeitete subjektivistische Geschichtsauffassung vom „Verstehen" der Ereignisse und Persönlichkeiten, die strenge künstliche Trennung der Natur- und Gesellschaftswissenschaften und ihrer Erkenntnistheorie und Methoden hinwegretten. Deshalb ist die moderne reaktionäre Geschichtsphilosophie ein enger Verbündeter der Ranke-Epigonen geworden, obwohl gerade die 16
Lenz, Max, D i e großen Mächte, a. a. O., S. 26. Derselbe,
Bismarck und Lassalle (1901), in: Kl. hist. Schriften, Bd. 1, a . a . O . , S. 386;
derselbe,
Luthers Lehre von der Obrigkeit, in: ebenda, S. 148. 50
Vgl. Krill, Hans-Heinz, Derselbe,
a. a. O., S. 69; Lenz, Max, Leopold Ranke, a. a. O., S. 12. -
Rankes biographische Kunst und die Aufgaben des Biographen. Rede
3. 8.1912, Berlin 1912, S. 17; Rachfabl, Felix, Autobiographie, a. a. O., S. 217. 24
Vgl. Lamprecht, Karl, Epilog, in: D i e Zukunft, Bd. 22, 1898, S. 450.
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strengen Methodiker Lenz, Rachfahl und auch Mareks sich bewußt unphilosophisch geben. Krampfhaft haben sich die Jungrankeaner bemüht, nach plausiblen methodologischen Erklärungen für eine objektive Geschichtswissenschaft zu suchen und dabei besonders den Universalismus Rankes 2 3 und seine Religiosität 24 , die den verschiedensten Epochen und allen Seiten gerecht geworden seien, herangezogen. A d absurdum geführt wird das Objektivitätsstreben der Ranke-Epigonen aber durch die Praxis ihrer eigenen historischen Darstellungen, namentlich durch ihre Arbeiten über das 19. Jahrhundert und die Zeitgeschichte. Auch von dem westdeutschen Historiker Krill wird neuerdings die enge tagespolitische Bindung der Lenz und Mareks betont. 25 Wie sehr die „objektive" Geschichtsschreibung sich im Dienste der herrschenden Klassen fühlte, das hat Max Lenz 1 9 1 2 mit großem Pathos anläßlich eines feierlichen Gedenkens an den Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. verkündet: Die Berliner Universität sei ,„das geistige Leibregiment des Hauses Hohenzollern', um das stolze Wort zu wiederholen, das einer unserer Rektoren, Dubois Reymond, . . . geprägt hat." 2 9 Trotzdem hat das Objektivitätsideal der Ranke-Epigonen gegen alle Widerstände aus dem eigenen Lager in der bürgerlichen Geschichtsschreibung immer wieder zahlreiche überzeugte Anhänger gefunden. Friedrich Meinecke, obwohl kein Anhänger dieser Gedanken, hat einmal in aller Offenheit die Vorteile dieser Methode ausgeplaudert: „Mag der Historiker der Form nach auch das eigene Werturteil über sie (die Ereignisse - H. S.) zurückhalten - zwischen den Zeilen steht es doch da und wirkt als solches auf den Leser. E s wird dann oft - wie namentlich bei Ranke - tiefer und ergreifender, als wenn es in die Form einer unmittelbaren Zensur gekleidet wäre, und es ist deshalb als Kunftgriff sogar zu empfehlen." 2 7 Nach dem ersten Weltkrieg beschwor Walter Goetz unter Bezugnahme auf Ranke eine unparteiische, objektive, „reine" Wissenschaft, die nach rückwärts gerichtet sei und ihre Zielsetzung in sich selbst finden sollte. 28 E r wurde dafür von dem reaktionären Georg von Below mehrmals heftig angelassen, der aber die Unhaltbarkeit einer Forderung nach einer „unpolitischen" Historie deutlichmachte. Auch in der weitverbreiteten Ausgabe von Rankes „Historischen Meisterwerken" richtete der Mitherausgeber Adolf Meyer in einem der abschließenden zusammenfassenden AufM
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Vgl. z. B. Lenz, Max, Rankes biogr. Kunst, a. a. O., S. 16; Oncken, Hermann, Politik, Geschichtsschreibung und öffentliche Meinung, in: Hist.-pol. Aufs. u. Reden, Bd. 1, München-Berlin 1924, S. 213; Dove, Alfred, Leopold v. Ranke (1888), in: Ausgew. Schriftchen, a. a. O., S. 247. Vgl. Joacbimsen, Paul, Ranke und wir, in: Neue Jahrbücher f. Wissenschaft u. Jugendbildung, Jg. 2, 1926, H. 3, S. 301 f. - Nach 1945 auch wieder: Hinricbs, Carl, Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit, Göttingen-Berlin-Frankfurt 1954, S. 174 (Göttinger Bausteine z. Geschichtswissenschaft, Bd. 19). Vgl. Krill, Hans-Heinz, a- a. O., die Beispiele in den Kapiteln S. 80 ff., 174 ff., 197 ff. Lenz, Max, Rankes biogr. Kunst, a. a. O-, S. 3. Meinecke, Friedrieb, Kausalitäten und Werte in der Geschichte (1925), in: Schaffender Spiegel. Studien zur deutschen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1948, S. 67. Goetz, Walter, Die deutsche Geschichtsschreibung des letzten Jahrhunderts und die Nation, in: Historiker in meiner Zeit, Köln-Graz 1957. S. 96 ff., 104.
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Sätze Rankes „Tendenz der absoluten Tendenzlosigkeit" 2 9 als Forderung an die moderne Geschichtsschreibung. Das auch nach 1945 derartige Ambitionen keineswegs aufgehört haben, zeigt ein Artikel Eberhard Kessels, der einen grundsätzlichen Trennungsstrich zwischen objektiver und politischer Geschichtsschreibung ziehen will. 3 0 Z u welcher „ L o g i k " die militanten imperialistischen Historiker bei derartigen Versuchen. gezwungen sind, geht aus dem Objektivitätsbegriff Walther Hofers hervor, der den „partei- und tagespolitischen Interessen und Zwecksetzungen" die Vordertür weist und dann mit der „Absage an jede einseitige Theorie" (d. h. natürlich besonders die marxistische) durch die Hintertür höchst einträchtig miteinander ein „Höchstmaß von wissenschaftlicher Objektivität und politischer Nützlichkeit zugleich" einziehen läßt! 3 1 E i n weiteres Moment, womit die Rankenachfolger sich in deutlich hervorgekehrtem Gegensatz zur kleindeutschen Schule setzten, war der sogenannte Universalismus Rankes. Sie behaupteten, durch eine universale Geschichtsbetrachtung den Nationalismus und die Einseitigkeiten der preußisch-deutschen Historiker zu überwinden. Doch zeigen ihre historischen Darstellungen, daß ein von Ranke entlehnter Universalismus keineswegs die „Objektivität" verbürgt, wie sie vorgaben. Die methodologischen Ursachen liegen schon bei Ranke 8 2 selbst, der ja bekanntlich infolge seiner These vom Nichtheranreichen der historischen Erkenntnis an die wahren Ursachen und Triebkräfte der Geschichte eine Erforschung der Gesetze und Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung ablehnte, der den im ganzen einheitlichen und gesetzmäßigen Entwicklungsgang der Weltgeschichte mit seinem Fortschreiten von niederen zu höheren Gesellschaftsformationen zergliederte in ein Nebeneinander einzelner Epochen „zu Gott", der den Geschichtsprozeß auflöste in ein Mit-, Neben- und Gegeneinander von Staaten und Nationen und ihrer Herrscher. A l l e wirklichen Kriterien für historische Objektivität waren damit irrationalistisch und individualistisch aufgelöst. D e r frühe Meinecke rühmte an Ranke gerade, er habe „das universale Element im Leben der großen Staaten nicht ausgetrieben, sondern dahin gesetzt, wo es ihre freie Bewegung nicht mehr hemmt." 3 3 In dem „Verfließen des Besonderen in das UniM
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Meyer, Adolf, Rankes Stellung im modernen historischen Denken, in: Ranke, Leopold v., Historische Meisterwerke, Bd. 2 3 / 2 4 , Hamburg-Wien-Zürich 1 9 3 0 , S. 4 4 7 . Vgl. Kessel, Eberhard, Rankes Geschichtsauffassung, in: Universitas, Jg. 2 , 1 9 4 7 , H. 8 , 9 x 5 ff.; bes. S. 9 2 2 f., 9 2 J ; dazu den Widerspruch aus dem Meinecke-Lager: Herzfeld, Hans, Politik und Geschichte bei Leopold v. Ranke im Zeitraum von 1 8 4 8 - 1 8 7 1 , in: Festschrift f. C. Ritter z" seinem 60. Geburtstag, Tübingen 1 9 5 0 . Hofer, Walther, Geschichte zwischen Philosophie und Politik, a. a. O., S. 1 4 6 f. Vgl. Schilfert, Gerbard, Über das Verhältnis von Weltgeschichte und Nationalgeschichte in der bürgerlichen Weltgeschichtsschreibung, in: ZfG, Jg. 1 0 , 1 9 6 2 , Sonderheft, bes. S. 7 6 ff; zum marxistischen Begriff der Weltgeschichte vgl. auch: Geleitwort der Hauptredaktion, in: Weltgeschichte in zehn Bänden, Bd. 1 , Red. J. P. Franzew u. a.. Berlin 1 9 6 1 , S. 1 ff., und Berthold, Werner, Zu methodologischen Fragen einer wissenschaftlichen Weltgeschichtsschreibung, in: ZfG, Jg. 9 , 1 9 6 1 , H. 8 , S. 1 8 3 6 ff. Meinecke, Friedrieb, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, 5. durchges. Aufl., München-Berlin 1 9 1 9 , S. 3oi, zum folgenden S. 3 0 2 .
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versale, der Erfahrung in die Spekulation" lag für die imperialistische Geschichtsphilosophie der Reiz und die Möglichkeit, den Nationalismus und die wachsenden expansionistischen Ansprüche unter der Tarnkappe des Universalismus zu betreiben bzw. dafür nach historischen Traditionen zu graben. Max Lenz hat denn auch in einer seiner programmatischen Schriften den Machtbegriff Rankes in engen methodologischen Zusammenhang zu dessen'Universalismus gebracht. 84 Auch Hermann Onckens Forderung, „in der quellenmäßigen Einzelarbeit absolut sachliche Objektivität zu üben, und im Urteil stets den höchsten Standpunkt, die universale Betrachtungsweise, aufzusuchen, während der nationale Gedanke nur in der Farbe und dem Blute der Darstellung durchleuchten mag" 35 , zeigt die ganze Widersprüchlichkeit und Unhaltbarkeit dieser methodologischen Ausgangsposition der Ranke-Epigonen. Ihre Arbeiten zur Zeitgeschichte offenbaren denn auch vor und während des ersten Weltkrieges ihren Nationalismus und Chauvinismus. Rankes Begrenzung der „Weltgeschichte" auf den europäischen, genauer west- und mitteleuropäischen Raum sowie auf den vorderen Orient kam der imperialistischen Geschichtsideologie ebenfalls zustatten. Der Europazentrismus mit der ihm innewohnenden abschätzigen Wertung aller außereuropäischen, besonders der kolonial unterdrückten Völker kam so recht der imperialistischen Vorstellung von einer weitausgreifenden „Weltpolitik" entgegen. Seit Alfred Doves Huldigung an Rankes Weltgeschichte 36 pflegte die bürgerliche Historiographie den Europazentrismus als wesentliches methodologisches Prinzip der Weltgeschichtsschreibung. Während die marxistische Geschichtswissenschaft von der Gleichberechtigung aller Völker ausgeht und ihren jeweiligen Beitrag zum welthistorischen Prozeß untersucht, vertreten westdeutsche Historiker noch heute den Europazentrismus und die räumlich-politische Begrenzung der Weltgeschichte. 87 Ohne Zweifel hat auch Rankes Mißachtung der Volksmassen und ihrer Rolle in der weltgeschichtlichen Entwicklung als weiterer Anreiz für die eifrige Belebung seines Universalismus gedient. Eines der wichtigsten geschichtstheoretischen Prinzipien, das die Jungrankeaner von Ranke bezogen und weiter ausbauten, war der Machtstaatsgedanke und die damit verbundene Lehre vom Primat der Außenpolitik. Auf diesem Gebiete, und das wird auch von dem westdeutschen Historiker Krill für Lenz und Mareks zugegeben 8S , zeigt sich jedoch zugleich die starke Abhängigkeit der Ranice-Epigonen von der preußisch-deutschen Schule, obwohl rein äußerlich die Machtstaatsidee nur von Ranke abgeleitet wurde. Den Rankenachfolgern bot die ins Irrationale weisende Staatsidee Rankes die MögM 55
Lenz, Max, Die großen Mächte, a. a. O., S. 10.
Oncken, Hermann, Politik, Geschichtsschreibung und öffentliche Meinung, a. a. O., S. 224. Dove, Alfred, Zur Begrüßung der Weltgeschichte Rankes (1880), in: Ausgew. Schriftchen, a. a. 0 . „ S. 195. " Z. B. Wagner, Fritz, Rankes Geschichtsbild und die moderne Universalhistorie, in: Archiv f . Kulturgeschichte, Bd. 44, 196*, H. 1, S. 4 f.; oder Hinriebs, Carl, Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit, a. a. O., S. 180 f. 58 Vgl. KriU, Harn-Heinz, a. a. O., S. 80 f., 94 f., 108/113, 116 f., 134 f. M
Die Ranke-Renaissance
lichkeit zu einer raffinierten Verhüllung des Klassencharakters des Staates, zu einer Verschleierung der klassenegoistischen Interessen des Junkertums und der mit ihm eng liierten Großbourgeoisie. Rankes Ansicht von der dem Staate innewohnenden Individualität, der ihm eigenen geistigen Wesenheit, nur zum Teil empirisch erfaßbar und ins Metaphysische hinüberführend, wurde von Meinecke zu einer „geistigen Revolution" 3 9 des historischen Denkens überhaupt aufgebläht. Den Staatsindividualitäten schrieben Ranke und seine Epigonen als ihr oberstes ureigenstes Lebensinteresse die Aufgabe zu, ihre Macht zu festigen und zu behaupten. Deshalb standen im Mittelpunkt des historischen Interesses die sogenannte politische Geschichte, die Staatengeschichte, die Machtkämpfe der Staaten: also das Primat der Außenpolitik herrschte vor. Gegenüber Ranke verschärften die Epigonen - dieser Prozeß begann schon bei dem kleindeutschen Historiker Treitschke - den Machtstaatsgedanken noch, indem sie ihn mit dem' modernen, imperialistisch bestimmten Nationalismus und Chauvinismus verknüpften und eine der sogenannten deutschen „Nationalkraft entsprechende Großmachtstellung" 40 des wilhelminischen Reiches in der Weltpolitik ins Auge faßten. Von den europäischen Großmächten der Restaurationszeit war damit der Machtkampf der Staaten auf die ganze Erde übertragen: es gibt nur wachsen oder weichen." 4 1 Die brutale Machtgier entrückten die Lenz und Mareks zugleich in die Sphäre det „bitteren Notwendigkeit", des „Schicksals". Wenn aus dem Hauptzweck des Staates, das menschliche Leben zu schützen, unversehens oder bewußt immer ein Selbstzweck des Staates wurde, so hat das seine eigentliche Ursache nicht in der unzureichenden Gestaltung der Idee des Staates durch die einzelnen Historiker - obwohl die bürgerliche Historiographie bis heute mit Vorliebe an den sogenannten ethischen „Gegengewichten" der Machtstaatsidee an sich und in der Auffassung der einzelnen Geschichtsschreiber herumrätselt - , sondern in dem Klassencharakter des Staates in den vergangenen und in der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Zum Wesen des Staates gehörte auch die Bewahrung seiner Macht im Innern. Hierin betätigten sich die Jungrankeaner ganz als die Wortführer der reaktionären Innenpolitik, die seit 1878/79 auch Ranke und die kleindeutschen Historiker politisch wieder enger zusammengeführt hatte. Die Dove und Lenz münzten nach Luthers Lehre von der Obrigkeit „jede politische Gewalt" in „eine Gottesordnung" 42 um, der sich jeder zu unterwerfen habe. Selbstverständlich sollte die „schützende Decke der Macht" vor
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Metnecke, Friedrich,
Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 2. Aufl., München-
Berlin 192;, S. 481 u. ff. Oncken, Hermann, Bismarck und sein Werk in der neueren Geschichtsschreibung, a. a. O., S. 147. - Vgl. auch die angeführten Tatsachen bei Debio, Ludwig, Ranke und der deutsche Imperialismus, in: Historische Zeitschrift (HZ), Bd. 170, 19)0, H. 2. Lenz, Max, Die Religion im Aufbau der politischen Macht (1914), in: Kleine hist. Schriften, Bd. 3, München-Berlin 1923, S. 97. Auch S. 112 zum folgenden. Ebenda, S. 110. - Vgl. auch derselbe, Luthers Lehre von der Obrigkeit, a. a. O., S. 139 ff.; Dove, Alfred, Luthers Bedeutung für die Neuzeit überhaupt; in: Ausgew. Schriftchen, a . a . O . , S. 59.
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den Gefahren aus den „Tiefen" des Volkes bewahren.4* Mit diesen Kräften müsse der Staat „den Kampf um sein Dasein" 44 beginnen! Und Mareks leitete von dem gesteigerten Machtkampfe nach außen den verstärkten Antiliberalismus des Imperialismus ab und propagierte als Staatsform der Zukunft die starke Machtballung in der Hand überragender Führerpersönlichkeiten.45 Der enge Zusammenhang der aggressiven Machtpolitik nach außen und der Unterdrückung der Volksmassen im Innern bewahrheitet sich auch in der Stellung der Ranke-Epigonen zu sozialen Fragen und zur Arbeiterbewegung. Hierbei ergeben sich jedoch einige charakteristische Unterschiede zwischen den konservativen und liberalen Rankenachfolgern. Ausgesprochen reaktionäre Historiker wie Lenz, Mareks oder Rachfahl waren infolge des Aufschwungs des Kapitalismus in Deutschland und des Eintritts in die „Weltpolitik", davon überzeugt, daß die nationale „Idee" die soziale überwunden habe und das Zeitalter der Revolution abgeschlossen sei.46 Doch klingt auch aus ihren Schriften und an keineswegs nebensächlichen Stellen die Beunruhigung über die sozialen Verhältnisse in Deutschland, vor allem über den Aufschwung der Sozialdemokratie durch.47 Sie waren daher Befürworter der Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung gegen die „Reichsfeinde". Noch 1 9 1 ; hieß z. B. Rachfahl nachträglich die Zuchthausvorlage gut.48 Wie jedoch „Zuckerbrot und Peitsche" in der Regierungspraxis zusammengehörten, so befürworteten die Jungrankcaner, daß durch die Sozialpolitik „die Ventile geöffnet werden", damit die „Spannung" 4 9 nachlasse. Nebensächlich ist, ob Lenz bzw. Rachfahl dabei Bismarck oder aber Wilhelm II. als den größten Sozialreformer aller Zeiten priesen.50 Das entscheidende Ziel aller politisch-ideologischen Wirksamkeit der herrschenden Klassen sah Lenz darin, daß die Massen von den „staatlichen", „nationalen" Interessen gepackt würden. Unverkennbar setzte er schon 1900 seine Hoffnungen auch auf die Rolle der Revisionisten innerhalb der Sozialdemokratie.51 Doch die herablassend 0
Lenz, Max, Der Baueinkrieg (1904), in: Kl. bist. Schriften, Bd. 1, a. a. O., S. 151. An diesem Artikel zeigt sich, wie eng Lenz an die volksfeindliche Haltung Rankes gegenüber den aufständischen Bauern anknüpft. 44 Lenz, Max, Die großen Mächte, a. a. O., S. 28. 45 Mareks, Erich, Die imperialistische Idee zu Beginn des 20. Jh., in: Englands Machtpolitik. Vorträge und Studien, neu hg. u. eingel. W. Andreas, Stuttgart-Berlin 1940, S. 6 u. 26 ff. - Diese Tendenzen führten Mareks später zum Faschismus hinl « Vgl. KriU, Hans-Heinz, a. a. O., S. 69. 47 Eine charakteristische Stelle bei Lenz, Max, Luthers Lehre von der Obrigkeit, a. a. O., S. 147 f. Bezeichnenderweise scheiterte das geplante Buch Rachfahls übet die deutschen Parteiführer gerade an der Person August Bebels! (Racbfabl,Felix, Autobiographie, a. a. O., S. 216). 48 Vgl. derselbe, Kaiser und Reich 1888-1913. 2$ Jahre preußisch-deutscher Geschichte, 2. Abdruck, Berlin 191;, S. 172 ff. 4 * Lenz, Max, Die großen Mächte, a. a. O., S. 159. 50 Derselbe, Bismarck, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 46, Leipzig 1902, S. 768 f.; Racbfabl, Felix, Kaiser und Reich 1888-1913, a. a. O., S. 38 f. u. passim. 51 Lenz, Max, Die großen Mächte, a . a . O . , S. 140 t. - Dagegen ging einem Rachfahl vor dem 1. Weltkrieg das Eindringen des Revisionismus in die Sozialdemokratie viel zu langsam (Racbfabl, Felix, Kaiser und Reich 1888-191}, a. a. O., S. joo, $29).
Die Ranke-Renaissance
III
aristokratische und autoritäre Gesinnung der konservativen Ranke-Epigonen erwies sich nur w e n i g elastischer als die bornierte Haltung der preußisch-deutschen Historiker. A n d e r s dagegen der liberale Flügel. Meinecke berichtete später.selbst v o n dem großen E i n f l u ß , den Friedrich N a u m a n n und sein K r e i s auf die allmähliche W a n d l u n g seiner politischen Anschauungen ausübte. 5 2 D i e s e Politiker und Ideologen machten
die
politische Zersetzung der Sozialdemokratie durch ein gewisses taktisches Zusammengehen mit den Reformisten und die Zurückdrängung des Marxismus durch die ideologische Unterstützung des Revisionismus zu ihrer praktischen Tagesaufgabe. D i e gewichtigste politische R o l l e dabei spielte in der Geschichtsforschung zweifellos zunächst Hermann Oncken, der sich auch in seiner wissenschaftlichen A r b e i t als einer der ersten bürgerlichen deutschen Historiker der Geschichte der Arbeiterbewegung zuwandte. N i c h t zufällig wählte er dabei Ferdinand Lassalle zum T h e m a der 1904 erschienenen Biographie. D e r Z w e c k der A r b e i t w a r , gegen den revolutionären Flügel der Sozialdemokratie
den E i n f l u ß des sogenannten
„nationalen Sozialismüs"
zu
stärken und durch pseudohistorische Momente zu untermauern. D a s Buch kam gerade während der entscheidenden Auseinandersetzungen innerhalb der Sozialdemokratie heraus! Lassalle rückte bei O n c k e n zu einem theoretisch und politisch ganz originellen D e n k e r auf, während ihn Sybel noch in den 70er Jahren nüchterner als einen E k l e k tiker bezeichnet hatte. D i e Schlußfolgerung der Lassalle-Biographie lautete, d a ß man praktische Politik nur v o m B o d e n der N a t i o n aus treiben könne. 5 3 M a r x w a r für Oncken dagegen nicht mehr als ein Theoretiker der internationalen Revolution. In den folgenden A u f l a g e n , die sich 1912, 1920, 1923 als nötig erwiesen, hat Oncken seine politische Zielstellung noch verstärkt zum Ausdruck gebracht. Abgesehen von manchen Änderungen im T e x t ist für die 2. A u f l a g e besonders Onckens Behauptung bemerkenswert, er w o l l e sich „ v o n jeder parteipolitisch-beschränkten A u f f a s s u n g " frei machen, „auch von der Gegensätzlichkeit .bürgerlicher' und proletarischer' Geschichtsbetrachtung, die im wissenschaftlichen und nationalen Interesse doch einmal überwunden werden muß". 5 4 D i e Ranke-Methodiker gaben ihre Schule somit als die einzig wissenschaftliche und ihren politischen Standpunkt im gleichen A t e m z u g e als den einzig nationalen aus. In diesem Sinne w a r die Ranke-Renaissance, das tritt hier recht offen hervor, ein mehr oder weniger getarnter Angriff auf den historischen Materialismus, auf das revolutionäre proletarische Geschichtsbild. V o n Onckens Versicherung, nicht in den gegenwärtigen K a m p f innerhalb der Sozialdemokratie eingreifen zu wollen, ist also das genaue Gegenteil richtig. In der 3. A u f l a g e , die nach der Novemberrevolution erschien, w u r d e in einem neu eingefügten K a p i t e l die Gegensätzlichkeit eines internationalen und eines nationalen Sozialismus (Marx und Lassalle) herausgestellt, wobei Lassalle das Verdienst zukam, d a ß der Arbeiterbewegung die Bedeutung der Staatsidee nicht verlorengegangen sei. U n d ein Ausblick „Historische Perspektiven" stellte gar nach den jüngsten Ereignissen M Meinecke, Friedrieb, Erlebtes, 1862-1901, Leipzig 1941. S. 207 ff. " Vgl. Oncken, Hermann, Lassalle. Eine politische Biographie. 1. Aufl., Stuttgart 1904, S. 140 ff., 147. Alle anderen Aspekte müssen hier außer Betracht bleiben. M Derselbe, Lassalle, 2. durchges. Aufl., Stuttgart 1912, S. V. Auch zum folgenden.
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den angeblichen Bankrott des Marxismus fest. 55 Die „Unparteilichkeit" der Rankeschule erweist sich gerade an dieser Problematik als eine Farce. Neben der Abwehr gegen den Marxismus wurden die Ranke-Epigonen in den 90er Jahren in methodologische und politische Auseinandersetzungen innerhalb der bourgeoisen Geschichtsforschung verwickelt Karl Lamprecht trat durch seine Forderung nach Kulturgeschichte zugleich mit dem Anspruch auf, die alten Richtungen der Historie durch eine neue, wahrhaft wissenschaftliche abzulösen. Der dadurch hervorgerufene „Methodenstreit" ließ die Krise der bürgerlichen Historiographie offen ausbrechen, zumal neben Lamprecht auch die westeuropäisch-positivistischen Einflüsse und die durch die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften angeregten Theorien die herkömmlichen individualisierenden Methoden und die Personen- und Staatengeschichten ins Wanken zu bringen drohten. Welche Gefahren die reaktionären Historiker heraufziehen sahen, hat Max Lenz 1897 einmal ausgesprochen, „Kein Zweifel, daß die nervöse Unruhe unserer Zeit, ihre Angst vor der Zukunft, ja das Gefühl seelischer Verarmung, welches weite Kreise zu ergreifen droht, zum guten Teil auf diese fortschreitende Kritik und Unterhöhlung aller unserer Überlieferungen zurückzuführen ist. Mit den Erfolgen der Naturerkenntnis finden wir uns viel leichter ab, denn sie berühren nicht so unmittelbar das Nervengeflecht der Gesellschaft... An der historischen Aufklärung aber nehmen wir zunächst nur die zersetzende Kraft wahr, und nicht die unwägbaren Güter, denen sie nur doch vielleicht Raum verschaffen möchte." 5 8 Ganz recht! Durch den Methodenstreit wurden eben nicht nur zentrale akademische Probleme, sondern eben das „Nervengeflecht der Gesellschaft" berührt! Doch Lamprecht war beileibe kein Revolutionär der Geschichtswissenschaft. Nach einigen beachtlichen Ansätzen, die sich einer materialistischen Geschichtsbetrachtung näherten und gegenüber den alten Auffassungen progressive Bedeutung besitzen, wich er unter dem massiven Druck der maßgeblichen Historikerprominenz zurück und geriet mehr und mehr ins unverdächtige beschränkt-idealistische Fahrwasser, so daß Otto Hintze befriedigt feststellen konnte: „Aus dem Gebiete der metaphysischen Spekulation ist der Streit in den windstilleren Bereich psychologischer Untersuchungen verlegt worden . . . " 5 7 In unserem Zusammenhang sollen hier nur einige der Streitpunkte herausgegriffen werden, die die Rankesche Geschichtsauffassung betreffen. Lamprecht stellte einige der von den Epigonen heiliggehaltenen Pseudotheorien Rankes in Frage und löste nicht zuletzt dadurch die methodologischen Auseinandersetzungen aus. M
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Derselbe, Lassalle. Eine politische Biographie, 3. vollst, durchgearb. u. erw. Aufl., StuttgartBerlin 192a, S. 334 ff. u. 481 ff., bes. S. 508 ff. Eine 4. Auflage erschien 1923. - Am knappsten hat Oncken seine polit. Zwecke, auch im Hinblick auf die herannahenden kriegerischen Auseinandersetzungen, wohl 1913 in einer Rede ausgedrückt: Derselbe, Die Ideen von 1813 und die deutsche Gegenwart, in: Hist.-polit Aufsätze und Reden, Bd. 1, a. a. O., S. 33. Lenz, Max, Die Stellung der historischen Wissenschaften in der Gegenwart (1897), in: Kl. hist. Schriften, Bd. 1, a. a. O., S. 605. Hintze, Otto, Uber individualistische und kollektivistische Geschichtsauffassung, in: HZ, Bd. 78, 1897, S. 61. Für alles Nähere verweise ich auf den Aufsatz von Engelberg, Ernst, Zum Methodenstreit um Karl Lamprecht, in diesem Band, S. 136 ff.
Die Ranke-Renaissance
Einen Sturm der Entrüstung erntete Lamprecht 1896 mit seinem Angriff auf die „Ideenlehre" Rankes B8, die er glattweg verwarf und für überlebt erklärte. Anstoß erregte er namentlich mit der Feststellung, die Ideenlehre beruhe „vor allem auf einem Standpunkt persönlichen Glaubens und erst in zweiter Linie auf einem solchen wissenschaftlicher Forschung..."69 Demgegenüber behauptete Friedrich Meinecke: „Der mystisch-transcendentale Ursprung der Ranke'schen Ideen liegt viel weiter zurück, als Lamprecht meint, er gehört zu dem Urgrund, aus dem alles Leben überhaupt entspringt." 60 Und auch für Max Lenz waren die Ideen einfach „da": „Wo eine Lebensordnung besteht, sind sie da." 6 1 Wo existierten nicht überall „Ideen": da gab es die einzelner Staaten, da sprach man von der nationalen oder der christlichen Idee, da beherrschten Ideen ganze Perioden und Zeitalter. Die Spekulation mit den historischen Ereignissen hatte die Funktion, von ihren sozialökonomischen, politischen und ideellen Triebkräften abzulenken, an deren Aufdeckung die Bourgeoisie jetzt weniger denn je Interesse zeigte. Um diesen Punkt kreisten deshalb auch alle Rechtfertigungsversuche der Ideenlehre durch die Jungrankeaner. Die strammen Methodiker wie Lenz oder Rachfahl verwickelten sich dabei in den Widerspruch, „streng" von der „empirischen Auffassung der Ideen" zu „scheiden die Frage nach ihrer metaphysischen Bedeutung"."-' Die Ideen waren also göttlichen Ursprungs und man wollte sich - streng „wissenschaftlich", versteht sich! - lediglich mit d^r empirischen Betrachtung ihrer Wirksamkeit begnügen. Der von der Lebensphilosophie Diltheys beeinflußte Meinecke ging hier einen Schritt weiter, da er - wie gehört - die Ideen aus dem „Urgrund" des Lebens entspringen ließ, also gar nicht „Wissenschaft" und Sphäre der „Weltanschauung", des Glaubens trennen wollte, sondern vorgab, sie zu verbinden. Das Verschwinden der exakten methodologischen Kategorien wurde bei ihm gerade als entscheidender Akzent für eine wahre, lebensechte „Wissenschaft" von der Geschichte gesetzt. Die irrationalistischen und ganz subjektiv empfundenen Ideen mußten natürlich der „Ideenlehre" bei jedem Interpreten, so gesteht auch Walther Hofer zu, einen „etwas anderen Aspekt" 6 3 verleihen. Der Streit um die Ideenlehre ließ weiter erkennen, welche entscheidende Rolle die Religion für die Geschichtsauffassung Rankes und seiner Epigonen spielte. Nicht nur, daß ihnen die Religion die stärkste Kraft der Ideen war, die Religion wurde geradezu von ausschlaggebender Bedeutung für das Bestreben, die „doch so sichtbaren Grenzsteine zwischen Wissen und Glauben" 64 nicht zu verrücken, ihr die letzte Erklärung M 811
Vgl. dazu Schilfert, Gerbard, L. v. Ranke, a. a. O., S. 256 ff. Lamprecbt, Karl, Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft, Berlin 1896, S. 71 f.,
Zitat S. 44. Meinecke, Friedrieb, Erwiderung, in: HZ. Bd. 77, 1896, S. 262. " Lenz, Max, Die Religion im Aufbau der politischen Macht, a. a. O., S. 100. «s Racbfahl, Felix, Karl Lamprecht, Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 84, 1896, S. 548. 83 Hofer, Waith er, Geschichte zwischen Philosophie und Politik, a. a. O., S. 48. •4 Lenz, Max, Eine neue Auffassung der Kirchengeschichte, in: Kl: hist. Schriften, Bd. 2, a . a . O . , S- 33J80
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für den weltgeschichtlichen Prozeß, zu überlassen. Und D o v e 6 5 und Lenz suchten gegen die fortschreitenden Erkenntnisse der Natur- und Gesellschaftswissenschaften die Historiographie zu einem Bollwerk des „ignorabimus" zu machen. Rankes religiöse Geschichtsauffassung bot für die Ranke-Epigonen, das sei noch einmal betont, ferner den methodologischen Anknüpfungspunkt, aus Rankes „Andachtsverhältnis" gegenüber dem Vergangenen, gegenüber dem Einzelnen, und aus dem daraus angeblich entspringenden tief empfindsamen Verständnis für alle oft noch so gegensätzlichen Erscheinungen den „objektiven", wissenschaftlichen Charakter seiner Geschichtsbetrachtung abzuleiten. 66 So sollte die Religion Zuflucht vor den brennenden Fragen der Zeit gestatten und zugleich als eine der wichtigsten methodologischen Grundlagen der Geschichts„wissenschaft" dienen. Aber auch im politisch-historischen Denken der Ranke-Epigonen kam der Religion und hier speziell dem Protestantismus eine wichtige Funktion zu. Diese Fragen waren durch den „Kulturkampf" wieder in den Mittelpunkt gerückt worden. Unter den Historikern hatten sich besonders die preußisch-deutschen, allen voran Sybel, aber auch Treitschke oder Max Lehmann, mit Eifer an dem Kampf gegen den Ultramontanismus beteiligt. Die bourgeoisen Ideologen kehrten hierbei neben den liberalen Ideen das protestantische Kaisertum und die Traditionen der lutherischen Landeskirche; wieder hervor. Der Kulturkampf endete nlit einem Mißerfolg; die eng mit dem Liberalismus verbundene Kampagne verebbte. Durch den politischen Parteigeist unseres Jahrhunderts waren, so sagte Max Lenz später mißbilligend, die künstlichen Grenzlinien im deutschen Volke neu gegraben worden. 67 In der Reaktionsperiode der 8oer Jahre gewannen jedoch Kirche und Religion gewissermaßen als geistiges Bindemittel eine noch bedeutsamere Funktion in den Augen der herrschenden Klassen. Jetzt strebten die konservativ-orthodoxen Kreise zu erreichen, was dem Liberalismus versagt geblieben war und was ihnen ebenso versagt bleiben mußte: Nach der politischen Einigung auch eine geistige Einheit der Nation zu formen, die geistige Leere des Wilhelminischen Reiches aufzufüllen. Mit großem Aufwand bemühten sich diese Kreise, die Religion dem Volke zu erhalten, wie der „Heldenkaiser" gefordert hatte, die Volksmassen weiter in Botmäßigkeit zu halten und den sozialdemokratischen Einflüssen die Wurzeln abzugraben. Max Lenz hatte in diesem Sinne den historischen Wissenschaften ihren Platz angewiesen, „auf das nationale Leben einzuwirken", um durch Luthers Glauben, besonders seine Lehre von der Obrigkeit, „jedermann an den öffentlichen Willen" des Wilhelminischen Staates zu fesseln. 68 65
Dovc, der schon in den 70er Jahren an die bekannte ignorabimus-Rede von Du Bois-Reymond anknüpfte (Dove, Alfred,
Der neue Glaube nach David Strauß, in: Ausgew. Schriftchcn,
a. a. O.), kam auch in der Folgezeit mehrfach auf das Thema zurück. 48
Vgl. nur Lenz, Max,
Rankes biogr. Kunst, a. a. O., S. 9 f.; oder Oncken, Hermann,
Aus Rankes
Frühzeit, Gotha 1921, S. 8 f. •7 Lenz, Max, Nationalität und Religion, in: Kl. hist. Schriften, Bd. 1, a. a. O., S. 260. - Vgl. auch Krill, Hans-Heinz,
a. a. O., S. 8.
"8 Lenz, Max, Luthers Lehre von der Obrigkeit, a. a. O., S. 148. - Ähnlich deutete Dove, Luthers Bedeutung für die Neuzeit überhaupt, a. a. O., S. 59.
Alfred,
Die Ranke-Renaissance
In den 8oer Jahren wetteiferten Theologen, Pfarrer, Historiker, Publizisten usw., den Protestantismus in den modernen Machtstaat einzufügen und dem Militarismus nach außen und innen die willige und gläubige Gefolgschaft zu sichern. „Thron, Bajonett und Katechismus" oder „Deutschtum, Kaisertum und Christentum" lauteten die neuen Losungen. 69 Luther, die Reformation in Deutschland und Europa bildeten einen der wichtigsten Forschungsschwerpunkte der Jungrankeaner Lenz, Mareks, Rachfahl und ihrer Schüler, und auch Dove, Lehmann oder Hermann Oncken befaßten sich gelegentlich mit dieser Thematik. Der Theologe Albrecht Ritsehl vollzog im Anschluß an die Historische Schule und in enger Berührung zum Bismarck-Reich der 8oer Jahre eine neue Lutherdeutung; und unzählige neue Lutherbiographien oder -artikel feierten in dem Reformator den deutschen Nationalheros und den Erwecker des sogenannten deutschen Volksgeistes. 70 Die Grundlagen für die moderne Entwicklung des Staatslebens, der Nationen und der geistigen Kultur sollten in der Reformation gelegt worden sein. Zu den militantesten Protestanten gehörte Max Lenz. 71 Ihm ging es nicht nur um die Sicherung der Klassengesellschaft gegenüber den Volksmassen, sondern er lebte in der Vorstellung, daß die nationale Einheit nicht fertig sei ohne eine gemeinsame Gottesverehrung, weil ohne diese der Wille zur Macht und der Glaube an das Vaterland auf die Dauer erlahmen müßten. 72 Nationalität und Religion sollten sich durchdringen. D a das bei dem Wesensunterschied von Katholizismus und Protestantismus nicht durch eine Union der Kirchen möglich sei, da allein der Protestantismus die geistigen Grundlagen der modernen Welt geschaffen habe und der Katholizismus.einer vergangenen Zeit angehöre, so versteifte sich Lenz in seinen Schriften darauf, dem Luthertum den Boden zur Nationalreligion zu bereiten. Von Krill ist darauf hingewiesen worden, daß Lenz - der in dem Theologen Theodor Brieger einen gesinnungsverwandten Mitstreiter fand - keineswegs Einzelgänger, sondern Vorkämpfer einer starken Strömung war. 73 Es wird noch darauf zurückzukommen sein, daß für die in Westdeutschland wieder stark aufgekommene religiös bestimmte Geschichtsschreibung gerade diese Seite Rankes erneut zu Ehren kommt. Freilich mit dem Unterschied, daß heutzutage der äußerst streitbare und antikatholische Protestantismus nicht mehr akzeptabel ist, weil NATO- und klerikale Abendlandideologie eine Ehe auf Gedeih und Verderben zur Erhaltung der imperialistischen Herrschaft eingegangen sind. Kehren wir nun wieder zum Methodenstreit zurück. Lamprechts Wendung gegen das Individualitätsprinzip, seine Suche nach dem Typischen, Regelmäßigen, Gesetz•• Zit. nach Fischer, Fritz, Der deutsche Protestantismus und die Politik des 19. Jh., in: H Z , Bd. 171, 1951, H. 5, S. 498/499, der S. 495 ff. instruktive Ausführungen über diesen Prozeß macht. 70
Vgl. zur politischen Rolle Ritschl's ebenda, S. 499 f. - Vgl. ferner Bornkamm,
Heinrich,
Luther
im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgew. Texten v. Lessing b. z. Gegenwart, Heidelberg 195;, S. 44 f., 48 f. "
Über seine Haltung vgl. den materialreichen Abschnitt bei Krill, Hans-Heinz,
"
Lenz, Max, Nationalität und Religion, a. a. O., S. 255.
,s
Krill, Hans-Heinz,
8*
a. a. O., S. 1 ff.
a. a. O., Anmerkung S. 39 f. weist auf die weitere Literatur hin.
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Hans Schleier
mäßigen in der Geschichte berührte eine der Grundfragen der Methodologie. Er warf damit Probleme auf, die in der bürgerlichen deutschen Historiographie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Macht vergessen wurden, als die Bourgeoisie mit der klassischen Philosophie und dem „theoretisch-rücksichtslosen Geist" brach, „um ihren Tempel zu errichten auf der Fondsbörse". 74 Auf diesem Felde vereinigte sich daher •der Widerstand der Rankenachfolger und der preußisch-deutschen Historiker gegen Lamprecht. Die „Methodiker" Lenz oder Rachfahl machten sich die Widerlegung Lamprechts sehr einfach. Indem sie nicht wie die Naturforscher die Gesetze in den Erscheinungen, sondern einfach „das bunte Bild des Lebens" „abschildern" wollten, glaubten sie bereits den „Geist der Z e i t e n . . . zu entschleiern." 75 Rankes Individualitätsprinzip ergänzten sie durch die kleindeutsche These von den großen Männern, die die Geschichte machen, die sich über die Bindungen ihrer Zeit erheben und sie radikal umformen, eine Auffassung, die sie mit Emphase ausgerechnet an den Hohenzollern zu beweisen pflegten. 76 Eklektiker, die sie waren, betrachteten sich gerade die „Methodiker" als ausgesprochene Empiristen, gaben sie vor, sich von allen „Systemen" und jeglicher Geschichtsphilosophie fernzuhalten. Standen sie schon den Neukantianern und der Lebensphilosophie reserviert gegenüber, so verwahrten sie sich erst recht gegen jeden Einbruch in die politische Geschichte und die individualisierende Methode, der ihnen von der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte zu drohen schien. Gegenüber der Staatengeschichte beurteilen sie diese Bereiche als Randgebiete, denen kein entscheidender Einfluß auf die politische Geschichte beschieden sei. Meinecke, der übrigens die Abneigung gegen die Geschichtsphilosophie nicht teilte, behauptete während des Streits mit Lamprecht sogar, man könne die Erforschung der bisher unterschätzten „materiellen und sozialen Faktoren" noch „nachholen, ohne sich selbst untreu zu werden" 77 , d. h. ohne das Individualitätsprinzip zu verlassen. Am ausführlichsten suchten Below und Hintze die Wirksamkeit historischer Gesetze zu widerlegen. Für Below war Lamprechts Vorliebe für Gesetze einfach „ein Erbstück aus dem philosophischen Zeitalter", das er seit der Historischen Schule und seit Ranke überwunden glaubte. Die Annahme historischer Gesetze erledigte sich für ihn mit der Bemerkung, daß sie „nicht nachzuweisen" seien, eine Behauptung, die er fleißig mit Zitaten von professoralen Autoritäten wie Ranke, Schmoller, Treitschke oder Harnack „belegte". Darüber hinaus wollte Below aber durch die Geschichtswissenschaft auch die anderen Wissenschaften davor bewahren, nach Gesetzen in Natur und Gesellschaft zu forschen: „Wenn es der Zweck der Wissenschaften ist, eine Gesamterkenntnis hervorzubringen, so fällt der Historie dabei zunächst die Rolle zu, auf die 74
Engels, Friedrieb, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1962, S. 306.
75
Lenz,'Max, Die Stellung der historischen Wissenschaften, a. a. O., S. 6o3 f. Ausdrücklich gegen die „kollektivistische" Geschichtsauffassung beispielsweise bei Mareks, Erich, Das Königtum der grriJen Hohenzollern (1901), in: Männer und Zeiten. Aufsätze und Reden zur neueren Geschichte, Bd. 1, Leipzig' 1911, S. 95 ff.
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77
Meinecke, Friedrieb, Notiz, in: HZ, Bd. 76, 1896, S. JJI.
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Relativität aller der Behauptungen hinzuweisen, die die systematischen Wissenschaften aufstellen." 7 8 Mit der „unbefangenen historischen Beobachtung der Einzelheiten des geschichtlichen Verlaufs" wollte Below das kräftigste Mittel zur „Widerlegung der materialistischen Geschichtsauffassung" entdeckt haben, zu der er - unsinnigerweise - auch Karl Lamprecht rechnete. Als weitere Widerlegung Lamprechts übernahm Below von Windelband die völlige Trennung der Natur- und Gesellschaftswissenschaften und deren angeblich völlig unterschiedlichen Erkenntnisprozeß. Gegen Lamprechts Anleihen bei den Naturwissenschaften erklärte Below kategorisch, Natur- und Gesellschaftswissenschaften stehen „in unvereinbarem, in feindlichem (1) Gegensatz zueinander".79 Da die Unwissenschaftlichkeit und politische Funktion der neukantianischen Geschichtsphilosophie Gegenstand eines anderen Aufsatzes sind 80 , bleibt hier nur auf die trotz mancher Unterschiede doch einheitliche Front der Jungrankeaner mit den politischen Historikern und den Neukantianern gegen Lamprecht hinzuweisen. Nicht nur, daß die Rachfahl, Below oder Hintze sich in ihren Streitschriften auf Dilthey, Windelband oder Rickert bezogen, auch diese polemisierten in ihren Arbeiten gegen die Erkennbarkeit historischer Gesetze. Der Methodenstreit griff somit auf die Nachbarwissenschaften über. Einzelgänger wie Karl Lamprecht konnten sich aber gegen die geschlossene Front der reaktionären Ideologen nicht durchsetzen. Weitaus raffinierter war der Versuch Otto Hintzes, gewisse Methoden Lamprechts bei Ablehnung von dessen Ausgangsposition - der bürgerlichen Geschichtsschreibung einzuverleiben. Dabei hatte Hintze - wie gesagt - klar erkannt, daß Lamprechts immer weiteres Hinneigen zu idealistisch-psychologischen Methoden seine ursprüngliche Position entschärfte. Hintze machte daher den Vorschlag, bei einer individualisierenden, idealistischen Gesamtkonzeption der Geschichte die „sozial-psychologische Betrachtungsweise" Lamprechts in gewissen Grenzen anzuwenden. Es ist bezeichnend für die Situation der bürgerlichen Geschichtsschreibung im Methodenstreit, daß Hintze hierbei den Kampf gegen den historischen Materialismus im Auge hatte. Die augenscheinlich unwiderlegbaren sozialökonomischen Geschichtsfaktoren fand er durch Lamprechts „massenpsychologische Vorgänge" und das damit verbundene „ethische Moment" „aufgelöst", d. h. ihrer sozialökonomisch-politischen Konkretheit und Gefährlichkeit beraubt. Ausdrücklich verteidigte aber auch Hintze den von Lamprecht angegriffenen Ranke und seine Grundgedanken, vornehmlich die umstrittenen „historischen Ideen". 81 Nicht von ungefähr ist in Westdeutschland von soziologisch interessierten Historikern Otto Hintze wieder aufgewertet worden. Das macht beispielsweise in jüngster Zeit ein Aufsatz von Ernst Schulin in der Historischen Zeitschrift deutlich.82 78 Below, Georg v., Die neue historische Methode, in: HZ, Bd. 8i, 1898, S. 2)4, 241. " Ebenda, S. 242, Anmerkung, 245. 80 Vgl. Fiedler, Frank, Methodologische Auseinandersetzungen in der Zeit des Ubergangs zum Imperialismus, in diesem Band S. 15 j ff. 81 Hintze, Otto, Über individualistische und kollektivistische Geschichtsauffassung, a. a. O., S. 61 f., 64 f. 82 Vgl. Scbulin, Ernst, Das Problem der Individualität. Eine kritische Betrachtung des HistorismusWerkes vo« Friedrich Meinecke, in: HZ, Bd. 197, 1963, H. 1, S. 122.
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D e r Lamprechtstreit bewies, daß die politischen und methodologischen Übereinstimmungen der Ranke-Epigonen und der preußisch-deutschen Historiker größer waren als die vor und nach dem Methodenstreit äußerlich in Erscheinung tretenden Differenzen. Auch einem Meinecke war dies bewußt, der nach Sybels und Treitschkes Tode um die Historische Zeitschrift die Richtungen Sybels und Rankes zum K a m p f e gegen Lamprecht scharen wollte 8 S und ihnen dann in der Folgezeit auch den weitesten Raum gewährt hat. Zusammenfassend läßt sich über den Zusammenhang der politischen Schule und der Ranke-Renaissance sagen: E r wurde einmal hergestellt dadurch, daß nicht wenige der Ranke-Epigonen Schüler von kleindeutschen Historikern waren, sich weiterhin mit ihren Werken beschäftigten und über sie eine Reihe von Artikeln, Nekrologen und Erinnerungen verfaßten. Weiter bestand eine politische Kontinuität, da beide Richtungen die durch den reaktionären Kompromiß verbundenen Klassen des Junkertums und .der Bourgeoisie repräsentierten, da die Jungrankeaner wie die jüngere Generation der kleindeutschen Historiker die imperialistischen Gelüste in ihren Schriften mit Nachdruck vertraten. Schließlich gab es auch wichtige methodologische Übereinstimmung (etwa die politische Geschichte als Hauptarbeitsgebiet, die Machtstaatsidee, die Hervorhebung großer Persönlichkeiten, die Ablehnung der sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Forschung als unwesentlich u. a.), die zugleich erweisen, daß die politischen Historiker ihrerseits wieder manche Prinzipien von Ranke entlehnt hatten, die nun, unter den entsprechenden Umformungen, von den Rankenachfolgern aufgegriffen und weitergeführt wurden. Neben dem Reformationszeitalter entwickelte sich immer mehr die Gestalt Bismarcks und seine Zeit zum Hauptarbeitsgebiet der Ranke-Epigonen. Auf die weitverbreiteten zahlreichen Bücher und Artikel der Lenz, Mareks und ihrer Schüler lohnt hier nicht einzugehen; es sollen nur einige politisch-historische Grundzüge dieser Arbeiten festgehalten werden. 8 4 Gegenüber der preußisch-deutschen Sch'ule sind gewisse Umformungen des Geschichtsbildes über die Bismarckzeit nicht zu verkennen. D i e Neurankeaner gaben manche der albernsten Legenden über die Geschichte Preußens und Deutschlands preis. Andererseits ersetzten sie manche Versionen der kleindeutschen Historiker durch noch reaktionärere Züge. A l s Beispiel mag hier die Ehrenrettung des Preußenkönigs Friedrich Wilhelms I V . dienen, der, von den Kleindeutschen wegen seines mangelnden Nationalempfindens während der Jahre 1848/49 heftig angegriffen, von den Jungrankeanern gerade wegen der Rettung Preußens vor der Revolution als Wegbereiter Bismarcks gepriesen wurde. Im großen und ganzen unterscheidet sich daher die Position der Rankenachfolger gegenüber Bismarck und der preußisch-deutschen Geschichte nicht grundsätzlich von der Apologetik der politischen Schule. D i e Ranke-Epigonen zogen eine politisch-geistige Linie von ihrem Großmeister Ranke zu Bismarck, von dem sogenannten „real" denkenden Historiker zu dem Meister der 83
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Vgl. den Brief Meineckes an den Verleger Oldenbourg v. 20. 8.1895, in: Schiedet, Theodor, Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der HZ, in: HZ, Bd. 189, 1959, S. 88. Vgl. das Material bei KriU, Hans-Heinz, a. a. O., S. 84 ff.
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„Realpolitik". Einen gewissen Höhepunkt bildeten die Ausführungen Meineckes in dem Buche „Weltbürgertum und Nationalstaat", worin der Sieg der konservativen Staatsidee und ihre theoretisch-politischen Vollender Ranke und Bismarck gefeiert wurden. Bismarck war nach Meinecke auch der Vollzugs- und beweiskräftige Politiker des Machtstaates und seinet Idee, und hieraus leitete er die Unentbehrlichkeit der preußisch-deutschen Monarchie als dem' vermeintlichen Hauptträger des Machtstaates und aller großen nationalen Leistungen und Reformen der Vergangenheit ab. Diese Thesen erklangen in ihrer ganzen Ausschließlichkeit auch bei den anderen imperialistischen Geschichtsideologen. E s versteht sich, d a ß das Bismarck-Bild der Ranke-Epigonen ganz darauf angelegt war, Bismarcks Anklänge zu einer imperialistischen Weltpolitik für aktuelle Zwecke in den Vordergrund zu rücken. D i e Traditionen zu Bismarck hin wurden noch weit über Ranke zurückverlegt Der von Lenz geprägte Titel einer Aufsatzsammlung: „Von Luther zu Bismarck" ist auch für die anderen Jungrankeaner symptomatisch. Natürlich fehlte auch bei ihnen analog den kleindeutschen Historikern das Bestreben nicht, die Kontinuität von Preußen und seinen Hohenzollern zu dem modernen Nationalstaat zu bekräftigen. Insbesondere die Linie von Friedrich II. zu Bismarck ist bei ihnen keineswegs aufgegeben. Die Bismarck-Legende fand ihre Ergänzung in der Verherrlichung des bigotten und beschränkten Kaiser Wilhelms I. In den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkriege bekam die Verehrung für Bismarck einen geradezu mystischen Charakter; Bismarck avancierte zum „Lehrmeister" des deutschen Volkes und des germanischen Wesens schlechthin. Die militanten Züge dieser politisch-historischen Publizistik erfuhren während des Krieges noch weitere Steigerungen. Eine besonders gefährliche, von Lenz, Mareks und Meinecke nicht ohne Geschick gehandhabte Variante fand die Verklärung Bismarcks und des militaristischen Preußen-Deutschlands durch den in zahlreichen Artikeln, Büchern und Reden unternommenen Versuch, „Macht und Geist" zu verbinden. In dem großangelegten, aber äußerst wirksamen Fälschungsmanöver bedienten sich die Rankenachfolger des Tricks, Militarismus und Preußentum gewissermaßen geistig zu veredeln, ihnen nach dem Vorbilde Rankes ethische Werte und „Ideen" unterzulegen, die Machtpolitik durch geistige Bezüge zugleich zu stützen und zu verschleiern. Das historische Denken der Romantik gab für derartige Zwecke mancherlei reaktionäre Theorien her. Darüber hinaus bemühte man sich mit Vorliebe darum, auch aus dem Gedankengut der Aufklärung und vor allem ihrem Höhepunkt, der Klassik, solche Anknüpfungspunkte zu finden. D a sich die imperialistischen Geschichtsideologen aber keinesfalls auf das fortschrittliche bürgerliche Geschichtsdenken als Ganzes berufen konnten, mußten sie sich darauf beschränken, aus ihm einzelne, zumeist reaktionäre Seiten herauszuheben, zu verabsolutieren, zu geistesgeschichtlichen Entwicklungsreihen zusammenzustelleh. Nur durch solche Manipulationen konnte der Geist von Weimar mit dem Ungeist von Potsdam zusammengebracht werden, konnte man ausgerechnet das Preußentum, dessen kulturfeindliche Haltung Mehring in seiner „Lessing-Legende" so überzeugend gegeißelt hat, als den angestammten Förderer der deutschen Kultur und Wissenschaften in Anspruch nehmen.
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Meinecke hat denn auch für die Methoden der Geistesgeschichte einmal zugestanden: „ M i t gewöhnlicher literarischer Kritik und Quellenvergleichung sind diese Zusammenhänge kaum oder doch nur problematisch zu fassen." Daher beschwor Meinecke auch „das Medium der Betrachtung", das sich am Beispiel Ranke etwa so ausnimmt: „ D a s , worin Ranke an jene Vorgänger erinnert, braucht ihnen nirgends unmittelbar entnommen zu sein; es ist nur eben die feinste und in eine hochpersönliche Anschauung umgesetzte Quintessenz der gesamten Gedankenbewegung der letzten vier J a h r z e h n t e . . . " 8 5 Man mußte schon solche «¿erwissenschaftlichen Methoden, um einen o f t zu hörenden Ausdruck Meineckes zu gebrauchen, zu H i l f e nehmen, um „Macht und Geist" einträchtig unter den Fittichen des preußischen Adlers unterzubringen. Im einzelnen waren die Anknüpfungspunkte so vielfältig wie die Hypothesen. M a x Lenz fügte unkompliziert „Macht und Freiheit" zusammen wie „Feuer und Licht", „Idee und Erscheinung". 86 Ganz in diesem Sinne schrieb er die vierbändige Geschichte der Universität Berlin, die von 1 9 1 0 bis 1 9 1 8 erschien. Im wilhelminischen Deutschland sah er die enge Verbindung von „Macht und Geist" erreicht. Lenz malte breit die treusorgende väterliche Fürsorge des preußischen Staates für die Wissenschaften aus, wobei er auch noch behauptete, daß die staatliche Politik der Universität über manch enge und dogmatische Standpunkte hinweggeholfen habe. Anderen Gebieten wandte sich Erich Mareks zu. E r versuchte in mehreren Artikeln, den gefeierten'„Eisernen Kanzler" selbst zu einer Künstlernatur zu machen, die in sich selbst schon etwas von der Synthese von Macht und Geist verkörperte. Mit Vorliebe behandelte er auch Goethe, in dem er eine Bismarck kongeniale Natur entdeckt haben wollte. Sogar in der politischen Welt Goethes sollte ein großes Stück derjenigen Bismarcks enthalten sein. D i e ins Absurde getriebenen geistesgeschichtlichen Parallelen gipfelten in solchen Leistungen, daß er z. B . einen Zusammenhang zwischen Goethes „Ahnungen" im „zweiten Faust" und den „staatssozialistischen" Gedanken in Bismarcks Sozialreform entdeckte. 87 Dieser Mißbrauch Goethes für die Zwecke der imperialistischen Geschichtsideologie ist seit Dilthey, Mareks und Meinecke so geläufig geworden, daß er sich in reaktionären Kreisen bis heute erhalten hat. Wieder anders Hermann Oncken, der z. B . im Jahre 1 9 1 3 das Zusammengehen von Macht und Kultur als ein Vermächtnis der Freiheitskriege darstellte, das in der Gegenwart seine Erfüllung gefunden habe. 88 Friedrich Meinecke wiederum abstrahierte das historische Geschehen immer mehr zu einer „Geistesgeschichte", wie sich das in seinen drei Hauptwerken „Weltbürgertum und Nationalstaat", „ D i e Idee der Staatsräson" und „ D i e Entstehung des Historismus" dokumentiert. Sein Anhänger und Interpret Walther Hofer meint denn auch, Meinecke habe „den im wesentlichen neuen Typus 85
Meinecke, Friedrich, Weltbürgertum und Nationalstaat, a. a. O., S. 289. Lenz, Max, Freiheit und Macht im Licht der Entwicklung der Universität Berlin, in: Kl. hist. Schriften, Bd. 2, a. a. O., S. 274. - Zu Lenz und Mareks für das folgende die Fakten bei Krill, Hans-Heinz, a. a. O., S. 142 ff. 8 ' Mareks, Erich, Goethe und Bismarck, in: Männer und Zeiten, Bd. 2, Leipzig 1911, S. ij. 88 Vgl. Oncken, Hermann, Die Ideen von 181} und die Gegenwart, a. a. O., und derselbe, Der Kaiser und die Nation (1913), in: Hist.-polit. Aufsätze und Reden, Bd. 1, a. a. O. M
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einer philosophisch begründeten Ideen- und Geistesgeschichte" 8 9 geschaffen. Noch in „Weltbürgertum und Nationalstaat" (1908) gipfelten für Meinecke im Kaiserreich die besten politischen und geistigen Traditionen des deutschen Volkes, führten hier nach langem Nebeneinander endlich zusammen. D a s Gefährliche derartig versteckter Geschichtsdeutungen liegt gerade in den willkürlichen Anleihen bei den fortschrittlichen bürgerlichen Denkern, die mit ihrem progressiven Gesamtschaffen echt humanistisches Gedankengut verkörpern, und ihrer Annektierung für den modernen militaristischen Staat. Der prophezeite Zusammenklang von „Macht und Geist" hinderte die Ranke-Epigonen im ersten Weltkrieg keineswegs, über alle Schranken hinweg einen barbarischen Chauvinismus zu predigen.
II. D i e Ranke-Renaissance erlebte in der Weimarer Republik einen neuen Aufschwung. D i e Niederlage des deutschen Imperialismus im ersten Weltkrieg, Oktober- und Novemberrevolution hatten das Krisenbewußtsein der bürgerlichen deutschen Historiker weiter verschärft. Ranke geriet bei den Grundsatzdebatten nicht aus dem Blickfeld. Jedoch traten die konservativen und die liberalen Rankeaner weiter auseinander. D i e letzteren suchten nach „neuen" Wegen oder richtiger elastischeren Varianten für die imperialistische Geschichtsideologie, bekannten sich in der Regel zur Weimarer Republik. D i e Mehrzahl der konservativen Historiker hielten aber am Machtstaate, nicht wenige an der Monarchie fest und waren schroffe Feinde des Parlamentarismus Weimarer Prägung. Auch die Lenz, Mareks und Rachfahl agierten als erbitterte Gegner der Weimarer Republik. Sie blieben dem wilhelminischen Kaiserreich und seinem aggressiven Militarismus nach außen und innen weiter verhaftet. Sie betätigten sich als eifernde Revanchisten und Feinde der Entente. D i e Weimarer Republik war ihnen nicht genügend abgesichert gegen die revolutionären „Massenbewegungen. In dem „ G e f ü h l der Gefahr, des Bedrohtseins" suchten sie, um hier Paul Joachimsen zu zitieren, „ H i l f e und Schutz" weiter im Geschichtsdenken Rankes. Für die „Auffassung der Gegenwart" seien die „Gesichtspunkte Rankes nirgends überholt". 90 Und Georg Küntzel betonte das ausdrücklich für die Staatsauffassung Rankes, die sich „gerade auch im modernen Massenstaate unmittelbar mit den Grundfragen unserer Gegenwart" berühre, „die ihm und Droysen auch in ihrer weltanschaulichen Bedürftigkeit und ihrem Suchen nach einem Sinne des geschichtlichen Geschehens wieder entgegenwächst". 91 8
* Hofer, Waliber, Geschichtsschreibung und Weltanschauung. Bettachtungen zum Werk Friedrich Meineckes, München 1950, S. 92. ]oacbimsen, Paul, Ranke und wir, a. a. O., S. 293, 509. Küntzel, Georg, Einleitung zu Ranke, Leopold v., Zwölf Bücher preußischer Geschichten, Bd. 1, München 1930, S. CLII. (Gesamtausgabe d. Deutschen Akademie, L. v. Rankes Werke, Reihe 1, Werk 9.) - Auf einen ähnlichen Tenor abgestimmt ist der Aufsatz von Räumer, Kurt v., Leopold Ranke und die Gegenwart, in: Süddeutsche Monatshefte, Jg. 22, 1925, H. 11.
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Ende der 20er Jahre wurden die konservativen Rankeaner m Wort und Schrift eifrige Hindenburg-Anhänger, Wortführer der Kritik und Unterhöhlung der Weimarer Republik von rechts. Während Lenz bereits 1932 starb, entwickelten sich Erich Mareks, Georg Küntzel (1875-1945) und Richard Fester (1860-1945) z u politischen Gefolgsleuten des Faschismus. 92 Mareks und Fester gaben sich nicht nur als „Sachverständige" für den Beirat des nazistischen „Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands" her, sondern huldigten auch in ihren Arbeiten dem sogenannten Dritten Reich. Und der österreichische Historiker Heinrich von Srbik mißbrauchte eine Neuauflage von Rankes „Politischem Gespräch" (1941), um eine direkte Verbindungslinie von Ranke zu Hitler zu ziehen.93 Für diese Ranke-Epigonen führte der Weg von Rankes Geschichtsdenken, auf ein klägliches Niveau gebracht, zum Faschismus. Die Berufung auf Ranke geschah im Vergleich zur Zeit vor 1918 im einzelnen weitaus unterschiedlicher, der Vorrang der engen Ranke-Schule ließ sich nicht mehr aufrechterhalten. Neben die älteren und jüngeren „Methodiker" traten in zunehmenden Maße die Verfechter der Historismus-Auffassung. Hermann Oncken und vor allem Friedrich Meinecke sowie ihre Schüler gingen daran, sich von dem „Schulstaube" 94 der RankeEpigonen um Max Lenz abzugrenzen und das wahre Ranke-Vermächtnis in Rankes geschichtstheoretische Auffassungen hinein zu interpretieren. Doch noch 1920 huldigte Rachfähl der „unverfälschten" Ranke-Tradition seines Lehrers Max Lenz. 95 Ganz im alten Fahrwasser bewegten sich auch Georg Küntzel oder Paul Joachimsen (1867-1930). Joachimsen stellte in einem programmatischen Artikel „Ranke und wir" die „vertiefte Auffassung der Religion" durch Ranke in den Mittelpunkt aller Rückbesinnung und wandte sich gegen die Aufweichung der althergebrachten historischen Prinzipien durch soziologische, psychologische und ästhetische Geschichtsauffassungen. In den Vordergrund der praktischen Aufgaben rückte er im Sinne der „Methodiker" bezeichnenderweise die didaktische Schulung an Hand der Werke Rankes. 9 « Joachimsen leitete auch die historisch-kritische Ausgabe der Werke Rankes, die freilich nicht über die ersten Bände gedieh. Daneben erschien eine populäre Ausgabe „Historischer Meisterwerke" Rankes in 24 Bänden, die mit apologetischen Kommentaren versehen wurden. 97 Dazu kamen zahlreiche Neuauflagen « Für Mareks vgl. Ksill, Hans-Heinz, a. a. O., S. 250 ff., der aber darüber hinweggleitet. - Küntzel, Georg, (Rankes Lehre von den „Großen Mächten" und die Gegenwart, in: Berliner Monatshefte, Jg. 14, 1936, S. 86;) forderte nicht nur die Revision von Versailles, sondern auch die Restauration Europas (!), die den Boden für eine Vorherrschaft der weißen Rasse bereiten sollte. Also: Ranke für den Gebrauch der faschistischen Außenpolitik 1 » J Vgl. Ranke, Leopold, Das Politische Gespräch, hg. H. v. Srbik, Berlin 1941, Vorwort. " Meinecke, Friedrieb, L. v. Ranke. Gedächtnisrede, in: Die Entstehung des Historismus, hg. u. eingel. C. Hinrichs, München 1959. S. 585. (Werke, hg. Herzfeld, Hinrichs, Hofer, Bd.))- Auch: Herzfeld, Hans, Einleitung zu L. v. Ranke, Neue Briefe, Hamburg 1949, S. X X V . M Racbfabl, Felix, Max Lenz und die deutsche Geschichtswissenschaft. Zu seinem 70. Geburtstag, in: HZ, Bd. 174, 1920, S. 207. M Joachimsen, Paul, Ranke und wir, a. a. O., S. 301, 294 f., und 309, 315. 97 Leopold v. Rankes Werke, hist-krit. Gesamtausgabe der Deutschen Akademie, hg. P. Joachimsen, München 1925 ff.; Ranke, Leopold v., Historische Meisterwerke, aus^ew. u. hg. A. Meyer und A. Michael, Wien-Zürich-Hamburg-Budapest 1928 ff.
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einzelner Werke Rankes. Außer einer neuen, ebenfalls nur kurzen Ranke-Biographie ( 1 9 2 1 ) von Hans F. Helmolt (1865-1929), die wenig auf die geschichtstheoretischen Ansichten Rankes einging, erschienen etliche Monographien, die in erster Linie Rankes Geschichtsauffassung zum Gegenstand hatten. D i e führenden Geschichtsideologen entdeckten nunmehr den „historischen Denker" R a n k e und erhoben diese Thematik zum eigentlichen Forschungsschwerpunkt. Dieser Prozeß war zwar seit Dilthey schon vorbereitet, kam aber erst in den 20er Jahren zum eigentlichen Durchbruch. Hermann Oncken, der in diesen Jahren vorrangig die Entwicklungsperiode Rankes erforschte, wollte vor allem die „innerste Wesenheit" Rankes erschließen, die so lange hinter sein Werk zurückgetreten sei. E r meinte, Ranke sei als historischer Denker weit entfernt von den Tendenzen und Doktrinen seiner Zeit, er sei „vorbildlos"
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beansprucht für seine Art der Geschichtserkenntnis die Autonomie." Eine solche Abhebung Rankes von seiner Zeit und dem vorangegangenen politisch-historischen Denken ist natürlich unhaltbar. Von der gleichen subjektivistischen Warte aus kommt Oncken auch zu der Schlußfolgerung, „die letzten philosophischen Hintergründe seines Erkenntnisweges einer verbindlichen weltanschaulichen Erörterung" zu entrücken d . h. rational für unauflösbar zu erklären. Ranke ist damit gewissermaßen zu einem zeitlosen Phänomen geworden.
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Noch in einer anderen Beziehung hat Oncken die Ranke-Renaissance fördern helfen. E r stellte Ranke in bewußten Gegensatz zu Hegel, der zweifellos vorhanden w a r ; aber •die „spekulative" Geschichtsphilosophie Hegels sollte ein Ranke - und hier liegt die Umkehrung aller Werte! - als geschichtsphilosophischer Denker bei weitem überragt haben. Mit dieser Schlußfolgerung endete eine vielbeachtete Dissertation seines Schülers Ernst Simon über „Ranke und Hegel". 1 0 0 E t w a zur gleichen Zeit bemühten sich die von Dilthey herkommenden Rothacker und Meinecke ebenfalls um die Abwertung der Hegeischen Geschichtsphilosophie und die Aufwertung der reaktionären Historischen Schule. Gegen diesen geschlossenen Chorus konnten sich Einzelgänger wie Ernst Troeltsch, politisch sonst mit Meinecke eng verbunden, oder der Neuhegelianer Benedetto Croce nicht durchsetzen. Die subjektivistisch-irrationalistische Richtung erwies sich als breitenwirksamer, weil sie der politischen Konstellation besser entsprach. Noch heute hält die westdeutsche G e schichtsschreibung an dieser Einschätzung Rankes und Hegels fest; es seien hier nur 98
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Oncken, Hermann, Zur inneren Entwicklung Rankes, in: Bilder und Studien aus 3 Jahrtausenden, Festschrift f. E. Gothein, München-Leipzig 1915, S. 201, 216; Oncken, Hermann, Aus Rankes Frühzeit, a. a. O., S. 8. Derselbe, Leopold v. Ranke, in: Die großen Deutschen, Neue Deutsche Biographie, hg. W. Andreas u. W. v. Schulz, Bd. 3, Berlin 1936, S. 220, 221. Oncken, Hermann, Aus Rankes Frühzeit, a. a. O., S. 12 ff.; Simon, Ernst, Ranke und Hegel, München-Berlin 1928 (Beiheft :j d. HZ). Zum (olgenden vgl. auch Hof er, Walther, Geschichtsschreibung und Weltanschauung, a. a. O., S. 389 ff., bes. S. 395 ff., der Meineckes Standpunkt vertritt.
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Walther Hofet, Eberhard Kessel, Theodor Steinbüchel, Hans Rothfels, Carl Hinrichs oder Johann Albrecht von Rantzau genannt.10* Ranke gewann als Geschichtsdenker die größte Bedeutung für die moderne Historismus-Auffassung, die sich seit Wilhelm Dilthey nach und nach als maßgebliche bürgerliche Geschichtstheorie durchsetzte. Die reaktionäre Historische Schule und der ihr nahestehende Ranke sollten, so behaupteten die imperialistischen Geschichtsideologen, nicht nur das aufklärerische, spekulative Geschichtsdenken überwunden, sondern die entscheidenden Grundgedanken des historischen Denkens entwickelt und zu einem ersten Höhepunkt geführt haben. Es ist hier nicht möglich, darauf einzugehen, wie sich Dilthey im einzelnen auf Ranke berief und seine Werke studierte 102 , auch nicht auf den Streit um den Historismus-Begriff, wie er zu Beginn der 20er Jahre von Ernst Troeltsch oder Karl Heussi entfacht wurde. Ideologen wie der Dilthey-Schüler und Theologe Joachim Wach oder der Geschichtsphilösoph Erich Rothacker haben die Überschätzung Rankes als historischer Denker nach Kräften gefördert, wenn auch von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus. Nach Wach ist Ranke „die Inkarnation des historischen Sinnes" schlechthin, der „dem Begriff des Verstehens für die Folgezeit den eigentümlichen Zauber und Glanz verliehen, die spezifische Note aufgeprägt" habe. Wach bezeichnete Dilthey als den größten Nachfolger Rankes. Die religiöse Weltauffassung Rankes stand ihm natürlich besonders nahe, und er benutzte sie zur Polemik gegen den geschichtsphilosophischen Dualismus 1 0 3 , wobei er augenscheinlich den Historismus-Begriff Meineckes im Auge hatte. Erich Rothacker bemühte sich angelegentlich, die Historische Schule als die entscheidende Wendung im historischen Denken aller „Geisteswissenschaften auszugeben, durch deren gemeinsam zusammengetragene Prinzipien das Geschichtsdenken erst wahrhaft möglich geworden sei. 104 Bedeutet dies bereits eine Negierung aller bis dahin im fortschrittlichen bürgerlichen Geschichtsbewußtsein erzielten Errungenschaften und Erkenntnisse, so bezweckte er mit der These von der einheitlichen deutschen Geisteswissenschaft seit der Spätaufklärung, allein den irrationalistischsubjektivistischen Tendenzen das Wissenschaftsmonopol der Historie zuzuschreiben und alle anderen Richtungen, in erster Linie natürlich den Materialismus, zu unterschlagen. Andererseits war diese reaktionäre Geschichtskonzeption beweglich genug, 101
Außer den bereits zitierten Arbeiten speziell Steinbüchel,Theodor, Ranke und Hegel, in: Große Geschichtsdenker. Ein Zyklus Tübinger Vorlesungen, hg. R. Stadelmann, Tübingen 1949; Rantzau, Jobann Mbrecht v„ Das deutsche Geschichtsdenken der Gegenwart und die Nachwirkungen Rankes, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 1, 1950, H. 9, S. 516 f. 102 Einen Anhaltspunkt dazu liefert Diltheys Mitarbeiter Paul Ritter im Vorwort zu Dilthey, Wilhelm, Ges. Schriften, Bd. j, hg. Paul Ritter, Leipzig-Berlin. 105 Wach, Joachim, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jh., Bd; 3, Tübingen 1933, S. 89, 93 f. im Vgl. Rotbacker, Erich, Savigny, Grimm, Ranke. Ein Beitrag zur Frage nach dem Zusammenhang der Historischen Schule, in: HZ, Bd. 128, 1923, H. 3. - Zu Rothacker" vgl. Berthold, Werner, Über .¡Die Wirkung der Geschichtsphilosophie..." von Erich Rothacker, in: Zf G, Jg. 8, 1960, H. 6. S. 1289 S.
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wie J. Streisand hervorgehoben hat, sich den verschiedensten politischen Systemen anzupassen 1 0 5 bzw. ließ Spielraum für zwei politisch so unterschiedliche Geschichtsideologen wie Rothacker oder Meinecke, deren Kl'assenposition jedoch im grundsätzlichen übereinstimmt. Den nachhaltigsten Einfluß auf den reaktionären Historismus-Begriff hat zweifelsohne Meinecke ausgeübt. Die westdeutsche Meinecke-Nachfolge vertritt heute den Standpunkt, daß die wahre Ranke-Renaissance erst mit Meinecke anzusetzen sei.1®8 So muß hier Meineckes Ranke-Rezeption kurz dargelegt werden. Meineckes Wandlungen nach den politischen Katastrophen des deutschen Imperialismus (1918 und 1945) zeigen die Elastizität bestimmter Kreise der imperialistischen Geschichtsideologen, im Kampf um die Erhaltung ihrer Klassenherrschaft nach neuen Nuancen und Mitteln zu greifen. Die Akzentverlagerungen, die das Bild über Ranke dabei erfuhr, helfen nicht nur die Wandlungen dieser Geschichtsbetrachtung zu charakterisieren, sondern sie verdeutlichen zugleich, wie sehr die Kontinuität reaktionärer politischer und philosophischer Auffassungen dabei gewahrt bleibt. Der Meinecke bis in den ersten Weltkrieg "hinein gehört politisch-historisch noch ganz zu der Phalanx der den preußisch-deutschen Traditionen ergebenen Historiker, dem in Berührung mit den Ranke-Epigonen ein Ranke bereits als „Leit- und Polarstern" 1 0 7 zu leuchten begann. Im Methodenstreit gehörte er zu den Opponenten Lamprechts, der besonders Rankes Geschichtsauffassung verteidigte und nach dem Tode Sybels auch den Neorankeanern in starkem Maße Zutritt zu der Historischen Zeitschrift verschaffte. In seinem Hauptwerk dieser Periode, „Weltbürgertum und Nationalstaat", schilderte Meinecke als die ganz eigenständige Leistung Rankes, daß dieser durch den „Entdeckungszug ins Reich des Individuellen, den der deutsche Geist mit glühender Begierde unternahm", erst die Individualität der überindividuellen Gebilde, „alles dessen, was die Individuen zu Massen vereinigt" 108 , d. h. also der Staaten, Institutionen und Nationen, herausgefunden und behandelt habe. Für die imperialistische Geschichtsideologie liegt der Nutzen der Methode auf der Hand, den Gedanken des unauflösbaren, apriorischen Kerns des Individuums auf die gesellschaftlichen Gebilde der Staaten usw. zu übertragen, sie dadurch der rationalen Durchdringung in entscheidendem Maße zu entziehen. Dazu kommt die schon erwähnte reaktionäre Funktion der Rankeschen „Ideenlehre", die den Staaten allgemein, d. h. natürlich den Ausbeuterstaaten der Geschichte, ethische Werte verleihen sollte. Es ist also kein 105
Streisand, Joachim, Über die Geschichtsphilosophie und die Geschichtsschreibung in Deutschland während der Epoche der französischen Revolution und der Befreiungskriege, in: Probleme der Ökonomie und Politik in den Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa vom 17. Jh. bis zur Gegenwart, hg. K. Obermann, G. Polisewsky, Berlin i960, S. 11 (Schriftenreihe Kommission Historiker DDR und CSSR, Bd. j). 1M Vor allem Krill, Hans-Heinz, a. a. O., etwa S. 78, 139 ff., 170, 257 ff. 107 Meinecke, Friedrieb, Ranke und Burckhardt. Ein Vortrag, Berlin 1948, S. }. (Deutsche Akademie der Wissenschaften, Vorträge u. Schriften, H. 27). 10« Derselbe, Weltbürgertum und Nationalstaat, a. a. O., S. joo f.
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Zufall, daß die reaktionäre Staatstheorie der imperialistischen Historiker immer wieder auf Ranke zurückgeht. In diesem Werke entwickelte Meinecke noch eine weitere äußerst fragwürdige These über den Charakter der Rankeschen Geschichtsschreibung, die in der Folgezeit nicht nur für die Interpretation Rankes, sondern auch für die Kennzeichnung des „Wissenschaftscharakters" der bürgerlichen Historiographie immer wieder verwandt und übernommen wurde. Meinecke behauptete nämlich, daß die „Grundbegriffe" der Rankeschen Geschichtsauffassung „nicht zum mindesten deswegen eine so merkwürdige Fruchtbarkeit entfalten, weil er sie niemals überanstrengt, niemals zum simplen Klassifizieren des geschichtlichen Stoffes mißbraucht, weil et weiß, daß sie keine ganz scharfe Grenze der Anwendung haben, und indem er sie anwendet, auch immer ihren in das Unendliche sich verlierenden Hintergrund mit andeutet." 1 0 9 Die Verwischung zwischen den Bereichen der Wissenschaftund der „Weltanschaung" im Sinne des Glaubens bzw. des „Verstehens", wovon erkenntnistheoretisch schon die Rede war, greift nunmehr über auf die historischen Begriffe. Den Sinn der historischen Methode erblickte Meinecke nicht in der Suche nach den Gesetzmäßigkeiten und Triebkräften der gesellschaftlichen Entwicklung - das „simple Klassifizieren" I sondern das entscheidende Moment bestand gerade in ihrer Negierung, in der Unschärfe, d. h. natürlich der Unwissenschaftlichkeit der historischen Begriffe. So sprach er z. B. vom „geheimen Etwas" 1 1 0 der Nationen und der Staatsindividualitäten. In diesem Zusammenhang ist es auch zu verstehen, daß Ranke für die moderne imperialistische Geschichtstheorie nicht mehr nur der große Methodiker ist: „ . . - e r beginnt daneben etwas ganz Neues zu werden, ein großes geistesgeschichtliches Phänomen . . . " 1 1 1 Die Katastrophe des deutschen Imperialismus im ersten Weltkrieg und die Jahre 1917/1918 bewirkten bei Meinecke gewichtige Wandlungen der politischen und historischen Auffassungen, obwohl deren allgemeine imperialistische Grundlagen unverändert erhalten blieben. 112 Durch die Schockwirkung der Ereignisse brach die philosophisch vom Identitätsgedanken getragene Synthese von „Macht und Geist" zusammen, die Meinecke vordem ebenso gläubig wie die anderen Neorankeaner verfochten hatte. Die Ursache der Katastrophe suchte er jedoch nicht bei den wirklichen Wurzeln, nämlich dem imperialistischen System im allgemeinen und den aggressiven Tendenzen des deutschen Imperialismus im speziellen, sondern in irrationalistischen, schicksalhaften, „dämonischen" Kräften. Geschichtstheoretisch hieß der Ausweg nun: Antinomie von „Macht und Geist" bzw. „Natur und Geist", wie Meinecke nun die 1W
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Ebenda, S. 287. Ebenda, S. 191. Derselbe, Zur Beurteilung Rankes. Besprechung von O. Diether, L. v. Ranke als Politiker (1915), in: Schallender Spiegel, a. a. O., S. 121, vgl. auch S. 136. Für alles weitere verweise ich auf Lozek, Gerhard, Friedrich Meinecke, in diesem Band S. JOJ ff.; Berthold, Werner, großhungern und gehorchen." Zur Entwicklung u. polit. Funktion der Geschichtsideologie des westdeutschen Imperialismus, untersucht am Beispiel v. G. Ritter u. F. Meinecke, Berlin i960 (Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte, Karl-MarxUniversität Leipzig, hg. E. Eigelberg, Bd. 7).
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Pole der neuen und angeblich lebensechten dualistischen Betrachtungsweise bezeichnete. Wiederum knüpfte er an Ranke an, indem er nämlich jetzt einen verhüllten und schwebenden Dualismus zwischen Rankes moralischen Wertmaßstäben und seiner Geschichtsbetrachtung entdeckte, den er nun der neuen Situation entsprechend zu einem unverhüllten Dualismus modifizieren wollte. Wenn diese „Antinomie" für den im Restaurationszeitalter groß gewordenen Ranke sich noch durch die Religion und den Glauben an den unerschütterlichen Fortbestand einer reaktionären Regierungsweise überbrücken ließ, so war dies nach den Erfahrungen der letzten Jahre für Meinecke nicht mehr möglich. Die politische Natur des neuen „Dualismus" und die ganze Unwissenschaftlichkeit solcher Theorien ergibt sich schon aus dem Eingeständnis Meineckes, daß hiermit ebenfalls keinerlei tiefere Erklärung des Weltbildes möglich sei, daß man damit lediglich „die Tatsachen nackter und richtiger zeigen" könne. Und er fährt fort: „Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen und das Sittengesetz in der Brust, die Rankes Leitsterne waren, müssen auch die Leitsterne des modernen Denkens bleiben.. . u s In einem seiner wichtigsten theoretischen Aufsätze hat Meinecke etwa zur selben Zeit die irrationalistische Methode, „die Erkenntnis (zu) ergänzen durch Mittel, die außerhalb der eigentlichen Erkenntnis liegen", zu „überwissenschaftlichen Mitteln da zu greifen, wo das rein wissenschaftliche Mittel versagt" l u , als die dem Leben angepaßte Form der echten und am tiefsten dringenden historischen Erkenntnis ausgegeben. Meineckes Vorstellungen von „Gott und Teufel" l l s , in vielen Dingen zusammengewachsen, ließ sich mit Rankes religiöser Geschichtsbetrachtung nicht mehr vereinbaren. Doch erklärte Meinecke: „Zum innersten Wesen des individualisierenden Historikers aber gehört es, daß er zwar keine metaphysischen Voraussetzungen macht, aber zu metaphysischen Konsequenzen gedrängt wird." Dieser moderne Irrationalismus, der die bürgerliche Geschichte der Geschichtsschreibung zu manchem Rätselraten um die „säkularisierte Religion" Meineckes veranlaßt hat, stützt sich im wesentlichen auf eine an einem unbestimmten Absoluten orientierte Ethik, ist also um nichts konkreter und exakter als die religiösen Vorstellungen Rankes. Meinecke hat dies ganz offen zugegeben. Er sah auch ein, daß seine „komplizierte Ethik" gegenüber der Religion den Nachteil hatte, die Massen nicht mit der gleichen Intensität anzusprechen, daß der Historismus „seinen metaphysischen Welttrost nur den erlesenen Geistern von höchster Bildung" spendete. Darin dürfte auch einer der Gründe 115 114 115
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Meinecke, Friedrich, Die Idee der Staatsräson, a, a. O., S. 472, 553, Zitate S. 535. Derselbe, Kausalitäten und Werte in der Geschichte, in: Schaffendet Spiegel, a. a. O., S, 60 f. Derselbe, Die Idee der Staatsräson, a. a. O. S. 542. - Auch während des Faschismus, den er ablehnte, wußte Meinecke keine andere Antwort als die sich ins Ungewisse verlierende Frage, ob Ranke die Existenz des Bösen in der Welt und die rätselhafte Macht des Zufalls in voller Stärke empfunden habe (Derselbe, L. v. Ranke, a. a. O., S. 598 f.). Derselbe, Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus (1925), in: Schaffender Spiegel, a . a . O . , S. 226; derselbe, Die Idee der Staatsräson, a . a . O . , S. 534 f. - Vgl. ferner derselbe, Geschichte und Gegenwart, in: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, 4. veränd. Aufl., Leipzig 1939, S. 19 ff.
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zu suchen sein, daß Meineckes Anschauungen in den 20er Jahren- bei seinen zumeist schroff nationalistischen und revanchistischen Historikerkollegen wenig Anklang und Verbreitung fanden. Erst die noch größere Katastrophe des deutschen Imperialismus 1945 ließ die westdeutsche, nunmehr „demokratisch" drapierte Historiographie auf Meinecke als den ideologischen Rettungsanker zurückgreifen. Freilich auch jetzt nicht, ohne daß um dieses Problem viele Überlegungen kreisten, und auch nicht, ohne Meineckes Ethik fest mit der bundesdeutschen „Demokratie" zu verbinden. Keinesfalls kann man das Buch „Die Idee der Staatsräson" also als Beginn einer neuen deutschen Geschichtsschreibung ansehen, wie Walther Hofer behauptet. 117 Meinecke nimmt darin lediglich für die imperialistische Geschichtsideologie eine gewisse Umorientierung auf politischem und methodologischem Gebiete vor. Wenn für Meinecke der geschichtstheoretische „Dualismus" auch eine Überwindung des Rankeschen „Monismus" bedeutete, so war damit Ranke keineswegs abgeschrieben. E r galt weiter als einer der unentbehrlichen Stammväter des Historismus, der dessen Kern, den Individualitätsgedanken, zur ersten Vollendung geführt hatte. Auch als Meinecke ein Jahrzehnt nach dem Tode Troeltschs dessen Anregung aufgriff und den Entwicklungsgedanken als zweiten wesentlichen Grundbegriff des Historismus deklarierte, berief er sich wieder auf Ranke. Der Entwicklungsbegriff Meineckes atmete nicht zufällig die gleiche Unexaktheit, Unwissenschaftlichkeit wie der Individualitätsgedanke, mit dem er zugleich verbunden war. Meinecke lehnte entschieden jeden Gedanken an einen gesetzmäßigen Verlauf des historischen Entwicklungsprozesses ab und sprach gerade Ranke ein entscheidendes Verdienst an der „Überwindung" des damit naturgemäß verknüpften Fortschrittsbegriffes in der bürgerlichen Geschichtsschreibung zu. Die eigentlichen Ursachen hat er doch recht unumwunden zugegeben: „Haben wir heute noch diesen Glauben an den kontinuierlichen Aufstieg der Menschheit zu höheren Stufen? Können wir ihn noch haben? D a entsinkt vielen von uns mit einem Male der Mut, und die Schatten der modernen Kulturproblematik steigen am Horizonte a u f . " 1 1 8 Als Ausweg aus dem Dilemma für die herrschende Klasse empfahl er die „vertikale" historische Sicht, der das Rankewort von dem Eigenwert jeder Epoche zugrunde liege. Wenn auch der Entwicklungsgedanke von der imperialistischen Geschichtsideologie nicht gut ganz verleugnet werden kann, ein derartiger Entwicklungsbegriff hat doch jeden wissenschaftlichen Wert eingebüßt.
III. Nach 1945 vollzog der wandlungsfähige Meinecke eine erneute Abrechnung mit der „deutschen Katastrophe", die nunmehr auf die moderne „Demokratie" gerichtet war
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Hofer, Waltber, Geschichte zwischen Philosophie und Politik, a. a. O., S. 92. Metnecke, Friedrieb, Geschichte und Gegenwart, a . a . O . , S. 17 u. ff.; derselbe, L. v. Ranke, a . a . O . , S- J95 f.; und die Entgegnung auf Erich Brandenburg, der den Entwicklungsbegriff völlig ablehnt: Derselbe, Ein Wort über geschichtliche Entwicklung, in: Aphorismen und Skizzen zur Geschichte, Leipzig 1942.
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und darauf abzielte, mit dem Faschismus zugleich auch den Kommunismus abzuurteilen, eine sozialistische Neugestaltung Deutschlands auf alle Fälle zu verhindern. Für unser spezielles Problem kann hier nur die Rede „Ranke und Burckhardt" E r wähnung finden, die ein nachhaltiges Echo hervorgerufen hat. Wohl die größte A u f merksamkeit erregte Meinecke mit der Frage: „Wird uns und den nach uns historisch Forschenden nicht Burckhardt am E n d e wichtiger werden als Ranke?" Wenn Meinecke im Hinblick auf 1945 einem Burckhardt den tieferen Blick in das geschichtliche Wesen der modernen Zeit zuschreibt, so fragt sich, welche Momente er dafür anführen kann. Und hier zeigt sich, daß Meinecke besonders Burckhardts Pessimismus berief, der das „Unregelmäßige" der Geschichte zur „düstern Regel" werden ließ, sowie seine angebliche Erkenntnis von den Gefahren der modernen Massenbewegung und ihrer Anfälligkeit, von schlechten Subjekten verführt zu werden. 1 1 8 Der tiefere Blick ist also im Klasseninteresse'ganz dazu angetan, die Kritik statt auf die Wurzeln auf die Formen des Faschismus zu lenken, anstelle der Monopolbourgeoisie, die Hitler in den Sattel hob, schicksalhafte dämonische K r ä f t e verantwortlich zu machen und nicht zuletzt den gesetzmäßigen Übergang vom Imperialismus zum Sozialismus zu diskreditieren. Für solche Manipulationen, darin hatte Meinecke recht, erwiesen sich Burckhardts Visionen und Aussprüche allerdings viel geeigneter als der ein Zeitalter von ihm getrennte Ranke. Meineckes Hinwendung zu Burckhardt ließ oft übersehen, daß er damit Rankes Geschichtsauffassung keineswegs grundsätzlich abgeschrieben h a t Nach Meinecke vertraten beide vielmehr berechtigte Grundeinstellungen der Geschichte, die jede für sich für die imperialistische Geschichtsschreibung unzureichend seien und „vereint aufgehoben" werden sollen in der notwendigen „tiefen Neubesinnung". 1 8 0 D i e alten reaktionären Grundlagen der Methodologie standen bei der „ N e ibesinnung" also wiederum außer Frage. Jetzt fand Meinecke im Gegensatz zu den 20er Jahren eifrige Gefolgsleute, ja eine ganze Meinecke-Literatur entstand. D i e Einschätzung und Gegenüberstellung Rankes und Burckhardts wurde auch von anderen Historikern wie Eberhard Kessel oder Theodor Schieder aufgegriffen und verbreitet. 1 2 1 Der Schweizer Historiker und Meinecke-Verehrer Walther Hofer vertritt in seinen Büchern die Historismus-Auffassung und sieht in der Linie Ranke-Dilthey-Meinecke die Höhepunkte des deutschen Geschichtsdenkens. Ranke bleibt ihm nach wie vor Ausgangspunkt und „lebendiges Ferment" der modernen Geschichtsschreibung, die es nicht auszuscheiden, sondern weiterzuentwickeln gelte: „Diesem Verlangen kommt auch das ausgesprochen metaphysische Bedürfnis des gegenwärtigen Geschichtsverständ11» Derselbe, Ranke und Burckhardt, a. a. O., S. 4, 7, 9. Der erstmals veröffentlichte Briefwechsel Meineckes (Derselbe, Ausgew. Briefwechsel, hg. u. eingel. L. Dehio u. P. Classen, Stuttgart 1961; Werke, Bd. 6) macht deutlich, daß Burckhardt erst in das Zentrum seiner Studiert rückte, als die Katastrophe des Faschismus offensichtlich wurde. ,a) Derselbe, Ranke und Burckhardt, a. a. O., S. 20. m Vgl. Kessel, Eberhard, Ranke und Burckhardt. Ein Literatur- und Forschungsbericht, in: Archiv f. Kulturgeschichte, Bd. 3}, 1951; Scbieder, Theodor, Das historische Weltbild L. v. Rankes, in: Begegnungen mit der Geschichte, Göttingen 1962. 9
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nisses entgegen." Rankes idealistische Geschichtskonzeption ist ihm noch heute ein entscheidendes „Argument" gegen alle „menschliche Bemühen, der Geschichte ihr letztes Geheimnis zu entreißen". 122 Wie verzweifelt sich die moderne imperialistische Geschichtsideologie an das scheinwissenschaftliche „Lebens-" und „Wissenschaftsprinzip" des Historismus klammert, geht auch aus dem Artikel von Waldemar Besson zu diesem Stichwort in dem FischerLexikon für Geschichte hervor: „Erst recht aber ist festzuhalten, daß die Geschichte als Wissenschaft eigener Art mit dem Historismus steht und fällt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß dieser selber zum Gegenstand historischen Fragens geworden ist." 1 2 3 Im Hinblick auf die akute politische und methodologische Krise der westdeutschen Historiographie kann daher Theodor Schieder sagen: „Die Diskussion über Leopold Ranke ist noch in vollem Gange." 1 2 4 Die Beschäftigung mit Rankes Werken riß nach 1945 nicht ab, nahm vielmehr gegenüber der Nazizeit neuen Aufschwung. Zwei Sammlungen seiner Briefe sowie Neudrucke seiner Schriften kamen heraus 1 2 5 ; Artikel, Dissertationen und Monographien waren ihm gewidmet. In unserem Zusammenhang sollen nur einige aktuelle Aspekte interessieren. Rudolf Vierhaus befleißigte sich, aus Rankes Werken alle diejenigen Passagen herauszusuchen, die Rankes Beschäftigung mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen verraten. 126 Die Aufwertung dieser Seite Rankes, wozu seinerzeit auch Max Lenz bereits verschiedentlich Ansätze machte, muß natürlich scheitern. Gerade hieran zeigt sich letzten Endes nur, wie rückständig Ranke schon zu Lebzeiten gegenüber den entscheidenden geschichtlichen Kräften und Problemen war, ein Umstand, der auch von bürgerlichen Historikern zugegeben wird. Die Modernisierung Rankes durch Vierhaus läßt sich nur verstehen durch den Einfluß des historischen Materialismus, der die bürgerliche Historiographie immer wieder zur Beschäftigung mit dieser Problematik zwingt. Weitaus wichtiger und gewissermaßen schon eingefahrener sind die Bestrebungen, Ranke zu einem Vorläufer der modernen Abendland- und Europa-Ideologie zu stempeln. So schreibt einer der Hauptinitiatoren der westdeutschen Europaidee, Hans Rothfels: Ranke „übergreift in eigentümlich fruchtbarer Weise die Phase nationaler 122
Hofer, Walther, Geschichte zwischen Philosophie und Politik, a. a. O., S. 67, 63. Von diesem Standpunkt her betrachtet er sogar mißtrauisch die Theorien der modernen Soziologen.
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Geschichte, mit einer Einleitung v. H. Rothfels, hg. W. Besson, Frankfurt 1961, S. 114 (Fischer-
Lexikon). 124 Schieder, Theodor, Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der HZ, a. a. O., S. 54. ßaÜHtumeim O. (a. a. O., S. 124 ff.) hat die Etappen der politischen Entwicklung Westdeutschlands und die damit im Zusammenhang stehende unterschiedliche Ranke-Deutung hervorgehoben. - Die Ranke-Bewertung Gerhard Ritters wird analysiert von Berthold, Werner, „ . . . großhungern und gehorchen", a. a. O., S. 166 ff. 125 Vgl. die Angaben bei Fuchs, Walther Peter, Der Nachlaß L.v.Rankes, in: HZ, Bd. 195, 1962, H. 1. IS« Vgl. Vierhaus, Rudolf, Ranke und die soziale Welt, Münster 1957 (Neue Münstersche Beiträge z. Geschichtsauffassung, Bd. 1).
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Verengung, die Europa und der Welt bevorstand, und wird daher erneut bedeutsam in einer Zeit, die sich wiederum vor das Problem universaler Ordnung gestellt sieht". 1 2 7 Für den modernen militanten Antikommunismus ist dabei natürlich gerade der reaktionäre Restaurationshistoriker Ranke interessant. Das kommt in einer Äußerung des Marburger Historikers Fritz Wagner zum Ausdruck, der von Rankes „Großen Mächten" zu der „Koexistenz der Freiheit" (verstanden für die kapitalistischen Länder nebeneinander) Beziehungen setzt: „In Rankes politisch-historischer Kontemplation steckt nicht nur die Ablehnung der Französischen Revolution, vor deren Nachwirkungen ihm bangte, sondern überhaupt die Abwehr monolithischer Systeme, ohne daß er schon eine Ahnung von dem Ausmaß des Totalitarismus späterer Zeiten besitzen konnte." 1 2 8 Auch andere prominente Professoren wie Kessel,' Herzfeld, Heinz Gollwitzer und der, Theologe Steinbüchel haben - mit den verschiedensten Variationen - Ranke zu einem europäischen Denker erhoben. 129 In diese neue Version paßte natürlich die von den früheren Ranke-Epigonen aufgestellte nationalpolitische Linie von Ranke zu Bismarck nicht mehr, die zweifellos auch in den Bereich nationalistischer Legenden gehört. So haben denn ausgesprochene Europa-Ideologen und andere, unter ihnen Herzfeld, Kurt v. Raumer, Stephan Skalweit, Bußmann und am nachdrücklichsten wohl Wilhelm Mommsen, Ranke wieder von Bismarck abgegrenzt. 130 Die prononcierten imperialistischen Historiker hatten sich aber auch mit Stimmungen auseinanderzusetzen, die besonders in den ersten Jahren nach 1945 unter dem Eindruck des Zusammenbruchs und der faschistischen Geschichtsfälschungen aufgekommen waren und unter Bezugnahme auf Ranke erneut die Forderung erhoben, streng zwischen politischer und objektiver Historiographie zu trennen. Als Beispiel hierfür mag der bereits erwähnte Aufsatz Eberhard Kessels über „Rankes Geschichtsauffassung" aus dem Jahre 1947 dienen. 1 3 1 Die Einschätzung über die methodologische Untauglichkeit solcher Ansichten braucht hier nicht wiederholt zu werden. Trotzdem konnten diese Auffassungen, die sich natürlich indirekt auch gegen die demokratische und marxistische Geschichtswissenschaft richteten, den Ansprüchen der aggressiven imperialistischen Kreise an die Geschichtsideologen nicht genügen. Rotbfels, Hans, Ranke und die geschichtliche Welt, vin: Deutsche Beiträge z- geistigen Über, lieferung, 2, hg. A. Bergstcaesser, München 195}, S. 114. 128 Wagner, Fritz, Rankes Geschichtsbild, a. a. O., S. 1. >2» Vgl. Kessel, Eberhard, Ranke und Burckhardt, a. a. O., S. 378; Steinbüchel, Theodor, Ranke und Hegel, a . a . O . , S. 185; Herzfeld, Hans, Einleitung zu L. v. Ranke, Neue Briefe, a . a . O . , S. X X V I I I ; Gollwitzer, Heinz, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. u. 19. Jh., München 1951, S. 273 ff. 130 Vgl. Herzfeld, Hans, Politik und Geschichte bei L. v. Ranke, a. a. O., Räumer, Kurt v., Ranke als Spiegel deutscher Geschichtsschreibung im 19. Jh., in: Welt als Geschichte, Jg. 12, 1952, H. 4; Skalweit, Stephan, Ranke und Bismarck, in: HZ, Bd. 176, 1953; Mommsen, Wilhelm, SteinRanke-Bismarck. Ein Beitrag zur politisch-sozialen Bewegung d. 19. Jh., München 1954; Ranke war kein Wegbereiter Bismarcks. Prof. Bußmann sprach über L. v. Ranke, in: Der Tagesspiegel v. 6.12. i960, Ausg. A. Berlin. 151 Vgl. Anm. 30.
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Zur Ausrichtung der Historiker in Forschung, Lehre und Schule auf die bundesdeutsche „Demokratie" veröffentlichte daher 1950 von Rantzau einen Artikel über „Das' deutsche Geschichtsdenken der Gegenwart und die Nachwirkungen Rankes". Unter Hinweis auf die „lebendigen, teils christlichen, teils humanitären Werte", die Rankes „Werk geistig einfassen", verlangte er kategorisch, daß die westdeutsche Geschichtsschreibung nicht auf grundlegende weltanschauliche und politische Normen verzichten könne. 132 Das Streben nach der sogenannten „Voraussetzungslosigkeit" führe nur zur Hilflosigkeit der Historiker und weiter Schichten der Gebildeten, beschwöre eine Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte herauf. Daher forderte Rantzau eine „überzeugungskräftige Wertung und Entscheidung", auch wenn sie mit einem geistigen und persönlichen Risiko verbunden s e i ! 1 3 3 Wenn er auch nicht direkt aussagte, wohin sich der Wille zur Entscheidung zu wenden habe, so ließ, doch die militante Art des Herangehens an diese Frage keinen Zweifel, daß er von den bundesdeutschen Historikern eine "Unterwerfung unter die revanchistische Politik der Bonner Regierung erwartete. Diese Forderungen Rantzaus stehen nicht vereinzelt, sondern sind inzwischen das offiziell verbindliche Programm der westdeutschen Geschichtsschreibung geworden. Ranke wird in Westdeutschland nicht nur von den enragierten NATO-Ideologen benutzt. Auch ausgesprochen nationalistische Historiker, die oft'mit dem Faschismus eng liiert gewesen sind, bemächtigen sich seiner. Erinnert sei hier an die Geschichte der Geschichtsschreibung des „großdeutschen" Heinrich von Srbik oder an den Huldigungsartikel, den Willy Andreas seinem Schwiegervater, dem Neorankeaner Erich Mareks, gewidmet hat und der ausgerechnet dessen „ganzes, selbstlos der Wissenschaft geweihtes Leben" 1 3 4 lobpreisen muß. In der 1950 gegründeten sogenannten „Ranke-Gesellschaft" haben sich unter der Aegide von Gustav Adolf Rein und Günther Franz weitere solche ehemals nazistischen Historiker zusammengefunden, wie Erwin Hölzle, Werner Frauendienst, Hellmuth Rössler, Georg von Rauch oder Walther Hubatsch. Die Ranke-Gesellschaft veranstaltet regelmäßig Tagungen, deren Protokolle oder Reden veröffentlicht werden, und gibt seit 1953 durch Günther Franz die Rezensionszeitschrift „Das historisch-politische Buch" heraus. Durch die Reihen politisch-historischer Hefte „Persönlichkeit und Geschichte" (seit 1957) und „Studien zum Geschichtsbild" (seit i960) sucht sie sich auch in weiteren Kreisen publik zu machen. Wie aus dem Protokoll der ersten Konferenz der Ranke-Gesellschaft hervorgeht, berief sich Rein bei seinen neofaschistischen Tiraden auf niemand anderes als Ranke und das „Ethos seiner Geschichtsforschung". In massiven Angriffen wandte er sich gegen die Verurteilung des Faschismus, wie sie zum Teil auch von NATO-Historikern geübt wurde, und bezeichnete alle derartigen Bestrebungen als propagandistische Verfälschungen, als advokatenhafte Geschichtsschreibung. Unverfroren forderte er gegen 1SS 138 154
Rantzau, Johann, Albrecbt v., a. a. O., S. 518, 519, J21. Ebenda, S. 523. Andreas, Willy, Erich Mareks. Eine Würdigung zu seinem 100. Geburtstag, in: Archiv f. Kulturgeschichte, Bd. 44, 1961, H. 1.
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die sogenannte „Reeducation" gegenüber der Nazizeit: „Wir müssen die Kontroversen des Gegen und Für auf eine andere Ebene heben nach dem Beispiel Rankes . . . " 1 3 5 Empört wandte sich von den Angegriffenen u. a. der alles andere als prokommunistischer Tendenzen verdächtige Walther Hofer in dem Artikel „Der mißbrauchte Ranke" gegen derartige Machinationen. 138 Die indirekte Antwort Reins auf der Tagung von 1955, die unter dem Thema „Kontinuität und Tradition" stand, war noch um einen Grad unverschämter. Wieder unter Berufung auf Rankes Festhalten an den Traditionen hieß es (im Protokollband): „ . . . auch das Unterlegene kann eine fortdauernde, wenn auch hintergründige oder untergründige Kontinuität haben; nicht alles wird durch die Ereignisse widerlegt - was manchmal doch vergessen wird." Und gegen verschiedene prominente NATO-Historiker richtete sich das Burckhardt-Zitat: „Wünschenswert wäre, daß Emigranten nie oder wenigstens nicht mit Ersatzansprüchen zurückkehrten, das Erlittene als ihr Teil Erdenschicksal auf sich nehmen." 1 3 7 E s ist bezeichnend für die bundesdeutsche „Demokratie" und ihre „Freiheit der Wissenschaft" - die immer nur gegen links funktionieren -r, daß derartige unverhohlene Faschisten noch immer ihr Unwesen treiben können. „Die Andere Zeitung" protestierte daher zu recht 1956 dagegen, daß „heute Neonazis versuchen, über eine ,Ranke-Gesellschaft' wieder in der deutschen Geschichtswissenschaft Boden zu gewinnen." 1 3 8 Und n&ch einer Analyse der Rezensionstätigkeit des „historisch-politischen Buches" über die Literatur zum zweiten Weltkrieg kommt der Verfasser zu der Schlußfolgerung, daß in der Zeitschrift die Wortführer des extremen Militarismus am Werke sind. „Aber nicht nur der Wille, die Kriegsliteratur ins Volk zu tragen, ist deutlich. Gleichzeitig bemüht man sich auch unverhohlen um die Strategie eines künftigen Krieges." 1 3 9 Für die neueste Taktik der Ranke-Gesellschaft scheint die Tagung des Jahres 1959 zu dem aktuellen Thema „Teilung- und Wiedervereinigung" symptomatisch zu sein (Das Protokoll der Tagung kam ergänzt und überarbeitet erst 196} heraus!). 140 Erstens haben die Referenten auf die offene Bekämpfung der Europa-Ideologen verzichtet. Jedoch zeigt der in den Reden zutage tretende Nationalismus zweitens, daß der Abendlandideologie wenig Konzessionen gemacht wurden. Und drittens finden Gibt es ein deutsches Geschichtsbild?
Konferenz d. Ranke-Gesellschaft, Frankfurt u. Berlin
u. Bonn 1955, Vorwort, Einführung von G. A. Rein, S. 9, 15, 16 (Jahrbuch d. Ranke-Gesellschaft
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Hof er, Weither, Der mißbrauchte Ranke. „Konservative Revolution" in der Geschichtsschreibung?, in: Der Monat, Jg. 7, 1955, Nr. 84. Kontinuität und Tradition. Ihre Problematik in der neueren deutschen Geschichte uncí Gegenwart, Frankfurt-Berlin-Bonn 1956, S. 16, 15 (Jahrbuch der Ranke-Gesellschaft 1955). Hoffmann, Siegfried, Geschichte ohne geschichtliche Probleme. L. v. Ranke und seine Nachfahren, in: Die Andere Zeitung, Hamburg v. 13.9.1956. (Zit. nach: Deutsches Institut f. Zeitgeschichte, Ausschnitt-Archiv, Bio Ran-Rap.) Ebenda. Der Verfasser belegt seine Ausführung mit einer Reihe von Beispielen. Teilung und Wiedervereinigung. Für die Ranke-Gesellschaft hg. G. Franz, Göttingen-BerlinFrankfurt-Zürich 1963.
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sich - abgesehen von dem aggressiven Antikommunismus - bei den Autoren ziemlich übereinstimmend Vorwürfe an die Adresse der NATO-Verbündeten U S A , Großbritannien und Frankreich wegen ihrer Deutschlandpolitik während des Krieges und danach, die zur Teilung Deutschlands statt zum „rechtzeitigen" Bruch mit dem „widernatürlichen" Partner Sowjetunion geführt habe. Die kühle Behandlung der Deutschlandpolitik de Gaulles ist auffällig zu dem Zeitpunkt, wo die Freundschaftsbeteuerungen Adenauer-de Gaulle ihren Höhepunkt erreicht hatten. Und der Artikel über „England und die deutsche Teilung" sieht in der Schürung der deutschen Revanchestimmung die einzige Möglichkeit, der wachsenden englischen Neigung für die Anerkennung des Status quo zu begegnen. Ranke - und hier kommen wir wieder auf unser Thema zurück - muß für G. A. Rein den das Ganze zusammenfügenden Gedanken liefern, daß das deutsche Nationalbewußtsein nicht länger unterdrückt werden und von Fremden wider den anderen deutschen Teil in Bewegung gebracht werden dürfe!141 In den vergangenen Jahren bemächtigten sich in zunehmendem Maße religiös bestimmte Geschichtsauffassungen des Rankeschen Vorbildes und Erbes. Carl Hinrichs z. B. schrieb das immer wieder zitierte Buch über „Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit". E r berief sich auf Schellings Wort von der Notwendigkeit, „den Prozeß gegen die unbeschränkte Erhebung der Vernunft", der in der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts begonnen, „auch wissenschaftlich zu bleibendem Ende zu bringen..." Während Schelling aber nicht über die „Neuformulierung des Christentums mit den Mitteln der idealistischen Spekulation" hinausgekommen sei, habe Ranke - Hinrichs spricht einmal von dem „Zuge der Wiederverchristlichung des Idealismus" - die romantische idealistische Geschichtskonzeption zur „Weltwirkung" geführt. 142 Der reaktionäre und wissenschaftsfeindliche Charakter dieser Anschauungen bedarf keines Kommentars. Natürlich gibt es auch innerhalb der religiösen Geschichtsauffassung die verschiedensten Nuancen. So erhob auf einer Konferenz der Ranke-Gesellschaft ein Pfarrer Dr. Pahlmann Einwendungen gegen Rankes religiöse Weltsicht, die zwar bedeutungsvolle Ansätze zeige, die er aber doch kritisierte, weil sie nicht mit dem schulmäßigen kirchlichen Gottesglauben übereinstimmte. Auch gegen Meinecke polemisierte er, weil dieser in der Fortentwicklung der Rankeschen Gedanken im Agnostizismus steckengeblieben sei und seine Berührungen mit dem Fideismus ihm nicht konsequent genug erschienen. Pahlmanns Schlußfolgerung: Meineckes Agnostizismus könne nicht das letzte Wort bleiben! 1 4 3 Der Marburger Historiker Fritz Wagner teilte die Kritik an dem Agnostizismus der Ranke-Nachfolger und die dadurch angeblich heraufbeschworenen Schwierigkeiten der Methodologie: „Der religiöse Grundzug seines (Rankes - H. S.) Geschichtsbildes 141 141
14S
Rein, Gustav Adolf, Zur Einführung, in: Ebenda, S. n. Hinrichs, Carl, a. a. O., S. 129, 139, 150. Die von Hinrichs proklamierte geistige „Verwandtschaft" Rankes zu dem Denken der deutschen Klassik ist nur die Fortsetzung der alten Thesen von Dilthey, Mareks oder Meinecke. Pablmann, F., Gott und die Geschichte in: Gibt es ein deutsches Geschichtsbild?, a . a . O . , S. 29 ff.
Die Ranke-Renaissance
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ist nicht ungestraft als Beiwerk preisgegeben worden." Obwohl Wagner angesichts der Kritiken aus dem marxistischen und bürgerlichen Lager betonte, daß „religiöse Geborgenheit... heute ein Wagnis" bedeute, wollte er an dem „undurchdringlichen göttlichen Weltgrund" als „Fundament aller Universalgeschichte" festhalten. 144 Wieso das Christentum augenblicklich in der imperialistischen Geschichtsideologie so stark diskutiert wird, zeigt der selbstquälerische Ausruf Walther Hofers: Was soll der „Heilserwartung" des Marxismus in der westlichen Welt entgegengestellt werden, wenn nicht die christliche? Hier stoße man auf „die schwierigste Frage und die eigentliche Crux des gegenwärtigen Geschichtsdenkens". Freilich muß er eingestehen, daß sich „eine geistige Weltverständigung auf Grund dieser höchsten Werte der verschiedenen Weltreligionen" nicht von heute auf morgen herbeizwingen lasse, und er bescheidet sich deshalb persönlich mit" Meineckes „ehrlichen Agnostizismus". 145 Soviel ist sicher: Weder das Christentum noch ein anderer Irrationalismus erlösen die imperialistische Geschichtsideologie aus ihrer Grundlagenkrise. Fassen wir zusammen: Die Ranke-Renaissance brachte keinesfalls den „Wiedergewinn wissenschaftlichen Ebenmaßes" wie Srbik versichert hat. Ob nationalistisch oder europäisch, ob monarchistisch oder „demokratisch" - die Berufung auf Rankes Objektivität und seine humanistischen Ideale hat die maßgebliche Historikerprominenz in keiner Periode daran gehindert, die reaktionären und antinationalen Interessen des deutschen Imperialismus zu vertreten. Konnte die Ranke-Renaissance deshalb der „bedeutendste Revisionsversuch" der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung sein? Mitnichten, denn die Ranke-Epigonen kennzeichnet gerade das Festhalten an den reaktionären Grundbegriffen Rankes und ihrer eklektischen Anpassung und Modifizierung für die Gegenwart. Die reaktionäre Historismus-Auffassung hat die subjektivistischen und irrationalistischen Elemente in Rankes Geschichtsbetrachtung noch weiter ausgebaut, übersteigert und zum eigentlichen Wissenschaftskriterium erhoben. Der Kampf gegen den Marxismus und gegen alle Opponenten aus dem eigenen Lager, auch aus dem westlichen Ausland, zwingt die imperialistischen Historiker, um so verzweifelter an dem Historismus festzuhalten, mit dem Christentum zu liebäugeln. Zu den scheinwissenschaftlichen Theorien über den Erkenntnisprozeß und die historischen Gesetzmäßigkeiten gesellt sich die unwissenschaftliche Methode, die bewußt gesuchte Unscharfe der historischen Begriffe. Wenn Fritz Wagner - stellvertretend für die imperialistische Geschichtsideologie - glaubt, daß Ranke „unausgeschöpfte Möglichkeiten... gerade durch die unsystematische Aft seines historischen Denkens hinterlassen" 148 hat, so richtet sich eine derartige Geschichtsmethodologie selbst. 144 145
Wagner, Fritz, Rankes Geschichtsbild, a. a. O., S. 23. Hofer, Walther,
Geschichte zwischen Philosophie und Politik, a. a. O., S. 171, 17« f., 181.
Wagner, Fritz, Rankes Geschichtsbild, a. a. O., S. 26.
Zum Methodenstreit um Karl Lamprecht*
Ernst
Engelberg
„Man muß die A x t gebrauchen." Georg von B e l o w 1
Zu den bedeutendsten deutschen Historikern gehörte Karl Lamprecht (1856-191;), der von 1891 bis zu seinem Tode 1915 ununterbrochen an der Leipziger Universität wirkte. Seine theoretischen und historiographischen Publikationen riefen Ende desr vorigen Jahrhunderts einen Methodenstreit hervor, der an Dauer und Leidenschaft seinesgleichen in der Geschichte der Geschichtsschreibung sucht. Gegen Lamprecht stellten sich nahezu alle bürgerlichen Historiker, unter denen nach Sybels T o d e 2 Georg von Below der führende politische Kopf war. D i e Polemiken nahmen sehr oft die Form eines persönlich zugespitzten Gelehrtengezänks an; aber dahinter steckte der ernste Streit um die ideologischen und politischen Grundprinzipien der bürgerlichen Geschichtsschreibung, die Sorge um ihre Festigkeit gegenüber allen marxistischen Einflüssen. Der Streit der 90er Jahre hatte seine Vorläufer. W i r müssen zurückgehen bis auf die Zeit, da das Bündnis zwischen den ostelbischen Junkern und den rheinisch-westfälischen Schwerindustrie)len auf der Grundlage der Zollgesetzgebung im Jahre 1879, die im engsten historisch-politischen Zusammenhang mit dem Ausnahmegesetz gegen die deutsche Sozialdemokratie von 1878 stand, abgeschlossen wurde. D i e politische Reaktion der 80er Jahre wirkte sich in einer erhöhten Produktivität der noch ganz im * Durchgesehene Fassung, zuerst veröffentlicht in: Karl-Marx-Universität
Leipzig 1409-19)9.
träge z. Universitätsgeschichte, Bd. 2, Leipzig 19(9. - Zum Biographischen s. Kötzscbke,
Bei-
Rudolf,
Lamprecht, Karl Gotthard, in: Deutsches Biographisches Jahrbuch, hg. v. Verband d. deutschen Akademien,
Überleitungsbd. 1, 1914-1916, Berlin-Leipzig 1915, S. 139 ff. Dort
Literatur. - Ferner Derselbe,
auch
weitere
Verzeichnis der Schriften Karl Lamprechts, in: Berichte über die
Verhandlungen d. Kgl. Sachs. Ges. d. Wissenschaften, Philol.-hist. Klasse, Bd. 67, H. 3, S. 13 ff. Ein ergänztes Schriftenverzeichnis bei Scbönebaum, Herbert, Zum 100. Geburtstag Karl Lamprechts am 25.2.1956, in: Wiss. Zeitschr. Univers. Leipzig, Jg. 1955/56, Ges. u. spr. R., H. 1, S. 7 ff. - Ein spezielles Problem aus Lamprechts wissenschaftlich-organisatorischer Tätigkeit behandelt: Langerbeck, Lutz,
Die
Universitätsreformpläne
Karl
Lamprechts, in:
Karl-Marx-Universität
Leipzig 1409-1959, a. a. O . 1
Below, Georg v., D i e neue historische Methode, in: Historische Zeitschrift, Bd. 81, 1898, S. 195.
2
Zu Sybels Einfädelung des Kampfes gegen Lamprecht vgl. Schleier, Hans, Sybel und Treitschke, Berlin 1965, S. 241 ff. — Scbönebaum,
Herbert,
Karl Lamprecht. Zur 100. Wiederkehr seines
Geburtstages (25. 2.1856), in: Archiv f. Kulturgeschichte, Bd. 38, 1955, H. 3, S. 273 ff. Theodor,
Schieder,
D i e deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der Historischen Zeitschrift, in: HZ,
Bd. 189, 1959, S. 14 f., 47 ff.
Zum Methodenstreit um Karl Lamprecht
137
Banne der Sybel und Treitschke stehenden bismarckhörigen Geschichtsschreibung aus. In den 80er Jahren erschienen Treitschkes mehrbändige „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert", Droysens „Geschichte der Preußischen Politik" und Sybels „Die Begründung des deutschen Kaiserreichs". Einem gewissen Fortschrittsbedürfnis glaubten die meisten deutschen Historiker dadurch Genüge getan zu haben, daß sie die Forschungsgebiete erweiterten. In Wirklichkeit war diese Erweiterung - 2. B. auf die Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und des Absolutismus - durch die politischen Interessen der junkerlich-schwerindustriellen Reaktion diktiert. G . von Below meinte nämlich in seinem späteren Überblick über die Geschichtsschreibung und -forschung, daß in der Wirtschaftspolitik der mittelalterlichen Stadt und des Absolutismus manches zu sehen sei, was der moderne Staat (d. h. also der Bismarcksche Bonapartismus) mit übernommen habe. 3 Die Ausweitung des stofflichen Materials mußte früher oder später zur offenen Klarlegung der Krisis der historischen Methode führen - zumal die vorherrschend borussisch ausgerichtete Historiographie unter dem Druck der im linksliberalen Bürgertum und Kleinbürgertum beliebten Kulturgeschichtsschreibung 4 stand. Wie sehr Ende der 70er Jahre die Krise der bürgerlichen Geschichtsschreibung heranreifte und in ihr zwei Richtungen sich formierten, die zuerst einmal unter dem Schlagwort politische oder Kulturgeschichte miteinander rangen, zeigte die 1878 erschienene Schrift des liberalen Naturforschers Du Bois-Reymond „Kulturgeschichte und Naturwissenschaft". Sie war ganz getragen von dem Stolz auf den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt. E s sprach hier ein flacher Optimismus, der über der zunehmenden Beherrschung der Natur durch den Menschen, d. h. über die Entwicklung der Produktivkräfte, die Beziehungen der Menschen untereinander, d. h. im wesentlichen die Produktionsverhältnisse vergaß. Der "Widerspruch zwischen den sich entwickelnden Produktivkräften und den stagnierenden Produktionsverhältnissen vermochte Du BoisReymond von seinem bürgerlichen Standpunkt aus ebensowenig zu erfassen, wie die Zwiespältigkeit des technischen Fortschritts im Kapitalismus überhaupt. Diese hat Marx mit der ihm eigenen Prägnanz gekennzeichnet: „In dem Maße, wie die Menschheit die Natur bezwingt, scheint der Mensch durch andre Menschen oder durch seine eigne Niedertracht unterjocht zu werden." 5 Marxens Worte drücken einen realisti3
Below, Georg v., Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung, Sonderabdruck aus dem W e r k :
4
Es kamen in den 70er und 80er Jahren eine Reihe von Kulturgeschichten heraus, die einen
Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., Berlin 1914, S. 26. großen Leserkreis fanden, beispielsweise die „Kulturgeschichte der Menschheit" von
Georg
Friedrich Kolb (1868-1870), die „Kulturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart" (1875) von Friedrich Anton Heller von Hellwald, die „Kulturgeschichte der Menschheit" von Julius Lippert (1886-87) und die „Allgemeine Kultargeschichte" von O t t o am Rhyn (1877-1897). D i e methodischen Unzulänglichkeiten dieser Kulturgeschichten boten den sogenannten politischen Geschichtsschreibern leichte Angriffsflächen. 5
Marx, Karl, R e d e auf der Jahresfeier des „People's Paper", in: Marx-Engels, Werke, Bd. 12, Berlin 1961, S. 3 f.
Ernst Engelberg
i}8
sehen Optimismus aus, der sich über die Gegenwart keine Illusion macht, aber zugleich über die bestehende Gesellschaftsordnung hinaus weist. Die borussische Geschichtsschreibung wurde noch von einer anderen Art der Kulturgeschichtsschreibung bedroht - nämlich der eines Jacob Burckhardt. Seine wesentlichen theoretischen Schriften, wie die „Weltgeschichtlichen Betrachtungen", waren zwar noch nicht veröffentlicht; aber die Geschichtsphilosophie, die seiner „Kultur der Renaissance" und der „Griechischen Kulturgeschichte" zugrunde lag, war nicht dazu angetan, die Freude an der kapitalistischen Gegenwart zu wecken, am allerwenigsten am Hohenzollernstaat. Burckhardt, der Schweizer, hatte ein waches Auge dafür, „wie die Staats- und Verwaltungsmaschine militärisch umgestaltet werden wird".® Aber so wie der Kulturoptimismus eines Du-Bois-Reymond in der kapitalistischen Gegenwart verhaftet blieb und deshalb im Unterschied zu dem von Marx trügerisch war, so führte der Kulturpessimismus eines Jacob Burckhardt auch nicht weiter und war - besonders in einer revolutionären Situation - reaktionär. Vorläufig dämpfte er jedoch den militaristischen Hurrapatriotismus. Doch die nun in den 8oer Jahren innerhalb der bürgerlichen Geschichtswissenschaft stärker werdende Opposition gegen die Schule Treitschkes können wir nicht vollauf - und nicht einmal in ihrem Wesenskern - erklären, wenn wir auf dem schmalen Felde der sozusagen inneren Entwicklung der Geschichtswissenschaft bleiben. Letzten Endes waren die krisenhaften Erscheinungen in der bürgerlichen Geschichtswissenschaft Auswirkung und ideologischer Ausdruck der Krisis und schließlich des Bankrotts des Bismarckschen Regimes selbst. Die Forderungen nach einer neuen, vornehmlich kulturgeschichtlich gerichteten Historiographie hatten ihre tiefsten Wurzeln in der Opposition weiter Kreise des Kleinbürgertums und sogar des Bürgertums gegen die Bismarcksche Wirtschaftspolitik, gegen das Bismarcksche Regime schlechthin. Ausdruck des Unbehagens weiter Kreise des deutschen Bürgertums unter der Diktatur Bismarcks war das Hervortreten des Historikers Eberhard Gothein (1853-1923), und zwar ein Widerstreben des bürgerlichen Individuums gegen den allzu hart empfundenen Machtwillen des Bismarckschen Staates. In seiner Polemik gegen Dietrich Schäfer, den enragierten Zögling Treitschkes, sprach er von dem Recht des Individuums auf Selbsthilfe gegen den „Zwangsstaat" und trat, Patriotismus und Nationalismus miteinander verwechselnd, für einen ziemlich ausgeprägten Kosmopolitismus ein. Gothein meinte, der Patriotismus sei nur „bei rohen oder doch wenigstens höchst einfachen Völkern ganz besonders mächtig ausgebildet". Dieser Patriotismus biete dann „freilich eine Gewähr für die Kraft des Volkes, keineswegs aber für seine Stellung in der Weltgeschichte".7 Hier also scharf unterscheidend zwischen der Kraft des Volkes einerseits und seiner Stellung in der Weltgeschichte andererseits, meinte Gothein, daß diese letztere nur gemessen werden könnte an dem Beitrag jedes Volkes an der Ausbildung der allgemeinen Weltkultur. Was den Begriff „Kraft des Volkes" 6
7
Jacob Burckhardts Briefe an seinen Freund Friedrieb von Preen 1S64 bis 1893, Stuttgart-Berlin 1922, S. 19; ff., Brief vom 26. 4.1872. Gothein, Eberhard, Die Aufgaben der Kulturgeschichte, Leipzig 1889, S. 55.
Zum Methodenstreit um Karl Lamprecht
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betrifft, so übernahm er ihn ganz unkritisch von den Reaktionären, die bis auf den heutigen Tag glauben machen wollen, daß die Kraft des Volkes nicht in einem vollentwickelten Demokratismus liege, sondern in der reaktionären Staatsmacht. So verstand auch Gothein nicht, Patriotismus mit Demokratismus zu verbinden. Überdies leugnete Gothein keineswegs die Existenzberechtigung der rein politischen Geschichtsschreibung: Manche Epochen und die Geschichte Preußens könnten nur vom politischen Standpunkt geschrieben werden. Die Halbheit, die Zwiespältigkeit, die Inkonsequenz der Gotheinschen Konzeption ist nicht zufällig. Ihre eigentliche Wurzel finden wir in der sozialhistorischen Stellung des selbständig sein wollenden bürgerlichen Ideologen während der Bismarckzeit. Der politische Gesamtwille der Bourgeoisie war durch Bismarck schon längst gebrochen. Auf der anderen Seite: Die deutsche Sozialdemokratie, der politisch bewußteste und aktivste Teil des deutschen revolutionären Proletariats, verfügte über keinen umfassenden strategischen und taktischen Plan. Wir wissen ja, daß Engels in mehreren Briefen an Bebel und Bernstein in den 80er Jahren und zuletzt in seiner Kritik am Erfurter Programm das Fehlen eines politischen Etappenzieles der deutschen Sozialdemokratie, in Form einer bürgerlich-demokratischen Republik, kritisierte. Sein Fehlen war Ausdruck einmal der falschen Lassalleschen Theorie von der einen reaktionären Masse, zum anderen einer mechanistischen Spontaneitätstheorie von der Revolution: Bebel beispielsweise war überzeugt, daß sein berühmter „Kladderadatsch" kommen muß und wird, aber zumindest organisatorisch nicht vorbereitet zu werden braucht. In einer solchen historisch-politischen Situation war ein Ideologe, der die Schranken der bürgerlichen Welt nicht durchbrechen wollte, aber sich in dem damaligen politischen Zustand nicht heimisch fühlte, isoliert und zur politischen Aktivität nicht ermuntert. Deshalb fand Gothein nicht mehr die K r a f t zu einem konsequenten Kampf gegen das junkerlich-großbürgerliche Regime und zu der Konzeption einer neuen positiven politischen Idee. Fast als einziger bürgerlicher radikaldemokratischer Ideologe fand Franz Mehring in jenen Jahren endgültig den Weg zum revolutionären Proletariat und wurde - bei allen kritischen Vorbehalten, die wir heute ihm gegenüber machen müssen - ein bedeutender Fortsetzer der historiographischen Leistungen eines Marx und Engels. Wie stand es nun mit Karl Lamprecht? Wir kennen eine Jugendarbeit des 22jährigen, die schon in der Fragestellung politisch interessant ist. Vollendet im August 1878, verlangt der Aufsatz „Über Individualität und Verständnis für dieselbe im deutschen Mittelalter" unter anderem eine Geschichte des Individuums und sieht den spezifischen Gehalt des Mittelalters nicht „im Streite geistlicher und weltlicher Gewalten, nicht im Glänze und Erlöschen der imperialistischen Idee, kurz überhaupt nicht in seiner politischen Geschichte". 8 Ganz im Sinne des Individualismus, den wir schon bei Gothein kennengelernt haben, kommt der junge Lamprecht zur Kulturgeschichtsschreibung. Wir müssen diesen Aufsatz um so mehr beachten, als • Lamprecht ihn später im Anhang zu seiner „Deutschen Geschichte" veröffentlichte.
8
Veröffentl. in: Lamprecbt, Karl, Deutsche Geschichte, Bd. 12, 5. Aufl., Berlin 1920, S. 4.
14°
Ernst Engelberg
Iro November 1879 lernte Lamprecht den Kölner Großbankier und liberalen Politiker Gustav von Mevissen kennen. Dieser forderte den jungen Historiker auf, die rheinische Geschichte in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht zu bearbeiten, zunächst die des Mittelalters. D i e beiden kamen bald überein: Lamprecht erhielt zur materiellen Sicherung seiner Forschungs- und Archivarbeit 600 Taler jährlich und ein Freibillet für die Rheinbahn. 9 Für viele Jahre war Mevissen der Mäzen Lamprechts, der ihm über seine frühe Habilitation an der Universität Bonn und seine Privatdozentenzeit materiell hinweghalf. Darüber hinaus realisierte Mevissen mit Hilfe Lamprechts einen alten Plan, nämlich die Gründung der „Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde", des ersten historischen Publikationsinstituts auf landschaftlicher Grundlage. 1 0 Wir haben es also hier mit dem direkten Verhältnis von Bourgeois und Ideologen zu tun. Mevissens historische und politische Stellung ist schon zum Verständnis Lamprechts wert, kurz beleuchtet zu werden. Ähnlich wie der 22jährige Lamprecht 1878 schrieb der 25jährige Mevissen 1840: „Selbständigkeit der Individuen in möglichst weiten Kreisen bedinge das Wohl des Staates." 1 1 Kurz nachdem er den Massenstreik der englischen Arbeiter im Rahmen der Chartistenbewegung im August 1842 erlebt hatte, trat Mevissen in den Kreis der Redakteure der berühmten „Rheinischen Zeitung" ein und lernte dort im Oktober auch K a r l M a r x kennen. Eines lernte Mevissen aus seinen Erlebnissen in England und den Diskussio*nen dieses glänzenden Kreises junger bürgerlicher Ideologen für sein ganzes Leben, daß nämlich die Arbeiterfrage mit den Methoden des patriarchalischen Scharfmachertums nicht zu lösen ist. Mevissen beschritt aber nicht den Weg des radikaldemokratischen Flügels dieses Kreises (G. Jungs und Dr. D'Esters) oder gar den von K a r l M a r x ; er wuchs vielmehr in den Kreis der liberalen Opposition der rheinischen Großbourgeois um Hansemann und. Camphausen hinein, die schon wesentlich älter waren als er. A l s Eisenbahn-, Bankengründer und Industriefinanzier machte er sein Vermögen und stärkte seine gesellschaftliche Stellung, die.sich in seiner späteren Mitgliedschaft im preußischen Herrenhaus besonders sichtbar ausprägte: Selbstverständlich begrüßte der Großbourgeois und Nationalliberale Mevissen die preußisch-obrigkeitliche Einigung Deutschlands und machte den Bismarckkurs mit; in der Zollfrage 1879 nahm er, wie stets im Widerstreit zwischen Freihandel und Schutzzoll, eine mittlere Haltung ein. Aber Bismarcks „vollständigen Umschwung zum Junker" 1 2 1879 konnte er doch nicht mitmachen. Gerade am Beispiel Mevissens sollte es sich zeigen, wie recht Engels hatte, der sich 1886 mit Bebel freundschaftlich stritt und damals schrieb: „Von der deutschen Bourgeoisie kannst Du keine schlechtere Ansicht haben als ich." Aber, so fuhr er weiter unten fort: die große Industrie • Scbönebaum, Herbert, Gustav Mevissen und Karl Lamprecht, Zur rheinischen Kulturpolitik von 1880-1890, in: Rheinische Vierteljahrsblätter, Jg. 17, 1952, H. 1/2, S. 181. 10 Lewald, Ursula, Karl Lamprecht und die Rheinische Geschichtsforschung, in: ebenda, Jg. 21, 1956, H. 1/4, S. 179 ff. 11 Hansen, Joseph, Gustav von Mevissen. Ein rheinisches Lebensbild 1815-1899, Bd. 1, Berlin 1906, S. 135. 18 Engels, Friedrieb, L.Gliederung des Schlußteils des 4. Kapitels der Broschüre „Die Rolle der Gewalt in der Geschichte"), in: Marx/Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1962, S. 465.
Zum Methodenstreit um Karl I-amprecht
141
läßt sich ihre Gesetze nicht von der Feigheit der Industriellen diktieren, die ökonomische Entwicklung bringt die Kollisionen immer wieder hervor, treibt sie auf die Spitze und leidet nicht, daß die halbfeudalen Junker mit feudalen Gelüsten über sie auf die Dauer herrschen." 1 3 In der T a t zeigte Mevissen noch öfters Unmut über Bismarck, so 1881 und dann 1884, wo er schrieb: „ D e r Fürst ist längst allmächtig, und.gegen seinen Einfluß kommt beim Kaiser nichts auf." 1 4 Allerdings widersprach er angesichts des Anwachsens „unreifer und negativkritischer Volksströmungen", wie sich sein Biograph so hübsch ausdrückte l s , nicht öffentlich. Des Großlbourgeois gemäße Oppositionsform in jener Zeit war vor allem die der Hofintrige. Mevissen hatte enge Beziehungen zur Kaiserin Augusta 1 6 , die Bismarck nicht ohne Grund haßte; und auf dem Höhepunkt der Krise des Bismarckregimes unterstützte er die sozialpolitischen Pläne des jungen Kaisers Wilhelm, die schließlich zum Sturz des Eisernen Kanzlers führten. Aber neben der W a f f e der politischen Intrige handhabte Mevissen die der Ideologie. E r war mit dem politischen Bewußtsein seiner Klassengenossen keineswegs zufrieden. A l s im M a i 1882 sein Jugendfreund aus dem Kreis der „Rheinischen Zeitung", der Jurist Ignaz Bürgers, starb, befielen ihn recht trübe Gedanken, und er meinte: „ . . . und bald werden auch die letzten Trümmer einer großen Zeit nur noch einsam und verlassen dastehen." 1 7 Doch seine Notizen endeten mit einem optimistischen, allzu pathetischen A k k o r d : „Licht, Licht und Fortschritt - das ist das Zeichen, in dem ich auch übers G r a b hinaus mich mit dem altbewährten, in seinem Herzen noch so beneidenswert jungen Freunde stets eins wußte und auch heute noch eins weiß." 1 8 E s ging Mevissen gerade in jenen Jahren um die Stärkung des rheinischen und bourgeoisen Selbstbewußtseins; dazu sollten die Arbeiten Lamprechts und der „Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde" dienen. Das sagte er nicht offen, aber er umschrieb es rn einem Brief vom Jahre 1885 an die Gesellschaft: „ N u r die harmonische Verbindung des geistigen und materiellen Lebens, nur die intensiv hergestellte Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart kann dem materiell Errungenen die feste Grundlage und die Gewähr der Dauer geben." 1 9 Mevissen wußte, daß die Stärke der Bourgeoisie nicht nur im Ökonomischen, sondern auch in der vielfältig ausgebildeten bürgerlichen Ideologie in Wissenschaft und Kunst bestand. Wenn er sich dann noch 1895 bezeichnenderweise an Eberhard Gothein wandte, damit er ihm helfe, in Köln eine Handelshochschule zu gründen, dann diente dies gleichfalls der Vertiefung des bürgerlichen Klassenbewußtseins. Und da diese Hochschule im Verdacht des Liberalismus stand, erklärte der scharfmacherische Saarindustrielle Frei13
Engels, Friedrich, Briefe an Bebel, Besorgt vom Institut f. Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 195S, Brief v. 23. [-25.] 10.1886, S. 146/147. u Hansen, Joseph, a. a. O., S. 843, Fußnote 2. 15 Ebenda, S. 841/43. 16 Ebenda, S. 842. 17 Ebenda, S. 853. 18 Ebenda, S. 854. 1» Brief von Mevissen an die Ges. f. Rhein. Geschichtskunde vom 24.5.1885 (im Kölner Stadtarchiv), zit. nach Lewald, Ursula, a. a. O., S. 282.
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herr von Stumm, daß dem Kaufmann und Industriellen die Berührung mit der Wissenschaft nur zum Schaden gereiche. E i n so kluger und gebildeter Bourgeois wie Mevissen ging also in seinem Kampf um die Stärkung der bürgerlichen Position recht verschlungene und verdeckte Wege. Dazu gehörte auch, -daß die von ihm materiell geförderten, von K a r l Lamprecht vorangetriebenen und durchgeführten Arbeiten mit ihrem bewußt wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Charakter ihre geheime Spitze gegen Staatsallmacht und Junkerherrschaft hatten. Der bedeutendste wissenschaftliche Ertrag, der aus dem Forschungsauftrag Mevissens hervorging, war Lamprechts wirtschaftsgeschichtliches Werk „Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter", das in vier Bänden 1885/86 erschien. Die rheinischen und moselländischen Quellen wurden fast restlos ausgewertet. Auf dieser breiten Quellenbasis zeichnete Lamprecht ein recht-anschauliches Bild über die Entstehung, den Höhepunkt und den beginnenden V e r f a l l der feudalen Wirtschaftsorganisation auf dem Lande. Besonders eindrucksvoll ist die sehr detaillierte Schilderung der sozialen Verhältnisse der Bauern, insbesondere der beginnenden Verschlechterung ihrer Lage im 14. und 15. Jahrhundert. D i e meisten bürgerlichen deutschen Historiker, vor allem Georg von Below, dessen polemischen Furor wir noch kennenlernen werden, und seine Schüler, waren bis auf unsere Tage bestrebt, diese sozialgeschichtlichen Voraussetzungen des großen deutschen Bauernkrieges zu unterschätzen oder ganz zu leugnen. Lamprecht stellte jedoch nicht nur die sozialen Verhältnisse im Moselland dar, sondern konnte auch aus den Quellen eine ganze Reihe von bäuerlichen Widerstandsaktionen, die die verschiedensten Formen annahmen (Landflucht, lokale Aufstände etc.) nachweisen. A l l e diese Ereignisse wurden nicht als Formen des Klassenkampfes exakt herausgearbeitet, aber die Schilderung einer solchen Vielzahl bäuerlicher Aufstände durch einen bürgerlichen Wirtschaftshistoriker war einzigartig in der deutschen Geschichtsschreibung. Wertvoll sind auch die Partien des Werkes über die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des niederen Adels, besonders über die Ursachen seines sozialen Verfalls im 14. und 15. Jahrhundert. Die Beziehungen zwischen Mevissen und Lamprecht lockerten sich äußerlich, besonders nach dessen endgültiger Übersiedlung nach Leipzig. Aber Mevissen, der 1899 starb, hatte doch auf Lamprecht einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Sogar in der Pflege höfischer Beziehungen hatte Lamprecht seinem alten Gönner manches abgeguckt; so ließ er das „Königliche Institut für Kultur- und Universalgeschichte", das 1909 in Leipzig von ihm geschaffen wurde, nicht der Universitätsverwaltung und damit der Philosophischen Fakultät, sondern direkt dem Staatsministerium in Dresden unterstellen - was ihn bei seinen Kollegen sicherlich nicht beliebt machte. In den 90er Jahren stand Lamprechts Schaffen offensichtlich unter dem Eindruck der Liquidierung des Bismarckschen Regimes, des großen Triumphes der deutschen Sozialdemokratie und des marxistischen Programms, das sie 1891 in E r f u r t annahm, des legalen Ausbaus der proletarischen Massenorganisationen, aber auch des erneuten und verstärkten Auftretens des Opportunismus innerhalb der Arbeiterbewegung. Getreu einer auch von Mevissen schon seit langem verfolgten Linie, konnte es jetzt für Lamprecht nicht heißen: Scharfmäch'ertum, verschärfte Repression, sondern Akzeptierung
Zum Methodenstreit um K a r l Lamprecht
143
der proletarischen Massenorganisationen, mit dem Ziele, sie ihres revolutionären Charakters zu berauben. Otto Westphal hat diesen Umstand in seinem Buche „Feinde Bismarcks" 20 folgendermaßen gekennzeichnet: Lamprecht sah nach dem Sturze Bismarcks die Möglichkeit, mit angeblich naturwissenschaftlicher Gesinnung - siehe Du Bois-Reymond - Brücken zu den Massen zu schlagen. So war es verständlich, daß Lamprecht sich weiter frei halten wollte von der üblichen Hof- und Staatshistorie und damit eine auf das Kulturgeschichtliche gerichtete Geschichtsschreibung beibehielt. Die ersten Bände seiner „Deutschen Geschichte" dienten ihm wesentlich zur Selbstverständigung, wie er selbst gestand. In diesen ersten Bänden war noch ein gewisser Oppositionsgeist' spürbar, und so brachte er Probleme zur Darstellung, die bislang in so offener Weise in der offiziellen bürgerlichen Geschichtsschreibung nicht gesehen wotden waren, wie z. B. die Wechselwirkung.von materiellem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein und insbesondere die Bedeutung der Ökonomie in der Geschichte.21 Gleichzeitig trat Lamprecht auch mit theoretischen Streitschriften auf, in denen er-wie er sich auszudrücken pflegte - seine neue Richtung gegenüber der alten Richtung in der Geschichtswissenschaft propagierte. Was nun bei Lamprecht von vornherein auffiel, das war seine scharfe Trennung von Weltanschauung und der sogenannten wissenchaftlichen Methode 22, womit er sich von vornherein in eine heillose Verwirrung verstrickte, denn hinter dieser Aufspaltung verbargen sich ja auch weltanschauliche Prinzipien. Bei Treitschke war der subjektive, willensmäßig begründete Idealismus aufs engste mit seiner Geschichtsschreibung verknüpft. Lamprecht wollte nun nicht von der Weltanschauung her, indem er diese wissenschaftlich zu begründen versuchte, die Historiographie reformieren. Vielmehr steckte er ein Gebiet des Glaubens und des Wissens voneinander ab. Der alten Richtung der Geschichtswissenschaft bleibe das Gebiet des Glaubens überlassen. Lamprecht meinte, ein prinzipieller Unterschied zwischen dem Verfahren bei der Sagenbildung und dem der -politischen Geschichtsschreibung sei gar nicht vorhanden; denn „hier wie dort arbeitet die Phantasie, um die Totalität des Geschehenen wieder herzustellen. Das Heute unterscheidet sich von dem Einst nur durch den Gebrauch raffinierter Mittel der Arbeit." 23 Dennoch erkannte er die Existenzberechtigung der politischen Geschichtsschreibung neben der Kulturgeschichte an. Ja, er meinte sogar, daß der Zerfall der politischen Geschichtsschreibung ein Unglück wäre. Neben der politischen Geschichte als dem Gebiet des Glaubens sollte sich nun nach Lamprecht das Gebiet des reinen Wissens eröffnen, nämlich die Erforschung dersozialen und Ökonomischen Erscheinungen. Er ging von der These aus, daß alle 20
Westphal,
Otto,
Feinde Bismarcks. Geistige Grundlagen der deutschen Opposition
München 1930, S. 176. Zum Verlauf des Methodenstreits vgl. Seifert,
1848-1918,
D e r Streit um
Friedrich,
Karl Lamprechts Geschichtsphilosophie, Augsburg 1925. 21
Vgl. die im ganzen positive Besprechung dieser Bände durch Mehring,
Franz,
Karl Lamprecht,
Deutsche Geschichte, in: D i e N e u e Zeit, Jg. 12, 1895/94, Bd. 1, S. 443 ff. und 475 ff. 22
Lamprecht,
2$
Ebenda, S. 14.
Karl, Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft, Berlin 1896, S. 4.
144
Ernst Engelberg
wissenschaftliche Methodologie vom Charakter des Urteils abhänge.34 Sie müsse sich deshalb auf einem Gebiete betätigen, auf dem sie Vergleichungen anstellen und die Summe der Urteile erhöhen könne. Mithin dürfe sie niemals auf das Individuelle, Singuläre, sondern immer auf das Kollektive, Gemeinsame gerichtet sein. Lamprecht schloß nun das Singuläre und Individuelle entweder aus der wissenschaftlichen Betrachtung aus, oder er zwängte es in abstrakte Entwicklungsreihen ein. Die durchgehenden Konstanten in der Mannigfaltigkeit der Geschichte sah nun Lamprecht in den „sozialpsychischen Kräften". Für ihn war die Natural- oder Geldwirtsch'aft oder -jeder andere geschichtliche Gesamtzustand Ausdruck einer psychischen Massenerscheinung. Wenn also z. B. in dem deutschen absolutistischen Fürstenstaat vom 16. bis zum 18. Jahrhundert hinein die mittelalterlichen Korporationen und Stände ihre Lebenskraft verloren, so wird das £us dem die Zeit beherrschenden Individualismus erklärt. Entgegen der landläufigen bürgerlichen Ansicht sah Lamprecht im Staat keineswegs eine selbständig wirkende hypostasierte geschichtliche Kraft, aber indem er ihn als „kausales Ergebnis freiwaltender individualpsychischer und gesamtpsychischer Kräfte" 2 5 ansah, verfiel er sofort wieder in den Idealismus. Lamprecht teilte nun die ganze deutsche Geschichte nach den sogenannten psychischen Dominanten ein, die die einzelnen Zeitalter angeblich beherrschten: symbolisch, typisch, konventionell, individualistisch und subjektivistisch. Es würde zu weit führen, wollte ich nun die Widersprüchlichkeit und das Unfruchtbare dieser idealistischen Betrachtungsweise der Geschichte im einzelnen nachweisen. Später, im vollentwickelten Imperialismus, verwendete dann Lamprecht immer stärker die alten, aus der Romantik stammenden Begriffe des Volksgeistes und der Volksseele. Der Organismusgedanke gewann dann über ihn immer mehr die Herrschaft; den universalgeschichtlichen Zusammenhang wollte er dadurch wiederherstellen, indem er Religion und Weltanschauung zu einer tragenden Stütze machen wollte. Das bedeutet schließlich nicht nur ein Ableugnen der Gesetzmäßigkeit in der Geschichte, sondern auch die Ehrenrettung des Irrationalismus. Lamprecht hatte ja schon durch seine Trennung des Gebietes des sogenannten Glaubens von dem Gebiet des Wissens, ebenso durch seine Auffassung, daß das Individuum rational nicht erklärbar sei, dem Irrationalismus ein weites Feld der Betätigung überlassen. Zu der Trennung von politischer Geschichte (als dem Gebiet des Glaubens) und der Kulturgeschichte (als dem Gebiet des Wissens) ist überhaupt noch dieses zu sagen: Mit dieser Trenung hat der Mann, der als Reformator auftreten wollte, von vornherein die Einheitlichkeit der Geschichtswissenschaft, der Methode und der geschichtlichen Entwicklung überhaupt unmöglich gemacht. Obwohl nun Karl Lamprecht kein wirklicher Reformator der Geschichtswissenschaft war, obwohl er kein Demokrat war, brachte er eine geschlossene Front gegen sich auf, die von dem Junkrankeaner Max Lenz bis zu dem alldeutschen Dietrich Schäfer und. den ihm nahestehenden erzkonservativen v. Below reichte. " Derselbe, Die historische Methode des Herrn v. Below. Eine Kritik, Berlin 1899, S. 14. " Derselbe, Zwei Streitschriften, Berlin 1897, S. 54.
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Die sachlichen Ergebnisse des langjährigen Methodenstreits waren - milde ausgedrückt - gleich null. Das große Anliegen, die wissenschaftliche Methode der Geschichtsforschung und -Schreibung, wurde nicht im geringsten gefördert. Mit dem historischen Materialismus setzte sich natürlich niemand auseinander, vielmehr schwang er in der Diskussion - gleichsam wie selbstverständlich - als etwas Drohendes und Abzuwehrendes mit. Es ist Herbert Schönebaum zuzugeben, wenn er feststellt, daß die Historiker Felix Rachfahl und Otto Hintze noch am ehesten um sachliche Belange bemüht waren.26 Im ganzen zeigte die Diskussion, daß anstelle des theoretischen Denkens die sophistische Raffinesse getreten war. Es war Selbstbetrug und Betrug am Leserpublikum, wenn so getan wurde, als ob es um die sogenannte reine Wissenschaft ginge. Es ging auch hier um Grundfragen bürgerlicher Politik. Wir kennen die Leninschen Hinweise auf die zwei Systeme des Regierens, die die Bourgeoisie in allen Ländern ausgebildet hat ä7 , auf die konservative Methode der unversöhnlichen Ablehnung aller Zugeständnisse an die Arbeiterbewegung auf der einen Seite, auf die liberale Methode von Reformen und Zugeständnissen andererseits. Dabei lösen die zwei Methoden bald einander ab, bald verflechten sie sich miteinander in verschiedenartigen Kombinationen. Diese zwei Regierungsmethoden der Bourgeoisie widerspiegelten sich auch und widerspiegeln sich bis zum heutigen Tage mit verblüffender Deutlichkeit in der bürgerlichen Geschichtsschreibung. Was sowohl die liberalen als auch die konservativen Historiker Karl Lamprecht „am wenigstens verzeihen" konnten - wie v. Below knirschte - , war die Vernachlässigung des Staatsgedankens und das Kokettieren mit Gesetzmäßigkeiten. Es bestand die Gefahr für die Bourgeoisie und das Junkertum, daß die Geschichtsschreibung ihre politisch-gesellschaftliche Funktion zugunsten des bestehenden politischen und sozialen Regimes nur mangelhaft erfüllte, daß der entschiedene Wille zur bürgerlich-imperialistischen Macht geschwächt würde. Im Zeitalter des Imperialismus, da sich alle inneren und äußeren Widersprüche des Kapitalismus zusehends und für die bürgerliche Herrschaft in gefährlicher Weise zuspitzten, konnte es in den erwähnten zwei politischen Grundfragen keine Konzession geben. Die „neue Richtung" Lamprechts konnte allenfalls als Außenseitertum geduldet und - wie wir noch sehen werden - für die Sache des Imperialismus als Sondermethode benutzt, mußte aber als allgemeingültige Grundlage der bürgerlichen Geschichtswissenschaft aufs entschiedenste zurückgewiesen werden. Die Diskussion um Lamprecht in den 90er Jahren drohte zu versanden. Darum war im Interesse der ideologischen Reinhaltung der bürgerlichen Geschichtsschreibung und der strammen Erziehung des wissenschaftlichen Nachwuchses eine abschließend moralisch-politische Exekution Lamprechts notwendig. Dazu bedurfte es eines unerschrockenen Mannes - eines Mannes, der, durch keinerlei Liberalismus angekränkelt, sophistisch ebenso gewandt wie politisch instinktsicher war. S6
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Scbönebaum, Herbert, Karl Lamprecht, a. a. O., S. 289. Dagegen hat er wohl die sachlichen Differenzen zwischen Treitschke und Lamprecht unterschätzt. Vgl. Derselbe, H. v. Treitschke u. Karl Lamprecht, Hannover i960. Lenin, W. /., Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung, in: Werke, Bd. 16, Berlin 1962. S. 356 {. Geschichtswissenschaft, Bd. II
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Dieser Mann war Georg von Below, der allemal dreinschlug, wenn es galt, den Hohenzollernstaat und deutschen Imperialismus vor angeblichen oder wirklichen Zersetzungserscheinungen in den eigenen Reihen zu schützen. Die Exekution fand statt in der Nummer 2 des Jahrgangs 1898 der „Historischen Zeitschrift". Die Urteilseröffnung lautete folgendermaßen: „Allein der Baum, selbst wenn er morsch ist, fällt gemeinhin nicht von selbst, nicht ganz von selbst. Man muß die Axt gebrauchen. Deshalb habe ich mich, obwohl widerstrebend, entschlossen, die Auslassungen Lamprechts im Zusammenhange einer kritischen Prüfung zu unterziehen." 2 8 Vernehmen wir nun einige der Axtschläge, mit denen von Below den „morschen Baum" fällte. „Die Hauptsache ist: er hat von Rankes Ideen gar keine Ahnung." „Es ist sehr gut, daß er hier von .Ansicht' spricht; Kenntnis spricht er sich selbst nicht zu." „Die Leser werden die Proben Lamprechtscher Ignoranz, die ich hier vorgeführt habe, entsetzlich finden. Indessen ich bin noch nicht am Ende angelangt." „Wir haben es eben bei Lamprecht auf Schritt und Tritt mit der Trivialität jener mutigen Männer zu tun, die im tollsten Siegesjubel offene Türen einrennen." „Lamprecht kann erst dann völlig verstanden werden, wenn man seine Auslassungen als Produkte unfreiwilliger Komik betrachtet. Man muß ihm die Ungeheuerlichkeit zutrauen, im 19. das 18. Jahrhundert zu sehen." Während ein solch feiner Stilist wie Franz Mehring von den ersten-beiden Bänden der Lamprechtschen „Deutschen Geschichte" erklärte: „Frei von dem aufgedonnerten Pathos der älteren und jüngeren Borussen gewinnt Lamprechts Stil Farbe und Gestalt durch die plastische Herausarbeitung der Dinge selbst" gab von Below über dieselben Bände mit der Unverfrorenheit des dreisten Junkers folgendes schlüssiges Verdikt: „Die Ausführung ist so, daß sie jeder Beschreibung spottet." 30 Zwei Seiten weiter: „Es ist bezeichnend - uns gewährt es Befriedigung daß das viel gerühmte Buch der Moderne in der Geschichtswissenschaft in vollendeter Häßlichkeit auftritt. Die Unfähigkeit zu künstlerisicher Darstellung ringt mit der Gleichgültigkeit gegen das Tatsächliche um den Preis." 3 1 So wird es also gemacht - in einer gewissen hochakademischen Welt, wenn jemand aus politischen Gründen zur Strecke gebracht werden soll. D a wird gnadenlos verfahren! Below hat die Technik, seinem Diskussionsgegner den kalten Stahl der Beleidigung in den Leib zu rennen oder die zynische Invektive ins Gesicht zu brennen, zur höchsten Vollendung gebracht. Erstaunlich bei Below ist stets der sichere politische Blick, der durch die ständig bedrohten Interessen des Junkertums ungemein geschärft wurde. E r hat mit vollem Recht das Streben Lamprechts nach Erkenntnis von Gesetzen in der Geschichte als „Erbstück aus dem philosophischen Zeitalter" 3 2 erfaßt. Der anders geartete Nach58
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Below, Georg v., Die neue historische Methode, a. a. O., S. 195/96. - Die folgenden Zitate sind den Seiten 206, 211, 213, 221 u. 224 entnommen. Mehring, Franz, Karl Lamprecht, Deutsche Geschichtc, a. a. O., S. 480. Below, Georg v., Die neue historische Methode, a. a. O., S. 251. Ebenda, S. 253. Ebenda, S. 234.
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folger Lamprecht? in Leipzig, Walter Goetz, sprach 1912 von der Philosophie als dem „Erbfeind der Historie".33 Was das „zeitgeschichtliche Interesse" betrifft, das Lamprecht gewährte, so meinte Below, jedes Zeitalter stehe unter dem Einfluß bestimmter Ideen. E r fuhr dann fort:. „Im.Zeitalter unserer klassischen Dichtkunst vermied es kaum jemand, sich in Versen zu versuchen. Heute, in den Tagen der sozialen Reformbestrebungen, meint fast jeder, zur Lösung der sozialen Frage beitragen zu müssen." Und auf Lamprechts „Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter" anspielend, spürte er sofort ein wichtiges politisches AnKegen dieses Werkes heraus: „Als in der Erforschung des Mittelalters sich die Notwendigkeit ergab, in umfassender Weise Quellenuntersuchungen anzustellen, zahlte auch der Unberufene dem Bedürfnis des Tages seinen Tribut durch eine Untersuchung dieser Art." 34 Es scheint, als ob der Junkersprößling-von Below aus Ostpreußen, der die Interna der persönlichen Beziehungen im bürgerlichen Geschichtsbetrieb sehr gut kannte, zusätzlich auch dem Mäzen Lamprechts, Gustav von Mevissen, diesem vormärzlichen Oppositionsgeist aus dem mußpreußischen Rheinland, diesem geadelten Großbourgeois, der nicht nur Reichtum, sondern auch bürgerliches Bildungsgut politisch zielsicher anhäufte oder anhäufen ließ, ein Nachhutgefecht liefern wollte. Wir haben gesehen, daß Lamprecht einmal die Existenzberechtigung der politischen Geschichtsschreibung durchaus anerkannte, zum andern, daß auch er keine wissenschaftlich begründete Weltanschauung sich vorstellen und anerkennen konnte. Darin - und das war keine Nebensache - war er sich einig mit seinen Gegnern im bürgerlichen Lager. Below ging nun an: 1. gegen die Lamprechtsche Trennung von Weltanschauung und Methode und damit gegen die allzu starke Degradierung der politischen Geschichte, 2. gegen die Anerkennung von - gleichgültig welchen - Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte. Er zitierte Eduard Meyer, den Altertumshistoriker, der klipp und klar erklärte: „Alle Geschichtsschreibung ist notwendig subjektiv... Nur aus einem in der Gegenwart möglichen Ideenkreise können die Gesichtspunkte genommen werden, welche der Darstellung zugrunde liegen." 35 Und anstelle der Aufsuchung von historischen Gesetzen verlangte Below im Sinne Rankes vor allem Versenkung ins Einzelne, das aufgehellt werden soll durch „Kritik, Penetration und Präzision". Das war das Kernstück der historischen Methode der Below, Schäfer, Eduard Meyer, aber auch der Jungrankeaner und liberalen Politiker um Max Lenz, Hans Delbrück und Hermann Oncken. Die gemeinsame ideologische Plattform, auf der sie sich trafen, kann man mit einem einzigen Namen bezeichnen: Ranke. Jetzt erst wurde er zum Richtstern .aller. Aiie bejahten seine Negierung der Gesetzmäßigkeiten in der historischen Entwicklung; seine Vergöttlichung der Staatsmacht und die Verherrlichung der großen Persönlichkeiten der herrschenden Klassen; sein Primat der Außenpolitik, das beinhaltete, daß 8S
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Goetz, Walter, Lamprechts Deutschs Geschichte, in: Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze, Köln-Graz 1957, S. 199, Below, Georg v., Die neue historische Methode, a. a. O., S. 268. Ebenda, S. 129.
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ein feindliches Verhältnis nicht zwischen den Klassen, sondern zwischen den Nationen bestände; seine antidemokratische Ablehnung des revolutionären Kampfes der Massen. Nur in einem Punkte des ideologischen Vermächtnisses Rankes konnten sich die Gegner Lamprechts nicht einigen: in seiner Pseudoobjektivität. Aus Rankes Auffassung, daß alle historischen Erscheinungen aus einmaligen, nicht wiederholbaren Voraussetzungen der jeweiligen Epoche abzuleiten seien, konnte gefolgert werden, daß wohl alles seine Berechtigung habe. Auf einen solchen Relativismus ließen sich besonders die Anhänger der Treitschke-Schule nicht ein. Sie bildeten in der Zeit des ausgereiften Imperialismus geradezu die Kerntruppe der alldeutschen Geschichtsschreibung, voran die uns schon sattsam bekannten Dietrich Schäfer und Georg von Below. Die Gegner des Lamprechtschen Naturalismus erhielten nun die gewünschte „Waffenhilfe" - wie sich Below ausdrückte - in der Wertphilosophie der Rickert und Windelband. Hier war, die Philosophie nicht Erbfeind der Historie. Nach dieser Wertphilosophie hat die Geschichtswissenschaft „ihre eigene Art des Allgemeinen" 30 nämlich nicht in der Form des Begriffs oder des Gesetzes, sondern in der des Gesamtbildes und der Gesamtgestaltung. Bei dieser „selektiven" Synthesis walte das Auwahlprinzip der Wettbeziehung, was aber keine Wertbeurteilung bedeute. Da schon Lamprecht die Methode der sogenannten politischen Geschichte - wie unvermeidlich - als die einer raffinierten Sagenbildung kennzeichnete, ist es nicht uninteressant, daß sein geschichtsphilosophischer Gegner im bürgerlichen Lager hierin mit ihm einig war und die bürgerliche Geschichtsschreibung recht neckisch einschätzte. Windelband schrieb: „Man hat einmal gesagt, die Geschichte sei eine fable convenue. Das ist ein frivoles Wort, aber es steckt ein Kern von Wahrheit darin, und an diesem Kern der Wahrheit erkennnen wir die Grenze für die Objektivität der Historie." 37 Hinter dem Unterschied zwischen den Begriffen der Wettbeziehung und der Wertbeurteilung verbarg sich der Unterschied zwischen der Geschichtsschreibung der reaktionär, imperialistisch, in Fragen der öffentlichen Moral nihilistisch gewordenen Bourgeoisie auf der einen Seite und der aufklärerischen, moralisierenden, in der damals noch progressiven Illusion des Naturrechts befangenen Geschichtsschreibung beispielsweise eines Schlosser. Der zentrale Wert, auf den sich alles geschichtliche Forschen und Darstellen beziehen solle - das war für die Gegner Lamprechts der Staat. In diesem Zusammenhang stellten von Below und seine Anhänger weitere konkrete Wertbestimmungen a u f 3 8 : i. Primat des Staates vor der Gesellschaft; 2. Primat der Politik vor der Wirtschaft; 3. Primat der äußeren vor der inneren Politik; 4. Staat ist gleich Macht. M
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Die Windelband-Rickertsche Wertphilosophie war schon um die Jahrhundertwende ausgearbeitet. Eine zusammenfassende Erörterung befindet sich in: Windelband, Wilblem, Geschichtsphilosophie, Berlin 1916, S. 8 (Kantstudien, Erg. - H. 38). Ebenda, S. 41/42. Vgl. zum Neukantianismus auch den Beitrag von Fiedler, Frank, in diesem Bd., S. 153 ff. - Ausführlicher: Derselbe, Von der'Einhei - . der Wissenschaft, Berlin 1964. Below, Georg v., Die deutsche Geschichtsschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen. Geschichte und Kulturgeschichte, Leipzig 1916, S. 115.
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Welche Funktion diese Wertbestimmungen in Fragen der Innenpolitik hatten, das verriet von Below, wenn er erklärte, „daß die Lebenstriebe der Staaten geschichtlich mehr bedeuten als die der Massen".39 Um die „Stärkung der Staatsgewalt" gegenüber den andrängenden Volksmassen - darum ging es den Anhängern von Below. D i e Frage der Beurteilung und Gestaltung der Verhältnisse der herrschenden Klassen zu den Volksmassen, insbesondere zur Arbeiterbewegung - darum ging es in erster Linie bei dem ganzen Methodenstreit für und gegen Lamprecht. K a r l Lamprecht war bei dem Methodenstreit auf der Strecke geblieben. Die kritische Schlußabrechnung Belows, die einer moralisch-politischen Exekution Lamprechts gleichkam, hatte die im voraus berechnete nachhaltige Wirkung auf die ganze bürgerliche Historikerzunft. Wer in der Karriere der Universitätslehrer „vorwärts kommen wollte, durfte sich nicht auf ihn berufen. E s kam später so weit, daß ein angehender Historiker sich kaum um die Probleme kümmerte, weil vom Katheder aus vor Lamprecht gewarnt wurde". 4 0 Dies stellte Herbert Schönebaum, der letzte Schüler Lamprechts, aus lebendiger Erinnerung an die Universitätsatmosphäre jener Jahre fest. Below, der Sieger, w a r zu einem politischen Mittelpunkt geworden. „So war es nicht zu verwundern", schrieb seine Frau in ihrem Erinnerungsbüchlein, „daß in der folgenden Zeit der Briefeingang meines Mannes zu ungewöhnlicher Höhe anschwoll." 4 1 Unter seinen gratulierenden Lobpreisern befand sich auch der reaktionäre Staatsrechtler Paul Laband, der nicht hinter dem Berg hielt und schrieb: „Ich habe mit großem Vergnügen die kritische Abschlachtung Lamprechts gelesen, er hat sie wohl verdient! Auch auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft würden Exekutionen von dieser A r t von Nutzen sein; ich könnte Ihnen die literarischen Sträflinge nennen." 4 2 Lamprecht war derart isoliert, daß er auf dem Stuttgarter Historikertag 1906 Below die Versöhnung anbieten mußte. 44 Inzwischen hatte Lamprecht drei Bände: „ Z u r jüngsten deutschen Vergangenheit" herausgebracht, an deren Schluß er schrieb: „Ausdehnung also zum Größtstaat, Zusammenfassung aller K r ä f t e der staatlichen Gesellschaft zu einheitlichen Wirkungen nach außen und darum Führung durch einen Helden und Herrn: das sind die.nächsten Forderungen des Expansionsstaats." 4 4 Franz Mehring registrierte dazu: „Dieser Schrei nach einem ,Helden und Herrn', aus dem Munde desselben Historikers, der vor einem halben Menschenalter auszog, dem Heroenkultus in der Geschichte ein Ziel zu setzen, und sich nun, in qualvollem Ringen zwischen seinem bürgerlichen und seinem wissenschaftlichen Gewissen, völlig im Kreise gedreht hat, das ist eine Spur jenes tragischen Hauches, von dem wir sagten, daß
»
Ebenda.
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Scbönebaum, Herbert, Karl Lamprecht, a. a. O., S. 295.
41
Below, Minnie v., Georg von Below. Ein Lebensbild für seine Freunde, Stuttgart 19)0, S. 74.
« Ebenda, S. 75. 43
Ebenda.
44
Lamprecbt, Karl, Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, Bd. 2, 2. Hälfte, 4. Aufl., Berlin 1921, S. 7)7.
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er durch diese Bände wehe." 4 5 An einer anderen Stelle seines kritischen Aufsatzes hatte Mehring geschrieben: „Es liegt uns durchaus fern, über ein Werk zu scherzen, das uns weit eher ein Gefühl der Sympathie mit dem im gewissen Sinne tragischen Schicksal seines Verfassers eingeflößt h a t . . . " 46 Lamprechts Alldeutschtum bekam insofern eine besondere Färbung, als seiner Kulturgeschichtsschreibung, die er durch eine Universalgeschichte auszuweiten gedachte, eine ideologisch-politische Sonderrolle zugedacht wurde. Lamprecht begleitete und verbrämte den Expansionsdrang des deutschen Imperialismus durch vielfältige Formen „auswärtiger Kulturpolitik", ja sogar durch einen gelegentlichen pazifistischen Kosmopolitismus.47 Was das letztere betrifft, so hat Lamprecht im Märzheft der „Friedenswarte" Alfred H. Frieds einen Aufsatz über „Die Nation und die Friedensbewegung" veröffentlicht. Weit interessanter ist aber Lamprechts „auswärtige Kulturpolitik", für die ihn der Reichskanzler von Bethmann Holl weg in einem Brief vom 21. Juni 1 9 1 } ermunterte: „Wir sind ein junges Volk", so schrieb der Kanzler, „haben vielleicht allzuviel noch den naiven Glauben an die Gewalt, unterschätzen die feineren Mittel und wissen noch nicht, daß das, was die Gewalt erwirbt, die Gewalt allein niemals erhalten kann." Und der Kanzler zitierte den Franzosen Edmond Rostand, der bei der Gründung einer französischen Gesellschaft für Kulturpropaganda von dem Imperialismus der Idee gesprochen hatte und folgenden charmanten Satz aussprach : „Im Augenblick, da man die Gewalt verdoppeln will, muß man die Anmut verdoppeln" (C'est au moment, qû'on veut redoubler de force qu'il faut redoubler la grâce.). Dazu meinte der Kanzler: „Für diese Seite des Imperialismus scheinen mir noch nicht alle Deutschen reif zu sein." Conrad Matschoß, der Leiter des Vereins Deutscher Ingenieure, hatte in Berlin ein Gremium zusammengebracht, dem Reichstagsabgeordnete, hohe Militärs, Gesandte und Leiter der Auslandsinstitute angehörten. Die Verhandlungen am 6. Februar 1914 fanden unter dem Vorsitz Lamprechts im Hause des Vereins Deutscher. Ingenieure statt. Die damals erörterten Maßnahmen „zur Förderung auswärtiger Kulturpolitik" wurden sowohl vom Auswärtigen Amt wie auch vom Reichsamt des Innern und dem preußischen Kultusministerium voll gebilligt. Ganz im Sinne des „Imperialismus der Idee" sollte eine „Vermittlungsstelle" für die vielen deutschen Auslandsorganisationen im Haus des Vereins Deutscher Ingenieure geschaffen werden. Diese zentrale Stelle sollte „die gegenseitige Durchdringung des Wirtschafts- und Geisteslebens der Kulturvölker" planmäßig beobachten und beeinflussen. Der Kulturhistoriker Lamprecht war nun eindeutig Kulturpolitiker des deutschen Imperialismus geworden. Die in der Lamprechtdebatte umstrittenen Grundfragen sind für die deutsche bürgerliche'Geschichtsschreibung bis auf unsere Gegenwart die gleichen geblieben. So kriti45 44 47
Mehring, Franz, Das Zeitalter der Reizsamkeit, in: Die Neue Zeit, Jg. 22, 1905/04, Bd. 2, S. 556. Ebenda, S. 355. Die folgenden Angaben und Zitate verdanke ich Schönebaum, Herbert: Karl.Lamprechts Mühen um innere und äußere Kulturpolitik, in: Die Welt als Geschichte, Jg. 1955, H. 2. S. 137 ff., insbes. die Seiten 142/43, 148 f. u. 150/51.
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sierte der Freiburger Ordinarius Gerhard Ritter, der ebenso wie Hermann Heimpel 48 , ein anderer führender westdeutscher Historiker^ Georg von Below sehr nahe stand, am 24-/25. September 195j in der „Süddeutschen Zeitung", als er über den 10. Weltkongreß der Historiker in Rom berichtete, vor allem die französische Historiographie; von ihr breite sich „eine Neigung zu einseitig soziologischer und ökonomischer Geschichtsdeutung aus und eine innere Entfremdung gegenüber der politischen Geschiebte, ja dem Staatsleben überhaupt, die gerade in unserer Epoche höchst bedenklich erscheint. Denn wie soll sich der Westen in seiner geistigen Eigenart gegenüber dem Sowjetsystem behaupten, wenn er selbst unsicher wird in seiner Einschätzung der Bedeutung ökonomisch-sozialer Motive des geschichtlichen Lebens, d. h., wenn er selbst in Gefahr gerät - bewußt oder unbewußt in materialistische Gedankengänge abzugleiten? Ich möchte es für eine besondere Aufgabe deutscher Geschichtswissenschaft halten (die von idealistischen, statt positivistischen Traditionen herkommt), sich solchen Gefahren entgegenzusetzen" (Hervorgehoben von mir E. E.). Bei aller apologetischen Verzerrung im theoretischen Denken - politisch wird hier sehr klar gesprochen. Auffallend ist auch, daß wichtige Fragen der damaligen Lamprechtdiskussion von den reaktionären deutschen Historikern innerhalb der aggressiven NATO-Gemeinschaft erneut aufgeworfen werden. Das alles ist Grund genug für uns, Lehren aus dem Methodenstreit um Lamprecht auch für unseren gegenwärtigen Kampf gegen den westdeutschen Imperialismus und Militarismus zu ziehen. Lamprechts Leben war die Tragik eines hochtalentierten Mannes - Tragik sowohl im persönlichen als auch im ideologisch-politischen Sinne. Verfolgt von seinen Kollegen und schamlos „exekutiert" wie keiner vor und nach ihm, arbeitete er sich in Flucht nach vorne buchstäblich zu Tode. Die junkerliche und imperialistische Reaktion hat ihn auch wissenschaftlich auf dem Gewissen. Es hat sich gezeigt, daß jeder Reformversuch der Geschichtswissenschaft auf dem Boden selbst einer kulturell und politisch aufgeschlossenen Fraktion der Großbourgeoisie von vornherein inkonsequent sein muß. Wenn auch Lamprecht in der Beantwortung der Frage nach Gesetzen in der Geschichte scheiterte, so sind dennoch viele seiner Leistungen bleibend: Allein der heftige und langwierige Streit um die wissenschaftlich angemessene Methode bleibt denkwürdig und bildet einen bedeutsamen, wenn auch tragisch gezeichneten Einschnitt in der Geschichte des bürgerlichen Geschichtsschreibens und -denkens. Seine vielbändige Deutsche Geschichte war der großartige Versuch, eine Gesamtdarstellung zu geben, die von der Rankeschen Hofund Staatshistorie bewußt abwich. Keiner hat die Wirtschafts- und Sozialentwicklung sowie Verfassungs-, Rechts- und Verwaltungsverhältnisse und die Bevölkerungs- und Siedlungsgeschichte mit solcher Eindringlichkeit und plastischer Kraft dargestellt, wie dies Lamprecht tat. Von diesem Neuerertum waren vor allem die ersten Bände seines Geschichtswerkes durchdrungen. Solange sein reformerisches Streben, das sich im 48
V g l . den Aufsatz von
Heintz, Gerhard,
Rudolf Kötzschke (1867-1949)- Ein Beitrag der Pflege der
Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte in Leipzig, in: Karl-Marx-Universität Leipzig, 1409-1959, a. a. O., S. 262.
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Einst EngcLberg
theoretischen Denken, vielmehr noch in seinem praktischen Geschichteschreiben manifestierte, ungebrochen war, blieb er innerhalb der bürgerlichen Historiographie der Widerpart zur borussischen Geschichtsschreibung. So mochte er doch Lehrer und Beamte, die durch seine Schule gingen, auch manche Bürger, die ihn literarisch kennenlernten, aufgeschlossen machen für den Geist sozialen und kulturellen Fortschritts. Bildungshungrige Arbeiter, die er sicherlich nicht zu Revolutionären erziehen wollte, gewannen aus seinem Werk Kenntnisse, die sie in ihrer materialistischen Geschichtsauffassung bestärkten. Bewundernswert bei Lamprecht bleibt nach wie vor die Spannweite seines wissenschaftlichen Interesses, das von der Landesgeschichte bis zur Universalgeschichte, von der Alten Geschichte bis zur Zeitgeschichte reichte. Was er anpackte, blieb nicht nur in der Region reiner Forschung, sondern setzte sich um in Wissenschaftsorganisation und akademische Lehre. Aus diesem Drang nach praktischem Wirken entstandet} 1906 das „Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde" und 1909 das von der Philosophischen Fakultät unabhängige „Königliche Institut für Kultur- und Universalgeschichte".49 Angefeindet von seinen engeren Fächkollegen innerhalb und außerhalb Leipzigs, mag es ein Glück für Lamprecht gewesen sein, daß er in dieser weltoffenen Stadt des Handels, der Industrie, des Buches und der Musik, im Zentrum des revolutionären Flügels der Sozialdemokratie wirkte - abseits von Berlin, wo gerade in der Geschichtswissenschaft der konventionelle Geist preußischen Militarismus und neudeutschen Imperialismus überwucherte; abseits auch von der provinzlerischen Enge kleiner Universitätsstädte. So spiegelte sich im gesamten Wirken Lamprechts, das seine Schwerpunkte im Rheinland und in Sachsen hatte, alles das wider, was im Kapitalismus noch frischen Geist zu bewahren versuchte. 49
Vgl. Czok, Karl, Karl Lamprechts Wirken an der Universität Leipzig. Vortrag, gehalten anläßlich einer Gcdehkveranstaltung der Philosophischen Fakultät in Verbindung mit der Historischen Kommission bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zum ;o. Todestag Lamprcchts am 11. Mai 196).
Methodologische Auseinandersetzungen in der Zeit des Übergangs zum Imperialismus (Dilthey, Windelband, Rickert) Trank Fiedler „Die historische Methode ist heute Gegenstand des Streites . . . " (Heinrich Rickert, 1901) 1
I. Die spätbürgerliche deutsche Philosophie zeigt gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, also unmittelbar am Vorabend des Übergangs zum Imperialismus, ein wachsendes Interesse an Problemen der Gesellschaftswissenschaften. Dabei wendet sie sich besonders den Fragen der Methodologie der Gesellschaftswissenschaften zu mit dem Ziel, eine scharfe Unterscheidung und Trennung zwischen den Wissenschaften von der Natur und von der Gesellschaft vorzunehmen. Dieser Versuch, die gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen den naturwissenschaftlichen Zweigen direkt gegenüberzustellen, wird von verschiedenen philosophischen Positionen aus unternommen. So veröffentlicht Wilhelm Dilthey im Jahre 188} nach längerem Ringen mit diesen Problemen den 1. Band seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften". Dieses Fragment gebliebene Werk, das ursprünglich die anspruchsvolle Bezeichnung „Kritik der historischen Vernunft" erhalten sollte, stellt nach Diltheys eigenen Worten den „Versuch" dar, der sich durch rein empirische Betrachtungsweise auszeichnenden historischen Schule endlich eine philosophische Grundlegung zu geben, die ihr bis dahin gefehlt habe. Dilthey registriert eine zunehmende Bedeutung der Wissenschaften von der Gesellschaft; die Erkenntnis der Ursachen gesellschaftlicher Erschütterungen seien zu einer „Lebensfrage für unsere Zivilisation" geworden, aber der Zustand dieser Wissenschaften entspreche nicht ihren Aufgaben. „Aus dem Gefühl dieses Zustandes der Geisteswissenschaften ist mir der Versuch entstanden, das Prinzip der historischen Schule und die Arbeit der durch sie durchgehends bestimmter Einzelwissenschaften der Gesellschaft philosophisch zu begründen . . . " 2 Eine solche philosophische Begründung des auf die Besonderheit des 1
Ricken, Heinrich, Die vier Arten des Allgemeinen in der Geschichte, in: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 5. Aufl., Tübingen 1929, S. 738 (im folgenden: Grenzen). - Dilthey, Wilhelm, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, in: Ges. Schriften, Bd. 1, Leipzig-Berlin 1922, S. XVII. (im folgenden: Geisteswissenschaften).
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geschichtlichen Vorgangs gerichteten Empirismus der historischen Schule muß bereits in ihrem Ansatz zu einer absoluten Leugnung von Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung, gleich welcher A r t , und damit zu einem Gegensatz von Natur- und Gesellschaftswissenschaft führen. Erwachsen Diltheys Bedürfnis und Plan nach einer Grundlegung der Gesellschaftswissenschaften auf der erkenntnistheoretischen Basis seiner irrationalistischen Lebensphilosophie, so entwickelt ein Jahrzehnt später W i l h e l m W i n d e l b a n d ein ähnliches Programm von neukantianischen Positionen aus. 3 E r postuliert in seiner Straßburger Rektoratsrede „Geschichte und Naturwissenschaft" 4 v o m Jahre 1894 -
gleichfalls
unter methodologischem A s p e k t - eine Klassifikation der Wissenschaften, die in eine direkte Gegenüberstellung der Wissenschaften von Natur und Gesellschaft in „ G e setzes- und Ereigniswissenschaft" mündet. In der Ausarbeitung und Realisierung der in dieser programmatischen R e d e gestellten A u f g a b e hat dann Heinrich Rickert, der Hauptvertreter der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, den Inhalt seines philosophischen Wirkens gesehen, wobei er sich in mehreren Arbeiten bemüht, die Gesellschaftswissenschaften methodologisch von dfcn Naturwissenschaften zu trennen, zu zeigen, „ d a ß die naturwissenschaftliche Methode in der Geschichte nicht anwendbar i s t . . . " 5 , um schließlich im Ergebnis dieser Kritik eine Logik der Geschichte auszuarbeiten. D i e s e Tatsache, d a ß fast zur gleichen Zeit von unterschiedlichen
philosophischen
Standpunkten aus der im Prinzip gleiche Versuch unternommen wird, den Gegensatz von Natur- und Gesellschaftswissenschaften erkenntnistheoretisch und methodologisch zu begründen und zu formulieren, deutet bereits an, d a ß hier ein bestimmtes ideologisches Bedürfnis der Bourgeoisie vorliegt, dem auf diese Weise entsprochen werden soll. Dieses ideologische Bedürfnis resultiert selbstverständlich aus der Klassenposition der mit dem preußischen Junkertum paktierenden deutschen Bourgeoisie, die sich im Bismarckreich dem ständig wachsenden Widerstand der nach 1875 geeinten deutschen Arbeiterklasse gegenübersieht. D e r sich trotz des Sozialistengesetzes
unaufhaltsam
vollziehende mächtige Aufschwung der Arbeiterbewegung findet auf ideologischem G e b i e t in der Verbreitung des Marxismus, dessen Durchsetzung gegenüber
allen
anderen Ideologien innerhalb der Arbeiterbewegung sich an der Schwelle der neunziger Jahre v o l l e n d e t 6 , seine Entsprechung. 3
Es waren vor allem Friedrich Albert Lange, Otto Liebmann und Hermann v. Helmholtz, die in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Erneuerung der Philosophie Kants anstrebten und damit den Neukantianismus begründeten, der dann seine Fortbildung in der Marburger Schule (Hermann Cohen, Paul Natorp u. a.) und der badischen oder südwestdeutschen Schule (Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert) gefunden hat. Letztere suchte die Trennung der sogenannten „Kulturwissenschaften" von den Naturwissenschaften erkenntnistheoretisch zu begründen. * Windelband, Wilhelm, Geschichte und Naturwissenschaft, in: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, 7. u. 8. unveränd. Aufl., Bd. 2, Tübingen 1921, S. I36-I6O. (im folgenden: Geschichte). 5 Rickert, Heinrich, Grenzen, a. a. O., S. VIII. • Lenin, W. /., Marxismus und Revisionismus, in: Werke, Bd. 15, 4. Ausg., Berlin 1962, S. 20.
Methodologische Auseinandersetzungen beim Ubergang zum Imperialismus
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Diese Klassenlage der Bourgeoisie reflektiert sich in einem eigenartigen Dilemma, dem sie sich im Verhältnis zur Wissenschaft gegenübersieht. Es ist das gleiche Interesse, das Streben nach Profit, nach Niederhaltung des Proletariats und Festigung der eigenen Klassenherrschaft, das einerseits die Erforschung der Natur und damit die Entwicklung der naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen verlangt und andererseits das Aufdecken der sozialen Entwicklungsgesetze und damit die Ausarbeitung einer wirklich wissenschaftlichen Theorie der Gesellschaft und ihrer Geschichte verbietet. Diese klassenmäßig bedingte Zwiespältigkeit der reaktionär gewordenen Bourgeoisie im Verhältnis zur Wissenschaft widerspiegelt sich am Vorabend des Übergangs zum Imperialismus philosophisch in dem Versuch, die Wissenschaften von Natur und Gesellschaft einander gegenüberzustellen. Es wäre jedoch einseitig und hieße, einen vulgärsoziologischen Standpunkt einzunehmen, wollte man das Anliegen der DiltheysChen und Windelband-Rickert'schen Auffassung unmittelbar und ausschließlich aus der Klassensituation am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland ableiten. Tatsächlich besitzen die philosophischen Lehren eine relative Selbständigkeit bezüglich der sozialökonomischen Basis, aus der sie letzten Endes hervorgegangen sind und die sie widerspiegeln. Diese relative Selbständigkeit kommt allen Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins zu; sie findet ihren Ausdruck in der Spezifik des Ideellen und in der Eigengesetzlichkeit seiner Entwicklung. Allerdings bedeutet die relative Selbständigkeit des Ideellen keine Autonomie von den materiellen ökonomischen Verhältnissen. Sozialökonomische Bedingtheit und relative Selbständigkeit des Bewußtseins schließen einander nicht aus. Dies ist besonders bei der Analyse philosophischer Auffassungen im Auge zu behalten; zählt doch die Philosophie - neben der Religion - zu den Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins, die sich am „höchsten" über ihre materiell-ökonomische Basis erheben: „Hier wird der Zusammenhang der Vorstellungen mit ihren materiellen Daseinsbedingungen immer verwickelter, immer mehr durch Zwischenglieder verdeckt. Aber er existiert." 7 Die Entwicklung des philosophischen Gedankens ist also relativ im Verhältnis zur Entwicklung der gesellschaftlichen Praxis; sie ist eine Entwicklung indirekter Art, die sich in der Form des Anknüpfens an bereits vorliegende Theorien, Lösungsversuche usw. vollzieht. Das gilt nun auch für das Bestreben, die Gesellschafts- von den Naturwissenschaften zu trennen. Sowohl Dilthey als auch Windelband und Rickert knüpfen mit dieser Entgegensetzung an die bereits in der Geschichte der Philosophie ausgearbeiteten wissenschaftstheoretischen Auffassungen vom Verhältnis der Wissenschaften untereinander an, allerdings nicht im Sinne des Aufnehmens oder Weiterführens bestimmter Gedanken, sondern - auch das ist eine Form des Anknüpfens - vorwiegend im Sinne ihrer Negation. Tatsächlich haben die bedeutenden Philosophen des fortschrittlichen Bürgertums, von Spinoza über Leibniz bis zu Hegel und Feuerbach, trotz des fortschreitenden Differenzierungsprozesses der Wissenschaften und ihrer Emanzipation von der Vorherrschaft der Philosophie, an dem Gedanken von der 7
Engels, Friedrich,
Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie,
in: Marx/Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1961, S. 502.
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Einheit der Wissenschaft' nicht nur bewußt festgehalten; sie haben auch versucht, diese Einheit zu begründen. Die marxistische Philosophie hat diese progressiven G e danken aufgehoben, weiterentwickelt und erstmalig in der Geschichte der Philosophie eine streng wissenschaftliche Auffassung vom Zusammenhang und von der Einheit von Natur- und Gesellschaftswissenschaft ausgearbeitet. 8 Das wurde den Begründern der marxistischen Philosophie möglich, weil sie vom Klassenstandpunkt des Proletariats aus das Wesen der menschlichen Gesellschaft aufdeckten, den erkenntnistheoretischen Zusammenhang von Wissenschaft und Wirklichkeit enthüllten und demzufolge die Wissenschaften von der Gesellschaft und ihrer Geschichte auf den Rang wirklicher Wissenschaften heben konnten. Gegen diese vom dialektischen und historischen Materialismus begründete Lehre von der Einheit der Wissenschaft, die notwendigerweise die Anerkennung einer Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung impliziert, richten sich dem Wesen nach die methodologischen und erkenntnistheoretischen Untersuchungen Diltheys und der Neukantianer aus der badischen Schule. Freilich führen sie keine sachliche Auseinandersetzung mit M a r x und Engels. Rickert glaubt, den Marxismus so nebenbei als naturalistisch oder biologistisch abtun zu können, dabei seine völlige Unkenntnis des dialektischen und historischen Materialismus offenbarend.* Direkt bekämpfen sie vor allem die von dem französischen Positivisten Auguste Comte um die Mitte des 19. Jahrhunderts begründete Auffassung, der zufolge die Gesellschaftswissenschaft, die in Comtes hierarchischem Wissenschaftsaufbau als Soziologie bezeichnet wird, vor allem hinsichtlich ihrer Methode als exakte Naturwissenschaft anzusehen sei. Ebenso ordnet John Stuart Mill die Gesellschaftswissenschaften den Naturwissenschaften unter, während Herbert Spencer die Auffassung vom organischen Charakter der Gesellschaft systematisch entwickelt und auf diese Weise die Soziologie zu einem Zweig der Biologie erklärt. In der Historiographie sind es die Comte-Schüler Thomas Buckle und Hippolyte Taine, die den Gedanken von der Naturgesetzlichkeit des historischen Geschehens ihren Forschungen zugrunde legen. Gegen diesen wissenschaftstheoretischen Standpunkt, der die Gesellschaftswissenschaften direkt als Naturwissenschaften versteht, ziehen nun Dilthey und Rickert zu Felde. So schreibt Dilthey in der Vorrede seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften", daß Comte, Mill und Buckle das Rätsel der geschichtlichen Welt durch die Übertragung naturwissenschaftlicher Prinzipien und Methoden zu lösen versuchten, damit aber die geschichtliche Wirklichkeit, um diese den Begriffen und Methoden der Naturwissenschaften anzupassen, verstümmelten. 10 Schließlich formuliert er in dem Kapitel „Ihre Methoden sind falsch" die völlig eindeutige Schlußfolgerung, die er aus der strikten Ablehnung des genannten Standpunktes für sich selbst zieht. E s müsse „im Gegensatz gegen die gewissermaßen von außen an die Geisteswissenschaften herantretenden Methoden eines Mill und Buckle die Aufgabe gelöst werden . . . : durch eine 8
Siehe: Gropp, Rugard Otto, Zu Fragen der Geschichte der Philosophie und des dialektischen Materialismus, Berlin 1958, S. 55-67. • Siehe: Rickert, Heinrich, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, 2. unveränd. Aufl., Tübingen 1921, S. 8} ff. 10 Dilthey, Wilhelm, Geisteswissenschaften, a. a. O., S. XVI, XVII.
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Erkenntnistheorie die Geisteswissenschaften zu begründen, ihre selbständige Gestaltung zu rechtfertigen und zu stützen sowie die Unterordnung ihrer Prinzipien wie ihrer Methoden unter die der Naturwissenschaften definitiv zu beseitigen." 11 Im gleichen Sinne lehnt auch Rickert die Übertragung naturwissenschaftlicher Methoden auf die Gesellschaftswissenschaften ab. Die Geschichte könne „ d a n n nichts anderes als ein Teil der Natur sein". Comte, Mill, Spencer und ihre Nachfolger werden als Verfechter der „naturwissenschaftlichen Universalmethode" charakterisiert, denen man - hier polemisiert Rickert zugleich mit Dilthey - keine selbständige Logik der Geschichtswissenschaft gegenüberstellen könne, wenn man die Geschichte „als G«ifterwissenschaft, d. h. als Darstellung seelischen Lebens" fasse. 12 An anderer Stelle bezeichnete er die Soziologie Comtes als „logisches Unding", die keine klaren wissenschaftlichen Ergebnisse zu liefern in der Lage sei. Die Versuche, die naturwissenschaftlich verfahrende Soziologie als die „neue" Geschichtsphilosophie zu proklamieren, könnten nur Verwirrung anrichten.1® Dieser Angriff auf den Versuch, die Entwicklung der Gesellschaft mit Hilfe naturwissenschaftlicher Begriffe und Methoden zu erfassen, richtet sich vor allem gegen die damit Verknüpfte Anerkennung objektiver Gesetze der Geschichte und ist demzufolge eindeutig reaktionär. Die Motive dieses Angriffs sind im Prinzip die gleichen, die auch den Kampf fast aller bürgerlichen Historiker gegen Lamprecht in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bestimmen, wobei Georg von BeloÄ', der führende Kopf dieses Kampfes, direkt die „Waffenhilfe" hervorhebt, die er in der Philosophie der Winde] band und Rickert gefunden habe. 14 Diese Frontstellung der bürgerlichen deutschen Historiographie gegenüber den westeuropäischen positivistischen und materialistischen Tendenzen, diese prononcierte Hervorhebung der bis auf Ranke zurückgehenden idealistischen Tradition einer auf die Einmaligkeit und Besonderheit historischer Ereignisse und Persönlichkeiten gerichteten Interpretation der Geschichte gegenüber einer soziologischen und ökonomischen Geschichtsauffassung bestimmt auch in der Gegenwart den geschichtsphilosophischen Standort der westdeutschen Historiker. 15 Auf der anderen Seite wäre es aber falsch, wollte man in diesem, seinem Wesen nach reaktionären, Angriff der Dilthey und Rickert auf die von Comte, Mill und Spencer praktizierte Übertragung naturwissenschaftlicher Begriffe und Methoden auf die Geschichtswissenschaft den rationellen Kern übersehen, der sich hier tatsächlich findet. Reaktionär ist dieser Angriff deshalb, weil er gegen die Anerkennung eines gesetzmäßigen Verlaufs des historischen Geschehens überhaupt gerichtet ist. Wenn aber trotzdem von einem rationellen Moment gesprochen wird, dann deshalb, weil die Auffassungen Comtes, Mills usw. ebenfalls nicht streng wissenschaftlich sind. Im Grunde genommen ist auch die Erklärung der Gesellschafts- zur Naturwissenschaft falsch. 11 12 15
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Ebenda, S. 109. Rickert, Heinrich, Grenzen, a. a. O., S. 179, 186. Derselbe, Über die Aufgaben einer Logik der Geschichte, in: Archiv für systematische Philosophie, Bd. 8, 1902, H. z, S. 153 f. Siehe: Engelberg, Ernst, Zum Methodenstreit um Karl Lamprecht, in diesem Band, S. 148. Ebenda, S. IJI.
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In der Tat besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen Nätur und Gesellschaft, der sich vor allem in der unterschiedlichen Art und Weise der Wirkung der objektiven Gesetze manifestiert. Setzen sich die Naturgesetze unabhängig vom Handeln der Menschen durch, d. h. ohne unser Zutun, so verhält es sich mit den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung anders. Auch diese Gesetze tragen selbstverständlich objektiven Charakter, sie wirken außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein. Sie setzen sich aber nicht außerhalb des menschlichen Handelns, sondern nur durch das menschliche Handeln durch. Es sind gewissermaßen Gesetze der Tätigkeit der Menschen. Diesen grundlegenden Unterschied, auf den sich letzten Endes der Unterschied zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaft gründet, haben die Verfechter, einer naturwissenschaftlichen Universalmethode nicht gesehen, und sie haben deshalb ciie Gesellschaftswissenschaft zu einer Art Naturwissenschaft gemacht. Wenn sich nun Dilthey und Rickert gegen diese Identifizierung der Wissenschaften von Natur und Gesellschaft wenden, dann sind sie im Recht; und insofern muß man auch von einem rationalen Kern in ihrem Anliegen sprechen. Auf der anderen Seite wird nun aber von ihnen dieser tatsächliche Unterschied im Gegenstand und der Methode von. Naturund Gesellschaftswissenschaft maßlos vereinseitigt, übersteigert und verabsolutiert. Dieser Unterschied wird so zu einem Absolutum geführt, daß er zu einem völligen und direkten Gegensatz entwickelt wird. Mit anderen Worten: durch die Verabsolutierung des Unterschiedes zwischen den natur- und den gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen wird das, was beiden Wissenschaftszweigen .gemeinsam ist, einfach negiert. Dieses Gemeinsame von Natur- und Gesellschaftswissenschaft ist aber wesentlich in der Tatsache zu suchen, daß beide Gruppen von Wissenschaften bestimmte objektive Gesetze, mehr noch, die gleichen allgemeitien Gesetze zum Gegenstand haben. Durch die Leugnung dieses wichtigsten gemeinsamen Merkmals kommen nun Dilthey und Windelband-Rickert trotz ihrer unterschiedlichen Positionen zu dem gleichen Resultat: es gibt einerseits Wissenschaften, die auf die Erforschung von Gesetzen gerichtet sind, das sind die Naturwissenschaften, und es gibt andererseits Wissenschaften, deren Ziel die Beschreibung und Darstellung des Einmaligen und Besonderen ist, das sind die sogenannten „Geistes"- oder „Kulturwissenschaften". Damit stoßen wir auf die erkenntnistheoretische Wurzel des Versuchs, Natur- und Gesellschaftswissenschaften zu trennen und einander gegenüberzustellen. Bekanntlich besitzen alle philosophischen Auffassungen, Theorien und Systeme nicht nur sozialökonomische, sondern auch erkenntnistheoretische Wurzeln. Die marxistische Philosophie versteht unter der erkenntnistheoretischen Wurzel einer falschen philosophischen Auffassung ihre Bedingtheit durch die Verabsolutierung eines Moments der Erkenntnis. Die menschliche Erkenntnis ist keine einfache, passive und mechanische Abbildung der Wirklichkeit, sondern ein .komplizierter dialektischer Prozeß der Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt. Auf Grund dieses komplizierten dialektischen Charakters des Erkenntnisprozesses ist die Möglichkeit gegeben, eine seiner Seiten oder Stufen zu verabsolutieren und auf diese Weise zum Idealismus zu gelangen. Insofern ist der philosophische Idealismus, wie Lenin in seinem Fragment „Zur Frage der Dialektik" bemerkt, „nur Unsinn vom Standpunkt des groben, einfachen, metaphysischen Materialismus aus. Umgekehrt ist vom Standpunkt des dialektischen Materialismus aus der
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philosophische Idealismus eine einseitige, übertriebene, überschwengliche (Dietzgen) Entwicklung (Aufblähung, Anschwellung) eines der Züge, einer der Seiten, einer der Grenzen der Erkenntnis zu einem Absolutum, losgelöst von der Materie, von der Natur, vergöttlicht... Gradlinigkeit und Einseitigkeit, Hölzernheit und Verkpöcherung, Subjektivismus und subjektive Blindheit, voilà die erkenntnistheoretischen Wurzeln des Idealismus." 16 Wir würden es uns also zu leicht machen, wollten wir den philosophischen Idealismus, auch die idealistische Begründung des Gegensatzes von Natur- und Gesellschaftswissenschaft, einfach als Unsinn abtun und zur Tagesordnung übergehen. Eine idealistische Auffassung ist eben erst dann widerlegt, wenn ihre erkenntnistheoretischen Wurzeln analysiert worden sind, wenn also nicht nur behauptet wird, daß sie falsch, sondern auch nachgewiesen wird, warum sie falsch ist. Das enthebt uns freilich nicht der Pflicht, jeweils auch die sozialökonomische Bedingtheit und Funktion eines idealistischen Standpunktes herauszuarbeiten. Denn die sozialökonomische steht in engem Zusammenhang mit der erkenntnistheoretischen Wurzel und ist dieser gegenüber insofern primär, weil die im Erkenntnisprozeß enthaltene Möglichkeit des Idealismus nur beim Vorliegen eines bestimmten ideologischen Bedürfnisses realisiert, also zur Wirklichkeit wird. Welche erkenntnistheoretische Bedingtheit besitzt nun der philosophische Versuch, die Wissenschaften von der Gesellschaft und ihrer Geschichte von den Naturwissenschaften loszulösen und diesen gegenüberzustellen? Es wurde oben bereits gezeigt, daß die Vertreter dieser Trennung von dem Unterschied, der tatsächlich zwischen Naturund Gesellschaftswissenschaften besteht, ausgehen, diesen aber zu einem Gegensatz verabsolutieren. Um die erkenntnistheoretische Möglichkeit dieser Verabsolutieruag zu erklären, muß noch einmal auf die unterschiedliche Wirkungsweise der Gesetze in Natur und Gesellschaft zurückgekommen werden. Die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung realisieren sich nur im Handeln der Menschen. Menschliches Handeln ist aber immer auch bewußtes Handeln. Die Menschen denken sich bei ihrer Tätigkeit etwas; sie machen sich einen Plan, setzen sich ein Ziel, das sie zu verwirklichen suchen. Daraus folgt, daß das Ziel die gedankliche Antizipation des Resultats der gewollten Handlung ist und ihm vorausgeht. Karl Marx veranschaulicht an einer bekannten Stelle im „Kapital" diesen besonderen Charakter der menschlichen Arbeit mit folgendem Beispiel: „Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen ^des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war." 17 Diese Eigentümlichkeit der menschlichen Tätigkeit, das Vorausgehen der ideellen Vorstellung des Ziels, erweckt in der^Tat den Anschein, als ob die letzten Beweggründe des menschlichen Handelns im Bewußtsein zu suchen wären. Da nun, wie oben gezeigt, la
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Lenin, W. /., Aus dem philosophischen Nachlaß. Exzerpte u. Randglossen, 4. Aufl., Berlin 1961, S. 288 f. Marx, Karl, Das Kapital, Bd. 1, in: Marx/Engels,
Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 195.
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die Gesetze der Gesellschaft Gesetze der Tätigkeit der Menschen sind, liegt der Schluß nahe, daß es letzten Endes die Ideen sind, die den Verlauf des historischen Geschehens bestimmen. Es. entsteht also der Eindruck, daß die Geschichte - die ja von den Menschen selbst gemacht wird - ihren letzten Ursprung im Kopf dieser Menschen hat. Aber das ist lediglich der Schein, eine Illusion, die darin besteht, daß „alles Handeln, weil durchs Denken vermittelt, auch in letzter Instanz im Denken begründet erscheint." 18 Die Möglichkeit einer solchen Illusion ist in dem komplizierten Charakter des Erkenntnisprozesses gegeben. Die Idee wird, weil sie der materiellen Tätigkeit in jedem konkreten Einzelfall vorhergeht, von ihrer materiellen Grundlage getrennt, verselbständigt und zum Primären erhoben. Diese Illusion wird nun auch von den Vertretern der Trennung von Natur- und Gesellschaftswissenschaft für den wirklichen Sachverhalt genommen. Weil das Handeln, in dem sich die Gesetze der Gesellschaft durchsetzen, durch das Denken hindurchgeht, erscheint es ihnen im Denken letztlich begründet. Auf diese Weise realisieren sie die dem Erkenntnisprozeß immanente Möglichkeit des Idealismus und kommen so zu der unwissenschaftlichen Gegenüberstellung der Wissenschaften von Natur und Geschichte. Aus der falschen Prämisse: das Handeln der Menschen geht aus ihren Vorstellungen oder aus ihrem Willen in letzter Instanz hervor, ziehen sie den falschen Schluß: die Aufgabe der sogenannten „Geisteswissenschaft" oder „Kulturwissenschaft" bestehe darin, das Seelenleben zu „verstehen" (Dilthey) bzw. historische „Wirklichkeiten" zu „individualisieren" (Rickert). Damit wird nicht nur die objektive Gesetzmäßigkeit der menschlichen Gesellschaft geleugnet, sondern auch der objektive Gegenstand der Gesellschaftswissenschaft de facto aufgehoben. Diese erkenntnistheoretische Bedingtheit der Trennung von Natur- und Gesellschaftswissenschaft wird in der folgenden Bemerkung Diltheys besonders deutlich. Er schreibt in den „Zusätzen" zu der von ihm beabsichtigten Neuherausgabe seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften": „Die Einsicht in den Strukturzusammenhang des Seelenleben ist der beständige Schlüssel auch für das Verständnis des Zusammenhangs der Funktionen in einem organischen, historischen Ganzen." 19 Dieser Standpunkt ergibt sich folgerichtig aus der idealistischen Umkehrung des Verhältnisses von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein. Wenn ich das Bewußtsein, wie Dilthey, als primär ansehe, dann muß ich eben das Sein aus dem Bewußtsein erklären. Den Schlüssel dafür erblickt Dilthey in der Einsicht in den Strukturzusammenhang des Seelenlebens, Rickert in der Methode der logischen Begriffsbildung. Vierzig Jahre zuvor hatte Marx in der „Deutschen Ideologie" geschrieben, das erste aller geschichtlichen Auffassung müsse darin bestehen, von der Produktion des materiellen Lebens selbst als Grundtatsache auszugehen. „Dies haben die Deutschen bekanntlich nie getan, daher nie eine irdische Basis für die Geschichte und folglich nie einen Historiker gehabt." 2 9 Diese Einschätzung gilt vollinhaltlich auch für Dilthey, Windelband und Rickert.
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Engels, Friedrich,
Brief an Mehring vom 14. Juli 1893, in: Marx ¡Engels,
in 2 Bänden, Bd. 2, Berlin 1952, S. 468. Dilthey, 20
Wilhelm,
Marx/Engels,
Geisteswissenschaften, a. a. O., S. 418.
Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 28.
Ausgewählte Schriften
Methodologische Auseinandersetzungen beim Ubergang zum Imperialismus
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n. Wilhelm Dilthcy geht bei seinem Versuch, eine philosophisch-erkenntnistheoretische Begründung der Gesellschaftswissenschaften zu geben, nicht vom Gegenstand dieser Wissenschaften, sondern von methodologischen Erwägungen aus. Er vertritt also von vornherein einen idealistischen Standpunkt, den er selbst offen ausspricht. Die philosophischen Strömungen seiner Jugendzeit charakterisierend, macht er aus seiner Ablehnung des Materialismus keinen Hehl: „Als ich in die Philosophie eintrat, war der idealistische Monismus Hegels abgelöst von der Herrschaft der Naturwissenschaft. Wenn der naturwissenschaftliche Geist; Philosophie wurde, wie in den Enzyklopädisten, in Comte und in Deutschland in philosophierenden Naturforschern, so versuchte er den Geist als ein Produkt der Natur zu begreifen - und er verstümmelte ihn." 21 Das Aufkommen dieses naturwissenschaftlichen Materialismus führte - nach Meinung Diltheys, der die sozialökonomische Bedingtheit der Kant-Renaissance in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht begriff - zu Kant zurück. Hier, im sogenannten älteren Kantianismus der Helmholtz, Lange und Liebmann, findet der Feind des Materialismus Dilthcy zunächst seine philosophische Heimat. So bemerkt er in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Basel: „Spreche ich Ihnen nun einfach meine Stellung aus: so bin ich in Gefahr, Ihnen sehr reaktionär zu erscheinen. Denn mir scheint das Grundproblem der Philosophie von Kant für alle Zeiten festgestellt zu sein." 22 Interessant ist hier, daß Diltheys Einsicht immerhin zu dem Eingeständnis reicht, seine Philosophie könnte reaktionär erscheinen; tatsächlich trügt der Schein hier einmal nicht! In seiner weiteren philosophischen Entwicklung entfernt sich Dilthey aber - zum Unterschied vom eigentlichen Neukantianismus - vom Idealismus Kantschcr Prägung, weil dieser ihm die geschichtlichc Welt nicht in den richtigen wissenschaftlichen Zusammenhang gestellt habe. Ebenso lehnt er die „Schatten der Abenddämmerung" einer neuen Metaphysik ab, wie auch den zu seiner Zeit wieder auflebenden Thomismus, dessen „künstliche Restauration einer theologischen Weltanschauung in abgeblaßtester Gestalt" ihm „unerträglich" schien.2® In der Abkehr von diesen philosophischen Strömungen seiner Zeit begründet er - unter dem Einfluß der philosophischen Auffassungen der deutschen Romantik, vor allem F. v. Schlegels und Schellings, Rankes, Schopenhauers und E. v. Hartmanns - die Lebensphilosophie, zu deren Hauptvertretern er in Deutschland neben Nietzsche und Simmel gehört. „Aus dieser Lage entstand der herrschende Impuls in meinem philosophischen Denken, das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen." 24 Damit ist bereits der philosophische Standort Diltheys gekennzeichnet. In Reaktion auf den bürgerlichen, vorwiegend mechanisch-naturwissenschaftlichen Materialismus, der tatsächlich das Leben nicht erklären konnte, entwickelt Dilthey eine idealistische Erkenntnistheorie, die wie der Neukantianismus die Existenz einer außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein ge11
Diltbey, Wilhelm, Vorrede, in: Ges. Schriften, Bd. 5, Leipzig u. Berlin 1924, S. }. Ebenda, S. 11.
"
Ebenda, S. 4.
M
Ebenda.
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Gctchichtswinciuchaft, Bd. II
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gebenen objektiven Realität ablehnt, also subjektivistischen Charakter trägt. „Wir wissen selbstverständlich nichts von einer realen Welt als außerhalb unseres Bewußtseins existierend." 2 5 Zugleich vollzieht er einen folgenschweren Schritt in der Überwindung des erkenntnistheoretischen Rationalismus Kants, der zwar bereits von den Neukantianern durchbrochen, aber nicht aufgehoben wurde. Er ersetzt das abstrakte Denksubjekt der Kantianer durch ein emotionales, ein wollendes und erlebendes Subjekt 28 und entwickelt auf diese Weise eine irrationalistische Methode. Nicht der Verstand oder die Vernunft ist für ihn das primär Gegebene, sondern das sogenannte „Leben". Darunter versteht Dilthey nun nicht etwa das Leben im Sinne von materieller Tätigkeit, sondern Leben ist für ihn das, „was im Erleben und Verstehen gegeben ist". Leben wird also identifiziert mit dem subjektiven Erleben und damit jedweder rationalen Erklärung entzogen. Ja, das Denken wird dem Erleben nachgeordnet, denn hinter das Leben könne das Denken nicht zurückgehen: „Leben ist nun die Grundtatsache, die dön Ausgangspunkt der Philosophie bilden muß. Es ist das von innen Bekannte, es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann. Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft, gebracht werden."27 Klarer läßt sich kaum diese Begründung einer irrationalistischen Methodologie aussprechen. Dilthey bekämpft die ratio, den Verstand, ohne aber trotz einer gewissen Scheinobjektivität, die sich aus dem Ineinssetzen von Leben und Erlebnis ergibt, den Boden des subjektiven Idealismus zu verlassen. Dieser Übergang zum Irrationalismus ist der ideologisch-philosophische Reflex des Übergangs vom liberalen Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus. Er befriedigt die ideologischen Bedürfnisse der imperialistischen Bourgeoisie am Vorabend des Imperialismus sehr gut, denn auf diese Weise kann jegliche Gesetzmäßigkeit des gesellschaftlichen Geschehens radikal geleugnet werden. Indem Dilthey das seiner Auffassung nach verstandesmäßig nicht zu erklärende „Leben" in den Mittelpunkt der Philosophie, speziell der Eikenntnistheorie, rückt und den Verstand durch das Gefühl, die Emotion ersetzt, wird er zum Begründer der irrationalistischen Methodologie der sogenannten Geisteswissenschaften. Das erklärt auch die ungeheure Wirkung, die die Lebensphilosophie im imperialistischen Deutschland, ganz besonders in der Zeit der Weimarer Republik, gefunden hat. Dabei ist zu beachten, daß die Lebensphilosophie keine philosophische Schule im engeren Sinne ist, wie etwa der Neukantianismus. Sie durchdringt vielmehr als eine methodologische Tendenz, die gegen eine rational und kausal erklärende Methode gerichtet ist, alle bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften. Durch Georg Simmel, Theodor Lessing und Hans Freyer dringt die Lebensphilosophie in die Geschichtswissenschaft und Soziologie ein; durch Troeltsch in die Religionssoziologie; durch Hermann Nohl und Eduard Spranger in die Pädagogik; in der Psychologie wird sie durch Ludwig Klages vertreten; in der allgemeinen Kultur25
Ebenda, S. 6.
-G Vgl. Heise, Wolf gang, Die deutsche bürgerliche Philosophie und Soziologie nach dem Tode von Friedrich Engels bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution (1895-1917), in: Die Philosophie 21
von ilgj-igrj,
Dilthey, Wilhelm,
deutsche
Berlin 1962, S. 32 (Taschenbuchreihe: Unser Weltbild, 17).
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, G e s .
Schriften, Bd. 7, 2. unveränd. Aufl., Leipzig-Berlin 1942, S. 261.
Methodologische Auseinandersetzungen beim Übergang zum Imperialismus
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philosophie durch Rudolf Eucken, Graf Hermann von Keyserling, Richard MüllerFreienfels und Leopold Ziegler; Max Scheler ist ihr Repräsentant in der Kulturphilosophie, Ethik und Religionsphilosophie; Theodor Litt in -der Kulturphilosophie und Pädagogik; Erich Rothacker, der das Lebenswerk Diltheys direkt weiterzuführen sucht - er schreibt u. a. ebenfalls eine „Einleitung in die Geisteswissenschaften" vertritt die Lebensphilosophie in der Geschichtsphilosophie, Wissenschaftstheorie und Psychologie. Aber auch in die Naturwissenschaften finden lebensphilosophische Gedanken und Methoden Eingang, so in die Paläontologie durch Edgar Dasque, in die Biologie durch Hans Driesch unci in die Ethnologie durch Leo Frobenius. Sogar auf die Entwicklung der bürgerlichen Kunst hat die Lebensphilosophie Einfluß genommen, besonders auf die Entstehung des Expressionismus. 28 In der Philosophie selbst erfährt sie einerseits ihre Radikalisierung im deutschen Existentialismus Heideggers und Jaspers', andererseits mündet sie direkt in die faschistische Ideologie mit ihrem Rassismus und „Blut-und-Boden-Mythos". Auf der Grundlage dieses lebensphilosophischen Irrationalismus vollzieht nun Dilthey seine Gegenüberstellung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Das zeigt sich zunächst darin, daß Dilthey bei seinem Versuch, eine philosophische Begründung der sogenannten Geisteswissenschaften zu geben, nicht vom Objekt, der objektiven Realität, sondern vom Subjekt, dem subjektiv gefaßten „Leben", ausgeht. Diesem Ausgangspunkt zufolge faßt er das Verhältnis von Natur- und Gesellschaftswissenschaft primär als ein methodologisches Problem. Er geht dabei folgendermaßen vor. Die Natur wird nicht in das Leben einbezogen. Hier zeigt sich schon, wie konsequent Dilthey Leben und Erleben identifiziert. Die Natur steht für ihn außerhalb des Lebens und Erlebens, sie ist uns fremd - eine verkehrte Widerspiegelung der Tatsache, daß sich die Naturgesetze zum Unterschied von den sozialen Gesetzen ohne unser Handeln durchsetzen. Aber auch die Natur besitzt für Dilthey nur eine Scheinobjektivität, denn sie ist uns ebenfalls nur phänomenologisch, d. h. in ihren Erscheinungen, gegeben. „So ist die Natur uns fremd, dem auffassenden Subjekt transzendent, in Hilfskonstruktionen vermittels des phänomenal Gegebenen zu diesem hinzugedacht." 2 9 Und doch besitzt die Natur in der Art, wie sie uns gegeben ist, „die Mittel, sie dem Denken zu unterwerfen". Wenn uns die Natur also auch nur im subjektiv-idealistischen Sinne in ihren Erscheinungen gegeben ist, so läßt sie sich doch nach Meinung Diltheys durch das Denken erfassen, oder, in seiner Terminologie gesprochen, wir haben die Möglichkeit, diese Phänomene auf eine Ordnung nach Gesetzen zurückzuführen. „Indem diesen Regelmäßigkeiten unveränderliche Träger des Geschehens untergelegt werden, werden sie zurückgeführt auf eine Ordnung nach Gesetzen in der gedachten Mannigfaltigkeit der Dinge." Dabei sind uns die „mathematische und mechanische Konstruktion. Mittel, alle Sinnesphänomene durch Hypothese auf Bewegungen unveränderlicher Träger
S8
Vgl.
Mende, Georg/Heise,
Philosophie
seit der Großen
Wol/gang,
Die
Sozialistischen
Lebensphilosophie, Oktoberrevolution,
in:
Die
deutsche
bürgerliche
Berlin 1958, S. 37 f. (Taschenbuch-
reihe: Unser Weltbild, 1).. 89
Dilthey, S. 90.
u*
Wilhelm,
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, a. a. O..
164
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derselben nach unveränderlichen Gesetzen zurückzuführen".80 Dilthey leugnet also für den Bereich der Natur nicht schlechthin eine Gesetzmäßigkeit, freilich nicht im Sinne einer Anerkennung objektiver Gesetze, die außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein wirken. Denn auch die Natur ist ja für ihn nur phänomenologisch gegeben. Dilthey steht hier vergleichsweise auf den Positionen Kants, ohne aber dessen objektiv existierendes „Ding an sich" anzuerkennen. So ordnet auch bei ihm das Denken die Naturphänomene nach Gesetzen, wobei es sich mathematischer und mechanischer Konstruktionen bedient. Wenn diese an Kant angelehnte Interpretation der Naturerkenntnis gegenüber seinem lebensphilosophischen Irrationalismus eine gewisse Inkonsequenz darstellt, so bewahrt sich jedoch Dilthey damit die Möglichkeit, eine Methode anzuerkennen, mit deren Hilfe wir die Natur erklären können. Aus dieser Methode bestimmen sich seiner Meinung nach die Struktur und der Aufbau der Naturwissenschaften. Die Möglichkeit, mit dieser Methode auch die menschliche Gesellschaft zu erkennen, wird nun von Dilthey strikt abgelehnt. Die „sich unermeßlich ausbreitende menschlichgeschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit" ist im Gegensatz zur Natur „aus der geistigen Lebendigkeit" hervorgegangen. Um diese Wirklichkeit erfassen zu können, muß man sie in diese geistige Lebendigkeit „zurückübersetzen"; mit anderen Worten, man muß die subjektiven Erlebnisse erforschen. Hier versagt allerdings die der Naturerkenntnis angemessene Methode. Denn die Erforschung des „Lebens" läßt sich nicht mit mathematischen oder mechanischen Hilfskonstruktionen bewältigen. Das Seelenleben läßt sich nur erfahren, nachfühlen, verstehen. Aus diesem Grunde mißt Dilthey z. B. den Biographien historischer Persönlichkeiten eine solch große Bedeutung bei. Sie sind für ihn ein konkreter Weg, auf dem sich die geschichtliche Welt durch das Einfühlen und Hineinversetzen in ihre Erlebnisse, Leidenschaften und ihren Charakter verstehen lasse. Den auf diese Weise begründeten methodologischen Dualismus formuliert Dilthey folgendermaßen: „Und damit ist nun der Unterschied beider Arten von Wissenschaften gegeben. In der äußeren Natur wird Zusammenhang in einer Verbindung abstrakter Begriffe den Erscheinungen untergelegt. Dagegen der Zusammenhang in der geistigen Welt wird erlebt und nachverstanden. Der Zusammenhang' der Natur ist abstrakt, der seelische und geschichtliche aber ist lebendig, lebensgesättigt. Die Naturwissenschaften ergänzen die Phänomene durch Hinzugedachtes . . . Die Geisteswissenschaften ordnen ein . . . Dort werden für die Individuation hypothetische Erklärungsgründe aufgesucht, hier dagegen werden in der Lebendigkeit die Ursachen derselben erfahren." 31 Und an anderer Stelle: „Hier wie dort wird der Gegenstand geschaffen aus dem Gesetz der Tatbestände selber. Darin stimmen beide Gruppen von Wissenschaften überein. Ihr Unterschied liegt in der Tendenz, in welcher ihr Gegenstand gebildet wird. Er liegt in dem Verfahren, das jene Gruppen konstituiert. Dort entsteht im Verstehen ein geistiges Objekt, hier im Erkennen der physische Gegenstand." 38 30
Ebenda. Ebenda, S. 119 f. »2 Ebenda, S. 85 f.
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Interessant ist, daß Dilthey ausnahmsweise hier einmal das seiner Meinung nach Gemeinsame von Natur- und Gesellschaftswissenschaft andeutet, das darin besteht, daß beide Wissenschaftsgruppen ihren Gegenstand aus sich heraus produzieren. In der Art und Weise dieses Herausproduzierens liegt nun der Gegensatz, wobei er sogar so weit geht, dem Erkennen der Naturwissenschaft das Verstehen der Geisteswissenschaft gegenüberzustellen. Das Verstehen als die Methode der Geisteswissenschaft ist also gar kein Erkennen, keine Erkenntnis, sondern etwas Höheres, nämlich intuitive Schau. Der Irrationalismus enthüllt sich zugleich als zutiefst agnostizistisch. Schließlich bringt Dilthey in anderem Zusammenhang seinen methodologischen Gegensatz auf den kurzen Nenner: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir." ss Das erklärende Verfahren als Methode der Naturwissenschaft ist nun nach Dilthey schon lange ausgearbeitet und erkenntnistheoretisch fundiert Anders verhalte es sich aber mit jener Gruppe von Erkenntnissen, die sich nach den Naturwissenschaften und neben ihnen entwickelt haben, die er mitunter als jüngere Schwester der Naturwissenschaft bezeichnet, als da sind Geschichte, Nationalökonomie, Rechts- und Staatswissenschaften, Religionswissenschaft, das Studium von Literatur und Dichtung, von Kunst und Musik, von philosophischer Weltanschauung. Alle diese Wissenschaften haben es als Theorie und Erkenntnis des historischen Verlaufes mit dem Einmaligen, Singularen und Individuellen zu tun. Sie haben sich zwar bereits als selbständig konstituiert; der Schauplatz dieser Konstituierung sei Deutschland, das „Land der Mitte, der inneren Kultur" 34 ; diese Konstituierung sei durch die historische Schule erfolgt 35 ; ihrer Methode des Verstehens mangele es aber noch an einer erkenntnistheoretischen Grundlage, und in dieser Grundlegung sieht Dilthey seine Aufgabe und sein Werk. Bei diesem Versuch, eine selbständige Methodologie der Gesellschaftswissenschaft zu begründen, stützt er sich nun auf die Psychologie. Allerdings verwirft er für diese Aufgabe die traditionelle Psychologie, die er als „erklärende Psychologie" bezeichnet. Denn diese „erklärende" Psychologie sei völlig ungeeignet, die Erscheinungen des Seelenlebens begreiflichzumachen; da sie Kausalzusammenhänge suche, die es im Erlebnis nicht geben könne. Deshalb kritisiert er auch die Versuche der Assoziationspsychologen ebenso wie das Bemühen von Herbert Spencer, Taine und der Materialisten, das Seelenleben mit Hilfe der bisherigen Psychologie zu erklären. Das Seelen33
Derselbe, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Ges. Schriften, Bd. 5, a. a. O-, S. 144. - Dilthey hatte ursprünglich die Absicht, seinem 1. Band der „Einleitung in die Geisteswissenschaften" einen 2. folgen zu lassen, der vor allem eine erkenntnistheoretiscbe Begründung der sogenannten „Geisteswissenschaften" enthalten sollte. Dieser Band erschien nicht. Es gibt aber umfangreiche Vorarbeiten dazu, die sein Ringen um diese Problematik andeuten. Hatte er ursprünglich geglaubt, in der vorliegenden Psychologie das Organon seiner Geisteswissenschaften zu finden, so mußte er später einsehen, daß dies nicht möglich war. Er entwickelte Gedanken zu einer „beschreibenden Psychologie", vor allem in obengenannter Schrift, wobei er den irrationalistischen Charakter seiner lebensphilosophischen Methodologie weiter vertieft.
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Derselbe, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, a. a. O., S. 95. Ebenda. S. 118.
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leben könne nicht erklärt werden, versichert uns Dilthey, und so postuliert er eine neue Psychologie, die er zur Grundlage und zum Organon der Gesellschaftswissenschaften erheben will. „Sie wird die Grundlage der Geisteswissenschaften werden, wie die Mathematik die der Naturwissenschaften ist." 3 8 Diese neue Psychologie nennt er „beschreibende" oder auch „zergliedernde" Psychologie. Ihre Aufgabe sieht er darin, das Seelenleben zu beschreiben, zu „verstehen". Das sei aber nur auf dem Wege der Intuition möglich. Dilthey lobt hier die Art, wie die großen Schriftsteller und Dichter das Menschenleben behandeln, und meint, das sei ein Vorbild für seine „beschreibende Psychologie". „Hier ist das intuitive Verständnis des ganzen Zusammenhanges, welchem auf ihrem Wege die Psychologie sich verallgemeinernd und abstrakt sich ebenfalls zu nähern hat." 3 7 Dilthey glaubt, mit dieser Psychologie, die intuitiv das seelische Erleben „verstehen" soll, den Schlüssel für die methodologische Grundlegung der Gesellschaftswissenschaften gefunden zu haben. So bringt er seine Hoffnung zum Ausdruck, daß diese Psychologie das „Werkzeug des Historikers, des Nationalökonomen, des Politikers und Theologen werden" wird. 3 8 Diese „beschreibende Psychologie", deren Aufgabe im Verstehen der inneren Seelenzustande besteht, wird von Dilthey in Anknüpfung an Schleiermacher auch Hermeneutik genannt. Ihre Hauptaufgabe liegt nach seinen Worten darin, die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch zu begründen, auf welcher alle Sicherheit der Geschichte beruhe. Die Hermeneutik werde, „aufgenommen in den Zusammenhang von Erkenntnistheorie, Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften", als „Lehre von der Interpretation ein wichtiges Verbindungsglied zwischen der Philosophie und den geschichtlichen Wissenschaften, ein Hauptbestandteil der Grundlegung der Geisteswissenschaften." 3 9 Die ideologische Funktion dieser methodologischen Gegenüberstellung von Naturund Gesellschaftswissenschaft zeigt sich vor allem in dem daraus abgeleiteten Gegensatz von Gesetz und Besonderheit. Die Naturwissenschaften, deren Aufgabe im Erklären äußerer Erfahrungstatsachen besteht, suchen nach Dilthey kausale Abhängigkeiten, Gesetze v zu formulieren. Die Aufmerksamkeit des Naturforschers hafte ausschließlich an den Gesetzen, die die Formen der Naturgegebenheiten bestimmen. Ganz anders die „Geisteswissenschaften". Sie, die ihre Aufgabe im Verstehen des .in der inneren Erfahrung gegebenen seelischen Zusammenhanges finden, sehen ihr Ideal in dem Verständnis der menschlich-geschichtlichen Individuation. Während die Naturwissenschaften die in Beobachtung und Experiment aufgefundenen gleichförmigen Bestandteile der Erfahrungen den mathematisch-mechanischen Konstruktionsmitteln unterordnen, zergliedern die „Geisteswissenschaften" die in die seelische Lebendigkeit zurückübersetzte gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit. „Hieraus ergibt sich, d a ß der Schwerpunkt der Geisteswissenschaften aus dem Erkennen des. Generellen, in welchem unter Abstraktion von den Unterschieden alle einzelnen Menschen überein" Derselbe, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, a. a. O., S. 195. " Ebenda, S. 153. 88 Ebenda, S. 157. Derselbe, Die Entstehung der Hermeneutik, in: Ges. Schriften, Bd. j, a. a. O., S. 331.
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stimmen, hinüberrückt in das große Problem der Individuation." 4 0 Dilthey weist also den Naturwissenschaften das Erklären der Gesetze, den Gesellschaftswissenschaften das Verstehen des Individuellen und Singularen zu: „Während wir in der Natur nur das Gesetzliche suchen, wird hier (im sogenannten „menschlich-geschichtlichen Leben" - F. F.) das Singulare zum Gegenstand der Wissenschaft" 4 1 Das ist die erkenntnistheoretisch-methodologische Begründung für die „Gesetzlosigkeit" des gesellschaftlichen Geschehens! Auf diese Weise wird die Leugnung des Wirkens gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze philosophisch gerechtfertigt. Dilthey erweist zwar damit der Geschichtswissenschaft, die er erkenntnistheoretisch fundamentieren will, keinen Dienst, wohl aber der reaktionären deutschen Bourgeoisie am Vorabend des Übergangs zum Imperialismus. In diesem Zusammenhang ist noch eine Bemerkung zu dem oben dargelegten Versuch Diltheys, die Psychologie als Organon der Gesellschaftswissenschaften zu postulieren, am Platze. Jeder Versuch, das Wesen der menschlichen Gesellschaft mit H i l f e der Psychologie erfassen zu wollen, stellt grundsätzlich eine idealistische Geschichtsauffassung dar. In jedem Falle, gleichgültig, ob es sich dabei um die Diltheysche „beschreibende" oder um die sogenannte „erklärende" Psychologie handelt, wird hier das Bewußtsein zum Ausgangspunkt der Untersuchung gemacht und versucht, aus ihm die Gesellschaft zu erklären. E i n solches Verfahren ist prinzipiell falsch. D i e wirklichen und in letzter Instanz bestimmenden Triebkräfte des historischen Geschehens können weder durch eine Analyse des gesellschaftlichen Bewußtseins noch durch ein intuitives „Verstehen" des individuellen Erlebnisses aufgefunden werden. Der Schlüssel für das Verständnis der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ist uns nicht in einer psychologischen Interpretation des seelischen Erlebens, sondern nur in der historisch-materialistischen Erforschung der objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse gegeben. Wird die Psychologie zur Grundlage der Gesellschaftswissenschaften erhoben, dann werden die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur nicht aufgedeckt, sondern verschleiert. Wilhelm Dilthey, selbst ein Mann von großer historischer Gelehrsamkeit, im Besitz umfassender geschichtlicher Kenntnisse, konnte auf Grund seiner Intentionen, die letzten Endes in der objektiven Klassenlage der Bourgeoisie wurzelten, der Geschichtswissenschaft den richtigen Weg nicht weisen; er mußte sie in die Irre führen ; Seine philosophische Grundlegung der „Geisteswissenschaften" blieb ein Anachronismus, war doch deren wissenschaftliche Begründung bereits vier Jahrzehnte vorher durch Marx gegeben worden.
in. Wie Dilthey, so setzen sich auch Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert das Ziel, eine umfassende philosophische Grundlegung der Gesellschaftswissenschaften zu geben. Windelband stellt in seiner. Straßburger Rektoratsrede aus dem Jahre 1894, 40 41
Derselbe, Beiträge zum Studium der Individualität, in: Ebenda, S. 266. Ebenda, S. 271.
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„Geschichte und Naturwissenschaft" betitelt, fest, daß in der Vergangenheit viel durch die „universalistische Tendenz" gefehlt wurde, „welche, mit Verkennung der Autonomie der einzelnen Wissensgebiete, alle Gegenstände dem Zwange einer und derselben Methode unterwerfen wollte".42 Er wendet sich also offen gegen die Einheit der Wissenschaft und fordert eine methodologisch fundierte Autonomie einzelner Wissensgebiete. Und Rickert, der das von Windelband aufgestellte Programm systematisch zu verwirklichen trachtet, konstatiert nach einem Blick auf die Geschichte der Wissenschaft, daß für eine philosophische Grundlegung der Naturforschung bereits viel getan sei, zum Teil von den Männern der Spezialwissenschaften selbst, zum Teil von der Philosophie. „Wohl dir, daß du ein Enkel bist" 43, könne also bei der Betrachtung der Vergangenheit dem Naturwissenschaftler von heute zugerufen werden, denn er besitze für seine Forschung bereits eine philosophische Grundlage. Für die Gesellschaftswissenschaften träfe dies aber nicht zu - die Begründung des historischen Materialismus durch Marx und Engels wird hier geflissentlich übersehen sie seien noch viel jünger und unfertiger. „Eine umfassendere philosophische Grundlegung ist für die Kulturwissenschaften jedenfalls bisher nicht annähernd in dem Maße wie für die Naturwissenschaften gewonnen." f i In ihrem Bestreben, eine solche philosophische Grundlegung für die Gesellschaftswissenschaften auszuarbeiten, gehen Windelband und Rickert - wie ein Jahrzehnt vorher Dilthey - von idealistischen Positionen aus. War dieser aber seiner kantianischen Herkunft durch den Übergang zur Lebensphilosophie weitgehend untreu geworden, so halten Windelband und Rickert als Vertreter der südwestdeutschen oder badischen Schule des Neukantianismus stärker an Kant fest. Es ist allerdings ein von allen „materialistischen Inkonsequenzen" gereinigter Kant, der - den ideologischen Bedürfnissen der deutschen Bourgeoisie gemäß - von dieser Schule rezipiert wird. Dieser subjektiv-idealistische Kantianismus ist die philosophische Grundlage jener Spielart der Trennung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften, die von der badischen Schule des Neukantianismus vertreten wird. So knüpft Rickert unmittelbar an dem Kantschen Begriff der Natur an: „Und schließlich hat schon gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts der größte Denker der modernen Welt den für die Methodenlehre maßgebenden Begriff der Natur als des Daseins der Dinge, .sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist', und damit auch den allgemeinsten Begriff der Naturwissenschaft wohl für absehbare Zeiten endgültig festgestellt." 4 8 Sehen wir von der für die Kantianer typischen Uberschätzung Kants ab - ohne damit etwa dessen philosophische Bedeutung abzuwerten - , so macht doch diese Bemerkung deutlich, daß es Rickert lediglich auf die Metboderdebre ankommt, nicht aber auf den Inhalt der einzelnen Disziplinen. Dabei wird dieser methodologische Weg von ihm viel klarer und deutlicher ausgesprochen und auch direkter eingeschlagen als bei Dilthey. Dessen Auffassung von einer schillernden Scheinobjektivität, die sich aus der Identia
Windelband, Wilhelm, Geschichte, a. a. O., S. 139. Rickert, Heinrieb, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 3. verb. Aufl., Tübingen 1915, S. 7. (Im (olgenden: Kulturwissenschaft.) u Ebenda, S. 8. " Ebenda, S. 5 f.
48
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fizierung von Leben und Erlebnis ergab, fällt hier weg. Was übrigbleibt, ist der Unterschied von Erkenntnisweisen, der Unterschied zweier entgegengesetzter methodischer Verfahren. So schreibt Rickert: „Unsere Unterscheidung aber ist in allen ihren wesentlichen Teilen eine logische oder methodologische und erkenntnistheoretische." 48 Bereits vor ihm resümiert Windelband: „Hier haben wir nun eine rein methodologische, auf sichere logische Begriffe zu gründende Einteilung der Erfahrungswissenschaften vor uns. Das Einteilungsprinzip ist der formale Charakter ihrer Erkenntnisziele." 47 Diese methodologische Einteilung sieht nun folgendermaßen aus. Ausgangspunkt ist das logische Verfahren der Begriffsbildung. Dieses wird zunächst auf die Natur angewandt, wobei konstatiert wird, die Erkenntnis der Natur bestehe darin, allgemeine Begriffe aus allgemeinen Elementen zu bilden, die nichts von dem enthalten, was den „Wirklichkeiten" an Besonderheit und Individualität zukommt. Die naturwissenschaftliche Methode gehe auf das Allgemeine, sie suche im Allgemeinen die Gesetze aufzufinden. Es scheint, als liege einer solchen Aufgabenstellung eine materialistische Erkenntnistheorie zugrunde. Vor allem die häufige Verwendung des Terminus „Wirklichkeit" könnte darauf hindeuten. Das ist aber nicht so. Das neukantianische Einteilungsprinzip der Wissenschaften nach der unterschiedlichen Methode ihrer Begriffsbildung hat nicht das geringste mit dem philosophischen Materialismus zu tun. Rickert lehnt die Existenz einer vom Bewußtsein unabhängigen Außenwelt als „unnötige Verdoppelung der Wirklichkeit" nachdrücklich ab. Für ihn gibt es nur eine Wirklichkeit, die ausschließlich in unserer subjektiven Anschauung existieren soll. Von einer Welt „hinter" der gegebenen Wirklichkeit wüßten wir nichts, meint Rickert, und deshalb sei die Abbildtheorie, weil sie eine transzendente Welt voraussetze, völlig unhaltbar. 48 Damit wird die sub\ektiv-idealistiscbe Erkenntnistheorie sichtbar, auf deren Grundlage sich das Verfahren der logischen Begriffsbildung erhebt. Naturerkenntnis wird nun jene Erkenntnis genannt, die in der Bildung allgemeiner Begriffe besteht. Windelband bezeichnet das Denken in diesem Fall als „nomothetisch", d. h. Gesetze aufstellend, es suche in der Erkenntnis des „Wirklichen" das „Allgemeine in der Form des Naturgesetzes".49 Rickert nennt dieses Verfahren „generalisierend": „Naturerkenntnis generalisiert. Darin besteht ihr logisches Wesen." 50 Das ist aber nach Auffassung der Neukantianer der badischen Schule nicht die Methode aller Einzelwissenschaften. „Es gibt Wissenschaften", schreibt Rickert, „die nicht auf die Aufstellung von Naturgesetzen, ja überhaupt nicht nur auf die Bildung allgemeiner Begriffe gerichtet sind, und das sind die historischen Wissenschaften im weitesten Sinne des Wortes." 51 Die Aufgabe dieser Wissenschaften bestehe darin, nicht das Allgemeine, sondern im Gegensatz dazu das Besondere und Individuelle darzustellen. In diesem Falle versage aber das naturwissenschaftliche Verfahren, wes44
Derselbe,
47
Windelband,
48
Vgl. Rickert, Heinrieb,
Kulturwissenschaft, a. a. O., S. 29 ff.
48
Windelband,
Geschichte, a. a. O., S. 145.
54
Rickert, Heinrieb,
Grenzen, a. a. O., S. 9. Wilhelm, Wilhelm,
« Ebenda, S. 58.
Geschichte, a. a. O., S. 144.
Kulturwissenschaft, a. a. O., S. 49.
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halb eine andere Methode der Begriffsbildung notwendig geworden sei, die von Windelband als „idiographisches", d. h. das Eigentümliche,- Einmalige beschreibendes und von Rickert als „individualisierendes" Verfahren bezeichnet wird. Auf die Frage, warum eigentlich der Gegensatz dieser beiden logischen Verfahren postuliert wird, bleibt Rickert eine eigentliche erkenntnistheoretische Begründung schuldig. Seine Antwort ist mehr als dürftig. Er meint, es sei eben, die Aufgabe der Geschichte, das Besondere, Individuelle und Einmalige darzustellen und aus dieser Aufgabe sei ihr formales Wesen darzulegen. Das logische Verständnis sei nur möglich, wenn man von diesem Ziel der Gesellschaftswissenschaft ausgehe. Diese Begründung gipfelt schließlich in der Behauptung: „Die Geschichte will nicht in der Weise generalisieren, wie die Naturwissenschaften es tun. Das ist der für die Logik entscheidende Punkt." 52 Also die Geschichte will nicht generalisieren, d. h., sie will nicht die Gesetze des gesellschaftlichen Geschehens aufdecken! Rickert hätte recht, wenn er geschrieben hätte, die reaktionäre Bourgeoisie will keine Gesetze der Geschichte aufdecken und die bürgerliche Historiographie darf es nicht. Daß er aber der Geschichtswissenschaft selbst diesen Willen zudiktiert, kennzeichnet ihn eindeutig als Interessenvertreter eben dieser Klasse. An anderer Stelle, im Rahmen einer Polemik mit Tönnies, der seinen Methodologismus angegriffen hatte, sucht er den Dualismus verschiedener Verfahren aus den verschiedenen Zwecken der Einzelwissenschaften abzuleiten. „Aus dieser Verschiedenheit der Zwecke aber ergeben sich mit teleologischer Notwendigkeit logisch verschiedene Denkmittel und Denkformen." 53 Weiter behauptet er in diesem Zusammenhang, es sei keine Sache der Willkür, die individualisierende Methode der Geschichtswissenschaft zuzuordnen, denn der Zw'eck der Geschichte bestehe ja in der Darstellung, des einmaligen und individuellen Ablaufs einer Wirklichkeit. Wer aber der Geschichtswissenschaft diesen Zweck setzt, woher dieser Zweck kommt, warum die Geschichtswissenschaft diesen Zweck hat, die Beantwortung dieser Fragen bleibt uns Rickert schuldig. Er schreibt der Historiographie eben diesen Zweck zu, um damit seinen methodologischen Dualismus zu legitimieren. In Wirklichkeit wird dieser Zweck natürlich von der reaktionären Bourgeoisie am Vorabend des Imperialismus gesetzt, denn sie ist daran interessiert, daß die Geschichtswissenschaft nur das Individuelle und historisch Einmalige untersucht. Rickert ist sich dtessen sicher nicht bewußt; aber seine Behauptung, diese Zuordnung der logischen Verfahren sei keine Willkür, stimmt bei dem strengen Logiker, den er zu sein vorgibt, doch bedenklich. Erkenntnistheorisch begründet sich diese Gegenüberstellung der beiden logischen Verfahren der Begriffsbildung in einem völligen Unverständnis der Dialektik von Allgemeinem und Einzelnem. Bereits in der programmatischen Rede Windelbands „Geschichte und Naturwissenschaft" werden Allgemeines und Einzelnes in krassester Form auseinandergerissen. So wird z.. B. folgende Behauptung aufgestellt: „Die Gesamtheit des in der Zeit Gegebenen erscheint in unableitbarer Selbständigkeit neben (Hervorhebung von mir - F. F.) der allgemeinen Gesetzmäßigkeit, nach der es sich- doch vollzieht." Folglich seien alle Versuche, „das Besondere aus dem Allge" M
Ebenda, S. 59. Derselbe, Über die Aufgaben einer Logik der Geschichte, a. a. O., S. 141.
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meinen, das .Viele' aus dem .Einen', das .Endliche' aus dem .Unendlichen', das .Dasein' aus dem .Wesen' begrifflich abzuleiten", gescheitert.54 Schärfer läßt sich wahrlich kaum die metaphysische Trennung des Zusammenhanges von Allgemeinem und Einzelnem formulieren! Windelband leugnet jede Möglichkeit, das Einzelne aus dem Allgemeinen abzuleiten, ja er spricht sogar, von einem „Riß", den keines der großen philosophischen Systeme habe ausfüllen können. Diese letzte Behauptung ist einfach eine Unwahrheit, denn bereits Hegel hatte die Dialektik im Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem erkannt, von der marxistischen Philosophie ganz zu schweigen. Es ist deshalb an dieser Stelle einfach notwendig, dieser metaphysischen Entgegensetzung von Allgemeinem und Einzelnem die marxistische Auffassung von der dialektischen Einheit dieser Kategorien gegenüberzustellen: „Das Einzelne existiert nicht anders als in dem Zusammenhang, der zum Allgemeinen führt. Das Allgemeine existiert nur im Einzelnen, durch das Einzelne. Jedes Einzelne ist (auf die eine oder andere Art) Allgemeines. Alles Allgemeine ist (ein Teilchen oder eine Seite oder das Wesen) des Einzelnen. Alles Allgemeine umfaßt alle einzelnen Dinge lediglich annähernd. Alles Einzelne geht in das Allgemeine nur unvollständig ein usw. usw." 55 Der Neukantianer Windelband hingegen, Feind der Dialektik, die er nicht begriffen hat, kommt am Schluß seiner genannten Rede zu der tief agnostischen und pessimistischen Schlußfolgerung: „Das Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte, inkommensurable Größen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen. Hier ist einer der Grenzpunkte, an denen der wissenschaftliche Gedanke nur noch die Aufgabe bestimmen, nur noch die Frage stellen kann, in dem klaren Bewußtsein, daß er nie imstande sein wird, sie zu lösen." 56 Auf diese Weise glaubt er, seine behauptete Trennung der „Gesetzes"- (Natur-) von den „Ereigniswissenschaften" (Gesellschaftswissenschaften) theoretisch fundamentieren zu können. Wie schwach dieses Fundament in Wirklichkeit ist, erhellt aus der oben gekennzeichneten dialektischen Einheit von Einzelnem und Allgemeinem. Jedes Einzelne ist zugleich Allgemeines, enthält in sich das Allgemeine. Die Aufgabe aller Wissenschaften ist es, dieses Allgemeine im Einzelnen zu erforschen, es in der Form von Begriffen und Gesetzen widerzuspiegeln. Natur- und Gesellschaftswissenschaft unterscheiden sich in bezug auf das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem prinzipiell nicht. Die Dialektik von Allgemeinem und Einzelnem widerlegt nicht nur alle Versuche, auf ihret Entgegensetzung eine Klassifizierung der Wissenschaften aufzubauen, sie bestätigt vielmehr die Einheit der Wissenschaft. Windelbands Schüler Rickert führt diese unwissenschaftliche Gegenüberstellung von Allgemeinem und Einzelnem weiter. Man kann sagen, daß sein ganzes System der Einteilung der Wissenschaften in „generalisierende" (Natur-) und „individualisierende" (Gesellschaftswissenschaften) auf der metaphysischen Trennung dieser beiden Kategorien beruht. Doch hören wir ihn selbst: „Die Geschichte kann auch als Wissensehaft die Wirklichkeit niemals mit Rücksicht auf das Allgemeine, sondern immer nur 51 55 M
Windelband, Wilhelm, Geschichte, a. a. O., S. 160. Lenin, W. I., Aus dem philosophischen Nachlai, a. a. O., S. 287. Windelband, Wilhelm, Geschichte, a. a. O./S. iio.
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mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle darzustellen versuchen." 57 Und weiter: „wir haben festzuhalten an dem Gegensatz des Allgemeinen, das für verschiedene Orte und verschiedene Zeiten oder auch immer und überall gilt, einerseits, und der allein wirklichen individuellen Welt des Geschehens und der Veränderung andererseits, in der sich niemals etwas genau wiederholt. Dies kann genfigen, um die Begriffe von Natur und Geschichte in ihrer allgemeinsten logischen Bedeutung klarzulegen." 58 Dies genügt aber auch, um zu verdeutlichen, wie Rickert seinen methodologischen Dualismus auf der metaphysischen Gegenüberstellung von Allgemeinem und Einzelnem aufbaut. Zugleich machen diese Ausführungen noch einen anderen Aspekt sichtbar. Rickert leitet, getreu seinem subjektiv-idealistischem Standpunkt, aus dem auf diese Weise begründeten Gegensatz von Natur- und Gesellschaftswissenschaft den Gegensatz von Natur und Geschichte ab: „Die empirische Wirklichkeit kann noch unter einen andern logischen Gesichtspunkt gebracht werden als unter den, daß sie Natur ist. Sie wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle."M Klarer und offener läßt sich tatsächlich der subjektive Idealismus nicht ausdrücken. Nicht aus dem objektiven Zusammenhang von Natur und Gesellschaft selbst wird der Zusammenhang von Natur- und Gesellschaftswissenschaft abgeleitet, sondern umgekehrt: aus der methodologischen Trennung von Natur- und Gesellschaftswissenschaft wird der Gegensatz von Natur und Geschichte erzeugt. Der auf diese Weise von Rilkert ausgearbeitete formale Gegensatz von Natur- und Gesellschaftswissenschaft - das ist der Gegensatz, der sich aus den unterschiedlichen logischen Formen der Begriffsbildung ergibt - findet nun seine Ergänzung in einem von ihm behaupteten materialen Einteilungsprinzip. Rickert entwickelt hier den Gedanken, daß sich die der logischen Begriffsbildung unterworfenen Objekte der für ihn bewußtseinsimmanenten Wirklichkeit voneinander unterscheiden. Es gibt einmal Objekte, so sagt er, die wertindifferent sind und der generalisierenden Methode entsprechen. Diese Objekte machen die Natur aus. „Natur ist die wertindifferente und generalisierend aufgefaßte Gesamtwirklichkeit." 60 Zum anderen gibt es Objekte, an denen bestimmte 'Werte haften, die also wertbezogen sind und sich dadurch von den wertfreien Naturobjekten unterscheiden. Diese, die sogenannten wertbezogenen Objekte, machen in ihrer Gesamtheit die Kultur aus. Kultur ist also für ihn „die Gesamtheit der Objekte, an denen allgemein anerkannte Werte haften, und die mit Rücksicht auf diese Werte gepflegt werden."61 Während die wertindifferenten Objekte Gegenstand der Naturwissenschaften sind, so sind die Wissenschaften, die von den auf allgemeine Kulturwerte bezogenen Objekten handeln und diese in ihrer einmaligen Entwicklung, in ihrer Besonderheit und Individualität • darstellen, die historischen Kulturwissenschaften. Rickert kommt damit zu einem anderen Terminus für die Gesellschaftswissenschaften als Dilthey. Dieser hatte die Wissenschaften von der 57 58 M
M
Rickert, Heinrich, Grenzen, a. a. O., S. 220. Ebenda, S. 257. Ebenda, S. 227. Derselbe, Kulturwissenschaft, a. a. O., S. 109. Ebenda, S. 28.
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Gesellschaft und ihrer Geschichte als Geisteswissenschaften bezeichnet. Rickert lehnt das, wie vorher bereits Windelband, ab, weil er den Gegensatz von Natur und Geist als nicht geeignet für eine Grundlage der Wissenschaftsklassifizierung hält. Die Psychologie, die bei der traditionellen Gegenüberstellung von Natur und Geist notwendig zur Grundlage der sogenannten Geisteswissenschaften wird, ist in den Augen von Windelband und Rickert eine Naturwissenschaft, well sie sich des nomothetischen bzw. generalisierenden Verfahrens bediene. Daraus erhellt, daß für die WindelbandRickertsche Philosophie das auf methodologischen Erwägungen basierende formale Prinzip die primäre Rolle bei der Wissenschaftseinteilung spielt. Es ergibt sich dann aber die Frage, warum Rickert das sogenannte materiale Prinzip der Wertbeziehung einführt, um dadurch nicht nur zwei Arten von Methoden, sondern auch zwei Arten von Objekten zu unterscheiden. Offensichtlich will Rickert auf diese Weise den historischen Zusammenhängen eine gewisse Rationalität sichern und dem Historiker selbst eine Objektivität seines Forschungsgegenstandes vorspiegeln, die aber in Wirklichkeit eine Pseudoobjektivität bleiben muß. Er selbst begründet seine Werttheorie mit der Behauptung, erst die theoretische Wertbeziehung könne die Scheidung der historischen Individualität von der unwesentlichen Andersartigkeit ermöglichen. Läge eine solche Wertbeziehung nicht vor, dann „gäbe es keine Geschichte mehr, sondern nur ein sinnloses Gewimmel von lauter bloß andersartigen Gestaltungen, die alle gleich bedeutungsvoll oder bedeutungslos wären, und von denen keine ein historisches Interesse darböte". 62 Rickert muß aber zugeben, daß sich einige Historiker gegen die Anerkennung seiner Werttheorie gesträubt haben, weil'sie in diesem Prinzip eine subjektive und parteiliche Bewertung des historischen Materials erblickten. Er nennt hier Lamprecht, der triumphierend auf diesen Widerspruch zwischen seiner historischen Methode und einem wirklichen wissenschaftlichen Denken hingewiesen habe, um daraus Kapital für sein eignes - wie Rickert schreibt - „naturwissenschaftliches" Verfahren schlagen zu können.63 Diesen „Vorwurf" der Parteilichkeit kann Rickert als echt bürgerlicher Ideologe natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Er begründet deshalb ausführlich seinen Standpunkt, demzufolge sein Prinzip der theoretischen Wertbeziehung nicht mit einer praktischen Wertung zu verwechseln sei. Wenn die Geschichte es auch mit Werten zu tun habe, so sei sie doch keine wertende Wissenschaft. Sie habe lediglich festzustellen, was ist. Zur Erläuterung dieses Unterschiedes führt er ein Beispiel an. Die Entscheidung, ob die Französische Revolution Europa geschädigt habe oder nicht, sei eine Bewertung, und das könne nicht Sache des Historikers sein. Auf der anderen Seite seien sich aber alle Historiker einig, daß dieses Ereignis bedeutsam und wichtig sei und in seiner Individualität als wesentlich in die Darstellung der europäischen Geschichte aufgenommen werden müsse. „Das ist keine praktische Wertung, sondern eine theoretische Beziehung auf Werte. Kurz, Werten muß immer Lob oder Tadel sein. Auf Werte beziehen ist heins von beiden." 61 Rickert versucht auf diese Weise, den angeblich unparteilichen Charakter der Historiographie zu begründen, 65 6S 64
Ebenda, S. 93. Vgl. ebenda, S. 101. Ebenda, S. 98.
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und leitet daraus zugleich seine Ablehnung des Fortschritts ab. D i e Bejahung oder Verneinung eines historischen Fortschritts schließe eine positive oder negative Wertung ein. D e r Begriff des Fortschritts gehöre also in den Bereich der Geschichtsphilosophie, nicht aber in die Geschichtswissenschaft. Rickerts erkenntnistheoretische Begründung der Geschichtsschreibung führt trotz einer gewissen Scheinobjektivität, die den „Kulturobjekten" in ihrer Wertbeziehung zugeschrieben wird, nicht aus dem subjektiven Idealismus heraus. Sie erweist sich als philosophisches Instrument zur Leugnung der objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung und ist damit direkt gegen den historischen Materialismus gerichtet. Indem sie das auf die Darstellung des Individuellen und historisch Einmaligen gerichtete individualisierende Verfahren als Methode der Historiographie
postuliert,
orientiert sie die Geschichtswissenschaft auf eine empirische Beschreibung historischer Ereignisse. D i e s e erkenntnistheoretische Grundlegung reduziert die Geschichte auf reine Faktologie, mit deren Hilfe das Bestehende gerechtfertigt und verteidigt werden kann.
IV. W ä g t man im Ergebnis der vorliegenden Studie das Verhältnis zwischen den gemeinsamen und den unterschiedlichen Seiten in den Versuchen der Dilthey und WindelbandRickert
ab,
eine
philosophische
Grundlegung
der
sogenannten
„Geistes"-
bzw.
„Kulturwissenschaften" zu geben, so kommt ersteren zweifellos das Primat zu. Gemeinsam sind beiden Richtungen ihr philosophisches Anliegen und ihre soziale Funktion. Sowohl' Dilthey als auch Windelband und Rickert setzen sich das Ziel, den Gesellschaftswissenschaften eine selbständige philosophisch-erkenntnistheoretische
Begrün-
dung zu geben, wobei sie sich gleichermaßen gegen die positivistisch-materialistischen Tendenzen einer Ausdehnung naturwissenschaftlicher Begriffe und Methoden auf die Gesellschaftswissenschaften wenden. B e i d e Richtungen verabsolutieren den rationellen K e r n ihrer Kritik an diesen Tendenzen und gelangen damit notwendigerweise zu einer Trennung der Gesellschafts- von den Naturwissenschaften. M i t anderen W o r t e n : der Versuch, von idealistischen Positionen aus die Selbständigkeit der Gesellschaftswissenschaften philosophisch begründen zu wollen, muß in seiner Konsequenz zur Trennung und Entgegensetzung der Wissenschaften von Natur und Gesellschaft führen. Sowohl Dilthey als auch Rickert sind in ihren Bestrebungen wesentlich von der historischen Schule beeinflußt. So ist die Idealvorstellung, die beide - Dilthey noch stärker als Rickert - von der Geschichtswissenschaft entwickeln, besonders durch den historischen Empirismus Leopold von Rankes inspiriert und geprägt worden. Machte sich doch gerade im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts der Einfluß Rankes, zunächst an der Berliner Universität, die auch die Wirkungsstätte Diltheys war, erneut geltend; 6 ® also in jenem Zeitraum, in den auch die Ausarbeitung der Methodologie M
Vgl. Schilfert, Gerhard, Leopold von Ranke, in: Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des ig. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, hg. v. ]. Streisand, Berlin 1965, S. 267 (Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Bd. 1)1
Methodologische Auseinandersetzungen beim Übergang zum Imperialismus
der Geschichtswissenschaft durch Dilthey einerseits und Windelband-Rickert andererseits fällt. Gemeinsam ist auch beiden Varianten die philosophische Grundhaltung, von der aus sie ihre wissenschaftstheoretischen Untersuchungen vornehmen, der subjektive Idealismus. Beide gehen in ihrer erkenntnistheoretischen Fragestellung auf Kant zurück; beide eliminieren die materialistischen Elemente aus der Kantschen Transzendentalphilosophie, wobei Windelband und Rickert stärker als Dilthey an diesem von rechts kritisierten Kantianismus festhalten. Diesem subjektiv-idealistischen Ausgangspunkt entsprechend, fassen sowohl Dilthey als auch Windelband und Rickert das Verhältnis von Natur- und Gesellschaftswissenschaft als primär methodologisches Problem. Beide Richtungen trennen undialektisch das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem und entwickeln eine Methodologie der Gesellschaftswissenschaften, die auf die Erfassung und Darstellung des Singularen, Individuellen und Einmaligen im historischen Verlauf gerichtet ist. Damit wird von beiden - und das ist das Wesentliche - eine Gesetzmäßigkeit des gesellschaftlichen Geschehens überhaupt und strikt geleugnet. 66 Sie wenden sich offen gegen alle ihrer Terminologie nach „naturalistischen" Versuche, die Gesellschaft gesetzmäßig zu erklären, und richten sich damit auch unmittelbar gegen den historischen Materialismus, dem sie die Übertragung von Naturgesetzen auf die menschliche Geschichte unterstellen. So bekämpft Rickert nicht nur die marxistische Philosophie direkt, er beschimpft sie auch auf primitive Weise. Die materialistische Geschichtsauffassung sei metaphysisch, indem sie wie der Begriffsrealismus die Werte zum wahrhaft und allein Wirklichen hypostasiere, mit dem Unterschied, daß an die Stelle der Ideale des Kopfes und des Herzens die „Ideale des Magens" getreten seien. Die menschliche Entwicklung werde als ein „Kampf um den Futterplatz" angesehen. Der historische Materialismus sei mehr das Produkt der Parteipolitik als der Wissenschaft. 67 Diese Ergüsse bestätigen uns, daß die Versuche einer subjektiv-idealistischen Grundlegung der historischen Wissenschaften eine Reaktion auf den Siegeszug der marxistischen Philosophie darstellen. Diese Versuche erweisen sich als philosophische Rechtfertigung der empirischen Historiographie, mit deren Hilfe die deutsche Bourgeoisie am Vorabend des Übergangs zum Imperialismus hofft, ihre Herrschaft pseudowissenschaftlich legitimieren zu können. Diese Gemeinsamkeit in der Zielstellung, im Herangehen und in den faktisch gleichen Ergebnissen bescheinigen sich auch Dilthey und Rickert als Hauptvertreter der lebensphilosophischen und neukantianischen Version untereinander. Diese Zeugnisse der Übereinstimmung wiegen um so stärker, wenn man berücksichtigt, daß die bürgerlichen Philosophen im allgemeinen dazu neigen, geringfügige Differenzen in ihren Anschauungen aufzubauschen und zum Gegenstand eines breiten akademischen Streits zu machen. So konstatiert Dilthey, daß nach ihm von anderen logiscK-erkenntnis6C
Dieser methodologische Dualismus, der das Wirken von Gesetzen im Bereich der menschlichen Gesellschaft verneint, ermöglichte später das Einsetzen von Mythen zur Erklärung gesellschaftlicher Erscheinungen und bereitete auf diese Weise den Boden für die irrationalistische und mystifizierende Geschichtsauffassung innerhalb der faschistischen Ideologie. ®7 Vgl. Rickert, Heimich, Kulturwissenschaft, a . a . O . , S. 126 ff. Siehe auch: Derselbe, Die Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 81 ff.
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theoretischen Grundlagen aus neue Lösungen der Fragen über Begriff und Auslegung der sogenannten Geisteswissenschaften gegeben worden seien. „Die bedeutendsten unter denselben, die von Windelband und Rickert, sind zwar mit mir in dem Streben einverstanden, die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften gegenüber ihrer Unterordnung unter die Wissenschaften der Natur oder doch unter deren Methode geltend zu machen. Auch besteht zwischen uns in zwei weiteren Punkten Übereinstimmung. Sie suchen ebenfalls die Bedeutung des Singularen und Individualen in der Geisteswissenschaft zur Anerkennung zu bringen. Und auch sie erblicken in der Verbindung der Tatsachen, Theoreme und Werturteile ein weiteres unterscheidendes Merkmal der Geisteswissenschaften." 6 8 Umgekehrt lobt Rickert Diltheys „große Verdienste für die wissenschaftliche Philosophie". Seine „Kritik mancher angeblich naturwissenschaftlicher, in Wahrheit rationalistisch-metaphysischer Dogmen, an denen viele noch mit Zähigkeit festhalten, war eine befreiende Tat". 69 Und an anderer Stelle bestimmt er den Ort seiner Übereinstimmung mit Diltheys Methodologie der Geisteswissenschaften sehr genau: „Dafür haben in dieser Hinsicht andere Lebensphilosophen wie Nietzsche, Dilthey und Simmel ! . . das alte Problem vom Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen in ein interessantes Licht gebracht. Ihnen werden wir zumal überall dort zustimmen, wo sie für die Unersetzlichkeit der Persönlichkeit oder der Einzelseele und ihr ,individuelles Gesetz' eintreten, ebenso wie dort, wo sie die Anschaulichkeit, Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit der Erlebnisinhalte betonen." 70 Diese Zeugnisse können natürlich für die marxistische Philosophiegeschichtsschreibung noch kein Beweis für die Ubereinstimmung sein - ein solcher Beweis wurde oben durch eine vergleichende Analyse ihrer Auffassungen zu geben versucht - , sie illustrieren aber doch sehr deutlich die Punkte, in denen sich Dilthey und Rickert ihre wechselseitige Zustimmung ausdrücken. Über diesen gemeinsamen Zügen und Seiten der wissenschaftstheoretischen Untersuchungen von Dilthey einerseits und Windelband und Rickert andererseits dürfen freilich die Unterschiede, die zwischen beiden Konzeptionen bestehen, nicht aus dem Auge verloren werden. Ist doch gerade die Analyse der Differenzen für die Einschätzung der unterschiedlichen Nachwirkung von Bedeutung. Der Unterschied zwischen den Standpunkten Diltheys und Windelbagd-Rickerts läßt sich auf folgenden Nenner bringen. Dilthey stellt der Natur den Geist (das geistige Leben) gegenüber; Rickert sieht in der Geschichte den logischen "und in der Kultur den sachlichen Gegensatz zur Natur. Demzufolge entwickelt Dilthey für die Gesellschaftswissenschaften die intuitive Methode des Verstehens, Rickert das Verfahren der individualisierenden Begriffsbildung. Dilthey fordert eine beschreibende Psychologie als Organon der sogenannten Geisteswissenschaften; Rickert versucht demgegenüber, die Selbständigkeit seiner sogenannten Kulturwissenschaft aus formallogischen Prinzipien abzuleiten. Gerade um den letzten Punkt entbrennt der Streit, wobei sich Rickert wesentlich ausführlicher und gründlicher mit Dilthey auseinandersetzt als " Dilthey, Wilhelm, Geisteswissenschaften, a. a. O., S. 411 f. " Rickert, Heinrich, Die Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 177. *> Ebenda, S. 183.
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umgekehrt. Bereits Windelband stellt fest, daß der sachliche Gegensatz von Natur und Geist als Einteilungsprinzip der Wissenschaften nicht geeignet sei. Denn der Gegensatz der Objekte Natur und Geist decke sich nicht mit dem Gegensatz der Erkenntnisweisen. Diese Inkongruenz des sachlichen und formalen Einteilungsprinzips zeige sich vor allem an der Psychologie. Ihrem Gegenstand nach gehöre sie zu den Geisteswissenschaften, ihrem logischen Verfahren nach aber zu den Naturwissenschaften.71 Windelband polemisiert hier mit Dilthey, ohne ihn zu nennen, und fordert eine Einteilung der Wissenschaften, die ausschließlich auf dem formalen Charakter ihrer Erkenntnisziele aufbaut. Rickert, der bekanntlich dieses Programm verwirklicht, kritisiert nun Dilthey direkt und ständig wiederkehrend wegen seines Versuchs, die Psychologie zur Grundlage der sogenannten Geisteswissenschaften zu machen. Dabei wiederholt er im Prinzip den Einwand Wifidelbands, ohne hier wesentlich Neues hinzuzufügen. Dilthey verteidigt sich einerseits gegen die Kritik Windelbands mit dem Hinweis, daß ja nicht nur die Psychologie, sondern auch die Wirtschaftslehre, die Linguistik, die Ästhetik und alle anderen systematischen Geisteswissenschaften, die gesetzliche Beziehungen aufzufinden suchen, das generalisierende Verfahren anwenden und folglich den Naturwissenschaften zuzurechnen seien. So müßte dann „die Geschichtsschreibung für sich allein, aber auch ganz allein die andere Klasse bilden; also würde die eine Klasse von Wissenschaften aus allen Wissenschaften außer der einen historischen Disziplin gebildet, welche die andere Klasse ausmachen müßte" 72 . Eine solche Einteilung lehnt Dilthey, der hier die Konsequenz aus dem neukantianischen Postulat eines formalen Klassifizierungsprinzips zieht, mit dem Bemerken, damit würde das einheitliche System der Geisteswissenschaften zerrissen, nachdrücklich ab. Diese Auseinandersetzung findet ihren äußeren Ausdruck in der unterschiedlichen Terminologie. Dilthey und seine Nachfolger halten an dem Begriff „Geisteswissenschaften" fest; Rickert lehnt diesen Terminus prinzipiell ab und ersetzt ihn durch den Begriff „Kulturwissenschaften", um auf diese Weise seine von Dilthey abweichende Auffassung zu dokumentieren. Sachlich verbirgt sich hinter diesem Streit der Gegensatz zwischen der Lebensphilosophie und dem Neukantianismus. Während Dilthey als einer der Begründer der Lebensphilosophie eine offen irrationalistische Erkenntnismethode entwickelt, so versucht Rickert trotz des Irrationalismus seiner Wertphilosophie, den Rahmen des Rationalismus nicht zu sprengen. In der Folgezeit hat sich dann die irrationalistische Lebensphilosophie für die ideologischen Bedürfnisse der imperialistischen Bourgeoisie als wirksamer erwiesen. Sie wird nach dem ersten Weltkrieg zur herrschenden Richtung innerhalb der bürgerlichen Philosophie und Gesellschaftswissenschaft. Damit erklärt sich auch die nachhaltigere Wirkung Diltheys, der selbst noch nicht zu den typischen imperialistischen Ideologen zu rechnen ist. Demgegenüber geht der Einfluß der neukantianischen Schulen zur gleichen Zeit zurück. Rickert hat dies selbst noch gesehen und die Lebensphilosophie am Beginn der zwanziger Jahre als „philosophische Modeströmung" dieser Zeit richtig 71 7i
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Vgl. Windelband, Dilthey, Wilhelm,
Wilhelm, Geschichte, a. a. O., S. 142 f. Beiträge zum Studium der Individualität, a. a. O., S. 257.
Geschichtswissenschaft, Bd. 11
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Frank Fiedler
eingeschätzt, ohne sich natürlich über die sozialökonomischen Beweggründe dieser Erscheinung klar zu sein.73 So hat sich auch seine Bezeichnung „Kulturwissenschaft" nicht durchgesetzt Noch heute dominiert in den bürgerlichen Wissenschaftslehren der im Diltheyschen Sinne gebrauchte Begriff „Geisteswissenschaft" zur Bezeichnung der gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen. Im Verhältnis zum historischen Materialismus sind freilich die Unterschiede zwischen der Diltheyschen und der Windelband-Rickertschen Methodologie der Gesellschaftswissenschaften unerheblich. Für die Einschätzung dieser Unterschiede gilt vollinhaltlich das, was Lenin über die Differenzen innerhalb der bürgerlichen Philosophie überhaupt schrieb: „Die Unterschiede zwischen Machismus und Pragmatismus sind vom Standpunkt des Materialismus ebenso nichtig und zehntrangig wie die Unterschiede zwischen Empiriokritizismus und Empiriomonismus." 74 Um das Fazit dieser Studie zu ziehen: Dilthey, Windelband und Rickert haben mit ihren methodologischen Untersuchungen zur Wissenschaftstheorie beachtlichen Einfluß auf die- bürgerliche Gesellschaftswissenschaft ausgeübt. Aber dieser Einfluß war nicht positiv; als Reaktion auf den Marxismus spielte diese Philosophie eine reaktionäre Rolle - auch in der deutschen Geschichtswissenschaft. Ihre Darstellung innerhalb der Studien zur Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung konnte also nur erfolgen zum Zwecke der Kritik, nicht etwa zum Zwecke der Pflege eines noch unabgegoltenen Erbes. 78 Die geschichtsmethodologischen Untersuchungen der Dilthey, Windelband und Rickert gehören nicht zu. dem geistig-kulturellen Erbe, das die deutsche Arbeiterklasse anzutreten hat, haben jene doch zu ihrer Zeit unser wirkliches Erbe bekämpft, die Ansätze einer wissenschaftlichen Erklärung der Geschichte. 73 74
75
Vgl. Rickert, Heinrieb, Die Philosophie des Lebens, a. a. O. Lenin, W. /., Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, 4. Ausg., Berlin 1961» S. ¡46. Eine. umfangreichere Darstellung und Kritik der Versuche, Natur- und Gesellschaftswissenschaften voneinander zu trennen, wird gegeben in: Fiedler, Frank, Von der Einheit der Wissenschaft, Berlin 1964. Hier findet auch die positive Darstellung des Verhältnisses dieser Wissenschaften vom Standpunkt der marxistischen Philosophie breiten Raum. Zugleich wird darauf aufmerksam gemacht, daß sich in der gegenwärtigen imperialistischen Philosophie Westdeutschlands das Bestreben zeigt, die „Einheit der Wissenschaft" von den Positionen des Idealismus aus zu begründen - ein Anliegen, das zwangsläufig zur Unterordnung der Naturwissenschaften unter die bürgerlichen „Geisteswissenschaften" bzw. unter die Religion führt. Ausdruck dieser Tendenz ist z. B. Dempf, Alois, Die Einheit der Wissenschaft, Stuttgart 1955.
Max Weber : Politik, Soziologie und Geschichtsschreibung Joachim Streisand.
Als am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Kapitalismus der freien Konkurrenz der Monopolkapitalismus geworden war, als sich damit alle gesellschaftlichen Widersprüche schroff zugespitzt hatten, hatte sich auch die Alternative, wer die Nation führen würde, schroff zugespitzt: Würde es dem junkerlich-großbürgerlichen deutschen Imperialismus gelingen, die Nation in die Katastrophe von Weltkriegen zu stürzen, oder würde die Arbeiterklasse im Bündnis mit allen anderen demokratischen Kräften die Führung def Nation übernehmen? Das ist die gesellschaftliche Konstellation, innerhalb derer wir auch den Ort Max Webers zu bestimmen haben. Die hier unternommene Darstellung des Zusammenhanges zwischen seinen politischen, seinen soziologischen und seinen wissenschaftstheoretischen Auffassungen soll zeigen, daß auch im Werke dieses einflußreichsten deutschen bürgerlichen Soziologen der imperialistischen Epoche Politik und Wissenschaft eine Einheit bildeten und daß diese Einheit bei ihm letzten Endes auf der Bejahung der imperialistischen Politik beruhte. Sein Ausgangspunkt war: „Der Wille zur Ohnmacht im Innern . . . ist mit dem .Willen zur Macht' in der W e l t . . . nicht zu vereinigen." 1 Nicht eine wirkliche Demokratisierung der deutschen Verhältnisse war Webers Ziel, wie seine bürgerlichen Biographen einhellig erklären, sondern die Stärkung des deutschen Imperialismus nach innen und außen durch eine Einschränkung des ökonomischen, politischen und ideologischen Einflusses der Junker. Weber polemisierte ausdrücklich gegen das „eitle Gerede von dem Gegensatz der westeuropäischen' und der .deutschen' Staatsidee". 2 Aber diese Polemik sollte die Forderung einer Verwandlung der deutschen Verhältnisse nach dem Vorbild des englischen und des amerikanischen Imperialismus begründen - einer Verwandlung, deren Ziel eben die Stärkung des deutschen Imperialismus war. Diese politische Konzeption lag nicht nur seinen politischen Schriften im engeren Sinne zugrunde, sondern sie bestimmte auch seine soziologischen und wissenschaftstheoretischen Arbeiten. Mit diesen Feststellungen befinden wir uns in entschiedenem Gegensatz zu der bürgerlichen Weber-Interpretation. Von Karl Jaspers, der 1921 die erste Biographie Webers veröffentlichte, bis zu seinem jüngsten westdeutschen Biographen, Wolfgang J. Momm1
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Weber, Max, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: Gesammelte politische Schriften, München 1921, S. 2J9. Ebenda. S. 128.
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Joachim Streisand
sen 3 , ist für sie Weber eine Ausnahmeerscheinung, ein Mann, der sowohl durch sein unbestreitbares Format als auch durch seine politischen Auffassungen angeblich aus dem Kräfteparallelogramm des imperialistischen Deutschland herausgefallen wäre. In Westdeutschland gibt es seit einem Jahrzehnt eine Max-Weber-Renaissance. Sie brachte eine Fülle von Veröffentlichungen über ihn hervor, darunter auch eine Auswahl seiner Werke in den Taschenbuchausgaben des Kröner-Verlages 4 , die für weitere Kreise der Intelligenz bestimmt ist. Die meisten seiner Arbeiten sind jetzt auch in den USA und in Großbritannien in Übersetzung erschienen. Darüber hinaus stand das Thema „Max Weber" im Mittelpunkt des westdeutschen Soziologentages in Heidelberg im April 1964. Eine Analyse und Kritik der Auffassungen Max Webers ist damit zugleich auch von aktuellem politischem Interesse. Wir skizzieren zunächst die Entwicklung seiner politischen Auffassungen im Zusammenhang mit seinem Lebensgang und werden dann untersuchen, inwiefern diese Auffassungen auch seiner Soziologie und seiner Wissenschaftstheorie zugrunde liegen. Max Weber wurde 1864 als Sohn eines Juristen, der später Berliner Stadtrat und nationalliberaler Reichstagsabgeordneter wurde, geboren. Sein Onkel war der Historiker Hermann Baumgarten, der nach dem Preußisch-Österreichischen Krieg von 1866 in den „Preußischen Jahrbüchern" einen Aufsatz „Der deutsche Liberalismus - eine Selbstkritik" veröffentlicht hatte, in dem es hieß: „Der'Bürger ist geboren zur Arbeit, nicht zur Herrschaft". Der Titel dieses Aufsatzes - eben die Selbstkritik der Liberalen, die Bismarck 1866 für seine Politik mit Eisen und Blut Indemnität gewährten - wurde bald geradezu zum Schlagwort. Baumgarten selbst hat freilich in den achtziger Jahren Treitschkes „Deutsche Geschichte" von ähnlichen Positionen wie Theodor Mommsen kritisiert. Auch Max Weber hat sich bereits als Student für politische Fragen lebhaft interessiert und sich gegen das Sozialistengesetz und gegen den Antisemitismus Treitschkes und Stoeckers gewandt. Die Position, von der aus Weber diese Kritik übte, war aber eine andere als die etwa seines Onkels. E r hat diese Position 1894 präzis formuliert. Mit 30 Jahren als einer der jüngsten deutschen Ordinarien zum Professor der Nationalökonomie an die Universität Freiburg berufen, hielt er dort eine programmatische Antrittsrede: „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik". Sie enthält alle wesentlichen Motive der eingangs umrissenen politischen Konzeption. Max Weber beschäftigte sich hier zunächst mit der Lage der Landarbeiter in den preußischen Ostgebieten, insbesondere in dpr Provinz Westpreußen, und er wies nach, daß die halbfeudalen Ausbeutungsmethoden der dortigen Junker das Landproletariat und darüber hinaus zahlreiche werktätige Bauern zur Abwanderung in andere Gebiete, vor allem in die westdeutschen Industriezentren, veranlaßten. Mit diesen zweifellos richtigen Feststellungen verband Weber aber die Behauptung, die polnische Bevölkerung Westpreußens und der Nachbargebiete sei von Natur aus anspruchsloser, würde daher also mit Lebensbedingungen zufrieden sein, die den deutschen Land9
Mommsen, Wolfgang ]., Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920. Tübingen 1959. - Vgl. dazu die Rez. von Klein, Fritz, in: Deutsche Literaturzeitung, Jg. 82, 1961, S. 827 ff.
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Weber, Max, Soziologie, weltgeschichtliche Analyse, Politik, Stuttgart 1956.
Max Weber: Politik, Soziologie und Geschichtsschreibung
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arbeitern unerträglich seien, und würde daher die Lücken füllen, die von den nach Westdeutschland abgewanderten Gutstagelöhnern und Kleinbauern gerissen worden sind. Wenn bis dahin die Junker sich als die Hüter der nationalen E h r e aufgespielt hatten, so kehrte Weber jetzt den Spieß um: D i e junkerliche Ausbeutung hätte, so erklärte er in der Antrittsrede, dazu geführt, daß das deutsche Element in Westpreußen immer schwächer, das polnische immer stärker würde. Sie also gefährde den „ D r a n g nach Osten". Aus diesen Überlegungen zog er die Konsequenz, eine staatlich gelenkte Ansiedelungspolitik, die auch gegen die Interessen der Junker durchzusetzen sei, müsse dafür sorgen, daß das „Bollwerk" des Germanentums gegen das Slawentum wieder gefestigt würde. Ausdrücklich bekannte er sich zu einer Politik der Expansion: „Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber lieber unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte." s Aber er wollte, daß die Führung allein bei der Großbourgeoisie liegen sollte, und trat aus dem Alldeutschen Verband, dem er zeitweilig angehört hatte, wieder aus, weil dort die Junker den Ton angaben. Man könne „entweder die bürgerliche oder die agrarischfeudale Klasse stützen", erklärte er etwa zur selben Zeit. 6 Für Weber war also allein wesentlich der Gegensatz zwischen Junker und Großbourgeoisie, der in Wirklichkeit zu dieser Zeit bereits sekundär geworden war gegenüber dem Grundwiderspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat. D i e werktätigen Klassen und Schichten existierten in seiner politischen Konzeption nur als Werkzeuge. Für ihre Interessen und Ziele hatte er keinen Sinn: „Für den Traum von Frieden und Menschenglück steht über der Pforte der unbekannten Zukunft der Menschengeschichte: lasciate ogni speranza." 7 D a s heißt nicht, daß er die Arbeiterbewegung einfach ignoriert hätte - Weber forderte frühzeitig gewisse ökonomische und politische Konzessionen an die Arbeiterklasse, die die Spaltung der Arbeiterbewegung fördern sollten, und er verband diese Forderung sofort mit seiner imperialistischen Konzeption: E s müsse eine „Arbeiteraristokratie" als „Träger des politischen Sinnes", wie er ihn verstand, geschaffen werden, hieß es in der Freiburger Antrittsrede. 8 So gehört Weber zu den Initiatoren jener politischen Strömung im deutschen Großbürgertum, die in den Mitteleuropaplänen Friedrich Naumanns, mit dem er eng zusammenarbeitete, und Paul Rohrbachs ihren Ausdruck fand. (Es bestehen gewisse Übereinstimmungen zwischen den Auffässungen M a x Webers und der Politik derjenigen Gruppe im deutschen Monopolkapital, die sich um die „neuen" Industrien, Chemie und Elektroindustrie, bildete 9 , freilich nur 4
Weber, Max, Der Nationalstaat und die "Volkswirtschaftspolitik, in: Ges. Polit. Schriften, a. a. O., S. 29. e Weber, Marianne, Max Webet, Tübingen 1926, S. 255. 7 Weber, Max, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, a. a. O., S. 18. * Ebenda, S. 29. * Vgl. zu diesen Gruppierungen Kuczynski, Jürgen, Die Barbarei - extremster Ausdruck der Monopolherrschaft in Deutschland, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 9, 1961, H. 7, S. 1499 ff.; Volkland, Gerhard, Hintergründe und politische Auswirkungen der GelsenkirchenAffäre im Jahre 1932, in: Ebenda, Jg. 11, 196}, H. 2, S. 299.
Joachim Streisand
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Übereinstimmung, ohne daß es sich um unmittelbare und direkte Beziehungen gehandelt haben dürfte.) M a x Weber wurde 1897 nach Heidelberg berufen. Aus gesundheitlichen Gründen konnte er aber seine Lehrtätigkeit nur kurze Zeit ausüben und trat im folgenden Jahrzehnt nur mit Veröffentlichungen auf. 1904 wurde er einer der Herausgeber des einflußreichen „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik". Seine politisch-publizistische Aktivität erwachte erst wieder während des ersten Weltkrieges. In einer Aufsatzreihe der „Frankfurter Zeitung", die auch gesondert unter dem Titel „Parlament und Regierung im neu geordneten Deutschland" erschien, setzte er sich im Sommer 1917 für eine Stärkung der Befugnisse des Reichstages ein. A l s „Zukunftsfrage der deutschen Staatsordnung" bezeichnete er: „ W i e macht man das Parlament fähig zur Macht?"
10
E r unterschrieb auch den Aufruf des Volksbundes
für Freiheit und Vaterland für einen Verständigungsfrieden. Eduard Baumgarten behauptet in der Einleitung zu der bereits genannten Krönerschen Ausgabe seiner Schriften, M a x Weber bekämpfte durch den ganzen Krieg hin die deutsche Annexionspolitik. 1 1 D a s ist eine bloße Legende: Weber trat E n d e 191 j für eine dauernde Besetzung Luxemburgs und für eine 20jährige Besetzung Lüttichs und Namurs e i n 1 2 , und er hat das Diktat von Brest-Litowsk ausdrücklich verteidigt. Auch als die gesetzmäßige Niederlage des deutschen Imperialismus in dem vön ihm ausgelösten Weltkrieg eingetreten war, behielt Weber seine nationalistische Haltung bei. Noch Mitte November 1918 phantasierte er vor Heidelberger Studenten von einer A r t Wehrwolf-Bewegung gegen Polen. 1 8 Schneller als andere Ideologen des deutschen Imperialismus begriff er aber, d a ß die Niederlage und die Novemberrevolution, so sehr er sie haßte, gewisse Änderungen im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis gebracht hatten. E r näherte sich der eben gegründeten Deutschen Demokratischen Partei. D a ß die Monarchie nicht zu restaurieren sei, war ihm gewiß. D i e Wiederherstellung der Macht des deutschen Imperialismus wollte er nun auf andere Weise sichern. Hatte er bisher eine Parlamentarisierung im Interesse der Bourgeoisie gefordert, so setzte er sich jetzt eben im Interesse dieser Bourgeoisie für eine Einschränkung der Macht des Reichstages ein. V o m 16. bis zum 21. Dezember 1918 tagte in Berlin der Reichskongreß der Arbeiterund Soldatenräte, dessen Mehrheit die Einberufung der'Nationalversammlung beschloß und damit -
wie im „Grundriß der Geschichte der deutschen
Arbeiter-
bewegung" festgestellt w i r d 1 4 - die Aufrechterhaltung der Macht des deutschen Imperialismus unter bürgerlich-parlamentarischer Form entschied. Noch vor diesem Kongreß, nämlich vom 9. bis 12. Dezember, trat ebenfalls in Berlin ein von Hugo Preuss geleiteter Ausschuß zusammen, der die Grundzüge der Verfassung der Republik entwerfen sollte. Weber, der diesem Ausschuß angehörte, war 10
Weber, Max, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, a. a. O., S. 182.
11
Baumgarten, Eduard, Einleitung zu: Weber, Max, Soziologie, weltgeschichtliche Analyse, Politik, a. a. O., S. XXI.
"
Weberr Marianne, a. a. O., S. j68.
» Ebenda, S. 643. '
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Grundriß der Cescbichte
der deutschen Arbeiterbewegung,
Berlin 1965, S. 105.
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es, der hier durchsetzte, daß der Reichspräsident nicht vom Reichstag, sondern in direkter Volkswahl gewählt würde - eine Festlegung der Weimarer Verfassung, die, worauf später noch einzugehen sein wird, wesentlich die Beseitigung der Republik erleichterte. Webers Auffassung von der Demokratie konnte damals sogar Ludendorffs Zustimmung finden. In einem Gespräch, das Weber im Frühjahr 1919, etwa ein Jahr vor seinem Tode, mit Ludendorff führte und das seine Frau überliefert h a t 1 5 , sagte er: „In der Demokratie wählt das Volk seinen Führer, dem es vertraut. Dann sagt der Gewählte: ,Nun haltet den Mund und pariert*. Volk und Parteien dürfen ihm nicht mehr hineinreden." Das war eine Interpretation des Begriffs, zu der Ludendorff bemerken konnte: „Solche .Demokratie' kann mir gefallen!" Diese Skizze seiner politischen Konzeption erleichtert es uns zu verstehen, warum er der einflußreichste Vertreter der bürgerlichen deutschen Soziologie seiner Zeit wurde. Als besondere Disziplin trat die Soziologie in Deutschland ja erst in den letzten Jahren vor der Wende zum 20. Jahrhundert auf, auch wenn das Wort Soziologie bereits 1839 von Comte eingeführt worden war, auch wenn es schon 1 8 8 ; zum erstenmal im Titel eines deutschsprachigen Buches, nämlich im „Grundriß der Soziologie" des Österreichers Gumplovicz, erschienen war, auch wenn bereits 1887 in dem Buch von Ferdinand Tönnies „Gemeinschaft und Gesellschaft" Grundgedanken der späteren deutschen bürgerlichen Soziologie skizziert worden waren. Aber damit war noch keine eigene Wissenschaft etwa an den Universitäten entstanden. Die Entstehung der Soziologie als eigenes Fach fällt erst in die neunziger Jahre, in die Zeit, da Nietzsches Massenwirkung begann, da der Naturalismus die deutschen Bühnen beherrschte, da Lamprechts Geschichtswerk erschien und der Methodenstreit über den prinzipiellen Unterschied von Natur- und Gesellschaftswissenschaften ausgetragen wurde. A l l e diese Erscheinungen hängen mit dem Übergang zum Monopolkapitalismus, aber auch mit dem stürmischen Wachstum der deutschen Arbeiterbewegung nach dem Sieg über das Sozialistengesetz zusammen. D i e bürgerliche Soziologie hatte zwei durchaus politische Hauptaufgaben. Sie wollte zum einen „Erfahrungen" der herrschenden Klassen in ihrem Kampf gegen die Arbeiterbewegung diskutieren, und sie wollte zum anderen die Massenbasis dieser Klassen erweitern. Bürgerliche Soziologen pflegten zwar von nun an auch in der zeitgenössischen Gesellschaft zu ihrem Erstaunen Klassen zu entdecken und wagten es sogar, diese Gesellschaft als „Kapitalismus" zu bezeichnen - aber diese Feststellungen wurden idealistisch interpretiert. Auch die bürgerliche Soziologie blieb innerhalb der Grenzen, die nur vom Standpunkt der Arbeiterklasse gesprengt werden können und durch Marx und Engels gesprengt wurden. Marx hat in seinem berühmten Brief an Weydemeyer vom 5. März 1852 betont, daß die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaftsauffassungen durch den historischen Materialismus vor allem darin besteht, daß nachgewiesen wurde, daß erstens die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist, zweitens der 15
Weber, Marianne, a. a. O., S. 66;.
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Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt und drittens diese Diktatur selbst nur den Übergang zuf Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet. 16 Auch Max Weber hat diese Grenzen niemals überschritten. Sein Beitrag zur Soziologie hielt sich in dem eingangs charakterisierten Rahmen. Seine 1904 erschienene Arbeit „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" wollte eine Entstehungsgeschichte des Kapitalismus geben, die die idealistische Geschichtsauffassung bestätigen sollte. Weber ging nicht von einer wissenschaftlichen Definition des Kapitalismus aus, d. h. von den für ihn charakteristischen Beziehungen der Menschen in der Produktion, der Beziehung also vor allem zwischen Kapitalisten und freiem Lohnarbeiter, sondern er faßt als Wesen des Kapitalismus eine bestimmte „rationale" Geisteshaltung auf. (Gelegentlich bezeichnete Weber übrigens diese Rationalität als das Wesen auch der sozialistischen Gesellschaft und erklärte die Unterschiede zwischen Kapitalismus und Sozialismus demgegenüber für sekundär; gemeinsam sei beiden auch die Tendenz zur Bürokratisierung. Hier liegt eine der ideologischen Wurzeln der in der bürgerlichen Soziologie in den letzten Jahren gängig gewordenen These von der „Industriegesellschaft"). E r suchte nun nach Beziehungen zwischen dieser Rationalität und den Weltanschauungen und Religionen. Dabei stellte er fest, daß sie zuerst in protestantischen Ländern entstanden sei und in England und später in den U S A ihre charakteristische Ausprägung erhalten habe. Seiner Auffassung nach hatte der Katholizismus des Mittelalters das Ideal einer „außerweltlichen Askese" gepredigt, beruflichen Erfolg im Diesseits aber gering geschätzt. Der Protestantismus, vor allem seine kalvinistische Spielart, später auch der Pietismus, hätten zwar nicht auf das asketische Ideal überhaupt verzichtet, aber es in einer „rationaleren" Form, die Weber als „innerweltliche Askese" bezeichnet, vertreten. Als.Beispiel dafür führt er einen Ausspruch Sebastian Francks an: ;,Du glaubst, Du seist dem Kloster entronnen; es muß jetzt jeder sein Leben lang ein Mönch sein." 1 7 Vor allem der Calvinismus habe die Kapitalbildung gestattet, ja noch mehr: er habe beruflichen Erfolg im Diesseits als Beweis dafür angesehen, daß der Betreffende zur jenseitigen Seligkeit vorbestimmt, daß er zur Gnade erwählt sei. E r habe die Verwendung von Vermögen zum unproduktiven Genuß verboten und damit die Verwendung des Kapitals im Produktionsprozeß erleichtert. Als charakteristisch für diese Moral führt er u- a. Benjamin Franklins Ratschläge an einen jungen Kaufmann an, in denen zuerst das bekannte bürgerliche Moralgebot steht „Zeit ist Geld". Daß zwischen Calvinismus und Kapitalismus Beziehungen bestehen, ist bereits 1892, also vor Weber, von Friedrich Engels nachgewiesen worden, der in der Einleitung zur englischen Ausgabe der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" feststellte, die Lehre von der Gnadenwahl hänge zusammen mit der Tatsache, daß „in der Handelswelt der Konkurrenz Erfolg oder Bankrott nicht abhängt von 18
Karl Marx an Joseph Weydemeyer, 5. März 1852, in: Marx/Engels, S. 507 f.
17
Weber, Max, Wirtschaftsgeschichte, München 1923, S. 311.
Werke, Bd. 28, Berlin 1963,
Max Weber: Politik, Soziologie und Geschichtsschreibung
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der Tätigkeit oder dem Geschick des einzelnen, sondern von Umständen, die von ihm unabhängig sind". 1 8 Webers Thesen sind insofern zwar richtig, in ihrem wesentlichen Gehalt aber keineswegs neu. Seine Leistung besteht darin, gewisse Zusammenhänge innerhalb des Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft konkreter nachzuweisen, als dies bis dahin geschehen war - eine Leistung übrigens, die gerade mit der antijunkerlichen Tendenz seiner Anschauungen zusammenhängt. Von seiner Amerikareise 1904 berichtete er, er hätte einen eingewanderten Nasen- und Rachen-Spezialisten kennengelernt, der mit seinem ersten Patienten ein merkwürdiges Erlebnis hatte. „Sich auf Anforderung des Arztes auf dem Sofa niederstreckend, um mit dem Nasenspiegel untersucht zu v/erden, habe dieser sich erst noch einmal aufgerichtet und mit Würde und Nachdruck bemerkt: ,Herr, ich bin Mitglied der . . . Baptist Church in der . . . Street'. Der betreffende Arzt habe, da er nicht wußte, welche Bedeutung diese Tatsache wohl für das Nasenleiden und dessen Behandlung habe, später einen amerikanischen Kollegen gefragt und von diesem gehört, der Patient wollte erklären, „seien Sie wegen des Honorars ohne Sorgen" 1 9 . Weber betonte, seine deutschen Zeitgenossen hätten keinen Anlaß, sich über diese Art des Nachweises der Kreditwürdigkeit zu mokieren - es handele sich um eine bürgerlich-protestantische Form „konventioneller Heuchelei", welche sich in dem stärker von feudalen Traditionen beeinflußten Deutschland in der Richtung des „Beamtenavancements" bewegen würde, in Amerika dagegen die Richtung der „Geschäftschancen" einschlage. 20 D i e bürgerlich-rationale Haltung, die zur puritanischen Askese gehörte, wurde von Weber auch als Vorbild für Deutschland aufgefaßt. E r hat einmal an Adolf von Harnack geschrieben: „ D a ß unsere Nation die Schule des harten Askezismus niemals, in keiner Form, durchgemacht hat, ist . . . der Quell alles desjenigen, was ich an ihr (wie an mir selbst) hassenswert finde."21 So sollten auch die Studien über die G e schichte des englischen und amerikanischen Geisteslebens zu einer Stärkung des deutschen Imperialismus auf dem Wege einer Angleichung an diese Vorbilder führen. D i e wesentliche Tendenz war aber der Versuch, den Marxismus auf eine scheinbar neue Art zu „widerlegen". Ebenso wie in den politischen Überlegungen Webers die Ausnutzung der opportunistischen Strömungen in der Arbeiterbewegung zur .Stärkung der Massenbasis des deutschen Imperialismus ein wesentliches Element war, sind auch in seiner Soziologie das Aufgreifen und Verzerren einzelner Erkenntnisse des historischen Materialismus zum Zwecke der „Widerlegung" ein wichtiger Bestandteil. Weber ging - wie wir gesehen haben - von einer idealistischen Definition des Kapitalismus aus, die nur gewisse Erscheinungen des Überbaus berücksichtigte, und erklärte dann, für diesen Kapitalismus seien die Ideen das Wesentliche. Dieser logische 18
Engels, Friedrich, Einleitung (zur engl. Ausgabe [1892] der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"), in: Mars/Engels, Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 300. " Vgl. Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, S. 209. 80 Ebenda, S. 214. 11 Brief vom 5. 2.1906, zit. nach Mommsen, Wolfgang ]., Max Weber und die deutsche Politik, a. a. O., S. 106.
Joachim Streisand Zirkel sollte die Behauptung belegen, die materialistische Geschichtsauffassung widerspräche den Tatsachen. Damit sind wir bereits beim dritten Fragenkomplex, der hier zur Debatte steht, nämlich seiner Wissenschaftstheorie. D i e politische Konzeption Webers, in der wir die Grundlage seiner sozialgeschichtlichen Auffassungen kennengelernt haben, ist auch die Grundlage seiner Wissenschaftstheorie. Diese Wissenschaftstheorie entstand nicht getrennt von seinen politischen Ideen, sie ist vielmehr ein besonders prägnantes Beispiel dafür, wie bis in erkenntnistheoretische und methodologische Überlegungen politische Ideen und Auffassungen hineinreichen - genauer: wie auch diese Zweige der Theorie von Zielsetzungen des politischen Klassenkampfes bestimmt sind. M a x Weber hat seine Auffassungen über diese Fragen in mehreren Arbeiten niedergelegt, zuerst in der programmatischen Abhandlung „Über die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" (1904). Sie sind auch in dem weit über Fachkreise hinaus bekannt gewordenen Vortrag „Wissenschaft als B e r u f " (1919) enthalten. Zum Verständnis der Wissenschaftslehre M a x Webers ist ein Rückgriff auf den Methodenstreit der 90er Jahre notwendig. 82 A m Vorabend der imperialistischen Epoche wurden unter den Philosophen und Historikern an den deutschen Universitäten lebhafte Auseinandersetzungen über prinzipielle methodologische Probleme geführt, in denen vor allem durch Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert ein absoluter Gegensatz im Vorgehen der Natur- und der „Geistes"-wissenschaften proklamiert wurde. Ohne technische Fortschritte gab es keine Profite, und daher wurde die wissenschaftliche Grundlage der Technik, die Naturwissenschaft, wenigstens innerhalb gewisser Grenzen als exakte Wissenschaft, die Gesetze aufzudecken vermag, behandelt. Die Geisteswissenschaften dagegen wurden, um jede Annäherung an materialistische Auffassungen zu verhindern, von nun an auf das bloße „Verstehen" (Dilthey) oder die Betrachtung der Erscheinungen nach ihrer „Wertbezeichnung" (Rickert) - das heißt Betrachtung der Erscheinungen unter den Gesichtspunkten des bürgerlichen Klasseninteresses - verwiesen. Weber akzeptierte die Grundzüge dieser Wissenschaftstheorie, vor allem die Trennung zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften in methodologischer Hinsicht. E r brachte sie einmal auf den zugespitzten formallogischen Ausdruck: für die Naturwissenschaften sei die Bildung von Begriffen mit kleinem Inhalt und großem Umfang charakteristisch, für die Geschichte umgekehrt die Bildung von Begriffen mit großem Inhalt und kleinem Umfang. A b e r er wandelte doch gewisse Seiten der Windelband-Rickertschen Methodologie ab. Auch- in den Gesellschaftswissenschaften sind seiner Ansicht nach Verallgemeinerungen möglich, aber sie können nicht Widerspiegelung objektiver Gesetzmäßigkeiten sein, sondern lediglich Hilfskonstruktionen, denen nichts Reales entspräche, weshalb er sie auch „Idealtypen" nannte. Diese Hilfskonstruktionen sollten der Lösung der Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft dienen, die Weber im Anschluß an Dilthey 58
Vgl. dazu auch den Beitrag von Fiedler, Frank, Methodologische Auseinandersetzungen in der Zeit des Übergangs zum Imperialismus, in diesem Band S. 155 ff.
Max Weber: Politik, Soziologie und Geschichtsschreibung
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als „Verstehen" bezeichnete. 2 3 Diesem Irrationalismus entspricht auch die Auffassung W e b e r s v o n der Beziehung zwischen Theorie und Praxis im gesellschaftlichen Leben. D i e s e Beziehung w u r d e v o n ihm in der Form de& Beziehung zwischen Wissenschaft und Werturteil behandelt. N a c h W e b e r könnten Werturteile nur insofern wissenschaftlich behandelt werden, als erstens Mittel zur Verwirklichung bestimmter Z w e c k e angegeben werden können, zweitens dargelegt werden kann, o b die Mittel und damit auch der Z w e c k in einer bestimmten Situation zu verwirklichen sind, drittens Nebenwirkungen der gewählten Mittel gezeigt w e r d e n können, viertens die Weltanschauung, aus der heraus die Z w e c k setzung erfolgt ist, bezeichnet w e r d e n kann. Charakteristisch für Webers grundsätzliche Übereinstimmung mit den seit der Jahrhundertwende herrschend gewordenen methodologischen Auffassungen ist jedoch, was d i e Wissenschaft seiner A u f f a s s u n g nach nicht leisten könne: sie könne nicht die Zwecksetzung überhaupt begründen oder ablehnen, sie könne auch nicht die W a h l a
In dem Maße, in dem die Anziehungskraft des dialektischen Materialismus auf die Intelligenz auch in den kapitalistischen Landern wächst, der ein einheitliches, wissenschaftlich begründetes Weltbild vermittelt, in dem es keine absolute Entgegensetzung von Natur und Gesellschaft gibt, wird von bürgerlichen Wissenschaftstheoretikern versucht, eine scheinbare Überwindung der Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften auf idealistischer Grundlage zu proklamieren. Dafür wird neuerdings in Westdeutschland immer häufiger Max Webers Theorie der Idealtypen bemüht, Diese „Überwindung" erfolgt freilich unter Preisgabe der Gesetzmäßigkeiten nicht mehr nur in der Gesellschaft, sondern nun auch - unter Berufung auf die positivistische Deutung der Ergebnisse der Quantenphysik - der Gesetze in der Natur: wenigstens im mikroskopischen Bereich, so wird behauptet, könne man ja ebenfalls nur zu derartigen Hilfskonstruktionen gelangen. "In dem von Waldemar Besson herausgegebenen, von Hans Rothfels eingeleiteten „Fischer-Lexikon Geschichte" (Frankfurt a. M. 1961), heißt es in dem von Hans Mommsen verfaßten Artikel „Historische Methode": „Die scharfe Entgegensetzung (von Natur- und Geisteswissenschaften, generalisierender und individualisierender Methode - J. S.) gilt für die Gegenwart nicht mehr. Auch die Geschichtswissenschaft ist bestrebt, von individuellen Faktoren zu allgemeineren, den Geschichtsverlauf deutenden Aussagen aufzusteigen. Sie bedient sich hierzu einer typologisierenden Begriffsbildung, deren Verbindlichkeit durch die jeweilige Fragestellung begrenzt ist und daher nicht die Form von zwingenden Geschichtsgesetzen hat." (S. 79 f.) Auch der Herausgeber W. Besson selbst, der in diesem Lexikon im Artikel „Historismus" diesen noch als methodologische Grundlage der westdeutschen Geschichtsschreibung betrachtete, scheint sich diesem Standpunkt neuerdings zu nähern. In einem Resümee seines Aufsatzes „Zur gegenwärtigen Krise der deutschen Geschichtsschreibung" (Vgl. dazu die Anzeige in: Historische Zeitschrift, Bd. 197, 1963, H. 1, S. 200 f.) erklärt er, „mit Typologisierung und historischer Begriffsbildung, mit der Erarbeitung von Modellen und Strukturen" sei „methodologisch die Krise des Historismus und seines ursprünglichen Individualitätsprinzips überwunden". In Wirklichkeit wird die methodologische Krise der bürgerlichen Geschichtsschreibung dadurch freilich nicht überwunden, sondern nur auf höherer Ebene reproduziert: in dem Maße, in dem ihre Konstruktionen zur „Widerlegung" des Marxismus-Leninismus immer komplizierter werden, verliert sie ihre gesellschaftliche Wirksamkeit - erinnert sei an die Kritik, die die großbürgerliche Presse Westdeutschlands am Duisburger Historikertag 1962 übte. - Für eine Auseinandersetzung mit der positivistischen Interpretation der Quantentheorie, auf die sich diese „Überwindung" stützt, sei verwiesen auf Hörz, Herbert, Atome Kausalität Quantensprünge. Berlin 1964.
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Joachim Streisand
zwischen verschiedenen Weltanschauungen ermöglichen, und sie könne am wenigsten in Konflikten zwischen verschiedenen Zwecksetzungen und Wertungen helfen. In allen grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen ist also nach seiner Auffassung die Wissenschaft machtlos. Auf die Frage, was wir tun sollen, gibt es nach Weber keine wissenschaftliche Antwort. Diese Wissenschaftslehre übernimmt also, wie Webers politische Konzeption und seine Konzeption der Sozialgeschichte, alle grundlegenden Züge der imperialistischen Ideologie, insbesondere ihren Irrationalismus. A u ^ h i e r wieder werden allenfalls einige Modernisierungen an den Auffassungen angebracht, die bis dahin an den deutschen Universitäten herrschten. Weber gab mehrfach seiner Abneigung gegen Treitschkes „Kathederprophetie" Ausdruck, und er kritisierte auch den gleichsam naiven Historismus Friedrich Meineckes. Aber entscheidend war auch hier wieder die antimarxistische Tendenz. Weber toleriert jede Lehre, die auf eine bewußte Einwirkung auf die Praxis verzichtet. So richtet sich diese Wissenschaftstheorie vor allem gegen die wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse, vor allem gegen den historischen Materialismus, der von der Existenz von Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung ausgeht, diese Gesetze aufdeckt und lehrt, sie bewußt auszunutzen. Webers Wissenschaftstheorie war also alles andere als unparteilich. Den für die bürgerliche Gesellschaft charakteristischen Widerspruch zwischen Organisation im Einzelbetrieb und Anarchie in der Gesamtproduktion machte sie zur ewigen Grundlage aller Erkenntnistheorie. 24 Damit war sie höchst parteilich für die Bourgeoisie und eben deshalb auch außerstande, die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu erfassen. Wenn wir abschließend die Wirkungen und Beurteilungen der Tätigkeit Max Webers überblicken, so muß zunächst der vor allem durch Jaspers vertretenen Anschauung entschieden widersprochen, werden, er sei letztlich einflußlos geblieben und im existenzphilosophischen Sinne „gescheitert". Tatsächlich war er in Theorie und Praxis für die weitere Politik der deutschen Bourgeoisie durchaus von Bedeutung. Gewiß: seine Tätigkeit als Universitätslehrer war unregelmäßig. Aber um Weber sammelte sich ein Kreis von Freunden und Schülern, der schon auf das geistige Leben in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg von Einfluß war. Dazu gehören Politiker wie Friedrich Naumann, Fachkollegen wie Werner Sombart und Ernst Troeltsch, und diesem Kreis stand auch zeitweilig der Dichter Stefan George nahe, auch wenn Weber durch den „geistesaristokratischen" Dünkel dieses Kreises, wie ihn Thomas Mann in der Figur, des Herrn zur Höhe in seinem „Doktor Faustus" klassisch parodiert hat - es heißt dort, das sei „der steilste ästhetische Unfug, der mir vorgekommen" 2 5 - bald abgestoßen war. Von Max Weber ging auch der Staatsrechtler aus, der zum skrupellosesten Staatstheoretiker des deutschen Faschismus werden sollte: Carl Schmitt. Schmitt knüpfte nicht nur theoretisch an Weber an, sondern er konnte bei seinen Versuchen, die Weimarer Republik zu diskreditieren, praktisch das ausnutzen, was gerade unter Webers Einfluß in die Weimarer Verfassung aufgenommen u
Vgl. Heise, Wolf gang, Die deutsche bürgerliche Philosophie und Soziologie nach dem Tode von Friedrich Engels bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution (189}—1917), in: Die deutsche Philosophie von 1895-1917, Berlin 1962, S. 62. -l Mann, Thomas, Doktor Faustus, Berlin 19;;, S. 494 (Gesammelte Werke, Bd. 6).
M a x Weber: Politik, Soziologie und Geschichtsschreibung
worden 'war. Wie bereits erwähnt, war ja auf Webers Drängen in Artikel 41 die Volkswahl des Reichspräsidenten festgelegt worden. In Verbindung mit Artikel 25, der dem Reichspräsidenten das Recht gab, den Reichstag aufzulösen, und Artikel 48, der ihm weitreichende Befugnisse zur Aufhebung grundlegender Artikel der Verfassung zugestand, hat diese Festlegung wesentlich dazu beigetragen, das bürgerlichparlamentarische System seinen Feinden von rechts auszuliefern. Den Übergang von der bürgerlich-parlamentarischen zur faschistischen Herrschaftsform der deutschen Bourgeoisie charakterisierte die Politik der Präsidialkabinette von Brüning bis Schleicher. Dieser Übergang wurde dadurch erleichtert, daß Hindenburg aus der Tatsache, daß er nicht vom Parlament, sondern durch ein Plebiszit gewählt worden war, dem Reichstag gegenüber erhöhte Autorität beanspruchen konnte. So ist Weber in seinem politischen Wirken nicht „gescheitert", sondern hat gerade dazu beigetragen, daß die Macht der deutschen Bourgeoisie, trotz der zeitweiligen Erschütterung ihrer Grundlagen durch die Novemberrevolution, wieder gefestigt werden konnte. Weber war kein direkter Vorläufer des Faschismus. Der parteiamtliche Nazihistoriker Steding lehnte ihn als „Neutralisten" entschieden ab. Aber auf ideologischem und staatsrechtlichem Gebiet trugen Webers Ansichten dazu bei, das parlamentarische System zu unterhöhlen. Seine Lehre von der Neutralität der Wissenschaft ist von der hochschulpolitischen Reaktion in den Jahren der Weimarer Republik ausgenutzt worden, um Demokraten und erst recht Sozialisten von den Lehrstühlen fernzuhalten, und an die Volkswahl und die Sonderrechte des Reichspräsidenten knüpfte Carl Schmitt an, wenn er die Formel prägte: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." Die Entwicklung in Frankreich, wo de Gaulle im November 1962 durch eine mehr als fragwürdige Volksabstimmung - nur 46 % der Stimmberechtigten befürworteten die Verfassungsänderung - seine Machtstellung auf genau dem von Weber gewiesenen Wege gegen das Parlament zu festigen versuchte, zeigt, daß auch heute noch alle Gegner der Demokratie an diesem Punkt ansetzen. Eduard Baumgarten hat in der letzten westdeutschen Auswahlausgabe der Schriften Webers diese staatsrechtlichen Ansichten ausdrücklich als Schutz vor „Massenemotionen" gerechtfertigt, und es sei in diesem Zusammenhang auch daran erinnert, daß Sich der Duisburger Kongreß des westdeutschen Historikerverbandes (Oktober 1962) gerade mit der Frage der Präsidialkabinette beschäftigt hat. Die Max-Weber-Renaissance in Westdeutschland dient, das dürfte aus dem hier Gesagten deutlich geworden sein, nicht einer Festigung der Demokratie, sondern im Gegenteil gerade dem Erstarken des deutschen Imperialismus. Die positiven Elemente, die in der Kritik Max Webers am Einfluß der Junker im wilhelminischen Deutschland enthalten waren, bildeten nicht das Wesen seiner politischen Konzeption. Soweit diese positiven Elemente aber realisiert worden sind, geschah dies nicht durch die Bourgeoisie. Wenn die Macht der Junker in dem Teil Deutschlands, der einst ihre eigentliche Domäne war, heute gebrochen ist, war dies eine Leistung der einheitlich handelnden Arbeiterklasse im Bündnis mit den Bauern, die nach der Befreiung vom Faschismus im Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik die demokratische Bodenreform durchführten und damit zugleich eine der Grundlagen des deutschen Imperialismus beseitigten.
Die alldeutsche Geschichtsschreibung vor dem ersten Weltkrieg Hans Krause
Die Ideen Heinrich von Treitschkes, des letzten und einflußreichsten Vertreters der kleindeutschen politischen Geschichtsschreibung, wirkten nicht nur in starkem Maße auf das politische Leben seiner Zeit, sondern auf den Geist der gesamten Wilhelminischen Ära, deren Beginn Treitschke noch miterlebte.1 Sie dienten darüber hinaus den reaktionärsten Kräften des deutschen Imperialismus bis hin zum Faschismus immer wieder zur Begründung ihrer Ideologie. Treitschkes Werke, in etlichen Auflagen veröffentlicht und damit weitverbreitet, standen in den Bücherschränken deutscher Bürger und Kleinbürger und besonders der Intelligenz. In zahlreichen pseudohistorischen Artikeln von Zeitungen und Zeitschriften, auf den Treffen der Kriegervereine und chauvinistischen Verbände, in den Klassenzimmern der Volksschulen und Gymnasien wurden die Ideen Treitschkes verkündet und seine Aussprüche zitiert. In besonderem Maße waren die Historiker des Wilhelminischen Reiches, die Zeitgenossen Treitschkes wie auch die Vertreter der folgenden Generation, gezwungen, sich mit dem Gedankengut der kleindeutschen Schule, vor allem mit Treitschke, zu beschäftigen.2 Die Mehrzahl der Historiker des imperialistischen Deutschlands war um die Jahrhundertwende zu der Auffassung gelangt, daß die unmittelbare Aufgabe der kleindeutschen Richtung-gelöst war. Deren borussische Betrachtungsweise erschien ihnen zu eng, zu einem Zeitpunkt, als der zu spät gekommene deutsche Imperialismus mit äußerster Anstrengung bemüht war, sich durch außenpolitische Aktivität und Schlachtflottenbau einen „Platz an der Sonne", d. h. in der Reihe der Großmächte, zu sichern. Die Interessen der deutschen Historiker wandten sich daher in starkem Maße den Weltereignissen zu. In diesem Zusammenhang erfolgte die Rückbesinnung auf Ranke, dessen universalistische Betrachtungsweise besser zu der gegebenen Situation und zu der proklamierten „Weltpolitik" zu passen schien als die Einseitigkeit der kleindeutschen Schule. 1
2
Vgl. Leipprand, Ernst, Heinrieb Von Treitschke im deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 19};, S. 284; Thompson, James Westfall, A history of historical writing, Bd. 2, New York 1954, S. 224; Schleier, Hans, Die kleindeutsche Schule, in: Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, hg. v. Joachim Streisand, Berlin 1963, S. 309 (Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Bd. 1). Ergebnisse ihrer Beschäftigung bzw. Auseinandersetzung mit Treitschke liegen von den meisten führenden Historikern der Wilhelminischen Ära vor, so von Max Lenz, Gustav Schmoller, Erich Mareks, Dietrich Schäfer, Georg von Below, Friedrich Meinecke, Theodor Schiemann und anderen.
D i e alldeutsche Geschichtsschreibung vot dem i. Weltkrieg
I9t
Der Berliner Historiker Max Lenz, der als erster -wieder auf Ranke zurückgriff und die Abwendung von der kleindeutschen Betrachtungsweise vollzog, wurde zum Führer der jüngeren Rankeschule, der „Neorankeaner". Dieser Richtung kann man zahlreiche der prominentesten deutschen Historiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurechnen: Hans Delbrück, Hermann Oncken, Erich Mareks, Otto Hintze, Friedrich Meinecke, Felix Rachfahl und andere, deren Arbeitsbereich die verschiedensten Gebiete der Geschichtswissenschaft umfaßte.* Anknüpfend an ihren Lehrmeister Ranke waren sie durchweg bedingungslose Apologeten der Machtstaatsidee. Sie traten entschieden für die Weltmachtsansprüche des deutschen Imperialismus ein und wandten sich hierbei besonders gegen England. Hatten sich die kleindeutschen Historiker offen als politische Erzieher ihres Volkes bezeichnet, so nahmen die Neorankeaner für sich in Anspruch, Vertreter der vielgerühmten Rankeschen „Objektivität" zu sein. In Wirklichkeit verteidigten und rechtfertigten sie die Innen- und Außenpolitik des imperialistischen Deutschlands in einer raffinierteren Form, so durch ihre These vom notwendigen Gleichgewichtssystem der Weltmächte. Sie bemühten sich, Leitbilder für den deutschen Imperialismus zu schaffen sowie „die erhoffte Zukunft organisch herauswachsen zu lassen aus der Vergangenheit" 4 . Um die Jahrhundertwende lassen sich drei Gruppen der akademischen bürgerlichimperialistischen Geschichtsschreibung unterscheiden. Innerhalb der Neorankeaner gab es einen konservativen und einen liberalen Flügel. Die dritte Gruppe repräsentierten jene Historiker, die auf der Position des Alldeutschen Verbandes standen.5 In den großen methodologischen Fragen und hinsichtlich ihrer geschichtsphilosophischen Fundierung gingen alle drei Gruppen zusammen. Gemeinsam traten die Vertreter der drei Richtungen seit den 90er Jahren gegen Karl Lamprecht auf und bekannten sich zu den von Ranke geschaffenen Grundlagen bürgerlicher Geschichtsbetrachtung. Für Alldeutsche und Neorankeaner bedeutete der Primat der Außenpolitik, daß die innenpolitischen Fragen der Selbstbehauptung nach außen unterzuordnen seien. Zwischen beiden Richtungen bestanden keine grundsätzlichen, sondern lediglich taktische Meinungsverschiedenheiten. Gegenüber dem unverhüllten und offenen Auftreten der Alldeutschen im Dienste des deutschen Imperialismus bedienten sich die Neorankeaner einer vorsichtigeren Ausdrucksweise und offenbarten eine stärkere Neigung zum Relativismus. In der Be4
Über die Richtung der Neorankeaner vgl. neben dem Aufsatz von Hans Schleier in vorliegendem Band: Srbik, Heinrieb Ritter v., G e i s r u n d Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. 2, München u. Salzburg 1951, Kap. XIII; KriU, Hans-Heinz,
D i e Ranke-
renaissance. Max Lenz und Erich Mareks. Ein Beitrag zum politisch-historischen Denken in Deutschland 1880-1935, Berlin 1961. Vgl. die kritischen Bemerkungen zu Srbik bei
Schleier,'Hans,
a. a. O., S. 508 und die Rezension des gleichen Verfassers zu Krill in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ( Z f G ) , Jg. 12, 1964, H. ), S. 497 ff. * Debio, Ludwig, Ranke und der deutsche Imperialismus, in: Deutschland und die Weltpolitik im zo. Jahrhundert; München 19;;, S. 42. 5
Vgl. Lozek, Gerbard,
Friedrich Meinecke - ein Stammvater der NATO-Historiker in West-
deutschlaad, in: Z f G , Jg. 10, 1962, H. 7, S. 1545.
Hau Krauie
192
gründung der außenpolitischen Ziele des deutschen Imperialismus läßt sich damit ein gewisser Unterschied in der Argumentation zwischen Neorankeanern und Alldeutschen feststellen. Wie sehr aber in Wirklichkeit die drei Gruppen der bürgerlich-imperialistischen Historiker zusammenhingen bzw. ineinander übergingen, ergibt sich aus der Tatsache, daß in Fragen der Innenpolitik Alldeutsche und konservative Neorankeaner die gleiche Konzeption vertraten, während die liberalen Neorankeaner einzelne Reformen im Rahmen der bestehenden Verhältnisse befürworteten und gegenüber der Arbeiterklasse eine andere Haltung einnahmen (Ablenkung vom Klassenkampf durch Gewährung kleiner Zugeständnisse). Während die Neorankeaner eine gewisse Abkehr von den Methoden der kleindeutschen Schule vollzogen, stellt der „alldeutsch-chauvinistische Vulgärhistorismus" • in starkem Maße eine Fortsetzung dieser Richtung unter imperialistischen Bedingungen dar. Insbesondere bauten die Alldeutschen auf den aggressiven und chauvinistischen Ideen Heinrich von Treitschkes auf, der seit den 8oer Jahren bekanntlich ein Verfechter der Kolonial-, Flotten- und später auch der Weltpolitik war. Kamen die Neorankeaner im Anschluß an Ranke zur Apologie der Weltmachtspläne des deutschen Imperialismus und - was die meisten Vertreter dieser Richtung betrifft - auch zur Rechtfertigung seiner reaktionären Innenpolitik, so gilt für die Alldeutschen, daß sie in Fortsetzung der kleindeutschen Schule noch geradliniger zu einem solchen Kurs gelangten und daß sie sich radikaler aufführten. *
D e r 1891 - zunächst unter der Bezeichnung „Allgemeiner Deutscher Verband" - gegründete Alldeutsche Verband war das Sammelbecken der reaktionärsten und aggressivsten Kreise des deutschen Imperialismus. 7 E r vertrat die Interessen bestimmter Gruppen des deutschen Monopolkapitals, insbesondere der deutscheif Schwerindustrie. Äußerlich hielten sich jedoch die Monopolverbände zurück; sie zogen es vor, im Hintergrund zu bleiben, bei Schwierigkeiten helfend einzugreifen, im übrigen jedoch Vertreter der herrschenden Klassen zu Worte kommen zu lassen, die nicht unmittelbar als Repräsentanten bestimmter Wirtschaftsgruppen zu erkennen waren. Offen traten im Rahmen des Alldeutschen Verbandes von den führenden Vertretern des Monopolkapitals nur Hugenberg und Kirdorf auf. 8 Der Alldeutsche Verband sah seine Aufgabe auf außen- wie innenpolitischem Gebiet. Auf der einen Seite forderte er ständig eine aggressivere Außenpolitik und eine • Stern, Leo, Gegenwartsaufgaben der deutschen Geschichtsforschung, Berlin 1952, S. 21. ' Zur Geschichte des Alldeutschen Verbandes vgl. Kuczynski, Jürgen, Studien zur Geschichte des deutschen Imperialismus, Bd. 2: Propagandaorganisationen des Monopolkapitals, Berlin 19JO, Kapitell; sowie folgende, in ihrem Wert unterschiedliche Darstellungen: Bonbard, Otto, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, Leipzig-Berlin 1920; Wertbeimer, Mildred S„ The PanGerman League. 1890-1914, New York 1924; Werner, Lothar, Der Alldeutsche Verband, Berlin 1935; Krück, Alfred, Geschichte des Alldeutschen Verbandes. 1890-1939, Wiesbaden 1954- Eine Dissertation zur Geschichte des Alldeutschen Verbandes bis 1917 von Edgar Hartwig befindet sich in Arbeit. 8 Vgl. Kuczynski, Jürgen, a. a. O., S. 17.
D i e alldeutsche Geschichtsschreibung vor dem i. Weltkrieg
brutalere Kolonialpolitik, deren letztes Ziel die Verwirklichung einer deutschen Weltherrschaft war; in diesem Zusammenhang wurde er zum eifrigen Verfechter der Flottenaufrüstung und Heeresverstärkung. Er war bemüht, die Regierung stets zu neuen Abenteuern, Annexionen und außenpolitischen Provokationen zu drängen. Die Alldeutschen waren in der Mehrzahl „ausgesprochene Kriegsfreunde" 9 . Besonders in den Jahren vor Ausbruch des ersten Weltkrieges wurde eine offene Verherrlichung des Krieges betrieben, wurde dieser aus biologischer, sittlicher oder politischer Sicht gerechtfertigt. Diese Tendenzen kamen am klarsten zum Ausdruck in dem Buch „Deutschland und der nächste Krieg" (1912), das der den Alldeutschen nahestehende General Friedrich von Bernhardi schrieb; er forderte offen die Entfesselung eines Krieges als „nationales Recht" und „nationale Pflicht". Richtete sich der Haß in erster Linie gegen den Konkurrenten England wie auch gegen den „Erbfeind" Frankreich, so proklamierte man auf der anderen Seite ständig die vom Osten drohende „slawische Gefahr", die auf die Dauer nur durch einen Krieg abzuwehren sei. Neben dem ständigen Druck auf die deutsche Regierung erblickte der Alldeutsche Verband eine seiner Hauptaufgaben darin, breite Schichten des deutschen Volkes durch ständige ideologische Beeinflussung für den. kommenden Krieg reifzumachen. In der Haltung zu innenpolitischen Fragen erwies sich der Alldeutsche Verband als extrem antidemokratische und arbeiterfeindliche Organisation. Er widersetzte sich energisch der Durchführung einzelner Reformen, wie sie von liberalen Ideologen gefordert wurden, verteidigte das preußische Dreiklassenwahlrecht und trat als Gegner der Einführung eines parlamentarischen Regimes in Deutschland auf; die nationale Bewegung in den polnischen Provinzen Preußens sowie in Elsaß-Lothringen wurde von den Alldeutschen scharf bekämpft. Insbesondere aber trat der Alldeutsche Verband gegen die Sozialdemokratie auf; dies zeigte sich u. a. in seiner Haltung während der Vorbereitung von Reichstagswahlen, so 1906/07. Führende Mitglieder des Alldeutschen Verbandes wirkten in dem 1904 gegründeten Reichsverband gegen die Sozialdemokratie an maßgeblicher Stelle mit. In den Jahren unmittelbar vor Ausbruch des ersten Weltkrieges wurde die reaktionäre Haltung der Alldeutschen zu Fragen der Innenpolitik immer radikaler, indem offen der Ruf nach einer Diktatur, Abschaffung des Reichstagswahlrechts und Erlaß eines Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie erhoben wurde. Obwohl der Alldeutsche Verband Interessenvertretung bestimmter Teile des Monopolkapitals war, stammte doch die größte Zahl seiner Mitglieder aus Kreisen des mittleren Bürgertums und der Intelligenz. Der Verband legte Wert darauf, bekannte Persönlichkeiten in seinen Reihen zu vereinen, die Verbindungen zu Regierungskreisen aufzuweisen hatten, wie hohe Beamte, Generäle und Reichstagsabgeordnete, oder aber Einfluß auf die öffentliche Meinungsbildung besaßen, wie Zeitungsverleger, Chefredakteure und akademische Kreise. Zahlenmäßig stark vertreten im Hauptvorstand und als Ortsgruppenvorsitzende wären daher auch Lehrer und Professoren. Fast sämtliche deutsche Universitäten hatten Vertreter in den Führungsgremien des All• Krück, Alfred, a. a. O., S. 69.
1 ) Geschichtswiuenschaft, Bd. II
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Hans Krause
deutschen Verbandes. 19 Universitätsprofessoren waren 1904 im Hauptvorstand vertreten. 10 In besonderem Maße stellte sich eine Anzahl deutscher Historiker in den Dienst dieses imperialistischen Vereins. Neben ihnen waren zahlreiche Professoren verschiedenster Fachgebiete führend im Alldeutschen Verband tätig: der Nationalökonom Ernst Hasse, von 1893-1908 Vorsitzender des Verbandes; der Begründer der deutschen Geopolitik Friedrich Ratzel; der berühmte Zoologe Ernst Haeckel, der auf seinem Fachgebiet eine äußerst progressive Rolle spielte und große Verdienste durch die Verbreitung der materialistischen Weltanschauung erwarb; Felix Dahn, Professor der Rechte in Breslau, Schriftsteller und Geschichtsschreiber; der Zoologe Paul Samassa, Hauptschriftleiter der „Alldeutschen Blätter" von 1900-1908 sowie viele andere, vom Germanisten, Staatswissenschaftler und Volkswirt bis zum Chemiker und Mediziner. Auch der bekannte Nationalökonom Max Weber war in den 90er Jahren für einige Zeit Verbandsmitglied. Diese alldeutschen Professoren übten einen großen Einfluß auf ihre Studenten aus, durch die die chauvinistischen Ideen weiterverbreitet wurden. Auf der anderen Seite war aber auch die Wirkung ihrer Bücher, Presseartikel oder Reden auf die breite Öffentlichkeit besonders groß. Sie traten als- Vertreter der deutschen Wissenschaft, als Autoritäten und Fachleute auf und begründeten oder rechtfertigten in einer intellektuell verbrämten Weise die Politik des deutschen Imperialismus. Zahlreiche deutsche Hochschullehrer, insbesondere Historiker, wirkten in den chauvinistischen Organisationen mit, die dem Alldeutschen Verband nahestanden oder korporativ angeschlossen waren, so im Flottenverein, Ostmarkenverein, Deutschen Schulverein (später Verein für das Deutschtum im Ausland), im Wehrverein, in der Deutschen KolonialGesellschaft und ähnlichen Organisationen. Sie traten als Redner bei den gemeinsamen Veranstaltungen der Propagandaorganisationen des deutschen Imperialismus auf, sie arbeiteten an Zeitungen und Zeitschriften mit, die den Alldeutschen nahestanden oder unmittelbar von ihnen geleitet wurden, wie der von Professor Paul Langhans heraüsgegebenen Zeitschrift „Deutsche Erde". Wie den Neorankeanern fiel auch den alldeutschen Historikern die Aufgabe zu, ihre Vorstellungen von der Zukunft Deutschlands mit einer entsprechenden Darstellung der Vergangenheit zu verknüpfen. Das Geschichtsbild der Alldeutschen wurde daher fast ausschließlich von dieser Aufgabenstellung bestimmt. Zur Rechtfertigung der expansiven Außenpolitik des deutschen Imperialismus und zur Begründung seiner Weltmachtsansprüche entwickelten die Alldeutschen verschiedener Ausrichtung ein Arsenal extrem chauvinistischer Theorien und Thesen. Die von ihnen aufgebaute Ideologie, die ein „eklektisches Nebeneinander verschiedener Theorien und Konzeptionen" 1 1 darstellte, fußte auf den Ideen eines Paul de Lagarde, eines Sybel und Treitschke, eines Bismarck, eines Nietzsche und auf dem Rassenmythos eines Gobineau, Lapouge und Chamberlain. Sozialdarwinismus, Geopolitik und 10
Vgl. Kuczynskj, Jürgen, a. a. O., S. 18.
11
Heise, Wolf gang, Die deutsche bürgerliche Philosophie und Soziologie nach dem Tode von Friedrich Engels bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution (1895-1917), in: Die deutsche Philosophie von itgs-1917, Berlin 1962, S. 78 (Taschenbuchreihe Unser Weltbild, Bd. 17).
Die alldeutsche Geschichtsschreibung vor dem i. Weltkrieg
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Rassentheorien wurden die wichtigsten Säulen der teilweise bereits im vormonopolistischen Stadium entwickelten alldeutschen Ideologie. 12 Typisch für die Epoche des Imperialismus ist jedoch, daß diese Theorien nun mit höchst praktischer Aufgabenstellung für die Gegenwart verknüpft wurden. Das Wesen des Sozialdarwinismus bestand darin, daß diese pseudowissenschaftliche Richtung versuchte, die in der Natur herrschenden Gesetzmäßigkeiten schematisch auf den Bereich der gesellschaftlichen Entwicklung zu übertragen. Den Sozialdarwinisten dienten Begriffe wie „Kampf ums Dasein" oder das Ausleseprinzip innenpolitisch zur Begründung des Klassenstaates, in dem die herrschende Klasse als „Elite" erschien, und außenpolitisch zur Rechtfertigung imperialistischer Aggressionen und Kriege. Aus sozialdarwinistischen Gedankengängen und einer politisch zweckgerichteten Geographie ging die Richtung der Geopolitik hervor, deren Vater in Deutschland der Alldeutsche Friedrich Ratzel, ordentlicher Professor der Geographie in Leipzig, war. In Ratzels System erschien der Staat als biologischer Organismus, der bestimmten Wachstumsgesetzen unterlag. Der „Kampf ums Dasein" wurde somit zu einem Kampf um den Raum; imperialistische Expansion und Kriege erschienen als natürliche und notwendige Vorgänge innerhalb der Menschheit. In engem Zusammenhang mit geopolitischen Gedankengängen wurde von imperialistischen Ideologen die Theorie vom deutschen „Landhunger" propagiert, die verbunden war mit der Forderung nach einem größeren Kolonialreich, einem „Platz an der Sonne" oder Landerwerb im Osten („Drang-nach-Osten-Theorie"). ls Die verschiedenen Varianten der Herren- und Rassentheorie entstanden in Deutschland teils in Anlehnung an; ausländische Vorbilder, teils in enger Verknüpfung mit eigenständigen sozialdarwinistischen Systemen. Als besonders groß muß in dieser Hinsicht der Einfluß des in Deutschland lebenden Engländers Houston Stewart Chamberlain angesehen werden, dessen Buch „Die Grundlagen des 19: Jahrhunderts" in Deutschland weitverbreitet war. Alldeutsche Ideologen, innerhalb oder außerhalb des Alldeutschen Verbandes stehend, wie Ludwig Schemann, Otto Ammon, Ludwig Wilser und Ludwig Woltmann, entwickelten eine Reihe rassistischer Systeme, deren Quintessenz lautete, daß den Germanen besondere Eigenschaften zukamen und daß unter ihnen die Deutschen die „Führerrasse der Neuzeit" seien. Es erschien selbstverständlich, daß damit auch entsprechende Herrschaftsansprüche in Europa und der übrigen Welt verbunden waren. Aus Rassismus und Sozialdarwinismus abgeleitet war die These vom „Kulturträgertum der deutschen Rasse" besonders wirkungsvoll zur Begründung einer Expansion in östlicher Richtung. Deutlich wurde im Rahmen der alldeutschen Gesamtideologie allmählich die Linie des Antisemitismus. All diese Theorien, deren imperialistische Zielsetzung offen zutage tritt, .wurden von den Vertretern der alldeutschen Geschichtsschreibung einer entsprechenden Darstellung der Geschichte des eigenen Volkes und der anderen Völker der Welt zugrunde 12
,s
Die beste Zusammenfassung der alldeutschen Ideologie bei Kuczynski, Jürgen, a. a. Q., S. 35 (I. u. Heise, Wollgang, a. a. O., S. 78-88. Vgl. Stern, Leo, a. a. O., S. Z9.
• )*
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Hans Krause
gelegt.14 Typisch für die Alldeutschen war hierbei die „Unbekümmertheit, mit der sie ihre willkürlichen Gegenwartstendenzen in die Vergangenheit hineinprojizierten, ohne das Wesentliche des historischen Sachverhalts zu begreifen". 15 Ausgehend von den Herrschaftsansprüchen des deutschen Imperialismus wurde die von Ranke übernommene und durch Treitschke übersteigerte Machtstaatsidee verabsolutiert und diente als Basis für die Betrachtung aller historischen Epochen. In diesem Zusammenhang erschien der Krieg als legales Mittel der Politik. Historische Persönlichkeiten wurden in starkem Maße danach eingeschätzt, inwieweit sie es verstanden, Machtpolitik zu treiben und Kriege siegreich zu führen. Die Darstellung der Geschichte anderer Völker diente dem Zweck, den von den Alldeutschen entwickelten Chauvinismus und den Haß gegen die imperialistischen Gegner Deutschlands zu fördern. Dies' fand seinen Ausdruck in einer weitgehend negativ gefärbten Darstellung der Geschichte Frankreichs, des deutschen „Erbfeindes" seit Jahrhunderten, wie die Historiker zu beweisen bemüht waren; gegenüber den angeblich ständigen französischen Kriegs- und Annexionsgelüsten erschien Deutschland stets im Recht. Ebenso erschien die Treulosigkeit und.Skrupellosigkeit der englischen Politik, die Politik des Gegeneinanderausspielens der europäischen Mächte als kontinuierliche Linie; die Greueltaten des englischen Kolonialismus und Imperialismus wurden ausgemalt, die von deutscher Seite verschwiegen. Entsprechend den rassistischen und geopolitischen Konzeptionen wurden die slawischen Völker als minderwertig dargestellt, ihre Leistungen in kultureller, wirtschaftlicher und staatlicher Hinsicht wurden herabgesetzt, um auf diese Weise die deutsche Ostkolonisation und entsprechende Ansprüche des deutschen „Herrenvolkes" auf Osteuropa in der Gegenwart zu rechtfertigen. Die Geschichte des eigenen Volkes wurde einseitig in den Mittelpunkt der Weltgeschichte gestellt und in nationalistischem Sinne entstellt. Besonders die kulturellen Leistungen und die Kolonisationstätigkeit des deutschen Volkes in der Welt wurden einseitig verherrlicht, wobei häufig offen ausgesprochen wurde, daß die Deutschen nicht länger „Kulturdünger", sondern Herren des von ihnen besiedelten Landes sein sollten. Es war die große Linie des Verbandes und dementsprechend auch seiner Historiker, das „Alldeutschtum" in der ganzen Welt zu erfassen. Aus diesem Grund wurde besonders das über die ganze Erde verstreute Auslandsdeutschtum in die historische Betrachtung einbezogen. Auf innenpolitischem Gebiet zeichnete sich die alldeutsche Geschichtsschreibung durch den Haß auf alle demokratischen Bewegungen und sozialen Revolutionen im Laufe der Geschichte aus. Jetzt richtete sich diese Linie gegen bürgerlich-liberale Strömungen und vor allem gegen die Arbeiterbewegung und die Ideologie des Marxismus. 14
Eine Analyse des Geschichtsbildes der Alldeutschen fehlt bisher in den Arbeiten zur Geschichte des Verbandes. Otto Bernhard, der offizielle Historiojgraph des Verbandes, hat in seine Darstellung einen Abschnitt unter dem Titel „Der alldeutsche Gedanke in der äußeren deutschen Geschichte" (a. a. O., S. 153-51) aufgenommen, der einen zusammenfassenden Überblick zur deutschen Geschichte aus alldeutscher Sicht gibt.
15
Krück. Alfred, a. a. O., S. 4 f.
Die alldeutsche Geschichtsschreibung vor dem i. Weltkrieg
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Das Kernstück des Geschichtsbildes der Alldeutschen bildete die Verherrlichung des Preußentums, des von ihm geschaffenen militaristischen Systems und der aus ihm hervorgegangenen markantesten Persönlichkeiten, wie des Kurfüsten Friedrich Wilhelm, des preußischen Königs Friedrich II., Bismarcks, Moltkes und anderer. So wie die Gewalt- und Annexionspolitik Preußens bis zur Reichseinigung gepriesen wurde, so wurde die Anwendung dieser Erfahrungen auch für die Innen- und Außenpolitik des imperialistischen Deutschlands empfohlep. Die Idealisierung des deutschen Volkes und seiner geschichtlichen Leistungen, die Verunglimpfung der anderen Völker, die Weckung eines chauvinistischen Nationalgefühls auf der Basis eines alldeutschen Geschichtsbildes und die Darlegung des glänzenden Bildes einer künftigen deutschen „Weltpolitik" dienten dem Zweck, breite Schichten des deutschen Volkes gegen ihre eigenen Interessen für imperialistische "Ziele zu mobilisieren, sie angesichts der erhöhten Rüstungsausgaben zur Opferwilligkeit bereitzumachen und letztlich zu begeisterten Kämpfern für die Sache des Imperialismus in einem künftigen Krieg zu erziehen. *
Während die Mehrzahl der akademischen deutschen Historiker zur Richtung der Neorankeaner gehörte oder sich mindestens ihrem Ausdrucksstil anpaßte, war die alldeutsche Geschichtsschreibung in erster Linie durch eine große Zahl von Ideologen vertreten, die nicht an einer Universität wirkten. Das Gros der alldeutschen Propagandisten, die sich auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung versuchten, waren historisierende Publizisten, Vertreter der verschiedensten akademischen oder freien Berufe, für die Geschichtsschreibung eine Nebenbeschäftigung war, so vor allem Journalisten, historisch interessierte Laien, Gymnasialprofessoren, alte Generäle und andere. Starken, zum Teil auch bestimmenden Einfluß auf die Entwicklung einer alldeutschen Geschichtsschreibung nahmen aber auch die an den Universitäten tätigen Historiker, die Mitglied des Verbandes waren, wie Dietrich Schäfer, Georg von Below, Karl Lamprecht, Otto Hoetzsch, Graf du Moulin-Eckart und andere. Typisch für die Geschichtsauffassung der Alldeutschen ist das Nebeneinanderbestehen der verschiedensten Theorien und Systeme. Hierbei lassen sich jedoch zwei Strömungen erkennen, eine von Universitätshistorikern getragene, die auf den bisherigen Traditionen der akademischen deutschen Geschichtsschreibung aufbaute, und eine praktisch-populäre Richtung, die auf rassistischen, sozialdarwinistischen und geopolitischen Theorien beruhte. In entscheidenden Fragen (Idealisierung der Geschichte des deutschen Volkes, Verherrlichung des Preußentums und der Hohenzollern, antifranzösische und antienglische Note, historische Rechtfertigung der außenpolitischen Ziele des deutschen Imperialismus, Kampf gegen die Arbeiterklasse und die bürgerlich-liberalen Parteien) herrschte völlige Übereinstimmung zwischen beiden Richtungen. Unterschiede ergaben sich jedoch aus dem andersgearteten ideologischen Herkommen und der verschiedenen methodologischen Fundierung. Die Vertreter der akademischen Richtung innerhalb der alldeutschen Historiographie bauten auf den seit Ranke feststehenden Grundlagen der bürgerlichen deutschen
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Geschichtsforschung auf. Dietrich Schäfer und Georg von Below waren die profiliertesten Repräsentanten dieser Gruppe. Beide lehnten entschieden die Annahme historischer Gesetzmäßigkeiten ab, waren Verfechter des individualistischen Moments in der Geschichte und Feinde jeglicher materialistischen, kulturgeschichtlichen, positivistischen oder soziologischen Betrachtungsweise. In ihrer einseitig politisch orientierten Konzeption stand der Staat im Mittelpunkt. Schäfer und Below setzten damit die enge Konzeption der kleindeutscheq Historiker fort, verbanden sie jedoch mit den im Imperialismus neu auftauchenden Aufgaben. Charakteristisch für die alldeutsche Geschichtsschreibung ist, daß ihre akademischen Vertreter in der Öffentlichkeit relativ in den Hintergrund traten. Sie entwarfen jedoch wichtige Teile der alldeutschen Gesamtkonzeption, die dann in vergröberter und massenwirksamerer Form von den im Dienst des Alldeutschen Verbandes stehenden historisierenden Publizisten in die Breite getragen wurden. Hinzu kommt, daß die akademischen Vertreter der alldeutschen Historiographie sich eines zurückhaltenderen Tones als die historisierenden Publizisten bedienten und wenigstens bis 1914 auf Grund ihrer Stellung als Wissenschaftler und Hochschullehrer um eine gewisse Seriosität bemüht waren. Die praktisch-populäre Strömung der alldeutschen Geschichtsschreibung war weitgehend frei von der starren Ausrichtung der akademischen deutschen Historiographie um die Jahrhundertwende. Die Geschichtskonzeption ihrer Vertreter beruhte zwar einerseits auf dem Ideengut der kleindeutschen Schule, aber diese Ideologen griffen andererseits außerakademisch-historische und akademische Pseudotheorien aus anderen Wissenschaftsgebieten (Geopolitik, Sozialdarwinismus, Rassismus) auf und wandten sie insbesondere bei der Betrachtung der Gegenwart und der Perspektiven des deutschen Imperialismus an. In Kreisen außerhalb der akademischen deutschen Geschichtsschreibung suchte man die dort herrschende Erstarrung und Orientierung auf die von Ranke geschaffenen Grundlagen durch abweichende methodologische Fragestellungen zu überwinden. Die rassistisch-geopolitische Richtung, die in eine Unzahl voneinander abweichender, teilweise sich gegenseitig ausschließender Theorien zerfiel, richtete in der Folgezeit starke Angriffe gegen das Fundament der traditionellen deutschen Geschichtsschreibung. Ihre Vertreter erklärten, es gäbe historische Gesetzmäßigkeiten; gleichzeitig lehnten sie verschiedentlich die individualisierende Methode ab und beschäftigten sich mit Massenerscheinungen. Der Jurist Ludwig Kuhlenbeck, einer der Rassenspezialisten des Alldeutschen Verbandes, betonte etwa die Einheit aller Wissenschaften und erklärte, er erkenne eine unüberwindbare Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften nicht an. 1 6 In der Praxis dienten jedoch all diese Theorien - trotz ihrer scheinbar richtigeren Ansätze - ebenfalls dazu, die reaktionäre Innenpolitik und die aggressive Außenpolitik des deutschen Imperialismus zu rechtfertigen, nur aus einer anderen Sicht als die akademische Gruppe und meist mit einer brutaleren Argumentation. Ein Organ, um das sich die Rassenforscher scharten, war die von Ludwig Woltmann, dem alldeutschen Fachmann für derartige Fragen, geleitete „Politisch-anthropologische 16
Vgl. Politisch-anthropologische Revue, Jg. 3. 1904/05, S. 427 ff.
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Revue". Eines der Ziele, das sich diese Zeitschrift stellte, lautete, „die soziale und geistige Geschichte des Menschengeschlechts vöm Standpunkt der organischen Naturgeschichte zu erforschen". 1 7 Hier kam es teilweise zu scharfen Angriffen gegen die von der akademischen Richtung vertretenen Positionen. In der Folgezeit wurde diese sozialdarwinistisch-rassistisch-geopolitische Geschichtskonzeption zum wesentlichen Element der alldeutschen Historiographie, besonders wenn man ihre Rolle als Vorläuferin der faschistischen Geschichtsauffassung berücksichtigt. Die akademischen Vertreter der alldeutschen Historiographie standen diesen pseudowissenschaftlichen Theorien anfangs meist ablehnend gegenüber, nahmen aber schon vor 1 9 1 4 einzelne derartige Gedankengänge und Thesen in ihre Arbeiten auf. Diese Tendenz verstärkte sich in den Jahren des ersten Weltkrieges, als jedes Argument willkommen war, die angebliche Rechtmäßigkeit des von Deutschland geführten Krieges und der von deutscher Seite erhobenen territorialen Forderungen zu beweisen sowie die reaktionären innenpolitischen Zustände zu rechtfertigen. In verschiedenen Grundfragen verblieben jedoch Historiker vom Schlage eines Schäfer und Below auch nach 1 9 1 8 auf den seit Beginn ihrer Laufbahn vertretenen Positionen (Ablehnung historischer Gesetzmäßigkeiten, Primat der Außenpolitik, vorrangige Stellung der politischen Geschichte usw.). Im folgenden sollen einige akademische Historiker, die im Alldeutschen Verband mitarbeiteten, kurz vorgestellt werden, wobei Dietrich Schäfer als wichtigster Repräsentant dieser Gruppe am Schluß der vorliegenden Arbeit in Gegenüberstellung zu Heinrich Claß ausführlicher behandelt wird. Georg von Below stammte aus dem ostpreußischen Junkertum. Der 1858 Geborene erlangte bereits 1889 seine erste außerordentliche Professur und war seit 1891 an verschiedenen deutschen Universitäten (ab 1905 in Freiburg) als ordentlicher Professor tätig. 1 8 Durch seine rege literarische Tätigkeit erlangte er bald den Ruf eines der führenden deutschen Verfassungs- und Wirtschaftshistoriker. Below wurde in den Vorkriegsjahren zu einem der prominentesten deutschen Historiker, er war zusammen mit Meinecke Herausgeber des vielbändigen „Handbuchs der mittelalterlichen und neueren Geschichte" (seit 1903) sowie Mitherausgeber der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (seit 1 1905) und gehörte seit 1 9 1 0 dem Komitee bekannter Historiker an, das dem Herausgeber des führenden Organs der deutschen Historiker, der Historischen Zeitschrift, beigegeben war. Der überkritisch und kämpferisch veranlagte Historiker beschäftigte sich vor allem mit Fragen der Entstehung der deutschen Städte und der Entwicklung des deutschen Staates im Mittelalter, wobei er sich gegen zahlreiche bekannte Vertreter des Fachgebiets (Schmoller, Haller, Gierke, Bücher und Sombart) wandte. Below, durch seine Herkunft dazu veranlagt, wurde von Treitschke und den kleindeutschen Historikern 17 18
Zitiert nach dem Umschlag der Zeitschrift. Über Below vgl. Below, Mirmiev., Georg von Below, Stuttgart
. 1 9 5 0 ; Below, Georg v., Autobiographie, in: Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selb stdat Stellungen, hg. v. S. Stein-
berg, Bd. 1, Leipzig 192J, S. 1-49; Klaiher, Ludwig, Georg von Below. Verzeichnis seiner Schriften, Stuttgart 1929 (Beihefte zur Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, H. 1 4 ) .
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Hans Krause
nachhaltig beeinflußt und sah wie diese im Machtstaatsgedanken den Ausgangspunkt seiner Forschungen. E r war daher in der Folgezeit bemüht, den staatlichen Charakter des deutschen Reiches im Mittelalter nachzuweisen, besonders in seinem Hauptwerk „Der deutsche Staat des Mittelalters" (i. und einziger band 1914). Below war ein ausgesprochener Reaktionär; Historiker wie Schmoller, Lamprecht oder Gothein waren daher wissenschaftlich wie politisch seine Gegner. Bis zu welchem Grade Below seinen Haß steigern konnte, bekam besonders Lamprecht zu spüren.1* Schon frühzeitig erkannte Below jedoch in Dietrich Schäfer einen Bundesgenossen. E r griff in den Streit zwischen Gothein und Schäfer auf Seiten des letzteren ein 2 0 und schrieb in der Folgezeit mehrere positive Rezensionen zu Schriften Schäfers. Als Schäfer 1913 seine „Aufsätze, Vorträge und Reden" in zwei Bänden herausgab, widmete Below dieser Ausgabe sogar zwei Rezensionen, in denen er den Standpunkt Schäfers in wissenschaftlicher und politischer Hinsicht voll und ganz billigte.21 Der bei Below von Hause aus vorhandene Nationalismus preußisch-deutscher Prägung entwickelte sich mit Beginn der imperialistischen Periode wie bei Schäfer zum Chauvinismus alldeutscher Prägung. -Wie sein Gesinnungsgenosse Schäfer fühlte sich Below, der Nachfahr der kleindeutschen Schule, als politischer Historiker und verteidigte in einem Aufsatz von 19z) das „gute Recht der politischen Historiker".82 In einer Frage gab es allerdings Unterschiede zwischen beiden. Während sich Schäfer in der Beurteilung der mittelalterlichen Italienpolitik auf den Standpunkt Fickers stellte und ihn für eine politische Aktualisierung in Anspruch nahm, vertrat Below wie der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß den kleindeutschen Standpunkt Sybels, der zur Begründung der Ostexpansion in der Gegenwart politisch nützlich erschien. Während Schäfer im Rahmen des Alldeutschen Verbandes Vertreter der Nationalliberalen Partei war, kam Below von den Konservativen. Seit 1907 nahm er im Rahmen der beiden konservativen Parteien an der Tagespolitik aktiv teil. Er hatte bereits vorher für Tageszeitungen und Zeitschriften Artikel über politische Fragen geschrieben, seit 1909 nahm diese Tätigkeit jedoch beträchtliches Ausmaß an. Im Gegensatz zu Schäfer behandelte der Reaktionär Below vor allem innenpolitische Fragen. E r erwies sich hierbei als erbitterter Gegner der Demokratie und der Gewährung von Konzessionen an die breiten Massen, als Feind der Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts und Verfechter des Machtstaates in der Gegenwart. Below war damit als Mitstreiter in den Reihen der Alldeutschen willkommen. Durch seine Mitwirkung im Wehrverein stellte er sich den aggressivsten Kreisen des deutschen Imperialismus auch als Ideologe bei der unmittelbaren Kriegsvorbereitung zur Verfügung.2* Offen in den Dienst des Alldeutschen Verbandes trat Below dann während des ersten Weltkrieges, als er in verschiedenen vom Verband getragenen " Vgl. Engelberg, Ernst, Zum Methodenstreit um Karl Lamprccht, in diesem Band S. 136 f. Vgl. Göttingische gelehrte Anzeigen, Jg. 1891, Bd. J, S. 2*0-296. a Vgl. Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Jg. 12, 1914, S. 306 ff.; Das neue Deutschland, Jg. 3, 1914/15, S. in ff. 54 Below, Georg v., Das gute Recht der politischen Historiker, in:. Preußische Jahrbücher, Bd. 193, 1913, S. 183-303. Vgl. Kttczynski, Jürgen, a. a. O., S. 78. 54
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Organisationen wie der Vaterlandspartei mitwirkte. Wiederum kam es hier bei zahlreichen Gelegenheiten zur Zusammenarbeit zwischen Schäfer und Below. Beide reaktionären Historiker wirkten auch nach 1918 bei der Kolportierung der Dolchstoßlegende und in ihrem Kampf gegen die Weimarer Republik zusammen. Die Geschichtsauffassung der Schäfer und Below erhielt einen starken Rückhalt durch das Auftreten bürgerlich-imperialistischer Philosophen wie Windelband, Rickert und Dilthey, die einen absoluten Gegensatz in der Betrachtungsweise zwischen Natur- und Geisteswissenschaften proklamierten. Sie stellten in der gesellschaftlichen Entwicklung die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der historischen Vorgänge heraus und bahnten damit einem noch stärkeren Irrationalismus und Relativismus den Weg. Die Auffassungen der Dilthey, Windelband und Rickert wurden von den Alldeutschen Schäfer und Below wie von den Neorankeanern willig aufgenommen ; die Geschichtskonziption beider Gruppen wies in den grundsätzlichen Fragen keine Unterschiede auf. Was Schäfer und Below von den Neorankeanern unterschied, war vor allem die Offenheit, mit der sie als politische-Historiker auftraten. Einen Gleichgesinnten in den großen Fragen der Geschichte und Verfechter ihres Standpunktes fanden Schäfer und Below in Eduard Meyer, dem prominenten Althistoriker an der Berliner Universität. Meyer hatte seine Geschichtsauffassung zunächst in der Einleitung zum ersten Band seiner „Geschichte des Altertums" (1884) formuliert. Angeregt durch den Lamprecht-Streit faßte er seine Gedanken in einer 1902 erschienenen Schrift „Zur Theorie und Methodik der Geschichte" zusammen, in der er unter dem Einfluß Rickerts seine früheren Ansichten noch stärker relativierte. E r begann die Arbeit mit dem Satz „Die Geschichte ist keine systematische Wissenschaft", wandte sich gegen die Existenz historischer Gesetze, verteidigte die „dominierende Stellung der politischen Geschichte" und des Staates und vertrat einen schrankenlosen Subjektivismus.24 Seit den 80er Jahren waren Schäfer und Meyer miteinander befreundet 25 und wirkten auch nach ihrer Berufung an die Berliner Universität eng zusammen. Während des ersten Weltkrieges stellte sich Meyer wie sein Freund Schäfer den reaktionärsten Kreisen in Deutschland als Agitator zur Verfügung, trat als Englandfeind, Annexionist und Scharfmacher besonders in der U-Boot-Frage hervor. Schäfer, Below und Eduard Meyer bildeten in den Jahren vor dem und.im ersten Weltkrieg den konservativsten und reaktionärsten Flügel innerhalb der akademischen deutschen Geschichtsschreibung.29 Neben Dietrich Schäfer und Georg von Below wirkten verschiedene andere deutsche Universitätshistoriker in einzelnen Fragen bestimmend auf das Geschichtsbild der Alldeutschen ein. Daß zwischen ihnen teilweise Differenzen existierten, störte die maßgeblichen Kreise des Verbandes nicht, da sie jeweils das für ihre Zwecke Brauch1 barste aus der Konzeption des Betreffenden herausgriffen. 84 ,s M
Vgl. Meyer, Eduard, Zur Theorie und Methodik der Geschichte, Halle 1902, S. 1, 16, 38, 45 f. Vgl. Scbäfer, Dietrich, Mein Leben, Berlin-Leipzig 1926, S. 103 f. Vgl. Schleier, Hans, Die kleindeutsche Schule, a. a. O., S. 308; 3. II.,
a. a. O., S. 60. Philosophischen
Fakultät an das Sächsische Volksbildungsministerium, 28. 7.1933. 81
Angaben in: Slavische Rundschau, 1932, H. 5. S. 411 f.
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D Z A M , Rep. 92, Nachlaß Schmidt-Ott, A L X X I V , 1, Bd. 5, BI. 5, Bericht der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas über das Geschäftsjahr 1932/1933.
"
Arbeitsgemeinschaft
zum Studium der sowjetrussiscben
Planwirtschaft
(Arplan).
Protokolle der
Studienreise nach der Sowjetunion vom 20. August bis 12. September 1932, o. O., o. J „ hektographierte und numerierte Exemplare. Geschäftsführer der Arplan war Arvid Harnack.
Osteuropa-Studien in der Weimarer Republik
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Von den Studiengemeinschaften, die zwischen 1930 und 1932 entstanden, wurden der Entwicklung der Osteuropakunde in Deutschland neue Wege gewiesen. Eine Gruppe junger Wissenschaftler, die nicht mehr auf den Positionen dés volksfeindlichen Antisowjetismus und des aggressiven Revanchismus stand, war aufgetreten und begann sich zu formieren. 92 Der Machtantritt der Faschisten zerschlug diese Ansätze. E r sicherte den reaktionärsten und schlimmsten Tendenzen in der deutschen Ostforschung die Alleinherrschaft. 93 Die wesentlichen Institutionen wurden im Nazisinne „gleichgeschaltet", alle Professoren für osteuropäische Geschichte wurden aus ihren Ämtern vertrieben M und durch gefügige Gefolgsmänner ersetzt. Entsprechend ihrem Werdegang in der Weimarer Republik ließ sich die Masse der Fachleute durch die Nord- und ostdeutsche .Forschungsgemeinschaft unter dem Kommando Brackmanns willig auf Kriegskurs bringen. Nach wenigen Jahren wurde der Fronteinsatz aktuell. 82
Genannt seien die Historiker und Slawisten Raissa Bloch, Wilhelm Graf, Georg Sacke, Eugenie Salkind, Leopold Silberstein.
*3 Siehe etwa die Naziprogramme zur Ostforschung von Marken, Werner, Das Studium Osteuropas als wissenschaftliche und politische Aufgabe, in: Osteuropa, Jg. 9, 1933/34. H. 7, 5.393-401; Beyer,
Hans, Der Osten und unser Geschichtsbewußtsein, in: Der deutsche Student, 193;,
S. 325-329, 458-463 ; Kobte, Wolf gang, Geistige Mobilmachung im Kampf um den Osten, in : Volk und Reich, Jg. 9, 1933, H. 8, 701-710; Loescb, Karl v., Von den mitteleuropäischen Wurzeln neudeutscher Politik, ebenda, 1933, H. 9, S. 749-786 ; Aubin, Herpiann, Grundlagen und Wege der wissenschaftlichen Forschung über den gesamtschlesischen Raum, in: Schlesisches Jahrbuch für deutsche Kulturarbeit, 1935, S. 9-28. 04
Braun, Salomon und Stählin wurden 1933, Hoetzsch 1935 entlassen.
Die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie * Leo Stern
I. D e r klerikal-militaristische Charakter der Bonner Bundesrepublik, die enge Verflechtung von Monopolkapital, Militarismus und militantem politischen Katholizismus, kommt in keiner anderen politischen Konzeption so eindeutig zum Ausdruck wie in der katholisch-restaurativen Abendland-Ideologie. E s ist durchaus kein Zufall, daß die sogenannte „Abendland"- bzw. „Europa"-Idee namentlich seit dem zweiten Weltkrieg zur politischen Zentralidee des wiedererstandenen deutschen Imperialismus und Militarismus geworden ist. E s ist auch kein Zufall, daß der politische Katholizismus im Kampf gegen die Sowjetunion, gegen das sozialistische Weltlager und die marxistisch-leninistische Weltanschauung sich mehr und mehr als das ideologische Hauptarsenal der reaktionärsten Kreise des deutschen Monopolkapitals erweist. Denn in Ermangelung anderer werbekräftiger Konzeptionen der bürgerlichen Ideologie, die man der unwiderstehlichen Wahrheit und Autorität des Marxismus-Leninismus entgegenstellen könnte, bietet die katholisch-restaurative Abendland-Ideologie eine Fülle von pseudowissenschaftlichen Argumenten, deren Ziel es ist, sowohl den Bestand des deutschen Monopolkapitals zu verteidigen als auch seine aggressiven und revanchistischen Aspirationen ideologisch zu begründen. Als Begriff schillert die „Abendlandidee" oder der „Europagedanke" in allen Farben, trotz der seit dem ersten, und insbesondere seit dem zweiten Weltkrieg ungeheuer angewachsenen „Abendland"-Literatur. In die von führenden westdeutschen Historikern gezeichnete „Abendlandidee" werden geographische, politische, historische, kulturelle, soziologische, philosophische und religiös-metaphysische Momente hineingerührt. Diese ideengeschichtlich außerordentlich vage „Abendlandidee" hat den Vorteil, daß man daraus alle „historischen Leitbilder" entnehmen kann, die der deutsche Imperialismus schon in den beiden Weltkriegen für seine machtpolitischen Aspirationen gerade brauchte und heute für die ideologische Vorbereitung eines dritten Weltkrieges von neuem benötigt. O b unter Wilhelm II., Hitler oder Adenauer - der deutsche Imperialismus hat immer wieder -„Abendland" und „Europa" gesagt, wenn er Aggression, Krieg, Eroberung und Unterwerfung anderer Völker meinte. Ausgehend von dem alten Oriens-Occidens-Begriff in der Geschichte, insbesondere von der Teilung des Römischen Reiches und dem Eindringen der Germanen in das Weströmische Reich, wird die Synthese zwischen dem romanischen und germanischen
* Durchgesehene und etwas gekürzte Fassung, zuerst veröffentlicht i n : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ( Z f G ) , J g . 10, 1961, H . z.
Die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie
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Element, die im Mittelalter in dem bestimmenden Einfluß der römischen Kirche ihren Ausdruck fand, .als „germanisch-romanisches Abendland" herausgestellt und zur historischen Sonderentwicklung von Byzanz in einen Gegensatz gebracht. 1 Die Auseinanderentwicklung des Weströmischen und Oströniischen Reiches, deren erste Phase mit dqn ostgermanischen Heerkönigen Odoaker und Theodorich und den Frankenkönigen der mcrowingischen Dynastie begann und in der römischen Kaiserkrönung Karls des Großen gipfelte, die sich im 10. und 1 1 . Jahrhundert und zur Zeit der Kreuzzüge vertiefte und mit der Eroberung Konstantinopels durch die Türken ihren Abschluß f a n d g a b und gibt der europazentrischen, insbesondere der germanozentrischen Geschichtsbetrachtung vielfache Gelegenheit, einerseits einen pseudohistorisch fundierten Ost-West-Gegensatz schlechthin zu konstruieren und andererseits das durch das „Heilige Römische Reich .deutscher Nation" repräsentierte Abendland in die Region der Metaphysik -zu erheben und von „abendländischer Sendung" zu sprechen.3 Zugleich werden ideologische Verbindungslinien vom frühen Mittelalter bis in die jüngste politische Gegenwart gezogen, um die gegen die Sowjetunion und das sozialistische Weltlager gerichtete aggressive NATO-Konzeption mit Berufung auf diesen angeblich traditionellen Ost-West-Gegensatz historisch zu fundieren. Der Kampf zwischen Westrom und Ostrom, der Kampf gegen die Hunnen im $., gegen die Awaren im 8., gegen die Magyaren im 10. und gegen die Mongolen im 13. Jahrhundert, der sog. „Beginn der europäischen Weltexpansion" in den Kreuzzügen, und „unmittelbar anschließend die Erbfeindschaft mit den Türken", der angebliche Gegensatz „zwischen der slawisch-osteuropäischen und der romano-germanischen west- und mitteleuropäischen Welt" - das alles wird zu einem Ost-WestGegensatz par exccllence erhoben, der, wie Heinz Gollwitzer beziehungsvoll bemerkt, „heute mehr denn je die Physiognomie Europas kennzeichnet".4 Für den enragierten Antikommunisten Peter Rassow ist die Geschichte „nichts Vergangenes und nichts Gegenwärtiges, sondern der Inbegriff der Kräfte, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart gestaltend einwirken". 5 Das logische Endglied dieser demagogischen 1
Vgl. Wallach, Richard, Das abendländische Gemeinschaftsbewußtsein im Mittelalter, LeipzigBerlin 1928, Einleitung (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 34); ferner Gollwitzer, Heinz, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1951, S. 9 ff.;"derselbe. Zur Wortgeschichte und Sinndeutung von „Europa", in: Saeculum, Bd. 2, 1951, H. 2, S. 169 f.; Aubin, Hermann, Der Aufbau des Abendlandes im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift (HZ), Bd. 187, 1959, H. 3, S. 33 ff.
- Vgl. Obnsorge, Werner, Abendland und Byzanz. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der byzantinisch-abendländischen Beziehungen und des Kaisertums, Weimar 1958; Hylander, Franz Josef, Universalismus und Föderalismus. Zur Kulturkatastrophe des Abendlandes. München 1946, S. 15 f. 3
Vgl. Freyer, Hans, Weltgeschichte Europas, 2. Aufl., Stuttgart 1954; ferner Scbulze-Gaevemitz, Gerhart v„ Zur Wiedergeburt des Abendlandes, Berlin 1934; Münzer, Horst, Die Mission des Abendlandes. Versuch einer modernen Geschichtsphilosophie im Geiste des Idealismus, Basel 1914. * Gollwitzer, Heinz, Europabild und Europagedanke, a a. O., S. 12. 5 Rassow, Peter, Die geschichtliche Einheit des Abendlandes, Köln-Graz 1960, S. II.
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Beweisführung ist: Kampf der vereinigten Weltreaktion mit den U S A an der Spitze gegen die Sowjetunion und das von ihr geführte Weitfriedenslager. Für dieses „Europagedenken" werden alle bedeutenden Geister auf dem Gebiete der Wissenschaften, Philosophie, Politik und Dichtkunst in Anspruch genommen: Aristoteles, Plato, Vergil, Dante, Erasmus, Shakespeare, Bodin, Hugo Grotius, Voltaire, Sully, Montesquieu, Rousseau, Prinz Eugen, Leibniz, Napoleon,; Herder, Goethe, Schiller, Kant, Fichte und Hegel, die deutschen Romantiker und sogar Metternich. D a wird von Vergil als „Vater des Abendlandes" von „Grundlagen der abendländischen Kultur" 7 , von „abendländischem Gemeinschaftsbewußtsein" 8 , von der „in allen Brüchen und Auseinandersetzungen staunenswerten Einheit Europas" vom 9.-19. Jahrhundert 9 , von der „abendländischen Seele und ihren Wandlungen" 1 0 , von „abendländischer Metaphysik" u , „abendländischem Geist" und „abendländischen Kulturwerten" 1 2 , von der „abendländischen Sendung" 1 3 und von der „Entscheidung des Abendlandes" 1 4 gegen den „roten Imperialismus" gesprochen, da werden kühne Ausflüge in die Vor- und Frühgeschichte, in die Kultur-, Kunst-, Philosophie- und Musikgeschichte 15 gemacht, da wird von „abendländischem Geschichtsdenken" 16 , vom „ewigen Abendland" 1 7 in betontem Gegensatz zu Spenglers „Untergang des Abendlandes" deklamiert, da werden in hohen Tönen die „Geschichtliche Einheit des Abendlandes" 1 8 , die „abendländische Tradition in der Philologie" 1 9 , die „Berufung • Vgl. Haecker, Theodor, Vergil - Vater des Vaterlandes, München 1947. ' Vgl. Hiltebrandt, Philipp, Grundlagen der abendländischen Kultur, Leipzig 1940. 8 Wallach, Riebard, Das abendländische Gemeinschaftsbewußtsein im Mittelalter, a. a. O., S. 7. 0 Heer, Friedrieb, Die Tragödie des Heiligen Reiches, Wien u. Zürich 1951, Vorwort; derselbe, Aufgang Europas, Wien-Zürich 1949; derselbe, Europäische Geistesgeschichte, Stuttgart 195j, S. 56 f. 10
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Vgl. Märker, Friedrieb, Wandlungen der abendländischen Seele. Psychologische Bildnisse unserer Kulturepochen, Heidelberg 195J. Vgl. Heimsoelh, Heinz, Die sechs großer. Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des- Mittelalters, }. Aufl., Stuttgart (1954). Vgl. Muhs, Karl, Gcschichte des abendländischen Geistes. Grundzüge einer Kultursynthese, Berlin 1954. Münzer, Horst, Die Mission des Abendlandes, a. a. O., Heimpel, Hermann, Deutschlands Mittelalter - Deutschlands Schicksal, in: Deutsches Mittelalter, Leipzig 1941. Rocker, Rudolf, Die Entscheidung des Abendlandes, 2 Bde. Hamburg 1949. Vgl. Adama van Scheltema, Frederik, Die geistige Mitte. Umrisse einer abendländischen Kulturmorphologie, München 1947; Der Mythus von Orient und Okzident. Eine Metaphysik der Alten Welt. Aus den Werl en von J. }. Bacbofen, hg. von Manfred Schroeter, München 1926; Rüssel, Bertrand, Philosophi • des Abendlandes, Darmstadt 1950; Dessauer, Friedrieh, Erbe und Zukunft des Abendlandes, Hamburg 1956; Mersmann, Hans, Musikgeschichte in der abendländischen Kultur, Frankfurt/M. 19;;; Huizinga, ]oban, Im Banne der Geschichte, Amsterdam 1942; Schule, Geschichte und Kultur, Stuttgart 1954. Brunner, Otto, Abendländisches Geschichtsdenken, Hamburg 1954. Ammann, Josef, Ewiges Abendland, Bern 1944. Rassotä, Peter, a. a. O. Haas, Helmuth de, Philologie als geistige Großmacht (Aufsatz über Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter), in: Hochland, Jg. 48, 1955/56. S. 521.
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des abendländischen M e n s c h e n " d i e „Altersreife des Abendlandes" 2 1 und die „Gestaltung des Abendlandes" 2 2 verkündet, um nach diesen weitgespannten geistigen Umwegen und historischen Exkursen in die Vergangenheit - beim bundesrepublikanischen Deutschland und seiner revanchistischen NATO-Politik zu landen. Schon Friedrich Engels geißelte seinerzeit in seiner Kritik an Eugen Diihring diese Art der Pseudowissenschaft, „die sich heutzutage in Deutschland überall in den Vordergrund drängt und alles übertönt mit ihrem dröhnenden - höheren Blech. Höheres Blech in der Poesie, in der Philosophie, in der Politik, in der Ökonomie, in der Geschichtsschreibung, höheres Blech auf Katheder und Tribüne, höheres Blech überall, höheres Blech mit dem Anspruch auf Überlegenheit und Gedankentiefe im Unterschied von dem simplen, platt-vulgären Blech anderer Nationen, höheres Blech das charakteristischste und massenhafteste Produkt der deutschen intellektuellen I n d u s t r i e . . . " 2 3 Besonders augenfällig tritt die politische Aktualisierung der „Abendlandidee" in den Hans Rothfels zum 60. Geburtstag und Hermann Aubin zum 70. Geburtstag gewidmeten Festschriften zutage. In der ersteren, „Deutschland und Europa" 2 4 genannten Festschrift mühen sich die militantesten westdeutschen Historiker Theodor Schieder, Gerhard Ritter, Wilhelm Treue, Percy Ernst Schramm, Walther Hubatsch, Werner Conze, Reinhard Wittram, Waldemar Gurian, Werner Markert, Arnold Bergstraesser und Walter Bußmann um den Nachweis, daß die Katastrophen von 1 9 1 8 und 194; bei einer „vernünftigen Staatskunst" (so Friedrich Meinecke im Vorwort) hätten vermieden werden können. 25 Die direkte oder indirekte Konsequenz ihres historischen Plädoyers ist, daß diese „vernünftige Staatskunst" heute von Adenauer repräsentiert wird, den sie als Staatsmann mindestens in die Region eines Bismarck oder Stresemann erheben. In der Hermann Aubin zugedachten Festschrift „Deutscher Osten und slawischer Westen" 2 6 geht es den abendländischen Ostforschern mit Hans Rothfels an der Spitze, den Hugo Moser, Heinz Wissemann, Dagobert Frey, Willi Dorst, Walter Gerstenberg, Werner Markert, Werner Conze, Bernhard Stasiewski und Eugen Lemberg darum, die sogenannte „Wechselseitigkeit der Beziehungen im gemeinsamen Schicksalsraum des europäischen Ostens" aufzuzeigen und den gedanklichen Weg „von der besonderen Prägung und Leistung des deutschen Ostens . . . aus dem Bereich der Vergangenheit in die Problematik der Gegenwart" zu führen. Wir sehen: Nach der heillos kompromittierten „Mitteleuropa"-Idee eines Friedrich Naumann im ersten Weltkriege und der berüchtigten „Neuordnung Europas" durch
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Knittermeyer, Hinrieb, Jacob'Burkhardt. Deutung und Berufung des abendländischen Menschen, Stuttgart 1949. Plenge, Jobann, Die Altersreife des Abendlandes, Düsseldorf 1948. Dawson, Christopher, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einführung in die Geschichte der abendländischen Einheit, Köln 1950. Endels, Friedrieb, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1926. S. 6 f. Vgl. Deutschland und Europa, Festschrift für Hans Rothfels, hg. W. Conze, Düsseldorf 1951.
" Vgl. Cajioe, B. U.t O sanaAHorepwaHCHoii peanUHOHHOfi HCTopHorpaij)HI! Hoßoro U HO 28
Befiiuero BpeMemm, in: Hoßan h HOBefimafl HcxopHH 196°. 4. S. 115 f. Deutscher Osten und slawischer Westen. Hermann Aubin zum 70. Geburtstag, Tübingen 195 j.
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Hitler im zweiten Weitkriege ist der katholisch-restaurativen Abendlandidee in der dritten Phase der allgemeinen Krise des Kapitalismus die A u f g a b e zugefallen, die aggressiven Eroberungsziele des wiedererstandenen
deutschen Imperialismus
Militarismus auf neue Art zu begründen und sie in Gestalt der
und
„Europäischen
Integration" der nach dem zweiten Weltkriege entstandenen weltpolitischen Situation anzupassen. D i e weitausholenden Exkurse der westdeutschen Historiker und Publizisten in das christlich-abendländische Mittelalter, in die griechisch-römische Antike, ja in die Vor- und Frühgeschichte haben im Grunde nichts anderes zum Ziel, als den sehr aktuellen revanchistischen Bestrebungen des deutschen Imperialismus die entsprechende historische Weihe und christliche Legitimation für einen Kreuzzug gegen den „bolschewistisch-atheistischen Osten" zu geben.
II. Um sich mit der klerikal-imperialistischen Abendland-Ideologie prinzipiell auseinanderzusetzen, muß man die Genesis der „Abendlandidee" und ihre Wandlungen bis zum ersten Weltkrieg in ihren wichtigsten Etappen kennen. Als politische Konzeption geht die katholisch-restaurative Abendlandidee auf die Zeit der Französischen Revolution zurück und auf die feudal-absolutistische Reaktion, die nach dem Sturz Napoleons in ganz Europa einsetzte. Ihren theoretischen Niederschlag fand die Abendlandidee in der sogenannten romantischen Staatswissenschaft eines Friedrich Schlegel, Josef Görres, Friedrich von Hardenberg (Novalis), Franz von Baader, A d a m Müller, Friedrich von Gentz, K a r l Ludwig von Haller u. a. 2 7 Als
ideologische
Gegenbewegung
gegen
A u f k l ä r u n g , Humanismus,
und Reformation griff die Romantik bewußt auf die
Renaissance
theokratisch-ständisch-mon-
archische Ordnung des Mittelalters zurück, auf Irrationalismus und Mystik als ideologisches Gegengewicht gegen die rationalistisch-individualistische Aufklärung und ihre demokratisch-republikanischen Auswirkungen in der französischen bürgerlichen Revolution. D i e auf Tradition und Legitimität beruhende organische Staatsauffassung wurde zum Angelpunkt des reaktionären Staatsideals schlechthin, das die Romantiker im sacerdotium und imperium, d. h. im hierarchischen Verhältnis zwischen Papsttum und Kaisertum, zwischen der kirchlichen und weltlichen Gewalt des Mittelalters verwirklicht sahen. 28 „ D i e Romantiker träumen davon, die mittelalterlichen Zustände wiederherzustellen und auf organische Formen zurückzugreifen, welche das Jahr 1789 vernichtet hatte . . . Der Staat ist ein Werk Gottes. Gott ist der höchste und einzige Herrscher, alle irdischen Gewalthaber sind nur Gottes Stellvertreter, seine Lehensleute." ::
V g l . Gollicitzer,
23
Vgl. Heer, Friedrich,
29
Baxa, Jakob,
Heinz,
29
Europabild und Europagedanke, a. a. O., S. 174 ff.
D i e Tragödie des Heiligen Reiches, a. a. O., S. 141 f.
Gesellschaft und Staat im Spiegel deutscher Romantik, J e n a
1924,
Einleitung;
derselbe,
Einführung in die romantische Staatswissenschaft, 2. A u f l . , J e n a 1931, S. 64 ff.; Spatin,
Olbrnar.
D i e Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre. 20. Aufl., Leipzig 1930, S. 91 Ii. ( K a p i t e l :
D i e Romantiker).
Die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie
405
Die geistigen Ahnen der deutschen romantischen Staatswissenschaft waren der konservative englische Staatsmann Edmund Burke (1729-1797) mit seinen 1790 erschienenen „Betrachtungen über die Revolution in Frankreich", dann die reaktionären französischen Schriftsteller Joseph de Maistre (1754-1821) und Louis Gabriel Vicomte de Bonald (1753-1840). Für die deutschen Romantiker, die auch als Protestanten in der katholischen Kirche den Inbegriff und den Hort ihres reaktionären Gesellschafts- und Staatsideals erblickten und die, wie Adam Müller, Gentz u. a., zum katholischen Glauben übertraten, reduzierte sich das Erlebnis der Französischen Revolution auf einen mystischen Kampf zwischen Aufklärung und Christentum, wobei sie, mit Novalis, das Christentum direkt mit Europa gleichsetzten, als dessen geistige Mitte sie Rom bezeichneten. In dem immer wieder und auch nach dem zweiten Weltkriege neuaufgelegten Fragment von Novalis „Die Christenheit oder Europa" heißt es gleich zu Beginn: „Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte." 30 Adam Müller, Friedrich Gentz, die geistigen Führer der klerikal-feudalen Reaktion der nachnapoleonischen Zeit und im publizistischen Dienste Metternichs, kämpften im Sinne der politischen Zielsetzungen der Heiligen Allianz in Wort und Schrift leidenschaftlich für eine katholisch-restaurative Erneuerung Europas. Die Abendlandidee romantischer Prägung, die im wesentlichen unter der Losung „Zurück zum Mittelalter" stand, verlor sich jedoch im selben Maße aus dem Bewußtsein der politischen Öffentlichkeit, wie die gegen das Metternichsche System gerichteten drei Wellen der bürgerlich-liberalen Bewegung, die unmittelbar nach dem Wiener Kongreß einsetzende Welle, dann die Wellen der dreißiger und vierziger Jahre, das geistige und politische Leben des Vormärz zu beherrschen begannen. Aber immerhin: Obwohl eine Ideologie der Restauration, die die anachronistisch gewordenen feudalen Verhältnisse idealisierte, hat die Romantik für die quellenkritische Erforschung des Mittelalters im Sinne des bürgerlichen Historismus einen gewissen Anstoß gegeben, wenngleich der Hauptanstoß in Deutschland von dem nationalen Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft herkam. Das Wirken des Freiherrn vom Stein, von Scharnhorst, Gneisenau, Boyen, Grolman, Clausewitz, Jahn und E. M. Arndt auf politischem Gebiet fand in den Arbeiten von Fichte, Hegel, Pertz, 3öhmer, Niebuhr, Eichhorn, Savigny, Heinrich von Kleist und der Gebrüder Grimm die Entsprechung auf historischem Gebiet: Mit dem Wissen des deutschen Volkes um seine geschichtliche Vergangenheit sollte sein politisches Nationalbewußtsein zum Kampf für die nationale Einheit Deutschlands geweckt werden. 31 In dem Maße, wie diese nationale, aus der Niederlage und der Erhebung Preußens herrührende kleindeutsch-preußische Komponente in die deutsche Geschichtsschreibung Eingang fand, um in der Zeit zwischen 1848 und 1870/71 zur schlechthin herrschenden Richtung zu werden, traten die großdeutsch-katholisch-habsburgischen Gedankengänge der Roman.tiker in den Hintergrund. Nicht jedoch deren Europa- bzw. die Abendlandidee, die 30
Novalis,
D i e Christenheit oder Europa, hg. v. J . Schüddekopf, Hamburg 1946, S. 4 (Flug-
schriften : H. 1). 51
Vgl. Stern, Leo, Gegenwartsaufgaben der deutschen Geschichtsforschung, Berlin 1952, S. 14.
4o6
Leo Stern
nach der Bismarckschen Reichseinigung in säkularisierter Gestalt zur Zentralidee einer germanozentrisch und machtpolitisch orientierten deutschen Geschichtsschreibung werden sollte. D i e ins Machtpolitische transponierte „Abendlandidee" erlangte von zwei Seiten her in der deutschen Geschichtsschreibung neue Nahrung: vom sogenannten „Europäismus" Rankes, der in der griechisch-römischen Kultur nur eine „Vorhalle" der abendländischen romanisch-germanischen Kultur erblickte, wobei er den Akzent vornehmlich auf das germanische Element und die geradezu mystische Rolle des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation legte. In der Auffassung Rankes wurde die Einheit der heterogenen Elemente des jungen Abendlandes durch die geistliche Autorität des Papstes gewährleistet, die weltliche Herrschaft jedoch durch die germanischen Geschlechter, namentlich durch K a r l den Großen. 3 2 Auf der durch K a r l den Großen bewirkten Zusammenfassung Galliens, Germaniens und Italiens beruhte nach Ranke die geheiligte Verbindung der Völker des Abendlandes. 3 3 Auf der anderen Seite war es die kulturphilosophisch sublimierte Abendlandidee eines Jacob Burckhardt, der die Begriffe der „Romanitas" und der „Katholizität" zu einem integrierenden Bestandteil seines philosophisch-ästhetischen „Europabildes" erhob. In die deutsche bürgerliche Geschichtsschreibung des ausgehenden 19. Jahrhunderts fanden diese Ideen Jacob Burckhardts breiten Eingang, und bis auf den heutigen T a g werden sie in der sogenannten „Abendland"-Literatur in mannigfacher A r t paraphrasiert. Namentlich über den staatlich geförderten Einfluß Rankes und seiner Schule auf die deutsche Jugend vor dem ersten Weltkrieg gibt Ludwig Dehio interessante A u f schlüsse: „ . . . der Staat konnte es wohl zufrieden sein, wenn sich eine Anschauungsweise auf den Lehrstühlen seiner Universitäten ansiedelte, die die Taten der Regierenden so staatsfreudig zu deuten verstand . . . D i e Weltbühne lief in det öffentlichen Aufmerksamkeit der europäischen den Rang ab! Deutschland aber, bisher so beängstigend zusammengepreßt, atmete freier, seine Pulse schlugen freudiger. War etwa seine europäische Position jetzt hinreichend gefestigt, um den angestauten Energien seiner jugendstarken Zivilisation zu gestatten, sich ebenfalls in der globalen Politik zu betätigen und den Aufstieg des Reiches fortzuführen über die Stufe rein festländischer Erfolge hinaus auf das Niveau der älteren Großmächte? E s war, als ob die Kulissen der kontinentalen Bedrängnis beiseite geschoben zum ersten Male der verspäteten Nation den Blick in die Weite freigaben. So bildeten sich denn am E n d e jener neunziger Jahre Wunschbilder, die als Leitbilder dem hochgemuten Aufbruch in den deutschen Imperialismus voranschweben s o l l t e n . . . " 3 4 E s waren die RankeSchüler Max Lenz, Hans Delbrück, Otto Hintze, Hermann Oncken, Erich Mareks, Friedrich Meinecke u. a., die die germanozentrisch ausgerichtete Abendlandidee des „Ersten Deutschen Reiches" zielbewußt mit den imperialistischen Bestrebungen des „Zweiten Deutschen Reiches" zu verbinden begannen, genauso wie die deutschen
M M
34
Vgl. Gollwitzet, Heinz, Europabild und Europagedanke, a. a. O., S. 276. Vgl. ebenda und Büttner, Theodora, „Abendland"-Ideologie und Neo-Karolingertum im Dienste der Adenauer-CDU, in: ZfG, Jg. 7, H. 8, S. 1809 ff. Dehio, Ludwig, Ranke und der deutsche Imperialismus, in: HZ, Bd. 170, 1950, H. 2, S. 508/309.
Die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie
407
Historiker in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen die rassistisch-aufgeputzte Abendlandidee in den Dienst der aggressiven Ziele des „Dritten Reiches" stellten. 34 „Keiner von denen, die das Dritte Reich vorbereitet und begrüßt haben", heißt es bei Hermann Heimpel, „versäumt es, von jenem Ersten Reich zu sprechen, von dem .Reich', das wir über die Vorläufigkeit des Zweiten Reiches wieder haben als unser Urbild." s« Doch um die Jahrhundertwende erwies sich die „Europaidee" sowohl in der katholisch-restaurativen Konzeption als auch in der durch Ranke und Burckhardt umgeprägten Form schon als zu eng, um den bereits auf die Neuaufteilung der Welt gerichteten Bestrebungen des deutschen Imperialismus zu genügen. Sie wurde durch die „Machtstaats"-Idee ersetzt Während die Ranke-Schüler Max Lenz, Hans Delbrück, Otto Hintze, Hermann Opcken, Erich Mareks, Friedrich Meinecke u. a. die weitgespannten Eroberungsziele des deutschen Imperialismus in akademisch geschliffener Form vor der sogenannten deutschen „Bildungselite" vortrugen, beeinflußten die alldeutschen Nachfolger eines Sybel und Treitschke, die Dietrich Schäfer, Johannes Haller, Heinrich Claß u. a., mit ihrer hemmungslosen national-chauvinistischen, antislawischen, antisemitischen und antimarxistischen Demagogie breite Kreise des Mittelstandes und des Kleinbürgertums. 37 In der kathólisch-restaurativen Konzeption der deutschen Romantiker geisterte die Abendlandidee bis zum ersten Weltkriege nur noch auf den Hinterhöfen der deutschen bürgerlichen Geschichtsschreibung, in der bereits die „Machtstaatsidee" dominierte. Nach der Niederlage des deutschen Imperialismus im Jahre 1918 - die bereits die ganze Brüchigkeit der Bismarckschen Reichsgründung offenbarte - erlangte sie jedoch von neuem höchste Aktualität. E s handelte sich dabei jedoch um Gedankengänge, die von den militanten katholischen Publizisten F. J . Büß, Ernst von Lasaulx, Josef Edmund Jörg und insbesondere von Constantin Frantz entsprechend den deutschen Verhältnissen der fünfziger und sechziger Jahre umgeformt wurden. Obwohl selbst Protestant, hatte Constantin Frantz im Kampfe gegen den Nationalliberalismus und gegen die Bismarcksche kleindeutschpreußische Lösung der Reichseinigung die gleichen politischen Ideen verfochten wie Büß, Lasaulx und Jörg, nämlich einen katholisch-föderativen Reichs-Universalismus. Danach hätte das Deutsche Reich, wenn es nach dem Vorbild der habsburgischen Donaumonarchie errichtet worden wäre, eine größere Garantie sowohl für seinen Bestand als auch für die politische Hegemonie in Europa erlangt als durch Bismarcks problematische kleindeutsch-preußische Lösung. ää
Vgl. Dettelbacb, Hans v., Genialisierung der Macht. Die deutsche Aufgabe in Europa, München •933-
;,G
Heimpel, Hermann, Deutschlands Mittelalter - Deutschlands Schicksal. 2 Reden, Freiburg 19J5, S. 9 (Freiburger Universitätsreden, H. 12).
37
Vgl. Jerussalimski,
A. S., Die Außenpolitik und Diplomatie des deutschen Imperialismus Ende
des 19. Jahrhunderts, Berlin 1954, S. 188 (f.; derselbe, Die Ideologie des deutschen Imperialismus - die Ideologie des Krieges, in: Der deutsche Imperialismus und der Zweite Weltkrieg, i960, S. 160 ff.
Berlin
Leo Stctn
408
D a ß die „ A b e n d l a n d " - I d e o l o g i e des revanchistischen deutschen Imperialismus heute wieder auf die Ideen eines Constantin Frantz zurückgreift, ist durchaus kein Z u f a l l . D e r deutsche Revanchismus, der die Signatur der unheiligen A l l i a n z von Monopolismus, Militarismus und politischem K l e r i k a l i s m u s trägt, mobilisiert f ü r seine Z w e c k e a l l e reaktionären Ideen, die sich in der deutschen und europäischen Geistesgeschichtc vorfinden, und es ist gerade die katholisch-föderative Reichsidee, die seinen Zielen am besten entspricht. D i e „ A b e n d l a n d i d e e " f a n d jedoch in die deutsche bürgerliche Geschichtsschreibung der J a h r h u n d e r t w e n d e auch von einer anderen Seite her E i n g a n g . B e d i n g t durch die Interessen der imperialistischen Bourgeoisie, die nach der Schaffung des
eigenen
nationalen M a r k t e s auf der Suche nach internationalen Märkten und Einflußsphären w a r und bereits begehrlich über die Grenzen des eigenen L a n d e s hinausblickte, nahm die A b e n d l a n d i d e e eine liberal-weltbürgerliche F ä r b u n g an. In Deutschland w a r es Friedrich Meinecke, der in seinem v i e l f a c h neuaufgelegten B u c h und N a t i o n a l s t a a t " 3 8
dieser imperialistischen
Grundhaltung
„Weltbürgertum
der deutschen
geoisie politischen A u s d r u c k gab. D i e ins Kosmopolitische gewendete
Bour-
Europaidee
sollte dem Vordringen des deutschen M o n o p o l k a p i t a l s in alle E r d t e i l e ideologisch die W e g e ebnen. D e r infolge seines Zuspätkommens besonders" aggressive und raubgierige deutsche Imperialismus bediente sich in seiner „ P l a t z an der Sonne"-Konzeption dieser kosmopolitischen E u r o p a - I d e o l o g i e mit aufdringlichem E i f e r . In seinem Streben nach N e u a u f t e i l u n g der W e l t proklamierte er bereits um die Jahrhundertw e n d e die I d e e der „Vereinigten Staaten v o n E u r o p a " , um durch Beseitigung der vorhandenen Grenzen und Zollschranken eine ökonomische, politische und militärische Hegemonie in E u r o p a zu errichten. 3 9 E i n besonders exponierter Vertreter
dieser
Konzeption w a r der nationalsoziale Publizist und Politiker Friedrich N a u m a n n . 4 0 F ü r die Haltung der opportunistischen Führer in der deutschen Sozialdemokratie ist es sehr bezeichnend, d a ß sie die reaktionäre Losung des deutschen Finanzkapitals nach Schaffung der „Vereinigten Staaten v o n E u r o p a " schon um die Jahrhundertwende mit größtem N a c h d r u c k unterstützen. D i e s e Sympathie, die sie nach 1 9 1 8 in noch verstärktem M a ß e der reaktionären „ P a n e u r o p a - I d e e " entgegenbrachten, steigerte sich nach 1945 zur offenen Unterstützung der revanchistischen Ideen der „Europäischen Integration" A d e n a u e r s . Schon 1898 begrüßte K a r l K a u t s k y mit Freuden die A u f hebung der Zollschranken, die die L ä n d e r E u r o p a s voneinander trennen, und
1911
erblickte er in der Herstellung der „Vereinigten Staaten v o n E u r o p a " geradezu eine Sicherung des Friedens. 4 1 Lenin hat diese opportunistische A u f f a s s u n g schärfstens zurückgewiesen: die „Vereinigten
Staaten von E u r o p a sind unter
kapitalistischen
Verhältnissen gleichbedeutend mit Übereinkommen über die Teilung der K o l o n i e n .
58
Vgl. Meinecke, Friedrieb,
Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des dcutschcn
Nationalstaates, München-Berlin 1928. M
Vgl. Heuer, Heinz, Die imperialistische Europaidee nach dem zweiten Weltkrieg, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, J g . 8, 1960, H. 1/2, S. 40.
40
Vgl. Theodor,
41
Vgl. Heuer, Heinz, a. a. O., S. 40 f.
Gertrud,
Friedrich Naumann oder der Prophet des Profits, Berlin 1957.
Die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie
409
Unter kapitalistischen Verhältnissen ist. jedoch jede andere Basis, jedes andere Prinzip der Teilung als das der Macht unmöglich."
42
Diese Feststellung Lenins ist durch die
E r f a h r u n g der ganzen nachfolgenden Z e i t bis in die T a g e der Montanunion, des E U R A T O M S , der E W G und der E F T A tausendfach bestätigt worden. W i r sehen: D i e Kontinuität in der Politik des deutschen Imperialismus findet trotz seiner N i e d e r l a g e n von 1 9 1 8 und 1945 ihren Ausdruck in der Kontinuität der I d e o l o g i e und der politischen Grundkonzeption. D a w a r es nur zu naheliegend, daß der deutsche Imperialismus nach der Kompromittierung des Naumannschen und Hitlers „ N e u o r d n u n g E u r o p a s " auf
„Mitteleuropa"-Plans
die katholisch-restaurative
„Abendland"-
bzw. „ E u r o p a i d e e " zurückgriff, um in zeitgemäßer T a r n u n g seine alten aggressiven Z i e l e von neuem zu propagieren und ideologisch einen dritten Weltkrieg
vorzu-
bereiten.
III. In V o r a h n u n g der kommenden
Niederlage
hatte E r i c h Mareks, gleich
Friedrich
N a u m a n n , mitten im ersten Weltkriege einen „ M i t t e l e u r o p a " - P l a n konzipiert, dessen G r u n d f o r m seither zum eisernen Bestand der imperialistischen deutschen „ E u r o p a " Politik gehört. E r i c h Mareks v e r k ü n d e t e : „ E i n neues Mitteleuropa unter deutscher Führung steigt d a v o r uns a u f , als Vorstellung, als B i l d , als M ö g l i c h k e i t : nicht v o n Deutschland beherrscht, aber v o n Deutschland überragt und beschirmt, mit Deutschland, dem d e u t s c h e n ^ N a t i o n a l s t a a t . . . als K e r n und H a l t ; ein Mitteleuropa, in dem die West- und Südslawen, die europäischen, die römisch-katholischen S l a w e n , mit uns Deutschen zusammenstehen, die M a g y a r e n dazu, vielleicht einmal noch andere, noch viel weitere angelehnte Staaten und Stämme. E s w i r d kein einheitliches Staatswesen, nicht einmal ein Bundesstaat, höchstens ein Staatenbund sein können."
43
In den gleichen Bahnen bewegte sich auch der „ M i t t e l e u r o p a " - P l a n Friedrich N a u manns, der schon v o r dem K r i e g e , insbesondere nach dem Scheitern der alldeutschen Kriegsziele
auf
die
Bismarcksche kontinentaleuropäische
Konzeption
zurückgriff,
um Deutschlands hegemoniale Stellung in E u r o p a durch die Schaffung einer supranationalen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Union zu sichern. 4 4 Unter christlich-sozialem Anstrich sollte vom kaiserlichen Deutschland eine „ v e r n ü n f t i g e Großraumordnung"
45
geschaffen werden, f ü r deren Bestand er die deutsch-franzö-
sische Verständigung als Voraussetzung ansah. 4 6 W a h r l i c h : die Verbindungslinien, die 42
JS
44 45
,e
Lenin, W. /., Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa, in: Werke, Bd. 21, Berlin i960, S. 344. Mareks, Erich, Mannet und Zeiten. Aufsätze und Reden zur neueren Geschichte, Bd. 2, 4. Aufl., Leipzig 1916, S. 258/259. Vgl. Theodor, Gertrud, a. a. O., S. 114 f. Vgl. Görlitz, Walter, Pfarrer, Politiker, Prophet (Zum 100. Geburtstag Friedrich Naumanns), in: Die Welt, Hamburg, v. 26.3. i960, Nr. 73. Vgl. Hcuss, Theodor, Friedrich Naumann zu seinem 100. Geburtstage, in: Frankfutter Allgemeine Zeitung, v. 25.3. i960, Nr. 72.
Leo Stern'
410
von dem katholisch-föderativen „Mitteleuropa"-Plan eines Constantin Frantz zu den „Mitteleuropa"-Plänen eines Erich Mareks und Friedrich Naumann, zu Hitlers „Neuordnung Europas" und zur gegenwärtigen „Integration Europas" hinführen, liegen klar zutage. Nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917 und dem Erlebnis der Novemberrevolution 1918 hatte' die imperialistische Europaideologie extrem reaktionäre Züge angenommen: Sie wurde der Ausdruck eines hemmungslosen AntikQmmunismus. Der Zentralgedanke war, daß der noch der kapitalistischen Herrschaft verbliebene Teil Europas sich zusammenschließen müsse, um ein weiteres Vordringen der proletarischen Revolution zu verhindern. Das war auch der Grund für den politischen Brückenschlag zwischen dem Protestantismus und der katholischen Kirche in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und in der Gegenwart. Die Zeiten der Bibelkritik und der scharfen theologischen Auseinandersetzungen zwischen Protestantismus und Katholizismus in den Fragen der Dogmatik, wie sie insbesondere in den siebziger Jahren im Zusammenhang mit der Verkündung des päpstlichen Unfehlbarkeitsdogmas und mit dem Bismarckschen Kulturkampf entflammt waren, gehörten bereits um die Jahrhundertwende der Vergangenheit an. Der gemeinsame Nenner für die politische Annäherung der beiden Kirchen war damals durch den stürmischen Aufstieg der internationalen, insbesondere der deutschen Sozialdemokratie gegeben. Die Enzyklika „Rerum novarum" (1891) Papst Leos XIII. wandte sich mit nicht geringerer Schärfe gegen den „marxistischen Atheismus" wie gegen die Kritik des führenden protestantischen Theologen Adolf von Harnack. Schon Friedrich Engels konnte feststellen, daß Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Übergang Deutschlands zum Monopolkapitalismus die protestantische vergleichende Religionsgeschichte (Tübinger Schule) vor dem Katholizismus die Segel gestrichen habe. 47 Der Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland, die Novemberrevolution 1918 in Deutschland und Österreich und die revolutionäre Nachkriegskrise 1 9 1 8 - 1 9 2 } hatten für die Herausbildung der katholisch-protestantischen Einheitsfront gegen den „atheistischen Bolschewismus" den stärksten Anstoß gegeben. Nach dem ersten Weltkrieg stellte der protestantische Theologe Karl Holl mit Betrübnis fest, das Papsttum sei in einem Umfange wieder politische Macht geworden, „wie man es seit dem Westfälischen Frieden nicht mehr für möglich gehalten hatte". In Geschichte (Spengler, Keyserling, Fueter), Philosophie (Baeumker und seine Schule), Dichtung (Rainer Maria Rilke und Stefan George), ja selbst auf dem Gebiete der Religion sei der Katholizismus im Vormarsch, während im Protestantismus eine katholisch gestimmte Mystik Platz greife. 48 Der jähe Sturz des so glanzvoll begonnenen Zweiten Reiches im Jahre 1918, kaum fünfzig Jahre nach der Reichsgründung, verlangte aber auch in anderer Hinsicht eine politisch-ideologische Neuorientierung, die denn auch von den führenden Ideologen des deutschen Imperialismus vollzogen wurde. Gleichzeitig wurde von ihnen die 47
Vgl. Engels, Friedrich,
Zur Geschichte des Urchristentums, in: Marx,'Engels,
Werke, Bd. 22.
Berlin 1963, S. 456. Holl, Karl, Der Protestantismus in seiner Kulturbedeutung, in: Der Protestantismus im öffentlichen Leben Deutschlands. Berlin 1925, S. 8.
Die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie
411
Dolchstoßlegende kultiviert, um das schwer angeschlagene Prestige der deutschen Generale zu retten und die reaktionäre, volksfeindliche und antinationale Rolle des deutschen Imperialismus und Militarismus zu leugnen. Dennoch stellte der Schock von 1918 vieles in Frage, was der bis dahin zum Idol erhobene Bismarck gedacht, getan und gewollt hat. Daher wurde in den ersten Jahren der Weimarer Republik von führenden Historikern wie z. B. Friedrich Meinecke u. a. der Ruf nach „Revision des Bismarck-Bildes" erhoben, genauso wie es Meinecke auch nach dem Schock von 1945 getan hat. Mit der akademischen Diskussion über die „kleindeutsch-preußische Fehlkonstruktion des Reichsaufbaues" sollten das deutsche Monopolkapital und die Generalität auch von der Geschichte her von jeglicher Schuld an Krieg und Katastrophe freigesprochen werden. 49 Doch sehr bald wurde es sowohl nach 1918 wie nach 1945 still um diese „Revision des Bismarck-Bildes". In dem Maße, wie der revanchistische deutsche Imperialismus nach dem ersten Weltkriege sich anschickte, unter der Flagge des Kampfes gegen den Bolschewismus sich mit den Westmächten zu arrangieren, um die alten Machtpositionen in Gestalt des salonfähigen „Paneuropa-Plans" des Grafen Coudenhove-Kalergi zu verwirklichen, verwandelte sich Bismarck mehr und mehr in den „großen Europäer", zu dessen Nachfolger und Interpreten sich der enragierte Chauvinist Gustav Stresemann hinübergemausert hatte. 50 Das gleiche spielte sich mit der „Revision des Bismarck-Bildes" nach dem zweiten Weltkriege ab: War es damals Stresemann, so war es jetzt Konrad Adenauer, der zum Nachfolger und Interpreten sowohl Bismarcks als auch Stresemanns erklärt wurde. Die Paneuropa-Bewegung hatte ihre Blütezeit in den Jahren der relativen Stabilisierung, als Stresemann, nach Martin Göhring „der größte Staatsmann seit Bismarck" 5 l , der französische Ministerpräsident Aristide Briand und der englische Labour-Ministerpräsident Macdonald sich um das Zustandekommen einer imperialistischen Einheitsfront gegen die Sowjetunion bemühten, wobei natürlich jede Seite bestrebt war, unter der Flagge von „Paneuropa" ihre eigenen imperialistischen Sonderinteressen zu verfolgen. 52 1924 wurde die Paneuropa-Union organisiert mit nationalen Komitees in verschiedenen Hauptstädten,-und 1926 trat in Wien der erste Paneuropa-Kongreß zusammen. Hier mag die Feststellung von Interesse sein, daß an diesem Kongreß an der Spitze der deutschen Delegation der sozialdemokratische Reichstagspräsident Paul Lobe teilnahm, der gleiche Paul Löbe, der später im berüchtigten Kuratorium „Unteilbares Deutschland" alle anderen im Antikommunismus zu übertrumpfen suchte. Der Rummel um „Paneuropa" erfüllte damals die Weltpresse, und allenthalben entstanden „europäische Ausschüsse", wurden „europäische Zeitschriften" gegründet und „europäische Friedenspreise" gestiftet. Briand, Stresemann und Macdonald, zu „großen 45
50
51
Vgl. Meinecke, Friedrich, Nach der Revolution, München 1919, S. 4 u. S. 28 ff.; Ritter, Gerhard, Großdeutsch und Kleindeutsch im 19. Jahrhundert, in: Lebendige Vergangenheit. Beiträge zur historisch-politischen Selbstbesinnung, München 1950, S. 101 ff. Vgl. Göhring, Martin, Stresemann, Mensch - Staatsmann - Europäer, Wiesbaden 1956 (Institut für europäische Geschichte, Vorträge, Nr. 17). Ebenda, S. 35.
>s Vgl. Tbimme, Anneliese, Gustav, Stresemann, Legende und Wirklichkeit, in: HZ, Bd. i8t, 1956, S. 3J5 ff.
Leo Stein
412
Europäern" avanciert, erhielten den Friedens-Nobelpreis, und reaktionäre Kulturphilosophen, Historiker, Schriftsteller und Publizisten sangen Hymnen auf die „Paneuropa"-Idee, so z. B. José Ortega y Gasset, Salvador de Maderiaga, Johan Huizinga, Guglielmo Ferrerò, Benedetto Croce, Ernst Troeltsch, Max Scheler, Jules Romains, Paul Valéry, Paul Claudel, André Gide, T. S. Eliot und ebenso, von der weltbürgerlichen Fassade und der Friedensdemagogie der „Paneuropa"-Idee geblendet, Bernhard Shaw, Albert Einstein, Richard Strauß, Gerhart Hauptmann, Heinrich und Thomas Mann. Daß außer Briand, Stresemann und Macdonald solche reaktionären Politiker wie Winston Churchill, Duff Cooper, Leo Amery, Venizelos, Ignaz Seipel, Adenauer, Marx, Brüning, Schacht u. a. als Stützen der Paneuropa-Bewegung galten, daß unter dem Vorsitz des französischen Schwerindustriellen Louis Loucheur ein paneuropäisches Wirtschaftskomitee entstand, dem deutscherseits Duisburg, Vogler, Robert und Carl Bosch und Roselius u. a. angehörten, zeigte ganz klar, worauf die „Paneuropa"-Bewegung hinauslief: auf die Ralliierung der europäischen Reaktion gegen das erste Land des Sozialismus, die Sowjetunion.53 Proklamierte doch Graf Richard Coudenhove-Kalergi großspurig in seinem „Pan-Europäischen Manifest" : „Die . . . Gefahr, der ein zersplittertes Europa entgegengeht, ist: die Eroberung durch Rußland. Vor dieser Gefahr gibt es nur eine Rettung: der europäische Zusammenschluß." 54 Die gleiche Losung verkündete derselbe Graf auf dem großaufgezogenen „Kongreß der „Pan-Europäer" in Nizza im November i960, wobei er bereits im Sinne der NATOKonzeption den Begriff „Paneuropa" durch „Großeuropa" ersetzte. In dieses „Großeuropa" will er nicht nur die EWG- und EFTA-Länder einbezogen wissen, einschließlich der „ehemals römischen Kolonien zwischen Mittelmeer und Sahara sowie Griechenland und die Türkei, Spanien und Zypern", sondern auch die Länder Osteuropas.55 Der äußere Ablauf der paneuropäischen Idylle zwischen Stresemann und Briand, die zum Locarno-Pakt führte, d. h. zur Garantie der deutschen Westgrenzen unter Offenhaltung der Frage der Ostgrenzen - was einem Freibrief für den deutschen Revanchismus gleichkam - ist zu gut bekannt, als daß darauf näher eingegangen werden sollte. Weniger bekannt ist, daß der seltsame Demokrat und „große Europäer" Stresemann, der, wie es sein Nachlaß zeigt, zum Kaiser^ zum Kronprinzen, zu Ludendorff, zu Kapp, Lüttwitz und zum Putschisten Pabst die engsten Beziehungen unterhielt, der die Aufrüstung der Reichswehr, die konterrevolutionären Einwohnerwehren und Kampfverbände mit allen Mitteln unterstützte, für das gleiche Ziel kämpfte wie das Zweite Reich vorher und das Dritte Reich nachher - allerdings mit Methoden, die der Schwäche des deutschen Imperialismus nach dem ersten Weltkriege entsprachen. Das gleiche Ziel wie Stresemann verfolgte Adenauer nach der zweiten Niederlage M 54
Vgl. Herriot, Edouard, Vereinigte Staaten voiJ Europa, Leipzig 1930, S. 43 ff. Coudenhove-Kalergi,
Richard, Pan-Europäisches Manifest, in: Pan-Europa, Wien-Leipzig, Jg. I,
1924, Nr. 1, S. 4/5. 55
Vgl. Uexküll, Gösta v., Mittelmeer und Atlantik im Kampf um Europa, in: Die Welt, Hamburg, v. j. 11. i960, Nr. z6o.
D i e klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie
des deutschen Imperialismus
4IJ
1945, mit nur graduellen, nicht prinzipiellen Unter-
schieden in den Methoden. Nach Stresemann ist die wichtigste K r a f t einer starken Außenpolitik
„materielle
Stärke - Armee und Flotte". Über den vielgerühmten tocarno-Pakt, der die deutschfranzösische Grenze garantierte, sagte er, er bedeute „keine Stabilisierung des Status quo" und „keinen Verzicht auf irgendein vorher deutsches Gebiet". Stresemanns Ziel war, wie er es selbst formulierte, auch „Frankreich von Schützengraben zu Schützengraben zurückzudrängen, da kein Generalangriff möglich w a r " . 5 6 Wenn Stresemann diese machiavellistische Mentalreservation selbst gegenüber Frankreich in den Maientagen der Paneuropa-Bewegung gehegt hat, so waren seine Aggressionsziele um so offener gegenüber Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion, mit denen einen Ost-Locarno-Vertrag abzuschließen er sich strikt geweigert hat. In der T a t : D i e Duplizität der politischen Methoden bei Stresemann und Adenauer und die Kontinuität der politischen Grundkonzeption des revanchistischen deutschen Imperialismus ist nachgerade mit Händen zu greifen. Daher auch der heutige K u l t d e r Stresemann-Legende in der historisierenden Publizistik, in Zeitschriften, im Film und in Gestalt von Stresemann-Denkmälern. Bei der Enthüllung des StresemannDenkmals im Oktober i960 in Mainz erklärte der damalige Außenminister von Brentano, die Bundesregierung sei entschlossen, den Weg weiterzugehen, den Stresemann vorgezeichnet hat. 5 7 Stresemann als „großer Europäer" und Vorläufer der Gegenwart, als „Symbol der Zusammenarbeit mit dem Westen" und „der Politik der Verständigung" soll darüber hinwegtäuschen, daß der deutsche Imperialismus, damals wie heute, in christlich-abendländischer
Tarnung seine massiven
revanchistischen
Kriegsziele verfolgt hat und weiter verfolgt. D e r Nationalsozialismus, der mit seiner nationalchauvinistischen anfänglich die Stresemannsche Europa-Konzeption
Rassendemagogie
ablehnte, griff sofort auf
sie
zurück, als sie in seine Kriegspläne hineinpaßte. Wir haben es hier mit dem gleichen Vorgang zu tun wie"bei der bekannten Diskussion K a r l der Große - Widukind in der nazistischen Geschichtsschreibung. D e r „blutige Sachsenschlächter" K a r l der ersten Zeit wird zum Symbol der „europäischen Ordnungsmacht", während der mit allen Attributen blonden und blauäugigen Ariertums ausgestattete Nationalheld Widukind in die Rolle einer politischen Provinzgröße des Frankenreiches absinkt. V o n den Pseudophilosophen Moeller van den Bruck, G r a f Keyserling, Prinz Rohan u. a. ins Nationalsozialistische umgebogen, wurde die Europa-Idee in der Folge zur politischen Grundkonzeption von Hitlers „Neuordnung Europas". Moeller van den Bruck prägt das im Dritten Reich geflügelte Wort: „Germanen waren wir, Deutsche sind wir, Europäer werden wir sein"; der baltische Graf Hermann K e y s e r l i n g 5 8 propagiert einen
klerikal-faschistischen
„Bund
zum
Schutz
der
abendländischen
Kultur";
K . A . Prinz Rohan, der Gründer der „Europa-Union", setzt in seinem 1933 erschienenen Buch „Schicksalsstunde Europas" alle Hoffnung auf die völkisch-faschistische Erneuerung des europäischen Kontinents; A l f r e d Rosenberg gibt mit seinem an der 56
Härtung, Hans, Die Stresemann-Legende, in: Die Andere Zeitung. Hamburg, v. 3. 12. i960; Nt. 5t.
5:
Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, v. 17. 10. i960, Nr. 243.
5S
Vgl. Keyserling,
Graf Hermann,
Reisetagebuch eines Philosophen, Bd. 2, Darmstadt 1919, S. 754 f.
414
Leo Stern
Universität Halle gehaltenen Vortrag über die „Neugeburt Europas als werdende Geschichte" den Auftakt für eine Flut nazistischer Europa-Literatur, die „Das Reich als europäische Ordnungsmacht" preisen. Die im Dritten Reich zum Thema „Europaidee" geäußerten Gedanken waren alle von der katholisch-restaurativen Romantik, von Ranke, Burckhardt, Constantin Frantz, Erich Mareks, Friedrich Naumann und Coudenhove-Kalergi vorgeformt. E s erforderte nicht viele Mühe, um sie, mit dem Blutund Boden-Mythos verrührt, für die Bedürfnisse der nationalsozialistischen „Neuordnung Europas" zu adaptieren. Einen nicht geringen Beitrag zur nationalsozialistischen Amalgamierung der katholisch-restaurativen „Abendlandidee" leisteten der Vatikan und der hohe katholische Klerus, einmal durch den Abschluß des Reichskonkordats im Sommer 1933, das Hitler auf dem internationalen Parkett genauso hoffähig machte wie das Abkommen des Vatikans mit Mussolini 1929 den italienischen Faschismus, dann durch die geschlossene Abstimmung des Zentrums für das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das Hitler innenpolitisch völlig freie Hand gab. Dazu kamen die tatkräftige Unterstützung des Nationalsozialismus durch Nuntius Pacelli, den späteren Papst Pius XII., die enthusiastischen Erklärungen der Zentrumsführer Prälat Kaas, Prälat Lauscher und Prälat Föhr, von Kardinal Faulhaber, Bischof Clemens Graf von Galen sowie von den führenden katholischen Theologen Michael Schmaus, Joseph Lortz 5 9 u. a., die politisch kompromittierenden Hirtenschreiben vom 24. Dezember 1936 und 1937 sowie die berüchtigte Erklärung der österreichischen Bischöfe vom 18. März 1938 unter der Führung von Kardinal Innitzer, Fürstbischof Waitz und Fürstbischof Pawlikowski. Für den in der Enzyklika „Quadragesimo anno" 1931 und besonders in der Enzyklika „Divini redemptoris" 1937 verankerten militanten Antikommunismus der katholischen Kirche bot die katholisch-restaurative Abendlandidee mehr als genug Anknüpfungspunkte, um mit dem Nationalsozialismus eine Art ideologischen Antikomintern-Pakt zu schließen. Bei der Inbesitznahme der „Europaidee" durch den Hitlerfaschismus durften schon gar nicht die Historiker fehlen. Wie sehr die nationalsozialistische Geschichtsschreibung sich der ideologischen Kontinuität sowohl mit der alldeutschen als auch mit der großen akademischen Geschichtsschreibung bewußt war, geht aus der Verbindungslinie hervor, die Walter Frank im Zusammenhang mit dem berüchtigten „Tag von Potsdam" (21. März 1933) zwischen Friedrich II., Bismarck und Hitler gezogen hat. 40 Zu den nationalsozialistischen Panegyrikern gehören zahlreiche namhafte Historiker, die auch an der vordersten ideologischen Front des revanchistischen deutschen Imperialismus stehen, besonders Hermann Aubin, dessen Chauvinismus den Geist der westdeutschen Historiker-Tagung in Trier im September 1958 prägte. Hier sein von haltloser Freude überquellender Hymnus an den „Genius Hitler" nach den Blitzsiegen 1939/40 mit den unvermeidlichen abendländischen Ausflügen in das „Sacrum imperium M
Vgl. Böckenförde, Ernst-Wolf gang, Der deutsche Katholizismus im Jahre 195). Eine kritische Betrachtung, in: Hochland, Jg. 53, 1961, H. 3.
M
Vgl. Frank, Walter, Rede zur Eröffnung des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, in: HZ, Bd. 153, 1936, H. 1, S. 19; Craemer, Rudolf, Ober die völkische Haltung Treitschkes, in: HZ. Bd. 158, 1938, H. 1, S. 104/105.
Die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie
415
Romanum": „In unvorstellbar kurzer Zeit nach dem Zusammenbruch ist die Vereinigung aller geschlossen wohnenden Deutschen mit Ausnahme der Schweizer, Elsässer und Lothringer vollzogen worden; aber ebenso rasch ist die Entwicklung über den eben erreichten Nationalstaat hinausgestürmt. Mit dem Protektorat Böhmen und Mähren, mit der Übernahme des Schutzes über die Slowakei, mit der Unterwerfung Polens bis zum Bug hat das Dritte Reich sein Wesen grundlegend verändert. Und wo wir hinhören, klingt uns die Berufung auf das alte, Erste Reich entgegen. Aber nicht mehr als Losungswort für den Nationalstaat. E s ist eine andere Seite und weiterer Begriff, die vorschweben. Vor neue und große Aufgaben gestellt, sucht der Deutsche nach geschichtlichen Vorbildern für ihre Bewältigung, auch gleichsam eine geschichtliche Bekräftigung für die Mission, die er sich heute auferlegt fühlt, nämlich eine verwandte" Staatenordnung unserer eigenen Tage aufzurichten, in der um einen deutschen Kernstaat fremdstämmige Nebenstaaten gelagert sind." 6 1 Aubin beschließt diesen historischen Exkurs mit der apodiktischen Feststellung, daß das mittelalterliche Deutsche Reich, die legitime Fortsetzung des Karolingischen Weltreichs, ein Kern (der „stählerne K e r n " in Hitlers „Neuordnung Europas"!) war mit einem Kranz von Außenländern, die eine sehr verschiedene A r t aufweisen, von denen jedem seine besondere Stellung zugewiesen w a r : „Den Altgebieten im Süden eine bedingte Ebenburt rieben Deutschland, den Marken eine Sonderverfassung, die ihrer doppelten Aufgabe von Abwehr und Völkerschulung (sprich „Kulturträgertum") entsprach, den Fremdstämmen eine elastische Unterordnung, die der Erhaltung ihrer Eigenständigkeit zugute kam." 6 2 Wie vertraut das klingt, wenn man die Melodie von der christlich-abendländischföderativen „Integration Europas" im Ohr hat, die der revanchistische deutsche Imperialismus hsute im NATO-Orchester anstimmt.
IV. Während der deutsche Imperialismus und seine Ideologen nach dem ersten Weltkrieg trotz oder gerade wegen des demonstrativen „Europäertums" sich noch national gaben, sich zur schwarzweißroten Fahne, zu Preußens Gloria, zu Fridericus Rex und zu Bismarck bekannten, war diese nationalistische Demagogie nach dem Sieg der AntiHitler-Koalition im zweiten Weltkriege nicht mehr möglich. Schon in der Konzeption der Männer des 20. Juli, insbesondere von Goerdeler, aber auch von Goebbels und Himmler, war das Bündnis mitvdem Westen bei gleichzeitig scharfer antikommunistischer Ausrichtung gegen den Osten das Alpha und Omega des deutschen Imperialismus, der verzweifelt nach einem Ausweg aus der drohenden militärischen Niederlage suchte. Ohne eigene glaubwürdige bürgerlich-demokratische Tradition mußte der deutsche Imperialismus nach dem zweiten Weltkriege sich demokratisch, freiheitlich, europäisch und kosmopolitisch tarnen und auf die grobschlächtige Aubin, Hermann, Der Aufbau des mittelalterlichen Deutschen Reiches, in: HZ, Bd. 162, 1940. H. 3, S. 480. Ebenda, S. 507.
4i6
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rassistische und national-chauvinistische Demagogie verzichten, um sich der parlamentarisch-demokratischen Fassade der westlichen Siegermächte, an die er sich anbiederte, wenigstens äußerlich anzupassen.. Als die beste ideologische Tarnung der revanchistischen Pläne des mit USA-Hilfe wiedererstandenen deutschen Imperialismus und Militarismus boten sich die bereits unter Wilhelm II., in der Weimarer Republik und unter Hitler durchexerzierte Abendland-Ideölogie und der Antikommunismus an. Hier war auch der Ansatzpunkt für eine weitere Annäherung zwischen dem Katholizismus und Protestantismus in Westdeutschland bis zum direkten Zusammenschluß der politischen Parteien in Gestalt der CDU/CSU. Graf Coudenhove-Kalergi hatte während des Krieges das Hauptquartier der Paneuropa-Bewegung nach den USA verlegt, wo mit Unterstützung der USA-Regierung an der New York University ein „Paneuropäisches Forschungsseminar" für ein unter amerikanischer Ägide stehendes Nachkriegs-Europa ins Leben gerufen wurde. Ein unter dem Vorsitz des Senators Fulbright - des heutigen Präsidenten der Senatskommission für Auswärtige Angelegenheiten - stehendes amerikanisches PaneuropaKomitee warb bereits für „Paneuröpa als amerikanisches Kriegsziel". 63 Einer der aktivsten Mitarbeiter dieses Komitees war der spätere amerikanische Außenminister John Foster Dulles, während dessen Bruder Allan Dulles in seiner Eigenschaft als Chef des amerikanischen Geheimdienstes im zweiten Weltkriege in der Schweiz durch seine zahlreichen Geheimverbindungen nach Deutschland dafür die praktischen Voraussetzungen schuf. Die materiellen Grundlagen für die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa", richtiger gesprochen, für die „Vereinigten Staaten in Europa", wurden von Präsident Truman in Gestalt des Marshall-Plans gelegt. Sehr bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Äußerung von Paul Botta in der CDU-Wochenzeitschrift „Rheinischer Merkur": „Marshall hat sich um unser Vaterland Europa verdient gemacht." 64 In diesen „Vereinigten Staaten von Europa" war Deutschland als dem potentiellen Stoßkeil gegen die Sowjetunion und die Länder der Volksdemokratien eine Hauptrolle zugedacht. In diesem Sinne waren, wie der amerikanische Professor Haberler offen zugibt, die Amerikaner stets die „besten Europäer". 85 Es war naheliegend, daß man bei den persönlichen, politischen und verwandtschaftlichen Beziehungen des alten „Paneuropäers" Konrad Adenauer zum amerikanischen Finanzkapital gerade auf ihn zurückgriff.66 Das politische Signal zur Sammlung der europäischen Reaktion gegen die angebliche „Gefahr aus dem Osten" gab im Einverständnis mit den Amerikanern der „Paneuropäe;-" Winston Churchill in seiner bekannten Züricher Rede von 1946, wobei er als die entscheidende Voraus03
Vgl. Coudenbove-Kalergi,
Richard Graf, Europas Chancen, in: Rheinischer Merkur, v. 2. Juni
1961, Nr. ij. «4 Botta, Paul, Was ist Europa wert?, in: Rheinischer Merkur, v. 2;. 10.1959, Nr. 43. «5 Vgl. Bericht der Neuen Zürcher Zeitung, Nr. 121, v. 4.5.1961, über einen Vortrag von Prof. Gottfried Haberler (Harvard-University) in Zürich über „Die Vereinigten Staaten und die europäische Wirtschaftsintegration", worin er die wirtschaftliche Integration als eine unerläßliche Vorstufe für die politische Einigung Europas erklärte. •• Vgl. Norden, Albert, Repräsentant einer untergehenden Zeit, in: Neues Deutschland, v. 8. November 1961.
Die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie
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setzung für die „Vereinigten Staaten von Europa" die deutsch-französische Versöhnung forderte, in der Erwartung, England würde hierbei eine führende Rolle spielen. Die deutschen Imperialisten und Militaristen, die aus den militärischen Niederlagen von 1918 und 1945 den Schluß gezogen hatten, sie müßten in einem kommenden Krieg „auf der richtigen Seite gegen den richtigen Feind" stehen, witterten Morgenluft und wurden zu den eifrigsten Anhängern der „Europaidee". Die weitere Entwicklung verlief programmgemäß: 1947 kommt es zur Bildung der sogenannten „Europäischen Parlamentarier-Union" und zur Abhaltung des ersten „Europäischen Parlamentarier-Kongresses". Es entbehrt nicht eines gewissen aktuellen Interesses, daß zur westdeutschen Delegation auf-dieser „Europäischen ParlamentarierUnion" Adenauer, von Brentano, von Knoeringen, von Meerkatz und Erich Mende gehörten. Einige Monate danach kommt es auf Betreiben von Churchill zum EuropaKongreß im Haag und im Sommer 1949 zur Gründung des Straßburger Europarates, einer zwischenstaatlichen Organisation als der ersten Etappe der „Europäischen Integration". Gleichzeitig wurde von den USA mit aller Energie die Gründung des Bonner Separatstaates betrieben. 1950 wurde auf Initiative des damaligen französischen Außenministers Robert Schuman (Schuman-Plan) die Montanunion gegründet. Weil England - das mit seinen Europa-Plänen zwar seine eigene Hegemonie auf dem Kontinent erstrebte, aber von den USA überspielt wurde - nicht mehr mitmachte, kam es nur zur Gründung von „Klein"- oder „Kern-Europa", bestehend aus Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Staaten, zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), des Euratom, der Westeuropäischen Union (WEU), während England zur Sondergründung der „Europäischen Freihandelszone" (EFTA) schritt. Die politische und militärische Klammer, die beide Blöcke verbindet, den unter deutsch-französischer Führung stehenden EWG-Block und den unter Führung Englands stehenden EFTA-Block, ist der unter der Führung der USA stehende aggressive NATO-Pakt. Das spezifische Gewicht Westdeutschlands in der E W G wie in der N A T O ist jedoch sowohl auf ökonomischem als auch auf militärischem Gebiet erdrückend. 67 Für Hen wiedererstandenen deutschen Imperialismus ergab sich so die Chance, auf dem Umweg über verschiedene Teilintegratiorien zur supranationalen Totalintegration Europas zu gelangen und so seine Hegemonie in Europa.ökonomisch, militärisch und politisch auszubauen und zu sichern. Der militärstrategische Hintergrund der von Bonn mit so viel Eifer betriebenen „Integration Europas" ist, wie die Neue Zürcher Ze'itung feststellt, „aui unauffälligerem und sozusagen moralisch einwandfreiem Umweg über Europa lediglich eine Position der nationalen Stärke aufzubauen und damit eine neue deutsche Präponderanz auf dem Kontinent anzustreben. 68 Als Fernziel ergab sich für den deutschen Imperialismus die Chance, in einem als unvermeidlich angesehenen Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion im Schatten " Vgl. Aust, Hans Walter, Die Widersprüche zwischen den Westmächten und die Rolle der Bonner Militaristen, hg. vom Z K der SED, Abt, Agitation und Propaganda, Berlin i960, S. 28 ff. • 8 Vgl. F. L., Die Europapolitik der Bonner Regierung, in: Neue Zürcher Zeitung, v. 14. 4. i960, Nr. 112. 17 Getchichtswictcnichaft, Bd. II
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des USA-Imperialismus als die stärkste Militärmacht Europas seine weitgespannten revanchistischen Ziele zu verwirklichen. 69 Bei dieser politischen Grundkonzeption bestand der an die Ideologen des deutschen Imperialismus ergangene soziale Auftrag darin, den Nachweis zu führen, daß die „nationalstaatliche Souveränität" ein anachronistischer Begriff aus dem 19. Jahrhundert sei, daß die moderne Zeit ökonomisch „Großwirtschaftsräume" brauche und politisch wie militärisch eine supranationale Fusion der zersplitterten europäischen Staaten zu einem „Europäischen Bundesstaat" unter Preisgabe ihrer nationalen Souveränität. Man hatte mit der Idee des nationalistischen Machtstaates 1918 ynd 1945 Schiffbruch erlitten, also warf man zynisch alle nationalen Traditionen zum alten Eisen und griff zu der in allen Farben schillernden Konzeption der klerikal-imperialistischen „Abendland"-Ideologie. Im Zeichen dieser kosmopolitischen, antinationalen Konzeption stehen die Bemühungen der führenden westdeutschen Historiker mit Gerhard Ritter, Hans Rothfels, Hermann Aubin, Ludwig Dehio, Theodor Schieder an der Spitze seit der Gründung des Bonner Separatstaates. 7 ® Die Forschungen der westdeutschen Historiker bewegen sich seither nach einem sachlich zutreffenden Wort von Hermann Heimpel „über oder unter der Nation", d. h., sie befassen sich mit der deutschen Geschichte entweder in „abendländischer", „gesamteuropäischer" Sicht, oder sie betreiben landesgeschichtliche Einzelforschung, ohne die eigentlichen Lebensfragen der deutschen Nation zu berühren. 71 Dieser nationale Nihilismus war nachgerade der beherrschende Grundzug der westdeutschen Historiker-Tagungen in Bremen 1953, Ulm 1955, Trier 1958, Duisburg 1962 und der Haltung der westdeutschen Historiker auf den Internationalen Historiker-Kongressen in Rom 1955 und Stockholm 1960. Für sie ist nicht nur die nationalstaatliche Souveränität, sondern auch die nationale Geschichtsschreibung historisch überlebt, für sie gehören die Völker der Sowjetunion nicht zu Europa, während die U S A selbstverständlich in den „abendländischen Kulturkreis" einbezogen werden, und für sie ist es ausgemacht, daß der Fortbestand der europäischen Kultur und. der individuellen Freiheit nur durch die „Atlantische Gemeinschaft" und die N A T O gesichert ist. 72 Im selben Maße, wie die forcierte Aufrüstung Westdeutschlands und seine hegemoniale Stellung in dem integrierten Europa immer offenkundiger wird, sind die führenden westdeutschen Historiker und Publizisten, ebenso die Ideologen des politischen Katholizismus, so die Jesuiten Wetter, Grundlach, Nell-Breuning u. a., im Zeichen der klerikal-imperialistischen „Abendland"-Ideologie zu Feldpredigern des kalten Krieges " Vgl. Stern, Leo, Der deutsche Revanchismus nach dem zweiten Weltkrieg und die bürgerliche Geschichtsschreibung, in: ZfG, Jg. 8, i960, H. 3, S. 563 f. 70
71
72
Vgl. Ritter, Gerhard, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft, in: HZ, Bd. 170, 19jo, H. 1, S. 6 f. Vgl. Engelberg, Ernst, NATO-Politik und westdeutsche Historiographie über die Probleme des 19. Jahrhunderts, in: ZfG, Jg. 7, 1959, H. 3, S. 484 f. Vgl. HHXOKUHCKUÜ, B. £>., IlpoSjieMa mhphobo cocymecTBOBamm h 6yp>Kya3HaH (J)HJibCH$HKaUHH eBpOneÜCKOft HCTOpHH. in: BonpOCU HCTOpHH, I9 6 0 . H. 10, S. 29 f.; vgl. ferner
Schilfert, Gerhard, Die Buropa-Ideologie und ihre Geschichtsfälschungen, in: Einheit, Jg. 11, 1956, H. S. 450.
Die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie
419
geworden. 7 3 Im Zeichen eines wütenden Antikommunismus haben sich zu ihnen gleichgesinnte Seelen in England, Frankreich und Amerika hinzugesellt. 74 Die Hauptaufgabe dieser Ideologen des kalten Krieges ist, unter der Flagge eines hemmungslosen Antikommunismus die leninistische Politik der friedlichen Koexistenz zu diffamieren, die Kriegspolitik des deutschen Imperialismus im Sinne des alten „Drangs nach Osten" durch pseudohistorische Argumente und supranationale Leitbilder zu stützen und zu rechtfertigen. 7 * So wird ad majorem gloriam des deutschen Imperialismus und Militarisrfhis als supranationales Geschichtsmodell entweder die alte karolingische Reichsidee heraufbeschworen, um die sich im Zeichen der europäischen Integration besonders die deutsch-französischen und die deutsch-italienischen Historiker-Kommissionen bemühen. Nach Ludwig Dehio ist jedoch die Bildung eines Bundesstaates Europa, in welchem die ökonomische, militärische und politische Hegemonie automatisch dem deutschen Imperialismus zufiele, noch immer von rückwärtsgewandten nationalen Ressentiments gehemmt. 76 Auch das- Modell der übernationalen Donaumonarchie eines Prinzen E u g e n 7 7 oder Metternich wird heraufbeschworen, um die katholisch-föderative „Einordnung der verschiedenen Nationen in die europäische Völkerfamilie" im Geiste Pius X I I . zu bewirken, der nach der Niederwerfung des Hitlerfaschismus sofort an die Schaffung einer aggressiven antikommunistischen „Neuordnung Europas" geschritten war. D a s antikommunistische Dekret des Heiligen Offiziums vom 1. Juli 1949 stellte sich die Aufgabe, die kompromittierte faschistische Begründung des Antikommunismus durch eine den Verhältnissen nach dem zweiten Weltkriege angepaßte klerikale Begründung zu ersetzen. D i e Propagandisten der klerikal-imperialistischen Abendland-Ideologie sind mit allen Kräften bemüht, das nationale Bewußtsein sowohl des deutschen Volkes als auch das nationale Fühlen und Denken anderer Völker auszulöschen und zu paralysieren. Sie leugnen entweder die materiellen Grundlagen der Nation oder sie reduzieren sie auf eine mystisch-irrationale Gemeinschaft des Geistes, der Seele, des Schicksals, und auch schon wieder, wie unter Hitler, auf eine Gemeinschaft des Blutes und der Rasse. 7 8 „Echter europäischer Patriotismus", erklärt CoudenhoveKalergi, muß sich „gegenüber den nationalen Patriotismen durchsetzen . . . Was der ™ Vgl. Klügl, Jobann/Kouscbil, Kurt, Der politische Klerikalismus - der Antikommunismus in Aktion, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 9, 1961, H. 2, S. 160 f.; Vetter, Kurt, Über die Stellung des Katholizismus zum Krieg, in: Ebenda, Jg. 8, i960, H. 6. S. 67} f.; Mollnau, Karl A., Aus dem Schuldbuch des politischen Katholizismus, Berlin 1958, S. 147 f. "* Vgl. die instruktiven Aufsätze von Ilatuymo, B. T., Tau HasbuaeMoe «HiyneHHe BoeroKa» — HfleojiorHH aansmHorepMaHCKOro peBaHiiiHGMa, in: Bonpocu HCTOPHH, 1959, H. 3, S. 60 ff.; und KHHJKHHCKHft, B. E . , O (JiHJiLcwfiHKauHM BCTopHH HfleojioraMMH eBponeflcKott «HHTerpauHH», Bonpocw HCTopHH, i960, H. 5, S. 118 ff. 75 Cajioe, B. II., a. a. O., S. 117 f. 76 Vgl. Wenger, Paul Wilhelm, Die Zäsur von 194) (Die „Abendländische Akademie" über das deutsche Geschichtsbewußtsein), in: Rheinischer Merkur, v. 20. 5. i960, Nr. 21. Vgl. Habsburg, Otto v., Im Frühling der Geschichte, Wien-München 1961, Einleitung; Wenger, Paul Wilhelm, Eugenie von Savoy, Zum 225. Todestag des Begründers der Donaumonarchie. 58 Vgl. Heuer, Heinz, a. a. O., S. 47. 27'
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Nationalgedanke für das 19. Jahrhundert war, ist der Europa-Gedanke für das 20. Jahrhundert." 7 9 Wir sehen: Der von den militanten Antikommunisten propagierte „europäische Patriotismus" ist nichts anderes als ein abendländisch verbrämter Imperialismus in Reinkultur. Damit für diesen „europäischen Patriotismus" die westdeutschen N A T O Soldaten von neuem in einen Eroberungskrieg ziehen, wird dieses klerikal-imperialistische Destillat antikommunistisch angeheizt. Coudenhove-Kalergi erklärt denn auch ganz unverblümt: „Der neue europäische Patriotismus beginnt sich als ein gemeinsamer Antikommunismus zu manifestieren." 80 Die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie des Antikommunismus und nationalen Nihilismus sind, wie wir sehen, nur zwei Seiten der gleichen politischen Grundkonzeption des deutschen Revanchismus. E s ist der gleiche Imperialismus und Militarismus wie unter Wilhelm II. und Hitler, es sind sogar personell vielfach die gleichen Personen und Repräsentanten des deutschen Monopolkapitals, es, sind die gleichen Ziele, die gleichen Traditionen und daher auch im Prinzip die gleichen Methoden. Hatte der Hitlerfaschismus mit seiner infernalischen antikommunistischen Hetze den zweiten Weltkrieg ideologisch vorbereitet, so bereiten das deutsche Monopolkapital und seine Helfershelfer im Zeichen der klerikal-imperialistischen Abendland-Ideologie den dritten Weltkrieg vor. So erklärte Adenauer auf dem Empfang bei Papst Johannes X X I I I . ganz im Stile von Wilhelm II. und Hitler wörtlich: „Ich glaube, daß Gott dem deutschen Volk in diesen stürmischen Zeitläufen eine besondere Aufgabe gegeben hat: Hüter zu sein für den Westen gegen jene mächtigen Einflüsse, die von Osten her auf uns einwirken." 8 1 Der Unterschied ist nur der, daß der Vatikan und die katholische Kirche, die seinerzeit den Nationalsozialismus wenn auch sehr aktiv, so doch nach außenhin mit einiger Zurückhaltung unterstützten, heute mit ihrer aggressiven Abendland-Ideologie ganz offen und in vorderster Front für einen antibolschewistischen Kreuzzug eintreten, wobei sie mit raffinierter Demagogie die biblische Idee vom Kampf zwischen Gott und Satan, zwischen Christ und Antichrist auf den Kampf zwischen dem „christlichen Abendland" und dem „atheistischen, satanischen Kommunismus" übertragen, um für diesen „heiligen Kampf" die dunkelsten Masseninstinkte zu mobilisieren. 84 So in dem Manifest des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom Dezember i960, in welchem sie nachdrücklich für die Fortführung der bisherigen antinationalen, revanchistischen Außenpolitik Bonns eintreten, für eine Politik, „die den Mut hat, von unserem Volk die notwendigen persönlichen und materiellen Opfer für eine wirksame Verteidigung zu verlangen." 8 3 Unter dem politischen Aspekt des Antikommunismus 7
* Paneuropa Friedensbewegung, 6. Paneuropa-Kongreß Baden-Baden 1954, Frankfurt/M. (1954), S. 45/46. 84 Coudenhove-Kalergi, Riebard, Die europäische Nation, Stuttgart 1955, S. 60. 81 Vgl. Notiz „Bestürzung in Rom", in: Die Welt, Hamburg, v. l y 1.1960, Nr. 20. 82 Vgl. Albrecbt, Erhard, Der Antikommunismus - die Ideologie des Klerikalmilitarismus, Berlin 1961, S. 10 f. (Taschenbuchreihe „Unser Weltbild", H. 24). 83
Vgl. Auch die staatliche Ordnung und das politische Handeln stehen unter Gottes Gebot. Manifest des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, in: Rheinischer Merkur, v. 2.12. i960, Nr. 49.
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stehen auch die ökonomischen Konzentrationsbestrebungen der katholischen Kirche. 84 D a s „Christentum im Schatten des Atomzeitalters" führe zu folgender Konsequenz: „ B e i d e Kirchen müssen sich . . . höchst konkret mit der Frage auseinandersetzen, wie sie einer immer feindlicheren Welt standhalten sollen. Dies gelte besonders „angesichts des Vordringens des Kommunismus in Asien und A f r i k a " , wo sich „das Bild einer Kirche festgesetzt hat, die sich als .Lakai der Reaktion', als Vorspann für expansionistische' Interessen hat mißbrauchen lassen". 8 5 In der gleichen Richtung der ökumenischen Konzentration gegen die „Kommunistische Ökumene" bewegten sich die Gespräche zwischen dem katholischen Theologen Hans Küng (Tübingen) und dem evangelischen Theologen Peter Meinhold (Kiel) in der gemeinsamen Veranstaltung des katholischen Bildungswerkes und der Evangelischen Akademie im Auditorium maximum der Hamburger Universität im Januar 1961. Für den katholischen Publizisten Friedrich Heer gilt es, durch den Zusammenschluß der „Erasmianer und offenen Frommen und Humanisten aller Zeiten" 8 6 eine „dritte K r a f t " zu schaffen, die dem Weltkommunismus entgegengestellt werden kann. Die politische Kapitulation des Protestantismus vor den expansiven Ideen der katholischen Una Sancta nach dem ersten Weltkriege war nichts anderes denn eine Vorstufe der Kapitulation auf theologisch-dogmatischem Gebiet nach dem zweiten Weltkriege in dem „großen ökumenischen Gespräch der Gegenwart." 8 7 Der soziale Inhalt des „Wachstums der Katholizität im Protestantismus" 8 8 ist der Antikommunismus. Der politische Klerikalismus mit seiner reaktionären, antinationalen und volksfeindlichen Abendland-Ideologie ist nicht nur zu einer ideologischen Begleiterscheinung des parasitären Imperialismus schlechthin geworden, sondern zugleich zu einem integrierenden Bestandteil der revanchistischen Bonner Staatsdoktrin. „ D e r politische Klerikalismus", sagt Walter Ulbricht, „ist die ideologische Begleiterscheinung des Imperialismus. . . . Unfähig seine eigene Ideologie zu entwickeln, greift der Imperialismus zurück auf die obskursten Theorien des
81
Vgl. Asmussen, HansjBwndenburg, Alberl, Wege der Einheit, Osnabrück i960, Einleitung. Di( Autoren, ein Lutheraner und ein Katholik, bemühen sich in diesem interkonfessionellen Buct um die Beilegung der Gegensätze auch auf dogmatischem Gebiet. Asmussen spricht von Reformen des lutherischen Gottesdienstes, „die Rom aufhorchen lassen müßten" und von Reformet in der römischen Kirche, die „bei uns Lutherischen . . . Aufsehen erregen müßten". Die katho lisierenden Neigungen bei führenden protestantischen Theologen, die kontroverstheologischer Gespräche zwischen katholischer und evangelischer Theologie „in Richtung zueinander, ic einem Maß, das im Laufe der bisherigen Gcschichte noch nicht erreicht wurde" (Alben Brandenburg), sind das charakteristische Kennzeichen dieser ökumenischen Konzentrations bestrebungen im Zeichen des Antikommunismus. Vgl. auch Leo, Walter, Christentum - eint Spezialität der Weißen? Die ökumenischen Konferenzen und die Mission, in: Frankfurtei Allgemeine Zeitung, v. 17.11.1959, Nr. 267. Ebenda.
M
Heer, Friedrieb, Die dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten de! konfessionellen Zeitalters, Frankfurt/M. 19)9, S. 682. Vgl. Eröffnungsansprache des Bischofs Hanns Lilje auf der Tagung des I. Internationaler Luther-Forschungskongresses in Aarhus 19)6, in: Lutberforscbung beute, Berlin 19)8, S. 10. Heer, Friedrieb, Die dritte Kraft, a. a. O., S. 6j}.
87
M
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Leo Stern
Mittelalters." 89 Die von Bonn und den U S A mit reichsten Mitteln geförderte, als „Sowjetologie" bezeichnete Pseudowissenschaft setzt die üble Erbschaft der nazistischen Ostforschung im Zeichen der klerikal-imperialistischen Abendland-Ideologie fort. Heute bestehen in Westdeutschland 19 Lehrstühle für Slawistik, 12 Lehrstühle für Ostgeschichte und Dutzende von Ostii.stituten, die die Aufgabe haben, Deutschlands Drang-nach-Osten-Politik und Deutschlands Kulturträgertum zu propagieren. Die besondere Tragödie der westdeutschen Arbeiterklasse besteht darin, daß der politische Klerikalismus, der eindeutig die Interessen des revanchistischen deutschen Monopolkapitals vertritt, durch die Schuld der rechten SPD-Führer breiten Eingang in die S P D und in den D G B gefunden hat. 90 Das Schanddokument der rechten SPDFührung:. „Auseinandersetzung der Sozialdemokratie mit dem Kommunismus" steht in puncto Antikommunismus und revanchistischer Kriegshetze dem antikommunistischen Manifest des Zentralkomitees deutscher Katholiken in nichts nach.. D i e Kapitulation vor der revanchistischen Politik des Atomkrieges auf den Parteitagen in Godesberg und Hannover sowie die politische und ideologische Unterordnung unter die klerikal-militärische Diktatur des deutschen Monopolkapitals offenbarten eindfeutig, daß die rechte SPD-Führung die NATO-Interessen und das Bündnis mit dem USA-Imperialismus vor die nationalen Interessen des deutschen Volkes und der friedlichen Wiedervereinigung gestellt hat. Die von den rechten SPD-Führern von Anfang an : ystematisch betriebene Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung und die damit verbundene Minderung der politischen Schlagkrait des Proletariats war und bleibt die wichtigste Voraussetzung für die Herstellung der klerikal-militaristischen Diktatur in Westdeutschland und des revanchistischen NATO-Kurses der heutigen Bonner Politik. Obwohl die imperialistischen Machthaber in Westdeutschland und ihre Ideologen in dem Wahn befanden sind, mit Hilfe der klerikal-imperialistischen AbendlandIdeologie und der „Politik der Stärke" ihre Herrschaft über ganz Europa ausdehnen zu können, sind ihre Pläne gesetzmäßig genauso zum Scheitern verurteilt, wie die des wilhelminischen Imperialismus und des Hitlerfaschismus. Die Dialektik der geschichtlichen Entwicklung der letzten Jahre und Monate zeigt sowohl im Weltmaßstabe als auch in Deutschland eindeutig, daß die Bäume der deutschen Revanchisten nicht in den Himmel wachsen werden. Was Lenin seinerzeit über die imperialistische Konzeption der „Vereinigten Staaten von Europa" sagte, hat auch heute für die E W G , die N A T O und die sogenannte christ ich-abendländische „Integration Europas" seine volle Gültigkeit. Infolge der immanenten imperialistischen Widersprüche brechen zwischen den NATO-Mächten immer wieder von neuem Gegensätze auf, die trotz der ständigen Beschwörung der „atlantischen Gemeinschaft" nur mühsam überbrückt werden. Der deutsche Revanchismus, der unter der Flagge der 88
Ulbricht, Walter, Die Staatslehre des Marxismus-Leninismus und ihre Anwendung in Deutschland, Berlin 1959, S. 10. •o Vgl. Albrecbl, Erbard, a. a. O., Kapitel: Rechte SPD-Führer und katholische Sozialtheoretiker - Bundesgenossen im Kampf gegen die marxistische Weltanschauung, S. 14 ff.
Die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie
42?
militärischen Logistik bereits auf Frankreich, England, Holland, Dänemark, Norwegen, Spanien, Italien, Griechenland, die Türkei und Nordafrika als militärisches Hinterland zurückgreift, wird selbst seinen eigenen NATO-Verbündeten unheimlich durch seine massive Aufrüstung, den unausgesetzten Schrei nach Atomwaffen, durch die Refaschisierung des gesamten öffentlichen Lebens, die zahllosen Revanchistentreffen und die direkten Störaktionen und Provokationen gegenüber der DDR, der CSSR, Polen und der Sowjetunion. Immer wieder steigen sogar bei den eigenen NATO-Verbündeten trotz aller Friedensbeteuerungen und der demonstrativen Zurschaustellung demokratisch-parlamentarischer Freiheits- und Rechtsstaats-Fassaden die dunklen Erinnerungen an die infernalischen Untaten des Hitlerfaschismus auf. Die jüngste Entwicklung der imperialistischen Integrationspolitik zeigt eine Fülle von Widersprüchen, die trotz aller paneuropäischen Beschwörungen der „kommunistischen Weltgefahr" nicht zu beheben sind. Mit dem fragwürdigen abendländischen Erbgut, das man zurück bis aus der Kapuzinergruft des Sacrum imperium Romanum heraufholt, ist die notorische Raubgier des deutschen Imperialismus und Militarismus nur solange zu tarnen möglich, solange sie nicht täglich immer wieder von neuem entlarvt wird. Nur indem wir diesen ideologischen Falschmünezrn in alle Höhen und Tiefen der europäischen Geistesgeschichte folgen, werden wir ihre pseudohistorischen und pseudophilosophischen Argumente des kalten Krieges zerschlagen. Denn die klerikal-imperialistische Abendland-Ideologie ist im Grunde nichts anderes als ein mixtum compositum, ein Gebräu, das Marx und Engels eine „eklektische Bettelsuppe" zu benennen pflegten, hergestellt aus allen reaktionären Abfällen der europäischen Geistesgeschichte.
Personenregister für Band I und II
Abälard i)8, 140 Abel, Otto 264 Achenwall, Gottfried 87 Achmcteli, K . M. II 377 Adam, Reinhard II 291, 298
Askenazy, Szymon II 59, 81, 84, 8), 87, 94 Asmussen, Hans II 421 Aubin, Gustav II 390 Aubin, Hermann 320, 332, II 270, 298, 371, 389,
Adama van Scheltema, Frederik II 402 Adenauer, Konrad II 1)4, 400, 40}, 411-413, 416,
Audorf, Jakob 28) Auerswald, Rudolf v. 153 Aufscss, Haris Frh. v. u. zu 197, 198 Augusta, Kaiserin II 141 Augustus, röm. Kaiser 76 Auhagen, Otto II 377, 384, 385 Aulard, François Alphonse II 270 Aust, Hans Walter II 417
4>7. 4 2 0
Adoratskij, W. W. II 397 Aegidi, Ludwig 275 Aereboe, Friedrich II 377 Aeschylus, 271 Alba, Herzog von 16 Albrecht, Daniel Ludwig 119 Albrecht, Erhard II 420, 421 Alexander der Große 89, 108, m , 271 Altenstein, Karl Frh. v. 51, 98, 113, 119 Altheim, Franz 109 Althoff, Friedrich II 70, 73, 213 Altmeier, J . J. 260 Amery, Leo II 412 Ammann, Josef II 402 Ammon, Otto II 19) Ancillon, Johann Peter Friedrich 113 Anderle, Othmar F. 306 Andreas, Willy II 132, 262 Aremberg, Graf v. 16 Aretin, Johann Adam Frh. v. 115 Aristophanes 271 Aristoteles 25;, II 402 Arminius II 221 Arndt, Ernst Moritz 93, m , 114, nj, 116, II 405 Arnim, Bettina v. 2(0, II 42 Arnim, Hans v. II 203, 204, 212, 219 Arnold, Gottfried 61, 82 Arnold, Robert 307 Arsenjew, Nikolai v. II 374, 386
394, 399, 4 0 1 . 403, 4 1 4 . 415. 418
Baader, Franz v. II 28, 404 Baethgen, Friedrich 258, 259 Bacumkcr, Clemens II 410 Baggescn, Jens 11 Bai Heu, Paul 307, 330, II 73, 2)6 Ballod, Carl II 377 Balzac, Honore de II 48 Bamberger, Ludwig II 22 Bancroft, George 265 Bang, Paul II 219 Bardt, Carl II 13, 16 Barge, Hermann 170, 172, 173, 176, 179, 183 Baron, Hans II 2;;, 284 Barta, Erwin II 203, 218 Bartel, Walter II 238 Bartinuß, Hans-Joachim 319 Basler, Werner II 88, 232 Bassermann, Ernst II 341 Bassermann, Friedrich Daniel 228 Bauer, Wilhelm 147 Baumgarten, Eduard II 182, 189 Baumgarten, Hermann 84, 168, 271, 277, 280, 281, 288, 294, 307, II 180
Personenregister für Band I und II
42 7
Baur, Ferdinand Christian 180 Baxa, Jakob II 404 Beaufort, Louis de 107 Bebet, August 182, 285, II 14, 85, 87. 110, 159, 140, 259. 341 Beccaria, Cesare 121 Becker, Berta 2)3 Becker, Otto II 292, 299 Beethoven, Ludwig van, 28, 51, 546 Bell, Karl II 20), 218 Below, Georg v. 1 4 0 , 1 8 3 - 1 8 6 , 3 0 6 - 3 0 8 , II
75,
106,
190,
197-20J,
242,
244,
116, 209,
243,
289, 2 9 0 , 292,
117,
2;;,
136,
210, 212, 2)6,
«37,
323,
269,
331, IJ7, 239, 286,
336-340
Below, Minnie v. II 1 4 9 , 1 9 9 Bengtson, Hermann 106 Bensen, Heinrich Wilhelm 177 Bensing, Manfred 348 Bentley, Richard 107 Bergstraesser, Arnold II 273, 403 Bergsträsser, Ludwig II 267, 317, 340, 346, 3)3 Berckheim, 119 Bernays, Karl Ludwig II 43 Bernecker, Erich II 377 Berner, Ernst II 73 Berney, Arnold II 28; Bernhardi, Friedrich v. 292, II 193 Bernhard!, Karl Christian Sigismund 187, 188 Bernhardt, Theodor 156 Bernheim, Ernst II 210 Bernoulli, Carl Albrecht II 31 Bernstein, Eduard 342, 353, II 139, 314 Bernstorff, Christian Günther Graf v. 194 Berthold, Werner II 107, 124, 126, 130, 2J3, 271, 275, 281, 289, 3 0 6 , 313, 314
Beselei, Hans Hartwig v. II 376 Besson, Waldemar II 130, 187, 326 Bethmann Hollweg, Theobald v. II 130, 203, 232236. 336. 345 Beyer, Hans II 399 Beyer, Wilhelm R. 69 Beyerhaus, Gisbert II 298 Beyme, Karl Friedrich v. 51 Beza, Theodor v, 138 Bezold, Friedrich v. II 230 Biedermann, Karl 2 2 2 , 1 2 3 , 2 2 8 - 2 3 4 , Bismarck, Otto v. 1 2 3 , 1 5 3 , 1 5 3 , 1 6 1 ,
237 2(2,
131,
137-143,
272-280,
69, 82, 9 2 - 9 4 , 1 0 0 , 115. 154,
180,
194,
197,
205,
21$, 217, 222, 228, 237. 2 4 0 , 267, 271, 275-."79, 303, 308-310,
142-152,
266,
118-120,
315,
322,
323,
342, 345, 346. 358. 563.
219, 226, 228,
26;,
288, 289, 2 9 2 , 2 9 t , 3 0 0 - 3 0 2 , 3 0 6 , 3 0 9 , 330, I I 1 8 2 3 . 33. 3 4 . 3 7 . 38. 3 9 . *6,
3 2 5 , 332,
335,
336,
340.
370, 403, 406-415
Bittner, Ludwig II 299 Bleiber, Helmut II 360 Bloch, Joseph 339 Bloch, Raissa II 399 Bios, Wilhelm 183 Blücher, Gebhard Leberecht Fürst II 65, 66 Blum, Robert 222, II 343 Bock, Helmut II 271 Böckenförde, Ernst-Wolfgang II 414 Bodelschwingh, Ernst Frh. v. 224 Bodin, Jean 402 Boeckh, August 108, 197, 271 Boehm, Max Hildebert II 3 7 9 , 3 8 6 , 3 9 0 - 3 9 4 Böhmer, Johann Friedrich 315, 329, II 405 Bolingbroke, Henry St. John Lord 84 Bonald, Louis Gabriel Vicomte de II 405 Bernhard, Otto 291, II 192, 196, 202-205, 20g Borghesi, Bartolomeo II 10 Börne, Karl Ludwig 152, 294 Bornkamm, Heinrich II 115 Börnstein, Heinrich II 43 Borstell, Karl Heinrich Ludwig v. II 272 Bosbach, Erika II 71 Bosch, Carl II 412 Bosch, Robert II 412 Botta, Paul II 416 Botzenhart, Erich 117, II 271, 272, 296, 297, 299 Boyen, Hermann v. II 308, 405 Brackmann, Albert 323, 331, II 255, 256, 296, 373, 3«i. 399 Brandenburg, Albert II 421 Brandenburg, Erich II 228, 239, 244, 269, 275, 295, 302
Brandi, Karl 265, II 93, 284 Braun, Friedrich II 371, 383, 385, 399 Brentano, Heinrich v. II 413, 417 Brentano, Lujo II 241 Bresslau, Harry 114, 116, 119, 120, 127 Briand, Arisride II 411, 412 Brieger, Theodor II 115 Brinkmann, Carl II 274 Broszat, Martin 290
428 Bruck, Karl Ludwig Frh. v. II 2j, jo Brückner, Alexander II 377 Brüning, Heinrich II 189, 322, 32;, 41z Brunner, Heinrich 130 Brunner, Otto II 402 Bruns, Carl Georg II 391 Brutzkus, Boris II 383-387 Bubnoff, Nikolai v. II 383, 38; Bubnoff, Sergej v. II 377 Bücher, Karl II 199 Büchler, Lambert IIJ, 117 Buckle, Thomas II IJ6 Buhr, Manfred 37, 46 Bülpw, Bernhard Fürst v. II 23 Bülow, Heinrich Frh. v. 223 Bttnau, Heinrich Graf v. 82 Buol-Schauenstein, Joh. Rud. Graf v. H6 Burckhardt, Jacob 144, 161, 263-269, II 47/57, 129. 133, 138, 210, 287, 288, 303, 314, 323, 323, 406, 407. 4'4 Bürgers, Igoaz II 141 Burke, Edmund 139, 234, II 40; Büß, Franz Joseph Ritter v. II 407 Bußmann, Walter 249, 269, 283, 290, 291, 309. 310, II 131, 403 Büttner, Theodora 33;, II 406 Caesar 76, 108, in, II 11, 20 Camphausen, Ludolf 272, II 140 Cart, Jean Jacque 62 Cavour, Camillo Graf di 281 Chambeclain, Houston Stewart II 194, 193 Chladenius (Karl Gottfried Theodor Chladni), 9* Chlodwig 128 Christern, Hermann II 360 Christian VIII., König v. Dänemark II 13 Chrysander, Friedrich 168 Churchill, Winston II 412, 416, 417 Claproth, Justus 122 Claß, Heinrich 284, II 199, 200, 204-109, 211, 213,
217, 218, 219/2x7, 232, 407 Claudel, Paul II 412 Ciausewitz, Karl v. II 405 Cleinow, Georg II 386-388, 391 Cohen, Hermann II 134 Comte, Auguste II 156, 137, 161, 1S3
Personenregister für Band I und II Conrad, Egon 149 Conze, Werner II 403 Cooper, Duft II 412 Coßmann, Paul Nikolaus II 338 Coudenhove-Kalergi, Richard II 40, 279, 411, 412, 414. 416, 419, 410 Craemer, Rudolf II 298, 414 Croce, Benedetto II 30, 31, 123, 291, 293, 412 Crom well, Oliver 24, 82 Crusius, Siegfried Leberecht 18, 23 Cysarz, Herbert II 298 Dacque, Edgar II 163 Dahlmann, Friedrich Christoph 92, 93, 117, 120. .131, 132, 159, 162-164, 167, >71, 186, 193, 196, 220, 226-232, 235-237, 271, 273, 297, II 209, 373 Dahn, Felix II 194, 205 Dalberg, Karl Theodor Anton Maria Reichsfrh. v. 137 Danilow, A. I. II 88, 89, 229, 233 Dante, Alighieri 182, 322, II 402 Darmstädter, Paul II 333 Darwin, Charles 340 Dawson, Christopher II 40, 403 Dehio, Ludwig 268, II 109, 191, 228, 229, 236, 251, 263, 292, 302, 309, 313, 406, 418, 419 Deibel, Gertrud 328 Delbrück, Clemens v. II 235 Delbrück, Hans 268, 307, 330, II 71, 73, 81-91, 95, 103. 104, 147, 190, 228-231, 235/24', 275. 278, 289, »94. 337. 339. J4 6 . 406, 407 Delius 116 Dempf, Alois II 178 Dernburg, Bernhard II 241 Dessauer, Friedrich II 402 D'Ester, Karl Ludwig Johann II 140 Dettelbach, Hans v. II 407 Diels, Paul II 377 Dietze, Constantin v. II 383 Dietze, Walter 151 Dilthey, Wilhelm 7, 58, 261, 303, 306, 308, II 113, 117, 120, 123, 124, 129, 134, 148, 133/17!, 186, 201, 280-284, 286. *88. 304, 325, 363 Dirksen, Herbert v. II 376 Dohm, Christian Wilhelm v. 45 Dcranigcs, Franz v. 260, 264 Dorpalen, Andreas 291
Personenregister für Band I und I I Dorst, Willi II 40) Dove, Alfred 249, 265, 274, 530, I I 70, 87, 103, •06, 108, 109, 114, ii], 231, 241
429 Ennius, Q . 108 Epstein, Fritz I I 264, 263, 398 Erasmus v. Rotterdam I I 402
Drenkcr, ¿Alexander II 2)
Erat, Berndt II 29
Driesch, Hans II 163
Erben, Wilhelm 114
Droysen, Johann Gustav 108, 140, 230-233, 237,
Erdmann, Karl Dietrich II 319
238, 260, 267, 271/370, 314, 328, II 10, ;9, 60, 69,
Erdmannsdörffer, Bernhard 271, 307
70, 74, 92, 121, 137, 288
Erler, Gotthard 131
Droz, Jacques 184, II 332, 358, 360
Ernesti, Johann August 83
D u Bois-Reymond, Emil II 106, 114, 137, 138, 143
Ernst August, König v. Hannover 132
Dubrowsij, 5 . M. II 397
Eucken, Rudolf II 163
Dühring, Eugen II 403
Eugen, Prinz von Savoyen 170, II 402, 419
Dulsberg, Carl II 239, 412
Eulenberg, H e r b e r t II 278, 279
Dulcin 138
Eyck, Erich II 305
Dulles, Allan II 416 Dulles, John Foster II 416
Fabiunke, Gerhard II 30
Dümge, Karl G e o r g 113
Fabius Pictor, Q . 108
Dümmler, Ernst Ludwig 26;
Falk, Adalbert II 83
Duncker, Albert 19;, 197, 198
Fallmerayer, J a k o b Philipp II 30, 38
Duncker, Max 271, 27J, 277, 279, 288, 297, II 61,
Faulhaber, Michael II 414
9* Dürr, Emil II 43
Feiler, Wolfgang II 252 Ferrero, Guglielmo II 412 Ferres, Martin 316
Eberlein, K u r t Karl II 289
Fester, Richard I I 122, 239, 244, 296
Ebert, Friedrich II 260
Feuerbach, Ludwig 349, II 133
Ebert, Günter 312
Fichte, Immanuel Hermann 32, 49
Eckardt, Hans v. II 377, 386
Fichte, Johann Gottlieb 32/3;, 60, 123, 180, 242,
Egmont, Graf v. 13
233, 239, 274, II 26, 309, 402, 403
Ehrenberg, Victor II 289
Ficker, Julius 278, 3/1/336, II 200, 214, 223
Ehrentreich, H a n s 97, 98, 101
Fiedler, Frank II 117, 148, 186, 281, 361
Eichhorn, Hermann v. II 376
Finke, Heinrich II 239, 244
Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich II 33
Fischer, Fritz II 113, 232, 233, 333, 338
Eichhorn, Karl Friedrich 113, 12///3;, II 40;
Fischer, Rudolf II 393
Eike von Repgow 130
Foerster, Rolf Helmut II 25
Einstein, Albert II 88, 241, 412
Föhr, Prälat II 414
Eliot, Thomas Stearns II 412 E h e , Walter II 271 Engel, Josef 164 Engelberg, Ernst 27;, 306, 314, 316, 320, 341, 343, II 15, 17, 39, 112, i;7, 200, 202, 203, 210, 294, 293, 418 Engels, Friedrich 23, 46, 35, 65, 71, 76, 78, 97, 106, 124, 132, 134, 141, 144, 139, 164, 173, 174. 178-182, 198, 203/2/6, 219-221, 2)j, 233, 236, 260, 265, 266, 273, 279, 296, 316, 318,320, 336, 339/354, II 12, 13, 23, 33, 33, 38, 33, 38, 105, 116, 137, 139, 140, 133, 136, 139, 160, 168, I9°>
M o u l i n - E c k a r t , R i c h a r d G r a f d u , II 197, 204
191, 199. 227, 234, 239, 242, 245-148,
2ji/j02,
334. 54°« 346, 4 ° } . 4 0 6 - 4 0 8 , 411
M ü h l b a c h e r , E n g e l b e r t 31; M u h s , K a r l I I 402
M e i n h o l d , P e t e r I I 421
M ü l l e r , A d a m I I 28, 309, 404, 4 0 ;
M e n d e , E r i c h I I 417
M ü l l e r , J o h a n n e s v . 94
M e n d e , G e o r g I I 163
M ü l l e r , K a r l A l e x a n d e r v. I I 231, 288, i f i / j o i ,
M e n z e l , A d o l f I I 267, 273 M e n z e l , A d o l p h I I 83
318. 3«9 M ü l l e r , K a r l O t f r i e d 108
M e r s m a n n , H a n s I I 402
M ü l l e r , L e o n h a r d 149, 152
M e t t e r n i c h , K l e m e n s W e n z e l L o t h a r F ü r s t v . 44,
M ü l l e r - M e r t e n s , E c k a r d 319, 336
97, 116, 119, 194, 242, I I 25, 28, 33, 272, 273, 3J3,
M ü n c h , E r n s t 194
402, 405, 419
M ü n c h , H a n s I I 396
M e v i s s e n , G u s t a v v . 153, 272, I I 140-142, 147
M u n t e r , B i s c h o f 116
M e y e n d o r f f , P e t e r v . I I 33
M ü n t z e r , T h o m a s 249, 237, II 349
M e y e r , A d o l f I I 106, 107
M ü n z e r H o r s t I I 401, 402
M e y e r , A r n o l d O s k a r I I 239, 266, 274, 296
M u r a l t , L e o n h a r d v . I I 28
Meyer, Eduard
M u r a t o r i , L o d o v i c o A n t o n i o 244, 24t, 264
308, II 147, 201, 205, 206, 209,
227, 228, 242, 244, 248, 269, 289, 396
M u s s o l i n i , B e n i t o I I 414
M e y e r , F r i e d r i c h I I 285 M e y e r , K l a u s I I 20; M i c h a e l i s , J o h a n n D a v i d 81
N a e v i u s , C n . 108
M i e l c k e , K a r l 340
N a p o l e o n I . 28, 43, 50, 51 57, 58, 6 7 - 7 1 , 76, 96,
M i l k a u , F r i t z I I 376
123, 142, n o , 241, 277, I I 27, 67, 235, 241, 278,
M i f l , John Stuart II 156, 157
279, 402, 404
M i l t i t z , F r h . v . 34
N a p o l e o n III. 339, II 33, 215
M i l t o n , John 274
N a t o r p , P u u l I I 134
M i n u t o l i , Julius Frh. v . 223
N a u d i , A l b e r t 307, I I 72-75
M i r t s c h u k , I w a n I I 378
N a u m a n n , F r i e d r i c h II 111, 181, 188, 253, 322, 334,
M i t s c h e r l i c h , W a l d e m a r I I 377
341, 403, 408-410, 414
M o e l l e r v a n d e n B r u c k , A r t h u r I I 391, 413
N e l l - B r e u n i n g , O s w a l d v . II 418
M o l l n a u , K a r l A . II 419
N e r n s t , W a l t h e r H e r m a n n I I 90
H l o l n a r , E r i k 336
N e u b e c k e r , O t t f r i e d I i 341, 350
M o l o k , A . I. 184
N e u m a n n , C a r l I I 288
M o l t k e , H e l m u t h G r a f v. II 20, 197
N i c b u h r , B a r t h o l d G e o r g 11, 83-87, lof/ii),
M o m m s e n , H a n s I I 187 Mommsen, The&dor
108, 112, 273-275, 181, 288,
290, 294, 314, II 9/24, 180
N i e b u h r , C a r s t e n 105 N i e s e , B e n c d i c t u s 106
M o m m s e n , W i l h e l m II 32, 36, 131, 276-279, 302
Niethammer, Friedrich Immanuel 67-71
M o m m s e n , W o l f g a n g J. I I 179 f., 185
N i e t z s c h e , F r i e d r i c h 161, I I 48,
M o n t e s q u i e u , C h a r l e s L o u i s d e 82, 108, II 402
137,
242, 272, II 10, 17, 405
161, 176, 183,
194, 322, 328, 329, 361, 362
M o r g h c n , R a f f a e l l o 322
N i s s l , A n t o n 315
M ö r i c k e , E d u a r d 170
N i t z s c h , K a r l W i l h e l m 108. 112, II 60
M o r s e y , R u d o l f 295
N o a c k , U l r i c h II 255, 271, 272 '
M o s b e r g II 393
N o h l , H e r m a n n 58, II 162
Personenregister für Band I und II
437
Noorden, Carl v. 136 Norden, Albert II 416 Noske, Gustav II 260 Novalis (Friedrich Leopold Frh. v. Hardenberg) II 23, 1 8 , »9, 3 0 9 , 4 0 4 , 4 0 5 Oberländer, Theodor II 37$ Obermann, Karl 152, >;), 19], 228, 272, II 273, 554. 35 J Odoakcr II 401 Ochlenscbläger, A IOJ Oestreich, Paul II 241, 243 Ohnsorge, Werner II 401 Oiserman, T. I. 72 Oldenburg, S. F. II 396 Oncken, Hermann 250, 2;;, 2)6, 267, 268, II 1031 1 5 , 1 2 0 , 122, 123,
147, 1 9 1 , 239, 234,
239-262,
267, 281, 287, 2 9 0 , 2 9 3 - 2 9 6 , 3 0 0 , 3 2 9 , 3 4 6 , 4 0 6 , 4 0 7
Oranien, Wilhelm v. 13 Ortega y Gasset, José II 412 Ossietzky, Carl v. II 279 Ostrowski, Graf 192, 193 Ottcnthal, Emil v. 315 Ottnad, Bernd 306 Otto I., deutscher König u. römischer Kaiser 320, 321, 323, 32J, 329, 332, 333, II 221 Otto IV., deutscher König und römischer Kaiser 264
Otto, Hans II 332, 360 Otzoup, N. A. II 377 Pabst, Waldemar II 412 Pahlmann, F. II 134
Pflugk-Harttung, Julius v. 266 Philipp II., König von Spanien 13 Philippson, Martin II 73 Pilatus 61 Piontkowski, A. A. 73 Pitscheta, W. J . II 397 Pius XII., Papst II 414, 419 Planck, Gottlieb Jakob 93 Planck, Julius Wilhelm v. II 2;, 30 Planck, Max II 88, 241 Piaton 23;, 239, II 402 Platonow, S. F. II 397 Platzhoff, Walter II 230, 269 Plenge, Johann II 403 Plessen, Leopold v. 119 Pleyer, Kleo'II 297, 393 Poeschel, Hans II 3; Pokrowskij, M. N. II 264, 26;, 396, 397 Polak, Karl 122 Pombai, Marques v. 140, 141 Popert, Hermann II 336, 339 Pordus Cato maior, M. 108 Potemkin, F. W. 184 Preller, Hugo II 239, 284 Pretsch, Gerhard II 208, 229, 239 Preuss, Hugo II 182 . Preyer, Dietrich II 371, 377 Prokesch-Osten, Anton Graf 193-194 Pufendorf, Samuel Frh. v. 82, 299 Puntschart, Paul 313 Pütter, Johann Stefan 12, 13, 122, 126, 128 Quadflieg, Eberhard II 33
Palacktf, Frantiäek 104
Quidde, Ludwig II 327, 340, 347
Papritz, Johannes II 382
Quistorp, Johann Christian v. 122
Paschukanis, E. B. II 397 Paiuto, V. T. II 264, 397, 419 Pawlikowski, Fürstbischof II 414 Penck, Albrecht II 378, 388, 389 Pertz, Georg Heinrich 87, 92, 115, 117-120, 137, 197, 245, II 63, 77, 405 Pestalozzi, Johann Heinrich 32 Peter I., Zar von Rußland 81, 87 Petersen, Carl II 394 Petri, Franz 320 Petzold, Joachim II 263, 268 Pfitzner, Joseph II 270 Pfizer, Paul 175, 193
Rachfahl, Felix II loj/m,
143, 191, 234, 233, 242,
336-340
Radowitz, Joseph Maria v. 134, 163, 243 Rahn, Hartmann 36 Rahn, Johanna 36 Ranke, Leopold v. 86, 87, 140-149, 137, 138, 1611 6 ; , 181, 183, 186, 1 9 6 - 1 9 8 , 229, 2 4 1 / 2 7 0 , 273, 297, 298, 303, 308, 313, I I 1 1 , 4 1 , 3 9 - 6 1 , 72, 81, 94, 99.//3Î,
146-148,
157,
161,
174,
190-192,
196-
198, 228, 229, 271, 2 8 4 - 2 8 7 , 303, 308, 3 0 9 , 312, 514. }>9" 5*5. 329, 330, 406, 407, 414
332, 343, 333, 361, 364,
438
Personenregister für Band I und II
Rantzau, Johann Albrecht v. II 124, 151 Rapp, Adolf II 2;;, 274, 342, )4) Rassow, Peter II 401, 402 Rathmann, Lothar II 232 Ratzel, Friedrich II 194, 19;, 203 Rauch, Georg v. II 36, 132 Raumer, Friedrich v. 171, 196, 230, 234 Raumer, Kurt v. II 121, 131, 274, 273, 299, 360 Rebmann, Andreas Georg Friedrich 34 Recke, Walter II 371, 389 Redlich, Oswald 313 Rehberg, August Wilhelm 38, 39 Reichardt, Fritz 24 Reichel, Waltraut II 5 9 - 6 2 , 6 8 , 7 0 , 7 6 , 9 J , 9 6 , J 0 4 Reimann, Paul 145 Rein, Gustav Adolf II 1 3 2 - 1 3 4 Reincke-Bloch, Hermann II 371 Reinhold, Karl Leonhard 11, 40, 43 Reventlow, Ernst Graf zu II 207, 226, 242, 337 Rhyn, Otto am II 137 Richelieu, Herzog v. 22, II t i Rickert, Heinrich 3 0 6 , 3 0 8 , II 1 1 7 , 148, 0 3 / 1 7 * .
Rosenberg, Hans 169, II 23;, 273, 287 Rosenberg, Wladimir II 377 Rosenfeld, Günter II 396 Rosenzweig, Franz 63, 69, II 287 Rössler, Hellmuth II 132, 208 Rost, Paul II 374 Rostand, Edmond II 150 Rothacker, Erich II 1 2 3 - 1 2 ; , 163, 2 8 0 , 281, 285, 286 Rother, Hans 299 Rothfels, Hans 270, II 124, 130, 187, 260, 264, 270, «7«. 3°4"3°7. 313. 3'7. 3". 3*6. 403, 418 Rotteck, Carl v. 93, 1 2 0 , 1 7 1 , 175—177, 181,
185-187.
1 9 0 - 1 9 5 , 2 1 9 , 2 2 7 , 253, 3 0 4 , 312, I I 81
Rougemont, Denis de II 2;, 27 Rousseau, Jean-Jacques 34, 38, 39, 44, 61, 98, 99, II 4 0 2 Rüge, Arnold 98, II 29, 43 Rüge, Wolfgang II 348 Rfihs, Christian Friedrich 113 Rumpf, Helmut II 302 Rüssel, Bertrand II 402 Rust, Bernhard II 295, 298
186, 2 0 1 , 2 8 1 , 282, 2 8 4 , 325, 3 2 9 , 363
Ricklinger, Walther II 2JI Riemann, Robert II 333 Riezler, Siegmund II 236 Rilke, Rainer Maria II 410 Ritsehl, Albrecht II 113 Ritter, Karl 243 Ritter, Gerhard II 7 9 , 82, 130,
I J I , 238, 2 7 0 - 2 7 2 ,
275, 2 8 6 , 4 0 3 , 4 1 1 , 4 1 8
Ritter, Moriz II 104, 230, 236 Ritter, Paul II 124 Robertson, William 82, 244 Robespierre, Maximilian 14) Rochau, Ludwig von 273 Rocker, Rudolf II 402 Rödel, Wolfgang 153 Roethe, Gustav II 248 Rohan, Karl Anton Prinz II 413 Rohrbach, Paul II 90, 181, 219, 342, 344 Romains, Jules II 412 Rommel, Dietrich Christoph v. 187 Romulus 128 Rörig, Fritz 323, 327, 333, II 212 Roscher, Wilhelm 168, 273 Roselius, Ludwig II 412 Rosenberg, Alfred II 55 f., 293, 299, 413
Sacke, Georg II 399 Saint-Simon, Claude Henri de 163 Salis, Arnold v. II 46, 49 Salkind, Eugenie II 399 Salomon, Richard II 371, 383, 399 Salov, V. I. II 264, 403, 419 Salvisberg, Paul v. II 369 Samassa, Paul II 194 Sänke, Heinz II 388 Savigny, Friedrich Carl v. in,
113, 1 2 4 - 1 2 9 ,
131,
>3J. I3J. 254, II 28j, 4 0 5 Schacht, Hjalmar II 412 Schädlich, Karl-Heinz II 239 Schäfer, Dietrich 96, 507, 308, 330, II 138, 144, 147,
148,
152,
190,
197I21I,
220,
224-230,
239,
2 4 2 , 2 4 4 , 255, 2 6 2 , 2 6 6 , 2 8 9 , 335, 338, 4 0 7
Schäfer, Heinrich 189 Schaller, Hans Eberhard II 31, 32 Schaper, Ewald II 33 Scharnhorst, Gerhard Johann David v. II 59, 6 2 - 7 0 , 7 6 - 7 9 , 82, 9 0 - 9 2 , 9 6 , 2 7 2 , 4 0 5
Scheel, Heinrich II 26, 27, 68 Scheler, Max II 163, 412 Schelling, Friedrich Wilhelm Josef 59, 60, 65, 68, 2 5 4 , II 33, 1 3 4 , 161
Persouenregister für Band I und II
439 Schoeps, Hans-Joachim 287, 309
Schemann, Ludwig II 31, 3), 195, 191 Schenk, Erwin II 278
Schön, Heinrich Theodor v. II 63, 68
Scherer, Wilhelm II 92
Schön, Konrad II 40
Scheringer, Richard II 243, 36;
Schönebaum, Herbert II 70, 75, 76, 136, 140, 145,
Scherr, Johannes 261
149. 150
Scheubner-Richter, Max v. II 390
Schopenhauer, Arthur II 49, 55, 161, 328
Schieblich, Walter 312
Schott, Richard II 376, 377
Schieder, Theodor 23, 269, 270, 307, II 74, 75,
Schramm, Percy Ernst, II 403 Schreiber, Georg II 372
129, 130, 136, 251-257. 194-301, 403, 418 Schiemann, Theodor 307, 308, II 190, 204, 205, 209, 382
Schröder, Gerhard II 300 Schrot, Gerhard 107
Schildhauer, Johannes II 212
Schröter, Manfred II 251
Schilfert, Gerhard 83, 157, 249, 252, 261, II 10, 41, 74, loo, 107, 113, 174, 418
Schtejn, Boris II 396 Schubart, Historiker 187
Schiller, Friedridi v. n;')i, 33, 143, 144. 175. 549. II 25-27, 308, 402
Schuchardt, Ottomar II 32 Schücking, Walther II 241
Schiller, Otto II 384
Schuckmann, Friedrich Frh. v. 99
Schlegel, August Wilhelm 70, II 28
Schulin, Ernst II 117, 319
Schlegel, Friedrich 313, II 28, 161, 309, 404
Schulte, Aloys II 230, 234, 239
Schlegel, Karoline 29, 43
Schulte, Johann Friedrich v. 126, 128, 131
Schleicher, Kurt v. II 189, 322
Schultze, Johannes II 252
Schleier, Hans 314, II 62, 70, 75, 136, 190, 191, 201,
Schulz, Robert II 290
228
Schulze-Gävernitz, Gerhart v. II 401
Schleiermacher, Friedrich II 166
Schuman, Robert II 417
Schleifstein, Josef II 58
Schüßler, Wilhelm II 275, 279, 296
Schlosser, Friedrich Christoph 12, 92, 117,136/147,
Schützler, Horst II 264, 397
i;o, 155-160, 168, 169, 181, 182, 225, 253, 254, 297,
Schwabe, Klaus II 229, 238, 244
304, 312, II 81, 148
Schwarzenberg, Friedrich Fürst v. II 25, 30
Schlözer, August Ludwig v. 12, 36, hjgi,
93, 146.
157, 244, 263
Schwegler, Albert 108, 112 Schweinfurth, Philipp II 374
Schmalz, Theodor 126
Schweitzer, Johann Baptist v. 285
Schmaus, Michael II 414
Schwerin, Friedrich v. II 376, 379
Schmauß, Johann Jakob 82, 83'
Schwerin, Maximilian Graf v. 153, 230
Schmeidler, Bernhard 331
Scott, Walter 243
Schmid, Heinrich Felix II 395
Seeberg, Erich II 300
Schmidt, Adolph 197, 271
Seeberg, Reinhold II 237-241
Schmidt, Michael Ignaz 86
Seeck, Otto II 24
Schmidt, Walter II 355
Seier, Hellmut 280
Schmidt-Ott, Friedrich II 373
Seifert, Friedrich II 143, 210
Schmitt, Carl II 188, 189, 286
Seipel, Ignaz II 412
Schmitthenner, Paul II 292
Semaschko, N . Ä . II 396
Schmoller, Gustav 274, 286, 287, II 73, 88, 101, 116, 190, 199, 200, 210, 241, 260, 329
Semler, Johann Salomo 84 Seraphim, August II 373
Schnabel, Franz II 25, 30, 273, 278, 327
Seraphim, Hans-Jürgen II 383, 385, 386
Schneider, Fedor 331
Seraphim, Peter-Heinz II 375, 377
Schneider, Friedrich 317, 330
Sering, Max II 377
Schneider, Oswald II 374
Shakespeare, William 77, 154, 155, II 402
Schnurre, Thilo 172
Shaw, Bernhard • 412
Personenregister für Baad I und II
440 Sickel, Theodor v. 31) Sieburg, Heinz-Otto 147, 277 Siemens, Carl Friedrich v. II 241 Sieyis, Emanuel Josephe 41 Silberstein, Leopold II 399 Simmel, Georg II 1 6 1 , 1 6 2 , 1 7 6 , 1 8 2 Simon, Ernst 25), II 123, 286, 287 Simon, Ludwig II 343 Singer, Paul II 87 Siimanov, J. II 396 Skalweit, Stephan II 131 Smirin, M. M. 177, 178 Sokolowski, Paul v. II 38) f., 394 Sombart, Werner II 188, 199, 239, 263, 340 Spahn, Martin II 390, 393 Spangenberg, H. II 289 Spann, Othmar II 404 Spencer, Herbert II 156, 157, 165 Spengler,' Oswald II 264, 289, 290, 410 Spinoza, Benedikt II ijj Spitteier, Carl II 46, 49 Spittler, Ludwig Thimotheus 12, 87, 92 Spranger, Eduard II 162, 281, 370 Springer, Anton 117, 226, 229, 230 Sproemberg, Heinrich 15, 320 Srbik, Heinrich Ritter v. 7, 149, 277, 308, 315, II 28, 33,
99,
122,
13;,
13;,
191,
208,
269,
272-274,
2 7 9 , 2 8 6 , 2 9 2 , 2 9 5 - 3 0 2 , 305, 318, 3 2 6 , 345
Stadelmann, Rudolf II 2;;, 272, 28;, 288, 299 Stadtler, Eduard II 380 Staegemann, Friedrich August v. 113 Stählin, Karl II 2 6 3 - 2 6 ) , 3 7 1 , 3 7 4 , 3 8 3 , 3 8 t , 3 9 7 , ¡99 Stamm, Eugen II 32, 36, 38 Stasiewski, Bernhard II 403 Stavenhagen, Kurt II 392 Steding, Christoph II 189 Steffens, Henrik io; Stein, Heinrich Friedrich Karl Frh. vom und zum
106,
jn-119.
174,
187,
II
25,
39,
7 7 - 8 3 , 86, 9 0 , 91, 9 4 , 1 7 0 - 2 7 2 , 308, 4 0 5
Steinbach, Franz 320 Steinbüchel, Theodor II 1 2 4 , 1 3 1 Steiner, Johann Wilhelm Christian 190 Steinhausen, Georg 267 Steiniger, Peter Alfons II 392 Steinmetz, Max 183 Stenkewitz, Kurt II 223, 278
63,
64,
Stcnzel, Gustav Adolf Harold 24$. Stephanie, Großherzogin v. Baden 142 Sterling, Richard W. II 304 Stern, Alfred II 104, 286 Stern, Leo 313, 330, 332, 334, II 28, 39, 192, 195, 202, 272
Stern, Sigismund 116, 120 Stoecker, Adolf II 22, 180 Störig, Hans-Joachim II 53 Storni, Theodor II 16 Strantz, Kurd v. II 208 Strasser, Otto II 38; Strauß, David Friedrich 112, 170 Strauß, Richard II 412 Streisand, Joachim }6, 312, II 69. I2(, 284 Stresemann, Gustav II 3 4 8 , 3 7 4 , 3 8 2 , 4 0 3 , 4 1 1 - 4 1 3 Struensee, Johann Friedrich Graf v. 45, ioj Strunk, Hermann II 378 Stumm, Karl Frh. v. 286, II 142 Sully, Maximilian Herzog v. II 402 Süvern, Johann Wilhelm 113 Svarez, Karl Gottlieb 122 Sybel, Heinrich v. 146, 148, i;6, 224, 238, 247, 263-268, 101,
104,
277/3/0, III,
II4,
¡¡i!336, Il8,
II
12),
60-63, 136,
137,
69-77, 194,
92200,
221, 2)1, 407 Syrbe, Horst II 39, 303 Szekfù II 393 Taine, Hyppolyte II 156, 16) Taube, Utz-Friedebert II 327 Teil, Wilhelm 18, 29 Teilenbach, Gerd 319 Tessendorf, Hermann 286 Thalheim, Karl C. II 392, 393 Theodorich, König der Ostgoten II 401 Theodor, Gertrud II 408, 409 Thibaut, Anton Friedrich Justus 131, 2)4 Thimme, Anneliese II 88, 90, 411 Thimme, Friedrich II 90 Thomasius, Christian 94 Thompson, James Westfall II 190 Thukydides 244 Thun, Leo Graf 31 ) Tieck, Ludwig 170 Tirpitz, Alfred v. 2 9 2 , II 2 1 1 - 2 1 3 , 2 4 4 , 545 Tocqueville, Alexis de II 38
337-340.
441
Personenregister für Band I und II Toller, Ernst II 245, }6j Tönnies, Ferdinand II 170, 183 Töpfer, Bernhard 335 Trautmann, Reinhold II 377, 395 Treitschke, Heinrich v. 33,. 140, 148, 161, 162, 267, 271/310, 83, 138, 199,
91,
314, I I 92,
143, 203,
9),
145, 205,
21, 22, 6 1 - 6 4 .
68-70,
101,
114,
148,
104, 180,
109, 188,
208, 210,
288, 293, 2 9 4 , 318, 322,
214.
190, 2r7,
335, 3 5 0 ,
74, 76,
116,
118,
81, 137,
192,
194,
196,
219,
222,
235,
248,
258-261,
263,
280-284,
287-290,
Voigt, Gerd II 203, 204, 218, 265 Voigt, Johann Karl Wilhelm 40 Volkland, Gerhard II 181 Volkmann, Erich Otto II 260 Voltaire 44, 82, 83, 92, 137, II 402 Voltelini Hans v. 313 Volz, Wilhelm II 377, 378, 380, 389, 394 Vorländer, Karl 4}
351. 57i. 4°7
Treue, Wilhelm 261, II 403 Troeltsch, Ernst II 88, 90, 123, 124, 12«, 162. 188, 241,
Vogler, Günter II 104, 251 Vogt, Karl II 343
304,
412
Trog, Hins II 46 Truman, Harry IT 416 Tichernow, W. II 385 Tschitscherin, G . W II 396 Turgot, Anne-Robert-Jacques 82
Voßler, Otto 250, II 299
Wach, Joachim II
124.
280-282
Wagner, Fritz II 108, 131, 134, 13J Wagner, Richard II 34 Wahl, Adalbert II 255, 270, 271, 277 Waitz, Georg 130, 13;, 198, 230, 232, 23;, 237, 264, 263, 274, 297, 329,
II
209
Waitz, Fürstbischof II 414 Wallach, Richard II 401, 402
Uexküll, Gösta v. II 412
Wallenstein, Herzog v. Friedland 27
Uhlànd, Ludwig 175
Wallner, Nico 51
Ulbricht, Walter 339, 340, 345, 346, II 421, 422
Walther, Andreas II 266, 298, 299
Ullrr.ann, Hermann II 393
Walther, A. F. 191 Wangenheim, Karl August Frh. v. 116, 119
Valentin, Veit, Gymnasialprofessor II 328 Valentin, Veit, Historiker II 242, 243, 262, 267, 269, 274, 27;,
326/3M
Wätjen, Hermann II 213 Wattenbach, Wilhelm 26; Weber, Adolf II 375. 376
Valéry, Paul I I 412 Valjavec, Fritz II 394
Weber, Alfred II 241, 267
Varnhagen von Ense, Karl August 196, 197, 221,
Weber, Marianne II
222, 227, 229, 230, 233, 237
Varrentrapp, Conrad 276, 285, 297, 307 Vasmer, Max II 390 Venizelos, Eleutherios II 412 Vergil II 402 Vermili, Petrus Martyr 138 Vetter, Kurt II 419 Vico, Giovanni Battista 160 Vierhaus, Rudolf II 130 Vierkandt, Alfred II 290 Vigcner, Fritz II 25;, 261 Vincke, Georg Frh. v. 153 Vischer, Friedrich Theodor 170, 266, II 260 Vivenot, Alfred v. 278 Vogel, Walther II 273, 289 Vogel v. Falckenstein, Eduard II 62 Vogler, Albert II 4:2
Weber, Georg"i}7 181-183
Weber, Max II 179/iio, 194, 241, 260 Weber, Rolf II 15, 40 Wegele, Franz X . v. 93 Wegelin, Jakob 84 Wehberg, Hans I I 347 Wehrenpfennig, Wilhelm 27J Weill, Alexander 184 Weinert, Erich II 243, 365 Weiß, Helmut II 386 Weitling, Wilhelm II 43 Welcker, Carl Theodor
153,
175,
192,
504 Wendel, Hermann II 360 Wenger, Paul Wilhelm II 2j, 28, 29, 38, 419 Wentzcke, Paul 173, 294, II 267 Wenzel, Johannes II 287 Werner, Lothar I i 192
222,
Personenregister für Band I und II
44* Wertheimer, Mildred S. II 192 Wesendonk, Hermann 90 Westphal, Otto II 14;, 255, 261, 261-267, 281, 287, 290, 296
Wetter, Gustav A. II 418 Weydemeyer, Joseph II 18) Wickert, Lotbar II 9, 19 Widukind II 413 Wiedenfeld, Kurt II 374, 379, 383, 386 Wiegand, Wilhelm II 72, 73 Wiegler, Paul II 178 Wieland, Christoph Martin 29, 40 Wiese, Leopold v. II 241 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich v. II 21, 230 Wilbrandt, Robert II 2J9 Wilcken, Ulrich 230
Wolf, Erich I J 3 - I J J , 221 Wolf, Gustav 142 Wolf, Heinrich II 206 Wolff, Christian Frh. v. 43, 84 Wolff, Theodor II 89 Wolff, Wilhelm 221 Wölfflin, Heinrich II JI Wolfgramm, Eberhard II 218 Woltmann, Ludwig II 19;, 198 Woyrsch, Remus v. II 376 Wucher, Albert II 10, 1 2 - 1 6 , 2 0 - 2 4 Wuttke, Heinrich 177 Wydenbrugk, Otto v. 328 Yorck, Hans David Ludwig Graf v. Wartenburg 272
Wilhelm I., deutscher Kaiser 294, 295, II 46, 83,. 119, 278, 309
Wilhelm II., deutscher Kaiser 291, 294, 29;, II ho, 141, 207, 217, 218, 222, 278, 307, 322, 336, 400, 416, 420
Willaume, Juliusz II 19, 63, 8; Wilser, Ludwig II 19; Winckelmann, Johann Joachim II 284 Windelbänd, Wilhelm 306, 308, II 117, 148, ITFLRJL, 186, 201, 281, 282, 284, 32;, 329, 363
Winkler, Martin II 374 Winkler, Max II 382 Winter, Georg 113 Wippermann, Wilhelm 19; Wirth, Albrecht II 206, 226 Wirth, Johann Georg August 171, 173 Wiskemann, Erwin II 30 Wissemann, Heinz II 403 Witte, Hans II 379, 381, 390 Wittram, Reinhard 306, II 300, 403
Zaitzeff, Leo II 383 Zallinger, Otto v. 31; Zangemeister, Karl II 19 Zechlin, Egmont II 350 Zeisler, Kurt II 205, 382 Ziegler, Leopold II 163 Ziegler, Theobald 170 Ziekursch, Johannes II 269, 276, 277, 327 Zimmermann, Wilhelm 143, rjojit4, 219, 220, 230, 231, 234-236, 253, 261
Zotschek. H. II 298, 302 Zweiimg, Klaus II 368 BaHHnrreHH, O. JI. II 100, 130 EnHorpswoB, K. B. II 251, 292, 297, 302 3aH#6epr, JJ. II 201, 214, 220, 224, 229 Kan, C. B. II 3 3 , 55°, 5 J J , 556, 360 KHRWHHCKHH, B . B . I I 4 1 8 , 4 1 9
MypaBieB K). ü . II 396, 398
Band I der Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft:
Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, hg. Joachim Streisand, Berlin enthält folgende A u f s i t z e :
Ernst En gelber g : Friedrich Schiller als Historiker Joacbim Streisand: Johann Gottlieb Fichte und die deutsche Geschichte Joachim Streisand: Georg Wilhelm Friedrich Hegel und das Problem des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland Gerhard Schilfert: August Ludwig von Schlözer Karl Obermann: Heinrich Luden Rigobert Günther: Barthold Georg Niebuhr Karl Obermann: D i e Begründung der Monumenta Germaniae Histórica und ihre Bedeutung Uwe-Jens Heuer: Karl Friedrich Eichhorn und die historische Rechtsschule Gerhard Schilfert: Friedrich Christoph Schlosser Gerbard Schilfert/Hans Schleier: Georg Gottfried Gervinus als Historiker Gerhard Schilfert: Wilhelm Zimmermann Karl Obermann: D i e deutschen Geschichtsvereine des Vormärz Kugard-Otto
Gropp: D i e Begründung des historischen Materialismus - eine Revolution in def
Geschichtswissenschaft Karl Obermann: D i e deutschen Historiker in der Revolution von 1848/49 Gerbard Schilfert: Leopold von Ranke Hans Schleier: D i e kleindeutsche Schule (Droysen. Sybel, Treitschke) Gottfried
Koch: D e r Streit zwischen Sybel und Ficker und die Einschätzung der mittelalterlichen
Kaiserpolitik in det modernen Historiographie Heinz Heitzer: Über das Geschichtsbild von Karl Marx und Friedrich Engels
Aus der Produktion unseres Verlages empfehlen wir: Rudolf Herrnstadt Die Entdeckung der Klassen Die Geschichte des Begriffs Klasse von den Anfängen bis zum Vorabend der Pariser Julirevolution 1830 2. Auflage, Register, 391 Seiten, Brosch., DM 14,80 Wilhelm Zimmermann Der große deutsche Bauernkrieg 2. Auflage, 810 Seiten mit 115 Zeichnungen von Hans Baltzer und 2 Karten, Leinen, DM 12,80 Werner Sellnow Gesellschaft - Staat - Recht Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie über die Entstehung von Gesellschaft, Staat und Recht. Von der bürgerlichen Aufklärung bis zum deutschen Positivismus des 19. Jahrhunderts 2 Bände, 2. Auflage, Personen- und Sachregister, zus. 876 Seiten, DM 28,80 Mottek/Blumberg/Wutzmer/Becker Studien zur Geschichte der industriellen Revolution in Deutschland 2. Auflage, 240 Seiten, Brosch., DM 12,80 Jürgen Kuczynski Zur Geschichte der bürgerlichen politischen Ökonomie 1. Auflage, Namens- und Sachregister, bearbeitet von H. Steinki, ca. 560 Seiten, Leinen, ca. DM 2 0 , -
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