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German Pages 358 [349] Year 1970
STUDIEN OBER D I E DEUTSCHE GESCHICHTSWISSENSCHAFT BAND 1
Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft Bandl Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben
Herausgegeben von JOACHIM S T R E I S A N D
deb
verlag das europäische buch
Dieser Band erschien unter der Redaktion von Hans Schleier zuerst 1969 als Band 20, Reihe 1: „Allgemeine und deutsche Geschichte", der Schriften des Instituts für Geschichte bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.
das europäische buch literaturvertrieb gmbh Westberlin ISBN 3-920 303-49-0 © 1969 by Akademie Verlag Berlin DDR Printed in the German Democratic Republic
1380
INHALT
Vorwort
. . . . . '
7
Die klassische deutsche Philosophie schreibung
und Dichtung und die Geschichts-
Ernst Engelberg: Friedrich Schiller als Historiker
11
Joachim Strcisand: Johann Gottlieb Fichte und die deutsche Geschichte
32
Joachim Streisand: Georg Wilhelm Friedrich Hegel und das Problem des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland
56
Die deutsche Geschichtsschreibung von der Spätaufklärung bis zum Vorabend der Revolution 1848/49 Gerhard Schilfert: August Ludwig von Schlözer
81
\
K a r l Obermann: Heinrich Luden
93
Rigobert Günther: Barthold Georg Niebuhr
»05
K a r l Obermann: Die Begründung der Monumenta Germaniae Histórica und ihre Bedeutung
113
Uwe-Jens Heuer: Karl Rechtsschule
121
Friedrich
Eichhorn
und die
historische
Gerhard Schilfert: Friedrich Christoph Schlosser Gerhard Schilfert/Hans Historiker
Schleier:
Georg Gottfried Gervinus
136 als 148
Gerhard Schilfert: Wilhelm Zimmermann
170
K a r l Obermann: Die deutschen Geschichtsvereine des Vormärz . .
185
Die Begründung des historischen
Materialismus
Rugard-Otto Gropp: Die Begründung des historischen Materialismus — eine Revolution in der Geschichtswissenschaft
203
r.
Die Revolution von 184H , 49 K a r l Obermann: Die deutschen Historiker in der Revolution von 1848/49 . .
219
6
Inhalt Von der Niederlage der Revolution 184814g bis zur Reichseinigung von oben Gerhard Schilfert : Leopold von Ranke . . . .
241
Hans Schleier: Die kleindeutsche Schule (Droysen, Sybel, Treitschke) Gottfried Koch: Der Streit zwischen Sybel und Ficker und die Einschätzung der mittelalterlichen Kaiserpolitik in der modernen Historiographie
271
3x1
Über das Geschichtsbild von Karl Marx und Friedrich Engels , Heinz Heitzér : • Uber das Geschichtsbild von Karl Marx und Friedrich Engels 339
Vorwort Die hier vorgelegten Studien sind aus verschiedenartigen Anlässen entstanden und daher nach Umfang und Themenstellung nicht gleichartig. Zusammengefaßt bilden sie aber doch den ersten Versuch, die Geschichte der neueren deutschen Geschichtsschreibung auf der Grundlage des historischen Materialismus darzustellen. Methodologisches Prinzip und gesellschaftliche Zielstellung dieses Versuches stimmen mit dem Prinzip und der Zielstellung überein, die uns bei der Erforschung der deutschen Geschichte überhaupt leiten: Ebenso wie wir bei der Beschäftigung mit der deutschen Geschichte davon ausgehen, daß die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung und des Klassenkampfes auch für die Geschichte unserer Nation gelten, gehen wir bei der Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft davon aus, daß es keinen „besonderen" Weg der geistigen Entwicklung Deutschlands gibt. Mit dieser Auffassung befinden wir uns in grundsätzlichem Gegensatz zu den einflußreichsten Historikern der Historiographie im imperialistischen Deutschland. So verschieden auch Dilthey, Meinecke und Srbik an Temperament, an individuellen Interessen und an persönlichem Stil gewesen sein mögen — gemeinsam ist ihren Darstellungen eben die Verabsolutierung gewisser Besonderheiten der deutschen Geistesgeschichte. In Wirklichkeit ist auch die Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft eine Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts, wobei dieser wissenschaftliche Fortschritt stets in engem Zusammenhang mit dem Kampf der Volksmassen um die Ablösung einer veralteten durch eine neue, höhere Gesellschaftsordnung stand. Die Bände erschienen 1963 und 1965 im Akademie-Verlag Berlin. Wenn auch manche spezielle Studie inzwischen unsere Kenntnis vertiefte und manche vor einem Jahrzehnt aktuelle Bezugnahme heute zu modifizieren sein mag, dürften doch die skizzierten prinzipiellen Gesichtspunkte es rechtfertigen, eine unveränderte Neuausgabe vorzulegen. August 1974
J. Streisand
Friedrich Schiller als Historiker Ernst Engelberg
Wer sich an Zeitgenossen oder Nachfahren Friedrich Schillers, die sich über dessen historische Schriften geäußert haben, in der Hoffnung wendet, in ihnen erste Wegweiser zu finden, der gerät unversehens in einen Irrgarten gegenteiliger Meinungen. Nach einer falschen Nachricht über Schillers Tod schrieb 1791 Jens Baggesen an Reinhold: „Daß der Schauspieldichter in ihm gestorben ist, kann ich vielleicht vergessen lernen, aber daß Deutschlands erster und vielleicht aller künftigen erster Geschichtsschreiber nicht mehr ist, das werde ich nie, nie verbluten;" 1 Dagegen meinte Nietuhr, einer der frühen Meister der historischen Quellenkritik, daß die historischen Arbeiten Schillers „unbedingt nichtig" seien. Aber auch was den bewertenden Vergleich der historischen Schriften Schillers betrifft, so gehen die Urteile recht weit auseinander. Hermann Hettner betrachtet Schillers „Dreißigjährigen Krieg" als einen offenkundigen Abstieg gegenüber seiner „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung", während Eduard Fueter in seiner „Geschichte der neueren Historiographie" (1911) Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges „sein historisches Meisterwerk" nennt. Die Liste der oft recht krausen und sich wunderlich widersprechenden Urteile könnten wir reichlich verlängern. Sie zwingen uns auf jeden Fall dazu, Schillers Werke selbst zu lesen und uns eine eigene Meinung über seine historiographische Leistung zu erarbeiten. Was fürs erste festgehalten werden muß, ist dieses: Schillers historiographisches Werk ist fragmentarisch geblieben. So hat Schiller seine Darstellung über den Abfall der Vereinigten Niederlande nur bis 1567 geführt, bis zu dem Jahr, da Alba seine Schreckensherrschaft in den Niederlanden auszuüben begann. Die große Zeit des niederländischen Freiheitskampfes finden wir in dem Werk, das 1788 erschien, überhaupt nicht gestaltet. Auch die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges ist derart proportioniert, daß die letzten dreizehn Jahre jenes für Deutschland so unglücklichen Geschehens derart abrißartig behandelt sind, daß auch hier von einem geschlossenen Werk füglich nicht gesprochen werden 1
Hettner, Hermann, Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert, hg. v. Ewald A. Boucke, 3. Buch, 2. Abschnitt, 7. Auflage, Braunschweig 1926, S. 116.
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Ernst Engelberg
kann. Wir empfinden es besonders schmerzlich, daß Schiller uns über den Westfälischen Frieden nichts sagt, außer einer recht rätselvollen, allzu diplomatischen Schlußbemerkung, mit der er vom Leser entschuldigend Abschied nimmt: Ein Abriß der Geschichte des Westfälischen Friedens, so schreibt er, könne mit der nötigen Kürze nicht gegeben werden, ohne „das interessanteste und charaktervolleste Werk der menschlichen Weisheit und Leidenschaft zum Skelett [zu] entstellen".2 Nähern wir uns weiter dem historiographischen Werk Schillers, dann müssen wir, um zu einem gerechten Urteil zu kommen, nicht allein und nicht einmal in erster Linie danach fragen, was es für seine Zeitgenossen bedeutete. Mit anderen Worten: Was hat denn der werdende und schließlich in Jena zünftig installierte Professor der Geschichte Friedrich Schiller im Kreise jener Zeitgenossen, die seine Kollegen wurden, dargestellt? Hat er um seiner nackten Existenz willen einfach das ihm abverlangte Pflichtpensum des damals üblichen akademischen Gelehrtendaseins absolviert? Wir denken, daß uns allein schon die berühmt gewordene Philippika gegen den Brotgelehrten in seiner Jenenser Antrittsvorlesung aufmerken lassen sollte. Wir sprechen nicht von den damals sehr bekannten Historikern wie Schlözer und Spittler, die Schiller in seiner Vorrede zu seiner „Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande" ausdrücklich erwähnt; wir möchten nur auf jenen ebenso emsigen wie eitlen Handwerkler aufmerksam machen, den der Göttinger Geschichtsprofessor Pütter darstellte. Er war der Prototyp jenes Historikers, der in Deutschland damals vorherrschte — der Mann, der sich auf der Oberfläche der rein diplomatischen und juristischen Geschichte bewegte. Der große Aufklärer unter den deutschen Historikern, der sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichsam hinüberrettete, F. C. Schlosser, hat in seiner „Geschichte des 18. Jahrhunderts..." von diesem Pütter ein sehr amüsantes Konterfei überliefert. Pütter, so schrieb Schlosser, „wußte jede noch so kleine Tatsache der sogenannten Reichsgeschichte und kannte alle ihre Quellen, vom dicksten Folianten bis zu der für irgend einen Reichsritter auf einem Reichsdorfe über einen Punkt der Gerichtsbarkeit oder über Benutzung eines Waldes oder einer Weide geschriebenen Deduktion". 3 Ein solcher Mann wie Pütter war von allen deutschen Fürsten, Reichsgrafen und Baronen, von großen und kleinen deutschen Staaten, von großen und kleinen deutschen Städten ebenso gesucht, wie von der aristokratischen Jugend in den Hörsälen. Schlosser fügte dieser Feststellung malitiös hinzu, daß die beiden nicht ganz dünnen Bände von Pütters Autobiographie besonders dazu bestimmt seien, dies alles dokumentarisch nachzuweisen. 2
3
Schiller, Friedrich, Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, in: Friedrich Schiller, Ges. Werke in 8 Bdn., hg. u. eingel. v. Alexander Abusch, 2. Aufl., Berlin 1959, Bd. 7, S. 385. Schlosser, Friedrich Christoph, Geschichte des 18. Jahrhunderts und des 19. bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs. Mit besonderer Rücksicht auf geistige Bildung, Bd. 4, Heidelberg 1853, S. 222.
Friedrich Schiller als Historiker
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In Pütters Werken fehlte sozusagen nichts - außer was für eine lebendige Auffassung des Lebens und der Menschen notwendig ist. 4 Dieses einzige war aber das Wesentliche bei der Darlegung der Geschichte. Und in hohem Maße besaß es ein anderer: Friedrich Schiller. Bei ihm weht uns von der ersten bis zur letzten Zeile seiner Darstellungen der lebendige Odem des geschichtlichen Geschehens entgegen; der denkende und handelnde Mensch steht in meisterhafter und plastischer Gestaltung vor uns. Keine der hier agierenden Personen bleibt uns gleichgültig. Wenn von der Geschichtsschreibung Schillers nur das allein festgestellt werden könnte, dann müßte sie in die Reihe der großen Meisterleistungen eingereiht werden. Doch müssen wir noch die Frage aufwerfen und beantworten: Welches war die Grundposition, von der aus Friedrich Schiller das geschichtliche Geschehen betrachtete? Welches waren die Grundwerte, mit denen er Personen und Ereignisse beurteilte? Wir wollen von dem Schiller, wie wir ihn als Dichter der „Räuber", des „Fiesco", des „Don Carlos", der „Kabale und Liebe" kennen, einmal absehen, vielmehr die sozialen und politischen Grundpositionen aus Schillers erstem und großem historiographischen Werk, der „Geschichte des Abfalls der Niederlande", selbst herauszuarbeiten versuchen. In diesem Bemühen macht uns allerdings die Tatsache einige Schwierigkeiten, daß dieses Werk Fragment geblieben ist, also jene Periode, in der das holländische Bürgertum zur wirklich führenden Kraft heranwächst, nicht behandelt ist. Aber es kann kein Zweifel bestehen, die Sympathien Schillers sind weder beim Absolutismus noch voll und ganz bei dem ständischen Adel, der sich im Geusenbund gegen die spanische Monarchie verbündet hat; sie sind nicht bei den Hochadligen wie Wilhelm von Oranien, am allerwenigsten bei Egmont; gegenüber den plebejischen Bilderstürmern hatte er ehrlichen Abscheu. Der habsburgische Absolutismus und der fast zu dessen Staatsreligion gewordene Katholizismus waren Schiller von ganzem Herzen zuwider. Volle Zuneigung und Achtung hatte Schiller nur für das reiche und külturgesättigte Bürgertum. Mit wannen Interesse und in vollen Farben schildert Schiller die Industrie der holländischen Nation im Anfang des 16. Jahrhunderts, die damals zu ihrer höchsten Blüte reifte. „Der Acker- und Linnenbau", so führt er aus, „die Viehzucht, die Jagd und die Fischerei bereicherten den Landmann; Künste, Manufakturen und Handlung den Städter. Nicht lange, so sah man Produkte des flandrischen und brabantischen Fleißes in Arabien, Persien und Indien. Ihre Schiffe bedeckten den Ozean, und wir sehen sie im Schwarzen Meer mit den Genuesern um die Schutzherrlichkeit streiten." 5 An anderer Stelle spricht Schiller davon, daß das Murren der Niederlande „die stolze und kräftige Stimme des Reichtums" gewesen sei.® Und wenn er die Entstehung des Bundes des verarmten Adels Ebenda. Schiller, Friedrich, Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung, in: Friedrich Schiller, Ges. Werke in 8 Bdn., a. a. O., Bd. 6, S. 222 (im folgenden zit.: Abfall der Niederlande). • Ebenda, S. 295.
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Ernst Engelberg
schildert, hebt er hervor, daß die protestantischen Kaufleute ihn finanzierten. Diese Adligen, auf welche die Kaufleute, wie Schiller wörtlich schreibt, „zu jeder andern Zeit vielleicht mit dem Stolze des Reichtums würden herabgeblickt haben, konnten ihnen nunmehr durch ihre Anzahl, ihre Herzhaftigkeit, ihren Kredit bei der Menge, durch ihren Groll gegen die Regierung, ja durch ihren Bettelstolz selbst und ihre Verzweifelung sehr gute Dienste leisten. Aus diesem Grunde ließen sie sich's auf das eifrigste angelegen sein, sich genau an sie anzuschließen, die Gesinnungen des Aufruhrs sorgfältig bei ihnen zu nähren, diese hohe Meinungen von ihrem Selbst in ihnen rege zu erhalten und, was das wichtigste war, durch eine wohl angebrachte Geldhilfe und schimmernde Versprechungen ihre Armut zu dingen." 7 So wird uns verständlich, daß Schiller mit seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande", wie er schon in den ersten Zeilen seiner Einleitung schrieb, ein schönes „Denkmal bürgerlicher Stärke" vor der Welt aufstellen wollte. In seiner Jenaer Antrittsrede spricht er davon, daß „in dem wohlthätigen Mittelstande, dem Schöpfer unsrer ganzen Kultur ein dauerhaftes Glück für die Menschheit heranreifen sollte." 8 Im übrigen beweisen Schillers Briefe jener Jahre, daß sich gerade durch seine Berührung mit dem Hofleben in Weimar sein bürgerliches Selbstbewußtsein sehr wohl gefestigt hat - so wenn er im März 1788 an Lotte von Lengenfeld, an seine spätere Frau, schrieb: „Ich habe nie glauben können, daß Sie, in der Hof— und —-=Luft sich gefallen; . . . so eigenliebig bin ich, daß ich Personen, die mir teuer sind, gerne meine eigene Denkungsart unterschiebe." 9 Schiller hat in seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande" auch aufleuchten lassen, warum das Bürgertum gegenüber dem habsburgischen Absolutismus seine Forderungen nach rechtlicher Sicherheit und staatsbürgerlicher Freiheit unbeirrt aufrechterhielt. So sagte er: „Diesen blühenden Wohlstand hatten die Niederlande ebensosehr ihrer Freiheit als der natürlichen Lage ihres Landes zu danken. Schwankende Gesetze und die despotische Willkür eines räuberischen Fürsten würden alle Vorteile zernichtet haben, die eine günstige Natur in so reichlicher Fülle über sie ausgegossen hatte. Nur die unverletzbare Heiligkeit der Gesetze kann dem Bürger die Früchte seines Fleißes versichern und ihm jene glückliche Zuversicht einflößen, welche die Seele jeder Tätigkeit ist." 10 In geradezu hymnischen Sätzen läßt Schiller vor unseren Augen ferstehen, wie „im Schöße des Uberflusses und der Freiheit" alle edleren Künste in den Niederlanden reiften. Aber wenn wir auch den Zusammenhang zwischen bürgerlichen Interessen und bürgerlichen Freiheitsforderungen durch Schiller verstehen lernen, hat er auch 1 Ebenda, S. 328 f. Derselbe, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in: Friedrich Schiller, Oes. Werke in 8 Bdn., a. a. O., Bd. 6, S. 523. 9 Schiller und Lotte. Ein Briefwechsel, hg. v. Alexander v. Gleichem-Rußwurm, Bd. 1, Jena 1908, S. 3. Schiller an Lotte v. Lengenfeld am 15/21. 3. 1788. 10 Schiller, Friedrich, Abfall der Niederlande, a. a. O., S. 224. 8
Friedrich Schiller als Historiker
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den Zusammenhang zwischen dem aufstrebenden Bürgertum und dem Protestantismus gesehen und dargestellt? Tatsächlich vermittelt er uns erstaunliche Einsichten. Wie selbstverständlich schreibt er: „Nichts ist natürlicher als der Übergang bürgerlicher Freiheit in Gewissensfreiheit. Der Mensch oder das Volk, die durch eine glückliche Staatsverfassimg mit Menschenwert einmal bekannt geworden, die das Gesetz, das über sie sprechen soll, einzusehen gewöhnt worden sind oder es auch selber erschaffen haben, deren Geist durch Tätigkeit aufgehellt, deren Gefühle durch Lebensgenuß aufgeschlossen, deren natürlicher Mut durch innere Sicherheit und Wohlstand erhoben worden, ein solches Volk und ein solcher Mensch werden sich schwerer als andre in die blinde Herrschaft eines dumpfen despotischen Glaubens ergeben-und sich früher als andre wieder davon emporrichten."11 Partei ergreifend für das besitzende und gebildete Bürgertum, dessen religiöse Ideologie in der Form des Protestantismus er lebhaft bejahte, ohne sich für die lutherische oder kalvinistische Richtung im einzelnen zu erklären, war Schillers erklärter Feind der Absolutismus mit seinen Institutionen und ideologischen Verbrämungen, in Form der katholischen Kirche. Von dieser Sicht aus urteilt Schiller: „Die Geistlichkeit war von jeher eine Stütze der königlichen Macht und mußte es sein. Ihre goldne Zeit fiel immer in die Gefangenschaft des menschlichen Geistes, und wie jene sehen wir sie vom Blödsinn und von der Sinnlichkeit ernten." 12 Schiller machte sich viel Mühe, in das absolutistisch^ Staatsgetriebe, in die Gedankengänge und Seelenvorgänge seiner exponiertesten Repräsentanten und Verfechter hineinzuleuchten. Wir spüren, wie er von intellektueller Neugierde getrieben ist, sich und uns allen klarzumachen, wie die Feinde der bürgerlichen und damit, seiner Ansicht nach, auch der menschlichen Freiheit fühlten, dachten und insgeheim wie öffentlich handelten. Wir werden nicht mit soziologischen Schemen bekanntgemacht, sondern mit Unmenschen von Fleisch und Blut. Wir begreifen jetzt erst, warum es den antifeudalen und antiabsglutistischen Kämpfern für politischen und menschlichen Fortschritt so schwer fiel, zu siegen. Eine der Kanaillen großen Stils war der Kardinal Granvella. Mit all seinen Schlichen, all seinen Verbindungen, mit all seinem unmenschlichen Denken, seinem verwegenen Trotz gegenüber der Feindschaft, die ihn umgab, mit seiner teuflischen Intelligenz und seiner inneren Disziplin für eine verruchte Sache mit all dem werden wir durch Schiller bis ins einzelne vertraut gemacht. Erst dadurch wird uns die ganze Größe der Nation klar, die gegen diesen von Philipp II. eingesetzten Despoten unerbittlich und ohne Unterlaß kämpft. Erst dadurch wird uns das Triumphgefühl zuteil, mit dem die Niederlande die NachEbenda, S. 228. — Die Sympathie Schillers für das niederländische Bürgertum arbeitet auch heraus Sproemberg, Heinrich, Schiller und der Aufstand der Niederlande, in: Beiträge zur belgisch-niederländischen Geschichte, Berlin 1959 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, hg. v. H. Sproemberg, H. Kretzschmar, E. Werner, Bd. 3). « Schiller, Friedrich, Abfall der Niederlande, a. a. O., S. 239.
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rieht aufnahmen, daß Philipp II. seinen verhaßten Minister gehen ließ. So schrieb Schiller: „Granvella war gefallen, wie kein Günstling fällt — nicht, weil sein ephemerisches Glück verblüht war, nicht durch den dünnen Atem einer Laune er fiel durch der Eintracht wundervolle Kraft - durch die zürnende Stimme einer ganzen Nation." 0 Schiller macht uns nahezu mit allen Methoden des Absolutismus vertraut, mit den lächerlichen wie mit den schrecklichen, beispielsweise der Inquisition, aber auch mit dem gefährlichen Scharfsinn in der Argumentation der feudalen Herrscher, mit der Virtuosität in der Behandlung der Menschen, so mit der verstellten Freundlichkeit, wie auch mit der scharfen, kalten, zupackenden und zuschlagenden Art, wenn für die Reaktionäre der Moment zum Handeln reif geworden war. Da fehlen dann auch bei Schiller keineswegs zynische Töne; man muß es lesen, wie Schüler die methodisch vorgehende Rache eines reaktionären Hauptmanns schildert: „Dem gemeinen Volk unter der Mannschaft wurde durch den Grafen von Aremberg sogleich das Urteil gesprochen; die dabei befindlichen Edelleute schickte er der Regentin zu, welche sieben von ihnen enthaupten ließ. Sieben andre von dem edelsten Geblüt, unter denen die Gebrüder Battenburg und einige Friesen sich befanden, alle noch in der Blüte der Jugend, wurden dem Herzog von Alba aufgespart, um den Antritt seiner Verwaltung sogleich durch eine Tat verherrlichen zu können, die seiner würdig wäre." 14 Schillers Haß und Abscheu gegenüber dem Absolutismus, insbesondere gegenüber den Habsburgern, kann nicht in den mindesten Zweifel gezogen werden. Aber wie sollte er bekämpft weiden? Es muß uns schon aufhorchen lassen, wenn es bereits in dem historischen Rückblick unter anderem folgendermaßen heißt: „Die Reformation hatte den römischen Bischof zu der fehlenden Menschheit herabgezogen — eine rasende Bande, vom Hunger begeistert, will allen Unterschied der Stände vernichtet wissen." 15 Wenn Schiller dann im vierten Buch die Bilderstürmerei in den Niederlanden behandelt, dann macht er aus seinem Abscheu gegenüber allem Plebejischen kein Hehl, er spricht vom „rasenden Gesindel"16, vom „schlammigten Schoß einer verworfenen Pöbelseele".17 Aber trotz aller antiplebejischer Haßausbrüche gibt uns Schiller einen tiefen Einblick in den Entstehungsprozeß und die asoziale Verwurzelung der bilderstürmerischen Exzesse. „Eine rohe zahlreiche Menge," so schildert Schiller, „zusammengeflossen aus dem untersten Pöbel, viehisch durch viehische Behandlung, von Mordbefehlen, die in jeder Stadt auf sie lauern, von Grenze zu Grenze herumgescheucht und bis zur Verzweiflung gehetzt, genötigt, ihre Andacht zu stehlen, ein allgemein geheiligtes Menschenrecht gleich einem Werke der Schillers Sämtliche Werk», Horenansgabe, hg. v. Conrad Höfer, Bd. 5, München und Leipzig o. J., S. 160. (Von Schiller in die Fassung von 1801 nicht wieder aufgenommen.) 14 Schiller, Friedrich, Abfall der Niederlande, a. a. O., S. 431. »s Ebenda, S. 231. 18 Ebenda, S. 375. « Ebenda, S. 371 f. 13
Friedrich Schiller als Historiker
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Finsternis zu verheimlichen - vor ihren Augen vielleicht die stolz aufsteigenden Gotteshäuser der triumphierenden Kirche, wo ihre übermütigen Brüder in bequemer und üppiger Andacht sich pflegen; sie selbst herausgedrängt aus den Mauern, vielleicht durch die schwächere Anzahl herausgedrängt, hier im wilden Wald, unter brennender Mittagshitze, in schimpflicher Heimlichkeit, dem nämlichen Gott zu dienen - hinausgestoßen aus der bürgerlichen Gesellschaft in den Stand der Natur, und in einem schrecklichen Augenblick an die Rechte dieses Standes erinnert! Je überlegener ihre Zahl, desto unnatürlicher ist dieses Schicksal ; mit Verwunderung nehmen sie es wahr. Freier Himmel, bereitliegende Waffen, Wahnsinn im Gehirne und im Herzen Erbitterung kommen dem Wink eines fanatischen Redners zu Hilfe; die Gelegenheit ruft, keine Verabredung ist nötig, wo alle Augen dasselbe sagen; der Entschluß ist geboren, noch ehe das Wort ausgesprochen wird; zu einer Untat bereit — keiner weiß es noch deutlich, zu welcher - , rennt dieser wütende Trupp auseinander. Der lachende Wohlstand -der feindlichen Religion kränkt ihre Armut, die Pracht jener Tempel spricht ihrem landflüchtigen Glauben Hohn; jedes aufgestellte Kreuz an den Landstraßen, jedes Heiligenbild, worauf sie stoßen, ist ein Siegesmal, das über sie errichtet ist, und jedes muß von ihren rächerischen Händen fallen. Fanatismus gibt dem Greuel seine Entstehung, aber niedrige Leidenschaften, denen sich hier reine reiche Befriedigung auftut, bringen ihn zur Vollendung."18 Bei allem großartigen Einfühlen in historisch bedeutsame Episoden, bei allem Herausarbeiten des sozialpsychologischen Kernproblems — der antiplebejische Haß Schillers ist nicht zu verkennen und nicht wegzudeuten. Aber war Schiller deshalb gegen jegliche revolutionäre Befreiungstat? Vertraute er ausschließlich auf das, was wir heute Revolution von oben nennen? Lehnte er die Revolution von unten stets und für immer ab? Allein schon jene berühmten und immer wieder zitierten Worte aus der Einleitung zur „Geschichte des Abfalls der Niederlande" sollten uns davor bewahren, Schiller als Gegner jeglicher revolutionärer Volksbewegung abzutun. Wir erinnern daran, daß Schiller die Begebenheit in den Niederlanden als ein Beispiel aufgefaßt wissen wollte, „wo die bedrängte Menschheit um ihre edelsten Rechte ringt, wo mit der guten Sache ungewöhnliche Kräfte sich paaren und die Hilfsmittel entschlossener Verzweifelung über die furchtbaren Künste der Tyrannei in ungleichem Wettkampf siegen".19 Für Schiller war groß und beruhigend der Gedanke, „daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen, heldenmütige Beharrung seine schrecklichen Hilfsquellen endlich erschöpfen kann".20 Schließlich setzte er sich zum Ziel, in der Brust seines Lesers „ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken und ein neues unverwerfliches Beispiel zu geben, was Menschen wagen dürfen für die gute Sache und ausrichten mögen durch Vereinigung" 21 Es mag sehr spitzfindig Ebenda, S. 372. 19 Ebenda, S. 197. Ebenda. 2» Ebenda. 18
2 Geschiehtswiuentchaft, Bd. I
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Ernst Engelberg
erscheinen, wenn wir aus einem Briefe Schillers an Crusius vom 25. Dezember 1800 hervorheben, daß Schiller für den bevorstehenden Neudruck seiner,.Geschichte des Abfalls der Niederlande" über den Kolumnen zur linken Hand des Lesers nicht etwa aus dem schon längst festgelegten und eingebürgerten Titel eine entsprechende Abkürzung wünschte, sondern die zwei Worte: „Niederländische Revolution". Aber hat am Ende der Schweizer Historiker Fueter doch recht, wenn er schreibt, daß Schillers berühmte Einleitung „ein schlimmes Stück phrasenhafter Revolutionsrhetorik" sei?22 Ein Mann wie Fueter, der so formuliert, muß eigentlich unrecht haben, auch dann, wenn er im einzelnen dann und wann recht haben sollte. Wenn auch Schiller durchaus von dem Wunsch geleitet war, es mögen den Völkern aufgeklärte Monarchen vorstehen, und wenn er für die vereinigten Niederlande ausdrücklich hervorhob, daß kein Volk auf Erden leichter beherrscht werden könne durch einen verständigen Fürsten als das niederländische und keines schwerer durch einen Gaukler oder Tyrannen, so war er politisch nicht so naiv zu glauben, daß Reformen von oben ohne irgendeinen Druck von unten zu erreichen wären. Den Schlüssel zum Verständnis von Schillers Haltung finden wir in jenen Abschnitten seines Buches, wo er sein zusammenfassendes Urteil über den „lobenswürdigen Bund" des vereinigten und, wie wir gesehen haben, von den reichen Kaufleuten finanzierten Adels gibt. „Einigkeit war seine Stärke; Mißtrauen und innere Zwietracht sein Untergang." 23 Dieses Motiv der Einigkeit unter den verschworenen Patrioten kehrt immer wieder. Darum sollten die berühmten Worte Attinghausens in „Wilhelm Teil", die ja leicht zur pseudopatriotischen Floskel herabsinken, ein stärkeres Gewicht und eine strengere demokratische Note erhalten. Aber trotz allem war der Vorwurf der Uneinigkeit, den er dem Geusenbund machte, nicht der entscheidende. Schiller fährt in seinen zusammenfassenden Bemerkungen über diesen Bund folgendermaßen fort': „Viele seltne und schöne Tugenden hat er ans Licht gebracht und entwickelt; aber ihm mangelten die zwo unentbehrlichsten von allen, Mäßigung und Klugheit, ohne welche alle Unternehmungen umschlagen, alle Früchte des mühsamsten Fleißes verderben." 24 Schiller klagt darüber sehr lebhaft, „daß der verbundene Adel an dem Unsinn der Bilderstürmer einen nähern Anteil hatte oder nahm, als sich mit der Würde und Unschuld seines Zwecks vertrug, und viele unter ihm haben augenscheinlich ihre eigene gute Sache mit dem rasenden Beginnen dieser nichtswürdigen Rotte verwechselt." 25 Es zeichnet sich die Schiller eigener Vorstellung von einer antiabsolutistischen bürgerlichen Revolution ab. Er wünscht ein Bündnis zwischen besitzendem Fueter, Eduard, Geschichte der Neueren Historiographie, München und Berlin 1911, S. 401. (Handbuch d. mittelalterl. u. neueren Gesch., hg. v. G. v. Below u. F. Meinecke, Abt. 1.) 23 Schiller, Friedrich, Abfall der Niederlande, a. a. O., S. 432. 2« Ebenda. " Ebenda. 22
Friedrich Schiller als Historiker
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Bürgertum und dem überkommenen Adel, wobei die Führung bei dem ersteren sein sollte. Adel und Bürgertum sollten die Führung in der patriotischen und freiheitlichen Volksbewegung behalten. Das können sie nur, wenn sie die Tugenden der Mäßigung und Klugheit üben. Nichts war Schiller wohl verhaßter, als wenn sich die zur Führung bestimmten bürgerlichen und adligen Kräfte in das Schlepptau spontaner Volksaufläufe und Volksaufstände begeben. Es war ihm zwar bewußt, daß Erscheinungen der Spontaneität in jeder Revolution unvermeidlich sind, aber er möchte sie doch möglichst zurückgedrängt wissen, gerade das Spontane, das Nichtbeherrschbare, läßt bei Schiller immer wieder die geheime Furcht, das Grauen vor der Revolution aufkommen. Er hob deshalb nicht allein das Rohe und Abstoßende in der Bilderstürmerei hervor, sondern auch die Tatsache, daß sie nicht „die Frucht eines überlegten Planes gewesen" sei, daß „diese wütende Tat in ihrer Entstehung zu rasch, in ihrer Ausführung zu leidenschaftlich, zu ungeheuer erscheint, um nicht die Geburt des Augenblicks gewesen zu sein." 26 Halten wir also fest: Schiller strebte an, daß Bürgertum und Adel in jeglichem Freiheitskampfe die Nation mit kluger und mäßigender Festigkeit zu führen verstehen. Nicht zuletzt deshalb verlangte er von den adligen und bürgerlichen Führungskräften Einigkeit unter sich, deren Geist auch auf die gesamte Nation ausstrahlen möge. Darum sagt er abschließend über den Geusenbund: „Durch diesen Bund wurden die Individuen einander nähergebracht und aus einer zaghaften Selbstsucht herausgerissen; durch ihn wurde ein wohltätiger Gemeingeist •unter dem niederländischen Volk wieder gangbar, det unter dem bisherigen Drucke der Monarchie beinahe gänzlich erloschen war, und zwischen den getrennten Gliedern der Nation eine Vereinigung eingeleitet, deren Schwierigkeit allein Despoten so keck macht. Zwar verunglückte der Versuch, und die zu flüchtig geknüpften Bande lösten sich wieder; aber an mißL: igenden Versuchen lernte die Nation das dauerhafte Band endlich finden, das der Vergänglichkeit trotzen sollte." 27 Aber war denn die Vorstellung eines auf den Prinzipien der bürgerlichen und nationalen Freiheit beruhenden Bündnisses zwischen Bürgertum und Adel realistisch, gerade in Deutschland realistisch? Grundsätzlich ist vorab festzustellen, daß durch die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie im Schöße des Feudalismus, also durch den kapitalistischen Vormarsch im städtischen Gewerbe und in der ländlichen Agrarwirtschaft eine allmähliche Annäherung zwischen Adel und Bürgertum sowohl sozialökonomisch wie psychologisch möglich wird, wobei der Druck von unten wie auch der Druck von außen, also der Druck in Zeiten der nationalen Bedrohung, als politische Katalysatoren, als beschleunigende Elemente wirken. In der Tat waren die preußischen Reformen nach 1807 und die Vorbereitungen auf den Befreiungskrieg, die Friedrich Engels als den Beginn der bürgerlichen Revolution in Deutschland bezeichnete, ein Beispiel für eine Revolution von oben. 26 Ebenda, S. 371/372. 2»
27
Ebenda, S. 433.
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Das Verhältnis von bürgerlichen Reformen von oben und Revolutionen von unten beschäftigte Friedrich Schiller immer wieder, auch wenn er für einige Jahre Politik und Revolution aus seinem Bewußtsein verdrängte — und zwar gerade deswegen, weil er sie durch den Gang der weltpolitischen Ereignisse nicht zu bewältigen verstand. Aber jetzt stehen wir immer noch im Jahre 1788, im Jahre des Erscheinens der von uns besprochenen „Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlände". Ein Jahr später, im Mai 1789, in jenem Monat, da gleichsam als Vorboten der Revolution die Generalstände in Paris zusammentraten, trat Schiller zum Leidwesen seines Freundes Körner in den Kreis der zünftigen Historiker ein. Am 26. Mai 1789 hielt er in Jena im Griesbachschen Haus seine Antrittsvorlesung über ein eigentüch sehr konventionelles Thema: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Wir gehen hier auf seine teleologische Geschichtsauffassung, verbunden mit einer Art Kreislauftheorie, nicht weiter ein, auch wenn es nicht schwer ist, in einigen Exkursen innerhalb seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande" die gleichen geschichtsphilosophischen Auffassungen herauszufinden. Sie haben unserer Ansicht nach seine forscherischen Leistungen und seine weit bedeutendere Geschichtsschreibung kaum beeinflußt. Ja, Schiller ist unserer Ansicht nach selbst in der Theorie nicht konsequent. Ein echter Geschichtsteleologe muß leugnen, daß die Geschichte und die Menschen etwas grundsätzlich Neues hervorzubringen vermögen, gerade auch im Moralischen; alles ist doch nach ihnen zweckvoll von Anfang an vorher bestimmt; die Menschen haben danach nur das zu erkennen und zu realisieren, was von Anfang an der, Geschichte zugriinde gelegt werden sollte. Darin besteht ausschließlich die hohe Mission der Neuzeit. Schiller dagegen schließt seine Antrittsrede mit folgenden Worten: „Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt (Hervorhebung von mir - E. E.) an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen."28 Den. stärksten Eindruck, den Schillers Jenenser Antrittsrede vermittelt, bilden nicht seine Geschichtskonstruktionen, sondern sein noch ungebrochener Fortschrittsoptimismus, sein ebenso ungebrochener Glaube an die geschichtliche und moralische Mission seiner Gegenwart, an das 18. Jahrhundert, das er „unser menschliches Jahrhundert"29 nannte, sein Appellieren an den Menschen. Gerade das letztere haben wir bereits als ersten hervorstechenden Eindruck seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande'' erkannt. Gerade dadurch, daß er den Menschen in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Darstellung der GeDerselbe, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, a. a. O., S. 53of. 29 Ebenda, S. 530. 28
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schichte stellte, hob er sich von der moralischen Engbrüstigkeit gelehrter Pedanten mit einem Schlage ab: Auch die Geschichtsschreibung war für ihn eine moralische Anstalt. So wandte er sich an seine Studenten: „Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der Geschichte; in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt . . . Es ist keiner unter Ihnen allen, dem Geschichte nicht etwas wichtiges zu sagen -hätte, alle noch so verschiedenen Bahnen Ihrer künftigen Bestimmimg verknüpfen sich irgendwo mit derselben; aber Eine Bestimmung teilen Sie alle auf gleiche Weise miteinander, diejenige, welche Sie auf die Welt mitbrachten — sich als Menschen auszubilden — und zu dem Menschen eben redet die Geschichte."30 Wir müssen unwillkürlich an Hölderlin denken, der einige Jahre später über die Deutschön zürnte, daß man dort nur Handwerker sehe, aber keine Menschen, daß der Deutsche doch immer in seinem Fache bleibe. Das meinte eigentlich auch Schiller, der sich nicht an den durch die Arbeitsteilung zerrissenen, in falscher fachmännischer Tüchtigkeit befangenen Menschen wendet, sondern den ganzen Menschen erfassen und bilden wollte. Darum verlangt er auch ein enges Bündnis zwischen Wissenschaft und Kunst und erklärt halb fordernd: „An griechischen und römischen Mustern mußte der niedergedrückte Geist nordischer Barbaren sich aufrichten und die Gelehrsamkeit einen Bund mit den Musen und Grazien schließen, wann sie einen Weg zu den Herzen finden und den Namen einer Menschenbildnerin sich verdienen wollte." 31 Das ist nichts anderes als das vorhin zitierte Leitmotiv. Und im Schlußsatz der Vorrede zur „Geschichte des Abfalls der Niederlande" sagt er noch deutlicher, „daß eine Geschichte historisch treu geschrieben sein kann, ohne darum eine Geduldprobe für den Leser zu sein" und „daß die Geschichte von einer verwandten Kunst etwas borgen kann, ohne deswegen notwendig zum Roman zu werden."32 Hermann Hettner mag durchaus recht haben, wenn er Schillers Gedicht „Die Künstler", bereits im Sommer 1788 begonnen und am 4. Februar 1789 vollendet, in Zusammenhang mit Schillers Bemühungen bringt, Kunst und Wissenschaft miteinander zu vermählen. Der Menschheit Ideal ist nach Schiller erst erreicht, wenn sittliche und wissenschaftliche Kultur wieder volle Einheit sind. Und Schiller mahnt uns: „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!"33 Wenige Monate nach Beginn seiner akademischen Tätigkeit in Jena nahm Schiller die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" in Angriff. Der Stoff lag ihm zwar schon seit 1786 am Herzen, aber jetzt wurde er durch den Verleger Göschen zur Arbeit angeregt und angetrieben, diese Geschichte für einen Damenalmanach zu schreiben. Was Schillers Grundansichten über die Entstehung und den Verlauf 30 Ebenda, S. 5 1 3 ! »» Ebenda, S. 524. 31 Schillers Sämtliche Werke, Horenausgabe, a. a. O., S. 36, Vorrede von 1788. " Schüler, Friedrich, Ges. Werke in 8 Bdn., a. a. 0.,'Bd. 1, Gedichte, S. 181.
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dieses entsetzlichen Krieges anbelangt, so müssen wir dem Urteil eines Hermann Hettner und Franz Mehring folgen. Von vornherein wird die Religion als Ursache und Triebkraft des Krieges gesehen, was den Blick trüben muß. Schillers bürgerliches Klassenbewußtsein setzt sich hier in einseitige Parteinahme für den Protestantismus um. Die progressive Bedeutung der Reformation wird überbetont und Gustav Adolf als Glaubenskämpfer und Vertreter des Progressiven glorifiziert. Erst nachträglich wird erwähnt, daß der Held, der bei Lützen sank, nicht mehr der Wohltäter Deutschlands war, sondern daß der größte Dienst, den er der Freiheit des Deutschen Reiches noch erweisen konnte, in seinem Sterben lag. 34 Schiller sah die Partikulargewalten als Träger der Freiheit, weil sie gegen Habsburg, den Verfechter der alten Religion, ankämpften. Darum wird auch das Bild der entsetzlichen Schmach und Erniedrigung Deutschlands nicht mit jener Eindringlichkeit gezeichnet, wie man es eigentlich von Schiller hätte erwarten können. Er war auch zu sehr von der Vorstellung befangen, daß Europa eine große Völkerfamilie bilde, als daß er den fürstlichen Verrat an Kaiser und Reich hätte vollständig begreifen und gebührend brandmarken können. Nur gelegentlich finden wir Sätze wie diesen: „Alle diese Wunden schmerzten um so mehr, wenn man sich erinnerte, daß es fremde Mächte waren, welche Deutschland ihrer Habsucht aufopferten und die Drangsale des Krieges vorsätzlich verlängerten, um ihre eigennützigen Zwecke zu erreichen. Damit Schweden sich bereichern und Eroberungen machen konnte, mußte Deutschland unter der Geißel des Krieges bluten; damit Richelieu in Frankreich notwendig blieb, durfte die Fackel der Zwietracht im Deutschen Reiche nicht erlöschen." 35 In Schillers Dreißigjährigem Krieg sind die subjektiven Faktoren des Geschichtsverlaufs, die Momente des Zufalls, die Kabinettspolitik, die persönlichen Motive weit stärker betont als in seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande". Aber dennoch! Auch in diesem Werk zeigt sich auf Schritt und Tritt die Meisterhand des gestaltenden Geschichtsschreibers. Es ist schwer, der Versuchung zu widerstehen, ganze Partien aus der packenden Schilderung der Greuel des Krieges zu zitieren. Nur eine kurze Zusammenfassung sei wiedergegeben: „Alle Bande der Ordnung lösten in dieser langen Zerrüttung sich auf, die Achtung für Menschenrechte, die Furcht vor Gesetzen, die Reinheit der Sitten verlor sich, Treu und Glaube verfiel, indem die Stärke allein mit eisernem Zepter herrschte; üppig schössen unter dem Schirme der Anarchie und der Straflosigkeit alle Laster auf, und die Menschen verwilderten mit den Ländern. Kein Stand war dem Mutwillen zu ehrwürdig, kein fremdes Eigentum der Not und der Raubsucht heilig. Der Soldat (um das Elend jener Zeit in ein einziges Wort zu pressen), der Soldat herrschte, ..."3G Friedrich Schiller selbst hat den qualitativen Unterschied zwischen seiner „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" einerseits und der „Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande" andererseits wohl gefühlt. In einem Brief an den
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Derselbe, Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, a. a. O., S. 278. Ebenda, S. 336t Ebenda, S. 336.
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Buchhändler Crusius, den Verleger seines ersten Geschichtswerkes, schrieb er am 8. Oktober 1791: „Sie taten mir Unrecht, mein wertester Freund, wenn Sie glaubten, daß ich Sie einem andern nachgesetzt und durch Übernehmung des historischen Kalenders die Niederländische Geschichte zurückgesetzt habe. Ein anderes ist eine Arbeit für Damen und die Modewelt, ein anderes ein Werk für die Nachwelt. Das letztere wird langsam reif, wenn das erstere leicht von der Feder fließt. In keinem Falle würde ich mit der Fortsetzung der Niederländischen Geschichte so geschwind haben hervortreten können, als Sie und vielleicht auch das Publikum wünschten." 37 Die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" war im weitesten Sinne des Wortes ein Kind der Not. Bei allem Interesse für den Stoff ging er an die Arbeit aus dem drängenden Bedürfnis heraus, in rascher Arbeit fetwas zu verdienen. Aber der Briefwechsel Schillers sagt deutlich aus, wie die Arbeit ständig unterbrochen wurde, weil den Dichter Krankheit niederwarf. Bitter bedrückte ihn materielle Not. Der Schwerleidende brachte kaum die Mittel auf, um sich einen Pelz anzuschaffen, zu dem ihm der Arzt dringend riet. Schiller, einer der Größten unserer Kultur, war nicht einmal in der Lage, die Unkosten einer Reise nach Schwaben zu seinen Eltern zu bestreiten. Wie schwer ihm die Arbeit fiel, wie sehr sie ihn bedrückte — darüber durfte er seinem Verleger Göschen nichts verraten; ihm gegenüber spielt er den Munteren und berichtet zuversichtlich im Juni 1792: „Der Dreißigjährige Krieg geht jetzt schon frisch seinen Gang, und ich werde in der Mitte dieses Monats, meinem Versprechen und Ihrem Wunsche gemäß, pünktlich die erste Manuskriptlieferung einschicken."38 Wenig später aber schreibt er seinem Freund Körner: „Die Last des Dreißigjährigen Krieges liegt noch schwer auf mir und weil mich die Krämpfe auch redlich fortplagen, so weiß ich oft kaum wo aus noch ein." 39 Zur materiellen und gesundheitlichen Not gesellte sich zu jener Zeit, nicht weniger bedrückend, die moralische. Sie führte ihn von der Geschichtsschreibung weg. Worin bestand denn nun diese moralische Not? Schon im März 1792 bekannte er gegenüber Körner, daß er der Arbeit am Dreißigjährigen Krieg nicht über fünf Stunden des Tages widmen möchte. „Ganz besitzt sie mich nicht", fuhr er fort, „und meine besten Stunden werden auf etwas gescheiteres verwendet, was du 37
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Schillers Briefe, hg. u. m. Anmerk. versehen v. Fritz Jonas, Krit. Gesamtausgabe, Bd. 3, Stuttgart—Leipzig—Berlin-Wien o. J., S. 161. Schiller an Siegfried Lebrecht Crusius am 8. 10. 1791. — Für einen imperialistischen Historiker wie Theodor Schieder liegt der qualitative Höhepunkt natürlich umgekehrt. Er stempelt die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges vor allem deshalb zu dem bedeutendsten historischen Werk Schillers, weil dieser darin angeblich das „Unbegreifliche zum Standpunkt der Beurteilung" gemacht habe. (Schieder, Theodor, Schiller als Historiker, in: HZ, Bd. 190, H. 1, i960, S. 43). Schillers Briefe, a. a. O., S. 204. Schiller an Georg Göschen am 4. 6. 1792. Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. Von 1784 bis zum Tode Schillers. Mit Einl. v. Ludwig Geiger, Stuttgart und Berlin o. J., Bd. 2, S. 241. Schiller an Gottfried Körner am 30. 7. 1792.
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mündlich erfahren sollst." 40 Und dieses Gescheitere erweist sich als das Studium Kants. Was hat Schiller zu Kant getrieben? Es bleibt uns hier versagt, alle Seiten dieses geistigen Vorgangs zu verfolgen und zu beleuchten. Nur auf einen einzigen, unserer Ansicht nach allerdings sehr entscheidenden Gesichtspunkt möchten wir hier hinweisen. Ein echter Historiker muß ein zutiefst politischer Mensch sein, und das war auch Schiller unzweifelhaft, trotz vermeintlicher und auch wirklicher Resignation in Fragen der Politik während verschiedener Abschnitte seines Lebens. Wir haben Schiller in seiner Antrittsrede als einen fortschrittsoptimistischen und gegenwartsfreudigen Menschen in den Wochen der Vorphase der großen französischen Revolution kennengelernt; wir haben ihn kennengelernt als einen politischen Menschen, der alles vom Standpunkt der bürgerlichen Freiheitsforderungen und im Interesse der bürgerlichen Umgestaltung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse betrachtet. Dabei plagt ihn das Verhältnis zwischen den Problemen der Revolution von oben und der von unten. Solange die französische Revolution tatsächlich vom Bürgertum-und einigen Teilen des übergelaufenen Adels geführt und die Volksbewegung im großen und ganzen von diesen großbürgerlich-adligen Führungskräften beherrscht wird, ist Schiller beruhigt und bejaht die Revolution. Immerhin schreibt er am 6. November 1792, also nach der Fertigstellung seiner „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges", zu einer geplanten Bearbeitung der Cromwellschen Revolution an Körner: „Es ist sehr interessant, gerade in der jetzigen Zeit ein gesundes Glaubensbekenntnis über Revolutionen abzulegen; und da es schlechterdings zum Vorteil der Revolutionsfeinde ausfallen muß, so können die Wahrheiten, die den Regierungen notwendig darin gesagt werden müssen, keinen gehässigen Eindruck machen." 41 Aber Körner lehnte doch ab, weil ihm der Cromwell-Stoff doch zu Verfänglich erschien. Noch im gleichen Monat November bekennt Schiller Gottfried Körner gegenüber, daß er den „Moniteur" lese und seitdem von den Franzosen mehr erwarte und setzt hinzu: „Wenn Du diese Zeitung nicht liest, so will ich sie Dir sehr empfohlen haben. Man hat darin alle Verhandlungen in der Nationalkonvention in Detail vor sich und lernt die Franzosen in ihrer Stärke und Schwäche kennen." 42 Dieses intensive Verfolgen der revolutionären Ereignisse in Frankreich hinderte ihn nicht im mindesten, kaum drei Jahre später an den Komponisten und Schriftsteller Reichardt zu schreiben, es sei im buchstäblichsten Sinne wahr, daß er gar nicht in seinem Jahrhundert lebe, und mit unschuldigster Miene und schwäbischem Schlaumeiertum fügt Schiller hinzu: „Und ob ich gleich mir habe sagen lassen, daß in Frankreich eine Revolution vorgefallen, so ist dies so ohngefähr das wichtigste, was ich davon weiß."4:1 40 42 43
Ebenda, S. 226. Schiller an G. Körner am 15. 3. 1792. Ebenda, S. 258. Schiller an G. Körner am 6. 11. 1792. Ebenda, S. 262. Schiller an G. Körner am 26. 11. 1792. Schillers Briefe, a. a. O., Bd. 4, Stuttgart—Leipzig—Berlin-Wien o. J. S. 218. Schiller an Fritz Reichardt am 3. 8. 1795. Auch Golo Mann schildert erstaun-
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Öfters schreiben Literaturhistoriker von der Enttäuschung Schillers über die französische Revolution. Wir möchten in Zweifel ziehen, ob dieser Ausdruck „Enttäuschung" der inneren und äußeren Situation Schillers von damals adäquat ist. Gewiß war im Mai 1789 in. Schiller noch so etwas wie naiver Optimismus vorhanden, aber seine Vorstellung von einer bürgerlichen Revolution war nach einer Seite hin immer klar umrissen, nämlich was seine Ablehnung alles Spontanen und Plebejischen in der Revolution betraf. Dieses Spontane und Plebejische mußte in Schillers Augen den letzten politischen und menschlichen Zielen der bürgerlichen Revolution abträglich sein. Von dieser Grundposition aus mußte Schiller vieles, was sich in der französischen Revolution ereignete, negieren. Wir denken, wir sollten in der Beurteilung von Schillers Haltung zum Ablauf der französischen Revolution sehr umsichtig zu Werke gehen. Auf keinen Fall scheint mir richtig zu sein, Schiller etwa als irrenden Spießbürger anzusehen, dem man nun einmal vieles verzeihen müsse, weil er im übrigen kein schlechter Poet gewesen sei. Was müssen wir also beachten? Fürs erste sollten wir uns hüten, aus allen Volksaufständen der französischen Revolution gleichsam ein heilig Wesen zu machen. In einem Brief vom 4. September 1870* beurteilt ein Mann, den niemand als Gegner der Revolution und des Plebejertums zu bezeichnen wagt, die Schreckensherrschaft der französischen Revolution in einer heute für unsere Ohren recht merkwürdig klingenden Art. Er schrieb damals, also am 4. September 1870, unmittelbar nach dem Sturz Napoleons III., folgendes: „Wir verstehn darunter (unter der Schreckensherrschaft - E. E.) die Herrschaft von Leuten, die Schrecken einflößen; umgekehrt, es ist die Herrschaft von Leuten, die selbst erschrocken sind. La terreur, das sind großenteils nutzlose Grausamkeiten, begangen von Leuten, die selbst Angst haben, zu ihrer Selbstberuhigung. Ich bin überzeugt, daß die Schuld der Schreckensherrschaft Anno 1793 fast ausschließlich auf den überängsteten, sich als Patrioten gebarenden Bourgeois, auf den kleinen hosenscheißenden Spießbürger und auf den bei der terreur sein Geschäft machenden Lumpenmob fällt." 4/i Der dies geschrieben hat, war — Friedrich Engels, und zwar an Karl Marx. E s liegt mir nun fern, diese Briefstelle von Friedrich Engels gleichsam zu kanonisieren und zu meinen, damit sei das Urteil über die französische Schreckensherrschaft ein für allemal gefällt. Aber wir sollten doch vorsichtiger sein in dem empörten oder meist bemitleidenden Verurteilen von Schillers Distanz zur französischen Revolution. Er hatte doch offensichtlich einigen Grund, über manche Ereignisse entsetzt zu sein. Wir wollen auch nicht übersehen, daß Friedrich Engels mit seinen Bemerkungen über die Schreckensherrschaft in der französischen Revolution das Problem der Spontaneität berührte, das die führenden Revolutionäre nicht beherrschten licherweise noch heute Schiller als einen seiner Zeit abgekehrten Denker. (Mann, Golo, Schiller als Historiker, in: Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 13. Jg., H. 12, 1959.) Marx/Engels, Briefwechsel, Bd. 4, Berlin 1950, S. 453. F. Engels an K. Marx am 4. 9- »870-
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Zu dem Großartigen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 gehörte auch die Tatsache, daß sie ideologisch, politisch und organisatorisch bis ins einzelne vorbereitet und beherrscht wurde. Deshalb kostete sie so wenig Opfer und ist auch von dieser Sicht her so tief menschlich. Doch zurück zu Schiller. Ein anderes, was wir beim Problem Schiller und die französische Revolution unbedingt beachten müssen, das ist eine exaktere Beurteilung seiner Stellung zu Ludwig X V I . Es ist selbstverständlich nicht zu bestreiten, daß er eine Schrift gegen seine Hinrichtung schreiben wollte. Aber ganz im Sinne seiner Meinung über die einzunehmende Grundhaltung in einer Schrift über die Cromwellsche Revolution, wo auch einige Wahrheiten über die feudalen Regierungen gesagt werden sollten, schrieb er am 21. Dezember 1792 wiederum an seinen Freund Kömer: „Der Schriftsteller, der für die Sache des Königs öffentlich streitet, darf bei dieser Gelegenheit schon einige wichtige Wahrheiten mehr sagen als ein anderer und hat auch schon etwas mehr Credit." 45 Schiller hat also auch hier die Sache der bürgerlichen Freiheit nicht aufgegeben und sich keineswegs auf die Position eines konservativen Draufgängers begeben. Aber nun geschah bei der Abfassung der Verteidigungsschrift etwas höchst Merkwürdiges. Am 8. Februar 1793 setzt Schiller das Thema in seinem Briefwechsel mit Kömer fort, und da schreibt er ihm: „Was sprichst Du zu den französischen Sachen? Ich habe wirklich eine Schrift für den König schon angefangen gehabt, aber es wurde mir nicht wohl darüber, und da liegt sie mir nun noch da." 4 0 Es wurde ihm nicht wohl dabei! Hier haben wir den eigentlichen Grand, warum die Hinrichtung Ludwigs der beabsichtigten Protestschrift zuvorkam. Kurz zusammengefaßt: Schiller wurde nicht fertig mit den Problemen der Revolution von unten, weil ihm die objektiven Verhältnisse in Deutschland und viele Erscheinungen in Frankreich nicht halfen, damit fertig zu werden. Schiller wurde aber auch nicht fertig mit den Problemen der Revolution von oben, weil der Gang der Ereignisse in Frankreich sie überholte und sie in Deutschland in einer Zeit, da der konterrevolutionäre Krieg gegen Frankreich bereits in Szene gesetzt war, erst recht nicht mehr aktuell wurden. Darum wandte sich Schiller von der eigentlichen Geschichtsschreibung ab, da sie ihm zu jener Zeit für die Sache der bürgerlichen Revolution nicht mehr nützlich schien. Ja, Schiller mußte sich fragen, ob überhaupt noch die Fragen der politischen Emanzipation angängig seien. Sollte man sich nicht vielmehr erstrangig nach der menschlichen Emanzipation fragen? Schiller bejahte diese letztere Frage, und das ist der tiefere Sinn seiner intensiven Beschäftigimg mit Kant. Es ist nicht unseres Amtes, diese Problematik hier zu verfolgen, auch nicht, wie er sich von Kant wieder entfernte und zu einer neuen dramatischen Dichtung kam. Aber was uns als Historiker interessiert und interessieren muß, das ist die Frage, wie Schiller vom Politischen her (und eben nicht allein vom Ästhetischen) zu der Briefwechsel zwischen Schiller und Körner, a. a. O., S. 266 f. Schiller an G. Körner am 31. 12. 1792. '•« Ebenda, Bd. 3, Stuttgart u. Berlin o. J. S. 18. Schiller an G. Körner am 8. 2. 1793.
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erwähnten neuen - Dramatik kam. Denn wir müssen hier Franz Mehring recht geben, wenn er sagte, daß Schiller auch als Dramatiker ein großer Historiker war. Zur großen dramatischen Schöpfung drängte es Schiller auch aus politischen Gründen, nachdem nämlich das politische Geschehen die nationale Frage in den Vordergrund gerückt hatte. Die französische Hegemonie und die - drohende Fremdherrschaft in ihrer drückendsten Form eröffneten die reale Perspektive einer bürgerlichen Revolution von oben, die sich mit einer Volksbewegung verbindet, der die herrschenden Kräfte allerdings in Ziel und Methode von vornherein Schranken weisen. Wann trat der Umschwung ein, der die deutschen Intellektuellen in direktem oder indirektem Zusammenhang mit Regungen im Volke politisch wieder aufgeschlossener machte? Wir denken, daß dieser Umschwung spätestens mit dem Jahre 1797 eintrat, als nämlich Österreich, wie Preußen 1795, im Vorfrieden von Leoben und schließlich im Frieden von Campo Formio in die Abtretung des linken Rheinufers einwilligte. Um die nationale Demütigung zu vervollständigen, wurde auch noch festgelegt, daß Frankreich im Verein mit Rußland bei der Neuund Umgruppierung der deutschen Länder mitzusprechen, im Grunde genommen zu entscheiden, hatte. Die deutschen Intellektuellen waren aufs tiefste beunruhigt, und jeder große deutsche Dichter und Denker setzte sich damals auf die eine oder andere Weise mit der nationalen Krise auseinander. Die nationalbürgerlichen Regungen seit dem Frieden von Campo Formio, noch keineswegs aufeinander abgestimmt, jede auf eigene Art, oft noch tastend, sind dennoch unverkennbar und haben die nationale Bewegung wider die Fremdherrschaft nach 1807 vorbereitet. Es begann eigentlich mit Johann Wolfgang von Goethe! In den entscheidungsvollen Monaten zwischen dem Vorfrieden von Leoben im April 1797 und dem Frieden von Campo Formio im Oktober 1797 hat er sein volkstümliches und vaterländisches Epos „Hermann und Dorothea" beendet und es mit den Worten schließen lassen: „Und gedächte jeder wie ich, so stünde die Macht auf gegen die Macht, und wir erfreuten uns alle des Friedens." Goethes nationalbürgerlicher Trotz, der aus diesen Worten spricht, konnte nicht beruhigend wirken, auch wenn die Grundstimmung in „Hermann und Dorothea" antirevolutionär war. Und während das Goethesche Epos „Hermann und Dorothea" die deutsche Kleinstadtwelt gestaltete, idealisierte und nur von fem in den großen weit- und nationalpolitischen Zusammenhang stellte, führte Schillers Wallenstein-Trilogie, die in den Jahren 1797 und 1798 vollendet wurde, in die große Welt der politischen und militärischen Kämpfe und Entscheidungen einer bedeutsamen Epoche unserer Geschichte. 47 Schiller ging es um die moralisch-politische Erziehung der Deutschen, damit sie in einer Zeit, „da um der Menschheit große 47
Vgl. Mayer, Hans, Schiller und die Nation, in: Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Berlin, 1954, S. 1 1 2 (Beiträge zur Literaturwissenschaft, hg. v. W. Krauß u. H. Mayer, Bd. 2).
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Gegenstände, um Herrschaft und Freiheit" gerungen wurde, als Nation im Kreise der großen Völker bestehen könnten. Niemals war ihm die Würde und Größe der deutschen Nation gleichgültig; er sah beides im Streben nach dem humanistischen Ideal und in der Weltoffenheit. Dem Deutschen „ist das Höchste bestimmt, die Menschheit, die allgemeine, in sich zu vollenden und das Schönste, was bei allen Völkern blüht, in einem Kranze zu vereinen,"*8 das schrieb Schiller in dem Liedentwurf „Deutsche Größe", der entweder nach dem Frieden von Campo Formio oder Lun6ville entstand. Und gerade die von ihm geforderte besondere Größe und Würde der Deutschen hielt er für die Voraussetzung ihrer politischen Zukunft: „Dem, der den Geist bildet, beherrscht, muß zuletzt die Herrschaft werden." 49 Aber schrieb Schiller in jenen schicksalsschweren Jahren, von denen wir sprechen, nicht auch Worte tiefster politischer Resignation? Denken wir nur an das Gedicht „Der Antritt des neuen Jahrhunderts". Von dem gewaltigen weltpolitischen Gegensatz und Kampf zwischen Frankreich und England sprechend - „Aller Länder Freiheit zu verschlingen, schwingen sie den Dreizack und den Blitz", mutet uns der Schluß wie eine politische Weltflucht an: „Ach umsonst auf allen Länderkarten Spähst Du nach dem seligen Gebiet, Wo der Freiheit ewig grüner Garten, Wo der Menschheit schöne Jugend b l ü h t . . . In des Herzens heilig stille Räume Mußt Du fliehen aus des Lebens Drang: Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, Und das Schöne blüht nur in Gesang." 50 Die Resignation, die aus diesen Verszeilen spricht, konnte nur voiilbergehend sein, weil sie von politischen Überlegungen und von einem ursprünglichen Handelnwollen ausging. Gerade dieses Gedicht zeugt in seinen Hauptteilen von einem politisch hellwachen Blick. Schiller wußte, was draußen in der Welt gespielt wurde und was so oft hinter den großen Worten der politischen Tagesparolen steckte. Weder diesseits noch jenseits des Rheins, weder auf dem Kontinent noch auf den britischen Inseln verspürte Schiller eine Kraft, der er sich vertrauensvoll hätte anschließen können. Er ließ sich auch nicht von der Zauberkraft Napoleonischen Feldherrntums und seinem revolutionär anmutenden Pathos hinreißen, wie es Beethoven vorübergehend geschah; dazu war er politisch zu klarblickend. Das politische Klügeln und das gesellschaftliche Klugreden mit Napoleon, wie dies Seine Exzellenz Wirklicher Geheimrat und Staatsminister Wolfgang von Goethe auf dem Erfurter Fürstentag tat, lag Schiller auch nicht; dazu fühlte er seiner Herkunft und seinem Temperament nach denn doch zu demokratisch. „Seiner freien Seele war der Hauch der Tyrannei durchaus zuwider", 48 Schiller, Friedrich, Ges. Werke in 8 Bdn, a. a. O., Bd. l, S. 464. « Ebenda, S. 462. *o Ebenda, S. 414.
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so berichtete Karoline Schlegel und fuhr dann später fort: „Und wir hörten ihn sagen: .Wenn ich mich nur für ihn [Napoleon — E. £.] interessieren könnte! Alles ist ja sonst tot — aber ich vermag's nicht; dieser Charakter ist mir durchaus zuwider." " 5 1 Es kann kein Zweifel bestehen: Bei Schiller wurde nach 1797 und besonders nach 1801 der patriotische (und darum im Kern auch antifeudal bleibende) Charakter seiner Dichtung immer unverkennbarer und gelangte zu höchster Wirkung. Alle gegenteiligen Behauptungen, auch von einem solch hervorragenden marxistischen Historiker wie Franz Mehring," entsprechen nicht den Tatsachen. Schillers Dramen, wie die Wallenstein-Trilogie (1797—1799), „Die Jungfrau von Orleans" (1802), „Wilhelm Teil" (1804), sind ' n ihrem unmittelbaren moralischpolitischen Einfluß - gerade auch auf die preußischen Offiziere — von der nationalen Widerstands- und Befreiungsbewegung nicht wegzudenken. Heinrich Heine zielte darauf ab, als er einmal sagte, daß Schillers Worte Taten wurden.. Schiller stand als nationalpolitischer Erzieher des deutschen Volkes keineswegs einsam da, obwohl er weit herausragte. Friedrich Hölderlin, ein Schwabe wie Schiller, zürnend in seinem „Hyperion" über die staatsbürgerliche Herzensenge und Schwunglosigkeit der Deutschen, schrieb in den Jahren zwischen Campo Formio und Lun6ville Vaterlandsgedichte von einzigartiger Empfindung und Schönheit der Sprache: ,,0 heilig Herz der Völker, o Vaterland!" Auch Wegbereiter und Weggenossen der deutschen Klassik, wie Wieland und Herder, haben die Deutschen zur nationalen Selbstbesinnung aufgerufen. Schließlich sei Hegel erwähnt, der in seiner Schrift über die Verfassung Deutschlands (1801/1802) nach einem Ausweg aus dem politischen Elend der Deutschen suchte. Im Zusammenhang mit der nationalpolitischen Dramatik Schillers müssen wir auch die Verhandlungen sehen, die er seit 1803 sehr emsthaft führte, um nach Berlin zu kommen. Er sprach es in einem Brief vom Juni 1804 offen aus, es sei seine Bestimmung, „für eine größere Welt zu schreiben, meine dramatischen Arbeiten sollen auf sie wirken, und ich sehe mich hier in so engen, kleinen Verhältnissen, daß es ein Wunder ist, wie ich nur einigermaßen etwas leisten kann, das für die größere Welt ist." 5 2 In der Tat wurde im Sommer 1804 „Wilhelm Teil" in Berlin, wie Schiller selbst feststellte, „mit erstaunlicher Wirkung" aufgeführt. Es war ihm vielleicht auch nicht unbekannt geblieben, daß er schon damals zum Lieblingsdichter der entschiedensten Reformer und Patrioten geworden war. Die Aussichten auf eine' Revolution von oben nahmen immer realere Gestalt an. Zugleich befestigten sich in Schiller seine Ansichten über Inhalt und Form einer Volksbewegung. In „Wilhelm Teil" handeln nicht mehr, wie bei den niederländischen Bilderstürmern, spontan zusammengerottete Haufen, sondern Bauern in einer vereinbarten Aktion der Gesamtheit. Mit dem Spontanen ist auch alles Rohe und Wider-Menschliche verschwunden. 51
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Schillers Gespräche. Berichte seiner Zeitgenossen über ihn, hg. v. Julius Petersen, 2. Auflage, Leipzig 1911, S. 389. Schiller, Friedrich, Briefe, ausgew. u. hg. v. Reinhard Buchwald, Leipzig 1945, S. 844. Schiller an v. Wolzogen am 16. 6. 1804.
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Der Gang der politischen Entwicklung hat Schiller geholfen, das ihn sowohl als Historiker wie als Dramatiker immer wieder bewegende Problem des Verhältnisses der Revolution von oben und der von unten einer Lösung näherzubringen. Darin liegt die beeindruckende Konsequenz seines Denkens, Schaffens und Handelns. Übersehen wir auch nicht, daß Schiller bei aller Distanz zu den konkreten Erscheinungen der französischen Revolution den großen Ideen von 1789 unwandelbar treu blieb. Als er das 1792 vom Konvent beschlossene französische Bürgerdiplom 1798 endlich erhielt, da schrieb er: „Die Ehre, die mir durch das erteilte französische Bürgerrecht widerfährt, kann ich durch nichts als meine Gesinnung verdienen, welche den Wahlspruch der Franken von Herzen adoptiert; und wenn unsere Mitbürger über dem Rhein diesem Wahlspruch immer gemäß handeln, so weiß ich keinen schöneren- Titel, als einer der ihrigen zu sein." 53 Und dieser Wahlspruch der Franken konnte nur die Losung: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" sein. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein — denken wir nur an das patriotische Schillerfest des Jahres 1859 ~ war das Gesamtwerk Schillers die repräsentative Manifestation des deutschen Nationalgefühls. Es war stellvertretend für die Sehnsucht der Deutschen nach nationaler Einheit, nach staatsbürgerlicher Freiheit, nach Gewissensfreiheit und Menschenwürde, gab Kraft und Zuversicht im Ringen um Einheit und Unabhängigkeit der Nation. Doch übersehen wir niemals, daß die Ideen der französischen Revolution, denen Schiller bis an sein Lebensende verhaftet blieb, über die bürgerlichen Klassenschranken hinauswiesen. Die verschiedenen Systeme des französischen Sozialismus, der eine der drei Quellen des wissenschaftlichen Sozialismus bildet, gingen stets von der Fragestellung aus, wie die großen Losungsworte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" am besten verwirklicht werden könnten. Und Schillers Suchen nach den Bedingungen der menschlichen Emanzipation — ein Suchen, das gleichfalls aus dem harten Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit entstanden war — wies gleichfalls unbewußt über die bürgerliche Gesellschaft hinaus. Die materialistische Geschichtsauffassung des wissenschaftlichen Sozialismus hat zwar die idealistischen Ausgangspunkte, die von der französischen Revolution her stammen, verlassen; aber sie ist und bleibt eine zutiefst humanistische und optimistische Lehre. Der Ausgangs- und Endpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung ist der Mensch — der Mensch in seiner produktiven Tätigkeit und seinen gesellschaftlichen Beziehungen. Die geschichtliche Entwicklung bedeutet, möge sie noch so sehr und immer durch Leiden, Opfer und Verbrechen gezeichnet sein, möge sie uns auch immer wieder zu einer unverschwärmten Nüchternheit zwingen, trotz allem Entfaltung der menschlichen Kräfte, Wachstum und Aufstieg der Menschheit. Das Bürgertum in seiner Gesamtheit hat späterhin seit dem Zeitalter des Imperialismus selbst das Ideal des bürgerlichen Gemeingeistes und seinen eigenen Huma53
Schillers Briefe, a. a. O., Bd. 5, Stuttgart-Leipzig-Berlin-Wien o. J., S. 354. Schiller an Joachim Heinrich Campe am 2. 3. 1798.
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nismus schmählich mißachtet. Alles Höffen auf eine bürgerliche Herrschaft der Freiheit und Demokratie hat sich spätestens seit Anbruch des Imperialismus als eine Illusion und gefährliche Narrheit erwiesen und wurde oft genug in den blutigen Orgien der Konterrevolution ertränkt. Der Imperialismus ist Reaktion auf der ganzen Linie, so wie der Feudalismus im 18. Jahrhundert. Heute hat nur die Arbeiterklasse Schillers ursprüngliche Impulse aufgenommen und ist dabei, sein humanistisches Sehnen und Streben unter neuen ideologischen Aspekten und sozialen Bedingungen zu verwirklichen.
Johann Gottlieb Fichte und die deutsche Geschichte* Joachim Streisand
Die „Zufälligen Gedanken in einer schlaflosen Nacht" 1 , eine programmatische Zusammenfassung seiner politischen Auffassungen, die Fichte mit 26 Jahren niederlegte, wurde erst über ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung veröffentlicht. Sein Dialog „Der Patriotismus und sein Gegenteil"2 wurde bei der Veröffentlichung in den Gesammelten Werken durch Immanuel Hermann Fichte verstümmelt: er hielt es für opportun, einige konkrete Polemiken in den Werken seines Vaters dadurch zu mildern, daß er das Wort preußisch fortließ, wo Johann Gottlieb sich zum Beispiel gegen einen sogenannten preußischen Patriotismus gewendet hatte.3 Die preußische Zensur hatte bereits bei der Veröffentlichung der „Reden an die deutsche Nation" erzwungen, daß die konkreten Bezugnahmen im Eingang der ersten Rede durch ein unbestimmtes „Irgendwo" ersetzt würden, so daß es unsinnig und unverständlich heißen mußte: „Irgendwo hat die Selbstsucht durch ihre vollständige Entwicklung sich selbst vernichtet"/« Das politische Testament Fichtes, sein „Entwurf zu einer politischen Schrift im Frühling 1813" 5 , blieb an versteckter Stelle in der Gesamtausgabe begraben und wurde von der Forschung lange kaum beachtet. Nimmt man hinzu, daß es seit Beginn der imperialistischen Epoche in der bürgerlichen deutschen Geisteswissenschaft Mode wurde, einen Einfluß Fichtes auf die bürgerlich-nationale Bewegung zu leugnen", und daß in der Philosophie* Überarbeitete Fassung des Aufsatzes des Verf. „Fichte und die Geschichte der deutschen Nation", veröfftl. in: Wissen und Gewissen, Beiträge zum 200. Geburtstag Johann .Gottlieb Fichtes. Hrsg. von Manfred Buhr. Berlin 1962. 1 Fichte, JohannGottlieb,Briefwechsel, hg. v. Hans Schulz, Bd. 1, Leipzig 1925,8.10 ff. 2 Derselbe, Nachgelassene Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. 3, Leipzig (1835), S. 221 ff. 3 So zum Beispiel in dem Satz, in dem Fichte im „dunkeln und verworrenen Begriff eines besondern preußischen Patriotismus eine Ausgeburt der Lüge und der ungeschickten Schmeichelei" sieht (ebenda, S. 233). Fichte, Johann Gottlieb, Sämtliche Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. 7, Leipzig (1845), S. 264. 5 Ebenda, S. 546ff. 6 Charakteristisch dafür ist der Aufsatz von Rudolf Körner „Die Wirkung der Reden Fichtes" (Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, Bd. 40, München 1927, S. 65ff.), in dem zwar richtig nachgewiesen wird, daß der
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Geschichtsschreibung seine politischen Auffassungen fast völlig verschwiegen wurden, während er in der politischen Geschichte halb als Barde, halb als Biedermann erschien7, dann sind bereits die Haupttendenzen der Fichte-Legende umrissen. Die konkreten Stellungnahmen zu den politischen Ereignissen seiner Zeit sollten aus dem Werk des Philosophen herauseskamotiert werden, damit die Unbequemlichkeiten, die eine wirkliche Analyse seiner gesellschaftlichpolitischen Haltung für die herrschenden Ideologien mit sich gebracht hätten, aus der Welt geschafft wurden. Fichte und die deutsche Geschichte: das heißt einmal, die Aufmerksamkeit gerade auf diejenigen seiner Äußerungen zu richten, in denen er sich direkt mit den politischen Erscheinungen seiner Zeit und mit Ereignissen der deutschen Vergangenheit beschäftigt; das heißt aber auch, nachzuweisen, inwiefern sein Werk von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Klassenkämpfen seiner Gegenwart bestimmt wurde und welchen gesellschaftlichen Bedürfnissen seine philosophischen, politischen und historischen Ansichten Ausdruck gaben. Christoph Wilhelm Hufeland, der berühmte Arzt und Freund Fichtes, bezeichnete die „Uberkraft" als das Hauptkennzeichen seiner Persönlichkeit. „Ich habe nur eine Leidenschaft, nur ein Bedürfnis, nur ein volles Gefühl meiner selbst, das: außer mir zu wirken, je mehr ich tue, je glücklicher scheine ich mir." 8 So richtig diese Feststellung, ,so echt jenes Selbstzeugnis ist: sie ändern nichts daran, daß Johann Gottlieb Fichte die-bedeutendste Erscheinung des demokratischen Kleinbürgertums in Deutschland um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert war. Zu kleinbürgerlichen Zügen gehört, rein persönlich betrachtet, jene Unsicherheit, die in Prahlerei umschlägt9, gehört die Überempfindlichkeit, mit der er etwa auf Schillers kritische Bemerkungen zu seinem Aufsatz für die „Hören" reagierte.10 Ausschlaggebend für diese Charakteristik sind aber vor allem seine politischen und historischen Auffassungen, in denen, wie bei sonst kaum einem Schriftsteller und Gelehrten der Zeit, die Wünsche und Forderungen des demokratischen Kleinbürgertums zum Ausdruck kamen. „In betreff ihres Inhalts an und für sich 'hat die Fichtesche Philosophie keine große Bedeutung",stellte Heinrich Heine Kreis der Zuhörer der „Reden an die deutsche Nation" nur klein war, daraus aber fälschlich abgeleitet wird, Fichtes Gedanken über die Notwendigkeit einer Reform und sein Aufruf zum Befreiungskampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft seien überhaupt kaum beachtet worden. 7 Nach Treitschke, Heinrich v., Deutsche Geschichte, Bd. 1, Neuausg. Leipzig 1927, S. 204, hätte Fichte gar, „ohne es zu wissen", ;,die mannhaften Tugenden des alten Preußen'verherrlicht". . 8 Fichte, J. G., Briefwechsel, Bd. 1, a. a. O., S. 62, an Johanna Rahn. n Vgl. etwa den Brief, in dem er am 20. Juni 1790 seinen Eltern mitteilt, er gedenke es „entweder sehr hoch zu bringen oder ganz zu verlieren" und sich dabei auf einen Professor, der sein Freund sei, beruft (Briefwechsel, Bd. 1, a. a. O.. S. 103). t» Ebenda, S. 474.
3 Gncbicbtswisscnschaft, Bd. I
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in seiner „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" fest, um fortzufahren: „Sein ganzes Leben war ein.beständiger Kampf.' So werden wir im folgenden — im Gegensatz zur eingangs charakterisierten Fichte-Legende gerade von den konkreten politischen Stellungnahmen und K ä m p f e n Fichtes ausgehen, um eine Skizze seiner Persönlichkeit un4 seines Werkes zu geben, und es wird sich zeigen, daß auf diesem Wege und nur auf diesem Wege auch die Wurzeln seiner philosophischen Auffassungen zu finden sind. E i n Jahr vor dem E n d e des Siebenjährigen Krieges geboren, stammte Fichte, wie viele der bedeutendsten Vertreter der Aufklärungsbewegung, aus Sachsen. A b e r in dem Dorf Rammenau in der Oberlausitz war von der geistigen Entwicklung der Zeit sicherlich wenig zu spüren gewesen und gewiß am wenigsten in dem Hause des armen Leinenwebers Fichte. Johann Gottliebs einzige geistige Nahrung "war zunächst die sonntägliche Predigt des Dorfpfarrers. Beim Gänsehüten auf dem Gemeindeanger pflegte er sie auswendig wiederzugeben. Ein Mäzen, der Freiherr von Miltitz, ließ ihn 1774 auf die Fürstenschule Pforta zur Ausbildung als Theologen geben. Dort aber erlebte er unmittelbar den Druck der tonangebenden Mitschüler aus wohlhabenden Familien. Ein Brief -an den Vater zeigt, wie ihn eine gute Zensur erschreckt, weil sie zur Zahlung von Kuchen für die Kameraden verpflichtet, und in einem anderen Brief m u ß er die A u f forderung des Vaters, Strumpfbänder unter den Mitschülern zu verkaufen, ablehnen, d a man ihm „entsetzlich aushöhnen würde". 1 1 Der Studiengang, den ihm sein adliger Gönner vorgeschrieben hatte, war Fichte bald verleidet. A n der Universität Jena und später in Leipzig genügten ihm theologische Vorlesungen nicht mehr. D a sich seine Aufmerksamkeit auf die Jurisprudenz und die Philologie konzentrierte, strich ihm die Familie Miltitz alle Zuwendungen, so daß er auf das Stundengeben angewiesen war und schließlich das Studium abbrechen und — wie so viele deutsche Intellektuelle seiner Zeit - Hofmeister werden mußte. Seine philosophischen Anschauungen tendierten damals offenbar zum Spinozismus, während seine gesellschaftlichen Ansichten v o r allem von Rousseau bestimmt waren. 1788 entstand das interessanteste Dokument seiner Frühperiode, die „Zufälligen Gedanken in einer schlaflosen N a c h t " , die von der Heuchelei in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern ihren Ausgang, nahmen, sich aber schnell zu einer umfassenden Zeitkritik überhaupt erheben. Der Plan eines Buches wird entworfen, das „ d a s ganze Verderben unserer Regierungen und unserer S i t t e n " 1 2 in der Form eines Reiseberichtes „ a u s den neu entdeckten südlichen Polarländern" schildern soll. Eine solche Einkleidung, wie sie in Frankreich auch von Montesquieu und Voltaire verwendet wurde, wie sie in Deutschland etwa in „Hans-Kiek-in-die-Welts-Reisen" von Rebmann als geeignete F o r m für die Gesellschaftskritik benutzt wurde, empfahl sich aus zwei Gründen: zum einen, weil sie einen gewissen Schutz vor Eingriffen der Zensur bot, zum «» Ebenda, S. 2. « Ebenda, S. 11.
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anderen, weil diese freiere Form ermöglichte, Wesentliches satirisch hervorzuheben und gleichzeitig dem Unterhaltungsbedürfnis eines Zeitalters, das demokratische Ideen im exotischen Milieu wiederzufinden hoffte, Rechnung trug. Die „Zufälligen Gedanken" setzen sich mit politischen Erscheinungen - dem Druck des Adels, der Verschwendung an den Höfen, der Ungerechtigkeit der Justiz - auseinander und schildern die ideologische Situation: den Verfolgungsgeist des Klerus, die „Vernachlässigung des allgemein Nützlichen" in der Wissenschaft und die „Frivolität" der Künste. Besonders scharf kritisiert Fichte die zeitgenössischen Erziehungsmethoden, vor allem die „Entnervung der höheren Stände." Aber auch auf Handel und Ackerbau richtet sich die Aufmerksamkeit: der Geldstolz der Kaufleute (ausdrücklich heißt es: „Modell der der Leipziger") einerseits und die „äußerste Verachtung" des Ackerbaus, das „Elend der Ackerbauer" werden andererseits kritisch skizziert. E s wurde bereits eingangs festgestellt, daß diese Notizen programmatischen Charakter haben. Alle Motive, die in Fichtes späteren politischen Schriften erschienen, sind mit einer Ausnahme hier bereits ausgeführt oder wenigstens angedeutet. Diese Ausnahme ist die Forderung nach der nationalen Einheit. Es hängt natürlich mit der Schwäche der demokratischen Bewegung zusammen, daß in dieser Arbeit, die im Jahr vor dem Ausbruch der französischen Revolution entstand, diese Seite der politischen Ansichten Fichtes noch nicht hervortrat. Daß diese Forderung erst später in das — im übrigen kaum veränderte — System der politischen Ideen Fichtes aufgenommen wurde, weist aber auch schon darauf hin, welchen sozialen Inhalt für ihn die nationale Frage hatte. Die Einheit des Werkes Fichtes besteht eben darin, daß alle die Momente einer Kritik der zeitgenössischen deutschen Zustände vom Standpunkt des demokratischen Kleinbürgertums, wie sie in den „Zufälligen Gedanken in einer schlaflosen Nacht" entwickelt worden waren, erhalten blieben. Wenn wir vier Perioden im Werke Fichtes unterscheiden, so bildet den Maßstab der Periodisierung die Frage, welches dieser Momente jeweils in den Vordergrund trat. In der ersten Periode des Schaffens Fichtes, die bis zum Jahre 1794 reicht, bilden die beiden Schriften zur Verteidigung der französischen Revolution den Mittelpunkt. In diesen Schriften erhebt sich Fichte bis zur Forderung einer umfassenden demokratischen Umgestaltung der deutschen Verhältnisse, in der alle Motive aus den „Zufälligen Gedanken" von 1788 verwendet werden, ja noch mehr, in der diese Forderungen, ins Positive gewendet, der Begründung der Forderung nach Beseitigung der Herrschaft des Feudalismus, des Absolutismus und des Klerikalismus mit dem Ziel der Schaffung einer bürgerlichen Republik dienen. Diese Periode endet etwa zu der Zeit, da die französische Revolution mit dem Sturz der Jakobinerherrschaft abgeschlossen ist. Die zweite Periode findet Fichte (1794-1799) als Professor in Jena. Nach dem Scheitern der Hoffnung auf eine Umgestaltung in Deutschland steht jetzt im Mittelpunkt die Ausarbeitung der erkenntnistheoretischen, metaphysischen und staatsphilosophischen Begründung der Forderungen der kleinbürgerlichen 3'
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Demokratie, wenn auch ihre Verwirklichung in weitere Ferne gerückt ist. Diese Periode endet mit dem Atheismusstreit und der Vertreibung Fichtes aus Jena. Die dritte Periode (1800-1806) ist im ganzen eine Periode der Resignation. Seines Jenaer Lehrstuhls enthoben, findet Fichte in Berlin weder ein ihm angemessenes Wirkungsgebiet noch den Anschluß an einen größeren Kreis Gleichgesinnter. Die letzte Periode im Leben und Schaffen Fichtes (1806-1814) hat den Aufschwung der bürgerlich-nationalen Bewegung zur Grundlage, den die Zerschlagung des altpreußischen Feudalstaates durch die französischen Armeen im Kriege von 1806/1807 auslöste. Auch für Fichte war dies ein neuer Aufschwung: die bürgerlieh-antifeudale Tendenz blieb erhalten, wurde aber weitergeführt zu der Einsicht, daß eine Verwirklichung des 1788 entworfenen Programms nur möglich sei, wenn die nationale Zersplitterung überwunden und die Unabhängigkeit Deutschlands gesichert sei. Eine demokratische Nationalerziehung soll der erste Schritt zur Verwirklichung des politischen Programms Fichtes sein. In dem „Entwurf zu einer politischen Schrift im Frühling 1 8 1 3 " wird dieses Programm noch einmal zusammengefaßt — eine Zusammenfassung, die man als Fichtes^ politisches Testament bezeichnen kann. Dieses Testament aber ist nichts anderes als die Erneuerung der 1788 in den „Zufälligen Gedanken" niedergelegten Forderungen auf einer neuen, höheren Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung. I. Fichte erlebte den Ausbruch der französischen Revolution in Zürich. Von 1788 bis 1790 war er dort als Hauslehrer tätig. E r lernte Lavater und durch diesen einen Schwiegersohn Klopstocks, den Beamten Hartmann Rahn kennen. Die Gemeinsamkeit der demokratischen Anschauungen wurde ein festes Band zwischen ihnen. Rahns Tochter Johanna, mit der sich Fichte bald verlobte, teilte diese Anschauungen. Nur im Briefwechsel zwischen Fichte und seiner Braut finden in dieser Zeit seine politischen Anschauungen einen unvefhüllten Ausdruck. So berichtet er in einem Brief vom 5. September 1790 aus Leipzig über den sächsischen Bauernaufstand, der im August des Jahres so weite Gebiete ergriffen hatte, daß der feudale Verwaltungsapparat seine Funktionen teilweise nicht mehr ausüben konnte und daß für dessen Niederwerfung die Regierung etwa, 5000 Mann aussandte: „Wie errietest Du, daß Sachsen Unruhen bevorstehen? Wirklich hat seit einigen Wofchen das Feuer des Aufruhrs im stillen gelodert, und vorige Woche ist es in helle Flammen ausgeschlagen. In ganz Sachsen war vielleicht kein Ort ruhiger als Leipzig. Die Bauern wüteten gegen ihre Herrschaften. Und — siehe den Nationalcharakter! — einige Regimenter sind marschiert; einige billiger denkende Herrschaften haben etwas nachgegeben, und heute, da ich dieses schreibe, ist nach allen Nachrichten, alles juhig . . . An eine Verbesserung von Grund auf ist jetzt noch nicht zu denken. Der Bauer, welcher allein dabei gewinnen könnte, ist dazu hoch nicht aufgeklärt genug, ungeachtet er Schlözers „Staats-
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anzeiger" liest, und die höheren Stände alle können dabei nur verlieren. Es sind also nur Palliative, die den einstigen Ausbruch des Feuers mit doppelter Kraft nicht verhindern werden."13 Kurz darauf überwarf sich Fichte mit der Familie, für die er in Zürich Hauslehrerdienste verrichtete. Schon einmal hatte er sich gegen einen Freund des Hauses zur Wehr gesetzt, der „gegen seinen Stand, Verstand und Kenntnisse schneidende Verachtung gezeigt hatte". 14 Als schließlich die Familie anfing, die Bedienten gegeneinander auszuspielen, um in den Kindern das Gefühl sozialer Überlegenheit zu wecken, gab er seine Hofmeisterstelle auf und verließ Zürich. Auf der Suche nach einer neuen Stellung als Hauslehrer ging er zunächst nach Leipzig und lebte dort monatelang in bitterer Not, da keine Stelle zu finden war. In dieser Zeit traf er auf einen Studenten, der Unterricht in der Philosophie Kants nehmen wollte — einer Philosophie, die Fichte selbst bis dahin noch unbekannt war. Nach ihrem Studium beginnt seine Laufbahn als philosophischer Schriftsteller und politischer Publizist. In einem Brief aus dem November 1790 15 bezeichnet er das Ergebnis des Studiums der Philosophie Kants als eine Revolution seiner Denkart. Fichte wendet das Problem der Kantischen Philosophie sofort ins Soziale: er stimmt dem Versuch Kants, aus einer idealistischen Philosophie die Freiheit des menschlichen Willens zu begründen, deshalb zu, weil er aus dieser Lehre gesellschaftliche Konsequenzen ziehen zu können meint. „Es ist mir . . . sehr einleuchtend, daß aus dem . . . Satz der Notwendigkeit aller menschlichen Handlungen sehr schädliche Folgen für die Gesellschaft fließen, da das große Sittenverderben der sogenannten besseren Stände größtenteils aus dieser Quelle entsteht." J a noch mehr: Fichte erklärt ausdrücklich, warum er die Philosophie Kants angenommen habe: „Da ich das außer mir nicht ändern konnte, so beschloß ich, das in mir zu verändern." Wenn Fichte in den „Zufälligen Gedanken" als Hauptkettenglied einer gesellschaftlichen Erneuerung die Erziehung betrachtet hatte, so schien ihm die Philosophie Kants jetzt die Begründung für diese Ansicht zu vermitteln. Zugleich meinte er, in der Philosophie Kants die Elemente eines metaphysischen Systems finden zu können, aus dem sich die Prinzipien aller Wissenschaften ableiten ließen. Den Versuch einer solchen Anwendung der Philosophie Kants bildete die „Kritik aller Offenbarung", zur Einführung bei Kant persönlich verfaßt und mit dessen Vermittlung 1792 anonym veröffentlicht. Zu dieser Zeit sah Fichte noch „in der französischen Revolution eine Bewegung, die den breiten Volksmassen kaum Nutzen bringt und eben daher wenig zweckvoll ist, und richtete seine ganze Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage des Volkes, die er in seinen politischen Bestrebungen letzthin immer im Auge hatte, auf Reformen von oben" 1 6 Im 13 Ebenda, S. 129. « Ebenda, S. 15. ls . Ebenda, S. 142 f. 18 Buhr, Manfred, Johann Gottlieb Fichte, in: Forschen und Wirken, Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität Berlin 1810—1960, Bd. 1, Berlin i960, S. 46.
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Frühjahr 3793 nahmen die demokratischen Bewegungen in vielen deutschen Staaten einen neuen Aufschwung. In Frankreich war das Königtum gestürzt, und der Ubergang der Macht an das demokratische Kleinbürgertum, das von den Jakobinern repräsentiert wurde, bereitete sich vor. Am 18. März rief der Rheinischdeutsche Nationalkonvent die Mainzer Republik, die erste demokratische Republik auf deutschem Boden, aus. Im April begann in den schlesischen Gebirgsdörfem der große Weberaufstand, der einige Wochen später durch einen Generalstreik in Breslau unterstützt wurde. Zu dieser Zeit begann Fichte sich noch gründlicher mit der französischen Revolution zu beschäftigen. Eindrücke aus seiner unmittelbaren Umgebung trugen dazu bei, seine Sympathien zu vertiefen. Er lebte zu dieser Zeit in Danzig, das mit dem am 23. Januar 1793 unterzeichneten preußisch-russischen Vertrag über die zweite Teilung Polens der preußischen Militärmonarchie zugestanden worden war. In Danzig bestanden keine Sympathien für den Hohenzollernstaat: während die Kaufleute eine Abschnürung des Handels befürchteten, schreckte die Werktätigen vor allem die Furcht, zum preußischen Heere eingezogen und in den Interventionskrieg der Feudalmonarchien gegen die französische Republik getrieben zu werden. (Als Jim 28. März, zu einer Zeit also, wo Fichte die Stadt bereits wieder verlassen hatte, die preußischen Truppen sich anschickten, in die Stadt einzurücken, wurde ihnen von den Stadtsoldaten, die unter anderem durch Matrosen und Handwerksgesellen unterstützt wurden, Widerstand geleistet, der erst nach einer regelrechten militärischen Attacke von den preußischen Truppen niedergeworfen wurde.) Die erste der beiden Revolutionsschriften Fichtes, im Frühjahr 1793 unter dem Eindruck dieser Stimmung der Bevölkerung Danzigs verfaßt, trug den Titel „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten". In der Form war dies eine Ansprache an die Fürsten — tatsächlich aber ein entschiedener Angriff gegen Feudalismus und Absolutismus. Die historische Entwicklung erschien hier als Prozeß der „Verminderung unseres Elends und Erhöhung unserer Glückseligkeit"17. Wie dies Rousseau gelehrt hatte, wurde die Denkfreiheit als unveräußerliches Menschenrecht bezeichnet. Zu einer Zeit, als immer schärfere Maßnahmen zur Unterdrückung aller freiheitlichen Regungen getroffen wurden, verteidigte Fichte damit entschlossen die Freiheit der Verbreitung bürgerlicher Ideen. Die aktuelle Beziehung auf die französische Revolution ist noch stärker in der zweiten der beiden Revolutionsschriften des Jahres 1793, dem „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution". Sie nahm die „Untersuchungen über die französische Revolution" August Wilhelm Rehbergs zum Anlaß. Auch hier bildete die Lehre vom Gesellschaftsvertrag die Grundlage, um die französische Revolution zu verteidigen. Als Ziel des Gesellschaftsvertrages bezeichnete Fichte die „Kultur zur Freiheit" und leitete daraus die Rechtmäßigkeit revolutionärer Veränderungen von Staatsverfassungen ab, die diese Kultur zur Freiheit behindern. Fichte verteidigte nicht nur die Recht17
Fichte, J. G., Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 6, Leipzig (1844) S. 6.
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mäßigkeit einer Revolution überhaupt, sondern darüber hinaus besonders entschieden die Abschaffung adliger und geistiger Privilegien in Frankreich. In diesem Zusammenhang trug er seine Auffassungen vom Ursprung des Feudalsystems vor. Seiner Ansicht nach hätte es bei den germanischen Völkerschaften keine adligen Vorrechte gegeben. „Der Eroberer teilte, wie er schuldig war, die Beute unter seine getreuen Waffenbrüder." 18 Waffenbrüderschaft wurde also Grund des Lehnsbesitzes. Später hätte sich das Verhältnis umgekehrt: mit der Erblichkeit wurde Lehnsbesitz Grundlage der Waffenbrüderschaft, die die Lehnsleute dem König zu leisten hatten. Interessant ist an diesen Überlegungen natürlich nicht, ob Fichte den historischen Prozeß richtig wiedergegeben hat — wir werden sehen, daß gerade das Thema der Entstehung der Feudalordnung ihn immer wieder beschäftigt hat, wobei aus einem verhältnismäßig mageren Tatsachenmaterial immer neue Konstruktionen von ihm abgeleitet werden —, sondern die Gesamttendenz dieses Buches, die einer Anwendung der Vertragstheorie auf die Geschichte. Noch in einer anderen Beziehung wandte sich Fichte gegen herrschende gesellschaftliche Auffassungen: er kritisierte entschieden die Lehre vom europäischen Gleichgewicht, „den Abgrund der Geheimnisse der Politik". In dem „Beitrag" wies er nach, daß diese Lehre eine bloße Ideologie zur Rechtfertigung der Kabinettskriege der absoluten Fürsten geworden sei: „Jede uneingeschränkte Monarchie . . . strebt unaufhörlich nach der Universalmonarchie. Laßt uns diese Quelle verstopfen, so ist unser Übel aus dem Grunde gehoben. Wenn uns niemand mehr wird angreifen wollen, dann werden wir nicht mehr gerüstet zu sein brauchen; dann werden die schrecklichen Kriege und die noch schrecklichere stete Bereitschaft zum Kriege, die wir ertragen, Jim Kriege zu verhindern, nicht mehr nötig sein." 19 Eng mit der Forderung nach Frieden wird verbunden die Forderung, daß allen das Lebensnotwendige zur Verfügung stehe. „Daß nicht essen solle, wer nicht arbeitet, fand Herr R. (Rehberg - J. S.) naiv: er erlaube uns, nicht weniger naiv zu finden, daß allein der, welcher arbeitet nicht essen, oder das Uneßbarste essen solle."2® Das ist eine Forderung, die weit über bloße Sympathie für bürgerlichdemokratische Ideen hinausgeht. Sie ist eine konkrete Anwendung des Gleichheitsideals Rousseaus auf die ökonomischen Verhältnisse — eine Anwendung, die Fichte, auch wenn er manche der in den „Beiträgen" niedergelegten Auffassungen später wieder aufgegeben hat21, doch stets weiter verfolgte. II. Es ist hier nicht der Ort, den subjektiven Idealismus der Fichteschen „Wissenschaftslehre" - jenes Systems, das Fichte in den folgenden Jahren konstruierte 10 Ebenda, S. 184. »» Ebenda, S. 200. « Ebenda, S. 96. 2i Es darf aber nicht übersehen werden, daß er 1795 eine zweite unveränderte Auflage seines „Beitrags" veröffentlichte.
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im einzelnen zu charakterisieren. Aus dem bisher Gesagten dürfte aber bereits deutlich geworden sein, daß dieses System zunächst nicht als Versuch der Begründung einer neuen Erkenntnistheorie oder Metaphysik entstand, sondern primär die sozialphilosophischen, ethischen und politischen Auffassungen Fichtes begründen sollte. So war auch seine Berufung als Professor der Philosophie an die Universität Jena in mehrfacher Beziehung Angelegenheit der Politik. Schon bald nach seinem Regierungsantritt hatte Karl August begonnen, die Universität zu fördern. Von einer1 Vergrößerung der Studentenzahl erhoffte man nicht zuletzt, daß die Einkünfte der Bürger der Stadt, die damals von der Universität weitgehend abhängig waren, wachsen und sich damit auch ihr Steueraufkommen erhöhen würde. Die Übersiedlung Reinholds, der 1787 auf Vorschlag Wielands den philosophischen Lehrstuhl erhalten hatte, nach Kiel wurde zum Anlaß der Berufung Fichtes. Sein Name war dort bereits ein Begriff. Schon die Allgemeine Literaturzeitung hatte die „Kritik aller Offenbarung", die anonym erschienen und fast überall als Werk Kants betrachtet worden war, dem Königsberger Philosophen zugeschrieben, und Kant hatte in ihr bekanntgegeben, daß Fichte der Verfasser sei. Am Weimarer Hof gab es zunächst ernste politische Bedenken gegen diese Berufung. So fragte sich der in Universitätsangelegenheiten maßgebende Geheimrat Voigt, als er an Hufeland über den Plan einer Berufung Fichtes schrieb: „Ist er klug genug, seine demokratischen Phantasien (oder Phantastereien) zu mäßigen" (20. Dezember 1793), und er bat Hufeland: „Helfen Sie, daß er die Politik als eine danklose Spekulation beiseite läßt" (18. Mai 1794). Hufeland riet Fichte ausdrücklich, „die demokratische Partei nur in Rücksicht des Rechts und ganz in abstracto in Schutz" 22 zu nehmen. Maßgebend bei der Uberwindung dieser Bedenken dürfte die Rücksicht auf den erhöhten Glanz, den die Universität durch die Berufung Fichtes erhielt, gewesen sein. Tatsächlich brachten die Studenten dem neuen Philosophie-Professor nach seiner Ankunft im Mai 1794 Ovationen dar, und die Zahl der Einschreibungen wuchs in diesem Jahr wesentlich. Die Lehrtätigkeit, die Fichte im Sommer 1794 aufnahm, war für ihn ein Teil der Erziehung fortschrittlicher Intellektueller. Seine Vorlesungen „Über die Bestimmung des Gelehrten" (1794) bezeichnen als die Aufgabe des Gelehrten, die „Aufsicht über den Fortgang des Menschengeschlechts" zu üben und diesen Fortgang zu befördern. Schon die Veröffentlichung dieser Vorlesungen sollte dazu dienen, Gerüchte über geheimnisvolle Umtriebe in seinen Kollegs zu widerlegen (so hieß es, Fichte habe vom Katheder aus erklärt, es werde in einigen Jahren in Deutschland keine Fürsten mehr geBen). Weitere Zusammenstöße mit politischen Gegnern und neidischen Kollegen blieben nicht aus. Fichte wird sich öffentlich wohl nicht so deutlich geäußert haben wie in dem Brief an seine Frau, in dem er über Reiseeindrücke aus dem Rheinland berichtet: „Die Stimmung der Einwohner, deren Ländereien durch die Franzosen vernichtet sind, ist dennoch sehr zu ihrem Vorteile. Der gemeine Mann liebt sie; und wer nichts mehr hat, den 11
Fichte, / . G., Briefwechsel, Bd. 1, a. a. O., S. 320, Dezember 1793.
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ernähren sie; nur die privilegierten Stände sind wütend gegen sie. In Mainz und in Frankfurt wünscht man sie zurück. Alles ohne Ausnahme haßt die preußischen und österreichischen Völker und verachtet und verlacht sie und spottet ihrer schrecklichen Niederlagen." 23 Da die demokratischen Anschauungen das Wesen seiner Philosophie bildeten, war es ihm natürlich nicht möglich, den Wünschen des Hofes entsprechend, die „demokratische Partei nur ganz in abstracto in Schutz zu nehmen". Im Gegenteil: die „Grundlage des Naturrechts" (1796) war in Wirklichkeit ein Versuch, die Ideale der kleinbürgerlichen Demokratie philosophisch zu begründen. „Das Volk ist nie Rebell, und der Ausdruck Rebellion, von ihm gebraucht, ist die höchste Ungereimtheit, die je gesagt worden ist, denn das Volk ist in der Tat und nach dem Recht die höchste Gewalt, über welche keine geht, die die Quelle aller anderen Gewalt, und die Gott allein verantwortlich ist." 24 Auch die Forderung „wer nicht arbeitet, solL auch nicht essen", die in den Revolutionsschriften proklamiert worden war, erhielt in der Lehre vom Gesellschaftsvertrag und vom Eigentum, das auf Arbeit beruht, ihre Begründüng: „Der Vertrag lautet in dieser Rücksicht so: jeder von allen verspricht, alles ihm Mögliche zu tun, um durch die ihm zugestandenen Freiheiten und Gerechtsame leben zu können; dagegen verspricht die Gemeine im Namen aller einzelnen, ihm mehr abzutreten, wenn er dennoch nicht sollte leben können." 25 Besonders interessant ist aber, daß das kleinbürgerlich-demokratische Ideal einer homogenen Gesellschaft kleiner Produzenten auch auf die äußeren Beziehungen der Staaten angewendet wurde. In der Rezension von Kants „Zum ewigen Frieden" (1795) versucht Fichte nachzuweisen, daß eine solche Gesellschaft auch den Frieden garantieren würde. „Durch das fortgesetzte Drängen der Stände und der Familien untereinander müssen sie (die Staaten — J. S.) endlich in ein Gleichgewicht des Besitzes kommen, bei welchem jeder sich erträglich befindet." 26 Bald spitzten sich die Konflikte in Jena zu. Das Konsistorium bezeichnete die Tatsache, daß er - wie dies übrigens auch andere Professoren zu tun pflegten auch sonntags Vorlesungen hielt, als „intendierten Schritt gegen den öffentlichen Landesgottesdienst". Herzog Karl August griff schließlich persönlich ein und verhinderte dieses Mal noch, daß die feudale und klerikale Reaktion Fichte vertrieb. Einen weiteren schweren Konflikt veranlaßte Fichtes Versuch, die Studentenorganisation zu reformieren. Er förderte eine „Gesellschaft junger Männer", für die wahrscheinlich jene „Helvetische Gesellschaft" das Vorbild war, die unter Beteiligung des Schweizer Philosophen und Pädagogen Iselin 1761 begründet wurde und an deren Tagung im Mai 1789 Fichte teilgenommen hatte. Gleichzeitig bemühte er sich um die Auflösung der reaktionären Studentenorden, in denen er das Haupthindernis für das Eindringen bürgerlich-fortschrittlicher Ideen in die Studentenschaft sah. Wie dies in derartigen Fällen üblich ist, antworteten 23 24 25 28
Ebenda, S. 360, Fichte an seine Frau am 12. Mai 1794. Derselbe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 3, Leipzig o. J., S. 182. Ebenda, S. 215. Derselbe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 8, S. 435.
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die Orden mit Anrempelungen und nächtlichen Uberfällen, so daß Fichte in Osmannstedt Zuflucht suchen mußte und im Sommer 1795 seine Vorlesungen unterbrach. Resigniert versuchte er, eine Übersiedlung nach Frankreich vorzubereiten. 27 „Dem Verfasser der Wissenschaftslehre wird kein König oder Fürst eine Pension geben, weil man es den Grundsätzen derselben ansieht, daß sie nicht in ihr Garn taugen; oder wenn sie doch einer gäbe, er nähme sie nicht. Da, wo ich sie nähme, wäre die französische Nation, die jetzt ihre Augen anfängt auch auf Kunst und Wissenschaft zu werfen. - Ich glaube, es steht dieser Nation zu. Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene Nation von den äußeren Ketten den Menschen losreißt, reißt mein System ihn von den Fesseln der Dinge an sich, des äußeren Einflusses los, und stellt ihn in seinem ersten Grundsatz als selbständiges Wesen-hin. Es ist in den Jahren, da sie mit äußerer Kraft die politische Freiheit erkämpften, durch inneren Kampf mit mir selbst, mit allen eingewurzelten Vorurteilen entstanden; nicht ohne ihr Zutun. Ihr Valeur war es, der mich noch höher stimmte und jene. Energie in mir entwickelte, die dazu gehörte, um dies zu fassen." Freilich dürften wohl die Verhandlungen nicht weit gediehen sein, wie ja auch drei Jahre später ein französischer Versuch, ihn für eine Lehrtätigkeit in den von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten zu gewinnen, scheiterte. 28 1798 begann die feudale und klerikale Reaktion den konzentrischen Angriff auf Fichte. Sie nahm Forbergs Artikel „Entwicklung des Begriffs der Religion", der in dem von Fichte mit herausgegebenen „Philosophischen Journal" veröffentlicht worden war, zum Anlaß, um zunächst eine Flugschriftenkampagne gegen ihn zu entfesseln, in der er bei den Behörden als Atheist denunziert werden sollte, der seine „Grundsätze jungen Leuten beibringt, die sich zu den wichtigsten Ämtern im Staat und in der Kirche vorbereiten" (so hieß es in einem anonymen Pamphlet „Schreiben eines Vaters an seinen studierenden Sohn über den Fichteschen und Forbergischen Atheismus"). Die kursächsische Regierüfig ließ dann das „Philosophische Journal'.' beschlagnahmen und empfahl schließlich dem Herzog von Sachsen-Weimar, gegen Fichte vorzugehen. Die -Weimarer Regierung wollte den Streit durch einen Kompromiß beilegen — Fichte sollte im stillen einen Verweis erhalten, damit die kursächsische Regierung befriedigt werde, und man wollte ihm dafür ein anderes Mal eine Konzession machen. Da Fichte sich weigerte, auf diesen Kuhhandel einzugehen, der in einer Prinzipienfrage einer Kapitulation gleichgekommen wäre, fand er sich im Frühjahr 1799 von seiner Jenenser Professur entlassen. Fichtes Feststellung über den Atheismusstreit:,,es ist nicht mein Atheismus, den sie. gerichtlich verfolgen, es ist mein Demokratismus" 29 , ist völlig zutreffend. Durchaus mit Recht konnten er und seine Frau auch sein Schicksal mit dem 27
28 29
Vgl. zum Folgenden den Briefentwurf vom April 1795: Fichte, J. G., Briefwechsel, Bd. 1, a. a. O., S. 449. Vgl. Ebenda, S. 584 fr. und 593 ff. Derselbe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 5, Leipzig o. J., S. 2^7.
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Christian Wolfis vergleichen 30 , der auf die Denunziation eines Pietistenklüngels hin von Friedrich Wilhelm I. bei Strafe des Stranges gezwungen worden war, innerhalb von 48 Stunden Halle zu verlassen: „Wolfis Lage war für den ersten Moment entsetzlicher, aber er fand doch gleich einen benachbarten Fürsten, der sich seiner annahm, aber wo haben wir bis jetzt einen gefunden, der uns in Schutz nehmen wollte?" 31 Wenige Wochen später schrieb Fichte noch einmal an Reinhold: „ E s ist mir gewisser als das Gewisseste, daß, wenn nicht die Franzosen die ungeheuerste Übermacht erringen, und in Deutschland, wenigstens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird." 32 Wenn Fichte bisher seine Hoffnungen auf eine demokratische Bewegung in Deutschland selbst gesetzt hatte, so zeigt sich nun jene Resignation, die für die folgende Periode seines Schaffens charakteristisch ist.
III. ,,Er hat seine Simsonslocke zugleich mit dem Katheder verloren" 33 , schrieb Karoline über Fichte ein Jahr nach der Entlassung aus Jena und der Übersiedlung nach Berlin. Die Parteinahme der Romantiker für Fichte im Atheismusstreit war freilich nur oberflächlich: sie galt der ungewöhnlichen Persönlichkeit, die sich der Konvention widersetzte, und ihrem Kampf, der dem Betrachter ein interessantes Schauspiel bot. Für die umfassenderen gesellschaftlichen Ideen Fichtes hatte die Romantik wenig Verständnis: die Forderung nach Freiheit reduzierte sich für sie auf die Forderung nach der Befreiung einzelner Intellektueller von den Fesseln der geistlichen Autorität und der herrschenden Moral. Die so erstrebte Emanzipation des Künstlers wurde in Wirklichkeit zur Unterordnung unter die politisch und gesellschaftlich jeweils herrschende Macht. Auch für die Romantiker, ja gerade für sie war die Auseinandersetzung mit der französischen Revolution von grundlegender Bedeutung. Aus der Enttäuschung über die Jakobinerdiktatur oder über französische Expansionsbestrebungen unter Napoleon wurde aber bei ihnen bald eine Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft und darüber hinaus alles historisch Fortschrittlichen überhaupt. Es blieb den Romantikern nicht verborgen, daß sich auch Deutschland unaufhaltsam in ein modernes Land verwandelte. Gerade das lag dem Wunsch nach einer Flucht in vergangene Zeiten oder ferne Länder und nach einer ironischen oder sentimentalen Abwendung von der Wirklichkeit zugrunde. In der Praxis wurde aber daraus für die protestantische Romantik die Unterstützung des preußischen Weges der 30 Derselbe, Briefwechsel, Bd. 2, a. a. O., S. 97. Ebenda, S. 97f., Fichte und Johanna Fichte an Reinhold, 3. Mai 1799. 3 2 .Ebenda, S. 104. s 3 3 An August Wilhelm Schlegel, 27. Januar 1801. 31
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kapitalistischen Entwicklung, für den es ja gerade charakteristisch ist, daß bei dem unaufhaltsamen Umwandlungsprozeß die feudalen Verhältnisse und Einrichtungen soweit wie möglich geschont wurden, und für die katholische Romantik die Unterstützung der Politik der Habsburger und vor allem Metternichs, der in der „Heiligen Alliance" das auch von den Romantikern erstrebte Ziel erreichte. In den Jahren um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vollzog sich nicht nur diese Abgrenzung zwischen den Romantikern und Fichte — gleichzeitig beschleunigte sich der Differenzierungsprozeß innerhalb der idealistischen Philosophie. Wenn die kleinbürgerlich-demokratischen Auffassungen Fichtes mit dem Ziel der romantischen Bewegung, nämlich einem Kompromiß zwischen Adel und Bürgertum unter adliger Führung nicht zusammenstimmen konnten, dann wurde jetzt auch die Abgrenzung zu jener Philosophie deutlich, die einen Klassenkompromiß zwischen Adel und Bürgertum unter der Führung des Großbürgertums wünschte, wie dies etwa Hegel tat. Was Hegel an den politischen Auffassungen Fichtes vor allem kritisierte, war eben das kleinbürgerlich-demokratische Gleichheitsideal, dessen Verwirklichung ihm als unaufhörliches Reglementieren erschien, wie es ja auch das französische Großbürgertum gegen die Jakobiner aufgebracht hatte. „Es gibt in diesem Ideal von Staat kein Tun noch Regen, das nicht notwendig einem Gesetze unterworfen, unter unmittelbare Aufsicht genommen und von der Polizei und den übrigen Regierern beachtet werden müßte." 34 Die Situation wird dadurch kompliziert, daß ja Hegel gegen zwei Fronten auftrat: auf der einen Seite gegen den romantisch-feudalen Irrationalismus — Höhepunkt dieser Auseinandersetzung ist die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes —, auf der anderen Seite gegen die kleinbürgerlich-demokratische^ Auffassungen Fichtes. Dabei ist es nicht zufällig, daß Hegel seine politischen Auffassungen innerhalb des Systems des objektiven Idealismus vortrug, während Fichte auf dem Standpunkt des subjektiven Idealismus verharrte. Gerade deshalb, weil das wohlhabende Bürgertum von der nächsten Stufe der gesellschaftlichen ' Entwicklung unmittelbar profitierte, weil der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus seinen aktuellsten Interessen entsprach, konnten die Ideologen dieser Schichten nüchterner und illusionsloser die unmittelbare Gegenwart betrachten. Das änderte nichts daran, daß die eigentliche Stoßkraft der bürgerlichantifeudalen Bewegung nicht bei diesen Schichten lag, sondern bei den kleinbürgerlichen, plebejischen und frühproletarischen Massen, die von der Überwindung des Absolutismus und Feudalismus einen unmittelbaren Gewinn'erhofften, um den sie sich am Ende der bürgerlichen Revolution geprellt sahen. Ähnlich wie die Differenzen zwischen Voltaire und Rousseau in Frankreich, entspringen also mutatis mutandis die Auseinandersetzungen zwischen Hegel und Fichte nicht nur weltanschaulichen Unterschieden, sondern letzten Endes den inneren Widersprüchen der bürgerlichen Bewegung gegen Adel und Fürsten selbst.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Sämtliche Werke, hg. v. Hermann Glockner, Bd. 1, Stuttgart 1941, S. 112.
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DaQ sich alle solche Gegensätze jetzt offen entfalteten, hatte seine Ursache nicht nur im persönlichen Schicksal der Beteiligten, etwa der Tatsache, daß Fichte, der noch im Mai 1799 erklärt hatte, „im Brandenburgischen kann ich nicht leben" 35 , trotz seiner Bedenken im Juli desselben Jahres nach Berlin übersiedelte, da der preußische Minister Dohm gegenüber einigen Freunden einiges Wohlwollen für ihn bezeugt hatte. Wesentlich ist vielmehr, daß das Problem des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus neue, aktuellere Form gewann. Gewiß: die französische Revolution war beendet worden, ohne daß die durch sie ausgelösten Massenbewegungen in Deutschland unmittelbare Ergebnisse gezeigt hatten. Mit dem zweiten Koalitionskrieg (1799—1802) wurde aber die Wandlung im internationalen Kräfteverhältnis zwischen Kapitalismus und Feudalismus offenbar. Die Opposition des Bürgertums und der Volksmassen einerseits, der direkte militärische oder indirekte politische Einfluß des bürgerlichen Frankreichs andererseits, zwangen die deutschen Fürsten dazu, mehr oder minder umfangreiche bürgerliche Reformen einzuleiten. An der Stellung zu dieser Frage schieden sich nun auch die Parteien im geistigen Leben Deutschlands. Preußen, wo sich Fichte nun aufhielt, war freilich derjenige deutsche Staat, dessen Regierung als letzte diesen Weg der Reformen beschritt. Erst die Zerschlagung des Heeres der altpreußischen Feudalmonarchie im Kriege von 1806/07 zwang auch, sie zu Zugeständnissen an das Bürgertum. Von derartigen Einsichten war die preußische Regierung um die Jahrhundertwende freilich noch weit entfernt. Siey6s, der sich 1798 als französischer Gesandter in Berlin aufhielt, berichtete nach Paris: „Der König von Preußen faßt die schlechteste aller Entschließungen, die, sich für keine zu entscheiden. Preußen will allein bleiben; das ist sehr bequem für Frankreich; es kann während dieser preußischen Betäubung mit den Anderen fertig werden. Mit Unrecht sagt man, Berlin sei der Mittelpunkt der europäischen Unterhandlungen; die ganze Weisheit des Berliner Hofes besteht darin, mit Ausdauer und Hartnäckigkeit eine passive Rolle zu spielen." 36 . Niedergeschlagen von den Enttäuschungen des Atheismusstreites, gleichsam verbannt in die Hauptstadt des preußischen Junkerstaates, isoliert von den wirklichen Auseinandersetzungen der Epoche, war Fichte in seinem politischen Denken der Jahre bis zum Kriege von 1806 von Resignation beherrscht. Nur aus diesem historischen Zusammenhang ist sein merkwürdiges Buch „Der geschlossene Handelsstaat" zu verstehen, das Ende des Jahres 1800 erschien und dem preußischen Minister von Struensee gewidmet ist. Dieses Buch wurde später von den verschiedensten politischen Richtungen in Anspruch genommen, ja, Fichte wurde seinetwegen sogar als „der erste deutsche Sozialist" bezeichnet. 37 Tatsächlich aber hat es mit der sozialistischen Forderung auf eine Vergesellschaftung der entscheidenden Produktionsmittel nicht das geringste zu tun.
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Fichte, J. G., Briefwechsel, Bd. 2, a. a. O., S. 105. Zit. nach HäUsser, Ludwig, Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des Deutschen Bundes, Bd. 2, Berlin 1862, S. 192. Vorländer, Karl, Kant, Fichte, Hegel und der Sozialismus, Berlin 1920, S. 62..
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Das Privateigentum soll nach Fichte nicht angetastet werden, auch wenn er für eine Begrenzung der Preise und Profite eintritt. Im Mittelpunkt steht vielmehr der Vorschlag einer staatlichen Aufsicht über die Verteilung der Arbeitskräfte auf die verschiedenen Zweige von Produktion und Handel, ein Gedanke, den Fichte schon in der „Grandlage des Naturrechts" vorgetragen hatte. 38 Die Einführung eines Landesgeldes und die weitgehende Einstellung aller Außenhandelsbeziehungen sollen die Unabhängigkeit des so „geschlossenen" Staates sichelt. In ökonomischer Hinsicht finden sich Spuren der Gleichheitsgedanken der Jakobiner, und insofern mag „Der geschlossene Handelsstaat" tatsächlich als „Entwurf eines Systems kleinbürgerlicher Diktatur zur Durchsetzung der Gesellschaft kleiner Eigentümer mit maximaler Vermögensgleichheit" 39 bezeichnet werden. Aber gerade das, was das demokratische Kleinbürgertum zur revolutionären Potenz in der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus macht, sein Haß auf feudale Privilegien und absolutistische Willkür, auf höfischen Prunk und adligen Hochmut, fehlt in diesem Werk völlig. Da das kleinbürgerliche Gleichheitsideal hier seiner antifeudalen politischen Tendenz beraubt ist und nur seine Tendenz einer Rückkehr zum Zunftsystem in Erscheinung tritt, wirkt es in diesem Werk Fichtes im wesentlichen reaktionär. „Der geschlossene Handelsstaat" entbehrt eben des demokratischen Pathos', das die früheren und späteren Werke des Philosophen auszeichnet, und es ist Ausdruck einer politischen Resignation, ja sogar eines gewissen Opportunismus: Fichte wollte sich mit diesem Werk der preußischen Regierung empfehlen, indem er die Politik des Abwartens, die der Katastrophe von Jena vorausging, auf eine — freilich ungewöhnliche — Weise zu stützen versuchte. Er polemisiert hier ausdrücklich gegen, die progressiven Seiten des Kapitalismus. Wenn es später im Kommunistischen Manifest hieß: „ A n die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt eine allseitige Abhängigkeit der Nationen untereinander"'' 0 , dann kritisiert Fichte hier gerade die progressive Rolle des Weltmarktes, den der Kapitalismus schuf. Nach seiner Vorstellung seien die modernen Staaten durch den Zerfall eines früher angeblich einheitlichen „christlichen Europa" gebildet worden. Diese Konstituierung einzelner Staaten habe sich aber bisher auf das Gebiet der Politik und Gesetzgebung beschränkt. Dieser Prozeß müsse nun auch auf die Wirtschaft ausgedehnt werden: „Jene Systeme, welche Freiheit des Handels fordern, jene Ansprüche, in der ganzen bekannten Welt kaufen und Markt halten zu wollen, sind aus der Denkart unserer Voreltern, für welche sie paßten, auf uns überliefert worden." 41 An die Stelle der Brüderlichkeit der Demokraten tritt also die zünftlerisch-bornierte Abschließung der Nationen voneinander, wird darüber hinaus sogar die romantische Idee des „christlichen Europa" reproduziert. 3« Fichte, J. G., Sämtliche Werke, Bd. 3, a. a. O., S. 2340. 39 Buhr, Manfred, Jakobinisches in Fichtes ursprünglicher Rechtsphilosophie, in: Maximilian Robespierre 1758—1794, hg. v. Walter Markov, Berlin 1961, S. 502. w Marx/Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 466. « Fichte, J. G., Sämtliche Werke, Bd. 3, a. a. O., S. 454.
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Auch das zweite größere Werk dieser Periode, „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters", zeigt solche Züge der politischen Resignation. Dem Buch liegen Vorlesungen zugrunde, die Fichte, wie es in den Jahren vor der Gründung der Universität üblich war, in den Jahren 1804-1805 privat in Berlin hielt. Die Gegenwart wird in den ,,Grundzügen" kritisiert als Zeit der Herrschaft der gedankenlosen Empirie, des blinden Egoismus und der Irreligiosität. Sie stelle den tiefsten Punkt in der historischen Entwicklung dar: die instinktive Sicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der in der Vergangenheit die Gebote der Vernunft befolgt worden waren, ohne daß sie als solche erkannt wurden, seien durch die Aufklärung zersetzt worden - die Vernunftgesetze wirken nicht mehr als Naturgesetze. Andererseits habe man noch nicht gelernt, diesen Geboten bewußt zu folgen. Der Wissenschaft wird zugleich die Aufgabe gestellt, „den vermögenderen und gebildeteren Bürgerstand und die privilegierten Stämme (so im Text wohl für „Stände" — J. S.) . . . sich friedlich vereinigen lind zusammenstimmen" zu lassen. 42 Gewiß wird dem Bürgertum ein gewisser Vorzug gegeben, aber hinter früheren Forderungen Fichtes bleibt weit zurück, was er etwa über die Gleichheit der Rechte sagt: „Die Gleichheit der Rechte müßte . . . wirklich eingeführt sein oder der Begünstigte müßte immerfort öffentlich und vor den Augen aller handeln, als ob sie eingeführt wäre."'" 3 Fichte will diesen abstrusen Gedanken gar noch daran erläutern, daß ein großer Gutsbesitzer sich so verhalten sollte, daß alle seine Bauern einsähen, sein Reichtum hege in ihrem eigenen Interesse. Erst als die Niederlage von Jena den fortschrittlichen Kräften auch in Preußen gewisse Wirkensmöglichkeiten geschaffen hatte, erholte sich Fichte aus dieser Resignation, nahm auch sein politisch-historisches Denken einen heuen Aufschwung.
IV. Mit dem Krieg von 1806/1807 erreichte die fortschrittliche Rolle des bürgerlichen Frankreich gegenüber den Nachbarstaaten ihren Höhe- und Wendepunkt. Die Zerschlagung des Heeres des altpreußischen Feudalstaates durch die Armeen Napoleons machte sichtbar, daß die Kräfte des Kapitalismus in Mittel- und Westeuropa jetzt stärker waren als die des Feudalismus. Im Innern und nach außen wesentlich gesichert, wurde die französische Bourgeoisie zum Unterdrücker der europäischen Völker. Jetzt erstarkten die nationalen Befreiungsbewegungen in diesen Völkern. Das gilt auch und vor allem für die Bewegungen zur Befreiung Deutschlands. „Der Tilsiter Frieden war die größte Erniedrigung Deutschlands und gleichzeitig eine Wendung zu einem gewaltigen nationalen Aufschwung. « Ebenda, Bd. 7, a. a. O., S. 222. « Ebenda, S. 223. 44 Lenin, W. /., Die Hauptaufgabe unserer Tage, in: Werke, Bd. 27, Berlin i960, S. 149.
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Fichte gehörte zu denjenigen, die erkannten, daß die Katastrophe von 1806 letzten Endes in den überalterten inneren Verhältnissen Preußens und ganz Deutschlands ihre Ursache hatte und daß eine Veränderung dieser-Verhältnisse die Voraussetzung für Erfolge im nationalen Befreiungskampf war. In das — wie bereits betont wurde, im übrigen wenig veränderte - System seiner historisch-politischen Ideen nahm er nun die Forderung nach der nationalen Einheit und Unabhängigkeit Deutschlands auf. Da diese Forderung bei ihm einen bestimmten sozialen Inhalt hatte, nämlich den der kleinbürgerlichen Demokratie, handelt es sich hier nicht nur um ein zentrales Problem der Fichte-Interpretation. Zu einer Zeit, da sich in der Deutschen Demokratischen Republik bereits die sozialistische deutsche Nation entwickelt, ist ein richtiges Verständnis des sozialen Inhalts der nationalen Frage von unmittelbar aktueller Bedeutung. Daher seien einige Bemerkungen über das nationale Problem im Geschichtsdenken der deutschen Aufklärung vor Fichte hier angeführt. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war die deutsche Nation erst im Werden. Noch hatten sich nicht alle ihre gemeinsamen Merkmale herausgebildet. Die gemeinsame deutsche Sprache stellte bereits ein wichtiges Bindeglied zwischen den Deutschen dar, und es gab auch bereits eine Gemeinschaft des Territoriums. Die gemeinsame Nationalkultur hatte sich mehrere Jahrhunderte zuvor herauszubilden begonnen. Weil die Aufklärungsbewegung als Ideologie des Emanzipationskampfes des Bürgertums gegen Feudalismus, Absolutismus und Klerikalismus nun eine höhere Stufe erreichte und die Idee einer Erziehung der Nation als Vorbereitung der bürgerlichen Umgestaltung immer mehr in den Mittelpunkt der Literatur, der Philosophie und der Gesellschaftswissenschaften trat, gewann diese Kultur an Festigkeit und Dauerhaftigkeit. Noch fehlte aber eine gemeinsame deutsche Wirtschaft. Wenn auch seit den fünfziger Jahren die Zahl der Manufakturen wuchs, und wenn auch in der Landwirtschaft allmählich neue Betriebsformen eingeführt wurden, fehlte doch ein gemeinsamer nationaler Markt. Der Kampf gegen die feudale Zersplitterung war also unmittelbar mit dem Kampf für die Festigung der Nation verbunden. Seit etwa 1750 hatten sich lebhafte publizistische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen über die nationale Frage entwickelt. Daß es sich aber hierbei letzten Endes um die Notwendigkeit der bürgerlichen Umgestaltung Deutschlands handelte, kam jedoch noch nicht zum Ausdruck. Anlaß und Anknüpfungspunkt dieser Auseinandersetzungen waren vielmehr zu dieser Zeit meist noch die Probleme der Reichsgewalt. Vom Sturm und Drang dagegen wurden Bürgertum und Volk offen dem Adel und den Hofkreisen entgegengestellt und als die eigentlichen Träger der Nation bezeichnet. Charakteristisch dafür ist die von Goethe 1772 formulierte Gegenüberstellung der „Polierten Nation"^, und des „Naturstoffes unter der Politur", zu dem Goethe „den Mann in seiner Familie, den Bauern auf seinem Hofe, die Mutter unter ihren Kindern, den Handwerksmann in seiner Werkstatt, den Bürger bei seiner Kanne Wein und den Gelehrten und Kaufmann in seinem Kränzchen oder seinem Kaffeehaus" zählt.
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Die klassische deutsche Philosophie und Dichtung, der die bürgerliche Freiheitsforderung und die Überzeugung von der Zusammengehörigkeit aller Deutschen zugrunde lagen, waren eine neue Phase dieser Bewegung, keineswegs aber ein Bruch mit ihr. Der bürgerlich-nationale Inhalt wandelte sich jetzt in gewisser Weise. Die recht unbestimmten Erwartungen der Stürmer und Dränger, daß in Deutschland in der nächsten Zeit eine Volksbewegung heranreifen und es in bürgerlichem Sinne umgestalten und einigen würde, waren nun geschwunden. Diese Resignation ließ die Hoffnung wieder aufleben, daß aufgeklärte Fürsten, umgeben und unterstützt von freiheitlichen Beratern, diese Umwandlungen auf dem Wege von Reformen von oben durchführen würden. Fichte gehört in den Zusammenhang dieser Bewegung, da auch er zeit seines Lebens von dieser Zusammengehörigkeit der Deutschen überzeugt war und seine Philosophie der geistigen Vorbereitung einer Umwandlung der deutschen Verhältnisse dienen sollte. Gleichwohl nimmt er in der bürgerlich-nationalen Bewegung eine besondere Stellung ein. Daß er die Positionen der kleinbürgerlichen Demokratie vertrat, wurde bereits nachgewiesen. Als mit der Gründung des Rheinbundes, der Auflösung des Reiches und den Siegen Napoleons im dritten Koalitionskrieg und im Krieg gegen Preußen die nationale Unabhängigkeit Deutschlands bedroht war, begriff er, daß Einheit und Unabhängigkeit Deutschlands nicht durch die Diplomaten und Militärs, sondern durch alle Deutschen errungen werden müßten. So besteht seine wohl bedeutendste Leistung für die Entwicklung des politisch-historischen Denkens in Deutschland darin, daß er in der letzten Phase seines Wirkens den Zusammenhang zwischen Demokratie und Nation aufwies. Diesem Zusammenhang sind vor allem seine letzten politischen Fragmente gewidmet. Aber bereits vor Beginn des Krieges von 1806/1807 hat er einige dieser Gedanken freilich noch in recht abstrakter Form — formuliert, und zwar in dem ersten der beiden Dialoge „Der Patriotismus und sein Gegenteil".45 In seinem Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung über das Wesen des Patriotismus und seine Erscheinungsformen. Der eine der beiden Gesprächspartner vertritt die traditionelle, feudal-partikularistische Ansicht, es gäbe nur einen preußischen, aber keinen deutschen Patriotismus. Fichte läßt ihn darüber hinaus sein Argument durch Drohungen mit der Staatsgewalt und der Macht der öffentlichen Meinung unterstützen. Der zweite Gesprächspartner dagegen vertritt die Auffassungen Fichtes: „Der dunkle und verworrene Begriff eines besonderen preußischen46 Patriotismus" sei „eine Ausgeburt der Lüge und der ungeschickten Schmeichelei."47 Er nennt die „Absonderung des Preußen von den übrigen Deutschen . . . künstlich, gegründet auf willkürliche und durch das Ungefähr zustande gebrachte Einrichtung; die Absonderung des Deutschen von den übrigen europäischen Nationen ist begründet durch die Natur"48. « Fichte, J. G.,
Nachgelassene Werke, Bd. 3, a. a. O., S. 221 ff. «• Daß dieses Wort in der Veröffentlichung des Dialoges durch I. H. Fichte fortgelassen wurde, ist bereits eingangs erwähnt worden. 48 Ebenda, S. 232. " Ebenda, S. 233.
/ Gochlchtiwfauaickift. Bd. I
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Fichte bestimmt in diesen Dialogen die Nation nach zwei Merkmalen: der gemeinschaftlichen Sprache und dem gemeinsamen Nationalcharakter. Es ist interessant, daß überhaupt die Nation hier bereits nach Merkmalen bestimmt wird. Es ist aber auch interessant, welche Merkmale für wesentlich erkannt werden und welche nicht. Fichte deckt hier ja zwei Kennzeichen der Nation auf, und zwar diejenigen, die im wesentlichen der Sphäre des gesellschaftlichen Bewußtseins angehören. Im Banne seiner idealistischen Philosophie zieht er Wirtschaft und Territorium der Nation nicht in die Betrachtung ein. Diese idealistische Haltung zeigt sich auch in der Auffassung von der Eigenart des deutschen Nationalcharakters: „Ernst, Ausdauern, Suchen des redlichen Gewinnes und Streben mehr nach dem Wesen als nach dem Schein"'19 — eine Auffassung, in der sowohl eine gewisse nationalistische Überheblichkeit, auf die später noch einzugehen sein wird, als auch eine Beschönigung jener Untertänigkeit zum Ausdruck kommen, die sich aus der jahrhundertelangen Herrschaft der feudal-partikularistischen Reaktion ergeben. Die zentralen Abschnitte des ersten Dialoges sind — das ist bereits früher festgestellt worden50—diejenigen, in denen das Verhältnis von Patriotismus und Weltbürgertum untersucht wird. Meinecke und mit ihm die gesamte bürgerlichidealistische Fichte-Forschung haben aber nur die abstrakte Form dieses Verhältnisses in den Darlegungen Fichtes behandelt. Ausschlaggebend ist in Wirklichkeit der gesellschaftliche Inhalt dieser Beziehung, aus dem heraus Fichte dann die Form entwickelt. Dieser Inhalt ist bürgerlich-demokratisch. „Der Patriot will, daß der Zweck des Menschengeschlechtes zuerst in derjenigen Nation erreicht werde, deren Mitglied er selber ist." 5 1 Daher sind die Dialoge nicht „Bindeglied" 52 zwischen einer frühen, angeblich mehr kosmopolitischen, und einer späteren, angeblich mehr patriotischen Phase, sondern Ausdruck der für Fichte überhaupt charakteristischen politischen Haltung. In den Dialogen wird der Philosophie, genauer: der Wissenschaftslehre Fichtes selbst, ausschlaggebende Bedeutung für den Fortschritt des Menschengeschlechtes zugeschrieben. In diesem Zusammenhang heißt es, „nur der Deutsche kann Patriot sein". 53 So gefährlich diese Formulierung ist, kann sie doch nicht als Aufruf zur Eroberung fremden Territoriums oder zur Rechtfertigung imperialistischer Aggressionen benutzt werden, wie dies die spätere imperialistische Fichte-Legende tat. Die Aufgabe, die nach Fichte die deutsche Nation hat, ist es vielmehr, jene demokratischen Ideale zu verwirklichen, die in der Wissenschaftslehre theoretisch begründet und in der französischen Revolution nach Fichtes Ansicht angestrebt, aber durch Napoleon verraten wurden. In diesem Zusammenhang sei auf die bisher kaum beachtete Skizze „In Beziehung auf den Namenlosen"34 hingewiesen, die auf die Kaiserkrönung Napoleons 1804 49 50 51 52 53 54
Ebenda, S. 232. Meinecke, Friedrich, Weltbürgertum und Nationalstaat, 6. Aufl..München 1922, S. 98. Fichte, J . C., Nachgelassene Werke, Bd. 3, a. a. O., S. 233. Meinecke, Friedrich, a. a. O., S. 97. Fichte, J . G., Nachgelassene Werke, Bd. 3, a. a. O., S. 234. Derselbe, Sämtliche Werke, Bd. 7, a. a. O., S. 512fr.
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Bezug nimmt. Ähnlich wie Beethoven die Widmung seiner 3. Symphonie zerriß, die ursprünglich auf „Bonaparte" geschrieben war, erklärt auch Fichte: „Daß Ihr . . . aus einer Republik Euch in die aller ärgste Despotie begabt, ist Verbrechen Eurer Feigheit an dem Menschengeschlechte."55 Fichte bezeichnet Napoleon als „Usurpator", dessen Legitimität weder auf Tradition noch auf eine Wahl durch das Volk begründet ist — Überlegungen, die bereits auf die letzten politischen Fragmente aus dem Jahre 1813 hinweisen. Diese Skizze dürfte im Zusammenhang mit Fichtes Plan, 1806 als „weltlicher Staatsredner" 56 das preußische Heer im Krieg von 1806 zu begleiten, entstanden sein. „Erst muß der König mit seinen Heeren durch Taten sprechen. Dann kann die Beredsamkeit die Vorteile des Sieges vermehren" 57 , antwortete Beyme Fichte auf diesen Vorschlag. An die Stelle der von Beyme erwarteten „Vorteile des Sieges" traten die Katastrophe von Jena und der Friede von Tilsit. Fichte hatte - das zeigen die Entwürfe zu den Reden, die er den Soldaten halten wollte — selbst nicht sagen können, wofür denn eigentlich dieser Krieg geführt würde. Erst mit der Niederlage wurde die Perspektive der weiteren Entwicklung Preußens und Deutschlands für ihn sichtbar. Anfänglicher Verzweiflung — „ich glaubte, die deutsche Nation müsse erhalten werden; aber siehe, sie ist ausgelöscht"58, schrieb er in den Tagen des Abschlusses des Tilsiter Friedens an seine Frau — folgte bald die Klarheit, daß nur eine grundsätzliche Umwandlung der inneren Verhältnisse Preußens den Weg zur nationalen Befreiung frei machen könne. Zwei Arbeiten aus dem Winter 1806/1807, den Fichte in Königsberg verbrachte, bereiteten das Neue vor: Die „Episode über unser Zeitalter, aus einem republikanischen Schriftsteller" 59 , eine entschiedene Zeitkritik aus der Perspektive der kleinbürgerlichen Demokratie, die mit Recht schon früher als eine „Neuauflage der .ZufälligenGedanken in einer schlaflosen Nacht'" bezeichnet worden ist60, und ein Aufsatz über Machiavelli. Welche Tendenz die Erinnerung an den großen italienischen politischen Publizisten und Historiker hatte, zeigt ein gleichzeitig entstandener Brief an Altenstein, in welchem Fichte es als eine „unumstößlich scheinende Wahrheit" ansieht, „daß an keinen Frieden in Europa zu denken ist, wenn nicht Germanien — unter Einem Haupte vereinigt wenigstens seine Streitkraft — in einer festen und Respekt gebietenden Fassung dasteht". 61 Mit den „Reden an die deutsche Nation" bekannte sich Fichte zu dem fortschrittlichsten Flügel der Reformbewegung in Preußen. Er rief dazu auf, das Reformwerk,, das in diesen Monaten begonnen hatte, durch eine grundlegende Änderung des Erziehungswesens zu ergänzen. Die bisherige Erziehung habe nicht 55 Ebenda, S. 514. 56 Ebenda, S. 507. 57 Derselbe, Briefwechsel, Bd. 2, a. a.O., S. 421, Brief vom 20. September 1806. 68 Ebenda, S. 472, Fichte an seine Frau am 29. Juli 1807. 50 Derselbe, Sämtliche Werke, Bd. 7, a. a. O., S. 5i9ff. so Hyaliner, Nico, Fichte als politischer Denker, Halle 1926, S. 200. 61 Fichte, J. G., Briefwechsel, Bd. 2, a. a. O., S. 441. Fichte an Altenstein am 18. April 1807. 4•
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die Selbsttätigkeit der Zöglinge entwickeln können und sie habe „die große Mehrzahl, auf welcher das gemeine Wesen ruht, das Volk" 62 , vernachlässigt. Fichte schlägt eine Nationalerziehung vor, die im Geiste Pestalozzis durchzuführen sei und vor allem die bisher vernachlässigte Selbsttätigkeit zu entwickeln habe. Diese Nationalerziehung bildete für ihn den wichtigsten Beitrag zur Verwirklichung des demokratischen Nationalideals: des Ideals einer Nation gleichberechtigter Staatsbürger, die dem Fortschritt des Menschengeschlechts dienen, indem sie sich von den Fesseln des Feudalismus befreien. Wieder freilich wird zur Begründung dieses Programms eine Geschichtskonstruktion erdacht: nach Fichtes Auffassung hätten die Deutschen die Wohnsitze eines angeblichen germanischen Stammvolkes und ihre ursprüngliche Sprache behalten, während die anderen germanischen Völker diesen ursprünglichen Wohnsitz verlassen und ihre „Ursprache" aufgegeben hätten. Diese Konstruktion, die von der späteren imperialistischen Fichte-Legende mißbraucht werden konnte und auch tatsächlich mißbraucht worden ist, um ihn in einen geistigen Wegbereiter der Expansion und des Krieges umzufälschen, hatte aber in Wirklichkeit keinerlei Tendenz der Rechtfertigung nationaler Unterdrückung. Fichte wandte sich ausdrücklich gegen drei „Traumbilder" von den Beziehungen zwischen den Staaten. Als das erete von ihnen nannte er wieder das europäische Gleichgewicht. Als die Tendenz dieser Lehre bezeichnet er: „Die deutschen Staaten, deren abgesondertes Dasein schon gegen alle Natur und Vernunft steht, mußten, damit sie doch etwas wären, zu Zulagen gemacht werden, zu den Hauptgewichten an der Waage des europäischen Gleichgewichts, deren Zuge sie blind und willenlos folgten". 63 Statt sich in die Zwistigkeiten anderer Staaten ziehen zu lassen, solle dieses Land endlich „sich mit sich selbst verbünden" 64 . Das zweite Traumbild ist nach der Darstellung der „Reden an die deutsche Nation" die Freiheit der Meere: hier mit dem Akzent, daß der Deutsche nicht „von dem Schweiße und Blute eines armen Sklaven jenseits der Meere Gewinn ziehen" 65 solle. Direkt gegen die napoleonische Unterdrückung richtet sich die Polemik Fichtes gegen das dritte Traumbild der internationalen Beziehungen, das einer „Universalmonarchie" 66 , das die Eigentümlichkeit der Nationen negiere. Weiter in die Zukunft greift die Forderung der Reden nach einer einheitlichen deutschen Republik. „Die deutsche Nation ist die einzige unter den neueuropäischen Nationen, die es an ihrem Bürgerstande schon seit Jahrhunderten durch die Tat gezeigt hat, daß sie die republikanische Verfassung zu ertragen vermöge." 67 In vorsichtigen, aber eindeutigen Wendungen wird die „Einheit «2 Derselbe, Sämtliche Werke, Bd. 7, a. a. O., S. 276. 6 3 Ebenda, S. 464. «« Ebenda, «s Ebenda, S. 466. 6 6 Ebenda, S. 467. 6 7 Ebenda, S. 357. - E s sei bemerkt, daß Fichte an dieser Stelle eine „begeisternde Geschichte der Deutschen aus diesem Zeitraum . . ., die . . . National- und Volksbuch würde", fordert. ,
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der Regierung" der ganzen deutschen Nation in der Form der Republik als die günstigste Perspektive dargestellt. 68 Fichte hat versucht, die Gedanken der „Reden" in seiner akademischen Tätigkeit zu verwirklichen. Als im Zusammenhang mit den Reformen im Herbst 1810 die Universität Berlin gegründet wurde, übernahm er das erste Dekanat der Philosophischen Fakultät. Er schlug vor, der Universität ein Internat anzuschließen, in dem eine Gemeinschaft demokratischer Studenten herangebildet werden sollte. Sein Vorschlag wurde jedoch nicht verwirklicht. Auch als er bald darauf zum Rektor der Universität gewählt wurde, scheiterte er beim Versuch, seine demokratischen Ideen zu verwirklichen: der Senat wollte ihn nur als energischen Vertreter privater Belange der Professoren gegenüber den Behörden benutzen. E r versuchte, antisemitische Raufbolde unter den Studenten, die einen jüdischen Kommilitonen brutal drangsaliert hatten, zur Rechenschaft zu ziehen, wurde aber dabei im Stich gelassen. Das war die entscheidende Ursache dafür, daß er das Rektorat niederlegte und sich wieder auf die wissenschaftliche Arbeit beschränkte. Fichte hat sich in seinen letzten Lebensjahren immer wieder mit dem „Zustand, der wahrscheinlich aus dem bevorstehenden Kriege zu erwarten ist" 69 , beschäftigt. Sein politisches Testament, der „Entwurf zu einer politischen Schrift im Frühling 1 8 1 3 " , ist eines der bedeutendsten Dokumente des deutschen politischen Denkens dieser Zeit. Auf der neuen, höheren Stufe, die durch die französische Revolution, die Revolutionskriege und die nationalen Befreiungskämpfe gegen die napoleonische Fremdherrschaft erreicht worden war, werden in diesen Fragmenten die „Zufälligen Gedanken" von 1788 neu formuliert. Ebenso wie diese Notizen aus seiner Jugend ist auch der Entwurf von 1 8 1 3 deshalb von besonderem Interesse, weil er ohne Rücksicht auf die Zensur verfaßt und daher unmittelbaren Einblick in das Wesen der politischen Auffassungen Fichtes geben kann. Bereits in den Überlegungen zur Vorrede der geplanten Schrift wird das Ziel, ein freies, einheitliches und unabhängiges Deutschland, deutlich, werden aber auch die Schwierigkeiten deutlich, die der Verwirklichung dieses Planes entgegenstehen: „Was . . . w i l l ich? Das Volk anfeuern durch die vorausgesetzte Belohnung, politisch sich frei zu machen? E s will nicht frei sein, es versteht noch nichts von der Freiheit. — Die Großen erschüttern? Dies wäre unpolitisch im gegenwärtigen Momente. Aber die Gebildeten, bis zur Idee der Freiheit Entwickelten auffordern, daß sie die Gelegenheit brauchen, um wenigstens theoretisch ihr Recht geltend zu machen und auf die Zukunft zu weisen." 70 Die Fragmente beschäftigen sich dann mit der Frage, was eigentlich ein Volkskrieg sei. Bald fällt die entscheidende Formulierung, „daß es zu einem deutschen Volk gar nicht kommen kann, außer durch Abtreten der einzelnen Fürsten" 71 . «» Ebenda, 69 Ebenda, 70 Ebenda, 71 Ebenda,
S. S. S. S.
397. 553. 546. 547.
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Das ist ein Gedanke, den wohl kaum ein anderer der Zeitgenossen auch nur zu fassen wagte. Fichte, so dürfen wir sagen, antizipiert hier Ziele der entschiedensten Demokraten aus der Revolution von 1848/1849. Ja, es wird nicht .nur die Einheit Deutschlands in einer Republik als Perspektive der zukünftigen deutschen Entwicklung bezeichnet - Fichte fordert hier auch eine Nationalisierung des Bodens: „Der terminus ad quem ist überhaupt: durchaus kein Landeigentum, sondern lebenslängliche Nutznießung gegen die nötigen Abgaben." 72 Die Gedanken gehen also hier über die bloße Forderung einer staatlichen Aufsicht über die Verteilung der Arbeitskräfte, wie sie etwa in der „Grundlage des Naturrechts" und dem „Geschlossenen Handelsstaat" enthalten waren, hinaus. Auch über den Weg dazu war sich Fichte klar: die Abschaffung der „Privilegien des Adels". 73 Die Überlegungen kehren dann zum Problem der deutschen Einheit zurück. Allein durch die Abschaffung feudaler Privilegien „werden wir nicht Deutsche, und unsere Freiheit bleibt auch außerdem, wegen der kleinlichen eigennützigen Interessen, ungesichert. Alle Kriege der Deutschen gegen Deutsche sind dafür schlechthin vergeblich gewesen, auch fast immer für die Interessen des Auslands gefochten worden, dessen einzelne Provinzen wir wurden." 7 '' Von neuem wird die Perspektive einer einheitlichen Republik sichtbar: „Kein Volk von Sklaven ist möglich. Nicht mehr umzubilden daher wäre ein Volk, noch zum Anhange eines anderen zu machen, wenn es in einen regelmäßigen Fortschritt der freien Verfassung hineingekommen. Dazu also ist es fortzubilden, um seine nationale Existenz zu sichern. Dies ein Hauptgedanke!" 75 Gewiß, über den Weg zu diesem Ziel war sich Fichte nicht klar. Von Preußen heißt es:, ,Der Geist seiner bisherigen Geschichte zwingt es . . . fortzuschreiten in der Freiheit, in den Schritten zum Reiche; nur so kann es fortexistieren. Sonst'geht es zugrunde." 70 In diesem Zusammenhang taucht aber die wirklichkeitsfremde Illusion auf, der preußische König würde nicht nur „Zwingherr zur Deutschheit" werden, sondern nach seinem Tode würde sich Deutschland auf friedlichem Wege in eine Republik verwandeln können. 77 Am Ende dieser Fragmente schildert Fichte die „besonderen Züge im Bilde eines deutschen Fürsten": „Fechten für ein fremdes Interesse, lediglich um der Erhaltung seines Hauses willen: - Soldaten verkaufen; Anhängsel sein eines fremden Staates. Seine Politik hat gar kein Interesse, als den Flor und die Erhaltung des lieben Hauses." 78 „Dies alles hat die Deutschen bisher gehindert, Deutsche zu werden: Ihr Charakter liegt in der Zukunft: jetzt besteht er in der Hoffnung einer neuen und glorreichen Geschichte." 79 Dreierlei ist nach Fichtes Ansicht der „Grundcharakter der Deut™ Ebenda, S. 548. 7 3 Ebenda. '< Ebenda. w Ebenda, S. 549t., Sperrungen bei Fichte. 7« Ebenda, S. 554. 77 Ebenda, S. 565. 78 Ebenda, S. 571. 1» Ebenda.
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sehen": „Erstens, Anfangen einer neuen Geschichte; zweitens, Zustandebringen ihrer selbst mit Freiheit; drittens, bisher haben eigentlich nur . . . die Gelehrten die künftigen Deutschen vorgebildet." 80 „Der Einheitsbegriff des deutschen Volkes ist noch gar nicht wirklich, er ist ein allgemeines Postulat der Zukünft." B 1 Diesen „Anfang einer neuen Geschichte" haben — und darin hat die Geschichte Fichte recht gegeben — die deutschen Fürsten nicht mehr machen können. Auch die deutsche Bourgeoisie war nicht in der Lage, diese Aufgabe zu lösen, unterwarf sie sich doch dem Weg der Einigung von oben, der mit der Reichsgründung 1871 Militarismus und Junkerherrschaft fortbestehen ließ und damit schwerste Belastungen für die ganze Nation mit sich brachte. Die einheitliche demokratische Republik kann nur durch eine Erneuerung von Grund auf - eine Erneuerung, die nur unter der Führung der Arbeiterklasse möglich ist - erreicht werden. Das war die Lehre, die Karl Marx und Friedrich Engels aus der deutschen Geschichte zogen, das war der Leitfaden, an dem die revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland seither ihren Kampf orientierte, und das ist die Politik; die der erste sozialistische Staat unserer Geschichte verwirklicht. Eine neue Geschichte anzufangen - in dieser Forderung gipfelte die Beziehung zwischen Fichte und der deutschen Geschichte. Sein Erbe wird gewahrt in dem deutschen Staat, der diesen Anfang gemacht hat. 8° Ebenda, S. 5 7 1 f. 8' Ebenda, S. 573.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel und das Problem des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland Joachim Stretsand I. Die dialektische Methode Hegels und sein System eines objektiven Idealismus entstanden in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Prozeß des Ubergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Deutschland um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Die Philosophie Hegels bildet eine Widerspiegelung dieses Prozesses vom Standpunkt derjenigen Teile des deutschen Bürgertums, die die bürgerliche Umgestaltung auf dem Wege der Reform von oben anstrebten, also in der Form eines Klassenkompromisses zwischen Adel und Bürgertum unter der Führung des Bürgertums. Diese Widerspiegelung hatte nicht nur passiven Charakter — Hegels philosophisches Denken ist untrennbar mit seinen politischen • Auffassungen verbunden, und die entscheidenden Impulse für die Ausbildung und Abwandlung seiner philosophischen Auffassungen entsprangen der Entwicklung seiner gesellschaftlich-politischen Haltung. Im folgenden soll kein Gesamtbild der Philosöphie Hegels und ihrer Wirkung auf das historisch-politische Denken in Deutschland gegeben werden. Es sollen vielmehr nur die hier grundsätzlich skizzierten Beziehungen näher erläutert werden. Dafür muß zunächst dieser Umwandlungsprozeß selbst charakterisiert werden.1 Die bürgerliche Umgestaltung Deutschlands war ein Prozeß, der sich über mehrere Jahrzehnte hinzog und in dem die feudalen Bindungen der Bauertl, die mittelalterliche Gewerbeverfassung und schließlich, mit der Einigung von oben im Jahre 1871, auch die nationale Zersplitterung beseitigt wurden. Er führte zu einem qualitativen Sprung in der Geschichte^ Deutschlands: an die Stelle dei feudalen trat die kapitalistische Gesellschaftsordnung. Diese Umgestaltung begann in den einzelnen deutschen Staaten zu verschiedenen Zeiten. Die französische Revolution führte zu einer grundlegenden Änderung im internationalen Kräfteverhältnis zwischen Kapitalismus und Feudalismus. Die Volksbewegungen in den deutschen Einzelstaaten erstarkten und zwangen die herrschenden Klassen zu Zugeständnissen an die antifeudale Bewegung. In derselben Richtung wirkte der unmittelbare französische Einfluß in den von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten und in den deutschen Staaten rechts des Rheins. 1
Die hier umrissene Konzeption wird näher ausgeführt in: Stretsand, Joachim, Deutschland von 1789 bis 1815, 2. Aufl., Berlin 1961. (Lehrbuch der Deutschen Geschichte, hg. v. A . Meusel u. R . F. Schmidt, 5. Beitrag.)
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Dieser französische Einfluß hatte solange fortschrittlichen Charakter, wie die bürgerliche Gesellschaftsordnung in Frankreich noch nicht endgültig nach außen gesichert war. Die Kriege zwischen dem bürgerlichen Frankreich und den verschiedenen ihm entgegenstehenden Koalitionen waren seitens Frankreichs bis zum Jahre 1807 im wesentlichen fortschrittlich. Mit den Siegen der napoleonischen Heere über Österreich und Preußen in den Kriegen von 1805 und von 1806/1807 änderte sich der Charakter dieser französischen Kriege: nach innen und nach außen im wesentlichen gesichert, wurde das französische Kaiserreich nun zum Unterdrücker der europäischen Nationen und hemmte die bürgerliche Entwicklung in diesen Ländern. Die bürgerlichen Reformen in Preußen, dem größten und von nun an gerade für die kapitalistische Entwicklung wichtigsten deutschen Einzelstaat, wurden im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung des nationalen Befreiungskampfes gegen die napoleonische Fremdherrschaft begonnen. Preußen stand also mit seinen Reformen nicht am Anfang, sondern am Ende in der Reihe derjenigen deutschen Staaten, in denen die bürgerliche Umgestaltung um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert begann. Die besonderen Formen, unter denen sich die Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland vollzog - insbesondere der preußische Weg der kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft und der Weg zur Einigung von oben — ließen Militarismus und Junkerherrschaft vor allem in Preußen bestehen und gefährdeten das weitere Schicksal der deutschen Nation. Trotz derartiger Belastungen entsprach aber auch in Deutschland der Ubergang vom Feudalismus zum Kapitalismus den grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der materiellen Produktion. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Auffassungen Hegels waren die Jahre unmittelbar um die Jahrhundertwende. Auf dem Rastatter Kongreß, der Ende 1797 zusammentrat und auf dem die Verhandlungen über den Friedensschluß zwischen Frankreich und dem Reich geführt werden sollten, folgte auf die militärischen Niederlagen, die den beiden großen deutschen Feudalmonarchien und dem Reich im ersten Koalitionskrieg von Frankreich zugefügt worden waren, die diplomatische Niederlage. Auf dem Rastatter Kongreß wurde sichtbar, daß sich Frankreich jetzt eindeutig auf die deutschen Mittelstaaten orientierte, mit deren Stärkung gegen Preußen und Österreich bereits Tendenzen verfolgt wurden, die später zur Gründung des Rheinbundes führten. Weder die englische Bourgeoisie noch die Feudalmonarchien des Kontinents wollten sich aber mit dem Aufstieg des bürgerlichen Frankreich abfinden. Noch während der Kongreß, der die Ergebnisse des ersten Koalitionskrieges fixieren sollte, in Rastatt tagte, begann bereits der Krieg der zweiten Koalition, die auf den Bündnissen zwischen England, Rußland und Österreich beruhte, gegen Frankreich. Anfängliche Mißerfolge veranlaßten das französische Großbürgertum zu der Forderung, an die Stelle des Direktoriums eine starke und stabile Staatsgewalt zu setzen. Das war die Situation, in der Napoleon Bonaparte am 18. Brumaire (9. November) 1799 seinen Staatsstreich durchführen und alle Macht in seiner Hand, der des Ersten Konsuls, konzentrieren konnte. Unter seiner poli-
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tischen und militärischen Leitung wurde im zweiten Koalitionskrieg die bürger liche Ordnung in Frankreich gegen die feudale Restauration gesichert, konnte Frankreich darüber hinaus in den folgenden Jahren die Hegemonie in Europa erringen und politische und soziale Wandlungen in den Nachbarstaaten durchsetzen, die auch für die Folgezeit nachhaltige Wirkung hatten. Der Verlauf des zweiten Koalitionskrieges machte die Veränderung im internationalen Kräfteverhältnis unmittelbar sichtbar, auch wenn die bürgerliche Ordnung in Frankreich noch nicht endgültig nach außen gesichert war. Daß Napoleon mindestens einige der deutschen Fürsten zu Reformen zwingen, sie aber zugleich bei der Unterdrückung der Volksbewegung unterstützen würde, zeichnete sich nun immer deutlicher ab. So ist es kein Zufall, daß sich gerade in dieser Zeit die verschiedenen Strömungen im geistigen Leben Deutschlands immer deutlicher voneinander differenzierten und daß die wesentlichen Züge der Philosophie Hegels gerade in diesen Jahren ausgebildet wurden. II. Nachdem Hegel von der deutschen Bourgeoisie jahrzehntelang, wie Marx im Nachwort zur 2. Auflage des 1. Bandes des ,Kapitals"-Sagte, wie „ein toter Hund" behandelt worden war, erwachte etwa zu Beginn der imperialistischen Epoche das Interesse für ihn in der bürgerlichen Philosophiegeschichtsschreibung von neuem. Das fand seinen Ausdruck vor allem in der „Jugendgeschichte Hegels" von Wilhelm Dilthey (1905) und in der Ausgabe seiner bis dahin unveröffentlichten frühen Studien, die Herman Nohl 1907 als „Hegels theologische Jugendschriften" herausbrachte. In zweifacher Hinsicht stifteten, so wertvoll an sich die bisher in der Berliner Staatsbibliothek verborgenen Handschriften waren, diese Veröffentlichungen aber Verwirrung: zum einen dadurch, daß die frühen Arbeiten Hegels als „theologische Jugendschriften" rubriziert wurden, was ihre irrationalistische Mißdeutung im Sinne der „Lebensphilosophi.c" erleichterte, zum anderen dadurch, daß in der nun wieder auflebenden Hegel-Forschung diese unveröffentlichten Arbeiten mit den zu Lebzeiten des Philosophen gedruckten Schriften in ihrer Bedeutung gleichgesetzt wurden. Die Tatsache, daß die Vorbereitungsperiode der Philosophie Hegels ungewöhnlich lang war und daß er in den ersten drei Jahrzehnten seines Lebens kein größeres selbständiges Werk veröffentlicht hatte, wurde unter dem Eindruck dieser Veröffentlichungen Diltheys und Nohls von den Hegel-Biographen der imperialistischen Epoche ignoriert, während sie in Wirklichkeit gerade von wesentlicher Bedeutung für das Verständnis seiner persönlichen Entwicklung und seines Wirkens ist. Der 1770 in Stuttgart geborene Sohn eines höheren württembergischen Beamten, eines Rentkammersekretärs, wuchs im Elternhaus und auf dem Stuttgarter Gymnasium unter dem Einfluß der Anschauungen der absolutistischen Bürokratie auf. Seine Beschäftigung mit der antiken Literatur hielt sich im konventionellen Rahmen.
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Als Hegel im Herbst 1788 als Student der Theologie in das berühmte Tübinger Stift, die herzogliche Internatsschule, in der man den Theologennachwuchs Württembergs für das geistliche Amt präparierte, eintrat, lernte er in dem einführenden philosophischen Kursus und während des darauffolgenden theologischen Studiums vor allem die Versuche kennen, die protestantische Theologie den Ideen der Aufklärung so weit anzupassen, wie dies unumgänglich geworden war. Von mindestens ebenso dauerhafter Bedeutung für die Entwicklung der Auffassungen des Philosophen war aber auch das Erlebnis der französischen Revolution, das ihn gemeinsam mit den beiden Freunden Schelling und Hölderlin beschäftigte. Sie waren Mitglieder eines geheimen politischen Klubs unter den Studenten und pflanzten 1790 einen Freiheitsbaum. Auch wenn Hegel schon vor der Ableistung seines theologischen Kandidatenexamens in Tübingen (Herbst 1793) Studien zu politisch-historischen Problemen verfaßte, kann doch weder für diese Zeit, noch für das dritte Jahrzehnt seines Lebens überhaupt von einem klar umrissenen System seirfer philosophischen oder politischen Anschauungen gesprochen werden. Schon die Tatsache, daß der Student und spätere Hauslehrer keine Möglichkeit praktischen Wirkens hatte, hemmte natürlich die Ausprägung seiner Auffassungen. So kann man auch nicht, wie Georg Lukacz 2 dies tut, von einer „republikanischen Periode" des jungen Hegel sprechen. Gewiß: republikanische Sympathien, wie er sie in Tübingen dokumentiert hatte, sprechen auch aus den Aufzeichnungen der folgenden Jahre. Aber die Unzufriedenheit mit den zeitgenössischen Verhältnissen führte kaum weiter als zu einer unbestimmten Schwärmerei für das alte Griechenland und zu der Illusion, eine Erneuerung der Religion könne zum Ausgangspunkt einer Umwandlung der deutschen Verhältnisse werden. Das Fragment „Volksreligion und Christentum" 3 , das Hegel in den letzten Tübinger Stiftsjahren und in der ersten Zeit seiner Hauslehrertätigkeit in Bern verfaßte, beschäftigte sich mit der Verknüpfung einer volkstümlichen Religion, die dem im Dienste der herrschenden Klassen in Orthodoxie und Dogmatismus erstarrten zeitgenössischen Christentum entgegengesetzt wurde, und der Freiheit, für die die altgriechische Demokratie als Vorbild erschien. Dieses Fragment gipfelte in der These: „Volksreligion — die große Gesinnungen erzeugt und nährt — geht Hand in Hand mit der Freiheit." 4 Man mag Ansätze seiner späteren Auffassungen in der Bemerkung finden wollen : „Wenn davon die Rede ist, wie m i n auf die Menschen zu wirken hat, so muß man sie nehmen, wie sie sind, und alle guten Triebe und Empfindungen aufsuchen, wodurch wenn auch nicht unmittelbar seine Freiheit erhöht, doch seine Natur veredelt werden kann." 5 Das sind Gedanken, in denen ein Widerspruch gegen den christlichen Dualismus und seine säkularisierte Form, die Ethik Kants, zum Ausdruck kommt — ein Widerspruch, wie er auch in Schillers etwa gleich-
Lukacz, Georg, Der junge Hegel, Zürich 1948, S. 27fr. Hegels theologische Jugendschriften, hg. v. Herman Nohl, Tübingen 1907, S. 3 ff. * Ebenda, S. 27. « Ebenda, S. 19. 2
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zeitigen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" formuliert wurde. Klehr als Ansätze zu einer selbständigen Philosophie konnten diese Überlegungen aber nicht werden - konnten es schon aus dem Grunde nicht, als Hegel seine Kräfte im wesentlichen der Erziehung der Sprößlinge eines Berner Patriziers widmen mußte. Es muß nachdenklich stimmen, wenn man in dem Bewerbungsbrief des Mannes, der zum größten Philosophen der deutschen Klassik wurde, die devoten Sätze liest: „Ich fühle die Wichtigkeit des Zutrauens, mich zum Gehülfen in der Erziehung und Bildung der Kinder des Herrn Hauptmanns von Steiger anzunehmen, zu sehr, als daß ich mir nicht alsdann alle Mühe geben sollte, meinen Auftrag mit der nötigen, seiner Wichtigkeit angemessenen Sorgfalt zu erfüllen, und hoffe den Forderungen und Erwartungen des Herrn Hauptmann von Steiger Genüge leisten zu können."'' Von der Unzufriedenheit mit seiner Situation zeugt vor allem die Korrespondenz mit Schelling. In einem Brief, den er am Heiligen Abend 1794 schrieb, heißt es, „ich glaube, die Zeit ist gekommen, da man überhaupt freier mit der Sprache heraus sollte, zum Teil auch schon tut und darf". Diese Sätze sind charakteristischer als die in den meisten HegelBiographien aus dem Zusammenhang gerissene und in ihrer Bedeutung überschätzte Bemerkung desselben Briefes über die „Schändlichkeit der Robespierroten" aus Anlaß der Hinrichtung Carriers. Ein halbes Jahr nach dem Sturz der Jakobiner gemacht - besagt diese Bemerkung nicht, daß Hegel sich mit den deutschen Verhältnissen versöhnt hätte — im Gegenteil, sie fällt in unmittelbarer Verbindung mit der Frage, ob in Württemberg alle französischen Zeitschriften verboten seien. 7 Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang ein Brief an Schelling aus dem Januar 1795. 8 Hegel wendet sich hier scharf gegen die Versuche Kants und Fichtesund einiger ihrer Anhänger, die idealistische Philosophie mit dem Christentum zu versöhnen. Von realistischem Verständnis für die wirklichen Machtverhältnisse zeugt die Feststellung: „Die Orthodoxie ist nicht zu erschüttern, solange ihre Profession mit weltlichen Vorteilen verknüpft in das Ganze eines Staates verwebt ist." Ja, es mag sogar als Programm des taktischen Vorgehens gegen Orthodoxie und Feudalismus aufgefaßt werden, wenn Hegel in diesem Brief über die Theologen, die Kants Philosophie für ihre Auffassungen ausnutzen wollen, schreibt: „Unter dem Bauzeug, das sie dem Kantischen Scheiterhaufen entführen, um die Feuersbrunst der Dogmatik zu verhindern, tragen sie aber wohl immer auch brennende Kohlen mit heim; — sie bringen die allgemeine Verbreitung der philosophischen Ideen." Einige Monate später erwartet er, optimistischer als in dem vorhergehenden Brief, von dem System Kants „eine Revolution in Deutschland" 0 und schreibt: Briefe von und an Hegel, hg. v. Johannes Hoffmeister, Bd. 1. Hamburg 1952, S. 5. (Sämtl. Werke, Neue krit. Ausgabe, Bd. 27. Im folgenden zit.: Briefe.) Hegel an von Rütte am 24. August 1793. 1 Ebenda, S. 11 f. * Ebenda, S. 15 ff. 9 Ebenda, S. 23, Hegel an Schelling am 16. April 1795. 6
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„Religion und Politik haben unter einer Decke gespielt, jene hat gelehrt, was der Despotismus wollte, Verachtung des Menschengeschlechts, Unfähigkeit desselben zu irgend einem Guten, durch sich selbst etwas zu sein."10 Man wird die Konsequenz der bürgerlich-antifeudalen Haltung Hegels in dieser Zeit, so treffend solche brieflich mitgeteilten Einsichten sind, nicht überschätzen dürfen. Im Mittelpunkt der Überlegungen, die Hegel zu jener Zeit anstellte und die er in einem Manuskript „Das Leben Jesu"11, das der Selbstverständigung diente, niederlegte, stand noch die bloße Abwehr des Supranaturalismus, ohne daß ein wirklich selbständiges philosophisches oder politisches Programm von ihm bereits entwickelt worden wäre. „Das Leben Jesu" ist ein Versuch, die Erzählungen des Neuen Testaments neu zu schreiben, indem alle Wunder fortgelassen und die Lehren Jesu auf die moralischen Nonnen der Spätaufklärung reduziert wurden. Auffassungen Lessings, Kants und Rousseaus liegen dieser Interpretation des Christentums zugrunde. Noch bemerkenswerter ist, daß Hegel in diesem — freilich nicht zur Veröffentlichung bestimmten — Manuskript sich gar nicht erst um eine plausible Erklärung der biblischen Erzählung von der Auferstehung Christi bemüht, sondern das Manuskript knapp und sachlich mit dem Kreuzestode Jesu abschließt. Zu der Frage des Pilatus „was ist Wahrheit?" wird hinzugefügt: „mit der Miene des Hofmannes, die kurzsichtig doch lächelnd des Ernstes Sache verdammt"12 aber auch derartige Modernisierungen blieben unter dem Niveau, das die führenden Köpfe der deutschen Aufklärung zu dieser Zeit bereits erreicht hatten. Das in den Jahren 1795/1796 verfaßte Manuskript „Die Positivität der christlichen Religion"13 zeugt in mehrfacher Hinsicht von Fortschritten in der Ausbildung der antifeudalen Auffassungen Hegels. Klarer als bisher wird die bürgerliche Auffassung vom Staat, der, wie Hegel mit Kant formuliert, nicht die Moralität, sondern nur die Legalität zu überwachen habe, ausgesprochen. In diese Zeit fällt auch das Studium der Kirchen- und Ketzergeschichte Arnolds, aus der Gedanken über die Entartung der Kirche durch ihr Bündnis mit den herrschenden Mächten übernommen wurden.1'1 Von 1797 bis 1800 war Hegel als Hauslehrer in Frankfurt am Main tätig, wo auch sein Freund Hölderlin in ähnlicher Stellung lebte. Die in dieser Zeit entstandene Studie „Der Geist des Christentums und sein Schicksal"15 zeugt von weiteren Schritten bei der Abkehr vom Subjektivismus - ausdrücklich fällt das Wort von der „Unnatur und Schalheit der prächtigen Idee einer allgemeinen Menschenliebe"1® - und steht insofern in einem inneren Zusammenhang mit den politischen Untersuchungen, denen sich Hegel jetzt zuzuwenden begann. 'o Ebenda, S. 24. 11 Hegels theologische Jugendschriften, a. a. O., S. 73 ff. • J Ebenda, S. 132. '3 Ebenda, S. »37 ff. Vgl. dazu den Brief von Caroline Paulus an Hegel vom 18. Juli 1811: Briefe, Bd. 1, a. a. O., S. 380. 15 Hegels theologische Jugendschriften, a. a. O., S. 241 ff. 16 Ebenda, S. 232.
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Ostern 1798 erschien anonym die erste gedruckte Veröffentlichung Hegels. Es handelt sich um 1 ' Als Hegel 1818 an die Universität Berlin berufen wurde, schloß er seine Antrittsrede (22. Oktober 1818) mit demselben Bekenntnis zur Macht des Erkennens, das er zwei Jahre zuvor an den Schluß seiner Antrittsrede in Heidelberg gestellt hatte. Die rationale Haltung veränderte sich auch in dieser letzten Periode seines Schaffens nicht, ebenso blieb Hegel seiner politischen Grundüberzeugung treu, die auf einen Kompromiß zwischen Adel und Bürgertum unter bürgerlicher Führung hinauslief und in der Forderung nach Reformen von oben ihren Ausdruck fand. Wie aber vor allem das wichtigste von Hegel selbst veröffentlichte Werk seiner Berliner Zeit, die „Grundlinien der Philosophie des Rechts" (1821) zeigt, konnte und mußte derjenige, der für einen solchen Kompromiß eintrat, sich auch zu einem Opportunismus bei der Anpassung an die politischen Verhältnisse in dem jeweiligen Wirkungsbereich bereit finden. Hier kann selbstverständlich nicht der Gedankengang der Rechtsphilosophie analysiert werden.52 Es sei nur im Zusammenhang dieser Überlegungen auf die Auffassung Hegels vom Patriotismus hingewiesen, wie sie im §268 der Rechtsphilosophie nun formuliert wurde: „Die politische Gesinnung, der Patriotismus überhaupt, als die in Wahrheit stehende Gewißheit. . . und das zur Gewohnheit gewordene Wollen ist nur Resultat der im Staate bestehenden Institutionen, als in welchen die Vernünftigkeit 50
Hegel, G. W. F., Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, a. a. O., S. i98f., Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreiches Württemberg. 5 ' Ebenda, S. 19g. 52 Vgl. dazu vor allem Piantkowski.A .A., Hegels Lehre über Staat und Recht und-seine Staatsrechtstheorie, Berlin 1960, sowie das wichtige Vorwort von John Lekschas.
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wirklich vorhanden ist, sowie sie durch das ihnen gemäße Handeln ihre Bestätigung erhält." Das ist, wenn man nur die Seite der Beziehung des Patriotismus auf den Staat — und nur auf den Staat — sieht, ein Rückfall in jene Stufe der Entwicklung des deutschen Nationalbewußtseins, die etwa mit dem Siebenjährigen Krieg endete und in der Patriotismus die Liebe des Untertanen zu seinem Landesvater und die Aufopferung für ihn war. Aber die Dinge so zu sehen heißt, sie nur formal zu sehen. Der Staat, auf den sich für den späten Hegel der Patriotismus bezieht, ist nicht mehr der absolute Fürstenstaat des 18. Jahrhunderts, sondern die aus der Epoche der französischen Revolution und der Befreiungskriege hervorgegangene, bis zu einem gewissen Grade vom Bürgertum bereits beeinflußte Monarchie, deren Umwandlung in eine konstitutionelle Monarchie Hegel für notwendig erklärte. Insofern besteht zwischen der politischen Tendenz der Rechtsphilosophie und der Tatsache, daß Hegel, wie er im Kreise seiner Schüler erklärt hat, noch in Berlin alljährlich am Tage des Bastille-Sturms sein Glas auf die Ideen von 1789 leerte, kein Widerspruch. Es ist auch mehr als eine bloß sentimentale Jugenderinnerung, wenn Hegel in den Vorlesungen Uber die Geschichte der Philosophie rückblickend von der Zeit der französischen Revolution sagte: „Es war dieses . . . ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen." 53 Die „Philosophie der Geschichte" sollte die Weltgeschichte als einen Prozeß zeigen, in welchem der Geist zum Bewußtsein seiner selbst - und das war ja nach Hegel das Wesen der Freiheit - gelangt. Die Orientalen hätten nicht gewußt, „daß der Gebt oder der Mensch als solcher an sich frei ist". 5 < Erst bei den Griechen sei das Bewußtsein der Freiheit aufgegangen, „aber sie, wie auch die Römer wußten nur, daß Einige frei sind, nicht der Mensch als solcher" 55 . „Erst die germanischen Nationen sind im Christentum zum Bewußtsein gekommen, daß der Mensch als Mensch frei ist." 5 6 Das ist der Grundgedanke der geschichtsphilosophischen Vorlesungen Hegels, den er mit den Worten zusammenfaßte, „die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit - ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben". 57 Diese idealistische Konstruktion findet auch darin ihren Ausdruck, daß für Hegel die Volksmassen unfähig sind, den Lauf der Geschichte zu bestimmen, daß sie vielmehr große Persönlichkeiten brauchen, die ihnen überhaupt erst das Rechte sagen und sie zwingen, dementsprechend zu bandeln. Weil Hegel willkürlich seine idealistische Philosophie zum Maßstab der Beurteilung der historischen Entwicklung machte, vertrat er auch die nationalistische Auffassung, daß andere, vor allem die sla-
Hegel, G. W.F., Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hg. v. G. Lasson, Bd. 4, Leipzig 1920, S. 926. *« Ebenda, Bd. 1, S. 39. 54 Ebenda. Ebenda. S7 Ebenda, S. 40. 63
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wischen Völker, keine wirklich „historische" Rolle spielen könnten. Die Philosophie der Geschichte Hegels konnte daher der Rechtfertigung der Expansion der preußischen Junker und später der deutschen Imperialisten nutzbar gemacht werden. Ein weiterer Grund dafür ist, daß Hegel den Krieg nicht nur als letzte Instanz für die Entscheidung der zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen ansah, sondern ihn sogar als belebendes Element feierte. Darüber hinaus veränderte sich auch in dieser letzten Periode die Beurteilung der Rolle der französischen Revolution für Deutschland. Hatte Hegel früher erklärt, diese Revolution wäre die Voraussetzung für Fortschritte auch in der deutschen Entwicklung gewesen — erinnert sei hier nur an die bereits mehrfach erwähnten Darlegungen der „Phänomenologie des Geistes" —, so wurde jetzt die französische Revolution zu einem Sonderfall in der weltgeschichtlichen Entwicklung: nach der Darstellung des späten Hegel wäre für die bürgerliche Entwicklung eine Revolution nur dort notwendig, wo die absolute Monarchie mit der katholischen Kirche verbündet war. „Mit der Reformation haben die Protestanten ihre Revolution vollbracht." 88 Und doch: auch und gerade in der Philosophie der Geschichte kommt der Widerspruch zwischen dem idealistischen System und der dialektischen Methode zum Ausdruck, findet sich eine Fülle von Beobachtungen und Ahnungen über die Dialektik in der Geschichte. Das gilt vor allem für die idealistische Konstruktion der „List der Vernunft . . . , daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet." 59 Hegel preßt in diese idealistische Konstruktion die tiefe Ahnung, daß es einen Fortschritt in der Geschichte gibt, daß dieser Fortschritt in den früheren Epochen sich unabhängig vom Wollen und Wissen der Menschen durchgesetzt hat und daß das bewegende Prinzip dieser Entwicklung nicht außerhalb der wirklichen Geschichte liegt, sondern das Allgemeine in den historischen Ereignissen, Auseinandersetzungen und Kämpfen selbst ist. Eine Woche vor seinem Tode (14. November 1831), am 7. November, schloß er die Vorrede zur Neuausgabe der „Wissenschaft der Logik" mit dem Zweifel ab, „ob der laute Lärm des Tages und die betäubende Geschwätzigkeit der Einbildung, die auf denselben sich zu beschränken eitel ist, noch Raum für die Teilnahme an der leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis offenlasse"60. Die Juli-Revolution in Frankreich hatte ihn nicht nur in seiner gewohnten Revolutionsfurcht bestärkt, sondern darüber hinaus demonstriert, daß die der bürgerlichen Gesellschaft innewohnenden Widersprüche stärker waren als sein System, nach dem die konstitutionelle Monarchie diese Gegensätze bändigen könne, dies wahrhaben wollte. Sie hatte die ersten Signale der neuen, um ihre Befreiung kämpfenden Klasse des Proletariats ertönen lassen. In der letzten Fassung der geschichtsphilosophischen Vorlesungen war die verlegene Konstruktion erschienen, daß „eine »8 Ebenda, Bd. 4, S. 925. *» Ebenda, Bd. 1, S. 83. «0 Hegel, G W. F., Wissenschaft der Logik, a. a. O., S. 22.
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Staatsumwälzung gleichsam im Dafürhalten der Menschen sanktioniert wird, wenn sie w i e d e r h o l t . . . So mußte nach Cäsar Augustus in gleicher Weise sich der Herrschaft bemächtigen, wie auch Napoleon zweimal entthront werden mußte und man die Bourbonen zweimal vertrieben-hat". 61 Am Schicksal seines letzten eigenen Werkes hatte Hegel erfahren, daß sich eine neue Epoche der Weltgeschichte ankündigte, eine Epoche, die durch neue Widersprüche charakterisiert war, die in seinem philosophischen System und seinen politischen Auffassungen keinen Platz finden konnte. Hegel hatte begonnen, in der „Allgemeinen Preußischen Staatszeitung" eine Serie von Aufsätzen über die englische Reformbill zu veröffentlichen, in der er sich mit der Wahlrechtsreform in England auseinandersetzte und vor einer Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes warnte. In diesen Aufsätzen stellte er die halbabsolutistische Monarchie in Preußen als Vorbild auch für England hin. Er mußte es erleben, daß eben dieser, für die preußische Monarchie so schmeichelhaft gemeinte Vergleich in dem offiziösen Organ eben dieser Monarchie nicht veröffentlicht werden durfte. Die bürgerlich-rationale Form der Begründung des Klassenkompromisses zwischen Adel und Bürgertum, die für Hegels politische Auffassungen charakteristisch war, war für die preußische Krone — und das eben lag dem Eingreifen der Zensur in diesem Falle zugrunde — in der nun beginnenden Epoche nicht mehr tragbar — unüberhörbares Signal dafüt, daß die Vernunft der Geschichte sich gegen die Bourgeoisie, und die Bourgeoisie gegen die Vernunft der Geschichte zu kehren begann. u
VI. Hegel, So haben wir nachzuweisen versucht, hat in den Jahren, als er seine Philosophie konzipierte — der Zeit unmittelbar nach der Jahrhundertwende, als durch das Zusammenwirken des französischen Einflusses und des Druckes der Volksbewegungen einige deutsche Fürsten zu bürgerlichen Reformen gezwungen wurden — diese Reformen begrüßt und zu begründen versucht. Zweierlei hinderte ihn jedoch daran, die neue Situation, die nach der Schlacht von Jena eingetreten war, zu begreifen. Zum einen war dies seine tief eingewurzelte Furcht vor jeder revolutionären Bewegung der Volksmassen, die vor allem dann zur Schranke seines historischen Verständnisses wurde, als diese Bewegungen — wenn auch nur in Ansätzen und unvollkommen — einsetzten, nämlich mit der Vorbereitung und Durchführung des Befreiungskampfes gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Zum anderen aber hielt Hegel weiter an der — nach 1806 im wesentlichen zur 61
Derselbe, Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 712. — Vgl. dazu den Brief von Friedrich Engels an Karl Marx vom 3. Dezember 1851, in: Marx/Engels, Briefwechsel;'Bd. 1, Berlin 1949, S. 354, und den berühmten Eingangssatz von Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 8, Berlin 1960, S. 115.
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Illusion entartete» - Auffassung fest, der französische Einfluß würde noch immer einer bürgerlich-fortschrittlichen Bewegung Deutschlands zugute kommen, während in Wirklichkeit die französische Bourgeoisie in der deutschen nun nur noch den Konkurrenten sah. Von diesem Ausgangspunkt aus lassen sich Größe und Grenzen der politischhistorischen Konzeption Hegels begreifen. Indern er den vor seinen Augen sich vollziehenden Prozeß der bürgerlichen Umgestaltung nicht nur zu begreifen, sondern auch zu fördern versuchte, gelangte er zum Verständnis der Tatsache, daß sich der Fortschritt in der Geschichte dialektisch vollzieht. Seine idealistische Philosophie hinderte ihn jedoch daran, mehr als die Formen dieses Prozesses zu erfassen. Goethe hatte 1771 von den Stücken Shakespeares gesagt, sie „drehen sich um den geheimen Punkt - den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat - in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Wollens mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt". Hegels geschichtsphilosophisches Denken ist ein Versuch, diesen „ P u n k t " zu sehen und zu bestimmen. Seine Philosophie war widersprüchlich wie die deutsche Geschichte dieser Zeit selbst. Aber auch in dieser Epoche haben sich die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung, hat sich der Fortschritt von der einen zur nächsthöheren Gesellschaftsformation durchgesetzt. Das ist der Auffassung entgegenzuhalten, nach der die deutsche Geschichte damals die Geschichte einer einzigen Misere gewesen sei - einer Auffassung, die auch in der Hegel-Interpretation von Georg Lukacz zum Ausdruck kommt, wenn er die Widersprüche der Philosophie Hegels daraus erklären will, „daß die Entwicklung zur Liquidation der feudalen Uberreste in Deutschland und die zur nationalen Vereinigung, zur Befreiung Deutschlands von der französischen Fremdherrschaft getrennte Wege gegangen sind". 6 2 Wenn so, wie dies Lukacz tut, die nationale und soziale Befreiung getrennt und übersehen wird, daß die nationale Frage nur ein - aber freilich ein wichtiges - Teilproblem der gesellschaftlichen Entwicklung war und ist, dann versperrt man sich auch den Weg zur Beantwortung der Frage nach der historischen Bedeutung der Hegeischen Philosophie. „In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien". 63 Das Bestehende — das war zunächst ein Prozeß, nämlich der Prozeß der Erneuerung Europas und Deutschlands unter dem Einfluß der französischen Revolution, uiid das wurde später das Restaurationsregime in Preußen. „So finden wir am Schluß der Rechtsphilosophie, daß die absolute Idee sich verwirklichen soll in derjenigen ständischen Monarchie, die Friedrich Wilhelm III. seinen Untertanen so hartnäckig vergebens versprach, also in einer den deutschen kleinbürgerlichen Verhältnissen von damals angemessenen, beschränkten und gemäßigten, indirekten Herrschaft der besitzenden 61 03
Lukacz, Georg, Der junge Hegel, a. a. O., S. 573. Marx, Karl, Nachwort zum ersten Band des „Kapital", in: Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, 8. Aufl., Berlin 1959, S. 18.
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Klassen; wobei uns noch die Notwendigkeit des Adels auf spekulativem Wege demonstriert wird." 8 4 Die Dialektik hatte bei Hegel selbst keine revolutionäre Funktion, und daher kann es aucli in bezug auf seine Methode — und erst reelit in bezug auf sein System — kein „Zurück zu Hegel" geben. Aber diese Dialektik entsprang der Beobachtung eines welthistorisch fortschrittlichen Prozesses, sie bejahte wesentliche Züge Vlieses Prozesses, und sie gehört damit zum Besten, was unsere Nation in der Vergangenheit an geistigen Leistungen schuf und was im Werk von K a r l Marx und Friedrich Engels aufgehoben wurde, um — freilich erst in dieser verwandelten Form — lebendige Gegenwart zu werden. 64 Engels, Friedrich, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Marx ¡Engels, Ausgewählte Werke, Bd. 2. Berlin 1952, S. 339.
August Ludwig von Schlözer Gerhard Schilfert
August Ludwig von Schlözer (1735-1809) ist der hervorragendste Kopf unter den deutschen Historikern des 18. Jahrhunderts. Er ist der Geschichtsschreiber, der die späte deutsche Aufklärung, vornehmlich in ihren starken Seiten, am meisten verkörperte, vor allem deswegen, weil er dazu imstande war, das beste außerdeutsche Gedankengut der Aufklärung nicht nur in sich aufzunehmen, sondern auch kritisch zu verarbeiten und weiterzuentwickeln. Schlözer wuchs im Gebiet der damaligen Grafschaft Hohenlohe im nordöstlichen Württemberg im Pfarrermilieu auf. Auch er selbst studierte zunächst Theologie und zwar in Wittenberg, wo er zum Abschluß seiner Studien 1754 promovierte. Charakteristisch sind för Schlözers Persönlichkeit von Anfang an der typisch aufklärerische Wissensdrang und die unbezähmbare Begierde, fremde Länder und Probleme kennenzulernen. Besonders interessierte ihn der Orient. Nicht zuletzt deshalb besuchte er auch die Universität Göttingen und wurde dort einer der Schiller des berühmten Orientalisten Michaelis, der ihm nach Beendigung seiner Studien in Göttingen eine Hauslehrerstelle in Schweden verschaffte. Dieser Aufenthalt vermittelte Schlözer wichtige geschichtliche Lehren, vor allem in der politischen Geschichte und in der Statistik. Er erlebte die Klassenkämpfe in Schweden beziehungsweise die Fraktionsstreitigkeiten innerhalb des schwedischen Adels, die auch für die Außenpolitik Schwedens in dieser Periode der sogenannten Freiheitszeit bestimmend waren, aus unmittelbarer Nähe mit. Zur Zeit des Aufenthalts Schlözers wurde in Schweden zum erstenmal in der Welt eine Bevölkerungsstatistik geschaffen, und er gewann einen Eindruck, der für seine spätere wissenschaftliche Tätigkeit von richtungweisender Bedeutung war. Noch wichtiger wurde für Schlözer sein Aufenthalt in Rußland, wohin er wiederum vermittelt durch Michaelis - nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Göttingen übersiedelte. Ursprünglich wollte er Rußland als Sprungbrett für eine Reise in den Orient benutzen. Aber die Probleme dieses riesigen Landes und besonders die Fragen seiner Geschichte fesselten ihn derartig, daß er jahrelang dort blieb (1761-1769). Zunächst Gehilfe des Reichshistoriographen Müller, wurde er später Adjunkt und 1765 ordentliches Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften in Petersburg. Anfangs bearbeitete er hauptsächlich Fragen der Landesstatistik. So versuchte er in Anknüpfung an die unter Peter I. erfolgten Versuche die erneute Schaffung eines statistischen Büros anzuregen. Auch die 6
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ältere russische Geschichte, insbesondere ihre Quellenkunde,beschäftigte ihn von Anfang an. 1769 kehrte er nach Göttingen zurück, wo er ordentlicher Professor wurde. Schlözer war in Göttingen vielseitig tätig. Er las dort über Universalhistorie, aber auch über die verschiedenen Spezialgebiete der Geschichtswissenschaft, wie zum Beispiel Aber Cromwell, die französischen Kolonien in Nordamerika, die Revolution der Miederlände, die Entwicklung der Banken und anderes mehr. Vom Jahre 1783 ab behandelte er auch die Politik und Statistik sowie die allgemeine europäische Staatengeschichte in seinen Vorlesungen. Oft hatte er einige hundert Zuhörer bei einer Gesamtzahl von 800 bis 900 Studierenden, die in der Zeit seines Wirkens die Universität Göttingen besuchten. Besondere Verdienste im Kampf um den Fortschritt erwarb sich Schlözer als Herausgeber der Zeitschriften „Briefwechsel, meist historischen und politischen Inhalts" (1776-1782) und der „Staatsanzeigen" (1783-1793). Auf mehreren. Reisen, besonders nach Frankreich, Italien und Österreich, erweiterte er seinen Gesichtskreis und war dabei unablässig bemüht, Quellen aufzuspüren, einzusehen und auszuwerten. Anfänglich begrüßte Schlözer die französische Revolution. Er mußte noch die Errichtung des Königreiches Westfalen erleben, dem auch Göttingen angegliedert wurde. 1809 starb er. Der Aufstieg der deutschen aufklärerischen Geschichtsschreibung, letzten Endes auf den Aufschwung der Manufakturen und die zunehmende Kraft des deutschen Bürgertums zurückzuführen, ist untrennbar mit dem Namen Schlözers verbunden. Auch in der früheren Periode der Aufklärung waren bedeutende Historiker wie Pufendorf, Arnold, Maskow und Bünau aufgetreten. Auch sie hatten ein gewisses Ansehen erlangt. Aber erst mit Schlözer, dem Haupt der Göttinger Schule, gewann die deutsche Geschichtsschreibung mehr als nur nationale Bedeutung. Selbst die historische Tätigkeit eines Leibniz hatte - enger begrenzt als seine universale Philosophie — sich noch im wesentlichen im dynastischterritorialen Bereich bewegt. Maskow und Bünau hatten sich zwar bereits der Reichsgeschichte zugewandt, aber der große universalhistorische Aspekt, stark beeinflußt durch die führenden französischen Aufklärer, vor allem Voltaire, Montesquieu und Turgot.kam erst bei Schlözer voll zur Geltung. Erst mit seinem Schaffen rückte die deutsche Aufklärungshistoriographie in die Nähe der englischen eines Hume, Robertson und Gibbon, wenn sie auch deren Niveau noch nicht erreichte. Mit Recht ist Schlözer bereits im vergangenen Jahrhundert zusammen mit Gatterer als der eigentliche Reformator der deutschen Geschichtsschreibung bezeichnet worden. Während jedoch diese Beurteilung auf seinen Göttinger Kollegen Gatterer nur im engeren fachlichen und formalen Sinne zutrifft, gilt sie für Schlözer im vollinhaltlichen Sinne. Im Unterschied zu Gatterer und zu anderen Votgängern in Göttingen, wie Köhler und Schmauß, sind wesentliche Lehren der Aufklärung, vor allem die der Gleichheit beziehungsweise Gleichberechtigung der Völker und der bürgerlichen Freiheit, in Schlözers Werken
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enthalten. Schmauß und Gatterer behandelten auch bereits die europäische Geschichte beziehungsweise die Weltgeschichte. Sie waren jedoch beide noch weitgehend in der voraufklärerisch-theologischen Denkweise befangen, so daß sie sich beispielsweise im allgemeinen noch streng an die biblische Periodisierung hielten. Gatterer und vor ihm auch schon Köhler haben sich beachtliche Verdienste um die Ausbildung der Hilfswissenschaften, insbesondere der Urkundenlehre und Genealogie,erworben, aber ihre Gesamtleistung läßt sich nicht mit der Schlözers vergleichen. Dies gilt besonders für die Quellenforschung, ein Gebiet, auf dem Schlözer mit der Edition der altrussischen Nestorchronik eine kritischhistorische Leistung vollbrachte, die für ihre Zeit eine große Bedeutung hatte 1 , freilich bis heute umstritten ist. 2 Schlözer nahm in dieser Hinsicht trotz etlicher Fehler in manchem bereits die Leistung Niebuhrs vorweg, da er, ähnlich wie dieser, wenn auch längst noch nicht so konsequent, die von der klassischen Philologie seiner Zeit, besonders von Ernesti und Heyne entwickelte kritische Methode teilweise auf die Geschichtswissenschaft übertrug. Diese Tat konnte nur deswegen eine so große Tragweite für die weitere Entwicklung der Geschichtswissenschaft haben, weil sie mit den Bemühungen Schlözers tun die Schaffung einer Universalhistorie verbunden war. Als Universalhistoriker war Schlözer überzeugt davon, daß die Entwicklung der Menschheit unaufhaltsam fortschreite. Schlözer ist der erste Fachhistoriker in Deutschland gewesen, der den Fortschrittsgedanken in einem universalgeschichtlichen Werk, mochte es sich auch zunächst nur um einen fragmentarischen Versuch handeln, als roten' Faden durch die Geschichte durchzuziehen versuchte.3 Freilich ist diese Leistung Schlözers ohne die vorhergehenden Arbeiten, vor allem Voltaires, nicht möglich. Aber Schlözer ist gerade in der Darlegung des Nachweises, daß die Menschheit sich in einer ständigen Aufwärtsentwicklung befindet, über Voltaire hinausgegangen. Voltaire folgend, sah er in der Kultur das Kernstück der Geschichte, ohne jedoch die Geschichte des Staates zu vernachlässigen. Vor allem die Großstaaten waren ihm würdige Gegenstände der Geschichtsschreibung, weniger wegen ihrer Expansion als vielmehr in ihrer Bedeutung für die menschliche Entwicklung, Wohlfahrt und Freiheit. Auch bei Schlözer ist etwas von dem Stolz zu spüren, der einen Voltaire und die anderen Aufklärungsphilosophen auszeichnete, von dem Stolz, ein abergläubisches, rückständiges Jahrhundert überwunden zu haben beziehungsweise zu seiner Überwindung beizutragen. Für Schlözer war die Geschichte ebenfalls die Lehrmeisterin der Menschheit, aber doch in einem ungleich höheren Sinne als bei den bedeutendsten anderen Aufklärungshistorikern Deutschlands, wie zum Beispiel dem Kirchenhistoriker Mosheim und einem solchen englischen Historiker wie 1
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Illeritzki, W. E., und Kudrjabzew, I. A., Historiographie der Geschichte der UdSSR,'Moskau 196», S. 93 (russ.). Vgl. dazu auch weiter unten S. 85. Vgl. August Ludwig von Schlözer und Rußland, hg. v. Eduard Winter, Berlin 1961, S. 27. Schilfert, Gerhard, Schlözer als Historiker des Fortschritts, in: LomoncssovSchlözer-Pallas, hg. v. Eduard Winter, Berlin 1962.
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dem Lord Bolingbroke. Die Geschichte war für Schlözer nicht nur eine Lehrmeisterin zur Frömmigkeit oder zur Klugheit, sondern sie lehrte die Menschen vor allem durch die Kenntnis der Weltgeschichte die Dinge in einein universalen Zusammenhang zu betrachten. Schlözer war kein Geschichtspragmatiker schlechtweg wie die Vertreter der früheren aufklärerischen Historiographie, sondern vor allem auch ein aufklärerischer Geschichtsphilosoph, der die Auffassung vertrat, daß eine tiefere universale Einsicht in die Geschichte den Handelnden, vor allem den Staatsmann,zu richtigen politischen Entscheidungen befähige. 1772 gab Schlözer in Göttingen sein Werk „Vorstellung der Universalhistorie" heraus. Im Unterschied zu seinen Vorgängern, besonders Gatterer, aber auch im Unterschied zu der in England herausgegebenen allgemeinen Weltgeschichte, die in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts unter Leitung von Baumgarten und Semler ins Deutsche übertragen worden war, bemüht sich Schlözer sehr darum, den Geschichtsverlauf nicht mehr als „Aggregat" innerlich unverbundener Geschehnisse darzustellen. Der für die Geschichte der Geschichtswissenschaft so bedeutsame aufklärerische Neuansatz seines historischen Denkens zeigt sich gerade darin, daß Schlözer die Ergründung der Probleme des geschichtlichen Zusammenhanges, und zwar sowohl des zeitlichen als auch des sogenannten Real-' Zusammenhanges, in den Vordergrund seiner Bemühungen stellt, wie dies bereits in der Vorrede zur Universalhistorie zum Ausdruck kam. Schon die Chronologie seines Werkes zeigt, daß sein Geschichtsbild anders als noch" bei Gatterer, der sich sogar noch an die biblische Chronologie anlehnte, nicht schlechthin eine christliche Geschichtskonzeption war. Gott greift bei Schlözer kaum mehr in die Geschichte ein; die Menschen selbst sind die entscheidenden Kräfte, die die Natur verändern und die historischen Ereignisse gestalten. Allerdings zeigen sich bei Schlözer noch Spuren religiöser beziehungsweise teleologischer, an die Wölfische Philosophie erinnernder Züge, besonders in der Schöpfungsgeschichte. Der Mensch, das menschliche Geschlecht ist nach Schlözer „von Natur nichts, aber er kann", wie er sagt, „durch Konjunkturen alles werden". 4 Das menschliche Geschlecht ist vor allem, wie er meint, durch Revolutionen gewachsen. (Schlözer verstand unter Revolutionen jedoch etwas viel weiteres als wir heute darunter verstehen. Sicher war Schlözer in diesen Gedankengängen nicht völlig originell, da wir ähnliche Auffassungen bereits bei den Philosophen und Geschichtsphilosophen Iselin, Wegelin und teilweise bereits auch in den Werken Herders finden, die vor der Schlözerschen Universalhistorie herausgegeben wurden.) Für Schlözer waren alle Völker der Welt gleichrangig. Im Unterschied zu früheren Historikern hob er die Leistungen der Griechen und Römer nicht besonders hervor. Alle Epochen und Perioden der Geschichte, von denen den Menschen eine überlieferte überprüfbare Kunde überkommen ist, waren für Schlözer der Betrachtung wert. In seiner Weltgeschichte strebte er vor allem nach Allseitigkeit. Er wollte alle Arten von „Merkwürdigkeiten" in seine 4
Schlözer, A. L. v., Vorstellung der Universalhistorie, 1. Aufl., Göttingen und Gotha 1772-1773, S. 6.
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Universalhistorie einbeziehen, das heißt, er bemühte sich, soweit ihm das damals möglich war, alle Seiten der gesellschaftlichen Entwicklung darzustellen. Der betont aufklärerische Zug seiner Geschichtsdarstellung zeigt sich nicht nur darin, daß er alle Völker als gleich ansah, sondern auch, daß er bis zu einem gewissen Grade erkannte, wie schädlich die bisherige Unterschätzung oder Mißachtung der Geschichte überseeischer Völker und der alten Kulturen Asiens und Afrikas war. Während die Geschichte Indiens zum Beispiel für manche Aufklärungshistoriker die Geschichte eines phantastischen Traumlandes war, bemühte sich Schlözer um die Erkenntnis der realen Bedingungen der Entwicklung Indiens. Diese bürgerlich-progressive Denkart Schlözers zeigt sich vor allem auch in seinen Auswahlprinzipien. Er betont ausdrücklich, daß er nur sogenannte zweckmäßige Begebenheiten darstellen will, nämlich nur solche, die nicht lediglich das Gedächtnis belasten, sondern die darauf hinlenken, daß die Geschichte Gegenstand des philosophischen Nachdenkens wird, welches Ursachen und Wirkungen aneinanderkettet, um dem Menschen tiefere Einsicht in das Wesen der Entwicklung zu geben. Nach eigenem Eingeständnis hat Schlözer die Hauptgesichtspunkte für seine spätere Gestaltung der Universalgeschichte bei seinem Aufenthalt in Rußland gewonnen, jenem Lande der ungeheuren Weiten und Möglichkeiten. In diesem Sinne kann man sagen, daß das Erlebnis Rußlands für ihn ein entscheidender Anstoß zu seinem Beruf als Universalhistoriker geworden ist. Schlözer gewann als erster deutscher Historiker ein wirklich inniges Verhältnis zur Geschichte dieses Landes. Zwar ist die alte Behauptung, Schlözer sei der Vater der russischen Geschichtswissenschaft, nicht haltbar, aber die Verdienste Schlözers um die russische Geschichte, besonders um die bereits erwähnte3 Herausgabe des ersten Teils der Nestorchronik, bleiben bestehen. Bereits vor Schlözer haben russische Gelehrte auf die Wichtigkeit der Herausgabe der altrussischen Chroniken hingewiesen. Aber Schlözer war der erste, der einen derartigen Versuch zur Veröffentlichung einer Chronik machte. Dabei unterliefen ihm verschiedene Fehler, aber im großen und ganzen bedeutete seine Leistung einen beachtlichen Schritt voran. Seine Aussagen im einzelnen, so zum Beispiel seine Behauptung, daß die Normannen angeblich an der Gründung des ersten russischen Staates beteiligt seien, sind meist falsch oder längst überholt. Aber seine Bedeutung als Bahnbrecher in der Quellenforschung nach Art der späteren „Monumenta Germaniae Historica" ist trotz seiner Mängel auch für die Entwicklung der russischen Geschichtsschreibung keineswegs gering. Die Probleme der russischen Geschichte haben Schlözer bis zum Ende seines Lebens beschäftigt. 6 Nicht lange vor seinem Tode brachte er noch die Nestorchronik in einer abschließenden Bearbeitung heraus. Auch gründete er in Göttingen eine Gesellschaft der russischen Geschichte und Altertümer, die sich ebenfalls manche Verdienste erwarb. Darüber hinaus hat Schlözer auch das Verdienst, als erster deutscher Historiker auf die große Bedeutung der slawischen Völker für die Geschichte hingewiesen zu haben. Er
* Vgl. S. 83. • Vgl. dazu besonders die in Anmerkungen 2 and 3 erwähnten Publikationen.
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war in dieser Hinsicht auch einem Ranke voraus, der bekanntlich die Geschichte Europas im wesentlichen auf die Geschichte der germanischen und romanischen Völker beschränkte. Auch in der Methode hat Schlözer bahnbrechende Verdienste. Sein Schaffen ist nicht nur ein Höhepunkt der bisherigen Entwicklung der quellenkritischen Arbeitsmittel, sondern er bringt gerade in dieser Hinsicht manches Neue, so daß er als einer der wichtigsten Vorkämpfer für die kritisch-philologische Methode der Geschichtswissenschaft angesehen werden kann, wie sie im 19. Jahrhundert durch Niebuhr und Ranke in ihrer für die Geschichte der bürgerlichen Historiographie klassischen Gestalt ausgebildet wurde. Die sogenannte niedere Kritik bei Schlözer, zumeist kleine oder Wortkritik genannt, war bereits zu seiner Zeit sehr bekannt und vor allen Dingen von den französischen Maurinern (Mabillon und seiner Schule) im 17. Jahrhundert ausgebildet worden. Die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zahlreich herausgegebenen Quellensammlungen hatten, in dieser Hinsicht weitgehend Leibniz folgend, die Grundsätze dieser Kritik ihren Ausgaben größtenteils zugrunde gelegt. Allerdings waren die meisten dieser Historiker noch weit davon entfernt, systematisch nach allen nur erdenklichen Quellen zu suchen. In der Regel begnügten sie sich mit der kritischen Untersuchung der Echtheit der Texte beziehungsweise derjenigen Quellen, die in ihrem Gesichtskreis lange oder schon längere Zeit bekannt waren. In der höheren, wir würden auch sagen in der inhaltlichen, oder, wie Schlözer sich ausdrückte, in der ,,Sachenkritik", ging er jedoch erheblich über seine Vorgänger und auch über viele zeitgenössische Historiker wie beispielsweise Michael Ignaz Schmidt, den Verfasser einer „Geschichte der Deutschen", hinaus. Im Unterschied zu diesem und anderen Historikern versuchte Schlözer bei der Untersuchung abweichender Meinungen zweier Quellen oder Autoren zur Sache selbst vorzustoßen und den Wert ihrer Aussagen genau gegeneinander abzuwägen. Schlözer kritisierte wie die meisten aufklärerischen Historiker nicht nur solche Dinge, wie wunderbare Geschehnisse und ähnliche, die auch diese Historiker als unglaubwürdig betrachteten, sondern er strebte auch nach einem planmäßigen Vergleich der Aussagen einer geschichtlichen Quelle mit anderen Quellenarten, nicht zuletzt auch mit archäologischen Quellen. Auch Münzen, Denkmäler und Gegenstände wurden von ihm auf ihren Aussagewert als geschichtliche Quellen hin überprüft. Schlözer machte sich nicht den Standpunkt zu eigen, zwischen verschiedenen historischen Ansichten einzelner Autoren oder verschiedenen Auffassungen der Quellen zu vermitteln und dann gewissermaßen die Durchschnittsmeinung als die richtige Ansicht in seine Geschichtsdarstellungen aufzunehmen. Schlözer war als erster Historiker bereit, die Überlieferung vieler Jahrhunderte, vor allem der römischen Geschichte und der Geschichte der Germanen, soweit sie auf Sagen zurückgeführt wurden, für unglaubwürdig zu erklären. Auf der anderen Seite war er aber auch weit davon entfernt, die Sagen und ähnliche Quellen für gänzlich bedeutungslos zu halten. Im Gegenteil, er bemühte sich darum, wenn auch noch in unzulänglicher Weise, den geschichtlichen Kern aus diesen zweifelhaften Formen der Überlieferung herauszuschälen.
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Dabei legte er als erster deutscher Historiker ein besonderes Gewicht auf archäologische Methoden. Diese Quellen bezeichnete er als „Quellen aus unterirdischen Archiven". Freilich hat Schlözer noch nicht so verfeinerte Methoden anwenden können wie Niebuhr, Ranke oder Pertz und die Bearbeiter der „Monumenta Germaniae Histórica". Aber das Urteil seines Göttinger Kollegen Spittler aus dem Jahre 1794 besteht doch zu Recht, wenn er darauf hinwies, daß Schlözer zuerst gezeigt habe, wie die Annalisten kritisch bearbeitet und kritisch benutzt werden müßten. Wenn Schlözer auch noch nicht in der Lage war, einen exakten Handschriftenstammbaum aufzustellen, um die gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen Quellen voneinander nachzuweisen, wie es die Bearbeiter der „Monumenta Germaniae Histórica" taten, so zeigen sich doch bei ihm bereits einige Ansätze zu dieser Methode, besonders in seiner Schrift „Probe russischer Annalen", die 1768 in Bremen und Göttingen erschien und die wichtigste Vorarbeit für die Herausgabe der Nestorchronik darstellt. Wie sehr Schlözer den Bereich der Quellenkunde beziehungsweise der herangezogenen Quellen erfolgreich erweitert hat, zeigt unter anderem auch besonders seine Münz-, Geld- und Bergwerksgeschichte des russischen Kaisertums vom Jahre 1789 (Göttingen 1791), in der er vor allem in bezug auf die Interpretation numismatischer Quellen Vorbildliches und Bahnbrechendes leistete. Schlözer war sich in einem weit höheren Maße als die meisten seiner Zeitgenossen auch der Tatsache bewußt, daß der wahre Historiker nicht nur die bisher üblichen sogenannten Hilfswissenschaften, wie Numismatik und weitere,zur Erkenntnis der historischen Wahrheit heranziehen müsse, sondern daß dazu noch neue Sonderwissenschaften entwickelt und Nebenwissenschaften herangezogen werden müßten. So bemühte er sich besonders um die Staatslehre und die Sprachwissenschaft. Es heißt, daß er in seinen Seminaren Entwurfsarbeiten zu Staatsverträgen habe anfertigen lassen, besonders auch in Fremdsprachen. Zur Erkenntnis der Vergangenheit der Geschichte der Völker benutzte er die Sprachwissenschaft vor allem insofern, als er die Völker, den Spuren Leibniz' folgend, nach Sprachen gruppierte. Besondere Verdienste hat sich Schlözer um die Statistik beziehungsweise um die statistische Untermauerung seiner Geschichtsschreibung erworben. E r war zwar hier nicht originell, sondern ein Schüler seines Göttinger Kollegen Achenwall, aber er hat noch weit mehr als dieser die Statistik in den Dienst der Geschichte gestellt. Wie hoch er den Wert der Statistik für die Geschichte schätzte, zeigt seine Äußerung: „Statistik ist stillstehende Geschichte, Geschichte ist fortlaufende Statistik". 7 Auch in dieser Hinsicht sind für Schlözer neben Schweden seine Erlebnisse in Rußland maßgeblich gewesen. Hier hatte bereits die Regierung des Zaren Peter I. eine Statistik einzuführen versucht. Schlözer knüpfte mit anderen wieder daran an und wollte zur Zeit seiner Anwesenheit in Rußland die Schaffung eines Sogenannten Tabellenkontors durchsetzen. Bezeichnend für seinen damaligen progressiven weltbürgerlichen Standpunkt ist es, daß Schlözer von vornherein K
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Schlüter, A. /.. f., Theorie der Statistik, Göttingen »804, S. 93.
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die Statistik als eine Weltstatistik für die Geschichte nutzen wollte. Er wollte damit ankttndigen, daß er die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Beziehungen auch von dieser Seite her erfassen und exakt darstellen wolle. So zeigte sich Schlözer auch in dieser Hinsicht als echter Aufklärer, der letzten Endes die Auffassung vertrat, daß eine Wissenschaft, und zwar auch die Geschichte, dann voll entwickelt ist, wenn sie dahin gelangt ist, sich der Mathematik bedienen zu können. An diese Auffassung knüpfte später Marx auch an, von dem ja bekanntlich ähnliche Aussprüche überliefert sind. Die Hochschätzung der Statistik durch Schlözer zeigt aber auch, daß Schlözer ein anderes Verhältnis zu den Massenerscheinungen in der Geschichte gewann als die meisten seiner Vorgänger. Im Unterschied zu den Vertretern des aufgeklärten Absolutismus und zu solchen Monarchen wie zum Beispiel Friedrich II., der es für überflüssig, ja für schädlich hielt,, die Aufklärung dem Volke, den Massen, mitzuteilen, war Schlözer der Ansicht, daß das Volk durch die Aufklärung in die Lage versetzt werden müsse, eine größere Rolle zu spielen als bisher. Zwar sah Schlözer nicht, daß auch in der Zeit vor der Aufklärung die Volksmassen eine weitaus größere Rolle in der Geschichte spielten als es den Anschein hatte, aber er war der Ansicht, daß diese völlige Einflußlosigkeit der Massen schädlich gewesen sei und daß es eine der Hauptaufgaben der Aufklärung sei, dieser ein Ende zu machen. Dementsprechend war sein ganzes Bemühen, besonders auch in seiner Publizistik, darauf gerichtet, den Massen,des Volkes über die Unterdrückung durch die feudalen Klassen die Augen zu öffnen. Insbesondere war Schlözer ein grimmiger Feind der Leibeigenschaft. Er war in dieser Hinsicht viel konsequenter als zum Beispiel Moser. Auf der anderen Seite war Schlözer aber auch kein Anhänger der Lehre von der Volkssouveränität. Unter dem Volk verstand er im allgemeinen nur das Bürgertum, während die unterhalb des Bürgertums stehenden Schichten von ihm nicht für politisch mündig gehalten wurden. Er wandte sich zwar gegen die feudale Unterdrückung der Volksmassen, aber er wollte den Volksmassen, das heißt den Schichten unterhalb des Bürgertums, keine volle politische Mitbestimmung geben. Schlözer war ein Feind des Feudalabsolutismus, aber auf der anderen Seite fand er es sehr nützlich, wenn ein Monarch an der Spitze des Staates stehe. Er meinte, daß es im Interesse des Volkes, also des Bürgertums wäre, die Souveränität einem Herrscher zu übertragen. Solche Herrscher, die, wie er meinte, im aufklärerischen Sinne regierten oder zu regieren fähig waren (wie Katharina II. und Joseph II.), überschätzte Schlözer beträchtlich, wie er überhaupt die Rolle der sogenannten „guten Fürsten" in der Geschichte sehr übersteigerte. Dies bezog sich allerdings im wesentlichen nur auf die politische Geschichte. In der Geschichte der menschlichen Kultur, vor allen Dingen in der Geschichte des Fortschritts der menschlichen Errungenschaften, beachtete Schlözer durchaus bereits die kollektiven Faktoren. In Schlözers Geschichtsschreibung kamen nicht nur die Bedürfnisse des kapitalistischen Bürgertums zum Ausdruck, wie zum Beispiel in seiner bevorzugten Verwendung der Statistik, sondern es widerspiegeln sich in ihr auch die charakteristischen Züge der sich entwickelnden kapitalistischen Formen. Hierauf ist
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letzten Endes Schlözers starke Betonung der ökonomischen Momente in der Geschichte zurückzuführen. Weit mehr als die Aufklärer vor ihm, legte Schlözer Wert auf die Darstellung der „Veränderung der physischen Bedürfnisse" und ihrer Folgen. Aus seinen Ausführungen läßt sich mehrfach schließen, daß er sich darüber klar war, daß die Entwicklung der Menschen mit der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse zusammenhing, wenn er auch über diese Zusammenhänge noch keinerlei exakte Auskunft geben konnte. Schlözer schenkte in seiner Geschichtsschreibung den Versuchen zur Verbesserung der menschlichen Lebenshaltung ebenso große Aufmerksamkeit wie den Erfindungen, auf die er so intensiv einging wie kein anderer aufklärerischer deutscher Geschichtsschreiber vor ihm. Insbesondere interessierten ihn auch die gesellschaftlichen Folgen solcher Erfindungen wie des Feuers, des Brotbackens, der Schrift, des Papiers, des Pulvers, der Einführung solcher Genußmittel wie des Tabaks, Kaffees und des Tees, oder des Silberbergbaus, des Zuckers, des Seidenanbaus und ähnlicher Produktionszweige. Seiner besonderen Hochschätzung erfreuten sich die Erfinder, die er geradezu als „Lieblingsgegenstände" der Weltgeschichte bezeichnete. 8 Schlözer betonte nicht nur die Wichtigkeit der einzelnen Zweige der wirtschaftlichen Entwicklung für das geschichtliche Gesamtgeschehen, wie beispielsweise der Entwicklung des Handels oder der Produktion, sondern er bemühte sich bereits um die Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Gebieten der Wirtschaft. So untersuchte er in seinem Werk „Neuverändertes Rußland" die Zusammenhänge zwischen den Bodenverhältnissen und den Exporten der Ukraine. Unter der Methode der — wie es bei Schlözer heißt - „synthetischen Anordnung" der Universalgeschichte nennt er an zweiter Stelle das technographische Prinzip. Darunter versteht er eine solche Anordnung der Weltgeschichte, „wo diese Künste" (Schlözer meint die Künste und Erfindungen - G. S.) „schicklich klassifiziert, ihre Geschichte nach den verschiedenen Ländern und Zeiten zusammenhängend beschrieben und alle übrigen Weltbegebenheiten als nähere und entfernte Ursachen, als unmittelbare oder mittelbare Folgen dieser Erfindungen eingeschichtet werden". 9 Wenn es auch Schlözer nicht gelang, diese Forderung in seiner Universalhistorie zu verwirklichen, so hat er doch in einer Reihe von Darstellungen, wie in dem „Versuch einer allgemeinen Geschichte der Handlung und der Seefahrt in den ältesten Zeiten" (Stockholm 1758),bereits in der frühen Periode seines Schaffens wertvolle Erkenntnisse über die Wechselwirkung der verschiedenen Seiten der geschichtlichen Entwicklung, vor allen Dingen zwischen der Ökonomie und der Politik, gewonnen. Aus der Geschichtsschreibung Schlözers geht an vielen Stellen hervor, wie sehr er die friedliche Arbeit, besonders die Aufbauleistungen der werktätigen Menschen, hochschätzte und wie sehr er andererseits den Krieg verabscheute. So hat er zum Beispiel aus diesem Grunde Alexander den Großen 8
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Frenssdorf, Ferdinand, Schlözer, in: Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 31, Leipzig 1890, S. 519. Schlözer, A. L. v., Vorstellung der Universalhistorie, a. a. O., S. 293.
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abgelehnt und die homerischen Gedichte nicht geschätzt, eben weil sie das „Leben des Krieges" mit höchstem Glanz umgeben hätten, wie Schlözer sich ausdrückte. Auf der anderen Seite stand Schlözer, der im allgemeinen kein Freünd des absolutistischen Militärwesens war, dem preußischen Staat und insbesondere Friedrich II. vielfach unkritisch gegenüber. Er sah in Friedrich II. später nicht mehr, wie noch in der Frühperiode seines Wirkens, einen kriegerischen Herrscher, sondern machte sich über den Charakter der Herrschaft dieses Monarchen unberechtigte optimistische Illusionen. So glaubte er insbesondere, daß es Friedrich II. mit der Aufklärung Ernst sei. Hier liegt eine Grenze der Fortschrittlichkeit des Denkens Schlözers. Er meinte nämlich, daß sich der Absolutismus und die Ideale der Aufklärung miteinander vereinigen lassen. Auf der anderen Seite darf jedoch Schlözers politische Leistung als Vorkämpfer des fortschrittlichen Bürgertums, ja als einer der Väter des späteren bürgerlichen Liberalismus nicht unterschätzt werden. In diesem Sinne setzte er auch seine wissenschaftlichen Erkenntnisse als Waffe im Kampf gegen die feudalabsolutistische Willkür ein. So sagt er ausdrücklich, daß die Statistik und der Despotismus sich nicht miteinander vertrügen. Er benutzte deshalb unter anderem die Statistik als Beweismittel dafür, daß sich das feudalabsolutistische Regime überlebt habe, weil es nicht mehr fähig sei, die Gebrechen der Gesellschaftsordnung zu heilen. Schlözer hegte die Hoffnung, durch die statistische Ermittlung die absolutistische Willkür zügeln zu können. Diese Hoffnung erwies sich als eine Illusion; aber in einer anderen Hinsicht wurde Schlözer tatsächlich eine Macht, mit der die Fürsten rechnen mußten. Durch die Herausgabe des „Briefwechsels, meist historischen und politischen Inhalts" und der „Staatsanzeigen" wurde Schlözer ein gefürchteter Kritiker der Höfe und ihrer Politik. So wird von manchen Höfen, zum Beispiel auch von der Kaiserin Maria Theresia,überliefert, daß sie sich darum sorgte, was Schlözer sagen werde, als sie einmal eine Maßnahme beschlossen hatte, deren Unpopularität sie nur allzugut kannte.10 In beiden Zeitschriften, insbesondere aber in den „Staatsanzeigen", kämpfte Schlözer auf breiter Front gegen die Feudalklasse und ihre Positionen,, allerdings nur insoweit, als er sie für Gegner der Aufklärung hielt. In den „Staatsanzeigen" kritisierte er besonders scharf die geistlichen Fürsten, vor allem den Fürstbischof von Speyer; er griff die Leibeigenschaft an, die verrottete Finanzwirtschaft der reichsstädtischen Oligarchien sowie die Korruption und die Fehlurteile in der Justiz. In dieser Hinsicht waren seine Anklagen, besonders auch durch die verwendeten sprachlichen Mittel, sehr wirkungsvoll. (So ist beispielsweise das Wort „Justizmord" erst durch Schlözer in die deutsche Sprache gekommen,) Gerade seine Tätigkeit als verantwortlicher Herausgeber der „Staatsanzeigen" zeigt, daß sich in Schlözer die besten Kräfte des damaligen fortschrittlichen Bürgertums verkörperten. Anders als die bürgerlichen Epigonenhistoriker des späteren 19. Jahrhunderts hielt er es nicht für unter seiner Würde, Journalist Vgl. Wesendotik, Hermann, Die Begründung der neueren deutschen Geschichtsschreibung durch Gatterer und Schlözer, Leipzig 1876, S. 124.
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beziehungsweise Publizist und Historiker zugleich zu sein. Im Gegenteil, er sah in der Arbeit fttr die „Staatsanzeigen" nicht eine Beschäftigung, die ihn von seinem Hauptberuf abführte, sondern betrachtete sie als eine Erfüllung seines gesellschaftlichen Auftrages als Historiker. Durch die „Staatsanzeigen" hat Schlözer eine Plattform für die späteren bürgerlichen liberalen Richtungen und ihre Gruppierungen geschaffen, insbesondere für ihre Publizistik. Von vornherein machten die politischen Artikel beinahe die Hälfte der Gesamtseitenzahl aus, während die wirtschaftlichen Beiträge etwa ein Fünftel betrugen. Zum Leidwesen der damaligen Regierungen wurden den Nachrichten und Anzeigen, die von, amtlicher Stelle kamen, zumeist die wenigsten Seiten gewährt. Auch dies zeigt, daß Schlözer sich bewußt war, ein Sprachrohr der bürgerlichen Opposition zu sein. Freilich war die Opposition Schlözers, verglichen mit dem Kampf der radikalen Aufklärer wie Bahrdt und solcher Demokraten wie Forster und anderer, längst nicht konsequent genug. Dies zeigte sich insbesondere in seinem Verhalten zu dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, in dem er im wesentlichen auf «eiten Englands stand. Man muß jedoch dabei bedenken, daß Schlözer von der englisch-hannoverischen Regierung abhängig war, weil sie ihm die Zensurfreiheit für seine Zeitschrift gegeben hatte, die er später, im Jahre 1793, einbüßte. Der Grund für diese Maßnahme, die schon lange von den Gegnern Schlözers gefordert worden war, lag darin, daß Schlözer — mochte er auch nicht konsequent für die französische Revolution eintreten — oft in ihrem Lobe viel weiter ging, als es der hannoverschen Regierung lieb war. Schlözer hat anfangs die französische Revolution begeistert begrüßt. Er hatte auch Verständnis für die Politik der Gironde, konnte sich jedoch mit dem Sturz des Königtums nicht abfinden, da er im wesentlichen den Standpunkt der Kreise des Bürgertums teilte, die zu einem Kompromiß mit dem deutschen Absolutismus neigten. Gleich diesen machte er sich Illusionen darüber, daß der Absolutismus in Deutschland auch auf friedlichem Wege in eine bürgerliche Monarchie umgewandelt werden könnte. Immerhin hat Schlözer in den „Staatsanzeigen" im April 1791 die Erklärung der Menschenrechte in unveränderter originaler Fassung zum erstenmal in einer deutschen Zeitschrift veröffentlicht. Nicht zuletzt hat sich Schlözer in seiner historischen Tätigkeit - vor allem auch in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten - wissenschaftlich für die Einheit Deutschlands eingesetzt. Bereits als jungem Mann (1764) hat ihm nach seinem eigenen Bericht im damaligen Petersburg die Einheit Deutschlands große Sorgen gemacht. Bis zu seinem Lebensende blieb er ein Patriot, dem die Geschicke seines Vaterlandes eng am Herzen lagen. So hat er sehr schwer unter der Fremdherrschaft des Königs Jerome von Westfalen getragen, die in seinen letzten Lebensjahren auf seiner Heimat und auf der Universität Göttingen lastete. Schlözer repräsentiert in seinen starken und in seinen schwachen Seiten am meisten und am ausdrücklichsten die deutsche Historiographie der Aufklärung. Die Verdienste, die Schlözer sich um die deutsche Geschichtsschreibung erworben hat, sind größer als die der meisten anderen deutschen Auiklärungshistoriker. Zwar waren ihm diese in manchen Teilgebieten überlegen, so zum Beispiel Gatterer
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in den Hilfswissenschaften, Chladenius in den Fragen der Methodologie, Spittler in der Landesgeschichte und der letzte große Vertreter der Göttinger Schule, Heeren, in der Wirtschaftsgeschichte, aber insgesamt gesehen sind die Leistungen Schlözers höher zu veranschlagen. Dies ist nicht nur deswegen gerechtfertigt, weil er auf einer großen Anzahl von Teilgebieten Hervorragendes leistete, sondern weil er auch - und zwar weit mehr als Gatterer — einen universalhistorischen Blick besaß, wie er die besten Vorkämpfer der Aufklärung in ganz Europa auszeichnete. Wenn Heinz Gollwitzer meint, daß „der Gemeinplatz von dem ungeschichtlichen Denken der Aufklärung mancher Einschränkung bedarf" 11 , so trifft dies besonders auf Schlözer zu. Schlözer hat sich nicht so in die einmaligen besonderen Vorgänge versenkt und hatte keine solche Vorliebe für das Antiquarische, wie wir sie bei einem Moser finden. Die Momente jedoch, die nach unserer heutigen Auffassung die wichtigsten sind, um den Wissenschaftscharakter der Geschichte zu beweisen, die Anerkennung des Fortschritts und seiner Gesetze in der Geschichte sowie das Suchen nach den geschichtlichen Zusammenhängen und den typischen Erscheinungen, alles dies ist bei Schlözer schon mehr oder weniger ausgebildet vorhanden. Ebenso trug Schlözer als Vertreter des Bürgertums in seiner fortschrittlichen Periode manches dazu bei, um die Wichtigkeit des Zusammenhanges zwischen Theorie und Praxis, zwischen gesellschaftlich-politischer Tätigkeit und historischer Forschung zu demonstrieren. Sicher hat Fueter recht, wenn er behauptet, daß „Schlözer kein großer historischer Denker" gewesen sei. Dazu war Schlözer auf Grund der zurückgebliebenen deutschen Verhältnisse auch nicht berufen. Es ist jedoch unrichtig, wenn der gleiche Autor meint, daß Schlözer „die geschichtsphilosophischen Ansichten Voltaires fallen gelassen habe und sich damit begnügt habe, die geschichtlichen Tatsachen zu registrieren und zu zensieren"12. Zweifellos steht Schlözer als historischer Denker wie auch seiner allgemeinen Bedeutung nach weit hinter Voltaire zurück. Darüber darf jedoch nicht vergessen werden, daß er, wie in unserer Abhandlung gezeigt wurde, in manchem, vor allem in der Frage nach der aufsteigenden menschlichen Entwicklung, weiter gegangen ist als Voltaire, wenn auch hier nicht gänzlich aus eigenem Nachdenken, sondern auf Grund der Anregungen anderer, vor allem Turgots. Schließlich muß auch die große Leistung Schlözers in der Heranbildung tüchtiger Historiker in Betracht gezogen werden. Nicht wenige bedeutende deutsche Historiker wie Dahlmann, Pertz und Schlosser haben von Schlözer Wesentliches gelernt und haben ihm nach ihrem eigenen Eingeständnis viel zu verdanken. So hat Schlözer mit seinem Schaffen, wie vor allem auch die Leistungen dieser drei genannten Historiker beweisen, eine wichtige Brücke von der Aufklärung bis zur bürgerlichen Bewegung des 19. Jahrhunderts geschlagen. 11 12
Gollwitzer, Heinz, Neuere deutsche Geschichtsschreibung, in: Deutsche Philologie im Aufriß, Bd. 3, München 1956, S. 1362. Fueter, Eduard, Geschichte der neueren Historiographie, 2. Aufl., München 1925, S. 379. (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, hg. v. G. v. Below u. F. Meinecke, Abt. 1.)
Heinrich Luden Karl Obermann
Die deutsche Geschichtswissenschaft stand in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis zur Revolution von 1848 in einer engen Beziehung zur fortschrittlichen bürgerlichen Bewegung. Führende Männer dieser Bewegung betrachteten die Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung als eine politische Notwendigkeit. Die Geschichte übernahm die Aufgabe, bei der Lösung der politischen Fragen der Zeit aktiv mitzuwirken. Namhafte Historiker wie Ernst Moritz Arndt, Heinrich Luden, Friedrich Christoph Dahlmann, Carl von Rotteck waren zugleich bedeutende Vertreter der fortschrittlichen bürgerlichen Bewegung. Der Historiker Heinrich Luden gehört zu den patriotisch gesinnten Männern, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts keineswegs bereit waren, sich mit dem schmählichen politischen und sozialen Zustand des deutschen Vaterlandes abzufinden, und die ihre Aufgabe darin sahen, bei der Lösung der nationalen Frage aktiv mitzuwirken. Die bürgerliche Historiographie muß zugeben, daß Luden „einst einer der populärsten Männer Deutschlands, ein gefeierter Lehrer, ein angesehener Politiker, ein hochgeschätzter Historiker" war, obwohl sie seine Bedeutung als Historiker stets herabzumindern versucht. 1 Heinrich Luden war ein echter Sohn des deutschen Volkes. In Loxstedt, einem kleinen Dorf im damaligen Herzogtum Bremen, am 10. April 1780 als Sohn eines einfachen Bauern geboren, hier Als Bauernjunge groß geworden, war er bereits 17 Jahre alt, als er durch Vermittlung eines befreundeten Lehrers auf dem Bremer Domgymnasium mit dem Lernen beginnen konnte. Er machte so schnelle Fortschritte, daß er schon nach drei Jahren, im Jahre 1799. die Universität in Göttingen bezog und dem Wunsch der Eltern entsprechend das Theologiestudium aufnahm. Jedoch fand er wenig Gefallen an der Theologie, lediglich die Kirchengeschichte interessierte ihn und vermittelte ihm den ersten Einblick in die Bedeutung der Geschichtsschreibung. Die durch den Kirchenhistoriker Planck erhaltenen Anregungen suchte er bei dem damals bekanntesten Göttinger Historiker Schlözer und auch bei Heeren zu vertiefen. 1802 schloß Luden das mit großem Eifer und mit Fleiß betriebene Universitätsstudium ab und nahm zunächst eine Hauslehrerstelle in Bremen und dann 1804 in Berlin im Hause des Staatsrates C. W. * Wegele, Franz X. v., Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, München und Leipzig 1885, S. 1011 (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, Bd. 20).
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Hufeland an. Hier lernte er den Historiker Johannes v. Müller kennen. Diese Begegnung führte dazu, daß sich Luden endgültig für die Geschichtswissenschaft entschied. Die Vaterlandsliebe, die das freundschaftliche Verhältnis zwischen Luden und Müller leitete, bestimmte schließlich auch Luden dazu, sich voll und ganz der Geschichte zuzuwenden. Seine unter der Anleitung von Müller geschriebene Biographie des Thomasius brachte ihm 1805 die Doktorwürde der Universität Jena.2 Ermutigt durch den Erfolg, begann er sofort eine zweite Biographie zu schreiben, und zwar über den holländischen Humanisten und Naturrechtslehrer Hugo Grotius, über den bis dahin keine Lebensbeschreibung in deutscher Sprache vorlag. Bei diesen ersten geschichtlichen Arbeiten zeigt sich bereits, welche Aufgabe sich Luden gestellt hatte, welche Richtung er in der Geschichtswissenschaft einzuschlagen gedachte. Er suchte diejenigen Persönlichkeiten bekanntzumachen, die dem Bürgertum in der Lehre vom Naturrecht eine Waffe im Kampf gegen den Feudalismus geliefert hatten, die für einen Staat eingetreten waren, in dem das Volk gleichberechtigt neben den Herrscher treten sollte. In seinen geschichtswissenschaftlichen Arbeiten ging es Luden von Anfang an darum, die Grundsätze darzulegen, nach welchen regiert werden müsse, um das Glück der Menschen und Völker zu sichern.3 Im Sommer 1806 wurde Luden als außerordentlicher Professor an die Universität Jena berufen. Er begann im Sommersemester 1807 seine Vorlesungen über Universalgeschichte, die ihm jedoch noch keinen großen Hörerkreis verschafften. Im Wintersemester 1808/09 wandte sich Luden seinem eigentlichen Thema, der deutschen Geschichte zu.4 Der Kampf aller patriotisch gesinnten Männer um die Befreiung, Unabhängigkeit und Einheit Deutschlands gegen die Fremdherrschaft und gegen die adligen und fürstlichen Verräter im eigenen Lande hatte begonnen. Mit seiner Vorlesung wollte Luden diesen Kampf unterstützen; sie sollte dazu beitragen, ein neues Nationalbewußtsein zu entwickeln, das Volk mit seiner Geschichte vertraut und auf diese Weise seiner Verantwortung gegenüber dem Vaterlande bewußt zu machen. Ohne Rücksicht auf die französische Garnison begann er seine erste Vorlesung über die deutsche Geschichte mit den Worten: „In dem Gedanken, daß unter den Jünglingen, welche unsere Universität zieren, und auf derselben eine ernste Bildung suchen, daß unter Ihnen, meine Herren, viele sein werden, die noch einigen deutschen Geist in sich bewahren, und einigen Sinn für deutsches Leben und deutsche Art, habe ich mich zu dem Vortrage der Geschichte des deutschen Volkes erboten." Luden forderte von seinen Zuhörern, die deutsche Geschichte zu studieren, „wie gute Kinder die Lebensbeschreibung - Vgl. Haage, Johannes, Heinrich Luden, seine Persfinlichkeit und seine Geschichtsauffassung, pbil. Diss., Leipzig 1930, S. 30—32. 3 Vgl. ebenda, S. 33/34. 4 Vgl. Geschickte der Universität Jena, 1548/58—1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum. Im Auftrage von Rektor und Senat verfaßt und herausgegeben von einem Kollektiv des Historischen Instituts der FriedrichSchiller-Universität Jena unter Leitung von Prof. Dr. phil. habil. Max Steinmetz, Bd. 1, Darstellung, Jena 1958, S. 406.
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geliebter Eltern, mit offenem Sinne, reinem Gemüte, treu, fromm und bis in das innerste Leben durchdrungen von dem heiligen Gedanken des Vaterlandes".5 Er ging in seinen Betrachtungen über die Notwendigkeit des Geschichtsstudiums davon aus, daß Deutschland seine Unabhängigkeit verloren hat, weil die Menschen „den Sinn für die Geschichte des Vaterlandes verloren hatten". 6 Zu Beginn seiner zweiten Vorlesung erklärte er: „Je gleichgültiger die gebildeten Deutschen gegen die Geschichte des Vaterlandes wurden, desto mehr verschwand allen das Vaterland, desto fremder wurden sie im Vaterlande. Denn das wissenschaftliche Streben der Gebildeten und der Geist des eigentlichen Volkes stehen überall in enger Verbindung, so lange jenes Streben national bleibt; die Wissenschaft durchströmt die ganze Volksmasse; es besteht bei aller Höhe, die sie erreicht, eine Harmonie zwischen ihr und dem Volk." 7 Luden war also davon überzeugt, daß zwischen der Entwicklung der Geschichtswissenschaft und dem Aufschwung der patriotischen Bewegung ein enger Zusammenhang bestand. Das Studium der Geschichte sollte der Volksbewegung die notwendige Kraft und Sicherheit geben. In einem neuen Verhältnis zur Geschichte sah Luden die Grundlage für die Entwicklung eines starken Nationalbewußtseins. Luden beendete seine einleitenden Betrachtungen über das Geschichtsstudium in der 4. Vorlesung mit den Worten: „Indem ich es unternehme, die Geschichte des Vaterlandes zu erzählen, ist es mein Hauptwunsch, etwas dazu beizutragen, daß der notwendige Vaterlandsgeist in uns geweckt, erhalten, genährt werde. Ich kenne die Schwierigkeiten der Aufgabe, die mir vorliegt, und weiß, daß meine Kräfte nicht hinreichen, die Geschichte Deutschlands so darzustellen, wie sie dargestellt werden könnte und sollte. Allein das darf ich hoffen, daß mir zweierlei gelingen wird, einmal Ihnen stets das Vaterland gl seiner Geschichte gegenwärtig zu erhalten, und zweitens, zu zeigen, wie die Geschichte des Vaterlandes studiert werden müsse."8 Bereits mit seiner ersten Vorlesung enrielte Luden eine große Wirkung. Er erzählt 1828 selbst: „Nicht nur das Auditorium war durchaus mit Menschen angefüllt, sondern auch der Vorsaal, die Treppe, ja der Hof standen voll von Studierenden. Und an den folgenden Abenden minderte sich die Zahl nicht, und für den eigentlichen Vortrag der Geschichte des deutschen Volkes blieben ungefähr 70 Zuhörer. Von diesem Augenblick an hat es für meine geschichtlichen Vorträge niemals, selbst nicht in den schwersten Zeiten, an Zuhörern gefehlt".9 Luden, H., Einige Worte über das Studium der vaterländischen Geschichte, Jena 1810, S. 3—5. Neudruck: Wissenschaftliche Buchgesellschaft E . V . Darmstadt, S. 11/12. • Ebenda, S. 22, Neudruck, S. 20. 7 Ebenda, S. 27/28, Neudruck, S. 23/24. 8 Ebenda, S. 103/104, Neudruck, S. 59/60. 9 Luden, H., Über das Studium der vaterländischen Geschichte, vier veröffentlichte Vorlesungen aus dem Jahre 1808, Neuabdruck, Gotha 1828, Vorrede S. IVf. Jena hatte vor 1806 etwa 400 Studierende, nach der Schlacht bei Jena hatten sich diese bis auf etwa 50 zerstreut: Ihre Zahl hob sich nur langsam. Neuabdruck S. 7/8. 5
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In seiner „Akademischen Festrede am 12. Juni 1880 zur hundertjährigen Geburtstagsfeier Ludens" betonte Dietrich Schäfer: „Besuchtere Vorlesungen hat es in Jena wohl nie gegeben als die seinigen". In dieser Festrede wird weiter bemerkt, daß das größte Auditorium in der Leutragasse, in dem Luden jahrzehntelang, bis zu seinem Tode, las, „häufig, besonders bei der Geschichte der französischen Revolution bis auf den letzten Winkel gefüllt war. Ja, vor den offenen Fenstern und in der Tür standen noch Hörer".10 Obwohl Luden durch einen anonymen Brief aus Frankfurt gewarnt wurde, daß er durch die französische Polizei Überwacht werde, setzte er seine Vorlesungen über die deutsche Geschichte fort. Zweifellos haben diese Vorlesungen nicht ihre Wirkung auf die studentische Jugend verfehlt. Napoleon selbst sprach von dem „revolutionären Samen", der durch die „frechen revolutionären Reden" der Jenaer Professoren unter der akademischen Jugend ausgestreut werde.11 In die Zeit der Befreiungskriege 1813/14 und der ersten Jahre nach dem Wiener Kongreß fällt eine umfangreiche journalistische und schriftstellerische Arbeit des nunmehr bereits bekannten Geschichtsprofessors, der er sich trotz der dadurch entstehenden Belastung gerne unterzog, weil er hoffte, die öffentliche Meinung zugunsten der Forderungen nach Einheit und Freiheit Deutschlands bestimmen zu können, was 1815, nachdem der Wiener Kongreß die Hoffnungen des deutschen Volkes enttäuscht hatte, noch notwendiger war als vorher. Von 1814 bis 1818 gab Luden die Zeitschrift „Nemesis", von 1816 bis 1817 das „Allgemeine Staatsverfassungs-Archiv" heraus und redigierte außerdem von 1815 bis 1816 die in Leipzig bei Brockhaus erscheinenden „Deutschen Blätter". In diesen Zeitschriften zeigte sich deutlich, in welchem Maße sich das bürgerliche Klassenbewußtsein im nationalen Befreiungskampf der Jahre 1813 bis 1815 entwickelt hattg. Die 1813 mehr oder weniger vereinzelt auftretenden Forderungen nach deutscher Einheit und nach Mitbestimmungsrecht wurden nach 1815 mehr und mehr Allgemeingut des bürgerlichen Denkens. Im Bürgertum entwickelte sich - nicht zuletzt auf Grund des französischen Vorbildes — das Bewußtsein, der eigentliche Kern der Nation zu sein. Vertreter dieser Klasse forderten, den Lebensinteressen des Bürgertums in der Politik Rechnung zu tragen. Die bevorrechtete Stellung des Adels galt ihnen als die Grundlage allen Übels. Ohne Berücksichtigung der allgemeinen bürgerlichen Lebensinteressen waren ein nationaler Aufschwung und eine fortschrittliche gesellschaftliche Entwicklung nicht mehr möglich. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, daß infolge der großen Unterschiede in der ökonomischen Entwicklung Deutschlands der Reifegrad im politischen Denken sehr verschieden war und daß sich auch in dem zersplitterten Deutschland noch kein im gesamtnationalen Rahmen handelndes Bürgertum entwickeln konnte. Aber die sich langsam formierende bürgerliche Klasse war nicht mehr gewillt, die Ergebnisse des Wiener Kongresses, die weder ihren wirtschaftlichen noch ihren politischen Interessen und Forderungen entsprachen, »0 Preußische Jahrbücher, Bd. 46, 1880, S. 397. " Geschichte der Universität Jena, a. a. O., S. 407.
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stillschweigend hinzunehmen. Die Enttäuschung, die sich im deutschen Volk ausbreitete, ermutigte das Bürgertum zu einem stärkeren Widerstand gegen das System der Unterdrückung, das Metternich in Wien begründet hatte. Luden gehörte zu den hervorragendsten Vertretern der ersten Welle der fortschrittlichen bürgerlichen Bewegung, die 1815 einsetzte. Die bürgerliche Bewegung von 1815 bis 1830 hatte ihren Schwerpunkt vor allem an den Universitäten und bestand, wie Friedrich Engels feststellte, in der Hauptsache aus „Theoretikern" 12 . In Luden hatten die Burschenschaften einen ihrer besten „Theoretiker". Seine Vorlesungen galten an der Universität Jena als Grundvorlesungen, die sich unbedingt jeder anhören müsse. In diesen Vorlesungen zeigte sich eine neue Auffassung vom Volk und seiner Geschichte, die auf die Zuhörer einen großen Einfluß ausübte. Als nach 1819 die Verfolgungen gegen die Burschenschaften einsetzten, suchten die Behörden auch die Tätigkeit von Luden zu unterbinden. Ganz besonders hat die preußische Polizei 1823 in Verbindung mit den Studentenverhaftungen nach Kollegheften mit den Aufzeichnungen aus den Vorlesungen Ludens gefahndet, um Material zur Verfolgung Ludqns und seiner Schriften zusammenzustellen. Da der gesamte handschriftliche Nachlaß Ludens nach Aussage von Ludens Enkelin, Frau Dr. Luden, in Erfurt 1880 nach dem Tode seines Sohnes vernichtet worden ist, gewinnen wir heute den besten Einblick in die Vorlesungen, die Luden nach 1815 hielt, durch die Kolleghefte, die die preußische Polizei 1823 bei Studenten beschlagnahmt hat.13 Der Anfang einer Vorlesung über die deutsche Geschichte ist in einem Kollegheft des Studenten Rathgeber säuberlich aufgezeichnet worden. Das erste Kapitel der Vorlesung ist betitelt: „Bemerkungen über das Wesen der Geschichte eines einzelnen Volkes", und beginnt mit dem Satz: „Alle Geschichte beschäftigt sich mit dem menschlichen Leben, denn die Geschichte ist Nachzeichnung der Erscheinungen des Lebens in der Zeit." Darin kommt zum Ausdruck, daß bei Luden ernsthafte Bemühungen vorhanden waren, auf die Grundlagen und Bedingungen der geschichtlichen Entwicklung einzugehen. Für die Einschätzimg der Erscheinungen im Leben der Völker hatte er einen neuen Maßstab. Er stellte die Frage nach der „Grundwahrheit, nach welcher die Erscheinungen im • Leben eines Volkes gemessen werden müssen". Seine Antwort lautete: „Diese Grundwahrheit ist eine doppelte: 1. Jedes Volk soll bestehen in Selbständigkeit und Freiheit und 2. in 'dieser Selbständigkeit und Freiheit soll es seine Eigentümlichkeit ausbilden, d. h. alle Kräfte und Gaben entwickeln, die es in sich hat, alles aus sich machen, was es werden kann. Ohne Entwicklung der Eigentümlichkeit in Freiheit und Selbständigkeit ist ein Volk gar nicht denkbar; nur dadurch wird ein Volk zum Volke, daß es sich selb12 13
Engels, Friedrich, Deutsche Zustände, Brief III, in Marx/Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1957, S. 581. Vgl. Ehrentreich, Hans, Heinrich Luden und sein Einfluß auf die Burschenschaft, Sonderdruck, Heidelberg 1913, S. 49.
7 GcscMchtnriucnschaft, Bd. I
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ständig erhält . . . In der Geschichte eines Volkes wird daher nach zwei Dingen immer zu fragen sein: 1. Was hat das Volk getan zur Wahrung und Sicherung seiner Selbständigkeit und Freiheit; 2. was ist aus dem Volk geworden nach dem Verhältnis der Natur und Zeit?" Luden unterschied zwischen „Herrenfreiheit" im Zeitalter des Feudalismus, die er ausdrücklich als gegen das Volk gerichtet ablehnte, und der wirklichen „Volksfreiheit".14 Luden geht zwar von einem idealistischen Standpunkt aus, aber er lehnt offen den Feudalismus ab und stellt die Frage nach der Entwicklung des Volkes, der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Geschichtsschreibung bemühte sich, vom Menschen beziehungsweise von der Gemeinschaft der Menschen, vom Volk auszugehen und die Frage nach der Rolle des Volkes zu klären. Mit Vorliebe behandelte Luden in seinen Vorlesungen die Geschichte größerer Volksbewegungen. Im Spezialbericht L X X I X der Mainzer Zentraluntersuchungskommission werden folgende „bedenkliche" Themen genannt: Geschichte der neuzeitlichen Verfassungskämpfe, die französische Revolution, Geschichte der nordamerikanischen Freistaaten, der spanische Krieg und die liberale Kortes- , Verfassung, der Tiroler Krieg, die liberalen Bewegungen in Südeuropa. Als Luden im Sommer 1821 über die genannten Themen sprach, hatte er „von 500 in Jena Studierenden 300"15. Eine besondere Bedeutung hatte auch die Verlesung Ludens über Politik, die er seit 1809 las und die gerade nach 1819 wieder starken Anklang fand. Uber die letzte Fassung dieser Vorlesung,liegt ein Kollegheft von Arnold Rüge vor, das die Polizei bei seiner Verhaftung 1823 beschlagnahmte. In dieser Vorlesung sprach Luden von der Souveränität des Volkes. Seine Gedanken waren stark von Rousseau beeinflußt. Er erklärte: „Die Personen, welche die Regierung bilden sollen, werden ohne Zweifel von den sämtlichen Staatsbürgern frei gewählt werden, mithin wird die Regierung Gewalt nur durch den Willen des Volkes erhalten."16 Diese Vorlesung über Politik wird auch in einem Schreiben des Innen- und Polizeiministers an den Unterrichtsminister v. Altenstein vom 21. August 1823 besonders erwähnt» Der Brief benutzte die Aufzeichnungen im Kollegheft des Studenten Becher aus Jena, das demselben bei einem kurzen Aufenthalt in Berlin von der Polizei beschlagnahmt worden war. Die Notizen betrafen den zweiten Teil der Vorlesung, die sich mit „der Veränderung der bestehenden Staats-Verfassungen'' beschäftigte. Ausgehend von dem Grundsatz, daß alle Menschen gleiche Rechte besitzen, hatte Luden, wie der Bericht an Hand des Kollegheftes ausführte, die Lehre aufgestellt: i* Deutsches Zentralarchiv Merseburg, Rep. 77, Tit. X X I , Lit. L. ad. 13, 5 Hefte Ludensche Vorlesungen über Politik, •s Vgl. DZA. Merseburg, Rep. 77, Tit. X X I , Lit. L. Nr. 13, betr. den Professor Luden zu Jena wegen Teilnahme an geheimen und sträflichen Verbindungen 1823—1827. — S. auch Ehrentreich, Hans, a. a. O., S. 94. « DZA. Merseburg. Rep. 77, X X I , Lit. L. ad. 13.
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,,i., daß es Gebot der Menschheit und Pflicht des Menschen sei, die bestehenden Staats-Verfassungen nach jenen Theorien zu verändern und einzurichten; 2., daß quod vodum hierbei allerdings mit Vorstellungen und andern Mitteln der Güte anzufangen; daß aber 3., wenn ,die Personen, welche die Regierung führen', auf diese Mittel nicht achten, wie er sich wörtlich ausdrückt, .Gewalt gegen Gewalt zu setzen' und ,das Volk an seine eigenen Kräfte gewiesen sei', wobei der Luden metaphysisch entwickelt, daß dies nicht unrecht sei, weil die Regierung unrecht handle, wenn sie den Forderungen der Vernunft das Gehör versage, und also aufhöre, eine gesetzmäßige Regierung zu sein, und ihre Anordnungen, Gesetze usw. nichtig und unverbindlich seien." 17 Die Vorlesung Ludens über Politik, die unter seine besten Leistungen zu rechnen ist, da sich hier am klarsten seine Geschichtsauffassung zeigte, vertrat bereits einen demokratischen Standpunkt, der sich eng an die Auffassungen Rousseaus anlehnte. Der Einfluß auf die Studierenden muß erheblich gewesen sein und ging weit über Jena hinaus, weil, wie der Student Springer nach seiner Verhaftung aussagte, „die Hefte über diese Vorlesungen auf andere Universitäten verschickt wurden, um in Vereinen, welche, wie in Halle, dem Bunde (gemeint ist der Jünglingsbund — K. O.) als Vorbereitungsschule dienen sollten, zum Vorlesen und als Leitfaden bei den politischen Verständigungen gebraucht zu werden". 18 In den großen Untersuchungen gegen die 1823 verhafteten, dem Jünglingsbund und der Burschenschaft angehörenden Studenten, spielten die Vorlesungen Ludens eine bedeutende Rolle. In einem Bericht der Immediatkommission an den preußischen Innen- und Polizeiminister v. Schuckmann, vom 26. März 1823, wird über die Vorlesungen Ludens gesagt: „Da dieselben durch einen solchen, die Jugend aufregenden Inhalt, zugleich aber durch lebhafte hinreißende Beredsamkeit ein überaus zahlreiches Auditorium finden (der größere Teil der Studierenden zu Jena soll daran Anteil nehmen), so halte ich diese Vorlesungen des Ludefi für eine der wirksamsten Ursachen, welche das demagogische Treiben in Deutschland befördern und alle äußeren Vorkehrungen dagegen fruchtlos machen. Auch erklärt sich daraus, in Verbindung mit den Nachrichten; welche bereits über die schädliche Wirksamkeit des Professors Luden durch Mitglieder der dortigen Burschenschaft zu den Akten gekommen sind, die durchaus verkehrte politische Richtung, welche die von Jena kommenden Studierenden vorzugsweise charakterisiert, und welche zur Abwendung der Gefahr der Verbreitung solcher Gesinnungen es beinahe notwendig machen dürfte, solchen sämtlich die Aufnahme auf unseren Universitäten zu verweigern."19 1823, als die Untersuchungen gegen die Studenten und gegen Luden geführt wurden, lag auch eine dreibändige Weltgeschichte des beliebten Geschichtsi ' D Z A . Merseburg, A. A. I., Rep. 4, Nr. 150, fol. 3. 18 D Z A . Merseburg, Rep. 77, X X I , Lit. L. Nr. 13, Vernehmungsprotokoll Springer, A., Köpenick, den 9. Februar 1824. «® Ebenda, fol. 1. 7»
* von
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Professors vor, deren sich nicht nur die Studenten, sondern auch die Dozenten und Lehrer gerne bedienten. Der erste Band der „Allgemeinen Geschichte der Völker und Staaten" beschäftigte sich mit der „Geschichte der Völker und Staaten des Altertums" und war 1819 bereits in der zweiten Auflage erschienen. Die „Geschichte der Völker und Staaten des Mittelalters" umfaßt zwei Teile, der erste Teil war 1821 und der zweite 1822 erschienen. Im Titel, der die Völker vor den Staaten nennt, kam bereits zum Ausdruck, daß den Völkern der Vorrang gegeben wird; sie erscheinen bei Luden als das Primäre, das Wichtigste,denen die Staaten zu dienen haben. In der Einleitung wird dargelegt, daß die Staaten nach ihrer „Volkstümlichkeit", danach, wie ihre Verfassung und ihre Gesetze den Bedürfnissen und dem Wesen des Volkes entsprechen, beurteilt werden müssen und eine Ubereinstimmung zwischen Volk und Staat unbedingt notwendig sei. Diese Einleitung mußte natürlich dem Geschichtswerk Ludens große Beachtung verschaffen. Die Aussage des 1823 verhafteten Studenten Großer, daß er „durch Ludens Weltgeschichte und insonderheit durch die Einleitung zu derselben zu seinen politischen und revolutionären Verirrungen", das heißt also Anschauungen, gebracht wurde, veranlaßte die preußischen Behörden zu einer Prüfung des Inhalts und zu Nachforschungen über die Benutzung dieses Geschichtswerkes an Universitäten und Schulen.20 In dem Bericht wird zum Inhalt des Geschichtswerkes festgestellt, daß die darin vertretene Auffassimg vom Menschen und seiner Bestimmung der christlichen Lehre widerspreche und es kaum zu ermessen sei, „welche Nachteile es auf die Jugend haben muß, wenn die sichere christliche Grundlage der Bestimmung des Menschen und alles, was im Religions-Unterricht zu deren Befestigung gewirkt hat, durch solche Lehren niedergerissen und die Jugend dagegen als höchste Bestimmung des menschlichen Lebens auf eine sogenannte Volkstümlichkeit hingewiesen wird." 21 Dieser Vorwurf spricht für den Wert und die Bedeutung der Geschichtsschreibung Ludens. Eine Geschichtsschreibung, die dem Menschen eine zentrale Stellung und eine große Aufgabe in der geschichtlichen Entwicklung zuwies, die im Volk, in der nationalen Gemeinschaft der Menschen, den entscheidenden Mittelpunkt der Entwicklung sah, mußte die politischen Bestrebungen des jungen revolutionären Bürgertums ungemein fördern. Das Bekenntnis zum Menschen und seiner Bestimmimg,als Volk auf die Gestaltung des Staates Einfluß zu gewinnen, leitete Ludens Geschichtsdarstellung. Seine Beurteilung des Staates ging von dem Grundsatz aus, daß nur der Staat gebilligt werden könne, der in seiner Verfassung den Interessen des Volkes gerecht wird. „Die republikanische oder konstitutionelle Monarchie", die die Macht des Regenten einschränkt und die Mitregierung des Volkes sichert, bezeichnete er in seiner Weltgeschichte als „die höchste Staatsform". Von diesem Standpunkt aus bejahte Luden Volkserhebungen, die eine Änderung der Verfassimg zugunsten des Volkes zum Ziele haben. Der oben-
DZA. Merseburg, A. A. I., Rep. 4, Nr. 140, fol. 4, Bericht des Ministers des Innern und der Polizei an den Unterrichtsminipter vom 21. August 1823. 2' Ebenda, fol. 5. 20
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erwähnte Bericht sah natürlich darin das „Bedenkliche und Nachteilige" der Geschichtsauffassung Ludens und verwies besonders auf eine Stelle im 2. Band, S. 519, die sich auf die Erhebung der französischen Bauern, die sogenannte Jacquerie, bezog und dazu feststellte, daß sie „aus den heiligsten Gefühlen der Menschheit hervorgegangen war". 22 Schließlich bringt die Weltgeschichte eine Einschätzung der für das deutsche Volk nachteiligen Folgen der Herrschaft der Habsburger und des Hauses Hohenzollern in Preußen, wobei besonders vermerkt wurde, daß das deutsche Volk durch die Herrschaft der Habsburger der Vorteile verlustig ging, die sich für jedes Volk aus den Beziehungen der Völker untereinander ergeben. Preußen bewirkte beim Deutschen Bund eine Untersuchung gegen Luden. Am 18. Dezember 1823 wurde in der Bundestagssitzung beschlossen, Ludens Vorlesung über Politik zu verbieten. An die Regierung von Sachsen-Weimar wurde die Frage gerichtet, ob Luden überhaupt „als Lehrer der Geschichte an der Universität zu Jena verbleiben könne". Zum wenigsten sollte eine ernste Verwarnung erfolgen.23 Luden hat den Verfolgungen des Deutschen Bundes getrotzt und seine Tätigkeit als Historiker fortgesetzt. In den Jahren 1825 bis 1843 schrieb er seine beiden Hauptwerke, die zwölfbändige „Geschichte des Teutschen Volkes" (Gotha 1825-1837) sowie die dreibändige „Geschichte der Teutschen" (Jena 1842/43). Diese Werke sollten sein Hauptanliegen verwirklichen, den nationalen Gedanken mit der Geschichte verbinden. Wenn auch über Heinrich Luden schon viel geschrieben worden ist, so ist doch noch keine richtige Einschätzung seiner Geschichtsschreibung erfolgt. Die im Rahmen der „Quellen und Darstellungen zur Geschichte der deutschen Burschenschaft- und der deutschen Einheitsbewegung" erschienene Untersuchung von Hans Ehrentreich über „Heinrich Luden und sein Einfluß auf die Burschenschaft" betrachtete zwar die „vaterländische Tendenz" als die Stärke, zugleich aber als die Grenze der Geschichtsauffassung Ludens.24 Hier ist von einer „romantischen... auf die Spitze getriebenen patriotischen Tendenz" in der Geschichtsschreibung Ludens die Rede. Das Streben Ludens, dafür zu wirken, „daß die Geschichte mit mehr philosophischem Geist ergriffen würde", wird zwar positiv gewertet als Bekenntnis zum Ganzen, aber andererseits soll ihn diese Einstellung zur „dogmatischen Annahme unbeweisbarer metaphysischer Spekulationen im Sinne der Romantik" verführt haben. 25 Gewiß war es eine metaphysische Spekulation, alle Vorgänge auf einen Weltgeist beziehungsweise Volksgeist zurückzuführen 26 , aber Luden ist dabei nicht stehengeblieben; er hat sich ernsthaft bemüht, die wirklichen Züsammenhänge zu ermitteln. Ebenda, fol. 6. Vgl. DZA. Merseburg, Rep. 77, X X I , Lit. L. Nr. 13, fol. 132, s. auch Ehrentreich, Hans, a. a. O., S. 103/104. 24 Ehrentreich, Hans, a. a. O., S. 51. « Ebenda, S. 52. 28 Vgl. ebenda, S. 53. 22
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Heinrich Luden hat sich bei verschiedenen Gelegenheiten nicht nur über die patriotische Aufgabe des Historikers, sondern auch über die Methode der Geschichtsschreibung geäußert. Er hat sich nicht wenig Gedanken darüber gemacht, wie der Historiker an die Geschichte herangehen, wie er die Geschichte darstellen muß. Dazu sind im Vorwort des 1825 in Gotha erschienenen ersten Bandes seiner „Geschichte des Teutschen Volkes" einige beachtliche Bemerkungen zu finden. Er ging in diesem Vorwort von der Feststellung aus, daß in der jüngsten Geschichte des Vaterlandes „die alten Gesetze der Natur und des Menschenlebens von neuem ihre Kraft bewiesen". 27 Darin ist enthalten, daß Luden eine Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung nicht von der Hand weist, wenngleich er auch nichts weiter dazu sagt. Nach seiner Auffassung ist im Volk eine natürliche, angeborene Lebenskraft, ein Lebenswille vorhanden, der sich in der geschichtlichen Entwicklung geltend macht. In dieser, auf der natürlichen Eigenschaft eines Volkes beruhenden Initiative sah er die geschichtsbildende Kraft, die Gesetzmäßigkeit. Das Naturgesetz, welches das Leben der Menschen bestimmt, welches die Entwicklung bestimmter Eigenschaften regelt, machte er also gleichsam zu dem Gesetz, das auch die geschichtliche Entwicklung leitet. Dabei muß aber berücksichtigt werden, daß er sich die Natur noch wie Hegel als ein sich stets gleichbleibendes, sich in engen Grenzen bewegendes Ganzes vorstellte, und die enge Vorstellung von den Naturgesetzen mußte er auch auf die gesellschaftliche Entwicklung übertragen. Er redete aber keineswegs einem absoluten Subjektivismus das Wort und stellte folgende methodischen Forderungen an den Historiker: „Der Geschichtsschreiber soll vollständig sein und genau, wahr und treu, und zugleich kurz, angenehm, belehrend und unterhaltend. Er soll alle Meinungen beachten, ehren, erwägen. Er soll alles vergleichen, alles wissen, die Erscheinungen im Norden hineinrechnen in die Erscheinungen im Süden, aus beiden ein einziges Bild gestalten, in welchem die entlehnten Züge noch immer erkennbar sind, und überhaupt das unendlich bewegte Leben in eine Nuss fassen, in welcher es selbst seine Beweglichkeit nicht verliert." 28 Diese Bemerkungen zeigen, daß Luden eine Beziehung der verschiedenen Ereignisse untereinander sah und sich um ein umfassendes Geschichtsbild, um die Dialektik der wirklichen Geschichte bemühte. Seine eigene „Geschichte des Teutschen Volkes" hielt Luden allerdings für ungenügend, da noch nicht, wie er sich ausdrückt, „der Ertrag der neuen Forschungen und Bestrebungen benutzet werden konnte". 29 Dennoch glaubte er nicht, warten zu sollen, um die Geschichte des deutschen Volkes zu schreiben. Er forderte dazu auf, sein Werk später zu vervollständigen, denn es schien in ein Vorteil für das deutsche Vaterland, „wenn die Geschichte desselben fortwährend bearbeitet würde". 30 Das Interesse für die Geschichte des Vaterlandes sollte Luden, H., Geschichte des Teutschen Volkes, Erster Band, Gotha 1825, S. VII. Ebenda, S. IX. 29 Ebenda, so Ebenda, S. XII. 27
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wachgehalten werden, obwohl, wie Luden gleich zu Anfang seines Vorwortes bemerkt, „die Zeit der Gleichgültigkeit, die noch vor einem Menschenalter gegen die Geschichte des teutschen Volkes herrschte, freilich vorüber ist". 91 1828, im Vorwort des vierten Bandes, verurteilt Luden scharf den Subjektivismus, die Tendenz, von seinem eigenen Standpunkt aus den Ablauf der Ereignisse zu verändern und willkürlich zu interpretieren und damit die Vorgänge aus den wirklichen Zusammenhängen herauszureißen, alle Ereignisse zu Einzelerscheinungen zu machen. 32 Luden forderte: „So soll in einem vollendeten historischen Werke jedes dargestellte Ereignis erscheinen als das Resultat aller früheren Ereignisse und als mit diesen früheren Ereignissen die gemeinschaftliche Grundlage aller späteren Ereignisse." 33 Die Objektivität bestand aber für Luden nun keineswegs in der wörtlichen kritiklosen Wiedergabe der alten Quellen. Sehr bemerkenswert .ist, daß er eine Untersuchung der Motive fordert, die der Niederschrift einer Chronik zugrunde lagen. Die Quellenschriftsteller müssen gelesen werden, „wie ich sie gelesen habe, im Zusammenhang, um über ihre Weltänsicht, ihre Kenntnisse, ihre Urteilsfähigkeit, ihre Gesinnung, ihren Zweck, ihren Charakter und ihre Weise vollkommen mit sich selbst im klaren zu sein" s *. Tatsächlich kam es Luden nicht auf das Ereignis allein an, sondern es ging ihm darum, die Verhältnisse zu ergründen, die jeweils vorlagen. Jedes Ereignis ist an einen Ort und an eine Zeit gebunden,und die an diesem Ort und zu der gegebenen Zeit vorhandenen Verhältnisse bestimmen den Ablauf des Geschehens. Daher war es Ludens Grundsatz, die Verhältnisse zu untersuchen, denn sonst ließ sich, wie er richtig bemerkt, nicht die Wahrheit ermitteln, nicht das wirkliche Leben darstellen. 35 In der 1847 aus dem Nachlaß des am 23. Mai 1847 Verstorbenen veröffentlichten Schrift „Rückblick in mein Lieben", die Luden selbst Ende der dreißig und Anfang der vierziger Jahre schrieb, erklärte er, daß der Historiker bei Nichtberücksichtigung aller Zupmmenhänge zu einer einseitigen, oberflächlichen Darstellung und falschen Einschätzung der Vorgänge kommt. 36 . Das führte ihn auch dazu, Revolutionen wenn nicht zu bejahen, doch wenigstens zu verstehen. Er verteidigte ihre geschichtliche Berechtigung mit folgenden Worten: „Sie sind Wirkungen von Ursachen, welche in dem Gange, in den Verhältnissen des Lebens lagen, und werden Ursachen von Wirkungen in demselben Leben. Unser Abscheu wird nichts ändern und nichts bessern; er ist unnütz, eitel, albern. Wem daher das Leben der Menschen nicht überhaupt gleichgültig und wer im besonderen ein Urteil über Revolutionen haben will, der muß sie zu verstehen, zu erklären und zu begreifen trachten. Er muß die Ursachen erforschen, die Veranlassung untersuchen, den Gang beob3' Ebenda, S. 32 Luden, H„ XIII. 33. Ebenda, S. Ebenda, S. w Ebenda, S. 36 Luden, H.,
V. Geschichte des Teutschen Volkes, Vierter Band, Gotha 1828, S.XII/ XIV. VIII. XXVI/XXVII. Rückblicke in mein Leben, Jena 1847, S. 232.
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achten, die Resultate erwägen."37 Diesen methodischen Vorschlägen ist kaum viel hinzuzufügen. Anschließend weist Luden darauf hin, daß der gesetzliche Weg kaum jemals Möglichkeiten einer fortschrittlichen Entwicklung geboten hat, „daß das Größte und Gewaltigste, das uns die Geschichte zeigt, nicht auf gesetzlichem Wege zustande gekommen ist". Er bezeichnete es als notwendig, zu untersuchen, „ob es denn auch da, wo die Revolution eingetreten ist, einen gesetzlichen Weg gegeben habe, oder nicht? Ob, falls es einen solchen Weg gegeben hat, derselbe eben und breit genug gewesen, um auf demselben dem Ziele näher zu kommen, um auf demselben Abhülfe gerechter Beschwerden, Erleichterung harter Bedrückungen, Linderung großer Not, Gleichheit der Rechte, Schutz vor Übermut und Sicherheit vor Willkür zu gewinnen? Ich weiß, wo wir etwa stehen möchten, wenn man, etwa vom zwölften Jahrhunderte an, überall auf dem Wege geblieben wäre, der damals der gesetzliche war". 38 Allerdings sah Luden noch nicht im Kampf der Klassen, im Kampf des Neuen gegen das Alte den entscheidenden Entwicklungsgang der Geschichte. Er spricht auch hier wieder „von dem freien, selbständigen und entscheidenden Urteile des Historikers, das aus den Gesetzen der Natur, aus dem Wesen des menschlichen Geistes, aus den edelsten Gefühlen in der menschlichen Brust, aus der ganzen Stellung der Zeit, aus der Lage der Linder und Völker, aus allen politischen, religiösen und sittlichen Verhältnissen der Menschen, von welchen die Überlieferung spricht, hervorgegangen ist, und deswegen auf Wahrheit Anspruch macht". 39 Der Historiker soll sich auf Grund der verschiedenen Bedingungen und Elemente ein Urteil bilden. Unter diesen Bedingungen ist jedoch noch nicht die wichtigste aufgeführt, die Entwicklung der Produktivkräfte. Luden hat zwar die Geschichtsschreibung nicht durch neue grundlegende Quellenforschung bereichert, sondern lediglich vorhandene Materialien neu eingeschätzt. Aber damit hat er zu neuen Überlegungen in der Geschichte angeregt, die viele seiner Schüler zu schätzen wußten. Einer seiner Studenten war der tschechische Historiker Palacky, der seinen ehemaligen Lehrer als „den denkendsten deutschen Historiker und einen der scharfsinnigsten Geschichtsforscher der Zeit" 40 bezeichnete. »» Ebenda, S. 233/234. Ebenda, S. 234/235. 38 Ebenda. S. 237. Geschickte der Universität Jena, a. a. O., S. 408. M
Barthold Georg Niebuhr Rigobert
Günther
B . G. Niebuhr wurde am 27. August 1776 in Kopenhagen geboren. Sein Vater war der Ingenieurhauptmann Carsten Niebuhr, der durch seine Orient-Reisen bekannt geworden war. In Dänemark hatte im Verlauf des 18. Jahrhunderts die bürgerliche Entwicklung große Fortschritte erzielt. In der langen Friedenszeit nach dem Nordischen Kriege erstarkte die nationale Bourgeoisie in Dänemark. Es gab weitreichende Handelsbeziehungen mit den sogenannten BarbareskenStaaten im Mittelmcer, mit Indien und auch mit China. Die bedeutende dänische Handelsflotte konnte zeitweilig sogar mit der englischen konkurrieren. Dänemark war in dieser Zeit Wirtschaftlich weitet entwickelt als Preußen. Auch die bürgerliche Gesetzgebung stand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur wenigen Staaten Europas nach, obwohl nach dem Sturz des Ministers Struensec 1772 die bürgerliche Entwicklung vorübergehend gehemmt wurde. 1788 wurde durch ein Gesetz die Leibeigenschaft der Bauern aufgehoben. Imgleichen Jahre begann die bürgerliche Judenemanzipation, die Juden erhielten Zutritt zu Handwerksberufen. 1792 verbot ein Gesetz den Sklavenhandel mit Afrikanern; es war das erste dieser Art in Europa. Das Schulwesen wurde verbessert; die Pressezensur war nur geringfügig und behinderte kaum die Entwicklung einer bürgerlichen Aufklärung. Die dänische romantische Richtung in der Literatur jener Zeit stand mit den bürgerlich-nationalen Forderungen nicht im Widerspruch. 1 B. G. Niebuhr war nicht nur, wie man zu sagen pflegt, ein Kind seiner Zeit, sondern mehr noch: er war selbst ein exponierter Vertreter des dänischen Finanzbürgertums. Nachdem er von 1794 bis 1796 an der Universität Kiel Jura, Naturwissenschaft, Philosophie und Geschichte studiert hatte, wurde er bereits 1796, zwanzigjährig, Privatsekretär des dänischen Finanzministers. 1797 wurde er Sekretär an der königlichen Bibliothek in Kopenhagen. 1798 nahm er einen zweijährigen Aufenthalt in England, um in London und Edinburgh die englischen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse zu studieren. 1800 wurde er Assessor im Ostindischen Büro des Commcrzkollegiums und Sekretär für die Barbareskenangelegenheiten, 1804 Bankdirektor, Direktor des Ostindischen Büros und Mitglied der permanenten Kommission für Barbareskenangelegenheiten. Da gewann er einen Überblick über die wichtigsten europäischen Finanzgeschäfte. 1
H. Steffens, Philosoph (1773-1845), nahm an den Befreiungskriegen teil; A. Oehlenschläger (1779-1850) und N. F. S. Grundtvig (1783—1872) waren die Begründer des dänischen Volksschulwesens.
Rigobcrt Günther 1806 trat Niebuhr in den preußischen Staatsdienst; er wurde einer der Direktoren der Preußischen Bank und der Seehandlung. Sein Vorgesetzter wurde Freiherr vom Stein, mit dem er in freundschaftlichen Beziehungen stand. Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt leitete Niebuhr den Transport der preußischen Kriegskasse auf der Flucht der preußischen Regierung nach Memel und wurde „Geheimer R a t " . Von 1808 bis 1809 befand er sich in Holland, wo er nach langwierigen Verhandlungen mit der holländischen Regierung eine Anleihe für den ver : schuldeten preußischen Staat erlangte. 1809 wurde Niebuhr Geheimer Staatsrat und Sektionschef für das Staatsschuldenwescn und die preußischen Geldinstitute. Man fragt sich, wie Niebuhr bei seinem Beruf eines Finanzfachmannes ersten Ranges der bedeutendste Althistoriker seiner Zeit werden konnte. Bei allem Interesse für Finanzfragen hat Niebuhr ein Ereignis seiner Jugendzeit aufs Stärkste beeindruckt: die Aufhebung der feudalen Leibeigenschaft in Dänemark 1788, die er bei den Dithmarscher Bauern genau verfolgen konnte, da sein Vater inzwischen königlicher Landschreiber in Süderdithmarschen geworden war. Hier wurde er mit den Überresten der alten Selbstverwaltung der Dithmarscher bekannt. Die Frage des Eigentumsrechtes ,und der Entstehung moderner Agrarverhältnisse sollte ihn zeit seines Lebens außerhalb seines eigentlichen Berufes beschäftigen. Als er Direktor des Ostindischen Büros in Kopenhagen war, veröffentlichte er seine erste althistorische Arbeit, die sich mit dem römischen Eigentumsrecht und den römischen Ackergesetzen befaßte. B. G. Niebuhr war „der erste Geschichtsschreiber, der wenigstens eine annähernde Vorstellung vom Wesen der Gens hatte, . . . und das — aber auch seine ohne weiteres mit übertragenen Irrtümer - verdankt er seiner Bekanntschaft mit den dithmarsischen Geschlechtern." 2 Mit der fortschrittlichen Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts teilte B. G. Niebuhr das Interesse für echte theoretische Fragen, wie der Entstehung der Agrar- und Eigentumsverhältnisse, die in Dänemark und Preußen gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstrangige Bedeutung hatten. Der Einfluß der neuhumanistischen Schul- und Universitätserziehung wies sein Interesse indie Richtung der Antike. Dort suchte er den Ursprung der modernen Agrar-und Eigentumsverhältnisse. Mit dieser zeitgemäßen, vom Geist des fortgeschrittenen Bürgertums und der Aufklärung getragenen Fragestellung hat Niebuhr außerordentlich befruchtend auf die Entwicklung der Althistorie, vor allem in Deutschland, gewirkt. Eine geschichtliche Betrachtung des alten Griechenland und des alten Rom hatte sich seit der Renaissance entwickelt. Aber die alte Geschichte wurde damals noch im Rahmen der klassischen Philologie betrieben. 3 Jedoch folgten die 2
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Engels, Friedrich, Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, Berlin 1951, S. 169, Anmerkung. Über die wichtigsten althistorischen Veröffentlichungen aus der Zeit des 16., 17. und 18. Jahrhunderts informieren Niese, Benedictus, Grundriß der römischen Geschichte, 5. Aufl., München 1923 (Handbuch d. klass. Altertumswiss., 3,5) S. i f. und Bengtson% Hermann, Griechische Geschichte, 2. durchges. u. erw. Aufl., München i960 (Händbuch d. klass. Altertumswiss., 3,4), S. 1 f.
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Geschichtsschreiber des Humanismus meist sklavisch den antiken Texten, wie vor allem den Werken des T. Livius und des Thukydides und ließen eine kritische Einstellung zur antiken Geschichtsschreibung vermissen. Seit der Zeit der Aufklärung änderte sich das Bild. A n die Stelle'der Quellengläubigkeit trat die Skepsis. Aber diese Skepsis, zum Beispiel über die ersten fünf Jahrhunderte römischer Geschichte 4 , blieb in der Negation haften. Blieben die Werke der Renaissance vorwiegend Materialsammlungen, so stellten die Schriften der Aufklärung erste Versuche zu Ansätzen einer kritischen wissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung der bürgerlichen Neuzeit dar. 5 In Deutschland gab es im 17. und 18. Jahrhundert keine eigenständige Althistorie. 3738 trennte sich die Philologie von der Theologie zuerst in Göttingen, danach wurden philologische Seminare in Erlangen, Halle/S. und Heidelberg eingerichtet. Leipzig folgte 1809 mit der Bildung eines philologischen Seminars.® Der Neuhumanismus prägte ein idealisiertes Bild vom alten Griechenland. Noch fehlte eine Geschichtsschreibung, die zwar kritisch die antiken Quellen auf ihren Aussagewert untersuchte, jedoch nicht der allein negativen Skepsis verfiel, sondern einen positiven Inhalt zu gewinnen suchte. Begründer dieser neuen Richtung, der kritischen Methode der Geschichtsschreibung, wurde B. G. Niebuhr." Die kritische Geschichtsschreibung war eine bürgerliche Geschichtsschreibung. Die bürgerliche Kritik an der feudalen Gesellschaftsordnung schuf die Voraussetzungen für eine allgemeine, kritische Einstellung zur geschichtlichen Überlieferung. Die moderne kritische Geschichtsschreibung war also ein Kind des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Feudalklasse. Nicht zufällig waren die ersten bedeutenden Vertreter des Skeptizismus in der Geschichtsschreibung Engländer und Holländer. Mit dem Zweifel an der Gottesgnadenschaft des Feudalherrschers wuchs und erstarkte die Kritik an der Überlieferung der Vergangenheit. „ I m 18. Jahrhundert zeigte ma^n für die römische Geschichte vor allem in Frankreich großes Interesse, wo die radikalen Aufklärer in den römischen Freiheitskämpfern Vorbilder bürgerlichen Mutes und bürgerlicher Tapferkeit sahen." 8 Verbunden mit dem Klassenkampf gegen den Feudaladel stellte man zum ersten Male die Frage nach den Ursachen der Größe Roms, um eine Antwort auf die * Beaufort, Louis de, Dissertation sur l'incertitude des cinq premiers siècles de l'histoire Romaine, Utrecht 1738, Neuauflage Paris 1866 ; Perizonius, Jacob, animadversiones historicae, 1685. 8 Vgl. Bentley, Richard, Dissertation on the epistles of Phalaris, Themistocles, Socrates, Euripides, and others, and the fables of Aesôpus, London 1697; Derselbe, A Dissertation upon the epistles of Phalaris . . . 1699. 6 Schrot, Gerhard, Forschung und Lehre zur alten Geschichte an der Universität Leipzig, in: Karl-Marx-Universität Leipzig 1409-1959, Beiträge zur Universitätsgeschichte, Red. E. Engelberg, G. Seifert, R. Weber, H. Wussing, Bd. 2, Leipzig »959, S. 479. 7 Vgl. Maschkin, N. A., Römische Geschichte, Berlin, 1953, S. 47. « Ebenda, S. 45.
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Frage nach dem Ursprung der bürgerlichen Macht zu erhalten ; und man untersuchte die Ursachen des Unterganges Roms, um sich selbst vor ähnlichen Fehlern zu htiten.9 Niebuhr war ein Vertreter des Bürgertums. Ihn interessierte vor allem die Frage, wie der Grundbesitz und der Staat entstanden sind. Indem er dies Problem anhand der römischen Agrarfrage darlegte, stellte er dem antifeudalen Kampf zugleich Material zur Verfügung, wie der Großgrundbesitz aus zusammengeräubertem Bauemland gewuchert ist. Die Zeit vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war vom Übergang der Bauern aus dem feudalen in das bürgerliche Abhängigkeitsverhältnis gekennzeichnet. An die Stelle der Knute trat die Hypothek. Niebuhr und die folgenden Althistoriker, die seine Ideen beim Studium der alten Geschichte anwandten, interessierten vor allem Fragen der Entstehung der antiken Agrargesckichte und des antiken Staates : A. Boeckh (1785-1862), K . O. Müller (1797-1840), A. Schwegler (1818-1857), K - w - Nitzsch (1818-1880). Schon bei der Aufstellung der wichtigsten historischen Probleme, welche Niebuhr und seine Freunde und Fortsetzer als Desiderate der Forschung betrachteten, zeigt sich die Position des fortschrittlichen Bürgertums in jener Zeit. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich das Interesse der deutschen Althistoriker. Es traten Gestalten und Reiche in den Blickpunkt der Forschung, die von der politischen Entwicklung Deutschlands nach 1848 beeinflußt wurde. Jetzt richtete sich das Interesse auf Caesar (Th. Mommsen) und auf Alexander von Makedonien (J. G. Droysen). Die politische Gegenwart beeinflußte die Wahl des historischen Forschungsgebietes. Niebuhr sah die Frühgeschichte Roms als vorzüglich geeignetes Studienobjekt, um die kritische Geschichtsbetrachtung zu entwickeln. Eine namhafte römische Literatur entstand erst in der zweiten Hälfte, des 3. Jahrhunderts v. u. Z. Cn. Naevius (274—206) beschrieb den ersten Punischen Krieg (264-241) in Versen. Etwas später dichtete Q. Ennius (239-169) seine „Annales". Beide Schriftsteller aber waren Dichter, waren noch keine eigentlichen Geschichtsschreiber. Erster Historiker wurde Q. Fabius Pictor. Er war ein Angehöriger der altadligen fabischen Gens und Konsul und Pontifex gewesen. Sein Werk hieß ebenfalls „Annales". Es enthielt die Sagen und Legenden über die römische Frühgeschichte und die historischen Begebenheiten bis zum Ende des zweiten Punischen Krieges (218-201). Ebenso berichteten die „Origines" des M. Porcius Cato Maior (234 bis 149) von der römischen, aber auch von der italischen Frühgeschichte. Die Geschichte des alten Rom begann aber entsprechend der traditionellen Überlieferung in der Mitte des 8. Jahrhunderts v. u. Z. Die Abschaffung des Königtums und der Beginn der römischen Adelsrepublik wurden in das letzte Jahrzehnt des 6. Jahrhunderts v. u. Z. datiert. Sowohl die ersten römischen Geschichtsschreiber als auch die modernen Historiker bewegte und bewegt heute noch beim Studitim der römischen Geschichte des 8. bis 3. Jahrhunderts v. u. Z. immer 8
Zum Beispiel Montesquieu, Charles Louis de. Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, Amsterdam 1734.
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wieder die Frage nach den Quellen zur Geschichte dieser Jahrhunderte beziehungsweise die Frage nach dem historischen Aussagewert der überlieferten Begebenheiten und Ereignisse. Denn so ganz „leer", wie es scheint, ist dieser Zeitraum nicht. Da gibt es den Festkalender, der mit seinem ältesten Teil in das 6. Jahrhundert v. u. Z. zurückreicht; alte Kultbilder und -Sprüche kommen hinzu; ebenso reichen die ältesten Formen späterer Konsullisten bis in den Beginn der Republik zurück; in den Pontifikalannalen wurden diejenigen Ereignisse des Jahres zusammengetragen, welche die Priester als wichtig einschätzten; Elegien, Lobreden auf Verstorbene und private Chroniken kamen später hinzu; Gesetze und Verträge wurden in den römischen Tempeln aufbewahrt. Der Brand Roms während des Galliersturms 387 v. u. Z. hatte nicht alles vernichtet, einiges konnte gerettet, anderes kopiert werden. Auch sprachgeschichtliche und archäologische Quellen füllen einige Lücken. 10 Über allem hatte sich aber die Sagenwelt emporgerankt. Die Aeneassage, mit dem Ende des 6. Jahrhunderts in Italien faßbar, hatte sich der ältesten Geschichte Roms bemächtigt. In die gleiche Zeit gehört die Sage von Romulus und Remus, den „Gründern" Roms. Hinzu kam die reiche etruskische und latinische Sagenwelt, die in die Geschichte der Kämpfe der Etrusker und Latiner im 5. und 4. Jahrhundert v. u. Z. gegen Rom eingeflossen war. Sie diente ebenfalls den ältesten römischen Geschichtsschreibern dazu, den zeitlichen Raum vom 8. bis zum 3. Jahrhundert mit „Stoff" zu füllen. „So war das Material über die frühe römische Geschichte beschaffen, als man in Rom begann, eine vaterländische Geschichtsschreibung zu schaffen." 11 Die ersten Geschichtsschreiber des Humanismus sahen in den sagenhaften Erzählungen über die römische Frühgeschichte wirkliche Begebenheiten. Später kam die Skepsis auf, sie ließ die römische Geschichte erst mit dem 3. Jahrhundert v . u. Z. beginnen und belegte die ersten fünf Jahrhunderte römischer Geschichte mit dem Bannstrahl der Verachtung, da die römische Geschichtsschreibung erst mit dem 3. Jahrhundert v. u. Z. einsetzte. Dies war die Situation, als Niebuhr sich mit der römischen Geschichte zu beschäftigen begann. Niebuhr stellte die antiken Quellen zur römischen Frühgeschichte zusammen. Aber er begnügte sich nicht damit, die Legenden und Sagen über die römische Frühzeit als unhistorisch Und wertlos für die Geschichtsschreibung abzutun, sondern er stellte die Frage nach den geschichtlichen Ursachen, die zur Entstehung dieser Sagen geführt haben. Seine neue kritische Methode arbeitete Niebuhr an folgendem Problem heraus: gewiß sei die Frühgeschichte Roms, so wie sie die antiken Quellen überliefert haben, unhistorisch. Aber man dürfe dabei nicht stehenbleiben. Man müsse erforschen, warum die traditionelle Überlieferung so und nicht anders entstanden sei. Damit gelange man zum wahren Kern, zum historischen Sachverhalt. Habe 10
Vgl. Altheim, Franz, Geschichte der latein. Sprache von den Anfängen bis zum Beginn, der Literatur, Frankfurt a. M. 1951; Gjerstad, E., Early Rome, Bd. t, Lund 1953, Bd. 2, 1956, Bd. 3, i960. Maschkin, N. A., a. a. O., S. 17.
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man erklärt, wie die Sagen, und Legenden der römischen Frühzeit historisch entstanden sind, dann ergebe sich die Möglichkeit, diese Epoche und den Gang der Entwicklung in der geschichtlichen Darstellung zu rekonstruieren. Niebuhr nahm an, daß es in der römischen Frühzeit ein großes Epos, ähnlich dem des Homer, gegeben habe, das aber verlorengegangen sei. Damit hat er sich geirrt. Es gab kein großes römisches Epos in der Königszeit, jedoch sind Reste altetruskischer Heldensagen des 6. Jahrhunderts v. u. Z. bekannt: über avilc und caile vipiennas, macstrna, lars aruns und andere. Niebuhr hat den Zusammenhang der kritischen Untersuchungsmethode mit seiner Zeit selbst klar hervorgehoben. In der Einleitung zum 1. Band seiner „Römischen Geschichte" schrieb er: „Gegen den Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts erwachte für unsere Nation wieder ein neues Zeitalter. Das Oberflächliche befriedigte nirgends: halbverstandene leere Worte galten nicht mehr, . . . wir strebten nach Bestimmtheit, nach positiver Einsicht, wie die Vorfahren: aber nach einer wahren, anstatt der vernichteten w a h n h a f t e n . . . " . Die alte Geschichte früherer Zeit vermochte „nun nicht mehr zu gentigen, wenn sie sich nicht an Klarheit und Bestimmtheit (hervorgehoben von mir — R, G.) neben die der Gegenwart stellen konnte." Das beginnende 19. Jahrhundert war eine Zeit, „welche die Aufmerksamkeit auf viele vergessene und abgelebte Ordnungen durch deren Zusammensturz hinzog; . . . — So war die kritische Behandlung der römischen Geschichte, . . . eine Frucht der vorbereitenden Zeit" (hervorgehoben von mir - R. G.). 12 Mit der kritischen Methode verband Niebuhr die Forderung nach der Parteinahme des modernen Historikers. Er forderte vom Historiker, daß er die historischen Begebenheiten „mit zerrissenem oder freudigem Herzen" miterlebe. Er wünschte ,,Teilnahme und Gefühl des Geschichtsschreibers" über „Recht und Ungerechtigkeit,. Weisheit und Torheit, die Erscheinung und den Untergang des Herrlichen, wie ein Mitlebender." 13 War es auch eine Forderung nach bürgerlicher Parteilichkeit, so bedeutete sie in jener Zeit dennoch eine fortschrittliche Forderung und war gegen den Feudalismus, wenn auch schon gegen die ersten Regungen 'der Arbeiterklasse gerichtet. In seiner kritischen Methode hatte die Analogie große Bedeutung. So kam er von den Resten der dithmarschen Geschlechtsverfassung auf die Rolle der gens in der römischen Frühzeit und vertrat die Meinung, daß es bei allen Völkern einmal eine Sippenordnung gegeben habe. Niebuhr schrieb über die Berücksichtigung völkerkundlicher Untersuchungen: „Jede erworbene Kunde über ursprüngliche Institutionen anderer Völker vereinigte sich mit dfen darin (das heißt im 2. Band der „Römischen Geschichte", R. G.) begonnenen Untersuchungen über verwandte römische." 14 '2 Niebuhr,
B. G.,
Römische Geschichte, Bd. i, 4. Aufl., Berlin 1833, S. IJC-XIII,
Einleitung. 1 3 Ebenda. i< Ebenda, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin 1836, S. III (Einleitung).
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B. G. Niebuhr war Althistoriker und Staatsmann. An den Freiheitskriegen nahm er aktiven Anteil. Er schrieb: „ E s war eine sehr schöne Zeit, die der Eröffnung der Universität Berlin, . . . diese genossen, und 1813 erlebt zu haben, das allein macht das Leben eines Mannes, bei manchen trüben Erfahrungen, zu einem glücklichen."'5 Es gebe eine Begeisterung, die von der Gegenwart ausgehe. Die fortschrittlichen Ideen der Freiheitskriege schürten seine Abneigung gegen Alexander von Makedonien und Caesar. Durch sein offenes Eintreten für Stein. Arndt und andere deutsche Patrioten, durch seine Kritik der preußischen Zustände in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts zog er sich die Mißbilligung der regierenden Kreise in Preußen zu. 1813 meldete sich Niebuhr freiwillig zur Landwehr, wurde jedoch nicht aufgenommen. Er gründete darauf den „Preußischen Correspondenten" und nahm als Korrespondent der Zeitung an Feldzügen der preußischen Armee teil. Im kommenden Jahr sandte ihn die preußische Regierung nach Holland, um dort mit englischen Bevollmächtigten Verhandlungen über einen finanziellen Unterstützungsvertrag für Preußen zu führen. Zurückgekehrt, unterrichtete er den preußischen Kronprinzen über Finanzwissenschaften. In seiner politischen Haltung trat er für ein starkes Preußen und gegen die Kleinstaaterei auf. 1 6 Von 1816 bis 1824 war er preußischer Gesandter beim Vatikan. Anschließend war er von 1825 bis zu seinem Tode, am 2. Januar 1831, Privatdozent an der Universität Bonn. Niebuhr vertrat die Auffassung, daß auch ein Althistoriker mit beiden Füßen im Leben zu stehen habe, daß er sich nicht vom Leben abkapseln dürfe. Ein Historiker müsse sich auch mit der Politik der Gegenwart beschäftigen. Deshalb hielt er an der Bonner Universität auch ständig Vorlesungen zur Zeitgeschichte, zum Beispiel über die Geschichte der Revolutionszeit und über neueste deutsche Geschichte. In diesen Vorlesungen zeigte sich seine Kompromißbereitschaft mit der herrschenden Klasse in Preußen. E r schrieb zum Beispiel in der Einleitung zum 2. Band seiner „Römischen Geschichte", die er 1828 umgearbeitet hatte: „ D e r Wahnwitz des französischen Hofes zerschlug den Talisman, welcher den Dämon der Revolution gebunden hielt." Der zweite Band der „Römischen Geschichte" sei überarbeitet worden „mit steten Abwehren der sich aufdrängenden kummervollen Sorgen über den für Vermögen, die liebsten Besitztümer, und jedes erfreuliche Verhältnis drohenden Untergang . . . jetzt blicken wir vor uns in eine, wenn Gott nicht wunderbar hilft, bevorstehende Zerstörung, wie die römische Welt sie um die Mitte des dritten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung erfuhr: auf Vernichtung des Wohlstandes, der Freiheit, der Bildung, der Wissenschaft." 1 7 Niebuhr war kein revolutionärer bürgerlicher Demokrat. Er war mit dem^Freiherrn vom Stein und Savigny freundschaftlich eng verbunden und trat gegen den • »s Ebenda, Bd. t, a. a. O., S. X l l f . 16 Vgl. Niebuhr, B. G., Preußens Recht wider den sächsischen Hof, 1815, (Flugschrift). 17 Derselbe, Römische Geschichte, Bd. 2, a. a. O., S. V (Einleitung).
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feudalen Absolutismus, gegen die feudale Zersplitterung und gegen die feudale Abhängigkeit der Bauern auf. Aber auf der anderen Seite war er nicht für die Übernahme der politischen Macht durch die Bourgeoisie, sondern war der Meinung, daß die Forderung des Bürgertums erfüllt sei, wenn es mit seinen kundigsten Vertretern den Herrscher berate. Er trat für die Verbürgerlichung der Monarchie ein, aber er war gegen die Abschaffung der Monarchie. Diese Haltung kam in seiner Tätigkeit als preußischer Gesandter in Rom deutlich zum Ausdruck. Als sich 1821 das Volk von Neapel gegen die österreichische Herrschaft erhob, unterstützte er mit persönlichen finanziellen Mitteln die Unterdrückung des Aufstandes. In seinen Vorlesungen über die neueste deutsche Geschichte kam bis zu- seinem Tode die Furcht der bürgerlichen Klasse vor einer neuen drohenden Revolution in Deutschland zur Geltung. Aber als Althistoriker hat er sich durch die Begründung der kritischen Methode in der Geschichtswissenschaft, die nach ihm nicht nur von Althistorikem angewandt wurde, einen ruhmvollen Namen erworben. Er starb am 2. Januar 1831. G. B. Niebuhr hat keine eigentliche „Schule" gegründet. Dennoch können besonders A. Schwegler (1.819-1857) und K. W. Nitzsch (1818-1880) genannt werden, welche mit der kritischen Methode auch die Niebuhrschen Forschungsschwerpunkte übernahmen. K. W. Nitzsch verherrlichte die bürgerliche Bauernbefreiung und beschäftigte sich vor allem mit altrömischer Agrargeschichte.48 Als Professor an der Universität Kiel trat er 1848/1849 für die preußische Lösung der Holsteinfrage auf. K. W. Nitzsch war auch der bedeutendste Kritiker der „Römischen Geschichte" von Th. Mommsen; er legte dieser Kritik die Auffassungen Niebuhrs zur römischen Frühgeschichte zugrunde, die unter anderem auch Mommsen vernachlässigt hatte.19 A. Schwegler bekannte sich zu den Lehren von Hegel und Strauß („Leben Jesu"). Er gehörte zur schwäbischen, antipreußisch orientierten, kleinbürgerlichen Richtimg in der Revolution von 1848. Weil er sich als Tübinger Universitätsprofessor zur Revolution 1848 bekannte, war er Maßregelungen ausgesetzt. Sein Hauptwerk war die „Römische Geschichte bis zu den licinischen Gesetzen".20 ,R
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Nitzsch, Karl Wilhelm, Die Gracchen und ihre nächsten Vorgänger, Berlin 1847, S. 431. Derselbe, Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik, Bd. 73, .1856, S. 7166. Bd. 77. »858, S. 4098.; S. 593 ff. Schwegler, Albert, Römische Geschichte bis zu den licinischen Gesetzen, Bd. 1 - 3 , Stuttgart 1853-1858.
Die Begründung der Monumenta Germaniae Histórica und ihre Bedeutung Karl
Obermann
Einer der wichtigsten Gründungen der deutschen Geschichtswissenschaft, der Monumenta Germaniae Histórica, lag die Überzeugung zugrunde, durch die Geschichtsforschung die Vaterlandsliebe zu wecken. In den bisherigen Untersuchungen über die Anfänge der Monumenta werden die Bemühungen und Vorschläge der verschiedenen Historiker, unter anderem auch des Freiherrn vom Stein, um das Zustandekommen eines großen Unternehmens zur Herausgabe der Geschichtsquellen vor allen Dingen als Vorschläge an die preußische Regierung, an den preußischen König und an andere Fürsten behandelt. In einer Studie von Georg Winter „Zur Vorgeschichte der Monumenta Germaniae Histórica" werden vier Denkschriften von Christian Friedrich Rtihs, K. F. Eichhorn, F. K. von Savigny und Niebuhr aus den Jahren 1814 bis 1816 behandelt. Namentlich beschäftigte sich aber der Verfasser mit einem auf Grund verschiedener Anregungen entstandenen sogenannten „Berliner Plan'', der von acht Berliner Staatsmännern und Gelehrten unterzeichnet wurde, von Altenstein, Ancillon, dem Rechtshistoriker Karl Friedrich Eichhorn, Niebuhr, Rühs, Savigny, Staegemann, Süvern, und am 31. Mai 1816 dem Staatskanzler und dem Minister des Innern eingereicht wurde.1 Daß die preußische Regierung die Durchführung des Planes nicht unterstützte, wird mit dem Weggang der beiden Historiker Niebuhr und Rühs von Berlin im Sommer 1816 begründet. Es wird nicht darauf eingegangen, daß die preußische Reaktion nicht bereit war, einen Plan zu unterstützen, dem der Gedanke der Einheit Deutschlands zugrunde lag. Für Winter war der Plan ausschließlich eine Frage der Persönlichkeiten, und daher sah er in dem Weggang wichtiger Historiker von Berlin einen „entscheidenden Faktor für das Absterben der Berliner Bewegung". Obgleich in einer kurzen Fußnote zugegeben wird, „daß unter den Gründen" für Rühs' Fortgang von Berlin „wahrscheinlich der Unmut über die beginnende Reaktion mitgesprochen hat", ist in dieser Vorgeschichte völlig außer acht gelassen worden, daß die Pläne der Persönlichkeiten aus der fortschrittlichen, patriotischen Bewegung hervorgegangen waren und schließlich nur im Kampf gegen die Reaktion verwirklicht werden konnten.2 Im letzten 1
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Winter, Georg, Zur Vorgeschichte der Monumenta Germaniae Histórica, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, Bd. 47, Berlin 1928, S. 1—16. Vgl. ebenda, S. 4. GcschichtswisMiucbaft, Bd. I
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Satz der „Vorgeschichte" wird lediglich angedeutet, daß es „der mächtigen Energie eines großen Staatsmannes bedürft hat, um den Gedanken der Monumenta Germaniae Histórica auf eine von staatlichen Bindungen freiere Weise in die Tat umzusetzen"8. Die Verdienste Steins um die Monumenta werden in keiner Weise bestritten. Wenn auch in allen Studien zur Geschichte der Monumenta Germaniae Histórica die Pläne anderer Historiker und ihre Korrespondenz über die Verwirklichung dieser Pläne eine große Rolle spielen, so wird doch Stein stets als derjenige gewürdigt, dem letzten Endes das Zustandekommen des Unternehmens zu verdanken war. Alle Studien beschäftigen sich jedoch in der Hauptsache mit der Korrespondenz und den Unterredungen, die von Stein und anderen geführt wurden, um Persönlichkeiten und Behörden zu interessieren und ihre Unterstützung zu erlangen.4 Harry Bresslau bringt in seiner umfangreichen Geschichte der Monumenta (752 Seiten) die Gründung der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde im Jahre '1819 sehr stark mit dem Deutschen Bund beziehungsweise mit den Gesandten der Bundesversammlung in Frankfurt a. M. in Verbindung. Die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde und damit die Monumenta erscheinen ais ein Unternehmen, das nicht nur mit Hilfe der Bundesversammlung zustande kam, sondern auch auf dem Boden des Deutschen Bundes stand.5 Die Durchführung des Unternehmens war letzten Endes eine Geldfrage, und Geld konnte Stein nur von angesehenen Persönlichkeiten, Staatsmännern und Fürsten erhalten. Arndt schrieb seinem ^lten Freund Stein am 16. Juni 1818 aus Bonn: „Worauf kommt es nun zunächst an? a) Zuerst auf Geld. Da müssen und werden Sie die Großen und Vornehmen spornen zu tüchtiger Unterzeichnung. b) Auf geschwinde Angreifung und Ausführung der Sache. c) Auf einen Mittelpunkt. Das würde Ihre Person sein, welche selbst die Lauen erwärmen und die Trägen spornen wird, wenn nicht aus Liebe, doch aus Scham. Als Mittelpunktsstadt des Unternehmens wären auch wohl wenige Orte so geeignet als Frankfurt, auch, wie von andern schon berührt worden, wegen diplomatischer Hülfen und Erleichterungen und wegen E. E. Persönlichkeit, die selbst den Gleichgültigen oder Widerstrebenden eine Art Gebot und Befehl werden muß . . . d) Auf Mitarbeiter. Ist das Geld beisammen und der Plan rund und sicher entworfen, so denke ich, werden sich an mehreren Orten brauchbare und tätige Männer finden."6 Ebenda, S. 16. « Vgl. Bresslau, Harry, Geschichte der Monumenta Germaniae histórica im Auftrage ihrer Zentraldirektion, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, Bd. 42, Hannover 1921; Erben, Wilhelm, Johannes v. Müller, Erzherzog Johann und die Monumenta Germaniae, ebenda, Bd. 49, Berlin 1932, S. 150—172. 5 Vgl. Bresslau, Harry, a. a. O., S. 33-35. " Vom Stein, Heinrich Friedrich Karl Freiherr, Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen, bearbeitet von Erich Botzenhart, Bd. 5, Berlin 1933, S. 500; 3
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In Steins Korrespondenz mit Fürsten und Bundestagsgesandten ging es nur um Geld. 20000 Thaler wollte er durch Stiftung«! zusammenbringen. Obwohl der Betrag nicht allzuhoch war, hat es jahrelang große Mühe gekostet, einen Teil des Geldes zusammenzubringen. Bis zum 29. August 1818 hatte Stein erst 6500 Thaler erhalten.7 Drei Jahre später, am 18. Juni 1821, schrieb Stein: „Ich besorge, das Unternehmen der Herausgabe der Quellen-Schriftsteller wird am Mangel von Geldmittel scheitern." 8 Als Stein sich wenige Tage darauf, am 27. Juni 1821, wegen finanzieller Unterstützung des Unternehmens an den preußischen König wandte, bemerkte er, daß „die Auslagen, so die 7 beitragenden Mitglieder der Gesellschaft aufgebracht, bereits zehntausend fünfhundert Thaler betragen, sie mögen leicht noch einmal so hoch steigen". 9 Diese Angaben sind ein deutlicher Beweis dafür, wie es in Wirklichkeit mit der Unterstützung des Unternehmens durch Fürsten, Behörden und Bundestag stand. Die Korrespondenz zeigt aber auch, daß Stein weder dem Bundestag noch den Fürsten gegenüber irgendwelche Konzessionen gemacht hat. Daß es ihm ausschließlich um die Förderung der patriotischen Bestrebungen ging, hat er am deutlichsten in seinem Brief vom 19. August 1818 an den Fürstbischof von Paderborn und Hildesheim zum Ausdruck gebracht, in dem er erklärte: „Seit meinem Zurücktreten aus öffentlichen Verhältnissen beschäftigte mich der Wunsch, den Geschmack an deutscher Geschichte zu beleben, ihr gründliches Studium zu erleichtern und hierdurch zur Erhaltung der Liebe zum gemeinsamen Vaterland und Gedächtnis unserer großen Vorfahren beizutragen". 10 Der Fürstbischof hat alle Beteiligung an dem Unternehmen „als dem Charakter eines katholischen Bischofs widersprechend" abgelehnt.11 Nur wenige Angesprochene haben so offen ihre Ablehnung der patriotischen Bestrebungen bekundet, die dem Unternehmen zugrunde lagen, aber desto eindeutiger haben sie durch ihr Fernbleiben ihre Ablehnung demonstriert. Das trifft auch für einige Bundestagsgesandte zu. Stein hatte sich erst gegen Ende des Jahres 1818, als er seine Pläne fertiggestellt und mit dem Historiker Ernst Moritz Arndt und dem Karlsruher Archi"assessor Karl Georg Dümge besprochen hatte, an einige Bundestagsgesandte gewandt. Am 6. Juli 1818 schrieb Stein seinem treuen Gehilfen in geschäftlichen Angelegenheiten, Lambert Büchler, daß die Mönumenta keine Angelegenheit des Bundestages werden könne, aber „dennoch bleibt es wünschenswert, daß mehrere der Bundesgesandten an der Direktion einen tätigen Anteil nehmen, wozu sie durch Gelehrsamkeit geeignet sind, und nun durch ihre politische Stellung dem Unternehmen förderlich werden können". Er dachte dabei vor allem an den bayrischen Bundestagsgesandten Johann Adam Freiherr von Aretin, einen Freund der Wissenschaft, an den
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Pertz, Georg Heinrich, Das Leben des Ministers Freiherrn v o m Stein, Bd. 5, Berlin 1854, S. 273. Vgl. Vom Stein, Freiherr, a. a. O., S. 514. Ebenda, Bd. 6, S. 21. Ebenda, Bd. 6, S. 24. Ebenda, Bd. 5, S. 511. Ebenda, Bd. 6, S. 21.
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württembergischen Gesandten Karl August Freiherr von Wangenheim, Kurator der Tübinger Universität, an den hannoverschen Gesandten G. F. Martens, Professor des Völkerrechts an der Göttinger Universität. 12 Die Zusammenkunft von 4 Bundestagsgesandten mit Stein am 20. Januar 1819 in der Wohnung Steins wird von Bresslau als die Griindungsversammlung der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde betrachtet. 13 Dr. Sigismund Stern schreibt dagegen 1855 in seinem Buch „Stein und sein Zeitalter", daß sich die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde" „nach mannigfacher Besprechung und Korrespondenz mit Freunden und Gesinnungsgenossen im August 1818 konstituierte" 14 . Der Steinschen Korrespondenz zufolge lagen tatsächlich im August 1818 die Pläne für die Gesellschaft vor. Aus dem Brief Steins an Büchler vom 19. Januar 1819 geht auch hervor, daß Stein der Zusammenkunft vom 20. Januar nicht die Bedeutung einer Gründungsversammlung beimaß, sondern lediglich ein zwangloses Beisammensein mit vier Bundestagsgesandten zur Besprechung des von Büchler fertiggestellten Memorandums über die Gesellschaft bezweckte. Stein sagte wörtlich: „Hier wollen wir den Inhalt des P. M. (Pro Memoria — K . O.) durchgehen, beraten und darüber beschließen, wenn dies geschehen, zusammen essen." 15 Allerdings muß gesagt werden, daß im Anschluß an die Zusammenkunft vom 20. Januar 1819 in der Wohnung Steins die Mitgliederwerbung für die Gesellschaft in größerem Umfange einsetzte. Auch ist nicht zu, verkennen, daß die Teilnahme von Bundestagsgesandten an der Leitung der Gesellschaft nicht ohne Einfluß auf die Richtung derselben blieb. Wenn auch der österreichische PräsidialGesandte, Johann Rudolf Graf von Buol-Schauenstein, und der hannoversche Gesandte Martens der Gesellschaft fernblieben, wie H. Bresslau sagt, „beide gewiß auf die Anweisung ihrer Höfe", so traten nunmehr der Gesellschaft außer Gelehrten auch Staatsmänner bei, wie zum Beispiel Hans von Gagern, Delius, Regierungspräsident in Trier, Bischof Münter in Kopenhagen und andere. Zu Ehrenmitgliedern wurden am 12. Juni 1818 der Erzherzog Johann und der Kronprinz Ludwig von Bayern und am 20. August 1819 sogar Fürst Metternich ernannt. 1 '' Unter den 57 Mitgliedern der Gesellschaft des Jahres 1819 waren die verschiedensten Namen und Auffassungen vertreten, aber es fehlte bezeichnenderweise Ernst Moritz Arndt. So ist auch zu verstehen, daß der Bundestag am 27. Juli 1819 dürch Beschluß die Gesellschaft den deutschen Regierungen empfahl. 17 Dennoch kann aber keine Rede davon sein, daß sich Stein, beziehungsweise die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde", dem Bundestag unterordneten, oder daß der Bundestag die Richtung des Unternehmens von nun an bestimmte. Unter den Historikern, die als Mitglieder der Gesellschaft das UnterEbenda, Bd. 5, S. 504. Bresslau, Harry, a. a. O., S. 34. Stern, Sigismund, Stein und sein Zeitalter, Leipzig 1855, S. 542. 15 Vom Stein, Freiherr, a. a. O., Bd. 5, S. 522. , n Vgl. Bresslau, Harry, a. a. O., S. 33, S. 45 f. 'J Ebenda, S. 4Öf. 12
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nehmen in jeder Weise unterstützten, befanden sich liberale Männer wie Dahlmann, Schlosser und andere, die durchaus nicht bereit waren, sich einem Bundestag zu fügen, der am 20. September 1819 den Karlsbader Beschlüssen zur Unterdrückung aller freiheitlichen und patriotischen Bestrebungen zugestimmt hatte. Dahlmann war von allen Mitgliedern der Gesellschaft derjenige, der dieser Meinung in seinem Brief vom 6. November 1819 an Büchler am eindeutigsten Ausdruck gab. Dahlmann „hielt es für unglaublich, daß dieselben Hände, welche das Todesurteil unserer Pressefreiheit unterzeichnet haben, ein Werk zur Ehre der Literatur versuchen möchten; auch glaubte ich, daß die Arbeiter, größtenteils akademische Lehrer oder ihnen verwandt, wenig eifrig sein würden, sich unter die Direktion von Männern zu stellen, durch deren Mitwirkung oder Zulassung sie und die ihrer Pflege anvertrauten Anstalten unvergeßlich beleidigt und herabgewürdigt sind". 18 Dahlmanns Brief hatte eine große Wirkung. Abschriften desselben wanderten von Hand zu Hand. Stein suchte Dahlmann keineswegs zu widerlegen; er versuchte lediglich am 20. November 1819, ihn zur weiteren Mitgliedschaft in der Gesellschaft zu veranlassen, indem fer darauf hinwies, daß „die Teilnahme einzelner B. T . Gesandten (Bundestagsgesandten — K . 0.) an der Direktion etwas Zufälliges ist, die Gesinnungen dieser Männer immer achtungswert bleiben, indem ich sonst so gut wie E. Wohlg. gleich anfänglich und jetzt würde Anstand genommen haben, mich mit ihnen in Verbindung zu setzen und darin zu bleiben". Stein forderte dazu auf, trotz alledem nicht zu verzweifeln und weiterhin „das Gute, was durch Verbreitung der geschichtlichen Denkmäler des Vaterlandes bewirkt werden kann, zu gründen und zu verbreiten". 19 Die Beteiligung einiger Bundestagsgesandten an der Leitung der „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde" war also für Stein durchaus kein Anlaß, sich mit dem Bundestag einverstanden zu erklären oder sogar das geplante große Geschichtswerk dem Bundestag zu unterstellen oder von den Fürsten und Bundestagsgesandten abhängig zu machen. Es ging ihm ausschließlich um die Sammlung der Geschichtsquellen zur Förderung der patriotischen Bestrebungen. Aber die Herausgabe der Geschichtsquellen erforderte Geld, viel Geld, und das war in der damaligen Zeit nur durch die Hilfe der Fürsten und Bundestagsgesandten zu erlangen. Es ist bekannt, daß Stein selbst gar manchen Brief an die Fürsten schrieb, unter anderen auch am 27. Juni 1821 an den preußischen König Friedrich Wilhelm III., als dieser im Rheinland weilte. Von diesem Brief hat E. Botzenhart nur das Konzept veröffentlicht, das sich im Steinarchiv befand. 20 Der Originalbrief war bisher unbekannt. Ein Vergleich des Originalbriefes mit dem Konzept zeigt, daß sich Stein seine Formulierungen mehrmals überlegte: Er wollte finanzielle Beiträge durchaus nicht durch politische Konzessionen an Fürsten und an den Bundestag 18 10
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Springer, Anton, Friedrich Christoph Dahlmann, 1. Teil, Leipzig 1870, S. 177. Ebenda, S. 180/181. Dieser Brief fehlt in der sechsbändigen Ausgabe der Briefe Steins, bearbeitet von E. Botzenhart. Vgl. Vom Stein; Freiherr, a. a. O., Bd. 6, S. 23/24; auch Pertz, Georg Heinrich, a. a. O., S. 564—566 bringt den Text des Konzepts, ohne jedoch diese Tatsache zu erwähnen.
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erkaufen und jede falsche Auslegung seiner Briefe vermeiden. Im ersten Satz weicht der Originalbrief vom Konzept nur in wenigen Worten ab, aber gerade diese wenigen im Original veränderten Worte deuten an, wie sehr Stein auf den Sinn der Worte achtete, damit Zugeständnisse hinsichtlich einer Einflußnahme auf die Quellensammlung vermieden wurden. Während es im Konzept heißt: „Ein Unternehmen, das die Erhaltung der Denkmäler der Vorzeit des Deutschen Vaterlandes bezweckt, darf auf.die Teilnahme E. Maj. rechnen", wird im Originalbrief nicht von „Denkmälern der Vorzeit" und von der „Teilnahme" des Königs gesprochen, sondern allgemein von „Geschichtsquellen", für deren Erhaltung lediglich der „Schutz" des Königs in Anspruch genommen werden Soll. Der erste Satz des Briefes lautet daher im Original: „Ein Unternehmen, das die Erhaltung der Geschichtsquellen Deutschlands bezweckt, darf auf den Schutz Eurer Königlichen Majestät rechnen, da Allerhöchstdieselbe durch religiöse Sittlichkeit, Mut in Gefahren, Standhaftigkeit im Unglück und kräftiges weises Eingreifen in die Ereignisse der Zeit eine glänzende Stelle in den Annalen behaupten, ich erlaube mir daher Eurer Königlichen Majestät Aufmerksamkeit für folgendes literarisches Unternehmen in Anspruch zu nehmen". 21 Im zweiten Absatz wird nicht, wie im Konzept, nur von den „Quellen der alten Deutschen Geschichte" gesprochen, sondern von einer „vollständigen kritischen Sammlung der Quellen der alten und mittleren deutschen Geschichten", um den breiten vaterländischen Charakter des Unternehmens zum Ausdruck zü bringen. Beachtung verdient auch die Abweichung des Briefes vom Konzept im Hinblick auf den Absatz, der sich auf das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Bundestag bezieht. Im Konzept heißt es: „Zur Leitung des ganzen Unternehmens hat sich ein Verein in Frankfurt gebildet, der aus mehreren geschichtskundigen Mitgliedern des Bundestages und einigen anderen Geschichts freunden besteht und den Arbeiten der Mitglieder der Gesellschaft die gehörige Richtung gibt". 2 2 Im Original begnügte sich jedoch Stein mit der Feststellung: „Zur Leitung des ganzen Unternehmens hat sich ein Verein in Frankfurt gebildet, der aus mehreren geschichtskundigen Mitgliedern des Bundestags besteht." 2 3 Die „geschichtskundigen Mitglieder des Bundestags" in der Leitung zu erwähnen, war natürlich zweckmäßig. Daß es aber Stein im Originalbrief vermieden hat, von einem richtunggebenden Einfluß dieser Bundestagsmitglieder auf die Arbeiten der Gesellschaft zu sprechen, ist jedenfalls nicht uninteressant und dürfte auf eine entsprechende Einstellung Steins schließen lassen. Preußen hat dem Unternehmen Steins keine große finanzielle Hilfe gewährt. Am 1. Juli 1821 schickte der König 1000 Thaler aus seiner Privatschatulle. 24 In Deutsches Zentralarchiv Merseburg, Rep. 89, B, III, 105, 4, betr. die in Frankfurt a. M. gestiftete Gesellschaft für Deutschlands ältere Geschichtskunde 1821/22, fol. 1. 25 Vom Stein, Freiherr, a. a. 0., Bd. 6, S. 24. 23 DZA. Merseburg. Rep. 89, B, III, 105, 4, fol. 1/2. 24 Vgl. ebenda, Rep. 89, B, III, 105, 4, fol. 3; und Vom Stein, Freiherr, a. a. O., Bd..6, S. 24. 21
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der „Geschichte der Monumenta Germaniae histórica" von H. Bresslau wird auch von Bemühungen des preußischen Kultusministers v. Altenstein um regelmäßige finanzielle Unterstützung des Unternehmens gesprochen. Gleichzeitig sollte damit der Preußischen Akademie der Wissenschaften Einfluß auf die Entwicklung des Unternehmens gesichert werden. Aber diese Bemühungen scheiterten nicht nur an Hardenberg, wie H. Bresslau ausführt, sondern auch der König zeigte sich einer größeren Unterstützung abgeneigt. 25 Bisher ist nicht beachtet worden, daß sich v. Altenstein selbst am 7. August 1821 an den Sekretär des Königs, den Königlichen Geheimen Kabinettsrat Albrecht, mit der Anfrage wandte, ob der König einen Antrag zur Bewilligung einer staatlichen Unterstützung billigen würde. 26 Albrecht antwortete am 12. August 1821, daß der König zwar mit 1000 Thalern „aus der Chatoulle" einen Beitrag geleistet habe, „von einem Vorbehalt anderweitiger Unterstützung der gedachten Gesellschaft aus Staatskassen ist aber nicht die Rede gewesen". 27 Das war ein vorsichtiger, aber deutlicher Hinweis, daß der König einer größeren Unterstützung des Unternehmens abgeneigt war. 28 Auch die finanzielle Hilfe anderer Fürsten und die finanziellen Bemühungen der beteiligten Bundestagsgesandten entsprachen nicht den Erwartungen. Überhaupt zeigte sich bald, wie H. Bresslau selbst zugibt, daß die Übernahme von Bundestagsgesandten in die Leitung der Gesellschaft „nicht glücklich gewesen war". 2 9 Als patriotische gesamtdeutsche Organisation der Historiker förderten sie die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde" nicht. Schon im Herbst 1820 waren Berckheim und Plessen von ihren Regierungen abberufen worden. Aretin starb am 18. August 1822, und im Juli 1823 bewirkten die deutschen Großmächte die Abberufung Wangenheims. 30 Wenn auch von keiner Seite Einwände gegen die wissenschaftlichen Aufgaben, gegen die Sammlung und Herausgabe der Geschichtsquellen erhoben wurden, so war doch den Höfen und Regierungen eine Organisation verdächtig, die die Förderung patriotischer Bestrebungen bezweckte. Das war auch der Grund für die Abneigung verschiedener Höfe gegen die Unterstützung des Unternehmens, beispielsweise des österreichischen Hofes. Nach längeren Bemühungen des Historikers Pertz war am 23. August 1821 eine Unterredung zwischen Pertz und dem engsten Mitarbeiter Metternichs, Friedrich von Gentz, zustande gekommen. Nach einem Bericht von Pertz an Stein hat Gentz folgenden Standpunkt geäußert: „Österreich aber frage, wozu die Geschichte gebraucht werden solle? In einer Zeit, welche alles in Gift zu verwandeln wisse, gebe sie so gut gegen als für das Bestehende Waffen . . . Dem Kaiser sei das Entstehen dieser Gesellschaft unmöglich angenehm gewesen, zu viele Erfahrungen rechtfertigen den vorläufigen Verdacht gegen alles, was jetzt als Gesellschaft oder Vereinigung auftrete . . . So 25 26 27 28 29 30
Vgl. Bresslau, Harry, a. a. O., S. 59-62. Vgl. DZA. Merseburg, Rep. 89, B, III, »05, 4, fol. 4. Ebenda, fol. 5. In Rep. 89, B, III, 105, 4 ist darüber auch nichts mehr enthalten. Bresslau, Harry, a. a. O., S. 66. Vgl. ebenda.
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wenig der Kaiser die Sache an sich lobenswertfinden,so gewiß er die Hälfte aller Mitglieder verwerfen müsse, so werde er doch auf die Vorstellung des Fürsten wahrscheinlich die für Österreich vorgeschlagenen Teilnehmer in Masse genehmigen . . . Auf Begünstigung habe die Gesellschaft nicht zu rechnen, sie werde nie gern gesehen werden, aber auch keine positiven Hindernisse finden . . . Ein tätigerer literarischer Verkehr, als bisher zwischen Wien und Frankfurt stattgefunden, könne nicht im Gesichtskreis der Regierung liegen, historische Forschungen österreichischer Gelehrten litten keine Beschränkung, wie die Arbeiten des Chorherrn Kurz beweisen; auch wenn alle Historiker des Landes - es mögten aber wohl nicht sechs sein! - gemeinschaftliche Untersuchungen anstellen, Werke herausgeben, ja selbst mit einigem Aufsehen von Zeit zu Zeit Versammlungen halten wollten, ließe man es ruhig geschehen, sobald aber die Sache eine Organisation annehme, werde sie verdächtig, weil die Regierung ihrer nicht mehr versichert sei". 31 Die Geschichtsforschung wurde der herrschenden feudalen Klasse gefährlich, weil sie sich eine große nationale Aufgabe gestellt hatte, weil sich die Historiker in einer Organisation zusammengefunden hatten, um sich untereinander verständigen und die gemeinsame Arbeit fördern zu können. Der Widerstand der Höfe hat nicht verhindern können, daß sich die Gesellschaft entwickelte und ihre Tätigkeit immer 'größere Bedeutung erlangte. Namentlich wurde auf dem Gebiet der Geschichte des Mittelalters in der Quellenforschung Hervorragendes geleistet. Die Redaktion des Quellenwerkes lag seit der Wiener Reise in den Händen von Georg Heinrich Pertz, der es verstand, weitere Historiker, unter anderen auch wieder Dahlmann, zur Mitarbeit heranzuziehen. 1824 wurde der Plan des Werkes veröffentlicht, und 1826 erschien der 1. Band mit den karolingischen Annalen. Damit wurden das Studium und die kritische Untersuchung der Quellen zu einem wichtigen Bestandteil der Geschichtswissenschaft. Als Carl von Rotteck 1840 seinen Aufsatz „Betrachtungen über den Gang, Charakter und heutigen Zustand der historischen Studien in Teutschland" schrieb, konnte er feststellen: „Was nämlich die Aufhellung der älteren deutschen Nationalgeschichte betrifft, ist die neueste Zeit eine sehr fruchtbringende gewesen. Seit einem Menschenalter ist diese Geschichte weit mehr bereichert, kritisch beleuchtet und den Gebildeten in der Nation bekannt gemacht worden, als in allen früheren Jahrhunderten zusammengenommen; und mit dem Eifer für die vaterländische Geschichte verband sich natürlich auch eine gesteigerte Liebe für Geschichte überhaupt. Eine Masse von guten und zum Teil trefflichen historischen Werken war die Frucht solcher Liebe". 32 31
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Pertz, Georg Heinrich, a. a. O., S. 582-584; vgl. Stern, Sigismund, a. a. O;, S. 543; vgl. Bresslau, Harry, a. a. O., S. 100/101. Dr. Carl von Rottecks gesammelte und nachgelassene Schriften, hg. v. Hermann von Rotteck, Pforzheim 1841, Bd. 1, S. 381.
Karl Friedrich Eichhorn und die historische Rechtsschule Uwe-Jens Heuer
Die Frage des Staates berührt nach einem bekannten Wort Lenins die Interessen der herrschenden Klassen nächst den Grundlagen der ökonomischen Wissenschaft mehr als irgendeine andere Frage. Die Anschauungen Uber Staat und Recht, ihr Wesen und ihre Geschichte spiegeln den Klassenkampf besonders unmittelbar wider. Je schärfer sich die Klassengegensätze zuspitzen, desto heftiger werden auch die ideologischen Auseinandersetzungen um die Fragen von Staat und Recht. Die Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus war bestimmt durch den Sieg der bürgerlichen über die feudale Produktionsweise. Dabei bestand der Hauptwiderspruch zwischen den Volksmassen und der Bourgeoisie auf der einen, .dem FeUdaladel auf der anderen Seite. Daneben entwickelten sich bereits die Widersprüche zwischen den Volksmassen und der Bourgeoisie. Innerhalb des Adels bestanden Widersprüche zwischen den liberalen Adligen, die mit dem preußischen Weg zum Kapitalismus liebäugelten, und den extrem reaktionären Kräften. In bestimmten Perioden gewannen die Widersprüche zwischen den Nationen besondere Bedeutung. Alle diese Widersprüche bestimmten den Verlauf und die einzelnen Etappen des Sieges der bürgerlichen über die feudale Staats- und Rechtsauffassung, der sich letztlich als Sieg des bürgerlichen Positivismus erwies. Der Prozeß der Herausbildung einer selbständigen bürgerlichen Rechtswissenschaft war zugleich der Prozeß der Vertreibung der Philosophie (im Sinne der Auffassung vom gesetzmäßigen Fortschritt der Menschheit) aus der Rechtswissenschaft. Eine wichtige Etappe dieser Entwicklung war die scheinbare Wendung zur Geschichte, war der Triumph der historischen Rechtsschule. In Deutschland hatte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die bürgerliche, antifeudale Aufklärung auch auf dem Gebiet von Staat und Recht einen erheblichen Aufschwung genommen. Der Strafrechtler Hommel forderte im Gefolge Beccarias, dessen Hauptwerk er 1778 übersetzte, eindeutige kurze und milde Gesetze. Er wandte sich gegen das heimliche Verfahren, gegen die Folter, gegen die Ausdehnung der Todesstrafe, er verlangte die Nichtanwendung der brutalen Strafgesetze durch die Gerichte und lehnte die Verfolgung von Religionsverbrechen ab. Auf dem Gebiet des Staatsrechts wandte sich Friedrich Carl von Moser mit seinen Werken „Der Herr und der Diener, geschildert mit patriotischer Freyheit"
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(1759) und „Uber Regenten, Räthe und Regierung. Schutt zur Wegebesserung des künftigen Jahrhunderts" (1784) gegen den Despotismus, die Jämmerlichkeit und Hohlheit des deutschen kleinstaatlichen Absolutismus. Ihm sekundierte A. L. Schlözer in seinen „Staatsanzeigen." Vor allem auf dem Gebiet des Strafrechts und des Staatsrechts wurde von den bürgerlichen Aufklärern die bestehende feudalabsolute Ordnung am Maßstab der Vernunft gemessen. Nicht die bestehenden Verhältnisse, sondern das objektiv Notwendige, die Gesetzmäßigkeit war ihnen Kriterium. „Der These der klerikalen Staatslehre, daß der Staat, also das Objektive als eine von den Menschen hinzunehmende Ordnung von außen, von Gott in Form einer göttlichen Stiftimg oktroyiert sei, stellte die Staatslehre dieser Epoche die These entgegen, daß das Objektive, das Gesellschaftliche, das Gesetzmäßige in dem Menschen selbst, seiner Vernunft, seinem Denken, seinen Grund haben müsse".1 Die bürgerliche Aufklärung, das bürgerliche Naturrecht geißelten den Feudalabsolutismus. An den Höfen, an den Universitäten aber herrschte eine Ideologie, die die Verherrlichung des Absolutismus mit aufgeklärter Terminologie verband, die die Forderung nach einzelnen Reformen mit der Sanktionierung der feudalen Rechtsunsicherheit im ganzen vereinte, die die Widersprüche im Interesse der Erhaltung des Feudalsystems nicht lösen, sondern verkleistern, die vor allem Teile der Bourgeoisie und der bürgerlichen Intelligenz von den Volksmassen lösen wollte. Es herrschte die Ideologie des aufgeklärten Absolutismus. Da waren die Schöpfer der Gesetze dieser Zeit, besonders die Preußen Klein und Svarez, der von sich erklärt hatte, daß er die „Reformen, auch im Falle der Gesetzgebung, den Revolutionen allemahl vorziehn" wird. Da waren die aller revolutionären Bewegung abholden Zivilrechtler, wie es denn kein Wunder ist, daß die um ihre Emanzipation ringende Bourgeoisie sich vornehmlich dem Staatsund Strafrecht zuwandte, während die saturierte Bourgeoisie das Zivilrecht in den Mittelpunkt ihres Interesses stellte. Da waren Strafrechtler wie Claproth und Quistorp, da waren Staatsrechtler wie Häberlein und vor allem Johann Stephan Pütter, dessen Schriften am deutlichsten zeigen, welches Verhältnis Geschichte und Recht in den Schriften der Verteidiger des Bestehenden vor der französischen Revolution eingegangen waren, an welches Erbe die historische Rechtsschule anknüpfte. Pütters Hauptwerk „Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Deutschen Reichs" (1786/87) zeigt ihn als Vertreter der Reichsgeschichte, die vorher ihre erste Blütezeit mit Ludwig und Gundling in Halle erlebt hatte. Diese Reichsgeschichte war nichts anderes als eine historische Einführung in das geltende Staatsrecht. Die Darstellung der letzten 46 Jahre umfaßte den ganzen dritten Band und trug überwiegend den Charakter einer Fallsammlung für Probleme der Reichsverfassung. Der Hauptzug des Werkes war die Verherrlichung der Fürsten. Ob Karl der Große oder Ludwig der Fromme, Friedrich II. oder Joseph II., stets hingen bei Pütter 1
Polak, Karl, Zur Dialektik in der Staatslehre, Berlin 1959, S. 206.
K. F. Eichhorn und die historische Rechtsschule
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der historische Fortschritt, die Durchsetzung der Forderungen der Aufklärung von den Fürsten ab. Diese Hervorhebung der Fürsten sollte zugleich die absolutistisch-aufgeklärte, Position historisch untermauern und die bestehende Reichsverfassung mit ihrer Statuierung der nationalen Zersplitterung historisch verfestigen, also ein wichtiges Bollwerk gegen die heranreifende bürgerliche Umwälzung verteidigen. Mit der französischen Revolution und ihrem Widerhall in Deutschland hatte die Stunde der absolutistischen Aufklärung göschlagen. Die Feudalklasse, in ihren Grundfesten bedroht, verzichtete auf das Bündnis mit jenen Aufklärern, die vermeint hatten, Unvereinbares versöhnen zu können. An die Stelle des Zynismus trat wieder die Orthodoxie, an die Stelle der verschleierten die unverschleierte feudale Ungesetzlichkeit. Die Anti-Jakobinerkriege beendeten endgültig die Periode des aufgeklärten Absolutismus. Das politische Gesicht der neuen Epoche wurde nicht von aufgeklärten Monarchen, sondern von der französischen Revolution bestimmt. Das Naturrecht hatte in Frankreich seine bürgerliche Verwirklichung gefunden. Die reformerische Verteidigung des Bestehenden unter Berufung auf Aufklärung und Naturrecht war nicht mehr möglich. Der Kampf gegen die Revolution bedurfte eines neuen Fundaments. Während die besten Geister Deutschlands der französischen Revolution zujubelten, während Kant, Fichte und Hegel in den gewaltigen Umwälzungen eine Bestätigung der Aufwärts- und Vorwärtsentwicklung der Menschheit sahen, kehrten die Vertreter der offiziellen Staats- und Rechtsideologie der Philosophie endgültig den Rücken, gaben der Vernunft den Abschied. Die Trennung der Philosophie von der Staats- und Rechtslehre war aber nur eine Seite des ideologischen Prozesses. Der Zusammenbruch der deutschen Reichsverfassung, die schmähliche'Niederlage Preußens machten die Verfaultheit des Feudalabsolutismus offensichtlich. Die Widersprüche verschärften sich immer mehr. Die Ausplünderung durch die französische Großbourgeoisie betraf alle Klassen und Schichten, wenn auch in unterschiedlichem Umfang. Eine nationale Bewegung gegen Napoleon ohne jegliche Reform war undenkbar. Damit wurde auch immer mehr Vertretern der herrschenden Klasse klar, daß eine soziale Umgestaltung unvermeidlich war. Die Positionen der Reformer wurden stärker. Es wurde zum Hauptanliegen der herrschenden Klasse, den nun einmal unvermeidlichen Fortschritt mit der geringstmöglichen Einbuße an Macht und Einfluß zu verbinden. Die deutsche Bourgeoisie, mehr vor dem Volke als vor den Junkern zitternd, verriet die Werktätigen, ging ein,.Kompromiß nach dem anderen ein, bis die Herstellung des deutschen Reiches den Sieg der bürgerlichen Revolution als Sieg des militaristischen Preußen, als Sieg Bismarcks vollendete. Langsam sich verändernde soziale Verhältnisse und, ihnen nachfolgend, sich ebenso langsam, zunächst noch langsamer verändernde staatliche und rechtliche Einrichtungen - das war das Bild dieser Epoche in Deutschland. Eine solche Entwicklung konnte, nach dem Sieg der bürgerlichen Revolution in Frankreich, nicht mehr auf die Vernunft gestützt werden. Es wurde versucht,
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sie aus der Geschichte zu begründen. Die Geschichte sollte nicht nur die Erhaltung des Bestehenden legitimieren, sie sollte auch den langsamen qualvollen Fortschritt begründen. Staat und Recht sollten nicht mehr auf die - von der absolutistischen Aufklärung Verzerrte - Vernunft, sondern auf eine - der Philosophie beraubte und darum nicht minder verzerrte - Geschichte gestützt werden. Die von der Philosophie getrennte, ja ihr gegenübergestellte bürgerliche Rechtswissenschaft wurde als Staats- und Rechtsgeschichte vorbereitet. Die junkerlich geführte Entwicklung zum preußisch-deutschen Reich des Junkertums und der Großbourgeoisie fand ihre Widerspiegelung in der historischen Rechtsschule. Die Häupter der historischen Rechtsschule waren Karl Friedrich Eichhorn (1781-1854) und Friedrich Carl Savigny (1779-1861). A m Anfang der historischen Rechtsschule aber stand Gustav Ritter von Hugo, dessen Lehrbuch des Naturrechts Marx als das alte Testament der historischen Schule kennzeichnete. 2 So antiphilosophisch die historische Schule auch war, sie bedurfte eines Philosophen, der die Philosophie vertrieb. Die preußische Aufklärung hatte die bestehende Ordnung dadurch zu heiligen, aber auch zu verbessern gesucht, daß sie die feudalen Verhältnisse an einer eigens verfertigten Vernunft maß. Das Positive sollte als vernünftig begründet werden. Hugo aber wollte das Bestehende um seiner selbst willen verteidigen. Je unvernünftiger es war, desto mehr erwies sich, daß es nicht auf die Vernunft, Sondern auf das Bestehen selbst ankam. Die Kriterien der Vernunft waren in Frankreich zu bürgerlichem Fleisch und Blut geworden, darum mußten sie fallen. „Wenn das Positive gelten soll, weil es positiv ist, so muß ich beweisen, daß das Positive nicht gilt, weil es vernünftig ist, und wie könnte ich dies evidenter als durch den Nachweis, daß das Unvernünftige positiv und das Positive nicht vernünftig ist?" schrieb der junge Marx 1842 über Hugo. 3 Im Werk Hugos folgte ein Beispiel für die „Unvernünftigkeit" der Geschichte dem anderen. Das ging vom Bestehen mehrerer Staaten — „Das Vernunftwidrige der Vereinzelung unter mehrere unabhängige Obrigkeiten zeigt sich auch genug im Erfolge. Wie vieles geschieht im Kriege gegen die thierische Natur? Wie vieles gegen die vernünftige . . . Was diese Unvollkommenheit allein rechtfertigt, ist, daß der gegenwärtige Zustand, die Gewohnheit, für sie entscheidet" 1 - bis zur Herrschaft der Reichen über die Armen: „Das ausschließliche Recht eines einzelnen, über eine körperliche Sache zu verfügen, kann bey denen, die es anerkennen sollen, geradezu gegen ihreo thierische Natur streiten . . . Das strengste Bücherverbot ist die Armuth". 5 Weder der aufgeklärte Monarch — „Auch von der Regierung hat der Arme fast nur Nachteil. Die beste Verfassung hilft ihm nichts" - noch die juristische Freiheit - „Was hilft dem Armen seine Freyheit, '
Marx, Karl, Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, 1842, in: Marx¡Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 78. 3 Ebenda, S. 79. * Hugo, Gustav, Ritter v., Lehrbuch des Naturrechts, als einer Philosophie des positiven Rechts, besonders des Privatrechts, 4. Ausgabe, Berlin 1819, S. 106, 114. 5 Ebenda, S. 120, 123.
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als daß er oft arbeiten will und niemand findet, der ihn für seine Arbeit bezahlt?" 6 — vermag den Armen zu retten. Natürlich ist. nicht nur die Gegenwart unvernünftig. „Alle Gesetze, und alle RechtsbUcher können hier als Quellen benutzt werden, und je mehr sie von dem abweichen, was wir jetzt gewohnt sind, desto lehrreicher sind sie . . . aber auch je entfernter ein Recht dem Orte nach ist, desto mehr verdient es, besonders bemerkt zu werden". 7 Wenn alles gleich unvernünftig ist, so ist auch alles gleich vernünftig, wenn alles gleich schlecht ist, so ist auch alles gleich gut: „ W a s Millionen Menschen, und gewiß auch gute und verständige Menschen, nicht etwa bloß gethan, sondern geradezu für recht gehalten haben, das muß der Vernunft nicht so ganz widerstreiten, wie es vielleicht unsere neuesten Schriftsteller . . . glauben" 8 . Hugo wandte sich gegen seine Tadler, die ihm vorwarfen, „daß er gegen Alles im positiven Recht Einwendungen mache, oder daß er Alles vertheidige, wenn sie nicht einsehen, wie gerade Jenes das Mittel und die Bedingung* von Diesem ist". 9 Es bleibt dann nur die Schlußfolgerung, „daß wir uns dem Rechte, wie es einmal ist, fügen sollen".«» Die französische Revolution und ihre Auswirkungen hatten es allen offenbar g e m a c h t , daß die deutschen Feudalstaaten und ihr Recht es nicht vertrugen, mit dem Maßstab der Aufklärung und des Naturrechts gemessen zu werden. Die Feudalklasse hatte ihr Bündnis mit der absolutistischen Aufklärung gelöst. Hugo hatte ihren Willen philosophisch vollstreckt, als er dem bestehenden Staat und dem bestehenden Recht den letzten Schein an Vernünftigkeit raubte. Die Vertreibung der Vernunft aus Staat und Recht war aber nur der erste Schritt, die Voraussetzung für die .historische' Legitimation des bestehenden Staates und seines Rechts und ihrer langsamen, qualvollen Weiterentwicklung, aber nicht die Legitimation selbst. Diese Legitimation gaben Savigny und Eichhorn, die Häupter der historischen Rechtsschule. Beide standen dem Naturrecht feindlich gegenüber. Savigny stellt in seiner berühmten Schrift: „Über den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung" die historische Schule ausdrücklich der unhistorischen, philosophischen gegenüber. Eichhorn schrieb 1829 an einen Sohn: „Z. B. taugt meistens die Rechtsphilosophie keinen Pfifferling," weil sich hier die Philosophie mit menschlichen Verhältnissen beschäftigen soll, über welche man natürlich nichts sagen kann, wenn man nicht weiß, wie sie der Erfahrung nach seit Jahrtausenden gewesen sind. Daher tut man . . . besser, mit dem Historischen anzufangen und das Philosophische später folgen zu lassen". 11 Dieser Gegensatz zur Philosophie aber war kein anderer als der Gegensatz zur Aufklärung. Ebenda. S. 125, 130. ' Ebenda, S. XIV. " Ebenda, S. 44. » Ebenda, S. XIV. 10 Ebenda, S. 143. 11 Loersch, Hugo, Briefe von K. F. Eichhorn,. . . zur Säkularfeier . . . herausgegeben, Bonn 1881, S. 65. Brief Eichhorns vom 14. 1. 1829. I!
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Während Savigny sich in seinen umfangreichen Arbeiten ausschließlich mit dem römischen Recht vor seiner Rezeption beschäftigte, war der Gegenstand des Lebenswerkes von Eichhorn die deutsche Staats- und Rechtsgeschichte. Karl Friedrich Eichhorn war am 20. November 1781 in Jena geboren worden. Sein Vater, Professor für orientalische Sprachen, ging bald, 1788, nach Göttingen. Dort studierte auch der junge Eichhorn bei Runde, Hugo, Pütter und anderen. Er promovierte 1801, hielt sich dann, mit dem Ziel, sich dem Reichsrecht zu widmen, einige Zeit beim Reichskammergericht in Wetzlar, beim Reichsdeputationshauptschluß in Regensburg und beim Reichshofrat in Wien auf. In Göttingen las er Reichsrecht. Eichhorn beschäftigte sich gleichzeitig mit Frankreich, weil „die Übermacht Frankreichs alles niederschlug und allmählich zur Weltherrschaft zu führen schien", wie er später in seiner Selbstbiographie schrieb. Sein Plan, in französische Dienste zu gehen, scheiterte vor allem an Geldmangel. 1805 wurde er zum ordentlichen Professor in Frankfurt an der Oder berufen. Eichhorn, der — jedenfalls nach seiner Selbstbiographie zu urteilen - die französische Revolution immer abgelehnt hatte, wurde in Frankfurt Mitglied des Tugendbundes, ja sogar Direktor der Frankfurter Kammer. Nachdem er 1811 an die neugegründete Berliner Universität berufen worden war, meldete er sich 1813 freiwillig zur Landwehr und nahm als Rittmeister an den Schlachten bei Großbeeren und Leipzig teil. An seine Frau schrieb er: „Ehre und Pflicht gebieten auszuharren bis zum Frieden, denn eher ist Freiheit und Deutschland nicht gesichert, und für beide will ich fechten, so lange ich kann. Dann kehre ich wieder zu meiner alten deutschen Zeit und zu meinen Büchem zurück". 1 2 Nach Beendigung des Krieges war Eichhorn bestrebt, Preußen wieder zu verlassen und nach Göttingen zu gehen. Einen Hauptanteil daran dürfte die einsetzende Demagogen Verfolgung gehabt haben. Sclimalz denunzierte damals die Mitglieder des Tugendbundes. Schulte spricht von der tiefen Enttäuschung, welche die politische Reaktion Eichhorn verursachte. 13 Auch in Hannover wurde der Versuch gemacht, ihn mit Demagogen in Verbindung zu bringen. Bereits in den zwanziger Jahren zwang ihn eine Lungenkrankheit, die Arbeit aufzugeben. Er ging 1832 noch einmal nach Berlin, wurde dort sogar Mitglied des Staatsrats und der Gesetzkommission, mußte aber 1847 endgültig ausscheiden. Der Revolution von 1848 stand er ablehnend gegenüber. Seine politischen Anschauungen hat Eichhorn am deutlichsten unter dem Eindruck der französischen Revolution von 1830 seinem Freunde Savigny gegenüber dargelegt. Die Demagogenjagd sei völlig nutzlos, es müssen der alte Schlendrian, Junkertum und Bürokratie abgetan werden. Mir kommt es vor, so schrieb er, „als fehlte es eben so gut von oben herunter als von unten h e r a u f . . . thäte man nur von oben her ab, was abzuthuiv ist, besonders das Junkertum, die Sachen ständen so übel noch nicht". Versäume man es aber, so fürchte er, „es geht wie vor bald 40 Jahren. Dann werden die Pinsel klagen und die Hochmögenden auf « Ebenda, S. 32. »3 Schulte, Joh. Friedrich v., Karl Friedrich Eichhorn, Stuttgart 1884, S. 41.
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Patriotismus collectiren wie vor 1 8 1 3 ; ein russischer Winterfeldzug wird aber nicht gerade auf dem Markte feil sein". 14 Eichhorn war reaktionär gegenüber allen, die durch eine bürgerliche Revolution den verjährten feudalen Plunder hinwegfegen wollten, er war fortschrittlich gegenüber denen, die selbst dagegen waren, Staat und Recht langsam und vorsichtig weiterzuentwickeln. Mehr als einmal hatte sich Eichhorn gegen die Revolution, mehr als einmal aber auch für die Abstellung von Mißbräuchen von oben her ausgesprochen. Eichhorn war weder preußisch-antideutsch, noch deutsch-antipreußisch, er war wederdeutschtümelnd romantisch noch bürgerlich-liberal. Nicht all und jeden Fortschritt wollten Eichhorn und Savigny aufhalten; wandte sich doch Eichhorn gegen diejenigen, „die nicht wissen, was sie denn eigentlich mit den gewonnenen historischen Resultaten machen sollen, so daß es kein Wunder ist, wenn die Gegner meinen, mit der historischen Schule sei die Tendenz verknüpft, daß alles nur beim Alten bleiben solle". 15 Jeglicher gewaltsame, revolutionäre, durch den Kampf des Volkes herbeigeführte Fortschritt aber war ihnen verhaßt. Sie bejahten die langsame, qualvolle, junkerlich geführte Entwicklung ihrer Zeit, sie waren auch geeignet, ihr die historische Folie zu geben. Die Berufung auf die Geschichte, die Negierung der aktiven Rolle von Staat und Recht, das war es, was die herrschende Klasse brauchte. Das war auch die Auffassung der historischen Rechtsschule. Das Hauptwerk Eichhorns ist seine vierbändige Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte. Die übrigen kleineren Schriften haben keine Bedeutung erlangt. Der im Sommer 1808 erschienene erste Band umfaßte die Periode bis 888, der zweite Band (1812) reichte bis 1272, der dritte (1819) bis 1517, der vierte (1823) endlich bis 1815. Die Bedeutung des Werkes liegt nicht in neu erschlossenen Materialien. Eichhorn hat gegenüber seinen Vorgängern keine neuen Quellen entdeckt. Sie liegt vielmehr in dem von Eichhorn behandeltet Gegenstand, in seiner Methodik. Eichhorn untersuchte einen neuen Gegenstand und, da der Gegenstand es ja vornehmlich ist, der die Wissenschaften voneinander unterscheidet, begründete damit eine neue Wissenschaft. Mit der Begründung einer selbständigen Staats- und Rechtsgeschichte stellt das Werk Eichhorns aber zugleich eine wichtige Etappe in der Herausbildung des bürgerlichen Positivismus dar. Die deutsche Staats- und Rechtsgeschichte entstand gegen die Philosophie, im Sinne der Auffassung vom gesetzmäßigen Fortschritt der Menschheit. Damit war der Weg zum bürgerlichen Rechtspositivismus vorgezeichnet. Nach der äußeren Erscheinung stellt sich das Werk Eichhorns zunächst als eine Verbindung verschiedener, bisher getrennt behandelter Erscheinungen dar. 14
Ebenda, S. 173/74, 176. Briefe Eichhorns an Savigny vom 30. 10. 1830 und 3 1 . 1. 1831. « Ein Brief Karl Friedrich Eichhorns an G. H. Pertz vom 10. 11. 1835, mitgeteilt von Bresslau, Harry, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 39, S. 371.
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Hugo hatte in seiner Geschichte des römischen Rechts als erster nach Reitemeier die einzelnen Rechtsinstitute einer Periode - innere Rechtsgeschichte oder Rechtsaltertümer genannt — zusammengestellt und mit der Darstellung der Quellen der sogenannten äußeren Rechtsgeschichte und auch einzelner Züge der politischen Entwicklung verbunden. Damit trat die Entwicklung der gewohnheitsrechtlich herausgebildeten Normen in den Vordergrund. Eichhorn hatte 1798 bei Hugo gehört. Er war damals aber, wie er später in seiner Selbstbiographie schrieb, „weit davon entfernt, daran zu denken, daß mir einst seine Vorträge das eigentliche Licht in das Verfahren beim deutschen Recht bringen würden". 1 6 Die neue gesellschaftliche Situation brachte Eichhorn dazu, das Verfahren Hugos auf die deutsche Staats- und Rechtsgeschichte anzuwenden. Er verband die von Pütter weitgehend übernommene Reichsgeschichte, also die Geschichte der Reichsverfassung, mit der bisherigen inneren und äußeren Rechtsgeschichte zu einer geschlossenen Darstellung der deutschen Staats- und Rechtsgeschichte. Am Anfang seiner Darstellung stand nicht mehr Romulus, sondern, nach einigen Seiten über die rein-germanische Zeit, Chlodwig, standen nicht mehr die zwölf Tafeln, sondern die leges barbarorum. Er selbst begründete sein Vorgehen mit den Worten: „ D a die Rechtsverfassung eines Volkes eine vorzügliche wichtige Stelle unter den Staatseinrichtungen einnimmt, so steht die Geschichte der Rechte mit der Staatsgeschichte schon in so genauer Verbindung, daß diese gar nicht dargestellt werden kann, ohne manches - aus jener aufzunehmen". 1 7 „Ohne eine genaue Kenntnis dessen, was war und der Art und Weise, wie es wurde", schreibt er an anderer Stelle über die Gegenwart, „wird es imitier immöglich sein, ihren Geist und ihr Verhältnis zu dem, was bestehen bleibt, richtig aufzufassen". 18 Die erste und wichtigste Funktion dieser synchronen Darstellung war es, gegen die aufgeklärte. Vorstellung von der hervorragenden Stellung des Gesetzgebers vorzugehen. Die bisherige Reichsgeschichte hatte notwendig die rechtssetzende Tätigkeit des Staates in den Mittelpunkt gerückt, die aktive Rolle des Staates hervorgehoben. Seit der französischen Revolution war die herrschende Klasse nicht mehr zu Veränderungen auf politischem Gebiet, und seien sie auch nur reformerischer Natur, geneigt. Der nun einmal unvermeidliche Fortschritt sollte sich so still und unscheinbar wie möglich vollziehen. Je breiterer Raum dem Gewohnheitsrecht gewidmet wurde, desto mehr konnte die rechtssetzende Tätigkeit des Staates auf allen Gebieten, nicht nur auf dem Gebiet des Privatrechts, sondern auch auf dem des Staatsrechts hinter dem Gewohnheitsrecht zurücktreten. Schulte, Joh. Friedrich v., a. a. O., S. 12. Eichhorn, Karl Friedrich, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, 3. Ausgabe, Göttingen 1821, Einleitung, S. 2. is Ebenda, Vorrede, S. III.
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Bereits Hugo hatte es als einen der gangbarsten und dann auch schädlichsten Irrtümer des Faches bezeichnet, „als ob alles in einem bestimmten Lande geltende Recht auf willkürlichen Gesetzen beruhe". 19 Ebenso wandte sich jetzt auch Eichhorn gegen den Grundsatz, „daß überhaupt alles Recht und mithin auch der Staat ein Produkt reiner Willkür sey, welche Theorie man übrigens auch über die Entstehung des Staats aufstellen mochte". 20 Dem Staat wurde bei der Gesetzgebung äußerste Zurückhaltung empfohlen. Eichhorn forderte von der Gesetzgebung, daß „sie sich auf das engste an das bestehende Recht und dessen Theorie anschloß". 21 Die Ablehnung des Berufes seiner Zeit zur Gesetzgebung, wie sie Savigny in seiner berühmten Schrift verkündete, führte auch Eichhorn die Feder. Eine ausschlaggebende Rolle spielt dabei die Tatsache, daß Eichhorn stets die Reichsverfassung an den Anfang seiner Untersuchung stellte. Das ganze Mittelalter hindurch und auch in der Neuzeit bis zum Zerfall des alten Reiches wurde dem Kaiser, dem Reich stets der erste Platz in der Analyse eingeräumt. Doch gerade diese Betonung des Reiches mußte den Zusammenhang zwischen Staat und Recht verhüllen. Das mittelalterliche Reich hatte niemals eine große Rolle in der Gesetzgebung gespielt, in der Neuzeit reduzierte sich der Einfluß des Reiches auf die Rechtsentwicklung auf ein Minimum. Je ausführlicher das Reich behandelt wurde, desto stärker mußte die rechtssetzende Rolle des Staates den Augen entschwinden. Eichhorn stellt zwar in einer Reihe von Fällen einen Zusammenhang zwischen politischen und rechtlichen Veränderungen her. So verband er die leges barbarorum mit der Gründung der Germanenstaaten, die zunehmende Rechtsdifferenzierung innerhalb der herrschenden Klasse mit der sich entwickelnden Landeshoheit, den Wirkungskreis der Feme mit dem Einflußbereich des Erzbischofs von Köln. Er unterließ es aber, den Zusammenhang zwischen der Rechtsordnung äls ganzem und dem Staat darzustellen. Damit mußte der Zwangscharakter des Rechts im Dunkeln bleiben. Eichhorn erkannte völlig zu Recht, daß im Mittelalter die feudale Zersplitterung die „Nation" in eine Menge größerer und kleinerer'„Gesellschaften" auflöste. Er zog daraus aber nicht die Schlußfolgerung, den außerökonomischen Zwang der einzelnen Feudalherren in den Mittelpunkt zu stellen, sondern beschränkte sich nach wie vor auf politischem Gebiet fast ausschließlich auf das Verhältnis von Kaiser, Papst und Fürsten. Das trifft auch auf die Darstellung der folgenden Periode zu, als der Rechtsbildungsprozeß sich in gewissem Umfang innerhalb der einzelnen deutschen Staaten zentralisierte. Je näher Eichhorn der Gegenwart kam, desto mehr verschwand die Bedeutung des Staates für die Rechtsentwicklung, bis völlig voneinander getrennte Ströme übrigblieben Die Einführung der Rechtsaltertümer in die Rechtsgeschichte war der erste Schritt für die Entwicklung einer vom Staat absehenden Rechtsgeschichte. Die Hugo, Gustav, Ritter v„ Lehrbuch des Natorrechts, a. a. O., S. 2. Eickkorn, Karl Friedrich, Deutsche Staats- u. Rechtsgeschichte, 4. Teil, Göttingen 1823, S. 709. 2» Ebenda, S. 742. 19
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Zusammenfügung von Staatsgeschichte und Rechtsgeschichte durch Eichhorn hatte diesen Prozeß ein entscheidendes Stück vorangetrieben. Nicht durch die Verbindung, sondern durch die Trennung von Staat und Recht hat also Eichhorns deutsche Staats- und Rechtsgeschichte Epoche gemacht. Deshalb kann ihn die bürgerliche Rechtsgeschichte, die den Staat längst völlig aus ihren Lehrbüchern verbannt hat, als ihren Gründer verehren, nicht ohne ihn zugleich wegen der Aufnahme der ganzen politischen Geschichte zu kritisieren. 22 Aber Eichhorn mußte mehr tun, als Hugo folgend die Vernunft vollständig und den Staat weitgehend aus der Geschichte des Rechts zu vertreiben. E s war nur dann überflüssig, das Recht auf die Vernunft zu gründen und in Gesetzbüchern der Zukunft die Wege zu weisen, wenn sich das Recht ohnehin entwickelte. Eine selbständige Entwicklung des Rechts nachzuweisen war das eigentliche Anliegen der historischen Rechtsschule. Keine Epoche war dazu besser geeignet als das Hohe Mittelalter, in dem die bewußte Rechtssetzung durch einen zentralisierten Staat kaum eine Rolle spielte. Deshalb waren die Rechtshistoriker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch besonders dieser Zeit zugewandt, während sich spätere Historiker, beispielsweise Waitz und Brunner, in der Periode der Reichsgründung mehr auf die fränkische Zeit konzentrierten. Für die Periode von 1056 bis 1272 erklärte Eichhorn, daß sich alle Teile des Rechts mehr durch Autonomie als durch geschriebene, von einer höheren Gewalt gegebene Gesetze fortbildeten. Dasselbe aber galt nach Eichhorn mehr oder minder für allé Perioden, für die Rezeption wie für Eichhorns Zeit. Überall kam es darauf an, die Gewohnheiten, die Sitten, die Verhältnisse zu untersuchen. Auf ihnen beruhte die Rechtseinheit, nicht auf der Rechtssetzung. Konnte doch für Eichhorn der Sachsenspiegel gerade deshalb weit über Eikes engere Heimat hinaus angewandt werden, weil er ,,bey der großen materiellen Einheit des unter gleichen Veranlassungen und auf gleiche Weise gebildeten deutschen Rechts auch für andere Provinzen" paßte, war doch die Rechtseinheit „durch Übereinstimmung der Sitten, Meinungen und besonders durch Einheit des Glaubens" gesichert. 23 Eine unbefangene Forschung sei notwendig, „welche in der neuesten wie in der ältesten Zeit, Ursachen und Wirkungen größtenteils nur aus den Verhältnissen zu erklären imstande ist, von welchen der einzelne beherrscht wird, während er ihnen zu gebieten glaubt und eben darum die Personen nur als Repräsentanten ihrer Zeit betrachtet". 2 4 Hatte die Geschichte den Beweis erbracht, daß das Recht nicht vom Staat gesetzt wurde, daß dieser bestenfalls der unbewußte Vollstrecker der Sitten und Verhältnisse war, so konnte es auch in der Gegenwart nur darauf ankommen, hinter den Partikularrechten das ungeschriebene gemeine deutsche Privatrecht zu finden. Diese aktuelle Schlußfolgerung, die - unbewußt — letztlich die Ursache dèr 22 Vgl. Frensdorff, Ferdinand, Das Wiedererstehen des deutschen Rechts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 29, 1908. 23 Eichhorn, Karl Friedrich, Deutsche Staats- u. Rechtsgeschichte,- 2. Teil, Göttingen 1821, S.-663, 698. " Ebenda, 4. Teil, a. a. O., S. VI.
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Konzeption war, wurde von der historischen Rechtsschule durch (Jen Mund Savignys in der Polemik gegen Thibaut auch mit allem Nachdruck ausgesprochen. Sävigny wandte sich scharf gegen dessen Forderung auf Schaffung eines einheitlichen Gesetzbuchs. Dieses Gesetzbuch konnte jetzt — 1815 — nur ein bürgerliches Gesetzbuch sein. Voraussetzung eines bürgerlichen Gesetzbuches war aber die bürgerliche Revolution. Der Kampf gegen die Revolution forderte die Ablehnung eines einheitlichen Gesetzbuches unter Berufung auf die Unreife der gesellschaftlichen Verhältnisse. „Das Recht wächst also mit dem Volke fort", erklärte Savigny; und an anderer Stelle: „Die geschichtliche Schule nimmt an, der Stoff des Rechts sei durch die gesamte Vergangenheit der Nation gegeben . . . aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen". 25 Welches waren aber denn die Verhältnisse; denen eine so große Rolle zugeschrieben wurde? Eichhorn stellte in allen Perioden gesellschaftliche Verhältnisse dar, wenn auch in abnehmendem Umfang und ohne gleichbleibende Kriterien. Da war«, teilweise unter Berufung auf Möser, die Völksgemeinde in der Urgesellschaft, da waren die Ständegliederung der Feudalgesellschaft jeweils am Anfang der Rechtsdarstellung, die Städte des Mittelalters als Mittelmacht, ja sogar die Bauern des Bauernkrieges. Aber Eichhorn war stets bestrebt, diese Verhältnisse harmonisch, widerspruchslos zu schildern; es gab keine gesetzmäßige Entwicklung, es gab vor allem keinen Klassenkampf. Die Bewegung des Volkes beispielsweise im Bauernkrieg wurde nicht ohne Sympathie geschildert. Von Erfolg war sie aber nur gekrönt, wenn Vqlk und Fürst zusammengingen. Konnte doch unter Karl „die Freiheit des Volkes neben der Macht des Regenten bestehen" 26 , wurden die Befreiungskriege doch durch „die Vereinigung, zwischen Regierung und Unterthanen" entschieden27, mußte folgerichtig von Eichhorn unter dem Eindruck der Revolution von .1830 gefordert werden, „Volk und Regierung zu einem Ganzen zu machen". 28 Das Volk wurde als sfille rechtsbefruchtende Erscheinung, als Kontrahent der Fürsten anerkannt, sogar Landstände wurden ihm zugebilligt, aber Schöpfer der Geschichte durfte es nicht sein. Nicht der Klassenkampf, sondern die Klassenharmonie sollte die Geschichte bestimmen. Nicht als Instrument der herrschenden Klasse sollte das Recht gelten, sondern als Produkt sich im wesentlichen widerspruchslos entwickelnder Verhältnisse, nur formuliert von den Juristen. Eichhorn sah Widersprüche erst dann im geschichtlichen Ablauf, wenn eine Erscheinung historisch überlebt war. Die einzelnen Widersprüche wurden nicht als Ausdruck eines Grundwiderspruchs erkannt, sondern für sich genommen 25
Savigny, Friedrich Karlv., Vermischte Schriften, Bd. 1, Berlin 1850, S. 113. Eichhorn, Karl Friedrich, Deutsche Staats- u. Rechtsgeschichte, 1. Teil, 3. Ausgabe, a. a. O., S. 312. In der ersten Ausgabe war noch von Freiheit des Untertanen die Rede. « Ebenda, 4. Teil, a. a. O., S. 688. 28 Schulte, Joh. Friedrich v., a. a. O., S. 172, Eichhorns Brief an Savigny vom 30. 10. 1830.
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negativ bewertet, wie die Fehde, die man „nicht als eine Eigenheit des Feudalsystems betrachten" dürfe 29 , oder die Verwandlung des Adels aus einem durch die Natur der Verhältnisse gebildeten Stand in eine privilegierte Klasse im Zeitalter des Absolutismus.30 Eichhorn schwärmt - und das unterscheidet ihn von den Romantikern — nicht vom Mittelalter. Die Berufung auf das Volk ist bei ihm keine bloß reaktionäre Deutschtümelei. Wenn er Staat und Recht mit sozialen Verhältnissen in Verbindung bringt, so will er damit nicht einer Rückkehr zu patriarchalischen mittelalterlichen Verhältnissen das Wort reden. Die Berufung auf die Geschichte trägt bei ihm nicht das Stigma des extrem Reaktionären wie bei den Haller, Stahl und vielen späteren Germanisten. Aber sie führt auch nicht vorwärts. Wird die Philosophie im Sinne der Auffassung vom gesetzmäßigen Fortschritt der Menschheit aus der Geschichte vertrieben, so bleibt ein chaotischer Tatsachenbrei, bleibt eine widerspruchslose Gesamtheit von Erscheinungen ohne wirkliche inhaltliche Struktur, ohne innere Gesetzmäßigkeit, ohne Fortschritt. Wird aber die Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung geleugnet, so kann eine Untersuchung der Beziehungen der sozialen Verhältnisse zu Staat und Recht niemals den Klassencharakter von Staat und Recht aufdecken. Der materialistische Anstrich einer solchen Darstellung — um mit Franz Mehring zu sprechen — läuft letztlich nur auf eine Apologie der brutalen Tatsachen gegenüber den abstrakten Illusionen der Liberalen hinaus.31 Die wirkliche historische Rolle von Staat und Recht konnte diese Auffassung ebensowenig aufdecken wie einst die Aufklärung. Was die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit der Geschichte betrifft, so bedeutete sie einen Schritt zurück. 1882 kritisierte Engels gegenüber Marx an dem—Eichhorn an historischer Einsicht weit überragenden — Münchener Historiker Georg Ludwig von Maurer einen „Rest juristischer Befangenheit, die ihm jedesmal in den Weg tritt, wenn es sich um das Verständnis einer Entwicklung handelt", die viel zu geringe „Berücksichtigung der Gewalt und ihrer Rolle", alles in allem genommen sein Unvermögen, nicht nur „den antagonistischen Charakter des wirklichen Fortschritts zu sehn, sondern auch die einzelnen Rückschläge". 32 Gerade das gilt auch und noch ungleich stärker für Eichhorn. Er sah nicht, wie Karls des Großen Heeresverfassung, ja sein ganzer Staat den Feudalisierungsprozeß vorantrieben, nicht durch Mißbräuche, sondern kraft der objektiven Gesetzmäßigkeit, wie die Gesetze der Hohenstaufen die Landeshoheit wider den Willen der Kaiser entwickelten und entwickeln mußten, wie auch in Deutschland der Absolutismus, aller Verkrüppelung ungeachtet, eine Zeitlang eine progressive 2«
Eichhorn, Karl Friedrich, Deutsche Staats- u. Rechtsgeschichte, 3. Teil, Göt- . tingen 1821, S. 288. 3« Ebenda, 4. Teil, a. a. O., S. 482. 31 Vgl. Mehring, Franz, Über den historischen Materialismus, Berlin 1952, S. 438. und den dort zitierten Engelsbrief. 32 Marx/Engels, Briefwechsel, Bd. 4, Berlin 1950, S. 692. Engels an Marx am 15. 12. 1882.
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Rolle spielte, die Weiterentwicklung der Produktionsverhältnisse aktiv förderte. Die komplizierten Wechselwirkungen zwischen Basis, Staat und Recht stellen sich bei Eichhorn unter weitgehender Ausschaltung des Staates als bloß mechanische Kausalität zwischen den sozialen Verhältnissen und dem Recht dar. Die gesellschaftliche Grundlage des Rechts ist die Basis in ihren Widersprüchen, ist die historische Gesetzmäßigkeit. Die Aufdeckung der historischen Gesetzmäßigkeit aber wurde von der historischen Rechtsschule durch eine Darstellung im wesentlichen widerspruchsloser gesellschaftlicher Verhältnisse ersetzt. Gerade weil die Wechselwirkung zwischen Basis und überbau von der historischen Rechtsschule nicht begriffen wurde und nicht begriffen werden konnte, gerade deshalb konnten die späteren bürgerlichen Rechtswissenschaftler die sozialen Verhältnisse ohne allzugroße Schwierigkeiten aus der Darstellung entfernen und damit die Herausbildung des bürgerlichen Rechtspositivismus vollenden. Die historische Rechtsschule deckte die Widersprüche der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Widersprüche zwischen Gesellschaft und Staat nicht auf, sondern verkleisterte sie. Indem sie der Philbsophie als Verständiiis der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung den Rücken kehrte, schloß sie nur scheinbar ein Bündnis mit der Geschichte, war es doch ein Bündnis mit einer Geschichte, die der Gesetzmäßigkeit beraubt war. Savigny hatte die Behauptung aufgestellt, daß die „Ansicht, nach welcher die ganze Rechtswissenschaft selbst nichts anderes ist ajs Rechtsgeschichte", die würdigste sei, „die für unsere Wissenschaft gefaßt werden kann". 33 Tatsächlich aber schloß die historische Rechtsschule das Bündnis von Geschichts- und Rechtswissenschaft auf dem Boden der Metaphysik, das heißt letztlich der Geschichtslosigkeit, und tat damit den entscheidenden Schritt zur Herausbildung einer selbständigen,von den gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten isolierten, auf die bloße Darstellung und Verherrlichung des positiven Rechts beschränkten bürgerlichen Rechtswissenschaft. Das letzte Wort der bürgerlichen Philosophie zur historischen Rechtsschule sprach Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Er warf Hugo vor, daß er das äußerliche Entstehen mit dem Entstehen aus dem Begriffe verwechsele und erklärte, daß einer gebildeten Nation kein größerer Schimpf angetan werden konnte, als ihr die Fähigkeit zur Gesetzgebung abzusprechen. Er deckte den Positivismus der historischen Rechtsschule auf. Indem die Gesetze positiv seien, seien sie auch vergänglich. Es sei die wahrhaft historische Ansicht und zugleich der echt philosophische Standpunkt, „die Gesetzgebung überhaupt und ihre besonderen Bestimmungen nicht isoliert und abstrakt zu betrachten, sondern vielmehr als abhängiges Moment einer Totalität". 34 Diese Totalität war aber nicht die Summe der harmonischen „Verhältnisse", der Volksgeist der historischen Schule, sie war eine Einheit von Widersprüchen. Hegel hat die Widersprüche in der bürgerlichen Gesellschaft geahnt. Er hat darüber hinaus den Widerspruch zwischen dieser bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat, Karl v., Vermischte Schriften, B d . 5, Berlin 1850, S. 1 1 .
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Savigny, Friedrich
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich,
Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v .
Johannes Hoffmeister, 4. A u f l a g e , Berlin 1956, S. 22.
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zwischen dem bürgerlichen und dem politischen Leben gesehen und zugleich den Zusammenhang zwischen der abstrakten bürgerlichen-Persönlichkeit und dem formellen Recht gezeigt. „Das Tiefere bei Hegel liegt darin, daß er die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft und der politischen als einen Widerspruch empfindet. Aber das Falsche ist, daß er sich mit dem Schein dieser Auflösung begnügt" schrieb der junge Marx in seiner Kritik des Hegeischen Staatsrechts 1843.35 Die wirkliche Lösung dieses Widerspruchs konnte nur von der Position der revolutionären Arbeiterklasse aus erfolgen. Nur auf ihrem Boden konnte auch das Erbe der deutschen bürgerlichen Wissenschaft fruchtbar werden. Dabei stellte sich Marx vor allem und in erster Linie die Aufgabe der Kritik, der Aufhebung der tiefsten bürgerlichen Philosophie in Gestalt der Hegeischen Staatsund Rechtsphilosophie. Die historische Rechtsschule kennzeichnete er durch ihre politische Qualifikation als „eine Schule, welche die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert".38 Einer theoretischen Widerlegung hielt er sie nicht für wert. Sie war theoretisch bereits auf bürgerlichem Boden überwunden. Das hinderte Marx! und Engels nicht, später, nach der Begründung des historischen Materialismus, Ergebnisse der Nachfahren dieser Schule zu verwenden. Hatte Marx es 1844 abgelehnt, die deutsche Freiheitsgeschichte in den Urwäldern zu finden: „Wodurch unterscheidet sich aber unsere Freiheitsgeschichte von der Freiheitsgeschichte des Ebers, wenn sie nur in den Wäldern zu finden ist?" 37 , so schrieb er 25 Jahre später an Engels, daß die erste Reaktion auf die Aufklärung gewesen sei, alles mittelaltrig, romantisch zu sehen, die zweite Reaktion aber sei, „und sie entspricht der sozialistischen Richtung, obgleich jene Gelehrten keine Ahnung haben, daß sie damit zusammenhängen, über das Mittelalter hinaus in die Urzeit j eden Volks zu sehn. Da sind sie dann überrascht, im Ältesten das Neuste zu finden".38 Die historische Rechtsschule hat trotz ihrer antirevolutionären Zielsetzung gerade wegen ihres materialistischen „Anstrichs" wie jede echte wissenschaftliche Bewegung Beiträge geleistet für den Erkenntnisschatz der Menschheit, Beiträge freilich, die erst fruchtbar wurden, als Marx und Engels im dialektischen Materialismus alle bisherige Philosophie revolutionär aufhoben. Jetzt konnten sie, die einst die Quellenliebhaberei der historischen Rechtsschule mit den Worten verhöhnt hatten, „daß sie dem Schiffer anmutet, nicht auf dem Strome, sondern auf seiner Quelle zu fahren"39, auch Ergebnisse der Nachfahren dieser Schule 35
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Marx, Karl, Aus der Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: Marx¡Engels, Werke, Bd. 1, a. a. O., S. 279. Marx, Karl, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 1, a. a. O., S. 380. Ebenda. Marx/Engels, Briefwechsel, Bd. 4, a. a. O., S. 40. Marx an Engels am 25. 3. 1868. Marx, Karl, Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, a. a. O., S. 78. - Vgl. auch Heine, Heinrich, Die Romantische Schule: „Die Schule schwamm mit dem Strom der Zeit, nämlich mit dem Strom, der nach seiner Quelle zurückströmte."
K. F. Eichhorn und die historische Rechtsschule
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verwenden, um in ihren gewaltigen historischen Arbeiten Staat und Recht in den echten, den wirklichen sozialen Zusammenhang zu stellen. Der bürgerlichen Rechtsgeschichte aber blieb es vorbehalten, den in der historischen Rechtsschule bereits angekündigten Positivismus immer weiter zu entfalten. Eichhorn sah die Legitimation des Rechts in seiner geschichtlichen Entstehung, nicht in seiner Beziehung zur historischen Gesetzmäßigkeit, dem einzigen echten Kriterium. Diese „historische" Begründung , mußte nicht immer und unter allen Umständen reaktionär sein. Savigny hat mit seinenUntersuchungen über das klassische römische Recht entscheidend dazu beigetragen, das Gemisch von feudalisiertem römischem Recht, örtlichem Gewohnheitsrecht, Provinzialrecht und neueren Gesetzen und Verordnungen, das unter dem Namen usus modernus pandectarum die Gerichtshöfe beherrschte, zurückzudrängen. Aber die Methodik der historischen Rechtsschule schloß jede wahrhaft wissenschaftliche Aussage über das Recht aus. Die Geschichte wurde mehr und mehr zu einem Reservoir von Rechtsvorschriften, deren Anwendung für die Gegenwart gefordert wurde, wobei die Germanisten, regelmäßig auf junkerliche Interessen gestützt, sich der deutschen, die Romanisten sich der römischen Rechtsgeschichte zuwandten. In den Auseinandersetzungen beider Schulen trat dabei oft ein - bei Eichhorn noch nicht zu verzeichnender übler Chauvinismus der Germanisten zutage. Auch diese, kaum historisch zu nennende Methodik der Rechtswissenschaft fand aber mit den Kodifikationen des Kaiserreiches ihr Ende. Jetzt, da die rechtsschöpfende Rolle der Wissenschaft beendet war, begnügte sie sich damit, die bestehenden Gesetze positivistisch zu erläutern. Die Rechtsgeschichte wurde immer mehr zur reinen Institutionengeschichte, ging der gesellschaftlichen Wirksamkeit immer mehr verlustig. Die ohnehin recht unbestimmten Aussagen über die sozialen Verhältnisse waren von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer bedeutungsloser geworden. Das Volk verschwand fast gänzlich aus der Rechtsgeschichte. Hatte Waitz in seiner Verfassungsgeschichte der Lage der Bauern nicht weniger als 122 Seiten gewidmet, verwandte Schröder für diesen Zweck immerhin noch 22 Seiten, so finden sich bei Mitteis in seinem „Staat des Hohen Mittelalters" ganze 3 Sätze. Der Weg der historischen Rechtsschule hatte zu einer Rechtswissenschaft ohne Geschichte geführt. Ihr entsprach eine Geschichtswissenschaft ohne Recht. Dieser Widerspruch ist nicht auf dem Boden der historischen Rechtsschule, die ihn erzeugte, zu überwinden. Er kann nur auf dem Boden des dialektischen Materialismus aufgehoben werden. Die Rechtswissenschaft ist durch die Babelsberger Konferenz des Jahres 1958 einen wesentlichen Schritt vorwärts auf dem Wege der Überwindung des Positivismus geführt worden. Die marxistische Geschichtswissenschaft braucht echte Untersuchungen der Rolle von Staat und Recht über die Darstellung einzelner politischer Aktionen und einzelner Gesetze hinaus. Nur der dialektische Materialismus gibt die Möglichkeit einer wirklichen Staatsund Rechtsgeschichte als Teil sowohl der Geschichts- als auch der Rechtswissenschaft. Zur Wirklichkeit kann sie nur durch die vereinte Kraft der Historiker und Juristen werden.
Friedrich Christoph Schlosser Gerhard Schilfert
Friedrich Christoph Schlosser war in seiner Zeit als Historiker einer der bedeutendsten politischen Erzieher seines Volkes. Schlosser, der in der Frühzeit seines Wirkens einen äußerst großen Einfluß gerade auch auf die politisch aktivsten Vorkämpfer des Vormärz hatte, war später, nachdem in der Revolution von 1848 das Bürgertum seine Aufgabe verraten hatte, fast vergessen und wurde, ähnlich wie Hegel, als ein „toter Hund" betrachtet. Nur wenige Männer, wie zum Beispiel sein Schüler Gervinus, der im Jahre 1861 einen heftig angefeindeten Nekrolog auf ihn verfaßte, hielten ihm die Treue. Zumeist waren es solche Persönlichkeiten, die — ähnlich wie auch andere fortschrittliche bürgerliche Politiker gleich Schlosser die Fahne der bürgerlichen Demokratie hochhielten. Schlosser war von den besten Gedanken der Aufklärung erfaßt und führte ihre Traditionen im 19. Jahrhundert in einer Welt der zunehmenden Verständnislosigkeit gegenüber der Aufklärung fort. Er setzte sich von vornherein das Ziel, die Geschichte in gesinnungsbildender Absicht zu betreiben. Mit seiner geschichtlichen Darstellung wollte Schlosser eine Anleitung zum Handeln im Sinne des bürgerlichen Fortschritts geben, und zwar nicht im Sinne einer bestimmten bürgerlichen Parteirichtung, sondern im Interesse des Bürgertums insgesamt, im Interesse der Durchsetzung seiner Kampfziele gegen das Feudalsystem. Schlosser war einer der wichtigsten Vorkämpfer des fortschrittlichen Bürgertums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für diese neue Art geschichtlicher Bildung, mit der er den Emanzipationskampf des Bürgertums nachdrücklich unteistützcn wollte. Friedrich Christoph Schlosser wurde am 17. November 1776 zu Jever in Oldenburg geboren. Er hatte eine sehr schwere Jugend, sein Vater, der früh starb, hatte durch eigene Schuld seine Familie vernachlässigt, so daß bei dieser die Not zu Hause war. In seiner Vaterstadt lernte er schon früh die furchtbaren Schäden des absolutistischen Regimes kennen, das auf dem deutschen Volke lastete. So war seine Heimatstadt ein Hauptwerbeplatz für den schändlichen Soldatenverkauf der deutschen Fürsten. Schlosser schildert selbst in seiner Autobiographie, welche Eindrücke er von den Soldaten gewann, die von solchen deutschen Despoten wie dem Fürsten von Anhalt-Zerbst und dem Landgraf von Hessen an die Engländer verschachert worden waren, um gegen die nordamerikanischen Freiheitskämpfer eingesetzt zu werden. Als Schüler der lateinischen Schule in Jever, die er bis zum Abschluß besuchte,
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fiel er durch seinen Lerneifer auf, der sich zur Stüdierwut steigerte, von der er selbst sagt, „daß sie eine Art Krankheit sei". 1 Bereits in seiner Knabenzeit versuchte er sich eine große Bildung zu verschaffen. Wie er selbst meint, wurden „alle Produkte unserer damals erst recht aufblühenden Literatur von mir verschlungen". 2 Eine besondere Vorliebe hatte er bereits damals für die Schriften des großen deutschen Aufklärers Lessing. Vor allem an seinem Beispiel lernte Schlosser schon früh die Bedeutung der fortschrittlichen Literatur als politische Waffe kennen. 1794 bezog er die Universität Göttingen als begeisterter Jünger der Wissenschaft: „Von Wissenschaft hatte ich" - so äußert er sich selbst „einen ungeheuren Begriff". 3 Schlosser hat den Einfluß, den die Göttinger Schule der Historiker auf ihn ausübte, geringer veranschlagt, als er tatsächlich gewesen ist, wie aus seinem späteren Schaffen hervorgeht. Zwar studierte er in der Hauptsache Theologie, weil er zunächst die Absicht hatte, Landprediger zu werden. Er empfing jedoch in Göttingen auch wesentliche Anregungen im Sinne der spätaufklärerischen Geschichtsauffassung. Charakteristisch für den Freiheitsdrang Schlossers ist der Grund, den er für seine Berufswahl angab. Er glaubte nämlich, daß er in dem Beruf als Landpfarrer am wenigsten „von der Gunst der Regierenden oder des Publikums abhänge". Während seines Studiums und seiner Hauslehrerzeit beschäftigte Schlosser sich mit den wichtigsten antiken Autoren und der neueren idealistischen deutschen Philosophie, insbesondere mit den Philosophen seit Leibniz sowie mit den französischen Aufklärungsphilosophen. Die stärksten Eindrücke empfing er von Voltaire. Die Wirkungen, die diese Denker auf ihn ausübten, formten vor allem seine aufklärerische Grundgesinnung. Besonders bezeugen dies seine Stellung zur Kantschen Ethik und seine Bevorzugung kultur- und besonders literaturgeschichtlicher Momente. Für die fortschrittlichste Fraktion der französischen Aufklärungsphilosophen, . die Materialisten, hatte er kein rechtes Verständnis, desgleichen auch nicht für die ökonomischen Momente in der historischen Tätigkeit Heerens uud seiner Schüler. Die Methoden der klassischen Philologie eines Heyne und anderer, die solche Männer wie Niebuhr und Pertz zu der Ausarbeitung von Grundsätzen der kritisch-philologischen Methode für die Geschichtswissenschaft anregten, scheint er ebenfalls wenig beachtet zu haben. Zeit seines Lebens blieb das Handwerklich-Formale die schwache Seite seirjer Geschichtsschreibung, die seinen Gegnern immer wieder Angriffspunkte bot. Nach Beendigung seines dreijährigen Theologiestudiums in Göttingen wurde er zunächst Hauslehrer beziehungsweise Schullehrer in Frankfurt und in Jever. In Frankfurt wurde er von dem Primas des Rheinbundes, Dalberg, 1S12 zum Pro1
2 3 4
Schlosser, F. Chr., Selbstbiographie, Historiker, Leipzig 1876, S. 28. Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 13.
in:
Weber, Georg,
F. Chr. Schlosser,
der
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fessor für Geschichte und Philosophie am neuenichteten Lyzeum ernannt. 1819 wurde er nach Heidelberg berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung als Professor für Geschichte tätig war und nach mannigfachen Auszeichnungen am 23. September 1861 starb. . In der ersten Periode seines Wirkens macht sich der Einfluß der Theologie freilich einer stark aufgeklärten, insbesondere an der Kantschen Religionsauffassung orientierten — in seinem Schaffen überwiegend bemerkbar. So waren seine ersten beiden Werke über Abälard und Dulcin (Gotha 1807) und das Leben des Theodor von Beza und des Petrus Martyr Vermili (Heidelberg 1809) Abhandlungen, die sich vornehmlich mit kirchengeschichtlichen Fragen, aber mit durchaus progressiver Zielsetzung, beschäftigen. Ähnlich wie Kant maß Schlosser der Religion in diesen Arbeiten nur insoweit einen Wert bei, als sie. die Menschen moralisch zu bessern vermag. 1 8 1 2 gab er eine „Geschichte der bilderstürmenden Kaiser des Oströmischen Reiches" heraus. Großes Ansehen erwarb sich Schlosser auch durch seine „Weltgeschichte in zusammenhängender Erzählung" (Frankfurt am Main 1817—1824), die in neun Bänden erschien. Das bedeutendste und für Schlossers Entwicklung und Auffassimg am meisten charakteristische Werk ist die „Geschichte des 18. Jahrhunderts". 5 Dfer äußere Anlaß zur Behandlung dieses Themas ergab sich-aus der Tatsache, daß Schlosser nach seiner Berufung nach Heidelberg im Jahre 1 8 1 7 eine entsprechende Vorlesung vorbereiten mußte. Der tiefere Impuls jedoch,'dem er dabei folgte, war sein fester Wille, mit diesem Werk einen Beitrag zur Bekämpfung des Feudalismus und Absolutismus und zur bürgerlichen Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse zu leisten. Als bewußter Streiter für eine bessere Zukunft wandte sich Schlosser schon in der Einleitung dieses Werkes gegen jegliche Art von „Abstandstheorie": „ . . . W e r aber zu weit hinter ihr (Schlosser meinte die neuere Geschichte - G. S.) geht, verliert sie aus dem Gesicht, und geht selbst verloren: Wer sich in mittlerer Entfernung hält, von dem weiß ich nicht, ob ich seinen Gang Mäßigimg oder niedere Feigheit nennen soll". 6 Schlosser hielt sich nie in mittlerer Entfernung. Ihm war als Wortführer des um nationale Einheit und politische Mitbestimmung kämpfenden Bürgertums jegliches „Pathos der Distanz" sittlich verdächtig. Schlosser wußte wohl, daß die Kenntnis der politischen Auseinandersetzungen in der Gegenwart den Blick für die Einschätzung des Vergangenen schärft. E r „hielt es für die Pflicht jedes Unbefangenen", seine Stimme zu erheben.7 Während Schlosser die verlotterte Fürstenwirtschaft des vorrevolutionären Frankreich anprangerte, verurteilte er gleichzeitig den gegenwärtigen Zustand in Deutschland und stellte diesem die französische Revolution von 1789 und ihre 5
(i
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Schlosser, F. Chr., Geschichte des 18. Jahrhunderts, 2 Bde., 1. Aufl., Heidelberg 1823. Schlosser, F. Chr., Geschichte des 18. Jahrhunderts und des 19. bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs. Mit besonderer Rücksicht auf geistige Bildung, Bd. 1, 4. Aufl., Heidelberg 1853, Einleitung, S. 4. Vgl. G. G. Gervinus' Leben. Von ihm selbst. 1860, Leipzig 1893, S. 194.
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Ergebnisse gegenüber. Er befürwortete die französische Revolution und schrieb über die erste französische Verfassung, daß Frankreich ihr „die Gleichheit und die meisten der Wohltaten danke, um derentwillen die Enkel die Revolution einst segnen würden". 8 Mit aller Schärfe wandte sich Schlosser gegen die reaktionären beziehungsweise antirevolutionären Strömungen in Deutschland und Europa. So bezeichnete er das Buch des reaktionären englischen Politikers Burke „Betrachtungen über die Revolution in Frankreich" als ein „Evangelium aller Leute, denen jede Neuerung unbequem und alles Fortschreiten mit derZeit verhaßt ist". 9 In der gleichen Gesinnung verurteilte Schlosser auch die Koalitionskriege der konterrevolutionären Mächte, die er die „elenden und ohnmächtigen Konspirationen" 10 der absoluten Fürsten nennt. Diese Beispiele zeigen, daß sich Schlosser des antihumanistischen Charakters der Konterrevolution bewußt war. Nicht zuletzt diese entschiedene Parteinahme gegen alles Rückschrittliche zog Schlosser auch die Abneigung, ja den Haß der Romantiker zu. Schlosser ging im Einklang mit den Notwendigkeiten der nationalen Entwicklung und den Bestrebungen des fortschrittlichen Bürgertums unbarmherzig mit denen ins Gericht, die, wie Burke, „für alles aus dem Mittelalter Uberlieferte oder später von der Geistlichkeit und dem Adel Usurpierte" 11 eintreten. Schlossers Schärfe des Urteils erklärt sich vqr allem daraus, daß er empfand, wie sehr dieser feudale Unrat die Luft in Deutschland vergiftete. Er fühlte, daß dieser Zustand politisch-moralisch untragbar war und daß es deshalb nicht nur die politische, sondern auch die sittliche Pflicht eines jeden Patrioten war, mit den Überresten des Feudalismus aufzuräumen. So ist am Beispiel Schlossers der Zusammenhang politischer und moralischer Kategorien in der Geschichtsschreibung besonders deutlich zu machen, da bei ihm am klarsten von allen fortschrittlichen bürgerlichen Historikern in Erscheinung tritt, welche — gerade auch ethische — Berechtigung die deutsche Revolution hat, die die sozialen und nationalen Aufgaben löst, wie sie die Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt hat. Der zweiten Auflage dieses Werkes, die unter dem Titel „Geschichte des 18. Jahrhunderts und des 19. bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs" ebenfalls in Heidelberg in sechs Bänden herauskam, folgten zu Lebzeiten des Verfassers noch zwei weitere Auflagen. Nach seinem Tode erlebte diese Darstellung, in der Schlosser bis zuletzt einen konsequent antifeudalen Standpunkt vertrat, sogar noch eine fünfte Auflage 12 , eine Tatsache, die für die große Beliebtheit Schlossers zeugt, um die er vielfach beneidet wurde. Selbst reaktionäre Historiker wie Georg Ebenda, S. 195. Schlosser, F. Chr., Geschichte des 18. Jahrhunderts . . ., Bd. 5, 4. Aufl., Heidelberg 1856, S. 9910 Ebenda, S. 100, vgl. auch S. 321 ff. 1 1 Ebenda, S. 100. « 3. Aufl., Heidelberg 1854«.; 4. Aufl., Heidelberg 1853-1857; 5. Aufl., Heidelberg 8
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1864-1866 i n 8 B d n .
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von Below müssen zugeben, daB man damals Schlosser „unendlich viel höher stellte" als Ranke.» Auch seine „Weltgeschichte für das deutsche Volk", erschienen in Frankfurt/Main 1844-36 in 18 Bänden, und insbesondere sein „Dante" (Leipzig 1855) verschafften Schlosser ein großes Ansehen. Es ist symptomatisch für Schlossers Auffassung und sein Wirken, daß ihm Dante, dieses große bürgerliche Genie am Vorabend der Renaissance, stets ein Vorbild war und daß die Beschäftigung mit dem Schaffen dieses Mannes sein ganzes Leben durchzog. Vor allem stellte Schlosser solche großen Persönlichkeiten, die im Sinne der Weiterentwicklung handelten und für den Fortschritt und gegen das Alte, Überlebte kämpften, als Vorbilder auch für die Jugend hin, deren Bildung ihm besonders am Herzen lag. Schlosser war durchaus davon überzeugt, daß die Entwicklung der Gesellschaft sich in Richtung auf einen moralischer Fortschritt bewegt, nicht zuletzt durch hervorragende Männer. Die Wirkung solcher führenden Persönlichkeiten, auf deren Tätigkeit er besonders liebevoll eingeht, wie Pombai in Portugal oder Leibniz und Lessing, im frühen Mittelalter Abälard, wird von ihm durchaus nicht überschätzt, wie dies bei Droysen und Treitschke geschieht. Im Gegenteil, er erkennt durchaus, daß die große Einzelpersönlichkeit nur im Zusammenhang mit den Volksmassen eine bedeutende Rolle spielen kann. So sagt er in seiner Geschichte des 18. Jahrhunderts, „daß es ein Irrtum ist, wenn ein Sterblicher, wäre er auch der Größte, sich einbildet, er könne das Leben des Volkes, die Richtung seiner Industrie, die Art und Weise seiner Gewerbe leiten und lenken; wie er die Einrichtungen und die Bewegungen seines Heeres zu crdnen gewohnt ist.. Besondere Töne der Begeisterung findet Schlosser dort, wo er, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Beschreibung der Besetzung Venedigs durch die Truppen der französischen Revolution, auf die „junge und frische Kraft eines neu belebten Volkes" zu sprechen kommt, der „die verdorbene und erstarrte egoistische und kleinliche Regierung und die Aristokratie, aus der sie entsprang"i5, nicht gewachsen war. Den fortschrittlich-revolutionären Bewegungen, vor allem des frühen Mittelalters und des 18. und 19. Jahrhunderts, wohnten nach Schlosser eine nie versiegende Kraft und moralische Überlegenheit inne. Diese sind für ihn unaufhaltsam, unbezwingbar und geben der Geschichte letztlich ihr Gepräge. In dieser Auffassung zeigt sich besonders der Optimismus Schlossers, dem die pessimi13
Belou), Georg v., Die deutsche Geschichtsschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen, 2. wesentlich erweiterte Aufl., München und Berlin 1924, S. 41. (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, hg. von Below und Fr. Meinecke, Abt. I.)
Schlosser, F. Chr., Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs, Bd. 2, 5. Aufl., Neue Ausgabe, Berlin 1879, S. 243. (Im folgenden wird als „Geschichte des 18. Jahrhunderts" stets diese Ausgabe zitiert.) »5 Ebenda, Bd. 6, S. 24.
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stische Geschichtsbetrachtung weiter Teile des Bürgertums nach 1849 stets fremd blieb. Er ist überzeugt davon, daß das Bürgertum, „die Männer des dritten Standes moralische Übermacht besitzen" 16 , und daß sich dieses schließlich durchsetzen wird. So sehr Schlosser in dem Kampf zwischen dem Alten and Absterbenden und dem Neuen, Vorwärtsdrängenden in der Geschichte zugunsten des Zweiten Partei ergreift, so wenig ist er jedoch infolge seines abstrakten, von der Kantschen Philosophie stark beeinflußten Standpunktes dazu in der Lage, seiner Geschichtsbetrachtung die wirklichen sozialen Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe zugrunde zu legen. Er bringt deshalb auch die sittlichen Impulse des geschichtlichen Handelns nicht in Zusammenhang mit den „materiell motivierten Bestimmungen des Willens" 17 der Bourgeoisie, wie zum Beispiel denen des portugiesischen Bürgertums in der Zeit der Hauptwirksamkeit des aufklärerischen Reformers Pombai, sondern mit angeblich ewigen moralischen Ideen. So verwandelt er diese Impulse — ähnlich wie Kant - in unbedingte, von der Zeit und den gegebenen Verhältnissen unabhängige ethische Postulate. Auf diese Weise verwickelte er sich gerade bei der Darstellung der Durchführung der Reformen Pombals in unlösliche Widersprüche. Auf der einen Seite sieht er durchaus die historische Notwendigkeit und fortschrittliche Bedeutung der Maßnahmen dieses Staatsmannes, auf der anderen Seite glaubt er Pombai aber tadeln zu müssen, weil er gegen die Verfechter der extremsten Reaktion, gegen die Jesuiten, die Schlosser an sich als Träger aller rückschrittlichen und dunklen Tendenzen besonders verhaßt waren, nicht so vorgegangen sei, wie es den „Geboten der Moral" entspräche. Hier zeigt sich auch, wie weltfremd Schlossers abstrakter Rigorismus wirken mußte, zumal er in keiner Weise darauf eingeht, ob es überhaupt möglich war, gegen die Jesuiten nur mit „moralischen" Mitteln vorzugehen. Auf der anderen Seite darf man jedoch nicht vergessen, daß Schlossers Grundüberzeugung, daß „das allmähliche Fortschreiten (Schlosser meint das der Menschheit - G. S.), das Abstreifen der tierischen Hülle, die wahre Seligkeit auf Erden macht" 1 8 , eine scharfe, gerade zu seiner Zeit im Kampf des fortschrittlichen Bürgertums gegen die Reaktion im Vormärz äußerst wirkungsvolle Verurteilung aller Mächte der Finsternis und des Rückschritts in sich schloß. Diese ihrem Inhalt nach ausgesprochen antifeudale Ausübung des Historikerberufs als eines Richteramtes durch Schlosser war der Ausdruck einer konsequenten bürgerlichen Haltung. Schlossers politisches Ethos zielte vor allem darauf ab, den bürgerlichen Mittelstand zu einem kämpferischen Verhalten gegen die feudale Gesellschaftsordnung und ihre Überreste in seiner Gegenwart anzufeuern. Er war ein Rufer zur politischen Aktion gegen den Feudalismus und seine Stützen in Thron und Altar. «« Ebenda, Bd. 5, S. 29. 17 Marx/Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 178. 18 Schlosser, F. Chr., Geschichte des 18. Jahrhunderts, Bd. 2, a. a. O., S. 444.
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Seine Kompromißlosigkeit gegenüber höfischen Verlockungen und seine ganz und gar dem Adel abgeneigte Gesinnung übten einen kräftigenden Einfluß auf die Haltung des Bürgertums aus. Ganz im Gegensatz zu Ranke und seiner Schule schloß er nie einen Kompromiß mit den herrschenden Gewalten, so sehr er auch im einzelnen manche Beziehungen zu Angehörigen der herrschenden Klasse unterhielt, wie zu der Großherzogin Stephanie v. Baden, äer Stiefnichte Napoleons I. In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde Schlosser selbst in den rechtsliberalen Kreisen des Bürgertums mehr geschätzt als Ranke, den man als einen Verteidiger der Restaurationspolitik und der Vormacht der alten herrschenden Klassen ansah. Schlosser selbst verhielt sich abweisend gegenüber der „diplomatischen" und „archivalischen" Geschichtsschreibung der Rankeschen Schule. Schlosser sah Rankes Ansichten, wie er sie besonders im Vorwort seiner „Geschichte der romanischen und germanischen Völker" niedergelegt hatte, als „Verneinung des Zwecks der eigenen historischen Studien" 19 an, und zwar auch dort, wo dieser die Prinzipien der formalen Quellenkritik entwickelte, die die unerläßliche handwerklich-technische Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Geschichtsschreibung waren. Für die fortschrittliche deutsche Geschichtsschreibung und ihre historische Geltung war es verhängnisvoll, daß Ranke, ein Mann des gesellschaftlichen Rückschritts,, die kritisch-philologische Methode zur Vollendung brachte und nicht Schlosser, der Vertreter der progressiven Auffassungen. Nicht zuletzt dadurch, daß Schlosser diese Methode unbeachtet ließ, wurde die fortschrittliche bürgerliche Historie mit dem Makel der unmethodischen Willkür behaftet. Sie verlor deshalb auch an Autorität gegenüber Ranke und den konservativen und reaktionären Geschichtsschreibern, die sich auf ihn beriefen, ganz zu schweigen davon, daß ihre inhaltlich-methodologische Grundlage auch durch die Ausarbeitung der materialistischen Geschichtsauffassung das Primat der Fortschrittlichkeit einbüßte. Schlosser ging es nach seinen eigenen Worten darum, zu „Geist und Kern der Geschichte" vorzudringen. Er übersah jedoch, daß die kritisch-philologische Methode als solche durchaus nicht ungeeignet ist, auch einer fortschrittlichen Geschichtskonzeption zu dienen. Weil Schlosser bei der Auswahl und Auswertung der Quellen oft zu unsystematisch und unkritisch verfuhr20 und diese in ihrem Zit. nach: Wolf, Gustav, Einführung in das Studium der neueren Geschichte, Berlin 1910, S. 233. 20 Daß er dies bis zuletzt tat, zeigt seine Äußerung vom 18. Mai 1860 nicht lange vor seinem Tode in der vierten, der letzten von ihm selbst herausgegebenen Auflage seiner „Geschichte des 18. Jahrhunderts": Freilich hat er (Schlosser meint sich selbst — G. S.) nicht alle Quellen, welche in der neuesten Zeit bekannt geworden sind, benützen wollen, nur das ganz Unentbehrliche aus den bisher zu seiner Kenntnis gelangten Büchern und alles weggelassen, dessen er nicht ganz sicher war. — (Schlosser, F. Chr., Geschichte des 18. Jahrhunderts, Bd. 1, a. a. O.. S. IV.)
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Aussagewert nicht gegeneinander abwägte, ja häufig nur solche verwandte, die seinem bereits feststehenden Gesamtbild entsprachen, liat er sich vieler Möglichkeiten begeben, noch besser und beweiskräftiger im Sinne seiner Sache zu wirken. So hat er zum Beispiel viele geschichtliche Zeugnisse über den antifeudalen Widerstandskampf der Plebejer und Bauern, die den Wert seiner Darstellung sehr erhöht hätten, nicht berücksichtigt, weil er auch in dieser Hinsicht keine systematischen Nachforschungen vornahm. Dies war für die Geltung seiner Wissenschaft umso nachteiliger, als er gerade hier die besonders schwache Seite des Rankeschen Schaffens hätte nachweisen können. Die von Ranke im Unterschied zu Schlosser besonders gepflegte Seite der Geschichtswissenschaft ist im höchsten Maße schulbildend. Nicht zuletzt deswegen war die Schule Rankes im Unterschied zu der Schlossers weitverzweigt und sehr einflußreich, während Schlosser nur zwei bedeutendere Schüler hatte, Gervinus und Häusser. Jedoch sind auch diese nur bedingt als Vertreter der Schlosserschen Anschauungen anzusehen. Freilich darf darüber nicht vergessen werden, daß selbst viele, die Schlosser nie gesehen, sich als seine Jünger ansahen, wie das Beispiel Wilhelm Zimmermanns zeigt. 21 Wenn Schlosser nach der Revolution von 1848/1849 nur noch eine geringe Wirkung auf das Bürgertum ausüben konnte — solche Männer wie Zimmermann waren eine Ausnahme —, so lag das daran, daß dieses zum größten Teil seinen Frieden mit der Reaktion gemacht hatte, während Schlosser ein unbeugsamer Streiter geblieben war. Schlosser kommentierte dies mit den Worten: „Diese ganze Zeit und ihre Bildung ist in den letzten Jahren von uns abgewichen und wir von ihr, so daß wir gewissermaßen aufgehört haben, Zeitgenossen der Begebenheiten zu sein, die rund um uns vorgehen". 22 Daß Schlosser seinen Einfluß so sehr einbüßte, hat noch eine andere Ursache. So sehr er im allgemeinen die Fahne des fortschrittlichen Flügels des Bürgertums hochhielt, so wenig war er, obwohl alle seine Werke einen Aufruf zur Aktion darstellen, ein praktischer Politiker. Es ist die Tragik seines Lebens, daß er einerseits — insbesondere durch die „Geschichte des 18. Jahrhunderts" — die Menschen zum antifeudalen Handeln entflammte, vor allem durch die unbarmherzige Schilderung der Fäulnis des Feudalismus, daß er aber auf der anderen Seite wegen seines kleinbürgerlichen Moralismus nicht in der Lage war, dem Bürgertum konkret zu zeigen, welche politischen Maßnahmen getroffen werden müßten, um den Feudalismus und Absolutismus zu stürzen. So kann man wohl mit Goethe sagen, daß Schlosser zu den Naturen zu zählen ist, die aus dem Dunklen in das Helle strebten, aber seiner politischen Erziehungstätigkeit blieb doch der letztlich entscheidende praktische Erfolg versagt. Schlosser war in manchem ein Geistesverwandter Schillers, zu dem er aufschaute und dessen Werke, insbesondere die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, er seinen Studenten empfahl. Schillers Satz, daß die „Weltgeschichte das Weltgericht" sei,
2» Vgl. den Beitrag über Wilhelm Zimmermann, S. 1700. Schlosser, F. Chr., Geschichte des 18. Jahrhunderts, Bd. 1, a. a. O., S. IV (aus der Vorrede zur 4. Aufl.).
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war ganz nach dem Herzen Schlossers. Im Unterschied zu Schiller war Schlosser jedoch kein vorbildlicher Schriftsteller, da sein Stil oft wenig gepflegt und formlos war. Dies steht auch im seltsamen Kontrast zu seiner Hochschätzung der Dichtungen, auf die er in seinen Werken ausführlich einging. Schlosser war — dies zeigt sich besonders am Ende seines Lebens — ein nimmermüder Mahner, aber kein Avantgardist im Sinne der politischen Tat. Hierin offenbart sich nicht nur ein ausgesprochener Individualismus als persönlicher Mangel, sondern auch eine der wesentlichen Schwächen des demokratischen Bürgertums im 19. Jahrhundert überhaupt, deren theoretische Wurzeln nicht zuletzt in einer falschen Auffassung von dem Verhältnis von Politik und Moral und der Rolle der Gewalt in der Geschichte liegen. Schlosser zog im Hinblick auf dieses Verhältnis keine Konsequenzen aus seinen geschichtlichen Erkenntnissen, die ihn zum Beispiel bei der Behandlung der französischen Revolution zu dem Urteil gelangen ließen, daß die „rohe Gewalt der Reaktion nur der rohen Gewalt der Revolution weicht". 21 Infolgedessen gewann Schlosser keine Klarheit darüber, daß sich auch die Politik der fortschrittlichen Klassen in seiner Gegenwart nicht im Selbstlauf verwirklicht, sondern daß auch sie die Machtfrage aufwerfen und sich der Gewalt als Geburtshelfer der neuen Gesellschaftsordnung bedienen muß, um mit den alten herrschenden Klassen fertig zu werden. In dieser Hinsicht blieb Schlosser - ähnlich wie manche bürgerliche Demokraten — bis zum Ende seines Lebens in der Illusion befangen, daß sich das „Bessere" in der Entwicklung von selbst als das „Stärkere" erweisen werde. Manche späteren bürgerlichen Geschichtsschreiber konnten sich deshalb auch nicht ganz zu Unrecht auf Schlosser berufen, wenn sie gleich Burckhardt meinten, daß „die Macht an sich böse" sei. So ist es auch nicht erstaunlich, daß Schlosser sich zwar, wie sich besonders bei seiner Darstellung der Politik Josephs II. von Österreich zeigt, der Tatsache bewußt ist, daß es unmöglich ist, eine Revolution ohne das Volk zu machen, daß er aber die wirkliche Rolle der Volksmassen — insbesondere der Arbeiterklasse — im 19. Jahrhundert noch nicht erkennt. Zwar blieb Schlosser die Erkenntnis nicht fremd, daß die industrielle Revolution — wie er auch am englischen Beispiel darlegte — eine neue Klasse von Besitzlosen schuf, „daß das eigentliche Volk immer mehr zum Sklaven der unermeßlich Reichen, zu Tagelöhnern ohne Grundbesitz und zu untergeordneten Kommis und Arbeitern herabsinke".24 Daß diese Kräfte des Volkes aber dazu berufen sind, eine entscheidende historische Rolle in der Weltgeschichte zu spielen, wie dies Marx und Engels bereits zu Lebzeiten Schlossers wissenschaftlich darlegten, kommt bei ihm noch keineswegs zum Ausdruck. Im Zusammenhang damit steht auch Schlossers mangelndes Verständnis für die Tätigkeit der Volksmassen25 und für alle die Bewegungen in der französischen " Ebenda, Bd. 5, S. 56. 2« Ebenda, Bd. 2, S. 171. 25
So schreibt Schlosser im Hinblick auf den Herbst 1791: „Die geheimen Kabalen der Pfaffen- und Adelspartei wurden besonders in den großen Städten durch die cannibalische Wut eines künstlich aufgeregten rasenden Pöbels bekämpft." (Ebenda, Bd. 5, S. 101.)
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Revolution, die über den bürgerlichen Republikanismus der Gironde hinausgingen. So blieb ihm auch der fortschrittlich-demokratische Charakter der Politik der Jakobiner verschlossen, ja er bezichtigte Robespierre und Marat sogar der Demagogie. Dennoch geht es zu weit, wenn Paul Reimann behauptet, daß Schlosser weit entfernt von Sympathien für die französische Revolution gewesen ist 26 , denn er hat die weltgeschichtliche Bedeutung dieser Revolution klarer erkannt als die meisten anderen Historiker seiner Zeit. Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, haben Schlosser hoch geschätzt. Die moralische Achtung, die sie ihm zollten, ist vor allem auf seine unter den damaligen Ideologen des Bürgertums seltene Gesinnungstreue und Charakterfestigkeit zurückzuführen. Marx hat sich bei seinen geschichtlichen Studien weitgehend auf Schlosser gestützt. Dies beweisen vor allem seine umfangreichen Auszüge aus der ersten Ausgabe der Schlosserschen „Weltgeschichte für das Deutsche Volk", deren wichtigste Teile bereits vor mehreren Jahren der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht worden sind.27 Marx und Engels beurteilten den Ertrag der Schlosserschen Geschichtsschreibung im Unterschied zu der Rankes sehr günstig, weil Schlosser sie konsequent in den Dienst des bürgerlichen Fortschritts und der nationalen Einigung Deutschlands stellte und sich auch in diesem Sinne um eine große weltgeschichtliche Synthese bemühte. Dabei erwarb er sich besondere Verdienste um die Literaturgeschichte, die er als erster deutscher Historiker in seiner Darstellung — gerade wegen ihrer Bedeutung für die politische Geschichte — zur vollen Geltung brachte. Man kann Fueters Ansicht zustimmen, daß Schlosser in der Literatur eine, .politischePotenz" 28 sah. Für die damalige Zeit stellt dies eine achtunggebietende Leistung dar, mochte Schlosser auch in der formalen Quellenkritik mit den Errungenschaften der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts nicht Schritt halten. Den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus blieben jedoch auch die Schwächen Schlossers nicht verborgen. So geht aus einem Brief von Marx hervor, daß nach seiner Meinung Schlosser kein richtiges Verständnis für die „materiellen Grundlagen" der Geschichte hatte.29Schlosser hat in der Tat die Wirtschaftsgeschichte im Unterschied zu den späten Göttinger Historikern so gut wie gar nicht behandelt. Auch Schlossers Flüchtigkeit und seine Ungenauigkeiten im Zitieren hat Marx, der gerade in dieser Hinsicht sehr exakt arbeitete, öfter als störend empfunden.30 Reimann, Paul, Hauptströmungen der deutschen Literatur 1750—1848, Berlin 1956, S. 461. 27 Vgl. Marx/Engels, Über Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung Bd. 1, Berlin 1961, S. 285—516. 2» Futter, Eduard, Geschichte der neueren Historiographie, 2. Aufl., München 1925, S. 913. (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, hg. v. G. v. Below und Fr. Meinecke, Abt. 1.) 2» Marx/Engels, Briefwechsel, Bd. 3, Berlin 1950, S. 19. 30 Vgl. Marx/Engels, Uber Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung, Bd. 1, a. a. O., Anmerkungen zu den Marx'schen Exzerpten aus Schlossers „Weltgeschichte für das deutsche Volk" auf den Seiten 651,652, 654 und 662. 26
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Das, was Marx zu Schlosser hinzog - der Enthusiasmus für die fortschrittliche Sache der Menschheit — bestimmt auch heute noch den Wert seines Schaffens. Schlosser bemühte sich darum — in Weiterentwicklung der besten aufklärerischen und universal-historischen Traditionen - „die Naturgeschichte des Menschen" in seine Weltgeschichte einzubeziehen. Es ist sein Verdienst, die historische Wissenschaft auf diesem Gebiet durch eine erweiterte Fragestellung bereichert zu haben. Anders als Schlözer machte er einen Unterschied zwischen Universalhistorie und Weltgeschichte. „Wir setzen den Ausdruck Universalhistorie dem der Weltgeschichte gewissermaßen entgegen, denn wir verstehen unter der ersteren die Geschichte der Menschhsit als ein zusammenhängendes Ganzes betrachtet, unter dem letzteren aber die Geschichte der einzelnen Völker nach der Zeitfolge geordnet".31 Da Schlosser die Entwicklung des gesamten Weltalls und die Geschichte der Menschheit als ein zusammenhängendes Ganzes darstellen wollte, vertrat er die Auffassung, daß man die Geschichte der Menschheit nicht ohne die Kenntnis des Welt- und Sonnensystems, der Planeten und der Natur der Erde darstellen kann. Auf diese Weise behandelte Schlosser auch die Abstammung des Menschen, seine Verbreitung über die Erde, die Aufspaltung in verschiedene Rassengruppen und ähnliche Wissenszweige, die heute zu den Naturwissenschaften gezählt werden. In bezug auf die räumliche Ausdehnung ist Schlosser erst Von den späteren Universalhistorikern vom Schlage Helmolts übertroffen worden. Die Geschichte der Byzantiner, Araber und Normannen stellte er mit einer bisher ungewöhnlichen Ausführlichkeit dar. Der Beginn der Staatengeschichte setzte bei ihm mit den Persern ein. In diesem Punkt wurde er ebenso Vorbild für manche nach ihm' kommenden Universalhistoriker wie in seiner gleichberechtigten Behandlung der Kulturgeschichte, insbesondere in seiner „Universalhistorischen Übersicht der alten Welt und ihrer Kultur" (1826-1834). Schlosser warf zu seiner Zeit die wichtigsten inhaltlichen Fragen der Geschichtsschreibung vom Standpunkt des bürgerlichen Humanismus aus auf. Trotz seiner Schwächen hat er in vorbildlicher Weise um die Verbindimg zwischen progressiver Geschichtsschreibung und Politik gerungen. So hat Schlosser gerade heute den Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik als ein Hauptvertreter der positiven Linie der deutschen Historiographie des 18. und 19. Jahrhunderts vieles zu sagen. Wir stehen heute ganz anders zu Schlosser als die preußischdeutsche Bourgeoisie in ihrer reaktionären Phase, die die humanistisch-demokratische Richtung der deutschen Historiographie, die über die Aufklärer bis zu Schlosser und seiner Schule führte, abzuwerten32 versuchte, während sie sich die antidemokratische Konzeption Rankes und seiner Schule beziehungsweise der borussischen Historiker zu eigen machte, ja deren reaktionären Gehalt noch über-
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Zit. nach: Lorenz, Ottokar, Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben, Bd. 1, Berlin 1886, S. 32. Es war ganz nach dem Sinne der Bourgeoisie, wenn Heinrich von Sybel Schlosser eine „sfete Gränlichkeit, Mangel an Ehrfurcht und Liebe dem Stoff gegenüber" und „Mangel an Fähigkeit zu sachlicher Hingabe und Selbstentäußerung" vor-
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steigerte. Deshalb ist uns auch ein solches Urteil wie das Wilhelm Bauers trotz der Mängel des Schlosserschen Schaffens unverständlich. Bauer gibt in seiner „Einführung in das Studium der Geschichte" einer bis in die Gegenwart, besonders in Westdeutschland, weitverbreiteten Meinung Ausdruck, wenn er schreibt: „Die schulmeisterliche Art, mit der Schlosser Fürsten und Minister vor den Richterstuhl kantischer Moral zitiert, entspricht nicht den Forderungen, die wir heute an ein Geschichtswerk stellen". 3 ' 1 Im Gegensatz zu dieser Ansicht Bauers wissen wir heute darum, daß es zu den wichtigsten Aufgaben der Geschichtswissenschaft gehört, zu der Überwindung des Alten und Uberlebten — nicht zuletzt der dynastischen Reaktion — beizutragen, die mit dafür verantwortlich ist, daß Deutschland in die Weltkriegskatastrophe geführt wurde. Das Studium der Werke Schlossers vermag die Liebe zur Sache des Fortschritts und des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus zu stärken und vermittelt uns für unseren Kampf gegen die Mächte des Rückschritts, des Krieges und des Imperialismus, besonders in Westdeutschland, wichtige Lehren. Es ist kein Zufall, daß Schlosser im Westzonenstaat heute wenig beachtet wird 3 ' 1 , da sein unbeugsames kämpferisches Wirken nur im ersten Arbeiter-und-BauernStaat der deutschen Geschichte gebührend gewürdigt werden kann, aber nicht in dem Staat der Imperialisten und Militaristen, in dem alle negativen Traditionen der deutschen Geschichte wieder aufgelebt sind, gegen die Schlosser zeit seines Lebens gestritten hat. warf und Mareks dieses Urteil kommentarlos übernahm. Vgl. Mareks, Erich, Ludwig Häusser und die politische Geschichtsschreibung in Heidelberg, in: Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert, Bd. J, Heidelberg 1903, S. 293. 33 Bauer, Wilhelm, Einführung in das Studium der Geschichte, 2. Aufl., Tübingen 1928, S. 118. Ahnlich äußert sich auch Heinz-Otto Sieburg, der von Schlossers „wissenschaftlicher Substanzarmut" spricht. (Sieburg, Heinz-Otto, Deutschland und Frankreich in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, Wiesbaden 1954, S. 96.) 34 So wird in dem Fischer-Lexikon.,.Geschichte", hg. v. Waldemar Besson, Frankfurt a. M. 1961, Schlosser lediglich in einem Satz (auf S. 326) als Universalhistoriker aufgeführt. Im Register erscheint er nicht. — Anläßlich seines IOQ. " Todestages am 23. 9. 1961 fanden zwar in Jever lokale Ehrungen statt, aber in der „Historischen Zeitschrift" wurde seiner überhaupt nicht gedacht:
IO»
Georg Gottfried Gervinus als Historiker Gerhard Schilfert Hans Schleier
Am 18. März 1871 verstarb Georg Gottfried Gervinus unbeachtet im Jubel Preußen-Deutschlands über die Kaiserproklamation und den Annexionsfrieden mit Frankreich. Treitschkes „Preußische Jahrbücher" brachten einen kurzen, ganz dieser Stimmung verhafteten Nachruf von Hermann Grimm, der angesichts der „Einsamkeit" und Vergessenheit von Gervinus die „gewisse Verlegenheit" bekannte, „wie über ihn zu urteilen und was ihm ins Grab nachzurufen sei". 1 Er empfahl charakteristischerweise, die „einsamen Pfade" Gervinus' ab 1848 zu vergessen und statt dessen seiner vormärzlichen Leistungen zu gedenken. 1873 folgte dann in der gleichen Zeitschrift eine massive Verdonnerung durch Karl Hillebrand, der von Gervinus schlechtweg sagte: „Ein Schriftsteller ohne Stil, ein Gelehrter ohne Methode, ein Denker ohne Tiefe, ein Politiker ohne Voraussicht, ein Mensch endlich ohne Zauber oder Macht der Persönlichkeit". 2 Noch mehr als die „übereilten Generalisationen", das heißt die Suche Gervinus' nach Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte, und noch mehr als die angebliche Geringschätzung der Persönlichkeiten in der Geschichte verdachte Hillebrand einem Gervinus den „Standpunkt eines .süddeutschen Kammerliberalen", eines „Doktrinärs voller französischer Revolutionsideen". 3 In politisch-ideologischer Beziehung wandelte Gervinus nach 1848, gemessen an Hillebrands Vorbildern der Geschichtsschreibung vom Schlage eines Ranke, Sybel oder Treitschke, freilich auf „einsamen Pfaden". So meinte Hillebrand, daß für seine Zeit erst recht kein Grund sei, an die einstige, angeblich maßlose Überschätzung eines Gervinus anzuknüpfen. Soweit waren bereits die politischen Grenzen der Beurteilung abgesteckt, der sich ein Treitschke später in seiner „Deutschen Geschichte" im großen und ganzen nur anzuschließen und sie zu popularisieren brauchte. Sehr zu recht sagte Mehring dazu, daß zur Durchsetzung der modernen kapitalistischen Ideologie „der letzte Rest des bürgerlichen Idealismus mit Knüppeln totgeschlagen" werden mußte. 4 1 2 3 4
Grimm, Hermann, Gervinus, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 27, 1871, S. 475. Hillebrand, Karl, G. G. Gervinus, in: Ebenda, Bd. 32, 1873, S. 378. Ebenda, S. 393, 399. Mehring, Franz, Die Lessing-Legende, Berlin 1953, S. 68 Anmerkung (Büchereides Marxismus-Leninismus, Bd. 25). Gerade das schrittweise Abrücken Treitschkes von Gervinus ist überaus kennzeichnend für das Zurückdrängen fortschrittlicher Gedanken in der bürgerlichen Geschichtsideologie.
Georg Gottfried Gervinus
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Ranke hielt 1872 eine Gedenkrede auf Gervinus, in der er in den allgemeinen Chor der negativen Charakteristiken einstimmte. Ranke polemisierte von der Position der sogenannten „freien objektiven Wissenschaft" gegen die angeblich. gewaltsame Art Gervinus', Politik uncLHistorie zu verbinden. Und weiter wandte er sich gegen die „trostlose Ansicht der menschlichen Dinge", einen gesetzlichen Lauf der Geschichte erforschen zu wollen. 5 Das Zusammenfinden der kleindeutschen Historiker und Rankes in der gemeinsamen Abwertung des frühliberalen Gervinus dokumentiert auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung ganz den reaktionären Klassenkompromiß, der der Reichseinigung von oben zugrunde lag. Ihr Urteil hat jahrzehntelang bestimmend für die bürgerliche Historiographie gewirkt. Es ist symptomatisch für den Niedergang des liberalen Denzens, daß selbst ein spätliberaler Historiker wie Walter Goetz den „wissenschaftlichen Ertrag" von Gervinus' Werk in „starken Widerspruch" zu dessen weiter Verbreitung setzt und an „politischer Einsicht" unter die kleindeutsche Schule stellt. 8 Daß ein Srbik in seiner Historiogräphiegeschichte Gervinus im Grunde als einen „phantasielosen Menschen ohne Sinn für das Leben und seine plastische Wiedergabe, mit überstarkem Hang zum Generalisieren und Abstrahieren, ohne Interesse an der Besonderheit der geschichtlichen Persönlichkeiten" bezeichnet, als einen „liberalen Rationalisten und individualistischen Doktrinär" 7 , ist bei einem Historiker, der dem Faschismus so starke Konzessionen gemacht hat, weiter nicht erstaunlich. Nicht zufällig beschäftigen sich zwei westdeutsche Dissertationen über den Historiker Gervinus vornehmlich mit der Zeit bis 1848, während der spätere, nach links rückende Gervinus abgewertet wird. 8 Die westdeutsche Historiographiegeschichte irt heute erst recht nicht mehr in der Lage oder gewillt, einem der großen Gelehrten und Charaktere des progressiven deutschen Bürgertums gerecht zu werden. Für die Arbeiterklasse ist es daher von ebenso großer politischaktueller wie wissenschaftlicher Bedeutung, eine Persönlichkeit wie Gervinus, 5 Ranke, Leopold v., G. G. Gervinus, Rede zur Eröffnung der 12. Plenarversammlung der historischen Kommission, in: Sämtliche Werke, Bd. 51/52, Leipzig 1888, S. 571, abgedruckt auch in: HZ, Bd. 27, 1872, S. 144, 140. 4 Goetz, Walter, Die deutsche Geschichtsschreibung des letzten Jahrhunderts und die Nation, in: Historiker in meiner Zeit, Ges. Aufsätze, Köln u. Graz 1957, S. 957 Srbik, Heinrich Ritter v., Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. 1, München u. Salzburg 1950, S. 344. 8 Müller, Leonhard, G. G. Gervinus. Biographische Untersuchungen zur Entfaltung von Persönlichkeit und Weltbild, phil. Diss. Heidelberg »950 (MS); und Lutze, Klaus, G. G. Gervinus. Seine politische Ideenwelt bis zur „Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts" (1853), phil. Diss. West-Berlin 1956 (MS). Beide Arbeiten bringen im übrigen neues Material aus Gervinus' Nachlaß. Der Aufruf von Egon Conrad (Die Massen avancieren. Eine Prognose von Gervinus, in: Deutsche Hundschau, Baden-Baden, hg. v. Rudolf Pechel, 82. Jg. März 1956, S. 257), Gervinus, vor allem den späteren, neu zu werten — und das mit einer Revision des Urteils über 1848 zu verbinden —, sowie seine „Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts" neu herauszugeben, verhallte ungehört.
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die zu den positiven Traditionen deutscher Geschichtsschreibung zählt, zu würdigen und im Andenken zu behalten. Gervinus, 1805 geboren, entstammte einem Darmstädter Bürgerhaus. Sein Vater, ein Gerbermeister, in Kriegszeiten in gedrückten Verhältnissen, gelangte erst später als Wirt und Lederhändler zu mäßigem Wohlstand. Von ihm, einem belesenen, eigenwilligen und freisinnigen Manne, einem nachhaltigen Bewunderer Napoleons, erhielt Gervinus „den Stolz der bürgerlichen Unabhängigkeit" 9 eingeprägt. Aber auch die liberale Opposition in Darmstadt, wo die segensreichen Wirkungen der napoleonischen Zeit für das Bürgertum noch gegenwärtig waren, mochte zu dem fortschrittlichen Bewußtsein von Gervinus beigetragen haben. Der frühreife, wißbegierige, von vielerlei Interessen hin und her gerissene Gervinus war des trockenen Lehrbetriebes des Darmstädter Gymnasiums bald überdrüssig und drängte, ohne Abschluß, in die kaufmännische Lehre (1819). Auch im kaufmännischen Berufe, dem in seinen Lehrstellen infolge der Kleinstaaterei jeder größere Zuschnitt fehlte, hielt es ihn nur einige Jahre, die er gleichwohl später als eine wertvolle Schule für den Erwerb allseitiger Menschenkenntnis betrachtete. Dichtung und Dramatik hatten zusammen mit bildungshungriger Vielleserei diese Jahre ausgefüllt. Nach kurzer Vorbereitungszeit begab sich Gervinus 1825 a,uf die Landesuniversität Gießen, um das Brotstudium der Philologie aufzunehmen. Von diesem keineswegs gefesselt, mit vielerlei Selbststudien beschäftigt, ging er 1826 nach Heidelberg. Hier wurde der fortschrittliche bürgerliche Historiker Schlosser, damals ganz auf der Höhe seiner Wirksamkeit, der entscheidende Anreger, Wegweiser und Förderer. Nach fünf Jahren angestrengtester Arbeit konnte sich Gervinus 1830 in Heidelberg zum Dozenten habilitieren mit einer „Geschichte der Angelsachsen im Überblick", die er später selbst als eilige Zusammenstellung von Exzerpten bezeichnete. Überhaupt waren die ersten Jahre seiner Universitätstätigkeit von einem fast hektischen Arbeitseifer auf den verschiedensten Gebieten gekennzeichnet. Die Juli-Revolution von 1830, die zum politischen Erwachen vor allem des südwestdeutschen Bürgertums so gewaltig beitrug, hinterließ auch bei Gervinus einen nachhaltigen politischen Eindruck: „Die Vernichtung der 15jährigen sauren Arbeit der Reaktion in den wenigen Julitagen weckte dem jungen Gemüte den wohltuenden Glauben an die vaterländischen Geschicke, daß der Tag der politischen Entwicklung auch für Deutschland angebrochen sei". 10 Aus der Antike, aus der Vergangenheit richtete sich sein Blick auf die eigene Zeit und ihre politischen Erfordernisse. „Die Zeit ruft zum Wirken, es ziemt nach Vermögen zu handeln . . . Doch bleibe jeder in seiner Sphäre" 1 1 , rief er vorerst noch in einem Briefe aus. Wenn er 1831 die Geschichte der konstitutionellen Ordnung in Europa demonstrativ für eine öffentliche Vorlesung wählte, so freilich auch, um gleichzeitig vor radikalen Wünschen und revolutionären Bestrebungen zu warhen. G. G. Gervinus'Leben. Von ihm selbst. 1860, Leipzig 1893, S. 7. Ebenda, S. 233. »i Ebenda, S. 238! 9
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Gervinus näherte sich jetzt ganz den Bestrebungen der süddeutschen gemäßigten Liberalen, die — antifeudal — sich aber bereits von der demokratischen Linken abzulösen begannen. In dieser Situation wurde die durch Freundeshilfe ermöglichte einjährige Studienreise nach Italien (1832/33) zu einem weiteren einflußreichen politisch-wissenschaftlichen Bildungserlebnis. Gervinus studierte nicht nur die große Vergangenheit des Landes, sondern auch seine neueste revolutionäre Literatur, die politischen Verhältnisse und Bewegungen des genau wie Deutschland durch die Kleinstaaterei zerrissenen Italiens, das zudem noch unter dem Druck der österreichischen Fremdherrschaft litt. Archivstudien in Florenz über die florentinischen Historiker führten Gervinus zu Machiavelli, von dem er nicht nur nachhaltige wissenschaftliche Anregungen, sondern vor allem auch „vaterländische" Impulse empfing. Der liberale Gervinus war hingerissen von Machiavellis Art, Geschichte und Politik im Zusammenhang und in ihrem gesetzmäßigen Verlauf zu erfassen, wechselseitig zu verbinden und für die Wissenschaft wie für das Leben neue Erkenntnisse zu gewinnen. Mit der Niederschrift des Machiavelli (als letzter Teil der Geschichte, der florentinischen Historiographie, 1833 zusammen mit dem „Versuch einer inneren Geschichte Aragons" in „Historische Schriften" vereinigt) erwachte in Gervinus die Erkenntnis, „alle Kunst und alles Wissen jetzt gerne, in dem großen Wendepunkte des nationalen Lebens, der Politik dienstbar gemacht" 12 zu sehen. Das war auch der politische Sinn seines Hauptwerkes „Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen" (5 Bände, 1835-1842, seit 1853 unter dem Titel „Geschichte der deutschen Dichtung"), mit dem er, wie Mehring einmal sagte, — trotz mancher Mißverständnisse - „aus unserer klassischen Literatur die Waffen für den politischen Emanzipationskampf des deutschen Bürgertums zu rüsten gedachte . . und in dem er den Ubergang von der Dichtung zu politischen Taten forderte. Mit diesem Werk, in dem es erstmals gelingt, die Entstehung und Wirkung der deutschen Dichtung aus und in ihrer Zeit aufzuzeigen, hat Gervinus die moderne und nationale Literaturgeschichtsschreibung überhaupt erst geschaffen. 1835 wurde Gervinus daraufhin zum außerordentlichen Professor für Geschichte und Literatur in Heidelberg ernannt und noch im gleichen Jahre auf Empfehlung des ihm politisch damals nahestehenden Dahlmann als ordentlicher Professor nach Göttingen in einen ungleich größeren und bedeutsameren Wirkungskreis berufen. " Ebenda, S. 265. 13 Mehring, Franz, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, 1. Teil, Berlin i960, S. 84. (Ges. Schriften, hg. v. Th. Höhle, H. Koch, J. Schleifstein, Bd. 1.) Für Gervinus' außerordentliche Leistung als Literaturhistoriker verweisen wir auf den Aufsatz von Walter Dietze, G. G. Gervinus als Historiker der deutschen Nationalliteratur, in: Sinn und Form. 11. Jg., H. 3, 1959; vgl. ferner Krauß, Werner, Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag, in: Studien und Aufsätze, Berlin (1959); und Erler, Gotthard, Gervinus als Literaturhistoriker, in: Weimarer Beiträge, Ztschr. f. deutsche Literaturgesch., 8. Jg., H. 1,1962.
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Daneben brachte Gervinus in diesen Jahren noch die Kraft zu einer umfangreichen und vielseitigen literarischen Produktion auf: Er wandte sich Themen der Geschichte und Historik, der Literatur- und Kulturgeschichte, der theoretischen Politik zu.1'' Der ungerechte Aufsatz über „Börnes Briefe aus Paris" (1835) mit seinem Ausbruch gegen die angeblich übereilten Forderungen des jungen Deutschland und des literarischen Jacobinismus zeigt Gervinus ganz im Fahrwasser des gemäßigten Liberalismus und seiner Halbheiten. Die Leistungen und Verdienste Börnes überging er dabei völlig. Wie Gervinus später selbst eingestand, hat dieses Pamphlet nachteilig auf die von ihm im gleichen Jahre begonnene wissenschaftlich-politische Zeitschrift „Deutsche Jahrbücher" eingewirkt, die schnell an dem mangelnden Echo gerade in der jungen Generation versandete. Als im Jahre 1837 der erzreaktinäre König von Hannover völlig willkürlich die Aufhebung der Verfassimg verfügte, gehörte Gervinus zu jenen sieben Professoren, die dagegen zu protestieren wagten — eine Tat, die uns an den Protest der 18 Göttinger Professoren gegen die Atombewaffnung Westdeutschlands erinnert. Gervinus, der weitaus jüngste der sieben, wurde zusammen mit Dahlmann und Jacob Grimm des Landes verwiesen, da sie den Protest an die Öffentlichkeit gebracht hatten. 15 Die weitere politische Kampagne führte Gervinus als der konsequenteste der Göttinger Sieben in dem Bewußtsein „nicht sowohl meinäwcgen, als des öffentlichen Interesses wegen . . . , daß es mir . . . bloß darum zu tun wäre, mein kleines und jedes kleinste Scherflein beizutragen, um die deutschen Zustände ans Licht zu bringen'^ 16 Gervinus kehrte nach Heidelberg zurück, um hier vor allem seine wissenschaftlichen Forschungen voranzubringen, während er sich als Honorarprofessor (seit 1844) in keine feste Bindung gegenüber dpn Behörden mehr einließ. Die bedeutsamste Arbeit in den nächsten Jahren war die unerschrockene und voll leidenschaftlicher Anteilnahme geschriebene Charakteristik Georg Forsters, von dem er sagte: „Ihm war des Schreibens zu viel, des Handelns zu wenig in Deutschland." Mit dem vergessenen und verkannten Revolutionär und politischen Denker Georg Forster verteidigte Gervinus die historische Bedeutung der französischen Revolution und ihre fruchtbaren Folgen für Europa und Amerika gegen die „kleinen Geschichtsmäkler" 17 in Deutschland.
15
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Vgl. Gervinus, C. G., Gesammelte kleine historische Schriften, Karlsruhe J838 (Histor. Schriften, Bd. 7). Vgl. zur Bedeutung der Tat und zum Widerhall in Deutschland: Obermann, Karl, Deutschland 1815—1849, Berlin 1961, S. i2off. (Lehrbuch der deutschen Geschichte, 6. Beitrag, hg. v. A. Meusel u. R. F. Schmiedt) und die Dokumente in Kück, Hans, Die Göttinger Sieben. Ihre Protestaktion und Entlassung im Jahre 1837, Berlin 1934. (Histor. Studien, H. 258). Zit. nach Müller, Leonhard, a. a. O., S. 253, Gervinus an Hessemer am 24. 3. 1838 (Nachlaß). Georg Forsier's sämtliche Schriften. Hg. v. dessen Tochter und begleitet mit einer Charakteristik Forster's von G. G. Gervinus, Bd. 7, Leipzig 1843, S. 35, 72. Wieder abgedruckt in: Meisterwerke deutscher Literaturkritik, hg. u. eingeleit. v.
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Die wachsende oppositionelle bürgerliche Bewegung führte Gervinus in die erste Reihe der politischen Publizisten. Er leitete als Hauptredakteur die 1847 gegründete „Deutsche Zeitung", deren Leitartikel er bis zum Juli 1848 fast alle selbst verfaßte. Die ,,Deutsche Zeitung" war das einflußreiche und von der Reaktion gefürchtete Organ des gemäßigten und kleindeutsch orientierten Liberalismus18, das die nationalen wie konstitutionellen Reformen von oben mit dem Blick auf Preußen propagierte. Andererseits bekämpfte das Blatt aber auch die bürgerlichen Demokraten. Die Zusammensetzung der Redaktionskommission widerspiegelte, daß die preußische Bourgeoisie an die Spitze der deutschen Bourgeoisie getreten war: Den Hansemann, Mevissen, Vincke, den v. Auerswald und v. Schwerin mußte der angeblich zu radikale Welcker weichen. Mit der gleichen Konzeption — antifeudal, aber auch antidemokratisch und antirevolutionär - agierten Gervinus und die „Deutsche Zeitung" auch in den ersten Monaten der Revolution von 1848. Während Gervinus (Mitglied der Siebzehner-Kommission bei der Beratung des Verfassungsentwurfs und dann der Nationalversammlung) einerseits die Nationalversammlung zum schnellen Abschluß der Verfassungsberatung und zum souveränen politischen Handeln antrieb, drang er andererseits völlig unrealistisch auf Vereinbarungen mit den einzelnen Regierungen. Schon im Juli 1848 legte Gervinus die Redaktion der „Deutschen Zeitung" nieder und schied aus der Nationalversammlung aus, verzweifelt über die mangelnde Aktivität des bürgerlichen Parlaments und seiner doppelten Inkonsequenz nach rechts und links. Noch einmal schrieb er vom November \1848 bis Mai 1849 >n der „Deutschen Zeitung" die bekannten Briefe „Vom Rheine", scharf antiösterreichisch, kleindeutsch, der Untätigkeit selbst einen deutschen Krieg vorziehend. Doch nach der Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. war sein Vertrauen auf Preußens deutschen Beruf endgültig dahin. Nach dem vergeblichen Eintreten für Schleswig-Holstein zog er sich aus der aktiven Politik zurück. Ende 1848/Anfang 1849 erfolgte der Linksruck Gervinus' vom gemäßigten zum äußersten linken Flügel des Liberalismus, ohne daß er sich persönlich zur Demo-
18
H. Mayer, Bd. 2, 1. Teil, Berlin 1956, S. 2 8 3 0 . (In diesem'Bande auch noch die Einleitung zur Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen.) Für Gervinus' Leistung um Georg Forster und die Herausgabe seiner Werke vgl. Rödel, Wolf gang, Forster und Lichtenberg. Ein Beitrag zum Problem deutsche Intelligenz und Französische Revolution, Berlin i960, S. 5ff. (Germanistische Studien, 14); und Jakubietz, Maximilian, Georg Forsters Bildnis in der deutschen Literaturgeschichte. Ein Beitrag zur Beseitigung der Forster-Legende (1794— 1917), phil. Diss. Berlin i960, S. 209ff. (MS). Wolf, Erifh, G. G. Gervinus. Sein geschichtlich-politisches System, phil. Diss. Leipzig 1 9 3 1 , S. 19, berichtet, daß die Radziwill und Bismarck eine konservative Gegengründung gegen die in ihrer Blütezeit immerhin etwa 4000 Abonnenten zählende „Deutsche Zeitung" planten. Vgl. auch Obermann, Karl, Deutschland 1 8 1 5 - 1 8 4 9 , a. a. O., S. 187 ff. und Derselbe. Die deutschen Historiker in der Revolution von 1848/49; in diesem Sammelband, S. 22off. u. 225ff., über Gervinus Wirken als gemäßigter Liberaler.
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kratie bekannte. Während die Masse der Bourgeoisie aus Furcht vor dem Proletariat verstärkt auf den Klassenkompromiß zusteuerte, bekannte er sich unerschrocken zum nationalen und konsequent bürgerlichen Staat, wenn nicht auf dem Wege der Reform, so auf dem der Revolution, wenn nicht mehr als konstitutionelle Monarchie, so als bürgerliche Republik, zumindest in einer demokratischen Übergangsphase. (Herrv. Radowitz als Cassandra; Neue Gespräche des Herrn v. Radowitz, 1851.) Seine Auffassung von der gesetzmäßigen historischen Entwicklung — wenn auch in idealistischem Gewände - legte Gervinus in einem skizzenhaften Überblick über den Verlauf der Geschichte (Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts, 1853)19 dar, der in dem Glauben an ein unaufhaltsames bürgerlichdemokratisches Zeitalter im Stile der nordamerikanischen Verfassung ausmündete. Das trug ihm nicht nur die Feindschaft der preußisch-deutschen BourgeoisIdeologen ein, sondern auch einen Prozeß wegen der „Forderungen, die den Staatsbestand gefährden und seine Fortdauer unmöglich machen", wie der staatsretterische badische Staatsanwalt hervorhob.2" Der aufsehenerregende Prozeß endete mit Gervinus' Verurteilung, um dann in zweiter Instanz in möglichster Stille begraben zu werden. Es folgten 1855-66 die acht Bände der „Geschichte des 19. Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen", eines der bedeutsamsten Werke fortschrittlicher bürgerlicher Geschichtsschreibung, das die nationalen .und revolutionären Bewegungen in Europa und Südamerika in den Mittelpunkt der Darstellung rückte. Die Ereignisse von 1866 ließen dann den resignierenden Gervinus, nachdem das Werk bis zur Juli-Revolution gediehen war, die Feder aus der Hand legen, da er eine „politische Lektion" auf diesem Wege jetzt nicht mehr für möglich hielt.21 Mit ungewöhnlicher Schaffenskraft formte Gervinus daneben seine Literaturgeschichte für eine neue Auflage. Hinzu traten seine verdienstvollen Arbeiten über Shakespeare und Händel. Mit seinem Buch über Shakespeare (1849-52) verfolgte Gervinus vor allem den Zweck, „unserer handelnden Tätigkeit und Wirksamkeit einen Sporn zu geben". 22 Er stellte deshalb weniger die ästhetischen Probleme des Shakespeareschen Werkes in den Mittelpunkt seiner Darstellung über diesen Dichter, sondern beschäftigte sich vor allem mit der moralischpolitischen erzieherischen Bedeutung des Shakespeareschen Schaffens. Ähnlich wie die Behandlung der Dichtung Shakespeares sollte auch seine Beschäftigung mit der Tonkunst Händeis der moralischen Erneuerung der Nation dienen. Shakespeare und Händel waren für Gervinus Zeugen für eine „germanische Tonund Dichtkunst", deren Prinzipien er vor allem in seinem Buch „Händel und Neudruck: Gervinus, G. G., Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts, hg. v. H. Körnchen, Berlin 1921. Im Anhang Rankes erwähnter Artikel aus der HZ. 2° Zit. nach Wolf, Erich, a. a. O., S. 22. 21 Zit. nach ebenda, S. 24, Brief Gervinus' an Minsser am 21. 8 1866 (Nachlaß). 22 Gervinus, G. G. Shakespeare, Bd. 1, Leipzig 1849, S. 9. J,J
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Shakespeare" (1868) behandelte. Es entsprach ganz der führenden kulturpolitischen Rolle Gervinus' im Vormärz, wenn er bereits zu dieser Zeit die große Bedeutung Händeis für die Erweckung des kulturellen bürgerlichen Selbstbewußtseins erkannte. An der im Jahre 1856 erfolgten Gründung der Händelgesellschaft hatte er ebenso maßgeblichen Anteil wie an der von dieser Gesellschaft vorgenommenen neuen kritischen Ausgabe der Händeischen Werke. Dazu schrieb er 1860 noch die ersten Kapitel seiner unvollendet gebliebenen Selbstbiographie (G. G. Gervinus Leben, veröffentlicht erst 1893) und schickte 1861 seinem verstorbenen Lehrer und Freund Schlosser eine warmherzige Würdigung nach. Seit sich die Hoffnungen Gervinus' auf eine innere Umwandlung Preußens im Sinne des bürgerlichen Fortschritts und der dadurch erst zu ermöglichenden nationalen Hegemonie zerschlagen hatten, wurde er zu einem Gegner des preußischen Systems, des preußischen Militarismus. Gervinus verfolgte mit Widerwillen die Reaktionsperiode in Preußen, den Heeresund Verfassungskonflikt. Bismarck war ihm als „Deutschlands böser Genius"11 verhaßt, vor allem als er Schleswig-Holstein und die norddeutschen Mittelstaaten annektierte. In seinem antipreußischen und antimilitaristischen Föderalismus giaubte er noch 1866 und 1871 von Preußen die Herausgabe der Annexionen und die Sichbescheidung mit einem deutschen Staatenbunde fordern zu müssen (Denkschrift zum Frieden, Selbstkritik, 1871). So trägt sein Stolz auf die geistigen und politischen Leistungen der Kleinstaaterei doch auch philisterhafte Züge. Diese „ohnmächtigen Proteste, wunderliche Mischungen von bürgerlicher Beschränktheit und Ehrbarkeit, machten ihn zum Spotte der Bismarckschen Troßbuben", wie Mehring treffend sagte.24 Gervinus' Warnungen vor der preußischen deutschen „Militärdiktatur", vor dem „allzeit angriffsfähigen Kriegsstaat" 25 waren ebenso scharfsichtig wie sie wirkungslos blieben. So vor einem Irrweg warnend, verstarb der vereinsamte Gervinus 1871 in Heidelberg. Schlosser hat nach Gervinus' eigenen Worten als historischer Lehrer auf seinen Lebenslauf einen entscheidenden Einfluß ausgeübt. Wie er weiter sagte, ist seine spätere schriftstellerische Wirksamkeit mit „bewußter Absicht" Schlossers „Fußstapfen gefolgt".26 Das, was beide Männer vor allem verband, waren ihre fortschrittliche Gesinnung und die daraus entspringende moralisch-politische Haltung, wobei jedoch Schlosser im Unterschied zu Gervinus nie so weit ging, den Sieg der Demokratie und der Volksherrschaft voranzukündigen. Dennoch meint Gervinus in seinem berühmten Nekrolog auf Schlosser, in dem er ihn vor allen Dingen gegen Ranke verteidigte, daß Schlosser „ein durch und durch in der 23
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Zit. nach Wolf, Erich, a. a. O., S. 81, Brief Gervinus'an Minsser am 6. 5. 1867 (Nachlaß). Mehring, Franz, Die Lessing-Legende, a. a. O., S. 6yf." Gervinus, G. G., Denkschrift zum Frieden: An das Preußische Königshaus, in: Hinterlassene Schriften, Wien 1872, S. 13, 22, vgl. auch S. 29. Ferner: Selbstkritik, in: ebenda, S. 95ff. G. G. Gervinus'Leben, a. a. O., S. 150.
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Wolle gefärbter Demokrat" 2 7 gewesen sei. (Gervinus unterliegt hier einem Irrtum. Legt man den Maßstab der Linken in der Paulskirche an, so stand Schlosser weiter rechts als diese, jedoch weiter links als die gemäßigten Liberalen.) Besonders in dem Vorwort zu dem ersten Band der „Geschichte des 19. Jahrhunderts" betonte Gervinus seine Geistesverwandtschaft mit Schlosser, dem er dieses ganze Werk widmete. Er beabsichtigte damit Schlossers Geschichte des 18. Jahrhunderts fortzusetzen, die er einmal als ein „eigentliches Kunstwerk" bezeichnet hat, eine Äußerung, die von Karl Hillebrand später im Nekrolog auf Gervinus stark kritisiert wurde. Bereits die einleitende Charakteristik der Restaurationsperiode beginnt .Gervinus'in diesem Werk mit einem Zitat aus Schlosser, das er an den Anfang seiner programmatischen Äußerungen stellt. Anders als Gervinus war Schlosser jedoch zeit seines Lebens nicht bereit, aktiv in die Politik einzugreifen. Deshalb teilte er auch, nicht Gervinus' Meinung, die vor allem in seiner Literaturgeschichte zum Ausdruck kam, daß es jetzt an der Zeit sei, alle Kräfte auf das politische Handeln zu konzentrieren, gerade auch diejenigen, die bisher literarisch tätig gewesen sind. Auch sonst gib es einige Meinungsverschiedenheiten zwischen Schlosser und Gervinus vor allem in ihrer Auffassung über die Beziehungen zwischen der politischen und der Kulturgeschichte. Wahrscheinlich bezieht sich Gervinus hierauf, wenn er in einem Brief an Willielm Grimm meinte, daß „Schlosser eine etwas laue, aber sonst gut gemeinte Anzeige (von Gervinus' Literaturgeschichte — d. Verf.) gemacht" 2 8 habe. Ähnlich Schlosser hat auch Gervinus die archivalischen Studien faktisch vernachlässigt, da er mit diesem der Überzeugung war, daß den literarischen Quellen eine primäre Bedeutung zukäme. Ja, er meinte sogar, daß die Vertreter der historisch-kritischen Methode sich im Walde der Geschichte verirrten, während Schlossers Darstellung „in Geist und Kern der Geschichte" eindringe. 29 In diesen und in manchen anderen Fragen hat Gervinus in dem Nekrolog auf Schlosser, der eine umfangreiche literarische Fehde auslöste30, zweifellos Schlosser zu Unrecht verteidigt. Im großen und ganzen ist er jedoch in dem Nekrolog gegen27 28
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Gervinus, G. G., Friedrich Christoph Schlosser, Leipzig 1861, S. 38. Gervinus an W. Grimm, 13. 11. 1840, in: Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm, Dahlmann und Gervinus, Hg. v. Eduard Ippel, Bd. 2, Berlin 1886, S. 41. (Im folgenden zit.: Briefwechsel.) Gervinus, G. G., F. C. Schlosser, a. a. O., S. 25 Schon früher hatte Gervinus seinen Lehrer Schlosser und dessen. Geschichtsauffassung verteidigt (s. Historische Briefe, 1832, und Über Schlossers universal-historische Übersicht der Geschichte der alten Welt, 1835, beide in Ges. kl. hist. Schriften). Auf den Nekrolog ergriff neben dem Bonner Historiker W. Löbell (Briefe über den Nekrolog F. C. Schlossers von G. G. Gervinus, anonym, Chemnitz 1862) u. a. auch der Sybel-Schüler C. v. Noorden (zuerst anonym in der HZ, Bd. 8, 1862: Zur Beurteilung F. C. Schlossers) gegen Gervinus und seinen Lehrer Schlosser im erregten „Prinzipienstreite" Partei. Die beredte Klage über den „Schaden, welchen Gervinus der wissenschaftlichen Behandlung unserer Literaturgeschichte zugeführt" haben sollte (TA. Bernhardt u. C. v. Noorden,
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über seinen Kritikern, die Ranke hoch über Schlosser stellten, geschichtlich gesehen im Recht geblieben. Nicht Ranke, sondern Schlosser hat dem historischen Fortschritt in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht gedient, wie Gervinus richtig erkannte. Für Gervinus standen Geschichte und Politik im engsten sich gegenseitig fördernden Wechselwirkungsverhältnis. Für die Durchführung einer fortschrittlichen Politik war nach der Auffassung Gervinus' die Kenntnis der Geschichte völlig unentbehrlich. Im Unterschiede zu Schlosser wollte Gervinus die politische und Kulturgeschichte miteinander verschmelzen. Er meinte: „Das handelnde Leben ist der Mittelpunkt aller Geschichte, daher hat man unter Geschichte schlechtweg immer politische Geschichte verstanden; mit Recht, weil sich auf das handelnde Leben alle Kräfte des Menschen konzentrieren" ••>' Gervinus glaubte, daß aus der Vergangenheit des Volkes die Lehre von der Politik als eine erlernbare und anwendbare Wissenschaft-abgeleitet werden könne. Es lebte in ihm gleich wie in Schlosser noch etwas von dem Ethos der Aufklärungshistorie eines Schlözer, der mit seinen geschichtlichen Erkenntnissen die Welt im bürgerlichen Sinne verändern wollte.'12 Gervinus war deshalb ein Feind aller „selbstgenügsamen" Wissenschaft. Wenn er einmal ausrief: „ E s ist eine Beschränktheit, einer Wissenschaft im Flusse des Lebens einen Zweck in sich selbst zu geben"^ 1 , so besagt das, daß er die Geschichtsschreibung als unentbehrliche Waffe für den bürgerlichen Emanzipationskampf betrachtete und dafür eingesetzt wissen wollte. In diesem fortschrittlichen Sinne kämpfte er wider das „Modewort" von der „Objektivität", wider die „sogenannte objektive Manier" 34 eines flachen Geschichtsempirismus, der auf dem Boden des Alten stand und faktisch für den Rückschritt Partei nahm. In der Erkenntnis des wechselseitigen Zusammenhanges von Wissenschaft und Leben und den praktischen Schlußfolgerungen, die er daraus zog, stand Gervinus hoch über einem Ranke und seinen engeren Schülern. Freilich vermochte er von seiner idealistischen Position aus nicht zu den wirklichen Kriterien einer objektiven Geschichtsschreibung vorzudringen und begnügte sich m i t einer schematischen Trennung zwischen objektiver, subjektiver und philosophischer Historie von den Formen der Geschichtsschreibung her. Im übrigen rückte er die Historie sehr stark in die Nähe der Kunst (Grundzüge der Historik, 1837).
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Zur Würdigung J. W. LöbellsBraunschweig 1864, S. 68, 63, auch 65), galt für das gesamte Schaffen Gervinus'- und Schlossers. Hinter den methodischen Streitpunkten und der Verteidigung Rankes stand ausgesprochenermaßen das Unbehagen der Bourgeois-Historiker über die fortschrittliche bürgerliche Gesinnung Schlossers und Gervinus'. Gervinus, G. G., Grundzüge der Historik, in: G. G. Gervinus/Leben, a . a . O . , S. 390. Vgl. den Beitrag von G. Schilfert über August Ludwig v. Schlözer in diesem Band. Gervinus, G. G., Über Dahlmanns Politik, in: Ges. kl. histor. Schriften, a. a. O., S. 600. Derselbe, Einleitung in die deutschen Jahrbücher, und Selbstanzeige der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, in: ebenda, S. 320, 575.
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Charakteristisch für Gervinus ist der Widerspruch zwischen den fortschrittlichen, ja seiner Zeit vorauseilenden Zielen, beziehungsweise dem ideologischen Gehalt seiner Geschichtsschreibung, und seinen im Verhältnis zur Rankeschule zurückgebliebenen Auffassungen in formalmethodischer Hinsicht. Es blieb Gervinus verschlossen, daß die kritisch-philologische Methode, die Ranke und seine Schule anwandte, auch seiner Geschichtsansicht dienlich sein konnte. Er kommt deshalb zu der Meinung, „mittelst einer freieren Erfassung des Tatsächlichen in der Geschichte" sich Uber den inneren Zusammenhäng der Dinge gründlicher zu verständigen, als es aus einer „bloß kritischen Sichtung des Faktischen" geschehen kann. 35 In der „Historik" vollzog er eine schematische Trennung zwischen „chronistischer", „pragmatischer" und „philosophischer" Historie. Gervinus stellt also die Auffassung des Zusammenhangs und die kritische Feststellung der einzelnen Tatsache, die beide von dem Geschichtsschreiber wissenschaftlich ergründet werden müssen, als zwei verschiedenwertige anstatt sich ergänzende Aspekte gegenüber. Im Gegensatz dazu war Marx der Ansicht, daß die materialistische Geschichtsauffassung das Tatsachenstudium nicht ersetzt, sondern voraussetzt. Dies ist auch der wesentliche Grund dafür, daß Gervinus von seinen Kritikern mit Recht eine Neigung zu voreiligen Verallgemeinerungen vorgeworfen wurde. Infolge seiner verkehrten Auffassung von dem Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und Besonderen in der Geschichte — das Besondere wurde von ihm zu einer verschwindend kleinen Größe gemacht — hat Gervinus auch keinen Sinn für die Möglichkeiten und die Tragweite einer inhaltlichen Kritik an den Quellen, die von einem reaktionären, also dem seinen entgegengesetzten Standpunkt abgefaßt waren. Infolge seines Unvermögens, den rationellen Kern auch aus der Überlieferung im Dienste der bisher herrschenden Klassen herauszuschälen, unterschätzte er die Benutzung derartiger Zeugnisse, insbesondere der archivalischen. Da Gervinus zudem noch in seiner Auswahl der literarischen Quellen oft leichtsinnig verfuhr, häufig keine Gewährsmänner angab oder keine Anmerkungen machte, gab er sich und damit der Sache der fortschrittlichen Historie viele Blößen. Dies benutzten seine Gegner und Kritiker, beispielsweise Karl Hillebrand,dazu, auch den wertvollen Gehalt seiner Geschichtsschreibung in Zweifel zu ziehen. Zweifellos hat sich Gervinus dadurch selbst geschadet, daß er sich die Erfüllung der Hauptaufgabe des Historikerberufes, die er in der Erweckung von Charakter und Geistesbildung sah, erschwert hat durch formale Mängel, die den Aussagewert seiner Darstellungen vielfach beeinträchtigen. Als echter Schüler Schlossers sah Gervirfus die Hauptaufgabe des Geschichtsschreibers in der Suche nach den allgemeinen Zusammenhängen und leitenden Gedanken der historischen Entwicklung, in der Erforschung ihrer Gesetzmäßigkeiten. Gervinus bezeichnete nur denjenigen Historiker als den „eigentlichen Geschichtsschreiber, der überall den Teil der Menschheit, den er geschichtlich behandelt, in Beziehung zum Ganzen bringt, und abzusondern weiß, was aus 36
Derselbe, Über die historische Größe, in: ebenda, S. 137f.
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diesem Gesichtspunkte als bedeutungslos seinem Stoffe anhängt".36 In idealer Weise hatten nach Gervinus' Ansicht diese höchste Aufgabe eines Historikers eigentlich nur Machiavelli und Schlosser gelöst. In der Besprechung „Über Dahlmanns Politik" (1836) entwickelte Gervinus seine Gedanken über eine „rein wissenschaftliche Politik", die er mit einer „Philosophie des politischen Teils der Geschichte" gleichsetzte: Es bleibe die Aufgabe, „aus der ungeheuren Summe der Erfahrungen, aus dem Unsteten, Flüchtigen, Wiederkehrenden, Besonderen, das Gesetzmäßige und Allgemeine festzuhalten . . ," 37 Gervinus geht also dem richtigen Grundgedanken nach — und damit steht er in der bürgerlichen Historiographie auf nahezu letzter» einsamer Höhe neben Schlosser —, die entscheidenden historischen Gesetzmäßigkeiten im Leben der Völker und Staaten aufzuspüren. Weil er jedoch nicht wie Marx und Engels von den entscheidenden materiellen Lebensbedingungen der Gesellschaft ausging, sondern idealistisch von der geistigen Entwicklung der Menschheit, von sogenannten leitenden Ideen, vermochte er nur zu einzelnen richtigen Teilergebnissen zu kommen. Von Wilhelm v. Humboldt übernahm Gervinus — variierend — den Gedanken der historischen Idee, welche unsichtbar die äußeren Erscheinungen begleitet und innerlich die ganze Geschichte durchdringt, die Nation oder eine Zeit ergreift und mit elementarer Gewalt vorwärtsdrängt. Freilich gab er keine genaue Definition dieser Ideen, die er als geistige Macht über die materielle stellte. Dem denkenden und in die öffentlichen Dinge eingreifenden Menschen stellte er die Aufgabe zu lernen, „sich den Ideen, die die Geschichte seiner Zeit bewegen, vernünftig anzuschließen; denn nur wo wir in richtiger Ubereinstimmung mit diesen den Gang der Geschicke teilen, ist unser Wirken von erfreulichem Gedeihen gekrönt, während wir im Gegensatz zu ihnen die Früchte unseres Strebens verlieren".38 Das erregte natürlich den heftigen Widerspruch der reaktionären Historiker aller Richtungen. Derselbe Widerstand ergab sich gegen Gervinus' Versuch, den gesetzmäßigen Ablauf der historischen Entwicklung zu skizzieren: „Von den despotischen Staatsordnungen des Orients zu den aristokratischen, auf Sklaverei und Leibeigenschaft gegründeten Staaten des Altertums und des Mittelalters, und von da zu der neueren noch im Gange begriffenen Staatenbildung ist ein regelmäßiger Fortschritt zu gewahren von der geistigen und bürgerlichen Freiheit der Einzelnen zu der der Mehreren und Vielen. Wo aber die Staaten ihren Lebenslauf ganz vollendet haben, da beobachtet man dann wieder, von dem Höhepunkt dieser aufsteigenden Linie der Entwicklung abwärts, ein Zurückgehen der Bildung, der Freiheit und der Macht von den Vielen zu den Wenigen und Einzelneri. Dieses Gesetz ist es, das sich in jedem Teile der Geschichte, in jedem vollkommeneren Einzelstaate vorfindet.. Z'39 M Derselbe, Über Schlossers universal-historische Ubersicht der Geschichte der alten Welt und deren Quellen, in: ebenda, S. 348. 37 Derselbe, Über Dahlmanns Politik, a. a. O., S. 596, 595. 38 Derselbe, Grundzüge der Historik, in: G. G. Gervinus* Leben, a. a. O., S. 383. 39 Derselbe, Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1853 S. 13. (Im folgenden zit.: Einleitung.)
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Wie diese Ausführungen zeigen, vermochte Gervinus nicht mehr, als lediglich eine Reihe von Erscheinungen der Klassengesellschaft und der Ablesung der verschiedenen Produktionsverhältnisse voneinander zu erkennen. Doch war es von fortschrittlicher Bedeutung für seine Zeit, daß er seine Gegenwart unaufhaltsam vom Absolutismus zu einer ausgebildeten bürgerlichen Staatsform, zum vollständigen Sieg der Bourgeoisie voranschreiten sah und den Höhepunkt der modernen Geschichte in einer Zeit geistiger ^ n d politischer Freiheit der Vielen erblickte, zu der der Weg gebahnt werden müsse. Gervinus knüpfte in seiner Auffassung von dem gesetzmäßigen Verlauf der historischen Entwicklung an die besten Traditionen der Aufklärung an und bekämpfte von dieser fortschrittlichen, wenn auch begrenzten bürgerlichen Warte aus die reaktionäre Geschichtsauffassung der romantischen historischen Schule. Zwar forderte Gervinus als schöne und schwere Aufgabe des Historikers, anhand einzelner Stoffe gleichsam die ganze Geschichte zu betrachten, doch war sein Blick eingeengt. Für ihn existierte nur die Geschichte der Antike, Europas, femer die Amerikas im 19. Jahrhundert, während die übrige Welt vernachlässigt oder gar als bedeutungslos angesehen wurde. Die von Schlosser übernommene Methode des Analogisierens führte Gervinus zu zahlreichen unhaltbaren Vergleichen, besonders in seinen ersten Schriften, zumal er die Analogien in idealistischer Weise als die Frucht einer Kombinationsgabe des Historikers betrachtete (Uber Schlossers universal-historische Übersicht der Geschichte der alten Welt, 1835). I*1 gleich unzulänglicher, unwissenschaftlicher Weise kennzeichnete er als wichtiges Bestreben einer philosophischen Geschichtsbetrachtung, „ . . . aus den vollendeten Völkergeschichten die unvollendete Geschichte der Menschheit zu erraten . . ein Bestreben, das in seiner Vorliebe und in seinem Stolz auf historische „Prophezeiungen" zum Ausdruck kommt (Selbstkritik, 1871). Aus dem vorhin angeführten Zitat über die gesetzmäßige historische Entwicklung lassen sich auch wichtige Aufschlüsse für Gervinus' Fortschrittsbegriff gewinnen. Gervinus griff die aristotelische Idee von den Lebensaltem auf und wandte sie auf die historische Entwicklung einzelner Epochen, Staaten und Völker an. Wenngleich er in dem Auf- und Niedergang einen steten „Fortschritt in stets erweiterten Räumen, Kreisläufe von stets weiter gezogenen Kreisen der menschheitlichen Vervollkommnung" erblickte, so wandte er sich doch im Widerspruch dazu gegen einen der größten und fruchtbarsten Gedanken der späten Aufklärung, die fortschreitende Höherentwicklung der Menschheit, den er als „eudämonistische V o r s t e l l u n g " d e r Geschichtsphilosophie ablehnte. Hier knüpfte Gervinus wieder an die Kreislauftheorie der Frühaufklärung, zum Beispiel eines Vico; an. In diesem Schritt zurück gegenüber der entwickelten Aufklärungsphilosophie zeigt sich die bürgerliche Beschränktheit des vormärzlichen Liberalismus, der schon sich abzeichnende Konturen jenseits der bürgerlichen Gesellschaft zu fürchten beginnt. Von viel nachhaltigerer und von fortschrittlicher Wirkung für die damalige Zeit Derselbe, Über Dahlmanns Politik, a. a. O., S. 595. *« G. G. Gervinus'Leben, a. a. O., S. 286, 285.
Briefwechsel, a. a. O., Gervinus an Dahlmann am. 30. 10. 1848. S. 320. 55 Gervinus, G. G., Einleitung, a. a. O., S. 169.
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Obwolil Gervinus selbst nicht den Begriff Kleinbürgertum verwendet, können wir doch den sozialen Inhalt seiner Republik, die für ihn die vollkommenste Verfassung darstellte, als einen im wesentlichen kleinbürgerlich-demokratischen bezeichnen. Aus manchen seiner Ausführungen geht hervor, daß er persönlich dies nicht begrüßte und auch zu dieser Zeit noch der Wunschvorstellung nachhing, der Mittelstand könne später, eventuell nach einer Übergangsphase, wieder eine allein beherrschende Position einnehmen. Gervinus schreibt zwar dem Kleinbürgertum nicht die Hegemonie zu, aber da er sie dem Mittelstand nicht mehr und dem Proletariat als selbständiger Klasse noch nicht zuschreiben kann, läuft seine Auffassung faktisch darauf hinaus daß nur das Kleinbürgertum als zeitweiliger Hauptträger der Staatsordnung übrigbleibt, die nach der Vernichtung der Monarchie kommen werde. Gervinus legt sich darüber freilich keine Rechenschaft ab. Der Untergang der Monarchie durch die Taten der Meissen wurde von Gervinus als durchaus berechtigt angesehen, wobei er sich ausdrücklich gegen den Vorwurf verwahrte, daß ein derartiger Staat einen undeutschen Charakter tragen werde. Gervinus vertrat die Auffassung, daß die fortschrittlichen Ideen legitimer deutscher Abstammung seien und wandte sich gegen die diesbezüglichen Verleumdungen der Reaktion. Die politische Umwälzung, an deren Ende die Demokratische Republik steht, entsprach nach Gervinus dem „Ruf des Jahrhunderts", der die „Emanzipation aller Gedrückten und Leidenden" beinhaltete.•!iö Die Revolution bildete für ihn eine „wohltätige Naturnotwendigkeit"."' 7 In diesem Sinne hatte sein badischer Ankläger in dem Prozeß von 1853 nicht einmal so unrecht, daß es der „Zweck der Einleitung der Geschichte des 19. Jahrhunderts von Gervinus sei auszuführen, daß die demokratischen Grundsätze im ständigen Fortschreiten begriffen seien"."'8 Dieses unaufhaltsame Fortschreiten zur Herrschaft der Vielen und nicht die gegenwärtige oder morgige Staatsform, deren Veränderungen sich aus dem jeweiligen Kräfteverhältnis ergaben, war für Gervinus die entscheidende Frage, und so hat er gelegentlich die Frage der Staatsform, ob „demokratische" Monarchie oder Republik, als zweitrangig für den großen historischen Prozeß erklärt. Gervinus hat zwar in der geschilderten Weise eine geschichtliche Wendung zu der bürgerlichen Demokratie hin als unvermeidlich angesehen, hat sie aber praktisch-politisch nicht unterstützt. In dieser Beziehung trifft die tadelnde Bemerkung Rankes im Nekrolog zu, mit der er darauf hinweist, daß Gervinus der Demokratie nicht angehörte und „es um so schwerer ins Gewicht falle, daß er ihr (der Demokratie - d. Verf.) einen endlichen Sieg"r>9 voraussagte. In der Tat hat Gervinus der Entwicklung zur bürgerlichen Demokratie einen „providentiellen Charakter, den Charakter der Unwiderstehlichkeit" 60 zugesprochen. Ebenda, S. 173. Derselbe, Geschichte der Deutschen Dichtung, Bd. 2, Leipzig 1875, S. 136. 58 Der Prozeß Gervinus, a. a. O., S. 63. 59 Ranke, L. v., Rede zur Eröffnung. . .. a. a. O., S. 573. 1 Historiker wie Alfred Dove, Max Lenz, Hans Delbrück, Erich Mareks 52 und Dietrich Schäfer stellten nun die imperialen Bestrebungen des mittelalterlichen Kaisertums im „Ersten Reich" zielbewußt in den Dienst der aggressiven imperialistischen Politik des „Zweiten Reiches". Dabei konnte man weitgehend auf die Konzeption des Großdeütschen Ficker zurückgreifen. Auf dieser Grundlage konnten sich so im wesentlichen seine Einschätzungen der mittelalterlichen Kaiserpolitik in der bürgerlichen Geschichtsschreibung durchsetzen, ohne daß man sich auf Einzelheiten seiner Beweisführung festlegte. Es sei hier an das seit 1908 in zehn Auflagen erschienene Standardwerk von Karl Hampe erinnert, aus dem Generationen von Geschichtsstudenten ihre Kenntnisse über diese Zeit schöpften. 53 In den zwanziger Jahren nannte Johannes Haller das mittelalterliche Kaisertum ein Bedürfnis der Nation. Diese Tendenzen brachte am besten A. Hofmeister im Jahre 1923 zum Ausdruck: „Daß überhaupt der Gedanke der einheitlichen deutschen Nation feste Wurzeln schlug trotz des Parti-
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Jung, Jul'us, a. a. O., S. VIII f. Stern, Leo, a. a. O., S. 292. Erich Mareks schrieb 1895 rückblickend über Sybel: „Sein Buch war eine Waffe. In der Geschichte der historischen Erkenntnis war es eine Verirrung, aber der Geschichte unseres werdenden Staates gehört es bleibend an." Zit. von Bailleu in : Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 54, S. 659. Über die Einschätzung der Kaiserpolitik in der Historiographie seit 1871 vgl. Hostenkamp, Heinrich, a. a. O., S. 26ff. ; u. Schneider, Friedrich, Die neueren Anschauungen der deutschen Historiker über die deutsche Kaiserpolitik des Mittelalters und die mit ihr verbundene Ostpolitik. 6. Aufl., Weimar 1943. Hampe, Karl, Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer, 10. Aufl., bearb. v. F. Baethgen, Heidelberg 1949. Haller, Johannes, Die Epochen der deutschen Geschichte, Stuttgart und Berlin 1923, S. 41Ä. ; derselbe. Das altdeutsche Kaisertum, Stuttgart 1926. Die Bücher erschienen später in immer neuen Auflagen.
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kularismus der Teile und der Einzelnen, daß der nationale Gedanke sich durch Jahrhunderte des staatlichen Niedergangs und der Auflösung, der Fremdherrschaft erhielt. . . das.verdanken wir den Ottonen, den Saliern und den Staufern." 3 5 Mit der sich seit 191S in der bürgerlichen Historiographie abzeichnenden Schwerpunktverlagerung auf die Behandlung der Ostexpansion und ihre Verherrlichung im Sinne der Ostpolitik des deutschen Impeiialismus gelangten vor allem Georg von Below und sein Schüler Fritz Kern zu einer Verurteilung der Italienpolitik, wobei sie weitgehend auf Sybel zurückgreifen konnten. Nach Georg von Below sei die eigentliche Aufgabe der Kaiser die Ostpolitik gewesen; sie sei durch die Italienzüge vernachlässigt worden. Von dieser Position aus verlangte er ein ,.Werturteil" über die Kaiserpolitik zu fällen. So meinte er, daß das Kaisertum die unmittelbar staatlichen Zwecke des Deutschen Reiches vernachlässigt habe. Dies treffe auch besonders für die Politik Friedrich Barbarossas zu, dessen deutsche Politik nur Mittel für seine italienische gewesen sei, denn es sei nicht seine ' Absicht gewesen, mit dem Ertrag einer glücklichen italienischen Politik Deutschland wieder zu stärken. Neben diesem zu einseitigen Urteil über Friedrich I. hebt Below mit Recht das fehlende Bündnis der Staufer mit den Städten hervor. 5 6 Auch Fritz Kern bekennt seine „großdeutsche Einstellung", wobei er von einer Verteidigung der Ostpolitik des deutschen Imperialismus ausgeht. In der Kaiserpolitik crblickte er „nur ein Hindernis zu dem auch heute noch geltenden großdeutschen Ziel", ohne sie „wäre die kleindeutsche Zwischenlösung wohl niemals erforderlich gewesen". Eine Konzentration auf die Innen- und Ostpolitik hätte die Möglichkeit eines Deutschland von der „Scheide bis mindestens an die Weichsel" in sich getragen. s7 Wenn auch die Mehrzahl der Mediävisten diesen aggressiven „Drang nach dem Osten" bejahte, so wurden doch die kritischen Auffassungen v. Belows und Kerns bezüglich der Italienpolitik scharf angegriffen. s8 Wie schon bemerkt, setzte sich dann die Konzeption von Brackmann und R . Holtzmann durch, die in der Italienpolitik eine Voraussetzung für die Ostpolitik sahen. Damit sollten die aggressiven » Hofmeister, Adolf, a. a. O., S. 21. 5« Below, Georg v., a. a. O., bes. S. iof., »^ft., Q7ff.. 134. Kern, Fritz, a. a. O., bes. S. 61 ff. Zitate S. 73, Anm. 21 u. S. 48. Kern meinte, die Kaiserpolitik Ottos I. sei erstens nicht nützlich und zweitens vermeidbar gewesen. Im Gegensatz zu Frankreich sei die nationalstaatliche Entwicklung Deutschlands durch diese Politik um sechs Jahrhunderte in Rückstand geraten. Auch Fedor Schneider (Rom und Romgedanke im Mittelalter. Die geistigen Grundlagen der Renaissance, München 1926, S. 179ff.) nannte das ottonische Imperium eine Fehlkonstruktion. 58 So nannte Robert Holtzmann das Buch von Belows einen „argen Mißgriff", einen „wissenschaftlichen Irrweg", von der Politik Friedrichs I. habe er nur ein „groteskes Zerrbild" gezeichnet. Vgl. seine Rezension in: Deutsche Literaturzeitung 1928, H. 12, Sp. 579-584. Die negativen Urteile über das Werk sind zusammengestellt bei Schnuidler, Bernhard, in: HZ, Bd. 140, 1929, S. 386-392-
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Bestrebungen des Kaisertums nach Süden und nach Osten gerechtfertigt werden. Aus dem dann 1941 erschienenen Standardwerk von Robert Holtzmann 59, dessen Einschätzungen bis heute von der einschlägigen bürgerlichen Literatur weitgehend übernommen werden, ist klar ersichtlich, daß sich die Grundauffassungen von Ficker durchgesetzt hatten. Nach Holtzmann seien die Kaiserkrönung und die Kaiserpolitik Ottos eine Notwendigkeit, ein Recht und eine Pflicht auf der Grundlage der bereits vorhandenen Hegemonie des deutschen Reiches in Mittelund Westeuropa gewesen. Während der Zeit des „großdeutschen Dritten Reiches" wurde Hitlers These von der „Neuordnung Europas" durch eine nationalsozialistische Amalgamierung der katholisch-restaurativen Abendlandidee pseudohistorisch untermauert.«0 Dies geschah weitgehend durch einen Rückgriff auf das mittelalterliche Reich. Besonders seit der „Eingliederung" Österreichs und der Annexion der Tschechoslowakei entstand eine Hochflut von Literatur über das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation" mit dem Ziel, nachzuweisen, daß das Dritte' Reich die Fortsetzung des mittelalterlichen Ersten Reiches sei. 61 Prominente Historiker, die auch heute wieder in Westdeutschland eine bedeutende Rolle spielen — diesmal die Abendlandideologie unter Adenauerschem Vorzeichen propagierend —, stellten sich damals in den Dienst dieser pseudohistorischen Konstruktionen. Hermann Heimpel schrieb, daß das Dritte Reich vom mittelalterlichen Reich die „Herrschaft des Führers, reine Staatlichkeit nach innen, abendländische Sendung nach außen" aufnehmen solle. 62 Ein Hermann Aubin sprach in diesem Zusammenhang vom „deutschen Führervolk und fremdstämmigen Unterworfenen". 63 Theodor Mayer, der heute maßgeblich bei der Ausarbeitung eines „neuen Geschichtsbildes" in Westdeutschland beteiligt ist, faßte diese den Kriegszielen Hitlers dienenden Tendenzen in einer Rede 1940 noch einmal klar zusammen: „Das größdeutsche Reich nimmt die geschichtliche Entwicklung dort auf, wo sie vor 700 Jahren unter den Staufern fallen gelassen wurde. Es ist die Politik, die dem deutschen Volk als dem Volk der europäischen Mitte und dem deutschen Reich als dem politischen Mittelpunkt Europas die Aufgabe zumißt, im mitteleuropäischen Raum eine planmäßige politische Ordnung herzustellen. . ." 6/1 Ein Faschist wie Karl Richard Ganzer wehrte sich 1941 gegen die „absurden Verfallshypothesen", wie sie unter
Holtzmann, Robert, Geschichte der sächsischen Kaiserzeit, 3. Aufl., München 1955, bes. S. 190ff., 5248. «• Vgl. Stern, Leo, a. a. O ., S. 301 ff.. *>' Vgl. Koschaker, Paul, Europa und das römische Recht, München und Berlin 1947, bes. S. 3i6ff. 62 Heimpel, Hermann, Deutschlands Mittelalter, Deutschlands Schicksal, Freiburg/Br. 1933. S. 5 f. (Freiberger Universitätsreden, H. 12.) M Aubin, Hermann, Vom Aufbau des mittelalterlichen deutschen Reiches, in: HZ, Bd. 162, 1940, S. 507 f. 64 Mayer, Theodor, Deutschland und Europa, Marburg 1940. S. 22. {Marburger Universitätsreden, 3.) 59
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anderem die „Lehre der Sybelschen Schule" verkündet habe. 6 5 Ziel fieser Lehren vom germanisch-deutschen Führertum und seiner Ordnungsrolle in Europa war es, die Hitlerschen Aggressionspläne pseudohistorisch zu untermauern. Das feudale Imperium Romanum für diese Tendenzen einzuspannen war eine ebenso zweckbestimmte politische Konstruktion, die mit den Tatsachen nichts zu tun hat, wie wenn man heute in Westdeutschland das ottonische Reich als „Modell für die Vereinigten Staaten von Europa" hinstellt. 6(1 Kein Geringerer als Martin Lintzel setzte sich mit seinem im Jahre 1943 erschienenen Buch über die „Kaiserpolitik Ottos des Großen" in Gegensatz zu diesen im Hitlerreich herrschenden Anschauungen. Seine Ansichten zu diesem Problem hatten sich im Laufe der dreißiger Jahre geändert. „Während ich", so schreibt er, „wie wohl die meisten unserer mittelalterlichen Historiker, ursprünglich im großen und ganzen die durch den Namen Julius Fickers repräsentierte Auffassung über die Kaiserpolitik vertreten habe, bin ich davon bei näherem Zusehen mehr und mehr abgekommen." 67 Nach einer sehr sorgfältigen Analyse der einzelnen Faktoren, die bisher von der Historiographie zugunsten der Kaiserpolitik vorgebracht worden waren, kam Lintzel zu der Schlußfolgerung, daß die Italienpolitik Ottos I. keine politische Notwendigkeit zur Sicherung des deutschen Staats gewesen sei. Ihre Grundlage sei nicht „Defensive und Abwehr", sondern „Offensive und Eroberung" zur Ausbreitung der Macht über die deutschen staatlichen Notwendigkeiten hinaus gewesen. Zwar habe die Italienpolitik, so meint Lintzel, zuf Zeit Ottos I. noch mehr Vorteile als Nachteile gebracht, und letzterer sei auch nicht für die spätere Entwicklung verantwortlich zu machen. Immerhin habe der Weg, den er einschlug, schließlich in die Katastrophe geführt. Man kann zwischen den Zeilen lesen, daß Lintzel das Jahr 1945 voraussah. Die marxistischen Historiker sollten bei der Behandlung der Kaiserpolitik an diese wertvollen Ausführungen Lintzels anknüpfen. Nach der Niederlage im zweiten Weltkriege mußte sich der deutsche Imperialismus demokratisch, europäisch und kosmopolitisch tarnen und auf die grobschlächtige, rassistische und national-chauvinistische Demagogie verzichten. Er griff dabei wieder auf die katholisch-restaurative Abendland- beziehungsweise Europaidee 65
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Ganzer, Karl Richard, Das Reich als europäische Ordnungsmacht, in: Reich u. Reichsfeinde. Schriften d. Reichsinst. f. Gesch. des neuen Deutschland, 2., Hamburg 1941, S. 17 f. Hohoff, Cttrf, in der „Bonner Rundschau" vom 2. 2. 1962. Lintzel, Martin, a. a. O., S. 142. Zu den folgenden Ausführungen vgl. ebenda S. 206. Rörig, Fritz (Die Kaiserpolitik Ottos des Großen. Gedanken zu dem gleichnamigen Buch von Martin Lintzel, in: Festschr. Edmund E. Stengel, Münster und Köln 1952, S. 203-222) stimmt trotz einiger Modifikationen, die vor allem auf eine stärkere Betonung der karolingischen Tradition hinzielen, im Grunde den Ausführungen Lintzels zu. Im Jahre 1941 war er allerdings anderer Meinung. Er schrieb, daß das „Großdeutschland" das Verständnis geschaffen habe „für eine Zeit, in der die Deutschen eine europäische Führungsaufgabe hatten". (Derselbe, Mittelalterliches Kaisertum, a. a. O., S. 49.)
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zurück, die nun zu seiner politischen Zentralidee wurde, hinter der sich die alten aggressiven und revanchistischen Ziele verbergen. 118 Um diese „Abendland"Ideologie als Tarnmantel für das Raub- und Annexionsprograrnm des westdeutschen Imperialismus pseudowissenschaftlich zu untermauern, greift man wieder weitgehend auf das Mittelalter, besonders das mittelalterliche Imperium, zurück. Im Zeichen dieser kosmopolitischen, antinationalen Konzeptionen stehen die Bemühungen der führenden westdeutschen Historiker. So spielt für sie die Frage der Rückwirkung der Kaiserpolitik auf die deutsche nationalstaatlichc Entwicklung kaum noch eine Rolle69,"da die Nationalstaatsidee des 19. Jahrhunderts angeblich überholt sei. 70 Die eigentlichen Lebensfragen der deutschen Nation werden kaum mehr berührt. Entsprechend diesem nationalen Nihilismus betreibt man entweder landesgeschichtliche Einzelforschung, oder man befaßt sich mit abendländischgesamteuropäischen Problemen, mit der „Frage der Aufrichtung des Abendlandes auf geistig-religiöser Ebene", wie Theodor Mayer sagt. 71 Besonders Theodor Mayer hat sich bemüht, die Grundlagen für ein „neues Geschichtsbild" herauszuarbeiten.72 Sein braunes Geschichtsbild während des Dritten Reiches kennen wir bereits. Es hat sich nicht viel geändert. Nur das Firmenschild „Abendland" wird jetzt überall angeklebt. Nach seiner Leistung für das Abendland wird nun auch das mittelalterliche Kaisertum eingeschätzt. Es habe das Abendland gebildet und erhalten. Die „geschichtliche Leistung des deutschen Reiches" für das Abendland sei größer gewesen als die jedes anderen Volkes und Staates. Wer die Tragödie dieses ersten Reiches „vom nationalstaatlichen Standpunkt aus betrachtet", so schreibt Th. Mayer, „wird vielleicht zu einem abträglichen Urteil kommen, wer sie vom 68 69
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Vgl. Stern, Leo, a. a. O., S. 286fr., 3 0 3 « . Grundmann, Herbert (Betrachtungen zur Kaiserkrönung Otto 1, in: S B Bayr. Akad. d. Wiss., Philos.-hist. Kl. 1962, H. 2, S. l6f.), läßt diesen Gesichtspunkt bewußt außer Betracht. So sagte Walter Holtzmann im Jahre 1955 auf dem 10. internationalen Historikerkongreß in Rom über das Imperium und die Kaiserpolitik: ^Unverkennbar ging die ältere Diskussion von einem politischen Weltbild aus, das in dem modernen Nationalstaat des 19. Jh. das Ziel der historischen Entwicklung erblickte. Nach den Ergebnissen des letzten Krieges ist es jedoch zweifelhaft geworden, ob dies der göttlichen Weisheit letzter Schluß ist, und, so erhält die Geschichtswissenschaft, wiederum aus Antrieben, die sich von außen her aufdrängen, die Aufforderung, das Problem neu zu überdenken." (Imperium und Nationen, a. a. O., S- 275.) Mayer, Theodor, a. a. O., S. 2. Es handelt sich vor allem um folgende programmatische Aufsätze in der Historischen Zeitschrift: Mayer, Theodor, Das Hochmittelalter in neuer Schau, in: HZ, Bd. 171, 1951, S. 4 4 9 - 4 7 2 ; Derselbe, Größe und Untergang des heiligen Reiches, in: HZ, Bd. 178, 1954, S. 471—492; Derselbe, Papsttum und Kaisertum im hohen Mittelalter, in: HZ, Bd. 187, 1959, S. 1—53, Vgl. auch: Derselbe, Der Wandel unseres Bildes vom Mittelalter, in: Blätter f. deutsche Landesgeschichte, 94. Jg., 1958, S. 1—37; ü. seine Aufsatzsammlung: Derselbe, Mittelalterliche Studien, Lindau und Konstanz 1959.
Der Streit zwischen Sybel und Ficker
335
erhöhten Standpunkt des christlichen Abendlandes überblickt, wird sie mit dankbarer Gesinnung anerkennen". «• Die Vertreter dieser Tendenzen bemühen sich, das mittelalterliche Kaisertum aller tatsächlichen politischen Aggressionstendenzen zu entkleiden. Walter Holtzmann betrachtet es mehr als „eine geistige Größe", die „dem Bereiche der Kirche und der Religion" angehört. Aus seiner bloßen höheren Würde habe es keinerlei politische Schlußfolgerungen gezogen. Auf der Grundlage dieser rein geistes- und religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise geht man dann sogar noch über Ficker hinaus, der bekanntlich meinte, das Imperium habe die Entwicklung der Nationen nicht gehemmt, und behauptet, das Kaisertum habe den „werdenden Nationalstaaten das Stichwort gegeben für die Verteidigung einer weltlich-irdischen Staatsgewalt''. 7 4 Ein Schüler Walter Holtzmanns, H. J. Kirfel, dessen Ausgangsstellung, wie er selbst zugibt, von der gegenwärtigen „Europäischen Integration" bestimmt ist 7 5 , wendete diese Leitsätze seines Lehrers auf die Stauferzeit an. Die Staufer hätten nicht mit antiquierten, universalen Ansprüchen gegen die entstehende Welt der Nationen angekämpft, sondern seien der neuen Situation in der abendländischen Völkergemeinschaft gerecht geworden. Der Freundschafts- und Bündnisgedanke sei ein Hauptmittel der auswärtigen staufischen Politik und besonders die Grundlage der Beziehungen zwischen dem Imperium und den Westmächten gewesen. E s ist bereits von anderer Seite darauf hingewiesen worden, daß der Begriff Abendland mindestens seit dem 16. Jahrhundert unhistorisch geworden ist. Alle späteren Losungen von der Herstellung der Einheit des Abendlandes sind Losungen der Reaktion, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. 7 " Gegenüber der jetzigen Einschätzung des Kaisertums durch die westdeutsche Historiographie muß man vor allem einwenden, daß das Kaisertum nicht vor allem eine, geistige, sondern eine sehr realpolitische Größe war. Das Imperium hat für die Entwicklung der Selbständigkeit der einzelnen Völker keine positive Rolle gespielt. 77 Wenn auch die Weltherrschaftsidee nicht das Movens der "
Derselbe, Größe und Untergang des heiligen Reiches, in: HZ, Bd. 178, 1954, S. 491 • Zitate aus Holtzmann, Walter, Imperium und Nationen, a. a. O., S. 281, 303. Die gleiche Tendenz findet sich bei KempJ, F., Das mittelalterliche Kaisertum. Ein Deutungsversuch, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, Lindau u. Konstanz 1956, S. 225—242 (Mainauvorträge, hg. v. Th. Mayer, Bd. 3). 'S Kirfel, Hans Joachim, Weltherrschaftsidee und Bündnispolitik, a. a. O., S. 17: „So hat das heutige Problem des freien Zusammenschlusses der europäischen Staaten den Blick geschärft für ihre prinzipielle Gleichberechtigung, wie sie sich im Verlauf der Geschichte entwickelt hat." 76 Vgl. Töpfer, Bernhard, Das Abendland in der mittelalterlichen Geschichte, in: Wiss. Zeitschr. d. Humboldt-Universität, Gesellsch. u. sprachwiss. Keihe, 9. Jg., H. 1/2, 1959, S. 89—98. Vgl. auch: Büttner, Theodora, Abendlandideologie und Neo-Karolingertum im Dienste der Adenauer-CDU, in: ZfG, 7. Jg., H. 8, 1959, S. 1803-1824.
74
336
Gottfried Koch
staufischen Politik war, so kann das doch kein Grund sein, ihre aggressiven Ansprüche inner- und außerhalb des Imperiums aus den Quellen hinwegzuinterpretieren, wie das von Kirfel versucht wurde. Die Historiker der D D R haben den ganzen K o m p l e x der Kaiserpolitik bisher vernachlässigt. Bei der Herausarbeitung eines nationalen Geschichtsbildes, der E n t wicklungsgesetzmäßigkeiten und Entwicklungsperspektiven der deutschen Nation und des deutschen Nationalstaates sollten auch innerhalb der Mediävistik der D D R diese Probleme stärker in den Vordergrund treten. Abgesehen davon, d a ß Fragen wie die Entwicklungsetappen der deutschen Nation, die Entstehung des deutschen Staates und v o r allem das Verhältnis von regnum und imperium stärker in der Forschung beachtet werden müssen, dürften bei der Betrachtung der Kaiserpolitik zwei Dinge zu unterscheiden und hervorzuheben sein: Erstens: Im Gegensatz zur bürgerlichen Literatur müssen die Ursachen der Kaiser- beziehungsweise Italienpolitik in ihren verschiedenen Etappen vor allem durch eine Analyse der innenpolitischen Verhältnisse herausgearbeitet werden. So gehörte die Italienpolitik der Ottonen in die Expansionsbestrebungen frühfeudaler Staaten überhaupt hinein. Die aggressive Außenpolitik hatte kein Primat vor der Innenpolitik. Ebenfalls wäre es notwendig, die politischen und ökonomischen Verhältnisse Italiens selbst als Anreiz für diese Politik stärker zu berücksichtigen als bisher. 7 8 Zweitens: Die objektiven Auswirkungen der Kaiserpolitik auf die deutsche und italienische nationalstaatliche Entwicklung waren negativ. U m diese Tatsache kommt man nicht herum. So bemerkte Friedrich Engels, als er die Ursachen für die Zersplitterung Deutschlands analysierte, unter anderem: „Deutschland wäre trotz der ökonomischen Zusammenhanglosigkeit doch zentralisiert (worden), und (zwar) früher schon (z. B . bei den Ottonen), wenn nicht 1) die römische Kaiserwürde und der (damit verbundene) Weltherrschaftsanspruch die Konstituierung eines Nationalstaates ausgeschlossen (hätte) und die K r ä f t e in den italienischen Eroberungszügen verschleudert (worden wären) . . . wobei die deutschen Interessen stets verraten (wurden), und (nicht) 2) die Existenz des Wahlkaisertums (gewesen wäre)..."79 Während in Italien die Herausbildung eines eigenen Königtums gehindert wurde, wurde die deutsche Zentralgewalt durch diese Politik immer wieder von ihren innenpolitischen A u f g a b e n abgelenkt, was zur Stärkung der Macht der partikularen Feudalgewalten, zum Siege der Dezentralisation in Deutschland beitrug. 77
78
70
Vgl. dazu auch die Diskussionen zu dem genannten Referat von Holtzmannin Rom, bes. die Beiträge von Graus, Frantiiek; Molnar, Erik; Koczy, Leon, in: Atti del X. congresso internazionale di scienze storiche, Rom 1957, S. 3 3 ö S . , 420, 426. Vgl. dazu Müller-Mertens, Eckhard, a. a. O., S. io8f.; u. die kritischen Bemerkungen zu diesen Ausführungen von Huhns, Erik, a. a. O., S. 395. In Verbindung mit den genannten politisch-ökonomischen Faktoren müssen dann auch die Probleme der Tradition und die komplizierte Frage der Kaiseridee gesehen werden, auf die in diesem Rahmen nicht eingegangen werden konnte. Engels, Friedrich (Notizen über Deutschland), in: Marx/Engels, Über Deutschland, und die deutsche Arbeiterbewegung, a. a. O., S. 562 f.
Über das Geschichtsbild von Karl Marx und Friedrich Engels Heinz
Heitzer
E r s t , seit Marx und Engels gibt es eine Wissenschaft von der Geschichte im vollen Sinne des Wortes. Indem Marx und Engels den Materialismus und die Dialektik auf die Gesellschaft ausdehnten und die Gesellschaftswissenschaften, darunter die Geschichtsschreibung, dem proletarischen Klassenkampf unterordneten, haben sie eine wahrhaft wissenschaftliche Geschichtsschreibung begründet. Das Verdienst von Marx und Engels um die Geschichtswissenschaft besteht nicht nur in der Ausarbeitung des historischen Materialismus, der materialistischen Geschichtstheorie und -methode, sondern auch in ihrer meisterhaften Anwendung. „ M a r x hat kaum etwas geschrieben", bemerkte Engels in einem Brief an Bloch, „ w o sie (die materialistische Geschichtsauffassung — H. H.) nicht eine Rolle spielt. Besonders aber ist ,Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte' ein ganz ausgezeichnetes Beispiel ihrer A n w e n d u n g . " 1 D a s gleiche trifft auf Friedrich Engels zu, dem im Rahmen der „Arbeitsteilung" zwischen den beiden Großen ein bedeutender Anteil der Arbeit auf dem Gebiet der Geschichte zufiel. Allein in den Jahren 1850 bis 1852 entstanden solche bedeutenden Geschichtswerke von Marx und Engels wie „ D i e deutsche Reichs Verfassungskampagne", „ D i e Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850", „ D e r deutsche Bauernkrieg", „ R e v o l u t i o n und Konterrevolution in Deutschland", „ D e r achtzehnte Brumaire des Louis B o n a p a r t e " , allesamt „glänzende und tiefschürfende Beispiele der materialistischen Geschichtsschreibung. . .", wie Lenin einmal feststellte. 2 „Marx und Engels", sagte Walter Ulbricht in seinem Referat z u m „Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung", „studierten die Entwicklung und die Erfahrungen des Klassenkampfes und der Arbeiterbewegung in Deutschland und in zahlreichen anderen Ländern. Daraus zogen sie entscheidende Schlußfolgerungen für die Ausarbeitung und die Weiterentwicklung des Marxismus und für die Entwicklung der wissenschaftlichen Strategie und T a k t i k der revolutionären Arbeiterpartei. In ihren Werken behandelten sie die Grundfragen der Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhun-
1
J
Engels an Bloch, 21./22. September 1890, in: Marx/Engels, Ausgewählte Briefe,. Berlin 1953, S. 504. Lettin, W. /., Karl Marx, in: Werke, Bd. 21, Berlin i960, S. 47.
34«
Heinz Heitzer
dert. Die meisterhafte Anwendung des historischen Materialismus in diesen Werken macht sie zu Vorbildern für unsere geschichtswissenschaftlichen Arbeiten." 3 Eminent ist der Bereich des historischen Interesses von Marx und Engels, ihrer historischen Aufsätze, Studien, Hinweise und Notizen. Der Umfang ihrer geschichtlichen Kenntnisse war einzigartig, wovon allein schon ihr Briefwechsel zeugt. Sei es die Geschichte Indiens oder Rußlands, seien es Vor- und Frühgeschichte oder die Epochen der Sklaverei und des Feudalismus, Ereignisse der Kriegs- oder Kulturgeschichte, der Agrarentwicklung oder der Wirtschaftsgeschichte, weltgeschichtliche Umwälzungen, wie die industrielle Revolution, oder lokale Ereignisse , wie die Verfassungskämpfe in einigen süddeutschen Kleinstaaten überall waren Marx und Engels „zu Hause", und nicht nur das: in allen Fragen hatten sie ein eigenes, selbständiges, wissenschaftlich fundiertes Urteil. In die dunkelsten Zusammenhänge brachten sie Licht, auf die kompliziertesten Fragen gaben sie eine wissenschaftlich begründete Antwort oder - wenn das noch nicht möglich war - deuteten sie den Weg an, der zur Lösung führt. 4 Und dabei war die Geschichte nur ein Bereich ihres rastlos tätigen, forschenden Geistes, nur eine Wissenschaftsdisziplin, der sie Leben einhauchten und die ihnen unsterbliche, umwälzende Erkenntnisse verdankt! Marx und Engels konzipierten den Grundriß eines in sich geschlossenen wissenschaftlichen Gesamtbildes der Geschichte der Menschheit — von den Anfängen der Menschheitsentwicklung bis zur Gegenwart, vom Zentrum Europas bis nach Ostasien und Amerika. Die durch Karl Marx „vollzogene Umwälzung in der gesamten Auffassung der Weltgeschichte" 5 ist neben der Entdeckung des Gesetzes vom Mehrwert, das den inneren Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise bloßlegte, die größte und bedeutendste Leistung des Begründers des wissenschaftlichen Sozialismus. „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; daß also die Produktion der unUlbricht, Walter, Referat 2um „Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung", in: ZfG, 10. Jg., H. 6, 1962, S. 1263. * Wie kläglich erscheint angesichts der Leistungen von Marx und Engels auf dem Gebiet der Geschichte das Gebell der Möpse, die — wie ein gewisser Karl Mielcke in der westdeutschen Zeitschrift „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht" (10. Jg., H. 3, Stuttgart 1959, S. 146) — Karl Marx vorwerfen, er hätte nie selbst Geschichte geschrieben und wäre deshalb nie in die „Verlegenheit" gekommen, seine Thesen zu beweisen! „Glücklich" der Ignorant, der — gleich Mielcke — kaum ein Zipfelchen dessen kennt, worüber er schreibt und deshalb nie in die Verlegenheit kommen wird, seine „Thesen" zu beweisen. 5 Engels, Friedrich, Karl Marx, in: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften in 2 Bänden, Bd. 2, Berlin 1955, S. 151.
3
Uber das Geschichtsbild von Marx und Engels
341
mittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnittes die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben und aus der sie daher auch erklärt werden müssen — nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt." 1 ' Durch Hervorhebung der'Gesamtheit der Produktionsverhältnisse einer Epoche hat Marx das bislang verborgene objektive Kriterium für die Erkenntnis des Geschichtsverlaufs aufgedeckt. Er hat „der Vorstellung ein Ende bereitet, die Gesellschaft sei ein mechanisches Aggregat von Individuen, an dem gemäß dem Willen der Obrigkeit . . . beliebige Veränderungen vorgenommen werden können, das zufällig entsteht und sich wandelt, hat er als erster die Soziologie-auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt, indem er den Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation als Gesamtheit der jeweiligen Produktionsverhältnisse festlegte und feststellte, daß die Entwicklung solcher Formationen ein naturgeschichtlicher Prozeß ist." 7 Diese Gesellschaftsformationen, denen bestimmte Geschichtsepochen entsprechen, sind die Urgemeinschaft, die Sklaverei, der Feudalismus, der Kapitalismus und schließlich der Sozialismus und Kommunismus. Die materialistische Geschichtsauffassung ist die Grundlage des Geschichtsbildes von Marx und Engels. In Form des historischen Materialismus legten Marx und Engels „gleichsam die Kompositionsprinzipien" des wissenschaftlichen Geschichtsbildes der revolutionären Arbeiterklasse fest. 8 Die Krönung dieses Geschichtsbildes ist die Erkenntnis von der welthistorischen Mission der Arbeiterklasse, die gesamte Menschheit für immer von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien, damit die Vorgeschichte der Menschheit abzuschließen und ihre eigentliche Geschichte einzuleiten. Im Zentrum auch des historischen Interesses von Marx und Engels standen daher die Länder, in denen die Arbeiterklasse dem Zeitpunkt der unmittelbaren Verwirklichung ihrer historischen Mission am nächsten war. Das waren zu Lebzeiten von Marx und Engels vor allem England, Frankreich und Deutschland: Die Geschichte dieser Länder haben Marx und Engels am intensivsten erforscht. So beschäftigen sich die meisten ihrer größeren historischen Arbeiten und Studien mit der französischen, deutschen und englischen Geschichte. Dieses bevorzugte Interesse ist natürlich auch auf den Umstand zurückzuführen, daß England, Frankreich und Deutschland neben Rußland zu Lebzeiten von Marx und Engels die tonangebenden Mächte waren, zwischen denen die entscheidenden internationalen Auseinandersetzungen ausgetragen wurden. Entscheidend war jedoch, daß diese Länder oder genauer: die Arbeiterklasse dieser Länder in der proletarischen
6 7
8
Derselbe, Rede am Grabe von Karl Marx, in: Ebenda, S. 156. Lenin, W. /., Was sind die „Volksfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? in: Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. i33f. Engelberg, Ernst, Probleme des nationalen Geschichtsbildes der deutschen Arbeiterklasse, hg. von der Deutschen Historiker-Gesellschaft, o. O. (1962), als Manuskript gedruckt, S. 8.
23 Geacbichtswisse&scbait, Bd. I
342
Heinz Heitzer
Revolution, deren Unvermeidlichkeit Marx und Engels voraussagten und auf die sie die Arbeiterklasse vorbereiteten, den Ausschlag geben mußten. Als Revolutionäre, die Marx und Engels zuerst und vor allem waren, konnte es nicht ihr Anliegen sein, ein umfassendes, lückenloses Geschichtsbild auszuarbeiten. Ihr Herangehen an die Geschichte einzelner Länder, speziell Englands, Frankreichs und Deutschlands, war von den Erfordernissen des proletarischen Klassenkampfes und im besonderen von der Fragestellung bestimmt: Welchen spezifischen Platz nimmt die Arbeiterklasse des jeweiligen Landes in der bevorstehenden proletarischen Revolution ein und wie ist dieser spezifische Platz, diese spezifische Rolle historisch zu erklären? Dabei gingen sie von der unter den Bedingungen des vormonopolistischen Kapitalismus richtigen wissenschaftlichen These aus: Die proletarische Revolution „ist eine universelle Revolution und wird daher auch ein universelles Terrain haben". 9 Der Sieg der europäischen Arbeiterklasse ,,kann nur sichergestellt werden durch das Zusammenwirken von, mindestens, England, Frankreich und Deutschland" 10 . Niemals wichen Marx und Engels von dem Grundsatz ab, immer „den großen Zusammenhang der Weltereignisse im Auge zu behalten", wie Friedrich Engels einmal an Bernstein schrieb." Aufmerksam beobachteten sie, wie sich die Bedingungen für die Befreiung des Proletariats in den einzelnen Ländern gestalteten und welche Abteilung des internationalen Proletariats jeweils die Vorhut des Kampfes bildete. Sie konstatierten nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und der Pariser Kommune, daß „ . . . durch die insularen Eigentümlichkeiten der englischen und die gewaltsame Niederhaltung der französischen Bewegung . . . die deutschen Arbeiter für den Augenblick in die Vorhut des proletarischen Kampfes gestellt worden" sind. 12 Ihnen entging auch nicht, daß sich gegen Ende des 19. Jh. das revolutionäre Zentrum nach Rußland zu verlagern begann. „Rußland bildet die Vorhut der revolutionären Aktion von Europa", schrieben Marx und Engels. 1882 im Vorwort zur zweiten russischen Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei" 13 . Versucht man, die Einschätzung der spezifischen Rolle des Proletariats der Hauptländer Europas durch Marx und Engels in wenigen Thesen zusammenzufassen (wobei, da der Wandel dieses Bildes hier nicht untersucht werden kann, auf Differenzierungen verzichtet werden muß), so ergibt sich etwa folgendes Bild: Von 9
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12
13
Engels, Friedrich, Grundsätze des Kommunismus, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 375. Engels, Friedrich, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Einleitung zur englischen Ausgabe, in: Marx¡Engels, Ausgewählte Schriften in 2 Bänden, Bd. 2, S. 105. Engels an Bernstein, 25. Januar 1892, in: Marx ¡Engels, Ausgewählte Briefe, S. 418. Engels, Friedrich, Der deutsche Bauernkrieg. Vorbemerkung, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 7, Berlin i960, S. 54t. Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei. Vorrede zur russischen Ausgabe von 1882, in: Ebenda, Bd. 4, Berlin 1959, S. 576.
Übor das Geschichtsbild von Marx und Engels
343
Frankreich wird die Initiative ausgehen (diese Auffassung vertraten sie etwa bis zur Pariser Kommune; später äußerten sie wiederholt die Meinung, daß die Revolution in Rußland beginnen und sich von Ost nach West ausbreiten werde), England werde den Ausschlag geben 1 4 , in Deutschland schließlich werde die Revolution „ a m langsamsten und schwierigsten" 1 5 und zugleich am durchgreifendsten sein 16 und ihr endgültiger Sieg sichergestellt werden.' 7 Die geschichtlichen Ursachen für den spezifischen Platz der einzelnen Länder in der gesetzmäßig heranreifenden proletarischen Revolution sahen Marx und Engels vor allein darin, daß in Frankreich die bürgerliche Revolution ,,. . . auf unverhüllt politischem Boden . . . wirklich ausgekämpft wurde bis zur Vernichtung des einen Kombattanten, der Aristokratie, und zum vollständigen Sieg des andern, der Bourgeoisie". 18 England war andererseits das Land, in dem die bürgerliche Umwälzung in ökonomischer Hinsicht am konsequentesten vollzogen wurde und die Produktivkräfte des Kapitalismus am meisten entwickelt waren, während in Deutschland vor allem infolge des Versagens der Bourgeoisie weder in ökonomischer noch in politischer Hinsicht die bürgerliche Revolution bis zu Ende „ausgekämpft" worden war. Damit wird ein weiteres Wesensmerkmal des Geschichtsbildes von Marx und Engels deutlich: sie gingen aus von der wissenschaftlichen Erkenntnis, daß die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung in allen Ländern wirksam sind und zum Durchbruch drängen. Wenn die Entwicklung Frankreichs und Englands für sie eine Art „Maßstab" war, den sie auch bei der Untersuchung der Geschichte anderer Länder, darunter Deutschlands, anwandten, so deshalb, weil sich in diesen Ländern die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, besonders des
,,. . . die Aufgabe des Arbeiters, wer löst sie? . . . Sie wird nicht in Frankreich gelöst, sie wird in Frankreich proklamiert . . . Die Lösung, sie beginnt erst in dem Augenblick, wo . . das Proletariat an die Spitze des Volks getrieben wird, das den Weltmarkt beherrscht, an die Spitze Englands." Marx. kämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: Marx/Engels,
Karl,
Die Klassen-
Werke, Bd. 7, Berlin i960,
S. 79. ,s
Engels,
16
Charakteristisch dafür sind die bekannten Sätze von Karl Marx aus der Einleitung
Friedrich,
Grundsätze des Kommunismus, a. a. O., S. 374.
zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie: „ I n Deutschland ist die Emanzipation von dem Mittelalter
nur möglich als die Emanzipation zugleich von den
Überwindungen des Mittelalters
teilweisen
In Deutschland kann keine
Art der
Knechtschaft gebrochen werden, o h n e j e d e Art der Knechtschaft zu brechen. Das Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne vonGrund
gründliche
aus
zu revo-
lutionieren." Marx,
Karl,
Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung, in: Marx/
Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 391. 17
Engels,
Friedrick,
Zur Wohnungsfrage, in: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften
in zwei Bänden, Bd. 1, S. 527. 18
Derselbe,
Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft,
a. a. O., S. 97. 23'
344
Heinz Heitzer
Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, in „klassischer" Form durchgesetzt hatten. 19 Beim Studium der Geschichte einzelner Länder suchten Marx und Engels Antwort auf die Frage, wie die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung, zu deren Erkenntnis sie vorwiegend bei der Erforschung der französischen und englischen Geschichte gelangt waren, in diesen Ländern wirkten. Gleichzeitig diente ihnen das „klassische" französische und englische Beispiel als Medium, das die Besonderheiten der Geschichte einzelner Länder erkennen half. So können wir auch die von Marx und Engels aufgedeckten besonderen Züge der deutschen Geschichte weitgehend verstehen als Unterschiede gegenüber der Geschichte Frankreichs und Englands. Wenn Marx und Engels neben der Erforschung der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte Deutschlands zugleich bestimmte Unterschiede gegenüber der Geschichte Frankreichs und Englands stark betonten, dann deshalb, weil diese Unterschiede einen Erklärungsgrund dafür bilden, daß unter den Bedingungen, wie sie zu Lebzeiten von Marx und Engels herrschten, den deutschen Arbeitern die schwierigste und zugleich durchgreifendste Revolution bevorstand. Gleichzeitig ist die Betonung des französischen 19
„Frankreich ist das Land", schreibt Friedrich Engels, „wo die geschichtlichen Klassenkämpfe mehr als anderswo jedesmal bis zur Entscheidung durchgefochten wurden, wo also auch die wechselnden politischen Formen, innerhalb deren sie sich bewegen und in denen ihre Resultate sich zusammenfassen, in den schärfsten Umrissen ausgeprägt sind. Mittelpunkt des Feudalismus im Mittelalter, Musterland der einheitlichen ständischen Monarchie seit der Renaissance, hat Frankreich in der großen Revolution den Feudalismus zertrümmert und die reine Herrschaft der Bourgeoisie begründet in einer Klassizität wie kein anderes europäisches Land Und auch der Kampf des aufstrebenden Proletariats gegen die herrschende Bourgeoisie tritt hier in einer, anderswo unbekannten, akuten Form auf. Das war der Grund, weshalb Marx nicht nur die vergangne französische Geschichte mit besonderer Vorliebe studierte, sondern auch die laufende in allen Einzelheiten verfolgte. . ." — Engels, Friedrich, Vorrede [zur dritten Auflage (1885), „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", von Karl Marx), in: Marx/Engels, Werke, Bd. 8, Berlin i960, S. 561 f. — In einer Anmerkung zur englischen Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei" von 1888 schreibt Engels: „Allgemein gesprochen haben wir hier als typisches Land für die ökonomische Entwicklung der Bourgeoisie England, für ihre politische Entwicklung Frankreich angeführt." Marx/Engels, Ausgewählte Schriften in 2 Bänden, Bd. 1, S. 25, Anm. 2. — Es ist wohl auch kein Zufall, daß sich das erste größere marxistische Geschichtswerk, die Arbeit von Marx „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850", mit der- Geschichte Frankreichs beschäftigte. (Engels: Diese „Arbeit war Marx' erster Versuch, ein Stück Zeitgeschichte vermittelst seiner materialistischen Auffassungsweise aus der gegebenen ökonomischen Lage zu erklären". Engels, Friedrich, Einleitung [zu „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850" von Karl Marx (Ausgabe 1895)], > n: Marx/Engels, Werke, Bd. 7, S. 511.) — Was England betrifft, so sei hier nur auf die drei Bände des „Kapitals" hingewiesen.
Uber das Geschichtsbild von Marx und Engels
345
und englischen Beispiels als ein Aufruf an das deutsche Volk zu werten, die Überreste des Feudalismus radikal zu beseitigen und die bürgerliche Umwälzung konsequent durchzuführen. *
In ihren Arbeiten über die deutsche Geschichte schufen Marx und Engels die unzerstörbaren Grundlagen des nationalen Geschichtsbildes der deutschen Arbeiterklasse. Dieses Geschichtsbild definierte Ernst Engelberg wie folgt: „. . . in seinen allgemeinen Umrissen gezeichnet, zeigt das nationale Geschichtsbild der Arbeiterklasse, wie die Volksmassen, geführt von der historisch jeweils fortschrittlichen Klasse, in einem jahrhundertelangen und trotz vieler Rückschläge und qualvoller Umwege im ganzen aufsteigenden Kampfe zwischen Fortschritt und Reaktion die objektiven Entwicklungsbedürfnisse der Gesellschaft in unserer Nation durchgesetzt haben; es zeigt, wie dieser Kampf der Volksmassen in der Bewegung der Arbeiterklasse und in der Erringung und Entwicklung der Macht der Arbeiter und Bauern gipfelt. So macht "das nationale Geschichtsbild die Gesetzmäßigkeit der sozialistischen Perspektive und die humanistischen, demokratischen und sozialistischen Traditionen unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates sichtbar. Die Grundzüge des nationalen Geschichtsbildes der Arbeiterklasse sind denen der imperialistischen Großbourgeoisie diametral entgegengesetzt: sie sind sozialistisch, demokratisch, patriotisch." 20 Wenn gesagt wird, daß Marx und Engels die Grundlagen des nationalen Geschichtsbildes der deutschen Arbeiterklasse geschaffen haben, so ist darunter vor allem zu verstehen: erstens, der Nachweis, daß auch in der deutschen Geschichte gesetzmäßig eine alte Gesellschaftsformation durch dje fortgeschrittenere abgelöst wurde, daß sich mithin ein zwar komplizierter, aber unaufhaltsamer Fortschritt vom Niederen zum Höheren vollzogen hat; zweitens, der Nachweis, daß die Ablösung einer alten Gesellschaftsformation durch eine neue, speziell die Ablösung des Feudalismus durch den Kapitalismus, stets eine revolutionäre Veränderung bildete; drittens, der Nachweis, daß es immer eine fortschrittliche und eine reaktionäre Linie in der deutschen Geschichte gegeben hat. Obwohl die reaktionären Kräfte lange Zeit bestimmenden Einfluß ausübten, war die progressive Linie in der deutschen Geschichte immer vorhanden. Auch das deutsche Volk hat seine großen Traditionen. In der Geschichte der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung ist diese progressive Linie am hervorragendsten ausgeprägt. „Mit dem Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung", sagte Walter Ulbricht, „entwickelte sich immer sichtbarer eine fortschrittliche, den Interessen der Nation entsprechende neue Linie der deutschen Politik, eine Linie, die der reaktionären volksfeindlichen Politik der deutschen Ausbeuterklasse, des deutschen Imperialismus und Mili20
Evgelberg, Ernst, a. a. O., S. 7.
346
Heinz Heitzer
tarismus gegenübersteht, die mit dem Entstehen und dem Aufstieg der DDR schon heute in einem Teil Deutschlands gesiegt hat und der die Zukunft in ganz Deutschland gehört. Diese neue Linie wird zusammen mit Vertretern der Arbeiterklasse auch von anderen patriotischen Kräften repräsentiert." Trotz ihrer Kritik an der — verglichen mit Frankreich und England - ökonomischen und politischen Zurückgebliebenheit Deutschlands, einer Kritik, die sich gegen die unheilvolle, fortschrittshemmende Rolle der Ausbeuterklassen in der deutschen Geschichte richtete, waren Marx und Engels immer der Meinung, daß Deutschland zu den fortgeschrittensten Ländern Europas zu zählen ist, wenngleich es innerhalb dieser Gruppe hinter den führenden Ländern zurücklag. Marx und Engels wiesen auch darauf hin, daß es Perioden gab, da Deutschland an der Spitze Europas stand, so ökonomisch etwa von 1470 bis 1530 --, im theoretisch-philosophischen Denken und auf dem Gebiet der Literatur und Musik um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Gleichzeitig konstatierten sie, daß gewöhnlich eine Diskrepanz bestand zwischen den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland, daß die ökonomische, die politische und die geistige Blüte nicht Hand in Hand gingen. Die „Zeit der größten Erniedrigung von außen", so charakterisierte Engels die Situation nach dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches, „koinzidiert mit der Glanzperiode der Literatur und Philosophie und der Kulmination der Musik in Beethoven". 23 Angesichts dieser von Marx und Engels aufgedeckten Diskrepanz zwischen den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in der deutschen Geschichte war es außerordentlich bedeutungsvoll, wenn Friedrich Engels im Jahre 1874 der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung das lobende Urteil ausstellen konnte: ;,Zum erstenmal, seit eine Arbeiterbewegung besteht, wird der Kampf nach seinen drei Seiten hin - nach der theoretischen, der politischen und der praktisch-ökonomischen . . . - im Einklang und Zusammenhang und planmäßig geführt. In diesem sozusagen konzentrischen Angriffe liegt gerade die Stärke und Unbesiegbarkeit der deutschen Bewegung." 2 '* Bewies die deutsche Arbeiterklasse damit nicht auch, daß sie, wenn sie sich in ihrem Kampf von der revolutionären marxistischen Theorie leiten ließ, berufen und befähigt war, die überkommene Diskrepanz zwischen den einzelnen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland zu überwinden und das deutsche Volk zu einer nie gekannten wirtschaftlichen, politischen und geistigen Blüte zu führen? Auf jeden Fall zeugen diese Erkenntnisse davon, daß Marx und Engels nie der Meinung waren, daß die relative Zurückgebliebenheit Deutschlands gegenüber England und Frankreich unvermeidlich und nie mehr zu korrigieren sei. Die „klassische Stätte" der kapitalistischen Produktionsweise, schrieb Marx im Vorwort zur ersten Auflage des „Kapital", „ist bis jetzt England. Dies der Grund,
21 Ulbricht, Walter, a. a. O., S. 1272. 22 Engels an Kautsky, 15. September 1889, in: Marx/Engels, Über Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung, Bd. 1, Berlin 1961, S. 617. 23 Engels, Friedrich, Notizen über Deutschland, in: Ebenda, S. 566. 24 Derselbe; Der deutsche Bauernkrieg, a: a. O., S. 541.
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warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient. Sollte jedoch der deutsche Leser . . . sich optimistisch dabei beruhigen, daß in Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm stehn, so muß ich ihm zurufen: Dete jabitla narratur! . . . Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft." 2 3 Kaum zwanzig Jahre später war das gewaltige Bild, das Karl Marx in seinem Hauptwerk, dem „Kapital", schuf für Deutschland keine Zukunft mehr, sondern lebendige Gegenwart. In den Tagen des „Bundes der Kommunisten", schrieb Engels 1885, „war Deutschland ein Land des Handwerkes und der auf Handarbeit beruhenden Hausindustrie; jetzt ist es ein noch in fortwährender industrieller Umwälzung begriffenes großes Industrieland. " 2 f i Die kapitalistische Produktionsweise hatte auch Deutschland mit unwiderstehlicher Macht ergriffen; an die Stelle der feudalen war gesetzmäßig die kapitalistische Gesellschaftsformation getreten. Und ebenso wie in England und Frankreich hattfc sich diese Umwälzung auf revolutionärem Wege vollzogen. Im größten Teil Deutschlands vollzog sie sich nicht im Zuge einer konsequenten durchgreifenden Revolution — ähnlich der klassischen bürgerlichen Revolution in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts —, sondern gleichsam „stückweise", mit Unterbrechungen und Rückschlägen verbunden, nahezu ein Jahrhundert lang; jedoch nicht weniger unaufhaltsam und gewaltsam als im klassischen Land der bürgerlichen Revolution. Preußen, schrieb Friedrich Engels 1874, habe „das sonderbare Schicksal, seine bürgerliche Revolution, die es 1808 bis 1813 begonnen und 1848 ein Stück weitergeführt, Ende dieses, Jahrhunderts in der angenehmen Form des Bonapartismus zu vollenden". 27 Wiederholt wiesen Marx und Engels darauf hin, daß der Revolution von 1848/49 trotz ihres Scheiterns im Prozeß der Ablösung des Feudalismus durch den Kapitalismus eine außerordentliche Bedeutung zukomme. „In Wirklichkeit . . . hatte die Revolution das Bürgertum auch der zerstückelten Länder, und namentlich Deutschlands, mächtig aus dem alten ererbten Schlendrian aufgerüttelt. Es hatte einen, wenn auch bescheidnen, Anteil an der politischen Macht bekommen; und jeder politische Erfolg der Bourgeoisie wird ausgebeutet in einem industriellen Aufschwung. . . Die Anfänge großer Industrie, die seit 1830 und namentlich seit 1840 am Rhein, in Sachsen, in Schlesien, in Berlin und in einzelnen Städten des Südens enstanden, wurden jetzt raseh fortgebildet und erweitert.. ." 2 8 Schließlich war Bismarck „gezwungen, Deutschland in seiner Art umzuwälzen" und wurde auf diese Weise zu einem „Testamentsvollstrecker" der Revolution. 29
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Marx, Karl, Das Kapital. Vorwort zur ersten Auflage, Bd. 1, Berlin 1955, S. 6. Engels, Friedrich, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: Marx/ Engels, Ausgewählte Schriften in 2 Bänden, Bd. 2, S. 33t. Derselbe, Der deutsche Bauernkrieg, a. a. O., S. 539. Derselbe, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte. Gewalt und Ökonomie bei der Herstellung des neuen Deutschen Reichs, Berlin 1946, S. 14. Derselbe, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Vorwort zur deutschen Ausgabe 1892, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1957, s - 6 44-
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Überhaupt nehmen die beiden ersten großen Revolutionen der deutschen Geschichte, die frühbürgerliche Revolution Anfang des 16. Jahrhunderts und die Revolution von 1848/49 im Geschichtsbild von Marx und Engels eine zentrale Stellung ein. „Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte", schrieb Marx. 30 Und an anderer Stelle: „ . . . in diesem Wirbel der Bewegung, in dieser Pein der geschichtlichen Unruhe, in dieser dramatischen Ebbe und Flut revolutionärer Leidenschaften, Hoffnungen, Enttäuschungen mußten die verschiedenen Klassen . . . ihre Entwicklungsepochen nach Wochen zählen, wie sie sie früher nach halben Jahrhunderten gezählt hatten." 3 1 In revolutionären Perioden wird die gesellschaftliche Entwicklung gewaltig beschleunigt. Revolutionen erschließen den progressiven Kräften die Möglichkeit, das, was in Jahrzehnten und selbst Jahrhunderten versäumt wurde, j,nachzuholen". Auf die erste große Revolution der deutschen Geschichte, die frühbürgerliche Revolution zu Beginn des 16. Jahrhunderts, kommen Marx und Engels ständig zurück. Die Reformation charakterisierte Friedrich Engels als die erste der „drei großen Entscheidungsschlachten" (neben der englischen bürgerlichen Revolution im 17. Jahrhundert und der französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts), in denen der Kampf des europäischen Bürgertums gegen den Feudalismus kulminierte. 32 Den Höhepunkt der frühbürgerlichen Revolution, den großen deutschen Bauernkrieg, bezeichnete Marx bereits 1844 als „die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte". 33 Nicht zufällig war Engels'Schrift über den deutschen Bauernkrieg „die erste auf der Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung entstandene Darstellung der zurückliegenden Geschichte unseres Volkes". 34 Als Engels 1884 eine Neubearbeitung dieser Schrift plante, schrieb er: „Mein .Bauernkrieg' wird Angelpunkt der ganzen deutschen Geschichte." 3 5 Die Revolution von 1848/49 war in den Augen von Marx und Engels der zweite „Angelpunkt" der deutschen Geschichte. Die 48er Revolution hat das Gesamtwerk von Marx und Engels, darunter auch ihr Geschichtsbild, in entscheidendem Maße mitgeprägt. Lenin schrieb darüber: „Von diesem Punkte gehen sie aus bei der Beurteilung der Geschicke der Arbeiterbewegung und der Demokratie der verschiedenen Länder. Zu diesem Punkt kehren sie stets zurück, um das innere Marx, Karl, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, a. a. O., S. 85. « Ebenda, S. 61. 31 Engels, Friedrich, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, a. a. O., S. 94. 33 Marx, Karl, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 386. 34 Bensing, Manfred, Friedrich Engels' Schrift über den deutschen Bauernkrieg — ihre aktuelle Bedeutung 1850 und ihre Rolle bei der Herausbildung der marxistischen Geschichtswissenschaft, in: Friedrich Engels' Kampf und Vermächtnis, Berlin 196J, S. 162. 36 Engels an Sorge, 31. Dezember 1884, in: Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u. a. an F. A. Sorge und andere, Stuttgart 1906, S. 198.
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Uber das Geschichtsbild von Marx and Engels
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Wesen der verschiedenen Klassen und ihrer Tendenzen in klarster und reinster Form zu bestimmen. Vom Standpunkt der damaligen, revolutionären Epoche beurteilen sie stets die späteren, weniger bedeutenden politischen Gebilde, Organisationen, politischen Aufgaben und politischen Konflikte." 36 Mehrere der bedeutendsten historischen Arbeiten von Marx und Engels beschäftigen sich mit der Revolution von 1848/49, mit ihren Ursachen und Triebkräften, ihrem Charakter und ihren Lehren. Kaum zu zählen sind die Hinweise, Notizen und Einzelbemerkungen über die Revolution in ihren anderen Werken und in ihrem Briefwechsel. Als Friedrich Engels unmittelbar nach der Niederlage der 48er Revolution seine Schrift über den deutschen Bauernkrieg verfaßte und mit den berühmten Sätzen einleitete: „Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition. Es gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder an die Seite stellen können.. ." 3 7 , schlug er die Brücke zwischen den beiden ersten großen Revolutionen in Deutschland und schärfte zugleich den Blick der revolutionären Arbeiter und Demokraten für die progressive Linie in der gesamten deutschen Geschichte. Und dies in einer Zeit der „augenblicklichen Erschlaffung" 38 , als es schien, daß die Reaktion uneingeschränkt dominierte. Die deutsche Geschichte - davon zeugen Engels' „Bauernkrieg" und andere Geschichtswerke von Marx und Engels — ist reich an progressiven Traditionen. Die jahrhundertelangen Kämpfe der deutschen Bauern, die Zeit der nationalen Erhebung des deutschen Volkes gegen die französische Fremdherrschaft, die bleibenden Verdienste revolutionärer deutscher Demokraten, die Leistungen des deutschen Volkes auf dem Gebiet der Kunst und Philosophie, der Musik und der Literatur, der Naturwissenschaften und der Technik, das Werk Goethes und Schillers, Hegels und Feuerbachs, Heines und Keplers - all das nimmt in dem von Marx und Engels konzipierten Bild der deutschen Geschichte einen hervorragenden Platz ein, wird von ihnen wissenschaftlich erklärt und fruchtbar gemacht für den proletarischen Klassenkampf. Sie weisen nach, daß alles Große der deutschen Geschichte entstanden ist im Kampf gegen die reaktionären deutschen Ausbeuterklassen, daß die Bourgeoisie ihrer Berufung, dieses Erbe zu pflegen und zum Siege zu führen, nicht gerecht wurde, daß folglich allein der konsequenteste Kämpfer für das Wohl der Nation, die deutsche Arbeiterklasse, auch zum legitimen Erben und Vollender aller großen Traditionen der deutschen Geschichte wurde. *
Ausgehend von den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung, deren Wirken in der Geschichte Deutschlands sie aufdeckten, widmeten Marx und Engels auch dem Studium der Unterschiede in der Entwicklung Deutschlands gegenüber der in den fortgeschrittensten Ländern große Aufmerksamkeit. 3{i 37 38
Lenin, IV. /., Gegen den Boykott (Aus den Notizen eines sozialdemokratischen Publizisten), in: Marx-Engels-Marxismus, Berlin 1957, S. 224. Engels, Friedrich, Der deutsche Bauernkrieg, a. a. O., S. 329. Ebenda.
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Wesentliche Grundgedanken hierzu formulierte Marx bereits in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie (1844): „Der Kampf gegen die deutsche politische Gegenwart ist der Kampf gegen die Vergangenheit der modernen V ö l k e r . . u n d : „. . . Deutschland hat die Mittelstufen der politischen Emanzipation nicht gleichzeitig mit den modernen Völkern erklettert"/' 0 Die gleichen Grundgedanken erläuterte Engels in seinem bekannten Brief an Mehring vom 14. Juli 1893. Beim Studium der deutschen Gcschichte,.schreibt Engels, habe er immer gefunden, „daß das Vergleichen der entsprechenden französischen Epochen erst den rechten Maßstab gibt, weil dort das grade Gegenteil von dem geschieht, was bei uns. Dort die Herstellung des Nationalstaats aus den disjectis membris des Feudalstaats, gradé als bei uns der Hauptverfall . . . Dort repräsentiert der englische Eroberer im Mittelalter . . . die fremde Einmischung; die Engländerkriege stellen sozusagen den Dreißigjährigen Krieg vor, der aber mit der Vertreibung der ausländischen Einmischung und der Unterwerfung des Südens unter den Norden endigt. Dann kommt der Kampf der Zentralmacht mit dem sich auf ausländische Besitzungen stützenden burgundischen Vasallen, der die Rolle von Brandenburg-Preußen spielt, der aber mit dem Sieg der Zentralmacht endigt und die Herstellung des Nationalstaats endgültig macht. Und grade in dem Moment bricht bei uns der Nationalstaat vollständig zusammen (soweit man das .deutsche Königtum' innerhalb des Heiligen Römischen Reichs einen Nationalstaat nennen kann), und die Plünderung deutschen Gebiets auf großem Maßstab fängt an"«. Was Marx und Engels bei dem Vergleich mit England und besonders mit Frankreich immer wieder auffiel, war die Zersplitterung Deutschlands, ein „Übel", das in Jahrhunderten nicht überwunden werden konnte und das die Lösung der geschichtlichen Aufgabe des Proletariats beträchtlich erschwerte. 42 In den „Notizen über Deutschland", die wahrscheinlich als Vorstudie für eine größere Arbeit über spezifische Züge der Entwicklung Deutschlands von 1500 bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts gedacht waren, stellt Friedrich Engels die Untersuchung dieser 39 Marx,'Karl, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 381. «» Ebenda, S. 386.